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Norden: Die germanische Urgeschichte

DIE GERMANISCHE URGESCHICHTE IN TACITÜS GERMANIA

VON

EDUARD NORDEN

Nirgends wo europäische Geschichte beginnt, hebt sie ganz von Frischem an, sondern setzt immer lange dunkle Zeiten voraus, durch welche ihr eine frühere Welt verknüpft wird Jakob Grimm

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VERLAG VON B. G. TEUBNER LEIPZIG BERLIN 1920

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ALLE BECHTE, EINSCHLIESSLICH DES ÜBERSETZUNGSRECHTS, VORBEHALTEN.

Druck von B. G. Teubner, Dresden.

ULRICH VON WILAMOWITZ-MOELLEOT)OKFF HERMANN DIELS

ZU IHREN 50JÄHRIGEN DOKTORJÜBILÄEN

Vorrede

Si cui popido Heere oportet consecrare origines sitas, ea belli gloria est popido Romano: diese Worte der livianischen Vorrede, angewandt auf das deutsche Volk, schwebten mirVor, als ich während des ersten Kriegs- jahres das vorliegende Buch über die germanische Urgeschichte be- gann. Als ich es seinem Ende entgegenführte, standen mir die Worte derselben Vorrede vor der Seele: ego hoc quoque laboris praemium pe- tam, ut me a conspectu malorum quae nostra tot per annos vidit aetas tantisper certe dum priora illa tota mente repeto avertam.

Der Gedanke, Vergangenheit und Gegenwart, Studium und Leben sich an einem der vaterländischen Geschichte entnommenen Forschungs- gegenstande zu einer Einheit zusammenschließen zu lassen, reicht in meine Studentenjahre zurück, als ich an der Küste meiner ostfriesischen Heimat die mir von der Schule vertraute taciteische Darstellung der Feldzüge des Germanicus abermals las. Dann aber verlor ich den Plan fast drei Jahrzehnte lang gänzlich aus den Augen. Er tauchte erst wieder auf, als ich es ist meine letzte große Erinnerung aus der Zeit kurz vor dem Ausbruch des Krieges unter Löschkes Führung mit Wilamowitz, Ed. Meyer, dem Germanisten Roethe u. a. am Limes wanderte und mir von meinem alten Studienfreunde Emil Krüger das Verständnis der Schätze des Trierer Museums erschließen ließ: hier erhielt ich eine lebendige Anschauung auch der keltischen Kultur, die in einem Germanenbuche begreiflicherweise eine wichtige Rolle spielt. Sein Inhalt ist in der Hauptsache Traditionsgeschichte, es ist daher im wesentlichen philologisch orientiert; die historischen und ethno- logischen Ergebnisse sind durch Analyse der antiken Überlieferung gewonnen worden. Das besondere Arbeitsgebiet der Germanisten ist von mir nur einmal vorsichtig betreten worden, ich erhoffe aber grade auch von ihnen, daß sie die ethnologischen Ergebnisse des Buches an den Erkenntnissen ihrer eigenen Wissenschaft prüfen werden. Die in ihm durchmessene Strecke läßt sich literarisch etwa durch die Namen Poseidonios und- Prokopios, Caesar dessen ethnographischen An- gaben naturgemäß ein wichtiger Platz angewiesen wurde und Jor- danes begrenzen; aber die archäologische Forschung, mit der ich mich, so gut ich es vermochte, vertraut zu machen suchte, führte mich ge- legentlich hinauf in sehr frühe, dem Beginn schriftlicher Überlieferung vorausliegende Zeiten. Es kann uns, wie ich glaube, nichts schaden,

VI Vorrede

wenn wir an einer Weltenwende vielleicht beispiellosen Ausmaßes unseren Blick auf möglichst große Zeiträume einstellen. Die er- lebende Generation pflegt in der Enge des Gesichtsfeldes Ij ff an gen zu sein, aber das Auge der Forscher schweift über einzelne Wellenberge und Wellentäler in ozeanische Unermeßlichkeit des Völkerlebens, und da ihnen als periodisches Kolon erscheint, was Kur/sichtigere c\n harsches Anakoluth dünkt, so gewinnen sie durch solchen Einblick in den Rhythmus des Geschehens Erbebung und Trost. Auch das Orts- panorama dieses Buches hat weite Grenzen: das Vaterland vom Rhein und seinen linken Zuflüssen bis zur Weichsel, von den Alpen bis zur Nordsee, dazu Teile der Nachbarländer Österreich, Schweiz, Holland, Belgien und Frankreich; selbst über den Belt und den Kanal wird der Blick des Lesers gelegentlich schweifen. In friedlicheren Zeiten hätte ich es mir nicht nehmen lassen, einige Gegenden zu bereisen, um an beson- ders wichtigen Punkten (so am Ober- und Niederrhein, ferner im öst- lichen Belgien) die literarische Überlieferung an der topographischen zu prüfen; aber das habe ich mir unter den obwaltenden Verhältnissen versagen müssen. Um so sorgfältiger habe ich das kartographische Material ausgewertet; die Leser werden es mit mir Herrn Dr. Hans Philipp Dank wissen, daß er durch die beigegebene Karte, die auch um ihrer selbst willen Beachtung verdient, das Verständnis einiger Abschnitte des Buches erleichtert hat. Leider war ich weiterhin nicht in der Lage, mir die während der letzten Kriegsjahre erschienene außerdeutsche Literatur, von wenigen Ausnahmen abgesehen, zugäng- lich zu machen. Ich bedaure das um so mehr, als ich durch frühere Werke ausländischer Gelehrter erhebliche Förderung gewonnen habe: es sei hier nur der eine J. Dechelette genannt, dessen Tod für sein Vaterland der gesamten Wissenschaft der europäischen Völkerkunde eine schwere Wunde geschlagen hat.

Ich empfinde es vor dem deutschen Lesepublikum als ein Bedürf- nis, den Umfang dieses Buches zu entschuldigen. Es war in den weit- aus meisten Teilen bereits so gut wie abgeschlossen, als unsere wirt- schaftlichen Verhältnisse die verhängnisvolle Wendung nahmen, die auch uns Autoren äußerste Sparsamkeit zur Pflicht macht. Berechtigte Ausnahmen werden bestehen bleiben können und auch müssen: denn eben dadurch, daß wir anderen uns beschränken, verschaffen wir den Großen, deren Worte Gold wiegen, die Möglichkeit es voll auszumünzen und gewähren ferner unumgänglich notwendigen Unternehmungen (wie Fortsetzung der Inschriftenwerke, des lateinischen Thesaurus, des Corpus medicorum, Inangriffnahme eines geplanten Corpus der griechi- schen Dichterfragmente., Ausführung der im Entstehen begriffenen

Vorrede VII

Fragrnentsammlung der griechischen Historiker1)) die Lebensbedingung. Nur auf Grund der erwähnten Tatsache, daß dieses Buch vor dem wirtschaftlichen Niedergang fast fertig war im Herbst 1917 las ich es F. Jacoby als bestem Kenner der antiken Ethnographie vor , glaubte ich es vor mir und der Öffentlichkeit rechtfertigen zu können, das Manuskript ohne erhebliche Kürzungen doch kamen einige An- hänge in Wegfall, darunter ein mir von befreundeter Seite zur Ver- fügung gestellter dem Herrn Verleger zu überreichen, der sich be- reits im Jahre 1915 zur Entgegennahme bereit erklärt hatte. Wohl nur wenige machen sich einen rechten Begriff vou der auch in so unerhörten Zeiten bewährten Opferbereitschaft des Verlagsbuchhandels. Sie bedenken nicht, daß auch ihm durch die jetzigen Herstellungs- verhältnisse wissenschaftlicher Werke Grenzen gezogen sind, die er, der auf die Dauer doch im ganzen allein auf kaufmännischer Grund- lage bestehen kann, nur zum Schaden der Sache selbst außer acht lassen würde Diesen Umständen werden wir Autoren Rechnuno- tragen müssen. Nicht mehr um lange und bequeme Spaziergänge mit aussichtsreichen Umwegen und ergiebigem Ausruhen, sondern raschen und kurzen Lauf möglichst direkt aufs Ziel zu, nicht um ein freies Spiel der Kräfte, sondern ihr energisches Zusammenfassen wird es sich künftig handeln; ithiov rniiGv itavtös wird die Parole werden müssen, und. oft wird ein Drittel noch besser als die Hälfte sein. Zwischen mathematisch-naturwissenschaftlicher Formelsprache, die die literarische und historische Forschung ihrem Wesen nach nicht ver- trägt, und philologischen [leydka ßißUcc zu diesen gehören auch Ausgaben von Texten mit überwissenschaftlichem Luxusapparat wird es doch eine Mittelstraße geben, auf der die pädagogisch wich- tige Methode, die Leser den Gang der Beweisführung gewissermaßen miterleben zu lassen, nicht gefährdet wird: etwa die docta taciturnitas Franz Büchelers scheint mir einen solchen Weg zu weisen. In Zeiten, wo jeder Buchstabe, ja jedes Interpunktionszeichen Geld kostet, wer- den wir ich schließe mich ausdrücklich mit ein, da ich mich selbst mitschuldig fühle jeden Satz daraufhin prüfen müssen, ob er ent- behrlich sei, werden uns besonders auch im Gebrauche von Anmer- kungen jenen strengen schriftstellerischen Geboten unterwerfen müssen, die A. v Harnack (Reden und Aufsätze HI, 1911, 148 ff.) aufgestellt hat. Also Sparsamkeit überall, nur nicht gerade darin, wobei zum Schaden an Zeit und Kr.ift mit- und nachforschender Leser vielfach gespart wird:

1) Hätte das letztgenannte Werk, in dessen großartigen Plan ich Einsicht nehmen durfte, scbon vorgelegen, so würde das für einige Abschnitte meines Buches einen kaum abzuschätzenden Gewinn bedeutet haben.

yjj] . Vorrede

in der Genauigkeit der Buchzitate. Was so zunächst aus der Not geboren ist, kann uns vielleicht zum Segen werden: durch die Macht der Um- stünde erzogen, erziehen wir uns selbst; mögen dann spätere Ge- schlechter, die wieder die Freiheit der Wahl haben, zusehen, welche Art ihnen mehr gefällt. Die mich kennen, werden wissen, daß mir nichts ferner liegt als die Anmaßung, als Gesetzgeber auftreten zu wollen; aber ich habe diese Dinge in letzter Zeit wiederholt mit sach- kundigen Männern durchgesprochen und wollte die Gelegenheit, ihr Urteil der Öffentlichkeit zu unterbreiten, bei Anlaß dieser Selbst- apologie nicht vorübergehen lassen. Jedenfalls bin ich für meine Person entschlossen, künftighin aus der Notwendigkeit die Folge- rungen zu ziehen.

Ich habe dieses Buch den beiden miteinander engverbundenen Männern gewidmet, mit denen seit mehr als einem Jahrzehnt in dauerndem Gedankenaustausch vereint zu sein das höchste Glück meines wissenschaftlichen Lebens ist. Möchte mein Wunscb, ihnen zur fünfzigsten Jährung ihres Eintritts ins wissenschaftliche Leben eine Freude zu bereiten, in Erfüllung gehen. Saxum vorsat nitendo neque proficit hilum: dieses lucilische Wort, mit dem der eine von ihnen seine Dissertation schloß, hat sich an seinem Lebenswerke so wenig bewährt wie an dem des anderen. An Mühsal habe auch ich es nicht fehlen lassen, aber das Urteil über ihren Erfolg muß denen vorbehalten bleiben, die sich nicht scheuen, mich auf dem langen und streckenweise arg beschwerlichen Wege durch die Urwälder und Halden sowie über das Wattenmeer des alten Germaniens zu begleiten.

Berlin-Lichterfelde, April 1920.

Eduard Norden.

Inhaltsverzeichnis

Seite

Einleitung 1

Erstes Kapitel DIE GERMANIA IM RAHMEN DER ETHNOGRAPHISCHEN LITERATUR

DES ALTERTUMS 8

Zweites Kapitel

QUELLENKRITISCHES ZURETHNOGRAPHIE EUROPÄISCHER VÖLKER 42

I. Origo Germanorum 42

II. Die ältesten ethnographischen Berichte über Germanien .... 59

1. Poseidonios über Kimbern und Germanen 59

2. Der Germanenexkurs in Caesars Bellum Gallicum 84

III. Poseidonios über Anthropologie der Nordvölker 105

IV. Schildgesang 115

V. Gefolgschaft 124

VI. Beratungen beim Gelage 127

VII. Gastfreundschaft 130

VIII. Der Vermittler zwischen Poseidonios und Tacitus 142

Drittes Kapitel

HERAKLES UND ODYSSEUS IN GERMANIEN .... 171

I. Die Lieder auf 'Hercules' Herakles und Siegfried? 172

II. Die 'Ulixe3'-Reliquien 182

1. Der Ulixesaltar 183

2. Die Ulixesstadt Asciburgium 189

3. Inschriften griechischen Alphabets auf der Grenze von Germanien

und Raetien 202

'•' Viertes Kapitel

AUF DEN SPÜREN DER BELLA GERMANIAE DES PLINIÜS

I. Inschriften der Gegenwart und der Vorzeit 207

II. Der Rheinübergang der Kimbern und die Geschichte eines keltischen

Kastells in der Schweiz . 219

1. Der Kimbernexkurs ia der Germania des Tacitus 219

2. Der Durchgang der Kimbern durch die Nordschweiz (Helvetii)

und die Franche-Comte (Sequani) 225

3. Eine helvetische Episode in der Militärrevolution des Jahres 69 n. Chr. 250

4. Geschichte des Kastells Tenedo (Zurzach) 256

HI. Volksstämme in Süd- und Mitteldeutschland 263

1. Helvetii, Boii 264

2. Chatti-Batavi 265

3. Hermunduri. Die Grenze Germaniens gegen Baetien. Repu- blikanische Münzsorten im freien Germanien 274

Norden: Die germanische Urgeschichte a*

X Inhaltaverzeiehnia

Seite

IV. Die Kordseeküate 282

J. Bella Gernianiae und Naturalis historia. Eine Epiaode aua den

Kriegen mit den Friaii 282

2. Eine Episode aus den Kriegen mit den Chauci. Die Nordseeinscln 287

3. Ilalligleute im Wattengebiet. Römische Flottenbewegungen in

den westfrieaischen Gewässern 291

Fünftes Kapitel DIE ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DES GERMANENNAMENS: WORT- INTERPRETATIONEN 312

I. Volk und Stamm 814

II. Sprachliche Bezeichnung einer ethnischen Namenspropaganda . . 318

III. Urspruugsbezeichnung eines Volksgesamtnamens. victor als tech- nischer Begriff der Okkupation 323

IV. Ursächliche Bezeichnung einer Volksbonennung 331

V. Selbstbenennung eines Volkes 335

Sechstes Kapitol ETHNOLOGISCHE, ONOMATOLOGISCHE UND GESCHICHTLICHE FOL- GERUNGEN. BERÜHRUNGEN VON KELTEN- UND GERMANENTUM 351 I. Germani als Stammname 352

1. Das Belgaeproblem. Analyse eines Caesarischen Berichtes. . . 353

2. Germani cisrhenani. Die älteste Besiedelung des linken Rheinuf'era durch die Germanen 379

3. Germani- Tungri 396

II. Germani als Volksname 405

1. Erhebung von Stammnamen zu Volksnamen 406

2. Das Motiv der Benennung 414

III. Germani als Selbstbezeichnung 423

Schlußbetrachtung. Militärische und kaufmännische Berichte als Primär- quellen 428

ANHÄNGE 451

I. Zur Überlieferung der Germania 451

1. Der handschriftliche Titel 451

2. Eine Interpolation des V. Jahi-h 454

II. Stiltechnisches zur Germania 457

III. Eine Polemik des Poseidonios gegen Artemidoros über die Ethno- logie der Kimbern. Die Anfänge der germanischen Völkerwanderung 466

IV. Columnae Herculis. Die „Nordsäule" im Kanal 470

V. Die helvetische Einwanderung. Ein Beitrag zur ältesten Geschichte

der Schweiz. Von H. Philipp 472

VI. Die ethnographischen Abschnitte Caesars über Suebi und Germani (Dienst- und Literaturbericht) 484

VII. Zwei Stationennamen am Niederrhein 488

1. Onomatologisches zu Asciburgium. Mit einem Beitrage von Th. Siebs

2. Castra Herculis, eine Station zwiachen Leyden und Nymwegen . 492

VIII. Alatnanni Stamm- und Volksname 495

Nachträge und Berichtigungen 498

Register 500

EINLEITUNG^

Zeuß, Müllenhoff und Mommsen: den Namen dieser drei, denen die deutsche Altertumskunde, soweit sie auf dem Fundamente griechisch- römischer Überlieferung ruht, den reichsten Gewinn verdankt, werden die Leser dieser Untersuchungen am häufigsten begegnen. Zeuß ließ als 31 jähriger seiner Grammatica Celtica, durch die er im Jahre 1853 einer neuen Wissenschaft „Vater und Schöpfer" wurde so nannten ihn nach seinem schon im fünfzigsten Lebensjahre erfolgten Tode (1856) die Schüler1) , wie eine Art von Vorarbeit vorangehen das Buch „Die Deutschen und ihre Nachbarstämme" (1837), dem alle Späteren einen beträchtlichen Teil ihres Wissens von nord- und mittel- europäischer Ethnologie bis zum Ende der Völkerwanderung ent- nahmen. Das literarische Tatsachenmaterial hat sich seitdem durch neue Problemstellungen wohl vertieft, aber kaum erheblich vermehrt

1) „Whetley Stokes preist ihn mit den begeisterten Worten des alten orphischen Hymnus

Zavg Ky^jJ, Zavs fitfftfor, 4i.bg ö' ex Ttävxcc zzzvxTat," sagte E. Kuhn in seiner zum hundertjährigen Gedächtnis in der Münchener Akademie 1906 gehaltenen Festrede. Die Wiederkehr von Zeuß' hundertstem Ge- burtsjahre hat ihm die Ehrungen reichlich gespendet, an denen sein Leben, eine fast ununterbrochene Kette von Enttäuschungen und Kümmernissen, so karg war. Der genannten Rede Kuhns, ferner der sehr gründlichen, viel ungedrucktes Material verwertenden Abhandlung von A. Dürrwächter, dem damaligen Inhaber des Zeußischen historischen Lehrstuhls am Bamberger Lyzeum, im Hist. Jhb d. Görres-Ges. XXVII (1906) 561 ff., endlich der gehaltvollen Skizze Edw. Schroeders in der Allg. deutschen Biogr. XLV 1900 verdanke ich vielseitige Belehrung. Zu der am 2L Juli 1906 in Bamberg stattfindenden Zeuß-Feier hatte die Academie des Inscriptions et Beiles- Lettres de 1' Institut de France ihr Mitglied H.d'Arbois de Jubainville abgeordnet, der, am persönlichen Erscheinen verhindert, Zeilen hoher Anerkennung über den großen deutschen Gelehrten schrieb (Revue celtique XXVII 1906, 347 f.). Der K. Bayerischen Akademie bin ich für die Erlaubnis, das vorliegende Buch mit einem Bilde zu zieren, das nach einer photogra- phischeu Aufnahme des im Besitze der Akademie befindlichen Ölgemäldes an- gefertigt worden ist, zu besonderem Danke verpflichtet; es zeigt Zei:ß etwa in dem Alter, in dem er sein großes Erstlingswerk soeben verfaßt hatte.

Norden: Die germanische Urgeschichte 1

2 Einleitung

höchstens durch die Byzantinistik ist eine Anzahl früher unbekannter, ethnographisch wichtiger Quellen erschlossen worden , das iuschrift- liche und archäologische hat allerdings so beträchtlichen Zuwachs er- halten, die Sprachvergleichung so viel neue Ergebnisse gefördert und unsere Kenntnis vom Gange und der Glaubwürdigkeit der Überliefe- rung sich derartig bereichert, daß eine Neubearbeitung des Germanen- buches, wie sie das Keltenbuch durch H.Ebel erfuhr und durch H.Zimmer abermals erfahren sollte, kaum möglich erscheint, selbst wenn sich so gewaltiges Wissen auf historischem, literarischem und linguisti- schem Gebiete je wieder in einer und derselben Persönlichkeit ver- einigte. Aber auch in seiner alten Form, die durch einen Abdnu-k im Jahre 1904 eine Erneuerung erhielt, wird das Buch, wie sich ein namhafter Vertreter der Prähistorie ausdrückte, „ewig jung" bleiben, ein volkskundliches Urkunden- 'und Quellenwerk ersten Ranges. Die allgemeine Erfahrung, daß eine bedeutende Leistung durch Ergänzung und Widerspruch fördernd wirkt, hat sich auch da bewährt An Zeuß knüpfte Müllenhoff allenthalben an. Aber jenem diktierte nur seine gewaltige Gelehrsamkeit und sein erleuchteter Verstand; Müllen- hoff lauschte auch mit innerer Anteilnahme dem Rauschen des Über- lieferungsstromes, der von Homer bis zu dem Goten Jordanes durch die Jahrtausende wallte: daß er die deutsche Altertumskunde in ihn eingeschaltet hat, ist sein unvergängliches Verdienst. Seiner Lebens- arbeit, die er in den 50 er Jahren des vorigen Jahrhunderts begann, kam der gleichzeitige Aufschwung der römischen Altertumsstudien zugute, durch deren Strahlen Mommsen sämtliche Nachbargebiete erhellte. So ist es Müllenhoff, der sich als J. Grimms Nachfolger, Lachmanns Schüler und Haupts Freund bekannte, und der seit 1858 fast drei Jahrzehnte demselben Wirkungskreise wie Mommsen an- gehörte, vergönnt gewesen, durch eindringende Quellenanalysen, die Zeuß noch gänzlich fernlagen1), den klassischen Philologen gewisse

1) So nannte er (S. 144) den Poseidonios, dessen Bedeutung Müllenhoff er- wies, einen „leichtfertigen Griechen". Die Forschungsart von Zeuß war über- haupt ganz unpersönlich Menschen als Träger einer Überlieferung inter- essierten ihn nicht , ein Symptom seiner Wesensart überhaupt: seine Sv6- y.olia wird mit daran schuld gewesen sein, daß er zu dem milden, seelenvollen J. Grimm nie ein näheres Verhältnis hat gewinnen können, ja, sich ihm zeit- weise ganz entfremdet hat.

Geschichte der Germaniainterpretation 3

Gegenden ihres Forschungsgebietes recht eigentlich gangbar zumachen. Aus seinen Untersuchungen zur antiken Geographie und Ethnographie ist manches gesicherter Besitz unserer Wissenschaft geworden, anderes freilich bedarf der Nachprüfung: da, wo Müllenhoff sich mit Mommsen auf dessen eigensten Arbeitsgebieten maß und er hatte eine Neigung zum Widerspruch gerade gegen ihn ~, hat er sich, wie wir gelegentlich sehen werden, der Mommsenschen Intuitionskraft nicht gewachsen gezeigt. Übrigens muß man sich immer gegenwärtig halten, daß uns die „Deutsche Altertumskunde" zum größten Teile in einer Fassung vorliegt, die die letzte Durchsicht ihres Verfassers nicht erfahren hat. Der Plan des Werkes war so weit angelegt, daß es, da sein Begründer sich in Erarbeitung und Überprüfung des einzelnen nie genug tun konnte und von der Überfülle der sich vor seinem Forscher- auge immer neu auftürmenden Probleme erdrückt zu werden drohte, ein Torso bleiben mußte, dessen Vollendung ihm vielleicht auch bei längerem Leben nicht geglückt wäre. Aber auch in diesem unfertigen Zustande ist der als vierter Band aus Müllenhoffs Nachlaß heraus- gegebene Kommentar zur Germania des Tacitus eine Leistung, die, in jahrzehntelanger Arbeit herangereift, infolge ihrer Vereinigung von Sprach- und Sachkunde1) nur den Fortschritten der archäo- logischen Forschung brachte Müllenhoff kein rechtes Verständnis entgegen einen Ehrenplatz auf diesem Gebiete behauptet, soviele Bearbeiter es auch vorher und nachher gefunden hat.

Denn keine lateinische Prosaschrift ist in Deutschland öfters zum Gegenstande eingehender Betrachtung gemacht worden. Ihre ersten Drucke (1470 in Venedig, 1473 in Nürnberg) blieben freilich ohne irgendwie nachweisbaren Einfluß: der deutsche Humanismus hatte damals die Kinderschuhe noch nicht abgelegt, er bedurfte eines Ver- mittlers zum Verständnis der fremden Gedankenwelt. Ein solcher er- stand in Enea Silvio Piccolomini, dem „Apostel des Humanismus" bei den Deutschen: seine schon 1458 verfaßte, aber erst 1496 in Leipzig gedruckte 'Germania' machte die Bahn frei.2) Begreiflicher-

1) 'Excellit rerum linguarumque notitia' sagt Mommsen von ihm im Index zum Jordanes (1882) S. 139.

2) Vgl. H. Tiedemann, Tac. und das Nationalbewußtsein d. deutschen Huma- nisten (Di<<s. Berl. 1913) 5 ff. P. Joachimsen, Geschichtsauff. u. Geschichtschreib, in Deutschl. unter d. Einfl. d. Humanismus I (Leipz. 1910).

1*

4 Einleitung

weise herrschte zunächst das Gefühlsmäßige vor, das sich besonders ein- drucksvoll in einer Schrift des Elsässers Jakob Wimpfeling 'Germania ad rem publicam Argentinensem' (Straßb. 1501) kundgab, worin er mit begeisterten Worten für das Deutschtum des Elsaß eintrat. Das patriotische Moment überwog auch in seiner 'Epitome rerum Ger- manicarum usque ad nostra tempora' (1505) sowie in den cGerma- niae exegeseos volumina XII' (1518) des gleichfalls vom Oberrhein ge- bürtigen Irenicus. Die wissenschaftliche Kritik eröffnete der Elsässer ßeatus Khenanus durch seine Ausgabe der Taciteischen Schrift vom Jahre 1519. Die Germania bildete dann neben den ersten Büchern der Annalen, dem von ihm selbst entdeckten und 1520 edierten Velleius, Ammianus und den für Germanisches ebenfalls ergiebigen Panegyrikem des 111. und IV. Jahrh. lauter damals noch ganz neuen Schrift- stellern — die Grundlage seiner im Jahre 1531 erschienenen cRerum Germanicarum libri tres', durch die er der eigentliche Begründer unserer* vaterländischen Geschichtschreibung geworden ist, indem er Wärme nationalen Gefühls mit einer Reife der Kritik verband, die man noch heute bewundern muß. Selbst das Geographische berücksichtigte er mit einer Genauigkeit, die, gemessen an dem damaligen Tiefstande dieser Wissenschaft zumal diesseits der Alpen, Achtung verdient. Aber der Bahnbrecher auf geographischem Gebiete erstand erst ein Jahrhundert später in Philipp Clüver: Scaliger hatte ihn in dem Vor- satze, sein Leben dieser Arbeit zu widmen, eifrig bestärkt.1) Wer den Namen Clüvers, des Begründers historischer Länderkunde, aus- spricht, denkt freilich zunächst an seine *Italia antiqua', aber ihr ging einige Jahre eine * Germania antiqua' voraus (1616), ein mächtiger Foliant, in dem gewaltige Stoffmassen nicht bloß zusammengetragen, sondern auch bewältigt worden sind. Wenngleich ein so berufener Beurteiler wie Niebuhr gesagt hat2), daß die 'Germania' es mit der 'Italia' nicht aufnehmen könne, so werden doch, wie sich im Ver- laufe unserer Untersuchungen zeigen wird, einzelne wichtige, jetzt

1) Dies entnehme ich der schönen Gedächtnisrede, die Dan. Heinsius auf Clüver (f 1622) gehalten hat: Dan. Heinsii orat. ed. nova (Lugd. Bat. 1642) 152.

2) Vorträge über alte Länder- u. Völkerkunde, herausg. von Isler (Berl. 1851) 6. Auch J. Partsch, dem wir eine reichhaltige Monographie über Clüver verdanken (Geogr. Abh. herausg. von A. Penck, Bd. V, H. 2, Wien 1891), kommt auf Grund einer genauen Analyse der 'Germania' zu diesem Ergebnis (S. 25 ff.).

Geschichte der Germaniainterpretation 5

zum Allgemeingut gewordene Erkenntnisse der c Germania' verdankt. Nicht viel größer dürfte die Zahl derer sein, die sich erinnern, daß Leibniz seine Ausgabe der Scriptores rerum Brunsvicensium (1707) mit der Erklärung einer beträchtlichen Anzahl von Kapiteln der Taci- teischen Germania eröffnet hat: an einer entscheidenden Stelle der nachfolgenden Darlegungen wird sein Name unter den ganz wenigen erscheinen, die einen sehr schwierigen Satz wenigstens zur Hälfte richtig gedeutet haben.1)

Übt doch dieses Werkchen des Römers, das eine gütige Fee unse- rem Volke als Patengeschenk in die Wiege seiner vaterländischen Ge- schichte gelegt hat kein Volk darf sich eines gleichen Kleinods rühmen , auf jede Generation seine Anziehungskraft mit unverminder- ter Stärke aus, und immer von neuem müssen wir versuchen, mit dem zwar in seinem Grundbestande unveränderlichen, aber in seiner Ge- brauchsweise jeweils wechselnden Hand werkszeuge unserer Wissenschaft das mit allerlei Geheimschlössern versehene Kästchen zu öffnen, damit sich uns sein Reichtum erschließe. Zu dem besonderen Interesse, das die Schrift dem Philologen durch ihre literarische Gattung, die Eigen- art ihrer Sprache und die Person ihres Verfassers bietet, kommt ihre bei- spiellose Wichtigkeit für germanische Religions- und Rechtsgeschichte, Siedelungs- und Wirtschaftsgeschichte, Kriegs- und Sprachwissenschaft: für alle diese Disziplinen ist sie neben der ethnographischen Skizze in Caesars gallischen Memoiren die Primärquelle. Dem Erscheinen des in Aussicht gestellten Kommentars von G. Wissowa sieht die Philo- logenwelt mit um so größerer Spannung entgegen, als die klassische Altertumswissenschaft dieser von der germanischen gehegten Lieb- lingsschrift eine Schuld abzutragen hat. Denn die Philologen haben sich, wohl in dem berechtigten Gefühle, daß die Erklärung der Ger- mania Kenntnisse beansprucht, die durch die Besonderheit des Mate- rials außerhalb ihres gewohnten Arbeitsfeldes liegen, bisher an eine fortlaufende Exegese nur selten herangewagt.2) Wenn irgendwo, so

1) Sein Interesse umfaßte auch das Keltische: einer der wenigen Vorläufer von Zeuß hat er eine aus drei Worten bestehende altg allische Inschrift gedeutet. Näheres darüber bei Kuhn a. a. 0. (0. S. 1, 1) 17.

2) H. Schweizer-Sidler war durch seine sprachwissenschaftlichen und philo- logischen Kenntnisse in der Lage, einen für seine Zeit trefflichen Kommentar zu bieten (zuerst 1871), in dem jedoch das Literarische zurücktrat; diese Aus-

6 Einleitung

ist hier Arbeitsgemeinschaft mit der germanischen Philologie der einzige Weg, der zum Ziele führen kann. Auf dem weiten Sach- gebiete wird der Philologe nur ein Lernender sein. Die Anschau- ungen über römisch -germanische Volksrechte sind einst durch das Buch des angesehenen Rechtshistorikers E. Th. Gaupp, Die germani- schen Ansiedlungen und Landteilungen in den Provinzen des Kömi- schen Weltreichs (Bresl. 1844^ erheblich bereichert worden; seinen Spuren wird man in den vorliegenden Untersuchungen gelegentlich begegnen. Dasselbe gilt von J. Hoops, Waldbäume und Kulturpflanzen im germanischen Altertum (Straßb. 1905). Auch der Deutschen Alter- tumskunde von Fr. Kauffmann I (Münch. 1913) verdanke ich beträcht- liche Förderung. Die agrikulturgeschichtlichen Kapitel der Germania sind von niemandem so eindringend erörtert worden wie von Fustel de Coulanges (1885) *); ja, man muß sagen, daß seine Darlegungen der deutschen Forschung auf diesem ebenso schwierigen wie wich- tigen Arbeitsfelde erst die Wege gewiesen haben und bahnbrechend auch für die Nachbargebiete geworden sind. Von Werken wie diesen gilt, was Wilamowitz in seiner Schrift „Staat und Gesellschaft der Griechen" (1910) wiederholt ausgesprochen hat, daß eine Aufklärung über die Genesis der volkstümlichen Ordnungen der Griechen von den Germanen zu erwarten sei. Auf der anderen Seite werden die

gäbe hat in den Neubearbeitungen durch E. Schwyzer (7. Aufl., Halle 1912) stetig gewonnen. Die Ausgabe von A. Baumstark (Leipz. 1875) gehört zwar zu den Curiosa unserer Wissenschaft, enthält aber doch zu viel Material und eignes Urteil, als daß man sie unberücksichtigt lassen dürfte. Der neueste Kommentar von A. Gudeman (Berl. 1916) erschien erst, als die meisten Ab- schnitte dieses Buches ausgearbeitet waren; ich habe jedoch bei wichtigeren Fragen nachträglich zu seinen Ansichten Stellung genommen. Daß Gudemans und meine Ansichten über denjenigen Satz der Germania, der den Mittelpunkt vorliegender Untersuchungen bildet, auseinandergehen, zeigte schon seine Aus- führung im Philol. LV1II (1899) 25 ff., die er in der Ausgabe zugrunde legt. Als ein Muster feinsinniger, in die Gedankengänge des Schriftstellers eindringender Exegese der Kapitel von 28 an möchte ich nennen die Abhandlung des auch um Varro verdienten Pfortensers Gust. Kettner, Die Composition des ethno- graphischen Teils der Germania des Tacitus, in der Z. f. deutsche Philol. XIX (1887) 257 ff.

1) Recherches sur cette question: Les Germains connaissaient-ils la pro- priete des terres, in: Seances et travaux de l'Acad. des sciences morales et politiques, N.S. XXIII 705 ff. XXIV lff.

Geschichte der Germaniainterpretation 7

Germanisten, Rechts- und Wirtschaftshistoriker von uns Philologen fordern dürfen, daß wir durch Eindringen in die gedankenschwere Schrift des Tacitus für sprachliche und quellenkritische Grundlegung stets erneute Sorge tragen, um die Deutungsmöglichkeiten zu begren- zen und dadurch das Maß der sachlichen Auswertbarkeit zu bestimmen. Einen Beitrag zur Lösung dieser Aufgabe zu bieten, ist das Ziel vorliegender Arbeit. Ihr Ausgangspunkt war ein denkbar unansehn- licher: der Versuch grammatischer Deutung eines einzigen Satzes. Die Ergebnisse sind jetzt weit vom Anfange, erst in Kap. V niedergelegt worden. Alles, was vorangeht, dient in der Hauptsache nur der Er- füllung dieser Aufgabe. Aber in diesem ersten, vorbereitenden Teile (Kap. I IV) wird zugleich versucht werden, für das figurenreiche Bild der Germania den passenden Rahmen zu finden and der Ent- stehungsart dieses Bildes durch Eindringen in die Voraussetzungen seines Werdens nachzugehen. Im dritten Teile (Kap. VI) soll dann das so gewonnene Verständnis jenes einen Satzes ethnologisch aus- gewertet werden.

ERSTES KAPITEL

DIE GERMANIA IM RAHMEN DER ETHN< »GRAPHISCHEN

LITERATUR DES ALTERTUMS l)

Unter den vielen Problemen der Germania knüpft sieh das berufenste an einen nicht sehr langen Satz des zweiten Kapitels, freilich einen inhaltsreichen: denn in ihm ist die Ansicht der Gewährsmänner des Tacitus über die Entstehung des Gesamtnamens 'Germani' nieder- gelegt.2) Müllenhoff bemerkt, bis zum Jahre 1833 seien 13 15 Deu- tungsversuche und Konjekturen zu diesem Satze gezählt worden. Die Zahl jener ist seitdem wohl auf das Doppelte gestiegen3), auch an weiteren Textänderungen hat es nicht gefehlt: ja, es wird nicht zu viel gesagt sein, daß kaum ein oder das andere Wort, und sei es das unscheinbarste, von Eingriffen in seinen Buchstabenbestand verschont geblieben ist. Wenn man nun erwägt, daß diese Versuche

1) Als das vorliegende Buch im Manuskript schon so gut wie abgeschlossen war, erschien die 175 S. umfassende Baseler Dissertation von K. Trüdinger, Studien zur Gesch. d. griech.-röm. Ethnographie, 1918. Es gereicht mir zur Freude, meine Leser auf eine Arbeit hinzuweisen, durch die ein Anfänger weite Strecken des vor ihm nur selten betretenen Gebietes gleich erobert bat. Die Taciteische Germania, die für mich im Mittelpunkte steht, behandelt er mehr anhangsweise; da ich jedoch für ihr Verständnis die ethnographische Literatur beider Völker im stärksten Maße herangezogen habe, so sind wir uns auf unseren Wegen gelegentlich begegnet. Es ist mir noch gerade möglich gewesen, Er- kenntnisse, die ich dem jungen Forscher verdanke, oder solche, zu denen wir unabhängig voneinander gelangt sind, mit seinem Namen zu zeichnen. Wenige Wochen nachdem diese Worte geschrieben waren, erhielt ich die Nach- richt, daß das Leben des hoffnungsvollen jungen Schweizer Gelehrten im Heeres- dienste für sein Vaterland durch einen Unglücksfall ein jähes Ende gefunden habe.

2) Ceterum Germaniae vocabulum recens et nuper additum, quo- niam qui primi Bhenum transgressi Gallos expulerint ac nunc Tungri, tunc Germani vocati sint: ita nationis nomen, non gentis evaluisse paulatim, ut omnes primum a Victore ob metum, mox etiam a se ipsis invento nomine Germani vocarentur.

3) Ein Literaturverzeichnis, das auf Vollständigkeit keinen Anspruch er- hebt, gibt 0. Bremer in S. Paule Grundriß d. germ. Phil. IIP (1900) 738 ff. Vgl. auch G.Waitz, Deutsche Verfassungs-Gesch. Is (1880) 25 ff.

Die Germania als Ethnographie 9

fast mit dem ersten Bekanntwerden der Taciteischen Schrift im XV. Jahrh. begannen, und daß unter den Bewerbern um das Verständnis dieser Textstelle ein Lipsius, Leibniz und J. Grimm be- o-ecnen, so wird man sich vielleicht die Frage vorlegen, ob es nicht geratener sei, über ein Problem dieser Art als ein voraussichtlich unlösbares die Akten zu schließen. Ich wäre geneigt, diese Frage zu bejahen, wenn es auch weiterhin gälte, den Streit mit den Mitteln der Dialektik zu entscheiden. Denn selbst die so etwa gewonnene richtige Lösung würde immer noch nicht die Meinungsverschieden- heiten beseitigen, da ihr in leichtem Spiele der Gedanken und Worte eine andere an die Seite gestellt werden könnte, die, logisch und grammatisch möglicherweise ebenso einwandfrei, die unbedingte Richtig- keit jener wiederum zweifelhaft erscheinen ließe. Ist doch, wie wir sehen werden, die nach meinem Dafürhalten wahre Deutung bereits vor beinahe 300 Jahren gegeben worden, ohne daß heutzutage jemand ihrer noch gedächte; zöge ich sie jetzt ohne Beweismaterial für ihre Richtigkeit ans Licht, so würden sich nicht viele davon überzeugen lassen, daß sie allein die richtige sei.

Es handelt sich also darum, den Standpunkt zu finden, von dem aus die Schwierigkeiten sich heben lassen. Wenn Isolieren der Tod der Wissenschaft überhaupt ist, so darf die vergleichende Methode für die lateinische Literatur angesichts ihres Verhältnisses zur griechi- sehen unbedingte Gültigkeit beanspruchen. Die Germania gehört zu den wenigen Schriften, die noch nicht hinlänglich unter diesen Ge- sichtswinkel gestellt wurden. Müllenhoff war freilich auch hier auf dem richtigen Wege gewesen; eröffnete er doch sein WTerk mit der Behandlung der „Sage von Troja" und schrieb die bedeutsamen Worte: „Das Vorrücken der Kunde der alten Welt, für die die Odyssee die erste und älteste Zeugin ist, bezeichnet den Weg, auf dem die Welt- geschichte die Germanen endlich erreichte." Aber eine Synthese der von ihm in mühsamer Gedankenarbeit der hellenischen Literatur abgerunge- nen Erkenntnisse gelang ihm nicht; auch war damals die Verpflichtung, sie für die lateinische nutzbar zu machen, noch nicht so anerkannt wie jetzt. Daher findet sich in seinem Kommentar nur selten ein oder der andere griechische Satz zitiert. Das ist seitdem wohl etwas besser geworden, aber grundsätzlich hat sich daran nichts geändert. Und doch hatte Mommsen, zwei Jahre nach Miillenhoffs Tode, eine

10 Kap I. Die Germania im Rahmen der ethnograph. Literatur des Altertums

Auffassung der Taciteischen Schrift angedeutet ^ die, wenn ihr rechte Beachtung zuteil geworden wäre, von weittragenden Folgen hätte begleitet sein müssen. Er brachte nämlich durch seine akademische Rede zur Wiederkehr der Geburtstagsfeier Friedrichs d. Gr. im Jahre 1886 in das Chaos der Meinungen über den literarischen Charakter der Germania dadurch Ordnung, daß er sie als eine Chorographie bezeichnete.2) Versuchen wir, dieser Ansicht nach- zudenken.

Unzweifelhaft mit Bedacht sprach Mommsen von einer Choro- graphie, nicht einer Ethnographie: letztere Bezeichnung hat keine antike Gewähr3), konnte sie auch nicht haben, weil der zeichnerische Begriff, der bei den Wortbildungen Chorographie, Geographie, Topo- graphie dauernd lebendig blieb4), einer Verbindung mit dem Völker- begriff unzugänglich war; daher mußte der Geograph Ptolemaios, um das zum Ausdruck zu bringen, was wir Ethnographie nennen, eine weitläufige Umschreibung brauchen: „Forschung über die Besonder- heiten der Völker" (tu nsoh rag Idiot Qoiticcg räv t&väv iöTOQrföivTcc

11 1, 7). Dagegen* ist Mommsen die Bezeichnung „Chorographie" ge- läufig gewesen infolge seiner von ihm nie aus den Augen verlorenen und gerade um die Zeit jener Rede wieder aufgenommenen Studien über die in den Handschriften der römischen Feldmesser erhaltenen

1) Inzwischen war sie auch , ebenfalls ohne von den Tacituserklärern ge- nügend berücksichtigt zu werden, ausgesprochen worden von A. Riese, Die ursprüngliche Bestimmung der Germania des Tacitus in: Eos, Süddeutsche Zeitschr. f. Philol. u. Gymnasialwesen II (1866) 193 ff. und in seiner Programmabh. Die Idealisierung der Naturvölker des Nordens, Frankf. a. M. 1876.

2) Reden n. Aufsätze S. 152.

3) Vgl. F. Jacoby, Klio IX (1909)88, wo über die Begriffsbestimmungen dieses literarischen yevog und der verwandten eingehend gehandelt worden ist.

4) Vgl. Ptol. prol. 1 (in dem Abschnitte xlvi diacpSQEi yEOiyQcctpia %coQoyQ<xcpiag) ixEivj] (iiv (der Chorographie) Sei to7toyQc<(piug, xai ovöh ug av ycoQoygacprjaEisv fl iii] yQayixog ccvtJq. Aber auch yscuygacpia bedeutete ursprünglich nur ,, Karten- zeichnung", „Herstellung der bildlichen Erdzeichnung'1, und daraus ent- wickelte sich erst die Bedeutung einer die Karte erklärenden Erdbeschreibung. Vgl. C J. Neumann, Gott. gel. Anz. 1887, '275, 1 (Rezension von H. Berger, Gesch. der wiss. Erdkunde d. Griechen). Eine bemerkenswerte, dort fehlende Stelle : Krinagoras A. P IX 559 (Epigr. 43 Rubensohn) „Sei mir, Menippos, für die Aufstellung eines Reiseplans behilflich, ißroga y.vx%ov ygäipag, ö> rcacTjs i6qi yso»ypa<pi7]s".

Ethnographie und Chorographie 11

Flurkarten, die in der Tat als %G)QoyQcccp£cu bezeichnet 'worden sind.1) Da jedoch Tacitus das Ortskundliche hinter dem Volkskundlichen sehr in den Hintergrund treten ließ, insbesondere dem Oro- und Hydrographischen kaum die geringste Aufmerksamkeit schenkte, so wollen wir zur Charakteristik der Wesensart seiner Schrift lieber die moderne Wortprägung gebrauchen. Ist doch ohnehin keiner jener

1) Da die lexikographischen Hilfsmittel hierfür, soweit sie das Griechische betreffen, völlig versagen, so lege ich in dieser und den beiden folgenden An- merkungen das mir bekannte Material vor. Auf einer durch einen Konsulnamen des J. 139 oder 133 datierten Inschrift von Magnesia (Ditt. Syll." 685) heißt es in der Darlegung einer Grenzstreitigkeit (Z. 71): %a&6tv v.a.1 Sicc zwv etviSblx- vv(isvcav tjulv %[(üQo]yQccq>iwv £vavvo7trov r\v. Wenn Dittenberger dazu bemerkt 'delineationes, non descriptiones indicari apparet, quales gromaticorum Roma- norum extant', so hat er in der Sache recht, aber 'descriptio' ist, sprachlich betrachtet, doch die zutreffende Bezeichnung: CGL III 164, 18 agri descriptio XtoQoygacpia. Zeichnungen dieser Art, die in dem gromatischen Corpus enthalten sind jetzt am besten in der Ausgabe von C. Thulin I 1 (1913), Fig. 42—67 , hat A. Schulten in seinem Aufsatze über Römische Flurkarten (Herrn. XXXIII 1898, 534 ff.) in ihrer Bedeutung gewürdigt. Der sehr späte Verfasser eines der gro- matischen Traktate bemerkt, diese Zeichnungen stammten aus einer Schrift, die er librum diazografum nenne (p. 57, 17. 70, 35 Thulin), ersichtlich eine üble Mißbildung aus ganz junger Zeit. Die uns im ganzen so römisch anmutende Tätigkeit der Feldmesser ist doch nur eine geschickte Synthese aus etruskischen und griechischen Komponenten: die Praxis stammt aus Etruriea, das Wissen- schaftliche ist an Griechisches angelehnt. Varro, der den Späteren die Limi- tation als Wissenschaftszweig vermittelte, hat erwiesenermaßen griechische Theorien der Tempelorientation zugrunde gelegt, wie durch Vitruvius IV 5 fest- steht: das hat in Anlehnung an H. Nissens Studien zur ürientation W. Barthel, Rom. Limitation in d. Provinz Afrika, Bonn. Jhb. CXX (1911) 114f. kurz be- merkt, es müßte aber das viele Varronische Gut, das in den Schriften der Feldmesser steckt, einmal systematisch untersucht werden: peritissimus Lati- norum, nämlich geometriae wird er dort einmal genannt (p. 393 Lachm. bei Ps. Boethius aus Cassiodorius inst., noch nicht bei Thulin). Es mag in diesem Zusammenhange, weil das leicht vergessen wird, daran erinnert werden, daß Exzerpte aus demjenigen Teile der Varronischen Disciplinae, der De geo- metria handelte, sich in den Schriften der Feldmesser bis ins Mittelalter er- balten zu haben und erst dann untergegangen zu sein scheinen: C. Thulin, Die Hss. des Corp. Agrimensorum, Abh. d. Berl. Ak. 1911, 16. 41, der übersah, daß schon Fr. Ritschi, De Varronis disciplinarum libria (1845) = opusc. III 359 f., vgl. 474 f., darauf hingewiesen hatte. Auf Varro als einen Quellen- autor der Gromatiker weiden wir in einem späteren Kapitel (V 3) zurück- kommen müssen.

12 Kap. I. Die Germania im Bahrnen der ethnograpb. Literatur des Altertums

Ausdrücke über die hellenistische Zeit hinauf nachweisbar: das gilt für Chorographie und Topographie1) so gut wie für Geogra-

1) XmQO'/Qacpia zuerst nachweisbar bei F'olybios also fast genau gleich- zeitig mit der zu Anfang der vorigen Anmerkung genannten Inschrift in einem Fragmente dos XXXIV. Buches, das Strabo X 165 überliefert: reisig äh tu vvv ilvxa Sr\Xmoo[itv xal ncgl iTetfecog nnnov v.al diuczrjudtav tovto yün iexiv nixeiorarov %aQoyQaq>ia. Bei den Kömern findet sich das Wort, als Titel von einem Gedichte des Ataciners Varro, von Prosaschriften des lleatiners, Oiceros, Melas und des Iulius Titianus (Serv. z. Aen. IV 42, etwa unter M. Aureliuej. Be- merkenswert Vitruvius VI11 2. 6 capita jluminum quae orbe terrarum chorogru- phiispieta itemque scripta plurima maximaque inveniuntur egressaad septentrionem , Tlinius n. h. VI 40 situs depicti aus Armenien nach Rom geschickt und Florus prooem. faciam quod solent qui terrarum situs pingunt (Übersetzung von oi XonQoygäcpoi). Vgl. Varro r. r. I 2, 1 speetantes in pariete pietam Italiam und be- sonders Properz IV 3, 35 ff. : eine Frau schreibt ihrem in fernen Kriegen ab wesenden Manne, daß sie sich auf einer gemalten Karte die positnra der Erde mit ihren Ländern und Flüssen vergegenwärtige, auch die Distanzen und die Windrose seien darauf eingetragen: eine für das schulmäßige Anschauungs- material (disco 35, ediscere 37) wichtige, in den Büchern über den antiken Schulunterricht m. W. nicht verwertete Stelle. Auf Grund solcher Angaben wird man die Erdkarte des Agrippa als Chorographie im Großen zu bezeichnen haben: itoixiXiiatcc o6av {lEGrog ianv b %aQoyQucpwbg itivu& sagt Strabo II 120 von ihr; das itinerarium pictitm (iiinercria non tantum adnotata sed etiam pieta: eine vielbehandelte Ausdrucksweise des Vegetius de re mil. III 6), das uns in der Peutingerschen Tafel aus einem Originale etwa des IV. Jahrh. vor- liegt, war eine solche in Kleinem (vgl. E. Schweder, Philol. LIV 1895, 319 ff.). Aber eine bessere Vorstellung von dem zeichnerischen Reichtum solcher Choro- graphien als die epätmittelalterliche Kopie jenes Originals bieten uns jetzt die Fragmente einer vor einigen Jahrzehnten zu Madaba im Ostjordanland gefun- denen, in den Fußboden einer Kirche justinianischer Zeit eingelegten Mosaik- karte des Heiligen Landes, die von A. Schulten in den Abh. d. Gott. Ges. IST. F. IV 2 (1900) genau besprochen und bildnerisch reproduziert worden ist. Im Lateini- schen erhielt sich cliorographia , wie aus dem Thesaurusartikel ersichtlich ist, bis tief ins IV. Jahrh. hinein. ToTtoygaipia, eine Spezialisierung von ^copo- ypaqp»* (vgl. die S. 10, 4 zitierten Worte des Ptolemaios), ist vor Strabo VIII 334 nicht nachweisbar: "Eqpopog . . . ivTsv&sv Ttoisirai rijv ccq%tjv, Tjys^.0- vixov tl rijv ftäXocTTav xgivav TtQog rag TonoyQacpiccg. Man darf sich, wie Neu- mann an der S. 10, 4 zitierten Stelle richtig bemerkt, dadurch nicht ver- führen lassen, das Wort schon für Ephoros in Anspruch zu nehmen: Strabo paraphrasiert nur; vgl. Athenaeua I 16 D nO(ir]Qog roitoyqacpäv ttjv Kcclvrpovg oi-xicev. Cicero gebraucht in Briefen an Atticus zweimal (I 13, 5. 16, 18) zotco- irse/a, das dann auch bei Diodor und Ptolemaios vorkommt, während Polybios in den anfangs zitierten Worten dafür noch &f.6ig ruTtav sagt: zoxoftEzslv hat

Ethnographisches bei Homer 13

phie.}) Aber die Keime der darunter begriffenen Wissenschaft beschrei- bender Länder- und Völkerkunde liegen eingebettet in ältestem helle- nischen Erdreiche. Wenn Bratosthenes und Hipparchos Homer „denVater der geographischen Empirie" nannten (Strabo I 2), so darf man die Gepflogenheit des Altertums, alle Wissenschaften sich aus homerischen Keimen entwickeln zu lassen, in diesem Falle als berechtigt anerkennen. Der sog. Skyrnnos, dessen Periegese um die Wende des IL und 1. Jahrh. angesetzt zu werden pflegt, weist gegen Schluß seiner Einleitung (Vers 98 ff.) auf die Odyssee hin und lockt den Leser mit dem Pro- gramm: „erkennen wird er ganzer Völker Städte und Brauch" (ß&- väv d'olcov de yvcoüsr äötrj xal vöpovg). Der homerische Dichter, dessen Vers a 3 itolhav o'av&QcoTCcov idcv äörscc xal vöpov eyvco der Perieget in iambischer Paraphrase so zitierte2), kannte bereits die Entdeckungsfahrten ionischer Kauffahrer.3) Es wird gut sein, wenn wir uns solche Zusammenhänge mit der Odyssee schon hier vergegenwärtigen, um späterhin den taciteischen 'Ulixes am Nieder-

Strabo II 109, worunter er das Festlegen geometrischer Örter, um eine Land- karte zu zeichnen, versteht. Über roTto&saia im Verhältnis zur xo7toyQcccpL(x. hat

0 E. Schmidt, Ciceros Villen, Neue Jhb. III (1899) 341 f. lehrreich gehandelt. Über die lat. Worte situs (auch positus) s. Anhang I 1.

1) Vor Eratosthenes uns nicht überliefert, denn auf den bei Diog. L. IX 48 nach der Tetralogien-Ordnung des Thrasyllos zitierten Schriftentitel Demokrits rEcoygacpir] ist kein Verlaß (Diels, Vorsokr. II s 52). Da jedoch schon Herodot die Komponenten des Wortes kennt (IV 36 yfjg Tcsgtodovg yQccipavrag . . . ol 'Slxsavov qiovxa yQÜcpovöi), so wird man annehmen dürfen, daß die Komposition in wissen- schaftlichen Kreisen bereits vor Eratosthenes vollzogen worden war: yacofisrpi'?], das schon Herodot (H 109) überliefert vorfand wir werden es unbedenklich dem Thaies und seiner Schule zuschreiben dürfen (vgl. auch v. Wilamowitz, Piaton I 493) , konnte das Muster abgeben. Außer den in dieser und der vorigen Anm. be- handelten Nominalkompositionen mit -yqarpia ist mir nur noch IccoyQcccpia be- kannt. Dieses Wort scheint in der Literatur nur im III. Makkabäerbuche vor- zukommen, ist aber auf Papyri und Ostraka in der Bedeutung „Kopfsteuer" häufig belegt: Wessely, Ber. d. sächs. Ges. d. Wiss. 1885, 269 ff., U. Wilcken, Herrn. XXV1I1 (1893) 244.

2) Er las also mit Zenodotos vöyiov h/va (hominum mores inspexit Hör. ep.

1 2, 20). Dabei band ihn sein Metrum nicht an den Singular, den das Original nicht umgehen konnte. Über den im Text angedeuteten Zusammenhang vgl. Wilamowitz, Hom. Unters. 20: „Der Ahnherr der ionischen landfahrenden ißtoQsg bringt die Kenntnis heim, auf Grund deren sie vötii[ia ßuQßuQixä schrieben."

3_) Vgl. W.Kranz, Die Irrfahrten des Odysseua, Herrn. L (1915) 93.

14 Kap. I. Die Germania im Rahmen der ethnograph. Literatur des Altertums

rhein' in rechter Stimmung zu begrüßen. Wir unterziehen daher die frühesten Regungen volks- und landeskundlichen Interesses einer raschen Musterung, aber nur insoweit sie in den Kreis unserer Unter- suchungen gehören. Das Formengeschichtliche bietet, wo es sich um die Erkenntnis literarischer Zusammenhänge handelt, hier wie stets den sichersten Leitfaden.

Im Prooimion mußte der Dichter von seinem Helden in dritter Person reden: „vieler Menschen Städte sah er und lernte ihre Bräuche kennen", aber die Irrfahrten läßt er ihn als Ich-Erzählung geben: 'Iliod'Ev iib (pEQov ävsfiog Kix6v£66i 7ciXa66s (t 39). Mit diesem denk bar leichten und faßlichen Verse begann, wie uns ein Papyrusfund lehrte, der griechische Lehrer die Diktate aus Homer: so wurde dem Knaben gleich mit den ersten über das rein Elementare hinausführen- den Exerzitien ein Urbesitz des Volkes vermittelt. Bei der Erörte- rung der durch A. Kirchhofis bekannte Hypothese hervorgerufenen Frage nach dem Grunde, der den Dichter veranlaßt habe, nicht in eigner Person zu erzählen, sondern seinen Helden redend einzufüh- ren1), ist m. W. der entscheidende Punkt unerwähnt geblieben: die Ich-Erzählung war von jeher und blieb dauernd die gegebene Form des Reiseberichts. Denn was war der alte Odysseusnostos, der mit jenem Verse anhebt, und dessen Abschnitte mit dem formelhaften „von da fuhren wir weiter" (ev&sv de xqotsqco nleoiisv) eingeleitet werden, was war der jüngere des Menelaos „ich kam zu den und den Völkern" (Aid-Coxug d' ixoiiJ]v %al 2JLÖovcovg xaVEQE^ißovg xal Aißvrjv, d 84 f.) anderes als das poetisch nur ganz leise stilisierte Urbild einer Reiseerzählung im Ich- oder Wir-Stile, wie wir sie von der Indienfahrt des Skylax bis zu derjenigen des Kosmas, also über einen Zeitraum von etwa 1200 Jahren, fast schrittweise verfolgen können?2) Diese Entwicklung ging nicht von der Odyssee aus, son-

1) Daß die Kirchhoffsche Hypothese einer Umdichtung aus der dritten Person in die erste verfehlt war, darf jetzt wohl als ausgemacht gelten. Ein durch- schlagendes Argument dagegen hat zuletzt 0. Jörgensen in einer feinen Ab- handlung Herrn. XXX (1904) 371 ff. angeführt

2) Die betreffenden Abschnitte aus Kosmas, dessen großes um das Jahr 547 verfaßtes Werk XQicziaviv.r] roTtoygacpla endlich in einer sorgfältigen Ausgabe vorliegt (von E. 0. Winstedt, Cambridge 1909), finden sich bequemerweise ver- einigt in einem, wie es scheint, wenig bekannten Buche, auf das ich, da ich ihm mancherlei Belehrung zu verdanken habe, bei dieser Gelegenheit hinweisen

Ethnographisches bei Homer 15

dem die Odyssee war bereits selbst eine Erscheinungsform dieser in der Natur der Verhältnisse begründeten Entwicklung. Greifbar deut- lich stehen uns die Zusammenhänge mit der Ethnographie vor Augen, wenn es in dem Nostos des Menelaos nach den zitierten Worten so weitergeht: „wo die Böcke gleich mit Hörnern geboren werden" (Iva agveg äcpccQ xsquoI teXe&ov&iv) : denn diese Worte zitiert Herodot (IV 29) in dem skythischen Logos, der uns weiterhin genauer beschäftigen wird, als argumentum a contrario dafür, daß es in kalten Gegenden eine Rasse von hörnerlosen Kindern gebe, und Tacitus sagt von den Rindern Ger- maniens, ihre Hörner seien verkümmert (c. 5). Ob die Kataloge der Achäer und Troer im B der Ilias ich sehe keinen ausreichenden Grund, die beiden Kataloge zwei Dichtern zuzuschreiben eine metrische Periegese zur Voraussetzung gehabt haben, eine Frage, die von manchen

möchte: K. Dieterich, Byzantinische Quellen zur Länder- nnd Völkerkunde (5. 15. Jahrh.), Leipz. 1912. Das ethnographische Material, das byzantini- schen Schriftwerken, besonders historischen, von Prokopios bis Gemistos Plethon, entnommen wurde, ist von Dieterich in deutscher Übersetzung mit sachkundigen Anmerkungen vorgelegt. Es umspannt den Erdkreis von England bis China, ist für den Westen, der für die Byzantiner etwa vom VII. Jahrh. an fast ver- sinkt, recht dürftig, aber ungemein reich für das neue Völkergewimmel, das von Norden und Osten beinahe ein Jahrtausend lang Konstantinopel, das letzte Bollwerk des Hellenentums, bestürmt hat. Die auf Autopsie beruhenden Ich- oder Wir-Berichte von Reisenden setzen sich übrigens noch über die Zeit des Kosmas weit hinunter fort: solche Stücke finden sich bei Dieterich II 83. 98, dazu ein von Photios in die dritte Person umgesetzter, sehr wichtiger Gesandt- schaftsbericht des syrischen Griechen Nonnosos über seine im Jahre 533 im Auf- trage Justinians unternommene Reise an den Hof eines Äthiopenfürsten in Axomis, I 74 f. 80. 86. Die Germaniainterpreten wird aus dem Dieterich sehen Material interessieren die Stelle aus Agathias II 5 : „Rosse sind bei ihnen (den Franken = Germanen) gar nicht üblich, oder doch nur in ganz geringer Zahl, zumal sie im Fußkampfe von ihren Vätern her vertraut und vortrefflich darin geübt sind" (vgl. Tac. Germ. 6 equi non forma, non velocitate conspicui ...; in Universum aestimanti plus penes peditem roboris), sowie aus demselben 1 19: „Den Franken ist die Schwüle widerwärtig, so daß sie ihnen starkes Unbehagen verur- sacht, und sie nie gern im Sommer kämpfen würden; wohl aber strotzen sie vor Gesundheit bei der Kälte, sind dann am kräftigsten und leiden am wenigsten. Denn dazu sind sie entsprechend angelegt, weil sie eine winter- liche Heimat haben und ihnen das Frieren zur zweiten Natur geworden ist" (vgl. Tac. 4 mininie sitim aestumque tölerare, frigora atque inediam caelo solore assueverunt).

Kap. I. Die Germania im Rahmen der ethnograph. Literatur des Altertums

zuversichtlich bejaht wird1), möchte ich lieber unentschieden lassen. Aber unverkennbar scheint mir, daß sich mit dem ausgesprochen geographischen Interesse dieses Dichters gelegentlich ein ethno- graphisches verbindet. Bei den Abanten (542 ff.) wird eine Besonder- heit der Haartracht erwähnt: diese gehört last zum ständigen Inventar der Ethnographie, und die homerische Ausdrucksweise findet sich bei Herodot wörtlich von einem anderen Volksstamm gebraucht.2; Von den Enetern heißt es (852), aus ihrem Lande kämen die wilden Maul- esel3), von den Halizonen (857): „fernher aus Alybe, wo die Heimat des Silbers ist4)"; die Fauna eines Landes und seine Bodenschätze, ge- rade auch Arten der Maulesel und Silber dieses noch bei Taei- tus c. 5 , pflegen in keinen Ethnographien zu fehlen. Der Ab- schnitt über Rhodos (653 670) stellt eine ausgeführte Gründungs- geschichte dar, eine xxlöis, die älteste ihrer Art, mit einer förmlichen Urgeschichte, aqyaioXoyia: der Insel; die Stammesgliederung, ein Motiv, dem die späteren Ethnographen sehr zum Vorteil unseres Wissens große Beachtung schenkten, wird erwähnt: ZQiyßä de ourjdsv xaratpvXadöv (668).5) Letzteres gilt auch von einem Verse der Odyssee, dessen Angabe den Geographen der Zukunft Anlaß zu den umfäng- lichsten Erörterungen wurde: a 23 Ai&CoJtss, toi dC%&a deöuiaxui^

£6ya%0l UVÖQCbV.

Durch die Entdeckungsfahrten bildete sich eine technische Sprache der Nautik heraus, die ältere Dichter der Odyssee bereits vorfänden und bloß poetisch zu ornamentieren brauchten. In dem Versschlusse 6 389. y. 539 bdbg xccl iiexqcc zsXsvfrov liegt die Prosa sogar den Worten nach noch fast unverhüllt vor6), und von dem Hesiodischen Verse

1) Nach dem Vorgange von B. Niese (Der Homerische Schiffskatalog, Kiel 1873) ist b* sonders M. P. Nilsson, Rh. Mus. LX (1905) 161ff. dafür eingetreten, dem F.Jacoby, ß. E. VII 2687 beizupflichten scheint.

2) B 542 omO-sv xoiLOtovxsg: vgl. Herod. IV 180 oi ^ihv Mä%lvsg (in Libyen) xa onieco xofiso'ufft xi\g xscpul.fig, oi dh Avöiig xa '^TtQoa&e.

8) Auf die Kongruenz mit Mimnermos fr. 17 ücciovag ccvSoug äyav, Zvu xs xleixbv yivog Znnwv weist Jacoby, Hermes L1II (1918) 298, 3 hin.

4) Diese Worte sind soeben überraschend beleuchtet worden durch E. Forrer, Die acht Sprachen der Boghazköi-Inschriften, Sitz.-Ber. d. Berl. Ak. 1919, 1037: wir besitzen im Baläischen, einer idg. Sprache des III. Jahrtausends, aus dem Hinterlande von Trapezunt, wo Alybe lag, einen Zauberspruch auf das Silber Auch der .Stadtname Alazhana kommt vor.

5) Vgl. r 177 zSatQihg xe xQix^Ksg. 6) Niieson a. a. 0. (Anm. 1) 165, 2.

Ethnographisches bei Homer 17

Erg. 698 „wenn du dich der Handelsschiffahrt1 ) zuwenden willst, so werde ich dir die Maße des Meeres aufzeigen" (dsl^a ört rot y.srya 7CoXvcpXoiößoio d'dXdöörjg) ist mit Recht gesagt worden, er lese sich wie der Einleitungsvers eines alten Periplus'2) oder sagen wir lieber: eines Schifferhandbuchs. Wenn wir die Verse der Odyssee i 82 „von dort wurde ich neun Tage durch verderbliche Winde über das fisch- reiche Meer getragen" oder | 252 ff. (aus der Pseudologie des Odysseus bei Eumaios) „am siebenten Tage fuhren wir von Kreta bei einer schönen Brise aus Nord leichthin mit der Strömung . . .; fünf Tage darauf kamen wir nach Ägypten" oder rj 267 (aus der Erzählung seiner Fahrt von Ogygia nach Scheria): „siebzehn Tage fuhr ich über das Meer dahin"' ihres nur ganz leicht übergestreiften poetischen Gewandes entkleiden, so besagen sie nichts anderes, als was wir bei Hekataios (fr. 303) lesen: „eine Fahrt von drei Tagen"3) oder bei Herodot (IV 181 u. ö.) „ein Weg von zehn Tagen" oder in der streckenweise auf ein massaliotisches Schifferhand buch des endenden VI. Jahrh. zurückgehenden Ora maritima des Avienus (562): „von den Säulen des Herakles läuft ein schnelles Schiff sieben Tage". Den ebenfalls sehr alten punischen Bericht des Hanno über seine Fahrt an der Westküste Afrikas übersetzte etwa zu Anfang des IV. Jahrh. ein Grieche; dieser Bericht beginnt so: „Wir stachen in See, passierten die Säulen und fuhren außen eine Fahrt von zwei Tagen: hier gründeten wir eine Stadt." Dabei erinnern wir uns wieder an den Anfang des alten Nostos der Odyssee (t 39), wo es dann aber nach Erwähnung des Gestades der Kikonen so weiter- geht: „dort zerstörte ich eine Stadt": das izsodsiv mit Vernichtung der Bewohner entsprach dem alten Brauche der Kolonisten, Tod und Verderben in das Land der Ureinwohner zu tragen4); an dessen Stelle

1) itiTioglr}, unhomerisch; Zimoqos nur in jüngeren Schichten der Odyssee (|3 319. 03 300), dagegen wird r] 161 ff', sein Gewerbe weitläufig umschrieben; o 456 steht i[nto).6avto von den ffroiviKsg.

2) Nilsson a. a. 0.

3) Vgl. Jacony a. a. O. (S. 16, 1) 2691.

4) Vgl. Jacoby a.a.O. (S. 16, 3) 27.6, 1: er hat dort die Odysseestelle in diesem Sinne, als Ausdruck der „Roheit der alten Kolonisationsmethode", ver- stehen gelehrt. Ich bemerke noch, daß sie in der Odyssee ganz vereinzelt da- steht — wie häufig dagegen in der Ilias Phrasen wie nigoev öh nöXiv, nigaccg aenea nolkd n. dgl. und eben dadurch ihre Altertümlichkeit gewährleistet

Norden: Die germanische Urgeschichte -j

J8 Kap. I. Die Germania im Rahmen der ethnograph. Literatur des Altertum»

trat später das friedliche xtC&iv. War der Seefahrer gelandet, dann kam die Fußreise an der Küste oder ins Landinnere; formelhafte Aus- drücke wie diese „Wegeslänge: für einen rüstigen Mann fünf (drei- zehn, dreißig) Tage", die uns wiederholt bei Eerodot, einmal auch bei Thukydides begegnen1), reichen ersichtlich in hohes Altertum hinauf und haben in Verbindung mit den Entfernungsangaben der Seefahrer den Geographen frühzeitig die Möglichkeit zu ungefähren Berech- nungen geboten.2) Wir müssen uns gegenwärtig halten, daß es eine Prosa dieser Art, um es aristotelisch zu formulieren, als Idee lange gab, bevor sie in die Erscheinung trat, d. h. Literatur wurde. Im VI. Jahrh. war dieser Prozeß vollzogen. Besäßen wir von den Seefahrern, die damals die Ergebnisse ihrer Erkundungen au ('zeichneten3), Proma- thos von Samos4) und Euthymenes von Massalia5 , Wörtliches, so würden wir Schiffahrtsberichte in einer Prosa lesen, die den jüngsten Schichten des Epos etwa gleichzeitig war. Allein darüber ist nur verblaßte Kunde auf uns gelangt und nichts, was uns über die Form belehrte. Dagegen besitzen wir aus eben jener Zeit einigermaßen faßbare Kunde eines merkwürdigen Epos, auf das es sich lohnen dürfte in diesem Zusammenhange einen Blick zu werfen.

1) Mfjxog 6äov £v£mva) avdgl ttsvts (xqitJxovxcc) ijfieQai Herod. I 72, 2. 104, 1. II 34, 2, ödbg . . . ccvöqI sv^mveo xqiwv xal dexa ccvvöat, Thuk. II 97, 2, hier also bereits etwas stilisiert.

2) Aristoteles Meteor. B 5. 362b 24 bestimmt das Verhältnis von Länge und Breite der Oikumene zueinander nach Schiffs- und Wegemaßen: iäv zig xovg xe ■Jilovg loyl£r\xai xal xag odovg, tag ivöi^sxai Xa^ißäveiv xwv xoiovxav xäg ccxQißsiccg.

3) Ihre Bedeutung ist durch J. Partsch, Des Aristoteles Buch über das Steigen des Nils (Leipz. 1909), in helle Beleuchtung gerückt worden. Übrigens scheinen diese bibnographischen Raritäten doch erst von der alexan dänischen Bibliothek erworben und vor Eratosthenes der Benutzung nicht zugänglich ge- wesen zu sein: P. Corssen, Philol. LXXIV (1918) 30fi'.

4) Samos tritt in diesem Zusammenhange stark hervor. Außer an Kolaios (Herod. IV 152) sei an Pausimachos von Samos erinneit, deu Avienus or. mar. 45 unter den alten Quellenautoren des von ihm benutzten Periplus nennt, sowie an die Navxixr} aßXQoloyicc des Phokos von Samos, die einige dem Thaies zuschrieben (Diog. L. 1 23).

5) Den Massalioten lag das im Blute: Herod. I 163 von den Phokäern: vccvxiXiyoi [icixQfjei TtQ&xoi'EXXrjvav i%gi]6avxo, xcci xöv x£'ASq'u]v xal xi]V TvqgtjvLtiv xal xtjv 'Ißriglriv xal xbv T<xqxi]Ogov ovxoi eiev ot xaxaöi^avxsg. Das bewährte dann Pytheas.

Das Aristeasepos 19

Dem jüngsten Stücke der Odyssee, der „orphischen" Interpola- tion der Nekyia, etwa gleichzeitig, d. h. aus der Mitte des VI. Jahrb., war ein episches Gedicht, dessen Verfasser die Maske des apolli- nischen Wundermannes Aristeas von Prokonnesos1), einer milesi- schen Kolonie im Marmarameere, angelegt hatte, wie andere die des Orpheus, Musaios, Epimenides, Empedotimos.2) Das uralte, unserer

1) Ich °ebe im folgenden, meist ohne nähere Begründung, die zu weit führen iwürde, die Ergebnisse meiner Untersuchungen. Was die Zeitbestimmung betrifft,

so beruht die Annahme derjenigen, die bis ins VII. Jahrh. hinaufgehen, auf einer Reihe von Fehlschlüssen, von denen nur einer hier Erwähnung finden möge: Alkman soll das Epos bereits gekannt haben (so nach anderen wieder W. Toma- schek, Kritik d. ältesten Nachrichten über den skythischen Norden I, Sitzungsber. d. Wiener Ak. CXVI 1888, 732; ganz vor kurzem A. Herrmann in dem Artikel Issedoi', R. E. IX 2235 f.). Aber Steph. Byz. 'l6ar]S6vsg, s&vog Zkv&ikov. 'Exarcaog 4eia. 'AIy.\lclv dh fiovog 'E6GT\S6vag avtovg q>r\aiv beweist vielmehr das Gegenteil, denn bei Aristeas muß nach dem Berichte des Herodot und nach dem Fragm. 2 (Kinkel, Ep. graec. fragm. p. 245 'Ifferjdoi %aLtr\6iv ccycclX6[i£voi ravaf]6i) die Namens- form mit I konstant gewesen sein, neben der die mit E durch das ganze Alter- tum (bis auf die Peutingersche Tafel) hergeht. Also hat der Lyder Alkman vermutlich in dem berühmten Völkerkataloge fr. 118: nennt doch auch Horaz in seiner Nachbildung II 20 die Völker des fernsten Ostens den Namen des Volkes nicht aus dem Epos des Aristeas entnommen, sondern er ist der älteste Zeuge für den Namen der Essedonen. Die Datierung des Aristeas bei Suidas: ytyovE Kura. KqoIgov nal Kvqov anzuzweifeln, haben wir nicht die geringste Ver- anlassung. Aus Herodot, der keine Zeitbestimmung gibt, kann er nicht erschlossen sein; daß es aber neben Herodot anderweitige Überlieferung gab, zeigt Theopom- pos bei Athen. XIII 605 C. Zudem macht die Datierung nach Kroisos und Kyros den Eindruck guter Tradition: sie ist nicht bloß für die Apollodorische Chronik wiederholt bezeugt, sondern auch für die parische, in der Hipponax nach Kroisos und Kyros datiert wird (42 Jacoby). Die Richtigkeit dieser Datierungen, wonach also Aristeas und Hipponax Zeitgenossen waren, läßt sich vielleicht durch ein an sich unscheinbares Sprachkriterium erhärten: xapra kommt m. W. vor zuerst bei Hipponax (xccqtcc yctQ §iy&) und in dem 3. Fragment des Aristeas xapra \Lcc%j]Täg (beide Stellen fehlen im Thes. und in Rutherfords Phrynichus S. 8).

2) Mit den beiden letzten und einer Reihe anderer Dunkelmänner wird Aristeas zusammen genannt in einer gelehrten Aufzählung bei Clemens AI. ström. I 21 (II S. 82 St.). Schon Müllenhoff hat, richtiger als die meisten Späteren, im Jahre 1872 ausgesprochen, man dürfe Aristeas nicht vor das VI. Jahrh. setzen und müsse den Poeten in die Beihe der damals florierenden „mystischen Epiker" stellen (D. A. III 24). Vgl. auch E. Bethe, R. E. II 876. Es ist merkwürdig, wie sich oft der King der Zeiten zusammenschließt. Mehr als ein halbes Jahrtausend später machten die „Mystiker" der Kaiserzeit wieder Reisen in den fernen Osten, um sich Gnosis zu verschaffen. Weniger bekannt als Apollonios ist Kleombrotos

20 KaP- 1- Die Germania im Rahmen der ethnograph. Literatur des Altertums

Odyssee weit vorauf- und ihr zugrunde liegende Motiv der Wande- rungen des Apollon und des mit dem Gotte wie zu einer Einheit sich verbindenden Priesters hat hier noch einmal Gestaltung ge- funden1); aber es wehte doch schon der Wind großen geschicht- lichen Erlebens, und so enthüllte sich aus dem Nebeldufte von Sage und Märchen der Geist der werdenden lötoglcc. Jn phanta- stischer Einkleidung waren hier Erkundungen über den fernsten Osten der Oikumene als Ich-Erzählung niedergelegt: auf die Nomaden- völker am südlichen Ural, vielleicht sogar die westsibirischen Steppen- bewohner-) fiel hier zum ersten Male das Dämmerlicht der Geschichte. Eine vorsichtige Prüfung der Zeugnisse besonders Herodots sowie der wenigen, aber teilweise charakteristischen Fragmente des Gedichtes selbst3) muß m. E. zu einer mittleren Linie führen zwischen

von Lakedaimon, ein Freund l'lutarchs, der von ihm folgende interessante Noiiz in der Schrift de def. orac. 2 p. 410 A bringt: „Er war in Ägypten und im Troglodytenlande viel umhergereist, auch ein weites Stück das Rote Meer heraufgefahren, nicht in Handelsgeschäften, sondern als schau- und lernbegie- riger Mann verwendete er sein auskömmliches Vermögen, an dessen Vermehrung über den Bedarf ihm nichts lag, und seine Muße auf dergleichen Dinge und brachte Erkundungsmaterial für eine Philosophie zusammen, als deren Ziel er die Theologie bezeichnete (avvfjysv latOQiav olov v7.r\v cpilo6ocpiag,&EO?.oyiav cocjrep avzbg iv.ä.Xzi rilog ^o?5(??js)."

1) Diese Auffassung entnehme ich Ed. Schwartz, Fünf Vorträge über d. griech. Roman (Berl. 1896) 27.

2) A. Herrmann a. a. 0. (S. 19, 1). Ich vermag seine Beweisführung über die geographische Lage der 'Issedonen1 im einzelnen freilich nicht nachzuprüfen; wenn sie aber schließlich die alte Vermutung (vgl. die Zitate bei Müllenhoff, D. A. III 11) einer Namensidentität bestätigt der heutige Fluß 'Isset' ist ein Nebenfluß des Tobol, an dem Tobolsk liegt , so dient \hr das vielleicht zur Empfehlung.

3) Das längste, aus 6 Versen bestehende (fr. 1 Kinkel, zitiert vom Verf. ■xbqI vtyovg 10, 4) ist verständlich nur als Rede der Issedonen, die Aristeas nach dem Zeugnisse Herodots IV 16 redend einführte. Sie, die Binnenländer, sprechen in jenen Versen ihre Verwunderung darüber aus, daß es Menschen gebe, die ipvxfjv iv 7i6vza> lyovGiv. Diese Auffassung des unbegreiflich mißdeuteten Frag- ments wird durch dessen Vorlage X 121 ff. gewährleistet. Daß in fr. 2 'l66T\8ol XccitrjGiv &yaXX6{iEvot, rccvccy6t, und 4 %airrj6iv Xäßiot, (von einem anderen Volke) gerade auf die Haartracht Bezug genommen wird, ist bemerkenswert. Wir fanden das schon in dem Homerischen Troerkatalog (o. S. 16, 2), und es ist bei den Ethnographen ein ständiges Motiv seit Herodot (IV 175. 180 u. ö.), fehlt ja auch nicht in der Germania (c. 38). Dank dem Fortleben der Tradition über die

Das Aristeasepos 21

den Extremen der modernen Forschung, die alles glaubt oder alles verwirft. Die Grundlage ist geschichtlich, sie wird gebildet durch Mitteilungen, die dem Verfasser hellenische Kaufleute zugetragen hatten. Diese waren zwar nicht selbst in jene fernen Gegenden gelangt, aber sie hatten die Kunde von dem Volke durch skythische, der hellenischen Sprache mächtige Händler1) empfangen, die auf den Karawanenstraßen so weit gezogen waren: für solche, im Zwischen- handel an binnländischen Stapelplätzen oder in Umschlagshäfen gewonnene Kunde bietet die antike und moderne Entdeckungs- geschichte zahlreiche Beispiele. Diese Kunde griff der Verfasser des Aristeasepos auf. Er fingierte %oiicav syrjös, wie Herodot, den Sachverhalt durch das Wort scharf betonend, sagt (IV 16)2) , Aristeas sei „von Phoibos ergriffen"3), also kraft einer ekstati- schen Vision, selbst in jene Gegenden gelangt, habe dort die Issedonen besucht, die Eigenart des Volkes durch Autopsie kennen- gelernt4) und von ihnen Kunde über gewaltige Völkerverschiebungen erhalten, deren Ausläufer in der Wanderung der Kimmerier die Küsten des „eüdlichen Meeres" (des Pontos Euxeinos) erreichten. Hier tritt uns wenigstens in der Paraphrase Herodots (c. 13) zum ersten Male der Begriff der „Völkerwanderung"5) als gewaltiges geschicht-

Haartracht der alten Athener darch Thukydides (I 6, 3) sind wir auch über die der Franken und Avaren durch Agathias und den Chronographen Theo- phanes genau unterrichtet (die Stellen aus den beiden Byzantinern bei Dieterich in dem o. S. 14, 2 zitierten Werke, Bd. II, S. 9. 19).

1) Solche gab es bezeugtermaßen: Herod. IV 24.

2) Nur aus dem Umstände, daß man dies übersah, vermag ich es zu er- klären, daß viele auf den Gedanken kamen, „Aristeas" habe die abenteuerliche Reise in persona ausgeführt.

3) (poiß6la.ybTtxog ysvoiisvog Herod. IV 13 (vgl. E. Rohde, Psyche1 383, 1). Dabei muß man an des Empedokles Worte iya ä' viüv ftsög &{ißQOTog, ovkbti 9vr}t6g denken.

4) Die Sonderung der otpig von der äxo% die Herod. IV 16 bezeugt, ist be- merkenswert: sie ist dann in der ethnographischen Literatur seit Hekataios (Jacoby, R. E. VII 2677) konstant. Die Formulierung hat aber vielleicht erst Herodot in die Worte des „Aristeas" hineingetragen.

5) Die Bezeichnung als solche ist nicht antik, sie stammt aus der modernen, aber noch in lateinisches Gewand sich kleidenden Historiographie: 'migratio gentium': vgl. A. Dove, Stud. z. Vorgesch. d. deutschen Volksnamens (Heidelb. 1916) 18.

22 Kap. I. Die Germania im Rahmen der etbnograph. Literatnr des Altertums

lichcs Geschehnis entgegen. Das gestattet einen weiten Ausblick. Die Steppen zwischen Südural und Kaukasus wurden später von den Alanen bewohnt, die, von den Hunnen bedrängt, den Anstoß zu den die nordeuropäischen Völkerverhältnisse revolutionierenden Verschie- bungen gaben. Die Anfänge dieser Völkerbewegung hat in einem be- rühmten, durch Gust. Freytags Übersetzung allen gebildeten Deutschen vermittelten Berichte der byzantinische Historiker Priskos geschildert (Exe. de leg. I 122 ff. de Boor), der im Jabre 448 als Gesandter in Attilas Hof'lager (im östl. Ungarn, unweit der Theiß) gekommen war; er hat sich dabei die ihm aus Herodot bekannte Erzählung des Aristeas- epos von den großen Völkerschüben der Vergangenheit ersichtlich zum Vorbild genommen. Hier hat einmal das unzulängliche eigne Stilvermögen eines freilich hervorragenden Vertreters der späten Historiographie weltgeschichtliche Zusammenhänge fast eines Jahr- tausends zum Ausdruck gebracht.

Das Aristeasgedicht wies in seiner Mischung von Phantastik und Gegenständlichkeit die Kennzeichen jenes psychischen Gärungspro- zesses auf, der einem großen Teile der Literatur des VI. Jahrh. ein eigenartiges Gepräge gab. Es stammte aus einer Zeit, da das Epos schon „zersungen" war. und trug, wie noch uns die wenigen Fragmente bestätigen, den Stempel der Minderwertigkeit.1; Die Zeit war reif dazu geworden, daß nun wie die poetische Götter- und Heldensage so auch die poetische Periegese durch die prosaische abgelöst wurde: hat doch Hekataios dieses Epos, das ja auch auf den für Ethnographisches aller Art empfänglichen Sinn des Aiscbylos wirkte, aller Wahrscheinlichkeit nach benutzt.2) Der schlichte Ton von Routenberichten, den, wie wir sahen, die Dichter der Odyssee nicht prägten, sondern der Sprache des Lebens nachbildeten, klingt auch in jüngerer Prosa immer wieder an. In dem Xenophontischen Berichte über den Marsch des Kyros und den Rückmarsch der Hellenen wiederholt sich zur Freude unserer Schuljugend stationenmäßig die

1) Das abfällige Urteil des Verf. %. vip. 10, 4 über die von ihm zitierten seebs Verse (s. o. S. 20, 3) betrifft offenbar niebt nur diese: aueb die weiteren uns erhaltenen sechs zeigen ängstliche Anlehnung an die Odyssee. Daß unter nur zwölf Versen ein so schlecht gebauter wie dieser ist: dv6TT}voi xivig sleiv £%ov6i yccQ %Qycc itovrjQa, ist auch bezeichnend.

2) Jacoby a. a. 0. (o. S. 16, 1) -.1708.

Routenberichte 23

Formel *£vrev&sv e^sXavvsi so und so weit', die ähnlich auch in Herodots Erzählung über die Feldzüge des Sesostris vorkommt.1) Das ist nur umgesetzt ia die dritte Person wieder nichts anderes als jene Formel in der Reiseerzählung des Odysseus (t, x, (i), mit der, wie bemerkt, der Schulknabe des Altertums wegen ihrer Faßlichkeit die Homerlektüre begann: ev&ev de TCQortQco JiXeo^isv, mehrere Male wech- selnd mit sv&sv ö' svvr^iao q)SQÖtui]v. Derartiges läßt sich dann weithin in der militärischen Berichterstattung sogar von Königen und Kaisern verfolgen: hvTsi&av de Sio&ivfig ävu%&bvtts ytccQaysvö(isd,a slg n)v 2sXevx£iuv schreibt Ptolemaios III. Euergetes in seinem Berichte über den Syrischen Krieg (vom Jahre 246 v. Chr.), inde Berzobim, deinde Aizi processimus Traianus in dem seinigen über die dakischen Kriege (seit 101 n. Chr.).2) Dabei fehlte es, wie wir aus Xenophon schließen dürfen, nicht an der Erwähnung von allerlei Mirabilien und Curiosa auf der durchzogenen Strecke.3) Auch Nearchos hatte, wie wir noch aus den Exzerpten in der 'Ivftixrf Arrians erkennen, seine Expedition des Jahres 325 in diesem schlichten Stile geschildert, und dasselbe müssen wir voraussetzen für die Ungenannten, deren Aufzeichnungen Eratosthenes als kostbare Vermächtnisse von Augenzeugen verwertete (Strabo 1 i 69). Das waren Triebe desselben Stammes, aus dessen Wurzeln einst die Reiseer/ähluug des Epos erwachsen war. Reflek- tierendes Denken der Spätzeit stellte die ursprüngliche Einheit der in ihrer Entwicklung längst gesonderten Gattungen künstlich wieder her: Arrianus, der „neue Xenophon", hat in dem Berichte über seine Inspektionsreise an der Küste des Pontos die alte Weise „von da fuhren wir mit dem vom Flusse her wehenden Morgenwinde" mit

1) II 102 iv&svrsv 3h ag oitlöco aitiy.£XQ ig Aiyvnrov . . ., 103 iv&SVTSV öh im.6TQE'ipag OTtiaa r\iz.

2) Stellenangaben im Anh. I meines Agnostos Theos 320 f., wo mehr Bei- spiele dieser Art zu finden sind.

3) Es sei nur an diu drastische Schilderung der Mossynoiken an der pontischen Küste erinnert (V 4, Soff.), von denen es zusammenfassend beißt, sie seien von allen Völkerschaften, denen die Hellenen auf dem Rückwege begeg- neten, die ßaQßaQmrarov xai iiXslarov rwv ' EXXrivixwv vopcov xs%<üql6h£vol ge- wesen. Das ist alte ethnographische Ausdrucksweise, auf die wir im folgenden Kapitel näher werden einzugehen haben. Auch das stereotype itöXig oIkov(isvti gehört bei ihm sicher zum alten Bestände: schon im Schiffskatalog B 648 steht TtoXig iv vaierawoctg

24 Kap. I. Die Germania im Räumen der ethnograph. Literatur des Altertums

einem Odysseezitate verbrämt: „kalt ging, wie Homer sagt, die Luft" (Arrian peripl. 5). Neben der ernsten Schwester des Epos, der wissen- schaftlichen Historie von Land, und Leuten, stand, ebenfalls seit dem VI. Jahrh., eine heitere: die ionische Novelle, die dereinst ein wesent- licher Bestandteil sowohl des phantastischen wie des realistischen Reiseromans zu werden berufen war. In diesem war die Selbst- erzählung des Helden nach wie vor verbindlich, das Ethnographische spielte eine große Rolle, der Zusammenhang mit Odysseus, dem Arche- geten aller Abenteurer, blieb unvergessen.')

So nahmen auf diesem Gebiete, wie auf den meisten des griechischen Geisteslebens, fast alle Wege ihren Ausgang vom Epos. Doch ist, bei ihrem Betreten Behutsamkeit geboten. Aus dem Rufe „Im Anfang war Homeros" klingt uns bei Schriftstellern des Altertums oft der Ton der Anhistoresie entgegen, weil sie meist vergessen, die Grenze zwischen em- pirischer Beobachtung und Wissenschaft zu ziehen. Eratosthenes aber, der, wie bemerkt (o. S.13), Homer den „Vater der geographischen Em- pirie" nannte, hat nächst Anaximandros, der dem Kreise des Thaies angehört hatte, den Milesier Hekataios, den Mitbürger dieser beiden, als den Begründer der wissenschaftlichen Geographie bezeichnet (Strab. 1 7). So war es richtig formuliert. Ionisches Staunen über die Wunder

1) Daß er die Irrfahrten seines Encolpius als eine TCccgwSia derjenigen des Odysseus aufgefaßt wissen will, läßt Petronius seinen Helden mit solcher Deut- lichkeit sagen (c. 139), daß das Verhältnis längst richtig erkannt worden ist (übrigens tritt Apuleius met. IX 13 bestätigend hinzu). Dabei wurde aber ver- gessen, daß schon bei Varro, aus dessen saturae die petronischen überhaupt reiches Licht empfangen, selbst in den dürftigen Resten des 'Sesculixes' die Parallelisierung des Erzählers Varro selbst, der von sich in erster Person sprach mit dem Homerischen Helden klar zutage tritt (fr. 468 navibus duo- decitn domo prof'ectum, decem annos solidos errasse 471 vereor ne me qiioque, fjuom domum ab llio cossim venero, praeter canem cognoscat nemo, in 469 ist Vlixes geradezu genannt, in 470 wieder deutlich bezeichnet). Diese Satire ent- hielt reiches ethnographisches Material (vgl. fr. 474 f.), das in dem von Diodor exzerpierten Roman des Iambulos geradezu dominierte. Lukian sagt in der Vorrede seiner l4lr}&rig ißrogia, in der er einen Periplus im „Wir "-Stile par- odiert: 7toXlol dh xal alXoi . . . cvvsyQaipav w? $7/ tivag iavrwv %kdvag rt xal catodrHiiag und nennt Odysseus iv xolg xeqI xbv 'Alxivovv den Archegeten (I 3). Die Beliebtheit des Homerischen Anfangs 'IXio&sv jis cpsgav xr%. wolle man im Zusammenhang mit den Ausführungen im Text auch daraus ersehen, daß Seneca es in seiner Satire (c. 5) nicht unterlassen hat, ihn zu zitieren, vereint mit seinem Annex i-v&a ä" £ya> ti67.iv bttqcc&ov -/.rl.

Ethnographie und Kulturgeschichte 25

der Natur, die Neugier des Reisenden, Land und Leute, die er be- suchte, in ihrer von Helienenart abweichenden Besonderheit zu er- kunden, und eine hervorragende Beobachtungsgabe hatten es freilich schon den Homerischen Dichtern ermöglicht, ethnographische Skizzen von solcher Anschaulichkeit und Lebenswahrheit zu zeichnen, daß Piaton (Ges. III 680) und Aristoteles (Pol. A 1) sie ihren Unter- suchungen über Anfänge staatlicher Organisation zugrunde legten. Da- mit es aber von naiver Beobachtung bis zu bewußter kulturhistorischer Betrachtung kommen konnte, war noch ein langer Weg zu durch- messen. Hekataios begründete Länder- und Völkerkunde als Wissen- schaft, Herodotos verband diese, schon einer geprägten Form folgend1), mit der Geschichte des betreffenden Volkes. „Bis hierher, heißt es in dem ägyptischen Logos (II 99), ist es mein Schauen, meine Einsicht und Erkundung2), die dieses sagt": mit diesen Worten, in denen btyig y.al yvaur) dem Idsv 'Aal syvco des Odysseeprooimions entspricht, geht er von der Geographie und Ethnographie Ägyptens zu dessen Ge- schichte über. Philosophen unterwarfen dann das einzelne einer zu- sammenfassenden Betrachtung und schufen aus der Ethnographie, der es nur um die Lebensäußerungen der Völker zu tun war, die Kultur- geschichte. Die Herodot gleichzeitigen Sophisten Protagoras und Hippias haben dabei eine beträchtliche Rolle gespielt, und Piaton hat ihre Erkenntnisse vertieft. Aber erst Aristoteles und seine Schule hat durch eine gewaltige Materialsammlung von v6yu\iu der Kultur- und Barbarenvölker, durch interessiertes Sichversenken in ihre Psyche die kulturgeschichtliche Betrachtung des ßCog von Völkern als großen Organismen so begründet, daß sie zum dauernden Besitztum der Menschheit geworden ist. Agatharchides von Knidos ist ein beson- ders namhafter Vertreter dieser Richtung gewesen, sein Einfluß ist weithin kenntlich. Der Stoa, die den Erscheinungsformen des ewigen Logos auch in der Barbarenseele liebevoll nachging, mußte diese Betrachtungsweise, die die Oikumene umspannte, willkommen sein. So war es nur folgerichtig, daß Poseidonios, der allenthalben an

1) Darauf hat Jacoby, Über die Entwicklung der griech. Historiographie, Klio IX (1909) 90 hingewiesen: es gab TJsQ6ixä, Avdiaxd, die Herodot gleich- zeitig waren; vgl. auch seinen Artikel 'Herodotos' R. E. Suppl. II 331 f.

2) iaroglr}-. die Begriffsgeschichte dieses Wortes ist von W. Aiy, De Aeschyli copia verboruin (Diss. Bonn 1904) 26 ff. gut dargelegt worden.

26 Kap. I. Die Germania im Rahmen der ethnograph. Literatur des Altertums

Aristoteles anknüpfte und besonders auch von Agatharchides sichtbar beeinflußt worden ist, am Ende dieser Entwicklungsreihe gestanden hat.1) Er als Historiker und Ethnograph, nicht als Religions- philosoph wird in den nächsten Kapiteln gelegentlich in den Mittelpunkt der Betrachtungen treten, und wir werden sehen, daß er sich in seinen Schilderungen primitiver Völker gern auf Homerische Verse berief. Daher mag die im vorstehenden versuchte Skizze der Entwicklung mit folgender, ihren Anfang und ihr Ende hübsch be- zeichnenden Formulierung abgeschlossen werden, die auf das Prooimion der Odyssee anspielt: „Poseidonios hat in seinem Geschichtsuerke Vieler Menschen Sitten und Bräuche' verzeichnet" (Athenaeus IV 151 F).

Während sich so bei den Hellenen diese Wissenschaft aus wurzel- echten Tiefen zu einem die Jahrhunderte überspannenden Baume entfaltete, hat sie, in römisches Erdreich verpflanzt, ein viel beschei- deneres Dasein gefristet von den Zeiten an, da der alte Cato in seiner hausbackenen, von Wissenschaftssinn kaum berührten, aber lebens- klugen Art die Beobachtungen niederschrieb, die ihm eigne oder fremde Erkundung von Land und Leuten übermittelt hatte, bis hin- unter zu dem aus Moesia II Scythia, der heutigen nördlichen Dobrudscha, stammenden romanisierten Goten Jordanes2), dessen Getica trotz ihres barbarischen Gewandes eine ideelle Einheit bilden mit der Germania des kulturstolzen Stadtrömers. Zeitlich betrachtet steht diese Schrift des Tacitus etwa in der Mitte zwischen den rerixdc3) des Dion von Prusa und der 'Ivdixri des Arrianus. Gattungsgeschichtlich bietet sie ein schwieriges Problem, insofern sich keine genaue Analogie zu ihr aufzeigen läßt. Im folgenden werde ich den Tatsachenbestand vor- legen, dessen Beurteilung dem nachprüfenden Leser anheimgestellt sei.4)

Innerhalb der uns erhaltenen Literatur scheint der Taciteischen Germania die indische Monographie Arrians noch am nächsten zu

1) Sie ist von mir in einem Anhange zum Agnostos Theos (S. 370 ff.) kurz gezeichnet worden. Vgl. jetzt auch Trüdinger a. a. 0. (o. S. 8, 1).

2) Über die 'monachi Scythici' ist jetzt aus Ed. Schwartz, Acta conciliorum IV 2 (Straßb. 1914) p. Vff. Lehrreiches zu entnehmen.

3) Tsrixa eines Kriton zitiert Steph. Byz. 206, 8; einen Historiker dieses Namens nennt Hesychios-Suidas.

4) Ich habe das Folgende mit F. Jacoby durchgesprochen, dem ich für manche Hinweise zu Dank verpflichtet bin.

Die Germania ein literarhistorisches Problem 27

stehen, doch werden wir eine Einschränkung zu machen haben. Arriauus kündigt die 'Ivdixtf in der Anabasis als beabsichtigte Er- gänzung dieses seines Geschichtswerkes an ( V 5, 1). Am Ende des ersten, die Schilderung von Land und Leuten enthaltenden Teiles der 'Ivdixij sagt er ausdrücklich (17, 7), der Plan dieser Schrift sei nicht eine Ethnographie der Inder, sondern die Ethnographie sei nur als Exkurs gedacht zu der Darstellung der Rückfahrt der Flotte Ton der Indus- zur Euphratmündung. Zu dieser Darstellung geht er in dem zweiten, größeren Teile der Schrift über, die er mit den Worten be- schließt: „Ich bin am Ende dieses meines Werkes, das ebenfalls die Geschichte des Makedonen Alexandros zum Gegenstande hat." Also auch die 'Ivdixri tritt keineswegs aus der literarischen Gewohnheit heraus, die Ethnographie als Einlage in ein Geschichtswerk zu geben1); von einer verselbständigten ethnographischen Monographie dürfen wir, genau genommen, nicht reden, und deshalb ist der "Vergleich mit der Taciteischen, die eben dies ist, nicht ohne weiteres zulässig. Damit ist aber gesagt, daß uns in griechischer Sprache keine der Taciteischen Germania verwandte Schrift erhalten ist. Nun ist freilich ein Schluß von NichtÜberlieferung auf Nichtexistenz nur mit Vorbehalt zulässig, aber wir übersehen die griechische Literatur gattungsgeschichtlich doch mit hinlänglicher Genauigkeit, um sagen zu dürfen, daß in Schriften mit Titeln wie tcsqI AlyvTttov, Bi&vvCag, ©sööaXCag, 'IzaXiag, KccQiccg, Kilixiag, 2JixeXiag, 2JvgCag, denen Alyvjtriaxd, Bi&vvlccxcc, OevtaXixd usw. zur Seite stehen2), das Ethnographische in herodo-

1) Eine vom Gewöhnlichen abweichende Praxis übte Herakleides von Kyme, ein Zeitgenosse Köoigs Philippos, in seinen IJegeiyd: er schickte das Ethno- graphische in zwei Büchern, die mit dem Sondertitel JJaQa6y.iva6riy.oi zitiert werden, der Geschichtserzählung voraus: Jacoby, R. E. VIII 470. Für die üb- liche Praxis bedarf es keiner Belege, doch sei auf eine bemerkenswerte Stelle des Velleius hingewiesen. In dem größeren von ihm geplanten Geschichtswerke, in dem er bis auf den Caesarischen Bürgerkrieg zurückgehen wollte (II 48, 6), sollte auch die Erzählung des pannonisch- dalmatischen Krieges des Tiberius vorkommen (II 114,4) und innerhalb dieser eine Geographie und Ethnographie. II 96, 3 gentes Pannoniorum Dalmatarumque nationes situmque regionum ac flutni- num numerumque et modum virium excelsissimasque et viultiplices eo hello Victo- rias tanti imperatoris alio loco explicabimus.

2) Daß Arrian seine Schrift abweichend 'Ivdixrj, nicht 'IvSixd oder tcsqI 'IvSiag betitelte, wird archaistische Affektation sein: vgl. Thukyd. I 97, 2 iv r-jj llrrixfi £vyyQaqifi ' EXXävixos mit Arrian anab. VI 16, 6 iv ty 'Ivdixjj £vyyQa<j>ji äi]Xcooa.

28 Kap. I. Die Germania im Rahmen der ethno^raph. Literatur des Altertums

teischer Weise nur einen Teil der Landesgeschichte hat bilden können, und daß auch in Schriften über Länder, die an eigner Geschichte arm waren und von der Kultur abseits standen, wie etwa Ttagl ric/tfXuyo- vtag, ©QaxLxd, 21xvftix,ä, der gattungsgeschichtliche Charakter wenig- stens im Prinzip vermutlich gewahrt worden ist. Auch in der lateini- schen Literatur, soweit wir sie besitzen, steht die Germania isoliert da, und mit dem üblichen Hinweis1) auf die verlorenen Schriften Senecas De situ Indiae und De situ et sacris Aegi/ptiorum2) ist nicht viel gewonnen, da wir uns von deren Inhalt keine Vorstellung machen können, ja, nicht einmal die Titel sichere Gewähr haben. Wenn somit die Germania innerhalb der gesamten Literatur beider Völker allem Anscheine nach keine genaue Analogie gehabt hat, so wird diese an- gesichts der Geschlossenheit der antiken Literaturgattungen höchst befremdliche Erscheinung durch irgendwelche besonderen Vorgänge begründet gewesen sein, denen sich vielleicht vermutungsweise auf die Spur kommen läßt. Es ist vielfach aufgefallen, daß die Germania die einzige Taciteische Schrift ist, die einer Angabe über ihre Be- stimmung und die Person ihres Verfassers entbehrt. Durch den Hin- weis darauf, daß ihr Anfang Germania omnis an den der Caesarischen Memoiren Gallia est omnis . . . erinnern solle obwohl auch dies, wie wir späterhin sehen werden, nur in bedingtem Sinne richtig ist , wird nichts gewonnen: der Gedanke, Tacitus habe ein persön- liches Prooemium dem Anschluß an Caesar zuliebe einfach weggelassen, beruht ja auf ganz äußerlicher Betrachtungsweise. Wie also, wenn die Schrift deshalb einer Publikationsetikette, des Prooemiums, ent- behrt, weil sie zunächst nicht zur Publikation bestimmt war? Ich würde diese mir gesprächsweise übrigens auch von anderen mitgeteilte An- sicht nicht einmal als Hypothese auszusprechen wagen, wenn sich nicht mit jener Seltsamkeit eine andere verbände, die in die gleiche Richtung weisen könnte. Welches war der Titel der Schrift? Ob das von H. Jacobs entdeckte Zeugnis der Hersfelder Handschrift, in welcher der Titel de origine et situ Germanorum (vgl. darüber An- hang I) lautete, eine Gewähr bietet, die über das X. Jahrh., günstigstenfalls

1) Zuerst gegeben von A. Reifferscheid, Coniectanea in Tac. Germaniam ^Symb. phil. Bonn., Leipz. 1864 f.) 624.

2) Es sei bemerkt, daß Seneca in jungen Jahren Ägypten besucht hatte, wo sein Oheim mütterlicherseits Präfekt war: cons. ad Polyb. 19, 4 f.

Die Germania ein literarhistorisches Problem 29

über die Zeit der Ahnen dieser Handschrift hinaufreicht, muß zweifel- haft erscheinen. Wie also, wenn die Schrift aus demselben Grunde der zweiten Publikationsetikette, des Titels, entbehrt, der dann, als die Schrift dennoch an die Öffentlichkeit trat, nach Gutdünken er- gänzt wurde? Ja, wenn man sich einmal in diese Gedankengänge einschalten will, so läßt sich yielleicht auch ein innerer Grund für diese befremdliche Sonderstellung der Germania innerhalb des Taci- teischen Schriftencorpus finden. Daß Tacitus die Historien, wenig- stens ihrem allgemeinen Plane nach, im Jahre 98, dem Abfassungs- jahre der Germania, bereits im Kopfe trug, wissen wir durch sein Selbstzeugnis (Agr. 3). Ein Geschichtswerk dieses Inhalts ohne ethnographische Exkurse ist schwer vorstellbar: wie sollte sich Tacitus diese Würze versagt haben, von der er selbst, mit Hinblick auf das Livianische Werk, in den Annalen (IV 33) sagt: sihis gentium . . . retinent ac redintegrant legentium animum. Den Exkurs über Iudaea lesen wir ja noch selbst; daß ein britannischer in den verlorenen Partien stand, wird jedem wahrscheinlich erscheinen, der bedenkt, daß die Feld- züge des Agricola in den Jahren 78 85 eine Situationsschilderung wünschenswert machten, wie ja auch die kleine, dem Andenken dieses Mannes gewidmete Schrift ohne eine solche nicht auskam (Agr. 10 13). Dann aber werden wir mit weiterer Wahrscheinlichkeit zu der An- nahme geführt, daß die Historien auch einen Germanenexkurs ent- hielten. Denn die Zeit der flavischen Kaiser war an germanischen Ereignissen reich. Die Germanenkriege des Vespasianus (73/4) und Domitianus (83/4) hatten wichtige administrative Maßnahmen im Gefolge: die Einrichtung der beiden militärischen Verwaltungsbezirke Ober- und Untergermanien als Provinzen, die Einbeziehung der Od- grenze zwischen Rhein und Neckar in die obere Provinz, den Bau von Grenz kastellen und Straßen. Mag Tacitus dabei die recht be- trächtlichen Verdienste wenigstens des Domitianus noch so sehr verklei- nert haben : an einer ausführlichen Darstellung dieser wichtigen Begeben- heiten, für die er der Primärberichterstatter war, konnte er nicht vorbeigehen, und da sie sich auf einem Boden abspielten, der seinen Lesern größtenteils unbekannt, und bei einem Volke, das ihnen damals wieder so interessant wie kein anderes des Westens war, so wird er ihrem Verständnisse und ihrer Neugier die Befriedigung voraussichtlich ebensowenig versagt haben, wie es Livius tat, dessen einst dicht bei-

30 Kap. I. Die Germania im Rahmen der cthnograph. Literatur des Altertums

einander stehende Exkurse über Britannien und Germanien uns noch wiederholt beschäftigen werden. Die Germania sei so etwu for- mulierte es Mommsen (lieden u. Aufs. lo2j als Monographie den Historien vorausgeschickt; das dürfen wir nun vielleicht so ausdrücken: sie war ein ausgeführter Entwurf mit der Bestimmung, in verkürzter Gestalt als ethnographischer Exkurs in das Geschir-htswerk aufgenommen zu werden, daher von dem Verfasser vorerst nicht veröffentlicht, spi'.tfr- hin als Ganzes neben dem Teil herausgegeben, sei es mit seinem Willen, sei es ohne diesen oder sei es auch erst aus dem Nachlaß denn in diese Geheimnisse läßt sich nicht mehr eindringen, hier hat die Phan- tasie freien Spielraum. Wie man sich nun den Hergang im einzelnen auch vorstellen mag: die Hauptsache bleibt, daß kaum ein anderer Lösungsversuch zu finden sein dürfte, der die dreifache Schwierig- keit — anscheinend isolierte Stellung der Schrift in der Gesamtheit der Literatur, kein sicher beglaubigter Titel, Fehlen eines Prooemiums so mit einem Schlage löste wie der vorgetragene, der aber natürlich auch seinerseits nur als Hypothese zu gelten hat.

Bei dem Bestreben, auf solche Weise die Entstehungsart der Taciteischen Schrift in ihrer Besonderheit zu begrei'en, dürfen wir aber auch folgenden Gesichtspunkt nicht außer Betracht lassen. Die Erweiterung eines beabsichtigten Exkurses zur Monographie gleich bei Beginn der Beschäftigung mit einem großen historischen Werke zeigt den Weitblick des Historikers, der aus den Geschichtsbüchern die Vergangenheit, aus den Erlebnissen der letzten Jahrzehnte die Gegenwart kannte und in die ungeklärte Zukunft schaute urgent imperii fata. Das Germanenproblem war seit der Abberufung des Germanicus ungelöst; nicht einmal die Trajanische Eroberungspolitik, die im übrigen in die Bahnen des Augustus zurücklenkte, hat ernst- lich daran zu rühren gewagt. Die stolzen Namen Germaniae su- perior et inferior, die zu der Wirklichkeit in grellem Widerspruch standen, konnten einem Historiker, der von den weitfliegenden Ent- würfen der Augusteischen Zeit und ihrem Zusammenbruch gelesen hatte, zu denken geben tarn diu Germania vineitur. Aus dem „Zurück", das die germanische Frau dem Drusus an der Elbe zu- gerufen hatte, war nur dann und wann, zuletzt noch zur Zeit der Re- gierung Nervas und der Mitregentschaft Trajans (seit Spätherbst 97), ein tastendes „Vorwärts" geworden Alois, nomen inclutum et notum

Würdigung der Germania 31

olim, nunc tantum auditur, Worte, bei denen man sich daran erinnere, daß Augustus, den Begriff einer „Provinz" Germanien vorsichtig um- schreibend, die Elbe als ihre Grenze nannte (mon. Anc. 5, 9 12 mit Mommsens Kommentar).

Man muß sich derartigen Erwägungen zum Ruhme der Schrift um so mehr hingeben, als sie im übrigen den Anforderungen, die wir an sie zu stellen uns berechtigt fühlen, nicht immer voll genügt. Mommsen hat über sie bei Gelegenheit geurteilt (R. G. V154), sie sei in der Gedankenschablone des sinkenden Altertums befangen und lasse die eigentlich entscheidenden Momente nur zu oft aus. Dieses Urteil wird manchem befremdlich erscheinen, ihm ist auch einmal von einem angesehenen Vertreter der germanischen Altertumskunde fast mit Erbitterung widersprochen worden. Auch mir scheint es in seiner Schärfe zu weit zu gehen; es enthält aber doch einen rich- tigen Kern. Um diesen herauszuschälen, wollen wir einen raschen Blick auf die Entdeckungsgeschichte des Westens werfen und uns dabei fragen, welchen Ausdruck sie in der Literatur beider Völker gefunden hat und wie sich diesem Rahmen das Bild der Germania einfügt.1) ,

Die römischen Schultern, die den Staat zu tragen vermochten, haben sich für die Wissenschaft nie als stark genug erwiesen. Die Unterwerfung der Völker des Erdkreises ist den Römern gelungen,

1) H. Berger hat in seiner Gesch. d. wiss. Erdkunde d. Griechen* (Leipz. 1903) bei der von ihm gewählten Anlage des "Werkes nur sporadisch Anlaß gehabt, hierauf näher einzugehen. Aber der alte Conr. Mannert war in seiner Geogr. d. Griech. u. Römer (1788 ff.) auf das Entdeckungsgeschichtliche wiederholt ein- gegangen und hat darin für seine Zeit wirklich Respektables geleistet, ohne bei uns in Deutschland viel Nachahmung zu finden: als rühmliche Ausnahmen sind mir bekannt geworden W. Sieglin, Entdeckungsgesch. von England im Altertum (Verh. des VII. internat. Geogr.-Kongresses, Berl. 1899, II 845 ff.) und D. Detlefsen, Die Entdeckung des germ. Nordens im Altertum (Quellen u. Forsch. z. alt. Gesch. u. Geogr., H. 8, Berl. 1904). Dagegen bietet zu dem jetzt längst veralteten Mannert die bei uns wenig bekannte History of ancient geography von E. Bunbury (Lond. 1879) nützliche Ergänzungen, die sich in Kapitelüber- schriften wie 'Military Operations in India', 'Caesars wars', 'Wars in Germany' kennzeichnen. Die folgende Skizze, die in den Scblußbemerkungen vorliegen- den Buches noch durch einige Striche ergänzt werden soll, wird ihren Zweck erreicht baben, wenn sie andere zu wirklicher Darstellung, die ich für «in Bedürfnis halte, anregt.

32 KaP- 1- ^ie Germania, im Rahmen der etbnograpk. Literatur des Altertums

aber die Wesensart dieser neuen Völker wissenschaftlich zu ergrün- den, hat ihnen lange Zeit gänzlich ferngelegen. Hellenische Forscher haben das gewaltige Material, das der Völkerkunde durch die römi- schen Eroberer zuwuchs, auszuwerten begonnen. Aus den neu sich erschließenden Erkenntnisquellen zumal des fernen Westens schlürften sie mit wahrem Durste. Denn die schweren Rückschläge, die hier der hellenischen Kolonisation durch die karthagische und etruskische Seemacht im letzten Drittel des VI. Jahrh. bereitet worden waren, hatten dem hellenischen Forschungsdrange, fast unmittelbar nachdem er auch hier sich unter der Vorherrschaft der Phokäer zu betätigen begonnen hatte, ein Ende bereitet, und zwar gleich für Jahrhunderte: noch Eratosthenes sprach resigniert aus, „daß das meiste vom Westen unbeglaubigt sei" (ccxiöTsiö&ui itollä xäv töTtsgCav bei Strabo XV11 802). Aber kaum ist Karthago gefallen, ja, noch während seiner Belagerung (149 146) sehen wir Polybios und Panaitios von Scipios Hauptquartier aus eine Erkundungsfahrt zu wissenschaftlichem Zweck (TtQog (pilouä^öiv) längs der Nordwestküste Afrikas unter- nehmen.1) Wenige Jahrzehnte später (um 110) versuchte der Kyzikener Eudoxos den Seeweg nach Indien um Afrika herum zu finden, in- dem er eine Expedition von Gades aus unternahm. Wiederum einige Jahrzehnte darauf (kurz vor 90) zog Poseidonios in Gades Erkundi- gungen über diesen kühnen Versuch ein.2) In der uralten Stadt,

1) C. Cickorius, Rh. Mus. LXIII (19Ü8) 222 f.

2) Aus den Worten des Poseidonios bei Strabo I. lüO 'iyä> (ihv ovv' qprjCi (Poseidonios in der Ozeauschrift) '^i%Qi (dsvQoy rfjg zisqI xov Evßo^ov icroQiag ijx,w ti d' vßrSQOV 6vv£ßr\, rovg ix rccdsiQcov v.oc.1 tt/s 'Ißriglag slxbg siSivui hat F. Strenger in seiner gehaltreichen Abb. 'Strabos Erdkunde von Libyen' (Quellen u. Forsch, z. alt. Gesch. u. Geogr. H. 28, 1913) 33f. geschlossen, daß Poseidonios seine Erkundung über die Expeditionen des Eudoxos, die Strabo in einem sehr langen und wichtigen Referat aus Poseidonios mitteilt (S. 98—100), gerade nicht in Gades angestellt habe, da er sonst nicht gesagt haben würde „Weiteres wissen vermutlich die Leute in Gades und in Spanien". Das ist m. E. anders zu beurteilen: Kaufleute haben es sich immer angelegen sein lassen, neue Handelswege geheim zu halten, Poseidonios hat sich also vergeblich bemüht, Näheres von ihnen zu erfahren. Die Worte Sprengers „seine Erkundung fällt nach der spanischen Reise, denn sonst hätte er dort, in Spanien, weitere Nach- richten empfangen und mitgeteilt" halte ich also nicht für richtig; wo anders als in Gades hätte denn auch Poseidonios die ganz detaillierten, von Strabo unmittelbar vor den zitierten Worten stehenden Angaben über Bauart und Aus- rüstung des Expeditionsschiffes des Eudoxos erlangen können?

Zur Entdeckungsgescbichte des Westens 33

deren Gründung Timaios auf die Zeit kurz nach dem Einfall der Herakliden, also um 1100, angesetzt hatte, ließ sich Poseidonios von dem Schauer umwehen, den eine graue, in ihren Ausläufern noch faßbare Vergangenheit auf den Forschersinn auszuüben pflegt. Aber auch die Gegenwart ließ er zu ihrem Rechte kommen. Er benutzte, wie vor ihm Polybios dieser wieder im Gefolge Scipios 134—133 und Artemidoros, und wie sein Zeitgenosse Asklepiades von Myrleia die römischen Waffenerfolge in Spanien zu einer Erforschung dieses geheimnisvollen Landes. Die das ganze dritte Buch Strabos um- fassende Beschreibung Spaniens, eine verständige Zusammenfassung der Forschungsergebnisse der vier genannten Reisenden, darf als das Bedeutendste bezeichnet werden, was uns von antiker Arbeit auf diesem Wissenschaftsgebiete erhalten is4. „Wenn Sie Strabo lesen," sagte Niebuhr in seinen Vorlesungen über alte Länder- und Völker- kunde, „so verschaffen Sie sich ein unauslöschliches Bild von Spanien " Ozeanographie, Oro- und Hydrographie, Klimatologie, Fauna und Flora, der Mensch in seinem Kampfe mit der w lden Gebirgsnatur, in seinem Bündnisse mit gesegneten Landstrichen, in seiner Auswertung edler Bodenschätze, dazu die Kultur im weitesten Sinne, von primitiven Siedlungen in Dörfern bis zur Gründung großer Handelszentren für Aus- und Einfuhr, von urtümlich düsterem Opferritual der Steinzeit bis zur Verehrung lichter Hellenengötter dies alles wird zu lebendiger Anschauung gebracht.

O ca. O

Auch nach Osten zu weitete sich der Blick. Die Gesandtschafts- reise Scipios in den Jahren 140 139/8 *) führte seinen Begleiter Panaitios über Alexandreia nilaufwärts bis nach Memphis, dann über Rhodos, Kypros, Syrien bis nach Ekbatana und Babylon; der schöne Reisebericht, den Poseidonios in seinem Geschichtswerke auf Grund der Erzählungen des Panaitios gab2), läßt uns erkennen, daß die Ge- sandten über ihrer politischen Aufgabe die wissenschaftlichen Inter- essen nicht vernachlässigten, sondern der Eigenart von Land und Leuten ihre Aufmerksamkeit schenkten. Pompeius' Feldzüge er-

1) Die Zeit ist von Cichorius a.a.O. 203 ff. festgestellt worden.

2) Erhalten bei Diodor XXXIII 28 a = Exe. de leg. p. 406 f. de Boor. Jede Zeile, ja, man möchte sagen jedes Wort, verrät den Geist des Poseidonios. Zu- dem wissen wir aus einem direkten Zitat bei Athen. XII 549D, daß Poseidonios die Reise ausführlich berichtet hat.

Norden: Die germunische Urgeschichte JJ

34 Kap. I. Die ' Germania im Rahmen der ethnograph. Literatur des Altertums

schlössen die Völker in Ost-Pontos und am Kaspischen Meere: wieder war es ein Grieche, Theophanes von Mytilene, der Reisebegleiter des Pompeius, der die neuen Erkenntnisse verwertete. An dem, was Strabo im elften Buche aus ihm wiedergibt, merkt man zwar, daß die große Forschung auch auf diesem Gebiete im Niedergänge begriffen ist, aber die Griechen sind sich auch in der Periode des Abstiegs der Verpflichtung bewußt geblieben, die die Verwaltung eines großen Erbes mit sich brachte. Strabo selbst gehört freilich nur in sehr bedingtem Sinne in diese Reihe: von selbständiger Forschung ist bei ihm kaum die Rede. Freilich darf bei dem maßlosen Tadel, den er infolge einer an sich gesunden Reaktion gegen ebenso maßlose Überschätzung jetzt vielfach findet Müllenhoff hat den Ton dazu angegeben , nicht vergessen werden, daß er sich bemüht hat, die Linien der von ihm verarbeiteten älteren Forschung, allerdings mit Ausschluß der mathematisch -astronomischen Grundlage, bis auf seine Zeit weiterzuführen, indem er gelegentlich Feldzugs- und Reiseberichte der Gegenwart hineinarbeitete. Aber er schrieb dies eine besagt genug in Rom, wo es keine Wissenschaft mehr gab, und im wesent- lichen für Römer, die sie nicht verlangten; sein im höchsten Greisen- alter abgeschlossenes Handbuch hat sich erst zu einer Zeit, wo es mit der selbständigen Forschung auf diesem Gebiete auch bei den Griechen gänzlich vorbei war, durchgesetzt: vor Athenaeus zitiert es m. W. niemand. Bis dahin war die wissenschaftliche Geographie unbekümmert um ihren Redaktor weitergegangen. Daß wir uns von ihrer Art ein freilich nur ganz ungefähres Bild zu machen vermögen, verdanken wir ausschließlich dem Plinius, der sie in den geographi- schen Büchern seiner Naturgeschichte benutzte. Wir erkennen daraus nicht bloß den guten Willen, sondern auch noch die durch lange Überlieferung gefestigte Kraft, die durch römische Waffen und neuen Handelsverkehr bereicherte Kenntnis der Oikumene wissenschaftlich auszuwerten. Auch Germanien ist dabei nicht vergessen worden: Graeci recentiores werden von Plinius für eine Längenbestimmung der Nordseeküste und für die Benennung einer Inselgruppe im Ger- manicum mare angeführt.1) Es ist immerhin nichts Geringes, daß

1) Plin. IV 98 Graeci et quidam nostri \XXV\ orain Germaniae tradiderunt . . . St coniectare permittitur , haud multum ora deerit Graecorum opinioni. 103 in Germanicam mare sparsae Glaeaiae qua* Electridas Graeci recentiores appellavere.

Zur Entdeckungsgeschichte des Westens 35

diese Epigonen die von Eratosthenes der Forschung zugänglich ge- machte Reisebeschreibung des Pytheas, die, seitdem Polybios sie zum Lügenberichte gestempelt hatte, meist nur mit grimmiger Polemik o-espen den „Schwindler" zitiert ward, ohne eine solche verwertet haben (ob aus erster Hand, bleibe dahingestellt). Die Ehrenrettung, die dem massaliotischen Kaufmann durch die seine Angaben bestätigen- den römischen Eroberungen zuteil wurde, ist derjenigen zu vergleichen, die dem Venezianer Marco Polo widerfuhr, dessen Reisebericht aus dem letzten Viertel des XIII. Jahrh. über das innere und östliche Asien nach vielfachem Mißtrauen an seiner Glaubwürdigkeit durch die Entdeckungsreisen des XVI. und XVII. Jahrh. glänzend gerecht- fertigt wurde. Die Reihe jener noch selbständig forschenden Graeci recentiores, der Nachfahren einer großen Vergangenheit, schloß Mari- nos von Tyros würdig ab. Er, dessen Jugend sich mit dem Greisen- alter des Tacitus noch gerade berührt haben mag, und der seine Lebens- arbeit fortführende und abschließende Ptolemaios von Alexandreia haben das sphärische Weltbild, zu dem die Forschung von Anaxi- mandros bis Hipparchos gelangt war, festgehalten und einer fernen Zukunft vermacht: ist doch Columbus durch eben noch kenntliche Fäden mit Eratosthenes und Poseidonios verknüpft, die gewußt haben, daß man von Spanien oder Gallien nach Indien segeln könne, „wenn man nur ein Schiff bekomme und günstige Windrichtung habe".1)

Unmittelbar vorher waren zitiert Pytheas et Isidorus. Wenn Isidoros, wie es scheint, ein jüngerer Zeitgenosse Strabos war, so werden diese „neueren Griechen" in etwas spätere Zeit gehören. Das bestätigt sich durch XXXVII 42, wo Pli- nius von einer nach dem dort gefundenen Bernstein Glaesaria genannten Insel spricht, die durch die Flottenoperationen des Germanicus in der Nordsee be- kannt geworden sei; auf diese Stelle werden wir im vierten Kapitel dieses Buches (Abschn. V) zurückkommen. Zu jenen Graeci recentiores gehörte, wie ich glaube, zeigen zu können, der von Plinius dreimal im Text, einmal in einem Autoren- register genannte Philemon, der meiner Überzeugung nach irrtümlicherweise allgemein in die hellenistische Zeit gesetzt wird; doch muß ich mir den Nach- weis für eine andere Gelegenheit aufsparen.

1) Vgl. Eratosthenes bei Strabo I 64 si fii] xo (tiys&og xov 'AxXavxi-/.ov 7isXä- yo«g ixwXvs, xav -ulslv rjfiäg ix tfjg 'Ißr}oiccg slg xr\v 'lvSixr\v 8iu xov ctvxov TiecoaX- ).>]lov. Seneca nat. qu. I pr. 13 nach Poseidonios (vgl. diesen bei Plinius n. h. VI 57) quantwn est quod ab ultimis litoribus Hispaniae usque ad Indos iacet? paucissi- utorum dicrum (dies eine Übertreibung Senecas selbst) spatium, si navetn suus /erat venius. Vgl. A. Elter, Columbus u. die Geogr. der Griechen, Bonner Fest- rede 1902.

3*

36 Kap. I. Die Germania im Rahmen der ethnograph. Literatur des Altertums

Dagegen haben die Herren des „Erdkreises" an dem orbis, dem 'AV/.Xoe. festgehalten, obwohl schon Aristoteles, einen Ausdruck Herodot- (IV 36) aufgreifend, gesagt hatte, Karten mit kreisförmigem Erdbilde seien „lächerlich" (Meteor. III 5. 362b 12); zeigte doch die Erdkarte des Agrippa, die Augustus ausstellen ließ, eben dieses Bild, noch dazu, wie unlängst erwiesen worden ist1), mit Orientierung nach Süden. Die nationale Propaganda der augusteischen Zeit mit ihrem Programm „die Wissenschaft den Hellenen, der Staat den Römern" Vergil hat es in den denkwürdigen Versen Aen. VI 847 ff. am bündigsten formuliert hat für alle Folgezeit eine Verantwortung auf sich ge- laden, deren Schwere sich durch hellenenfreundliche Strömungen unter einzelnen Caesaren nicht mehr wesentlich verringern ließ. Wie sämt- liche Wissenschaftszweige im westlichen Teile des Imperiums ver- kümmerten, so wurde die Geographie, das stolze Vermächtnis des Eratosthenes, hier für fast anderthalb Jahrtausende auf das Niveau von Kursbüchern und Mappaemundi herabgedrückt.

Was den Siegern, die, wie einer der Unterworfenen sich empört ausdrückte, „die hellenische Herrlichkeit"', zäv 'EXXrivav xakd, mit Füßen traten, zumeist fehlte, das war die Voraussetzung zur Wissen- schaft, die Wißbegierde. Strabo sagt bei Gelegenheit der Ethnographie Spaniens (III 166): wo es sich um Gegenden handle, die dem Gesichts- kreise der Hellenen entrückt seien, werde die Unsicherheit der Be- richterstattung größer. „Denn die römischen Schriftsteller ahmen freilich die hellenischen nach, aber es reicht nicht weit: was sie näm- lich sagen, nehmen sie von den Hellenen herüber, von sich selbst bringen sie keine rechte Wißbegierde (to yiXeCdrjfiov) heran. Infolge- dessen ist da, wo jene versagen, die Ergänzung seitens dieser un- zulänglich." Die Berechtigung dieser bemerkenswerten Worte3) er-

1) A.Eiter, De forma urbis Romae, Ind. lect., Bonn 1891.

2) Das Wort cpilsid-rmav kommt bei Strabo noch öfters vor, die Stellen hat A. Meineke, Vindiciae Strabonianae (Berl. 1852) 134 behandelt. Sonst wohl nur noch bei Cicero ad Att XII 6 me von magis über ipse (Tyrannion ä? gl %Q06(aSiwv) delectabit quam tua odmiratio delectavit ; amo enim icdvra cpileiörjfLoya teque istam tarn tenuem &sq3qiccv tarn valde admiratum esse gaudeo. (Die Hss. schwanken, soviel sich darüber sagen läßt, bevor der Tatbestand durch Sjögren vorgelegt sein wird, zwischen cprtsdrifiov und (ptloSt]^ov , diese Corruptel auch in der Strabostelle IX 397. ) Gleichwertig dem Begriffe q>iXeidr}[iov ist (fiXo[iä.9,r\6ig, ebenfalls eine hellenistische Wortprägung (cpiXoncc&rjg und cpiloticc&ic:, echte Worte

Zur Entdcckungsgeschichte des Westens 37

kennen wir allenthalben. Für Cicero ist die Geographie eine öbscuriw scientia (de or. I 59); den Plan, yscoyQacpixdc zu schreiben, gab er auf, da er sich dem Eratosthenes gegenüber in vollkommener Ratlosigkeit befand (ad Att. II 4, 3. 6, 1): übrigens verzeihlich, da auch Strabo ihn nicht mehr verstand und daher die mathematische Geographie, wie schon bemerkt, aus seinem Werke ausschaltete. Die im Alter- tum berühmten ethnographischen Exkurse des Sallustius, von denen wir den einen, den libyschen, im iugurtha (18. 19) vollständig lesen, die beiden anderen, den sardinischen und pontischen, in den Historien iS. 60 ff-, 134 ff. Maur.) auf weite Strecken hin rekonstruieren können, bestätigen durch ihre Unselbständigkeit das Urteil Strabos. Germa- nien mußte geradezu die Probe darauf bilden, was die Römer aus eignem Können zu leisten fähig waren. Denn nur andeutungsweise waren Grundlinien auch hier von hellenischen Forschern gezogen worden. Sobald das seltsame Volk der Kimbern auf der Bildfläche erschienen war, um bald daraus zu verschwinden, hatten Artemidoros und Poseidonios die Gelegenheit ausgenutzt, mit einigen Strichen die Wesensart dieses Volkes und des nebelhaften Landes, aus dem sie in die südeuropäische Kulturwelt eingebrochen waren, zu zeichnen. Daß es sich dabei um Germanen handle, war den genannten For- schern, wie wir späterhin genauer sehen werden, noch unbekannt. Hier galt es nun, diese unzureichenden Skizzen, nachdem die Kunde von den germanischen Völkerschaften sich erheblich erweitert hatte und die Zugehörigkeit der Kimbern zu ihnen erkannt worden war, zu einem Gemälde auszuführen, für das die Römer die Farben im wesentlichen selbst zusammentragen mußten, denn der griechische Forschergeist war inzwischen in das Stadium des Niedergangs ge- treten. Wir werden freilich im Verlaufe dieses Werkes sehen, daß ein griechischer Schriftsteller, zwar kein großer mehr, aber doch einer, der in den Spuren des Poseidonios weiter zu wandeln sich bemühte, den Römern Material für germanische Ethnographie geboten hat, das zu dem wichtigsten überhaupt gehört: der Wissenschafissinn

der Sophistenzeit, sind schon bei Piaton nachweisbar). Dieses Wort findet sieb, wie es scheint, nur in dem bereits oben (S. 32) erwäbnten Berichte des Herku- lanensischen Stoikerverzeichnisses über die Forschungsreise des Polybios und Panaitios, also gerade in einem Zusammenhange, für den Strabo to yiXsidrinov braucht.

38 Kap. I. Die Germania im Rahmen der ethnograph. Literatur des Altertums

dieses Volkes war auch in den Epigonen untilgbar. Aber dieser Schriftsteller, der noch in die frühaugusteische Zeit gehört, war dann abgesehen etwa von den vorhin erwähnten (Jraeci rccentiores, die das Germanische jedoch nur in Kiistenbeschreibungen des „äußeren" Meeres berührten auch der letzte. Germanien lag von da ab so gut wie völlig außerhalb des hellenischen Gesichtskreises. Kein Band des Inschriftencorpus ist nächst dem britannischen so arm an Spuren griechischen Daseins wie der germanische.1) Münzen von griechischen Freistädten und Königen, von deren Funden früher viel gefabelt wurde, gehören auf dem Gebiete des freien Germaniens in den Be- reich der Phantasie; vereinzelte Produkte griechischen Kunstgewerbes sind durch keltische oder römische Händler verschleppt worden. Wie haben nun die Römer ihre Aufgabe gelöst? Es wäre ungerecht, nur zu tadeln und die Ansätze zu gutem Willen zu übersehen. Was Caesar, der summus auctorum divus Iulius, wie ihn Tacitus nennt, in der langen, vergleichenden Behandlung der Gallier und Germanen geleistet hat, ist so bemerkenswert, daß wir in besonderem Zusammen- hange darauf zurückkommen müssen. Er hat nach seinem eignen Zeugnisse (VI 24) die hellenische Wissenschaft, Eratosthenem et quos- dam Graecos, zu Rate gezogen2), hat aber, zumal in dem germanischen Teile seiner Skizze, den Stoff so erheblich vermehrt, daß ihm inner- halb der römischen Ethnographie ein Ehrenplatz gebührt. Nach ihm kamen von anderen, die uns nicht mehr kenntlich sind, und einer bloß umrißartigen Behandlung Germaniens in der Chorographie des Pomponius Mela (III 3) abgesehen Livius, Plinius und Tacitus. Über die Livianische Skizze wird später zu reden sein. Wenn schon

1) Ausradierte griech. Inschrift auf einem wohl aus Gallien verschleppten Sarkophagdeckel XIII 7239, eine lateinische 7084, wo ein Athenodorus natione Rhodius genannt ist, beide in Mainz. Das ist wohl alles. Ganz im Einklänge dazu steht, daß die Spuren des Christentums vorkonstantinischer Zeit in Ger- manien — im Gegensatz zu Gallien ganz geringfügig sind (A. v. Harnack, Mission u. Ausbreit, d. Christentums IIS, Leipz. 1915, 277 f.). Der Reichtum der ptolemäischen rsQficcvia ueydXri, auf die wir noch öfters zu sprechen kommen werden, beruht durchaus auf Angaben römischer Militärs und Kauf- leute.

2) Den Eratosthenes hat er schwerlich aufgeschlagen: er fand ihn sowie die anderen bei Poseidonios, seinem Gewährsmann, zitiert; er nennt nur den ganz großen Namen.

Zur Entdeckungsgesehichte des Westens 39

ihr Verlust für uns empfindlich ist, so gilt das in verstärktem Maße von dem der Plinianischen Bella, die das reichste volks- und landes- kundliche Material enthalten haben müssen; auch auf dieses Werk werden wir weiterhin einzugehen haben. Also selbst bei den Römern hat es wenigstens an Ansätzen zur ethnographischen Forschung in hellenischem Geiste nicht durchaus gefehlt: das ganz Wenige, was sich von Senecas Schrift über Indien sagen läßt, bestätigt dieses Urteil.1) Aber Tacitus lag selbst dieses bescheidene Maß der For- schung ganz und gar nicht, seine Interessen waren sozusagen viel zu romisch orientiert. Mit Recht wird zwar allgemein angenommen, daß der zweite Teil der Germania die Benutzung einer Karte voraus-

1) Was Plinius VI 60 aus Senecas Schrift über Indien berichtet: Seneca etiam apud nos temptata Indiae commentatione LX amnis eius prodidit, gentis CXVIII, erweckt deshalb eine günstige Vorstellung, weil die letztere Angabe auf Megasthenes zurückgeht (Arrianus Ind. 7, 1). Was eine Schrift dieser Art enthielt, können wir uns nicht bloß an derjenigen Arrians, sondern auch an dem Exzerpt des Curtius VIII 9 aus Kleitarchos, das trotz seiner Dürftigkeit noch immer eine Vorstellung vom Reichtum des Originals bietet, einigermaßen klarmachen. Senecas wissenschaftlicher Horizont ging, bei aller Rhetorik, über den des Tacitus ganz erheblich hinaus, und er hat, was Indien betrifft, doch eine geniale Intuition der Großen vor ihm verstanden und der Erwähnung für wert befunden: s. 0. S. 35, 1. Bemerkung verdient auch, daß er nat. qa. IVa 2, 4 die commercia Ivdici maris erwähnt, d. h. die dortigen Handelsfaktoreien (für diese Bedeutung von commercium = forum gibt der Thes. 1. 1. III 1873 f. mehrere Belege): aus ihm Lucanus X 314 qua dirimunt nostrum rubro commercia ponto. Das sind die in einem späteren Abschnitt zu erwähnenden i^ncogia des nsQlnlovg rijg igv&Q&g ftccldoGrig aus vespasianischer Zeit. Auch in den Tragödien prunkt er gern mit geographischen Namen (besonders viel indischen; Bemerkung ver- dient die früheste Erwähnung der Alanen Thyest. 630). Diese Neigung teilt er ja mit der jüngeren Poesie überhaupt, aber über diese geht hinaus das merk- würdige anapästische Chorlied Med. 369 ff. Hier wird zunächst die Aufhebung der Völkergrenzen durch die Weltkultur gepriesen, ein Gedankengang, den man durch die Worte des Plinius (n. h. XIV 2) communicatus orbis terrarum maiestate Bomani imperii paraphrasieren könnte; dann wird so fortgefahren. venient annis saecula seris, quibus Oceanus vincula rerum laxet et ingens pateat tellus Tethysque novos detegat orbes nee sit terris ultima Thule. Diese Prophetie der Entdeckung eines neuen Erdteils wird ihm wohl durch eine Spekulation hellenischer Forscher eingegeben worden sein. Der Begriff novus orbis wird uns weiterhin in einem Gedicht augusteischer Zeit begegnen, dort freilich nicht von transozeanischen Ländern, sondern von solchen des nörd- lichen Europas.

40 Kap. I. Die Germania im Rahmen der ethnograph. Literatur des Altertums

setzt1); aber die Ausnutzung dieses Materials ist bei Tacitus ganz unzulänglich2): das Landeskundliche ist zugunsten des Volkskund- lichen, das ihm faßlicher und seinen Lesern unterhaltsamer war, meist nur andeutungsweise und in allgemeinen, ziemlich unbestimmt ge- haltenen Ausdrücken zu Gehör gebracht worden und verwehrt eine Rekon- struktion seines Kartenbildes. Die paar Seiten Strabos über Germani- sches (VII 290— 92) sind in dieser Hinsicht ergiebiger und vor allem schär- fer umrissen, von dem gerade auch für Germanien beträchtlichen Reichtum der Ptolemäischen Geographie gar nicht zu reden. Warum hören wir bei Tacitus nichts von der Entdeckungsgeschichte des Landes, warum fast nichts von Beinen Flußläufen und Gebirgs- formationen, seinen Bodenschätzen und Kulturprodukten, über die wir aus gelegentlichen Angaben der Plinianischen Naturgeschichte mehr lernen als aus den oberflächlichen Bemerkungen der Germania? Mangel an Interesse für so wichtige Dinge pflegt ein Ergebnis des Mangels an Fassungsvermögen zu sein. Einmal (c. 45) spricht dieser Schriftsteller von dem Tagbogen der Sonne.3) Diese Hückständigkeit der Anschauung wirkt um so empfindlicher, als sie mit der Erwähnung des ^geronnenen Meeres' verbunden ist, dessen Kenntnis dem Pytheas verdankt wurde; dies also ein naturwissenschaftliches Kuriosum ist die einzige, noch dazu durch Unwissenheit des Berichterstatters fast unkenntlich gemachte Spur, die die ergebnisreiche Erforschung des germanischen Nordens in seinem Werke hinterlassen hat, während doch Plinius uns, wenngleich aus Mittelquellen, einige wichtige und genaue Angaben aus dem Ozeanbuche des großen Entdeckers erhalten

1) Vgl. A. Gudemau in der Einl. zu seiner Ausgabe S. 29. Einige der technischen Ausdrücke der Germania wie ultra hos, proxivii, iuxta, a tergo, a fronte, in totere, retro, trans usw. finden sich teils genau, teils ähnlich in den Büchern III VI des Plinius, in deren Statistiken anerkanntermaßen karto- graphisches Material verwertet worden ist, ja, noch in der sog. ravennatischen Kosmographie, in der Mommsen eben auf Grund davon Benutzung einer Karte erschlossen hat vGes. Sehr. V 301). Wie Tacitus c. 41 sagt, er gehe bei der Aufzählung der Völkerschaften den Flußläufen nach (ut quo modo paulo ante Rhenum, sie nunc Danuvium sequar), so heißt es bei dem Ravennaten (p. 233) iuxta praenominatum fluvium Moseila.

2) Vgl. L.Schumacher, De Tacito Germaniae geographo, Progr. d. Fr. Wilh. Gymn. Berl. 1886.

3) J. Partsch, Die Grenzen der Menschheit, I. Die antike Oikumene (Ber. d. Sachs. Ges., phil.-hist. Kl. LXVIII 1916, 2. Heft S. 3, 4).

Zur Entdeckungsgeschichte des Westens 4}

hat. Die Erkenntnis von der Inselgestalt Britanniens, die erst durch die von Agricola im Jahre 84 unternommene militärische Reko- gnoszierungsfahrt gewonnen wurde (Agr. 10. 38), wird zwar von Tacitus vermerkt; aber was er über die geographische Lage der Insel, Vorgänge in der Atmosphäre und ozeanische Strömungen vor- bringt, würde ein Hellene auch nur von Durchschnittsbildung belächelt haben.

Wenn Mommsen in dem abfälligen Urteil über die Germania, von dem wir bei dieser Betrachtung ausgingen, ihren zu geringen Wissen- schaftsgehalt im Auge hatte, so müssen wir ihm beipflichten. Aber wahrscheinlich hat er weniger dies gemeint als dasjenige, an dessen Kenntnis ihm zumal zur Zeit, da er im V. Bande seiner Geschichte das Kapitel *Da3 römische Germanien und die freien Germanen' schrieb, besonders gelegen sein mußte: das Verwaltungstechnische, das Mili- tärische, Sicherung des Grenzschutzes durch Anlage von Kastellen, Straßen- und Wallbauten. In diesem Falle wäre aber zu sagen, daß dergleichen aus dem Rahmen der Ethnographie eines Barbarenlandes, wie er nun einmal in jahrhundertelanger Überlieferung gespannt worden war, herausgetreten wäre, und man könnte dem Schriftsteller höchstens den Vorwurf machen, daß er ihn nicht gesprengt hätte. Sieht man davon billigerweise ab, so muß man sagen, daß die Ge- nauigkeit des Volkskundlicheu durchaus der Gewissenhaftigkeit ent- spricht, die ihn überhaupt auszeichnet.

Aus der Zugehörigkeit der Germania zur ethnographischen Literatur ergibt sich die Verpflichtung, das reiche volkskundliche Material des Altertums zu ihrer Erklärung in umfassenderem Maße heranzuziehen, tds das bisher geschehen ist1).

1) Ein paar nützliche Zusammenstellungen (auf Grund meines Hinweises in der Einl. in die Altertumswiss. I2 455) bei W. Theißen, De Sallustii Livii Taciti digressionibus, Diss. Berl. 1912, 24 ff. Abschließend wird sich die Untersuchung erst führen lassen, wenn die ethnographischen Fragmente der griechischen Literatur in der von F. Jacoby vorbereiteten Sammlung der Historikerfragmente torliegen werden. S. jetzt auch G. Wissowa in der Rezension des Gude- lnanschen Kommentars, ? Gott, gel. Anz. 1916, 65(5, und bes. Trüdinger a. ». 0. (o. S. 8, 1) 146 ff.

42 Kap. II. Quellenkritisches zur Ethnographie europäischer Völker

ZWEITES KAPITEL

QUELLENKRITISCHES ZUR ETHNOGRAPHIE EUROPÄISCHER VÖLKER

I. ORIGO GERMANORUM Auf die topographischen Bemerkungen über die Grenzen des Landes (c. 1) folgen die Kapitel, innerhalb welcher der oben bezeich- nete Satz steht, mit dessen Deutung wir uns vorzugsweise zu be- schäftigen haben werden. Er betrifft den Namen des Volkes. Wer ihn aus seinem Zusammenhange löst, nimmt sich von vornherein die Möglichkeit, ihn zu beleuchten. Ich gebe hier daher den Text von c. 2—4; er ist ohne nennenswerte Verderbnis überliefert, und einzelnes wird bei Gelegenheit zur Sprache kommen. Um die Kompo- sition zu veranschaulichen, zerlege ich den Text ohne Rücksicht auf die seit Lipsius übliche Kapiteleinteilung die Zahlen sind in Klammern beigefügt in Abschnitte, deren jedem eine Übersetzung1) beigegeben ist; in diese ist jedoch der fragliche Satz vorderhand nicht einbezogen worden. A. (2) Jpsos Germanos indi genas crediderim minimeque aliarum gentium adventibus et hospitiis mixtos, quia nee terra olim sed classibus advehebantur qui miliare sedes quaerebant et immensus ultra utque sie dixerim adversus occanus raris ab orbe nostro navibus aditur. quis porro, praeter periculum horridi et ignoti maris, Asia aut Africa aut ltalia relicta. Germaniam peteret informem terris asperam caelo tristem eultu aspectuque, nisi si patria sit.

Die Germanen selbst sind meiner Meinung nach Ureingeborene, von Zuwanderungen sowie Gastverkehr mit anderen Völkern gänzlich unberührt geblieben. Denn in der Urzeit pflegten Völker, die ihre Wohnsitze zu wechseln beabsichtigten, nicht den Land-, sondern den Seeweg zu wählen, und der Ozean, der sich dort in grenzenloser Unendlichkeit sozusagen bis in die entgegengesetzte Hemisphäre ausdehnt, wird nur selten von einem Schiffe aus unserer Zone besucht. Aber auch abgesehen von den Gefahren eines wilden, unbekannten Meeres, wer hätte es sich ein- fallen lassen, Asien, Afrika oder Italien zu verlassen, um nach Germanien

1) In einzelnen Wendungen habe ich mich hier und sonst an die im ganzen wohlgelungene Übersetzung von A. Bacmeister (2. Aufl., Stuttg. 1881) angeschlossen.

Kompositionsanalyse der Archäologie der Germanen 43

zu wandern, in diese garstigen Landschaften mit ihrem rauhen Klima, ihrem Mangel an Kultur, ihrer Trostlosigkeit für jeden, der in ihnen nicht eben sein Vaterland sieht? Bl Celebrant carminibus antiquis, quod unum apud Mos memoriae et annalium genus est, Tuistonem deum terra editum; ei filium Mannum, originem gentis conditoremqus, Manno tris filios assig- nantf e quorum nominibus proximi oceano Ingaevones, medio Rermiones, ceteri Istaevones vocentur. quidam, ut in licentia vetustatis, pluris deo ortos plurisque gentis appellationes, Marsos Gambrivios Suebos Vandilios affirmant, eaque vera et antiqua nomina. ceterum Germaniae vocabulum recens et nuper addi- tum, quoniam qui primi Rhenum transgressi Gallos expulerint ac nunc Tungri tunc Germani vocati sint; Ha nationis normen non gentis evaluisse paidatim, ut omnes primum a victore ob meium, mox etiam a se ipsis invento nomine Germani vocarentur. Sie singen in alten Liedern das ist unter diesem Volke das einzige Hilfsmittel geschichtlicher Erinnerung von einem erdgeborenen Gotte Tuisto und seinem Sohne Mannus, dem Urahnen und Gründer ihres Geschlechts; ihm -weisen sie drei Söhne zu, nach denen die dem Ozean zunächst Wohnenden sich Ingaevonen, die mittleren Hermionen, die übrigen Istaevonen nennen. Nach der Versicherung einiger die

Urzeit gibt ja weiten Spielraum sollen es mehr Göttersöhne ge- wesen sein und mehr Stämme sich nach ihnen benannt haben, die Marsen, Gambrivier, Sueben, Vandilier: das allein seien die echten alten Namen.

B2 (a) Fuisse apud eos et Hercidem memorant primumque omnium virorum fortium ituri in proelia canunt. sunt Ulis haec quoque carmina quorum relatu, quem barditum vocant, accendunt animos fuiuraeque pugnae fortunam ipso cantu augurantur: tcrrent enim trepidantve, prout sonuit acies, nee tarn vocis ille quam virtutis concentus videtur; affeetatur praeeipue asper itas soni et fractum murmur, obiectis ob os scutis, quo plenior et gravior vox reper- cussu intumescat. ceterum et TJlixen quidam opinantur longo Mo et fabuloso errore in hunc oceanum delatum adisse Germaniae terras, Asciburgiumque quod in ripa RJieni situm hodieque in- eolitur ab Mo constitutum nominatumque; aram quin etiam Ulixi consecratam adiecto Laertae patris nomine codem locoolimrepertam, monumentaque et tumulos quosdam graecis litteris inscriptos in confmio Germaniae Raetiaeque adhuc extare. quae neque can-

44 Kup. 11. Quellenkritisches zur Ethnographie europäischer Volker

firmare argummtis neque refeilere in animo est: ex ingenio suo qnisque demat vel addat fidem.

Es sei, so heißt es, unter anderen Herkules bei ihnen gewesen, und ihm als der Helden Erstem singen sie heim Aufmarsch zur Schlacht. Sie haben noch eine andere Art von Kriegsgesan^, durch dessen Vortrag, Barditus genannt, sie sich zum Kampfe begeistern. Schon sein bloßer Klang wird als Wahrzeichen für den Ausgang der Schlacht gebeutet: je nachdem es durch die Schlachtreihen dröhnt, gilt der Schrecken den Feinden oder ihnen selbst: es ist, als ob sie darin nicht so sehr einen Zusammenklang der Stimmen als einen Tapferkeitschor vernehmen. Sie haben es dabei vor allem auf Rauheit des Klanges und dumpf dröhnen- den Widerhall abgesehen, und um diesen zu erzeugen, halten sie die Schilde vor den Mund: so bricht sich der Ton in der Wölbung und schwillt mit verdoppelter Kraft und Tiefe an. Auch Ulixes soll nach

dem Glauben einiger, auf seiner langen Sagenreichen Irrfahrt in das Nordmeer verschlagen, das germanische Festland betreten haben; Asci- burgium, noch heutzutage ein bewohnter Ort am Ufer des Rheins, verdanke ihm Gründung und Namen; ebendort habe sich vorzeiten sogar ein von Ulixes, unter Beifügung des Namens seines Vaters Laertes, geweihter Altar gefunden, und Grabdenkmäler mit griechischen Inschriften sollen noch jetzt auf der rätisch -germanischen Grenzmark stehen. Aber

diese Vermutungen beabsichtige ich mit Gründen weder zu stützen noch zu widerlegen: mag das jeder nach eigenem Gutdünken für Dichtung oder Wahrheit nehmen. C ( 4 ) Ipse eorum opinionibus accedo qui Germaniae populos nullis alia- rum nationum conubiis infectos proprium et sinceram et tantum sui similem gentem extitisse arbitrantur. unde habitus quoque cor- porum, tamquam in tanto hominum numero, idem omnibus: truces et caerulei oculi, rutilae comae, magna corpora et tantum ad im- petum valida. laboris atque operum non eadem patientia, minimeque sitim aestumque tolerare, frigora atque inediam caelo solove assueverunt.

Ich selbst schließe mich denen an, nach deren Dafürhalten die Be- völkerung Germaniens nicht mit fremden Stämmen durch Heiraten ver- quickt, sondern rasserein und einzig in ihrer Art ist. Daher sind auch alle und das in Anbetracht einer so zahlreichen Menschenmasse von einem und demselben Körperschlag: trotzige blaue Augen, rotblondes Haar, mächtiger Wuchs, eine Kraft, die allerdings nur zum stürmenden Angriff geschaffen, anhaltender Anstrengung und Arbeit nicht in gleichem Maße gewachsen ist. Am allerwenigsten sind sie gegen Durst und Hitze gestählt; dagegen hat Klima und Boden sie sich an Frost und Hunger gewöhnen lassen.

Konipositionsanalyse der Archäologie der Germanen 45

Die Kunst der Gesamtkomposition liegt vor Augen. Das zwei- teilige Mittelstiick B*B3, dessen Teile von annähernd gleicher Größe sind, wird umrahmt von einem Vorsatz- und einem Schlußstücke AC, die untereinander denselben Umfang aufweisen. Diese Responsion ist auch durch gleiche oder ähnliche Worte und Motive zum Ausdruck gebracht: A und C beginnen mit ipsos ipse; weiterhin entspricht dem crediderim in A eorum opinionibus in C, dem aliarum gentium . . . hospitiis mixtos in A aliarum nationum conubiis infectos in C; beide schließen mit dem Hinweis auf das rauhe Klima. B1 und B2 beginnen mit der Erwähnung von Liedern auf einen Gott und einen Heros und führen, genau in gleichem Abstände von ihrem Anfang, einen Gedanken mit ceterum ein. In beiden heben sich von einem Haupt- berichte Einlagen ab, die mit quidam . . . afftrmant quid am opinantur eingeleitet werden. Der Hauptbericht in B1 umfaßt einen kürzeren und einen längeren Satz (celebrant vocentur): Lieder auf Tuisto, dreifache StammesgKederung und Benennung nach dessen drei Söhnen: die Einlage, durchweg in abhängiger Rede gegeben, nimmt den ganzen Rest ein: Mehrzahl der Gliederung und Benennung, der Name cGer- mani'; sie endet, dem vocentur des Hauptberichts entsprechend, mit vocarentur. Auch der Hauptbericht; in besteht aus einem kürzeren und einem längeren Satze (fuisse intumescat): Lieder auf Herkules, Barditus; die Einlage, wieder ganz in abhängiger Rede, reicht bis extare: Ulixes in Germanien, griechische Inschriften auf der Grenze von Germanien und Raetien. Das Sätzchen quae neque confirmare fidem leitet zu dem Schlußstück C über. So gleicht das Ganze einer mächtioen dreiteiligen Periode, deren Ende zum Anfang zurückkehrt Dem Formalen entspricht das Inhaltliche. A und C bezeugen den Glauben des Schriftstellers an die Autochthonie und Rassenreinheit des Volkes, jenes in einer die gegenteilige Ansicht ausschließenden Diskussion, dieses durch anthropologische Folgerungen. In B1 und B2 wird das Problem durch Vorlegung reichhaltigen Überlieferungs- materials erörtert: B1 bringt durch die Erwähnung originaler Gesänge auf eine Landesgottheit und epichorischer Stammesnamen Gründe für die Ureingesessenheit, B2 läßt durch Hinweise auf die angebliche An- wesenheit hellenischer Heroen und auf griechische Inschriften die Möglichkeit von Zuwanderungen offen. Die Entscheidung über die Beweiskraft der in B2 wiedergegebenen Behauptungen wird dem Leser

46 Kap. II. Quellenkritisches zur Ethnographie europäischer Völker

, in dem zu C überleitenden Sätzchen anheimgestellt; aber über die Ansicht des Schriftstellers ist durch das Vorsatz- und das Schlußstück kein Zweifel gelassen.

In dieser Monumentalität des Aufbaues, verbunden mit der schrift- stellerischen Kunst, die Anteilnahme des Lesers an einem interessanten Stoffe zu erwecken und ihn zu selbsttätigem Denken anzuregen, hat Tacitus innerhalb der lateinischen Literatur keinen seinesgleichen. Er hatte in diesem Abschnitt, wie wir im Verlaufe unserer Unter- suchungen sehen werden, Eignes gar nicht zu sagen: um so mehr war er bemüht, dem entlehnten Material künstlerische Form zu geben und ihm den Stempel seines Geistes aufzuprägen. Über diese seine baumeisterliche Kunst sollen im Anhang II einige näheren Angaben gemacht werden.

Der Gesamtinhalt der Kapitel 2 4 läßt sich als Abriß der germani- schen Urgeschichte, agxaioXoyCa1) rsQ^iavizt], Origo Germanorum, be- zeichnen. In die römische Literatur war Sache und Wort von Cato eingeführt worden: schon bei ihm bedeutet origo im engeren Wort- sinne den Ursprung, den anfänglichen Eintritt eines Volkes in ge- schichtliches Leben, die Kolonisation des von ihm bewohnten Landes2), im weiteren seine durch diese Anfänge bedingten kulturellen Daseins- verhältnisse (mores). Dementsprechend faßt Tacitus den Gesamtinhalt des ersten Teiles der Schrift an dessen Schlüsse (c. 27) durch die Worte de omnium Germanorum origine ac moribus zusammen. Dabei geht origo, in jenem engeren Wortsinne, auf den Inhalt der uns be- schäftigenden drei Kapitel, denen ein Einleitungskapitel über die Topographie vorausgeht. Eine solche origo findet sich in den

1) Das Wort findet sich zuerst, und gleich in diesem Sinne, von Hippias gebraucht im Hipp, maior 285 B tisqI xwv ytvcbv, a> ZlmxQaxBg, xwv xe rigäuv xal x&v av&Q(Ö7Cav xal x&v xccxoixioscov, ag xb aQ%cciov &m'tf9'7]<yat> ccl itöXzig. y.al GvXXi]ߧT]V %Ü6r\g xfjg a.Q%aio%oyLag r/diöro: uxgo&vxai., toOzs tycoys Si ccvxovg ^vayxatffuu fxfigfiaö'TjJCEWt xs xai exiisiisXExrjxivcci itävxa xk xoiavxa. Es ist eine der alten Sophistik gemäße Wortprägung. Näheres: Agnostos Theos 372 f., wo hinzuzufügen: Strabo XI 530 über Armenien (aus Tbeophanes von Mytilene, der unmittelbar vorher zitiert ist): ccQxaioXoyla <5e xig ioxi itsgl xov i&vovg xovSs xoiocvxt}, sowie die 3>oivmuxtj un%aioXoyia eines Hieronymos 6 Alyvnxiog, die Josephus anführt (F. Jacoby, R. E. VIII 1560).

2) Es ist der xqoiiog Ttsgl xctg aitoixiccg Kai xxiasig xai 6vyysvsiag, den Polybios (IX 1, 4. 2, 1) von seiner Darstellung ausschließen will. Vgl. F.Leo, Gesch. d. röm. Lit. 293.

Tacitus' britannische und judäische Urgeschichten 47

Taciteischen Werken noch zweimal. Im Agricola folgt auf die Topo- graphie (Britanniae Situs) des c. 10 die Erörterung, „welche Menschen Britannien zu Anfang bewohnt haben, eingeborene oder zugewanderte" (c. II)-1) In der Beschreibung Judäas (hist. V 2 ff.) geht aus besonderem Grunde die Ethnographie und Kolonisationsgeschichte der Topographie voraus: der Schriftsteller hat weiterhin von Jerusalems Schicksal zu erzählen und strebt daher über das Volks- und Besiedelungsgeschicht- liche hinweg zu der Topographie von Land und Stadt. Allen drei Taciteischen Urgeschichten gemeinsam ist die reichliche Auseinander- setzung mit mehreren, untereinander abweichenden Quellenberichten über die Art der Besiedelung. Überall ist es dieselbe Frage: sind die Bewohner Eingeborene (avTÖ%&oveg, indigenae), Zu Wanderer (i7iijXvdsc7 advecti) oder Mischlinge ([iiyccdss, mixtt), denn wir müssen hier gleich die griechischen Worte mit einsetzen, da die in griechischer Sprache verfaßten jüngeren Ethnographien die Erörterung in analoger Weise bieten2): das Quellenmaterial wird in der Form einer Diskussion der abweichenden Ansichten vorgelegt, zu denen der Autor Stellung nimmt.3) Wenn wir uns aber jetzt von diesem Allgemeinen dem

1) Die Ähnlichkeit der Disposition ist schon von E. Wölfflin, Philol. XXVI (1867) 145 hervorgehoben -worden. Man maß die beiden Sallustischen Ethno- graphien hinzunehmen, wo sich dieselbe Reihenfolge findet: lug. 17, 3 ff. (Libyen), hist. 61 ff. (Pontos).

2) Der Typus erhielt sich bis über die Grenzen des Altertums hinaus, Aus dem oben (S. 14,2) zitierten Werke K. Dieterichs (II 12) ist mir eine Ethno- graphie der Türken bekannt, herrührend von einem ausgezeichneten byzanti- nischen Historiker Laonikos Chalkondylas, der ein geborener Athener in der Mitte des XV. Jahrh. weitblickend genug war, sein Hauptinteresse nicht mehr der Vergangenheit des gefallenen Reiches von Byzanz, sondern der jungen Osmanenmacht zuzuwenden (K. Krumbacher, Gesch. d. byz. Lit.2 302). Die ver- schiedenen Ansichten über den Ursprung der Türken werden ganz nach antikem Schema erörtert; hier ist Anlehnung au Herodots skytbische Archäologie, die wir gleich kennen lernen werden, handgreiflich.

3) Um sich der Identität der Beweisführung bewußt zu werden, vergleiche man mit den entsprechenden Ausdrücken der germanischen Archäologie die der judäischen: memorant . . ., quidam . . ., plerique . . ., sunt qui tradant . ., plurimi auctores consentiunt (man merkt, wie viel reichlicher der Strom der Überlieferung für das seit alters bekannte Juden- als für das Germanenvolk floß). Das ganze zweite Kapitel und der größte Teil des dritten der judäischen Archäologie ist in indirekter Rede abgefaßt wie die beiden Kapitel der ger- manischen.

43 Kap. II. Quellenkritisches zur Ktlmographie europäischer Völker

einzelnen zuwenden, so werden wir von dem „Vater der Geschichte' selbst Belehrung empfangen.

Jedem, der sich in dieser Literaturgattung etwas umgesehen hat, wird für den Gang der Taciteischen Beweisführung auf weite Strecken die Herodoteische Archäologie der Skythen (IV 5 15) einfallen1), die ausführlichste uns aus alter Zeit in einem förmlichen System erhaltene. Die Übereinstimmung im Ganzen und in Einzelheiten ist erstaunlich genau. Herodot beginnt (c. 5 7) mit dem Referat der skythischen Nationalsage2); ihre Quelle ist eine Kultlegende. Die Eltern des Volks- vaters waren Zeus und eine Tochter des Stromgottes Borysthenes. Der Volksvater war ein Mann (kvtjq) mit Namen Targitaos. Er hatte drei Söhne, von denen die drei Volksgruppen der Skythen sich ableiteten (sie werden mit ihren Namen aufgezählt). Neben diesen drei Gruppen- namen gab es noch einen Volksnamen, mit dem sich die Gesamtheit {Gv^navtsg) bezeichnete. „Dies ist", schließt der Schriftsteller, „die Stammesgeschichte nach skythischer Tradition." Diesem skythischen Xöyog entspricht fast Schritt für Schritt der germanische bei Tacitus, der aus epichorischer Sage abgeleitet wird. Vater des Volksvaters war Tuisto. Dieser „Zwillich"— das besagt der Name3 ; zeugt den Volks-

t) F. Jacoby in dem Artikel „Her0(iotos" jn (jer ß j^ Suppl. II 431 ist der einzige, dem dieser Zusammenhang nicht entging: „Die Archäologie der Skythen setzt sich aus vier X6yoi zusammen, deren erster auf die Skythen selbst zurück- geführt wird und wohl so gut 'skythisch" ist, wie die Archäologie der Germanen in Tacitus' Germania 'germanisch'." In derj Tat geht der erste Teil der Taci- teischen Darlegung auf einen epichorischen Bericht zurück. AVir kommen später darauf zurück.

2) i7ti%wQios loyog wird derartiges genannt VII 197.

3) Diese Deutung von Tuisto („Zwitter") stammt von W. Wackernagel, Die Anthropogonie d. Germanen, Z. f. deutsch. Alt. VI (1848) 19, der eine Fülle religionsgeschichtlicher Parallelen beibrachte. Sie ist von Müllenhoff in der- selben Ztschr. IX (1853) 260 gebilligt worden, der auf altn. tvisto, sowie von W. Scherer, Sitzungsber. d. Berl. Ak. 1884, 573, der auf den inzwischen in- schriftlich bezeugten Namen der friesischen Völkerschaft Tui-hanti hinwies (sicher die „Zwei" : Näheres unten im sechsten Kap., Abschn. III); ohne Kenntnis dieser Parallele auch F. Solmsen, Z. f. vergl. Sprachf. N. F. XVII (1904) 20. Wir brauchen uns, wie mir scheint (auch Th. Siebs, Ztschr. f. deutsch. Philol. XXIX 396 ist dieser Ansicht), den Gott nicht notwendig audrogyu zu denken: über die Vorstellung eines mit sich selbst gedoppelten Gottes hat H. Usener, Rh. Mus. LVIII (1903) 345 t lehrreich gehandelt: „Die Arier" sagt er u. a. hatten einen 'Zwilling' als Himmelsgott, ir.d. Yama eran. Yvma = lat. geminus . . .

Herodots skyfchische und Tacifcus' germanische Urgeschichte 49

vater Maimus.1) Von dessen drei Söhnen leiteten die drei Volksgruppen ihre Namen ab. Neben diese Gruppennamen trat in jüngerer Zeit ein Volksname, mit dem sich die Gesamtheit (omnes) bezeichnete. Bemerkenswert ist innerhalb dieser Übereinstimmung auch die Einzel- heit, daß in beiden Referaten das Alter oder die Jugend der Überliefe- rung hervorgehoben wird (vsgjzcctov . . ., erscc %iUa)v ov JC?Ja, aXXä xoGuvra carminibus antiquis . . ., antiqiia nomina . . ., vocabuliim recens). Auf die skythische Tradition läßt Herodot die der pontischen Hellenen folgen (c. 8 10 . Nach dieser ging der Ursprung des Volkes auf Herakles zurück, der mit einer Ortsnymphe drei Söhne zeugte; ein- geleitet wird dieser Xöyog mit den Worten: „Herakles sei in dieses Land gekommen." Auch bei Tacitus folgt auf die epichorisch- ger- manische Version die fremdländische, die ganz entsprechend so be- ginnt: fuisse apud eos et Herculem memorant; dann wird hier aber Odysseus' Anwesenheit am Niederrhein hinzugefügt. Der dritte Xoyog Herodots (11 12), den er als Hellenen und Barbaren gemeinsam bezeichnet, beruht auf der Vorstellung, daß die Skythen ein aus Asien eingewandertes Nomadenvolk gewesen seien, das die Kimmerier aus ihren Sitzen verdrängt habe; als Beweise dafür, daß das spätere Skythenland einst im Besitze der Kimmerier gewesen sei, gelten Überreste, die noch jetzt (neu vvv) sichtbar seien: „Kimmerische Erdwälle, eine Landschaft namens Kimmerie, ein Grabhügel kimme- rischer Könige." Auch diese Tradition, die sich im Gegensatze zu den zwei legendarischen als die geschichtliche bezeichnen läßt, hat bei Tacitus eine Entsprechung: Berührungen mit Hellenen werden erschlossen aus Überresten, die noch jetzt (adhuc) vorhanden seien, nämlich Denkmale und Hügelgräber mit griechischen Inschriften auf der Grenze Germaniens und Rätiens. Herodot erklärt, er halte den

Sein nächster Verwandter ist der römische Innus geminus" und der germanische Tuisto, wie wir werden hinzufügen dürfen ; ich habe ihn demgemäß „Zwillich" über- setzt. — Eine andere Deutung, die u. a. S. Feist, Indogerm. und Germanen (Halle 1914) 64,3 vertritt, geht von der La. Tuisconem aus: * Tiwiskon „der Göttliche" zu germ. * Tiwaz (altisl. Tyr, ahd. Ziu) „Gott" aus idg. *deiwos (lat. divus usw.). Jedoch die Überlieferung weist durchaus auf t, nicht auf c hin: Tuisconem steht nur im cod. Aesinas, dem in der Germania keinerlei Bedeutung zukommt 1) Ed. Hermann, Sachliches u. Sprachliches zur idg. Großfamilie (Nachr. d. Gott. Ges. 1918) 228 macht auf die Parallele eines indisch -iranischen Stamm- heros Manu auimerksam , der ursprünglich als 'Urmensch' aufgefaßt worden sei

Kordon: Die germanische Urgoaehi, Ute .{

50 Kap. II. Qnellenkritisches zur Ethnographie europäischer Völker

dritten X6yog für richtig (rö [ic/.Äiöra Isyofitva uvxog xy6(yy.£L[iai). Audi Tacitus nimmt Stellung, aber für die erste der von ihm vor- getragenen Ansichten, das Autochthonentum (ipse eorum opinioni accedo qui usw.). Herodot bringt noch einen vierten loyog (c. 13—15), der, wie er selbst sagt, in der Hauptsache (Völkerverschiebungen) mit dem dritten sich berührt, und geht dann zur Beschreibung des Landes und seiner Bewohner über (c. 16 ff.) Er behandelt zuerst die einzelnen Stämme des Volkes, dann das Volk in seiner Gesamtheit (28 Tca6a Xcöqt), 59 stavtsg Sxv&ai); dazwischen steht etwas über das Klima (28 31). Tacitus beginnt mit dem Klima (5), behandelt dann das Volk als Ganzes (6 27), darauf die Besonderheiten der einzelnen Stämme (27 haec in commune de omnium Germanorum origine ac moribus accepimus, nunc singularum gentium instituta . . . expediam). Das Dispositionsprinzip ist also auch in diesem Teile dasselbe, nur die Reihenfolge anders. Der Umfang der Herodoteischen JZxv&ixd (die einige kleinere Exkurse enthalten) mag dem der Taciteischen Germania ungefähr entsprechen.

Bevor wir dazu übergehen, weitere Übereinstimmungen der Taci- teischen Ethnographie mit anderen Herodoteischen aufzuzeigen, sei der germanischen und der skythischen Archäologie diejenige des dritten großen nordeuropäischen Volkes, der Kelten, an die Seite gestellt. Wir verdanken ihre Kenntnis dem Ammianus Marcellinus (XV 9), der gewissenhaft oder eitel genug war, den damals selbst im Osten des Reiches schon seltenen, im Westen gewiß längt vergessenen Namen seines Gewährsmannes nicht zu verschweigen. Da wir im Verlaufe unserer Untersuchungen wiederholt Gelegenheit haben werden, sie in Betracht zu ziehen, so empfiehlt es sich, sie in ihrem, ganzen Wort- laute dem Leser vor Augen zu führen; bei allen Abweichungen im einzelnen, die durch die Besonderheiten des Keltenvolkes bedingt sind, wird sich niemand dem Eindruck einer gewissen Verwandt- schaft in Beweisführung und teilweise auch Beweismaterial entziehen können, zumal wenn er dabei in Rechnung zieht, daß Ammianus, seinem eigenen Zeugnisse nach, den Originalbericht erheblich über- arbeitet hat.

Ammianus Marc. XV 9, 2 ambigentes super oriyine prima

Gallorum scriptores veteres notitiam reliquere negotii semiplenam;

sed postea Timagenes, ei diligentia Graecus et lingua, haec quae

Tirnagenes' keltische Urgeschichte 5l

diu sunt ignorata collegil ex muUiplicibus libris. cuius fiden; secuti, obscuritate dimota, eadem distincte docebimus et aperte.

3. Äborigines primos in his regionibus quidam visos esse firmarant, Celtas nomine regis amdbilis et matris eins vocdbulo Gdlatas dictos ita enim Gallos sermo graeeus appellat , atii Doriensis antiquiorem1) secutos Herculem oceani locos in- habitasse confines.

4. Dryidae2) memorant re vera fuisse populi partem in- digenam, sed alios quoque ab insulis extimis confluxisse et fructibus transr/ienanis, crebritate beUorum et adluvione fermdi maris sedibus suis expidsos.

5. aiunt quidam paucos post excidium Troiae fugitantes Graecos3) ubique dispersos loca haec occupasse tunc vacua.

6- regionum autem incolae id magis omnibus adseverant^), quod etiam nos legimus in monumentis eorum incisum, Amphi- tryonis filium Herculem ad Geryonis et Taurisci saevnm5) tyran-

1) D. h. „älter als der dorische". Ob Amrnianus für den Geriet, compara- tionis (vgl. H. Rönsch, Itala u.Vulg. 435 f.), den auch Apuleius und Tertullianns kennen, andere Beispiele bietet, vermag ich nicht zu sagen; jedenfalls lag er ihm hier, bei unmittelbarer Übersetzung aus dem Griechischen, beson- ders nahe.

2) Die Namensform ist unsicher: der Fuldensis hat drasidae; A. Klotz, Caesarstudien (Leipz. 1910) 121, 2, der über die verschiedenen Schreibungen des Wortes in der Literatur genau handelt, schlägt dryidae vor.

3) Troiae et der Fuldensis, Troiae Gelenius; Graeeos ist das zu fugitantes gehörige Objekt, gemeint sind also Trojaner auf der Flucht vor den Griechen: Th. Birt, De Francorum Gallorumque origine Troiana, Eh. Mus. LI (1896) 525, 2.

4) Vgl. die Berufung auf einen inixägiog löyos bei Herodot Vtt 197 (o.S. 48, 2). Im Ausdruck ist nächstverwandt PliniusV 13 indigenae tarnen tradunt: das stammt sicher aus Polybios XXXIV, der von Plinius kurz vorher 9) zitiert ist (vgl F. Strenger, Strabos Erdkunde von Libyen, Berl. 1913, 31).

5) So der Fuldensis, Gelenius saevorum; seit der Ausgabe von H.Valesius(1636) wird saevium geschrieben. Die Nebenform saevis ist in der vita Hadriani 21, 3 aus leichten Verderbnissen der fclss. mit Sicherheit hergestellt worden, ander- weitig aber nicht nachweisbar (aus der Plautinischen Anomalbildung des Adverbs saeviter auf das Vorhandensein eines Adjektivs auf -is zu schließen, wäre ein Fehler). Ob sie in den Ammianustext eingeführt werden darf, ist mir doch zweifelhaft, obwohl er einmal (XX 6, 6) infirmis für -us hat. Jedenfalls sagt er sonst nur aaevus (vgl. R. Noväk, Curae Ammianeae, i'rag 1896, 9 t'.), und die Stelle XXIX 5, 48 truculentum eum adpellans et dirum et supplü orw

52 Kap. II. Qne'lenkritirfcbes zur Ethnographie europäischer Völker

norum pernidem festinasse, qiwrum aller Jlispanias, alter Galiläa infestabat, superatisque ambobus coisse cum generosis femvnis suscepisseque iiberos plures, et eos partes quibm imperitabcmt suis nominibus appellasae. i ) Wir fahren nunmehr in der Betrachtung anderer Herodoteischen Stellen fort. Herodot sagt von dem skythischen Volksstamme der BovÖlvoi (IV 108): „Der Stamm, so groß und zahlreich er ist, hat in seiner Gesamtheit ausgesprochen helle Augen und rötliche Haut- farbe" (ßirvog £bv (liycc xccl rtollov ykavzöv re Ttäv iö%vQäs iöxi y.u TtvQQÖv), womit sich diese Worte des Tacitus vergleichen lassen: Habi- tus quoque corporum, tamquam in tanto hominum numero, idem Omni- bus: truces et caerulei oculi, rutilae comae. Freilich spricht Herodot von der Haut-, Tacitus von der Haarfarbe, aber beide heben als be- merkenswert hervor, daß das Kolorit „bei dem ganzen großen Volke"2)

saevuvi repertorem, wo saeoum = saevorum verstanden werden kann (dira supplicia.Y eig.), scheint mir diese Erklärung auch für unsere Textstelle zu empfehlen. Diese Genetivendung ist von ihm wohl gewählt worden, um dadurch das Fomoioptoton saevorum tyrannorum (suppUciorum) zu vermeiden, wie es die Schule schon des Altertums lehrte: an Schulmäßiges muß man bei Ammianus., der das Latein nicht als seine Muttersprache schrieb, ja stets denken.

1) Das Weitere Gründung von Massilia als griechisches Kulturzentrum, keltische Kulturpropaganda durch bardi, euhages (= ovärsig Poseidonios-Tima- genes bei Strabo IV 197), dryidae geht uns hier, so viel Interessantes es sonst bietet, nicht weiter an.

2) Im Tacitustext schwankt die Überlieferung zwischen tamquam und quant- quam, aber zugunsten des ersteren, für dessen Richtigkeit entscheidend is1 bist. I 8 et hie quidem Bomae, tamquam in tanta multitudine, habitus animoruiu fuit („wie bei einer so großen Bevölkerung zu erwarten war" Heraeus; vgl. auch G. Andresen, W. f. kl. Philol. 1916, 1137). Sonst wird ut in diesem Sinne („nach Maßgabe", ,,in Anbetracht") so gebraucht. Mit der Germaniastelle ist von P. Persson, Zur Interpretation der Germ, des Tac. (in: Minneskrift af forna lärjungar tillägnad Prof. Axel Erdmann, Uppsala- Stockholm 1913) 171 f., ver- glichen worden die oft erörterte in Horaz sat. I 6, 77 f. vestem servosque sequentis, in magno ut populo, siqui vidisset, avita ex re praeberi sumptus mihi credertt Mos, aber die einschränkende Bedeutung, die er an dieser Stelle mit anderen annimmt, ist schon von Kießling-Heinze mit Recht, wie mir scheint, bestritten worden (nicht: „soweit dies bei einer so zahlreichen Bevölkerung möglich war", sondern: „wie begreiflich in Anbetracht einer großen Volksmenge", mit crederet zu verbinden). Der Sprachgebrauch verdiente wohl genauere Untersuchung; mir ist gerade zur Hand Ovid tr. III 231 f. denique ut in tanto, quantutn n&n extitit umquam, corpore pars nulla est, quae labet, imperii, wo doch von einer

Herodot, Hippokrates und Tacitns 53

das gleiche sei; sie stimmen also in einer eigenartigen Tönung des Gedankens überein.

Herodot behandelt IV 28 31 das skythische Klima und dessen Einfluß auf die Fauna: „Die skythischen Rinder", sagt er (c. 29), „sind infolge der Kälte verkümmert und hörnerlos"; „Das Vieh in Germa- nien", heißt es bei Tacitus (c. 5), „ist infolge des feuchten und rauhen Klimas meist von kleinem Schlag, selbst dem Hornvieh fehlt das ge- wohnte stattliche Aussehen und der stolze Stirnschmuck": gleichartig bis auf die dem Römer eignende glänzende Stilisierung.1)

Deorum maxime Mercurium colunt sagt Tacitus c. 9, wörtlich über- einstimmend mit Herodot V 7 (von den Häuptlingen der Thraker): öißovxai 'Egiizrjv pv.liöxa fracoi'") sowie mit Caesar VI 17, 1 (von den Galliern): deum maxime Mercurium colunt Was es zu bedeuten hat, der Caesarischen Ethnographie hier zu begegnen, wird später klar werden.

Aus den bisher betrachteten Kongruenzen3) ergibt sich, daß eine Anzahl von Gedankenreihen der Taciteischen Ethnographie aus Hero- doteischen Ethnographien, insbesondere der skythischen, abgeleitet ist. Nun aber stellt sich und dadurch erhält diese Beobachtung ein erhöhtes Interesse neben Herodot ein anderer alter Ionier, dessen Spuren bei Tacitus zu finden man erst recht nicht gewärtig sein dürfte: der unbekannte Verfasser des im Hippokratischen Schriften- corpus überlieferten klimatologischen Buches (izsql ccsqcjv vddrcov

einschränkenden Bedeutung keine Rede sein kann. Aus dem Griechischen ließe sich etwa vergleichen Thukyd. III 113, 6 apitfyi.ov 'iyQcetya. xwv artoQ-ccvövrcov, Siöri anißxov itXrjd'og Xsyezai uitoXsG&cci <ag 7CQÖg piysSog rf]g Ttölscag, aber am besten entspricht uxs.

1) ne armentis quidem suus honor auf gloria froutis. Vergils Georgica geben Stimmung und Farbe: von der Stattlichkeit italischer Rinder spricht der Dichter II 146f., gloria ruris 1 168, gloria palmae III 102, gloria mellis IV 205, jedesmal am Hexameterschluß, wie ja auch bei Tac. der Satz daktylisch ausläuft. Auch suus im Sinne des jemandem von Natur Eignenden (vgl. c. SO Chattos suos saltus Hercynius prosequttur simul atque deponit) gehört zu Vergils Liebhabereien, ge- rade auch suus hovor bat er einmal (aen. VI 780). Auf dergleichen geheime Künste feinster Stilisierung muß man bei Tac. achten; in den Neuen Jahrb. XXXI (1913) 663, 1 habe ich ein paar Beispiele dieser Art gegeben, deren Zahl ich jetzt vermehren könnte.

2) Die Kongruenz notiert Wissowa a. a. 0. (o. S. 41, 1) 657 F,

3) Eine weitere, noch viel auffallendere, die eine längere Besprechung er- fordert, muß ich für den Abschnitt VI dieses Kapitels zurückstellen.

54 K&p. II. Quelienkritisches zur Ethnographie europäischer Völker

rootav), aus dem wir die unmittelbarste Vorstellung ionischer Wissen- schaft des V. Jahrh. erhalten. Seine Schilderung des Skythenlandes und -volkes ist bei Tacitus an drei Stellen auf Germanisches über- tragen. Wir beginnen mit einer unscheinbareren, um mit der merk- würdigsten zu schließen.

Über die Venedi (Wenden), die nicht wie die vorher genannten Peucini und Fenni zu den Sarmaten, sondern zu den Germanen zu rechnen seien, sagt Tacitus (c. 46): „Sie haben nämlich feste Woh- nungen, tragen Schilde, sind Fußgänger und rüstige Läufer; alles im Gegensatz zu den auf Wagen und Roß lebenden Sarrnaten." Dem hier von der sarmatischen Lebensweise positiv und negativ Gesagter entsprechen in der Hippokratischen Schrift c. 18 (p. 60, 12 Kühle- wein) folgende Angaben über die Skythen: „Dort ist der Aufenthalt der Skythen, die c Nomaden' heißen, weil sie keine Behausungen haben, sondern auf Wagen wohnen . . . Auf diesen Wagen nun halten sich die Frauen auf, die Männer reiten auf Pferden" (svxav&ti xccl oi 2Jxv&ca diKitsvvtca, .Nofiddeg de xa?>£vvTca, ort ovx eöviv olxijpccxcc, all? hv äfit.i^0iv oixevöiv . . . hv xuvxrfii [ihv ovv ccta(x^6iv ai yvvccixsg ötKnevvxa^ avxol d' £<p lintcov by^vvxon ol avögsg).

Von den Germanen heißt es bei Tacitus (c. 4): zur Kraftentfal- tung der großen Körper stehe ihre Fähigkeit, Strapazen und harte Arbeit auszuhalten, in keinem Verhältnis: laboris atque operum non eadem patientia. Wie das griechische Gegenstück zu dieser lateinischen Fassung liest sich bei dem Hippokrateer (c. 15): die Anwohner des Phasisüusses seien von mächtigem Körperbau, aber „um harte Müh- sal auszuhalten, dafür ist ihr Körper zu arbeitsunlustig" (jzpög xb TccXaiTtaQElv xb Gäpa ccQyöxsQoi Ttscpvxaötv). Das etwas gesuchte no); cadem patientia (= impatientiores quam pro corporibus) findet in dem feinen Komparativ ccqy6xsqoi seine natürlichere Entsprechung.

Eins der berühmtesten Schlagworte der Germania ist das in c. 4 stehende: die Germanen seien tantum sui similis gens. Sein Ur- bild steht bei dem Hippokrateer c. 19 (p. 61, 16) *): „Der skythische Volksstamm unterscheidet sich sehr von den übrigen Menschen und

1) Die Stelle habe ich nur in dem Germania-Kommentar von Schweizer-Sidler, und zwar erst in seiner Neubearbeitung von Ed. Schwyzrer (s. o. S. 5, 2) zitiert gefunden mit der Bemerkung, die Kongruenz sei so vollständig, daß ein Zusammenhang be- stehen müsse. Aber bisher hat niemand der wichtigen Anregung Folge geleistet.

Hippokrates und Tacitus: Skythisches und Germanisches 55

ist nur sich selbst ähnlich, wie der ägyptische" (jzoXv ccxr\XXaxxai täv XoiTtäv c'.vfrQcbxcov xb J£xvt}ixbv yevog xal soixsv avxb eavxä1) <o6Jt£Q rb Aiyimxiov). Dazu kurz vorher (c. 18 p. 60, 5) eine Parallel- fassung2), in der neben den positiven Ausdruck der negative gestellt ist: xegi öe räv XoiTtcbv ZJxv&sav tijjs [lOQcpfjg ort avxol avxolöiv loixaöi xal ovdauolg (so Wil., -äg Hss.) äXXotg, avzbg Xöyog xal Ttsgl Alyvxxlav. Hier können wir einmal den Gang der Übertragung schrittweise verfolgen. Offenbar ist der in seiner naiven Anschaulich- keit echt ionisch anmutende Ausdruck „eigenartig" werden wir am besten übersetzen, was mit einem erst hellenistischen Worte IdiÖTQOTtog heißt geprägt worden für die Ägypter, um deren Ab- sonderlichkeit zu charakterisieren. Dann hat ihn der Hippokrateer, dessen Behandlung dieses Volkes durch eine handschriftliche Lücke verloren gegangen ist (vgl. c. 13 Anf.), auf die Skythen, ein anderer auf deren Nachbarvolk, die Germanen, übertragen. Eine anderweitige Übertragung ist mir nicht bekannt.3)

1) Der Verfasser liebt diese, auch aus Herodot geläufige sog. 'comparatio reflexiva', z. B. in demselben c. 19 (p 62, 4) sl'Sscc ö^oloi, avxol iwvxotg, 7 (p. 42, 24) xavxa (ihv clqigtcc ccvtcc savzöbv ioxv (ganz wie Herod. IV 198 inuv avxrj savrfjg &Qi6xa ivEix'ß sc. 73 yfj, vgl. Vlil 86 iyivovxo . . . /laxpöi ä[ie(.vovs; avxol icovxcöv), aber sonst meist mit der Nuance des Unterschiedlichen, wie 1 (p. 33, 5) diccrpiQOvciv avxai xs iq>' koivxiav 13 (p. 55, 3) xa 's&vea xuvxa. zavxr\ dtdcpoga avxu ecavzcov iaxi 16 (p. 59, 11) svQTjösig dh ■neu xovg 'iöirjvovg diccyt- Qovxccg avxovg iavräv u. ö. (vgl. Herod. VIII 137 8i7cXrjGLog iysvszo avxbg bcovxov sc. 6 agxog). Herodot liebt es, die Besonderheit der Sitten mehrerer von ihm besprochener Völker hervorzuheben (z. B I 173 von den Lykiern: sv äk xoSs L'diov vsvofiLxaoi Kai ovSa[iol6i, äV.oiGi (jviicpSQOVTca äv&Qcoitcov, vgl. c. 172, III 20). genau derselbe Ausdruck findet sich aber bei ihm nicht, doch ist IV 48 l'ßog aiel avzbg tcovxä gisi (der Ister) sehr ähnlich.

2) Vgl. F. Jacoby, Hermes XLVI (1911) 538. 0. Regenbogen, Syinbola Hippo- evatea (Diss. Berl. 1914) 49, 1: diese Parallel Fassungen, Randbemerkungen eines ionischen Arztes, sind in sehr alter Zeit mit dem Text vereinigt worden.

3) Vergleichbar ist, was bei Dionysios in der Römischen Archäologie I (aus Alexander Polyhistor stsgl 'Pmtirig) von den Aboriginern gesagt wird (c. 10): „Einige erklären die Aboriginer, die Urahnen der Römer, für Autochtbonen, eine für sich bestehende Menschenrasse (ysvog avxb xaiK savxb ysvöiisvov) " Die ganze Art der Diskussion erinnert an die uns aus Tacitus bekannte (s. o. S. 47), denn es geht so weiter: „Andere sagen, es seien heimatlose, aus aller Herren Ländern zusammengelaufene Flüchtlinge gewesen. Wieder andere fabeln von Kolonisten der Ligyer . . . Dagegen behaupten die angesehensten Schriftsteller hellenische Abkunft." Die Gleichartigkeit des Schemas ist unverkennbar.

56 Kap. II. Quellenkritisches zur Ethnographie europäischer Völker

Die Folgerung, die sich aus den vorgetragenen Tatsachen ergibt, ist für die germanische Altertumskunde, soweit sie Bich auf der Tuciteischen Germania aufbaut, nicht besonders erfreulich. Wie alle literarischen Gattungen des Altertums, so ist auch die ethnographische einer Typologie verfallen. Das von einem Beobachter über ein bestimmtes Volk Aus- gesagte wurde von einem anderen auf ein anderes Volk übertragen. Eine Übertragung braucht nicht notwendigerweise die Reinheit des ursprünglichen Lichtes zu trüben, aber die Gefahr einer Trübung liegt überall nahe. Das zuletzt besprochene Dictum leuchtet in eignem Glänze nur über demjenigen Volke, für dessen ethnische Sonderart es geprägt wurde. Inwieweit es für das germanische seine Gültig- keit behielt, das ausführlich zu erörtern ist hier nicht am Platze; doch sei es erlaubt, kurz dabei zu verweilen. Durch mehrere der Reden Fichtea an die deutsche Nation zieht sich die Gleichung: Ur- volk, Menschheitsvolk, deutsche Nation. X)b er sie auf Grund des Dictums der Germania gewann, bleibe dahingestellt; daß die germa- nischen Stücke in Tacitus fast seine einzige Lektüre während der Aus- arbeitung der Reden waren, ist durch seinen Sohn bezeugt.1) Er begründet jene These spekulativ: das läßt sich nicht aufrechterhalten. Aber durch die Entfaltung einer neuen Wissenschaft ist sie in besondere Beleuchtung gerückt worden. Die Prähistorie hat die Vorstellung von der Urtümlichkeit eines nordeuropäischen Volkes (oder einer Völkerfamilie) geschaffen, das seine Eigenart in den Süden des Erdteils und über die kleinasiatische Völkerbrücke hinaus wirken ließ. Wenn nun schon in jenen unvordenklichen Zeiten die Propaganda einer nordischen Rasse auf kulturellem Gebiete kenntlich ist der Name „germanisch" tut nichts zur Sache, denn so uralt er auch ist, so wäre er doch für jene dunklen Räume, auf die nicht einmal ein Dämmerlicht geschichtlicher Kunde fällt, gegenstandslos , so ist das Germanentum seit den Zeiten, wo es volle Daseinsrealität besaß, eben durch seine Eigenart dazu be- stimmt gewesen, wie durch einen Sauerteig den Gärungsprozeß gerade der lebensfähigsten europäischen Nationen hervorzurufen. Zur Be- stätigung dessen möge ein französischer Gelehrter das Wort erhalten. An den oben (S. 6, 1) erwähnten Vortrag Fustels de Coulanges vom

1) Fr. Fröhlich, Fichtea Reden an die deutsche Nation (Berl. 1907) 67 r.

Germanische „Eigenart" 57

Jahre 1885 über altgernianische Agrikulturgeschichte hat sich in der Academie eine der Bedeutung der Ergebnisse entsprechende ungewöhn- lich ausführliche Diskussion angeschlossen, an der auch A. Geffroy teilnahm. Er äußerte dabei: „La race germanique, differente en quel- que mesure des races latines, a eu pour eile un certain degre d'ori- ginalite, et, par lä, eile a exerce sur les origines de quelques-unes des nations modernes, sur nos propres et sur notre developpement, une influence que la science n'a peut-etre pas encore suffisemment demon- tree dans le detail, mais qui est indeniable". Der Sprecher dieser Worte hatte im Jahre 1874 ein in Deutschland kaum bekannt ge- wordenes Buch cIiome et les barbares. Etüde sur la Germanie de Tacite' geschrieben, dessen Grundmotiv die schöpferische Eigentüm- lichkeit des Germanentums ist. In der Tat hätte dieses seine weit- geschichtliche Mission, die Umgestaltung der Völkerwelt des ge- stürzten Imperiums, nicht vollziehen können, wenn seiner Rasse nicht eine schöpferisch wirkende Eigenart innegewohnt hätte. Diese ver- band sich nun freilich schon in früher Zeit1) mit der Fähigkeit einer Anpassung an Fremdes bis zur Selbstentäußerung, Dieses Über- maß der Hingabe hat uns in entscheidungsvollen Abschnitten unserer Geschichte an der rechten Entfaltung der inneren Kräfte und der Ausprägung des Nationalbewußtseins gehindert. Wohl mag uns jetzt das von Tacitus weitergegebene Kernwort eines alten Bericht- erstatters über Germanisches ein Ansporn sein zur Selbstbesinnung auf unsere angestammte Art und zu deren Betätigung: aus dem Hasse der Völker erblühe uns eine stärkere Liebe zu dem echten Wesenskerne unseres eignen Volkes.

1) Diese wird von Agathias I 2 p. 13 A im Gegensatz zu der römischem Wesen unzugänglichen Art anderer Barbaren stark betont, ja, er gelangt zu der Formulierung: ,,für Barbaren scheinen sie mir gesittet, ganz anstellig und ohne jede Besonderheiten, abgesehen von dem Barbarischen der Tracht und dem eignen Sprachidiom." Mit dem ovSsv xi 'i^ziv dialXäzzov ist der Gegenpol des Tacitei- schen Dictums erreicht: erst gegen Ende dieses Werkes, wenn wir die Ver- ästelungen der Tradition ganz übersehen, werd3n wir die Möglichkeit ins Auge fassen können, überlieferungsgeschicbtliche Verbindungslinien zwischen den beiden Polen zu ziehen. Auch die Ausdrucksweise mg iv ß<xQßaQ<o yilvsi '/.Ö6ynoi xccl acrsiotaroi verglichen mit der Taciteiechen von den Chatti c. 30 multum , ut inier Gcrmanos, rationis ac solhrtiac und der Caesarischen IV 3, 3 von den Ubii quorum fuü cicitas ompla atque jlorens, ut est captux G ermanorwt' könnte auf dieser Linie zu liegen scheinen. Vgl. o. £. 14, -2.

58 Kap. II. Quellenkritisches sur Ethnographie europäischer Völker

Doch kehren wir von dieser nationalen Betrachtung zu unserer philologischen zurück. Die germanische Ethnographie hat zeitlich fast am Ende einer sehr langen Reihe gestanden: daher ist sie von völkerkundlichen Wandermotiven wie übersät. Daß wir mit unserem doch recht begrenzten Material verhältnismäßig so viele Übertragungen nachzuweisen vermögen denn die vorhin zu einem besonderen Zweck angeführten stellen ja nur einen winzigen Bruchteil dar , ist fast entmutigend, da wir mit der Wahrscheinlichkeit rechnen müssen, <laß unserem Bemühen, das spezifisch Germanische zu erfassen, viele derartige Fehlerquellen hindernd in den Weg treten. Um diese als solche zu erkennen und Irrtümer wenigstens zu begrenzen, wird nichts anderes übrigbleiben als eine ethnographische Motivsammlung auf breitester Grundlage vorzunehmen. Aber die Lösung dieser Aufgabe muß den Erklärern der Taciteischen Germania vorbehalten bleiben. Für uns handelt es sich um eine andere Frage. Läßt sich auf dem weiten Wege von der altionischen Ethnographie bis zu der Schrift des Taeitus irgendeine schriftstellerische Persönlichkeit erkennen, die die Vermittlerrolle gespielt hat, oder müssen wir uns bescheiden, irgendwelche für uns nicht mehr kenntliche Uxvd-Lxä1) als Verbin- dungsglied anzusetzen? Nicht ohne Bedenken versuche ich eine Be- antwortung dieser Frage in dem hoffnungsvolleren Sinne. Denn die blinde Zuversicht von Namenjägern vermag ich nicht zu teilen, sie ist ja auch nur auf mangelnde Einsicht in die Schwierigkeit der Probleme gegründet. Nichts leichter freilich als das, bei irgend- welchen Übereinstimmungen, die noch dazu unscheinbarer als die hier angeführten zu sein pflegen, einen großen Namen aufzustellen und von dem Leser Glauben an ihn zu verlangen. Mit solchen All- gemeinheiten ist gar nichts getan, es kommt auf den Versuch an, besondere Beweisgründe zu finden. Bis zu welchem Grade mir dies gelungen sei, wird der Leser nachprüfend zu entscheiden haben, den ich leider vielfach verschlungene Pfade werde führen müssen; aber ein Richtweg besäße auf einem derartig verschütteten Überlieferungs- gebiete nicht die Aussicht, zum Ziele zu führen. Übrigens ist hier Quellenanalyse mit Wort- und Sachinterpretation so eng verknüpft,

1) Auch Hellauikos schrieb HkvO-lko. (dazu zwei gefälschte Titel hei Ps. Plut. de flav. 5, 2. 14, 5). Meine Titelsammlnng ist noch nicht so weit abgeschlossen, daß ich die Vollständigkeit der Liste verbürgen könnte.

Quellenkritische Problemstellung 59

daß es zum Schaden der einen wie der anderen wäre, sie zu trennen. Worauf es mir vor allem ankommt, ist der Versuch, einen Einblick in das Entstehen und Wachsen des Überlieferungsstromes zu gewähren, der schließlich in die Taciteische Schrift mündete. Sollte mir dies gelingen, so würde ich das für wesentlicher halten als den Zuwachs eines oder des anderen Autorennamens, dem am Ende doch das Beste fehlte, die Wesenhaftigkeit eines uns voll greifbaren Daseins.

II. DIE ÄLTESTEN ETHNOGRAPHISCHEN BERICHTE ÜBER GERMANIEN

1. POSEIDONIOS ÜBER KIMBERN UND GERMANEN Die soeben aufgestellte Frage, durch wen das altionische Erbgut in die Germania gelangt sein mag, empfiehlt es sich dahin zu ver- engern, daß wir in Anlehnung an die zuletzt aufgezeigte Überein- stimmung der Hippokratischen Schrift mit der Taciteischen fragen: in welcher Gegend der Literatur mag der Schriftsteller zu suchen sein, der die Hippokratische Formel von der Wesensbesonderheit der Skythen auf die Germanen übertrug? Derjenige, der die Vermittler- rolle spielte, muß zwei Bedingungen erfüllen: er muß die Schrift des Hippokrateers gekannt und sich über die Germanen sei es in ihrer Gesamtheit, sei es eine ihrer Völkerschaften geäußert haben. Da- durch wird der Kreis der Möglichkeiten fast zum Punkte: denn die Kenntnis der Hippokratischen Schrift war auf engste Fachkreise be- schränkt, und nun muß ihr Benutzer gar noch für Germanisches interessiert gewesen sein.

Die Grund Vorstellung der Hippokratischen Schrift das Be- stehen eines ursächlichen Zusammenhanges zwischen Landes- und Volksnatur ist von ihrem Verfasser mit solcher Folgerichtigkeit durchgeführt, ja, man muß sich bei aller Bewunderung eingestehen: mit solcher Einseitigkeit auf die Spitze getrieben worden, daß wir Vorstufen ihres Entwicklungsganges ansetzen müßten, auch wenn sie uns nicht mehr kenntlich wären. Nun findet sie sich aber auch an einer Stelle des Herodoteischen Geschichtswerkes (II 35), und zwar sind es gerade wieder die Ägypter für sie ist, wie wir sahen, jener bemerkenswerte Ausdruck geprägt worden , deren Eigenart auch Herodot aus der Besonderheit der klimatischen und terrestri- schen Verhältnisse ableitet: „Die Ägypter haben entsprechend dem

ßO Kap. II. Quellenkritischcs zur Ethnographie europäischer Völker

bei ihnen herrschenden verschiedenartigen Klima (ovQuvAg, caelum) und der ganz absonderlichen Art des Flusses auch ihre allermeisten Sitten und Gebräuche im umgekehrten Verhältnisse zu denen der anderen Menschen gestaltet."1) Zwischen dem llippokrat.eer und Herödot besteht kein unmittelbarer Zusammenhang. Sie waren un- gefähre Zeitgenossen und haben beide an Ort und Stelle ihre Er- kundigungen vorgenommen, deren Interessenkreise sich vielfach be- rührten, beispielsweise berichten sie beide über Pfahldörfer'"); sie weichen vielfach voneinander ab, aber ihre Übereinstimmung in Be- sonderheiten ist gelegentlich derartig, daß sie sich nur aus literari- scher Benutzung eines und desselben Gewährsmannes erklären läßt. F. Jacoby, der dies untersucht hat, kommt daraufhin zu dem Schlüsse, daß solche Übereinstimmungen auf Hekataios zurückgehen, dessen ausführliche Beschreibung des Skythenlandes von Herodot und dem Hippokrateer ausgiebig benutzt worden sei.3) Seine Beweisführung scheint mir unwiderlegbar zu sein; wir dürfen sie also auch auf die übereinstimmende klimatologisch- anthropologische Beobachtung der beiden anwenden. Danach würde also der Vater der Länder-

1) Eine zweite Stelle liegt etwas weiter ab, sie findet sich in dem be- rühmten Kap. 1 142: „Die Ionier . . . legten ihre Städte in einem Lande an, das unseres Wissens das schönste Klima (ovgavog v.a.1 aQai) auf der ganzen Erde hat; denn weder die nördlich noch die südlich gelegenen Gegenden tun es Ionien darin gleich, da jene von Kälte und Nässe, dieee von Hitze und Dürre leiden.11 Hierzu notieren die Kommentare %. <x£q(dv c. 12.

2) Herod. V 16: Paionen im Sumpfgebiete des Stryinon; Hippokr. c. 15: Bewohner des Sumpflandes am Phasisflusse. Sonst ist mir aus älterer Zeit nur noch bekannt das Ai[ivalcov Id-vog Ps. Skymnos 850, wohl am Maiotissee. Aber Bemerkung verdient folgendes. Teile der dem gotischen Stamm esverbande an- gehörigen Heruler wohnten seit der zweiten Hälfte des III. Jahrh. im Sumpf- gebiete des Maiotissees, und daraufhin machte der Historiker Dexippos, der als kenntnisreicher Mann wohl solche Stellen der alten Literatur kannte, eine verfehlte Etymologie: Etymol. M. 333 ana r&v ixsloe iläv "EIovqoi Y.£xkr]vxai. jQnntog iv dcodsxdrcp xqovlxüv, die durch Zwischenquellen in Cassiodors Goten- geschichte und aus dieser zu Jordanes kam: 117 praedieta gens (Heruli) Ablabio storico referente iuxta Maeotida palude inhabitans in locis stagnantibus quos Greci ele vocant Eluri nominati sunt. Ein dakisches Pfahldorf mitten im See auf der Trajanssäule: abgebildet bei Cichorius Taf. XLI.

3) F. Jacoby, R. E. "VII 2680. 2700. 2708. 2717f. Kürzlich ist dieser Nachweis für eine Einzelheit bestätigt worden von W. Capelle, Berges- u. "Wolkenhöhen bei griech. Physikern (Leipz. 1916) 6 f.

Ilekataios, Herodot und Hippokrates 61

und Völkerkunde als derjenige anzusehen sein, dem zuerst der zu- kunftsreiche Gedanke einer Wechselbeziehung von Klimatologie und Völkerphysiologie aufgegangen wäre. Wie so viele richtige Beobach- tungen ist wohl auch diese durch Vergleichen gefunden worden: das von allem Hellenischen abweichende Ägyptische scheint in Hekataios die Vorstellung erweckt zu haben, daß die ethnischen Verhältnisse durch die klimatischen beeinflußt werden. Wer der hier begründeten Vermutung zustimmt, wird sich aber auch der weiteren Folgerung nicht entziehen können, daß der Hippokrateer seinen eigentümlich zugespitzten Ausdruck von dem „nur sich selbst gleichenden Volke" bei Hekataios las. Denn er selbst hat ihn nicht geprägt, da er ihn auf die Skythen, sein eigentliches Thema, bloß übertrug, und zwar, wie er selbst bemerkt, von den Ägyptern. Die Schilderung aber, die Hekataios von Ägypten gab, hat auf die Späteren stark gewirkt. Daß aus ihr (vgl. fr. 279. 295) das Herodoteische öüqov xov 7ioxa\LOv (115) stammt, hat Diels erkannt und Jacoby gesichert. Daß dasselbe von der uns hier beschäftigenden Formel zu gelten hat, wird durch fol- gende Betrachtung so wahrscheinlich wie nur möglich: in einer alten Dublette innerhalb der Hippokratischen Schrift (s. o. S. 55, 2) ist die positive Ausdrucksweise „sie gleichen nur sich selbst" einmal mit der negativen „und keinen anderen" verbunden {avxol avxolöiv ioC- xccöl xui ovöaiiols uXXoig), und die negative findet sich auch bei Herodot (II 80): aXloiöi ov3cc[xolöi Gv[iq) sqovxcci.

Errungenschaften ionischer Wissenschaft sind vielfach zum All- gemeingut der Gebildeten geworden: das ist auch mit dem Grund- gedanken der Hippokratischen Schrift geschehen, der, auf Attikas Land und Volk angewendet, bei Isokrates1) und in sonstiger populärer Literatur begegnet2), ohne daß dabei an Kenntnis jener Schrift selbst zu denken wäre. Schon eher möglich erscheint dies an einer Stelle der Platonischen Gesetze.3) Ganz sicher ist es bei Aristoteles und

1) Areop. 74. Aus populärwissenschaftlicher Literatur stammt die inter- essante, von Triulinger a.a.O. (o. S. 8, 1) 51 f. hervorgezogene Stelle aus einer anonymen Pythagorasvita bei Photios cod. 249 p. 441a. 13 ff.

2) R. Pöhlmann, Hellenische Anschauungen über den Zusammenhang zwischen Natur und Geschichte (Leipz. 1879), hat die Schicksale der Schrift innerhalb der grie- chischen Literatur, soweit es der damalige Stand des Wissens zuließ, fein dargestellt.

3) Ganz am Schlüsse des V. Buches (747 L) E) spricht er über die von dem Gesetzgeber zu berücksichtigenden klimati-chen Naturbedingungen; ein Satz,

62 Kap. II. QueUenkritißches zur Ethnographie europäischer Völker

seiner Schule.1) Bei der starken Beeinflussung der Historiographie durch den Peripatos ist es nicht zu verwundern, daß wir dem Ge- danken bei hellenistischen Geschichtschi-eibern besonders der Feld- züge Alexanders2), aber auch einmal bei Polybios (bei ihm durch Panaitios vermittelt)1') begegnen. Sie haben ihn natürlich nicht aus

in dem hintereinander die Worte Ttvsv^axa . . . viccta . . . xoxoi vorkommen, wird ;;ls Reminiszenz an die HippoLratische Schrift aufgefaßt werden dürfen. Vgl. Staat IV 435 E (mit den Bemerkungen Txüdingera S. 57, 2) und Tim. 24 C.

1) Außer Andeutungen in der Politik (vor allem H 7. 13i7b 23—38) und einer Stelle der Tiergeschichte (0 28. tiOöb 17 ff), die mir aus P. Bolchert, Aristoteles' Erdkunde von Asien und Libyen (Berl. 1908)4, bekannt geworden ist, kommt besonders de'r 14. Abschnitt der Probleme (Pöhlmann S. 64 ff.) in Betracht; in ihm ist nachweislich Theophrastisches Gut, wie denn Theophrastos in dem pflanzenphysiologischen Werke die Theorie verwertet hat (Trüdinger S.54).

2) Nearchos hat, wie die Kongruenz von Strabo XV 690 mit Arrianus Ind. 6,9 beweist, somatische Ähnlichkeiten wie Versciiiedenh eilen der Inder von den Äthiopen aus der Natur der Länder abgeleitet: da die Kraushaarigkeit der Athiopen auch in dem peripatetischen Problem 14, 4 (s. vorige Arm.) aus atmo- sphärischen Verhältnissen erklärt wird, so liegen die Zusammenhänge klar vor Augen, und man wird diese Hinüberleitung peripatetischer Naturforschung in die praktische Erkundung der neu erschlossenen Länder des Ostens sich als Ergänzung von Bretzls wichtigen Erkenntnissen gefallen lassen. Megasthenes nach Diodor II 36, 1 xovg av&Qänovg T) 'jtoXvxaQitla xQicpovGcc xolg xs ccva6xrr iiacv x&v caiiäx(üv xai xolg oyxoig vTtsQcpEQOvxag xaxccöxsvägs'y sivai ä' ccvxovg cvußedvEi xal TCQog xccg x&yvt.g iTtiazTjiiovag, mg av cceqo: (ihv zlxovxug xa&KQov, vöag dh Xs7txou£Q80xccxov itivovxag. Kleitarchos nach Curtius VIII 9, 20 ingenia hommum, sicut ubique, apud illos locorum quoque siius formal (die Begründung hat der oberflächliche lateinische Epitomator sich geschenkt).

3) Polybios IV 21, 1 f . in einem Exkurse: die Arkader hätten sich die Pflege der Tonkunst und Geselligkeit deshalb angelegen sein lassen, weil sie dadurch die rauhe, aus der Unwirtlichkeit des Landes entspringende Gemütsart des Volkes glaubten mildern zu können, denn: .,der Umwelt passen wir Menschen uns alle, unserer Natur entsprechend, notwendigerweise an : eben aus dieser Ur- sache sind die ethnischen und allgemeinen Differenzen nach Charakter, Ge- stalt, Farbe und den meisten Lebensgewohnheiten zu erklären." (Gleich darauf, § 5, stehen, noch in derselben Diskussion, die Worte &t}q xal xonog neben- einander.) Diese Worte hat R. v. Scala, Die Studien des Polybios I (Stuttg. 1890), 327 f., als eine nachträgliche Einlage auf Panaitios zurückgeführt; er hat dabei das beste Beweismittel für seine Vermutung übersehen: Cicero de div. II 96f. dissimilitudo locorum nonne dissimilis Jwminuni proereationes habet? quas quiäem percurrere oratione facile est, quid inter Indos et Persas, Aethiopas et Syros differat corporiLus aniuiis, ui incredibilis varietas dissimilitudoque sit . . . Videk.ie me . . . dicere . . ., qiiae prineeps Stoicorum Panaeiius dixii?

Poseidonios' Anthropogeographie 53

erster Hand, wie sich denn auch bei keinem von ihnen die leiseste Anspielung auf jene markante Formel findet, deren Geschichte wir verfolgen. Für Germanisches vollends bleibt dies alles außer Betracht. Aber am Ende jener Reihe hat ein Historiker gestanden, der zugleich Naturforscher war, und in dessen Gesichtskreis zum ersten Male das Germanische trat Auf ihn richtet sich jetzt unser Blick. Das Miß- trauen, das man in verständlicher Reaktion gegen eine Moderichtung seit kurzem der Forschung über ihn entgegenbringt, wird die vor- liegenden Untersuchungen nicht treffen; denn in ihnen handelt es sich, wie schon oben (S. 26) bemerkt wurde, nicht um den Religions- philosophen, dessen Bild wir mehr zu ahnen als zu zeichnen vermögen, sondern um den Kulturhistoriker, dessen Profil schärfer umrissen erscheint.

Poseidonios „ist der letzte große Historiker gewesen, welcher den Zusammenhang zwischen Land- und Volkscharakter, zwischen der Natur und dem Geschicke der Länder und Völker gefaßt und dar- gestellt hatte".1) Er hat allenthalben an Aristoteles angeknüpft itolv yuQ söxi . . . %uq avxip xb MqvöxoxsIC^ov sagt von ihm Strabo II 104 und Geschichts- und Naturbetrachtung zu einer Einheit ver- schmolzen, wie sie weder vor noch nach ihm im Altertum je er- reicht worden ist. Erst die Neuzeit hat wieder in diese Bahnen ein- gelenkt. Poseidonios darf als Vorgänger Kai-1 Ritters bezeichnet werden, der durch seine „Erdkunde im Verhältnis zur Natur und Geschichte des Menschen" (1817/18) dieses Gebiet der Geographie von neuem wissenschaftlich erschloß, nachdem es Montesquieu, Buffon und Vol- taire künstlerisch erobert hatten.2) Sie alle und nach ihnen Her-

1) Worte von Wilamowitz, Griech. Lesebuch 11 184. Ebendort S. 199 ff. sind Stücke aus der Hippokratischen Schrift und aus Poseidonios (Strabo, Diodor) wegen der Gleichartigkeit der Betrachtungsweise (S. 207) hintereinander ge- stellt worden.

2) Das XIV. Euch von Montesquieu« Esprit des Lois (1748) handelt 'Des lois dans le rapport qu'elles ont avec la nature du climat'; der hippokratische Grundgedanke wird hier und in den folgenden Büchern, in denen bei Gelegenheit auch die Germania zitiert ist, bis in die äußersten Konsequenzen, hart an die Grenze des Absurden verfolgt. Buffon, Histoire naturelle de l'Hoinme (174ii), und Voltaire, Essai sur les Moeurs et TEsprit des Nations (1756), sind viel zurückhaltender; bei Buffon habe ich. freilich nur blätternd, einmal den Namen des Hippoia-ates gefanden.

ß4 Kap, II. Qaellenkritiachea zur Ethnographie europäischer Völker

der1) sowie vor allein Alexander von Humboldt, der im „Kosmos" (184 "> bis 1859) Wissenschaft mit Kunst verband, und viele andere bis auf Ft. Ratze! (Anthropogeographie3 1909) wußten, daß die Anfänge auch dieser Wissenschaft ins Altertum hinaufreichten. iS'ur erteilten sie die Lorbeeren, die Poseidonios gebühren, Strabo8), der ihnen immer noch 6 yzojygucpos war wie dem ausgehenden Altertum und dem griechischen Mittelalter, umstrahlt „von hellem Wissensglanz und leuchtenden Gedanken".3) Es wäre zu wünschen, daß dieses Vor- urteil, von dem sich die Altertumswissenschaft längst befreit hat4 , einer richtigeren Erkenntnis allgemein wiche. Strabo mag immerhir ein Ehrenolatz gewahrt bleiben, der ihm gebührt als einem trot:. vielfacher einzelner Kehlgriffe im ganzen verständnisvollen Verwalter klug ausgewählter vorzüglicher Quellenwerke, unter denen das Ozean- buch und die Historien des Poseidonios auch deshalb hervorragen, weil dessen ozeanographische und historische Schriften der etwas philiströsen Art Strabos gelegentlich Ethos und enthusiastischen

1) In seinen „Ideen" Buch VII Kap. 3 ,.Was ist Klima? und welche Wir- kung hat es auf die Bildung des Menschen an Körper und Seele?" preist er Kippokrates und weist Montesquieus Übertreibungen zurück.

2) Selbst Pöhlmann schließt seine Seite 61, 2 genannte Schrift S. 80ff. mit einem Enkomion auf Strabo, der als einziger die Synthese naturwissenschaftlicher und geschichtlicher Betrachtung vollzogen habe. Darauf beruft sich dann Ratzel a. a. 0. I 68.

3) Worte 0. Peschels, Gesch. d. Erdkunde* (Münch. 1877; in dem Ab- schnitt „Das Naturwissen d. Alten" (S. 62 ff.). Damit vergleiche man die humoristische Art, mit der ein vom Altertum herkommender Kenner wie J. Partsch dem „alten Herrn" Strabo bedenkliche Fehler nachweist: Ber. üb. d. Verh. d. Sachs. Ges., phil.-hist. Kl. LXIX (1917) 69, 3.

4) Es verdient vielleicht darauf hingewiesen zu werden, daß als der eigentliche Bahnbrecher der Straboanalyse A. H.L.Heeren zu gelten hat: in seiner großen Abhandlung De fontibns geographicorum Strabonis (in den Commentationes soc. reg. scient. Gottingensis recentiores V 1823, 97 100) sind einige wichtige Positionen, die jetzt als Allgemeingut gelten, erstmalig ge- wonnen, beispielsweise auch Poseidonios als ein Hauptgewährsmann Strabos scharf erkannt worden. In Deutschland ist das jetzt wohl nur wenigen mehr bekannt, vielleicht eben deshalb, weil hier die Forschung besonders durch Müllenhoff und B. Niese (1877) so weit über Heeren hinausgelangt ist; aber ein französischer Gelehrter, M. Dubois, hat in seinem Examen de la geographie de Strabon (Paris 1831) dem alten deutschen Forscher die gebührende Be- achtung geschenkt.

Poseidonios' Anthropogeographie 65

Schwung, seinem nüchternen Stile Bilderreichtum, Glanz und Wärme verliehen haben, Vorzüge, die auch der nicht viel jüngere Verfasser der Schrift über den Kosmos seiner Benutzung des meteorologischen Werkes des Poseidonios verdankt., Originalität im Sinne eines Ent- deckertums wird mau auch Poseidonios nicht zuerkennen dürfen, aber er hat und von welchem Hellenen der sullanischen und caesarischen Zeit ließe sich Gleiches sagen? das Erbe der Ahnen so verwaltet, daß er den Besitz nicht bloß verständnisvoll gewahrt, sondern selbst- forschend gemehrt hat. Poseidonios nun hat die Hippokratische Schrift in seinen naturwissenschaftlichen Werken, besonders in der Schrift TtSQL dtxsuvov, ausgiebig benutzt. Dieser Nachweis ist in weittragen- den Untersuchungen neuerer Zeit erbracht worden.1) Wo immer wir bei späteren Autoren dem Gedanken, den Formenwechsel der belebten Natur, insbesondere der Menschen- und Tierrassen2) vom Klima her- zuleiten, begegnen, wie bei Cicero (de fato 5), Vitruvius, Strabo. Galenos3), Kleomedes, Ptolemaios, wandeln wir in seinen Spuren. Die Begründung der mathematischen Geographie durch Eratosthenes

1) Fr. Boll, Studien über Claudius Ptolemaeus, Jahrb. f. Philol. Suppl. XXI (1894) 200 ff. E. Oder, Quellensucher im Altertum, Philol. Suppl. VII (1899) 307 ff.

2) Auch auf diese ging Poseidonios ein: in der Schrift itsgi oixsavov waren die iTtrccov xccl ßowv ccgsral xal äV.cov gmcov aus dem Klima der xönoi ihrer Ursprungsländer abgeleitet worden: Strab. II 103. Damit vergleiche man, um wieder die Zusammenhänge einerseits, die Erweiterung anderseits zu erkennen, was oben S. 53 über die skythische Hindernisse aus dem Hippokrateer und Herodot mitgeteilt wurde.

3) Bei diesen beiden Strab. II 96. 102—104, Galen, de plac. Hippocr. et Plat. V 5 (vol. V 464 K. = 472 J. Müller) wird Poseidonios" Name ausdrücklich genannt. Einzelne Sätze der Stelle des Galenos werden weiter unten aus- geschrieben werden. Das Strabonische Exzerpt betrifft die Schrift -xegi axeavov. Darin ist von besonderem Interesse die aus dem geophysischen Teile dieser Schrift, speziell der Zonenlehre, stammende Bemerkung II 96: „Deshalb (näml. wegen der Trockenheit des Klimas in den Tropenzonen) entstehen kraushaarige und krausgehörnte, dicklefzige und plattnasige Geschöpfe, indem ihre äußeren Teile sich zusammendrehen" (öiüttsq ovX6xqi%as xccl ovXoxtQa? xccl rrpozEtAor..- xccl TtlarvQQivag yevvü6&ca' yocQ clxqcc ccvzcav 6V6TQScps6\)'cci). Hier können wir nämlich die Fäden, die Poseidonios mit seinen Vorgängern verknüpfen, greifen: das Argument der Kraushaarigkeit und Plattnäsigkeit fanden wir oben (S. 62,2) für Nearchos und die Aristotelischen Probleme bezeugt, und zwar stand es bei jenem in demselben Zusammenhang wie bei Poseidonios, näml. in der Diskussion über Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten der Inder von den Äthiopen (Strab. 102).

Xorden: Die germanische Urgeschichte .">

ßg Kap. II. Quellenkritischeß zur Ethnographie enropiiißcher Völker

ermöglichte es ihm, den klimatologischen Grundgedanken der Hippo- kratischen Schrift zu dem Satze zu erweitern, daß unter gleichem Breitengrade Fauna und Flora gleichartig seien, also die Polhöhe den Wechsel der belebten Natur bedinge. Vor der einseitigen Auffassung des Hippokrateers, daß die physische und psychische Eigenart der Völker ausschließlich aus klimatischen Voraussetzungen zu erklären sei, bewahrte ihn die Weite seines Interessenkreises, die Tiefe seines durch peripate tische Studien erworbenen Wissens, der kosmopolitische Geist der Stoa. So erkannte er neben der durch die Umwelt ge- botenen Naturnotwendigkeit die Freiheit der Volksindividualitäten als treibende Kräfte geschichtlichen Werdens, versenkte sich mit liebe- voller Hingabe in die Wesensart der Völker und breitete, Naturforscher, Philosoph und Historiker in einer Person, in seinen 'IötoqCui die erstaunliche Fülle seiner ethnographischen und kulturhistorischen Forschung aus. Über die Völker des Westens und Nordens ließ sich vor ihm nur hypothetisch oder in Näherungswerten reden; jetzt waren Iberer und Kelten in volle geschichtliche Beleuchtung getreten, ger- manische- Stämme zum ersten Male am geographischen Horizonte aufgetaucht. Sofort ging er daran, die wissenschaftliche Hypothese an dem neu gewonnenen Beobachtungsstoffe zu prüfen. Germanische Stämme haben, wie wir weiterhin sehen werden, seine Aufmerksam- keit in besonders hohem Maße erweckt, und ihre Eigenart hat er aus der Unwirtlichkeit ihres Landes, der Rauheit ihres Klimas abgeleitet. Hier haben wir die Synthese, die wir suchten. Einen anderen Schrift- steller, der beide vorhin aufgestellten Forderungen, Benutzung der Hippokratischen Schrift und Behandlung von Germanischem, erfüllte, hat es innerhalb der uns erhaltenen oder kenntlichen Literatur dies darf mit Zuversicht behauptet werden nicht gegeben. Wenn wir mithin nicht eine gänzlich unbekannte Größe, noch dazu von so be- sonderer Art, in die Rechnung einsetzen wollen, so ergibt sich als not- wendige Folgerung: jene bemerkenswerte Übereinstimmung zwischen dem Hippokrateer und Tacitus ist irgendwie durch Poseidonios ver- mittelt wodren.

Diese Feststellung muß zunächst genügen; die Art der Vermitt- lung zu ergründen, dazu wird es noch eines langen Weges durch die Geschichte der Überlieferung bedürfen. Wohl aber werfen wir schon hier die Frage auf, ob die in jenem Ausdruck niedergelegte Ansicht,

Poseidonios über die Ethnographie der Kimbern ß7

die Germanen seien ein unvermischtes Volk von ausgeprägter Eigenart, der Auffassung des Poseidonios nach dem, was wir sonst von ihr wissen, entsprochen habe.

Plutarch hat in seiner Lebensbeschreibung des Marius c. 11 Mit- teilungen über die Ethnographie der Kimbern aufbewahrt, wohl genau an der Stelle, wo er sie in den 'Iöxoglai des Poseidonios las, der die ethnographischen Verhältnisse dieses Volkes als Einleitung zu seiner Erzählung des Kimbernkrieges eingehend besprochen hatte.1) Den Namen des Poseidonios nennt Plutarch freilich nicht, er begnügt sich vielmehr mit einem allgemeinen aXXoi 8i yccGi. Aber das Referat der Ansicht, das er diesen Worten folgen läßt, findet, wie längst festgestellt worden ist, sein teilweise wörtliches Gegenstück in einer nur viel kürzeren Bemerkung Strabos II 102 (ergänzt VII 292. 293), und da ist Poseidonios als Gewährsmann ausdrücklich bezeichnet (ohne Namensnennung außer Plutarch auch Diodor V 32, 4). Für Einzelheiten, die uns hier nichts angehen, kann auf Müllenhoff ver- wiesen werden, der das Kapitel Plutarchs einer eindringenden, wenn auch nicht in allen Punkten zutreffenden Analyse unterzogen hat (D. A. II 167 ff.). Uns interessieren hier nur diejenigen Angaben, die Plutarch nach Poseidonios von der Eigenart dieses Volkes macht. „Infolge ihres Mangels an Verkehr mit anderen und der Ausdehnung des Landes, das sie überzogen, wußte man nicht, was für Menschen das seien, und von wo sie aufgebrochen seien, die wie eine Wolke auf Gallien und Italien fielen" (avxoi [ihv yäg api^ia vfi xqos sxeQovg lirjxsL rs %G)Q<xs §v sitrjkd'ov ijyvoovvxo rivsg ovxsg äv&QGJxav y icö&ev bQiirjd-evreg coöxeq viyog*) e^Ttiöotev Talaxia. xal 'IxuXia). Vielleicht

1) Das wird seit Müllenhoff (II 153) allgemein angenommen, mit Recht, da es seit Herodot üblich war, die Ethnographie eines Volkes an der Stelle zu geben, wo es zum ersten Male nachdrücklich in die Geschichte eintrat. Daß die Kiti- ßQtxcc im 30. Buche der 'Iötoqiui standen, wie Müllenhoff u. a. annahmen, ist zwar nicht streng beweisbar, aber wahrscheinlich; wir kommen auf diese Frage, die für uns von nebensächlicher Bedeutung ist, am Schlüsse dieses Abschnitts zurück. Schwierig ist die Bestimmung des Verhältnisses der 'Iötoqiui zu dem Werke nsgl dy.scc.vov, in dem Poseidonios ebenfalls auf die Kimbern einging (Strabo II 102. VII 293); wir werden auch darauf zurückkommen müssen; vgl. Müllenhoff JI 163 f.

2) Die Schilderung des Kimbemkrieges bei Plutarch ist durch eine Fülle anschaulicher Bilder belebt: die Kraft der Barbaren wird mit der des Feuers,

5*

f>8 Kap. II. Quellenkritisches zur Ethnographie europäischer Völker

seien es dies stellte der vorsichtige Historiker aber ausdrücklich als Vermutung hin') die Homerischen Kimmerier gewesen, worauf der nur wenig entstellte Name führen könne.2) Abgelehnt wird die Ansieht, daß es „Keltoskythen" gewesen seien, und daß „von dorther eine Mischung erfolgte" (vMxel&av xa yivi] f.i£(ilyd-(ci): es läßt sich wahrscheinlich machen, daß diese von Poseidonios mit Recht be- kämpfte Auffassung die des Artemidoros von Ephesos war, der sich als erster sein Periplus war vermutlich um die Jahre 102/1 ver-_ faßt3) über das neue, ganz vor kurzem in Sehweite gelangte

ihr Ansturm mit einer gewaltigen Flutwelle, sie seihst werden mit Giganten verglichen u. dgl. m. Vgl. die dankenswerte Sammlung von G. Kudbcrg, Forsch, zu Poseidonios (Upsala 1918) 164 ff. Das vorliegende u>6-ztQ viyog ist eine Reminiszenz an eine berühmte Stelle der Demosthenischen Kranzrede 188 xovxo aJjjyqpKT/ic: rbv tors ry TtoXsi ueqiotccvtcc xlvdwov ■xcCQzXfistv ixoirtasv StßTtBQ virpog. In einem späteren Kap. des Putarchischen Marius (45) heißt es in einem mit Poseidonios" Namen signierten längeren Exzerpt: riXog dh ä>g i\/.i xig anayyiXav: offenbar Anklang an das berühmte (i-ajtiQcc (ihr yäp i)v), ^xe 6' ayytXXav rig (de cor. 169). Der Demosthenesreminiszenz wöttbq viyog unmittel- bar voran gehen die Worte rlvsg ovxeg üv&Qwitav /} tto&sv ÖQfiri&bvzBg: darin wird jeder die Paraphrase des Homerischen rig xo&cv flg &v5qö>v erkennen; wie hübsch ist das, da er gleich darauf von den Homerischen Kimmeriern redet. Poseidonios war ein großer Künstler des Stils, in dem der volle Glanz helle- nischer Kultur sich spiegelte. An speziösen Vergleichen hatte er seine beson- dere Freude: sie können, wo sie innerhalb einer Erzählung der von ihm be- handelten Zeitereignisse begegnen, geradezu als Kriterium seiner Benutzung mit- verwertet werden. So heißt es in der Erzählung des bellum Oetavianum vom Jahre 87 bei Appianns b. c. I 64, 29 'Oxxäoviog . . . oia %£i\iäQQOvg ig xr\v ayogav i[ntt6u)v v.xX.\ der Bericht geht durch eine Mittelquelle auf Poseidonioa zurück (G. Busolt, Jhb. f. Philol. CXLI 1890, 429); ein analoger Schluß wird weiter unten (Abschn. VIII dieses Kap.) die Zurückführung eines Stücks der Appianischen Iberika auf Poseidonios bestätigen. Der Plutarchische Vergleich der Kimbern mit Giganten (Mar. 23) steht auch bei Diodor XXXVII 1 (Prooemium zum mar- sischen Krieg): ein Beweis mehr, daß beide dem Poseidonios folgen.

1) Die Kongruenz von Strabo I 41 sixdfcet ys Srt (sc. IIoßEtdmriog) II 102 tlnä^n Si (sc. Uocziömviog) VII 293 IIoGtiöcoriog ov -/.axöbg elitärst mit Plutarch a. a. 0. aXXa xccvxcc [ihv eixae^äi (läXXov ?} xaxcz ßsßator Ißroglav ?Jyex<zi zeigt, daß Poseidonios selbst es war, der das Hypothetische seiner Ansicht betont hatte. Dieser ersichtlich oft von ihm gebrauchte Ausdruck muß für die echte Wissenschaft- lichkeit seines Forschens sehr einnehmen. Es ist thukydideische Art (I 9, 5 u. ö.).

2) Aus gleicher Quelle Diodor V 32, 4, eingeführt mit tpael rivsg.

3) Es ist freilich nicht sicher, aber doch wahrscheinlich, daß die Angabe des Markianos (Geogr. gr. min. I 566), Artemidoros habe um die 169. Olympiade

Poseidonios über die Ethnographie der Kimbern 69

Volk äußern mußte.1) Entsprechend dieser Ansicht des Poseidonios von der „Unvertnisehtheit"2) der Kimbern und ihrer Bundesgenossen (ol KCfißgoi y.ul ol öwagcxusvoi tovroig: Strabo VII 294, mit Posei- donios' Namen signiert) heißt es weiterhin bei Plutarch (c. 15): die Teutonen und Ambronen seien „an Stimme und Getöse keinen anderen ähnlich" (017 stsooig o.uotot). Vergleichen wir hiermit die Worte, mit denen Tacitus seine Darlegung vom Autochthonentum der Ger- manen beginnt (c. 2): ipsos Germanos indigenas crediderim minime- que aliarum gentium adventibus et Itospitiis mixtos, und mit denen er sie zusammenlassend schließt (c. 4): ipse eorum opinioni accedo qiii Germaniae populos nullis aliarum nationum conubiis infectos pro- priam et sinceram et tantum sui similem g entern extitisse arbürantur, so werden wir sagen dürfen, daß die von Tacitus für die Germanen insgesamt vertretene opinio eben die des Poseidonios für die Kimbern und deren Bundesgenossen o-ewesen ist. Tacitus hatte sie sich nur aus der Literatur gebildet, Poseidonios aus dem Leben selbst: seinen Ki}ißQLxec lagen Erkundungen zugrunde, die er teils in Rom3), teils und vor allem in Massalia eingezogen hatte, wo er einen gebildeten

gelebt, ans Artemidoros selbst, den Markianos epitomierte, stammt, und daß dies Datum die Abfassungszeit des Werkes bezeichnete: K. J. Neumann, Jhb. f. Philo!. CXXVII (1883) 532.

1) Vgl. Anhang III.

2) Mit dem Plutarchischen Ausdruck von den Kimbern &iii£la ry ngbg izegovg vergleiche man den Diodorischen (XXXI V/V, 1) von den Juden uxoLvcovrjtovg clvai xr\g 7tobg cdlo l&vog ivtiuigiag zum J. 134, also in der posidonischen Erzählung- serie.

3) Sein um mehr als 20 Jahre älterer Freund und Studiengenosse P. Rutilius Rufus war im Jahre 105 mit Cn. Mallius Maximus Konsul gewesen, der in diesem Jahre die schwere Niederlage durch die Kimbern in Gallien erlitt. Unter- dessen traf Rufus in Rom Vorsorge für den Fall einer italischen Invasion der Barbaren (Cic. pr. Plane. 52. Val. Max. II 3, 2. Frontinus str. IV 1, 12. Gran. Lic. p. 14 Fl.). Das muß Rufus in seiner griechisch geschriebenen Zeitgeschichte und in seiner mit dieser teilweise kongruierenden lateini- schen Autobiographie berichtet haben; beide Werke verfaßte er in seiner Verbannung (seit 92), die Benutzung des griechischen durch Poseidonios ist durch ein Zeugnis des Athenaeus gesichert (IV 168 D. XII 543 A). An persön- lichen Erkundigungen bei dem Freunde, von dem er in einem Briefe ein Dictum anführte (Cic. de off. III 10), wird es Poseidonios nicht haben fehlen lassen. Durch diese Erwägungen kommen wir für das Quellenmäßige der Kiußgixd über Poseidonios, auf dem unsere gesamte Kunde beruht, tastend einmal hinauf.

70 Kap. II. Quellenkritiaches zur Ethnographie europäischer Völker

Gastfreund besaß1), mit dem er auch das nur einen Tagesmarsch nörd- lieh von der Stadt gelegene Schlachtfeld bei Aquae Sextiae besuchte.2) Unvermischtheit und Eigenart, Begriffe von Wechselwirkung, nennen beide Schriftsteller, Plutarch die erstere in der allgemeinen Ethno- graphie, die letztere im Verlaufe der Erzählung nur für eine Beson- derheit (yd-öyyog y.al ftÖQvßog) und in negativer Fassung: ov% iri- QOLg 3/iotot; diese findet sich, wie oben (S. 55) bemerkt, auch in der Hippokratischen Schrift, aber mit der bei Tacitus vorliegenden posi- tiven vereinigt: „sie gleichen sich selbst und keiner anderen'", avxol avxoioiv ioCxaöt xcä ovda^ioig aXXoig-

Den mit den Fragen, germanischer Ethnologie vertrauten Leser muß die Kongruenz der taciteischen Auffassung von den Germanen mit der posidonischen von den Kimbern besonders überraschen. Hat denn Poseidonios die Zugehörigkeit der Kimbern und ihrer Bundesgenossen zu den Germanen bereits erkannt? Das ist eine Streitfrage, die, schon vor Müllenhoff gelegentlich aufgeworfen3), seit seiner Stellungnahme (D. A. II 153 ff.) zu den oftbehandelten der germanischen Altertumskunde gehört. Ihre Entscheidung ist wich- tiger als die Erörterung über die Geschichte jenes Dictums, das wir denn auch vorläufig aus den Augen verlieren werden, um erst am Schluß dieses Abschnitts die Fäden wieder zusammenzuziehen. Die Tragweite der Frage reicht über die nur überlieferungsgeschichtlich wichtige nach der Beteiligung des Poseidonios weit hinaus, da mit ihr die ethnologische verknüpft ist, wann der Germanenname zuerst in der Literatur begegnet. Die Sachlage ist verwickelter, als es nach den oft sehr bestimmt auftretenden Behauptungen der neuesten Lite- ratur scheinen könnte; ihre Entwirrung muß mit besonderer Behut- samkeit versucht werden.

Müllenhoff bestritt, daß Poseidonios den Germanennamen bereits gekannt habe, und wollte die Epoche seines Aufkommens erst bald

1) Strabo III 165 sv dh rfj Aiyvsrixy cprfilv 6 IIoGsidtnvios dirjijaac&cci xbv £svov iavzät XccquoIscov MaC6alimtr\v avSqa, Sri xrX.

2) Wir lesen seinen eindrucksvollen Bericht bei Plutarch Mar. 18 21: vgl. Müllenhoff II 136.

3) Von K. Roth. Über das Alter d. Germanennamens in d. Litteratur (Pfeiffers Germania I 185*5) 157 und K. Müller in seinen F. H. G. III (1849) zu Fr. 32 des Poseidonios.

Poseidonios über Kimbern und Germanen 71

nach dem Erscheinen seines Geschichtswerkes, etwa um das Jahr 80 oder 75, setzen. 0. Hirschfeld, der die Müllenhoffsche Untersuchung wieder aufnahm1), wollte noch weiter hinabgehen: sichere Belege für den Gebrauch des Namens vor Caesar seien nicht beizubringen. Ich möchte versuchen, meine abweichende Ansicht zu begründen. Unsere Überlieferung ist so dürftig, daß es mir bedenklich erscheint, ein wichtiges Zeugnis aus ihr zu beseitigen.3) Denn das einzige unmittel- bare Zitat, das wir aus der germanischen Ethnographie des Posei- donios besitzen5), bei Athenaeus IV 153 E lautet so:

„Wie Poseidonios im 30. Buche erzählt, nehmen die Germanen mittags Fleischstücke zu sich, die gliedweise gebraten sind; dazu trinken sie Milch und Wein in ungemischtem Zustande", reQ^iavoi de, d)g löroQSl IloasidavLog sv xfj XQtaxoGxf}, olqkSxov %qo6- cpeQovzcci xqscc (islrjöüv anxrnibva. xal E7CitcCvov6i ydXccA) xal xbv olt'ov äxQctzov.

1) „Der Name Germani bei Tacitas u. sein Aufkommen bei d. Römern" (Festschr. f. H. Kiepert 1898) = Kl. Scbr. 362.

2) Von Gelehrten, die an der Überlieferung festhalten, nenne ich: A. Holder, Altcelt. Sprachschatz I 2011. H. Wilkens, Quaest. de Strabonis . . . fontibus (Diss. Marburg 1886) 19. 26. G. F. Unger, Philol. N. F. IX (1896) 112f. Th. Birt, Di© Germanen (Münch. 1917) 23, alle unabhängig voneinander und ohne näher auf die Frage einzugehen. Letzthin bezeichnet A.Bauer, Die Herkunft d. Bastarnen(Sitzungs- ber. d.philos.-hist. Kl. d. Wiener Ak., 185. Bd., 2. Abt., 1918) 6, die Ansicht Müllen- hoffs als wahrscheinlich, aber nicht so sicher, wie ihre Vertreter es glaubten,

3) Gelegentlich findet man behauptet, daß aus Poseidonios stamme die Be- schreibung Strabos IV 291 koivov ö' iexlv dnaGi xolg xavxi] xb tieqI xag (ibt- avaGraGEig Ev^aghg öicc xfjv Xix6zr}xa xov ßlov Kai dia xb (ii] yswQyüv (irjdh &r\6av- q'i&iv, dXX' tv KaXvßioig oikeiv itprjiiSQOv ^%ov6i, ■xaqa6KEvr\v xgcxpi} d" ditb xäv dQEuiiccxav i} nXslaxrj. Diese Behauptung ist grundfalsch, da Strabo ausdrück- lich sagt, die Beschreibung gelte von den suebischen Stämmen bis über die Elbe hinaus: diese lagen natürlich noch völlig außerhalb des Gesichtskreises des Poseidonios; es sind ostgermanische Stämme gemeint, den Skythen be- nachbart, auf die gleich nach den ausgeschriebenen Worten deutlich hingewiesen wird, wie kurz vorher: o^oga (Z&vij) xoTg rexccig.

4) Anlehnung an alte ethnographische Ausdrucks weise ist unverkennbar: vopddsg KQEotpäyoi xs Kai yaXaxxoTtotat, Hekataios fr. 305, fast wörtlich so Skylax 112; Hippokrates de aere etc. c. 18 (p. 61, 2) von den Skythen nach den 0. S. 54 zitierten Worten: ia&iovßi KQia scp&cc Kai nivovei ydla imtav; Herod. HI 23 von den Äthiopen: c/tjjciv slvat KQEa scpdä Kai %ö\ia yäXa. Sallust lug. 89, 7 Numidae plerumquc lade et ferina carne vescebantur; Ammianus XXXI 2, 18 Alani carne et copia victitant lactis.

72 Kap. II. Quellenkritisches zur Ethnographie europäischer Völker

Hier soll jTfo/taiW von Athenaeus als eine Interpretation an die Stelle der von Poseidonios genannten Kifißoot eingesetzt worden sein.1) Nun ist denjenigen, die das große Sammelwerk des Atlienaeus nicht bloß von Fall zu Fall aufschlagen, sondern es als eins der stoff- lich reichhaltigsten Bücher des Altertums in seiner Gesamtheit wirk- lich lesen, wohlbekannt, daß Athenaeus, der nicht bloß den Fleiß eines Sammlers, sondern auch den Ehrgeiz eines Schriftstellers zur Schau trägt, Prosazitate nicht immer wörtlich wiedergegeben, vielmehr sich «•elesrentlich außer an solchen Stellen, wo er durch Zusätze wie y.axä Xs^iv ygacpsi u. ä. die Wörtlichkeit des Zitats verbürgt sein schriftstellerisches Recht zu allerlei Freiheiten der Wiedergabe in höherem Grade genommen hat, als es uns, denen es nur auf* den Wortlaut seiner Quellen ankommt, erwünscht sein kann. Gerade auch manche seiner Zitate aus Poseidonios hat er, wie Parallelzitate Diodors und Strabos zeigen, in freier Weise wiedergegeben.2) Kann doch auch an vorliegender Stelle rsQfiavoC so nicht im Texte des Poseidonios gestanden haben, sondern bei ihm, der die Worte in- mitten einer bestimmten Ethnographie schrieb, blieb das Subjekt des Volkes natürlich unbezeichnet; Athenaeus mußte es einsetzen, um

1) Schon vor dem Erscheinen des II. Bandes der D. A. (ISS7) -war das Frag- ment von B. Sepp, Die Wanderung d. Cimbern u. Teutonen (Diss. Würzburg 1882) 36 ff., und Fr. Schühlein, Studien zu Posidonius (Progr. Freising 1886) 38 ff., be- handelt worden; diese beiden haben unabhängig voneinander die größten Willkürlichkeiten begangen, indem sie die bei Athenaeus überlieferte Buchzahl und den Wortlaut änderten. R. Scheppig, De Posidonio etc. (Diss. Halle 1869) 54, will unter den reguccvoL des Athenaeus gar die oretanischen Germanen des Plinius (n. h. III 25) verstehen.

2) Müllenhoff selbst hat bei anderer Gelegenheit (D. A. II 307 f.) darauf hin- gewiesen. Vgl. auch E. Wendung in seiner für den Historiker Poseidonios be- sonders ertragreichen Abhandlung Herrn. XXVIII (1893) 336 ff. Ich bemerke noch folgendes. Ein und dasselbe Zitat aus Pos. bietet Athenaeus an zwei Stellen (V 210 C. XII 540 B) in etwas abweichender Fassung. Vor allem charak- teristisch ist das weitaus längste wörtliche Stück, das wir aus Pos. besitzen, die köstliche Erzählung von dem Putsch des Athenion im Jahre 88, Athen. V211 E 215 B (fast acht Seiten Teubnerschen Textes). Hier hat sich Athenaeus an einer Stelle (21 3 F) geradezu einen längeren Einschub erlaubt (näml. von den Worten v.a.1 rmv TIv^ayoQiy.&v avccäsi-^as dö'/fia bis sv&tcog xcä ovros: die darin enthaltenen Zitate aus Theopompos und Hermippos gehören dem Athenaeus; Kaibel hat das nur z. T. richtig erkannt) und auch sonst allerlei Unstimmig- keiten hineingebracht.

Poseidonios über Kimbern und Germanen 73

das Zitat in den von ihm beabsichtigten Zusammenhang einzupassen: es ceht ein anderes Zitat über Essensgebräuche der Inder (aus Mega- sthenes) voran, zu denen nun die Germanen in Gegensatz treten. Allein trotz dieser Erwägung ist es peinlich anzunehmen, daß Athenaeus, -wenn die Posidonische Ethnographie die Kimbern betraf, dafür den Namen der Germanen aus eigner Machtvollkommenheit eingesetzt haben sollte: denn dies wäre keine stilistische, sondern eine sachliche Änderung: gewesen. Diese Annahme ist aber von Müllenhoff und seinen Anhängern auch nur deshalb aufgestellt worden, weil ihnen alles daran liegen mußte, die Erwähnung des Germanennamens, die ihre Hypothese von dem späteren Aufkommen eben dieses Namens umgestürzt hätte, aus dem Poseidonioszitat zu beseitigen. Leider läßt es sich, wenn die Sache endlich einmal entschieden werden soll, nicht umgehen, Müllenhoff in seine, wie man sehen wird, sehr eigenartigen Gedankengänge zu folgen. Das ist für den Leser eine starke Geduld- probe, aber hoffentlich lohnt positiver Gewinn die Mühe.

Müllenhoff machte sich selbst folgenden Einwand. Im Wider- spruch mit der Angabe jenes Zitats, wonach die „Kimbern'', die er an die Stelle der „Germanen" setzte, „Fleischstücke gliedweise ge- braten" gegessen hätten, stehe die auf Livius und durch dessen Ver- mittlung eben auf Poseidonios zurückgehende Nachricht, die Kimbern hätten bis zu ihrem Einbruch in Italien nur rohes Fleisch gegessen. Er suchte diesen Selbsteinwand durch die Bemerkung zu entkräften, dies sei augenscheinlich eine Übertreibung und der Widerspruch wohl erst durch die Darstellung des Livius herbeigeführt. Allein hier ist der Sachverhalt von ihm verschoben worden. Wir besitzen den auf Livius zurückgehenden Bericht des Poseidonios in zwei Brechungen.1) Bei Florus I 37 (III 3, 13) heißt es von den Kimbern: in Venetien, das fast das weichste Klima von ganz Italien besitze, sei ihre kernige Kraft schlaff geworden; „dazu kam die Bekannt- schaft mit Brot, gekochtem Fleisch und süßem Wein; als sie durch diese Genußmittel verweichlicht waren, griff Marius sie zu rechter Zeit an". Also caro cocta ist die Speise, die sie erst in Italien kennen lernten: Poseidonios kannte seinen Homer und dessen Exegeten gut genug, um zu wissen, daß dem heroischen Zeitalter diese Zu-

1) Von den paar Worten des Orosius V 16, 14 abgesehen.

74 Kap. II. Quellenkritisches zur Ethnograpbie europäischer Völker

bereitungsart des Fleisches fremd oder doch ungewohnt war (Schol. 3> 362), und daß dies dem primitiven Kulturzustande überhaupt ent- sprach. Daß die Kimbern das Fleisch zuvor „roh" verzehrt hätten, sagt Livius-Florus also keineswegs. Erst Dio; der zweite Zeuge, der uns durch Vermittlung des Livius die Erzählung des Poseidonios aufbewahrt hat (fr. 94, 2, T 330 Boiss.), trägt das in die Vorlage hinein, indem er von gekochtem Fleisch gar nicht redet, sondern nur negativ sagt, sie hätten vorher das Fleisch roh gegessen (v.yta xqöxsqov m/a« 6lxovhevoi). Wir sind seit Müllenhoff über die Arbeitsweise Dios genau genug unterrichtet worden, um dergleichen richtiger beurteilen zu können: dieser Schriftsteller nimmt seinen Vorlagen gegenüber eine recht freie Stellung ein, er bearbeitet sie, indem er sich ihre Angaben denkend zurechtlegt, oft ganz verständig, noch öfters aber mit Willkür. So auch hier: er hat den Livianischen Bericht, den Florus genau wiedergab, erheblich umgestaltet, wie sich jeder durch Vergleich der beiden Brechungen leicht überzeugen kann. Die Fein- heit, die in der Erwähnung „gekochten" Fleisches lag, hat er nicht mehr verstanden und nur in „rohem" die Gegensätzlichkeit zu erblicken vermocht.1)

Wir müssen daher Müllenhoff gegen sich selbst verteidigen: ein Widerspruch dessen, was Poseidonios von den Germanen berichtete, zu dem, was er von den Kimbern erzählte, liegt gar nicht vor. Es steht der Annahme nichts im Wege, er habe es sich so gedacht, daß auch die Kimbern vor ihrer Bekanntschaft mit den Kulturerrungen- schaften des Südens das Fleisch gliedweise, d. h. oberflächlich ge- braten genossen hätten. Denn natürlich hat er, der interessierte Homeriker, auch dies gewußt, daß zwar die Heroen, wie der antike Kulturmensch überhaupt, das Fleisch nur gut durchgebraten ver- zehrten, daß dagegen ein bloßes Anbraten Barbarensitte sei.2) Damit das Fleisch durchbriet, mußte es ordentlich zerstückelt sein: fiCötvllöv

1) Daß die Germauen rolies Fleisch im eigentlichen Wortsinne gegessen hätten, steht nur hei Mela III 3, 2 victu ita asperi incultique ut cruda etiam carne vescantur, aut recenli aut cum rigentem in ipsis pecudum ferarumque coriis manibus pedibusque subigendo renovarunt. Die Quelle ist unbekannt; es liegt eine unstatthafte Verallgemeinerung von einzelnen zurückgebliebenen Stämmen auf die Gesamtheit vor.

2) Dieser ursprüngliche Zustand spiegelt sich noch in dem Worte xqbocs, das mit cruor desselben Stammes ist; crudus bedeutete ursprünglich „blutig".

Poaeidonios über Kimborn und Germanen 75

x ccqcc xaXXa. neu a^tgp' ößeXolöiv sitstgav, &nxt]6<xv xe xsQMpQccdeojg A 465 f. Das war bei „glied weisem" Braten, wie es in dem Germanen- fragment heißt, unmöglich: bei Homer ißt nur Polyphemos fieleWri (i 291). Da wir später sehen werden, daß Poseidonios diese Odyssee- stelle für die Essensgebräuche der Kelten verwertet hat, darf wohl vermutet werden, daß er mit dem sonst nicht belegten {islydöv1) an das Homerische Wort hat erinnern wollen: der KvxlaTcnog ßlog galt den Kulturhistorikern seit alters als Urbild des primitiven (s. o. S. 25). Dagegen liegt ein tatsächlicher Widerspruch zwischen dem Posido- nischen Germanenfragment und der Posidonischen Kimbernerzählung in anderem vor, ein Widerspruch, den Müllenhoff übersah, und der doch seine Hypothese, es handle sich in beidem um die Schilderung eines und. desselben Volkes, zu Fall bringt. In jenem Fragment wird der Genuß ungemischten Weines eine Gepflogenheit der Germanen genannt, nicht etwa der Kimbern, die Müllenhoff dafür an die Stelle setzen wollte. Für diese würde die Angabe vielmehr durchaus un- passend sein. Wir werden bald mit den eignen Worten des Posei- donios die schauerliche Schilderung ihrer Wohnsitze lesen, die jeden Gedanken an Rebenkultur ausschließen; und auch der Ausweg, sie hätten den Wein als Importware bezogen, wäre ungangbar, denn Poseidonios sagt in jener Schilderung, sie seien ein völlig unbekanntes, mit keinem anderen im Verkehr stehendes Wandervolk gewesen. Vollends tritt der Gleichsetzung hemmend in den Weg eine durch Vermittlung des Livius auf Poseidonios zurückgehende Nachricht des Dio (a. a. 0.): die Kimbern hätten den Wein erst in Venetien kennen gelernt und sein ungewohnter yuagä xb s&og) Genuß hätte ihre Nieder- lage mit herbeigeführt. Dio ist darin freilich wieder etwas ungenauer als Florus, der nicht von dem Weine im allgemeinen, sondern nur von dem „süßen" Weine spricht denn natürlich haben sie während ihres jahrelangen Aufenthaltes in Gallien den Genuß des dorthin aus Italien importierten und des massaliotischen Weines nicht verschmäht2) , allein das hat Dio aus seiner Vorlage doch richtig herausgelesen, daß der Wein dem Wandervolke des Nordens ein ungewohntes

1) Daß in allem Ernste jemand vorgeschlagen hat, fiiXiri für iieli]d6v zu schreiben, sei nur als Kuriosum vermerkt.

2) Vgl. Poseidonios bei Plutarch Mar. 19 von den Ambroneu in der Schlacht bei Aquae Se.xtiae: dt,ccx£%vidvoi itgo^ tqv &xqcctov.

76' Kap. IL Quellenkritisches zur Ethnographie europäischer Völker

Genußmittel gewesen sei. Dagegen erscheint sein Genuß in dem Germanenfragment, das eine Sittenschilderung enthält, als eine Ge- pflogenheit, wie denn überhaupt der Grundfehler der Müllenhoffsehen Beweisführung darin liegt, daß er seiner Hypothese zuliebe eine zu- ständliche Charakteristik mit der Erzählung einer einmaligen Be- gebenheit vermengt hat. Alles ist in bester Ordnung, wenn wir den Namen rsopavoC in dem Fragment als bezeugt in obigem Sinne o-elten lassen: proximi ripae et Vitium mercantur sagt Tacitus c. 23 von den rheinischen Germanen. Und hiermit kommen wir auch zu dem Gesichtspunkte, der womöglich noch entscheidender als die vor- getragenen Einzelheiten ist: die FsQ^avol des Foseidonios sind nur als Grenznachbarn der Kelten, als solche aber auch vollkommen ver- ständlich.

Die Kimmerier-Kimbrer galten dem Poseidonios, wie bemerkt, als ein absonderliches Volk von solcher Fremdartigkeit, daß die Ethno- graphen bei seinem Auftreten in Verlegenheit waren, es unterzubringen. Was aber Poseidonios im 30. Buche seines Geschichts Werkes von den Essensgebräuchen der Germanen berichtete, ist gar nicht so sonderbar, stimmt vielmehr, von kleinen, bezeichnenden Abweichungen abgesehen, zu seiner Mitteilung über die entsprechende Sitte der Kelten. In dem langen Zitate, das Athenaeus (151 E) kurz vor dem Germanen- zitate aus dem 23. Buche der 'IöxoqCcu des Poseidonios bringt, das die keltische Ethnographie enthielt1), heißt es nämlich:

„Ihre Nahrung besteht aus wenig Brot, viel Fleisch, das teils in Wasser gekocht, teils auf Kohlenpfannen oder an kleinen Spießen o-ebraten ist. Sie nehmen dieses zu sich zwar in sauberer Weise, aber doch nach Löwenart: mit beiden Händen heben sie ganze Glied- stücke auf und beißen davon ab", i) rgocpri <$' eötiv ägroc [isv öXCyoi,

1) Unger a. a. 0. (o. S. 71,2) 110, 37 u. 114f. behauptet, daß sie auf zwei Bücher, daa 23. und 33., verteilt gewesen sei. Von der inneren Unwahrschein- lichkeit gar nicht zu reden: die Behauptung, bei Athenaeus IV 154 A biete die maßgebende Überlieferung nicht die Kaibelsche Zahl 23 sondern 33, wie schon bei Dmdorf und Meineke stehe, ist bodenlos; es genügt zur Widerlegung auf das zu verweisen, was Kaibel in der Praetatio seiner Ausgabe p. XI über seine Kollation des Marcianus im Verhältnis zu derjenigen Dindorfs be- merkt hat (Meineke benutzte nur den Apparat Dindorfs). Die von Unger gezogenen Folgerungen für Poseidonios sind seiner Behauptung gleichwertig.

Poseidonios über Kimbern und Germanen 77

y.QSU ös JtoXXä iv vdari1) xal b%xu. eit' av&Qccxav rt oßeXlöxov . TTQOöcpeQovtai de xccvtcc xad-ccQeCag2) /ieV, XeovtcoSäg de3), talg %eg6h> ccfKforsQcag aiQOvrsg oXa neXrj xal anoddxvovxeg.

Auch hier also das gliedweise genossene Fleisch, aber dies ist der Unterschied, der dem höheren Bildungsstande der Kelten entspricht neben dem gebratenen auch schon das gekochte. Der Brotgenuß war bei den Kelten gering, bei den Germanen wird er überhaupt nicht erwähnt: die Kunst des Brotbackens vermittelst eines Gärungsprozesses war dort wenig verbreitet, hier unbekannt4), wie bei den Hellenen des Homerischen Zeitalters und im ältesten Rom. Dagegen wird bei den Kelten die Milch nicht besonders genannt, wohl aber bei den Germanen. Daß sie für Völker einer primitiven Kulturstufe das Haupt- nahrungsmittel sei, haben schon Piaton und Aristoteles aus der Homerischen Schilderung der kyklopischen Milchwirtschaft geschlos- sen; die Milch ist es daher, die auch Caesar und Tacitus unter den germanischen Nahrungsmitteln nennen.5) Neben sie trat dann be; beiden Völkern als Kulturerrungenschaft der Wein, von dessen Genuß

1) Tcc vdatog xqecc ist technischer Ausdruck für gekochtes Fleisch (Athen. III 94 C); dafür heißt es hier iv vSaxi, weil, wie Wilamowitz (Griech. Lesebuch zu II 224, 12) es ausdrückt, „die Suppentöpfe mit aufgetragen wur- den", ebenso die Kohlenpfannen, auf denen gebraten wurde. Kaibels Anderungs- vorschlag ist abzulehnen.

2) Vgl. Diodor V" 33, 5 aus Poseidonios über die Keltiberer: ixineXels övveg xal xud-äQEioi, Strabo III 154 aus demselben über die Lusitaner: povorQoepovvTSs xcc&ccQslcog xal Xir&s. Auch die Germanen waren nach der Schilderung des Tacitus xadägnoi: c. 22 statim e somno lavantur . . . lauti cibum capiunt, nur die Kinder sind sordidi (c. 20). Dagegen sagt er von den Finnen, gerade um sie dadurch von den Germanen zu unterscheiden: sordes otnnium (c. 46).

3) Er stilisiert wieder öiinQixöig : vgl. i 292 von Polyphemos iJ6&is d' mg te Xzaiv, dazu die Scholien. Es ist dieselbe Stelle, der er nach der vorhin ge- äußerten Vermutung den Ausdruck ns7.rtSöv ((ieXüötI t 291) in dem Germanen- fragment nachgebildet hat.

4) Plinius n. h. XVIII 149 primum otnnium frumenti Vitium avena est, et hordeum in eam degenerat sie ut ipsa frumenti sit instar, quippe cum Germania" papuli serant eam neque alia ptdle vivant: also Haferbrei, der auch später noch im Gebrauch blieb: M. Heyne, Fünf Bücher deutsch. Hausaltert. II (Leipz. 1901) 323. Die Kimbern lernten usum panis erst in Italien kennen: s. o. S. 73.

5) Auch der Form nach ist lehrreich zu vergleichen, was Caesar IV 1, 8 von den Suebi sa;>t: neque mvltum frumento, serf maximal» partem lade atqne peeore virunt.

78 Kap. II. Qaellenkritiscbes zur Ethnographie europäischer Völker

bei den Reichen in der Fortsetzung des keltischen Poseidoniosexzerpts bei Athenaeus ausführlich die Rede ist: er werde teils aus Italien, t<;ils aus Massalia eingeführt Jeder, der diese Wort für Wort in Gleichem und in Verschiedenem behutsam abgewogenen Ethnographien, die wir nur für das eine Gebiet der Essensgebräuche vergleichen können, auf sich wirken läßt, wird zu dem Ergebnisse gelangen, daß es sich um zwei nahverwandte, der Zivilisation in größerem oder geringerem Umfange gewonnene Völker handelt. Nie und nimmer also hat das eine nach der Ansicht des Poseidonios gleichartig sein können mit dem aus fernen, unbekannten Gegenden in die europäische Kulturwelt eino-edruncrenen und nach kurzem, barbarischem Entsetzen daraus verdrängten heimatlosen Wandervolke der Kimbern./

Der Versuch, in dem Athenaeuszitate aus Poseidonios den Ger- manennamen durch den der Kimbern zu ersetzen, muß mithin zu- rückgewiesen werden. Hieraus ergibt sich eine wichtige Folgerung.' Da die Posidonische Schilderung der Kimbern bei Plutarch und die der Germanen bei Athenaeus völlig voneinander abweichen, so kann Poseidonios bei der Abfassung seines Geschichtswerkes noch nicht gewußt haben, daß die Kimbern Germanen waren. Für uns ist viel- mehr Caesar der erste, der Kenntnis ihrer Zusammengehörigkeit zeigt. Ihm ist diese Tatsache aber so geläufig, er setzt sie auch bei anderen als so bekannt voraus1), daß sie damals bereits Allgemeingut ethno- logischer Anschauung gewesen sein muß. Die f IözooCca des Posei- donios, die 52 Bücher umfaßten, waren in der Sullanischen Zeit ab- geschlossen2). Zwischen dieser genau genommen dem Zeitpunkte, an dem er mit der Abfassung des 30. Buches, in welchem aller Wahrscheinlichkeit nach die Kt[ißQixcc standen, beschäftigt war und der Caesarischen muß jener Zuwachs der ethnologischen Kenntnis erfolgt sein. Er wurde sicher nicht der Literatur, sondern lebendiger

1) Außer der gleich im Texte zu behandelnden Stelle werden die Kimbern mit den Teutonen zusammen genannt I 33, 4. II 4, 2, 29, 4. VII 77, 12. 14.

2) Diese traditionelle Ansicht ist die richtige. Neuerdings hört man, daß eine unglückselige (nicht publizierte) Hypothese Sieglins, wonach das Werk bis in die Zeit nach dem Konsulate Ciceros, ja nach dem Beginne der Caesarischen Feldzüge in Gallien herabgedrückt werden soll, wieder Liebhaber findet. Dadurch würden ganz feste Forschungsergebnisse ins Wanken ge- bracht werden und auf Grund wovon ? Einer mißdeuteten Stelle eines Ciceronischen Briefes (ad Att. II 1).

Poseidonios und Caesar über Kimbern und Germanen 79

Beobachtung verdankt. Was von den nordischen Barbaren nicht auf den Marianischen Schlachtfeldern geblieben war, war in Kriegs- gefangenschaft geraten.1) So gab es Gelegenheit genug, sie in ihren Lebensgewohnheiten zu beobachten. Der Sklavenkrieg der Jahre 73—71, in dem sich die Banden nach Nationalitäten sonderten Thraker, Kelten und „Germanen", wie unsere der Augusteischen Zeit an- gehörigen Berichte die Kimbern und Teutonen zu benennen längst in der Lage waren2) , mag auch das seinige dazu beigetragen haben, sie in ihrer ethnischen Sonderart genauer kennen zu lernen.3) Aber um diese als „germanisch" zu bestimmen, dazu bedurfte es anderer, ausdrücklich so benannter „Germanen" als Vergleichsobjekt. Nur Gallien, die Heimat des Germanennamens, konnte ein solches bieten4). Dort aber hatten sich um eben jene Zeit Geschehnisse vor- bereitet, auf die Rom mit gespannter Aufmerksamkeit blickte: Ario- vist war um das Jahr 71 mit seinen Scharen über den Rhein ge- gangen und auf dem Wege begriffen, in unmittelbarer Nähe des römischen Hoheitsbereiches eine gallisch -germanische Herrschaft aufzurichten. Das Jahrzehnt 70—60, in dem römische Vermittler mit

1) Vgl. Velleius II 19, 3 servus publicus natione Germanus, qui forte ab iwperatore eo (Marius) bello Cimbrico captus erat.

2) Sallust Hist. III fr. 96 M. Crixo et gentis eiusdem Gallis atque Germanis obuiam ire et ultra offerre pugnam cupientibus, contra Spartaco (impetum dissua- dente). Livius epit. XCVII M. Crassus praetor primum cum parte fugitiiorum quae ex Gallis Germanisque constabat feliciter pugnavit caesis Tu stium trigirta quinque milibus et dueibus eorum Casto et Gannico. Plutarch, Crass. 9 rtXhog fihv (der Konsul L. Gellius des Jahres 72) reguocviKov vßgei xal qpporTjft-ari xäv SnaQTaxslav a7C06%i6dkv i^cciqivrjg iintE6cbv aitav diecp&eiQEv.

3) Die Bedeutung dieses Krieges für das germanische Namenproblem ist Müllenhoff II 161 zwar nicht entgangen, aber da er den Germanennamen bei Poseidonios irrtümlicherweise, wie wir sahen, beseitigt hatte, verschloß er sich den Weg zur richtigen Fragestellung. Auch 0. Hirschfeld (o. S. 71, 1) 362 f. ist in seiner Polemik gegen Müllenhoff nicht glücklich gewesen, da er in der Beur- teilung des Poseidonioszitates mit seinem Gegner übereinstimmt.

4) Daß die Skiren, die lange vor den Kt,[ißQixä die griechischen Ansied- lungen am Pontos heimsuchten, Germanen waren (um die Bastarnen nicht in Betracht zu ziehen), ist dem Altertum nicht zum Bewußtsein gekommen, da Rom die pontischen Griechenstädte ihrem Schicksal überließ. Die beiden auf sie bezüglichen Inschriften findet man jetzt am bequemsten in -der „In- schriftensamml. z. Gesch. d. Ostgermunen" von 0. Fiebiger u. L. Schmidt (Denk- echr. d. Wien. Ak. LX 3, 1917), Nr. 1. 2.

30 Kap. II. Quellenkritischos zur Ethnographie europäischer Völker

dem Suebenfürsten unterhandelten, in dem der Senat ihm den Titel eines Königs und den eines Freundes des römischen Volkes zuer- kannte (59), bot unmittelbare Gelegenheit, die ethnologische Synthese von Suebi und Clmbri im Sinne von Gcrmani, wie die Kelten die rechtsrheinische Völkerfamilie benannten, zu vollziehen.

Die hier begründete Ansicht erhält eine Bestätigung durcb Caesar selbst. Auf die Kunde einer bevorstehenden Auseinandersetzung mit Ariovist im Jahre 58 bemächtigt sich, wie er berichtet (I 39f.J. des römischen Heeres bis hinauf zu den Tribunen, Präfekten und der Leibgarde des Oberfeldherrn eine Panik; denn man hatte aus Befragung der eignen Landsleute1) sowie durch Äußerungen von Galliern und Kaufleuten wahre Wunderdinge über die Körperstärke und Kriegstüchtigkeit der Germanen vernommen. Angesichts der drohenden Meuterei seiner Truppen beruft Caesar einen Kriegsrat. an dem er die Centurionen aller Grade teilnehmen läßt. Unter den Beschwichtigungsgründen, die er vorbringt, findet sich auch dieser (40,5): „Die Probe mit diesem Feinde habe man bestanden zur Ge- denkzeit unserer Väter, da durch die Vertreibung der Kimbern und Teutonen das Heer sich nicht geringeres Lob als Marius, der Ober- feldherr selbst, verdiente; bestanden habe man sie auch unlängst in Italien bei der Erhebung der Sklaven . . .; schließlich seien dies dieselben Germanen, die den Helvetiern bei häufigen Zusammen- stößen erlagen, den Helvetiern, die sich doch unserem Heere nicht ge- wachsen zeigten." Indem er so die Cimbri et Tcutoni und den servilis tumuUus als die germanischen Schrecknisse einer fernen und einer näheren Vergangenheit neben den unmittelbar bevorstehenden Zusammenstoß mit den Suebi stellt, bezeichnet er die drei Epochen, die das Römertum in seiner feindlichen Auseinandersetzung mit dem Germanentum bis dahin zurückgelegt hatte. Im weiteren Verlaufe seiner Eroberungsfeldzüge sollte er neue Erfahrungen sammeln, den Feind im eignen Lande kennen lernen und seinen Blick für die Gegensätzlichkeit des Keltischen und Germanischen schärfen. Dies führt uns wieder zu dem Germanenfragmente des Poseidonios zurück:

1) ex iwcontatione nostrorum. Wieso konnten Angehörige des Caesarischen Heeres auf solche Fragen antworten? Ich denke:- unter den sechs Legionen, die er im Jahre 58 hatte, werden Veteranen gewesen sein, die nuper, wie es gleich darauf heißt, im Sklavenkriege gegen Germanen gefochten hatten.

Kelten und keltisierte Rheingermanen 81

was für rsQiiavol mögen es gewesen sein, die er bei seiner ethno- graphischen Schilderung im Auge gehabt hat?

Der Satz Strabos (III 196) über Germanen und Kelten: „Ihrer Natur und ihren staatlichen Einrichtungen nach sind diese einander ähnlich und verwandt (xai yuQ xf] (pvösi xai roig TtoXirevuaöiv encpsQSis alöi xui avyyevsls dlki]XoLg ovtoi) und bewohnen ein nur durch den Rhein getrenntes Land, das sich in den meisten Dingen gleicht", ebenso derjenige des VII. Buches (290) „Die Germanen unterscheiden sich von dem keltischen Stamme nur um ein weniges durch das Über- maß an Wildheit, Größe und Blondheit, im übrigen sind sie ihm ähnlich an Gestalt, Naturanlage und Lebensgewohnheiten" tragen posidonischen Stempel.1) Denn aus dem großen Vergleich von Kelten und Germanen im VI. Buche der Caesarischen Commentarii stammen sie nicht, stehen vielmehr im Gegensatz zu diesem, in dem die Unterschiede keltischer und germanischer Gebräuche ausdrücklich und aufs schärfste betont werden. Wenn also Strabo an Stelle der neuen, Caesar verdankten Erkenntnis eine nur für einen Teil der Germanen, die Anwohner des Rheinstroms, stimmende Darstellung bringt, wem anders könnte diese gehören als dem Poseidonios, dessen Kunde so viel weniger weit reichte als die des römischen Impera- tors? Nun aber kannte Caesar auch keltisierte rechtsrheinische Germanen. Über germanische Anwohner des Rheinstroms sagt er im IV. Buche (c. 3, 3): „Die Gaugenossenschaft der Ubier war reich und blühend, wenigstens an germanischen Bildungsverhältnissen gemessen: sie sind etwas zivilisierter als die übrigen desselben Ge- schlechts, weil sie den Rhein berühren und die Kaufleute viel zu ihnen kommen und sie sich wegen der Nachbarschaft an gallische

1) In dem zweiten rsg^iavol [uxgbv i^aXXccTtovtsg zov KeXtixov cpvXov rät ts 7iXsov<xC[i<ä tj}s &yQi6tr}zog Kai xov [isyid-ovs xcci rijg ^av&orrizog, xäXXa. dt ■xaganX^cioi. xca (logcpcüg xai ij&sei, xccl ßioig öVre? dürfen wir überzeugt sein, größtenteils die Worte des Poseidonios selbst erbalten zu seben (vgl. IV 176 an einer sicher Posidonischen Stelle: rsXicog ££r}XX<xy(iivovg . . ., (ilxqov tiuqccX' lärroi'Tss von keltischen Stämmen untereinander: Näheres hierüber im sechsten Kap. I la). Unmittelbar darauf bringt dann aber Strabo seine absurde Deutung des Germanennamens {Tsrnavol yvi/Gioi raXatat), die er ansdrückbch auf seine Verantwortung nimmt (ifiol doxovci). Genau so verfährt er VII 322, wo an ein langes, aus hervorragend gelehrter Quelle stammendes Zitat über die Leleger eine absurde Etymologie mit ipol «Joxff angeklebt ist. Norden; Die germanische Urgeschichte tj

82 Kap. II. Quellenkritifcches zur Ethnographie europiii.-.vi.cr Völker

Sitten gewöhnt haben." Ich möchte darauf hinweisen, daß diese Worte eine schöne Bestätigung gefunden haben durch die Aufdeckung von Germanengriibern bei den Salzquellen von Bad Nauheim, also in einer Gegend, die entweder noch dem alten Ubierlande angehörte oder doch diesem benachbart und vor der germanischen Besiedlung keltischer Besitz gewesen war. Die durch Reichtum und Pracht der Keramik ausgezeichneten Fundstücke1) reichen von der Hall- statt bis zur Mittel- und Spät-Latenezeit und beweisen daher die Stärke keltischen Kultureinflusses in jenen Gegenden auch noch für die Zeit des Poseidonios und Caesar. Das wird bestätigt durch Funde von keltischen Silbermünzen bei Nauheim und dem benach- barten Friedberg, die als bequemes Tauschmittel für den Verkehr der über den Rhein kommenden Händler mit den Germanen dienten.2) Auch ihre Verfassung, die wir aus einer Andeutung Caesars kennen, scheint sich mit keltischen Ordnungen zu berühren.3) Auf solche, der keltischen Kultur assimilierte Germanen passen die Worte Strabos, die auf Poseidonios zurückgehen, paßt auch das mit dessen Namen bezeichnete Germanenfragment des Athen aeus. Es sollte überhaupt von vornherein klar sein, daß Poseidonios auf seiner Forschungs- reise in den Westen nur über Rheingermanen einigermaßen ver- läßliche Kunde hat erlangen können. Massalia, sozusagen sein wissen-

1) Vgl. F. Quilling, Die Nauheimer Funde der Hallstatt- und Latene- Periode, Fraukf. a. M. 1903; dazu eine kleine Ergänzung im Röm.-germ. Korrbl. V (1912) 40 f. Nur 4 Gräber gehören der Hallstattzeit an, alle übrigen es ist ein ausgedehntes Gräberfeld der Latenezeit, und zwar reichen die letzteren, wie Münzfunde zeigen, bis in die Zeit um 20 n. Chr. (Quilling S. 99 f.).

2) Über die Münzfunde selbst unterrichtet am besten R. Forrer, Die kelto- germ. Triquetrumgeprage der Marser, Sugambrer, Tenkterer und Ubier, im Jhb. d. Ges. f. lothr. Gesch. u. Akde XXII (1910) 442 ff., wo insbesondere die „Verbreitungstafel" (S. 448 f.) lehrreich für die keltische Propaganda am rechten Rheinufer ist. Die Hypothese des angesehenen Kenners keltischer Numismatik, es handle sich um Nachprägung keltischer Münzen durch die genannten, rechtsrheinischen Germanen, hat sich jedoch als irrtümlich erwiesen: di- im Text angegebene Bestimmung als Tauschmittel habe ich von G. Wolff in der Ztschr. d. Vereins f. hess. Gesch. u. Landeskde. L (1917) 98 ff. übernommen (dort 102,1 interessante Angaben über solche Münzfunde gerade bei Nauheim).

3) Caesar IV 11,2 senatus und principes, eine bei den Galliern häufige, den Germanen fremde Einrichtung: L. Schmidt, Gesch. d. deutsch. Stämme II 4 (Quellen u. Forsch, z. alt. Gesch. u. Geogr. Heft 30, Berl. 1918) 430.

Kelten und keltiaierte Rheingeritianen g3

schaftiiches Operationszentrum nur für die Pyrenäenhalbinsel trat Gades hinzu , war auch hierfür die gegebene Vermittlerin1): Handelsbeziehungen dieser Stadt nach den Rheinlanden sind er- wiesen.2) Unter solchen Umständen mußten ihm mehr die Zu- sammenhänge der Germanen mit den Kelten als die Unterschiede zu diesen klar werden3), zumal er, auch darin ein Vorläufer neuerer Korscher, stets darauf bedacht war, Völkerzusammenhänge zu er- mitteln. „Poseidonios heißt es bei Strabo I 41 (vgl. XVII 784) , der auch hier aus der Verwandtschaft (Gvyysvsicc) und Zu- sammengehörigkeit der Völker eine Etymologie ableitet, scheint mir sehr gut zu sagen: "Die Völker der Armenier, Syrer und Araber zeigen große Stammesverwandtschaft in Sprache, Lebensgewohnheiten und Körperbeschaffenheit, vor allem insoweit sie Nachbarn sind. Besonders klar tritt diese Ähnlichkeit in Mesopotamien in die Er- scheinung, das sich aus diesen drei Völkern zusammensetzt. Mag hier auch als Folge klimatischer Verhältnisse eine gewisse Ver- schiedenheit der nördlichen zu den südlichen Bewohnern sowie dieser beiden zu ihren Grenznachbarn in der Mitte zutage treten, so überwiegt doch das Gemeinsame. Auch die Assyrier und die Arianer verhalten sich ziemlich ähnlich zu diesen und zueinander.'"' (Es folgt eine verfehlte Etymologie.) Vgl. XI 525: „Die Sitten der Meder und Armenier sind in der Hauptsache gleichartig, weil auch die Beschaffenheit der von ihnen bewohnten Länder ähnlich ist." An einer späteren Stelle vorliegenden Buches werden wir seine ent- sprechend verlaufende, erstaunlich genaue Beweisführung über Ver- wandtschaft und Abweichung der drei in Gallien seßhaften Stumme (Strabo IV 176) kennen lernen. In dieser Weise hat er, wie uns

1) Daß Poseidonios Germanien „gesehen" habe, vermag ich F. Leo in seiner übrigens lesenswerten Charakteristik des Poseidonios (Gesch. d. röm. Litt, in: Kultur d. Gegenw. 1 Abt. VIII8 1912, 441) nicht zuzugeben: keine Spur richtig rerstandener Überlieferung deutet darauf hin, und sachlich ist es ganz un- wahrscheinlich.

2) Vgl. Fr. Kauffmann, D. A. 210, 4.

3) Vgl. Wilamowitz, Griech. Lesebuch II 207: „Poseidonios ist der erste ge- wesen, der die Germanen als ein anderes Volk erkannt hat, aber ihre Sitten konnte er von denen der wilden Kelten nicht sondern, wie sie denn auch wesentlich mit diesen übereinstimmten11, wo nur das ,, nicht" auf Grund obiger Darlegungen einer Einschränkung bedarf.

84 Kap. II. Quellenkritisches znr Ethnographie europäischer Völker

die besprochenen Fragmente seiner keltischen und germanischen Ethnographien zeigten, auch über die beiden großen Völkerschaften des nordwestlichen Europa geurteilt: bixoyvXta im ganzen, öiucpiQovxa. und l'dia dies sind seit Hekataios-Herodotos die Ausdrücke für ethnische Sondermerkmale im einzelnen.

2. DER GERMANENEXKURS IN CAESARS BELLUM GALLICÜM. Auch Caesar hatte Germanenstämme kennen gelernt, die bereits seßhaft und dadurch den Kulturerrungenschaften der keltischen Nach- barn auf dem linken Rheinufer zugänglich geworden waren. Wir hörten soeben, was er von den Ubii sagt. Auch die Sugambri, deren Gebiet er bei seinem ersten Rheinübergange heimsuchte, wohnten in Dörfern und Einzelgehöften (aedificia), die er abbrennen, sie besaßen Kornfelder, die er abmähen ließ (IV 19, 1): man hat durchaus den Eindruck eines seßhaft gewordenen Bauernstammes1), der denn ja

1) Die Ackerbaufrage ist grundlegend behandelt worden von Fustel de Cou- langes a. a. 0. (o. S. 6,1), dem sich in allen Hauptsachen deutsche Forscher an- geschlossen haben. Caesars Worte von den Germanen insgesamt VI 22, 1 agri culturae non student (vgl. 29, 1 minime omnes Germani agri culturae Student) be- deuten nur, daß sie den Ackerbau nicht mit Vorliebe betrieben, keinen sonder- lichen Fleiß darauf verwendeten (vgl. im Kap. vorher: neque sacrificiis Student, wo der Gegensatz zu den Galliern deutlich ist, von denen es c. 16 hieß: natio est omnis Gallorum admodum dedita religionibus; vgl. c. 21, 3 vita omnis . . . in studiis rei militaris consistit: a parvis labori ac duritiae student). Strabos Ausdruck (VII 291) to (ii] yecoQyeTv darf nicht gepreßt werden, bezieht sich zudem, wie er ausdrücklich sagt, auf Stämme, die noch auf der Wanderschaft begriffen sind: die unsinnige Annahme, diese Stelle gehe auf Poseidonios zurück, hat J. Hoops a. a. 0. (o. S. 6) 483 ff. gebührend zurückgewiesen. In der Schilderung Britanniens heißt es im Bell. Gall. V 14, 2 interiores plerique frumenta non serunt, sed lade et carne vivunt. Die Schilderung (c. 12 14) ist unbedingt uncaesarisch (A. Klotz, Caesarstudien 43 ff.); die Behauptung fehlenden Ackerbaus aus der lateini- schen Quelle, wohl durch Timagenes vermittelt Strabo IV 200 mar' ivlovg ccnei- qovs slvai Kai xTjjm'ag kui aXXmv yEagyix&v muß in dieser bestimmten Formu- lierung Bedenken erregen, obwohl die Möglichkeit eines Rückfalls in nomadische oder halbnomadische Zustände bei solchen insularen Binnenvölkern nicht ganz ausgeschlossen erscheint (vgl. P. Kretschmer, Einl. in die Gesch. d. griech. Sprache 72 f.). Vgl. auch die lehrreiche Abhandlung von 0. Th. Schulz, Über die wirt- schaftl. u. polit. Verhältnisse bei den Germanen zur Zeit Caesars (Klio XI 1911) 77, wo bemerkt wird, daß bei den Germanen Ackerbau nicht nur in der Form des Hackbaus, sondern bereits mit Benutzung des Hakenpflugs bestand, daß er aber irrationell betrieben wurde schon deshalb, weil regelmäßige Düngung des

Caesars Bekanntschaft mit den Germanen 85

auch den Römern, nach Verlauf etwa eines halben Jahrhunderts, kultiviert genug erschien, wie die Ubii auf das linke Stromufer ver- pflanzt zu werden. Aber Caesar war außerdem in Berührung ge- kommen mit einigen noch auf der Wanderschaft befindlichen suebi- schen Stämmen, er hatte ferner Erkundigungen über die Zustände von Teilen des inneren Germaniens eingezogen. Wenngleich nun durch die schon o. S. 6,1 genannten Arbeiten des französischen Geschichts- forschers Fustel de Coulanges die Gleichung Germanen- und Barbaren- tum als irrtümlich erwiesen worden ist deutsche Siedelungs- und Wirtschaftshistoriker haben bis in die neueste Zeit hinein die Richtig- keit der Fustelschen Darlegungen erwiesen , so kann doch kein Zweifel darüber bestehen, daß, gemessen an der hohen keltischen Zivilisation, die germanische um Jahrhunderte rückständig war. Caesar mußte sich daher wie in eine fremde Welt versetzt fühlen: bei den Kelten eine alte, reiche Kultur eines unter dem Druck von Priester- kaste und Adelsherrschaft seufzenden Volkes, bei den Germanen Da- seinsverhältnisse mit inopia, egestas, aber libertas] dort schon Erstar- rung, hier noch alles im Flusse der Entwicklung.

Auf Grund dieser Erwägungen läßt sich nun auch, wie mir scheint, der Versuch unternehmen, eine oft erörterte Frage genauer zu beantworten, als es bisher möglich war. Aus welchem Grunde mag Caesar seinen großen, den Raum einer selbständigen Abhandlung ein- nehmenden Exkurs über Kelten und Germanen VI 11 bis 24 oder, wenn man die uncaesarische Erweiterung über Einzelheiten des Herky- nischen Waldes mitzählt, gar bis 28 eingelegt haben? Ein Exkurs von dieser Ausdehnung war nach antiken Stilgrundsätzen einem Ge- schirhts werke ebenso ang-emessen, wie er in einem Memoirenwerke befremden muß, und in der Tat fallen die ihn einleitenden Worte quoniam ad hunc locum perventum est, non alienam vidctur usw. nach Inhalt und Ausdrucksweise aus der gesamten Caesarischen Schrift- stellerei heraus.1) Während der viel kleinere Exkurs über die Suebi

Landes noch nnhekannt war. Die Kulturstufe der Rheingermanen wird zu- treffend beurteilt von Fr. Cramer, Röm.-germ. Studien (Bresl. 1914) 4, kürzlich auch von A. Dopsch, "Wirtschaft!, u. soziale Grundlagen d. europ. Kulturentwickl. I (Wien 1918) 58 ff.

1) alienus bei Caesar nur hier. Die preziöse Ausdrucksweise das war sie bei ihrem Aufkommen, mag sie uns auch von Schulaufsätzeu her als be-

86 Kap. II. Quellenkritisches zur Ethnographie europäischer Völker

zu Beginn des IV. Buches in die Berichterstattung fest eingefügt ist, ja, aus ihr organisch herauswächst, ist der größere mit ihr durch einen Faden verknüpft, der auf den ersten Blick recht dünn erscheint. In c. 29, 1, wo die Erzählung wieder aufgenommen wird, begründet Caesar den Rückzug vom rechten Rheinufer mit den Schwierigkeiten der Verproviantierung: inopiam frumenti veiitus, quod, vi supra demoti- ztravimus, minime omnes1) Germani agri culturae Student, constihiit non progredi longius. Der Rückverweis bezieht sich auf das Sätzchen des Exkurses c. 22, 1 agriculturae non Student. Wir haben keinen Anlaß zu bezweifeln, daß die Erkenntnis einer unzulänglichen Bebauung des Bodens mehr besagen die Worte, wie vorhin (S.84,1) bemerkt, nicht für Caesar der Grund, oder sagen wir vorsichtigerweise: ein entscheiden- der Grund gewesen ist, auf ein weiteres Vordringen in das größten- teils unwirtliche Land zu verzichten und sich mit einer offensiven Grenzdeckung zu begnügen. Nicht viele andere Substantive von Ge- wicht kommen in seinen Aufzeichnungen so häufig vor wie frumen- tum und commeatus, und gerade die Verbindung inopia frumenti findet sich noch sechsmal, darunter einmal (III 6, 4) mit dem Zugeständ- nisse eines dadurch bedingten Mißerfolges. Es darf danach wohl an- genommen werden, daß dies auch der Grund gewesen ist, mit dem er den Verzicht auf weiteres Vordringen in seinem dem Senate er- statteten Bericht rechtfertigte.

Hebte Phrase erscheinen non alienum est (videtur, esse puto u. ä.) mit folgen- dem Infinitiv ist für uns übrigens erst beim Auetor ad Herennium, also in Sullanischer Zeit nachweisbar: die Redeweise dieses Schriftstellers bezeichnet überhaupt eine Art von Markstein in der Phraseologie (vgl. das im Anhang I über situs Bemerkte). Das häufige Vorkommen der Wendung in Ciceros Briefwechsel, auch seitens seiner Korrespondenten, zeigt, daß sie der urbanen Konversations- sprache angehörte; deren Wurzeln lagen im Scipionenkreise: es ist daher charakteristisch, daß das Terenzianische humani a me alienum puto, daa sich nicht wörtlich ins Griechische rückübersetzen läßt, die Phrase im Beginn ihrer Entwicklung zeigt (noch nicht mit dem Infinitiv).

1) So ist einstimmig überliefert. Die jetzt in die Ausgaben übergegangene Konjektur von Dawes (Davisius, 1706) homines ist trotz ihrer Leichtigkeit un- richtig: Caesar bietet an den Hunderten von Stellen, wo er von Galliern und Germanen redet, kein Beispiel dieses Gebrauchs (Jiomo Bomanus u. dgl.), und hier kam es ihm noch dazu gerade auf den Begriff der t-vintavteg an. [Nach- träglich sehe ich, daß auch A. Klotz, Rh. Mus. LXVI 1911, 631, 2 die Änderung ablehnt.]

Caesars Begründung seines Rückzuges g~

Hier ist nun ein Wort gefallen, bei dem wir verweilen müssen, bevor sich diese Untersuchung weiterführen läßt. Wie haben wir uns das Verhältnis der caesarischen Senatsberichte zu den veröffent- lichten Memoiren zu denken? Diese Frage hat in der Caesarerklärung immer noch nicht die gebührende Beachtung gefunden.1) Als der Imperator nach dem Fall Alesias (Spätsommer 52) und vor dem offenen Bruch mit Pompeius (Ende September 51), also möglicher- weise in den Winterquartieren 52/1 seine Commentarii diktierte, um durch ihre Veröffentlichung die Stimmung in der Hauptstadt zu seinen Gunsten zu beeinflussen, dienten ihm zur Stütze seines Ge- dächtnisses, dessen hervorragende Kraft man um deswillen nicht in Zweifel zu ziehen braucht, sowie zur Beschleunigung der Abfassung (celeriter perfecit Hirtius praef. 6) außer den ihm jeweils schriftlich erstatteten Meldungen der Unterfeldherren die Entwürfe seiner eigenen, den Gesamtverlauf der Operationen zusammenfassenden Dienstberichte. Diese hatte er nach Abschluß jedes Kriegsjahres dem Senate ordnungs- gemäß2) übersandt: er selbst erwähnt sie anläßlich der Dankfeste, die der Senat ihm auf ihre Verlesung bewilligt hatte, am Schlüsse dreier Commentarii (IL IV. VII.: ex litteris Caesaris)}) Sie waren von ihm nach einer bekannten Nachricht bei Suetonius (div. Iul. 56) nicht, wie es in amtlichem Briefwechsel4) bis dahin noch immer üblich war, parallel der kurzen Seite des Blattes (transversa clmrta), sondern parallel der langen in mehreren Kolumnen geschrieben, also in Buch-

1) Zuerst hat wohl Th. Bergk, Zur Gesch. u.Topogr. d. Rheinlande (Leipz.1882) 21, 2 und Jhb. f. Philol. Suppl. XIII (1884) 609, 3 mit ein paar Worten darauf hingewiesen, kürzlich mit Nachdruck auch A. Klotz, Caesarstudien (Leipz. 1910) 13 f. Meine Ausführungen, die durch Heranziehung von Vergleichsmaterial die Frage auf festere Basis zu stellen suchen und ein besonderes Ziel ver- folgen, sind geeignet, die früheren zu ergänzen und ein merkwürdiges Miß- verständnis von Chr. Ebert in seiner Rezension des Klotzschen Buches (Gott, gel. Anz. 1912, 285) zu berichtigen.

2) Vgl Cic. in Pis. 38 quis umquam provinciam cum exercitu obtinuit, qui nullas ad senatum lüteras miserit? Der Brauch hielt sich noch in der Kaiser- zeit: Mommsen, der übrigens nicht näher darauf eingegangen ist, zählt St.-R. III 2, 1107 die Belege für Berichte der Kaiser an den Senat auf.

3) Es war üblich, die Feldherrnberichte im Senat zu verlesen und dann über die Gewährung einer Supplikation zu verhandeln: Cic. ep fam. A.V 4, 11 (an Cato vom Jahre 60).

4) publice scribere nennt es Cicero fam. XV 1,1. 8, 2.

38 Kap. IL Quellenkritisches zur Ethnographie europäischer Völker

form.1) Es liegt auf der Hand, daß ein solcher memorialis libellus, wie er von Suetonius genannt wird, sich von einem commentarius nur durch die Adresse dort der Senat, hier die breite Masse der interessierten Öffentlichkeit und die dadurch notwendigerweise bestimmte Art der Berichterstattung2) unterschied. Wir wollen versuchen, uns das an einigen Analogien klarzumachen. Cato hat über seinen spanischen Feldzug des Jahres 195 an den Senat berichtet, der ihm ein drei- tägiges Dankfest dekretierte (Livius XXXIV 42, 1 a M. Porcio cos. ex Hispania lüterae adlatae usw.); seine Taten daselbst hat er außer in den Origines auch in einer Rede verherrlicht. Die aus dieser er- haltenen Fragmente, die seine Seefahrt in die Provinz betreffen, be- rühren sich mit Ausdrücken Caesars über seine zweite britannische Unternehmung so nahe, daß man sieht: Cato hat seiner literarischen Darstellung den amtlichen Bericht zugrundegelegt.3) In Ciceros Briefwechsel besitzen wir zwei seiner amtlichen Schreiben an den Senat (ep. fam. XV 1. 2), in denen er über die militärischen Vorgänge in seiner Provinz Kilikien während der Zeit von Anfang August bis 21./22. September des Jahres 51 aus besonderen Anlässen vorläufigen Bericht erstattet. Man vergleiche diese Schriftstücke in ihrer ganzen Haltung mit der aus den Caesarischen Commentarii wohlbekannten Art. Die Verwandtschaft ist unverkennbar, ja, der Bericht Ciceros über seine Begegnung mit Ariobarzanes, dem Könige von Kappa-

1) Vgl. K. Dziatzko, Unters, über ausgew. Kapitel des antiken Buchwesens (Leipz. 1900) 124.

2) Zum Literarischen gehörte z. B. das meiste Stilistische, darunter auch die Umsetzung der ersten Person in die dritte (Nachahmung des Thukyd. IV 104 ff., Xenophon, Polybios; später auch so Josephus im Bellum), ferner eine direkte Rede von der Länge derjenigen des Critognatus VII 77, die sogar aus dem Stil der Commentarii selbst herausfällt, und vieles dergleichen, was meist nur gefühlsmäßig eiweisbar ist aber gerade dadurch wenigstens mir bei der Lektüre besonderen Reiz gewährt.

3) Cato or. I fr. 8 postquam Massiliam praeterimus, inde omnem classem ventus auster lenis fert . . . ultra angulum Gallicum ad Illiberim adque Ruscinonem deferimur. inde nocte (— noctis) aura profecti sujhus. 9 ita nos fert ventus ad primorem Pyrenaeum Caesar V 8 ipse . . . ad solis occasum naves solvit. et leni Africo provectus media circiter nocte vento intermisso cursum non tenuit et longius delatus aestu orta luce sub siniatra Britanniam relictam conspexit. An den Reisebericht schließt sich bei beiden (für Cato vgl. Livius XXXIV 8, 4 ff.) der Kriegsbericht.

Caesars Dienst- und Literaturbericht g9

dokien, und mit dessen Bruder Ariarathes (2, 5 ff.) sowie dem Gefolge beider ist nach Inhalt und Form Weinen der Bittsteiler, Wieder- gabe ihrer Ausführungen in indirekter Rede, Appell an das Wohl- wollen des Senates und Volkes, Antwort des Prokonsuls ebenfalls in indirekter Rede dem Berichte Caesars über seine Begegnung mit Diviciacus und dessen Gefolge (I 31 33) so ähnlich, daß man sich der Überzeugung gar nicht zu erwehren vermag, Caesar habe seinen Bericht an den Senat über diese Vorgänge so gut wie un- verändert in die Commentarii herübergenommen. Und dies darf un- zweifelhaft auch von anderen großen Stücken angenommen werden. Beispielsweise entspricht die den zweiten Rheinübergang einleitende Bemerkung (VI 9, 1) Caesar . . . duabus de causis lihenum transire constituit usw. ganz der Art, mit der Cicero über seine Beschlüsse (statui) und die Gründe seiner militärischen Maßnahmen berichtet; einige andere Beispiele seien hier anmerkungsweise angeführt.1) Wenn

1) Vgl. den Anfang des IV. Buches Germani . . . flumen Bhenum transierurtt . . . His de rebus Caesar certior facius . . . bellum cum Germanis gerere constituit mit dem Anfange des ersten Ciceronischen Berichtes non dubie mihi nuntiabatur Parthos transisse Euphratem. . . . Quo nuntio allato . . . statui exspectandum esse si quid certius adferretur . . . (Die Nachricht bestätigt sich). Exercitum ad Taurum institui ducere. Oder I 6 f . erant omnino itinera duo quibus itineribus domo exire possent: unum per Sequanos angustum et difficile . . ., alterum per provinciam nostram multo facilias atque expeditius . . . Caesari cum id nuntiatum esset eos per provinciam nostram iter facere conari, maturat ab urbe proficisci et quam maximis potest itineribus in Galliam ulteriorem contendit mit dem Beginn des zweiten Ciceronischen Berichtes: cum pr. K. Sext. in provinciam venissem neque maturius propter itinerum et navigationum difficultatcm venire potuissem . . . nuntiique et litterae de bello a Parthis in provinciam Syriam inlato cotidie fere adferrentur, iter mihi faciendum per Lycaoniam et per Isauros et per Cappa- dociam arbitratus sum. erat enim magna suspicio Parthos, si <:x Syria egredi atque inrumpere in meam provinciam conarentur, iter eos per Cappadociam, quod ea maxime pateret, esse facturos ; es folgen in beiden Berichten die militärischen Maßnahmen. Oder I 35, 4 (Caesars Bescheid an Ariovist) si ita fecisset, sibi populoque Romano perpetuam gratiam cum eo futuram; si non inipetraret, sese, quo>iiam M. Messala M. Pisone consulibus scnatus censuisset, Uli quicumque Galliam provinciam obtineret, quod commodo rei publicae facere posset, Jlaednos cetcrosque amicos populi Pomani defenderet, se Haeduorum iniurias non neglecturum mit folgender Stelle aus Ciceros erstem Schreiben: cum enim vestrp auctoritas intercessisset ut ego regem Ariobarzanem Eusebem et l'hilorhomaeum tucrer ciusgue regis salutem et incolumitatem regnumque defcnderem, regi regnoque praesidio

90 Kap. II. Quellenkritisches zur Ethnographie europäischer Völker

nun die Übereinstimmungen schon mit diesen kurzen, vorläufigen Be- richten Ciceros an Zahl und Art so beträchtlich sind, welche Fülle von Vergleichsmaterial würde sich erst ergeben, wenn wir den zu- sammenfassenden Bericht besäßen, den Cicero nach Entlassung des Heeres in die Winterlager, Ende Dezember 51 oder Anfang Januar 50, von Tarsos aus an den Senat sandte.1) Um diese Zusammenhänge genauer zu verfolgen, müßte man natürlich auch die sonstigen amt- lichen Stücke, die in Ciceros Briefwechsel erhalten sind, die Berichte der Parteiführer an ihn selbst und untereinander aus dem Jahre 43 hinzunehmen (z. B. das wieder an die Caesarische Art erinnernde wichtige Schreiben des Sulpicius Galba aus dem Lager bei Mutina X 30), müßte vor allem auch die Wurzeln dieser militärischen Berichterstattung in die hellenistische Zeit zurückverfolgen: denn die Fäden, die Rom auch auf diesem Gebiete mit den Reichen des Ostens verknüpften, sind selbst an unserem dürftigen Beobach- tunsrsmaterial kenntlich.2) Allein dies alles würde uns zu weit

essem, adiunxissetisque salntem eins regis popnlo senatuique magnac curae esse . . . , existimavi me iudicium vestnim ad regem deferre debere usw.; darauf folgt bei beiden die Antwort des Königs.

1) Daß er dies tat, wissen wir aus Angaben, die er selbst in mehreren Briefen darüber macht: vgl. die von 0. E. Schmidt, Der Briefwechsel Ciceros usw. (Leipz. 1893) 84 f. Darunter ist am wichtigsten ein Brief an Cato (fam. XV 4), weil er in diesem einen Auszug des Berichtes gibt, der trotz seiner Kürze wieder unverkennbar an den Stil der Caesarischen Commentarii erinnert; beispielsweise: § 10 ab iis Pindenisso capto obsides accepi; exercilum in hiberna dimisi <~ Caes. VII 90, 2 impcrat magnum numerum obsidum; legiones in hiberna mittit. Ein charakteristischer Unterschied liegt darin, daß Cicero genaue Kalenderdaten gibt, die in den Caesarischen Commentarii ganz selten sind (außer I 6, 4 ist mir aus den gallischen Memoiren kein Beispiel in der Erinnerung): offenbar hat Caesar sie in der für die Öffentlichkeit bestimmten Schrift als belanglos

weggelassen. Daß er in seinen Berichten wohl sicher wie Cicero in erster

Person sprach, wurde schon o S. 88,2 erwähnt.

2) Der von dem König Ptolemaios III Euergetes nach 247/6 persönlich oder doch in seinem Namen verfaßte Generalstabsbericht über den syrischen Krieg (Flinders Petrie Pap. II 1891 nr. XLV; Nachtrag 1905 nr. CXLIV) ist dem Caesa- rischen Berichte so nahe verwandt wie sonst nichts uns Erhaltenes (vgl. Agnostoa Theos 320 f.). Sicher echte Briefe schon Alexanders an den Reichsverweser Antipatros enthielten derartige Berichte; in das Fabulose umgesetzt stehen sie im Alexanderroman mit der Adresse an Olympias und Aristoteles (Iul. Valerius III 48; für die Stilisierung vgl. etwa c. 51 indidem ad Rubrum mare venimus

Caesars Dienst- und Literaturbericht 91

von unserem Thema abfuhren. Nur folgende kurze Bemerkung sei noch gestattet. Auf das in neuester Zeit mit so viel Eifer und Scharfsinn erörterte Problem der Abfassungszeit der Caesarischen Commentarii dürften Betrachtungen wie die hier angestellten Licht zu verbreiten geeignet sein. Die Gegner der einst besonders von Mommsen vertretenen Annahme, Caesar habe seine gallischen Denk- würdigkeiten bald nach Niederwerfung der letzten großen Koalition in einem Zuge niedergeschrieben, führen als Hauptgrund ihrer Auffassung an: es fänden sich in den früheren Büchern, insbesondere dem ersten, Auffassungen, die wohl für die jeweiligen Jahre, nicht aber oder doch weniger gut für eine rückschauende Betrachtung aus dem Jahre 52 paßten. Sollte, fragen sie beispielsweise1) mit Bezug auf die überaus behutsame, ja, fast ängstliche Begründung der Operationen gegen die Helvetier und Ariovist, der Senat im Jahre 52, um die Zeit des dritten großen Dankfestes, auf die Grundlagen der ganzen Eroberung einen Angriff geplant, Caesar selbst jene um sieben Jahre zurückliegenden Dinge mit so merklicher Unsicherheit gerechtfertigt haben? Dies und Ähnliches spreche für Abfassung der einzelnen Bücher von Jahr zu Jahr. Nun aber | erheben sich gegen die letztere Annahme schwerwiegende Gründe, von denen wir den einen und den anderen im Verlaufe dieser Untersuchungen bei Gelegenheit kennen lernen werden. Sollte nun nicht die eben begründete Auffassung die Beseitigung dieser Verlegenheiten an die Hand geben? Wenn den Commentarii die Konzepte der Dienstberichte in weitestem Umfange zugrunde gelegt wurden, so mußte in der Niederschrift des Jahres 52/1 vielerlei enthalten sein, was ursprünglich für die Meldungen der einzelnen Jahre von 58 an entworfen worden war. Tiefer ein- schneidende Änderungen konnte Caesar an ihnen aber schon um des- willen nicht vornehmen, weil sie in Rom bekannt geworden waren. Ein Vergleich der Jahresberichte an den Senat mit dem Gesamt-

u. a. dgl.). Auch die commentarii des Vespasianus über den jüdischen Krieg (Joseph, vit. 65, 340) und die Dacica des Traianus (Zitat daraas bei Priscianus VI 205 Traianus in I Dacicorum: inde Berzobim, deinde Aizi ' processimus) sind dazu zu rechnen: beides waren an den Senat gesandte Berichte, die dann mit buchmäßigem Titel publiziert wurden; auch von L. Verus gab es litterae ad senatum über den armenischen Krieg der Jahre 163 f., woraus Fronto 126 N etwas in Paraphrase mitteilt.

1) Ebert a.a.O. (o. S. 87,1) 287.

t)2 Kap. II. Quellenkritisches zur Ethnographie europäischer Völker

bericht an das Volk wäre, wenn er grundsätzliche Abweichungen dieses von jenen ergeben hätte, fast kompromittierend gewesen; die literarische Veröffentlichung mochte teils weniger, teils mehr1), sie durfte aber nichts sachlich anderes enthalten als die amtliche Be- richterstattung.

Die Worte, mit denen Caesar seinen Verzicht auf eine Fortsetzung der germanischen Offensive begründet: inopiam frumenti vcritus . . . constituit non progredi longius entsprechen, wie wir sahen, nach In- halt und Form denjenigen, die wir auch von seinem amtlichen Be- richte über diesen Vorgang erwarten dürfen. Von hier aus läßt sich nun, wie ich meine, der große ethnographische Exkurs des VI. Buches genetisch verstehen. Das von Drumann begründete Urteil, Caesar habe durch die lange Darlegung die Aufmerksamkeit der Leser von dem Mißerfolge des Rheinübergangs abziehen wollen, sowie die An- nahme, die sich jetzt der meisten Beachtung erfreut, der Exkurs sei „nachträglich eingeschoben", sind zu äußerlich, gewinnen aber an Bedeutung, wenn wir es jetzt so bestimmen: der Exkurs ist eine für das Lesepublikum berechnete Ausführung jenes einen Sätzchens, mit dem sich der amtliche Bericht begnügt hatte, und ist dem in militärischem Meldestile abgefaßten Bericht als Literaturprodukt ein- gefügt worden. Die Einlage läßt sich aus dem uns vorliegenden Texte der Commentarii ohne jede Schwierigkeiten loslösen, ja dieser gewinnt dadurch sogar an Geschlossenheit.2) Ein Literaturprodukt

1) Cicero läßt es in dem erwähnten Bericht nicht an sehr tiefen Ver- beugungen vor dem Senate fehlen; Caesars Haltung wird fürwahr nicht devot gewesen sein aber Bezugnahme auf die hohe Körperschaft wird in den amtlichen Schreiben auch bei ihm häufiger gewesen sein als in den Commentarii, die Mommsen (R. G. 'II 615) als den militärischen Rapport des demokratischen Generals an as Volk bezeichnet hat.

2) Das läßt sich leicht so veranschaulichen, indem wir den Bericht mit B, den Exkurs mit E bezeichnen: B c 10, 3 f. Ubiis . . . mandat, ut crebros et- ploratores in Suebos mutant quaeque apud eos gerantur cognoscant. Uli imperata faciunt et paucis diebus intermissis referunt Suebos omnes . . . penitus ad exiremos fines se recepisse; silvam esse ibi infinita magnitudine . . ., ad eins silvae initium Suebos adcentum Romannrum exspectare constituisse. || E c. 11 23 Quoniam od hunc lotum perventum est, non alienum esse videtur usw || B c. 29 Caesar post- quam per Ubios exploratores comperit Suebos sese in Silvas recepisse, inopiam frumenti veritus, quod || E, ut supra demonstravimus, || minime omnes Germani agri culturae student, constüuit non progredi longius, sedv&w. DerExkura zwang,

Literarische Stellung des caesarischen Germanenexkurses 93

dieser Art mußte nun aber die Leser in höchstem Maße interessieren. Wenn Tacitus im allgemeinen sagt (ann. IV 33) „Ethnographien (situs gentium) fesseln den Geist der Leser", so galt dies im be- sonderen von einer vergleichenden Ethnographie Galliens und Ger- maniens. Das Germanentum war die größte ethnologische Offen- barung der Gegenwart gewesen, der Germanenname, erst kürzlich ver- nommen, bisher fast ununterscheidbar mit dem der Kelten zusammen- geflossen. Der einzige, der diese Verhältnisse klar übersah, war Caesar, Eroberer und Entdecker in einer Person. Die neue Erkennt- nis hatte sich durch seine Berichte an den Senat, durch persönliche und schriftliche Mitteilungen von Kriegsteilnehmern an Angehörige und Bekannte in den Jahren von 58 an allmählich zu verbreiten angefangen: so konnte Cicero in zwei Reden der Jahre 56 und 55 den Germanennamen neben den der Gallier stellen.1) Nun faßte Caesar genau an der Stelle seiner Niederschrift, wo das rechtsrheinische Germanien zum letzten Male in den Gesichtskreis seiner Leser trat, das nur im allgemeinen Bekannte zu einer auch das einzelne be-

bei Wiederaufnahme deB Berichts in c. 29, den Inhalt der vorher erzählten Be- gebenheit zu rekapitulieren; im Originalberichte genügte etwa: quae postquam comperit, inopiam usw.: vgl. IV 19, 2 f. Caesar haec ab iis (Ubiis) cognovit (folgt Inhalt der Erkundigung in langen acc. c. inf.- Sätzen), quod ubi Caesar comperit usw.

1) Cic. de prov. cons. 32 f.: „Ganz anders verfuhr C. Caesar (näml. als C. Pomptinus, der sich im Jahre 61 mit einem Siege über die Allobroges be- gnügt hatte). Er begriff, daß der Krieg nicht bloß denen galt, die sich schon als Kebellen gegen das römische Volk erwiesen hatten, sondern daß ganz Gallien unter unsere Botmäßigkeit gebracht werden müsse. So hat er denn den grimmigsten und größten Völkerschaften der Germanen und der Helvetier die glücklichsten und entscheidenden Schlachten geliefert"; in Pis. 81: „Sein Ober- befehl, nicht der Wall der Alpen ist das Bollwerk, das sich nach meinem Dafürhalten dem Emporstieg und dem Herüberzug der Gallier entgegenstellt. Sein Oberbefehl, nicht das von Strudeln überwallende Bett des Rheinstroms, bildet die Schutzwehr gegenüber den wilden germanischen Volksstämmen. Hätten die Berge sich gesenkt, wären die Ströme ausgetrocknet, ao würde dank seiner Siege und Taten auch ohne natürliche Deckungsmittel Italien gesichert sein." Ich benutze die Gelegenheit zu bemerken, daß das Motiv, das Reich sei vor einer germanischen Invasion selbst für den Fall eines Austrocknens des Rhein- etrombettes sicher, hier zum ersten Male begegnet; das war mir in meiner Untersuchung über das Germanenepigramm des Krinagoras (Sitzungsber. d. Berl. Ak. 1917, 678) entgangen.

94 ü'äy. II. C^ueüenkritischeb zur Ethnographie europäischer Völker

rücksiehtigenden vergleichenden Übersicht zusammen.1) Die Leser waren auf eine solche von langer Hand her vorbereitet. Denn der Gegensatz von Kelten- und Germanentum durchzieht die Caesarischen Memoiren von ihrem ersten Kapitel an; gleich in ihm fällt zweimal der Name Germani, beidemal als Gegner der Kelten: der Gradmesser der besonderen Kriegstüchtigkeit der Belgae und Helvetii seien die Germanen, mit denen jene in beständiger Fehde lägen. Wenn wir unser Bewußtsein, für welches dies alles gegebene Tatsachen sind, einzuschalten suchen in das der ersten Leser, so können wir uns den Eindruck gar nicht stark genug vorstellen. Wir werden im sechsten Kapitel vorliegenden Buches auf diese Verhältnisse zurückkommen: durch sie wird eine das Oaesarische Werk weithin beherrschende Unter- strömung, deren Erkenntnis, wie wir dann sehen Averden, auch das Verständnis seiner Komposition gelegentlich fördert, erst voll begreiflich. Dies gilt auch von dem hier in Rede stehenden großen Exkurs. Denn wenn es sich in der Tat so verhielt, wie gemeinhin geglaubt wurde, wie es auch in dem Werke des größten zeitgenös- sischen griechischen Historikers noch zum Ausdruck gebracht wor- den war, daß „Kelten und Germanen einander ähnlich und ver- wandt seien und ihre nur durch den Rhein getrennten Wohnsitze sich in den meisten Dingen glichen'' (Poseidonios o. S. 81), warum fand dann der Siegeslauf der Legionen am Rhein seine Grenze? War dann nicht die wiederholte Versicherung des Imperators omnis Gallia pacata2)

1) Die hier begründete Auffassung berührt sich mit der von A. v. Meß in seinem schönen Caesarbuche (Leipz. 11)13) 95f. vertretenen, aus der man einige Sätze hier gern lesen wird: „Am reinsten tritt Caesars reifes Urteil über die Kräfte, mit denen er gerungen hat, in dem großen Exkurs über die Gallische und Germanische Nation hervor. Aber auch hier bleibt er im Rahmen seines Werkes: er hat die Gallische und Germanische Frage auch hier nicht prinzipiell aufgerollt . . . Der Exkurs steht genau an der Stelle , wo er hingehört . . , Es ist die letzte Berührung mit der Germanischen Nation, die Caesar hier be- richtet: er legt ruhig, sachlich, knapp die Gründe dar, die ihn bewogen haben, nicht weiter zu gehen . . . Caesar hatte mit unbestechlichem Scharfblick die ungeheure militärische Kraft der Germanischen Nation erkannt und sie zuerst von der Keltischen Völkerwelt geschieden, mit der sie von der älteren und zum Teil noch von der späteren Geschichtschreibung zusammengeworfen wurde."

2) Im Bell. civ. I 7, 6 wagt er in einer Rede' an die Truppen zu sagen: cuius imperatoris ductu . . . omnem Galliam Germaniamque pacaverint. In den gallischen Memoiren hütet er sich vor einer derartigen Übertreibung.

Literarische Stellung Jet caesarischen Germanenexkurses <.<5

eine übertreibende Fantare? Aber es verhielt sieb eben anders die gemeine Ansicht war irrig: Germani multum ab hac con- surfudinc diff'crunt, sie bildeten eine eigne Nation von ausgeprägter Sonderart. Sie waren jetzt Grenznachbarn des Imperiums ge- worden, das diese Tatsache begreifen und sich mit ihr als einer vorläufigen Notwendigkeit abfinden mußte. In demselben Jahre, in dem Caesar am Rhein haltmachte, hatte P. Crassus den Eu- phrat überschritten und durch seinen Vormarsch ein ungeheures nationales Unglück heraufbeschworen: wer hatte sich weitsichtiger erwiesen, der Imperator, der sich auf Grund seiner Kenntnis von Land und Leuten auf ein Abenteuer nicht einließ, oder sein ehe- maliger Unterfeldherr, der es aus Unkuhde wagte? Die zweimalige Erkundung hatte die Notwendigkeit, daß der Rhein die Grenze bilden müsse, ergeben, und damit war ihr Zweck erfüllt. Zunächst war Defensive die Parole, ohne daß hiermit das letzte Wort für die Zu- kunft über Germanien wie über Parthien gesprochen zu sein brauchte.1) Mit Empfindungen solcher Art mögen die ersten Leser den Exkurs in sich aufgenommen haben: gewiß stellte er eine Unterbrechung der äußeren Kriegsgeschichte dar, aber auch diese Unterbrechung war ihrem inneren Wesen nach militärisch begründet und keineswegs auf „Täuschung" der Lesenden berechnet. Ebensowenig bloß auf ihre Unterhaltung. Denn auch das wissenschaftliche Moment dürfen

1) Als Monarch soll er Germanien in seine Pläne^aufgenommen haben, aber nicht von der Rheingrenze , sondern vom Osten her: Plutarch Caes. 58 „Sein Plan war gegen die Parther zu Felde zu ziehen, nach deren Unterwerfung längs des Kaspischen Meeres und des Kaukasus durch Hyrkanien zu ziehen, in einem weiten Uogen um den Pontos in Skythien einzufallen, die Nachbar- schaft der Germanen und Germanien selbst zu überrennen und durch Gallien nach Italien zurückzukehren: so wollte er den Kreis des Imperiums zusammen- knüpfen, dessen Grenze von allen Seiten der Ozean bilden sollte." Wir haben, obwohl Mommsen (IL G. III 5ul) diese Überlieferung ablehnend beurteilt, doch wohl keinen Anlaß, an der Existenz dieses Welteroberungsplanes in den letzten Worten ist die Gleichung des Imperium mit dem orbis terrae deutlich aus- gesprochen — zu zweifeln; er zeigt aber, wie wenig die geographischen Ver- hältnisse Osteuropas damals noch geklärt waren. In sehr viel engeren Grenzen, aber gauz planmäßig hat Augustus den Plan, soweit er Germanien betraf, aufgenommen, indem er es von Rhein und Donau her zu umfassen suchte, ein Plan, der durch die Erhebungen des Marbod und des Arminius zum Scheitern gebracht wurde (vgl. Mommsen, Die germ. Politik d. Augustus, Reden u. Vortr. 33utF.).

96 Kap. II. Quellenkritisches zur Ethnographie europäischer Völker

wir nicht aus dem Auge lassen. Bei Mommsen lesen wir (R. G. III 301): ,/Täglich', heißt es in einer römischen Schrift vom Mai 561), 'melden die gallischen Briefe und Botschaften uns bisher unbekannte Namen von Völkern, Gauen und Landschaften.' Die Erweiterung des ge- schichtlichen Horizonts durch Caesars Züge jenseits der Alpen war ein weltgeschichtliches Ereignis so gut wie die Erkundung Amerikas durch europäische Scharen. Zu dem engen Kreis der Mittelmeer- staaten traten die mittel- und nordeuropäischen Völker, die Anwohner der Ost- und der Nordsee hinzu, zu der alten Welt eine neue.2)" Caesar, der hochgebildete Mann, mag es als nationale Schmach emp- funden haben, daß die Römer sich von griechischen Gelehrten den Vorwurf machen lassen mußten, ihre kulturelle Pflicht, die wissen- schaftliche Erschließung des Westens vernachlässigt zu haben. Wie einst Scipio Aemilianus diesen Vorwurf durch die Tat widerlegte, indem er dem Erkundungsdrange der ihn nach Afrika, dem Orient und Spanien begleitenden Gelehrten allen Vorschub leistete (o. S. 32) und sich bei Kaufleuteu aus Massilia, Narbo, Korbilo (an der Loire- mündung) über Britannien, wenn auch gewiß zunächst aus kauf- männischen Interessen, zu unterrichten suchte (Strabo IV 190), so wird auch Caesar, in dessen Zeit die Überlieferungen des Scipionen- kreises, wie uns Ciceros Lebensgang und Kulturwerk zeigen, vielfach hineinragten, die Erweiterung des geographischen Gesichtskreises als Ehrenpflicht anerkannt haben. Hcrcyniam silvam quam Eraiostheni et quibusdam Graccis fama notam esse video, quam Uli Orcyniam appellant sagt er im letzten Kapitel des Exkurses; eben diese Grie- chen hatten den Westen als ein durch die karthagische, dann die römische Oberhoheit verlorenes Forschungsgebiet bezeichnet (o. S. 32). Nun aber trat der große Eroberer, der die Grenzen des Imperiums

1) Gemeint ist Cicero de prov. cons. 22. Vgl. S. 93,1.

2) Dies könnte hyperbolisch erscheinen, aber man lese, was der Verf. der consolatio ad Liviam 313 f. von der Eroberung Germaniens durch Drusus sagt: fluminaque et montes et nomina magna locorum et siquid miri vidit in orbe novo; ähnlich 391 et modo Germanus Homanis cognitus orbis. In demselben Sinne sagt Albinovanus Pedo in den (bei Seneca d. ä. suas. 1, 15 erhaltenen) Versen über die Nordseexpedition des Drusussohnes Germanicus vom Jahre 16: anne alio positas ultra sub cardine gentes atque alium flabris intactum quaerimus orbem? Über orbis novus bei Seneca s. o. S. 39,1; alter orbis terrarum von der 'Insel* Seatinaria Plinius IV 96, von Taprobane (Ceylon) VI 81.

Literarische Stellung des Caesarischen Germanenexkurses 97

bis an die- Küsten des Atlantischen Ozeans vortrug, in die Fußstapfen der Admirale Alexanders, die ihre geographischen und ethnographischen Erkundungen über Meere und Völker des Ostens in ihren Feldzugs- berichten niedergelegt und dadurch der Forschung unvergleichlich wichtiges Material zugetragen hatten. Jene Griechen, die Caesar nennt, kannten den Herkynischen Wald nur durch die fama1): er als erster vermochte den Schleier, der über seinem geheimnisvollen Dunkel lagerte, durch Erkundung etwas zu lüften, und fast noch unter seinen Augen hat ein Erweiterer seiner Memoiren vier Kapitel über die Ausdehnung und die Tierwelt dieses Waldes hinzugefügt. Welche Genugtuung mag es Caesar bereitet haben, den berühmten Verfasser des letzten großen griechischen Geschichtswerkes, den Freund des Pompeius, so ergänzen zu können, daß die Ergänzung einer Korrek- tur nahekam, ja, gelegentlich zur Widerlegung wurde.

Wir Philologen sind doch ein wunderliches Geschlecht. Da be- sitzen wir nun ein gar seltener Fall einen fast nur in eignem Glänze leuchtenden Primärbericht: aber so eingeschworen sind wir auf unser Handwerk, daß wir flugs fragen, aus welchen schriftlichen „Quellen" er in seiner Gesamtheit „geschöpft" sei, wie die schönen Worte zu lauten pflegen. In der Tat hat die Posidonische Mode, die mit diesem Namen oft ein willkürliches Gedankenspiel treibt, den Sachverhalt hier beinahe auf den Kopf gestellt.2) Der erste Ver- such, das Gesamtprofil unseres Vaterlandes zu zeichnen, stammt von

1) Auf das stolze Gefühl, das sich in diesen Caesarischen Worten aus- spricht, weist H. Berger, Die geogr. Fragm. d. Eratosthenes (Leipz. 1880) 361 hin. Vgl. auch E. G. Sihler, C. lulius Caesar (Leipz. 1912) 123: „Caesar war durchweg von einer Art historischen Bewußtseins erfüllt und beabsichtigte, Dinge von bleibendem Wert mitzuteilen und in eindrücklicher Art das Wissen der Welt zu bereichern." Zur Ergänzung der soeben mit Mommsens Worten aus Cic. de prov. cons. 22 mitgeteilten Worte lese man die folgenden aus derselben Rede (33): cum acerrimis nationibus et maximis Germanorum et Helvetiorum proeliis feli- cissime decertavit . . . et quas rcgioncs quasqne gentis nullae nobis antea litterae. nulla vox, nulla fama notas fecerat, eas rioster Imperator nosterque exercitus et populi Jlomani arma peragrarunt.

2) Man ersehe das etwa aus den dilettantischen Darlegungen W. Scheels, Philol. LV1I (1898) 582 ff., die unbegreiflicherweise Zustimmung fanden. Ge- legentlich beruft man sich auf einen Aufsatz von K. Lamprecht. Strabo u. Posi- doniua als Quellen zur deutsch. Gesch. (Ztscbr. d. Bergischen Geschichts Vereins XVI 1880, 181 ff): er ist gänzlich verfehlt.

Norden: Die germanische Urgeschichte 7

98 Kap. FI. Quellenkritisches zur Ethnographie europäischer Völker

Poseidonios: sehen wir einmal zu, wie er ausfiel. Seine Worte sind bei Plutarch in demselben Kapitel des „Marius" erhalten, dem wir bereits oben (S. 67) die Sätze über die ethnische Sonderart der Kim- bern (= Kimmerier) entnahmen. „Andere sagen: was die alten Hel- lenen zuerst von Kimmeriern kennen lernten, sei nicht ein großer Teil des Ganzen gewesen, sondern nur eine flüchtige Partei, die von den Skythen gezwungen wurde, von der Maiotis nach Asien über- zusetzen unter der Führung des Lygdamis. Der größte und streit- barste Teil von ihnen sei am Ende der Welt, längs des äußeren Meeres angesessen; dort bewohne er ein im tiefen Waldesdunkel liegendes Land, das wegen der Dichtigkeit seiner sich einwärts bis an die Herkynien ') erstreckenden Waldgebirge der Sonne kaum Zutritt gewähre. Das Klima, das ihm zuteil geworden, entspreche seiner Lage: der Pol nehme dort wegen der Neigung der Parallelen eine bedeutende Steigung (e£,ccQfia) und stehe nur wenig vom Zenit ab, die Tage, an Kürze und Länge den Nächten gleich2), scheinen mit diesen die Zeit zu teilen. Hierdurch sei auch Homer das Mittel für seine Erfindung in der Nekyia an die Hand gegeben worden." Die astronomische Gelehrsamkeit3), die zudem nicht Eigentum des

1) Dies war die zu Plutarchs Zeit gebräuchliche Namensform. Man wird vermuten dürfen, daß Poseidonios sich über die damals noch schwankende Lau- tierung geäußert habe: zu der hei Caesar genannten Orcynia tritt noch ogi] 'Aqxvviu bei Aristoteles Meteor. A 13. 350b 5.

2) Müllenhoff II 175 vermutet avißai (vvxxsg) statt i'aai, sicher unrichtig: s. die folg. Anmerkung.

3) Die Parallelüberlieferung des Gemmos in den Auszügen aus seiner hißayayfi 61 15 (p. 74 Manitius) ist, soviel ich weiß, in den Untersuchungen über das Verhältnis des Poseidonios zu diesem seinem Exzerptor und Kommentator nicht berücksichtigt worden. Sie ist, zumal sie eine Überlieferung bei Plutarch sichert, bemerkenswert genug, um hier Platz zu finden; ich gebe die Über- setzung von Manitius, führe aber einige Sätze daneben im Original an, um sie mit solchen des Poseidonios bei Plutarch zu vergleichen: „Es gibt ein Land, wt Iches an der äußersten Grenze nach Norden zu liegt (ißxi xig %coga i6%äxT^ TCQog ccqxtov xein^vr}, vgl. Pos. xb db itXeiGxov avx&v . . . in' i6%äxoig oixovv ■JtccQcc xr\v ££o) ddXcc66av), wo der Pol in den Scheitelpunkt kommt (iv y 6 (ihr 7c6log xccxa xoQvcprjv yivsxai, vgl. Pos. Kccd1' o doxsi {isycc Xa^ßävBiv 6 itoXog g^agfLcc) und vom Tierkreise sechs Zeichen über dem Horizonte abgegrenzt werden, während sechs unter dem Horizonte abgetrennt bleiben. Dort wird der längste Tag sechs Monate lang, desgleichen die Nacht (tj \Lsyi6xr\ dh r^isgcc nag avxoig s^aurivicüa yivsxai, o^ioicog 6h y.ul 7j vvl-, vgl. Pos. ai xs ijusgai §Qct%vxrixi xul /i7yxsi ngog

Poseidonios und Caesar 99

Poseidonios, sondern in Fachkreisen seit Eratosthenes und Hippar- chos verbreitet war, wird niemanden über die Unzulänglichkeit des Dargebotenen hinwegtäuschen: die Homerische Verlegenheitshypothese, ebenfalls altes Erbgut, ist mit den desgleichen aus früherer Kunde übernommenen Herkynien zu einem Ganzen verknüpft worden, das, an der Wirklichkeit gemessen, den Eindruck einer gelehrten und ver- kehrten Konstruktion macht. Caesars Kenntnis von dem Inneren Germaniens, über das ihn Kundschafter unterrichteten (c. 10, 4), reichte ja auch nicht weit, aber statt gelehrter Allgemeinheiten weiß er Namen von wirklichen Völkerschaften und einem Waldgebirge (Bacenis) an- zuführen, und fast wie eine Verwahrung gegen das sonnenlose Waldes- dunkel lauten seine Worte: fertilissima Germaniae sunt loca circum Hercyniam silvam (quam Eratosiheni et quibusdam Graecis fama notam esse video), eine Angabe, die durch die bahnbrechenden siedelungs- geschichtlichen Arbeiten der letzten Zeit nur bestätigt worden ist. Caesar war der Mann dazu, wie in grammatische Tagesfragen über lateinische Flexion auch in die ethnographische Forschung selbsttätig einzugreifen, ohne für diese eines literarischen Famulus zu bedürfen, wie Pompeius des Theophanes.

Ergänzung und Widerspruch schließt Benutzung in einzelnem natürlich nicht aus; insbesondere den ethnographischen Stil über- nahm Caesar als gegebene Größe. Die Propositio, mit der er sein Thema einleitet: „Hier dürfte es am Platze sein, einige Hinweise auf Sitten und Gebräuche Galliens und Germaniens sowie auf die Unter- schiede der beiden Völker voneinander zu geben" (quo differant hae

ras vvxzccg l'ßui xarave'fiaetrca xov %qovov Soxovaiv). Aach dieser Gegenden scheint wieder Homer Erwähnung zu tun, wie der Grammatiker Krates be- hauptet, wenn er von den Wohnsitzen der Kimmerier erzählt (i-vd-a 6h Ki^s- qicov usw.: Zitat von X 14 19; vgl. Pos. öib xccl rrjv Evnogiav toü {iv&Evpatog 'OfirjQcp y£ve6&ai, TtQog xr\v vsxviccv). Wenn nämlich der Pol im Scheitelpunkte steht, muß sowohl der Tag als auch die Nacht sechs Monate lang werden." Durch die Worte des Geminos werden die des Poseidonios von den „die Zeit teilenden Tagen und Nächten" gegen den Versuch Müllenhoffs (s. die vorige Anm.l, sie zu ändern, geschützt; Plutarch hat den Bericht verkürzt. Den zitier- ten Worten des Geminos geht voraus 9) eines der ganz seltenen längeren wörtlichen Zitate aus Pytheas über die kurzen Nächte des Nordens, wieder verbunden mit einer „Deutung" von Homerversen (x82ff.) durch Krates, dessen Homerexegese Poseidonios sich auch sonst, freilich ohne ihm blindlings zu folgen, zu eigen machte (E. Maaß, Aratea, Phil. Unters. XII 1892, 199).

100 Kap. II. Quellenkritisches zur Ethnographie europäischer Völker

nationcs inter se, vgl. 21 Germani multum ab hac consuctudinc diffe- runt), stimmt merkwürdig überein mit folgender in der Hippokrati- Bchen Schrift (c. 12): „Ich will jetzt über Asien und Europa reden, inwieweit sie sich voneinander unterscheiden (oxööov die- <p£Qov6iv aXXrfiav), sowohl im ganzen genommen als auch hin- sichtlich der körperlichen Beschaffenheit der Völker, daß sie ab- weicht und sich untereinander ganz und gar nicht ähnlich ist Über alles zu sprechen, würde freilich zu weit führen, nur über das Wichtigste und über die stärksten Unterschiede (ti£qI räv xkeCöxov diuysQÖVTGiv) werde ich meine Ansicht darlegen." Offenbar ist es ein altüberlieferter Gemeinplatz ethnographischer Literatur, die Schilderung der diucpsQovtcc von Ländern und Völkern, den wir bei Caesar wiederfinden.1; Als Vermittler für Caesar kann nur Poseidonios in Betracht kommen, denn dessen Geschichtswerk hat er, mindestens soweit es die Keltike betraf, sicher gelesen2); er konnte aus ihm aber auch beispielsweise über die Kim bernkriege und die letzten Tage des Marius, des Gatten seiner Tante Iulia, so verläßliche Kunde erhalten wie aus keiner schriftlichen Überlieferung sonst. Da nun Poseidonios, wie wir oben (S. 81 f.) sahen, seine Ethnographie der rheinischen Germanen in der Weise gestaltet hat, daß er sie als den Kelten eng verwandt und ihre Bräuche als nur wenig verschieden schilderte, so ist die Folgerung zu ziehen, daß Caesar seine ver- gleichende Ethnographie der beiden Völker, die dazu bestimmt war.

1) Vgl. auch Tacitus selbst Germ. 27 nunc singularum gentium instituta ritusque quatenus differanl . . . expediam. Agr. 24 über Irland: solum caelum- que et ingenia eultusque hominum haud multum a Britannia differunt.

2) Caesars Nachrichten über die Druiden VI 14, 5. 16, 3 f. stimmen mit den entsprechenden bei Strabo IV 197. 198, Diodor V 32, 6. 28, 5 in einer Weise überein, die zugleich die Annahme direkter Zusammenhänge notwendig und die Abhängigkeit der griechischen Schriftsteller von den römischen un- möglich macht, da sie an Einzelheiten reicher sind als dieser. Dann aber bleibt nur die Annahme übrig, daß sie ihr Wissen alle von einer gemeinsamen Quelle bezogen, und diese kann nur das Geschichtswerk des Poseidonios ge- wesen sein. Dies ist wohl zuerst von A. Miller, Strabos Quellen über Gallien und Britannien (1868) erkannt und dann von Müllenhoff II 182. 308 bestätigt worden. Auch Wilamowitz, Griech. Lesebuch II 208 sagt: „Als Caesar den großen Plan faßte, Gallien zu unterwerfen, hat er die Geschichte des Posei- donios mit sich genommen, und seine Schilderung der Gallier ist auf dieser Grundlage entworfen."

Poseidonios und Caesar \Q\

die Darstellung des Poseidonios zu verbessern, in der Form an diese angelehnt hat. Wer die Worte des Poseidonios -Strabo zrj (pvöei xcci xolg 7toXitsviioc6iv ificpSQelg slöi xccl Ovyyevslg aXXtjloig ovtoi (Kelten und Germanen) mit denjenigen vergleicht, mit deuen Caesar seine germanische Ethnographie einleitet Germani multum ab hac consuetudine differunt, wird die Polemik mcht verkennen1), die hier deutlich von der Form gleich auf den Inhalt übergreift. Denn in der Sache geht er als avxÖTttrig seiue eignen Wege: seine gallische Ethnographie zeigt mit der Posidonischen, die wir doch recht genau kennen, wenig Berührungen auf die wörtliche Über- einstimmung der Worte VI 17, 1 deorum maxime Mercurium colunt mit Herodoteischen, die sich am besten durch die Annahme einer Vermittlung von Seiten des Poseidonios erklären läßt, wurde o. S. 53 hingewiesen : das staatliche Leben und militärische Ein- richtungen interessieren ihn mehr als Sittengeschichtliches im engeren Sinne; und Kuriosa, an denen Poseidonios sichtlichen Gefallen fand, hat er ganz ausgeschlossen.

Während sich so Caesar als selbständiger Schüler der hellenischen Forscher erwies, hat seine eigne Entdeckung von der Wesensver- schiedenheit des Kelten- und Germanentums auf die große Masse der nachcaesarischen Schriftsteller in griechischer Sprache einen beschämend geringen Einfluß ausgeübt. Sie fahren fort, Germanien als einen Teil der KhXxiy.r\ zu behandeln, „Kelten" da zu nennen, wo sie von Germanen hätten sprechen müssen2), indem sie sich den

1) Eine analoge Art der Polemik liegt bei Tacitus c. 15 vor: non multum venatibus . . . transigunt; hier ist es Caesar selbst, gegen den so polemisiert wird (VI 21, 3 vita omnis in venationibus . . . consistit). Darüber später Genaueres.

2) Vgl. Dionys. Hai. exe. Ambr. XIV 1, 2 : die KsXtixr) zerfalle in rsg^avia rechts- und TaXaxia linksrheinisch. Hier wird also Germanien, was man an- erkennen muß, wenigstens genannt; andere gehen dem Namen aus dem Wege. Diodor V 25, 4 Kaleag . . . Ttsgccidaßag Ttetv T*iv dvvaiLiv i%BiQm6aro tovg iteQccv xazoixovvrccg avrov (sc. rov ' Prjvov) FaXätcig. 32, 1 raXärcct Grenznachbaru der Skythen am Ozean und Herkynischen Walde. Cassius Dio umgeht in seiner Erzählung der gallischen Feldzüge Caesars den Germanennamen grund- sätzlich, er nennt sie KeXroi (XXXVIII 34. 35. 47), die üsipeten und Tencteren KeXuxcc yivq (XXXIX 47), unterscheidet die links- und rechtsrheinischen Völker als raXärai v.a.1 KsXxoi (XXXVIII 40. XXXIX 48 f.), die ihm üuoioi sind (XXXVIII 46). Erst in einem viel späteren Buche (LIII 12, 6; läßt er

102 Kap. II. Quellenkritisches zur Ethnographie europäischer Völker

ganzen Norden und Westen Europas von Kelten und Skythen be- setzt denken. Was für Hekataios und Herodotos, Ephoros und Aristoteles, Pytheas und Eratosthenes begreiflich war, ist für sie un- entschuldbar, für den wissenschaftlichen Stillstand der Forschung und die überhebliche Nichtachtung der lateinischen Literatur von Seiten der Griechen freilich bezeichnend. Die Polgen des Irrtums sind wahrhaft verhängnisvoll gewesen. Der Glaube an eine Identität von Kelten und Germanen hat nicht bloß die Anfänge der deutschen Geschichtschreibung in den ersten Jahrzehnten des XVI. Jahrh. schwer geschädigt nur Beatus Khenanus bewahrte sich Klarheit des Blicks, indem er in seinen Rerum Germanicarum libri tres (1531) auf Caesars Zeugnis hinwies1) , sondern noch auf die Anfänge der kelti- schen Sprachwissenschaft in der ersten Hälfte des XVIII. Jahrh. seine tiefen Schatten geworfen, die erst Zeuß und seine Schüler B. Chr. Brandis und Chr. Wilh. Glück (beide 1857) zerstreuten, indem auch sie Caesars Licht in diesen Nebel hineinleuchten ließen.

Fassen wir am Schlüsse dieses Abschnittes die Ergebnisse der Untersuchung zusammen. Poseidonios hat bezeugtermaßen im 23 Buche seines Geschichtswerkes eine keltische, im 30. eine germanische Ethno- graphie gegeben. Ob die Berechnungen, wonach das 30. Buch auch die Erzählung der Kimbernkriege enthalten habe, richtig sind, mag dahingestellt bleiben; es mag immerhin als wahrscheinlich bezeichnet werden. Auf keinen Fall darf aber diese Zahlenkongruenz, ihre Richtig- keit vorausgesetzt, dazu verwandt werden, das Germanenfragment dieses Buches auf die Kimbern zu beziehen. Dieser Fehler ist jetzt noch unverzeihlicher als er es früher war. Die Bodenforschung der letzten

sich zu folgenden Worten herab: KsXzäv ydg ztveg, ovg Si] reQiiavovg xccXov- li sv, Tt&accv zrjv TtQog za> 'Prjva KsXzitir]v x<xxao%6vzEg rsQiiccviccv ovouäfcsod'oci ixoir\6av. Die germanische Leibwache nennt er (LX 28, 2), wie auch Josephus Arch. XIX 1, 15, KsXzikov zdyn.cc (vgl. Mommsen, Ges. Sehr. VI 18, 1). Zosimos IL 17, 2 versteht in den Worten: 6 Kavazavzlvog . . . inl KsXzovg xcci FaXä- zccg i^mQtirioev unter den Kelten die Germanen (vgl. Mendelssohns Index, wo andere Stellen derart aus ihm verzeichnet sind). Ioann. Antioch. FHG. IV 601 fr 164 ^gäyxoi zs %aX Hä^oveg, S&rj KeXzixd. 603 f. fr. 169 <&Qccyxovg zs xctl jLXccficcvovg, ol KsXxcov siai ävvazcbzsQOi (comparat. = superlat.). Anon. de phy- siognom. c. 9 (II 14, 15 Foerster) hie Celto id est Germano est simtlis, Celti autem sunt indociles, fortes, feri.

1) Vgl. H. Tiedemann in der oben S. 3, 2 angeführten Dissertation S. 52.

Das Germanentum der Kimbern: Schlußergebnis 103

Jahrzehute hat uns mit überraschender Deutlichkeit erkennen lassen^ daß die keltischen Völkerschaften am rechten Rheinufer, die schon in Bewegung geraten waren, nunmehr in den gewaltigen Strudel der Kimbernüberflutung hineingezogen worden sind, und daß im Zu- sammenhange damit Verschiebungen germanischer Stämme erfolgten.1) Poseidonios, der, wie wir in einem späteren Abschnitte sehen werden, die geographische Linie der Kimbernzüge bis an und über den Rhein nachweislich genau verfolgte, hatte daher durch den Gang der geschichtlichen Ereignisse selbst Veranlassung, in einem und dem- selben Buche über Kimbern und Germanen zu handeln, auch wenn er die Zugehörigkeit jener zu diesen noch nicht erkannt hatte. Daß die Zeit für diese Erkenntnis damals in der Tat noch nicht reif war, wird sich als ein gesichertes Ergebnis obiger Darlegungen be- zeichnen lassen. Die Kimbern, in denen Poseidonios die Homerischen Kimmerier wiederzufinden glaubte, schildert er als unzivilisiertes Wandervolk von ganz absonderlichen Sitten, während er unter den rsQiiavoi einen den Kelten benachbarten, in Lebensart ihnen ver- wandten Volksstamm verstand. Nicht lange nach dem in Sul- lanischer Zeit erfolgten Erscheinen seines Geschichtswerks ist dann aber die Nationalität der Kimbern als eines germanischen Teil- volkes erkannt worden. Diese neue Kunde hat Poseidonios, der etwa im Jahre 51 als 84jähriger starb2), sicher noch erlebt. Ob er sie aber literarisch noch verwertet hat, hängt von der bis jetzt noch nicht sicher geglückten Beantwortung der Frage ab, wie sich die Abfassungszeit seines naturwissenschaftlichen Werkes tceqi axeccvov xai räv xax avröv, wo er gleichfalls auf die Kimbern zu sprechen kam (Strabo II 102. VII 293), zu derjenigen der ' Iötoqlcci verhielt.3)

1) Wir werden darauf in Abschnitten des vierten und sechsten Kapitels einzugehen haben.

2) Ps. Lukian, Macrob. 20. Das Todesjahr steht nicht unbedingt fest Aber da der um 63 oder einige Jahre vorher geborene Strabo in einem bei Athenaeus XIV 657 F erhaltenen Fragment des VII. Buches sagt, er habe den Poseidonios noch gekannt, so wird etwa das Jahr 51, auf das andere Er- wägungen führen, als Todesjahr angenommen werden dürfen. Die sorgsamste Diskussion der Frage bei Zeller, Philos. d. Gr. IIP 572, 3.

3) Die 'Iötoqicci, sind Ende der 80 er Jahre v. Chr. erschienen (s. o. S. 78,2), genauer gesagt: ihr letzter Teil, denn es würde eine Ausnahme von der Regel sein, wollte man annehmen, daß ein Geschichtswerk dieses Umfangs (52 Bücher1

]fJ4 Kap. If. QnellenkritischeB zur Ethnographie europäischer Völker

Das Verdienst, Kelten- und Germanentum als erster geschieden zu haben, gebührt ihm; aber da sein Blick geographisch noch nicht weit genug reichte, so fiel ihm innerhalb der Verschiedenheit mehr das Verwandte als das Getrennte auf. Da sprach Caesar in bewußtem Gegensatze zu ihm das entscheidende Wort. Seine selbsterworbene genaue Erkundung stimmte mit der unlängst gewonnenen richtigen Einsicht in die Ethnologie der Kimbern überein. Durch diese Er- kenntnis gewann nun aber auch die kimbrische Ethnographie des Poseidonios erhöhte Bedeutung: da die Zugehörigkeit der Kimbern zu den Germanen nunmehr feststand, so ließen sich Motive der Posi- donischen Ethnographie des fast vernichteten Teilvolkes für ethno- graphische Darstellungen des in die Unmittelbarkeit geschichtlichen Daseins getretenen Gesamtvolkes verwerten. Auf die Kimbern, die er sich als Nachbarn der Skythen dachte, hatte Poseidonios, wie oben zu zeigen versucht wurde, das Hippokratische Dictum von der ethni- schen Eigenart der Skythen angewandt: nun wurde es auf das Germanen- tum in seiner Gesamtheit übertragen. Hier knüpfen sich die Fäden, die wir oben (S. 70) hatten fallen lassen, von selbst zusammen. Der Name des Schriftstellers, der die Übertragung vollzog und dem Tacitus folgte, wird sich finden lassen. Aber dieser Nachweis muß vorläufig zurückgestellt werden; zuvor gilt es weitere merkwürdige Kongruenzen von Poseidonios mit Tacitus festzustellen.

auf einmal ediert worden sei. Die Abfassungszeit von it. wxtccvov sucht Fr. Schühlein (Unters, über Poseid. n. oix., Diss. Erlang. 1900, 5) mit wahr- scheinlichen Gründen nach 88 und vor 62 zu bestimmen; danach wäre Ab- fassung nach den lörogicci oder gleichzeitig mit deren letzten Teilen mög- lich. Unger a. a. 0. (o. S. 71,2) 245 ff. behauptet mit großer Zuversichtlichkeit, ■x. a>x. falle nach den ' IatOQicu, da Poseidonios die Ozeanküste erst nach 75 (vielleicht nach dem Ende des Sertoriuskrieges 72, spätestens 69 oder 68) be- sucht habe; ich habe seine Beweisführung nicht nachgeprüft, aber die Ab- handlung enthält sonst viele Willkürlichkeiten. Vielleicht wird die von K. Reinhardt vorbereitete Rekonstruktion der Ozeanschrift die Möglichkeiten beschränken. Die Gründe, aus denen Fr. Blass (De Gemino et Posidonio, Prooem. Kiel 1883, 5) die Abfassungszeit des großen meteorologischen Werkes des Poseidonios auf die Zeit zwischen 73 und 67 festzulegen suchte, hat E. Martini (Quaest. Posidonianae, Leipz. Stud. XVII 1896, 387 f.) zu widerlegen versucht, mit zweifelhaftem Erfolge, wie mir scheint; da aber das schwierige Geminosproblem hineinspielt, enthalte ich mich lieber des Urteils.

Das Germanentum der Kimbern: Schlußergebnis 105

III.POSEIDONIOS ÜBER ANTHROPOLOGIE DERNORDVÖLKER

Tacitus fährt, nachdem er seine Zustimmung zu der Ansicht derer erklärt hat, die die Germanen für ein Volk von einziger Eigenart hielten, so fort: „Daher sind auch alle und das in Anbetracht einer so zahlreichen Menschenmasse von einem und demselben Körperschlag: trotzige blaue Augen, rotblondes Haar, mächtiger Wuchs, eine Kraft, die allerdings nur zum stürmenden Augriff ge- schaffen, anhaltender Anstrengung und Arbeit nicht in gleichem Maße gewachsen ist. Am allerwenigsten hat das Klima und der Boden sie gegen Durst und Hitze, wohl aber gegen Frost und Hunger gestählt." Derjenige Gewährsmann, dem Tacitus hier folgt die Worte gehören noch zu dem Referate, das diese ganzen Ka- pitel durchzieht, und sind mit den vorangehenden daher auch durch die Partikel unde eng verknüpft , hat den Begriff der „Rasse" mit bemerkenswerter Klarheit erfaßt. Haarfarbe, Statur, Einfluß der Klima- und Bodenbeschaffenheit1) der „Umwelt", wie das heutzutage mit einem den alten Physikern nachgebildeten Kunstausdruck (tö 3tSQie%ov) genannt zu werden pflegt gehören auch bei den modernen Rasse- theoretikern zu den wichtigsten Unterscheidungsmerkmalen. Der- gleichen ist nun aber in der ethnographischen Literatur des Alter- tums eine große Seltenheit. Einzelheiten, wie Haar- oder Hautfarbe, Größe oder Kleinheit der Körper, ja sogar Makrokephalie2), dieses

1) Der Hinweis darauf begegnet auch in dem zweiten, speziellen Teile der Schrift, c. 29 von den Mattiaci, sie seien similes Bdtavis, nisi quod ipso udhuc terrae suae solo et caelo acrius animantur. Zu diesen Worten zitiert schon Gudeman die meisten der im folgenden benutzten Textstellen und verwertet sie in der Einl. S. 33 richtig für die Quellenfrage.

2) Unter dem vielen Erstaunlichen, durch das der Verfasser der Hippokra- tischen Schrift moderne Problemstellungen vorwegnimmt, ist vielleicht das Er- staunlichste das, was er c. 14 über die Makrokephalie eines Skythenstammes vorträgt. Dieser Stamm erziele durch Zusammenschnüren des Kinderkopfes eine künstliche Verlängerung des Schädels. Jetzt sei dieser Brauch (vd/ios) zwar abgekommen, aber infolge der auf dem männlichen Sperma beruhenden Here- dität sei der einstige Brauch jetzt zu einer Konstante der Natur (cpvais) ge- worden. Dies ist eine Vorahnung des biologischen Problems und innerhalb des- selben der viel diskutierten Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaf- ten. Darüber hat kürzlich in gemeinverständlicher Form gehandelt J. Ortb, Das biologische Problem in Goethes Wahlverwandtschaften (Sitzungsber. d. Berl

JOß Kap. II. Quellenkritisches zur Ktlinographie europäischer Völker

von Anthropologen Virchowscher Schule oft verwendete Rassen- kriterium, ferner Einfluß des Klimas auf Tier- und Pflanzenwelt sind freilich frühzeitig beobachtet worden, aber die Vereinigung des einzelnen zum Zweck einer Bestimmung von Rasseindividualitäten konnte nur vorgeschrittenem naturwissenschaftlichen Denken gelingen. In der Tat ermöglicht uns eine Stelle des Vitruvius, diese Erwägung zu bestätigen. Jm VI. Buche will er über die durch den Bauplatz bedingte Bauart handeln und holt zu dem Zweck im 1. Kapitel weit aus. Es sei zu berücksichtigen, in welcher Weltgegend und in wel- chem Zonenstriche der Bau stattfinden solle, denn die Bahn der Sonne bedinge auf der Erde die klimatischen Verhältnisse, diese den Häuserbau. An diese Gedankenreihe fügt er eine recht ausführliche Erörterung über die Menschenrassen. In ihr entwirft er von den nordischen Völkern folgendes Bild 3): „Die unter nördlichen Himmelsstrichen aufwachsenden Völker zeigen in ihrer äußeren Er- scheinung mächtigen Körperbau, helle Hautfärbung, geradestehendes rotes Haar, blaugraue Augen, große Blutfülle infolge der Feuchtig- keitsmenge und der atmosphärischen Abkühlungen" (quae sub septen- trionibus nutriuntur gentes immanibus corporibus, candidis coloribus. derecto capillo et rufo, oculis caesis, sanguine multo ab umoris plenitate caelique refrigerationibus sunt conformati), worauf der Gegensatz der Südländer folgt 4).1) Diese Betrachtungen haben begreiflicherweise die Aufmerksamkeit der Anthropologen auf sich gezogen. Aber auch hier erleben wir wieder wie bei Strabo: s. o. S. 64 das Schau- spiel, daß von der modernen Wissenschaft ein Geringer mit Lorbeeren geschmückt wird, die einem Großen gebühren. „Am schärfsten findet sich diese Lehre (nämlich daß unter gleichen Breitengraden die Haut- farben der Menschen sich entsprechen) bei Vitruv ausgedrückt, der uns zugleich eiuen Beleg bietet, daß die Alten für entscheidende Rassenmerkmale einen scharfen Blick besaßen" schreibt 0. Peschel in seiner Geschichte der Erdkunde2 (Münch. 1877) 73. Dem Philologen ist es ein leichtes, die Ahnenreihe nachzuweisen, an deren Ende

Ak. 1916, 1198ff.); die Stelle der Hippokratischen Schrift ist ihm, obwohl er auch die antike Medizin herangezogen hat, dabei entgangen.

1) Qui autem sunt proximi ad axem meridianum subiectique solis cursui. brevioribus corporibus, eolore fusco, crispo capillo, oculis nigris, sanguine exiguo solis impeiu perficiuntur.

Poseidonios' Rassentheorie 107

I der biedere Banause Vitruvius steht. Solcher noch durch die hölzerne Verkleidung hindurchschimmernder Glanz des Stils er zeigt sich in den zitierten Worten weniger als in deren Umgebung im Verein mit so geartetem und so umfassendem Wissen würde auf Poseido- nios schließen lassen, auch wenn nicht die oben (S. 65,1) genannten Gelehrten aus sachlichen Gründen seine Autorschaft für diese völker- physiognomischen Darlegungen des Vitruvius unwiderlegbar erwiesen hätten. Poseidonios, der ^QiörorsM^av , stand auch hier auf den Schultern des Aristoteles, dessen Andeutungen, die sich ihrerseits wieder an die Hippokratische Schrift anlehnten, er ausgeführt hat,1) aber mit Verwertung von Beobachtungsmaterial für den europäischen Norden; dieser war dem Gesichtskreise des Aristoteles noch ziemlich entrückt doch erwähnt er in der Ethik und Politik einige Male die Kelten , so daß für ihn der alte Gegensatz von Westen und Osten die Unterscheidungslinie bildete.

Im weiteren Verlaufe seiner Darlegungen (§5 7) bringt Vitruvius gelehrte und feine Betrachtungen über die Gründe der Klangunter- schiede in den Stimmen der Völker des Erdkreises. Er verwendet Kunstausdrücke der Astronomen, wie öqC^cov, tQCycovov, e%ccQ(ice (scansio)*), und vergleicht die Welt mit einem Organum, quam eapßvxrjv Graeci dicunt-, die Tonleiter (diagramma musicum) dieser Weltenharfe durch- läuft in vollkommenem Zusammenklange (consonantissime, ev^rpavla

1) Die wichtigste der oben (S. 65,3) nnr nach ihren Fundorten genannten Stellen ist die des Galenos (de plac. Hippocr. et Plat. V 5 p. 442 J. Müller = vol. V p. 464 Kühn), weil in ihr, wie in einer Strabonischen, der Name des Poseido- nios für diese Lehre ausdrücklich genannt ist. Die Worte des Galenos lauten: „Poseidonios sagt: 'je nach den Landstrichen unterscheiden sich die Menschen beträchtlich in ihren Naturanlagen hinsichtlich Feigheit und Mut oder Nei- gung zur Lust und zur Arbeit; denn die seelischen Bewegungstriebe folgen stets der körperlichen Veranlagung, und diese erleidet infolge der atmosphäri- schen Mischung nicht unerhebliche Änderungen' . . , Über dergleichen hat Ari- stoteles ausführlich gehandelt." Die Hauptstelle dieser Art aus Aristoteles ist Pol.U7. 1327b 23: „Die in den kalten Gegenden und in Europa lebenden Völkerschaften sind mutvoll, aber in Denkvermögen und Kunstübung verhält- nismäßig rückständig . . . Dagegen sind die Asiaten denkerisch und kunstfertig, aber mutlos . . . Die Hellenen haben entsprechend ihrer Lage in der Mitte an beidem Anteil."

2) Dieses Wort begegnete uns schon oben (S. 98,3) in einem Zitat des Plutarch aus Poseidonios.

108 Kap. li. Quelleukritisches znr Ethnographie europäischer Völker

ölcc TtaöSiv) die Akkorde, in denen sich hohe und tiefe Töne durch ein Naturgesetz (a natura rerum) je nach der Kür/.e oder der Länge der Saiten zu einer Harmonie vereinigen. Daß dies nur Poseidonios sein kann, bedarf keines Beweises: „Die Musik bringt durch Mischung hoher und tiefer, langer und kurzer Töne mittels verschiedener Stimmen eine einzige vollendete Harmonie zustande" heißt es in der Schrift von der Welt c. 5 i.A.; „Dies ist der Ton, der in ungleichen Intervallen . . . das Hohe mit dem Tiefen ausgleicht und so in gleichförmigem Gange abwechselnde Harmonien zustande bringt: denn so gewaltige Bewegungen können sich nicht tonlos vollziehen, und nach einem Naturgesetze geben die Extreme auf der einen Seite einen tiefen, auf der anderen einen hohen Ton" in Ciceros Sorn- nium 18. Die Harfe kannte er aus seiner syrischen Heimat. Den hohen und tiefen Tönen der Weltmusik entsprechen, so geht es bei Vitruvius weiter, die Stimmlagen der Völker je nach ihrer geogra- phischen Lage: „Die dem Südpole zunächst wohnenden bringen wegen der geringen Höhe zum Weltenraum nur einen schwachen und sehr hohen Stimmton hervor, wie auf dem Instrumente die dem Winkel nächste Saite. Die der Reihe nach folgenden übrigen Völker bis Mittelgriechenland stellen mit ihren Stimmen eine absteigende Tonleiter dar. Desgleichen von der Mitte bis zum äußersten Norden regelmäßig sich verstärkend, nehmen unter den höchsten Himmels- strichen die Stimmen der Völker naturgemäß eine tiefere Tonlage an." Dies ist ein Versuch des Stoikers, aus den Erscheinungsformen des Logos im Universum den f verlautbaren' Logos der Individuen, speziell die stimmliche Klangfarbe abzuleiten. Schon in der Hippo- kratischen Schrift wird über die je nach dem Klima verschiedene Stimmlage der Völker gehandelt, die sich danach in Xa^ntQÖgxovot. und ßccQvcpavoL gliedern (c. 5. 6). Dies also ist es, das nun Posei- donios ausführte, aber mit astronomischer Gelehrsamkeit, indem er das „Klima" als den Neigungswinkel, unter dem die Sonnenstrahlen auf die Erdoberfläche fallen, auffaßt: die Südvölker haben per solis temperaturam eine hellere Stimme als die des Nordens, deren Stimme durch die Feuchtigkeit der Atmosphäre auf einen tieferen Ton hinuntergetrieben sei.

Dieses Ergebnis seiner Untersuchung erhärtet er dann 8) durch ein physikalisches Experiment. „Die Richtigkeit des Nach-

Poseidonios' Rassentheorie 109

weises, daß durch die von Natur feuchten Gegenden tiefere, durch die heißen höhere Töne erstehen, kann man an folgendem Versuche wahrnehmen. Man nehme zwei Becher, die man in einem und dem- selben Ofen gleichmäßig erhitzt hat, und die an Gewicht gleich sind und beim Anklingen denselben Ton von sich geben. Von diesen tauche man einen in Wasser, nehme ihn darauf wieder heraus und berühre dann beide. Das Ergebnis wird eine erhebliche Klang- differenz sein, auch werden sie nicht mehr gleich an Gewicht sein können.1) So bringt auch bei den Menschen, deren Körper einer und derselben Bildungsweise und einer auf der ganzen Welt gleichen Verbindung ihr Entstehen verdanken, hier die Hitze der Gegend bei der Berührung des Hauches mit der Luft eine hohe Stimmlage zuwege2), während sie dort wegen des Übermaßes an Feuchtigkeit Laute in sehr tiefen Tonlagen von sich geben."3)

1) Über die Vorliebe des Poseidonios für physikalische Experimente vgl. die instruktive Darlegung Rudbergs a. a. 0. (o. S. 67,2) 248 ff; die Vitruvius- stelle ebd. 219. Poseidonios zeigte sich auch darin als gelehriger Schüler des Peripatos: Straton war, wie Diels zeigte (Sitzungsber. d. Berl. Ak. 1893) der Begründer der Experimentalphysik.

2) Überliefert ist: propter regionis ardorem acutum spiritum aeris exprimuid taetu. Das letzte Wort macht Schwierigkeiten, aber seine Änderung in acutum (F. Krohn in der Ausg. 1912) ist abzulehnen, da in der Beschreibung des Ex" periments das Verbura tangantur gebraucht ist. Es ist wohl zu verstehen tactn sc. aeris (das 7tvsv{icc ist ja für den Stoiker etwas Körperliches), für tactus vgl. Cic. de nat. d. II 40 (Zitat aus Kleanthes; Poseidonios it. &eüv scheint als Ver- mittler gesichert) is eins (s.olis) tactus est, vgl. de div. II 97 (Zitat aus Panaitios) lunae tactus.

3) Über dieses Experiment teilt mir mein Kollege H. Rubens folgendes mit: „Das Experiment des antiken Kollegen ist nicht deutlich genug beschrieben, um ein unzweideuiiges Urteil zu ermöglichen. Es ist bekannt, daß die Ton- höhe einer Glocke oder eines anderen Gefäßes ein wenig von der Temperatur abhängt, und zwar wird der Ton mit steigender Temperatur im allgemeinen tiefer. Ferner klingt der Ton um so schneller ab, je höher die Temperatur ist. Wenn beide Becher nach dem Entfernen aus dem Ofen noch heiß waren und der eine dann durch Abspülen mit Wasser abgekühlt worden ist, so kann wohl eine kleine Tondifferenz vorhanden gewesen sein. Ferner könnte durch plötzliche Abkühlung eine Veränderung der elastischen Eigenschaften des Materials eingetreten sein, wie man sie u. a. beim Härten des Stahls durch „Abschrecken" beobachtet. Eine solche Änderung der elastischen Eigenschaften hat auf die Tonhöhe einen merklichen Einfluß. An eine Änderung des Ge- wichts vermag ich nur unter der Voraussetzung zu glauben, daß die Becher

HO Kap. II. Quellenkritisches zur Ethnographie europäischer Völker

Der Körperbeschaffenheit entspreche so wird § 9 fortgefahren die geistige Veranlagung der unter verschiedenen Himmelsstrichen wohnenden Völker: „Die von der Dicke der Atmosphäre beeinflußten Völker sind infolge der Feuchtigkeit der ihnen vorgelagerten Luft- schicht stumpfsinnig . . . .') Während nun die südlichen Völker- schaften sehr scharfsinnig und in Ausführung ihrer Pläne überaus anstellig sind, ziehen sie, sobald es auf Tapferkeit ankommt, den kürzeren, weil ihnen die Betätigung des Mutes von der Sonne aus- gesogen ist. Dagegen sind die Bewohner kühler Gegenden zur Heftigkeit des Kampfes infolge ihrer großen Tapferkeit und Furcht- losigkeit geneigter; aber da sie bei ihrer geistigen Langsamkeit ohne Überlegung, ohne Anstelligkeit anstürmen, so stehen sie ihren eignen Plänen im Wege" (septentrionales autem gentes infusae crassitudine caeli propter obstantiam aeris umore refrigeratae stupentes habent mentes . . . Cum sint autem meridianae nationes animis acutissimis infinitaque sollertia consiliorum, simul ut ad fortitudinem ingrediunturr ibi succumbunt, quod habent exsuctas ab sole animorum virtutes; qui oero refrigeratis nascuntur regionibus, ad armorum vehementiam para- tiores sunt magnis virtutibics sine timore, sed tarditate animi sine considerantia inruentes sine sollertia suis consiliis refragantur). Wer könnte in dieser Schilderung des planlosen Kampfesungestüms der Nordländer nicht die Taciteische „Körperkraft der Germanen, die nur zum stürmenden Angriff geschaffen ist" (corpora tantum ad impetum oalida c. 4) wiederfinden? Hier freilich bildet nicht die geistige Minderwertigkeit den Gegensatz. Auf sie kommt der Schriftsteller

aus porösem Material bestanden und sich in den Poren des einen Wasser an- gesammelt hat. Im übrigen sei darauf verwiesen, daß bei Wägung verschieden heißer Körper der heißere deshalb bisweilen leichter erscheint, weil er eine stärkere aufwärts gerichtete Luftströmung in seiner Umgebung hervorruft, welche die Wagschale in die Höhe treibt. Das hat aber natürlich nichts mit dem wahren Gewicht des Körpers zu tun."

1) Die weggelassenen Worte enthalten ein Gleichnis aus dem Tierleben, das hier, da es für Poseidonios' Art charakteristisch ist, Platz finden möge: „Daß sich dieses so verhält, kann man an den Schlangen ersehen. Wenn ihnen durch die Wärme die erkältende* Feuchtigkeit ausgesogen ist, bewegen sie sich am heftigsten, zur Zeit der Wintersonnenwende aber und im Winter liegen sie, infolge der Veränderung des Klimas abgekühlt, in regungsloser Stumpfheit da. Begreiflicherweise schärft daher die warme Luft die menschliche Denkkraft, während die abgekühlte sie verlangsamt."

Poseidonios' Rassentheorie \\\

erst weiterhin zu sprechen. „Ein Volk ohne Arglist und Ver- schlagenheit" (gens non astuta nee callida c. 22) werden die Germanen insgesamt genannt: während durch die Wahl dieser Worte mehr die ethische Seite des Intellekts betont wird, kommt die dianoetische zum Ausdruck in dem, was er von dem Stamm der Chatti, dem vergleichsweise aufgewecktesten des Gesamtvolks- sagt: „für Germanen ist ihre Berechnung und Anstelligkeit beträchtlich" (multum, ut inter Germanos, rationis ac sollertiae c. 30), was dann gerade durch ihre verhältnismäßig umsichtigen taktischen und strategischen Maß- nahmen beleuchtet wird, darunter „das Hinausschieben des Stürmens" (differre Impetus). Die Grund Vorstellung ist, wie man sieht, die gleiche wie bei Poseidonios -Vitruvius. In den Worten des c. 4 der Germania ist der Gegensatz ein anderer: zur Kraftentfaltung der Körper beim ersten Ansturm steht ihre Fähigkeit, Strapazen und harte Arbeit auszuhalten, in keinem Verhältnis, laboris atque operum non eadem patientia. Diese Worte kennen wir bereits: sie finden, wie wir sahen (o. S. 54), ihre genaue Entsprechung in dem, was in der Schrift des Hippokrateers von den Skythen am Phasis aus- gesagt wird: „um Mühsal auszuhalten, dazu ist ihr Körper zu arbeits- unlustig" (tfpös xakavxcoQElv xb Gäpa ccQyötSQOi nsqivxaGLV c. 15). Dies alles schließt sich zu einer Folgerung zusammen. Für Vitru- vius ist Poseidonios als Gewährsmann gesichert, Kenntnis und Be- nutzung der Hippokratischen Schrift von seiten des Poseidonios ist gewährleistet. Also müssen Übereinstimmungen der Taciteischen Germania mit Vitruvius und dem Hippokrateer auf Poseidonios zurückgehen, dessen naturwissenschaftliche Forschung mit der ge- schichtlichen dauernd in einer sich gegenseitig befruchtenden Wechsel- wirkung gestanden hat. Der Vermittler zwischen Poseidonios und Vitruvius kann nur Varro gewesen sein.1)

1) Den Schluß der langen Exposition bilden laudes Itahae 11), als des- jenigen Landes, in welchem die klimatischen Gegensätze des Nordens und Südens ihren Ausgleich fänden. Das weist auf eine römische Mittelquelle. Varro ist für Vitruvius, wo dieser die Grenzen seines Handwerkes überschreitet, stets prä- judiziert (das vermutlich letzte Buch der Disciplinae, das De architectura han- delte, zitiert er selbst VII praef. 14). Hier ist diese Annahme um so gesicherter, als Varro selbst nicht bloß in den res rust. I 2 ein kleines Kukoinion auf Italien angebracht hat, sondern ein größeres im XL Buche der Antiquitäten humanar stand (P. Mirsch, Leipz. Stud. V 1882, 34 f. 114), auf dem die berühmten, uns

112 Kap. IL Quellenkritisches zur Ethnographie europäischer Völker

Den von Vitruvius gebrauchten allgemeinen Begriff „Nordvölker'' können wir enger begrenzen durch eine von Fr. Boll1) auf Posei- donios zurückgeführte Stelle aus der Tetrabiblos des Ptolemaios (II 1). Seine Worte lassen sich als die griechische Vorlage der Berichte des Vitruvius und teilweise auch des Tacitus bezeichnen: „Sie sind" sagt er von den Skythen ;,von weißer Hautfarbe, straffen) Haarwuchse, großem und kräftigem Körperbau, ziemlich kalter Blut- mischung, wilder Gemütsart, da der Frost sie veranlaßt, in dicht

bei Vergil, Dionysios Hai., Plinius, Ailianos erhaltenen beruhen (J. Geffcken, Herrn. XXVII 1892, 381 fi., wo die Vitruviusstelle nachzutragen ist). Die caeli temperatura (eeegos svkqccclo) fehlt bei keinem der Genannten, für Vitruvius ist sie die Hauptsache. Durch das Register griechischer Autoren VIII 3, 27 ex Ms autem rebus sunt nonnulla quae ego per me perspexi, cetera in libris graeci* inveni, quorum scriptorum hi sunt auetores: Theophrastos Timaeus Posidonios Hegesias Herodotus Aristides Metrodorus wird sich niemand imponieren lassen. der bedenkt, daß auch Varro an solchen gelehrten Parademärschen Gefallen fand. Im Prooemium zu Buch VII 11 ff. bringt Vitruvius mehrere solcher Kata- loge hintereinander, und da fällt am Schluß VaiTOs Name, aus dem er sie ab- geschrieben hat, wie denn auch Varro seinerseits sie aus griechischen Quellen - Schriftstellern abschrieb: dergleichen ging ja von Hand zu Hand, wie auch in der Spätzeit Hieronymus (de vir. ill.) den Katalog der griechischen Schriftsteller cde viris illustribus1 aus Suetonius, den der griechischen 'de consolatione' aus Ciceros Trostschrift abgeschrieben hat. Das Kapitel Varro. und Vitruvius harrt noch einer wirklich eindringenden Untersuchung, in der dann Poseidonios als Varros unmittelbare Quelle einen wichtigen Platz einnehmen wird. C.Watzinger, Vitruvstndien (Rh. Mus. LX1V 1909, 202 ff.) hat aus den Einleitungskapiteln des I. Buches des Vitruvius für Poseidonios Wichtiges ermittelt, auf Varro als Vermittler aber nur beiläufig hingedeutet. Dagegen spielt Varro eine wichtige Rolle in dem ergebnisreichen Aufsatze G. Kaibels über Antike Windrosen, Hermes XX (1885) 579 ff. Die dort für das Vitruviuskapitel I 6 gezogene Linie: Aristo- teles (Meteorol.) Poseidonios (Meteorol.) Varro Vitruvius läuft der in meinen Darlegungen nachgewiesenen parallel. Den eigenartigen Irrtum Kaibels, der Poseidonios von Varro abhängen läßt eine Annahme, die ihm selbst 60 unglaubhaft wie nur möglich erschien , wird man leicht beseitigen können: er beruht auf der fälschlichen, inzwischen von E. Oder, Philol. Suppl. VII (1899" 364 zurückgewiesenen Identifikation der 'Ephemeris navalis' Varros mit seiner sOra maritima', die auch als'Libri navales' zitiert werden. Vielfältiger Nach- prüfung scheint mir bedürftig W. Poppe, Vitruvs Quellen im II. Buche, Diss. Kiel 1909: Plinius muß, da er laut seinen Autorenregistern den Vitruvius selbst benutzte, zur Rekonstruktion Varros mit größerer Vorsicht benutzt werden, als es der Verf. tut.

1) In der oben S. 65,1 genannten Abhandlung S. 190.

Poseidonios' Rassentheorie 113

schließenden Behausungen zu wohnen (?)... Wir nennen sie insge- samt Skythen" (Xsvxol xe iqüixuxu sißi xal xsxuvoi1) tag XQl%ag xal 6(bp.uxa [lEydloi xs xal evxQccq;£ig xolg nsys&söi xal vitöipvxQoc xäg cpvösig, äyQioi de xal ccvxoi r^&söi diä xr\v vitb xov xgvovg 6vve%£iav x&v olxi]6eav~) . . . xalovixev de xovxovg &>g kitlnuv

1) D. h. „straff-', „gespannt" (von xslvco). Bei Vitruvius entspricht derecto eapillo (so die älteste Hs. des IX. Jahrh., directo die jüngeren; es kommt ja bei dem fast konstanten Schwanken dieser Schreibungen nicht viel darauf an, aber in der neuesten Ausgabe hätte das Richtige doch nicht durch das Falsche aus dem Texte verdrängt werden sollen, da die Konfusion für die Augusteische Zeit sicher noch nicht gilt). Was darunter verstanden ist, zeigt der Gegensatz § 4 (von den Südländern): crispo eapillo \ovX6xQt,%sg Poseidonios o. S. 5,3). Dem Index der Foersterschen Physiognomiker entnehme ich: Anonymus de physio- gnomia c. 73 (II 92, 4 F.): De capillorum varietate haec superius quidem discretio facta est. quod crispi timidum < stendant, quod directi ferum. Das Wort xsxavö&Qii;, das schon Piaton in einer physiognomischen Beschreibung hat (Euthyphr. 2B sC xtva vä> £%£i? Ilix&sa MiXr\xov, olov x£xav6xoi%a xal ov itävv svyivsiov, inLyQVTtov ds), findet sich dann auch bei den zünftigen Physiognomikern. Diese Schriftsteller bieten ja überhaupt viel interessantes ethnologisches Material, das leicht übersehen wird, obwohl es jetzt dank der Foersterschen Indices be- quem zu finden ist. Von den Germanen heißt es bei jenem Anonymus an der früheren Stelle, auf die er an der zitierten zurückverweist (c. 14, II 23, 10): capilli flavi et crassi et albidiores indociles et indomitos mores testantur. referun- tur autem ad gentem Germanorum. Die Skythen finden sich, was für die vorliegende Untersuchung bemerkenswert ist, mit den Kelten vereinigt bei Adamantios phys. II 37 (I 393, 4) usXaiva x6ar\ StiXLav xal ■JtoXv/.iQSsiav äyyiXXsi, 7j 6h ayav £avQr) xal v7töXsvxog, onoia Zxv&obv xal KsXxäv, a^.ad'lav xal 6%aioxr\xa xal ayQioxnxa. Kelten und Germanen: Anonym, c. 9 (II 14, 5) hie Celto id est Germano est similis, Celti autem sunt indociles fortes feri. Ger- manen und Skythen: Tertullianus in einer physiognomischen Stelle der Schrift de anima c. 25 (von Foerster II 332 angeführt).

2) Die Ausdrucksweise ist sonderbar; wenn die Überlieferung nicht ver- dorben ist, so hat er wohl seine Vorlage verkürzt (£vvs%7] oixrjuaxa Thukyd. III 21 ist jedenfalls anders). Sachlich entfernt vergleichbar ist Tac. c. 16 solcnt et subterraneos specus aperire eosque multo insuper fimo onerant, suflugium hietnis . . ., quia rigorem frigorum eins modi loci mollirent. Dem Häuserbau hat, wie ältere Ethnographen, auch Poseidonios als einem wichtigen kultur- geschichtlichen Faktor seine besondere Aufmerksamkeit zugewendet, wie die interessante, durch Varros Vermittlung auf ihn zurückgehende Darlegung über die Anfänge der Kultur bei Vitruvius II 1 in Verbindung mit Seneca ep. 90, wo Poseidonios zitiert wird, erkennen läßt. Vgl. E. Oder a. a. 0. (o. S. 65,1) 366 f.

Norden: Die gor manische Urgeschichte g

114 Kap. II. Quellenkritisches zur Ethnographie europäischer Völker

2Jxvfrccg). Auch der Astronom Kleomedes (wohl ein ungefährer Zeitgenosse des Ptolemaios), dessen Abhängigkeit von Poseidonios feststeht, nennt in gleichem Gedankengang die Skythen (de motu circulari II 1 p. 154, 27). Genauer als diese beiden, die nur von den Skythen sprechen, ist wieder Galenos, der „Kelten und Germanen und den ganzen Stamm der Thraker und der Skythen" nennt (de temper. II 6, I p. 627 K.).1) Im besonderen über die Kelten findet sich ferner eine bemerkenswerte Stelle bei Strabo. Er beginnt seine mit Sicherheit dem Poseidonios entlehnte Schilderung des keltischen Nationalcharakters mit den Worten (IV 195): „Das Volk in seiner Gesamtheit ist kriegswütig, zorngemut, rasch zum Kampf im übrigen einfach und nicht bösartig. Deswegen gehen sie, wenn sie gereizt werden, in geschlossener Masse in die Schlacht, aber so offenkundig und ohne Überlegung, daß sie eine leichte Beute derer werden, die sich entschließen, die Mittel der Strategie gegen sie anzuwenden, denn . . . außer Gewalt und Wagemut besitzen sie keinen Beistand." Da haben wir wieder die corpora tantum ad impetum valida (vgl. Strabo tayv tiqos iid%r]v. %X^v ßCccg aal TÖXpirjg ovdsv s^ovteg Gvvayavit.dyiEvov), den Mangel an Über- legung (Vitruvius: sine considerantia inruentes, sine sollertia suis con- silüs refragantur, Tacitus: Mangel an sollertia, Strabo: (pavEQäg xcel ov [lata TCEQiöxsrjjscog), und der germanischen gens non astuta nee callida entspricht das keltische cpvXov änXovv xal ov xaxörj&eg.-) Bei Seneca de ira II 15 werden Germanen und Skythen als Typen der zornmütigsten Völkerschaften genannt; er schließt die Darlegung, die auch ihrerseits mit Sicherheit auf Poseidonios zurückgeführt wor- den ist3), mit folgenden charakteristischen Worten: in f rigor a septem-

1) Auf diese Stelle bin ich durch Foerster a. a. 0. (S. 113,1) II 289 auf- merksam geworden.

2) Nur anmerkungsweise sei auf Appian, Kelt. 1, 3 hingewiesen, wo allerlei Ahnliches von den Germanen Ariovists gesagt wird, u. a. auch, daß es ihnen zwar nicht an ÖQfirj (Impetus), wohl aber an cpsQSTtovLa. (laboris atque operum patientia) gefehlt habe. Es liegt deutlich eine Übertragung von Keltischem auf Germanisches (s. o. S. lOtf.) vor Augen, denn sogar ftuvatov xatcupQovriTal dt' ilxiSoc avaßiäßsas werden diese Germanen genannt (Poseidonios bei Dio- dor V 28 sagt Analoges von den Kelten).

3) Von P. Rabbow, Antike Schriften über Seelenheilung u. Seelenleitung I (Leipz. 1914) 52 if.

Poseidonios' Rassentheorie 215

trionemque vergentibus inmansueta ingenia sunt, ut ait poeta, 'suoque simillima caelo'.1)

Als Ergebnis darf hingestellt werden, daß der gesamte Inhalt des vierten Taciteischen Kapitels, an dessen Anfang das Dictum von der gens tantum sui simüis steht, womit durch unde die physiologische Beschreibung verknüpft ist, bis auf zahlreiche Worte hinein der an- thropologischen Gedankenwelt des Poseidonios entstammt; und zwar ist die Darstellung, die dieser von den beiden längst in Sehweite ge- langten Nordvölkern der Skythen und Kelten gegeben hatte, auf das zwischen diesen beiden wohnende dritte, die Germanen, über- tragen worden.

IV. SCHILDGESANG

Als im Jahre 1846 der englische Gelehrte William John Thoms den Begriff Folk-Lore prägte, der rasch eine internationale Verbreitung gewann2), bezeichnete er als seinen Inhalt Sitten und Herkommen, abergläubische Gebräuche, Lieder, Reime, Sprichwörter, Rätsel, Sagen und Märchen. Des Zusammenhanges mit Jacob Grimm war er sich bewußt und versäumte nicht, ihn seinen Landsleuten als Vorbild hinzustellen. Doch vergaß er der Vorgänger dieser Wissenschaft von den „Volksüberlieferungen" im Altertum. Die iN/b^ui^a-Literatur ist an keiner der genannten Äußerungen der Volksseele vorüber- gegangen, selbst die „Reime" einbegriffen, die im Italischen eine seit Varro (r. r. 12, 27) vielfach beachtete Rolle in superstitiöser Volks- heilkunde spielten. Bereits Herodot verwertete, wie wir sahen (S. 48 f.), in dem Skythischen Logos einheimische Lieder, und dieser guten Gepflogenheit verdanken wir es, daß eine solche Kostbarkeit wie die Kunde von den carmina antiqua auf Tuisto und Mannus in die Literatur hinübergeleitet wurde. Denn das Interesse an diesen Dingen

1) Der Vers lautete, wie Bentley erkannte (vgl. E. Hedicke, Studia Bentleiana, II: Seneca Bentleianus, Progr. Freienwalde 1899, 3): ingenia inman- sueta s. s. c. Man denkt unwillkürlich an Albinovanus Pedo, den Seneca der Sohn noch persönlich kannte (ep. 122, 15), und dessen Verse über die Nordsee- fahrt des Grermanicus vom Jahre 16 Seneca der Vater (suas. 1, 14) zitiert; er kannte die Friesen aus eigner Anschauung (Tac. ann. I 60). Der Anklang der ersten Vershälfte an Ovid met. XV 86 at quibus ingenium est inmansuetumque ferumque würde Pedo, dem Freunde Ovids (ex Pont. IV 10. 16, 6), gut anstehei .

2) Vgl. den beachtenswerten Aufsatz 'Folklore' von Gr. Kossinna in der '/.. d. Vereins f. Volkskunde II (189R) 188 ff.

8-

U6 Kap. II. ijuellenkritischea zur Ethnographie europäischer Völker

war seit der ionischen Zeit nie erloschen. Aristoteles glaubte in den Sprichwörtern „Überbleibsel alter, in großen Vertilgungen des Men- schengeschlechts untergegangener geschichtlicher Kunde, die wegen ihrer handlichen Kürze sich erhalten hätten" (fr. 13 Rose) zu erkennen und hat sein Augenmerk auf Äußerungen der Volksseele in Sprich- wort und Gesang gerichtet, die uns noch in den Resten seiner Politik« und 'Barbarenbräuche' in ziemlich beträchtlichen Proben und oft erfrischender Natürlichkeit vorliegen1); bei Gelegenheit werden wir auch ein von ihm überliefertes und in volkstümlichem Tone nach- erzähltes Märchen kennen lernen (Anhang II). Ein Alexander- historiker, wahrscheinlich Kleitarchos, hat in einem Exkurse über indische Ethnographie ein „Lied" erwähnt.2) Agatharchides, der mitten in dieser peripatetischen Tradition stand, hat (um 130) in seiner glänzenden Beschreibung der Ichthyophagen am Roten Meer, eines in primitivsten Daseinsverhältnissen vegetierenden Naturvolkes, nicht ihres „unartikulierten Gesanges" vergessen (c. 37). Poseidonios behielt auch diese gute Gepflogenheit der Forschung3) bei: aus dem Consensus der „Stimmen der Völker in Liedern" mochte der zur Mystik neigende Stoiker einen Ton der alle Menschen verbindenden Symphonie des Universums zu erlauschen glauben, aber den in peripatetischen Bahnen wandelnden Kulturhistoriker4) interessierte der Brauch auch als solcher. In seiner Ethnographie der Keltiberer (bei Diodor V 34, 5) spricht er von Päanen, mit denen sie in die

1) Vgl. die Sammlung der Stellen bei Wilamowitz, Aristoteles u. Athen II 18, 9. 21, 14.

2) Curtius VIII 9, 30 regem mero somnoque sopitum in cubiculum paelices referimt, patrio carmine noctium invocantes deos.

3) Ihre Wirkung ist dann noch weithin kenntlich. So verdanken wir ihr die Kunde von „Hymnen, die die Türken der Erde singen": Theophylaktos (An- fang des VII. Jahrh.) VII 8, 13 in seiner kurzen Ethnographie der Türken: die Stelle bei K. Dieterich in dem oben S. 14, 2 zitierten Werke II S. 14.

4) Ein Sprichwort führte er in ganz peripatetisch anmutender Terminologie ein: naXaVcc diayiivsi, 7Cccqcc zoig Kqt]61 7tccQOi{Licc dt' svbg gzi%ov (ir}vvov6a zr\v vvv '/svri^stöav 7CEQi7iszeiav xzX. (wird wohl aus der Aristotelischen Kqt\z&v noXizsia stammen). Nach gutem alten (auch Aristotelischem) Brauche interessierte er sich für Hochzeitssitten: dieser Vorliebe verdanken wir die prachtvolle Schilderung der yäfioi des Viriatus bei Diodor XXXIII 9 f. (zum Jahre 144); vgl. ibid. 17 (zum Jahre 143) yd{iav ayofievav zovzat (einem Thrakerkönig) Y.a.xa zi 6>paxtxoi* TtaXaiov i%og.

Antike Folk-Lore. Barditus 117

Schlacht zogen; in der keltischen (bei demselben V 29, 4) heißt es, die Kelten pflegten die Erlegung eines Feindes zu feiern „unter Ab- singen von Päanen und eines Siegeshymnus", und weiterhin (31): „es gibt bei ihnen auch Liederdichter, die sie Barden nennen" (sfal da naQ9 avtolg xccl %oiy\xvX [leläv ov§ ßdqdovg 6vo^at,ov6iv)}) Da nun Poseidonios bezeugtermaßen, wie wir sahen, auch eine germanische Ethnographie seinem Geschichtswerke eingefügt hat, so liegt es nahe zu vermuten, daß auch in dieser eine volkskundliche Angabe solcher Art nicht fehlte, und zu untersuchen, ob die bekannten Sätze in c. 3 der Germania über den „Schildgesang"2), die mit den Worten sunt Ulis haec qnoque carmina quorum relatti quem barditum vocant accen- dunt animos beginnen, irgendwie zu Poseidonios in Beziehung stehen.3) Den Gleichlaut des keltischen und des germanischen Wortes wollen wir dabei lieber gar nicht in Betracht ziehen, um nicht Müllenhoffs Ana- thema auf uns zu laden cprorsus inepta est eorum opinio, qui de Bardis Gallorum et, ut ferunt, Germanorum poetis somniarunt'4) , obwohl zu sagen wäre, daß, mögen die keltischen Barden mit dem germanischen barditus auch nicht das geringste zu schaffen haben, ein antiker Berichterstatter über beide Völker gar nicht umhin konnte, diese beiden Worte in Verbindung miteinander zu bringen. Dagegen erscheint mir folgendes allerdings bemerkenswert.

Tacitus fährt nach den zitierten Worten über den Barditus so fort: „Schon sein bloßer Klang wird als Wahrzeichen für den Aus- gang der Schlacht gedeutet: je nachdem es durch die Schlachtreihe dröhnt, gilt der Schrecken den Feinden oder ihnen selbst: es ist, als ob sie darin nicht einen Zusammenklang der Stimmen, sondern einen Tapferkeitschor vernehmen. Sie haben es dabei vor allem auf Rau-

1) Wir besitzen hier die originale Fassung der Worte des Poseidonios bei Athenaeus VI 246 D xa dh uxov6ucczc( ccvzööv sißiv oi xccloviievoi ßccgSoi' Ttoirjzcd dh oiiroi %vf%ävov6i (ist1 <adf)s iitcclvovs 'kiyovTEq.

2) „Kein bloßes Hurra, sondern ein sinnvolles Feldgeschrei metrischen Taktes" I. Heusler in Hoops Reallex. I 449.

3) Dies gilt aber sicher nicht von den Tuistoliedern; die Kunde von ihrer Existenz die Kenntnis der drei germanischen Stammesverbände ging über den geographischen Horizont des Poseidonios hinaus wird vielmehr einem etwas jüngeren Ethnographen verdankt. Darüber später Näheres.

4) De poesi chorica Germanorum, Progr. Kiel 1847, S. 19 (in die D. A. nicht aufgenommen).

113 Kap. II. Quellenkritieches zur Ethnographie europäischer Völker

heit des Klanges uiid dumpf dröhnenden Widerhall abgesehen, und um diesen zu erzeugen, halten sie die Schilde vor den Mund: so bricht sich der Ton in der Wölbung und schwillt mit verdoppelter Kraft und Tiefe an."1) Der Klang des Schlachtgeschreis galt also als Augurium (augurantur) für Erfolg oder Mißerfolg des Kampfes, und da das Rauhe und Dumpfe für glückverheißend angesehen wurde, so war man darauf bedacht, diese Klangfarbe zu erzielen. Dieser Nach- richt gegenüber sind die Erklärer, soweit sie sich äußern, in Verlegen- heit: welche geheimnisvollen Beziehungen walten zwischen Vorahnung und Stimmlage? Die Antwort auf diese Frage läßt sich, wie ich glaube, nur in enger Fühlung mit einer quellenkritischen Erwägung finden. Mantisches ist einer Prognose auf Poseidonios als Vermittler von vornherein günstig, und in der Tat läßt sich jene Frage durch eine mit Sicherheit auf ihn zurückgehende Überlieferung beantworten. Ciceros erstes Buch De divinatione enthält anerkanntermaßen so große zusammenhängende Stücke aus Poseidonios' fünf Büchern liegt liavTixr]g, daß wir, um ihn in seiner besonderen Wesensart kennen zu lernen, immer wieder zu jenem Buche Ciceros greifen müssen, in dem sich die Befangenheit des wundergläubigen Stoikers mit der das Universum umspannenden Gelehrsamkeit des freien Forschers zu einem notwendigerweise widerspruchsvollen Gesamtbilde vereinigt. Um seinen von Cicero an die Spitze gestellten Fundamentalsatz zu erweisen, daß die Realität der Mantik sich aus der Übereinstimmung aller Völker des Erdkreises, der höchstzivilisierten wie der in „schreck- licher Barbarei" lebenden, ergebe, hat er, an Chrysippos sich an- lehnend, ihn aber darin weit überholend, in jenes von Cicero auf ein knappes Fünftel verkürzte Werk die Fülle seines historischen und vor allem ethnographischen Wissens ausströmen lassen und wichtiges völkergeschichtliches Material der Nachwelt erhalten. Fehlen dort doch auch die Druiden nicht.2) Zwischen den Erscheinungen

1) In der Tonmalerei der letzten Worte uox repercussu intumescat wird man vergilische Art nicht verkennen (vgl. Komm, zur Aeneis VI 2 S. 417, 2).

2) Die Art, wie Cicero sich darüber äußert, ist charakteristisch: 90 eaque divinationum ratio ne in barbaris quidem gentibus neglecta est, siquidem et in Gallia Druidae sunt, e quibus ipse (Quintus redet zu Marcus) Diviciacum Haeduum hospittm tuum laudatoremque cognovi. qui et naturae rationem quam tpvcioXoyiav Graeci appellant notam esse sibi profitebatur et partim auguriis partim coniectura tjuae essent futura dicebat, et in Persis augurayitur et divinant magi usw. Sach-

Mantische Deutung des Schildgesangs durch Poseidonios \\Q

der Außenwelt und ihrer Wirkung auf das menschliche Seelenleben konstruiert er einen mystischen Zusammenhang, den er physiologisch zu begründen versucht. Darüber macht Cicero 79 f. merkwürdige An- gaben. Die „natürliche" Weissagung, die in der ganzen Schrift der „künstlichen" gegenübergestellt wird, beruht auf einer concitatio mentis, einer enthusiastischen Gemütserregung, in die die Menschen von der Gottheit versetzt werden. Denn deren Macht erstreckt sich durch die gesamte Natur, die leblose und die belebte. Sie verbirgt sich in vulkanischen Erdspalten, aus denen Dämpfe aufsteigen hier wird die delphische Prophetin genannt , sie tritt aber auch im Seelenleben der Menschen in die Erscheinung. Zwischen Erde und Menschen besteht ein unlösbarer Zusammenhang, denn die Wesens- art der Menschen ist an das Klima des Erdstriches, den sie be- wohnen, gebunden: „Manche Gegenden bringen geistesscharfe, manche geistesstumpfe Individuen hervor: dies alles kommt von der Ver- schiedenheit des Klimas und der Ungleichheit der Atmosphäre."1) Hier segeln wir ganz im Fahrwasser des Poseidonios: es ist seine klimatologische Anthropologie, die wir vorhin (S. 106 ff.)j bis in einzelne Worte hinein mit den Ciceronischen übereinstimmend, aus Vitruvius kennengelernt haben. Inwiefern nun diese Unterschiede in der Geistes- verfassung der Völker der südlichen und nördlichen Erdhälite ver- schiedenartige Formen der Weissagung im Gefolge haben, das ist von Cicero weggeschnitten worden. Er fährt fort: „Oft wird das Gemüt auch durch eine Erscheinung, oft durch die Tiefe von Stimmen und durch Gesänge in heftige Schwingungen versetzt, oft auch durch Sorge oder Furcht."2) Von hier aus läßt sich, wie

lieh stammt die Kunde, wie alles vorher und nachher, aus Poseidonios, aber Marcus erweist dem Bruder die Höflichkeit, ihn das Forschungsergebnis des griechischen Gelehrten, der in Massalia einen Gastfreund besaß (o. S. 70,1), durch eigne Erkundung bestätigen zu lassen. A. Klotz, Caesarstudien (Leipz. 1910) 125, 2 weist mit Recht auf das Künstlerische dieser' Komposition hin.

1) Sunt partes agrorum (aliae pestilentes aliae salubres), aliae ijuae acuta mgenia gignant aliae quae retusa; qiiae omnia fiunt et ex caeli varietate et ex disparili adspiratione ttrrarum. Eier war adspiratio wohl ävcc&vniccGis (Diels, Ooxogr. 716).

2) Fit etiam saepe specie quadam (das gehört gar nicht hierher, wird auch erst später, §81, dargelegt), saepe vocum gravitate et cantibus, tit pcllantvr animi vehement ins, saepe etiam cura et timore.

J 20 Kap, II. Quellenkritisches zur Ethnographie europäischer Völker

mir scheint, dem Verständnis der merkwürdigen Sätze über den ger- manischen Barditus näher kommen. Der Gesang wird je nach seinem Klange auf guten oder üblen Ausgang des bevorstehenden Kampfes deuten und löst je nachdem Mut oder Furcht aus. Je tiefer die Stimme, um so stärker die Erregung des Gemüts und die darin sich offenbarende Begeisterung: daher suchten die Germanen durch Vor- halten der Schilde vor den Mund der Stimme eine möglichste Fülle oder Tiefe zu verleihen, um sie nur ja nicht kleinlaut erscheinen zu lassen. Die Übereinstimmung dessen, was wir in dem stark zusammen- gestrichenen Exzerpt Ciceros aus Poseidonios lesen, mit dem Grund- gedanken der Taciteischen Worte scheint mir keinen anderen Schluß zuzulassen, als daß diese entweder aus Poseidonios selbst abgeleitet oder, um es so vorsichtig wie möglich auszudrücken, von einem Autor geschrieben worden sind, der sich in die Denk- und Ausdrucks- weise des Poseidonios so eingelebt hatte, daß er sich von diesem nicht mehr unterschied.

Beachtenswert ist auch folgende Überlieferung bei Plutarch im Leben des Marcellus (c. 20), die den Namen des Poseidonios trägt. Nach der Belagerung von Syrakus im Jahre 212 trat in dem uralten, durch seinen Kult der „Mütter" (MatEQsg) berühmten sizilischen Städt- chen Enyyon ein Mann auf, der plötzliche Besessenheit durch diese Göttinnen simulierte: „Er warf sich auf die Erde, hob den Kopf in die Höhe und drehte ihn herum; seine Stimme, erst zitternd und schwer, ließ er allmählich zu lautem Schall anschwellen, bis er sah, daß die Zuschauer, von Grausen gepackt, verstummten . . . Dies er- zählte der Philosoph Poseidonios." Allem Anscheine nach war es dieselbe Hand, die hier die Worte xJjroTod.uco gxovrj xul ßuQsia xaxä uixqov övvtelvcov xcci Ttaqo^vvcov xbv i]%ov schrieb sowie die qppt'x?; der Zuschauer schilderte, und die dort die Ausdrücke terrent trepi- dantve, gravior vox intumescit gebrauchte. Bestätigend kommt hinzu, daß die Taciteische Ausdrucksweise, die Germanen hätten durch den Schlachtgesang „den Mut entzündet" (accendunt animos), ihr Gegen- stück in den Worten findet, die Plutarch, Marius c. 19, an einer von Müllenhoff mit Sicherheit auf Poseidonios zurückgeführten Stelle vom Schlachtgeschrei der Ambronen braucht: „es verschärfte und reizte ihren Mut" (rtccQco^vve zccl di7jQid~t^s xbv &v[ibv r) JtQccvyrj).

Die Ciceronische Stelle stammt aus einer philosophischen Schrift

Mantiache Deutung des Schildgesangs durch Poseidonios |2i

des Poseidonios xsgl ^avTixijg , von den beiden Plutarchischen die erste möglicherweise aus derselben1), die zweite jedenfalls aus dem Geschichtswerk; auf dieses muß auch die Richtigkeit der Kom- bination vorausgesetzt die Taciteische, die zur germanischen Ethno- graphie gehört, zurückgehen.2) Philosophische und historische Schrift- stellerei standen bei Poseidonios in Wechselwirkung.3) „Der Stoiker Poseidonios verzeichnete in seinem Geschichtswerke, durchaus im Ein- klang mit seiner philosophischen Schule, vieler Menschen Sitten und Bräuche" (üoösidäviog 6 uitb tf]g öxoäg hv tcclg lötOQlaig alg 6vv- sfrijxev ovx icXlotgCag i)g 7CQoriQi]xo yiXoöocpiag noXXä nagu noXXoig i&ifia xal vo^iovg ävccyQctcpav . . .): das Zutreffende dieser schon bei anderer Gelegenheit angeführten Worte, mit denen Athenaeus ( IV 151 F) ein langes Zitat aus der Posidonischen Ethnographie der Kelten ein- leitet, vermögen wir da, wo uns umfänglichere Stücke aus den 'Iörogioct erhalten sind, noch oft genug zu erkennen.4) Auf alles, was mit }iav~ rsla irgendwie zusammenhing, herunter bis zu den Taschenspieler- künsten der yörjTsg, hat er in dem Geschichtswerk mit einer zur Höhenlage der Geschichtschreibung keinesfalls passenden Emsigkeit

1) Natürlich ließe sich auch an einen in das Gesehichtswerk eingelegten Exkurs denken; aber daß der für Mantisches hervorragend interessierte Plutarch der sog. Lampriaskatalog verzeichnet unter Nr. 71 eine Schrift tieqI fiav- rixf]g das fundamentale Werk über diesen Gegenstand gelesen habe, ist an- zunehmen.

2) Ein vollkommen analoger Fall ist von Cbr. Gramann, Quaest. Diodoreae (Diss. Götting. 1907) 6ff., aufgezeigt worden: ein Abschnitt der Schrift tc. uav- xixfjg kongruierte mit einem der 'larogiai, aus jener entnahm ihn Cicero de div., aus dieser Diodor XVIII.

3) Nur ein paar Beispiele für stoische Schlagworte aus der Posidonischen Buchserie Diodors: XXXIII 9 vvtsXäfißavs xr\v \i\v avxccQxsiccv fisyLßxov vTiäq^siv nXovxov, xrjv dh iXsv&sgiccv Ttccxgida (kynisch- stoisch; ccvxccqxsicc auch ibid. 11). 10 avSgbg anoXovd'cog xy (pvast gwvxog Gvvxo^iog Xöyog iaxiv, vcgsxf] 6vvr\6y.r\uivog. 12 jxj) 6vvä(iEvog hnb xöav iXaxxa){iäxoiv dLOQ&co&fjvai.. 21 ol xäv Pca[ic(i(ov 7tQsaßsig ägexy dicccpiQOvxsg xolg (ihv ßgaxotg oXiyoig xccl ngbg vysiccv diccxsivovai ^pcöftsror xccxscpgbvovv xf,g TtoXvxsXsLag cog öiacp&siQOvöTqg xal i\>vxi}v xccl ffwfta (auch das weiter Folgende). Über tcqovoicc und xv%r\ XXXIV/V 41. 63. XXXVII 22, verbunden mit dsicidca^ovia (in lobendem Sinne) XXXVI 6.

4) Beispielsweise verwertete er den in seinem Geschichtswerke niedergelegten Bericht über die Entdeckung des Silbers in Iberien durch einen Waldbrand (Diod. V 35, 3. Strabo III 147) auch in einer philosophischen Schrift, aus der Seneca ep. 90, 12 ihn uns erhalten hat.

122 Kap. II. Quellenkritisches zur Ethnographie europäischer Völker

gefahndet.1) Er hatte sich ferner, darin sein Studium des Aristoteles nicht verleugnend, gewöhnt, den Ursachen der Erscheinungen nach- zuspüren: nolv iön zb ulxLoXoyiy.bv neu/ avxCa v.al 14qi6tot8XC£,ov (Straho II 104), und auf das „Deuten" der Vorgänge war er als Stoiker stets erpicht. Wie mußte ihn da der Germanenbrauch interessieren, der sich mit einem hellenischen, von ihm berichteten ursächlich so eng berührte: die Stimme der Prophetin in Delphi wurde durch ein künstliches Mittel eine kreisförmige, durchbrochene Scheibe (oltuoc. cortina), die auf dem Becken des Dreifußes lag derartig entwickelt, daß ihr Klang, von dem Metall zurückgeworfen, sich zu einem dump- fen, Schauer {(pcjCxog, tremor) erregenden Dröhnen steigerte.2) Dieselbe Wirkung erzielten die Germanen dadurch, daß sie die Stimmen an ihren vor den Mund gehaltenen Schilden abprallen ließen. Eine an- dere Frage ist, ob die mantische Deutung, die Poseidonios dem ger- manischen Brauche gab, dessen Wesen entsprach. Ich vermag daran nicht recht zu glauben, da ethnologische Analogien, wie mir von kundiger Seite versichert wird, gänzlich zu fehlen scheinen. Die dem Poseidonios zugekommene Überlieferung enthielt schwerlich an- deres als die Nachricht über den Brauch als solchen, die Deutung desselben wird seine eigne Zutat sein. Wir werden also mit der Wahrscheinlichkeit zu rechnen haben, daß er hier ein Opfer seines Bestrebens wurde, die Vorgänge nicht nur zu ergründen, sondern auszudeuten. Die in eine blendende Antithese gefaßte kühne Ausdrucksweise nee tarn vocis ille quam virhdis concentus vide-

1) Besonders bemerkenswert Diodor XXXIV/V2 (in der Erzählung des ersten Sklavenkrieges) über einen aus Apomeia, also dem Heimatsorte des Poseidonios, stammenden Syrer: „Er war ein Zauberer und Wundertäter, der aus Träumen weissagte, aber auch im Wachen Götter zu sehen und von ihnen die Zukunft zu hören vorgab" usw., eine auch religionsgeschichtlich wichtige Stelle. Vgl. auch XXXVII 28, wo ein geschichtliches Vorkommnis aus dem marsischen Kriege den Lehrsatz „daß die menschlichen Seelen an der göttlichen Natur teilhaben, kraft deren sie manchmal die Zukunft prophezeien" erhärtet. Ausführlich über eine syrische Prophetin namens Martha: Plutarch Mar. 17 aus Poseidonios.

2) 0. Müller hat das in seinem Göttinger Antrittsprogramm de tripode Delphico 1820 dargelegt, wo er das Ergebnis so formuliert (S. 21): 'cortinae ipsius tripodis lebeti non ob aliam causam immissae esse videntur; nisi ut sonum resonando efficerent ampliorem/ Lateinische Dichter bezeichnen die Klangwirkung als ein mugire, z. B. Verg. Aen. III 92 visa . . . mugire adytis cortina reclusis VI 99 (Sibylla) horrendas canit ambages antroque remugit (mehr in meinem Kommentar z, d. St.).

Mantisehe Deutung des Schildgesangs durch Poseidonios 12 S

lnrl) bewahrt möglicherweise Farben des Originals. Jedenfalls würde sie dem Stilisten, der die Gedanken gern in prunkende Stilgewänder kleidete, ebenso angemessen sein wie dem Stoiker, der den Äußerungen der ägstrj auch bei Barbarenvölkern seine Aufmerksamkeit zuwandte, und dem Ethnographen, der magnas virtutes gerade auch der nordischen Barbaren physiologisch begründete.2)

Um das Interesse des Poseidonios an Äußerungen der Mantik bei Barbarenvölkern zu veranschaulichen, mag noch ein Beispiel an- geführt werden, bei dem wir auf germanischem Boden bleiben. Strabo berichtet VII 294 aus Poseidonios von den Prophetinnen der Kimbern: „Ihre dem Heereszuge sich anschließenden Frauen waren begleitet von Priesterinnen mit grauen Haaren, weißen Gewändern, linnenen, durch eine Spange befestigten Oberkleidern, einem Gürtel aus Erz. Mit nackten Füßen schritten sie den Gefangenen durch das Lager gezückten Schwertes entgegen, bekränzten sie und führten sie zu einem ehernen, etwa zwanzig Amphoren fassenden Kessel. Eine der Priesterinnen stieg auf einer Stufe hinauf, ließ die Gefangenen einen nach dem anderen emporheben, über das Becken beugen und schnitt ihnen dann die Kehle ab. Aus dem in den Kessel strömenden Blute veranstalteten sie eine Art von Wahrsagung, während andere den Leib aufschnitten und aus der Eingeweideschau den Ihrigen den Sieg verkündeten.3) In den Kämpfen aber schlugen sie auf Häute,

1) H. Stracke, ein einstiges Mitglied meines Seminars, hat sich im Felde eitrig mit der Germania beschäftigt und. mir einige wohlgelungene Übersetzungs- proben und Konjekturen zugesandt; die letzteren hat er in der W. f. kl. Piniol. 1917 veröffentlicht; in demselben Jahre ist er im Westen gefallen. Sein Än- derungsversuch der vorliegenden Stelle (nee tarn voces UJae quam virtutis con- eentus videntur) hebt aber die beabsichtigte Kühnheit des Gedankens auf: oi- togovtov (pavf}q oöov ccQSzfjg 6vvr\yrr\6vz.

2) Bei Vitruvius in den oben (S. 110) angeführten Worten.

3) Unverkennbar dieselbe Hand ist es, die von den Kelten schrieb (Diodor V31): ,,Sie bedienen sich auch Seher, die bei ihnen in großem Ansehen stehen. Diese sagen vermittels der Vogelschau und der Opferung von Schlachttieren die Zukunft voraus und haben das Gehör der ganzen Menge. Vor allem bei Verhandlungen über wichtige Angelegenheiten beobachten sie eiuen merkwür- digen, fast unglaublichen Brauch. Einen Menschen, den sie zur Opferspende weihten, schlagen sie mit einem Messer in der Gegend des Zwerchfells und erkennen aus dem Falle des Getroffenen, seinen Gliederzuckungen sowie dem Hlutflusse die Zukunft."

124 Kap II. Quellenkritisches zur Ethnographie europäischer Völker

die über das Fleohtwerk der Reisewagen gespannt waren, wodurch ein absonderliches Getöse verursacht wurde. " Dieser ipöqiog &,al<5io£ ), mit dem die kimbrischen Priesterinnen die Schlacht begleiteten, ist ein Gegenstück zu dem Kriegsgeschrei der Mannen, aus dessen Klang nach Ansicht des Taciteischen Quellenautors der Ausgang de3

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Kampfes von den Germanen erkundet Avurde 2)

V. GEFOLGSCHAFT Ausführlich und mit sichtbarer Anteilnahme geht Tacitus auf die Einrichtung der Gefolgschaft ein, deren in einem Treubunde der alten Helden und der jungen Degen beschlossenes Wesen ihm be- sonders eigenartig erschien. Was ist nicht alles über diese Kapitel der Germania (13. 14) geschrieben worden. Und doch finden sich in den zahlreichen Untersuchungen über den Komitat, darunter einer so umfangreichen wie derjenigen von A. Baumstark, der ihn in seinen Urdeutschen Staatsaltertümern (Berl. 1873) auf fast 200 Seiten behandelt, nirgends erwähnt folgende Worte des Polybios3) aus seiner ethnographischen Skizze von Gallia cisalpina (II 17, 12): „Um die Genossenschaften waren sie besonders eifrig bemüht, denn als der furchtbarste und mächtigste Mann galt bei ihnen derjenige, der die meisten Dienstmannen und Gefolgsleute zu haben schien" (tisqI de xäg etaiQsiaq [isyidtqv 67Cov8i\v knoiovvxo öiä xb cpoßeQaxccxov xal (Svvuxäxaxov slvai jrao' avxolg xovxov ö? av icXsfaxovg e%£iv öoxfj

1) i^aiaiog auch in einem Poseidonioszitat bei Strabo VI 277, einem Exzerpt bei Diodor V 25, 2 und in der Schrift %sqI xöffftou 5. 377 a. 22. 6. 400a. 26, wo besonders die zweite Stelle auf Poseidonios weist, ferner bei Plut. Mar. 21. Vgl. Rudberg a. a. 0. (o. S. 67,2) 305.

2) Das Taciteische Kap. 10, das beginnt mit den Worten auspicia sortesque ut qui maxime observant geht schwerlich unmittelbar auf Poseidonios zurück; aber daß es seiner Art entspricht, ist gewiß, und der Satz et ülud quidem etiam hie notum avium voces volatusque interrogare: proprium gentis equorum quoque praesagia ac monitus experiri erinnert ganz an seine Gewohnheit hervorzuheben, was i'Siov i&vövg sei, was es mit anderen gemeinsam habe (viel dergleichen z. B. bei Diodor V 33 über keltiberische, bei Strabo III 164f. über iberische Gebräuche).

3) Gaupp hat in seinem o. S. 6 genannten Buche über die germanischen Ansiedelungen (1844) S. 146 beiläufig auf die Polybiosstelle hingewiesen, aber die Notiz scheint in den Untersuchungen über das Gefolgschaftswesen über- sehen worden zu sein.

Keltisches und germanisches Gefolgschaftswesen 125

xovg &SQcc7tevovTC(g xai öv^iTtEQKpeQO^isvovg ccvxa). Diese Worte lesen sich wie eine gedrängte Inhaltsangabe der beiden Taciteischen Kapitel, ja, sie klingen an einzelne von deren Sätzen auch im Aus- druck an: magna . . . aemulatio (^isyCött] azovdrj) principwn, cui plurimi {%}.e16xoi) et acerrimi comites (excciqoi d-EoaTtavovrsg)1). haec dignitas, hae vires (dvvccxäxazog^, magno semptr et electorum iuvenum globo circumdari (ßv^insQKpsQoasvovg), in pace decus, in hello prae- sidium (vgl. (poßeQCJxaxogX Von der beiläufigen Erwähnung eines keltischen Brauches bei Polybios zur ausführlichen Schilderung eines germanischen bei Tacitus führt kein direkter Weg. Wie aber sollen wir dann die überraschende Übereinstimmung anders erklären als durch dieselbe Annahme, zu der wir uns oben bei Kongruenzen zwischen Herodot und Tacitus, dem Hippokrateer und Tacitus ge- drängt sahen, nämlich daß zwischen ihnen ein Vermittler stand? Als solcher dürfte sich aber auch in vorliegendem Falle keiner so gut eignen wie Poseidonios, der Fortsetzer des Polybianischen Werkes, an das er sich auch sprachlich gelegentlich anlehnte.2) Haben wir doch bei Strabo gelesen (o. S. 8i), daß dem Poseidonios die itolixsv- liata des keltischen und des germanischen Volkes verwandt erschienen ; so wurde er, wenn er auf das germanische Gefolgswesen zu sprechen kam, naturgemäß dazu geführt, sich an die Schilderung des keltischen bei seinem Vorgänger anzulehnen.3)

1) comes huiQog Corp. gloss. II 106, 25. cliens ^sgäncov III 304, 68 u. ö : cltens ist der von Caesar (neben comes) gebrauchte Ausdruck, den er mit dem keltischen ambacti verbindet (die Stelle s. weiterhin im Text). Offenbar meint Polybios mit dEQccitsvovrsg dasselbe (vgl. Paulus Festi p. 4 M. ambactus apud Ennium lingiia Gdllica servus appellatur. Analoges im Corp. gloss. VI 58'. Byzantinische Historiker (Agathias, Prokopios, Malalas) bedienen sich zu einer Zeit, als das germanische Gefolgswesen längst in die römische Heeresverfassung aufgenommen worden war, anderer Paraphrasen für die comites, darunter be- sonders charakteristisch Ttccldeg, denn dies entspricht genau dem germanischen „degan" (etym. = %&%vov). Vgl. 0. Seeck, Das deutsche Gefolgswesen auf röm. Boden, Ztschr. d. Savigny-Stift., Germ. Abt. XVII (18U6) 106. 108 f.

2) Sprachliche Kongruenzen zwischen Polybios und Fragmenten des Posei- donios notiert Schulten, Hermes XLVI (1911) 606.

3) Ob Poseidonios auf das keltische Gefolgswesen näher einging, läßt sich nicht sagen. In den Worten Diodors V 29, 2 iitäyovTai dk v.ul &EQa7tsvovTccg t'Xevd-SQOvg iy. xmv ti£V"qtcüv y.atccXsyovtsg, olg 7]vi6%oi$ xai TtaQaGntoralg %qwvtccl xaxa zag ftä^ac fehlen die charakteristischen Momente, was vielleicht Schuld des Exzerptors ist.

126 Kap. II. Quellenkritisches zur Ethnographie europäischer Völker

Ob dieses quellenkritische Ergebnis zu ethnologischen Folge- rungen verwertet werden darf? H. Brunner, dessen Darstellung des Komitats in der Deutschen Rechtsgeschichte P (Leipz. 1906) alle anderen überragt, bemerkt daselbst S. 186, 29: „Auf die Verwandt- schaft des germanischen Gefolgswesens mit der von Caesar geschil- derten Stellung der ambacü und der devoti oder soldurii Galliens und Aquitaniens ist mehrfach hingewiesen worden. Ich wage es nicht, keltische Einflüsse auf das germanische Gefolgswesen zu be- haupten." Die Caesarischen Zeugnisse (III 22. VI 15. 30,3. VII 40, 7), deren Übereinstimmung in einigen wichtigen Zügen mit dem Taci- teischen immerhin beachtenswert ist1), werden nun durch das des Polybios ergänzt, das besonders mit dem zweiten Caesarischen eorum ut quisque est genere copüsque amplissimus, ita plurlmos circum se ambados clientesque habet in vollkommenem Einklänge steht: Polybios übersetzt mit öviixsQicpsQÖnsvoi das gallische ambacü. Eine Wiederaufnahme der Untersuchung über das Verhältnis des keltischen und des germanischen Brauches ist unter diesen Umständen vielleicht angezeigt.2,) Sie wird sich wohl aber nur auf der breiten Grundlage der Kulturzusammenhänge zwischen Kelten und Germanen überhaupt führen lassen, und hierbei werden die dürftigen Zeugnisse antiker Schriftsteller, die zudem von den alten Siedelungsverhältnissen der beiden Völkerschaften gar keine oder nur eine falsche Vor- stellung besaßen, hinter den bedeutsamen Ergebnissen moderner archäologischer3) und sprachwissenschaftlicher Forschung in den Hintergrund treten müssen. Entlehnungen keltischer Kulturelemente von Seiten der Germanen haben unzweifelhaft stattgefunden, aber nicht

1) Vgl. auch 0. Seeck, Geschichte des Untergangs der antiken Welt P 530.

2) Um so mehr, als inzwischen auch das sprachliche Material in einer bisher unerreichten Vollständigkeit und Umsicht in dem Thesaurusartikel comes von W. Bannier vorgelegt worden ist. Auch der Artikel bucellarii (frühbyzan- tinische Bezeichnung der nach germanischem Muster eingerichtete n Institution der Gefolgsleute) von 0. Seeck, R. E. III 934 ff. wird dabei nicht zu vergessen sein. Ferner sei, da das leicht übersehen werden könnte, bemerkt, daß Zeuß sich in Briefen an den Keltistea Chr. W. Glück vom Jahre 1854 über anibactus in scharfen Worten gegen J. Grimms verfehlte Deutung ausgesprochen hat: Ztschr. f. kelt. Philol. III (1901) 353. 355. 374.

3) Besonders sei dafür verwiesen auf G. Kossinha, Die Grenzen der Kelten und Germanen in der La-Tene-Zeit, Korrbl. d. deutsch. Ges. f. Anthropol., Ethnol. u. Urgesch. XXXVIII (1907) 57 ff.

Keltisches und germanisches Gefolgschaftswesen J27

zu allen Orten und Zeiten in gleicher Stärke in den Rhein- gegenden (s. o. S. 81 f.) und in der jüngeren La-Tene-Periode inten- siver als weiter ostwärts und in älteren Zeitläuften : man sollte sich hüten, diese Unterschiede übersehend von Kelten und Germanen wie von zwei überall und dauernd gegensätzlichen Volksganzen zu sprechen. Aber für die sehr frühe Zeit, in die ein pangermanischer Brauch wie das Gefolgswesen hinaufreichen muß, beginnt sich aller- dings die Anschauung einer abgeschlossenen Selbständigkeit der Germanen auszubreiten, und so dürfte sich die Brunnersche Auf- fassung dieses Brauches doch wohl als richtig erweisen. Überein- stimmung in Grundelementen, die gemeinsamer Urbesitz gewesen sein können1), schließt eigenartige Sonderpräguug nicht aus.

VI. BERATUNGEN BEIM GELAGE „Dem Weine sind sie sehr zugetan . . . und im Rausche pflegen sie die ernstesten Angelegenheiten zu beraten. Ihren Beschluß legt ihnen dann am Tage darauf, wenn sie nüchtern sind, der Hausherr, bei dem sie beraten, vor. Findet er auch in der Nüchternheit ihre Billigung, so richten sie sich danach, andern- falls geben sie ihn preis. Die Vorbeschlüsse aber, die sie nüchtern faßten, unterziehen sie im Rausche einer Nachprüfung." Beim Lesen dieser Worte muß man schon genau achtgeben, um zu merken, daß es nicht die bekannten Taciteischen sind: es sind die Herodots aus der Ethnographie der Perser (I 133).2) Tacitus' Schilde- rung hat folgenden Wortlaut (c. 22) die Reflexionen schließe ich in Klammern ein :3)

1) Beispielsweise sei an folgende Kongruenz erinnert: Caesar VII 21, 1 conclamat omnis multitudo et suo more armis concrepat, quod facere in eo con- suerunt cuius orationem adprobant und Tacitus Germ. 11 st displicuit sententia, fremitu aspernantur; sin placuit, frameas concutiunt (vgl. Tac. hist. V 17 aus Primus' Annalen).

2) Den Herodotexegeten ist diese Ähnlichkeit nicht entgangen, aber in den Kommentaren zur Germania habe ich sie nicht vermerkt gefunden.

3) Aussonderung der Reflexionen vom Tatsächlichen ist eine der wichtigsteu Aufgaben bei der Interpretation dieses Schriftstellers, gerade auch in der Germania. So fügt er c. 39 beiner Schilderung des absonderlichen Opferbrauchs in dem Haine der Semnonen die Bemerkung hinzu: eoque omnis superstitio respicit, tamquam inde initia gentis, ibi reynator omnium deus, cetera subiecla atque purentia. Cm die Identifikation dieses „Allherrscher Gottes" bemüht man sich in Buchen

128 Kap IL Quellenkritisches zur Ethnographie europäischer Völker

Tag und Nacht durchzuzeehen trägt keinem Schimpf ein . . . Versöhnung von Feindschaften, Anknüpfung verwandtschaftlicher Bande, Wahl der Häuptlinge, sogar Krieg und Frieden beraten sie gewöhnlich beim Trünke (als ob sie annehmen, daß gerade zu solcher stunde die Seele besonders fähig sei, sich einem offen- herzigen Gedanken zu erschließen, für einen großen sich zu er- wärmen: da ist noch ein Volk ohne Arglist und Verschlagen heit, das in ungezwungenem Scherze die Geheimnisse seiner Brust erschließt). Die Gedanken, die so ein jeder nackt und offen aus- gesprochen hat, werden dann am Tage darauf nachgeprüft. (So kommt beides, das Gestern und das Heute, zu seinem Rechte: sie beraten, wo sie sich nicht zu verstellen, sie beschließen, wo sie nicht zu irren vermögen.")

Wenn man das der ätiologischen Begründung dienende Räsonnernent bei Tacitus abzieht, so ist die Ähnlichkeit der Gedankenführung bis in einzelne Worte hinein offenkundig. So ist dem Taciteischen retractare das Herodoteische k%i6iuyiv6}<5xtiv nächstverwandt. Ja, in einem Homerscholion (cod. B zu I 70) ist das ionische Verbum durch das seit den Attikern technische &tiixqIv£iv ersetzt, das geradezu als die griechische Entsprechung des lateinischen retractare bezeichnet werden muß. Auf dieses Scholion verlohnt es sich einen Blick zu werfen. Nestor schlägt dem Agamemnon vor, er solle in seinem Zelte beim Schmause und Trünke eine Beratung der Edlen veranstalten. Dazu bemerkt der Scholiast:

„Beim Weine sind wir leichteren Sinnes, als es sonst unsere Art ist, und. die Gemeinschaftlichkeit der Mahlzeiten macht die

über altgermanische Religionsgeschichte bis auf den heutigen Tag. Aber es liegt hier nichts vor als eine religiöse Formel der göttlichen Allmacht: regnator omnium deus ist &sbg 6 Ttdvtcov ßaeiXsvs- Auch über die initia gentis hat man sich den Kopf zerbrochen, statt sich zu erinnern, daß initia ein üblicher Aus- druck der Einweihung in die Mysterien ist: aus der geheimnisvollen Nacht des Semnonenhains tritt das Volk gewissermaßen in das Licht der Welt ein, es ist sozusagen seine Primiz (primordia, ein mit initia oft wechselnder Mysterien- ausdruck, geht ein paar Zeilen voraus); vgl. Varro de 1. 1.V8 adytutn et initia regis, viel mißdeutet und angetastet, aber zu erklären aus r. r. II 4, 9. Das alles ist ein zwar sprachlich schön verbrämtes, aber für Germanisches inhaltsleeres Gedankenkleid, dessen weihevoller Faltenwurf Tacitus, dem Mitgliede des Priesterkollegiums der XV viri sacris faciundis, besser steht als den Semnonen.

Beratungen beim Gelage. Eerodot und Tacitus 129

Tischgenossen alle zu Freunden. Deswegen beraten die Perser im Rausche, überprüfen in Nüchternheit" (iv olvcp Qaovg iccvtäv h6\i,iv, rj ts 6[iOTQa7ie£os y.oivavCcc Ttdvrag ylXovg noul. dib xal IIsQöat tie&vovteg 6vtaßovlsvovrccL, vrjcpovrss ö' 1%i/.qIvov6iv). Dieses Scholion ist nach Inhalt und Form von so bemerkens- werter Feinheit, daß sich ein mit Bewußtsein künstlerisch stilisierender Schriftsteller dahinter verbergen muß. Die Herodoteische Vorlage wird in freier Weise umgestaltet. Die bei Herodot nicht hier, sondern an einer späteren Stelle (III 132, dann auch IX 16) erwähnte ein- heimische Bezeichnung der persischen „Tisch genossen" (b^oxQämt,oi) ist mit anmutiger Feinheit in den Gedanken verwoben. Die Aus- drucksweise ,,der Weingenuß erleichtert unsern Sinn, hebt uns über uns selbst hinaus", Qaovg eavtäv iö^isv, ist von attischer Eleganz.1) Ein zierliches Parison mit antithetischer Gedankenführung schließt den Satz, der, was trotz seiner Kürze vielleicht Beachtung verdient, hiatuslos ist. Die Quelle des Scholions läßt sich, da die lliasstelle auch sonst öfters erwähnt wird, leicht bestimmen. Es war eine populär- wissenschaftliche Schrift über die Lebensweise der Heroen in Home- rischer Zeit; ihre Abfassung fiel etwa in die Zeit zwischen Aristarchos und Poseidonios; sie ruhte auf der Grundlage peripatetischer Homer- exegese, war aber in ihrer Tendenz stoisch.2) Wir werden im nächsten

1) Vgl. Deinosth. adv. Steph. 1, 57 syco t&v ysy£vrmtv(ov äTtodvgccfisvog xcc Tilslarc. Ttgbs vfiäg mastsQÜ Qaav sco/ica: er setzt vorsichtig m63tsQsi hinzu, weil der Ausdruck, den er nun braucht, ein medizinischer der Umgangssprache war (wie auch §äov %%uv). Die spezifische Feinheit des im Texte angeführten Aus- drucks liegt im Genetivus comp. : xqsixxcov ccvxov, Kgslxxovg uvxäv ist aus Piaton geläufig (Phaidr. 232 A. Pol. IV 430 E. 431 B. Leg. I 626 E.).

2) Wir besitzen aus einer Schrift dieser Art Exzerpte in dem epitomierten Athenaeus I (von p. 8 E an) mit der Überschrift tcbqI xov x&v rjgwatv xad-' "0(ii}~ qov ßiov, die man sich doch wohl entschließen muß für den originalen Titel anzusehen, seit die Schrift des Philodemoa nsgl xov xa{r' r'O(ii]Q0v aya&ov ßccGiltcog durch die Ausgabe von A. Olivieri (Leipz. 1909) näher bekannt geworden ist. Daraus ergab sich, daß beide Schriften in irgendwelcher Beziehung zueinander standen (vgl. die praef. Olivieris p. IX), und zwar so, daß der meist unselb- ständige Epikureer den anderen benutzte, indem er ein Spezialthema aus dessen die Homerische Kulturwelt in ihrer Gesamtheit behandelnden Schrift heraushob, wie es später Dion von Prusa in seinen Königsreden getan hat. Der Verf. der anonymen Schrift der Name des Dioskurides hat keine Gewähr: E. Schwartz, H. E. V 1905, 1128 f. lebte jedenfalls mich Aristarchos, dessen Observationen

Norden: Die germanische Urgeschichte 9

130 Kap. U- Quellenkritisches zur Ethnographie europäischer Völker

Abschnitt auf sie zurückkommen, wo wir daun auch dem Ursprung der hier aufgezeigten Übereinstimmungen nachgehen wollen.

VII. GASTFREUNDSCHAFT

Es gibt noch eine zweite, ebenso merkwürdige Kongruenz eine- Homerscholions mit Worten der Taciteischen Germania.

Zu Beginn des N wendet Zeus, auf dem Gipfel des Ida sitzend, die Augen vom Schlachtfelde ab

er allenthalben voraussetzt; anderseits werde ich weiter unten Kenntnis der Schrift in Poseidonios' Geschichtswerk wahrscheinlich zu machen suchen, so daß wir auf die Zeit um 100 kämen: der Ansatz von Wilamowitz, Herrn. XXXV 1900, 543 Augusteische Zeit , der von ihm selbst als ungewiß betrachtet wird, ist jedenfalls beträchtlich zu spät (das erwähnte Verhältnis des Philodemos zu dieser Schrift ließ sich erst seit dem Erscheinen der genannten Ausgabe einigermaßen übersehen). Diese Schi-ift ist auf Grund der Athenaeusexzerpte und sonstiger Benutzung von K.Weber in den Leipz. Stud. XI (1888) 87 ff. einer erfolgreichen Rekonstruktion unterworfen worden; nur hat er gerade das uns beschäftigende Scholion zu verwerten vergessen, obwohl er im übrigen die Diskussion, die sich an diese Iliasverse anknüpfte, bespricht (S. 171). Der Exzerptor de3 Athenaeus hat sie übergangen, aber Athenaeus selbst spielt darauf an V 192 C iv ivloig dh y.a.1 xwv üepeixcöv 6v\i%06i<av iyivovxö xivsg xal ßovXat' v.aQ'ä-JtsQ iv xov 'Ayaaiyt,vovog v.axa ti]v exguxslav fhaec male contracta' notiert Kaibe!, aber daß eine Verkürzung des Athenaeus über den Anfang des HI. Buches hinaus stattgefunden habe, stellt G.Wissowa, Nachr. d. Gott. Ges. 1913, 332 mit Recht in Abrede). Vor allem besitzen wir dann aber ein ganzes dieser Frage gewidmetes Kap. des Plutarch in den quaest. conv. VII 9 (714 A-C) mit der Überschrift 'Oxl ßovXsvsaQ'cct. itccga itöxov ov% rjxxov r\v *EX\r]vwbv j) IlsQGixöv. Natürlich werden hier auch die Iliasverse herangezogen, außerdem wird auf kretische und spartanische Bräuche hingewiesen (xcc naqu Kqt\6iv livSgsra KccXovusva, tcccqcc de Unagziäxaig <&i§Lxia). Diese Ergänzung könnte an sich wohl dem kenntnisreichen Plutarch selbst gehören. Aber Tatsache ist, daß auch in der zugrundeliegenden Quelle hellenische vdfufio: herangezogen waren. Denn Eustathios fährt, nachdem er in seinem Kommentar zu jenen Iliasversen erst die auch uns erhaltenen Scholien ausgeschrieben hat, so fort: xai 6 'Podiav 6h vopog xeXsvsi xalg tieytCxtxig UQ%cclg 6v66ixsiß&ai xovg aQi6xovg ■jtsgl xwv ffmdsv tiqccxzecov ßovlsvßOfi^vovg: das muß bei den Beziehungen der Schrift zur peripatetischen Homerexegese doch wohl auf die Aristotelische Politie der Rhodier zurückgeführt werden. Eine Durchmusterung des Eustathios nach dieser Richtung scheint mir, wie ich auf Grund gewisser Indizien glaube sagen zu dürfen, Erfolg zu versprechen ; aber das hier darzulegen, würde zu weit führen, auch habe ich das Material nicht vollständig beisammen.

Gastfreundschaft. Homerisches und Germanisches 131

vöötpiv k(p" Ijcno^dlav ©Qrjxcjv xccd-ogäfisvog ctiav \lv6av t' ayi£\L<x.%Giv xal ayccväv ' iTtnr^ioXy&v ylaxrocpccycov Hßlcov te, dixcciordzcov kv&qcotkov. Eratosthenes bezeichnete dies als poetische Erfindung, und Apollo- doros schloß sich ihm an (Strabo VII 298 f.)- Allein nicht alle ur- teilten so einsichtsvoll. Im Gegenteil: keine Verse der Dias ausgenommen einzelne Stellen des Schiffskatalogs und der Topo- graphie der Troas haben die antiken Ethnographen zu so um- fänglichen Erörterungen veranlaßt wie diese, die schließlich Eusta- thios in echt scholastischer Weise „eine Art von Kompendium der Cholegraphie" nennt. Und vielleicht wird man so viel zugeben dürfen, daß diese Verse zeigen, wie der Horizont sich aus Märchen- duft allmählich zu entschleiern begann. Wer statt dessen Sonnen- klarheit verlangte, mußte folgerichtig dahin gelangen, die dichterischen Phantasiebilder auf die Karte zu bannen: in der Tat waren die Agauoi und Hippemolgoi, wahrscheinlich auch die Glactophagoi und Abioi auf der Weltkarte des Agrippa im Nordosten Europas ein- getragen.1) Wir müssen auf die geographische Exegese der Verse, wenigstens insoweit sie für unseren Zweck in Betracht kommt, einen Blick werfen.

Der Artikel "Aßioi des Stephanos von Byzanz ist noch im Aus- zug eine Fundgrube erlesenster Zitate. Aber bei dem nicht genug zu beklagenden Verlust der Originalfassung ist für uns Strabo, wie gewöhnlich auf diesem Gebiete, der Vertreter älterer Gelehrsamkeit. Er spricht im VII. Buche seitenlang (295 § 2 303) über die Auf- fassungen dieser Verse: Ephoros, Eratosthenes, Apollodoros und Poseidonios sind die Zeugen. Mit einem langen Berichte aus Poseidonios setzt die Darlegung ein. Der Zusammenhang, in dem Strabo sie bringt, ist bemerkenswert: er läßt sie auf seine Behand- lung Germaniens (289 295) folgen, innerhalb deren die mit Poseidonios' Namen bezeichnete Ethnographie der Kimbern steht (293-294). In dem kleinen Verbindungsstück (295 § 1), das dazu bestimmt ist, vom germanischen Nordwesten Europas zu den Völkern an der West- und Nordküste des Pontos und an der Maiotis überzuleiten, sagt er: Pytheas mit seinen in ein trugwissenschaftliches

1) Vgl. M. Kießling, R. E. VIII 2588 (im Artikel <Hunni*). Dasselbe gilt übrigens von den Hyperboreern, vielleicht auch den Arimaspen und Rhipaeen.

9*

132 Kap. II. Quellenkritisches zur Ethnographie europäischer Völker

Kleid gehüllten Lügen solle beiseite bleiben; „auch die Märchen des Sophokles (aus dem er einige Verse anführt: fr. 870) müssen wir", schließt er, „jetzt beiseite lassen, wie im Phaidros Sokrates, und uns auf dasjenige beschränken, was wir aus der alten und der zeit- genössischen Geschichtsforschung überkommen haben." Hier merken wir schon, welcher Wind ihm die Segel schwellt. Das erlesene Dichterzitat, die preziöse Anspielung auf Piaton1), vor allem auch der Hinweis auf Pytheas den er dem Polybios folgend für einen Schwindler, seine Quelle dem Eratosthenes folgend für einen bedeutenden Forscher hielt, weisen in ihrer Vereinigung auf Posei- donios.2) Und richtig: sein Name fällt wenige Zeilen darauf (295 §2). Er beherrscht die Darlegung mehrere Seiten lang, bis 297 § 4, aber so, daß Strabo ihm nicht blindlings folgt, sondern gegen einen offenkundigen Irrtum des Poseidonios zwar mit aller Ehrerbietung, aber erfolgreich polemisiert.3)

Auf eine weitere Analyse des Strabonischen Berichts, so reizvoll und für den Nachweis von Strabos Arbeitsweise nützlich sie auch wäre, möchte ich nicht eingehen, da sie mich zu weit vom Thema abführen würde. Wir wenden uns vielmehr gleich dem Homer- scholion zu, das in den Handschriften AT zum N 6 beigeschrieben

1) Beides hängt zusammen: die Sophoklesverse betreffen Boreas und Orei- thyia, das Mythologem, das Sokrates im Phaidros 229 erwähnt mit der Be- merkung, man müsse es jetzt Ernsthafterem zuliebe beiseite lassen.

2) Strabo unterläßt keine Gelegenheit, dem Pytheas, wo er ihn nennt, eins anzuhängen; die Ehrenrettung, die Poseidonios ihm Polybios gegenüber hatte zuteil werden lassen, hat er, da er von mathematischer Geographie nichts ver- stand, nicht anerkannt. Offenbar hatte Poseidonios auch hier über Pytheas ganz anders geredet, als es Strabo tut (5 JJv&sag 6 MaaßuXiäxr^ v.ax^sv6ccxo xrjg TtaQWKSccvLxidog, 7tQ06%rjiiaxi, ^gäfisvog xy tisqI ovqÜvlcc %al xa (iccQ-rjiiaxixä iöxogicc). Man merkt auch an einer stilistischen Ungeschicklichkeit, daß Strabo hier in den Kontext seiner Vorlage eingegriffen hat: die Platonische Floskel „das müssen wir jetzt beiseite lassen" bringt er innerhalb von fünf Zeilen zwei- mal (ida&(o6<xv iaxiov), indem er sie von der zweiten Stelle (Mythus von Boreas und Oreithyia) schon in die erste („Mythologeme" des Pytheas) hinübernimmt.

3) Ahnlich verhält er sich zu ihm auch sonst, z. B. II 100 102, wo er mit den Worten schließt: einem Philosophen, zumal einem, der um den ersten Preis ringe {6%£döv xi xal ttsqI itQaxsiav ceyravijo/zijxfl, vgl. Cic. Hortens. fr. 34 Baiter ille vel omnium maximus Stoicorum Posidonius), sei eine derartige Be- weisführung nicht zu verzeihen; das Schlußprädikat lautet: xccvxa [isv ovv ovx sv.

Gastfreundschaft. Homerisches und Germanisches 133

ist und über die"Aßiot handelt.1) Es ist ein sehr merkwürdiges Scholion,

auf dessen genauere Erörterung ich gleichfalls verzichten muß : es genügt

zu wissen, daß es auf demselben Quellenmaterial fußt, dem Strabo und

Stephanos das ihrige verdanken.2) In einem kleinen, uns hier allein

interessierenden Sätzchen bietet es aber mehr als die beiden genannten.

„Man sagt, daß sie (die Abioi) den Wanderern Speise und

Trank geben und sie dann von einem zum anderen geleiten"

(Xeyovöi de ccvrovg tovg böCzag rgicpovrccs äXXov uW.G) ölcc^s^xslv).

Zur Bestätigung also dafür, daß Homer sie die „gerechtesten Menschen'''

nenne, wird auf ihre Gastfreundlichkeit hingewiesen Aischylos

nannte sie in Versen des „Gelösten Prometheus" fr. 196, die zum

alten Inventar der Erörterung gehörten, da sie von allen Zeugen

zitiert werden8), drj^ov erdixcStatov ßQotav ajtccvtcov xal q>ti.o^£VG)~

1) Das Scholion wird auch in dem neuesten Kommentar der Germania zu c. 21 zitiert, aber mit mehreren Ungenauigkeiten in wenigen Zeilen.

2) So heißt es im Scholion: ovg Srj cpr\Giv COfirjQog) ändvxoiv stvat Sixaio- xdxovg, oxi xoivovg %%ov6i TtalSag xal yvvalxag xal xa ■xdvxa xlrjv £icpovg xal jrorrjpt'ov, bei Strabo 300 Sixatoxdxovg slitsv ccv&QooTtovg xohg

xoivcc xsxxrifisvovg tidvxa nkryv £icpovg xal %oxt]qIov, iv 8h xoig kq&xov tkc yvvalxag JJXaxcavix&g h^ovxag y.oivag xal xsxva und 302 xoivä ■xüvxa i^ovxs~ xd xb dVka xal xdg yvvalxag xal xixva xal xi]v olr}v Ovyyivsiav. Die ersten Worte Strabos stehen mitten zwischen einem seltenen, von Eratosthenes zitierten Hesiodverse (fr. 55 Rz.) und einem Aeschyleischen aus dem „Gelösten Prometheus", die zweiten in einem langen Zitate aus Ephoros. Die Wahr- scheinlichkeit spricht dafür, wie ich auf Grund eines Gesprächs mit F. Jacob j sagen zu dürfen glaube, daß Eratosthenes oder Apollodoros die Darlegungen des Ephoros (in der Evqö>%t]) erweiterte. Mit den interessanten Worten nXriv !-i(povg xal 7toxr\Qiov vgl. Nikolaos Damasc, itagadö^av €&<x>v övvaycoy^ bei Stob. flor. XLIV 41 (FHG III 463) HaQÖolvßvsg ovdkv xixxr\vxai exsvog if|co xvXixog xal ua%aigag. Aue derselben Schrift des Nikolaos bringt Stob. V 73 (ib. 460) ein längeres Zitat über die raXaxxoepdyoi, das sich mit Strabo sehr eng berührt ; daß in dieser Schrift manches aus Ephoros stammt, ist sehr wahrscheinlich (vgl. E. Reimann, Philol. LIV 1895, 654 ff.).

3) Der erste (vermutlich Eratosthenes oder Apollodoros : s. vor Anm.) hatte aus der langen, an geographisch-ethnographischen Raritäten reichen Rede des Prometheus an Herakles über dessen Zug aus dem fernen Osten bis in den äußersten Westen ein großes zusammenhängendes Stück ausgehoben, woraus Strabo einen Vers, die Quelle des Stephanos und des Scholions eine längere Versreihe wiederholten. Aischyloszitate bei Strabo auch IV 183. VII 268, beidemal Poseidonios gesichert, an zweiter Stelle über P. hinauf Ephoroe (J. Forderer, Ephoros und Strabon, Diss. Tübing. 1913, 26ff.).

134 Kap I!. Quellenkritischee zur Ethnographie europäischer Völker

xatov und, um dereu besondere Art aufzuzeigen, wird gesagt: sie verpflegen die Wanderer, indem sie sie von einem Hause in ein anderes geleiten. Damit vergleiche man die Worte des Tacitus von der germanischen Art der Gastfreundschaft (c. 21):

„Für gastliches Leben hegt kein anderes Volk so un- beschränkte Leidenschaft. Einen Menschen, er sei, wer er wolle, von der Schwelle zu weisen, gilt als Missetat. Je nach Ver- mögen tischt jeder dem Fremden sein Bestes auf. Ist der Vor- rat zu Ende, so macht der bisherige Wirt den Wegweiser zu einer neuen Herberge; er geht selbst mit, und ungeladen treten beide in das Nachbarhaus." Das liest sich wie eine Paraphrase des Homerscholions oder, wie es sich auch ausdrücken ließe: der vollständige Bericht, der im Scholion auf ein Sätzchen verkürzt ist, muß mit dem Taciteischen in weitgehender Übereinstimmung gestanden haben.

Das Homerscholion zu N 6, ferner das im vorigen Abschnitt be- handelte zu I 70 wir wollen sie kurz das „skythische"1) und das „persische" nennen haben uns derartige Kongruenzen mit Sätzen zweier aufeinanderfolgender Kapitel der Germania (21. 22) geboten, daß für beide dieselbe quellenkritische Erklärung zu suchen ist. Hier nun wird sich uns bewähren, was wir im ersten Abschnitt dieses Buches über Homer als den „Vater der Ethnographie" feststellten. Wer sich in das Ethos jener beiden Kapitel über Gastfreundschaft und Gelagö versenkt, wird Homerische Patriarchenluft zu kosten wähnen. Ein Satz der Germania wie dieser, der sich unmittelbar an den mit dem „skythischen" Scholion übereinstimmenden anschließt (c. 21 a, E.): „Beim Abschiede gehört es sich, dem Gaste zu bewilligen, was etwa er sich ausbittet, und mit derselben Unbefangenheit bittet sich auch der Wirt Gaben aus: an solchen Geschenken haben sie ihre Freude, aber was einer gibt, das rechnet er nicht an, was er empfängt, das verpflichtet ihn nicht" ließe sich leicht aus den Homerischen Ge- dichten beleuchten: man denke etwa an den Geschenkaustausch zwischen Mentes und Telemachos a 311 if. doch wozu Beispiele

1) Hesiod setzt in einem Verse, den Strabo S. 300 aus Eratosthenes zitiert (fr. 55 Rzach), die Skythen für die Homerischen ayavoi ein: Ai&iojidi; rs Aiyvg rs löh 2xvd-cc$ imt7Hio7.yov$. Hier zum ersten Male werden sowohl die Ligurer wie die Skythen genannt.

liastt'reundschaft. Homerisches uud Germanisches 135

lür etwas uns so Vertrautes? Es wird aber interessieren, daß auf die soeben zitierten Worte der Germania eine Interpolation folgt, die, wie ich glaube zeigen zu können (Anhang I 2 '■, der Völkerwanderungs- zeit angehört: damals hat ein Leser der Taciteischen Schrift, der mit den germanischen hospites der rauhen Gegenwart so ganz andere Erfahrungen gemacht hatte, in einer Art von Stoßseufzer seinem Empfinden darüber Ausdruck gegeben, daß die alten Germanen doch bessere Menschen gewesen seien. Doch von diesem Ausblick auf wild- bewegte Zeiten kehren wir zur Betrachtung heroischen Lebens zurück. In der Ethnographie war es seit frühester Zeit üblich, die Bräuche des Gastreehts, %svixä vö^iifia, zu verzeichnen1), eine aus dem Leben selbst, den Berührungen des Reisenden mit fremden Völkern er- wachsene Gepflogenheit. Da ergab es sich ganz von selbst, daß ein Hellene auf der Höhe seiner Kultur, der diese Bräuche primitiver Völker veranschaulichen wollte, seiner Sprache homerische Farbe auftrug. Und dies ist mehr als eine bloß gefühlsmäßige Erwägung. Wir sahen im vorhergehenden Abschnitte, daß das „persische" Homer- scholion einer Schrift „über die Lebensweise der Heroen in Homerischer Zeit" entnommen ist, deren Alter wir auf etwa 100 v. Chr. glaubten bestimmen zu können (S. 129,2). Diese Schrift, aus der wir besonders im I. Buche des Athenaeus Auszüge besitzen, stimmt nun mit Sätzen der' bei Diodor V erhaltenen keltischen Ethnographie des Poseidonios in Gedankenführung und Ausdrucks weise derartig überein, daß ein Zusammenhang unabweisbar ist. Unter der Voraussetzung nun, daß jene Datierung ungefähr richtig ist, gelangen wir zu der Annahme, daß Poseidonios die Schrift des Homerikers gekannt und benutzt hat. Ich wüßte nichts anzuführen, was einer solchen Annahme widerspräche. Eine Schrift, deren Spuren uns weithin kenntlich sind, wird sich bei ihrem Erscheinen nicht geringen Ansehens erfreut haben. Poseidonios mußte sie sympathisch sein: der Verfasser hatte die peripatetische Homererklärung verwertet, seine philosophische Richtung war die der Stoa, und er hatte vor allem ethnographische Vergleiche zwischen Homerischem und Barbarischem angestellt. Aber

1) Herod. I 135 l-sivixä dh vo^iaicc TIeqgui ttqogIevtcci öcvSqwv (lä).ißra. IV 76, 1 ^eivixotoi dl rofiaioiai xai ovxoi cdväg %q&6&cu cpsvyovöi. Aristoteles in den vö[Li\i,oc ßuQßaQixd öfters, z. B. oi Aevxavoi cpil6£svoi xct) dixaioi (p. 380 Rose). Auch Ephoros: vgl. unten S. 140, 1.

136 Kap. II. Quellenkritisches zur Ethnographie europäischer Völker

auch für den Fall, daß die Schrift dem Poseidonios noch nicht vor- gelegen haben sollte, würde dadurch das Ziel unserer Beweisführung nicht verschoben werden. Poseidonios als Vermittler für die Stiltönung jener Sätze der Germania bliebe bestehen, da ja die homeri.sierende Schilderung von Barbarenbräuchen, wie uns die Straboanalyse zeigte-, weder von dem Homeriker noch von Poseidonios erfunden, sondern als ein viel älteres Inventarstück der Ethnographie übernommen und von jenem für die Homererklärung, von diesem für die Darstellung der jetzt greifbarer gewordenen nord europäischen Völker ausgenutzt worden ist. Seine Vorliebe für Homerisches Kolorisieren begegnete uns schon (S. 67,2. 74f); in seinen Historien waren, wie Athenaeus auf das Odysseeprooemium anspielend wohl mit Worten des Poseidonios selbst sagt, „vieler Menschen Sitten und Bräuche" geschildert (o. S. 26). Ich glaube die Übereinstimmungen zwischen dem Homeriker und Posei- donios dem Leser am bequemsten durch eine Gegenüberstellung vor Augen führen zu können, wobei ich zu bedenken bitte, daß wir das I. Buch des Athenaeus nur in einem Auszuge besitzen, der aber dadurch gelegentlich etwas ergänzt wird, daß er im V. Buche auf einzelnes nochmals einging. Homerische Schrift bei Athenaeus I Poseidonios bei Diodor V über Kelten

17 F xa&sgovxat d' £v xoig owösiit- 1 c. 28 äsi7tvov6t 6h Ka&r^isvoi itdvzag votg ol ygasg, ov xaxaxixXivxai. V192E ovx ln\ &q6vcov, dXX' Inl yijg, vno-

txa&i^ovxo 6h xccl Ssiitvovvreg ol xöxa. 6xgw\ia6L %Qcb(i£VOL Xvxcov ?} xvvä> v

noXXa%ov yovv b "OuiTigog cprjGiv dtoiiuoi. Vgl. Poseidonios bei Athe-

&jst7]e s£ovxo xaxa xXiciiovg xs &gö- naeus IV 151 E über die Kelten und

vovg xe {cc 145). bei Strabo III 155 über die iberischen

ö yctg ftgövog usw. Bergstämme: xa&riLiEvot, 6ziitvov6iv.

17 B TtoXvxsXslg 6' avxolg xal oi diu- 2 6iaxovovvxai 6' vtco xwv veaxdxov xovovlievoi. V192B 6ovXog ovöslg tjv TtoäSav £%6vx(ov ijXixiav, uggivwv

ö 6iaxovq6wv, aXX' oi vioi xwv iXsv&i- xs vocl ftriXsiäv.

qcov cpvo%6ovv.

11 F Ttao' oXr\v 6h xr\v ßvvovciav -xccq- 3 TtXr\6iov 6* avxwv £6%dgui xslvxai y£- ixsivxo al xQLX7ts£cci nXriQSig, tag naga. Lioveca xvgbg xal Xißr\xag §%ov6cct

TioXXoig xwv ßagßdgav hxixal vvv xcci oßsXovg 7iXr)gsig xgscov öXoiisXmr.

E'O-og $6x1.

13 F £töi 6h xal xoig agicxoig xaxa 4 to-u? d* aya&ovg av6gag xaig v.aXXi- öslnvcc xiiial. Tv6sL6r\g yovv xal xg£a6i exaig xwv xgswv fioigcug ysgaigova.

v.al TtXslotg 6£7ideG6i xiii&xai (0 162) ') xa&dnag xal 6 Ttoii]xi}g xbv Aiavxc:

xal Ai'ag itagsioccysi xiliwlisvov v%b xäv aot,-

1) Dieser Vers wird auch in der aus der Homerischen Schvift abgeleiteten des Philodemos (s. o. S. 129, 2) zitiert (col. VIII 34).

Gastfreundschaft. Homerisches, Keltisches und Germanisches 137

i'mroi6idir}VEXE£6t.'/SQCCiQETai(H3'21). ßzewv, ors 7iQbgnExzoQa uovOfia.X7J6c:g

\rgl. 9 A Aiavxa. (ietcc xi}v p,ovou,a%iccv dviy.vßE,

väroiei ytQcciQEv\ väroiciv 8' Aiavra dt.r\VEY.£S6i yi-

ocuqs (H 321).

Die Sätze des Poseidonios stehen in dieser Reihenfolge hinter- .einander, jedem keltischen v6[ii[iov entspricht ein Homerisches, die jHerübernahme ist aber keine mechanische, sondern die landesüblichen [Besonderheiten kommen zu ihrem Rechte. Die homerische Färbung setzt sich in einem fünften Satze fort, zu dem wir bei dem Hom eriker keine Parallele besitzen, da es dem Athenaeus wesentlich nur auf Essensgebräuche ankam: „Sie laden auch die Fremden zu den Fest- schmäusen und fragen sie erst nach dem Mahle, wer sie sind und was sie wünschen": die letzten Worte tCvsg sl6l xal xlvcov %qsCccv e%ov6iv sind nichts als eine Paraphrase bekannter Homerischer (z. ß. «123 „sei willkommen, Fremdling, bei uns sollst du es gut haben; nach dem Mahle wirst du erzählen, otteö 6s xqi1}", oder v 252 ,,<b Ifffot, tCvsg böte, woher kommt ihr über Meer'?, führt euch ein bestimmtes Geschäft hierher?"). Die Abschnitte über Gelage und Gastfreundschaft waren also in der keltischen Ethnographie des Posei- donios zusammengeordnet, wie sie es in der germanischen des Tacitus sind, nur daß bei diesem die Reihenfolge aus Kompositionsgründen umgekehrt ist.1) Wenn man dem Taciteischen Kap. 21 statt der all- gemeinen Überschrift „Gastlichkeit" eine besondere geben wollte, ließe sich keine bessere finden als diese: „Gefälligkeit (facultas) und Menschen- freundlichkeit (humanitas)'2) gegenüber Fremden": die diesen Taci- teischen Substantiva entsprechenden griechischen Adjektiva itQog

1) Die hospitia bilden nämlich einen wirkungsvollen Kontrast zu der voraus- gehenden Darstellung von Fehde und Blutrache, und an die Schilderung der Gelage schließt er die der Nahrungsmittel an.

2) humanitas heißt hier fast so viel wie liberalitas: diese Worte werden, wie R. Reitzenstein in der feinen Untersuchung über die Begriffsentwicklung des Wortes (Werden u. Wesen der Humanität im Altert., Straßb. 1907, 24) be- merkt, bei Cicero zweimal verbunden. Daß tpiXav^Qatitia. in hellenistischer Zeit geradezu „Gastfreiheit" bedeuten konnte, ist bekannt (S. Lorenz, De progressu notionia yiXavd'QcoTtiag, Diss. Leipz. 1914, 31 f., gibt Belege aus Inschriften des III. Jahrh. v. Chr.); für humanitas in diesem Sinne habe ich mir einen hübschen Beleg aus der Peregrinatio Aetheriae notiert: 3, 1 susceperunt nos ibi satis humane monachi, qui ibi commorabantur , praebentes nobis onmem humanitatem . ähnlich 5, 10.

138 Kap, tt. QuellenkritiBchea zur Ethnographie europäischer Völker

<V£ rovg tavovg ircietxBig1) y.ui ([ iha>&Q(OJtot stehen in der kell iberischen Ethnographie Diodors (V34, 1), die anerkanntermaßen ebenso sicher dem Poseidonios gehört wie die keltische. Ilellenen- luft weht uns, wenn mein Gefühl mich nicht täuscht, auch aus dem Taciteischen Sätzchen proximam domum non invitati adeunt ent- gegen. Warum wird eigens gesagt, daß sie das Nachbarhaus „uneingela- den" betreten? Ein beliebtes Sprichwort, dessen Kenntnis die Parömio- grapheu sogar in Homer (B 408) hineindeuteten, lautete: ftxXrjToi (auch avTÖfiatoi, avt6xXi]toi) d' aycc&oi uyu&ibv 63tl öalrccg taeiv.*) Es darf wohl als wahrscheinlich bezeichnet weiden, daß eben auf dieses Sprichwort in der zugrundeliegenden Schrift angespielt worden war: ist uns doch bei Poseidonios, dem Kulturhistoriker aristotelischen Zu- schnitts, die Vorliebe für Sprichwörter noch in den Fragmenten kennt lieh (vgl. o. S. 116, 4).

Auf Grund aller dieser Umstände darf vielleicht der Versuch unternommen werden, einige Sätze der beiden Kapitel der Germania griechisch zu paraphrasieren, ein Versuch, der natürlich keinen An- spruch erhebt, die Worte der Vorlage, sondern nur ihr Ethos und vielleicht ihre Stilf'ärbuug wiederzugewinnen.

T&v \itv ovv y.cctcc 'xa. 6Vfnt6enx kcci xr\v £evi- convictibus et hospitiis non aHagen -

y.i]v epiliuv gvvovöi&v iv xolg [läliora itpit- effusius indulget. qu°mcumque mor-

(isvoi bvxivovv xijg bnodo%f]g &7tElgysiv ußsßhg talium arcere tecto nefas habetur:

vo[ii£ov6r iv. x&v yccQ v7taQ%6vxcov kccxügksvcc- pro fortuna quisque apparatis epulis

c^ivaig itccg ng sv<a%iocig £svod'oxsi, iitilst- excipit. cum defecere, qui modo hos-

■xofiivrig dt xfjg cccp&oviag xbv ^ivov allog pes fuerat, monstrator hospitii et co

allm 6icc7ti(ntsi, coffrs avußaivsiv xb Isyöfisvov mes; proximam domura non invitati

dt] xovxo, &x%rjxovg Uvea xovg aycc&ovg inl adeunt. nee interest: pari humani-

dcäxccg x&v nh]Giov. jisxu yag xfjg avxi'ig täte aeeipiuntur. notum ignotumque

cpilavQ-QOiitiag ^evl^ovöi, xovg yvaQifiovg ovdhv quantum ad ius hospitii nemo discer-

SiaxQivovreg x&v ayväxcov. xcel a piv xig nit. abeunti, si quid poposcerit, con-

amäv ccixTjG]], 7iccQb%eiv vvvdfiißtai, xfj <f avx-g cedere moris; et poscendi invicem

naliv iitccixov6iv iitiUKela. %cciqov6i . yaQ da- eadem facilitas. gaudent muneribus.

1) iitisixua, iitisixijg waren Lieblingsworte des Poseidonios: in der auf ihn zurückgehenden Diodorischen Buchserie XXXIII XXXVII kommen sie 12mal vor, mit cpilccv&QontLu, cpilavd'Qanog verbunden XXXIII 23, XXXIV/V 11. XXXVII 14 tjjildv&QCDitog im Sinne „gastlich" (s. vorige Anm.) XXXIV/V 13 v.ccxa ras xi)g xqk- ni^Tig doöEig cpilccv&Qontovg.

2) Das weitverzweigte Material ist am besten gesammelt und beurteilt von Hug-Schöne zu Plat. Symp. 174 B.

Gastfreundschaft. Ethnographische Wandermotive 139

gsafg ovS' a phv £§06av xarccXoyigovTca, <bv sed nee data imputant nee aeeeptis

6' ilaßov %uqiv 6q>ei\ov6Lv . . . FLeqI d' siQrjvr^ obligantur ... De paee ac bello ple-

y.al itoXspov öv^ßovlsvscd'cci pkv eico&OTsg iv rumque in conviviis Consultant .. .:

avößirioig, i-jtiKQiv£t,v ds m'jcpovTEg zf] votsgcclci postera die retraetatur, et salva

rec twv xaigcöv in ajtqpörfpo: 6w%ov6V Xoyl- utriusque temporis ratio e3t: deli-

^uvtai phr yccg, ots VTtoxQivEß&cu äyvoovßi, berant dum fingere nesciunt, con-

tyr\tpi£ovxcci äi, ote ocpttXXEö&ai uSvvarovßiv. stituunt dum errare non possunt.

Aus der Analyse der beiden Tacituskapitel 21. 22 ergibt sieb, daß wir in ihnen auf einem Boden stehen, der für die Schilderung von Bräuchen nichthellenischer Völker seit langer Zeit urbar gemacht worden war. Die Wurzeln liegen in der peripatetischen Homerexe- gese, die ein belesener Mann in geschmackvoller Weise zubereitet hatte, indem er sie mit einer uns sogar noch in der epitomierten Fassung des Athenaeusexzerpts, also in doppelter Verkürzung, kennt- lichen Fülle ethnographischen Parallelmaterials versah, das auch in unseren Homerscholien deutliche Spuren hinterließ. Sein Ziel war ein populärphilosophischer Vergleich der Einfachheit homerischer und barbarischer Sitten im Sinne der Stoa. Poseidonios hat, wie es scheint, diese Schrift, die neueste ihrer Art, für seine Ethnographien, die er, ein interessierter Homeriker1), gern o^rjoizäg stilisierte, be- nutzt. Die homerische Färbung einzelner Sätze der beiden Tacitus- kapitel und ihre zweifache Übereinstimmung mit Homerscholien er- klärt sich also aus Übertragungen, die von langer Hand her erfolgt waren. Man könnte von ethnographischen Wandermotiven sprechen: konnten wir doch früher das Motiv eines „nur sich selbst gleichenden Volkes" von Ägypten über Skythien nach Germanien verfolgen. Da- bei braucht die Wahrheit eines Motivs als solches nicht angezweifelt zu werden es] handelt sich oft um allgemeingültige Erscheinungsformen ethnischen Lebens, die Bastian einst „Völkergedanken" benannte . aber freilich wurde es durch den Prozeß fortschreitender Übertragung und Stilisierung in ein Licht gerückt, dessen schillernder Glanz die un- scheinbarere Treue des Bildes unter Umständen beeinträchtigen konnte. Aus diesem Grunde dünken mich die schlichten Caesarischen Worte von der germanischen Gastfreundschaft (VI 23, 9) liospitem violarc fax non putant: qui quaque de causa ad eos venerunt ab iniuria prohi-

1) An der Homeriorschung hat er lebhaften Anteil genommen, sich als Stoiker vielfach zwar dem Krates angeschlossen, aber nicht blindlings, sondern so, daß er auch Aristarchos gelegentlich folgte: E.Maaß a. a. 0. (o. S. 98, 3) 167—202.

140 Kap. II. Quellenkritisches zur Ethnographie europäischer Völker

bent sanctosquc habent, hisque omnium domus palet victusque commu- nicatur gerade wegen ihrer Allgemeinheit glaubhafter als die Taci- teischen , deren besonderer Charakter zu stark durch hellenische Motive bedingt erscheint.

Für solche Motivübertragung sei bei dieser Gelegenheit ein Beispiel augeführt, bei dem wir an die soeben angestellte Untersuchung an- knüpfen können. Von seiner Schilderung der Gastfreundschaft geht Tacitus, wie bemerkt, zu derjenigen der Essensgebräuche und der Gelage über (c. 22 Auf.). „Jeder hat seinen gesonderten Sitz und seinen eignen Tisch." Wir wissen aus den vorhin angeführten Kon- kordanzen des Homerikers mit Poseidonios, daß auf das „Sitzen" bei den Mahlzeiten sorgsam geachtet wurde, aber die Übereinstimmung geht hier wieder bis ins einzelne: denn ein Zitat aus der Homeri- sehen Schrift bei Athenaeus (I 11 F) besagt, daß man gerade auch die Frage, ob bei Homer „neben jedem einzelnen Speisenden ein Tisch stehe", genau erörterte (separatae singulis sechs et sua cuique mensa ~ sxdötG) x&v dccixvnövcov xax' avÖQa xccQcczsixca roccjis^a). Dann geht es bei Tacitus so weiter: tum ad negotia nee minus saepe ad convivia procedunt armati, wobei es in der Trunkenheit häufig zu Kämpfen bis zum Totschlag komme. Hiermit ist schon von anderen zusammengestellt worden eine von Athenaeus (IV 154 A) aus Poseidonios überlieferte Gepflogenheit der Kelten: „Die Kelten, sagt er, fechten manchmal während des Gastmahls im Zweikampf; sie versammeln sich nämlich in Waffen, und es kommt bis zum Tot- schlag." Nun aber hat Tacitus über das Waffentragen schon vorher gesprochen: c. 13 nihil neque publicae neque privatae rei nisi armati agunt, und an diesen Worten können wir wieder das Wandern eines ethnographischen Motivs beobachten. Fast wie die griechische Para- phrase der Mehrzahl dieser Worte lauten die in einem Fragmente des Nikolaos von Damaskos überlieferten (FHGIII 457, fr. 105): KsXrol öidrjQocpoQOvvtsg xccxcc %6Xiv ttuvxu 3tQ<ixxov6LV. Sie sind mit Wahrscheinlichkeit auf Ephoros zurückgeführt worden.1) Der

1) Von E.Dopp, Die geogr. Studien d. Ephoros I (Gymn. Progr. Rostock 1900) 7; über Ephoros als Quellenautor des Nikolaos s. auch o. S. 133, 2. Auf die zitierten Worte folgen die interessanten Bemerkungen: „Größere Buße wird dem Morder eines Gastfreundes als dem eines Bürgers auferlegt: für jenen ist der Tod, für diesen Verbannung die Strafe. Sie ehren vorzüglich diejenigen, die dem

Gastfreundschaft. Ethnographische Wandermotive j[41

Blick der Ethnographen war für diese Sitte durch eine berühmte Bemerkung des Thukydides geschärft worden (16): „Ganz Hellas trug (in alten Zeiten) Waffen, weil die Wohnungen schutzlos und die persönlichen Beziehungen unsicher waren: so verkehrten sie denn ganz gewöhnlich in Waffen, wie die Barbaren." Das hat Aristoteles aufgegriffen (Pol. B 8. 1268b 39): „Die alten Bräuche waren gar einfältig und barbarisch: so pflegten die Hellenen Waffen zu tra- gen." Ephoros und Aristoteles sich begegnen zu sehen, ist nichts Ungewöhnliches.1) Ephoros hat also das althellenische vo^ii^iov, das auch ein barbarisches war, für seine skizzenhafte keltische Ethno- graphie — zu einer genauen fehlte damals noch das Beobachtungs- material — , Poseidonios für sein ausgeführtes Bild derselben ver- wertet; auch in seiner Skizze der germanischen Ethnographie scheint er getreu seiner Überzeugung, daß Kelten und Germanen sich in den meisten ihrer Bräuche eng verwandt seien das Motiv gebracht zu haben, das von da aus iD die Taciteische Germania gelangte. Aber hiermit noch nicht genug des Wanderns. Unter den geographischen Exkursen des Ammianus betrifft der umfangreichste das persische Reich (XX1U 6, 1 85), in das er Skythien miteinbegreift. Von den skythischen Stämmen sagt er (62): sciendum est, inter has natio- nes paene ob asperitatem nimiam inaccessas homines esse quosdam mites et pios, ut laxartae sunt et Galacto fagi, quorum meminit vates Homerus in hoc versu:

riccxTocpci'ycav ccßiav %£, dwaioTurcüv äv%-QÖ}%iov. Da sind wir also wieder bei den Homerischen „Gerechtesten Menschen'', mit deren Betrachtung wir diesen Abschnitt eröffneten. Weiterhin (75) heißt es von den Persern: omnes promisce vel inter epulas fcstosqi«'

Gemeinwesen Land zuerwerben. Die Türen ihrer Häuser schließen sie niemals." Wie Poseidonios, so hatte schon Ephoros die Gastfreundschaft der Kelten be- handelt: die Worte Strabos 304 "Etpogog . . . cpilillT\vag ccnocpalvst tovg av- ^qöonovg (die Kelten) werden ergänzt durch die sicher aus Ephoros abgeleiteten des sog. Skymnos 183 ff. %qö>vxcci di KsXxol rolg Zdeötv 'EXXr}vixoig 'ixovxeg oixsioxaxa jrpog xt\v ' EXXdda dta xccg vTtodo%ag xwv ini^svov^isv(ov.

1) Vgl. Wilamowitz , Aristot. u. Athen. I 305 f. Aristoteles verfügte über mehr Material als Thukydides, denn er fährt fort: „Und sie kauften sich gegen- seitig die Frauen ab. Überhaupt sind all die übrigen alten Bräuche von einer überaus großen Simplizität, so z. B. ein Mordgesetz von Kymeu, welches er dann anführt.

142 Kap. II (..{uellenkritisches zur Ethnographie europäischer Völker

dies gladiis ci/ncti cernuntur, quem (haecorum veterum morem abiecisse primos Atheniensis Thucydides est auctor amplissimus. Dieser Exkurs des Ammianus geht stellenweise auf ausgezeichnete, ihm durch un- kenntliche Zwischenglieder vermittelte Gewährsmänner zurück, unter denen sogar Eratosthenes nachgewiesen worden ist.1)

Die Homerischen „Milchesser" sind, wie man sieht, bis ans Ende des Altertums nicht zur Ruhe gekommen: Märchenartiges ist unsterb- lich. Daher feierten sie denn auch mit der Wiedergeburt der An- tike ihre Auferstehung. Ammianus war zu Beginn des XV. Jahrb. ein ganz neuer Schriftsteller, den begreiflicherweise gerade auch die deutschen Altertumsfreunde begrüßten. Unter den Humanisten, die die Taciteische Germania für die Urgeschichte der Deutschen nutzbar zu machen unternahmen (s. o. S. 3 f.), nimmt Johannes Aventinus (Joh. Turmair 1477 1534) einen angesehenen Platz ein. Von der damals allgemein verbreiteten Vorstellung, die Skythen seien Germanen ge- wesen, aussehend, hat er in seiner Bairischen Chronik die sein Ideal- bild von den biederen Germanen störende Nachricht des Tacitus über die germanische Trunksucht mit folgenden Worten widerlegt, die er auf eine „Satzung des Tuischo" zurückführt2): „Der gemain man trank kein wein nit, lescM und püest3) den hunger, ersettigt die natur mit milich käs naber prei oder mues1), darumo zuenambt uns Homer us die fr u mmen m i Ich. fresser."

VIII. DER VERMITTLER ZWISCHEN POSEIDONIOS

UND TACITUS

Die Spuren Posidonischer Ethnographie sind, wie wir sahen, in

der Taciteischen so deutlich ausgeprägt, daß man zunächst geneigt

sein wird, sich dies durch unmittelbare Benutzung jener in dieser

zu erklären. Und doch wäre diese Annahme irrtümlich.

„Tacitus wird den Poseidonios schwerlich gelesen haben, aber

1) Mommsen, Ammians Geographica, Hermes. XVI (1881) 625 = Ges. Sehr. VII 415.

2) Johannes Turmair's gen. Aventinus. Sämtl. Werke herausg. von der K. Akad. d. Wiss. IV (München 1883) 81.

3) D. h. 'büßt' s. v. a. 'bessert'", 'mindert'.

4) Die Kenntnis dieser altgermanischen Nahrungsmittel lieferten ihm Caesar und Plinius; dann folgt Ammianus, den er in der Chronik zweimal namentlich zitiert.

Tacitus und das Helienentum 143

seine Schilderung der Germanen wurzelt doch ebenso wie die der Kelten durch Caesar in den geographisch-kulturhistorischen Exkursen des Poseidonios." Dieses Urteil, das Wiiamowitz sich bildete1), be- steht zu Recht; ja, man wird über das unmittelbare Verhältnis des Tacitus zu Poseidonios noch zuversichtlicher im negativen Sinne sprechen dürfen. Es gibt keinen großen römischen Schriftsteller, der sich allem Griechischen gegenüber so ablehnend verhielte wie Tacitus. Das Gefühl für die Größe des römischen Imperiums, der Stolz auf das nationale Römertum ist bei ihm ungewöhnlich stark entwickelt; dem gesamten Orient, nicht etwa bloß dessen hellenisierten Barbarenreichen, sondern dem ganzen Hellenentum steht er teils wie sein Zeitgenosse Iuvenal schroff abweisend, teils mit kühler Zurückhaltung gegenüber.2) Seine Kenntnis der griechischen Lite- ratur im Dialogus reicht nicht über die in der Schule gelesenen Klassiker hinaus, die er den Modernen gegenüber erhebt; wo er in dieser Schrift entlegenere Autoren nennt, sind sie ihm durch latei-

1) Kultur d. Gegenw. I Abt. VHP (1912) 176. Ähnlich im Griech. Lesebuch II 208.

2) Als Reaktion gegen diese römerstolze Haltung der Trajanischen Zeit kam dann die hellenophile der Hadrianischen, die aber nicht ohne Widerspruch blieb. Von demselben Annius Florus, mit dem Hatirianus das bekannte spielerische Versduell ausfocht, besitzen wir drei trochäische Septenare (Poet, lat. min. IV 347), die e3 erlaubt sei in einem Über.setzungsvei'such hier wiederzugeben:

„Fort mit überseeischen Bräuchen, Schminke bloß und Unnatur: Tadellos lebt auf der Erde doch der römische Bürger nur; Mehr gilt mir der eine Cato als dreihundert Sokrates." Der Verf. hatte seine besten Jahre unter Traianus verlebt dessen Regierung er in der Praefatio zu seinem Geschichtsabrisse als den Beginn eines neuen Zeitalters der römischen Geschichte preist ; unter Hadrianus war er alt und mochte die ostentative Fürsorge, die dieser den Provinzen angedeihen ließ, mit gemischten Gefühlen ansehen. Beiläufig: in den Erörterungen der Frage, ob der Dichter und der Verf. des Abrisses eine und dieselbe Person seien, ist für die zweifellos richtige Entscheidung der Identität m. W. noch nicht verwertet worden die Übereinstimmung in Gedanken und Worten jener Verse sperne mores transmarinos usw. mit dem Epilog des I. Buches des Ab- risses: haec est üla tertia aetas populi R. transmarina, in deren Verlauf die Laster des Orients in Rom Einzug gehalten hätten: Syria prima nos victu corrupit, mox Asiatica Pergament regis hereditas. ilfae opes atque divitiat ndflixere saeculi mores usw.

144 Kap. II. Quellenkritisches zur Ethnographie europäischer Völker

nische Quellen seit Cicero vermittelt. In den Annalen hat er einmal (VI 6) aus Anlaß des berühmten Zitates aus dem Tiberiusbriefe, der sich ihm als Abbild niederträchtiger Bosheit eines Tyrannen, uns als ergreifendes Dokument gestörter Seelenharmonie eines durch schweres Erleben zum Menschenverächter gewordenen hochgesinnten Fürsten darstellt, auf eine Stelle aus Piatons Gorgias hingewiesen, freilich ohne den Namen zu nennen, da der kunstgerechte Stil dieg nicht empfahl. Es wäre verkehrt, daraus eingehendere Lektüre Piatons erschließen zu wollen: an dem Gorgias hat ein so ange- sehener Redner und ein so beliebter Lehrer der Rhetorik, wie es Tacitus nach den Briefen des Plinius mindestens ein Jahrzehnt lang o-ewesen ist, nicht gut vorbeigehen können1), und die recht allgemeine Ausdrucksweise an jener Annalenstelle neque frustra praestantissimus sapientiae firmare solitus est könnte sogar den Verdacht eines Be- zuges nicht aus erster Hand erwecken.2) Mit sichtbarer Billigung berichtet er einen Ausspruch seines Schwiegervaters, der, in Forum lulii geboren, bedauerte, sich in dem nahen Massilia philosophischen Studien ernsthafter hingegeben zu haben, als es erlaubt sei Romano ac senatori (Agr. 4).3) Seine „Weltanschauung4', von der man in letzter Zeit m. E. zu viel Aufhebens macht, war jedenfalls erstaun- lich unphilosophisch. Was hätte nun einem Manne von solcher echt römischen Gebundenheit des Geistes ein Geschichtswerk wie dasjenige des Poseidonios bieten können, das von philosophischen Reflexionen und nun gar solchen der Stoa durchtränkt war, der Tacitus wenig Sympathien entgegenbrachte? Auch die mit Be- hagen das Kleine ausmalende Darstellungsart des Poseidonios4) stand

1) Spuren der Lektüre des Phaidros glaubt R. Reitzenstein im Dialogus de oratorihus zu erkennen: Nachr. d. Gott. Ges. 1914, 207 f. Auch dieser Dialog behauptete seinen Platz in der Rhetorenschule.

2) Doch möchte ich darauf kein besonderes Gewicht legen, da mir die unerfreuliche Manier der jüngeren Prosa, solere, assuescere u. dgl. fast nur periphrastisch zu verwerten, nur zu wohl bekannt ist.

3) Das ist, ins Römische übertragen, der Standpunkt des- Kallikles im Gorgias 484 D, ohne daß direkte Bezugnahme anzunehmen wäre.

4) Wir erkennen sie am besten aus den Exzerpten der Diodorischen Bücher XXXII— XXXVII, innerhalb dieser besonders aus den Erzählungen des ersten Sklaven- und des Marsischen Krieges. Ein Buch, das unbedingt einmal geschrieben werden muß, über Poseidonios als Historiograph, wird sich auf

Poseidonios und Tacitus als Schriftsteller 145

zu der Gedrungenheit der Taciteischen geradezu im Gegensatz. Was sich etwa Vergleichbares findet dramatische Exposition, Etho- pöie u. dgl. , das hat als gemeinsame Ahnenreihe die hellenistische Historiographie, in deren Abfolge, kaum sich dessen bewußt, auch Tacitus stand. Endlich lassen auch die Schicksale des Posidonischen Werkes, soweit ich sie überblicke, seine Benutzung durch Tacitus so unwahrscheinlich wie nur möglich erscheinen. Bei der römischen Mitwelt und der ersten Generation nachher hat es wohl Aufsehen gemacht: Caesar hat die gallischen Abschnitte aus praktischen Gründen angesehen, auf Cicero machte der Stil, auf Varro die Polyhistorie1), auf Sallust die sittenrichterliche Art Eindruck2), Livius und Trogus war es für gewisse Geschichtsepochen unentbehrlich. Aber die Wirkung hielt nicht lange vor, ganz im Gegensatz zu demjenigen Geschichtswerke, dessen Fortsetzung es war. Das ist auch begreif- lich genug. Polybios, der- Begründer der hellenistisch-römischen Ge- schichtschreibung, wurde, aller stilistischen Anfeindung zum Trotz,

dieser in allem Wesentlichen unbedingt gesicherten Grundlage, die so viel breiter ist als auch die umfänglichsten namentlichen Zitate, aufbauen müssen. Schon die Analyse von G. Busolt, Beitr. z. Gesch. d. röm. Revolutionszeit (Jhb. f. Philol. CXLI 1890, 321 ff. 405 ff.), war sehr ergiebig und bezeichnet doch erst einen Anfang.

1) E. Wendung, Hermes XXVIII (1893) 345 ff.

2) Auf die reflexionsmäßige Haltung der Proömien von „Philosophie ' zu reden wäre doch eine zu große Ehre ist in diesem Sinne oft hin- gewiesen worden, zuletzt wohl von W. Jaeger, Nemesios v. Emesa (Berl. 1914) 130 f. Eine bisher m. W. übersehene wichtige Ergänzung bietet ein Vergleich des langen Exkurses de moribus mutatis Cat. c. 5, 9— c. 13 mit dem großen Prooemium, mit dem Poseidonios die Erzählung des Marsischen Krieges ein- leitete (bei Diodor XXXVII 3); die Kongruenz der Betrachtungsart ist hier besonders augenfällig. Ob und inwieweit Sallust für die Geschichtserzählung im Iugurtha die betreffenden Abschnitte des Poseidonios benutzt habe, das zu beurteilen reicht unser Material nicht mehr aus; die von F. Strenger, Strabos Erdkunde von Libyen (Berl. 1913) 92 notierte Kongruenz zwischen Strabo XVII 831 (d. i. Poseid.) fjv dh 7) Ttgbg rf] Mccvqovgiu (#<»(>«) 7CQ06odixcoT£Qcc rs xk) dvvcciJuxcoTEQcx mit Sali. lug. 16, 5 quae pars Numidiae Mauretaniam attivgit agro virisque opulentior ist bemerkenswert, aber doch wohl nicht beweiskräftig. Daß Sallust in dem ethnographischen Exkurse c. 17 ff. Poseidonios benutzt habe (Strenger 60, 4), vermag ich nicht zuzugeben; Triidinger a. a. 0. (0. S. 8, 1) 127 ff. hat vielmehr m. E. mit Recht bemerkt, daß die Sallustischen Ethno- eraphica anders orientiert sind als die Posidonischen.

Norden: Dir- germanische Urgeschichte 10

146 ^aP- QuellenkritischeB zur Ethnographie europäischer Völker

zum Range eines Klassikers, wenn auch zweiten Grades, neben Thu- kydides erhoben. Er war ferner der Geschichtschreiber römischer Größe, in Rom so heimisch geworden wie kaum ein zweiter helle- nischer Literat, endlich ein Historiker wirklich großen Zuschnitts. Den Vergleich mit ihm konnte Poseidonios nicht aushalten. Der Geschichtschreiber der Revolutionszeit, der Rom nur vorübergehend besucht hatte und sozusagen hellenisch orientiert blieb, könnt" nicht dem gleichen Interesse begegnen wie derjenige der Scipionen zeit. Ferner: als Philosoph, Naturforscher, Geograph, Kulturhistoriker, auch als geistvoller und glanzreicher Schriftsteller den Polybios weit hinter sich lassend, reichte Poseidonios an seinen durch Veranlagung Erziehung und Lebenserfahrungen staatsmännisch hervorragend be- gabten Vorgänger als Geschichtsforscher nicht heran.1) Endlich erhielten seine 'I<5toq(cci ^iträ üoXvßiov dies war nach Suidas de: Titel durch die rl6t0Qücä v7to[ivrjnccrcc des Strabo, die vom V. Buche an den Titel [isrä JToXvßiov trugen (Strabo XI 515), eine Ergänzung, deren Konkurrenz deshalb erheblich war, weil sie etwa ein halbes Jahrhundert tiefer, bis zu Beginn des Augusteischen Prinzipats hinabreichten und sich als bequeme Stoffsammlung, in die auch das Posidonische Werk hineinbezogen war, empfahlen: so hat der judäische Autor, aus dem Josephus ganze Bücher seiner Archäologie abschrieb, das genannte Stra bonische Werk zur Er- gänzung des Nikolaos von Damaskos und Ptolemaios von Askalon als nützliche Quelle herangezogen2 , und auch Plutarch ist an ihr nicht vorbeigegangen, er freilich, indem er daneben auf Poseidonios selbst zurückgriif. Aber wenn Strabo, Nikolaos3), Diodor, Plutarch

1) Das Crteil Ed. Zellers (Philol. d Gr. III l3 S. 575, 1): „Unmöglich kann ein kritischer Geschichtsforscher sein, wer das Unwahrscheinlichste ohne jede ordentliche Beglaubigung hinnimmt"' (ähnlich A. Schmekel, Philos. d. mittl. Stoa 290) geht m. E. freilich zu weit. Auch seine Wundergläubigkeit hatte ihre Grenzen: die Entlarvung eines &v&QW7tog \iäyog xal rsQUTOvQyög, eines Syrers aus Apameia, erzählt er sogar mit sichtlichem Behagen (Diodor XXXIV 2, s o.S 122, 1)

2) Hölscher, R. E. IX 1963 ff.

3) Daß Nikolaos in der großen Kompilation seiner 'Ioroglai an Poseidonios so wenig vorbeigehen konnte wie Diodor in der seinigen, liegt auf der Hand, y-umal sich dem Syrer der Syrer als Gewährsmann empfahl. Es ergibt sich auch aus dem Zitat des Athenaeus VI 266 E NixoXaog 6 Il£QUiarr\T iy.bg *cä TloßsiSrnviog 6 EzcHv.bg iv raig 'IßTOQiaig ixärsgog . . . qprjci (ein Ereignis aus

Nachleben des Posidonischen Geschichtswerks 147

und Athenaeus1) das Geschichtswerk des Poseidonios zur Zeit der Julischen, Flavischen und Severischen Dynastien lasen, wenn letzte Spuren eigner Lektüre von seiten eines griechischen Historikers aus der zweiten Hälfte des III. Jahrh. und vielleicht eines grie- chischen Chronographen etwa derselben Zeit kenntlich sind2), so erlaubt das keinen Rückschluß auf die Lektüre seitens eines romi- schen Historikers Trajanischer Zeit. Nur zwingende Notwendigkeit, nämlich Mangel sonstiger Überlieferung, hätte Tacitus veranlassen können, das nicht klassische und sehr umfängliche Werk, ^dessen schriftstellerische Art der seinigen zuwiderlief, zu benutzen.3)

dem Jahre 86). Zur Bestätigung dient eine bis auf einzelne Worte genaue Kon- gruenz zwischen einem anderen, ebenfalls den Krieg mit Mithridates betreffen- den Fragment des Nikolaos (bei Athenaeus VIII 332 F) und einer Stelle der Schrift tveqI xoßuov 396a, 6: S. Sudhaus, der sie notierte (Rh. Mus. LX 1905, 575), hat nur darin geirrt, daß er das in dem Fragment erwähnte Apameia auf die syrische Stadt dieses Namens, die Heimatstadt des Poseidonios, bezog, während Apameia in Phrygien gemeint ist.

1) Daß Athenaeus ihn noch las, zeigen außer der Menge und Art seiner Zitate seine Worte XV 692 C ävccyivwöxav xr\v 6y86i\v xal eiy.oßrijv x&v IIo6si- daviov i6T0Qiwv . . . itr']or}6a (Masurius redet, d. h. Athenaeus durch ihn). Fr. Schühlein, Zu Posidonius (Progr. Freising 1891) 20 bemerkt zutreffend, daß die Lektüre des Poseidonios dem Athenaeus auch für das von ihm verfaßte Werk tisqI t&v iv Zvgia ßaoiXsv6ävTcov (Titel von ihm selbst V211 A bezeugte wichtig gewesen sei, woraus sich auch erkläre, daß zahlreiche Poseidonioszitate in den Deipnosophisten gerade Syrien betreffen.

2) Den Nachweis gedenke ich bei anderer Gelegenheit zu führen.

3) Einzelne philosophische und naturwissenschaftliche Schriften des Posei- donios behielten auch in der lateinischen Reichshälfte etwas länger ihr An- sehen: Seneca hat noch viel daraus unmittelbar entnommen, aber über diesen hinab wüßte ich Spuren direkter Lektüre nicht nachzuweisen. Bei Plinins n. h. II 85. VI 57 stehen zwei die Meteorologie betreffende Zitate: es ließe Bich aber leicht auf Grund des Kaibelschen Aufsatzes r;ber Antike Windrosen, Hermes JX 1885 zeigen, daß diese Zitate durch Varros Schrift De ora maritima vermittelt sind (vgl. auch o. S. 111, 1). In den philosophischen Schriften des Apuleius sowie in den Kommentaren des Macrobius zum Somnium Scipionis und besonderg des Chalcidius zu Piatons Timaios sind unzweifelhafte Stücke Posidonischer Lehre nachgewiesen worden. Aber die Quelle waren längst nicht mehr Originalschriften des von ihnen nie zitierten Poseidonios, sondern die durch Nachschriften verbreitete Schultradition: darüber hat in Weiter- führung von Gedanken W. Jaegers (Stud. z. Entwicklungsgesetz d. Metaphys. d. Aristot., 1912) K. Gronau, Poseidonios und die jüd.-chr. Genesiaexegese

10»

148 ^ap. II. Qnellenkritisches zur Ethnographie europäischer Völker

Eine Notwendigkeit dazu bestand aber für ihn nicht. In den mehr als anderthalbhundert Jahren, die zwischen Poseidonios und ihm lagen, war über die Germanen sehr viel geschrieben worden, die Verhältnisse hatten sich derartig geändert, daß der Ex- kurs des Poseidonios, soweit er nicht kulturgeschichtliches Material enthielt, weit überholt, ja veraltet war. Das Material dieser Art, das seinen Wert dauernd bewahrte, war aber längst in andere Bücher über- gegangen.

Läßt sich nun eines dieser Bücher nennen, durch das Poseidonios dem Tacitus vermittelt wurde? An zwei Voraussetzungen hängt die Antwort auf diese Frage: der zwischen Poseidonios und Tacitus stehende Schriftsteller muß zu diesen beiden in kenntlichen Beziehungen stehen, und er muß mit einer gewissen Ausführlichkeit über Germanisches geschrieben haben. Es gibt nur einen, der diese beiden Bedingungen erfüllt: Livius.1) Er hat, wie allgemein zu- gestanden ist, noch unter der unmittelbaren Wirkung des Posi- donischen Geschichtswerkes gestanden, dem er neben annalistischen Gewährsmännern als einer Hauptquelle von dem Punkte an folgte, wo er den Polybios aus der Hand legte. Anderseits ist das Livi anische Annalenwerk das Grundbuch gewesen, an das die Annalistik der Kaiserzeit anschloß, wie die Livianische ihrerseits an die- jenige der älteren Republik. Der ältere Seneca bringt in der sechsten Suasorie hintereinander Zitate aus den historici Asinius Pollio, T. Livius, Aufidius Bassus, Cremutius Cordus, Bruttedius Niger. Eine ähnliche Reihe, aber bis auf seine Zeit hinabgeführt, die sich fast unmittelbar mit derjenigen des Tacitus berührte, (Leipz. 1914) 294 ff. lehrreich gehandelt; dazu jetzt auch W. Bousaet, Jüd.-chr. Schulbetrieb in Alexandria u. Rom (Gott. 1915). Wie die aus Ciceros Trost schrift abgeschriebene Autorenparade des Hieronymus ep. 69, 5 legimus Cran. torem . . .; Piatonis Diogenis Clitomachi Carneadis Posidonii ad sedandos luctus opuscula percurrimus zu bewerten ist, wurde o. S. 111, 1 gesagt.

1) Daß Livius zu den von Tacitus in der Germania benutzten Autoren ge- hört haben müsse, ist natürlich oft ausgesprochen worden, aber solange für Poseidonios feste Grundlagen fehlten, war nicht weiterzukommen. Doch sei bemerkt, daß Gudeman auf dem richtigen Wege war, als er in der Einleitung zu seiner Ausgabe (1916) S. 26 schrieb, ,,daß Livius kaum andere Gewährs- männer damals zu Gebote gestanden haben können als Caesar und Poseidonios, der nachweisbar für ihn, wie für alle Späteren, die Hauptquelle für die Ge- schichte der Kimbern und Teutonen war".

Livius und Tacitus J4Q

bringt Quintilianus X 1,101 ff. Die Wirkung des Liviani sehen Werkes können wir gar nicht hoch genug veranschlagen, sein Verfasser ge- noß — mit Recht, muß man sagen, wenn man das Imposante des Ganzen und die Liebenswürdigkeit dieses Schriftstellers im Auge hat das Ansehen eines Klassikers, in dem jeder las, der rück- schauend und ausruhend sich ein Bild von Roms Größe in der Vergangenheit vor die Seele stellen wollte. Tacitus ist mit ihm so vertraut wie etwa ein Historiker der Gegenwart mit Ranke oder besser: wie frühere mit Schlosser. Er stellt ihm einmal ein hohes Zeugnis aus, freilich durch den Mund eines anderen Historikers, T. Livius, eloquentiae ac fidei praclarus inprimis (ann. IV 34 in einer Rede des Cremutius Cordus). Neuerdings ist mit Erfolg der Ver- such unternommen worden, Spuren der Lektüre des Livius bei Tacitus aufzuzeigen1): die Anlehnung ist nicht bloß in Motiven ge- nau, sondern erstreckt sich gelegentlich derartig bis in Worte hinein, daß Livius dazu verhilft, textkritische Probleme bei Tacitus zu entscheiden. Für britannische Geographie hat Tacitus ihn in der landesgeschichtlichen Einlage des Agricola (c. 10) genannt als veterum eloquentissimum. Nun aber standen bei Livius dem Exkurse über Britannien2) solche über Gallien und Germanien zur Seite. Da uns aus ihnen nichts erhalten ist, so müssen wir versuchen, ob sich den summarischen Erwähnungen in den Periochae vielleicht eine oder die andere, wenn auch noch so geringfügige Erkenntnis abringen läßt.

1) G. Andresen, Tacitus u. Livius, W. f. kl. Philol. 1916, 210 ff. Manches wirkt wie ein Zitat, so das berühmte urgentibus imperiifatis Germ. 33 ~ urgentibus Bomanam urbem fatis Liv. V 36, 6 (vor der Schlacht an der Allia), liberator haud dubie patriae ann. II 88 ~ liberatores haud dubie Liv. III 53, 2 (von den Männern, die die Plebs vom Heiligen Berge zurückführten). Doch können beides Floskeln gewesen sein, die durch die Rhetorenschulen verbreitet wurden (vgl über ersteren Ausdruck R. Reitzenstein, Nachr. d. Gott. Ges. 1914, 259, 1, über letzteren F. Münzer, Hermes XLVIII 1913, 618).

2) In den Sammlungen der spärlichen direkten Liviuszitate aus den ver- lorenen Büchern wird für diesen Exkurs außer dem Zitate im Agricola des Tacitus noch eines in der Gotengeschichte des Jordanes c. 2, 10 angeführt: cuius (Britanniae) licet magnitudinem olim nemo, ut refert Livius, circumcectus est (multis tarnen data est varia opinio de ea loqiiendi). Allein dies Zitat be- ruht allem Anscheine nach auf Konfusion aus der Agricolastelle: Mommseu. Prooem. zum Jordanes p. XXX unter Billigung der schon von H. v. Sybe! (De fontibus libri lordanis, Diss. Berl. 1838, 14) aufgestellten Ansicht.

150 Kap. II. Quellenkiitischea zur KthnogTaphie earop&iscber Volk»:-

Livius begann die Erzählung der Caesarischen Eroberungsfeld züge im CHI. Buche. Diese.s umfaßte nach den Angaben des Inhalts Verzeichnisses die Jahre 62 bis Anfang Sommer 58, in dem die Unterwerfung der Helvetier stattfand. An die Helvetierschlacht schloß sich die gallische Chorographie: praelerea situm Galliarum continet. Sie stand fast am Ende des Buches. Aber eine Ab- schweifung wie diese hätte keinen passenden Abschluß gegeben. Daher griff der Schriftsteller zu guter Letzt auf das Jahr 61 zurück und schloß mit einer Schilderung des Triumphes des Pompeius über die Reiche des Ostens. Diese Verschiebung der annalistischen Ab- folge ist sehr bezeichnend: Livius, der „Pompejaner", hat die Reihe der Großtaten Caesars, die er nun erzählen mußte, durch ein Ver- weilen auf dem stolzesten, aber auch letzten Höhepunkte im Leben seines Lieblingshelden unterbrochen und ihm an einer so sichtbaren Stelle, wie es ein Buchschluß war, ein Denkmal gesetzt, das den Vergleich mit den Taten des Eroberers des Westens nicht zu scheuen brauchte. Die Geschichtserzählung des CIV Buches be- gann im Hochsommer 58 mit dem Feldzuge Caesars gegen Ariovist, aber ihr vorausgeschickt war eine Beschreibung von Germaniens Land und Leuten: Prima pars Libri situm Germaniac moresque cordinet. Die Ausdrucksweise der Periocha prima pars libri läßt vermuten, daß diese Ethnographie eine gewisse Ausdehnung hatte: die Ethnographien Diodors können uns etwa eine Vorstellung geben: es mögen danach schätzungsweise einige Kapitel von dem in unseren Livius-Ausgaben üblichen Durchschnittsunifange gewesen sein, be- trächtlich mehr als die germanische Skizze Caesars, etwas weniger als der erste, allgemeine Teil der Taciteischen Monographie. Die ger- manische Ethnographie war also bei Livius von der gallischen fast nur durch die Grenze eines Buchschlusses getrennt. Die britannische folgte den beiden anderen im nächsten Buche, dem CV., in dem die beiden Expeditionen Caesars nach Britannien erzählt waren; das In- haltsverzeichnis nennt nur diese, nicht eine Ethnographie, offenbar weil sie nur kurz war; daß sie jedoch nicht fehlte, wissen wir aus dem erwähnten Zitat des Tacitus im Agricola. Wenn man sich nun ge- genwärtig hält, daß die Ethnographien von Gallien, Germanien und Britannien in drei aufeinanderfolgenden Büchern standen, so sieht man daraus, daß Livius, wie dies überhaupt seine Gepflogenheit war,

Livianische Ethnographien der Nordvölker J5J

mehrere sich gegenseitig ergänzende Quellenbücher zur Hand hatte. Neben den Caesarischen Commentarii lagen die Historien des Posei- donios bereit, ohne deren Benutzung in Augusteischer Zeit keine ethno- graphische Schilderung nordeuropäischer Länder denkbar war1): man braucht nur an die betreffenden Ethnographien Diodors und Strabos zu denken. Zudem war Poseidonios für das Germanische ein gewie- sener Gewährsmann des Livius. Denn als ein fester Eckpfeiler Livia- nischer Quellenkritik gilt die Tatsache, daß er die Kimbernkriege nach Poseidonios erzählt hat. Er muß auch für das Ethnographische diesen Schriftsteller herangezogen haben, der in seinen f Iötogicu, und zwar, wie wir sahen (o. S. 102), der Wahrscheinlichkeit nach in demselben Buche, in dem er die Kimbernkriege erzählte, eine Ethnographie der Germanen gab, aus der uns das wörtliche Fragment über die Essens- gebräuche erhalten ist.

Aber wir dürfen es uns nun nicht so denken, als wäre Livius mit Poseidonios und Caesar für das Germanische ausgekommen. Denn als er gegen Ende des Augusteischen Prinzipats2) die genannten Bücher seiner Annalen verfaßte, hatten sich die politischen Verhältnisse Galliens und des durch die Augusteische Neuordnung (16 13 v. Chr.) in die Belgica einbezogenen rheinischen Germaniens von Grund aus geändert, es war auch vom inneren Germanien durch die Feldzüge des Drusus und Tiberius sowie durch wissen- schaftliche Erkundung auf Handelswegen ein großes Stück er- schlossen worden. Auf der Weltkarte des Agrippa, die Livius, seit sie von Augustus nach Agrippas Tode (12 v. Chr.) öffentlich aus- gestellt worden war, jederzeit betrachten konnte, war sogar die Weichsel eingetragen (Plinius IV 87). Die geographische Trias der drei großen nordeuropäischen Völker, Kelten, Germanen, Skythen, war dadurch in das helle Licht bildlicher Anschauung getreten: Scyiharum nomen usquequaque transit in Sarmatas atque Germanos bemerkt aus den Commentarii des Agrippa Plinius IV 81 (vgl. VIII 38

1) Seine Geographie Britanniens, in der er auf Eratosthenes, Pytheas, Timaios zurückging, wird freilich nicht in den 'Iarogiai, sondern in der Schrift xtgl wKtavov geatandeu haben, die Varro seiner Ora maritima zugrunde legte: s. o. S. 111, 1.

2) Etwa auf diese Abfassungszeit der Bücher CHI CV führt die Über- schrift der Periocha des CXXI. Buches im cod. Palatinus-Nazarianus (saec. 1X1 ex Hb. CXXI qui editu* pöst excessum Augusti dicitur.

152 Kap. II. Quellenkritisches zur Pjthnographie europäischer Völker

contermina Scythiae Germania). Wie viele neue germanische Orts- namen hat Strabo in seinem VII. Buche bringen können, das nur wenige Jahre später als die genannten Bücher des Livius abgefaßt zu sein scheint.1 j Die neuen Erkenntnisse mußte auch Livius, wenn er nicht teilweise Veraltetes bieten wollte, verwerten.2) Erkundigung in der Stadt hat dabei, wenn überhaupt, so doch sicher nur eine untergeordnete Rolle gespielt im Verhältnis zur Buchgelehrsamkeit vorausgesetzt, daß es eine solche für diese Dinge gab. Es handelt sich also um die Frage, ob sich ein zwischen Poseidonios und Livius stehendes Werk namhaft machen läßt, in welchem die germanische Ethno- graphie behandelt sein konnte.

Diese Frage ist zu bejahen. Wir werden uns im VI. Kapitel etwas genauer mit einem Werke des Timagenes zu beschäftigen haben, das die gallische Geographie und Ethnographie mit großer Ausführlichkeit behandelte. Die alte Streitfrage, ob es eine Spezial- schrift über Gallien oder ein Geschichtswerk war, in dem die gallischen Dinge in Form eines sehr langen Exkurses eingelegt waren, scheint mir durch die Untersuchungen, die A. Klotz in seinen Caesarstudien (Leipz. 1910) dieser Arbeit des Timagenes gewidmet hat, zugunsten der zweiten Annahme entschieden zu sein. Jedenfalls hat Klotz durch seine eindringende und ergebnisreiche Analyse der Strabo- nischen Keltike (B. IV) erwiesen, daß Timagenes auf der Grundlage der Beschreibungen des Artemidoros und Poseidonios und zum guten Teile auch mit deren Bausteinen ein neues Gebäude erstehen ließ, zu dessen Einrichtung ihm auch die Caesarischen Commentarii er- heblich beigesteuert hatten; aber über die Caesarische Zeit weit hinabgehend, hatte er auch die Neuorganisation Galliens durch

1) Das IV. Buch enthält p. 206 eine auf das Jahr 18 n. Chr. datierte Notiz, die freilich auch nachträglich von dem Verfasser hinzugefügt worden sein kann. Die zeitliche Entstehungsgeschichte des Strabonischen Werkes ist sehr kontrovers. In dem die germanische Geographie enthaltenden Buche VII 291 f. ist die Niederlage des Varus erwähnt, aber Arminius noch am Leben (gest. 21).

2) Die ohne jede Begründung aufgestellte Behauptung MüllenhofFs (D.A.1V18), der Livianische Exkurs werde nicht viel mehr als eine Wiederholung der Caesarischen Nachrichten gewesen sein, ist so verkehrt, daß Müllenhoff, wenn er diesen Band seines Werkes selbst hätte veröffentlichen können, sie voraus- sichtlich gestrichen hätte.

Poseidonios, Timagenes und Livius 153

Augustus berücksichtigt, ja, die neue Hauptstadt Lugdunum als wich- tigen Orientierungspunkt gewählt, so daß sein Werk die modernste und eingehendste Darstellung der gallischen Verhältnisse enthielt. Außer Strabos Keltike, die im wesentlichen auf dem Fundamente des Timagenes ruht Caesar kennt er nur durch Timag-enes' Yer- mittlung, Artemidoros und Poseidonios hat er nebenbei auch selb- ständig zur Ergänzung herangezogen , besitzen wir das umfängliche, vorzugsweise die Urgeschichte betreffende Exzerpt aus Timagenes bei Ammianus Marcellinus (XV 9), das uns bereits bekannt ist (o.S.50 f.) und weiterhin noch öfters beschäftigen wird. Daß ein Schriftsteller wie Timagenes, der in Augusteischer Zeit eine freilich vielfach an- gefeindete Berühmtheit war, dessen literarhistorische Bedeutung unter der Flavischen Dynastie auf die Spitze getrieben wurde1), dessen Werk, wie das Ammianusexzerpt zu zeigen scheint, noch gegen Ende des IV. Jahrhunderts eingesehen werden konnte2), für die Livia- nische Beschreibung Galliens dieselbe maßgebende Rolle spielen mußte wie für die wenig jüngere Strabonische, braucht wohl nur ausgesprochen zu werden, um selbstverständlich zu erscheinen; es gab, von allem anderen abgesehen, außer Timagenes keinen Ge- währsmann, der das gallische Material seit Artemidoros und Posei- donios bis auf die Gegenwart vereinigt und gesichtet darbot. Von Gallien aber war Germanien untrennbar. Wenn es ohnehin in der Natur der Verhältnisse begründet war, daß in einem Werke Augu- steischer Zeit über Gallien auch die an diese Provinz angrenzenden,

1) Quintilianus X 1, 75 longo post intervallo temporis (naeh Kleitarchos) natus Timagmes vel hoc est ipso probabiiis, quod intermissam historias scribendi industriam novo, laude reparavit. Den Grund für dieses auffällige Urteil Polybios und Poseidonios sind völlig übergangen hat Klotz S. 84, 3 erkannt. Timagenes gehörte der attizistischen Stilrichtung an, darum hat ihn auch Dionysios Hai. einer Benutzung gewürdigt (Mommsen, Ges. Sehr. VII 410, 2); auch die enge persönliche Berührung mit dem erklärten Attizisten Asinius Pollio (Seneca de ira III 23, 5 Timagenes in contubemio Pollionis Asinii con- senuit, näml. nach seinem Bruch mit Augustus), ist, wie Klotz bemerkt, dafür charakteristisch, wie denn Timagenes auch das Geschichtswerk des Pollio benutzt hat (daher das Zitat aus 'Aaivios bei Strabo 193: Klotz S. 69, 84, 4).

2) Ammianus zitiert anscheinend aus erster Hand, denn er sagt, er wolle aus dem umfangreichen Berichte des Timagenes nur das ihm geeignet Er- scheinende auswählen.

154 Kap. II. Qnellenkritisches zur Ethnographie europäischer Völker

teilweise in deren Administration einbezogenen Teile Germaniens Berücksichtigung finden mußten1), so werden wir diese allgemeine Voraussetzung späterhin durch Tatsachen bestätigt finden, die bei Strabo und Ammianus vorliegen: Timagenes ist auf gallisch-ger- manische Wechselbeziehungen eingegangen, er hat eine Kolonisations- ] eilende gebracht, wonach einzelne Teile Galliens vom rechten Rhein- ufer aus besiedelt worden waren, und hat über germanische Ein- schläge in das Blut belgischer Stämme, der Nervi i und Treveri, gesprochen. Also war er für Livius, der dem ethnographischen Exkurse über Gallien den über Germanien unmittelbar folgen ließ, der modernste Autor auch für das letztere Land.

Dieses Ergebnis einer Beweisführung, deren Belegstücke zum Teil, wie bemerkt, einem späteren Abschnitte (Kap.Vl) vorbehalten bleiben müssen, ist für den Gang unserer bisher angestellten Untersuchung wichtig. Wir fanden in der Taciteischen Germania vielfach Spuren einer Gelehrsamkeit, die wir nach Wesensart und Stilprägung als posidonisch glaubten ansprechen zu dürfen; als ihr Vermittler ergab sich uns der Livianische Germanenexkurs. Nun hat sich heraus- gestellt, daß auch zwischen Poseidonios und Livius ein Vermittler gestandea hat: Timagenes, ohne daß damit gesagt wäre, daß Livius nicht genau so, wie es Strabo tat, zur Ergänzung des Timagenes auch dessen Hauptgewährsmann Poseidonios herangezogen haben könnte, eine Annahme, die bei der überragenden Bedeutung des Poseidonios für Livianische Quellenbenutzung gradezu nötig er- scheint. Die Hauptsache aber ist, daß erst durch den hier dargelegten Gang der Tradition2) die Lösung der Rätselfragen erfolgt, die durch unsere früheren Einzelnachweise mehr aufgegeben als beantwortet waren. Wir fanden die merkwürdigsten, gelegentlich wörtlichen Übereinstimmungen Taciteischer Sätze mit einer Hippokratischen Schrift, Herodotos, Polybios und einem Homeriker; mit Strabo, Diodoros und Plutarchos; mit Cicero de div. und Varro-Vitruvius.

1) Zumal wenn Klotz mit seiner Ansicht recht hat, daß es sich um ein Geschieht'« werk des Timagenes handelt, in dem die Ethnographie Galliens als Einleitung zu der Erzählung der Caesarischen Feldzüge gegeben war.

2) Ohne nähere Begründung nennt Th. Birt, Die Germanen (Münch. 1917) 813 Timagenes neben Livius als Quellenautor des Tacitus: mit Recht, nur daß Timäjfenes durch Livius vermittelt war.

I Dseidonios, Timageries und Livius 155

Das erklärt sich jetzt einfach so. Die genannten Autoren sind, soweit sie älter waren als Poseidonios (erste Gruppe), von diesem benutzt worden; soweit sie jünger waren (zweite und dritte Gruppe), haben sie ihrerseits Poseidonios benutzt (Strabo teils direkt, teils durch Vermittlung c\- Timagenes, die anderen nur direkt); Posei- donios ist durch Vermittlung des Timagenes-Livius ein Quellenautor des Tacitus geworc

Wenn uns nun an« h die Gesamtheit literarhistorischer Erwägungen auf Livius als den \ mittler zwischen Poseidonios und Tacitus ge- führt hat, so wäre es doch erwünscht, den allgemeinen Tatsachen- beweis durch unmittelbare Vergleichsstücke bestätigt zu sehen. Daß dieser Wunsch, obwohl das Livianische Werk in dem entscheidenden Abschnitte verloren ist, innerhalb bestimmter, durch die Verhältnisse gewiesener Grenzen, wie mir scheint, erfüllbar ist, dürfte die beste iiechtfertigung der bisherigen Beweisführung sein.

1. Poseidonios' Geschichte des Kimbernkrieges war, wie seit Müllen- hoffs Beweisführung anerkannt ist, die Hauptquelle der Livianischen Erzählung dieses Krieges. Nun bemerkt Florus (137) aus Livius: Marius habe vor der Schlacht bei Aquae Sextiae die Soldaten so lange im Lager gehalten, bis sich „das Ungestüm legte, das die Bar- baren für Tapferkeit halten". Diese Worte Impetus quem pro virtute barbari Jtabent stimmen überein mit der Charakteristik der Taci- teischen Germanen (c. 4) so wie der Nordvölker, die wir oben (S. 110) bei Vitruvius lasen; Vitruvius aber geht durch Varros Vermittlung auf Poseidonios zurück. Ferner heißt es bei Plutarch, Marius 26 von den Kimbern in der Schlacht bei Vercellae, die im Hochsommer (30. Juli) stattfand: „So- sehr sie sich auf das Ertragen von Frost verstanden waren, sie doch, wie gesagt, in schattenreichen und kalten Gegenden aufgewachsen , so wurden sie umgeworfen durch Hitze: sie keuchten, und der Schweiß drang ihnen aus den Poren." Diese Worte finden ihre teilweise Entsprechung in dem Taciteischen (c. 4) minime si.thn aesk&mque tolerare, frigora atque inediam1) caelo solove

1) Für die media Vgl. Justinus XLIV 2, 1 von den Iberern: corpora hominum ad inediam laboremque, tmimi ad mortem parati. Dem Taciteischen Ausdruck frigora atque inediam tolerare entspricht genau das, was Cassius Dio in seiner sehr bemerkenswerten, aus Anlaß der schottischen Expedition des Septimius Severua vom Jahre 208 eingelegten Ethnographie der Kaledonier sagt LXXVI 12

156 &aP. IL Quellenkritiscbes zur Ethnographie europäischer Völker

assueverunt. Poseidonios ist hier von anderen Gründen abgesehen, die Müllenhoff (II 125. 144f.) beibringt mit Sicherheit deshalb als Plutarchs Quelle zu erkennen, weil dieser auf seine im Kap. 11 ge- gebene Schilderung des nordischen Heimatlandes der Kimbern zurück- verweist, die bezeugtermaßen aus Poseidonios stammt (s. o. S. 98). Besäßen wir die Liviauische Darstellung dieses Krieges, so würden wir in ihr voraussichtlich Ahnliches lesen wie bei Plutarch und könnten dann die lateinischen Worte mit den lateinischen des Tacitus unmittelbar vergleichen.

2. Noch bemerkenswerter ist folgendes. Livius erzählt im XXXVIII. Buche (von c. 12—27) den Krieg gegen die Gallograeci im Jahre 189. Vor dem Zusammenstoß mit einer ihrer drei Völker- schaften, den Tolistobogiern, läßt er (c. 17) den Konsul Cn. Manlius Volso eine Ansprache an sein Heer halten. Sie hat bei Polybios, dem er in der Sacherzählung folgt, keine Entsprechung, ist also ent- weder von ihm selbst erfunden oder einer annalistischen Quelle nach- gebildet: aber bei der Besonderheit dieser Rede kommt die letztere Möglichkeit nicht in Betracht, sie stammt also von Livius selbst und o-ehört zu den Paradestücken, durch die er, der ja noch in späteren Lebensjahren eine rhetorische Schrift verfaßte, seine Kunst zu zeigen liebte. Der Konsul sucht den Schrecken, den diese ferox natio den Soldaten eingeflößt hatte, zu beschwichtigen. Zu diesem Zweck werden zunächst (2 7) die auf ierror berechneten Bräuche dieses Volkes seiner physischen Minderwertigkeit gegenübergestellt. Was wir hier zu hören bekommen, läßt sich Schritt für Schritt mit der Charakteristik vergleichen, die, wie wir oben (S. 105 ff.) sahen, Poseidonios von den Völkern des europäischen Nordens gegeben hatte, und die wir in der Taciteischen Germania wiederfinden: der hohe Körperwuchs, die röt- lichen1) Haare, der Schlachtgesang, der blindwütige Ansturm, das Ver- sagen in planmäßigem Kampfe, die Unfähigkeit, Sonnenglut und Durst

övvccvrai dh v.ul Xifiov Kai ipvxog Kai raXanttoQiav itäöav ixo^svetv. Um die genaue Unterscheidung des Verhaltens gegen Durst und Hunger bei Tacitus richtig zu werten, muß man sich der wiederholten Bemerkungen des Hippokrateers darüber erinnern, z. B. c. 2 rrjv diaizav r&v äv&QÖTtav oxolr] ydovzai, itozegov cpiloTtöxui Kai &Qt,özrizal Kai äzaXaiTiaQoi 7? cptXoyv^iva6zai zs Kai yiXoxovoi Kai iSadol Kai aitozoi. 4 idcoSovg ab ävdyKT] zag zoiavzag tpvöiag slvai Kai ov itoXwxozag. 1) rutilatae, also eigentlich „gerötelt". Darauf werden wir später (im IV. Kap., Abschn. 4) zurückkommen.

Analyse einer livianischen Rede über die Gallograeker 157

zu ertragen.1) Dann folgt (8 9) ein kurzer Hinweis auf geschicht- liche Begebenheiten der Vergangenheit, wo die Römer sich den Galliern überlegen gezeigt hätten: hier zitiert sich also Livius gewissermaßen selbst. Darauf geht es so weiter (9 13): „Und unsere Vorfahren hatten es mit unzweifelhaften, landeseingeborenen Galliern zu tun; diese hier sind schon entartet, ein Mischvolk: ihrem Namen cGallo- graeker' entspricht ihre Wesensart. Ist doch auch bei Pflanzen und Tieren die den Artencharakter aufrechterhaltene Vererbung ohnmächtig gegen die durch Boden und Klima bewirkten Veränderungen. Die Makedonen sind in dem ägyptischen Alexandria, Seleucia, Babylon 1) Die Worte des Livius, die ich mit den oben (S. 106. 110) ausgeschriebenen des Vitruvius und Tacitus zu vergleichen bitte, lauten: procera corpora, promissae et rutilatae comae, vasta scuta, praelongi gladii; ad hoc cantus ineuntium proelium et ululatus et tripudia et quatientium scuta in patrium quendam modum horrendm armorum crepitus, omnia de industria composita ad terrorem . . . iam usu hoc cognitum est: si primum impetum quem fervido ingenio et cacca ira effundunt sustinueris, fluunt sudore et lassitudine membra, labant arma; mollia corpora, molles, ubi ira consedit, animos sol pulvis suis, ut ferrum non admoveas, prosternunt (vgl. V 48, 3 quorum Hitze und Staub intolerantissima gens umorique ac frigori assueta X 28, 4 Gallorum corpora intolerantissima laboris atque aestus fluere). Bei Tacitus hist. II 34 heißt es: Germanos, quod genus militum apud hostis atrocissimum sit, tracto in aestatem bello fluxis corporibus mutationem soli caelique haud ioleraturos, wohl aus Plinius, bemerkenswert wegen des Anklangs an Germ. 4 minime sitim aestumque tolerare, frigora atque inediam caelo solove assueverunt. Einer Spur der gleichen Charakteristik bin ich noch begegnet bei Josephus, Arch. XIX 1, 15, die hier, da sie das Germanische angeht, Platz finden möge. Er hat soeben die Ermordung des Kaisers Gaius erzählt und fährt dann fort: „Die ersten, die das Ende des Gaius erfuhren, waren die Germanen. Es waren das die Soldaten der Leibwache, die denselben Namen wie das Volk trugen, aus welchem die keltische Abteilung genommen war. Zornmütigkeit ist ihnen angeboren, was auch bei gewissen anderen Barbaren nicht selten ist, die bei ihren Handlungen weniger Überlegung walten lassen; aber stark an körperlichen Fähigkeiten erzielen sie beim ersten Zusammenprall mit den Feinden überall da, wo sie anstürmen, Erfolge." Der ganze lange Ab- schnitt über den Tod des Gaius und die Thronerhebung des Claudius stammt, wie Mommsen bemerkt hat, vermutlich aus Cluvius Rufus, der den Livius nicht weniger eifrig gelesen haben wird, als es Tacitus tat. Endlich bin ich durch die Lektüre von 0. Immisch, Agathavchidea (Sitzungsber. d. Heidelb. Ak. 1919, 7. Abb.) auf eine nahverwandte Stelle bei Photios bibl. cod. 249. 441a 13ff. aufmerksam geworden (aus einer 'Pythagorasvita'; peripatetischer Einfluß ge- sichert): daß die Skythen „draufgängerisch" (irj}Ttxoi) sind, wird aus den kli- matischen Verhältnissen abgeleitet.

158 Kap. II. Quellenkritisches zur Ethnographie inropäischer Völker

und ihren anderen über den Erdkreis veratr Kolonien zu Syrern.

Parthern und Ägyptern entartet; Massilia ist infolge seiner Lage in- mitten gallischer Anwohner beträchtlich dur<;h deren geistige Wesens- art beeinflußt worden1); und was blieb den Tarentinern von der harten und rauhen Spartanerzucht? Alles entwicl h rassiger an dem

Orte seines Ursprungs; bei Versetzung auf einen fremden Boden ver- wandelt es seine Natur nach den Stoffen, die es aus diesem aufnimmt."1' | Traut der Leser seinen Augen? Ist denn Livius, wird er sich fragen, zum Naturforscher geworden, und das zu einem solchen, der über Vererbungs- und Anpassungslehre so Erstammob.es zu berichten weiß, daß Viktor Hehn in der Vorrede der 2. Aufl. sekies berühmten Buches (1874) ihn deswegen einer ganz besonders lobsu Je. ( Note für würdig be- fand?3) Nun, die Antwort haben wir durch unsere obigen Ausfüh- rungen (S. 63 ff.) eigentlich schon vorweggen' i ,: was wir hier lesen-

1) Anders läßt er XXXVII 54, 21 die Rhodier im 3enat reden (ebenfalls im Jahre 189; es ist eine Einlage in die Rede, die er bei Polybios fand,: Massilienses quos, si natura insita velut ingenio terrae vinci posset, iam prius efferassent tot indomitae circumfusae gentes, in eo Jionove, in ea merito dignitate audimus apud vos esse, ac si medium umbilicum Gro».oiae incolerent. tum enim sonum modo linguae cestitumque et habitum, sed ante omnia mores et leges et Ingenium sincerum integrumque a coniagione aeccl . lervarunt. Dies war die traditionelle Ansicht: Tac. Agr. 4, vgl. Val. Max. li >?, 7.

2) Et Ulis maioribus nostris cum haud dubiis ',';. in sua terra genitis res erat; hi iam degeneres sunt, mixti et Gallogrmci oere, quod appellantur. sicut in frugibus pecudibusque non tantum semina ad sertxmdam indolem vahnt, quantum terrae proprietas caelique, sub quo alwmtwr, mutat. Macedones qui Älexandriam in Aegypto, qui Seleuciam ac Babyloniam quiqiie alias sparsas per orbem terrarum colonias habent, in Syros Parthos Aegyptios degenerarunt ; Massilia inter Gallos sita traxit aliquantum ab accolis animorum; Tarentinx quid ex Spartana dura illa et horrida disciplina mans-it? generosius (esty, in sua quidquid scde gignitur ; insitum alienae terrae in id, quo alitur, natura certmte se degenerat. Anders beurteilt Livius die Mischung da, wo er in eigner Person spricht: XXXVII 8, 4 bellicosiores ea Umpeslate erant (Gallograecij Gallicos adhuc, nondum exoleta stirpe gentis, servanies animos.

3) Mir war die merkwürdige Stelle des Livius aus Hshn bekannt geworden, nach dessen feiner Übersetzung ich die beiden naturwissenschaftlichen Sätze gab. Auch Cicero zeigt, was nicht zu verwundern, J\8nntnis der Lehre, aber seine Reproduktion derselben ist grobkörniger: de lege agr* II 96 non ingenerantur hominibus mores tarn a stirpe generis ac seminis quam ex eis rebus quae ab ipsa natura nobis ac vitac consuetudine suppeditantur, qnilms alimur et vivimus (es folgen Beispiele: Karthager, Ligurer, Campaner).

Analyse einer livianischen Rede über die Gallograeker 159

ist die Lehre des Poseidonios, der die Bildung der Arten, die Ent- wicklung der Rassen und ihre Bedingtheit durch Umwelt uud Klima mit bewunderungswürdiger Weite und Schärte des Blicks erkannt hatte. Unter den dort angeführten Belegen war auch einer aus der Tetrabiblos des Ptolemaios (II 1 p. 55 der Basler Ausg. von 1553). Seinen Inhalt gibt in freier Weise Servius zur Aen. Vi 724 so wieder: Ptolemaeus sagt: in ein anderes Klima versetzt, ändere der Mensch seine Natur teilweise, nicht gänzlich, da er seine Veranlagung mit auf die Welt bringe. Die Livianische Stelle bietet hierzu noch insofern eine Ergänzung, als sie uns zeigt, daß bei dieser Lehre auch die Mischung der Arten erwogen worden ist. In dem letzten Teile seiner Rede (13 20) läßt Livius den Konsul die Schlußfolgerung ziehen. Diese „Gallier", wenn man sie noch so nennen wolle, zu besiegen, sei keine schwere Aufgabe: nicht bloß Tiere, sondern auch Menschen werden durch Zähmung ihrer ursprünglichen Natur entfremdet. „Gehärtet durch so viele Leiden (die Kämpfe mit den wilden Völkerschaften von Illyricum, Päonien und Thrakien) und verroht hat sie jetzt ein Land aufgenommen, das sie mit einer Fülle aller guten Dinge mästet. Durch eine gar fruchtbare Ackerflur, ein mildes Klima und die sanfte Gemütsart der Anwohner ist all ihre Wildheit, die sie mitbrachten, gebändigt worden." Ich darf den Leser daran erinnern, daß wir dieses Motiv bereits kennen (o. S. 73): „Durch Schnee und Eis der Alpen waren sie in die italische Ebene hinabgestiegen . . . Wären sie stracks auf Rom gezogen, groß wäre die Gefahr gewesen. Aber in Venetien, fast der mildesten Gegend Italiens, hat die Weichheit des Bodens und des Klimas ihre kernige Kraft schlaff gemacht"1): so heißt es von den Kimbern bei Florus (III 3, 13) aus Livius, der es anerkannter- maßen aus Poseidonios nahm.

Das Ergebnis dieser Analyse der Livianischen Rede ist eigenartig genug. In ihrer Gesamtheit ist sie recht wirksam: <!a.s teilt sie mit vielen Livianischen. Aber sie ist auch ungewöhnlich gebildet: das verdankt sie dem Umstände, daß ihr Verfasser einen Strom natur- wissenschaftlicher Gelehrsamkeit in sie hinübergeleitet hat. Wir lernen daraus, daß er sich das Posidonische Geschichtswerk für den kulturhistorischen Firnis des seinigen bereits nutzbar gern «cht hat,

1) Darauf folgen die o. S. 73 ausgeschriebenen Worte über das Brot und das gekochte Fleisch.

160 Kap. II. Qnellenkritisches zur Kthnographie europäischer Völker

bevor er es, das Poly manische aus den Händen legend, als geschicht- liche Quelle zu verwerten begann (die Erzählung der Ereignisse des Jahres 189 liegt dem Beginne der 'löxoolai des Poseidonios 45 Jahre voraus). Das ist wohlbegreiflich: es war das letzte hellenistische Ge- schichtswerk großen Stils, an dem damals jeder, wenn er nicht auf die „Alten" zurückgreifen wollte, Kunst der Geschichtschreibung lernen mußte. Die kleinasiatischen Gallier sind von den griechischen Historikern seit Polybios einfach Talaxai genannt worden, eine Be- zeichnung, die auch Livius meist beibehielt; in Ciceronischer Zeit be- gegnet dafür die Komposition Gallograeci (de har. resp. 28 vom Jahre 56: aber ad Att. VI 5, 3 vom Jahre 50 Golatae), die dann von den Griechen mit Umkehrung der Kompositionsglieder tEX?.rjvo},aXdrca benannt wur- den (für uns vor Diodor V 32, 5 nicht nachweisbar).1) Poseidonios hatte mehrfach Gelegenheit, sie zu erwähnen, z. B. in der Erzählung vom Ende des pergamenischen Königreichs. Bei einem dieser An- lässe oder, was auch denkbar wäre, in seiner gallischen Ethnogra- phie2) mag er sich über das Mischvolk, das eben durch seine

1) Näheres, auch über die ganz gelegentliche Benennung raXXoygcciicol in den Sitzungsber. d. Berl. Ak. 1918, 129, 3. 4.

2) Das könnte man vielleicht versucht sein, aus Diodor V 32, 5 zu schließen. wo über die 'EXXrjvoyaXccxat. inmitten der ja sicher Posidonischen Ethnographie der Kelten kurz gesprochen wird. Aber ein Schluß bloß daraus wäre doch be- denklich, wie eine kurze Analyse zeigen möge. Das Kap. 31 enthält die an- erkanntermaßen Posidonische lange Darlegung über die Druiden und schließt mit dem ganz in Poseidonios' Art gehaltenen preziösen Gedanken: ovxco (näml. indem sie durch Musik die Streitenden wie wilde Tiere besänftigen) x.a.1 Ttagi- xoig ayQiaxäxoig ßccQßäqoig 6 d~v(ibg eixst xjj 60<j>iav.al b'!AQr\g alSsixccixccg Movßag. Dann folgt 32 zunächst etwas ganz anderes: über Namen, Wohnsitze und Ge- schichte des Volkes 1. 3. 4 5), darunter eine Bemerkung über die Kinßgoi Kiil(l£qioi (4), die wegen der Übereinstimmung mit Plutarch, Marius 11, sicher Posidonisch (s. 0. S. 68, 2), aber hier ganz unpassend ist; bei der Geschichte des Volkes werden auch die 'EXXT\voyuXaxai erwähnt (5), eine Namensform, die Posei- donios schwerlich gebrauchte (s. 0.). Dann aber geht es § 6 so weiter: ccv.oXovd-cog dh xy xcr' avxovg ayQioxr}xi xal 7Csgl xccg ftvoiag ixxoiHag aasßovöi usw., was wieder anerkanntermaßen Poseidonios ist. Der Anschluß dieser Worte an die zu Ende von c. 31 stehenden {ayQicoxäxoig äyQiöxr\xi) ist klar: Wilamowitz hat im Griech. Lesebuch II 223 die Stücke in dieser Weise, mit Ausschluß des dazwischen Stehenden, verbunden. Das in § 7, der das Kapitel und mit diesem die ganze keltische Ethnographie abschließt, über die ccQQSvoni^la Gesagte ge- hört mit den Absurditäten von § 2 zusammen und hat mit Poseidonios nichts

Analyse einer livianischen Rede über die Gallograeker ^ß^

Mischung ein Musterbeispiel für ethnische hmyn%iai (s. o. S. 47) dar- bot, geäußert haben. Wir besitzen außer dem Livianischen Bericht noch einen anderen, zwar an einer entlegenen Stelle und daher kaum beachtet, aber mit dem erlesenen Namen Varros (aus den Antiqui- tates) gezeichnet, bei Hieronymus in der Vorrede des II. Buches seines Kommentars zum Paulmischen Galaterbriefe. Seine Worte sind so bemerkenswert, daß sie in einer Anmerkung1) auszugsweise mit- geteilt werden mögen. Livius und Varro müssen dieselbe Quelle be-

zu tun. Es scheint mir nach diesem allem klar: in das Schlußkapitel 32 hat Diodor mit einigem Posidonischen Gute allerlei Heterogenes vermengt. Man kann mit der Verallgemeinerung 'Poseidonios' selbst bei Diodor, der doch leider auch „Schriftsteller" hat sein wollen, nicht vorsichtig genug sein.

1) Paulus redet 3, 1 die Galater an « avör\roi TaXäxai (o insensati Galatae Vulg.). Dazu bemerkt Hieronymus a.a.O. (Migne 26, 353 ff.): qui sint Galatae vel quo et unde transierint, utrum indigenas eos fuderit an advenas quam nunc incolunt terra susceperit (man beachte die genaue ethnographische Terminologie: vgl. o. S. 47), et utrum linguam conubio perdiderint an et novam didicerint et non amiserint suam M. Varro, cunctarum antiquitatum diligentissimus perscru- tator, et ceteri qui eum imitati sunt, multa super hac gente et digna memoriae tradiderunt . . . Massüiam Phocaei condiderunt, quos ait Varro trilingues esse quod et graece loquantur et latinc et gallice. Oppidum ühoda cohni Rhodiorum locaverunt, unde amnis Bhodanus nomen accepit . . . Nonne Saguntum Graeci ex insula Zacyntho profecti condiderunt et oppidum Tartesson quod nunc vocatur Carteria Iones Graeci homines locasse referuntur? Montes quoque Hispaniarum Calpe, Hydria (?), Pyrene, item insulae Aphrodisiades et Gymnesiae quae vocantur Baleares nonne graeci sermonis indicia demonstrant? . . . ex quo evenit ut et in occidente graeci saepe acuminis reperiantur ingenia et in Oriente stoliditatem bar- baram redoleant. nee hoc dieimus, quod non e regione utrobique diversa nascantur, sed quod ex magna parte etiam cetera quae non sunt similia nun- cupentur. itaque non mirum eststultos et ad intellegentiam tardiores Galatas appella- tos. Daß die Varrozitate aus den Antiquitates (humanae) stammen, zeigt nicht bloß die Einführung Varros als antiquitatum perscrutator, sondern vor allem eine andere Stelle des Hieronymus comm. in Genesin 10, 4 (Migne 23, 952): legamus Varronis de antiquitatibus libros et Sinnii Capitonis et Graecum Phlegonta ceterosque eruditissimos viros: et videbimus paene omnes insulas et totius orbis litora terrasque mari vicinas graecis aecolis oecupatas, qui ut supra dieimus ab Amano et Tauro montibus omnia maritima loca usque ad oceanum possedere Britannicum. Die geographischen Bücher der Antiquitates waren X XIII, in einem derselben behandelte er Galatien: Lydus de mag. III 74 p. 167 Wünsch (Zitat aus Varro inl r&v av&Qanivav Ttgayfidrcov über Pessinus). Vgl. P. Mirsch, De Varronis antiquit. rer. hum. libris (Leipz. 1882) 110. 118f., der aber das Hiero- nymuszitat zum Galaterbriefe nicht recht ausgenutzt hat.

Nor den: Die germanische Urgeschichte U

Iß2 Kap. IL Quellenkritisches zur Ethnographie europäischer Völker

nutzt haben: beide sprechen von dem gallischen Einfluß auf die griechi- schen Kolonisten von Massalia, und, was uns hier besonders interessiert, auch Varro scheint, wie noch die sehr summarische Paraphrase des Hieronymus durchblicken läßt, den Zusammenhang zwischen Landes- und Volkscharakter hervorgehoben zu haben, der aber bei den asiati- schen Galliern durch die Einwanderung und Mischung mit den Griechen durchkreuzt worden sei. Auch Seneca zeigt Kenntnis dieser Lehre.1) Die Möglichkeit, daß Livius von Varro abhänge, habe ich wohl in Erwägung gezogen, aber sie nicht nur wegen der Übertragung des Posidonischen Kimbernmotivs auf die Gallograeci, sondern vor allem deswegen verworfen, weil uns keinerlei sonstige Beeinflussung des Livius durch Varro kenntlich ist, selbst da nicht, wo wir sie, wäre sie vorhanden, unbedingt erwarten müßten, zu Beginn seines Geschichts- werkes bei Behandlung der ältesten Besiedlungsgeschichte Italiens und der Anfänge Roms. Dagegen ist uns das Abhängigkeitsverhältnis Varros von Poseidonios2) eine ebenso geläufige Anschauung wie dasjenige des Livius.

Livius hat an einer späteren, uns im Original nicht erhaltenen Stelle seines Geschichtswerkes die Charakteristik der Kelten auf die Germanen übertragen: das entnehmen wir Cassius Dio. In der langen Rede, die er, dem Livius folgend (s. o. S. 74), XXXVIII 36 ff. Caesar vor seinem Zusammentreffen mit Ariovist an seine Truppen halten läßt, heißt es (c. 45): „Wir bedienen uns einer planmäßigen Schlacht- ordnung, jene stürmen ungeordnet blindwütig darauf los. Ihren An- sturm braucht ihr so wenig wie die Größe ihrer Körper und ihres Schlachtgeschreis zu fürchten: in seiner Maßlosigkeit nur im Anfang stark aufflackernd hält er nicht lange vor, sondern verbraucht sich rasch." Es ist klar, daß Livius diese Charakteristik der Germanen auch für seine germanische Ethnographie verwertet hat, die nach dem

1) Seneca de cons. ad Helviam 7, lf. videbis gentes populosque universos mutasse sedem . . . Scythia . . . civitates Achaiae Pontieis impositas litoribus ostentat: non perpetuae hiemis saevitia, non hominum ingenia ad similitudinem caeli sui horrentia transferentibus domos suas obstiterunt . . . Graeci se in Galliam immiserunt, in Graeciam Galli. Mit den gesperrten Worten vergleiche man den o. S. 162, 1 zitierten Vers (wohl des Albinovanus Pedö) ingenia immansueta suoque simillima caelo.

2) Vgl. vor allem die im vorhergehenden öfters zitierten Aufsätze Kaibele und Wendlings im Hermes XX (1885) und XXVIII (1893).

Analyse einer livianischen Rede über die Gallograeker \Q}$

Zeugnisse der Inhaltsangabe des CIV. Buches der Erzählung des Zu- sammentreffens mit Ariovist und der bei jener Gelegenheit gehaltenen Ansprache Caesars an sein Heer unmittelbar vorausging.1) Die Über- einstimmung der Dionischen Charakteristik der Germanen und der Taciteischen führt uns also wieder auf Livius und über diesen hi-nauf zu Poseidonios.

3. Das geheimnisvolle Volk der Iberer hat begreiflicherweise das Interesse des Poseidonios auf sich gezogen. Der iberische Volksstamm der Kallaiker (in der nordwestlichsten spanischen Landschaft Galicia und dem nördlichsten portugiesischen Distrikt Entre Douro e Minho) trat in den Gesichtskreis der Kömer durch ihren Krieg mit den Lusitanern, den südlichen Grenznachbarn der Kallaiker.2) Die Anfänge des Freiheitskampfes der Lusitaner unter Viriatus im Jahre 147 fielen zeitlich noch gerade in den Rahmen des Polybianischen Werkes, das die Spezialgeschichte des Numantinischßn Krieges nicht mit- gerechnet — bis 145/144 reichte. Der weitere Verlauf und das Ende im Jahre 139 muß also ganz zu Beginn der Historien des Poseidonios erzählt worden sein; in letzterem Jahre betrat der Statt- halter des jenseitigen Spaniens Servilius Caepio als erster Römer die wilden Berglande der Kallaiker.3) Es herrscht wohl Einvernehmen darüber, daß unsere Überlieferung in letzter Hinsicht auf Poseidonios zurückgeht; die bei Diodor XXX 1. 7. 21a und Appianus Iberika 71 f. erhaltene Charakteristik des Viriatus, die Schilderung seiner Hochzeit und das ihm gespendete Elogium sind Glanzstücke Posidonischer Erzählungs- und Stilkunst.4) Durch mehr oder minder umfangreiche

1) Periocha: Prima pars libri situm Germaniae moresque continet. C. Caesar, cum adversus Germanos qui Ariovisto duce in Galliam transcenderant exercitum duceret, rogatus ab Aeduis et Sequanis quorum ager possidebatur trepidationem militum propter metum novorum hostium ortam adlocutione exercitus inhibuit.

2) Der Domo bildete die Grenze. Vgl. Strabo III 162 rovs ■nXsiGxovg xöav Av6ixav&v KcclXcanovs v.a\£i6Q,ai.

3) A. Schulten, Viriatus, in den Neuen Jahrb. 1917, 226. Aus dieser Ab- handlung (S. 215, 3) ist auch zu ersehen, daß wir den keltischen Namen des lusitanischen Freiheitshelden nicht, wie es unsere griechisch-römischen Quellen meist tun, mit der Aspirata schreiben dürfen.

4) A. Schulten hat in seiner übrigens zur Erkenntnis von Poseidonios' schriftstellerischer Art ergebnisreichen Abhandlung „Polybius u. Posidonius über Iberien" (Hermes XLVI 1911, 568 ff.) versucht, den Anteil dieser beiden Autoren an den Darlegungen iberischer Landeskunde und Kämpfe bei Strabo,

11*

Iß4 Kap. II. Quellenkritisches zur Ethnographie europäscher Völker

Stücke des Strabo III, Diodor V und besonders des Trogus -Iusti- nus XLIV3 steht ferner fest, daß Poseidonios eine Ethnographie jenes

Diodor und Appian zn sondern. Ich vermag ihm dahei aber nicht in allem zu folgen; insbesondere gilt das für seinen Versuch, einzelne Stücke Appians, darunter das im Text bezeichnete, der Spezialschrift des Polybios über den Numantiniscben Krieg zuzuweisen, in der auch die lusitanischen Ereignisse von 144 137 erzählt worden seien. Denn, auch abgesehen davon, daß letztere An- nahme — er hat sie in einer Spezialschrift „Numantia, eine topogr.-hist. Unter- suchung" (Abh. d. Gott. Gi's. 1905, 84) aufgestellt ganz hypothetisch ist: wer die Appianiscie Erzählung des Lusitanischen und die des Numantiniscben Krieges (c. 63 76. 76 98) sowie der spanischen Ereignisse der Jahre 112 93 (c. 99 100) liest, wird sich gar nicht dem Eindrucke entziehen können, daß dies alles in letzter Hinsicht auf einen und denselben Hauptgewährsmann zurückgeht, und das kann schwerlich jemand anders als Poseidonios gewesen sein. Ohne im übrigen auch nur von fern an eine Quellenanalyse der Appia- nischen Iberika herantreten zu wollen, möchte ich doch auf einige Einzelheiten hinweisen, die mir für Poseidonios' Art charakteristisch zu sein scheinen. In c. 67 heißt es von dem Prokonsul Q. Fabius Maximus Servilianus (zum Jahre 141): xbv Ovgiccx&ov . . . irtiovrec ol (isxd xe xgavyijg xal &ogvßov ßccgßugiKOv aal jtdfirjg iHxxgäg, rjv iv xolg itoXi^oig iitiGEiovei xolg ix&Qolg, ovdhv VTtonxr]'gag VTtsarr] xe y^waiag nccl aitecoöccTO angcmrov. Dies läßt, wie C. Cichorius, Unter- suchungen zu Lucilius (Berl. 1908) 32 bemerkt, auf eine Sittenschilderung der Lusitaner schließen, wie wir sie bei Strabo III 154 f. lesen; in dieser begegnet auch das Motiv des im Kampfe flatternden Haares: ßu'Q-Elav ■xaxaxfvv^ivoi xrjv xoiiriv . . . {läxovTcti, Strabo aber geht, wie auch Cichorius annimmt, auf Posei- donios zurück (nach Schulten S. 580 auf Polybios). Ganz der Art des Poseidonios entspricht der Hinweis in c. 72 auf die ßagßctgixol hnaivoi, an der Bahre des Viriatus sowie die zweimalige Erwähnung der mit ihren Männern zusammen kämpfenden Frauen in c. 73. 74 (vgl. aus den Posidonischen Kiiißgixd Plut. Mar. 19). Die „Vertierung" von Menschen ist geradezu ein Lieblingsmotiv des P. gewesen: v#l. Plutarch, Mar. 16.20 von den Kimbern und deren Hilfsvölkern: ihre Stimme sei „tierisch" ; 1 »iod. V 31 a. E. von den Kelten : wenig xiva Q-r\gia; der- selbe XXXI\/ V 36 (zum Jahre 130) itXfj&og navxsX&g &Tts&rigiw&ri TtgbgxbvIIxoXs- (icäov 43 (zum Jahre 127) xrjv x&v oyJXav itgbg ccvxbv a7io&r]gicoaiv 60 (zum Jahre 1111 xov ök irXij&ovg ayavaxxovvxog xai xs&rjgicoiisvov. Es findet sich in der Appianischen Erzählung vom Falle Numantias c. 96 y.uxä>v ovShv avxolg a7if}v, 7]ygi(< fi voig fihv xäg i/w^ag vitb xäv xgocp&v, xs&rjgico^iBvoig dh 6m\iuxa intb X^iov v.al Xoiyiov (wo man auch das Isokolon, eine bei Poseidonios sehr beliebte Figur, beachten wolle), und bald darauf nochmals c. 97 o 6k {Zxmicov) i]v agcc 6xgaxr\yvK.wxsgog avxwv, ig %slgccg ovx lav &T]gioig, sowie in der Diodo- rischen von Viriatus XXXIII 19: der Konsul Popilius gewährte im Jahre 139 dem Viriatus eine Unterredung, fixag (tri . . . ano&T}gi.ad'fj stgbg TtoXsftov axux- dXXaxxov. Die letztere Kongruenz ist deshalb besonders bemerkenswert, weil

Poseidonios Livius Silius1 iberische Ethnographie lQö

Volkes gegeben hat.1) Aber kein Zitat daraus, selbst nicht das bei Iustinus; bietet so viele wohlgeordnete Einzelheiten wie eine Vers- reihe des Silius Italicus, bei dem es inmitten des an interessanten Einzelheiten auch sonst reichen Hannibalischen Truppenkatalogs so heißt (III 344 ff.): „Das reiche Gallaecien sandte eine Mannschaft, die sich auf die Schau der Eingeweide, des Vogelflugs und der göttlichen Flammen versteht; bald lassen sie in ihren Heimatzungen nach Bar- barenart Gesänge erdröhnen, bald stampfen sie froh im Wechseltritt die Erde, wobei im Rhythmus ihre Schilde hallend zusammenklingen. Mit diesem Spiel vertreiben sich in der Ruhe der Festtage die Mannen die Zeit. Frauenarbeit besorgt das übrige; das Erdreich umzupflügen und Samen in die Furche zu streuen, das ist für die Männer eine zu träge Beschäftigung: alles, was es ohne harte Kriegsarbeit zu tun gibt, versieht die unermüdliche Gattin des Gallaecers. Diese Truppen sowie die aus ferner Wildnis aufgebotenen Lusitaner führte Viriatus, der damals noch in ganz jungen Jahren stand, später seinen Namen durch römische Niederlagen berühmt machen sollte":

fibrarum et pennae divinarumque sagacem 345 flammarum misit dives Callaecia pubem,

barbara nunc patriis ululantem carmina unguis,

nunc pedis alterno percussa verbere terra

ad numerum resonas gaudentem plaudere caetras.

haec requies ludusque viris, ea sacra voluptas. 350 cetera femineus peragit labor; addere sulco

semina et impresso tellurem vertere aratro

segne viris. quicquid duro sine Marte gerundum,

Callaici coniux obit irrequieta mariti.

has Viriathus agit Lusitanumque remotis 355 extractum lustris, primo Viriathus in aevo,

nomen Romanis pactum mox nobile damnis.

sie zeigt, daß die Erzählung des Lusitanischen und des Numantinißcnen Krieges von derselben Hand herrührt.

1) Wir vermögen freilich nicht mehr mit völliger Sicherheit überall den Anteil des Polybios von dem des Poseidonios zu sondern, da jener seiner im XXXV. Buche beginnenden Darstellung der spanischen Kämpfe im XXXIV. eine geographisch-ethnographische Einleitung vorausgeschickt hatte. Poseidonios hatte sich aber mit dieser nicht begnügt, sondern mit ausdrücklicher Polemik gegen seinen Vorgänger eingreifende Änderungen vorgenommen. Näheres darüber bei (Schulten a. a. 0. (vorige Anm.).

166 Kap. Ii. Quellenkritisches zur Ethnographie europäischer Völker

Dies kann, wie jeder mit der Quellenanalyse des Silius Vertraute auf den ersten Blick erkennen wird, nur aus Livius stammen, der den Krieg mit Viriatus in Teilen der Bücher LH LI V nach Posei- don ios erzählt hatte; die törichte Erfindung, daß Viriatus das Kon- tingent seines Volkes im Hannibalischen Kriege geführt habe, werden wir dem Poeten zugute halten, weil er uns durch das Hineinbeziehen einer Episode in sein Thema dieses bisher unbeachtet gebliebene ethno- graphische Prachtstückchen aufbewahrt hat. In ihm finden sich, von der bei Iustinus erhaltenen Urgeschichte des Volkes abgesehen, alle für eine Ethnographie Posidonischen Stils charakteristischen Züge. Durch dives 345 wird der Reichtum des Landes an Edelmetallen an- gedeutet, wobei Iustinus ausführlich verweilt „das Land ist", heißt es dort unter anderem, „derartig reich, daß sie beim Pflügen häufig goldhaltige Erdschollen ausheben" ; die berühmte lange Schilderung spanischer Metallurgie, die Poseidonios gab, ist uns beiDiodorV35— 38 und Strabo III 147 erhalten. Es fehlen nicht die barbara carmina 346 (vgl. o. S. 115 f.). Der Schildtanz 347 f. erinnert in Verbindung mit den Worten Strabos (III 155) „sie vollziehen Wettspiele im Ringen, Kämpfen mit Waffen und Reiten, auch tanzen sie beim Gelage im Sprungschritt" an den Schwerttanz und die Reitermanöver der Ger- manen (Tac. 6. 24), desgleichen die Erwähnung der Frauenarbeit 350 an die entsprechende germanische Sitte (Tac. 15 delegata domus et penatium et agrorum cura feminis), wie denn Poseidonios nach dem Zeugnisse Strabos III 165 (vgl. Diodor V 39, 2) darauf hinwies, daß die Sitte, die Frauen sich an Männerarbeit beteiligen zu lassen, ge- meinsamer Brauch der Iberer, Kelten, Ligurer, Thraker und Skythen sei.1) Die ersten Verse zeigen, daß er auch bei dem iberischen Volke, wie er es bei den Kelten (Diodor V 31) und Kimbern (s. o. S. 123) tat, auf die Arten der Mantik genau einging: Strabo III 154 (aus Poseidonios) dient uns darin zur Ergänzung des Livianischen Berichts, den Silius verkürzte.

Die Linie: Poseidonios Livius Silius

ist, wie man sieht, parallel (nur um ein Zwischenglied verkürzt) der

1) Es zeugt für seinen Weitblick, daß er das von unseren National- ökonomen viel erörterte Prinzip der Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau (vgl. K. Bücher, Arbeit u. Rhythmus8, Leipz. 1902, 379) so oft notierte. Ein Späterer, dem Tac. folgte, beobachtete dann dasselbe bei den Germanen.

Poseidonio8 Livius Silius' iberische Ethnographie 7

oben nachgewiesenen

Poseidonios (Timagenes) Livius Tacitus. Auch Appianus geht in den Iberika, wie bemerkt, durch Vermittlung des Livius auf Poseidonios zurück, nur daß zwischen ihm und Livius noch ein unbekannter Gewährsmann1) gestanden hat: Poseidonios Livius X Appianus. Es trifft sich dabei zufällig, daß Silius ein älterer, Appianus ein (beträchtlich) jüngerer Zeitgenosse des Tacitus war.

4. Die von Tacitus über Livius in die griechische ccQ%aio\oyCa. hinaufführende Linie läßt sich endlich durch sprachliche Vergleichs- stücke zwischen der Taciteischen Urgeschichte der Germanen und der erhaltenen Livianischen Roms sichern. Tacitus schließt die Aufzählung der angeblichen Zeichen einer vorgeschichtlichen griechischen Kolonisa- tion Germaniens, z. B. des fabulosus error TJlixis, mit den Worten (c. 3 a. E) : quae neque confirmare argumentis neque refeilere in animo est. Mit diesen Worten hat man längst verglichen die Livianischen praef. 6 (quae ante conditam condendamve urbem poeticis magis decora faoulis quam incorruptis rerum' gestarum monumentis traduntur,) ea nee adfirmare nee refellere in animo est An und für sich stände der An- nahme, es wäre das eine Stilblüte aus dem Anfang des Livianischen Werkes, natürlich nichts im Wege. Nun aber folgen bei Tacitus auf die angeführten Worte noch diese: ex ingenio suo quisque demat vel addat fidem. Sie haben bei Livius hier keine Entsprechung; hat sie also Tacitus von sich aus hinzugefügt? Daß dem nicht so ist, beweist ihr fast genaues Vorkommen in griechischen Urgeschichten. Hero- dot II 146 (ägyptische Archäologie) rovrav hv dficpoxsQcav %aQS6xt %Qä6&ui xolöC xvg Ttsidercu Xsyo^iEvoiöi [lüXlov ifiol d' hv r\ xeqI ttvxcbv yvä\Lr\ äitodsdexxcu (bei Tacitus folgt: ego eorum opinioni accedo usw.). V 45 (Geschichte des Dorieus) xavxa (isv vvv ETtdxeQot, avxäv

IICCQTVQICC aTCOtpalvOVtai' Kai 7tdQ£<3XL, OXOXEQOLöC Xig TtsC&STCCt, UVXÖV,

xovxotöi 71qo6%C3qbblv. Thukydides schließt seine Darlegung der ältesten Besiedelungsgeschichte Siziliens (nach Antiochos von Syrakus, viel- leicht vermittelt durch Hellanikos) mit den Worten (VI 2, 2): der

1) Ich habe meine Gründe zu der Annahme, daß das gar keine schrift- stellerische Individualität war, sondern daß dem Appianus eine hyponinematische Zusammenarbeitung älterer Quellenberichte vorlag, die er benutzte wie der judäische Autor des Josephus die Strabonischen Hypomnemata.

168 Kap. II. Quellenkritisches zur Ethnographie europäischer Völker

Sage nach sollten Kyklopen und Laistrygonen die frühesten Bewohner gewesen sein, cov tya ovxe yevog t%(o slitelv ovxe bno&Ev iöfjXd-ov ?} Ötcol cc7tE%G)Qr}6uv' ccqxeCxco de (bg ttoirjTccls xe sIqtjtcci aal Jjj i'xaöxög Ttrj yiyväöxEt %eq\ ccvxöv. Dionysios Hai. I 48, 4 (römische Urgeschichte) slöl <T ol (ivd-GjdsöxtQav avxov (des Aineias) TtoiovöL xrjv h%o8ov. iyixa d' ojtr] xis uvxbv tceC&el (vgl. 79, 3 bTtoxigcc 6h yQcccpy %qyj tclöxevslv avxög xig EißExai x&v dvayvaöo^Evcov). Hieraus ergibt sich, daß dieser schon in den ältesten Schichten der Ethnographie verbreitete Topos in die germanische des Tacitus durch denselben Überlieferungsstrom getragen worden ist wie das sonstige Gut. In diesem Zusammenhange gewiunen auch andere etwas weniger auf- fällige Anklänge der römischen Archäologie des Livius an die ger- manische des Tacitus an Bedeutung. Bei Livius folgen auf die an- geführten Worte diese: datur liaec venia antiquitati, die an die Taci- teischen (c. 2) ut in licentia vetustatis erinnern. Unter den zahlreichen Namengebungen von Völkern bei den beiden Schriftstellern ist be- merkenswert Livius I 1, 3 gens universa Veneti appellati ~ Tacitus c. 2 ut omnes . . . Germani vocarentur-, der letztere Satz ist abhängig von den Worten ita evaluisse, die ihr Gegenstück bei Livius in c. 15, 7 tantum valuit ut haben: die Entsprechung dieses Ausdrucks in grie- chischen Ethnographien, aus denen er geradezu übersetzt ist, werden wir weiter unten (V. Kap., Abschn. II) kennen lernen. Wie es bei Tacitus c. 3 heißt fuisse apud eos et Herculem memorant, so bei Livius c. 7, 4 Herculem in ea loca Geryone interempto ooves mira specie abegisse memorant. Keiner wird leicht glauben, daß Tacitus sich all diese Worte und Wendungen aus der römischen Archäologie des Livius zusammengesucht habe, um sie auf seine germanische zu übertragen; diese Annahme würde ja auch für die letztgenannte Aus- drucksweise widerlegt werden durch ein sich zugesellendes drittes Vergleichsglied: adseverant Herciüem ad Geryonis perniciem festinasse: diese Worte stehen in dem Timageneszitate des Ammianus (0. S. 50 f.). Wir werden mithin in allen diesen Fällen so zu urteilen haben, daß Livius die Phraseologie seiner römischen Archäologie in der germani- schen reichlich wiederholte kein Wunder:. beider Vorlagen waren ja wesentlich hellenisch , und daß Tacitus sich in der Wortwahl, wie es zumal bei einer solchen seit Jahrhunderten konventionellen sein Recht war, an die germanische des Livius eng anschloß.

Ethnographische Terminologie 169

Wenn wir zum Schluß dieses Abschnittes versuchen, uns den Gang der Überlieferung mit den unzulänglichen Mitteln äußerer Ver- anschaulichung vor Augen zu führen, so würde sich etwa das S. 170 entworfene Bild ergeben, zu dessen Verständnis folgendes bemerkt sei. Durch punktierte Linien ist angedeutet, daß es sich nicht um äußer- liche Herübernahme, sondern um Weiterführung des überlieferten Stoffes auf Grund neu hinzugekommenen Forschungsstoffes handelt. Das Nacheinander der Namen ist in diesen Fällen nicht immer in dem Sinne aufzufassen, als ob der Nächstfolgende nur seinen un- mittelbaren Vorgänger benutzt hätte; vielmehr hat er sich oft nicht mit diesem begnügt, sondern hat auch die älteren herangezogen: so griff Poseidonios über Ephoros mindestens auf Hippokrates und Herodotos, vielleicht auf Hekataios, Strabo über Timagenes auf Posei- donios, Artemidoros und Ephoros, Tacitus über Plinius auf Livius zurück. Dagegen sollen die nicht punktierten Linien das unmittel- bare Abhängigkeitsverhältnis anzeigen. Die Belegstellen für die Autorennamen lassen sich aus dem Register leicht ersehen. Die wich- tige Vermittlerrolle, die in der Tabelle dem Plinius zugewiesen worden ist, kann erst im IV. Kapitel, die Eintragung der Namen des Proko- pios und Agathias erst im VI. Kapitel (Abschn. II 1) begründet werden.

Es liegt in der Natur der Entwicklung begründet, daß am Anfang der Reihe der Name des Hekataios erscheint, des Pfadfinders, dessen Werk noch Eratosthenes als bewunderungswürdig bezeichnete. Ob Poseidonios es noch selbst las, bleibe dahingestellt1); jedenfalls hatte er von ihm durch Vermittlung geschichtlicher und geographischer Werke wie derjenigen des Ephoros und Eratosthenes sehr genaue Kunde. So war denn die EvQanrj des großen Milesiers über einen Zeitraum von fast genau 600 Jahren durch einen in den Etappen noch einigermaßen kenntlichen Weg mit derjenigen Schrift verbun- den, die in der Überlieferung über mittel- und nordeuropäische Völker- verhältnisse einen besonders vornehmen Rang behauptet, der Ger- mania des Tacitus. Die im I. Kapitel dieses Buches versuchte Skizze der ethnographischen Forschungsliteratur von Hekataios bis Tacitus hat sich im II. Kapitel an einem ausgeführten Einzelbilde bewährt.

1) Diese Annahme läge noch innerhalb der Grenze der von Jacoby R. E. VII 2700 f. skizzierten Schicksale des Werkes.

170 KaP- II. Quellenkritischee zur Ethnographie europäischer Völker

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Von Hekataios zu Tacitus 171

DRITTES KAPITEL

HERAKLES UND ODYSSEUS IN GERMANIEN. -

GRIECHISCHE INSCHRIFTEN AUF DER GERMANISCH-

RAETISCHEN GRENZE

Es dürfte wenige Kapitel eines antiken Schriftstellers geben, in deren Auslegung das Dilettantentum solche Orgien gefeiert hätte wie in dem dritten der Taciteischen Germania, wo von dem Besuche des Herakles und Odysseus in Germanien unter Anführung angeblicher Beweisgründe berichtet wird. Sagen- und völkergeschichtliche Kon- struktionen von schwindelnder Höhe sind auf dieser Grundlage er- richtet worden. Aber auch in den Köpfen einzelner angesehener Forscher treibt der Spuk sein Wesen fort: die Heroen aus Olymp und Hades sind sie los, geraten aber in den Bann der Einherjer aus Walhalla oder der Gespenster aus Niflheim. Dies alles liegt jenseits ernsthafter Erörterung und ließe sich kurzerhand mit dem Hinweise darauf beiseite schieben, daß eine regelrechte antike Ethnographie irgendeines Volkes zwischen Ceylon und Schottland, Spanien und Westsibirien ohne hellenische Heroen nun einmal nicht auskam1), und daß unter diesen neben Herakles und Iason die dem trojanischen Sagenkreise angehörigen, wie Diomedes, Aineias, Antenor und natür- lich auch derjenige, og fidla itoXXä 7tlayyßtr\, in Kontribution ge- setzt wurden.2) Nennt doch, um nur dies eine anzuführen, Strabo

1) Eine Ausnahme wird geradezu als solche vermerkt bei Diodor V 21, 2 von Britannien: avxr\ xb \ihv ■xoclaibv avsTtiiuxrog iyivsro £,svixaZs Svväutöiv o%ts yuq Aiovvöov oü&"HQUxlecc 7C<XQSi,Xrj(po:(i£v ovrs tmv aXXcov ijgöaav iorgarev- p&vov iit' uvxrp. Das geht in letzter Hinsicht auf Poseidonios zurück (A. Klotz, Caesarstudien 145). Später ist dann auch in Schottland eine Odysseusreliquie lokalisiert worden (vgl. das weiterhin im Text bei II 1 Gesagte). Sehr hübsch ist auch, woran mich W. Kranz erinnert, daß Horaz, um die ferne Entrückt- heit der Inseln der Seligen zu charakterisieren, sagt: „hierher kamen weder die Argonauten noch Ulixes' (epod. 16,57 3.). Übrigens hat schon F. A. Ukert, Geographie der Griechen u. Römer III 1 (Weimar 1843) 188 ff., viele Zeugnisse für die Wanderungen der beiden Heroen angeführt und danach die Taciteische Stelle wenigstens grundsätzlich richtig beurteilt. Er hat wenig Gehör ge- funden; doch hat Baumstark in seinem Kommentar (s. o. S. 5, 2) 191 einige Zeugnisse wiederholt.

2) Ulixis errationes per topia nennt Vitruvius VII 5, 2 als beliebten Gegen- stand der Malerei.

172 Kap. III. Herakles und Odysseus in Germanien usw.

III 149 157 in sehr gelehrter Darlegung Autoritäten wie Artemi- doros von Ephesos, Asklepiades von Myrleia und Poseidonios, um die Anwesenheit des Herakles und Odysseus in lberien zu erweisen. Wer also dasselbe für Germanien behauptete, befand sich in acht- barster Gesellschaft. Tacitus deutet durch die etwas ironisch ge- haltene Stilfärbung und, was Odysseus betrifft, durch die Wortwahl fabuloso errore1) freilich an, daß er an dies alles nicht recht glaube; aber dadurch, daß er den Quellenbericlit seinen Lesern in verhältnis- mäßiger Ausführlichkeit vorlegt und ihnen die Entscheidung über dessen Wert oder Unwert anheimstellt, zeigt er doch eine gewisse Befangenheit.2) Mit diesen wenigen Worten könnten wir die ganze Angelegenheit als erledigt betrachten, wenn nicht einige merkwürdige Angaben zur Prüfung einlüden: eine falsche Konstruktion schließt die Nutzbarkeit einzelner für sie mißbrauchter Bausteine nicht un- bedingt aus.

I. DIE LIEDER AUF 'HERCULES'. - HERAKLES UND SIEGFRIED?

Fuisse apud eos et Herculem memorant primumqiie omnium virorum fortium ituri in proelia canunt. Die Gesänge auf den Gott Tuisto bedurften keiner näheren Wesens- bestimmung: es konnten nur v^ivoi sein. Dagegen werden die Lieder auf Hercules durch die Worte, ituri in proelia hätten die Germanen sie gesungen, als £[ißttTt]Qia [isXr] charakterisiert: „Sie sangen sie beim Anrücken gegen die Feinde" sagt Plutarch (Lyk. 21) von den spartanischen Marschliedern.3) Die Germanen priesen in den ihrigen „den Hercules, den ersten aller Helden".

1) Wenn es heißt fabuloso errore in hunc oceanum delatum, so muß man daran denken, daß sich der Streit darum drehte, ob die Irrfahrten des Odysseus im d)X£<xv6g oder nur in der ftäluxxa, dem Binnenmeere, stattgefunden hätten .

2) Daß auch er der Legende Tribut zollte, zeigt ann. II 60 Germanicus . . . Nilo subvehebatur, orsus oppido a Canopo. condidere id Spartani ob sepultum illic rectorem navis Canopum, qua tempestate Menelaus Graeciam repetens diversum ad mare Libyamque deiectus est.

3) Ibant et laeti pars Sancum voce vocabant Auetor em gentis, pars laudes ore ferebant, Sabe, tuas Silius VIII 420 f., ob nach einer Tradition oder bloß in Anlehnung an Verg. VII 698 (von italischen Truppen» ibant aequati numero regemque canebant?

Der germanische Hercules 173

In welchem Verhältnis steht nun die als Referat gegebene Nach- richt von der Anwesenheit des Hercules in Germanien (fuisse apud eos et Herculem memorant) zu der direkten Angabe über Lieder auf ihn (primumque . . . canunt)? Das Vorhandensein der Herculeslieder bezweifelt der Schriftsteller ersichtlich so wenig wie das der Tuisto- lieder (celebrant carminibus Tuistonem). Nun aber sagt er doch zu Anfang und Schluß der Urgeschichte ausdrücklich, er persönlich lehne jede Annahme einer Vermischung von Germanischem und Fremdländischem ab: wie also kann er sich in der Mitte zu dem Glauben an germanische Herculeslieder bekennen? Die Erklärer sind, soweit sie auf die Schwierigkeit überhaupt eingehen, in Ver- legenheit, ja es ist dem Schriftsteller unzulängliche Vereinigung ver- schiedenartigen Quellenstoffes vorgeworfen worden.1) Sehen wir lieber zu, ob sich beides, der scheinbare Widerspruch und die Durch- kreuzung des Referats durch persönliche Ausdrucksweise, mittels tieferen Eindringens in den Gedankengang gleichmäßig erklären läßt.

Hercules begegnet in der Germania noch zweimal (c. 9. 34), aber die erste Stelle ist textkritisch unsicher. Auf die einstimmig über- lieferten Worte deorum maxime Mercurium colunt, cui certis diebus humanis quoque Jiostiis litare fas hdbent folgen in den Hss. CcE diese: Herculem et Martern concessis animalibus placant (darunter ac statt et Cc), während Bb bieten: Martern concessis animalibus placant et Herculem. Angesichts einer solchen Überlieferung scheint es sich mir zu empfehlen, mit Fr. Ritter (1864) den Namen des Hercules und die ihn mit dem des Mars verbindende Kopula als Zusatz eines Lesers zu betrachten, der hier die Erwähnung des Hercules ver- mißte.2) Die alte Vermutung, dieser kultisch verehrte Hercules sei mit Donar zu identifizieren, wird dennoch, wenn auch vielleicht nicht für Tacitus, so doch für denjenigen, der den Namen nachgetragen zu haben scheint, zu Recht bestehen.3) An der zweiten Stelle (c. 34)

1) Von Joh.Fr.Marcks, Kl. Stud. zu Tac. Germ. (Festschr. z. 43. Philol. Vers, in Cöln, Bonn 1895) 183 f.; A. Miodonski, Ein röm. Bericht über d. germ. Hercules (Anz. d. Krakauer Akad. 1895) 241 f., kommt, 'von teilweise richtigen Voraussetzungen ausgehend, zu einer schweren Vergewaltigung des ganzen Satzes.

2) Ich stimme darin mit Gudeman überein. Eine andere, ebenfalls das Sachliche betreffende Interpolation ist oben (S. 135) zur Sprache gekommen.

3) Die Vermutung wurde zuerst von Zeuß S. 25 ausgesprochen, der sich über die Textüberlieferung noch nicht klar sein konnte. Obwohl J. Grimm

174 Kap. III. Herakles und Odysseus in Germanien usw.

spricht der Schriftsteller von Herculessäulen1) im nördlichen Ozean, möge nun Hercules wirklich dorthin gelangt sein (sive adiit Hercules) oder möge diese Benennung nur mit Rücksicht auf die allgemeine Berühmtheit dieses Heldennamens erfolgt sein (seu quicquid ubique magnificum est, in claritatem eius referre conscnsi?nus). Diese Worte müssen wir zum Verständnisse des fraglichen Satzes in c. 3 ver- werten. „Hercules" ist nicht bloß der hellenische Heros dieses Namens, sondern daneben eine allgemeine Bezeichnung für „Helden". Diese Auffassung war sehr verbreitet.2) Bei Servius zur Aen. VIII 564 heißt es: sicut Varro dicit, omnes qui fecerant fortiter Hercules voca- bantur.5) Dieser Rationalismus fand seinen Ausdruck in der seit alters bezeugten Konkurrenz von einheimischen ^Herakles' fremd- ländischer Völker4) mit dem hellenischen Heros dieses Namens.

(Mythol. I4 302) sich zweifelnd äußerte, gilt die Identifikation jetzt, wie es scheint, als gesichert (vgl. die Stellenangaben bei B. Peter in Roschers Lex. d. Myth. I 3013 f.). Die sachlichen Bedenken, die Gudeman z. d. St. und in der Einleitung seiner Ausg. (S. 32, 4) äußert, scheinen mir nicht gerechtfertigt zu sein. Denn da unter den drei germanischen Hauptgöttern Mercurius, Mars, Hercules (zuletzt über sie F. Haug, Germania II 1918, 102fF.) die beiden ersten anerkanntermaßen die interpretatio Romana von Wodan und Tiu sind, so er- gab sich für denjenigen, der hier den dritten Gott vermißte, die Notwendig- keit, ihn Hercules zu benennen und mit Donar gleichzusetzen. Ebenfalls gegen Gudeman ist zu bemerken, daß die Worte der Annalen II 12 (vor der Weser- schlacht) Caesar cognoscit eonvenisse et alias nationes in silvam Herculi sacram eher auf einen Gott als einen Heros weisen.

1) Vgl. Anhang IV.

2) Deutlicher als alle Belege spricht Plinius, der angesichts der Meinungs- verschiedenheiten über die Lebensweise der Bienen, eines den Menschen so aus der Nähe kenntlichen Geschöpfes, entrüstet ausruft (X 52): quaerat nunc aliquis, unusne Hercules fuerit et quot Liberi patres et reliqua vetustatis situ obruta.

3) Varro kam wiederholt darauf zu sprechen: vgl. die von P. Fraccaro, Studi Varroniani (Padova 1907) 275, angeführten Stellen.

4) Der gallische Hercules ist nicht bloß aus literarischer Überlieferung (Timagenes-Ammianus XV 9, 3. Lukians TtQoXaXiu), sondern auch aus In- schriften bekannt, so Hercules Gallicus CIL IX 2322 aus Allifae in Samnium, H. Munnus, Andossus u. a. (vgl. R. Peter in Roschers Lex. d. Myth. I 3021 f. A. Riese, Zur Gesch. d. Götterkultus im rhein. Germanien, Westd. Ztschr. XVII 1898, 33). Einem libyschen Herakles begegnen wir in der von Silius XII 358 ff. aus Sallusts Historien entlehnten sardinischen Archäo- logie, einem indischen bei Arrianus in der 'Ivöixt] 5, 8 ff. 8, 4 ff. sowie bei

Der germanische Hercules 175

Bedürfte es eines Zeugnisses dafür, daß dem Tacitus diese Vorstel- lung geläufig war, so findet es sich in den Annalen II 60, wo er aus Anlaß der Beschreibung des Reiseweges des Germanicus in Ägypten von der Herakleoti sehen Nilmündung spricht1): „Darauf besuchte er die nächste Mündung des Nilstroms, die dem Hercules geweiht war. Die Ortseinwohner behaupten, dieser sei bei ihnen heimisch und der älteste; diejenigen, die späterhin gleichen Helden- mut besaßen, hätten nur den Namen von ihm erhalten." Hierbei werden jedem die Ausführungen Herodots über den ägyptischen Herakles (II 43 ff.) einfallen, der ein hegog, nicht 6 M^Kpcrgvcovog gewesen sei. Diese Vorstellung wurde für die keltische Kolonisations- legende verwertet, die wir bei Timagenes-Ammianus XV 9 lesen (o. S. 50f.): neben dem Hercules Amphitryonis filius, der auf seinem Kriegszuge in den Westen2) nach Gallien gekommen sei, steht ein älterer epichorischer Held cHercules'; beide werden für die Ur- geschichte des Volkes in Anspruch genommen: die Einwanderungs- Partei beruft sich auf jenen, die Autochthonen- Partei auf diesen. Hierdurch ist die Deutung der Taciteischen Worte gegeben. Die eine Partei behauptet die Anwesenheit des hellenischen Heros in Ger- manien, fuisse apud eos et Herculem memorant (worauf weiterhin folgt: et Ulixem quidem opinantur usw.); die andere leugnet dies, indem sie unter dem germanischen ^Hercules' den hervorragendsten einheimischen Helden versteht, der in Liedern gefeiert wird, pri- mumque omnium virorum fortium ituri in proelia canunt. Tacitus hat mit außerordentlicher Gedrungenheit nur das Notwendigste gesagt : den Quellenbericht hat er ersichtlich verkürzt und ihn sprachlich so geformt, daß kein Zweifel obwalten konnte, auf die Seite welcher Partei er sich stelle. Die Behauptung einer Anwesenheit des hellenischen Heros wird in indirekter Rede und so kurzerhand ab- Cicero in seinem Hercules - Kataloge de nat. d. III 42, als dessen Gewährs- männer von ihm angegeben werden ii cjui inferiores scrutantur et reconditas litteras, identisch mit den theologi 63 u. 54.

1) Die diesen Worten vorhergehenden über die Kanobische Nilmündung sind vorbin (S. 172, 2) angeführt worden.

2) Vgl. für Gallien Diodor IV 19, lf. (aus Poseidonios). V 24, Parthenios c. 30 (bemerkenswert; vgl. 0. Gruppe bei Röscher Suppl. III 1918, 997); für Spanien Strabo III 157 (aus Asklepiades v. Myrleia); für Afrika Sallust lug. 18, 3 f. PliDius V46; für die Alpen Plinius III 134.

176 &aP- 1H- üerakles und Odysseus in Germanien usw.

gemacht, daß dabei nicht einmal der Anlaß vermerkt ist, der ihn nach Germanien geführt habe; dagegen gibt der Schriftsteller seiner Überzeugung, daß der exemplarische Germanenheld zu verstehen sei, in direkter Rede und unter Erwähnung von Liedern auf ihn un- mittelbaren Ausdruck.

Diese Deutung1) befreit nicht nur den Schriftsteller von dem Vorwurfe einer Gedankenlosigkeit, sondern ermöglicht vielleicht auch einen Gewinn für das germanische Altertum. Auf das eigentliche For- schungsgebiet der Germanisten überzugreifen habe ich im all- gemeinen durchaus vermieden; hier kann ich es mir nicht versagen, ihnen eine Ansicht vorzulegen, die, wenn sie der Prüfung standhält, bedeutungsvoll ist. Literarische Überlieferung hilft nicht weiter, wohl antiquarische. Durch inscbriftliche und numismatische Zeug- nisse des III. Jahrh. kennen wir einen Lokalheros der alten Batävenheimat, deren Name in dem niederländischen Territorium Betuwe (zwischen Waal und Lek, mit dem Hauptorte Noviomagus) fortlebt. Die Römer glichen jenen Heros dem Hercules an: es ist der in Deuso, dem heutigen Doesborgh, an der Yssel (bei Arnheim) verehrte Hercules Deusoniensis und der mit ihm identische, nur nach einem anderen Orte (Mahusenham, einem Flecken bei Duurstede im Gebiete von Utrecht) zubenannte Hercules Magusanus. Darüber werde ich im Anhang VII 2 einiges bemerken und meine Ansicht begründen, daß die an der Straße von Lugdunum Batavorum nach Noviomagus gelegene Station Castra Herculis ihren Namen nach ebendiesem Hercules trug. Die Zeugnisse für ihn fallen zwar, wie bemerkt, erst in nachtaciteische Zeit, aber das hindert nicht, sie in einer bestimmten Ri chtung zu verwerten. Ein Hercules, dem eine Elitetruppe wie die bata vischen Reiter der Kaisergarde in Rom einen Altar widmete (Dessau 4628 Herculi Magusano vom Jahre 219), muß wohl ein Typus von der Art gewesen sein, daß er den Römern als primus omnium virorum fortium erscheinen konnte. Auf einem besonders hübschen Epigramm Hadrianischer Zeit (Bü- cheier 427) nennt sich ein Soldat der damals in Pannonien statio-

1) In aller Kürze, ohne Beachtung zu finden, hat sie ausgesprochen E. Ortmann, Ztschr. f. Gymn. Wesen XXXII (1878) 30«: „Tac. hat mit den Worten primumque . . . eanunt 'nichts präjudiziert, weil . . . der germanische Hercules nicht derselbe wie der griech. -römische zu sein braui ht." Vgl. jetzt auch Trüdinger a. a. 0. (o. S. 8, 1) 153, 2.

Der germanische Hercules 177

nierten ala Batavorum inter mille viros primus fortisque1) Batavoa ; da haben wir, fast mit den gleichen Worten wie bei Tacitus, den Preis des Heldentums, nur aus der Sphäre des Heroischen ins Menschliche übertragen. Die Batavi stammten von den Chatti ab (Tac. Germ. 29. hist. IV 12), von deren dura virtus Tacitus (Germ. 31 ) viel zu berichten weiß, und dieser Mannesmut dauerte in den Batavi (29 virtute praecipui Batavi. hist. IV 12 ea gens die Cannene- fates virtute par Batavis). Ist es da zu verwundern, wenn uns gerade aus dem Batavenlande, ja, nur aus ihm oder in Äußerungen seiner Bewohner, so viele und deutliche Spuren eines Tapferkeits- ideales erhalten sind, das die Völker der alten Kultur in ihrem 'HQccxXijg, dem Symbole mannhafter <xq£ttj, dem Vorbilde höchsten Heldentums, verkörpert fanden? Auf so fester Grundlage läßt sich ein behutsamer Schritt weiter wagen. Den inschriftlichen Zeugnissen für den batavischen Hercules treten numismatische au die Seite: mit dessen Namen, ja, einmal unter seinem Bilde hat der Kaiser Postumus (258 268) Münzen schlagen lassen, von denen wir mehrere Exemplare besitzen (Cohen VI2 p. 29 f). Dieser echt soldatische Usurpator ist die interessanteste Erscheinung jener wilden Zeit gewesen, in der das Imperium aus den Fugen zu gehen drohte. Selbst die wenigen Zeugnisse unserer zersplitterten Über- lieferung lassen noch erkennen, daß sein Ziel kein geringeres war als die „Gründung eines gallo - germanischen Reiches tc.2) Dieser

1) 'i. fortesque. non praefectum cohortis miliariae Batavorum intellego eed fortissimum' Bücheier.

2) „Gründung eines Reiches deutscher Art in Gallien" nennt es A. v. Doinas- zewski, Gesch. d. röm. Kaiser II 303 f. Zu dieser Formulierung kann ich mich nicht bekennen. Sie mag es auch gewesen sein, die E. Babelon, Le Rhin dans l'Histoire 1 (Paris 1916'; 379 f. zu folgenden Worten veranlaßt hat: „On de- meure stupefait que les savants Allemands aient, dans ces dernieres annees, presente le gallo-romain Postume comnie le fondateur d'un premier essai d'Em- pire germanique! ... N'est-ce pas le cas de se rappeler l'adage fameux: Quos vult perdere Jupiter dementat!" Auf den Ton gehe ich nicht weiter ein, da mir diese Art von Musik, die das ganze Buch durchzieht, mißiällt. Nur rein sachlich bemerke ich, daß sowohl der deutsche Gelehrte in der Aus- schaltung des gallischen, der französische in der des germanischen Elements irren. Die Zeugnisse, die in der folgenden Anmerkung zusammengestellt sind, lassen, wie mir scheint, nicht daran zweifeln, daß Postumus die Gründung eines gallo-germaniscben Reiches plante: wie hätte er, der sich auf einer

Korden: Die germanische Urgeschichte 12

278 Kap. III. Herakles und Odyssens in Germanien usw.

Augustus des Westens erinnert unverkennbar an den des Ostens, Septi- mius Odaenathus, den Begründer des Reiches von Palmyra: beiden Absplitterungen vom Imperium das westliche hielt sich noch einige Jahre nach Postumus' Tode machte schon Aurelianus, der Wiederhersteller der Reichseinheit, im Jahre 272 und 273 ein Ende. um sein Ziel zu erreichen, hatte Postumus am Niederrhein, dem Hauptschau platze seiner Tätigkeit, fränkische Scharen gegen die Regierung in Rom aufgeboten1)-, sie hielten ihm nicht lange die Treue: als er sich weigerte, ihnen Mainz zur Plünderung preis- zugeben, erschlugen sie ihn. Er hatte also Münzen prägen lassen mit der Darstellung eines Heros, den die interpretatio Romana sich nur unter dem Bilde des Hercules vorzustellen vermochte. Postumus hat die Hercules-Manie selbst eines Commodus oder Caracalla in» Abenteuerliche gesteigert: hat doch ein Numismatiker eine umfang- liehe Abhandlung nur über die Herculesmünzen dieses Kaisers schreiben können.2} Etwas ganz Einzigartiges ist es aber, daß unter den Beischriften sich auch die auf germanisches Lokal weisenden Namen Hercules Deusonicnsis und H. Ilagusanus finden. Aus den Beinamen haben wir mit derselben Sicherheit germanische Verehrung eines Herculestypus zu folgern, wie aus den auf Münzen seit Hadrianus

Münze restitutor Galliarum nennt ^Cohen Vls 320), zu denen die beiden Ger- manien gehörten, das kriegerische Element des Germanentums, ohne sich selbst dadurch zu schaden, ausschalten sollen? Aber auch abgesehen davon: den Hercules Deusoniensis und Magusanus zum keltischen Hercules zu stempeln (so auch Stein, R. E. III 1665), wird nicht gelingen: dagegen legt das durch die Beinamen bezeichnete Lokal Protest ein. Es kann sich, wie man C. Jullian (S'il y a des intiuences celtiques dans Fempire des Gaules au III0 siecle, Comptes rendus de l'acad. des inscr. et belles lettres, IVe serie, T. XXIV 1896, 299) wird zugeben müssen, nur um völlige römische Umdeutung einer barbarischen (spez. germanischen) Lokalgottheit handeln.

1) Hist. Aug. vita Gallieni 7, 1 cum multis auxüiis Postumus iuvaretur Celticis atque Francicis. trig. tyr. 6, 2 adhibitis inyentibus Germanorum auxüiis. Aurel. Vict. de Caes. 33, 7 Postumus qui barbaris per Galliam praesidebat Imperium ereptum ierat explosaque Germanorum multitudine Lolliani hello excipitur.' Der sog. Dio continuatus (d. h. Petros Patrikios) III 743 Boissevain: vnb rmv rdXXav yQ^r} ßccßilsvs.

2) J. de Witte, Med. inedites de Postume, Revue numism. 1844, 330 ff. Er hat sie dann in seinen Recherches sur les empereurs qui ont regne dans les Gaules au IH« siecle (Lyon 1868), PI. I— XXI V mit abgebildet.

Der germanische Hercules 179

auch auf einer Postumusmünze begegnenden Legenden Hercules Gaäitanus der auch anderweit bezeugte Kult einer iberischen Gott- heit bestätigt worden ist. Offenbar hat Postumus jenen „Hercules'' bei seinen germanischen Söldnerscharen kennen gelernt und ihn seiner Herculesgalerie als fremdartige Seltenheit gern eingereiht.1) Das Lokal und die Nationalität drängen zu einer Schlußfolgerung Deuso lag, wie Hieronymus zum Jahre 370 n. Chr. (p. 246, 25 Halm ) angibt, in regione Francorum, und von dem anderen Orte gilt das- selbe. Die salischen Franken, deren Urheimat in der Umgebung des Zuidersees lag, begannen im letzten Drittel des III. Jahrh., also wohl eben zur Zeit des Postumus, die insula Batavorum zu besetzen; die Folge war, daß die Chatti-Batavi in die fränkische Völkergemeinschaft aufgingen, zu deren Erstarkung sie wesentlich beitrugen. Die Heimat der Sagen von Siegfried war das niederrheinische Frankenland. Den Beweis nun, daß von den bei Tacitus bezeugten Liedern auf „Hercules" Verbindungsfäden zu dem niederländischen „Hercules" der Postumus- münzen führen, glaube ich im vorstehenden erbracht zu haben; ob wir diese Fäden weiterspinnen dürfen, diese Frage zu erörtern muß den berufenen Forschern vorbehalten bleiben. Dem Philologen sei nur noch erlaubt, nachdrücklich zu betonen, daß Heldenlieder, nicht Götterlieder verstanden werden müssen: denn vir fortis deckt sich seit ältester Zeit mit dem Begriff des „Helden" und ist die nüchterne lateinische Ent- sprechung von rJQcog (ävdgsg rJQCOEg llias); unbenommen bleibt dabei, daß der Heros als Göttersohn eine Mittelstellung zwischen Gott und Mensch einnahm. Der exemplarische Held, Bezwinger von Riesen und Drachen, Tod und Hölle war in der griechischen Mythologie Herakles, in der germanischen Siegfried; die Gleichung 6 toö zJibg itaig xaXUvixog f HQaxXfjg (Hercules Victor) und Sigufrid, der Abkömmling Odins2), ist vollkommen. „Heldenfürst"' wird Sigurd einmal in einem alten Liede der Edda genannt: das ist fast genau primus virorum fortitwi;

1) Sein Gegner Gallienus konkurrierte mit ihm in Herculesdarstellungen auf seinen Münzen (de Witte, De quelques empereurs Romains qui ont pria les attributs d'Hercule, Paris 184», 5 ff.), aber Postumus lief ihm mit dem ger- manischen Typus den Rang ab.

2) Als Göttersöhne sind beide durch ihre leuchtenden Augen gekennzeich- net. Von Herakles wird es bei Apollodoros bibl. II 9, 4 ausdrücklich bemerkt, bei Siegfried ist es bekannt.

12*

180 Kap. III. Herakles und Odysseus in Germanien usw.

„Solange die Welt steht, wird, erhabener

Schlachtengebieter, dauern dein Name.

So edlen Mann wird die Erde nicht mehr

Noch die Sonne schauen, Sigurd, wie dich" heißt es in einer anderen eddischen Strophe (Sigurdarquida I 53): als ffQ6nayog wurde Herakles in Theben angerufen, ayiGzönayog nennt ihn Pindar, mit seinem Namen, dem ävCnarog, rückten die Spartaner, Marschlieder singend, in die Schlacht; das alte, rauhe, kriegerische Dorertum wird man sich mit dem Germanentum in seiner dura virtus gern berühren sehen. Die Ursprünge des germanischen Heldenliedes verlieren sich für uns in Dunkelheit, sie ist noch viel dichter als die- jenige, die über den von Achilleus im Zelte gesungenen „Liedern zum Ruhme von Helden" lagert. Lüpfen wir hier wirklich einmal tastend den Schleier eines Geheimnisses? Dann würde die Nachricht des Tacitus zu den wertvollsten der gesamten von ihm wiedergegebenen Urgeschichte gehören, und wir müßten dem griechischen Historiker, auf den die Nachricht zurückzuführen ist, für diese Kostbarkeit ebenso dankbar sein wie für die ebenfalls ihm verdankten von den Tuistoliedern und den Barditus. * HqcmKcc de xiva £7ti%G)giov rJQCocc nv.vrcov JtQCJtBVOVta ccSovölv 87i£%i6vTeg slg (idpjv: so ungefähr könnten die Worte des Ori- ginals gelautet haben.

Die Angaben über den Barditus, die wir quellenkritisch bereits oben betrachtet haben, sei es in diesem Zusammenhange gestattet einer kurzen kompositionsanalytischen Betrachtung zu unterwerfen, da sie geeignet ist, die vorhin vorgetragene Ansicht über den Bau des Herculessatzes zu bestätigen. Wie von den Heldenliedern beim Aufmarsch zum Kampfe redet der Schriftsteller auch von dem Schlachtgesange in eigner Person, übernimmt also auch für die ihn betreffenden Angaben die Gewähr. Diejenigen, die ihm auch hier wegen des unbegründeten Gebrauchs persönlicher Rede einen Mangel an Gedankenverarbeitung schuld gaben, haben die Absichtlichkeit im Gebrauch dieser Redeform verkannt: durch nichts konnte er so sehr seinen die ganze Darlegung beherrschenden Glauben an das Urtümliche alles Germanischen bezeugen wie durch diesen Satz über das fremdartige Wesen des germanischen Schildgesanges, für den er daher auch das landesübliche Wort anführte. Aber auch wegen

Der germanische Hercules. Ethnographische Exknrstechnik \Q\

der „Abschweifung", den dieser mit den Worten sunt Ulis haec1) quoque carmina eingeleitete Satz enthalte, ist der Schriftsteller hochfahrend getadelt oder doch nur durch die Auskunft entschul- digt worden, es sei eine in den Text gestellte „Anmerkung". Nein, es ist ein richtiger kleiner Exkurs, eine xccQsv&fa}] oder 7CQ06&ijxrh wie Herodot die seinigen nennt. Denn es ist klar, daß die Her-o- doteische Exkurstechnik hier zur Erklärung herangezogen werden muß; F. Jacoby, der sie auch nach ihrer formalen Seite untersucht hat, bemerkt ('Herodotos', R. E. Suppl. II 391): „Bei kürzeren Ex- kursen verbindet gern ein einfaches „auch" solche Exkurse": da haben wir also das Taciteische quoque. Nun. darf ich den Leser

1) Dieses Pronomen ist seit Halm (1864) viel beanstandet worden: noch Andresen notiert in seiner kritischen Ausgabe (1914): 'iure suspectum'. Ich stimme aber mit A. Baumstark a. a. 0. (o. S. 5,2) 186 überein. Er erklärt die Wahl dieses Pronomens aus der diesen Schriftsteller auszeichnenden Lebendigkeit der Darstellung, die ihn hie „nicht bloß von dem gebrauchen lasse, was im eigentlichsten Sinne nahe ist, sondern auch von dem, was durch seine Schilderung wenn auch nur in Gedanken und in der Vorstellung nahe gerückt ist". Gerade aus de* Germania, in der die seelenvolle Belebung des Stoffes das Schönste und Eigenste ist, was erst Tacitus in das Material hinein- trug, lassen sich für solches hie mehrere analoge Beispiele anführen (so aus dem von tiefem Ethos durchzogenen c. 18 über die Ehfi), unter denen c. 20 in hos artus, in haec corpora quae miramur exereseunt wegen des hinzu- gefügten Relativsatzes der vorliegenden Stelle besonders nahe verwandt ist. Freilich wird dort das Ethos durch die Anapher markiert, die gerade bei diesem Pronomen geläufig ist (so oft bei Caesar z. B. in der gallischen Ethnographie V 13, 7. 17, 1 und dem älteren Plinius). Aber auch ohne Anapher steht es bei Tacitus c. 10 illud quidem etiam hie (in Germanien) ■notum, avium voces tolatusque interrogare und bei Caesar IV 7, 3 (indirekte Rede germanischer Gesandten): Germanos neque priores populo R. bellum in- ferre neque tarnen recusare, si lacessantur, quin armis contendant, quod Ger- manorum consuetudo haec sit a maioribus tradita, quicumque bellum inf'erant, resistere neque deprecari. Auch hier wird das Pronomen seit Kraner fast all- gemein getilgt, obwohl es in allen Hss. außer einer steht (was in der Caesar- überlieferung fast bedeutungslos ist). Ob der Grund, daß nach haec ein Satz mit ut statt des Infinitivs hätte folgen müssen (H. Meu-*el, Jahresber. d. philol. Vereins XXXVI 1910, 72), zulänglich ist, mögen andere entscheiden: daß dem Ethos der einem %aQccKxr\Qi6ii6q der Germauen dienenden Worte des Schrift- stellers durch Tilgung des Pronomens etwas entzogen wird, liegt auf der Han d. Für diesen Gebrauch von hie wird es auch bei anderen Schriftstellern Bei- spiele geben; mir fällt gerade ein Horaz II 14, 22 harum quas colis arborum

Ig2 Kap. III. Herakles und Odysseus in Germanien uhw.

bitten, sich des früher (8. 48 ff.) gegebenen Nachweises zu erinnern, wonac!) die germanische Archäologie des Tacitus in ihrem ganzer) Aufbau die größte Ähnlichkeit mit der skythischen Herodots zeigt. Der Herodoteiscbe Stil ist für die Ethnographie der ganzen Folge- zeit das Muster geworden und geblieben. Gerade auch die „assoziative" Art, die einzelnen v6[it[icc nicht unverbunden neben- einander zu stellen, sondern sie durch gewissermaßen gleitende Übergänge miteinander zu verknüpfen, was als eine charakteristische Kompositionsform der Germania bezeichnet werden muß, beherrscht den ethnographischen Stil weithin: darüber soll im Anhang II ge- nauer gehandelt werden. Weit entfernt also, hier den Schriftsteller zu tadeln oder auch nur zu entschuldigen, werden wir vielmehr schließen dürfen, daß er in seiner Vorlage (nach unserer oben be- gründeten Annahme: Poseidonios-Timagenes-Livius) die Aufmarsch- Ueder auf Hercules mit dem Schildgesange so verbunden fand. Über die Barditus-Einlage hinweg werden dann die Worte fuisse apud eos et1) Herculem memorant mit cetcrum et Ulixem quidatn opinantur verknüpft: Tacitus rechnete mit Lesern, die scharf genug aufmerkten, um den Faden, sobald das entsprechende Kennwort fiel, wieder aufnehmen zu können. Wie sich uns das Verständnis des Herculessatzes nur mühsam erschloß, so wird dasselbe von dem Ulixessatze gelten, dem wir uns nunmehr zuwenden.

IL DIE CULIXES'-RELIQUIEN Geterum et Ulixem quidam opinantur longo illo et fabuloso errore in hunc oceanum delatum adiisse Germaniae terms Ascibur- giumque quod in ripa Rheni situm hodieque incolitiir ab illo con-

1) ei bedeutet natürlich nicht „auchu es war ja noch von keinen anderen Besuchern Germaniens die Rede , sondern dem Schriftsteller schwebt der Begriff einer Anzahl von Besuchern des Landes vor, und unter ihnen macht er Hercules und Ulixes namhaft, die er mit et— et in Korrelation setzt. Gr. Andresen hat das, in Zurückweisung der Konjektur Gudemans (fuisse et apud eos Herculem), dargelegt (Jahresber. d. phil. Vereins XXXXIII 1917, 89f.) und durch andere Stellen desselben Autors gesichert, darunter Germ. c. 12 eliguntur in isdevi conciliis et principes (daß in den concilia noch andere Wahlen stattfanden, wird nicht berichtet); wir können, wie er bemerkt, in solchen Fällen et geradezu mit „unter andern" übersetzen (z. B. ann. XI 4 rogatus sententiam et Sa'pio „unter andern S. ': keiner der anderen Senatoren wird genannt).

Ethnographische Exkurstechuik. Der Tjlixesaltar 183

stitutum nominatumque; aram quin etiam TJlixi consecratam adiecto Laertae patris nomine eodem loco olim repertam. Die merkwürdigen Worte sind überaus oft und bis in die neueste Zeit besprochen worden, aber auch sie empfangen die richtige Be- leuchtung erst, wenn sie in den Zusammenhang der ethnographischen Literatur eingereiht werden. Wir haben zu fragen: an welche ver- meintlichen Beweisstücke knüpfte sich die Legende der Gründung und Benennung von Asciburgium durch Ulixes, und was hat der an- geblich dort befindliche Ulixesaltar zu bedeuten? Es empfiehlt sich die Erörterung der zweiten Frage voranzustellen. 1. DER ULIXESALTAR Das Motiv der Errichtung eines Altars ist in der chorographischen Literatur weit verbreitet; es knüpfte an tatsächliche Vorgänge des Lebens selbst an. Strabo DI 171 erwähnt als Brauch, daß Reisende oder Eroberer wie Alexander „Altäre oder Türme oder Säulen an den äußersten und sichtbarsten Grenzen errichteten, bis zu denen sie ge- kommen waren", und nennt demgemäß öfters solche Altäre als Grenz- marken (z. B. XV 730. XVI 737. 738. 771. 826); arae Alexandri finden sich auch sonst bei Historikern, Geographen und auf Wegekarten ge- nannt.1) Alexander hat dies aus ägyptischem Brauche übernommen: von Sesostris (III), dem Eroberer Nubiens (1887 1850), berichtet Strabo (XVI 769. XVII 790) nach Eratosthenes, als Erinnerungsmale seines Feldzuges würden noch jetzt Säulen mit Inschriften in Hiero- glyphen gezeigt (yjto[ivt}naTu -rijg ötgccrsCccg avrov xal vvv g'rt dshtvvtca Gzfjlca xal STtiyQcccpccC . . . IsQOig ygci}i}ia6i)'2)] ähnlich heißt es schon

1) So bei Plinius in dem geographischen Buche VI 62 oppidum ad Hypasim . . . qui fuit Alexandri itinerum terminus exsuperato tarnen amne arisque in adversa ripa dicatis, analog 116. 'AXe^üvSqov ßcoaoi Ort am Tanais: Ptol. III 5. 26. Inter- essant die Altaraufschrift, die die tab. Peut. im äußersten Osten verzeichnet (p. 838 in Millers Itiner. Rom.): Hie Alexander responsuin aeeepit 'Usque quo Alexander , d.h. offenbar sag ov, 'iXi^avSQs; Vgl. die bekannte Anekdote von der germani- schen Frau, die dem Drusus an der Elbe die Worte zugerufen haben soll: not ÜTitoc ixsiyr}, 4qovgs (Dio LVl,3); da sie nach Suet. Claud. 1,2 sermone lati»o sprach, denke man es sich etwa nach dem Muster der bei Vergil beliebt'n Phrase quo ruis? (vgl. V 741 quo deinde ruis X811 quo moriture ruis, beides zu Beginn von Reden; vgl. eag nöxs; was die Römer quo usque tandem übersetzten). Zum Verständnis lese man Senecas suas. 1, wo ganz ähnliche Dicta an Alexander \z. B. Alexander, reiertere) stehen.

2) Vgl. Ed. Meyer, Gesch. d. Altert. I2 S. 256 ff.

134 Kap. III. Herakles und Odysseus in Germanien

bei Herodot (II 103), die von Sesostris errichteten Säulen bezeich- neten die Grenze seiner Heereszüge. Auch Grabhügel und Monumente aller Art werden in solchem Zusammenhange oft erwähnt: wie monur menta et tumuli bei Tacitus, so stehen bei Strabo XI 505 ru(fot xccl IxXXa vTtoiivijuaui zusammen. Das wurde nun in die heroisi he Zeit zurückverlegt. Euhemeros hat sich des Motivs in seiner „heiligen Schrift" reichlich bedient. Das Nebeneinander von Legende und Ge- schichte, die für antikes Empfinden keine gegensätzlichen Begriffe waren, kann man sich an der ersten der genannten Stellen Strabos iTII 171) klarmachen, wo den zitierten, auf Geschichte und Gegen- wart bezüglichen Worten der Hinweis auf Dionysos und Herakles in Indien vorausgeht.1) Wenn man also Odysseus an dem nordwest- lichen Grenzpunkte seiner Irrfahrt einen Altar errichten ließ, so war das eine folgerichtige Erfindung. Natürlich trugen die Altäre und sonstigen Grenzmarken eine Inschrift, und auch dies Motiv wurde für die Legende beansprucht. Bei Solinus, dessen Kollektaneen auch in ihren nichtplinianischen Teilen viel wichtige chorographische Stoff- massen enthalten, heißt es in der Beschreibung Caledoniens (p. 100, 3 Mommsen): in quo recessu (dem (Calidonicus angulus')2) Ulixem Cali- doniae adpulsum manifestai ara graecis litteris scripta, eine vollkommene Analogie zu dem germanischen Altar des Heros.3)

t) Vgl. Plinius VI 49 Sogdiani: oppidum Panda et in ultimis eorum finibus Alexandria ab Alexandro magno eonditum. arae ibi sunt ab Hercule ac Libero patre constitutae, item Cyro et Semiramide atqiie Alexandro, finis omnium eorum ductus ab illa parte terrarum.

2) Ich glaube, daß darunter nur das Clota aestuarium (Tac. Agr. 23;, KXmta £i6%v6ig (Ptol. II 3, 1), der Firth of Clyde, verstanden werden kann.

3) Sogar bei den „Hyperboreern" wurden avud'rj^ara TtolvrsXfi ygcc[i{Lcc6Lv 'EXlr\vi%olg iniyzygaymhva von dankbaren Hellenen zurückgelassen: Diodor II 47, 4 (aus dem § 1 zitierten Hekataios von Abdera). Die Argonauten schenkten dem Könige „Triton" von Libyen ^clIkovv xQLTtoda rbv &Q%aioig iihv xs%(ZQccyiiEvov yQcilificcGL, p&XQi dh r&v veoyrEQow %q6vcov Sia\isivavra itccQa. tolg EvEönsQiTcug (in der Cyrenaica): Diodor IV 56, 6 (die Quelle ist Timaios: § 3). Ebenfalls auf Timaios geht zurück, was in den pseudoaristotelischen ^avuäßiu ScxovGuuza 110 zu lesen ist über ein bronzenes Ohrgehänge (in einem Artemistempel in Apulien) mit der Aufschrift: Jioprjdrjs AqteihSi. Diese Wundersammlung ist streckenweise ein richtiges Reliquienbuch und ist in diesem Sinne von Fr. Pfister in seiner Geschichte des Reliquienkults oft verwertet. Bei dem Chorographen Mela heißt es (111,3): ubi (in Ioppe) Cephea regnasse eo signo accolae affirmant. quod titulum eins fratrisque Phinei veteres quaedam arae cum religione plurimv

Der Ulixesaltar 185

Nebenbei läßt sich das Schwanken der Erklärer, ob in den Worten des Tacitus ara ülixi consecrata ein von Ulixes selbst oder ein ihm geweihter1) Altar zu verstehen sei, zugunsten ersterer Auffassung ent- scheiden2): Solinus 11 6, 19 ibi (in Lusitania) oppidum Olisipone Ulixl conditum und parallel dazu 35, 17 in Bruttüs ab Ul/xe exstructum tem- phim Minervas.9) Hiernach ist auch eine Stelle Strabos zu beurteilen, in deren Deutung die Erklärer ebenfalls schwanken: XVII 834 (aus Artemidoros) „Hieran schließt sich die Kleine Syrte, die man auch die Lotophagen- Syrte nennt . . . Ihr vorgelagert ^ind zwei an Größe fast gleiche Inseln Kerkinaa und Meninx. Letztere, glaubt man, sei das von Homer so genannte Lotophagenland, und man zeigt dort einige Erkennungsmarken, nämlich einen Altar des Odysseus (ßo.uög 'Odväöeag) und die Frucht selbst."4) Daran, daß zwar der Stifter eines Altars, nicht aber dessen Inhaber genannt ist, wird niemand Anstoß nehmen, denn dies entsprach verbreiteter Sitte: man dachte sich in solchen Fällen die Orbgottheit als den Inhaber. Diese also werden wir, wenn wir uns in die Einbildung antiker Leser versetzen, auch als Inhaber des germanischen Ulixesaltars zu denken haben. Da die Ulixesstadt in ripa Rheni lag, kann die angebliche Weihung wohl nur dem Stromgotte selbst gegolten haben, der den Helden vom Ozean zu dieser seiner Stadt getragen hatte. Diese Ansicht glaube ich um so zuversichtlicher äußern zu dürfen, als uns auf zwei In-

retinent. Eine fiktive Altaraufachri f't (in templo Apollinis dicunt aram fuisse inscriptam TtaxQiov AnoXXmvog) steht in dem gelehrten Vergilscholion Serv. Dan. z. Aen. III 332. Diese Scholien sind für Gründungsgeschichten überhaupt ergiebig. Vergil selbst hat sich des legendarischen Inschriftenmotivs bedient III 286 88, indem er am aktischen Gestade den Aeneas einen Schild mit Inschrift weihen läßt.

1) In diesem Falle dann etwa von den zurückgebliebenen Gefährten: vgl. Dionys. Hai. I 53, 1 x$ x{t,rJQia ob xfjg slg HixsXovg Alveiov xs %aX Tgmav acpl^ecog xolXä yubv xccl aXXu, TtzqKpavtexaxa ob x>)g Alvsidäog 'AcfQoSixr\g 6 ßapbg i%\ xy xoQvtpy xov 'EXvpov lÖQviitvog xccl hgbv Aivsiov ISqv^isvov iv Alysoxy, xbv fibv avxov iiaxcc6xtvcc6civxog Alveiov xy inqxQi, xb 6b Isqov xäv vTtoXsMp&fvxio v ccTCo xov GxöXov xy [ivi'jfiy xov 6w6ccvxog Gcpäg uvä&rifia non]6ci[iiv<av.

2) Da ab Mo vorausgeht, wechselt der Schriftsteller, indem er dafür den Dativus auctoris setzt, den er nach Vorgang der Dichter überhaupt liebt.

3) Genau so: Florus I 36, 14 urbem Herculi conditam Capmm, aber Orosius V 15, 8 urbem Capsam, ab Hercule Phoenice v.t ferunt conditam, beide aus Livius.

4) Vgl. Strabo V 247 (Surrentum) Ißxi 6b Iti uxqco ubv'l&rpüg hpöv, i6qv^o: 'Odv66£ag. 232 (Circei) deiY.vv6&cu 6b xal yiäXi]v xivä cpaetv 'OdvöGscog.

156 Kap. III. Herakles und Odysseus in Germanien usw.

Schriften vom Niederrkeiii solche Weihungen an Bhenus bezeugt sind, die von Legionslegaten herrühren: C. J. L. XIII 8810 (Dessau 9266) I. 0. M. dis patriis et praesidibus huius loci Oceanique et Renn, 8811 //. Ü.M.] lunoni reginae et Minervae sanetae Genio Itniusquc loci Nep- tuno Oceano et Rheno dis omnibus deahusgue?) Diese Inschriften stammen von Fectio (Vechten), wo in Augusteischer Zeit der See- hafen war, der durch die fossa Drusiana mit dem lacus Fievo (Zuider- see) verbunden wurde, um es der Rheinflotte zu ermöglichen, von jeuem Hafen, ihrer Operationsbasis, aus über den See auf kürzestem Wege in das Meer, zwischen den Inseln Texel und Yiieland, zu ge- langen. Fuhr man von Fectio weiter stromaufwärts, so kam man über Noviomagns (Nymwegen) und Vetera (Birten bei Xanteu) nach Asciburgium.2) Da hatte man also, wenn man der Phantasie die Zügel ließ, das letzte Stück des Reiseweges des Odysseus, der den Rhein von seiner Mündung in den Ozean stromaufwärts gefahren war.

Das war nur noch eine Kleinigkeit für den göttlichen Dulder: hatte er doch, bevor er an die Rheinmündung gelangt war, den Ab- stieg in das Schattenreich unternommen. Man sollte es kaum für möglich halten, aber eine zufällige Überlieferung ermöglicht uns, auch dieses kiinmerische Abenteuer zu „lokalisieren". Wir müssen darauf kurz eingehen, da es geeignet ist, das phantastische Bild, das uns in den Taciteischen Worten entrollt wird, nach einer bestimmten Richtung zu ergänzen.

Claudianus beginnt sein Pamphlet auf Rufinus, in Anlehnung an das VII. Buch der Aeneis, mit einer Schilderung des Erscheinens der Furie auf Erden. Da Rufinus ein zu Elusa in Aquitanien geborener

1) Aus dem kürzlich erschienenen reichhaltigen „Führer durch die antike Abteilung des Proviuzialniuseums in Bonn" (1915) von H. Lehner S. 174 ersehe ich, daß bis jetzt fünf Weihungen an den Rheinstrom bekannt sind. Das Epi- gramm Martials X 7 an den Rheingott bildet gewissermaßen die literarische Er- gänzung und rechtfertigt in Tac. hist. IV 26 (Plinius) ira dei (falsch dmmNipper- dey u. Halm) die Beziehung auf den vorher genannten Rhenus (vgl. V 17 Rhenum et Germaniae deos in adspectu). Auf keltischem Gebiete stellen sich den Wid- mungen an den Plußgott Rhenus die an die Flußgöttinnen Sequana (CIL XIII '2858—65) und Matrdna (ib. 5674) an die Seite.

2) Die ganze Strecke von Fectio bis Asciburgium betrug nach der tab. Peut. 68 Leugen = 150 km; aber das galt nur für den erheblich kürzeren Landweg.

Ulixes am Gestade des Ozeans 187

Gallier war. mußte der Dichter diese Provinz als Schauplatz der Hand- lung wählen:

est locus, extremum qua pandit Gallia litus, Oceani praetentus aquis, ubi fertur Ulixes sanguine libato populum movisse silentem (I 123 ff.). Dort steigt die Furie an die Oberwelt, ihren Ruf hören Britannien, Gallien, der Ozean und der Rhein. Die genauen Orts- angaben ermöglichen eine örtliche Bestimmung: es kann wohl nur Bononia (Boulogne-sur-mer) gemeint sein. Hier, bei dem alten Ges- oriäcum1), endete die von Lyon ausgehende Agrippastraße (Strabo 1Y 208): wahrscheinlich schon von Drusus wurde hier ein Kriegshafen an- gelegt (Florus II 30, 26), den der Kaiser Gaius für seine geplante, Claudius für seine ausgeführte Expedition nach Britannien benutzten (Suet. Cal. 46). Der hier von Gaius errichtete Leuchtturm blieb bis zum Besinn des Mittelalters eine Berühmtheit, wie denn dem Orte bis auf den heutigen Tag eine große Bedeutung zukommt: da an ihm das Vordringen der Franken längs der Meeresküste sein Ziel fand, so streicht noch in der Gegenwart die deutsch -französische Sprachgrenze an ihm vorbei. Er lag im Gebiete der Morini (Strabo IV 199. Mela ÜI 2, 7. Plinius IV 102); diese waren von Vergil (VIII 727) ex- tremi hominum {e6%axoi ävÖQcbv a 23) genannt worden, ein Ausdruck, auf den die Späteren oft anspielen : in der Tat war es fast der äußerste Punkt des Festlandes im Nordwesten. Als solcher eignete er sich für die mythische Geograph ie. Ob die Erfindung, die in den drei an- geführten Versen niedergelegt ist, dem Claudianus selbst gehört, oder ob er sie bereits vorgefunden habe, bleibe dahingestellt: seine Be- rufung auf eine Überlieferung wiegt nicht besonders schwer, da ein /erfoir bei römischenDichtern nicht wörtlich genommen zu werden braucht. Auf alle Fälle bildet das Augusteische Zeitalter, in dem, wie bemerkt, jene Gegend zuerst dem Gesichtskreise erschlossen wurde, die früheste Grenze: Ulixes, der vielgereiste, wanderte mit den römischen Soldaten. Daß der Heros an einem bestimmten Punkte Caledoniens gelandet sei, lasen wir vorhin bei Solinus: genauere Kenntnis dieses Landes ist vor der Expedition des Agricola (83) nicht denkbar. In etwa die gleiche

1) Gesoriaco quod nunc Bononia tab. Peut. Andere Belege bei E. Korne- mann, Klio IX (1909)', 428 ff., dessen genaue Geschiebte des Ortes mir die Identi- fikation der Claudianverse erst ermögliebt hat.

188 ^a!'- M- Herakles und Odysseus in Germanien usw.

Zeit führt eine seltsame Angabe bei Plutarch (de facie in orbe lunae 20. 941 A), wonach die Kalypsoinsel Ogygia auf Grund des Verses rj 244 'Slyvylrj xis vijGog a7i6%Qo&L slv all xslrca fünf Tagereisen westlich von Britannien gesucht wurde.

Dies alles bietet nur dadurch ein gewisses Interesse, weil daraus zu ersehen ist, daß die örtliche Bestimmung die Irrfahrten des Odysseus im „äußeren" Ozean mit dessen Erschließung durch die römischen Waffen Schritt gehalten hat. Für unsere Betrachtung hat es aber einen Wert. Im Gegensatze zu der Angabe über die Lieder auf „Hercules", die, wie wir sahen, sehr alt und gut ist, hat der Ulixesaltar am Niederrhein auf einer phantastischen Linie gelegen, die erst die frühe Kaiserzeit zog.

Wenn endlich von den Gewährsmännern des Tacitus hervorgehoben wird, daß dem Namen des Ulixes der seines Vaters Laertes beigegeben worden sei, so läßt sich der Grund dieser nachdrücklichen Angabe erst aus Analogien solcher Kolonisationslegenden ersehen, in denen die verschiedenen Dionysos, Herakles, Aineias mit ihren Väter- oder Mütternamen benannt werden, um die Ansprüche der Kolonisten auf ihre „echten" xrCöTca darzutun.1) Wie hoch das hinaufreicht, zeigen die schon oben (S. 175) erwähnten Ausführungen Herodots (il 43 ff.) über den ägyptischen Herakles, der ein heQOs, nicht 6 'Ayupi- TQvcovog gewesen sei. Odysseus hatte nun freilich keinen eigent- lichen Namenkonkurrenten: weshalb also bei ihm das Unterschei- dungsmerkmal des Vaternamens? Nun, neben Odysseus stand Uli- xes. Wenn die lautliche Absonderlichkeit der italischen Namens- form sogar der wissenschaftlichen Sprachforschung schwerste Rätsel aufgibt, so ist es nicht zu verwundern, daß sie spielerischen Kombinationsgelüsten zu allen Zeiten und in aller Herren Länder Tür und Tor geöffnet hat. Wie ein Gespenst treibt der Heros Ulixes sein Wesen in Olisipone (Lissabon^) und in Island (als Loki). Warum nicht auch in Germanien? Wenn nun ein Aufgeklärter, ein Skep-

1) So erzählt Dionys. Hai. I 53, daß Aineias in Sizilien seiner Mutter Aphrodite einen Altar errichtet und weiterhin auf der Fahrt nach Latium Ver- wandte und Freunde durch Erinnerungsmale an der Küste geehrt habe. Er begründet die Ausführlichkeit seiner Darlegungen so: einige Schriftsteller be- haupteten, der nach Italien gelangte Aineias sei ein anderer gewesen, nicht der Sohn der Aphrodite und des Anchises.

Ulixes am Gestade des Ozeans. Asciburgium ][39

tiker dem gläubigen Periegeten mit der unbequemen Frage kam, was denn die Altaraufschrift eines Ulixes für den Homerischen Heros Odysseus beweise, so bekam er flugs den Bescheid, es habe auch der Vatername Laertes dabei gestanden, so daß an der Identität nicht zu zweifeln sei.

2. DIE ULIXESSTADT ASCIBURGIUM Die germanische Odysseusreliquie hat sich uns als sehr junge Übertragung aus anderen Gründungslegenden erwiesen. Welche Be- wandtnis hat es aber mit den ihren Fundort betreffenden Worten: Asciburgium . . . ab Mo constitutum nominatumque?

Über Asciburgium gibt es eine umfangreiche antiquarische Lite- ratur, die jedoch für das Verständnis der Tacitusstelle wenig ergiebig ist und nach unseren jetzigen Kenntnissen einer erheblichen Revision bedarf.1) Daß das Wort auch in seinem ersten Bestandteil germani- schen Ursprungs ist, darf als wahrscheinlich bezeichnet werden; Einzel- heiten, die seine Deutung betreffen, sollen im Anhang VII 1 zur Sprache kommen. Über die Lage ist kein Zweifel möglich. Tacitus selbst erwähnt den Ort noch einmal in der Erzählung des Batavenaufstandes (bist. IV 33): dort ist Asciburgium als befestigtes Winterlager einer ala genannt, das im Herbst 69, nach Beginn der Belagerung von Vetera, überrumpelt wurde. Im Frühjahr 70, nach der Kapitulation und Einäscherung von Vetera, war auch Asciburgium zweifellos unter den von Civilis zerstörten Plätzen (IV 61 cohortium dlarum tcgionum hiberna subversa cremataque, iis tantum relictis quae Mogontiaci ac Vindonissae sita sunt); es ist dann aber, wie Vetera selbst, später wiederhergestellt worden. In der geographischen Kompilation desMar- kianos (um 400), die den Titel ÜEQCiiXovg tt/s 'i^a Q-cilKöörjg trägt, wird Asciburgium als der nordwestlichste Ort Germaniens zum Zweck einer Entfernungsbestimmung bis zur Weichselmündung erwähnt (Geogr. graec. min. ed. C. Müller I 557): söti ös rrjg repiiccvtccg

1) Die Schriften von A. Rein, Die römischen Stationsorte u. Straßen zwi- schen Colonia Agrippina u. Burginatium (Cref. 1857), und einem Lokalforscher F. Stollwerck, Die altgermanische Niederlassung u. römischer Stationsort Asci- burgium (Uerding. 1879) sind auch jetzt noch beachtenswert, nachdem H. Bosch- heidgen, Asciburgium. Ein Ausgrahungs- und Beobachtungsbericht, Bonner Jhb. C1V (1899) 136 ff., vor allem das kartographische Material, das in jenen Schriften fehlt, aufs genaueste vorgelegt hat.

|90 Kap. III Herakles und Odysseus in Germanien usw.

[iijzog aQiöaevov ilsv ait'o dvösag xal ZAtfxißovQylov KÖÄsmg, neoarov- abvov öh sig OviötovXa 7tora[iov slößoXug, ioq tlvui xb %av [ifjxog %v\g fatuQylixg öraöiav . . . (Zahl fehlerhaft). Auf der Peutingerschen Tafel ist, wie man sich jetzt am bequemsten aus der Veröffentlichung K. Millers überzeugen kann (Itiner. Rom., Stuttg. 1916, 43f), Asciburgia (in dieser verfälschten Namensform) als Station der Straße eingezeichnet, die von Cöln bis Leyden führte. Die Stationen bis gleich nach Nymwegen sind: Colonia Agrippina, Novaeshim (Neußs, Asciburgia, Vctera (Fürstenberg bei Birten in der Nähe von Xanten), Colonia Traiana (Xanten), Biirginacum (Bornsches Feld und Mbnterberg bei Kaikar so. von Kleve)1), Arenacum (Rinder nw. von Kleve), Noviomagi (Nymwegen), Castra Herculis1). Die Entfernung von Novaeshim und Asciburgia ist hier auf XIV (d. h. leugae, die Leuge = 2,2 km) angegeben. Auf Grund aller dieser Zeugnisse, vor allem des letzten, darf die Identifikation von Asci- burgium mit dem sog. Burgfeld südlich des Dorfes Asberg3) in der Nähe von Mors, gegenüber der Ruhrmündnng, als gesichert ange- sehen werden. Auf die kleine Abweichung, daß die erwähnte Distanz- angabe um etwas mehr als eine Leuge zu groß ist4), kommt bei der Beschaffenheit jener Quelle nicht viel an5); und daß die moderne Ortschaft etwa 2 km vom Rhein entfernt liegt, während das alte

1) Genaue Ortsbestimmung mit Spezialkarte: M. Siebourg, Bonner Jhb. C VII '1901) 135 ff. Der Name der folg. Station lautet im Itinerarium Arenatio (Abla- tivform): bei ihr kennen wir die ältere Namensform Arenacum aus Tac. hist. V 20; daraufhin habe ich auch Burginacum (für das überlieferte Burginatio) angesetzt: es sind Bildungen mit dem kelt. Suffix -acum.

2) Über diese Station s. Anhang VII 2.

3) A. Rein a. a. 0. 42 bemerkt, ihm sei von einem Archivrate mitgeteilt worden, in einem Heberegister der Abtei Werden aus dem IX. Jahrh. sei der Ort Asceburg geschrieben. Die Urbare dieser Abtei sind, wie mir A. Tangl mitteilte, inzwischen herausgegeben in den „Rheinischen Urbaren II, Die Urbare der Abtei Werden a. d. Ruhr, A. Die Urbare vom 9. 13. Jahrh." von K. Kötzschke, Bonn 1906. Dort fand ich S. 16 den Ort Astburg geschrieben, was, wie der Herausgeber bemerkt, aus Ascburg verlesen sei. Ob an einer anderen Stelle Asceburg vorkommt, habe ich nicht feststellen können.

4) Stollwerck a. a. 0. S. 15.

5) Auf die geringe Zuverlässigkeit der Zahlenangaben gerade für die Ge- gend des Niederrheins hat Tb. Bergk, Beiträge zur Untersuchung der Heeres- straße am Rhein, in: Zur Geschichte u. Topographie d. Rheinlande in röm. Zeit (Leipz. 1882) 164 ff., hingewiesen.

Aseiburgium 191

Aseiburgium in ripa, Eheni gelegen war, hängt sicher mit einer inzwischen erfolgten, in Spuren noch jetzt genau kenntlichen Ver- schiebung des Flußbettes zusammen.1) Für die Richtigkeit der Gleichung spricht auch der Umstand, daß außer Münzfunden etwa zehn Inschriften bei Asberg zutage getreten sind (jetzt CIL XIII pari II fasc. II ed. Domaszewski, 1907, Nr. 8588 97 , von denen einige den Ort als Garnisonplatz erkennen lassen (auch eine ala ist •renannt: 8592 ala Moesica). Im Jahre 350 suchten die Franken die Gegend heim; unter den von ihnen zerstörten Festungen, die der Caesar Iulianus auf seinem Feldzuge im Jahre 359 wiederherstellte, wird Aseiburgium nicht genannt2); da es nicht wahrscheinlich ist, daß dieser Platz als einziger dem Ansturm der Franken standgehalten haben sollte, so wird man annehmen dürfen, daß er damals seine Bedeutung als Garnisonort bereits verloren hatte. Der Ort hat also eine Geschichte gehabt, die uns, von den beiden Zeugnissen des Tacitus an gerechnet, für mehrere Jahrhunderte einigermaßen kenntlich ist. Über Tacitus hinauf führen nur Vermutungen, aber sehr wahrscheinliche. Es ist mindestens als möglich zu bezeichnen, daß die militärische Anlage von dem älteren Drusus, dem Vater des Claudius, herrührte. Die Nachricht des Florus II 30 Drusus . . . in Eheni ripa quinqua- ginta amplius castella direxit (12—9 v. Chr.) und die Lage von Aseiburgium gegenüber der Ruhrmündung im Vergleich mit der- jenigen von Vetera, dem im Beisein des Augustus selbst zur Vor- bereitung eben der Offensive des Drusus gegenüber der Lippemündung angelegten Bollwerk, enthalten in ihrer Vereinigung, wie mir scheint, beachtenswerte Tatsachen.3) Die Sugambri, die zu Caesars Zeit noch auf beiden Seiten der unteren Ruhr wohnten, wurden von Tiberius

1) Darüber sind in den Bonner Jhb. a.a.O. (o.S. 189,1)151 ff. sehrgenaue Angaben gemacht und durch Taf. XIII vor Augen geführt worden. Eine vollkommene Analogie aus der Nachbarschaft: Novaesinrn (Neuß) und Gelduba (Gellep) lagen nach Tac. bist. IV 26 f. (aus Plinius1 Annalen) am Rhein, und letzteres nennt Plinius n. h. XIX 90 castellum Rheno impositmn, aber jetzt liegen beide Ort- schaften etwas vom Ufer entfernt.

2) Ammianus Marc. XVIIL 2, 4 Castro, Ilerculis, Quadriburgium, Tricm- simae (— Vetera, Lager der leg. XXX), Novaesium, Bonna, Aniennacum (Ander- nach) et Bingio.

3) Ein. so vorsichtiger und genauer Forscher wie E.Ritterling zählt in seiner Abhandlung Zur Geschichte d. röm. Heeres in Gallien, Bonner Jhb. 114/5 (1906) S. 177, Aseiburgium ohne nähere Begründung zu den Drususkast eller

J92 Kap. III. Berakles und Odysseus in Germanien uisw.

im Jahre 8 v. Chr. teilweise auf das gegenüberliegende Kheinufer verpflanzt; die Ausdrücke, die unsere Zeugen von diesem Vorgange gebrauchen die Stellen bei Mommsen zum mon. Anc. S. 140 . zeigen, daß Asciburgium in ihrem Gebiete lag1): das Kastell mag dazu gedient haben, eine Rebellion dieses seit der clades Lolliana (16 v. Chr.) gefürchteten Germanenstammes niederzuhalten. Kömische Lagerplätze pflegten sich nun aber an bereits vorhandene Ansiedelungen anzuschließen. Die merkwürdige Tatsache, daß Asciburgium, ein am linken Kheinufer auf keltischem (speziell menapischem) Gebiete gelegener Platz2), einen dem Anscheine nach germanischen Namen trug3), läßt mit der Möglichkeit rechnen, daß germanische Vorstöße

1) Oder, was keinen Unterschied macht, dem der Cugerni, wahrscheinlich eines Teilvolkes der Sugambri, dessen Name bei Plinius n. h. IV 106 und in mehreren auf die Plinianischen Annalen zurückgehenden Stellen des Tacitus (hist. IV 26. 28. 79) genau da erscheint, wo bisher die Sugambri genannt werden. Im IV. Jahrh. ist diese Gegend im Besitze der Franken (Zosimos III 6 .

2) Ganz in der Nähe des beutigen Asberg, nur eine Wegestunde entfernt, im sog. Bettenhamper Moor sind gegen Ende des vorigen Jahrhunderts zahl- reiche keltische Münzen aus Kupfer und Silber gefunden worden, dieR.Forrer a. a. 0. (o. S. 82,2) 469 besprochen hat. Da sie den letzten Jahrzehnten vor Chr. Geb. angehören, so können sie mit der ursprünglich keltischen Besiedelung nichts zu tun haben, sondern werden auf dem Wege des Tauschhandels dort- hin gelangt und daselbst vergraben worden sein. Die von Forrer erwogene Möglichkeit, daß letzteres mit den Feldzügen des Drusus zusammenhing, sei immerhin erwähnt; vgl. o. S. 191,3.

3) Es gibt dafür m. W. nur ein Beispiel, und dieses stammt auß ganz später Zeit, und da handelt es sich um germanische Umnennung eines alten keltischen Namens: Argentorate Stratisburgus. Die Zeugnisse reichen nicht über das V./VI. Jahrh. hinauf (die Okkupation des Elsaß durch die Alamannen im Jahre 455 war ja die obere Zeitgrenze); es sei erlaubt, sie hier anzuführen, da dies, soviel ich weiß, noch nicht mit der erforderlichen Genauigkeit ge- schehen ist. Gregorius Tur., Hist. Franc. X 19 p. 433, 22 Argentoratcnsis urbs quam nunc Strateburgum vocant (nur letzterer Name, in derselben Form FX 36 p. 391, 9), ein Zusatz zur Notitia Galliarum VII 3 (p. 266 Seeck) civitas Argentoratensium id est Strateburgo (Zusatz in einer frühmittel alt. Hs., in an- deren etwa gleichalterigen Stratisburgo), geographus Ravennas IV 26 p. 231, 7. der hier auf eine Quelle aus dem Ende des V. Jahrh. zurückgeht Argentaria quae modo Stratisburgo dicitur (die Ablativformen der beiden letzten Zeugnisse erklären sich, wie jedem Benutzer der Itinerarien bekannt ist, aus Distanz- angaben). Übrigens reichen die Straßenanlagen von Argentorate (CIL XIII pars II fasc.2 S. 698 f.) nach K. Zangemeister, Westd. Ztschr. III (188t) 246 ff., bis ins Jahr 74 hinauf.

Asciburgium 193

schon in früherer Zeit zu einer Besiedelung des linken Stroinufers in dieser Gegend geführt hatten1), obwohl der Name selbst, wegen der Durchsichtigkeit seines zweiten Kompositionsgliedes2), zur Vor- sicht gegenüber weitgehenden Schlüssen mahnt. Auf die Frage einer frühen germanischen Besiedelung dieser Gegend werden wir in anderem Zusammenhange zurückkommen (Kap. VI Abschn. I 1).

Dies etwa wäre es, was ich über den Ort und seine Geschichte zu sagen wüßte. Für die Germaniastelle, die nicht die Historie, sondern die Legende betrifft, ist es nur insofern von Bedeutung, als wir daraus erkennen, daß der Ort mit seiner möglicherweise in frühe Zeit hinaufreichenden Vergangenheit und seinen wechselvollen Schick- salen manchen Anlaß zu rationalistischer Sagenbildung bieten konnte. Innerhalb dieser bleibt noch die Frage, wie man es sich zu denken haben mag, daß ein Ort germanischen, jedenfalls barbarischen Namens „von Ulixes gegründet und benannt worden sei", ab illo (Ulixe) constitutum nominatumque. Der wiederholt, u. a. auch von M. Haupt unternommene Versuch, das Rätsel durch die Annahme zu lösen, der Satz sei unvollständig überliefert und in einer nach nominatumque anzusetzenden größeren Lücke des Textes3) habe das Verbindungs-

1) Th. Bergk, Die Verfassung von Mainz in röm. Zeit, Westd. Ztschr. f. Geschichte u. Kunst I (1832) 502,1 [aus Bergks Nachlaß]: „Daß die Gründung dieser Ortschaft auf die Zeit vor der römischen Herrschaft zurückgeht, be- kundet schon der echt deutsche Name, während sonst auch am Niederrhein keltische Ortsnamen vorherrschen. Der Ort ist offenbar eine Ansiedlung der Germanen, welche sich am linken Rheinufer niedergelassen hatten, lange bevor die Eömer hier erschienen." So zuversichtlich würde ich nicht wagen mich auszudrücken: vgl. die folgende Anm.

2) Fr. Kauffmann, D. A. I 75, 11: „Erst mit dem Vorbild römischer Kastelle und Städte gibt es Ortsnamen -bürg (im Sinne einer mit Stadtmauern ver- sehenen Ortschaft) in der freien Ebene."

3) Der Irrtum ist verbreitet, daß der Text durch Ausfall eines griechi- schen Wortes Schaden gelitten habe (G. Andresen in seiner 1014 erschienenen Neuausgabe des Halmschen Textes hat sich nicht täuschen lassen, aber in älteren Ausgaben steht das Falsche). Die handschriftliche Gewähr, auf die man sich nach dem Vorgang Müllenhoffs (O.A. IVr 139) beruft, ist trügerisch. Freilich bieten unsere Hss., d. h. die dem XV. Jahrh. angehörenden Abkömmlinge des cod. Hersfeldensis (s. X), nominatumque kaxntvQyiov und nur im apographon Leidense (b) fehlt der griechische Name, mit dem Rand- vermerk 'deest'-. dieser Schreiber war also wohl des Griechischen nicht mächtig, das im XV. Jahrh. noch immer ein Privilegium war. Zu den bisher bekannten

Norden: Die germanische Urgeschichte 13

] <)4 Kap. III. Herakles und Odysseus in Germanien usw.

'died zwischen dem Barbarennamen und dem Hellenenbelden 2e- standen, ist aus folgenden Gründen abzulehnen. Tucitus hat in der Germania wie in den beiden anderen kleinen Schriften die rhythmische Satzklausel, die er späterhin sichtbar mied, noch so oft und mit solcher Absichtlichkeit angewendet, daß ihre Zerstörung dun-h Konjek- t'ir immer bedenklich ist: nomi/natwmque ui.^u (cret. 4- troch.t muß mithin den Schluß des Satzes bilden, zumal ihm constitutum ^^_c (ditroch.) unmittelbar vorangeht.1) Dem Rhythmischen entspricht das Sprachliche: Zusammenschluß zweier durch -que verbundener Worte (besonders Verben) am Satz- oder Kolonende ist bei Tacitus beliebt2); aus der Germania gibt c. 18 idem in pace, idem in proelio

Zeugnissen ist nun auch das des cod. Aesinas (E) hinzugetreten, in dem der griechische Name gleichfalls steht. Aber man muß sich hüten, daraus eine Bestätigung der Ansicht abzuleiten, daß das griechische Wort bereits im Hersfeldensis gestanden habe: der Germaniatext des Aesinas ist, wie nach den Untersuchungen von Wissowa und Wünsch feststeht, so wenig wie derjenige der früher bekannten Apographa unmittelbar aus dem Hersfeldensis abge- schrieben, sondern zwischen beiden stand eine uns verlorene humanistische Kopie. Die Überlieferung beweist also nur, daß mehrere Humanisten, als sie die von Enoch von Ascoli im Jahre 1455 nach Italien gebrachte mittelalterliche Hs. kopierten, dem schon ihnen rätselhaft erscheinenden Texte dadurch aufzuhelfen suchten, daß sie das griechische Wort einschwärzten. Übrigens bewies Müllenhoff, der dies unrichtig beurteilte, darin richtiges Gefühl, daß er das griechische Wort mit griechischen Schriftzügen im Tacitustext um keinen Preis gelten lassen wollte. Dieser auch von Philologen wie M. Haupt, Passow und Wölif lin geteilten Ansicht hätte der Germanist R. Much in seiner Rezension des Müllenhoffschen Werkes (Gott. gel. Anz. 1901, 456) nicht wider- sprechen dürfen. Jene Ansicht beruht keineswegs, wie er glaubt, auf „grauer Theorie", sondern auf einem unumstößlichen Stilprinzip ; die von ihm als Gegeninstanz angeführten germanischen Wörter, die Tacitus sowohl in der Monographie als in den großen Werken gelegentlich aus seinen historischen Quellen übernahm, sind wegen ihrer korrekten Anpassung an das Lateinische in Lauten und Schriftzügen gänzlich ungeeignet, die Stilwidrigkeit des griechi- ßchen Wortes zu verteidigen.

1) Ein bezeichnendes Beispiel innerhalb unseres Abschnittes noch c. 3 (am Schluß des vorhergehenden Satzes): quo plenior et gravior vöx repercüssu j mtumescat, aus dem folgenden etwa c. 17 plüribüs nüptiis ämbiüntur (beidemal Doppeieret. 4- Doppeltroch.).

2) Vgl. z. B. Agr. 10 invenit domuitque bist. I 21 agendum audendumque 31 coercent exarmantque II 38 adotei:it erupitque 84 didicit aususque est usw., ann. I 13 possent cuperentque 25 pavebant terrebantque usw.

Asciburgium J95

passuram ausuramque ein schönes Beispiel für verbale Begriffe, für Substantive sogar in gleichem Gedankenzusammenhange wie an der hier behandelten Stelle das e. 2 Mannum originem gentis conditoremque übrigens zweimal ^ w ± _, S). Man beachte ferner, daß das Ebenmaß der Periode Asciburgium . . . constitutum nominatumque, aram quin etiam . . . repertam, monumentaque . . . adhuc extare durch jeden Zu- satz zum ersten Gliede gestört werden würde. Diese den Worten selbst entnommenen Gründe werden endlich bestätigt durch Stellen der ethnographischen Literatur wie diese: Herakleides „der Kritiker" iu seinen „Hellenischen Städtebildern" HI 1 (Geogr. gr. min. I 108 ) ij yap 'ElXäg tb TtaXaibv ov6a tcots itöfos acp' r'E?»lrjvog rov Alolov sxXrj&r] ts xcci e::Ti<5&r], Isidorus etym. XV 1, 62 (Quelle unbekannt^ Taras Neptuni filius fuit, a quo Tarentum civitas et condita et appellata est, 70 (nach Solinus) Olisipona ab IJlixe est condita et nuncupatn, was dem Taciteischen Asciburgium ab illo (TJlixe) consti- tutum nominatumque sogar inhaltlich analog ist. Es muß also ver- sucht werden, diese Worte so, wie sie überliefert sind, zu erklären. Da es sich um eine Ortsbenennung handelt, wird es sich nach den Erfahrungen, die wir bisher machten, empfehlen, uns die Frage vor- zulegen, welche Ausdrucksformen dieser Typus in der ethnographi- schen Literatur hatte. Mir sind zwei bekannt, von denen die zweite drei Unterarten aufweist. 1. Der hellenische xvCßrrjs1) gibt dem Orte einen hellenischen Namen, der ihm dauernd verbleibt; die Benennung erfolgt meist nach dem Namen des Gründers selbst1'), sonst dem

1) Die seltenen Fälle von Gründungen eines Nichthellenen bleiben hier außer Be- tracht. Vgl. z. B. lustinus X VIII 3, 4 (Phoiniker), Servins zur Aen. X198 (Etrusker).

2) Die Belege sind zahllos, doch führe ich aus Dionys. Hai. I eine Stelle an, weil sie für die Formulierung bei Tacitus lehrreich ist: c. 44, 1 'Hqu- ■xXfjg . . . &v6ccs xolg ftsotg rag dsxccxag x&v XcccpvQav xcci TtoXi%vr\v ixccivvfiov ccvxov xxieccg, ivd'cc 6 6xoXog avx& ivccvX6%£i, *) xcci vvv vtco 'Pcoticci xo v olxov- (itvr} (Heraclea in Lukanien). Hier stimmen die letzten Worte zu (Ascibur- gium) quod . . . hodieque incolitur. Daß dies zur Terminologie gehörte, zeigt sein häufigeres Vorkommen bei Dionysios: 16, 5 nöXug üxxiaav (die Aboriginer) aXXccg xi xivccg xcd xäg iii%Qi xovds olxov^ivccg. 45, 2 itoXug 'ixxiGuv (die Trojaner) x&v xX-q&ivxcov Tlglaxav Accxivcov, £'£ cav cd %Xil6xat, Ixi xcci zig i^ik i)oav oixovpevcci. Wie hoch das hinaufreicht, ist aus Herod. I 1 xbv %&qov xbv xal vvv olxiovet und Thnkydides VI 2, 2 oixovci Sh (die Sikaner) %xi xal vvv tcc TtQÖg icjtbQav xty LixsXiav (die Sikaner) ersichtlich. Über das aus Xenophor geläufige TtoXig olxovutvr) vgl. o. S. 23, 3.

18*

J96 Kap. 111. Herakles und Odysseue in Germanien usw.

eines seiner Verwandten oder dem seines Vaterlandes, gelegentlich auch nach einem zufälligen Begebnisse bei der Gründung (technische Bezeichnung für den letzten Fall: an6 tvvog <3v pßsßrjxd zog). 2. Der Name erfährt im Laufe der Zeit eine Umnennung (narovonauCa), und zwar a) indem der alte hellenische Name der Stadt, wenn sie auf hellenischem Gebiete liegt, mit einem jüngeren, ebenfalls hellenischen vertauscht wird ^sTalXdöösxai), ein Vorgang, der sich mehrfach wiederholen kann (sechsmalige }i£tovo[ia6Cat eines und desselben Ortes sind keine Seltenheit), b) indem er durch Berührung seiner Bewohner mit landeseingeborenen oder eingewanderten Barbaren ver- unstaltet wird (diatp&elQSTai) l), c) indem er, infolge von Verdrängung des Hellenentums, durch einen Barbarennamen ersetzt wird.2) Von diesen beiden Formen findet auf Asciburgium, einen unhellenischen Namen, die erste und von der zweiten die erste Art keine Anwen- dung. Nur 2 b oder 2 c sind in Betracht zu ziehen. Diejenigen

1) Vgl. z. B. Etymol. Magn. 166, 7 'Hxqicc izolig TvQ(tr\vlccg. iatogstrai. 6i vtco ^dioit^Sovg Ktiöd'fjvat, xccl övo^iaad'fjvai Ai.&Qia, uxt txioxävxog ccvxov x& toTtm ysif.i&vog ovxog 6vvißr\ ccldoiccv ysvecd'ai (das ist eine Etymologie £x röü ßvtißEßrjxoxog). ol de', itaQcccpd'siQavxsg rb ovo^cc, 'Hxqiccv avxrjv &v6{lo:6o:v. Allgemeine Bemerkungen über 6vo[iccxcov (i£xa7txmastg bei den Barbaren: Strabo XII 549f. XVI 784f. Das lateinische Äquivalent ist corrumpi: vgl. Sallust, lug. 18, 10 nomen eorum (Medorum) paulatim IAbyes corrupere, barbara lingua Mauros pro Medis appellantes. Mela III 9, 8 Nuluch (fons Nili) ab incolis dicitur, et videri potest non alio nomine adpellari, sed a barbaro ore corruptus.

2) Wenige Beispiele aus vielen: Strabo V 225 ol v.alovvxai diayrfißzlg (auf Korsika), 'lolaslg oiqoxsqov 6vo^.a^6(i£vot.. liyhxai yccQ 'Iölaog ayotv x&v nulSwv xivag xov 'Hoax1.80vg ilftsiv öevqo xccl 6vvoiKT]Gai rotg xf\v vfjoov h%ov6t ßag- ßdgoig, Tvqqt]voI S'fi6a.v. XI 524 'Pdycc (die parthische Residenz in Medien) to xov NixdxoQog xxi6(icc, o izcsivog [i£v EvQwnbv dtv6(ia6E, ndg&ot Sh 'Aoguy.Io.v . XI 541 ol Bi&vvol Siöxi TtQOXEoov Mv6ol ovxsg {isxavondG&rjGav ovxcog &%b x&v &Qaxwv x&v i7c01v.rfic1.vxwv, Bi&vv&v rs xal Qvvwv, o^ioJ.oysixat TtciQU x&v ttXe'i- exav, xal 6r\^.sla xi&svxat, xov phv r&v Bidvv&v t&vovg xb (iezqi vvv iv tf; ®pax^ XeysGd'cci xivag Bi&vvovg xxX. XIV 653 ixcclsixo d' i] 'Podog %q6xeqov 'Oq>iov66cc v.al HxudLa, uxa Ts%%ivlg cctto x&v olv.rfidvx<ov TtXftvoav (Barbaren aus Kreta). VII 316: die korinthische Gründung Epidamnos erhielt später den epichorischen (illyrischen) Namen Dyrrhachion. Plinius VI 138 f.: die Stadt Charax (semitisch) in Susiana trug früher die Namen Alexandreia, dann An- tiocheia, dann Spasinucara (nach einem Aramäerfürsten Spasines). Wie hoch auch dergleichen hinaufreicht, zeigt wieder Thukydides VI 2, 2 : der alte Name TgivccxQia sei später in Eixccvla nach den iberischen ZtwccvoL umgenannt worden (diesen Worten folgen die S. 195, 2 zitierten).

Asciburgium 197

Humanisten, die nach nominatumque das Wort l46xi%vQyiov inter- polierten (s. o. S. 193, 3), haben es sich offenbar im Sinne von 2 b gedacht: ein Name, der wenigstens den Buchstaben und dem Klange nach den Schein von Hellenischem hatte, sei zu dem Barbarennamen Asci- burgium entstellt worden. Müllenhoff hat das verspottet, weil jeder Versuch, AöxiKVQytov zu deuten und mit Erlebnissen des Odysseus in Verbindung zu setzen, unsinnig sei.1) Gewiß hat er damit recht, aber Spott genügt nicht, diese Erklärung in Mißkredit zu bringen. Un- sinnigkeit wäre auf dem Gebiete des Irrationalen, auf dem wir uns hier bewegen, fast eine Empfehlung. Wenn man beispielsweise um nur beim Nordischen zu bleiben bei Diodor V 19, 1 aus Posei- donios2) über die Gründung und Benennung von Alesia in Gallien liest: „Herakles gründete eine ansehnliche Stadt, die von seiner Irr- fahrt Alesia benannt wurde (cctco trjg uliqs 'AXr^ta)", so wird man solche, die des Taciteischen Rätsels Lösung auf dem Wege einer unsinnigen Etymologie suchen, doch wohl nicht ohne weiteres ver- urteilen dürfen. Müllenhoff selbst (S. 139) hat ohne irgendwelche Bezugnahme auf ethnographische Analogien einen ganz neuen und eigenartigen Erklärungsversuch aufzustellen gewagt, der durch seinen Scharfsinn Beifall fand: der auf keltischem, speziell menapischem Gebiete gelegene Ort müsse ursprünglich einen keltischen Namen getragen haben, der an Ulixes erinnerte; bei der Verpflanzung der Sugambri auf dieses Gebiet sei er Asciburgium umgenannt worden. Ein so gründlicher Kenner des klassischen und germanischen Alter- tums wie M. Siebourg ist Müllenhoff darin nicht nur gefolgt, sondern er hat sogar den vorgermanischen Namen in Anlehnung an den des Odyseeus vermutungsweise wiederzugewinnen versucht.3 )

1) So habe man gar an den &a*6g des Aiolos, die Ursache der weiten Irrfahrten des Odysseus, gedacht. Offenbar erinnerte sich der Betreffende da- bei an das Wort des Eratosthenes (bei Strabo I 24), man werde erst dann wissen, wo sich die Irrfahrten des Odysseus abgespielt hätten, wenn man den Schuster ausfindig mache, der den Schlauch der Winde zusammennähte. So neuerdings wieder F. Lillge, Sokrates IV (1916) 287 ff.

2) Poseidonios als Quelle ist gesichert: J. Geffckeu, Thnaios' Geographie des Westens (Philol. Untersuchungen XIII 1892) 53, 1 unter Zustimmung von E. Schwartz, Art. 'Diodoros' in der R. E. V (1903) 67G.

3) M. Siebourg, Odysseus am Niederrhein, in: Westd. Ztschr. f. Ge- schichte u. Kunst XXIII (1904) 312 ff., vgl. Fr. Pfister, Der Reliquienkult im Alter-

198 Kap. III. Herakles und Odysseus in Germanien usw.

Dieser Scharfsinn ist jedoch, wie ich fürchte, nutzlos aufgewendet wordeu. Einer Prüfung, die sich im [{ahmen der ethnographischen Überlieferung hält, winkt kein so überraschendes Ergebnis, wie es germanische Umnennung eines keltischen Ortsnamens in so früher Zeit wäre. Wir wollen einmal den Fall setzen, ein Inschriftenstein habe am Rheinufer bei Asciburgium wirklich gestanden; er war frei- lich nicht mehr aufweisbar, aber die Möglichkeit seines Vorhanden- seins soll zugegeben werden. Nehmen wir nun weiter an, die In- schrift habe eine Buchstabenvereinigung enthalten, die irgendwie an den Namen Ulixes erinnerte. Für eine derartige Annahme ließe sich bei gutem Willen etwas anführen. Uxcllos ist ein inschriftlich oft bezeugtes keltisches Wort (Holder III 59 ff.), dessen Bedeutung sogar klar ist, da der Stamm in vielen indogermanischen Sprachen erhalten ist: es heißt „erhaben", „hoch" (avi-dvco, aux-ilium, got. ivalcs-jan. altind. uks-ati „wächst"). Als Ortsname hat es sich in vielen französi- schen Ortschaften Usscl erhalten; am bekanntesten ist die Kompo- sition mit -dunum („Burg", „Feste"; etyniol. = „Zaun", engl. Hown')1): in Vxellodunum (im Gebiete der Cadurci, h. Gabors in Gallia Aqui- tanica) fand nach der Katastrophe bei Alesia der gallische Wider- stand seinen Mittelpunkt (Bell. Gall. VIII 32. 40).2) Aber auch als Eigenname eines Gottes findet sich das Wort: zwei Weihinscliriften lauten deo Uxello (Dessau 4693a) und Iovi TJxellimo (4626), letzteres eine latinisierte Superlativbildung, durch die der Gott als „aller- höchster" bezeichnet wurde, vergleichbar dem aus späterer Zeit auf Inschriften oft bezeugten luppiter summus exsuperantissimus. End- lich begegnet auf Inschriften ein Mann des Namens Aur(elius) TJxelio und eine Frau Uxela Griponi ßia (CIL III 13359. 13406). Von Worttypen dieser Art zu Ulixes zu gelangen, war für einen antiken „Etymologen" eine Kleinigkeit: durch nsrd&söis und acpcciQSöis von Buchstaben sind noch ganz andere „Wahrheiten" gefunden worden, und wollte man annehmen, die Inschrift wäre nicht in lateinischen, sondern keltischen, d. h. griechischen Schriftzeichen abgefaßt gewesen,

tum (Religionswiss. Versuche u. Vorarbeiten V 1, 1909) 229. Siebourg beruft sich ganz geschickt auf die Analogie von Olisipo: s. darüber o. S. 188.

1) Vgl. darüber K. Brugmann bei J. Partsch, Dünenbeobachtungen im Alter- tum (ßer. d. Sachs. Ges., phil.-hist. Kl. LXIX 1917, 3. Heft) 2 f.

2) Im Anh. IV werden wir die Insel Ov^i6d(i7j „die hochragende" kennen ^rnen (äle d' Ouessant an der Bretagne).

A8ciburgium IQ 9

so böte der bei Ptolemaios II 3, 6 bezeugte schottische Ortsname 0v%sXÄov (= TJxela geogr. Rav. 5, 31) ein Wortbild, das sich im etymologisierenden Vexierspiel der Antike mit der Lanzeninschrift 0vXCt,ov in Engyon auf Sizilien (Poseidonios bei Plutarch, Marcell. 20 ) leicht vereinigen ließe. Wenn nun gar etwa Buchstaben folgten, die eine gewisse Ähnlichkeit mit denen des AaiQT^s aufwiesen, so war die Identifikation fix und fertig.1) War aber Ulixes am Orte ge- wesen, dann hatte er den Ort natürlich auch gegründet und benannt, aber der schöne „hellenische" Namen war von den bösen Barbaren durch Asciburgium, einen epichorischen, ersetzt worden (Typus 2 c). Das er- gab sich alles wie von selbst auf dem Wege einer durch keinerlei Tatsachenballast beschwerten luftigen und lustigen Kombination. Da das Beweisobjekt längst verschwunden war, so brauchte der Perieget, der an sein von ihm aus langer Hand weitergegebenes Märchen wohl selbst glaubte, nicht zu befürchten, nach den einzelnen Beweisposten ausgefragt zu werden; auch kam ihm der Hörer auf halbem Wege entgegen, da er durch sein Schulwissen von den Wanderungen des Ulixes zum Glauben von vornherein geneigt war. Fremdenführer-) gab es ja in aller Herren Länder, und Reliquien aus der Heroenzeit waren über die ganze Erde verstreut; fürwitzige Fragen Aufgeklärter brachten die Periegeten aus dem Kontext, aber solche Aufgeklärten waren zum Glück für den Geldbeutel der Führer selten: „Könnte man die Sagen und Legenden verbannen, so müßten die Führer Hungers sterben, denn das Wahre wollen die Fremden auch umsonst nicht hören" (Lukian, Philops. 4). Gerade auch Inschriften vorzulesen hielten sie für ihre Hauptaufgabe und schleppten in Delphi die Fremden von einer zur anderen (Plutarch de Pyth. or. c. 2) wer erinnerte sich nicht an die Küster in unseren Kirchen?

Daß der Vorgang gerade dieser und kein anderer gewesen sein müsse, fällt mir natürlich nicht ein zu behaupten: dem Gedanken-

1) C. Jullian, Ulysse en Germanie (Revue des etudes anciennes XIV 1912, 283t.) trägt den Einfall vor, der Stein habe etwa die keltisch-griechischen Buchstaben . . . 2MEPT . . . getragen, was beispielsweise Bosmerta zu lesen gewesen wäre, aber fälschlich zu ['OävG6sv]g Acceqt[ov] ergänzt worden sei. Als geistreiches Gedankenspiel mag das gelten, höher wird es auch sein Er- finder nicht werten wollen.

2) Vgl. die hübsche Schilderung bei L. Friedlaeuder, Darst. aus d. Sitten- gesch. Roms II8 (Leipz. 1910) 181 f.

200 Kap. III. Herakles und Odyssens in Germanien usw.

spiele eines liebenswürdigen Gauklers wollte ich nur ein gleiches gegenüberstellen. Denn diese ganze Sache läßt sich beim besten Willen nicht ernsthaft behandeln; wir müssen uns vielmehr entschließen, dabei „die alte Schwiegermutter Weisheit" beiseite zu lassen, und versuchen, uns mit etwas Phantasie in die Sachlage zu versetzen. Einem der Garnison von Asciburgium angehörigen Offizier oder einem für Altertümer interessierten Kaufmann immer sind es in dieser Literatur, von den ganz seltenen Forschungsreisenden abgesehen, die 6tq(xt£v6ccvt£s oder die efinogoi, auf die man sich beruft, und wer wollte bestreiten, daß durch sie auch allerwichtigstes Material der Forschung zugeführt worden ist1) wird erzählt, an diesem Orte sei einst ein Altar mit der Namensaufschrift des Ulixes, Sohnes des Laertes, gefunden worden, Ulixes sei nämlich auf seiner Irrfahrt in den „äußeren Ozean" verschlagen worden und habe germanische Erde betreten. Warum sollte der Empfänger dieser Botschaft dem Be- richterstatter Glauben versagen? Mit was für Möglichkeiten gläubige Leute rechnen zu dürfen wähnten, zeigt doch eine in dieser Form natürlich erfundene Begebenheit, die sich sogar im vollen Licht der Geschichte (62 v. Chr.) zugetragen haben sollte: Kaufleute aus „Indien" wären durch Stürme in den nördlichen Ozean verschlagen und von einem „Könige der Sueben" dem Q. Caecilius Metellus Celer, damaligem Statthalter von Gallia Cisalpina und nachmaligem Konsul des Jahres 60, zum Geschenk gegeben worden.2'! Das in der Garnison

1) Hierauf werde ich in der Schlußbemerkung des vorliegenden Buches zurückkommen.

2) Plinius II 170 Nepos (in einem chorographischen Werke zweifelhaften Titels) de septentrionali circuitu tradit Q. Metello Celeri, Afrani in consulatu collegae sed tum Galliae proconsuli, Indos a rege Sueborum dono datos, qui ex India commerci causa navigantes tempestatibus . essent in Germaniam aLrepti. Dazu ein Parallelberieht des Mela III 5, 8. Etwas Wahres wird der sonder- baren Nachricht wohl zugrunde liegen, aber bei einer nur auf Nepos' Namen ge- stellten muß man stets auf der Hut sein. Mit den Indern ist er jedenfalls gründlich hereingefallen. Verwechslung von Indi mit Vinidi (Wenden) ist eine von zwei Gelehrten unabhängig voneinander vorgeschlagene, aber wohl überscharfsinnige Vermutung (G. Kossinna, Anz. f. deutsch. Alt. u. Lit. XVI 1890, 21, 1, und W. Sieglin bei H. Philipp in dem Komin, zu seiner Übersetzung des Mela in: Voigtländers Quellenbüchern, Bd. 31, 1912, S. 50). Ich möchte auf eine in ganz anderer Pachtung liegende Möglichkeit hinweisen: Indus ist ein wiederholt bezeugter keltischer Personenname, der öfters auf Inschriften, ein-

Asciburgium 201

von Asciburgium vielleicht treuherzig erzählte, jedenfalls gläubig an- gehörte Odysseusmärchen wurde in Kameradenkreisen der Hauptstadt weitergegeben *- eine Art der Verbreitung ethnographischer Kuriosi- täten, wie sie uns ein Gedichtchen Catulls (9) lebendig vor Augen stellt und fand seinen Weg in die Literatur. Es stände auch der Annahme nichts im Wege, daß der römische Offizier, der es sich erzählen ließ, und der Literat, der es verbreitete, ein und die- selbe Person gewesen wäre. Denn oft genug haben literarisch inter- essierte Offiziere während ihrer Feklzüge oder nach deren Beendigung ihre Memoiren geschrieben, in denen sie auch Mitteilungen über Land und Leute machten: es genügt, um innerhalb der lateinischen Lite- ratur zu bleiben, an Cato, Caesar, Corbulo und die zahlreichen Un- bekannten zu erinnern, deren Berichte den kriegsgeschichtlichen Teilen der Taciteischen Annalen und Historien sowie besonders den landeskundlichen der Plinianischen Naturgeschichte zugrunde liegen. Dieses Material wurde dann zur wichtigen Quelle der Fachwissen- schaft, die es in den altüberlieferten Zusammenhang der Literatur hineinstellte und ihre Folgerungen daraus zog. Wir müssen uns ja klar darüber sein, daß die germanische Kolonisationslegende, die uns Taci- tus überliefert, jung und fast als letztes Glied an eine viele Jahrhunderte verbindende Kette angefügt worden ist. Jedesmal wenn mit Er- weiterung des geographischen Horizontes durch Eroberer wie

mal auch in der Literatur vorkommt (Tac. ann. III 42), darunter ist zufallig auch ein Kaufmann (Trierer Stein des Mediomatrikers [IJndus CIL XIII 3656 = Dessau 4612); die Stellen bei Holder, Altcelt. Sprachsch. II 40 f. Vgl. auch C. Cicborius über die ala GaUcrum Indiana R. E. I 1243. Die Identifikation des Königs der Sueben mit Ariovist (vgl. Mommsen, R. G. III 243 Anm., und 0. Hirschfeld, Kl. Sehr. 365, 2) darf, da die Zeit stimmt und Ariovist bezeugter- maßen mit römischen Männern in Verbindung stand (Caes. I 44, 12. 47, 4: vgl. M. Bang, Die Germanen im röm. Dienst, Berl. 1906, 3), wohl als wahrscheinlich bezeichnet werden, Mommsen a. a. 0. sagt sogar, sie sei nicht zu bezweifeln. Nun ist freilich bei Mela überliefert a rege Botorum die vorgeschlagenen Änderungen Botorum oder Gotorum sind undiskutierbar , aber das ließo sich mit dem Plinianischen a rege Sueborum vielleicht durch die Annahme aus- gleichen, daß Nepos Volks- und Stammname nebeneinander gestellt hätte (vgl. Suebi Nicretes, Mareomcmi Suebi und sehr viel dgl. in meinen Sammlungen Sitzungsber. d. Berl. Ak. 1917, 116 ff.): ein sonst nicht erwähnter Stamm der Sueben wäre nichts Ungewöhnliches (proprüs adhuc nationibus nominibusque dtscrdi/quamqi'am in commune Suebi vocentur: Tac. c. 38).

202 Kap. III. Herakles und Odyesens in Germanien usw.

Alexander, Pompeius und Caesar ein neues Land und Volk in den Gesichtskreis trat, waren die Ethnographen flugs mit einer Gründungs- iegende bei der Hand, die sie nach altbewährten Mastern ver- fertigten. Die Kolonisationsgeschichte Indiens lesen wir aus Me- gasthenes bei Arrianus, die armenische aus Theophanes bei Strabo, die keltische teils aus Poseidonios bei Diodoros, teils aus Timagenes bei Am- mianus; Ceylon (Taprobane), schon von Onesikritos erwähnt (bei Strabo XV 691), wird seit Kaiser Claudius (Plinius VI 84 ff.), Schottland (Cale- donia)seitDomitianus genauer bekannt: in allen diesen Ländern wurden Wanderungen und Fahrten des Herakles oder Odysseus lokalisiert. In diese Reihe wurde folgerichtig auch Germanien hineinbezogen.

Das Irrationelle ist überall gleich inkommensurabel, der Euhe- merismus immer platt und schal. Das Asciburgium - Problem sollte man daher nach meinem Dafürhalten künftig nur mit der Wissen- schaft des Spatens, von dessen Arbeit nach verheißungsvollen An- fangen (s. o. S. 189, 1) vielleicht noch Aufschlüsse zu erwarten sind, seiner weiteren Lösung entgegen zuführen suchen, es dagegen, soweit es an die Textworte der Germania anknüpft, aus ernsthafter For- schung auszuscheiden sich entschließen. Aber dulce est desipere in loco, und so wird diesem Wunsche Erfüllung wohl versagt bleiben.

III. INSCHRIFTEN GRIECHISCHEN ALPHABETS

monumentaque et tumidos quosdam graecis litteris inscriptos in

confinio Germaniae Haetiaeque adhuc extare.

Im Gegensatz zu der einst gefundenen, längst verschwundenen

Altarinschrift der Urzeit beriefen sich die Verfechter einer germanischen

Mischknltur auf Grabschriften1) griechischen Alphabets, die „noch

1) monumenta et. tumuli sind „Grabdenkmäler11 wie c. 2 memoria et annales „geschichtliches Gedenken" (dafür arm. IV 43 annalium memoria), c. 37 Castro- ac spatia „Lagerräume" (dafür hist. IV 32 ccistrorum spatia; dieser Aus- druck wird unten Kap. IV Abschn. III besprochen werden). Tacitus hat für die parataktische Anreihung begrifflich eich untergeordneter Worte eine Vor- liebe wie kein anderer Prosaiker (Gudeman gibt zu c. 2 Beispiele); da das- selbe geradezu eine Signatur Vergilischen Stils ist (vgl. meinen Komm, zur Aen. VI2 S. 12, 379 f.), so wird man das in Zusammenhang bringen dürfen. Armut der Sprache an Nominalkomposita, Sprödigkeit in der Entfaltung ad- jektivischer Bildungen mußten Schriftsteller, die die Gedrungenheit ihres Stils nicht periphrastischer Weitschweifigkeit opfern wollten, notwendig zu dieser Ausdrucksweise führen.

Asciburgiuni. Griechische Inschriften in der Nordschweiz 203

existierten". Und in der Tat bietet diese Angabe einen etwas tat- sächlicheren Hintergrund dar. Mommsen, dem man wahrlich keine Voreingenommenheit für Phantastisches vorwerfen kann, hat die Taciteischen Worte monumenta extare seiner Behandlung der „Nord- etruskischen Alphabete auf Inschriften und Münzen" (Mitteil, der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich Vil 1853) als Motto voran- gestellt und sie mit Bemerkungen erläutert (S. 201), in denen er die Glaubwürdigkeit der Nachricht sogar gegen den Zweifel des Tacitus, der seinen Lesern die Entscheidung anheimstellt, zu ver- teidigen sucht. Seiner Vermutung freilich, es habe sich um Inschrif- ten in dem von ihm sog. nordetruskischen Alphabete gehandelt, deren Denkmäler er zuerst sammelte1), ist ganz abgesehen davon, daß jene Inschriften im etruskischen Alphabet geschrieben sind, das, wie wir noch sehen werden, der Gewährsmann des Tacitus vom griechi- schen wohl zu unterscheiden verstand das von Mommsen selbst geltend gemachte Bedenken ungünstig, daß sie an die Voraussetzung einer „nicht ganz genauen Ortsbezeichnung" von Seiten des Tacitus gebunden ist.8) Ja man muß sogar sagen, daß die Ortsbezeichnung so ungenau wie nur möglich gewesen wäre: denn was haben das Tessin, Veltlin und Südtirol mit dem Kanton Thurgau in der Nord- schweiz, was die Seen von Lugano, Como und Garda mit dem Boden- see zu tun? Die Annahme eines solchen Irrtums empfiehlt sich aber auch aus dem Grunde ganz und gar nicht, weil Tacitus noch an

1) Das Urteil über diese Inschriften, deren Zahl sich inzwischen nicht unbeträchtlich vermehrte, hat sich erheblich geändert, seit C. Pauli sie in seinen Altitalischen Forschungen I (Leipz. 1885) einer eindringenden Unter- suchung unterzogen hat. Damals hielt er die Sprache für keltisch, entschied sich späterhin, nach dem Vorgange von H. d'Arbois de Jubainville, Les Pre- miers habitants de TEurope II2 (Paris 1894), 92 für das Ligurisehe, und dieser Ansicht ist außer P. Kretschmer, Zeitschr. f. vergl. Sprachforsch., N. F. XVIII (1905) 97 ff., auch G. Herbig, Anz. f. Schweiz. Altertumskunde, N. F. VII (1905/6) 187 ff., beigetreten. Ich vermag das nicht zu beurteilen, es ist für meine Dar- legungen auch bedeutungslos, da ich versuchen werde, diese Inschriften aus der Diskussion der Tacitusstelle auszusondern. (Die Abhandlung von J. Rhjs. The Celtic Inscriptions of Cisalpiu Gaul in den Proceedings of the British Academy 1913 war mir leider nicht zugänglich.)

2) Auch von den seit dem Erscheinen von Mommscns Abhandlung neu gefundenen Inschriften (s. vorige Anm ) paßt der Fundort keiner auf die von Tacitus bezeichnete Gebend.

204 Kap III. Herakles und Odysaeus in Germanien usw.

zwei anderen Stellen der Schrift (c. 1 und 41) die Provinzen Germania und Raetia nebeneinander erwähnt, sich al*o von dem Verlauf ihrer Grenzen ein Bild gemacht haben muß. Mommsen selbst hat in einer viel späteren Abhandlung („Schweizer Nach- studien", Hermes XVI 1881, 490 = Ges. Sehr. V 433 f.) das confinium1) der beiden Provinzen bestimmt: es lief d. h. in seinem hier in Betracht zu ziehenden Teile am Südufer des Bodensees, die Grenzstation hieß Ad JEines oder Finihus (Pfin).2; Dies gibt uns

1) Das von Tacitus in der Germaniastelle nnd bißt. IV' 72 (in confinio Germaniae) gebrauchte conjinium ist, wie der Thesaurusartikel zeigt, ein aus der Sprache der Agrimensoren stammender technischer Ausdruck. Im Privat- recht verstand mau darunter einen die Grenze zweier Grundstücke bildenden Streifen von fünf bis sechs Fuß Breite (vgl. R. Leonhard in der R. E. VI 232b s. „Fines"). Das ist dann also, wie so vieles in der gromatischen Termino- logie, auf auswärtige Territorien übertragen und eiu staatsrechtlicher Begriff geworden. Der interessanteste Beleg dieser Art findet sich, gerade für ger- manische Verbältnisse, in einer Stelle des Ammianus (XVIII 2, 15), auf die ich bei anderer Gelegenheit zurückzukommen gedenke.

2) „Die Station Ad fines kann nur auf die Grenze von Obergermanien und Raetien bezogen werden" (Mommsen). Eine sehr genaue topographische Untersuchung: mit Situationsplan bietet Ferd. Keller, Die röm. Ansiedlungen in der Ostschweiz (Mitt. d. Antiquar. Ges. in Zürich XII 1858—60) 291 ff. Vgl. jetzt auch Fr. Vollmer, Inscr. Baiuariae Rom. (1915) S. 220. Nirgendwo sind Stationen dieses Namens häufiger als in Gallien vgl. das Verzeichnis aus Itinerarien bei E. Desjardins, Geogr. de la Gaule Rom. IV (Paris 1893) 257; dazu noch Fines Gallorum auf der Grenze von Gallia cispadana und Etrurien (CIL XIII 2681 = Dessau 5838) : das ist „ein beredtes Zeugnis für die reiche politische Gliederung des Keltenlandes" (Th. Bergk, Der Grenzstein des Pagus Carucum, in: Zur Gesch. u. Topogr. der Rheinlande, Leipz. 1882, 126). Zu den inschriftlichen Belegen kommen zahlreiche Fines auf den Flurkarten des 'Liber diazographus' im Corpus der Agrimensoren: vgl. den o. S. 11, 1 angeführten Aufsatz A. Schultens im Hermes XXXIII (1898) 534 ff. Über die moderne Namensform Pfyn im Thurgau bemerkt Mommsen zum CIL Xill 2, 1 S. 47: ;ufc nie monuit dum in vivis erat Scherer noster, ex a(d) fines factum est Pfin (Pfyn) ut empfangen ex entfangen' '. Es gibt übrigens noch eine zweite Ortsbezeichnung dieses Namens: der Wald von Pfyn oberhalb Siders im oberen Rhonetal, vermutlich die Fines zweier von den vier civitates der Alpes Poeninae (Bergk a. a. 0. 135). Erinnert sei auch daran, daß am Übergange der Straße über den Vinxtbach, der zwischen Brohl und Nieder- Breysig in den Rhein mündet, und der die Grenze zwischen den Provinzen Ober- und Unter- germanien bildete, Weihinschriften an die Fines gefunden worden sind (CIL XIII 7732. 7713); der Name Vinxt, den die Anwohner noch heute Fins

Griechische Inschriften in der Nordschweiz 205

vielleicht eine Möglichkeit, die Worte des Tacitus ohne die Annahme einer sehr starken Ungenauigkeit, ja eines schweren Irrtums zu deuten. Das Südufer des Bodensees, und zwar in seiner westlichen Hälfte, jetzt ein Teil des Thurgaus, in dem jene alte Grenzstation liegt, gehörte einst zum Gebiete der Helvetier, das sich von hier bis zum Genfer See hinzog. Für Caesarische und Augusteische Zeit ist diese Ausdehnung des helvetischen Gebiets gesichert durch die alte Erweiterung des Caesar- textes 1 2, 3 und durch Strabo VII 292, aber sie reicht in frühere Zeit hinauf, nach Mommsen, der im CIL XIII 2 fasc. 1 (gedruckt 1888—94) p. 47 auch diese Verhältnisse dargelegt hat1), sogar in erheblich frühere Zeit. Durch die Augusteische Neugestaltung Galliens in den Jahren 16 13 v. Chr. kam das Gebiet der Helvetier zur Belgica, gehörte aber schon damals, da infolge der Offensivpolitik gegen Germanien die Heeres- lao-er an den Rhein verschoben wurden, militärisch zum Bezirk des Konsularlegaten der obergermanischen Legionen. Bei der Einrichtung der obergermanischen Provinz in Domitianischer Zeit2) wurde das hel- vetische Land der neuen Provinz wahrscheinlich auch in der Zivil- verwaltung unterstellt.3) Nun erinnern wir uns der berühmten Nach- sprechen sollen, ist aus Fines abgeleitet: K. Zangemeister, "Westd. Ztschr. III 1884, 315, 1, vgl. Fr. Kauffmann, D. A. 368, 4: „Vinxt ist lautgerecht nach dem ripuarischen Dialekt aus lat. Fines hervorgegangen." Auf der diesem Buche beigegebenen Karte findet man Fines an der Rhone eingetragen: dort liegt noch heute die Sprachgrenze der deutschen und französischen Schweiz.

1) Seine Worte lauten: 'Germania superior quatenus pervenerit Raetiam versus certe aetate meliore, mansio illa ad fines declarat . . . Deinde cum scribat Strabo 7, 1, 5 p. 292 iuxta lacum Brigantinum degere i-x' öXlyov Raetos, xb -nliov Helvetios tenere et Vindelicos, Raetorum fuernnt ostia Rheni influentis in lacum, Vindelicorum universa ripa septentrionalis, Hel- vetiorum autem Arbor felix [Arbon] propter mensurationem leugariam eo usque pervenientem. Meliore igitur aetate lacus Brigantini ripa septentrio- nalis fuit provinciae Raetiae, meridionalis Helvetiorum, id est Germaniae superioris/

2) Vgl. A. Riese, Zur Provinzialgesch. d. röm. Germaniens, Korrbl. d. Westd. Ztschr. XIV (1895) 146 ff., auch E. Fabricius, Die Besitznahme Badens durch d. Römer (Heidelb. 1905) 61 f.

3) Ob die Annahme A. Rieses, Die Provinz Germania superior, Korrbl. d. Westd. Ztschr. XII (1893) nr. 78 S. 148 ff., daß das Land der Helvetier f{* wenigstens seit Traianus, als dort keine Legion mehr stand, nicht zur Ger- v mania sup., sondern zur Belgica gehörte, gerechtfertigt ist, lasse ich unent- schieden; für die geographische Ausdrucksweise, der sich Tacitus bedient, ist die

206 Kap. III. Herakles und Odyseeus in Germanien ubw.

i

rieht Caesars I 29 über die von den Helvetiern bei ihrem Auszuge veranstaltete Volkszählung: das Verzeichnis war in griechischem Alpha- bet angefertigt, das ja auch auf keltischen, gerade auch helvetischen Münzen bis auf Caesar fest ist und erst nach ihm durch das lateinische verdrängt wird.1) Ich glaube es danach zur Erwägung stellen zu dürfen, ob nicht dieses Verzeichnis, von dem Caesar sagt: in castris Helvetiorum tabulae repertae sunt Jitleris Ghraecis confeetae, und die Taciteischen monumenta et tumuli Graecis litteris mscripti zueinander in Beziehung zu setzen seien, da das in späterer Terminologie als confinium Germaniae Raetiaeque bezeichnete Gebiet in beiden Fällen das gleiche war. An die Helvetier jedoch als Verfertiger jerier Grabhügel mit Steinbauten ist nicht zu denken, da die Tumuli- Bestattung bei den Kelten der jüngeren La Tene - Zeit abkam (Deehelette, Manuel II 10 13).2) Aber die Nordschweiz war vor der im III. Jahrh. v. Chr. erfolgten Einwanderung der Helvetier aus Südwestdeutschland wir werden darauf im folgenden Ka- pitel (Abschn. II 2- J II 1) genauer einzugehen haben von einer anderen Bevölkerung bewohnt, die man jetzt in Ermangelung eines bestimmten Namens als „protohelvetisch" zu bezeichnen pflegt. Ihr jene Denkmäler zuzuweisen steht kein Bedenken entgegen, ebensowenig der Annahme griechischen Kultureinflusses, wie er in der Rezeption der Schriftzeichen zum Ausdruck kam. Denn der Handelsweg, der von Massilia, dem Kulturzentrum des Westens, entlang den Flußläufen der Rhone, Aare und Rhein in die Nordschweiz führte, ist uns noch kennt- lich (s. u. S. 228); keltische Stämme waren die Vermittler. Hier scheint sich uns also für eine verhältnismäßig alte Zeit ich möchte

Frage ohne Belang, denn geographisch bildeten die 'Elovqxiot. jedenfalls einen Annex zur FsQ^iavia r] ara, wie sich aus Ptol. II 9 deutlich ergibt.

1) Vgl. R. Forrer, Kelt. Numismatik der Rhein- u. Donaulande (Straßb. 1908) 108. Dort helvetische Münzen z. B. Nr. 78 (S. 44), 431 (S. 249): Goldstateren mit QiXinjtov, öfters in retrograder Schrift. Die keltischen Inschriften im grie- chischen Alphabet sind von 0. Hirschi'eld im CiL XII S. 966 zusammengestellt; vgl. seine Bemerkungen in den Gallischen Studien I, Kl. Sehr. 51, 6.

2) An die Möglichkeit, daß keltische Inschriften zu verstehen seien, haben schon andere gedacht (vgl. B. Niese, Kelt. Wanderungen, Z. f. deutsch. Altert. u. Litt. N. F. XXX 1898, 152. E. Kornemann, Die Alb zur Zeit des Kaisers Claudius, Blätter d. Schwab. Albvereins XXI 1909, 358), aber erst die obigen Ausführungen geben dieser Vermutung festere Unterlage und das rechte Ziel. Deehelette a. a. O. II 569, 4 war dem Richtigen nahe auf der Spur.

Griechische Inschriften in der Nordschw.-iz 207

schätzen: etwa die mittlere La Tene-Epoche eine bemerkens werte Perspektive zu eröffnen, deren nähere Beleuchtung zu unternehmen ich jedoch nicht wage, da ich ethnologischen Hypothesen nach Mög- lichkeit ausweiche. Sicher scheint mir, daß die von Tacitus nach vorzüg- licher Überlieferung weitergegebene Nachricht für germanische Archäo- logie ebenso belanglos wie für die Geschichte der Propaganda des griechischen Alphabets bedeutungsvoll ist.

VIERTES KAPITEL

AUF DEN SPÜREN DER BELLA GERMANIAE

DES PLINIUS

I. INSCHRIFTEN DER GEGENWART UND DER VORZEIT

Wer mag der Gewährsmann gewesen sein, dem Tacitus in in- direkter Rede die am Schluß des vorigen Kapitels besprochene An- gabe über Grabdenkmäler mit griechischen Schriftzeichen entnahm? Mommsen dachte in der angeführten Abhandlung des Jahres 1853 an „Poseidonios oder f-gendeinen römischen Kaufmann". Man muß die Weite seines Blicks bewundern, wenn er zu einer Zeit, da die Vermittlerrolle des Historikers Poseidonios noch längst nicht so be- kannt war wie in der Gegenwart, auf diesen Namen hinwies.1) Aber hier muß er abgelehnt werden. An seine Stelle ist, nachdem schon Müllenhoff das Richtige ganz im allgemeinen angedeutet hatte2), in einer der ertragreichsten Abhandlungen für Taciteische Quellenkritik

1) Zum zweiten Male findet sich dieser Name im Jahre daraut (1854) in der Abhandlung über Die Schweiz in römischer Zeit (= Ges. Sehr. V 389). Ich vermute, daß Mommsen seine Vorarbeiten zur Komischen Geschichte, die in die Anfänge der 50er Jahre fielen, auf Poseidonios geführt haben: in Anmer- kungen zu dem Kapitel „Die Völker des Nordens" (II7 159 ff.) wird er wieder- holt genannt, und zwar schon in der ersten Auflage. In dieselbe Zeit, die Mitte der 50er Jahre, fallt der Beginn der Beschäftigung Müllenhoffs mit seiner Deutschen Altertumskunde. Er wurde auf Poseidonios' Bedeutung wohl durch Vermittlung Strabos aufmerksam, über den er schon in seinen akademischen Anfängen Vorlesungen gehalten hat. Als Vorgänger beider muß A.H. L.Heeren (1823) gelten: s. o. S. 64, 4.

2) D. A. II 191: es sei nicht zweifelhaft, daß Tacitus im zweiten und dritten Kapitel der Germania das Pliniariiscbe Germanenwerk vor Au^en ge- habt habe, da in ihm vor. dem Ursprung und der Herkunft des Volkes habe gebandelt werden müssen.

208 Kap. IV. Auf den Spuren der Bella Gexmaniae des Plinius

von F. Münzer (Die Quelle des Tacituß für die Germanenkriege, Bonner Jhb. CIV 1899, ölfi;.)1) ein anderer Name gesetzt worden, und die Richtigkeit seines Nachweises wird durch die im vorstehen- den gegebene örtliche Bestimmung bestätigt. Denn auch liier gilt es, um dea Namen zu verbürgen, die Erfüllung mehrerer Bedingungen (vgl. o. S. 59). Der Tacitcische Quellenautor muß, da er die Ge- währ für die bis in die Gegenwart dauernde Existenz jeuer Denk- mäler übernehmen konnte (monumenta atlhuc ext cur e), jene Gegend entweder selbst gekannt oder zuverlässige Angaben über sie erhalten haben und darf, wenn die Zeitbestimmung einigermaßen genau sein soll, nicht allzulauge vor Tacitus, der sie wiedergibt, gelebt haben Er muß ferner für germanische Altertumskunde interessiert gewesen sein. Endlich müssen Inschriften, besonders solche in griechischem Alphabet, seine Aufmerksamkeit erregt haben. Nun lief von dem germanisch -raetischen Grenzorte Finibus (Pfin), über den soeben Näheres mitgeteilt wurde, die Heerstraße südwestlich nach Vitu- durum (Oberwinterthur), von da westlich nach Aquae Helveticae (Baden a. d. Limmat) und Yindonissa (Windisch)2) am Zusammenflusse von Aare und Keuß.3) Hier war im Jahre Ol, wie zwei Inschriften (CIL XIII 5200. 5201, vgl. Prosopogr. imp. Rom. III S. 80, Nr. 563)

1) Die Abhandlung ist infolge ihres nicht jedem Forscher bequem zugänglichen Publikationsortes nicht so bekannt, wie sie es zu sein ver- dient (Münzer selbst hat im Rh. Mus. LXII 1907, 165, 1. 169, 1 einige Nachträge gegeben). Daß in dem sieben Jahre später erschienenen Buche von H. Peter (Historicorum Rom. reliquiae II 1906, S. CXXXX.IX) ganz Unzuläng- liches über das Plinianische Germanenwerk vorgebracht und anmerkungsweise gesagt wird: 'Muenzeri disputationem de hac re non novi', ist nicht zu recht- fertigen.

2) Das Lager war, wie jetzt allgemein angenommen wird (vgl. H. Dragen- dorff und O. Schultheß im IV. U..VIII. Ber. d. röm.-germ. Komm. 191G, 99. 1917, 100), nicht schon in Augusteischer, sondern erst in Tiberischer Zeit (obere Zeitgrenze etwa 15 20) angelegt worden. Dies zu wissen ist deshalb nicht unwichtig, weil dadurch die ferne Möglichkeit, die hier besprochene Nachricht etwa auf Livius zurückzuführen, aufgehoben wird, denn die das Germanische enthaltenden Bücher seines "Werkes waren, wie weiter unten be- merkt werden wird, noch unter Augustus abgefaßt.

3) Nach dem Itinerarium Antonini betrug die Entfernung von Finibus bis Vitudurum: mtl. XXII, .von da bis Vindonissa: mtl. XXII IL Zusammen etwa 70 km. Vgl. die Karte XXDI der Kiepertschen Formae orbis antiqui.

Plinius in Germanien 209

beweisen, das Standquartier der von P. Poinponius Secundus, dem da- maligen Legaten Obergermaniens, kommandierten Legionen, und unter ihm, dessen Ruhm als Tragiker sich lange erhielt, diente, wie Münzer (8. 80 f.) nachgewiesen hat, C. Plinius1), der dann auch, wie der Neffe berichtet (ep. Iil 5, 3), das Leben des ihm freundschaftlich verbundenen Mannes erzählte (*De vita Pomponi Secundi duo\ a quo singulariter amatus hoc memoriae amici quasi debitum munus exsolvitj. Auf jene Biographie folgte, wie der Katalog des chronologisch auf- zählenden Neffen angibt, das große Germanenwerk, an dem zu schreiben er noch auf germanischem Boden begonnen hatte i^BeUo- rum Germaniae viginti', quibus omnia quae cum Germanis gessimus hella collegü . . .; inchoavit cum in Germania militaret)2) Sein Besitz wäre für unsere Kenntnis der vaterländischen Geschichte ältester Zeit3) ein Schatz ohnegleichen. Probleme wie Aliso und saltus

1) Die germanische Dienstzeit ist von dem Neffen (ep. III 5, 4) bezeugt: cum in Germania militaret. Nun berichtet Plinius XXXI 20 über das Land der Mattiaci so, wie 63 nur ein Augenzeuge vermochte (sunt Mattiaci in Ger- mania fontes calidi trans Rhenum, quorum haustus triduo fervet, circa margines vero pumicem faciunt aquae). Dort haben innerhalb der für Plinius1 Dienstzeit in Betracht kommenden Jahre nur zweimal römische Heere gestanden: 47 unter Curtius Rufus (Tac. XI 20) und 50 unter Pomponius Secundus (ebd. XII 27 f.). In dem ersteren Jahre diente Plinius in Germania inf. unter Domitius Corbulo, (Tac. XI 18 verglichen mit Plinius XVI 2), also war er 50 mit Pomponius dort. Im nächsten Jahre war dieser, wie die erwähnten Inschriften beweisen, in dem helvetischen Teile seines obergermanischen Kommandobezirks tätig. Da, wie wir weiterhin sehen werden, Plinius auch diesen Teil Obergermaniens kennt, so hat er, was ja ohnehin selbstverständlich ist, seinen Feldherrn dort- hin begleitet. Dies ist in großen Zügen der Gang der Münzerschen Beweis- führung, die auch Fr. Koepp, Die Römer in Deutschland (Leipz. 1912) 47 f. seiner Darstellung zugrunde legte.

2) Im Jahre 52 war Plinius bereits wieder in Rom (n. h. XXXIII 63, vgl. Tac. XII 5(3), wohin er wohl mit Pomponius zurückgekehrt war, der hier bald gestorben sein wird (Münzer S. 81). Die Hauptarbeit an den Bella fiel also in die letzten Jahre des Claudius und die ersten Neros, die Biographie des Pomponius erschien vor Abschluß des Germanenwerkes.

3) A. Bauer, Die Herkunft der Bastarner (Sitzungsber. d. philos.-hi.-,t. Kl. d. Wiener Ak. 185. Bd., 2 Abb., 1918) 19, behauptet, es gebe für die herkömm- liche Annahme, daß das Plinianische Werk gerade mit den Kimbernkriegen begonnen habe, keinen Anhaltspunkt. Wie sollen denn die Worte des Neffen omnia bella anders verslanden werden? Beginnt doch auch Tac. Germ. 37 die Serie der Germanenkriege mit den kimbrischen.

Norden: Die germanische Urgesohiclite 1 1

210 ^ap. IV- -^u^ ^en Spuren der Bolla Germaniae des Plinins

Teutoburgiensis, agger Drusianns1) und pontes longi gäbe es nicht, denn Plinius hat genaue Ortsangaben nicht gescheut und sich auf das Militärische verstanden. Aber das Werk ist rettungslos ver- loren, und jeder Versuch seiner Rekonstruktion, und wäre es auch nur in Umrissen, würdi; aussichtslos sein. Denn es ist früh unter- gegangen, da es allem Anschein nach der im IV. Jahrh. beginnenden Umschrift der Papyrusrollen in den Pergamentband2) nicht für wert befunden wurde: gibt doch schon Symmachus (ep. IV 18) einem Freunde, der von dem einstigen Vorhandensein des Werkes wohl nur aus seiner Erwähnung in der damals vielgelesenen Briefsamm- lung des Neffen Kunde hatte, auf die Bitte, es zu suchen, eine ziem- lich kleinlaut klingende Antwort.3) Nur durch eine so umsichtige

1) Daß wenigstens die vielumstrittene fossa Drusiana jetzt als beatimmt gelten darf, werden wir im Abschn. V dieses Kapitels sehen, und bezeichnender- weise ist die Bestimmung durch ein Material ermöglicht worden, das in seinem literarischen Teile auf Textstellen beruht, die einzig dem Pliniua, verdankt werden.

2) Vgl. über diese Ursache des Verlustes von Schriftdenkmälern G. Wissowa, Bestehen u. Vergehen in der röm. Literatur (Rektoratsrede Halle 1908) 11. Eine ähnliche Katastrophe wird dereinst über unsere auf Kriegspapier gedruckte Literatur hereinbrechen: was von ihr nicht wert befunden wird, nach Besserung der Verhältnisse neu gedruckt zu werden, ist nach dem Urteil von Sachver- ständigen binnen weniger Generationen dem Untergange geweiht.

3) Der Adressat des Briefes ist Protadius, ein vornehmer Treverer; das Datum ist Anfang 396 (0. Seeck praef. CXLIII). Die Worte sind interessant genug, um sie in ihrem ganzen Zusammenhange auszuheben: priscas Gallorum memorias deferri in manus tuas postulas. revolve Patavini scriptoris esctrema quibus res Gai Caesaris explicantur, aut si inpar est desiderio tuo Livius, sume ephemer idem C. Caesaris decerptam bibliotheculac meae, tit tibi muneri mitteretur. haec te origines situs pugnas et quidquid fuit in moribus aut legibus Galliarum docebit (vgl. über diesen Satz Anhang I 1). enitar, si fors votum iuvet, ctiam Plinii Secundi Germanica bella conquirere. tantisper esto contentus fide operis oblati. Also nur Caesars Commentarii waren ihm gleich zur Hand, um sie an Protadius geschenkweise zu senden. Aber er kommt in einem etwas später geschriebenen Briefe noch desselben Jahres auf die Sache zurück. Dieser Brief (IV 36) ist an einen Bruder des Protadius, Minervius, gerichtet, der sich damals in Mailand befand; er enthielt zwei Beilagen, von denen die eine ein Empfehlungsschreiben war; von der anderen heißt es: adieci alteram paginam reddendam germano tuo, cum tibi fors in patriam reditum secunda- verit. asperserat nos ille iamdudum facundiae sitae floribus et sibi Galliaruin prisca monumcnta iuvando otio exscribenda mandaverat. optato accidit ut ei

Schicksale der Plinianischen Bella und Annales 211

Quellenaualyse, wie sie Münzer begonnen hat, läßt sich vielleicht eine oder die andere Position jenes Werkes wiedergewinnen, dessen Umfang die 18 Annaienbücher des Tacitus noch um zwei übertraf. Wir werden freilich bei diesem Versuche aus dem engen Rahmen, den uns die eigentliche Urgeschichte innerhalb der Taciteischen Schrift an die Hand gibt, hinaustreten und vielfach auf einzelne Teile des geschichtlichen Gemäldes selbst, das sie entrollt, über- greifen müssen.

Ein etwas günstigerer Stern hat über den germanischen Teilen des Plinianischen Annalenwerk.es gewaltet, in denen die Germanen- kriege von Nero bis zu den Anfängen Vespasians erzählt worden waren, vor allem also der durch die gallisch-germanische Koalition besonders gefährliche, das bellum Gernianicum qaod Iiilius Civilis in Gallia moverat, wie es in der Erweiterung einer Schrift des Frontinus (strat. IV 3, 14) genannt wird. Neben mancherlei Problematischem, das die Quellenanalyse der Taciteischen Geschichtswerke gezeitigt hat, darf die ebenfalls Münzer verdankte Erkenntnis, daß die über große Teile des IV. und V. Historienbuches sich erstreckende Dar- stellung dieses Krieges die Plinianische ist, als besonders gesichert gelten. Denn der Name des Plinius tritt hier nicht wie in anderen Abschnitten des Taciteischen Nachlasses in Wettbewerb mit anderen auch möglichen Quellenschriftstellern, sondern keiner außer ihm kommt in Betracht, da nur seine Annalen diese Begebenheiten noch mit befaßten. Wer sich also von der Wesensart Plinianischer Ge- schichtsdarstellung einen Begriff verschaffen möchte, dem kann die Lektüre dieser Taciteischen Abschnitte (IV 12—37. 54—79. V 14—26) nicht dringend genug empfohlen werden. Es dient Plinius zu nicht geringem Ruhme, daß diese Stücke sich den besten kriegsgeschicht- lichen Darstellungen, die wir aus dem Altertum besitzen, würdig einreihen1): hat doch Mommsen, er, der über Tacitus' militärische Darstellungsart im übrigen so gering denkt, in diesem Falle kein

per te utrumque reddatur, honor epistulae meae et expetitue fructus historiat Auf diesem Blatte wird er also dem Protadius von dem weiteren Ergebnisse seiner Nachforschungen nach Geschichtswerken über Gallien, zu denen er auch das Plinianische Germanenwerk rechnete, berichtet haben.

1) Fr. Koepp a. a. 0. (o. S. 209,1) 52 hat die „ungewöhnlich sach- und orts- kundige Anschaulichkeit" des Plinius als Gewährsmannes der Taciteischen Erzäh- lung gepriesen.

14*

212 Kap IV. Auf den Sparen der Bella Germaniae de6 Plinius

Bedenken getragen, sich in seiner Erzählung dieses Krieges (R. G. V 1 16 ff.) der Taciteischen auf's engste anzuschließen. Plinius seinerseits hat Berichte von Feldzugsteilnehmern und was es sonst an primärem Material gab, mit militärischem Verständnisse verwertet. Wir können es Tacitus daher nur Dank wissen, daß er sich seiner Vorlage, mag er sie stilistisch noch so sehr umgestaltet haben, sachlich genau anschloß: die Genauigkeit des Topographischen leuchtet allenthalben durch1), die germanische Ethnographie empfängt erhebliche Förde- rung2), auch an zwischengestreutem Sittengeschichtlichen ist kein Maugel.") Wir werden daher im Verlaufe vorliegenden Kapitels diese Quelle wiederholt heranziehen.

Aus dem Germanenwerke des Plinius, um auf dieses zurück- zukommen, besitzen wir nur zwei namentliche Zitate. Das erste steht bei Tacitus ann. I 69 (zum Jahre 15): tradit C. Plinius, Germani- corum bellorum scriptor (Agrippina d. Ä. begrüßt an der Rheinbrücke das geschlagene Heer). Wenn wir absehen von gelegentlichen Hin- weisen auf Reden oder Briefe der Kaiser und auf die Denkwürdig-

1) Es sei beispielsweise auf V 19 f. verwiesen, wo der von Civilis vor- genommene Durchstich des Drususdammes und die dadurch erfolgte Vereinigung der Gewässer des Rheins und der Waal geschildert wird, und wo ferner die Namen von vier keltisch-germanischen Ortschaften genannt sind, darunter zwei nur hier, die beiden anderen sonst nur noch bei Ptolemaios bzw. in Itinerarien. Plinius kannte das Mündungsgebiet des Rheins aus eigner Anschauung: n. h. XII 98 extremo in margine imperii, qua Rhenus adluit, vidi (sc. casiam) in alvariis apium satam, vgl. XV 103 lusitanische Kirschen in Belgica, in ripis etiam Rheni. 2) Vgl. Münzer S. 91 f.

3) Vgl. IV 12. 13. 14. 15. Iß. 18. 22. 61. 65. V 14. 15. 17. 18, darunter so Erlesenes wie die in der Germania fehlende Kürung durch Schilderhebung: Brinno (ein Cannenefate) impositus scuto more gentis et sustinentium umeris vibratus dux deligitur (IV 15). Die Benutzung des Plinius beginnt schon in den früheren Teilen der Historien. Aus diesen sei für Germanisches auf II 22 (Sturm auf die Festung PI acentia) hingewiesen: cohortes Germanorum cantu truci V et more patrio nudis corporibus super umeros seuta quatientium (letzterer Zug m. W. sonst nicht erwäbnt). Ferner auf II 88, wo es von der germanischen Soldateska im Heere des Vitellius, die sich dem Zuge des herannahenden Kaisers vorauf in die Hauptstadt t rgoß, heißt: nee minus saevum spectaculum tränt ipsi tergis ferarum et ingentibus teils horrentes (vgl. Germ. 17); auf denselben Vorgang bezieht sich die kurze, aber anschauliche Schilderung des Josephus Bell. lud. IV 10, 1 § 685—587: es war die erste germanische Einquartierung, die die Hauptstadt erlebte.

Quellenkritieches zu Tacitus' historischen Werken 213

keiten der jüngeren Agrippina, so ist dieses Zitat in den zwei ersten Hexaden des Tacitus, soweit sie uns erhalten sind, das einzige mit einem Schriftstellernamen bezeichnete. Das nächste steht erst XIII 20 (zum Jahre 55): da ist es wieder Plinius, nun aber als Verfasser des Annalenwerkes. Hier nennt ihn Tacitus, seiner Gepflogenheit gemäß, neben anderen, um die Abweichung der Überlieferung darzulegen; es ist das genau die Livianische Art: mehrere Geschichte werke werden verglichen und die Abweichungen in Wichtigem verzeichnet.1) Dagegen ist das Zitat in I ein beiläufiges: es lag ihm daran, eine die ältere Agrippina betreffende Nachricht besonders zu beglaubigen. Aus der Beiläufigkeit dieses Zitats läßt sich, wie mir scheint, für die Frage, nach welchen Quellen Tacitus die Germanenkriege der Jahre 14 bis 16 erzählt habe, eine wichtige grundsätzliche Folgerung ableiten: das Plinianische Germanenwerk war hier die führende Quelle nicht. Begreiflich genug: diese große Spezialgeschichte wäre für ein anna- listisches Werk wie dasjenige des Tacitus, in dem die Germanenkriege nur Episoden bildeten, eine viel zu umfängliche und daher das Maßverhältnis störende Vorlage gewesen. Dagegen fand er bei dem- jenigen Annalisten, dessen Erzählung er in den ersten Büchern seines Geschichtswerkes überhaupt zugrunde legte der Name ist bisher unbekannt , die germanischen Ereignisse schon auf das ihnen inner- halb einer Gesamtdarstellung der Zeit gebührende Maß zurückgeführt und folgte daher seiner Leitung auch hierfür. Jedoch hat er das Plinianische Spezialwerk zur gelegentlichen Ergänzung herangezogen. Dieses sein Verfahren war, auch abgesehen von dem erwähnten Maß- verhältnisse, durch die Überlieferungsvorgänge selbst durchaus ge- rechtfertigt. Denn Plinius war ja für die Germanenkriege der Jahre 14 16 keine Original quelle, sondern er benutzte seinerseits denselben ausgezeichneten Primärbericht eines Feldzugsteilnehmers, auf den alle späteren Erzähler, also auch der Taciteische Annalist, angewiesen waren. Da also Tacitus das Hauptsächliche jenes Be- richtes in seiner Vorlage schon verarbeitet fand, so lag für ihn ein Anlaß, diese zu erweitern, nur in den Fällen vor, wo das Plinianische Werk einen ihm bemerkenswert erscheinenden Überschuß über den

1) Fabius Rusticus . . . Plinius et Cluxius. Analog hist. III 28 ut MessaUa tradit an potior auctor sit C. Plinius: dieses das einzige camentliehe Zitat dee Plinius in den Historien.

214 Kap. IV. Auf den Spuren der Bella Germaniae des Plinius

Bericht hinaus aufwies. Einem solchen Ausnahmefalle, dessen be- sonderen Anlaß wir weiterhin noch näher kennen lernen werden (Abschn. 111 2 dieses Kapitels), verdanken wir jenes Zitat. Fernere Be- nutzung entzieht sich bisher gesicherter Kenntnis, doch soll hier in einer Anmerkung einiges vielleicht Erwägenswerte angeführt werden.1) 1) Diese Auffassung des Quellenverhältnisses, die sich mir auf Grund vielfacher Erwägung ergeben hat, näher zu begründen, ist hier nicbt der Ort. Bei Ph. Fabia, Les sources de Tacite (Paris 1893) 406 f., und G. Keßler, Die Tradition über Germanicus (Diss. Berl. 1905) 40, ündr-n Bich wohl Ansätze zu der mir als richtig erscheinenden Ansicht, aber daneben vielerlei, das ich für irrtümlich halte. IVlünzer a. a. 0. 71, 2. 93 scheint Plinius auch hier mehr in den Vordergrund rücken zu wollen, hat diese Annahme bisher aber noch nicht näher ausgeführt. Nur eine Analyse, die neben der Gesamtkomposition sie ist, wie besonders Keßler zeigte, durchaus nicht immer klar und einwandfrei auch das einzelne berücksichtigt, kann vielleicht zu bestimmteren Ergebnissen führen. Beispielsweise sei auf die Übereinstimmung von ann. I 56 (zum Jahre 15) non auso hoste (die Chatti) terga abeuntium lacessere, quod Uli a oris guotiens astu magis quam per formidinem cessit und Germ. 6 cedere loco, dummodo rur- sus mstes, consilii quam formi-Jinis arbitrantur hingewiesen. Das Germania- kapitei nämlich, in dem diese Worte stehen, läßt, da es mit sichtlicher Vorliebe und Sachkenntnis bei den Reitermanövern verweilt, den für Kavalleristisches interessierten Plinius als Vorlage wahrscheinlich erscheinen; zudem ist das Ergebnis der Analyse, der jenes Kapitel der Annalen durch G. Wolff unterzogen worden ist (Die geogr. Voraussetzungen der Chattenfeldzüge d. Germanicus. Ztschr. d. Vereins f. hess. Gesch. u. Landesk. L 1917, 53 iL), „eine gute Quelle militär- technischen Charakters", die der Verf. gern mit dem ortskundigen Plinius identifizieren möchte. Diese Kongruenz ist um so bemerkenswerter, als in demselben Kapitel der Annalen sich noch eine weitere findet: natn rarum Uli caeio siccitate et amnibus modicis inoff'ensum iter properaveraf ~ hist. IV '26 Rhenus incognita Uli caelo siccitate vix navium patiens. Als fernere Kongruenz sei notiert: ann. I 64 f, euneta Romanis adversa: locus uligine profunda, idem ad gradum instabilis, procedentibus lubricus; corpora gravia loricis neque librare pila inier undas poterant. contra Cheruscis sueta apud paludes, procera viembra, hastae ingentes ad vulnera facienda quamvis procul . . . Nox per diversa inquies, cum barbari festis epulis, laeto cantu aut truci sonore . . . saltus complereni ~ hist. IV 14 f. loci forma incertis vadis subdola et nobi>- adversa: quippe miles Romanus armis gravis et nandi pavidus, Germanos flumini- bus suetos levitas armorum et proceritas corporum attollit . . . Nox apud barbaros cantu aut clamore . . . acta. Die gleiche Vorlage scheint unverkennbar; an den Stellen der Historien ist Plinius als solche gesichert. Endlich kann die topo- graphisch genaue Schilderung der insula Batavorum und des Bheinmündungs- gebietes ann. II 6 nach dem, was vorhin (S. 212,1) über die Anwesenheit des Plinius daselbst bemerkt wurde, wohl nur Plinianisch sein.

Plinius über Inschriften 215

Das zweite Zitat aus dem Germanenwerke geht uns hier unmittel- barer an. Von den oben aufgestellten Postulaten fehlt uns ja noch eins: der gesuchte Quellenautor muß für Inschriften interessiert ge- wesen sein. Auch dies trifft auf Plinius zu. Nach Suetonius suchte er übrigens mit offensichtlichem Irrtum die Geburt des Kaisers Gaius im Trevererlande durch eine Altarauf'schrift zu be- oründen.1) Für die Entwicklungsgeschichte der Buchstabenschrift zeigt er sich in dem naturgeschichtlichen Werke interessiert: VII 192 nimmt er mit arbitror zu den verschiedenen Traditionen Stellung, und 210 zitiert er offenbar aus den im Autorenverzeichnis ge- nannten Acta eine in der palatinischen Bibliothek aufgestellte griechische Weihinschrift archaischen Alphabets, woran er Bemer- kungen über dessen Gleichheit mit dem lateinischen knüpft2); XVI 237 wird ein tituhis aereis litter is Etruscus erwähnt; auch sonst be- ruft er sich wiederholt auf Inschriften.3) So sind die vorhin ge- nannten Bedingungen erfüllt: die Anwesenheit des Plinius in dem germanisch-raetischen Grenzgebiete, sein hervorragendes Interesse für Germanisches, seine Berücksichtigung von Inschriften lassen in ihrer

1) Sueton, Cal. 8 Cn. Lentulus Gaetulicus Tiburi gentium (sc. Gaium) scribit, Plinius Secundus in Treveris vico Ambitarvio supra Confluentes; addit etiam pro argumento aras ibi ostendi inscriptas OB AGRIPPINAE PVERPEPIVM . . . Plinium arguit ratio temporum . . . nee Plini opinionem inscriptio arae quiequaw adiuverit, cum Agrippiua bis in ea regione filias enixa sit. Tacitus weiebt I 4 i (zum Jabre 14) ab: infans in castris genitus. Vgl. Münzer a. a. 0. 70.

2) Die Worte veteres graecas (litteras) fuisse easdem paene quae nunc sint latinae stimmen bemerkenswert zu denen des Tacitus ann. XI 14 forma litteris latinis quae veterrimis Graecorum. Diese Worte stehen in dem aus Anlaß der Alpbabetref'ormen des Claudius (im Jahre 47) eingelegten Exkurse über die Ge- schichte der Buchstabenschrift. Daß Tacitus auch in den Exkursen sich eng an seine Vorlagen anschloß, ist besonders durch F. Leo (Nachr. d. Gott Ges. 1896, 191ff.) erwiesen. Die Sache selbst zwang an jener Stelle jeden Annalisten zu einer derartigen alphabetgeschichtlichen Einlage. Wie er zu benennen sei, bleibe dahingestellt; das Annalenwerk des Plinius begann nach Münzers An- nahme (Rh. Mus. LXII 1907, 101 ff.) erat um das Jahr 50. Derjenige Annalist, der an jener Stelle zuerst einen so gelehrten Exkurs, wie wir ibn bei Tacitus lesen, einlegte, mußte, sei es unmittelbar, sei es durch Zwischenquellen, auf Varros Schrift De antiquitate litterarum ad L. Accium zurückgreifen, deren Autorität, wie die Fragmente zeigen, groß war (Gramm aticae Romamie fragui. ed. Funaioli I, 183 f.).

3) XXIX 9. 11. XXXI 8.

216 Kap. IV. Auf den Spuren der Bella Germaniae des Plinius

Vereinigung den Schluß Münzers auf ihn als Gewähremann der Taci- teischen Nachricht im dritten Gerraaniakapitel als zutreffend ev.>cheinen. Daß die Worte des Germaniakapitels in confinio Germaniae sich auch an einer Stelle der Historien IV 72 finden, die zweifellos Plinia- nischen Ursprungs ist (Erzählung des Batavenaufstandes), kann die Beweisführung auch nach der sprachlichen Seite hin unterstützen. Wie so häufig in der ethnographischen Überlieferung, ist es mithin auch in dem Fall der Inschriften „griechischen" Alphabets auf der Grenze Germaniens und Raetiens ein Offizier gewesen, dessen lite- rarischem Interesse volksgeschichtliches Material verdankt wird. Die Voraussetzung dafür, daß es sich erhielt, war in den meisten Fällen seine Verwertung seitens eines großen Schriftstellers, dem die Nach- welt den Preis der Unsterblichkeit erteilte.

Die Mitteilung über die griechischen Inschriften, die an der Grenze der Provinzen Germania und Raetia „noch existierten", ist mit der vorausgehenden über die in dem „noch heute bewohnten" Asciburgium einst gefundene Ulixes-Insclirift inhaltlich und syntaktisch unlöslich verknüpft: Uhxen quidam opinantur . . . adiisse Germaniae terras Asciburgiumque quod in ripa Rheni situm hodieque incolitur ab Mo constitutum nominatumque, aram quin etiam . . . eodem loco olim reperfam, monumentaque et tumulos graecis lüteris inscriptos in confinio Germaniae Baetiaeque adhuc extare. Der Schluß, daß der Gewährsmann der letzten Nachricht auch der der ersten sei, liegt nahe. In der Tat hat Münzer (S. 71 f. 78) ihren Plinianischen Ursprung zu hoher Wahrscheinlich- keit gebracht, indem er an einer Fülle von Beweismaterial zeigte, daß Plinius nicht bloß in der obergermanischen, sondern auch in der untergermanischen Armee gedient, möglicherweise seine ganze Dienstzeit während der drei militiae equestres und darüber hinaus nur in verschiedenen Garnisonen am Rhein verbracht habe. Der Garnisonort Asciburgium wird von Geographen seit Ptolemaios II 11, 13), der ihn fälschlich auf das rechte Rheinufer verlegt, ab- gesehen — nur noch einmal erwähnt, wieder von Tacitus, und wieder in einer sicher dem Plinius, hier dessen Annalenwerke, nacherzählten Episode aus dem Batavenkriege (hist. IV 33. Münzer S. 97). Dicht bei Asciburgium, etwa in der Mitte zwischen diesem Orte und Novae- sium, lag der befestigte Lagerplatz Gelduba (Gellep, Reg.- Bez. Düssel- dorf). Tacitus erwähnt ihn in den Historien öfters in demselben Zu-

Plinius und Tacitus 21 7

samnienhange (von c. 26 an), einmal fast unmittelbar vor Asci- burgium (c. 32). Dieser Ort wird, vom Itin. Antonini (255) ab- gesehen, sonst nur noch einmal erwähnt1): von Plinius n. h. XIX 90 Gelduba appellatur castellum Hheno impositum, also auch in den Worten anklingend an die Stelle der Germania Asciburgium in ripa Rheni situ in.

Hieraus ergibt sich eine wichtige Folgerung für die Quellenana- lyse der gesamten, die Urgeschichte betreffenden Taciteischen Erörte- rung. In unserer bisherigen Analyse der Überlieferung waren wir über den Germanenexkurs des Livius nicht hinabgegangen; jetzt können wir in den traditionsgeschichtlichen Stammbaum (o. S. 170) einen weiteren Namen eintragen. Plinius war der jüngste verwertete Schriftsteller; er hatte Stellung zu der Streitfrage Autochthonie, Einwanderung, Mischung genommen und scheint sich, da er Material für die letztere Annahme beibrachte, eben für diese entschieden, jedenfalls ihre Möglichkeit erwogen zu haben.2) Tacitus hat mithin den Dis- kussionsstoff, wenn nicht den gesamten, so doch den wesentlichen, schon bei Plinius vorgefunden, aber er hat sich anders als dieser entschieden, indem er die Gründe für eine angeblich erfolgte Mischung als nicht stichhaltig ansah und die Annahme der Autochthonie ver- trat. Das hier von ihm geübte Verfahren entspricht durchaus dem- jenigen, das er auch in den historischen Werken anzuwenden pflegt: den Sachinhalt der Quelleuberichte übernimmt er, aber die Beurtei- lung behält er sich vor, und in ihr sieht er bis zu dem Grade das

1) Zwar lese ich bei A. v. Harnack, Mission und Ausbreitung d. Christen- tums II3 (Leipz. 1915) 279, 2: ,,In Gilduba [vielmehr: Gelduba] am linken Rheinufer, südl. von der Ruhrmündung war ein Castell (Tac. hist. IV 26); hier- her gehört wahrscheinlich der Märtyrer Inlius: Martyrol. Hieron. z.20. oder 21. Dez. in Tracia civitute Gildöba luli; 'Thrazien' scheint ein Irrtum au sein." Diese Vermutung muß m. E. abgelehut werden.

2) Daß auch er wie Tacitus es in den oben (S.167f.) erörterten Schlußworten der Diskussion ex ingenio suo quisque den.at vel addat fidem getan hat, die Ent- scheidung schließlich dorn Leser anheimstellte, braucht deshalb nicht in Abn-iie gestellt zu werden. So schließt er n. h. XXVIII 29 eine lange, sehr wichtige nnd interessante Erörterung für oder wider den Glauben an Zaubersprüche, wobei er sich unter Beibringung auch eignen Materials auf die Seite der Positivisten gestellt hat, mit den Worten: de his nt euique libitum fwrit opinetur.

218 Kap. IV. Auf den Spuren der Bella Germaniae des Plinius

Wesentliche, daß dahinter die Materialbeschaffung selbst als verhält- nismäßig belanglos zurücktritt. Dieses Verfahr«.!) mag uns befremden, es war aber für die antike Historiographie, soweit sie nicht Zeit-, sondern Vergangenheitsgeschichte betraf, das selbstverständlich ge- gebene und allgemein geübte. „Du forderst mich auf" schreibt der jüngere Plinius einem Freunde (V 8, 13) , „Geschichte zu schreiben. So bedenke schon jetzt, welche Zeiten ich vorzugsweise in Angriff nehmen soll. Die Vorzeit, die schon von anderen dar- gestellt ist? Das Forschurgsmaterial ist schon beschafft, aber das Vergleichen mühevoll (parata inquisüio, sed onerosa collatio)." Diese Mühe hat Tacitus so wenig wie Livius gescheut, wird doch von dem- selben Plinius gerade seine diligentia gerühmt (Plinius ep. VII 33, 3). So wird er auch in vorliegendem Falle nicht versäumt haben, den Livianischen Germanenexkurs, sicher eine Hauptquelle des Plinius, auch seinerseits heranzuziehen (s. o. S. 169); kleine Abweichungen in der Völkergruppierung des c. 2 von derjenigen des Plinius in der Naturgeschichte1) scheinen ja auch zu erweisen freilich unter der Voraussetzung, daß die naturalis historia darin mit den bella Germaniae übereinstimmte , daß er sich nicht bloß auf Plinius verließ. Aber im wesentlichen genügte kritische Stellungnahme zu der Erörterung des zeitlich letzten Schriftstellers, eben .des Plinius, der die Haupt- arbeit schon geleistet hatte. Wir werden weiterhin sehen, daß auch das erste geographische Kapitel der Germania erweislich Plinianisch ist. Das Schriftchen wurde also, wie es ja auch in der Natur der Sache lag, eröffnet mit einer umfangreichen Benutzung des letzten Hauptwerkes für alles Germanische.

Nun aber verlieren wir die Urgeschichte eine Weile aus den Augen und unternehmen einen Vorstoß auf zentrale Abschnitte des Plinianischen Werkes.

1) IV 99 f. Versuche, die Taciteische Tabelle mit der Plinianischen in Lbereinstimmung zu bringen, sind wohl gemacht worden, aber ohne Will- kür nicht durchführbar. Vgl. A. Gudeman in der Einleitung seiner Ausgabe S. 18 ff.

Plinius und Tacitus 219

IL DER RHEINÜBERGANG DER KIMBERN

UND DIE GESCHICHTE EINES KELTISCHEN KASTELLS

IN DER NORDSCHWEIZ1)

1. DER KMBERNEXKURS IN DER GERMANIA DES TACITUS In dem zweiten, den Völkerkatalog enthaltenden Teile der Ger- mania wird als letzte der nichtsuebischen Völkerschaften die der Cimbri genannt (c. 37) und bei dieser Gelegenheit ein das ganze Kapitel um- fassender Exkurs über die Germanenkriege von der Kimberninvasion bis zur Erhebung des Civilis eingelegt. Der Exkurs schließt mit der gehässigen, aber, blendenden Antithese proximis temporibus triumphati magis quam vidi sunt, worin der Schriftsteller auf die von ihm weit über Gebühr herabgesetzten Feldzüge des Domitianus in Germanien ironisch hindeutet. Das Historische hat er sonst nur so weit zu- gelassen, als es für das Verständnis des Ethnographischen unumgäng- lich war; beispielsweise verliert er bei den Cheruskern (c. 36) auch nicht ein Wort über ihre geschichtliche Bedeutung in der Vergangen- heit. Das Barbarenvolk, von dem er ja selbst sagt (c. 2), daß es ge- schichtliche Überlieferung nur in Liedern bewahre, ist für ihn ge- schichtslos, sofern es nicht in Berührung mit Rom trat: das war zuerst durch den Einfall der Kimbern geschehen, daher gibt er an dieser Stelle einen raschen Überblick. Mit den Worten nunc de Suebis dicendum est (c. 38), die in ihrer nüchternen Sachlichkeit zu dem hohen Schwünge der letzten Sätze des Exkurses in absichtlichem Gegensatze stehen, wird die Entsetzung der Völkertafel wieder auf- genommen. Jene Übersicht über die bella Germaniae konnte kundige zeitgenössische Leser an das so betitelte Werk des Plinius erinnern, das von den Kim bernkriegen bis in die Zeit des Claudius (nach Miin- zers wahrscheinlicher Annahme bis zum Jahre 47) reichte; die Ger- manenkriege unter Nero und im Dreikaiserjahre waren in dem An- nalenwerke desselben Verfassers erzählt. Während nun jener gedrängte Überblick nichts bietet, was über die Kenntnisse der einigermaßen Gebildeten auch jener Zeit hinausginge2 , wird er durch einen Satz besonderen Inhalts eingeleitet.

1) Zur Nachprüfung der meisten Teile dieses Abschnitts wird dem Leser die dem Buche am Schluß beigegebene Karte besonders dienlich sein.

2) Immerhin verdient Erwähnung, daß gesagt wird, dem Marius habe der Sieg über die Kimbern, dem Caesar der über Ariovist beträchtliche Opfer ge-

220 KaP- IV. Auf den Spuren der Bella Germaniae des Pliniue

„In derselben Ausbuchtung Germaniens haben, hart am Ozean, die Kimbern ihre Sitze. So klein an Zahl die Gemeinde jetzt ist, so gewaltig an Ruhm. Von der alten Kunde haben sich bis in die Gegenwart weithin Spuren erhalten: auf beiden Strom- ufern geräumige Lagerplätze, deren Umfang noch jetzt einen Maßstab bieten kann für die riesige Leistungskraft jenes Volks- heeres und eine Beglaubigung für die Größe seines Auszugs." Eundem Germaniae sinum proximi oceano Cimbri tenent, parva nunc civitas1), scd gloria ingens?) veterisque famae lata vestigia manent2), idraque ripa castra ac spalia, quorum amb'du nunc quo- que metiaris molem manusque4) gentis et tarn magni exitus fulem. Dieser Satz zeigt durch seinen Hinweis auf „noch bis in die Gegen- wart dauernde'" Spuren des einst mächtigen Volkes eine so unverkenn- bare Ähnlichkeit mit dem vorhin besprochenen des c. 3, in dem auf „noch vorhandene" Denkmale der Vergangenheit hingewiesen wurde,

kostet (nee impune C. Marius in Italia, divus Iulius in Gallia . . . eos percuh- runt). Denn in unserer sonstigen Überlieferurig wird dies von ersterem nirgends gesagt, von letzterem in der Caesarischen Darstellung nur verblümt angedeutet (I 50, 3. 52, 7), während Cassius Dio XXXVIII 48, 3 (d. h. Livius) berichtet, an dem der Entscheidungsschlacht vorhergehenden Tage sei das Lager Caesars von Ariovist beinahe eingenommen worden.

1) Über den Begriff vgl. Mommsen, Schweizer Nachstudien, Hermes XVI (1881) 449 = Ges. Sehr. V394: „Der kelt. pagus ist gewissermaßen die civitas im kleinen, ein zugleich örtlich und politisch abgegrenzter Kreis, von denen eine gewisse Zahl die civitas bilden."

2) Reminiszenz an Verg. Aen. II 325 fuit Hium et ingens gloria Teucrorum, aber mit verändertem Kasus wie Aen. II 21 Tenedos notissima fama\insula, nunc tantum sinus usw. Denn daß gloria Ablativ ist, wird jetzt von den meisten Er- klärern richtig angenommen (vgl. c. 29 inopiä audax wie Verg. g. IV 565 audaxatw iuventa), übrigens auch durch den Satzrhythmus (vgl. o. S. 194) bestätigt: parva nunc civitas ist cret. -f- cret., davon gloria ingens cret. -f spond. die katalektiscbe Form; um die Vokale nicht zusammenstoßen zu lassen, was einen auch in Prosa empfindlichen Hiatus ergäbe, lasse man nach gloria eine kleine Rezitations- pause eintreten, durch die das so isolierte ingens erst seine volle Wucht erhält (ähnlich c. 3 vox repercussu\intumescat <-»»--«- \-£\j-.J).

3) Zum Ausdruck vgl. Horaz ep. II 1, 160 hodieque manent vestigia ruris. Tacitus hat ihn auch in den historischen Schriften: die Stellen weiter unten im Abschn. IV dieses Kapitels.

4) Die Anlage eines Lagers kostete schwere Arbeit vieler Hände: vgl. ann. 161 Vari castra loco ambitu et dimensis prineipiis trium legionum manus osten- labant.

Der kriegsgeschichtliche Exkurs in Tacitus' Gennania 221

daß es naheliegt zu untersuchen, ob die Ähnlichkeit durch Gleichheit der Quelle bedingt sei. Aber auch abgesehen davon läßt der be- klagenswerte Zusammenbruch unserer Überlieferung über das erste Jahrzehnt der Kimbernkriege jede Ergänzung unseres Wissens er wünscht erscheinen. In den Geschichtswerken ist diese Taciteische Stelle nicht verwertet worden; begreiflich genug: ihr Verständnis muß. wie die belanglosen oder irrtümlichen Bemerkungen der Kommentare zeigen, erst erschlossen werden.

Der die Kimbern betreffende Teil des Exkurses wird eingeleitet durch ein in der Romantik der kaiserzeitlichen Literatur verbreitetes Motiv Schwund alter Volksherrlichkeit zu kümmerlichem Gegen- wartsdasein — *), das aber wohl nirgends mit so eindrucksvoller Kürze wie hier mehr angedeutet als ausgeführt wird: parva nunc civitas, sed gloria ingens. Das geschichtliche Material folgt in zwei Sätzen. Der zweite, auf den vorhin ausgeschriebenen Text folgende gibt bei Tacitus eine Seltenheit die zahlenmäßige Chronologie: sescentesi- mum et quadragesimum annum urbs nostra agebat, cum primum C'tm- brorum audita sunt arma2), Caecilio Meiello et Papirio Carbone con- sulibus, der erste uns hier angehende die einstige Volksziiier, diese aber nicht auch in nackten Zahlen, sondern in einer die Phantasie des Lesers anregenden Umschreibung, in der zugleich Stellung zu einer Streitfrage genommen wird. Denn die Worte „der Umfang der Lagerplätze gibt noch jetzt eine Beglaubigung für die Größe des Aus- zuges"3) erhalten ihre rechte Beziehung erst, wenn man erwägt, daß die fides umstritten war. Die Überlieferung schwankte zwischen 300000 Waffenfähigen (Poseidonios) bis zu fast einer halben Million (Livius)4); einige behaupteten, es habe sich nicht um eine auf ein-

1) Die Geschichte des Motivs ist kürzlich von A. Schulten, Die historische Topographie (N. Jhb. XXXVII 1916) 153ff., dargelegt worden. Vgl. auch Mela I 13, 1 locus . . . nunc ne minima quidem, tunc ingenti urhe celebris Isso fuit.

2) Hier ist eine durch die Klausel (cret. -f- troch.) markierte Rezitations- pause; der Klausel zuliebe die Wortstellung audita sunt arma.

3) In dem sehr gewählten exitus im Sinne von %!-odos mag noch der allen lateinischen Erzählungen voraufliegende griechische Primärbericht durchschim- mern; so sagte Poseidonios von den Anmärschen gerade der Kimbern gegen Italien Icpodoi: s. u. S. 237,3.

4) Plutarch (Mar. 11) verläßt nach dem ethnographischen Referate über die Herkunft der Kimbern, das wir können lernten (S. 98), den Poseidonios so

222 Kap. IV. Auf den Spuren der Bella Germaniae des Plinius

mal infolge einer Sturmflut ausgewanderte, sondern um eine allmählich, im Verlaufe vieler Jahre durch immer neuen Zuwachs aus der Heimat vermehrte Volksmenge gehandelt.1) Derjenige Schrift- steller also, dem Tacitus folgte, glaubte die großen Zahlen einer auf einmal erfolgten Auswanderungsmasse durch eine bis in die Gegen- wart hineinragende monumentale Überlieferung, Überreste gewaltiger Lagerplätze, bestätigt zu finden, und diese Schlußfolgerung erschien Tacitus bemerkenswert genug, sie weiterzugeben. Alle diese Über- legungen hat er, wie das seine Art ist, in einen kurzen Satz (veteris famae fkleni) zusammengedrängt, da er auf Leser rechnete, die An- deutungen nachzudenken fähig waren.

Ihnen durfte er auch zumuten, seiner raschen Führung vom ethnographischen auf das historische Gebiet folgend ihre Gedanken von dem sinus Germaniens, dem entlang er sie von c. 35 an (Ger- mania in septentrionem ingenti flexu recedit) geführt hatte, auf die utraque ripa zu richten. Die Ufer welches Flusses sie zu verstehen hatten, wird ihnen nicht fraglich gewesen sein. Aber hier beginnen nun die Zweifel von uns, denen die Primärberichte verloren sind.2) Für die Bestimmung der Ufer sind drei Flüsse in Anspruch ge- nommen worden. Die Elbe3) muß gänzlich außer Betracht bleiben,

sichtbar, daß man die Fuge erkennt. Diesem folgend hatte er zu Beginn des Kapitels die Zahl der Barbaren auf 300000 angegeben. Daran schließt sich der ethnographische Exkurs. Nach diesem geht es so weiter: ,,ihre Zahl war aber, wie von vielen berichtet wird, nicht geringer, sondern größer als die an- gegebene". Das ist die römische Quelle (Livius, der den Poseidonios mit an- nalistischer Überlieferung römischer Provenienz verband), der Plutarch neben Poseidonios folgte: tatsächlich finden sich in römischen Berichten, die auf Livius zurückgehen, Zahlen bis fast eine halbe Million, wie man aus Müllenboff II 168 ersehen kann. Die Maßlosigkeit der Zahlenangabe auch des Poseidonios wird etwas gemildert durch die in der folg. Anm. mitgeteilte Modifikation.

1) Plutarch a. a. O. Das wird die Ansicht des Poseidonios gewesen sein, der die Sturmflut-Hypothese ablehnte (Strabo VII 292 f.). Näheres darüber unten im VI. Kap., Abschn. 1 1.

2) „Die Stelle ist sehr unklar" M. Ihm, ß. E. III 2547.

3) So Job. Fr. Marcks, Bonner Jhb. XCV (1894) 34f. Die Deutung wird u. a. auch von Wissowa a. a. O. (o. S. 41,1) 667 abgelehnt. Sie hat nur von solchen aufgestellt werden können, die nicht begriffen, daß mit den Worten veterisque famae usw. das geographische Gebiet, das soeben durch den sinus Germaniens und den Oceanus bezeichnet war, verlassen und zu dem historischen übergegangen wird, auf dem sich die gloria ingens des Volkes abspielte.

Sprachliche Bezeichnung des Rheinufers 223

von allen sachlichen Gründen abgesehen auch deshalb, weil sie erst mehrere Kapitel später (41) erwähnt wird, noch dazu als ein Fluß, den man nur mehr von Hörensagen kenne. Die Donau findet wohl noch vereinzelte Vertreter, unzweifelhaft mit Unrecht, wie sich aus dem Kompositionsprinzip der Schrift leicht zeigen läßt. Von c. 28 an, mit dem der Völkerkatalog beginnt, folgt der Schriftsteller, wie es ja auch in der Natur der Sache lag, zunächst der Rheinlinie (c. 28 RJteni ripa zweimal, 29. 32. 34 Rhenus^, indem er die an diesem Strom und östlich von ihm an der Küste und im Binnenlande wohnenden Stämme aufzählt. Erst in c. 41 wählt er die Orien- tieruagslinie eines anderen Flusses, nicht ohne den Wechsel aus- drücklich zu vermerken: ut quo modo panlo ante lihenum sie nunc Danuvium seqiiar. Hieraus folgt, daß ein in c. 37 erwähntes Fluß- ufer von keinem Leser anders als das rheinische verstanden werden konnte. Aber auch abgesehen hiervon: Tacitus gebraucht ripa ohne jeden Zusatz wiederholt, darunter einmal auch im ersten Teile der Germania, vom Rheinufer1); und hist. IV64 steht utraque ripa von beiden Ufern eben dieses Stroms: auf germanischem Schauplatz der Erzählung löste diese Ausdrucksform offenbar mit Notwendigkeit die Vorstellung des linken und rechten Rheinufers aus, auch wenn der Name des Stromes nicht unmittelbar #dabei genannt war.2)

Wenn mithin einzig diejenigen im Rechte sind, die sich ohne Angabe von eigentlichen Gründen für die Deutung auf den Rhein entschieden3), so fragt sich zunächst, ob sie geschichtlich zu rechtfertigen ist. Es wäre bei dem Zustande unserer Überlieferung begreiflich, wenn sich in ihr der Rheinübergang der Kimbern, der

1) Ann. I 36. 38. hist. II 57. IV 24. Agr. 28. Germ. 17 proximi ripae. Die Beziehung auf den Rhein ist an mehreren dieser Stellen, darunter der letzten, aus dem Zusammenhange keineswegs ohne weiteres ersichtlich, aber der Sprachgebrauch war so fest, daß für den Leser ein Zweifel nicht ob- walten konnte.

2) utraque ripa fluminis, nämlich des soeben genannten Rheins, Caesar IV 2, 2. Germanien und der Rhein waren geradezu komplementäre Begriffe: vgl. meine Stellensammlung in den Sitzungsber. d. Berl. Ak. 1917, C69, 1.

3) Nicht einmal der Erwähnung im Texte wert schien mir MüllenhoftV Auffassung (II 112) „diesseits und jenseits des Rheins und der Donau"; sie ist sprachlich nicht zu rechtfertigen, da utraque ripa sich nur auf die beider. Ufer eines Flusses beziehen kann.

224 ^ap. '^ -^u^ ^en Spuren der Bella Gerinaniae des Plinins

ja zwischen ihrem Erscheinen in Noricura und in Gallien not- wendigerweise erfolgt sein muß, nicht erwähnt fände. Aber das Ereignis war doch so bedeutungsvoll es bezeichnet einen Mark- stein auf den abenteuerlichen Wegen des Wandervolkes , daß es der Aufnahme in einen Geschichtsabriß wert befunden wurde: tum Cimbri . . .') transcenderc Jthenum heißt es bei Velleius 11 8, 3 un- mittelbar nach Erwähnung eines Ereignisses aus dem Jahre 111 t. Chr.2)

Dieses Zeugnis sichert die soeben auf sprachlichem und ana- lytischem Wege gewonnene Beziehung der Taciteischen Worte auf den Rhein. Nun aber erhebt sich sofort die zur Antwort lockende, zunächst vielleicht verwegen erscheinende Frage, ob sich die Gegend des Rhein Überganges und damit auch die der Lagerplätze auf beiden Ufern genauer bestimmen läßt. In der Tat bietet uns die Über- lieferung eine Handhabe dazu. Denn über die Bewegungen des Heereszuges zwischen seinem Auftreten in Noricum und in Gallien sind wir durch ein namentliches Zitat aus Poseidonios bei Strabo VII 293 so weit unterrichtet, daß wir das Allgemeine mit voller Deutlichkeit erkennen. Danach zogen die Kimbern längs dem süd- lichen Ufer der Donau in das Gebiet der Helvetier. Diese gestatteten ihnen den Durchzug.3) Wenn wir nun annehmen, daß die Helvetier damals schon die nördliche Schweiz, das Land zwischen Jura und Oberrhein, innehatten, so ließe sich die Gegend, in der der Rhein- übergang der germanischen Heerscharen nach Gallien erfolgte, aufs genaueste bestimmen. Nun könnte sich freilich gegenüber jener Annahme ein Zweifel erheben, dessen Berechtigung wir erst prüfen müssen, bevor wir weitere Schlüsse ziehen.

1) Velleius sagt Cimbri et Teutoni, aber die Nennung der Teutonen, die erst viel später zu den Kimbern stießen, beruht auf einer auch sonst be- gegnenden Ungenauigkeit (vgl. Mommsen, R. G. II 183 Anm.).

2) Nämlich des Triumphes der beiden Brüder Metelli, der nach den act. triumph. in dieses Jahr fiel (vgl. Mommsen, Hermes II 1867, 106).

3) Eine Analyse des Berichts gibt Müllechoff II 152. 293, eine kleine Korrektur einer auch von Müllenhoff befolgten Annahme Mommsen, E. G. II 175 Anm.

Die Helvetier in Süd Westdeutschland 225

2. DER DURCHZUG DER KIMBERN DURCH DIE NORDSCHWEIZ (HELVETII) UND DIE FRANCHE-COMTE (SEQUANI)

Die Helvetier haben nicht von Anfang an ihre späteren Wohn- sitze eingenommen, sondern nach der bekannten Angabe des Tacitus (c. 28), die er einem vorzüglichen Gewährsmanne verdankte wir werden darauf zurückkommen , ursprünglich das Land zwischen Rhein, Main und Hercynischem Wald bewohnt, d. h. etwa Baden, Württemberg und das südliche Hessen.1) Von hier waren sie aus- gewandert, die verlassene Gegend hieß nun „das helvetische Ödland", ^ xciv ( EXovt]TL(Dv BQrjuog (Ptol. II 11, 7).2> Für die Zeitbestimmung dieser Auswanderung fehlt jede schriftliche Nachricht, und dadurch ist der Willkür Tür und Tor geöffnet. Die Helvetier, heißt es, haben während der Kimbernzüge noch ihre alten Sitze inne- gehabt, die Kimbern seien also beim Durchschreiten ihres Gebiets durch Süddeutschland gezogen, der Rheinübergang habe etwa bei Mainz stattgefunden , und folgerichtig wird nun danach der Heereszug auf linksrheinischem Gebiet in einer Weise konstruiert, die sich nur als eine Vergewaltigung der Überlieferung bezeichnen läßt Bei Mommsen ist davon noch nichts zu lesen, aber jetzt scheint sich diese Auffassung so festgewurzelt zu haben, daß sie auf ihre Gewähr nicht einmal mehr geprüft wird.3) Ja sie wird dann weiter

1) Die Nachricht des Taeitus war von Müllenhoff unbegreiflicherweise bezweifelt worden, aber R. Mach, Die Südmark d. Germanen (Beitr. z. Gesch. d. deutsch. Spr. u. Lit. XVII 1893) 2 ff., hat sie gerechtfertigt, und vor allem ist sie durch archäologische Entdeckungen, auf die wir gleich zu sprechen kommen werden, über jeden Zweifel hinausgehoben worden und gilt jetzt mit Recht als eine der wichtigsten geschichtlichen Angaben der Taciteischeu Schrift.

2) Dieser Bezeichnung entspricht i\ Boiwv iQrm,iu Strabo VII 292, deserta Boiorum Plinius IV 146 (aus Agrippa). In der Ora maritima des Avienus 132ff. ist deutlich eine Aiyvcov igimicc des Originals in lat. Versen paraphrasiert . Prototyp war die sehr alte sprichwörtliche Zkv&mv ip7jfu'a Hippokr. de aere 18. Aischylos Proni. 2 Aristoph. Ach. 704 (so wohl schon Hekataios), was die Lateiner übersetzten (ohne jedoch den Rhythmus wiedergeben zu können) Scytharum (oder Scythiae) deserta: Belege im Thes. 1. 1. V 689; vgl. die poetische Paraphrase Varros im „Prometheus" sat. 42f< late incolens | Scytharum inhospi- talis campis vastitas.

3) Z. B. J. De"chelette, Manuel d'archeologie pröhistorique II 3 (Paris 1914) 941, etwas zurückhaltender S. 1063. J. Heierli, Urgesch. d. Schweiz (Zürich 1901) 428. In einer Züricher Diss. vom Jahre 1898 spricht A. llelbling

Nordeu: Die germanische Urgeschichte 15

226 KaP- IV- Aaf den Spuren der Bella Germaniae des Plinius

zu völkergeschichtlichen und chronologischen Kombinationen aus- gebeutet, die von solcher Tragweite sind, daß man sich hüten sollte, sie ohne die bestimmteste Beglaubigung auch nur anzudeuten: eben die Kimberninvasion sei der Anlaß gewesen, daß die Helvetier ihre alten Sitze verlassen hätten, und die Besetzung des nunmehr ver- ödeten Landes durch germanische Stämme sei danach zeitlich zu bestimmen. Gegenüber solchen Luftschlössern leichten Gedanken- spiels lohnt es sich, einen Blick auf Tatsachen bodenkundlicher Forschung zu werfen, die zumal angesichts der ganz dürftigen schriftlichen Überlieferung nie hätte außer acht gelassen werden dürfen. Über die Helvetierfrage ist nämlich das richtige Wort schon in aller Kürze ausgesprochen worden. E. Fabricius hat in seinem

(Der Zug d. Cimbern u. Teutonen) 40 ff. von diesen Dingen mit einer ver- blüffenden Zuversichtlichkeit. Er weiß sogar, daß die Kimbern, um in da» Land der Helvetier zu gelangen, die Donau etwa bei Passau am Einfluß des Inn überschritten haben. Auch B. Niese, Keltische Wanderungen (Z. f. deutsch. Alt. u. Litt. N. F. XXX 1898, 153, 4), und L. Schmidt in seiner Gesch. d. deutsch. Stämme II (in: Quellen u. Forsch, z. alt. Gesch. u. Geogr. XXIV 1911) S. 9 haben sich ganz auf den Boden dieser Ansicht gestellt, ersterer mit einer ge- wissen Zurückhaltung (die Auswanderung der Helvetier sei „vielleicht zur Zeit des Sullanischen Bürgerkriegs'1 erfolgt), letzterer ohne Vorbehalt. Dabei läßt er den Rheinübergang der Kimbern wie Helbling etwa bei Mainz stattfinden. Unter solchen Umständen ist es begreiflich, wenn ein angesehener Germanist (Fr. Kauffmann, Deutsche Altertumskunde 1913, 232 f.) sioii der communis opinio anschloß. Als die eigentliche Quelle des Irrtums hat sich mir die Be- rufung auf die berühmten Weihinschriften an den Mercurius Cimbrianus (CIL. XIII 6604. 6605, vgl. 6742) ergeben, die in der Gegend von Miltenberg am Main, nur einige hundert Schritte entfernt von dem nicht minder be- rühmten Grenzsteine der Toutoni (ebd. 6610 etwa aus Domitianischer Zeit) ge- funden worden sind (vgl. jetzt: Der obergerm -raet. Limes, Lief. XXXIV 1911, 52 ff.) und die auf Reste eines hier bei dem befreundeten Teutonenstamme zurückgebliebenen Haufens der Kimbern bezogen zu werden pflegen. Allein die Verwertung dieser Inschriften für die Ermittlung der Topographie der Kimberninvasion in Gallien nach dem Jahre 111 beruht auf einem schweren Irrtum. E. Fabricius bemerkt in seiner gleich im Text zu nennenden Schrift (S. 21), ohne jener falschen Kombination überhaupt Erwähnung zu tun, mit Recht, daß nach unserer geschichtlichen Überlieferung der Kriege die Los- lösung einzelner Scharen beider Stämme vom Hauptzuge nicht vor dem Jahre 103 erfolgt sein könne, und vermutet scharfsinnig, sie hätten sich nach der Vernichtung ihrer Stammesgenossen vor der Rache der durch ihre Raub- züge heimgesuchten Gallier in die Helvetier-Wüste gerettet.

Auszug der Helvetier aus Südwestdeutschland in die Nordschweiz 227

Büchlein „Die Besitznahme Badens durch die Römer" (Heidelberg 1905), das sich zwar zunächst an die weiteren Kreise der für vater- ländische Geschichte Interessierten wendet, dem aber auch die Alter- tumsforschung reiche Belehrung verdankt, die Ergebnisse der zum guten Teil von ihm selbst ausgeführten Bodenforschung in die Worte zusammengefaßt (S. 18): „Die Räumung des Landes durch die Kelten ist nicht mit einem Male erfolgt, sondern nach und nach sind die Bewohner im Laufe des III. und des IL Jahrh. v. Chr. Geb. ausgewandert." Wenn dies richtig ist und in späteren archäolo- gischen Schriften wird es, soviel ich gesehen habe, nicht bezweifelt , so kommt dadurch die erwähnte Hypothese, wonach der Auszug der Helvetier aus Südwestdeutschland in die Nordschweiz erst kurz vor oder gar nach 100 v. Chr. erfolgt sein soll, mit all ihren abenteuer- lichen Folgerungen für die Richtung des Kimbernzuges zu Fall. Es verhält sich vielmehr gerade umgekehrt: die Räumung des Landes war zur Zeit des Kimbernkrieges bereits vollzogen. Natürlich darf man es sich nicht so vorstellen, als ob die Ptolemäische Bezeichnung „Helvetieröde" buchstäblich zu verstehen sei: Fabricius weist auf zahlreiche Spuren hin, die auf ein wenn auch spärliches Verbleiben helvetischer Bevölkerung in der alten Heimat bis gegen Ende det; II. Jahrh. v. Chr. schließen lassen. Aber die Hauptmasse hatte ihre neuen Sitze in der Schweiz damals bereits seit mehreren Generationen inne.1)

Dieses Ergebnis bodenkundlicher Forschung läßt sich durch die numismatische sichern. R. Forrer, Keltische Numismatik der Rhein- und Donaulande (Straßb. 1908), hat aus der Streuung der ältesten keltischen Goldmünzen von Philippergepräge und aus dem Vorkommen von Original-Philippern auf keltischem Boden einen Rückschluß auf die Hand eis wege der späteren Hallstatt- und der Früh-La-Tenezeit

1) Mommsen war also berechtigt, zu schreiben (R. G. II7 166, ebenso schon in der 1. Aufl.), daß die Helvetier um die Mitte des II. Jahrh. v. Chr. „vom Gen- fer See bis zum Main sich erstreckend die heutige Schweiz, Schwaben und Franken innegehabt zu haben scheinen". Gerade diese vorsichtige Fassung zeigt, daß schon er alle Möglichkeiten erwog; das Urteil wird nur insofern etwas zu modi- fizieren sein, als die süddeutschen Teile damals schon im Zustande teils voll- zogener, teils im Gange befindlicher Räumung waren. Ich erwähne Mommsens Auffassung nur, weil unlängst ein Anfänger sie in ihrer Gesamtheit bestritten hat, natürlich ohne Kenntnis von der archäologischen Forschung zu besitzen.

16*

228 ^ap. ^ -^u^ den Spuren der Bella Germaniao des Pliniun

gezogen, oder vielmehr: er hat aus seinem Material eine neue Be- stätigung längst bekannter Tatsachen gewonnen.1) Die Ausfuhr ita- lischer Waren nach den transalpinen Ländern erfolgte damals weniger direkt über die noch fast unbegangenen Alpenpässe als auf dem Um- wege über Massilia. Von hier aus gelangten die Waren über die Rhone zum Genfer See, von diesem zum Neuenburger und Bieler See, dann die Aare aufwärts zum Rhein. Die in der Schweiz gefunde- nen keltischen Münzen von Philippergepräge, die dem frühen IL, möglicherweise noch dem III. Jahrh. angehören2;, wagt Forrer nun aber nicht als „helvetisch" zu bezeichnen, weil damals die Helvetier noch nicht in der Schweiz gesessen hätten. Er nennt sie mit beliebtem Verlegenheitsbegriff3) „pro tohel vetisch": beispielsweise schreibt er (S. 273): „Welche Stämme damals die Schweiz okkupierten, ist unbekannt. Jedenfalls waren ihre Einwohner, nach den frühen Keltenmünzen zu schließen, bereits ein stark mit keltischen Elementen durchsetztes und kulturell auf ziemlich hoher Stufe stehendes Vöi- kergernisch", oder sS. 303): „Wer jene Protohelvetier waren, weiß man noch heute nicht," worauf er dann eine Hypothese („Protohel-

1) Beispielsweise möchte ich auf den Vortrag F. von Duhn, „Die Benutzung der Alpenpässe im Altertum'- (Neue Heidelberger Jhb. II 1892, 55 ff.), hinweisen.

2) Über die Chronologie teilt mir K. Regling folgendes mit: „Zu dem An- satz ins III. Jahrh. gelangt Forrer dadurch, daß diese Münzen dem Original im Stil und Gewicht noch verhältnismäßig nahe stehen; das sind die von ihm S. 303 aufgezählten Stücke tatsächlich. Indessen daraus einen Schluß auf ihre absolute Chronologie zu ziehen, ist voreilig, denn bei dem von F. selbst S. 245 betonten langen Umlauf der Originale kann man ein solches ebensogut auch im II. Jahrh. noch vor Augen gehabt und leidlich treu kopiert haben. Da es sich aber in der Tat um eine größere Anzahl von Beispielen handelt, so wird man F. wohl zugeben müssen, daß diese Schweizer Nachahmungen eher im III. als im II. Jahrh. entstanden sein werden."

'■'<) Ich bin, da er sich jetzt ziemlicher Beliebtheit zu erfreuen scheint, seiner Prägung etwas nachgegangen und glaube, daß V. Groß in seinem Werke Les Protohelvetes ou les premiers colons sur les bords des lacs de Bienne et Neu- chatel (Berl. 1883) als sein Erfinder zu gelten hat, vgl. S. 105 „la race lacustrc ou si l'on veut la dösigner par un nom special la race protohelvete". Für die Bezeichnung der prähistorischen Bewohner der Pfahlbauten erscheint er passend. ; ber bei seiner Übertragung auf historische Verhältnisse dürfte Vorsicht ge- boten sein. Dagegen fällt auf die vorhelvetische Bevölkerung der Nordschweiz durch die oben (S. 206 f.) besprochene Tacitusstelle, wenn ihre Deutung zutrifft, ein Dämmerlicht der Geschichte.

Auszug der Helvetier aus Südwestdeutschland in die Nordschweiz 229

vetische Arverner oder arvernische Protohelvetier") aufstellt, die sich nicht weiter erörtern läßt. Dies alles ist ja nur ein Ausdruck der Verzweiflung über die Chronologie der Helvetierauswanderung: der Numismatiker ist das Opfer einer Falschdatierung geworden, die nun gerade auch durch seine Sammlung berichtigt wird. Denn aus ihr ist in voller Übereinstimmung mit den erwähnten Bodenforschun- <ren zu ersehen, daß die Helvetier in der Tat schon um die Wende des HI. und IL Jahrh., vielleicht schon im Laufe des III. angefangen hatten, die Nordschweiz zu besetzen, wo sie die schönen Goldmünzen Königs Philippos (II) teils über Massilia empfingen, teils, so gut sie es vermochten, nachprägten.

An diesem Punkte der Untersuchung empfiehlt es sich, die schon kurz erwähnte Angabe unseres ältesten literarischen Zeugen für den Durchzug der Kimbern durch das helvetische Gebiet etwas genauer zu betrachten. „Poseid onios sagt," heißt es in dem ersichtlich aufs stärkste zusammengedrängten Referate bei Strabo VII 293 , „daß die Helvetier, von den Bojen zurückgeschlagen, zu den am Istros wohnenden galatischen Skordiskern gezogen seien, dann zu den Teuristen und Tauriskern, die ebenfalls Galater waren, darauf zu den Helvetiern. Dies waren goldreiche und friedfertige Menschen 5 als sie jedoch sahen, daß der von den Kimbern auf ihren Raubzügen zusammengebrachte Reichtum noch größer war als der ihrige, er- hoben sie sich (und zwar vorzugsweise zwei ihrer Gaugenossen- schaften, die Tiguriner und Toy gener) und rückten, im Bunde mit den Kimbern, auch ihrerseits aus." Wo dachte sich Poseidonios diese 'EXovrftxioL x,o\v%qv6oi wohnhaft, in der Schweiz oder in Süd deutschland? Die Antwort auf diese F*age kann nicht zweifelhaft sein. Denn Strabo hat diesen Bericht, nur etwas verkürzt, schon im IV. Buche vP- 193) gebracht hier signiert er ihn mit cpaöi, worunter er außer Poseidonios auch Timagenes versteht1) , und da steht er inmitten seiner Beschreibung Helvetiens, das für ihn die Schweiz und nichts anderes ist. Diese seine Ausführungen wären, wenn nicht auch dem Poseidonios, den er inmitten ihrer zitiert, die Helvetier als Insassen der Schweiz gegolten hätten, bis zu dem Grade widersinnig, daß allein schon der Hinweis hierauf ge-

1) Im IV. Buche der Keltike ist sein Hauptführer Timageneß, der seiner- seits den Poseidonioe benutzt hatte: A.Klotz, Caesarstudien (Leipz. 1910) 66.

230 Kap. IV. Auf den Sparen der Bella (xermaniae des Pliniue

nügen müßte, die moderne Hypothese zu widerlegen. Denn selbst der Ausweg, sie dadurch aufrechtzuerhalten, daß man Strabo eines unerhörten Irrtums ziehe (den dann auch Timagenes auf sich ge- laden hätte), wäre ungangbar, da Poseidonios, wie wir noch sehen werden, und ihm auch dort folgend Strabo den weiteren Verlauf des Kimbernzuges in einer Richtung sich vollziehen lassen, die jedes Miß- verständnis Strabos hinsichtlich der Topographie ausschließt.

Ein eigenartiges Interesse gewinnt diese Erörterung noch durch folgende Beobachtung. Poseidonios muß sich, wie es seine Art war, bei Gelegenheit der Erwähnung der Helvetier ausführlicher über diesen Volksstamm verbreitet haben, über den er ja in Massilia leicht genaue Kunde einziehen konnte; und bezeichnenderweise für ihn, der sich für Metallurgie allenthalben besonders interessiert zeigt, war es gerade der Goldreichtum der Helvetier, dem er seine Auf- merksamkeit zuwandte. Bei Strabo ist aus dieser seiner Darlegung nur die Bezeichnung iioIviqvöoi übriggeblieben; aber etwas mehr verdanken wir dem Athenaeus VI 233 D: „In den fernsten Gegenden der bewohnten Erde führen Flüßchen (jrorcfyua) Goldstaub; Männer und Frauen, schwach an Körper, reiben ihn mitsamt den Sand- massen, sondern und waschen ihn und bringen ihn dann auf den Schmelztiegel. So geschieht es nach Angabe meines Poseidonios1) bei den Helvetiern und einigen anderen Kelten." Sollten diese Flüßchen sich vielleicht namhaft machen lassen? Zum Zweck der Beantwortung dieser Frage habe ich mich etwas näher mit der geo- logisch-mineralogischen Literatur über die Schweiz beschäftigt, nicht ohne Erfolg, wie mir scheint. Es gilt als durchaus feststehend besonders die Arbeiten eines französischen Geologen, eines Spezia- listen auf diesem Gebiete, waren dafür grundlegend2) , daß der (ehemalige) Goldreichtum des Rheins diesem einzig durch die Aare zugeführt wurde. Die Aare selbst erhielt ihn aus ihren Nebenflüssen, darunter einem unmittelbaren, der nahe bei Solothurn (dem alten

1) Die Dialogperson, der Athenaeus diese Worte in den Mund legt, ist ein Philosoph Pontianos aus Nikomedeia.

2) A. Daubree, Memoire aar la distribution ' de Tor dans le gravier du Rhin, in: Bulletin de la societe" göologique de France III (1846) 458 ff. In dem Handb. d. Mineralogie von C. Hintze I (Leipz. 1904) 257 ist der Inhalt dieser Abhandlung, ohne Zitat derselben, wiederholt.

Goldhaltigkeit der Quellflüsse des Rheins 23 i

Saloduruni) in sie mündenden Emme, und einem ebenfalls Emme heißenden, die ihr Wasser nahe bei Luzern der Keaß zuführt, dem bei Windisch (Vindonissa) in die Aare mündenden Flusse.1) Der Lauf der 'Großen' Emme beträgt, die Windungen mitgerechnet, 80 km, derjenige der 'Kleinen' Emme 60 km. Diese Maße könnten für die Bezeichnung als %qx&\liu. vielleicht noch etwas zu reichlich erscheinen. Nun aber erhalten die beiden Emmen ihrerseits das Gold erst aus kleinen Zuflüssen. Dies war schon von jenem französischen Geo- logen bemerkt worden; ich möchte dafür aber einige Sätze aus dem „Geographischen Lexikon der Schweiz" II (1904) anführen, die sich in dem Artikel über die Geologie des Emmentals (d. h. Tal der Großen Emme) finden: „Wie schon die mehrmals vorkommenden Flußnamen Goldbach im Gebiete der Grünen und der in die Kleine Emme fließenden Fontannen und die Ortsnamen Ober- und Nieder- Goldbach besagen, finden sich besonders in der Nagelfluh des Napf Goldkörner eingelagert. In früherer Zeit, vielleicht schon von den alten Helvetiern, deren Goldreichtum gerühmt wird, wurde dies Gold gewaschen und von den bernischen und luzernischen Regierungen im XVII. und XVIil. Jahrh. auch zu Goldmünzen geprägt; bis in die Mitte des XIX. Jahrh. wurde in Bannwil bei Aarwangen in der Aare Gold gewaschen, das ihr von der Emme zugeführt wurde. Das Gold findet sich nicht in Adern, sondern als Blattgold in Goldseifen und rührt offenbar von einem zertrümmerten Gebirge her, dessen Gesteine durch einen Strom hier als Delta abgelagert worden sind. Speziell die Bäche der Napfgruppe (Grünen, Goldbach, Trubbach, Fontannen, Lutheren und Wigger) führen Gold, das sie besonders aus den tieferen Lagen des Gebirgszuges bringen." Wie man sieht, hat der Verfasser dieses Artikels auch der „alten Helvetier" gedacht, deren Bezeichnung als „die goldreichen" ihm irgendwie aus Posei- donios-Strabo vermittelt worden war; hätte er auch das Poseidonios- Athenaeuszitat über die helvetischen Goldwüschereien gekannt, so würde er sich wohl noch bestimmter ausgedrückt haben. Denn es darf nun wohl als sicher bezeichnet werden, daß die Posidonischen noxayua mit den beiden Emmen oder deren goldführenden Zu- flüssen identisch sind; aus anderen Artikeln des genannten Lexikons

1) Die beiden Emmen sind in die am Schluß dieses Buches befindliche Karteuskizze eingetragen worden.

232 Kap. IV. Auf den Spuren der Bella Germaniae des Plinius

ist zu ersehen, daß die Länge der genannten Zuflüsse 0,8 (Lutheren), 8 (Goldbach), 19 (Grünen) km beträgt (über die anderen drei fehlen Angaben). Die Verhältnisse sind merkwürdig stabil geblieben: wenn wir soeben lasen, daß kantonale Regierungen bis ins XVill. Jahrh. aus dem Golde der Großen Emme Münzen prägten, wenn in einem anderen* Artikel desselben Lexikons (1 1902 S. 700) dasselbe von der Kleinen Emme gesagt wird, so gedenken wir dabei der oben (S. 207 f.) erwähnten, in der Schweiz gefundenen keltischen Goldstatere, die den massaliotischen nachgeprägt worden sind. Aber noch mehr: der Name „Emme" ist aus einem keltischen Worte entwickelt, und dieses bedeutet eben „Flüßchen", 7tord[i,iov})

Durch dieses Ergebnis wird der topographische Teil unserer Untersuchungen überraschend bestätigt: denn das Lokal, innerhalb dessen sie sich weiterhin noch öfters bewegen, ja, das gelegentlich in ihren Mittelpunkt treten wird, ist das Flußgebiet der Aare sowie der in ihm gelegenen alten Keltenplätze Vi'ndonissa, Salodurum und ihrer Nachbarorte. Einstweilen verlassen wir jedoch für einen Augenblick des Gebiet der Helvetier, um uns ihren Nachbarn, den Sequanern, zuzuwenden.

Eine Spur nämlich selbst unserer trümmerhaften Überlieferung scheint es zu ermöglichen, die .Richtung des kimbrischen Heeres- zuges nach seinem Austritt aus dem Helvetiergebiete zu bestimmen und so eine abermalige Bestätigung dafür zu gewinnen, daß unter diesem die Schweiz verstanden werden muß. Plutarch erzählt in dramatisch eindrucksvoller Weise (Marius 24) eine Begebenheit, die sich erst Jahre nachher, kurz vor der Niederlage der Kimbern bei Vercellae (101), abgespielt hatte. Damals ließ Marius, indem er sich mit den Barbaren ein grausames, hier nicht weiter zu berich- tendes Spiel erlaubte, den Gesandten der Kimbern die Häuptlinge der Teutonen gebunden vorführen: „sie waren nämlich in den Alpen auf der Flucht von den Sequanern gefangen genommen worden" (idlcoGccv yuQ hv ralg "Alnsöt (pevyovrsg vitb Urjxovav&v)*) Die

1) „Gall. ambis „Fluß", das uns das sog. Endlicher Glossar als ambe rivo überliefert. Die Vermutung, daß kymr. avon, ir. abann verwandt sind, liegt nahe": Mitteilung von Kuno Meyer.

2) Das hatte aus Poaeidonios auch Livius berichtet und den Namen des Oberhäuptlings Teutobad genannt: die Stellen (darunter besonders Florus I 37

Die Kimbern und die Sequaner 233

Häuptlinge hatten sich also auf ihrer Flucht offenbar nach der Niederlage bei Aquae Sextiae (102) zu den Sequanern gewandt in der Hoffnung, bei ihnen Aufnahme und Schutz zu finden; sie scheinen mithin Beziehungen zu ihnen unterhalten zu haben.1) Nun waren die Sequaner Nachbarn der Helvetier, seitdem diese in der Schweiz saßen, von ihnen nur durch den Jura getrennt2); noch im ausgehenden Altertum zerfiel die Maxima Sequanorum, eine Provinz der gallischen Diözese, in vier Stadtbezirke (civitates), von denen eine, die civitas Vesontiensium, das alte Sequanerland, die spätere Freigrafschaft ßurgund, eine andere die civitas Helvetiorum mit der Hauptstadt Aventicum (Avenches im Kanton Waadt) umfaßte.3) Das führt zu der Annahme, daß die Kimbern, nachdem sie das Land der Helvetier bis zur allobrogischen Grenzstadt Genava (Genf) durchzogen hatten4), am rechten Ufer der Rhone durch einen Eng- paß der südlichen Ausläufer des Jura (Pas de l'Ecluse) in das Ge- biet der Sequaner5) gelangt waren, die ihnen, wie die Helvetier, den Durchzug gestatteten; dieses Vertragsverhältnis dehnten die Se- quaner späterbin auf die Teutonen aus, brachen es aber, als deren Niederlage erfolgt war. Für die Kimbern war dies der einzige Weg, den sie hatten wählen können, wenn sie nicht durch Übertritt auf das linke Rhoneufer und Durchquerung des von den Römern

cum fxgeret ..., proximo in saltu comprehensus) bei M. Haupt Opusc. III 571 f.. wo auch die Namensform besprochen ist.

1) Diese hier nur vorsichtig geäußerte Vermutung wird weiter unten (S. 235f.), wo wir von einem Bündnisse der Kimbern mit den Sequanern hören werden, zur Gewißheit werden.

2) Caesar I 8, 1 mons Iura qui fines Sequanurum ab Helvetiis dividit. Strabo (aus Timagenes) IV 193, gleich nach Besprechung der Helvetier: hbtu Sb rovg 'ElovriTtiovg ZrfxoavoL ... Iv 6h xoig £j]Y.oavoig £6ri zb ögog 6 IovqÜ- tfiog, diogifei <?' 'Elovr}TTiov$ xal Zr\y.ouvovg.

3) Vgl. W. Oechsli, Zur Niederlassung der Burgunder u. Alamannen in der Schweiz, Jhb. f. Schweiz. Gesch. XXXIII (1908) 229.

4) Auf diesem Wege mußten sie die Aare an ihrem Oberlaufe überschreiten. Das bot keine Schwierigkeit, da das Flußbett hier nur eine Breite von 70—210 m hat (Der Rheinstrom und seine wichtigsten Zuflüsse, herausg. von dem Zentral- bareau f. Meteorol. u. Hydrographie im Großherzogt. Baden, Berl. 1889, 56).

5) H. Philipp wird im Anhang V dieses Buches zu zeigen versuchen, daß die Sequaner bei der Helvetiereinwanderung auch von Genf bis Bern saßen und dies Gebiet bis nach den Kimbernkriegen behaupteten, das ihnen Caesar nach Niederwerfung der Helvetier zurückgab.

234 Kap. IV. Auf den Spuren der Bella Germaniae des Plinius

zehn Jahre vorher unterworfenen Gebietes der Allobroger (im Norden der Dauphine) die lloheitsrechte der Provinz verletzen wollten. Die Verhältnisse haben sich genau in derselben Weise noch zweimal wiederholt. Zum ersten, als bald darauf (107 oder etwas eher) zwei Gaugenossenschaften der Helvetier selbst, durch das Beispiel der Kimbern ermutigt, in Gallien eindrangen: das lasen wir oben (S. 229) mit den Worten des Poseidonios in dem Referate Strabos. Zum zweiten Male, als im Jahre 58 Caesar das gesamte Volksheer der Helvetier zwang, bei seinem Auszuge jenen viel weniger bequemen Weg durch den Engpaß zu wählen, der jedoch selbst für so große Massen gangbar war, vorausgesetzt nur, daß die Sequaner ihn nicht sperrten.1) Man braucht sich, um die Zusammenhänge, die zwischen diesen Völkerzügen obwalteten, zu erkennen, nur daran zu erinnern, daß der helvetische Führer Divico, der im Jahre 107 als Jüngling die Teile der Helvetier geführt hatte, als Greis noch für die Gesamt- macht seines Volkes mit Caesar verhandelte (Bell. Gall. I 12, 5. 13, 2). Nun stammt die von Plutarch berichtete Episode anerkanntermaßen aus Poseidonios2): wir sind also berechtigt, das grundlegende, oben (S. 229) angeführte Strabonische Poseidonioszitat über die Richtung des Kimbernzuges in dem Sinne zu ergänzen, daß dieser Bericht- erstatter die Kimbern aus dem Helvetierlande durch das der Sequaner in das innere Gallien gelangt sein ließ. Offenbar sind es Er. wägungen dieser Art gewesen, auf Grund deren Mommsen schrieb (R. G. II 175): „Mehr durch Vertrag mit den Helvetiern und den Sequanern als durch Gewalt der Waffen eröffneten die Kimbern sich den Weg auf das linke Rheinufer und über den Jura."3)

1) Caesar I 6 tränt omnino itinera duo, quibus itineribus domo exire possent: unum per Sequanos, angustum et difficile, inter montem Iuram et flumen Rhodanum, vix qua singuli carri ducerentur, 7twns autem' altissimus impendebat, ut facile perpauci prohibere possent; alterum per provinciam nostram multo facilius atque expeditius, propterea quod inter fines Helvetiorum et Allo- brogum . . . Rhodanus fluit isque non nullis locis vado transitur . . . (Diesen zweiten Weg verlegte ihnen Caesar). 9 Relinquebatur una per Sequanos via, qua Sequanis invitis propter angustias ire non poterant . . . Itaque a Sequanis impetrat (Dumnorix) ut per fines suos Helvetios ire patiantur.

2) Dies ist die Zweitälteste Erwähnung der Sequaner; vor Poseidonios hatte sie schon sein Vorgänger Artemidoros erwähnt (Steph. Byz.).

3) Der letztere Ausdruck ist wohl etwas ungenau. Sie werden denselben

Die Kimbern und die Sequaner 235

Mithin ist die Frage, ob die Helvetier schon zur Zeit der Kimbernzüge in der Nordschweiz saßen, unbedingt bejahend zu be- antworten1), und es steht für uns nichts im Wege, diese Annahme für weitere Schlüsse zu verwerten.

Bevor wir dazu übergehen, wollen wir versuchen, eine andere, ebenfalls mißdeutete Strabostelle in ihr Recht einzusetzen: sie geht der vorhin besprochenen (IV 193) fast unmittelbar voraus, ist mit ihr, wie wir sehen werden, durch Quellengemeinschaft verbunden und bietet vor allem eine erwünschte Bestätigung des dargelegten Verhältnisses der Kimbern zu den Sequanern. Bei Strabo heißt es in der Beschreibung des Lugdunensischen Galliens IV 192: „Zwischen dem Liger und dem Arar wohnt das Volk der Aeduer, in deren Gebiet Kabyllinum2) am Arar und die Festung Bibrakte liegt. Die Aeduer nannten sich Verwandte der Römer3) und schlössen als erste der dortigen Völker Freundschaft und Bündnis mit ihnen. Jenseits des Arar wohnen die Sequaner. Sie haben seit langer Zeit sowohl mit den Römern als auch mit den Aeduern Mißhelliffkeiten, weil sie oft auf die Seite der Germanen bei deren Anmärschen auf Italien traten; dabei erwiesen sie sich als recht beträchtlicher Macht- faktor: in demselben Maße nämlich als sie die Germanen durch ihren Anschluß stärkten, schwächten sie dieselben durch ihren Ab- fall. Auch das Verhältnis der Sequaner zu den Aeduern erklärt sich hauptsächlich aus diesen Gründen, doch wurde die Feindschaft

Weg genommen haben wie die Helvetier; dieser führte aber, wie die neuere Caesarforschung zeigte, durch den Pas de l'Ecluse zwischen Jura und Rhone.

1) Unabhängig von mir und von ganz anderem Gesichtspunkte aus ist H. Philipp zu dem gleichen Ergebnisse gelangt, das er im Anhang V dar- legen wird.

2) Die Abweichung in der Lautierung von dem seit Caesar üblichen Cabillonum (Chälon-sur-Saöne) ist bemerkenswert.

3) Die Überlieferung bietet ol dh AlSovoi xal evyyevstg 'Pay.aioav «uvoftä- £ovzo xal TCQ&toi t&v ravty 7iQ06fjXd-ov itQog xr\v cpiXlav xal 6v[i[iaxictv. 0. Hirschfeld (Kl. Sehr. 194, 3) u. a. wollen nach xal 6vyy£vslg die Worte xal aSslcpol einschieben. Das ist nach den derselben Quelle (Poseidonios) ent- nommenen Worten Diodors V 25, 1 <bv (niiml. xwv rfjg TaXariag i&väv) £v fön itQog ' Pcoy.aiovg %%ov cvyyivEiav TtaXawv xal qiiXiav nicht wahrscheinlich und wird durch meine Darlegungen über die Titulatur cvyysvsig Sitzungsber. d. Berl. Ak. 1918, 112, 1 nicht empfohlen.

236 ^ap. W- Auf den Spuren der Bella Germaniae des Plinius

verschärft durch den Streit um den sie trennenden Fluß: jedes der beiden Völker behauptete nämlich, der Arar sei sein Eigentum, und ihm kämen die Überfahrtsgebühren zu. Jetzt aber steht alles unter römischer Herrschaft."1) „Böswillig und zugleich dumm" hat Müllenhoff (D. A. II 294) Strabo wegen des hier über das Verhält- nis von Sequanern zu Germanen Gesagten gescholten. Wer einem Manne von der Bravheit und Bildung Strabos dergleichen Prädi- kate erteilt, erweckt den Verdacht, ihn mißverstanden zu haben.-)

1) Die die Sequauor betreffenden Worte lauten im Original: itioav dh rov "Aoagog oixovGLV ol SrptOttvol, diäyoooi xccl rotg 'Pa>[iuioig in. tioXXov yc— yovorsg xal rolg Aidovoig, ori TCQog rsouavovg TtQ06£%<ßQOvv ■noXXaxig xutcc rag iqpöäovg ccvTcbv rag inl rr\v 'IzaXiav, -aal i7tedslxvvvz6 ye ov rrtv rv%ov6av dvva- \liv, aXXa xccl xotvcovovvrsg avroig inoiovv ^isyäXovg xal ucpiGzäpsvoi ynxgovg TtQog ob xovg Alöovovg xal 8ia ravra fiev, ccXX' inirsive z^v hx&Qav tf x°v Ttova^iov tQtg rov äiEigyovzog avzovg, szazioov rov H&vovg iölov ä^iovvrog slvat. rov "Agaga xal eavzco itgoor^xziv ÖLayayixa ziXr\. vvvl dJ vtiö rolg 'Pofiaioig aitavz' iari. Die von einigen empfohlene Einschiebung von rolg (ihv 'P(oy.aioig nach Aidovoig ist sicher unrichtig; es ist ein bekannter (mir besonders aus Aristoteles geläufiger) Sprachgebrauch, bei ergänzender Ausführung eines zweigliedrigen Ausdrucks das erste Glied, das sich der Leser selbst ergänzt» nicht zu wiederholen, sondern nur das zweite, vom Anfang weiter abgerückte (hier also itghg Sh zovg Alöovovg).

2) Müllenhoff ist hier, wie öfters, ein Opfer seines Vorurteils gegen Strabo geworden, den er bei anderer Gelegenheit einen „argen Tölpel" nannte. Er behauptet alles Ernstes, es liege eine Übertreibung von Caesar I 31 vor. Dort steht: factum esse uti ab Arvernis Seqüanisque Germuni mercede arcesserentur, nämlich gegen die Haeduer; vgl. den (von Müllenhoff vergessenen) Parallel- bericht VI 12, 2 hi (Sequani) cum per se minus valerent . . ., Germanos atque Ariovistum sibi adiunxerant eosque ad se magnis iacturis pollicitationibusque perduxerant. Was dies mit dem Strabonischen Berichte zu schaffen habe, dürfte Müllenhoff schwer gewesen sein anzugeben; in der Tat sagt er selbst es sei weder wahr noch auch nur verständlich, was Strabo aus dem Caesarischen Bericht gemacht habe. Nicht besser glückte es H. Wilkens, Quaestiones de Strabonis . . . fontibus (Diss. Marb. 1886), der Strabos Angaben eine Mißdeutung der Caesarischen über das Verhältnis von Sequanern und Germanen sein läßt. G. Kossinna (Beitr. z Gesch. d. deutsch. Spr. u. Litt. XX 1895, 294) bezeichnet die Stelle als auf den ersten Blick rätselhaft und schreibt dann: „Es ist das nur eine Spezialisierung der Idee, daß in den italischen Gallierkämpfen Kelten und Germanen vom Oberlauf der Rhone und des Rheins gemeinsam Italien bestürmt hätten." Allein eine solche „Idee" wird in die Worte nur hineingetragen, die offenbar ganz bestimmte Vorgänge zur Voraus- setzung haben. Der Verf. der oben (S. 225,3) genannten Dissertation (S. 44,

Die Kimbern und die Sequaner 237

Die obigen Darlegungen ermöglichen es uns in der Tat, nicht bloß Strabo zu rechtfertigen, sondern eine interessante Überlieferung ans Licht zu ziehen. Die Worte betreffen die Kinibernzüge1) und gehen auf denselben Gewährsmann zurück, dem Strabo überhaupt seine Kenntnis dieser Geschehnisse verdankt, auf den er eine halbe Seite später hinweist2), Poseidonios. Der Anschluß ist, wie beiläufige Über- einstimmungen im Ausdruck mit Diodor und Plutarchs Marius zeigen3), genau, und doch ist von Strabo an dieser Stelle Posei- donios, wie teils aus dem Schlußsätzchen4), teils daraus fo]gt, daß die Kimbern hier als Germanen bezeichnet werden (vgl. o. S. 70 ff.), nicht direkt benutzt, sondern durch Timagenes vermittelt.5) Die Sequaner hatten also dies ist es zunächst, was wir zulernen den Kimbern durch ihre xoivavCa wesentliche Verstärkung gebracht und waren eben dadurch in Mißhelligkeiten mit den Römern geraten. „Oft" sei dieses geschehen, heißt es bei Strabo; das können wir trotz der Dürftigkeit unserer Kunde noch als richtig erweisen. Schon die den Kimbern im Jahre 110/09 von den Sequanern gewährte Er- laubnis zum Durchzug (s. o. S. 233) war ein wesentliches Zugeständnis

2. 64, 2) weiß sich nicht anders als durch die unglaubliche Konstruktion zu helfen, die Sequaner hätten bis zu Beginn des I. Jahrb.. v. Chr. die schweize- rische Hochebene bis zu den Alpen innegehabt.

1) Müllenhoff war dem Richtigen nahe, wenn er schrieb (a. a. 0.): „Nach einer Stelle des Strabo müßten auch die Sequaner . . . sich jenen (den Kimbern) angeschlossen haben. Doch findet sich dafür sonst keine Spur" und nun folgt jene Injurie gegen Strabo. Eben dies, daß es sonst keine Spur gebe, ist unrichtig, wie wir sahen. Aber auch wenn es keine gäbe, wäre nicht einzusehen, weshalb wir nicht lieber aus der vereinzelten Angabe eines un- verdächtigen Zeugen eine Bereicherung unseres kümmerlichen Wissens als einen Vorwurf gegen ihren Gewährsmann ableiten sollten.

2) S. 193 (Poseidonios durch Timagenes vermittelt) cpad öh uccl ■koIv%qvgov$ row? 'KXovr\xrLovg, iiridhv [itvzoi r\xxov ini fajaxsiccv xgaxBC&ccL rag xwv Ki^ißgon' svnoQiccg ISövxag usw. = VJI 293, wo Poseidonios zitiert ist. Dies ist die von uns kurz vorher behandelte Stelle (s. o. S. 229).

3) Strabo : Ta? icpodovg avxwv xäg inl xr\v 'Ixallav, Plutarch Mar. 1 1 (inner- halb der sicher aus Poseidonios stammenden Partie: o. S. 98) ttjv t<podov xär ßagßccQuiv xovxav enl rr\v 'Ixaliav. Diodor: s. o. S. 235,3.

4) vvvl d'vrcb roig 'Pcopccioig a-xavx1 iaxl.

5) A. Klotz a. a. 0. (0. S. 152) 99. 118, der freilich die hier besprochenen Worte Strabos nicht berührt, aber für ihre unmittelbare Umgebung das Quellen- verhältnis einwandfrei festgestellt hat.

2o8 Kap. IY. Auf den Spuren der Bella Germaniae des Pliniuß

zuungunsten der Römer gewesen: denn die Gefahr, daß der Marsch in seinem weiteren Verlaufe durch die römische Provinz führte und in seinem letzten Ziele auf Italien zustrebte, schien nahegerückt: cum in provinciam exirent atque inde in Italiam contenderent (Caesar I 33, 4). Aber viel greifbarere Formen nahm dieses Gespenst, das den alten Gallierschrecken in Rom lebendig werden ließ, nach der Niederlage bei Arausio im Jahre 105 an: maximus tunc liomac metus fuit ne confestim Gimbri Alpes transgrederentur Italiamque delerent: so Poseidonios-Livius bei Orosius V 16, 7. Dies war also unbedingt einer der von Poseidonios bei Strabo und Plutarch er- wähnten „Anmärsche auf Italien" (gqpodot lid r^v 'IrccUav), zu denen der Anschluß der Sequaner den Kimbern Mut zu machen schien. Wider alles Erwarten erfolgte eine „Rückflut"1) der Barbarenwelle. Als dann im Jahre 102 das Schrecknis zum Er- eignis wurde, gingen die getrennt marschierenden Volksheere dem Verhängnisse entgegen, das römische Feldherrenkunst der Barbaren- kraft bereiten sollte. Aber auch der Abfall der Sequaner von ihren bisherigen Bundesgenossen trug das seinige dazu bei. Er war wohl ein Ergebnis der römischen Diplomatie; es ist mit der Möglich- keit zu rechnen, daß Marius, als er im Jahre 104 während des spanischen Heereszuges der Kimbern die gallischen Verhältnisse in römischem Sinne zu ordnen sich anschickte, die Sequaner auf die römische Seite herüberzog.2) Sie leisteten ihm dann Hilfe durch Gefangennahme der aus der Schlacht geflohenen teutonischen Häupt- linge (o. S. 232 f.); die Stärke der Germanen war, um es mit jenen

1) Plut. Mar. 14 t&v ßuQßaQav wensg zivu fcaliQQOiccv ttJs ÖQ(ifjs Xaßövrav %al Qvivxav tiqotsqov tnl xr\v 'lßr\q'iav. Hier hören wir wieder Poseidonios' schöne Redeweise (wie so oft in dieser Biographie, vgl. o. S. 67,2). Gleich die mit c. 11 ein- setzende Benutzung der Kiiißgutd in Poseidonios' Geschichtswerk hebt mit demselben Bilde an: a> XQoaiiivrj (77 nöXig) KvßsQvrjzj] dicccpsv^srat, xXvdwva icoXi- (iov toaovtov. Dem für das Fluten und Rückfluten des Ozeans interessierten Naturforscher lag es besonders nahe.

2) Mommsen, R. G. II 182: „So fand Marius volle Zeit . . ., von den gleich den Römern durch die Kimbrer gefährdeten Bundesgenossen, wie z. B. von den Massalioten, den Allobrogen, den Sequanern Beistand und Zuzug zu erlangend Da die Sequaner in unseren Quellen nie in diesem Zusammenhang erwähnt werden, so kann ich mir nur denken, daß Mommsen eben auf Grund der Strabostelle dieselbe Kombination angestellt hat, die ich im Text zu begründen versuchte.

Die Kimbern und die Sequaner 239

Worten des Strabonischen Berichtes zu sagen, „durch diesen Abfall beträchtlich geschwächt worden". So viel über die einstigen Miß- helligkeiten zwischen den Sequanern und Römern. Der Bericht enthält aber auch Angaben über die Gründe ihrer ehemaligen Feind- schaft mit den Haeduern. Es wird gesagt, daß, abgesehen von den besonderen Zwistigkeiten wegen des Fährzolls1), ihre Uneinigkeit mit den Haeduern durch dieselben Umstände wie diejenige mit den Römern bedingt gewesen sei. Das läßt sich nur so verstehen, daß auch die Haeduer durch den Anschluß der Sequaner an die Kimbern gefährdet, durch ihren Abfall aus einer ihnen drohenden Gefahr be- freit wurden. Wir wissen sonst nicht das Geringste darüber, haben es aus dieser Stelle eben zu lernen2), die ja noch trotz ihrer starken, durch doppeltes Exzerpieren erfolgten Verkürzung, man möchte sagen in jedem Worte die erstaunlich genaue Kunde des Primär- berichterstatters verrät und, richtig verstanden, unsere ganz geringe Kunde von den Völkerverhältnissen Galliens zur Zeit der kimbrischen Okkupation nicht unwesentlich bereichert

3. DER ORT DES RHEINÜBERGANGES DER KIMBERN Die uns vorzugsweise beschäftigende Frage nach der Gegend des Rheinüberganges der Kimbern findet auf Grund vorstehender Be- trachtungen ihre Antwort. Um das Gebiet der Helvetier in der Nordschweiz zu betreten, mußten die Kimbern den Rhein zwischen seinem Austritt aus dem Untersee3) bei Eschenz (Taxgaetium: Ptol.

1) Um dieses Streitobjekt handelt es sich offenbar auch in dem kurzen Berichte Caesars über die seit alters hergebrachten Zwistigkeiten der beiden Völkerschaften VI 12: bei seiner Ankunft in Gallien sei das Übergewicht der Sequaner derartig gewesen, ut partem finitimi agri per vim occupatam possi- derent. Noch später war hier an der Saöne eine Zollstation: vgl. Lognon, Ge'ogr. de la Gaule au VI. siecle (Paris 1878) 216 ff. Die Zeitschrift Mus6e Neuchätelois 1914, in der über dortige Spät- La- Tene- Funde berichtet sein 6oll, ist mir unzugänglich; vgl. aber De'chelette a. a. 0. (o. S. 225, 3) 939 f.

2) Übrigens lag es in der Natur der Verhältnisse begründet, daß die Haeduer, deren freundschaftliche Beziehungen zu den Römern wir bis über das Jahr 121 zurückverfolgen können (0. Hirschfeld, Kl. Sehr. 193), durch die Raubzüge der Kimbern in Mitleidenschaft gezogen worden waren.

3) Er hieß wahrscheinlich lacus Acronius : Mela III 2, 8 Rhenus ab Alpibun deeidens prope a capite duos lacus efficit, Venetum et Acronium. Daß hierunter die beiden Teile des Bodensees verstanden sind, gilt, wenn nicht als sicher, so doch als sehr wahrscheinlich.

240 Kap. IV. Auf den Spuren der Hella Germaniae dcH Plinius

II 12, 5, raetisch-helvetisoher Grenzort) und dem Zusammenfluß mit der Aare überschreiten. Auf dieser etwa 50 km langen Strecke (die Windungen des »Stromes nicht mit eingerechnet) den Ort des Über- ganges noch genauer zu bestimmen, lallt mit Hilfe der antiken und der modernen Topographie nicht schwer. Die spätere Römerstraße führte, von Vindonissa (Windisch) ausgehend, nach etwa drei Stunden1 , in nördlicher Richtung wenig oberhalb der Aaremündung über den Rhein. Ihre Übergangsstelle ist durch die Arbeiten von Schweizer Gelehrten2) auf Grund bodenkundlicber Forschung und archäo- logischen sowie numismatischen Fundmaterials einwandfrei bestimmt worden. Sie überquerte den Rhein auf einer Brücke, die das heutige Städtchen Zurzach (Kanton Aargau) mit dem badischen Dorfe Rheinheim verband. Sie lief dann zunächst in nördlicher Rich- tung weiter über Schieitheim (luliomagus 14 leugae = 31 km) un- weit Schaff hausen, Hüfingen (Brigobanne 11 leugae = 24 km) dicht bei Donaueschingen im Tale der Breg, eines Quellflusses der Donau, an den Neckar zum Kastell bei Rottweil (Arae Flaviae 14 leugae = 31 km) und nach Rottenburg a. N. (Semulocenna 18 leugae = 40 km), von da in östlicher Richtung über mehrere Stationen nach Regensburg (Regina).3) Wie gewöhnlich war auch diese Straße im Anschluß an vorrömische Wege ausgebaut worden.4) Die Ort- schaft, bei der sie, von Vindonissa kommend, das linke (südliche)

1) Die auf der tab. Peut. p. :J62 Miller angegebene Distanz beträgt 8 leugae = 18 <vgenauer 17,6) km.

2) Das Hauptverdienat gebührt dem als Entdecker der Pfahlbauten und als Fortsetzer vou Mommsens Sammlung der Inscriptiones confoederationis Helveticae rühmlichst bekannten Ferd. Keller, Die röm. Ansiedlungen in der Ostscüweiz (Mitt. d. Antiquar. Ges. in Zürich XII 1858 60, S. 302 ff.), dessen Ergebnisse durch Th. Burckhardt-Biedermann, Röm. Kastelle am Oberrhein aus der Zeit Diocletians (Westd. Ztschr. XXV 1906, 129 ff.) und J. Heierli, Das röm. Kastell Burg bei Zurzach (Anz. f. Schweiz. Altert. N. F. IX 1907, 23ff.) bestätigt und erheblich ergänzt worden sind.

3) Die beste Anschauung vom Verlauf der Straßenzüge kann man sich entweder aus dem Blatt XX.1II von H. Kieperts Formae orbis antiqui oder aus den Skizzen in K. Millers Itineraria Romana S. 262 ff. verschaffen (hier sind auch die Namen der modernen Orte eingetragen).

4) Fabricius a. a. O. (o. S. 226) 38. Den Ausbau der späteren Straße setzt er in die Zeit unmittelbar r.ach dem Jahre 74.

Eine alte Völkerstraße in der Nordschweiz 241

Rheinufer traf, hieß im Altertum Tenedo1) ein keltischer Name2) wie alle in dieser Gegend : hier erhob sich, wie wir weiterhin sehen werden, schon in keltischer Zeit ein Kastell der Helvetier: der moderne Name ist das soeben erwähnte Zurzach.3) Hier sind an- sehnliche Reste der starken römischen Befestigung aufgedeckt worden, die Übergangsstelle ist durch Brückenpfeiler gewährleistet, deren Fundamente bei niedrigem Wasserstande sichtbar werden.4) Die Wichtigkeit der Übergangsstelle findet in der Tatsache ihren Aus- druck, daß Spuren von drei, ja wahrscheinlich vier in kleinen Ab- ständen nacheinander erbauten Brücken, darunter eine hölzerne, zum Vorschein gekommen sind. Sie verfielen im Laufe der Zeiten auch Zerstörung durch die Alamannen mag das ihrige dazu beigetragen haben , und erst seit dem Jahre 1906 ist eine ganz dicht dabei stromabwärts gebaute neue getreten.5) Seit dem Verfall der Römer- brücke und bis zum Bau der neuen wurde die Verbindung zwischen beiden Ufern durch eine Fähre aufrechterhalten6): ein Zeugnis be-

1) Das wird jetzt meist angenommen, so außer von den oben (Seite 240, 2) genannten Gelehrten auch von Fabricius (s. vorige Anm.). Andere, wie Miller a. a. 0. (o. S. 240, 3) 262, auch Kiepert (ebd.) versetzen diesen Ort auf das gegen- überliegende Ufer: die Peutingersche Tafel, die allein ihn nennt, ermöglicht nicht, das zu entscheiden, es ist für unsere Zwecke auch gleichgültig, aber gerade die weiteren Ausführungen im Text werden geeignet sein, die erstere Annahme zu rechtfertigen.

2) „Tenedo sieht sehr keltisch aus. tene (dentaler Stamm) ist das ir. Wort für Teuer'. Der Akzent lag sicher auf der ersten Silbe": Mitteilung von Kuno Meyer.

3) Im CIL XIII 1, 2 S. 44 hat Zangemeister der Gleichung Zurzach Tenedo ein Fragezeichen beigefügt, und R. Kiepert stellt sogar die Richtigkeit der Gleichung in Abrede (Erläuterungen zu den FOA, Blatt XXUI, S. 10); aber er hat dabei die Fundtatsachen und manches andere, was wir weiterhin kennen lernen werden, außer acht gelassen, ebenso wie der Gewährsmann, auf den er sich beruft (E. Paulus, Die Heerstraße der Peutingerschen Tafel von Vindonissa bis Abusina, Württ. Jb. 1887 II 102 ff., eine unwissenschaftliche Arbeit).

4) Sie sind jetzt nicht mehr in dem Umfange nachweisbar, in dem sie durch ältere, zuverlässige Nachrichten beglaubigt sind.

5) Ich entnehme dies aus dem Grundriß auf Taf. 4 in der oben (S. 240, 2) genannten Abhandlung aus der Westd. Ztschr.

6) Die Fähre befindet (oder befand) sich wenig unterhalb der jetzigen Brücke: vgl. die in der vorigen Anmerkung genannte Planskizze.

Norden: Die germanische Urgt.soli.ioht« lg

242 Kap. IV. Auf den Spuren der Bella Germania« des Plinins

weist es für den Anfang des X. Jahrh.1) Wie mögen nun wohl die Verkehrsverliältnisse gewesen sein, als die Kimbern im oder bald nach dem Jahre 111 den Übergang zu bewerkstelligen hatten? Es ließe sich ja annehmen, daß zu jener Zeit nur Fährbetrieb bestanden hätte, der bei den Kelten verbreitet gewesen sein muß (pontones, quod est genus navium Gallicarum Caesar Bell, civ III 29, 3). Zieht man aber in Erwägung, daß es eine alte Völkerstraße war, die hier den Fluß kreuzte, so wird man es für wahrscheinlich halten, daß die Verbindung schon damals durch eine Brücke ermöglicht war. Die Kelten waren ja Pfahlbauern von Profession, während römische Brücken aus Stein erbaut zu sein pflegten.2) Aber auch abgesehen von diesen

1) Das von Keller nach einer veralteten Publikation (die Identifizierung verdanke ich M. Tangl) angeführte Zeugnis der Miracula S. Verenae, die zwischen 997 und 1032 allem Anschein nach zu Zurzach selbst geschriehen worden sind (Mon. Germ. Script. IV 457 ff.), lautet: Cum prenominatus dux (Burchard I, der Praeses von Alamannia, 917—26) quodam die quendam sibi adversantem persequi et eapere voluisset, contigit ut cum multo comitatu alveum Rheni ubi ipsum oppidum Zurziaca praeterfluit transvadaret. Ferner: Igitur quodam tempore familia sanctae virginis Verenae iussa est ex ipsa ripa qua monasterium est constructum in alteram convenisse ad metendum . . . et ita ventum est usque ad naviculam navigationis. Sed quia navicula parva erat usw.

2) Über den Brückenbau des Altertums gibt es m. W. keine philologischen Anforderungen genügende Untersuchung; eine Vereinigung des reichen Materials aus Schriftstellern und Inschriften wäre dankenswert, natürlich müßte auch die archäologische Forschung berücksichtigt werden. Als ein verheißungs- voller Anfang zu einer derartigen Untersuch ang ist mir bekannt geworden der sehr sorgfältige Aufsatz von J. Becker, Die Rheinübergänge der Römer bei Mainz (Ann. d. Vereins f. Nassauische Akde X 1870, 157 ff.), wo das Material für das mittlere und untere Rheingebiet gesammelt ist (vergessen wohl nur Strabo IV 194 TqtJoviqoi, xccd-' ovg ■JisnoirlTai rb ££vy[ia VTtb x&v 'PcoiiaLav vvvl täv Ctgcctr]- yovvrav rbv rEQfiuvwbv itoXspov, eine Stelle, über die ich gern Näheres wüßte). Was Holz- und Steinbrückenbau betrifft, so fand ich darüber zufällig bei E. Hübner, Die Coblenzer Pfahlbrücke (Bonner Jhb. XLII 1867) 54, folgende Bemerkung: , Aus der ganzen Zeit der Republik und ans der früheren Kaiser- zeit sind, soweit ich das Material übersehe, keine Beispiele einer stehenden hölzernen Brücke bekannt. Caesars Rheinbrücke kann nicht als Beispiel da- für angesehen werden, denn sie war ja nur für die vorübergehenden Zwecke des Feldzugs angelegt, keineswegs um den Verkehr zwischen den beiden Ufern dauernd zu vermitteln." Die Koblenzer Moselbrücke stammte nach Hübner, wie die Anlage des Kastells selbst, wahrscheinlich erst aus der Zeit des Kaisers Valentinianus I. Für die Holzbrücke bei Tenedo besteht also die Alternative : entweder alt (und dann jedenfalls keltisch) oder spätrömiscb. Erstere Annahme

Keltische Brückenbauten 243

allgemeinen Erwägungen: von Genava, der nordöstlichsten Grenzstadt der Allobroger gegen die Helvetier, am Ausfluß des Rhodanus aus dem See Lemannus, führte eine Brücke auf das helvetische Ufer (Caesar 1 6, 3 ex eo oppido pons ad Helvetios pertinef), und auch sonst erwähnt Caesar öfters keltische Brücken, die sich an befestigte Orte anlehnten: so über die Sequana bei Lutetia Parisiorum (VII 58, 6), den Liger bei Cenabum (VII 11, 6), den Elaver bei Gergovia (VII 34, 31, die Axona bei einem castellum (II 9, 4). Diese Holz- brücken ließen sich bei Annäherung des Feindes leicht abbrechen, waren aber stark genug, um sogar Reiterei zu tragen (II 10, 1). Es liegt daher in der Natur der Verhältnisse begründet, auch für den wichtigen Rheinübergang bei Tenedo eine Brücke anzunehmen: der Fluß war dort nur 125 m breit.1) Ja, es stände sogar, soweit ich das zu beurteilen vermag ich spreche dies aber mit größter Zurückhaltung aus , der Annahme kein Bedenken im Wege, daß die noch heutzutage, wie bemerkt, bei niedrigem Wasserstande sicht- baren eingerammten Pfahlstümpfe der Holzbrücke aus keltischer Zeit stammten; Kernholz unter Wasser ist ja so gut wie unvergänglich. Erhoben sich doch auch die von Kaiser lulianus (Misopogon 340 D) anschaulich beschriebenen Holzbrücken bei Lutetia Parisiorum un- zweifelhaft auf den Fundamenten derjenigen, die schon Caesar als dort vorhanden erwähnt (a. a. 0.).

Diesen Zustand fanden, da Veränderungen des Strombetts seit der Römerzeit hier nicht erfolgt sind, die Kimbern bereits vor, als sie nach meiner im vorstehenden begründeten Annahme den Rhein an dieser Stelle überschritten. Sie lagerten zunächst auf dem rechten (nördlichen) Ufer: begreiflich genug. Hier waren sie an einem ent- scheidungsvollen Punkte ihres langen Weges angelangt: dem Ziele ihrer Wanderung, Gallien, legte sich wie ein Riegel das helvetische

wird gleich im Text als eine Möglichkeit bezeichnet werden. Die letztere Annahme würde zur Voraussetzung haben, daß die Holzbrücke nach mehreren steinernen angelegt worden wäre. Undenkbar wäre das wohl nicht: man könnte Holz gewählt haben, um die Brücke bei einem drohenden Einfall der Alamannen rasch abbrechen zu können. Eine Entscheidung wird, wenn über- haupt, nur durch nochmalige Untersuchung an Ort und Stelle zu erzielen sein. 1) Oberst Siegfried, Topogr. Atlas der Schweiz (Maßstab 1 : 25 000). Blatc Nr. 23 Zurzach. Die nächste Fähre ist nicht ganz 2 km oberhalb, dann etwa 3,8 km eine weitere, dann lange Strecken keine mehr

16'

244 Kap. rV"« Auf den Spuren der Bella Germaniae des Plinius

Gebiet vor, zu dessen Durchquerung sie sich von den Bewohnern erst die Erlaubnis erwirken mußten; am jenseitigen Ufer erhob sich die keltische Feste Tenedo, die die Brücke sperrte. Sie erhielten die Genehmigung zum Durchzuge. Der Übergang über den hier so schmalen Strom wäre an sich selbst für dieses von Weibern und Kindern begleitete, all ihr Hab und Gut auf Karren mit sich füh- rende Volksheer kaum ein besonders erhebliches Hindernis ge- wesen1;: hatte es doch auf seiner weiten Wanderung ganz andere Schwierigkeiten zu bestehen. Aber die Verhandlungen mit den Helvetiern, dann mit den Sequanern, deren Gebiet sie weiterhin zu passieren hatten, mußten geraume Zeit erfordern. So richteten sie sich auf längeres Verweilen ein: der Rheinübergang erfolgte nach dem Zeugnisse des Velleius (o. S. 224) im oder gleich nach dem Jahre 111, und erst im Jahre 109 verhandelten sie mit dem Konsul Silanus in Südgallien; ihr Aufenthalt in helvetischem Gebiet er- streckte sich also vermutlich auf einen Teil des Jahres 110. Die Anlage einer Wagenburg war unerläßlich, ebenfalls deren Sicherung durch einen Wall.2) Wieder mag uns das abwartende Lagern ger-

1) Der Übergang des helvetischen Volksheeres über die Saone, der ratibus ac lintribus innctis, also auf Transportfähren, stattfand (Caesar I 12,1), dauerte 20 Tage (ib. 13, 2). Die Kopfzahl betrug 368 000, darunter 92 OüO, also 74, Wehrfähige (ib. 29, 3). Die Zahl der wehrfähigen Kimbern betrug nach der geringsten Schätzung (s. o. S. 221, 4) 300 000, die Kopfzahl also, bei Zugrunde- legung desselben Verhältnisses, 1 200 000. Nehmen wir diese Zahl, was frei- lich nicht unbedenklich ist, einmal als beglaubigt an, so würde der Übergang über einen Fluß gleicher Breite bei gleichartiger Beförderung 32 33 Tage ge- dauert haben, eine Zahl, die sich bei der Annahme des Transportes über eine Brücke erheblich verringern würde. Die Breite der Saöne an der vermutlichen Übergangsstelle (in der Nähe von Trevoux, nördlich von Lyon) habe ich nicht ermitteln können; die kriegsgeschichtlichen Werke äußern sich darüber nicht; nach T. Rice Holmes, Caesar's Conquest of Gaule (Lond. 1899) 611, soll ein französischer Forscher den Nachweis erbracht haben, daß der Übergang an mehreren Stellen erfolgte, doch' ist die Schrift, auf die er sich bezieht (Ch. Cadot, Note sur l'invasion des Helvetes), mir nicht zugänglich.

2) A. Riese, Das rhein. Germanien in der antiken Literatur (Leipz. 1892* 469, sagt, unter den Taciteischen castra seien „vermutlich alte Ringwälle, deren Erbauung die Sage den Kimbern zuschrieb", zu verstehen; analog K. Schu- macher, Die Germania des Tac. und die erhaltenen Denkmäler (Mainzer Ztschr. IV 19U9) 7. 11. Allein Ringwälle pflegten ihrer Bestimmung gemäß in ab- geschiedener Bergwildnis angelegt zu werden, und auf alle Fälle hat an die

Die Kimbern in der Nordschweiz 245

manischer Scharen ein Caesarisches Zeugnis veranschaulichen: Caesar berichtet zum Jahre 58 von den Sueben (I 37, 3): pagos centum

Stelle der „Sage" die Geschichte zu treten (für die Annahme Schumachers, daß „den Kimbern von den Römern alles Mögliche und Unmögliche zuge- schrieben worden sei", finde ich keinen Beleg, denn das sog. Cimbrianum in Rom, wenn sich die Behauptung etwa darauf beziehen sollte, stammt nach Ch. Hülsen, Mitt. d. arch. Inst., Rom. Abt. XIV 1899, 255 ff., erst aus dem Mittel- alter). Wir werden noch im Laufe dieses Abschnitts ein in ebendieser Gegend, aber in schwer zugänglicher Umgebung gelegenes 'Refugium' kennen lernen. Um den Lesern die Prüfung zu ermöglichen, ob wir an vorliegender Taciteischer Stelle eine ring wallartige Befestigung und nicht vielmehr, nach Art römischer Lager, Erdwälle zu verstehen haben, gebe ich hier, unter teilweiser Benutzung von F. Hertlein, Der Zweck der Ringwälle in: Korrbl. d. Gesamtvereius d. deutsch. Gesch. u. Altertumsvereine LV 1907, 309 f., ein Verzeichnis der mir aus der Literatur des Altertums bekannten Stellen über Ringwälle. Livius XXXVIII c. 18, 15 c. 23 in der Erzählung vom Kriege der Römer gegen den kleinasiatischen Keltenstamm der Tolistobogier im Jahre 189 (vgl. das kurze Exzerpt aus Polyb. XXI 37, 9): mit Weib und Kind und aller Habe flüchtete dieser Keltenstamm auf den galatischen 01ympo3, der ihnen verwandte Stamm der Tectosagen auf einen anderen, in der Nähe gelegenen Berg Magaba; aus der Erzählung des Livius, der dabei die Bezeichnungen castra und Valium gebraucht, ist ganz deutlich, daß dies ihre Fluchtburgen waren. Die berühmte Beschreibung des murus Galliens findet sich bei Caesar VII 23. Die deutlichste Vorstellung gewähren uns die Überreste der großartigen Befestigungsanlagen von Bibracte, des Mt. Beuvray, 24 km westlich von Autun: vgl. die auf Grund der französischen Ausgrabungen gegebene Schilderung von H. Dragendorff im Arch. Anz. 1910, 439 ff. Dieselbe Art von Fluchtburgen, nur viel primitiver als die von Bibracte, die zu einer ständig bewohnten Siedlung gestaltet worden war, fand Caesar auch bei den Britannern vor (V 9, 4 se in Silvas abdiderunt locum nacti egregie et natura et opere munitum, quem domestici belli, ut vide- batur, causa iam ante praeparaverant 21,2 cognoscit non longe ex eo loco oppi- dum Cassivellauni abesse silvis paludibusque munitum, quo satis magnus hominum pecorisque numerus convenerit. oppidum autem Britanni vocant, cum silvas impeditos vallo atque fossa munierunt, quo ineursionis hostium vitandae causa convenire consuerunt). Die gallische Befestigungsweise wurde von germanischen Stämmen übernommen: die Ringwallforschung hat in Deutschland besonders seit dem Beginn unseres Jahrhunderts bedeutende Ergebnisse erzielt. Dabei spielt literarisch eine Hauptrolle das bei Tacitus ann.I 56 erwähnte Mattium, caput gentis (Chattorum), das mit der Altenburg bei Niedenstein (Kr. Fritzlar in Hessen-Nassau) identifiziert zu werden pflegt (vgl. darüber die neuesten Untersuchungen von E. Anthes im VI. Bericht der röm.-germ. Komm. 1910 11, Frankf. a. M. 1913, 31 ff.). Die refugia der Chatti, die Domitianus in das durch den Limes fortan geschützte Gebiet einbezog, werden von Frontinus strat. I

246 Kap. IV. Auf den Spuren der Bella Germaniae des Plinius

Sueborum ad ripas Rheni consedisse, qui Rhenum transire conarentur, his praeesse Nasuam et Cimberium fratres; von dieser Niederlassung iu unmittelbarer Nähe bei Mainz haben sich erhebliche Spuren bis auf den heutigen Tag erhalten.1)

Die Kimbern haben, nachdem sie jahrelang in Gallien gehaust hatten, im Jahre 103 oder 102 den Rhein abermals überschritten, diesmal also in umgekehrter Richtung, um dann auf dem ober- italischen Schlachtfelde ihrer Vernichtung anheimzufallen, über den Rückweg, den sie einschlugen, besitzen wir keine unmittelbare V her lieferung; aber wir kennen dank den Inhaltsangaben der Bücher LXV1I und LXVIII des Liviankchen Werkes Ausgangs- und End- punkt des Weges: die untere Seine und Vercelli.2) Wer sich das

•J, 10 anschaulich charakterisiert (vgl. G. Wolff, Zur Gesch. d. röm. Okkupation in d. Wetterau, Ann. d. Vereins f. Nassauische Akde u. Geschichtsforsch. XXXII 1901, 12 ff.). Übrigens sind Fortifikationen solcher Art auch für einen ganz getrennten Völkerkreis bezeugt: Xenophon berichtet anab. IV 7, lf. von den Tdo%oi, einer den heutigen Georgiern stammverwandten Völkerschaft an der Nordwestgrenze Armeniens: %a>Qia mxovv iezvgd, iv olg xul tu inirrjdsicc Ttavxa si%ov avuy.B'Koyii6yiivoi. insl ä' acpixorro TtQog %(oqiov o "x6l.iv [ihv ovx *i-Xev ovS' olxiccg, GWEXrjlvd'OTsg d^rjeav ccvtogs xa! avdgeg xccl yvvaty.sg xal Ktrjvn TtoXXä, y.zX.

1) Caesar empfing die Nachricht von den Treverern, daher kann der Über- gang nur bei Mainz oder noch weiter flußabwärts beabsichtigt gewesen sein (s. die Komm.). Vgl. H. Schumacher, Das röm. Straßennetz in Rheinhessen fWestd. Ztschr. XXIII 1904) 309: „Als Anmarschstraßen aus dem Innern Galliens waren von großer Wichtigkeit die Straßen Trier- Worms und Metz- Worms bzw. Metz-Mainz . . . Wegen der günstigen Rheinübergänge bei Mainz und Worms waren diese Straßen schon in vorrömischer Zeit von den aus dem Osten kommenden Völkerschwärmen vielbegangen.'- Derselbe bemerkt in seiner „Archäol. Karte der Umgebung von Mainz" (Mainzer Ztschr. III 1908) 37, daß sich bei Weisenau, einem Dorfe bei Mainz, „eine in den ältesten Zeiten sehr viel begangene Furt über den Rhein befand, wie die hier ausgebaggerten Gegenstände beweisen, die besonders zahlreich aus der Spät-La-Tene- und früheren Zeiten sind"; „auf dem gegenüberliegenden Festlande zahlreiche Wohngruben mit Scherben der Spät-La-Tene-Zeit . . . ; sie rühren zweifelsohne von einem Dorfe der ariovistischen Germanen (Sueben oder Vangionen) her, das bis in die römische Zeit weiter bestand." Dagegen muß der Rheinüber- gang Ariovists selbst viel weiter südlich, wohl im oberen Elsaß, erfolgt sein (Mommsen.R. G. III 248).

2) Die Periocha des LXVII. Buches schließt: Cimbri vastatis Omnibus quae inter Rhodanum et Pyrenaeum sunt per saltum in Hispaniam transgressi ibique fiiulta loca populati a CeUiberis fugati sunt reversique in Galliam in Vellocassis

Die Kimbern in der Nordschweiz 247

vergegenwärtigt und dabei bedenkt, daß den Scharen daran gelegen sein mußte, den sichersten und bequemsten Weg zu wählen, der durch das Gebiet der mit ihnen verbündeten Helvetier führte, wird es als sehr wahrscheinlich erachten, daß sie eben denselben Weg wählten, den sie gekommen waren. Auch Mommsen muß es sich so gedacht haben, wenn er schrieb (R. G. II 185): „Mit den Helve- tiern verbündet waren die Kimbrer ohne Schwierigkeit von der Seine in das obere Rheintal gelangt, hatten die Alpenkette auf dem Brennerpaß1) überschritten und waren von da durch die Täler der Eisack und Etsch hinabgestiegen in die italische Ebene." Für diese Annahme ließe sich möglicherweise auch unser Tacituszeugnis an- führen, in dem von Lagerplätzen an beiden Stromufern die Rede ist.

Läßt sich nun der Gewährsmann namhaft machen, dem Tacitus seine Angabe von den Lagerplätzen der Kimbern auf beiden Rhein- ufern entnahm? Seine Ausdrucksweise von den Spuren der Lager manent und von der Möglichkeit, danach die Größe ces Volksheeres noch jetzt, nunc qiioque, abzuschätzen, setzt den Autopsiebericht eines für Geschichtliches, Militärisches und Geographisches interessierten Schriftstellers voraus, dessen Lebenszeit von derjenigen des Tacitus selbst nicht zu weit entfernt gewesen sein darf. Dies alles weist in eine ganz bestimmte Richtung. Wir erinnern uns (s. o. S. 208 f. \ daß jPlinius einen Teil seiner militiae equestres in Vindonissa, am Zusammenfluß von Aare und Reuß, abdiente, wo sich das Stand- quartier des Legaten des obergermanischen Heeresbezirkes befand, in welchen das alte helvetische Gebiet einbezogen worden war. Wie oft mag er an jener militärisch wichtigen und historisch bemerkens- werten, nur 18 km von Vindonissa entfernten Stelle, auf der *ich die (glänzende Emendation Mommsens R. G. II 183 Anm. für bellicosis) se Teutonis coniunxerunt. Mit der Erzählung von dieser Vereinigung, die einen wichtigen Abschnitt markierte, schloß er das Buch, um in dem LXVIII. die Vernichtung der Teutonen bei Aquae Sextiae und der Kimbern bei Vercellae zu berichten. Im Verlaufe also des letzteren Buches muß er auch den Übergang der Kimbern auf das rechte Itheinufer erwähnt haben (vgl. Caesar II 29, 4, wo ein Ereignis aus der Zeit kurz nach der Vereinigung beider Völkerschaften erwähnt und der Ort mit den Worten citra flumen Rhenum bezeichnet ist).

1) Ob es gerade dieser Paß gewesen sei, ist strittig. Da die Frage für die vorliegende Untersuchung nicht in Betracht kommt, habe ich sie nicht geprüft.

248 Kap. IV. Auf den Spuren der Bella Germaniae des Plinius

alte Keltenfeste Tenedo erhob, vorbeigeritten sein; die Heeresstraße führte ihn dann über die keltische Rheinbrücke an den Zusammen- fluß von Brege und Brigach, den Quellflüssen der Donau (o. S. 208). Hier gab es allerlei historisch und geographisch Interessantes zu be- obachten. In diese Gegend war einst als erster Römer Tiberius im Jahre 15 v. Chr. bei der Offensive gegen Raetien gekommen: slde rag tov "Iöxqov itrjydg (als erster) sagt tStrabo in seinem ausgezeichneten, auf einen militärischen Augenzeugenbericht zurückgehenden Referat (VII 292). Hier zog Plinius selbst über Besonderheiten der Donau- quelle Erkundigungen ein: circa Danuvü exortum audivi sagt er n. h. XXXI 25.1) Von seinem Standquartiere aus wird er auch den einheimischen Namen des Schwarz waldes, Abnoba mons, erfahren haben, den er IV 79 nennt, und den Tacitus (Germ. 1) erwiesener- maßen aus dem Germanenwerke kennt.2) So hat Plinius in Wahr- heit utrarnque ripani, das südliche und nördliche, des Rheins in dieser Gegend teils als Augenzeuge, teils auf Grund eingehender Erkundi- gungen kennen lernen und über die hier nach etwa 160 Jahren noch sichtbaren Erinnerungen aus der Zeit des Kimberndurchzuges berichten können. Für Zahlenmäßiges zeigt er in der „Naturgeschichte" eine fast eigensinnige Vorliebe, die auch in seinen historischen Werken hervorgetreten sein muß; denn Tacitus, dem solche pedantische Ge- nauigkeit der Würde der Geschichtschreibung nicht zu entsprechen schien, hat doch, wo er sich zu dergleichen herabläßt, es oft gerade aus Plinius herübergenommen.y) Da malt man es sich gern aus, wie

1) Es ist W. Barthel, Die Erforschung des obergerm.-raet. Limes 1908 12, VI. Ber. d. röm.-gerrn. Komm., Frankf. a. M. 1913) 178, unbedingt zuzugeben, daß die Worte keinen Schluß auf die Anwesenheit des PHnius an der Quelle selbst zulassen: circa beißt, wie der Zusammenhang zeigt, „in betreff", eine seit Augusteischer Zeit geläufige, auch bei Plinius sehr oft zu belegende Be- deutung. Anderseits ist ebenso sicher, daß eine Erkundigung solcher Art nur iu der Gegend einzuziehen war. Man lese etwa XVIII 188 f. 190 den sehr ein- gehenden Bericht über je eine Quelle in der Provinz Afrika und in der Nar- bonensis, zwei Provinzen, ia denen Plinius nachweislich gewesen ist. In dem Badeorte Tungri in der Belgica (h. Tongern) scheint er den Sprudel selbst pro- biert zu haben: XXXI 12: darüber Näheres im VI. Kap., Abschn. I lc.

2) Müuzer a.a.O. 78 f.

3) Münzer S. 102. Die Worte stehen in einer Rede des Civilis, aber auch in einer anderen Rede desselben (IV 73) hat Tacitus sich nach Münzers Nach- weis (S. 98) an Plinius angeschlossen.

Plinius am Oberrhein 249

Plinius als junger, für das Lagerleben interessierter Offizier aus diesem war seine Jugendschrift über das Speerwerfen bei Kavallerie- nianövern, de iaculatione equestri1), herausgewachsen neben gewissen- hafter Erfüllung seiner Dienstpflicht (equestribus militiis Industrie func- tüs: Suetonius, vita Plin.) die riesigen Zahlen des germanischen Volks- heeres, die er aus seiner Liviuslektüre im Kopfe hatte, an den Über- resten des gewaltigen Lagerumfanges abschätzte und bestätigt fand. Mit welcher Genugtuung mag er dieses Ergebnis in dem Werke über die Germanenkriege, das er noch auf germanischem Boden in Angriff nahm (incohavit cum in Germania militaret: Plinius ep.), berichtet haben: bildete doch die Erzählung der Kimbernkriege dessen Anfang. Auch in dem weiteren Verlaufe des Germanenwerkes, dann in seinen Annalen hat er wiederholt solche Verhältnisangaben des Lagerumfangs und der Insassen gemacht: wir lesen sie bei Tacitus, die Stellen sind sämtlich Plinianisch.2) Ja, an einer derselben findet sich sogar der Ausdruck caslrorum spatia3), der dem in der Germaniastelle gebrauch-

1) Außer vom Neffen von ihm selbst zitiert n. h. VIII 162 forma equorum qualis maxime legi oporteat, pulcherrime quidem Vergilio vate absoluta est, sed et ■nos diximus in libro de iaculatione equestri eondito. Dies Manöver wird von Arrianus in der Taktik c. 37, 2 f. sehr anschaulich beschrieben, es galt für be- sonders schwierig (Jv&a dl] v.cd \iaki6xoc aya&ov dsi xov lititias), daher erteilt Hadrianus in seiner Ansprache zu Lambaesis (im Jahre 128) den equites legionis ein besonderes Lob: vos ex difficilibus difficillimum fecistis, ut loricati iaculatio- nem perageretis (CIL VIII 2532. Dessau 2487); in einem neu gefundenen Fragm. dieser adlocutio (Dessau 9134) sagt der Kaiser zu einer Hilfstruppe der Legion: iaculati estis non ineleganter, hastis usi quamquam brevibus et duris ; lanceas plures vestrum pariter miserunt.

2) Tac. ann. I 61 (zum Jahre 15) prima Vari castra lato ambitu et dimensis principiis trium legionum manus ostentabant : das muß nach meinen Bemerkungen S. 213 f. auch bei Plinius gestanden haben; bist. IV 22 (zum Jahre 69) von Vetera: amplitudo valli, quod duabus legionibus situm vix quinque milia armatorum tue- bantur, sicher aus Plinius' Erzählung des Batavenaufstandes. Derselben Art der Schätzung bedienen sich übrigens auch unsere Archäologen, indem sie aus Spuren von Lagern die Zahl der in diesen stationierten Legionen (mit zu- gehöriger Reiterei und Hilfstruppen) erschließen : General v. Veith hat für Vetera das Muster gegeben (Vetera castra mit seiner Umgebung, Berl. 1881), und das- selbe Prinzip ist dann für Novaesium und ßonna verwertet worden. Für alle diese Untersuchungen ist die literarische Hauptquelle das IV. Luch der Taci- teischen Historien, d. h. eben Plinius, gewesen.

3) Hist. IV 22 vana illa castrorum spatia: vana mit Bezug auf c. 22, eine in der vorigen Anm. zitierte Stelle, wonach das Lager von Vetera damals kaum

250 Kap. IV. Auf den Spuren der Bella Germaniae dos Plinius

ten castra ac spatia genau entspricht1); es war eine technische Be- zeichnung2), die bei Tacitus außer an diesen beiden Stellen nicht vor- kommt, wie er ja im Gegensatz zu Plinius dem Handwerksmäßigen Heber aus dem Wege ging. Und endlich, um damit die Kette der Be- weisglieder zu schließen: Plinius zeigt in der Naturgeschichte in einem Maße wie wohl kein anderer Schriftsteller des Altertums einen wahren Fanatismus dafür, die Fortdauer von Sitten, Bauwerken, Kunstschöpfun- gen usw. bis auf seine Zeit hervorzuheben. Aus den wohl nach Dutzen- den zählenden Stellen, an denen er Ausdrücke wie etiamnunc extat, durant adhuc, hodieque u ä. gebraucht, seien nur zwei namhaft gemacht, die eine, weil sie Germanisches, die andere, weil sie Lagerbauten be- trifft Von einem kriegerischen Brauche sagt er XXII 8: quem morem etiamnunc durare apud Germanos scio. Über Spanien, ein Land, das er ebenfalls aus eigner Anschauung kannte, berichtet er XXXV 169: „Noch jetzt kann man in Spanien die Auslugwarten Haunibals sehen; Türme aus Lehmerde hoch auf den Bergen. Daher sind auch aus- gestochene Rasenstücke ihrer Beschaffenheit nach zur Lagerumwallung vorzüglich geeignet." Ist nicht die Identität dieses Schriftstellers mit demjenigen, der von den „noch jetzt" sichtbaren Spuren der kim- .brischen Lagerwälle zu berichten wußte, handgreiflich? Ja es läßt sich daraus, wie ich glaube, ein unverächtliches Beweisstück für die vor- hin (S. 244, 2) aufgestellte Annahme gewinnen, daß die kimbrische Lagerrichtung aus festgefügten Erd wällen bestand.

4. EINE HELVETISCHE EPISODE IN DER MILITÄRREVOLUTION DES JAHRES 69 N. CHR.

Wie es zu geben pflegt, zieht oine Erkenntnis eine andere nach sich. Wir haben Grund, einen eindrucksvollen Abschnitt der Taci- teischen Historien in den Kreis vorliegender Untersuchungen hinein- zubeziehen, da es sich wieder um die Helvetier handelt.

die Hälfte derjenigen Truppenzahl umfaßte, für die es angelegt worden war. In derselben Plinianischen Erzählung des Batavenaufstandes kommt spatium von dem Raum zwischen Lager and Wall (siehe u. Anm. 2) nochmals vor c. 78 palen- tiore spatio, also wieder mit einer Maßangabe.

1) Über castra ac spatia = castrorum spatia s. o. S. 202, 1.

2) Im römischen Lager bezeichnete spatium den zwischen dem Lager und dem Walle gelassenen Zwischenraum (spatium: did.6rr]ucc, intervallum Corp. Gloss. VIL283), der 200' breit und für den Aufmarsch der Truppen, die Aufbewahrung der Beute und manches andere wichtig war (Polyb. VI 31, 11 ff.).

Die helvetischen Gaue im J. 69 n. Chr. 251

Caesar hatte die Helvetier nach der Katastrophe, die er ihrem Volks- heere bei Bibracte bereitete, glimpflich behandelt. Der Grund, den er für die ihnen erteilte Erlaubnis zur Rückkehr in die Heimat angibt sie sollten dort den Grenzschutz gegen die Germanen übernehmen1) , zeigt jene militärische Voraussicht, die er, wie wir in einem späteren Kapitel sehen werden, dem Germanenproblem überhaupt angedeihen ließ. Auch ihre Schilderhebung beim Aufstande des Vercingetorix (VII 75) hatte er sie nicht entgelten lassen, ihnen vielmehr, als er ihr Gebiet in die römische Provinz einbezog, ausnahmsweise das beste Untertanenrecht als civitas foederata gewährt. 2) So waren sie pars imperii geworden, an dessen Schicksalen sie fortan teilnahmen. Aus dem ruhigen Ge- nüsse des Kaiserfriedens, in dem das Land aufblühte, wurde es durch die wilden Ereignisse des Jahres 69 jäh herausgerissen. Wir besitzen darüber einen kurzen, aber sehr gehaltreichen Bericht in den Historien des Tacitus I 67 69; wir müssen aber zu dessen Verständnis die Kapitel von 61 an hinzunehmen. Die gallisch - germanische Ver- brüderung und die Militärrevolution zogen auch die helvetischen Gaue in ihre Wirbel. Die Generale der Partei des Vitellius, Fabius Valens und A. Caecina, erhielten den Befehl, jener von Untergermanien aus über den Mont Genevre, dieser von Obergermanien aus über den Gr. St. Bernhard in die Po -Ebene einzumarschieren (c. 61). Hatten schon die Gallier schwer unter der Zügellosigkeit der Armee des Valens zu leiden (64 66) insbesondere wurde der Gau der Vocontier (in der Dauphine), der Nachbarn der Allobrogen, heim- gesucht: ihr Municipium Lucus (Luc an der Dröme) wäre fast in Flammen aufgegangen , so übte die wilde Soldateska des Caecina, vor allem die Kerntruppe seiner Armee, die gefürchtete Mannschaft der berüchtigten, damals in Vindonissa (Windisch) stationierten XXL Legion mit dem Beinamen „Rapax" an den Helvetiern für ein

1) Bell. Gall. 1 27, 4 id ea maxime ratione fecit, quod noluit eutn locum unde Helvetii discesserant vacare, ne propter bonitatem agrorum Germani qui trans Bhenum incolunt ex suis finibus in Helvetiorum jines transirent et ßnitimi Galliae pro- vinciae Allobrogibusque essent. Es wäre sonst eben eine neue ' Elovqxicov igruila entstanden wie jene bei dem Abzüge der Helvetier aus ihren alten Stammsitzen im südwestlichen Deutschland, die ja dann tatsächlich von den Germanen be- setzt wurde: vgl. o. S. 22ö.

2) Vgl. Momnisen, Schweizer Nachstudien, Hermes XVI ^1881) 447 f. = Ges. Sehr. V 392 f.

252 Ka,p- IV. Auf den Spuren der Bella Germaniae des Plinins

ziemlich belangloses Vorkommnis, an dem sie noch dazu selbst schuld gewesen war, grausame Vergeltung. „Der Krieg begann" heißt es (c. 67) „mit einer habgierigen und ungestümen Handlung der XXI. Legion. Sie hatte Geld geraubt1), das zum Solde für ein Kastell abgesandt war, welches die Helvetier schon seit langem mit eigner, von ihnen selbst gelohnter Truppe unterhielten. Das ließen die Helvetier sich nicht gefallen: sie fingen ein Schreiben auf, das im Namen des germanischen Heeres an die pannonischen Legionen über- bracht werden sollte, und behielten den Centurio mit einigen Sol- daten in Gewahrsam." Was nun folgt, liest sich wie ein blutiges Vorspiel des gewaltigen Dramas, das in den Akten Bedriacum, Cre- mona, Capitolium verläuft, und in dem die Kaiser Otho und Vitellius die ersten, ihre Generale Valens und Caecina bis zuletzt die zweiten Rollen spielen. In grellen Farben wird die Rache geschildert, die die Armee des Caecina im Bunde mit den Raetern an den Helvetiern nahm. Die Ortschaften, besonders das blühende Municipium Aquae (Baden bei Windisch) wurden weit und breit geplündert, Tausende niedergemacht oder nach Kriegsrecht verkauft. Das Kastell war, da die Besatzung in den „durch Alter verfallenen Mauern" (clilapsis vetustate moenibus) der Belagerung durch eine Armee von 30 000 Mann nicht hätte standhalten können, aufgegeben worden. Was sich retten konnte, floh auf den Mons Vocetius, an dessen Fuß, aber durch die Aare getrennt, Vindonissa sich ausbreitete (Bötzberg in der Nähe des Schlosses Habsburg, Kanton Aargau, Bezirk Brugg).2) Die hel-

1) Initium hello fuit avaritia ac festinatio unaetvicensimae legionis: rapuerant pecuniam usw.: den Namen der Legion, von deren wechselvollen Schicksalen Tacitus im weiteren Verlaufe seines Geschicktswerkes bis zu ihrem Unter- gange im Kriege gegen die Sarmaten (92/93) noch oft zu sprechen hatte, nennt er weder hier noch bei ihrer Einführung in c. 61, umschreibt aber den Namen durch ihre Tätigkeit.

2) Von wem die Identifikation des nur hier erwähnten Mons Vocetius mit dem Bötzberg (593 m hoch) stammt, vermag ich nicht zu sagen; sie hat aber alle Wahrscheinlichkeit für sich: auch die spätere römische Heerstraße, die Vindonissa mit Augusta Rauracorum (Äugst) und weiterhin mit Argentorate (Straßburg) verband, lief über den Bötzberg: vgl. CIL XIII 2, 2 p. 698; die heutige Bahn durchschneidet ihn in einem Tunnel. Der Berg war also ein echt keltisches „Refugium" von der Art derjenigen, wie sie Ferd. Keller, Hel- vetische Denkmäler I (Mitt. d. Antiquar. Ges. in Zürich XVI 1869) beschrieben hat: vgl. besonders S. 59. Im allgemeinen über solche Fluchtburgen s.o. S. 244,2.

Die helvetischen Gaue im J. 69 n. Chr. 253

vetische Hauptstadt Aveuticum (Avenches am Murten-See, Kanton Waadt), die genau auf der Marschroute des Caecina zum Gr. St. Bern- hard lag, entging mit genauer Not der Schleifung.

Diese Darstellung geht uns aus zwei Gründen, einem topo- graphischen und einem quellenkritischen, nahe an. Zunächst dürfte klar sein, daß jenes castellum qiwcl olim Helvetii suis müitibus ac stipendiis tuebantur das uns bekannte Tenedo gewesen sein muß:1/ Vindonissa, das Standquartier der Legion, lag nur wenige Wegstunden davon entfernt. Die angeführten Worte zeigen, daß es, ganz im Sinne der erwähnten Caesarischen Maßregel, eine Provinzialmiliz er- halten hatte2), der offenbar die Aufgabe zugewiesen war, den wichtigen Punkt gegen eine germanische Invasion zu schützen. Es war aber nicht in wehrhaftem Stande erhalten worden: begreiflich genug, denn das Land jenseits des Rheins war inzwischen den Römern untertänig geworden, ein Überfall also nicht mehr zu befürchten.

Auch die Quellenfrage läßt sich ziemlich rasch erledigen. Um von der allgemeinen Erwägung, daß das Plinianische Annalenwerk als Vorlage dieses Teiles der Taciteischen Historien ohnehin wahr- scheinlich ist, abzusehen: gewisse Anzeichen vereinigen sich, um diese Annahme gerade für die vorliegenden Kapitel, die durch Ge- nauigkeit der Ortsangaben und Präzision des Militärischen bemerkens- wert sind, zu sichern. Plinius hat den Schauplatz der in ihnen er- zählten Begebenheiten aus eigner Anschauung gekannt. Er hat nämlich nicht bloß, wie wir wissen (s. o. S. 208 f.), im Jahre 50/51

1) Diese Beziehung, die sich mir im Zusammenhange meiner Unter- suchungen als notwendig ergab, fand ich dann' auch bei Keller a. a. 0. (o. S. 240,2) 295 f. Man wird hier die Worte eines so genauen Kenners gern lesen: „Gemäß dem Hergang der Ereignisse muß die Burgbesatzung in einer Gegend gesucht werden, in welcher der Weg von Aventicum, von woher der Sold geschickt wurde, an dem Lagerplatze der XXI. Legion (Windisch) vorbeiführte; östlich von diesem muß auch der Ort gedacht werden, wo am Wege nach Pannonien der Botschaft tragende Centurio festgenommen wurde. Nach unserem Dafür- halten ist die mit helvetischen Truppen besetzte Festung . . . Zurzach (Tenedo). Der Weg nach Pannonien führte über Augusta Vindelicorum." Burckhardt- Biedermann a. a. 0. (o. S. 240,2) 133 hat sich durch eine von ihm selbst als phantastisch bezeichnete Schrift eines Dilettanten (Lindenmaun, Die Helvetier. Zürich 1901; auf keiner mir zugänglichen Bibliothek erhältlich) verleiten lassen, nicht Zurzach, sondern Zürich zu verstehen.

2) Vgl. Mommsen, Ges. Sehr. VI 146.

254 ^aP- W- Auf den Spuren der Bella Germaniae des Plinius

einen Teil seiner militari sehen Dienstzeit in dem Legionslager Vindonissa zugebracht, sondern er hat, wie aus einer Notiz der n. h. XVIII 183 längst geschlossen worden ist, im Jahre 74, also fünf Jahre nach den berichteten Ereignissen, abermals die Belgica, zu der das helvetische Gebiet gehörte, besucht1), und zwar diesmal aller Wahrscheinlichkeit nach als kaiserlicher Prokurator der Pro- vinz.2) Die besondere Fürsorge ferner, die Vespasianus den hart mitgenommenen Helvetiern nach seiner Thronbesteigung angedeihen ließ3), mochte für Plinius, den Vertrauten des Kaisers und über- zeugten Anhänger der flavischen Dynastie, ein Grund mehr sein, die unverdienten Schicksale des Landes, über dem nun, während er schrieb, die kaiserliche Gnadensonne leuchtete, ausführlich zu schil- dern. Vor allem ist dann aber folgendes bemerkenswert. Die Kapitel 61 69 bilden eine Einheit: sie umfassen, wie schon, be- merkt, die Erzählung der Märsche der beiden Vitellianischen In- vasionsarmeen des Valens (c. 61 66) und des Caecina (c. 67 691 und sind durch die Worte plus praedae ac sanguinis Caecina hausit miteinander verknüpft. Nun ist die erstere Kapitelserie von Münzer (S. 107 f.) für das Plinianische Annalenwerk mit gutem Grunde in Anspruch genommen worden. Über die Vocontier, die Gaugemeinde, die von dem Heere des Valens, unmittelbar bevor es an die Cottischen Alpen gelangte, heimgesucht wurde, bekommen wir nämlich am Schluß von c. 66 so genaue Angaben, wie sie nur dem Plinius ver- dankt werden können, der seinen Aufenthalt bei den Vocontiern n. h. II 150 ausdrücklich bezeugt er war vermutlich im Jahre 70 Prokurator von Gallia Narbonensis gewesen , und auf den daher das Wichtigste zurückgeht, was wir von diesem Stamme aus der Literatur, alles, was wir von seiner Geschichte in der Kaiserzeit kennen. Es ist so viel, daß es neben der inschriftlichen und numis- matischen Überlieferung sozusagen das Rückgrat der vortrefflichen

1) Nee recens subtrdhemus exemplum (eine Art des Pflügens> in Treverico agro tertio ante hunc annum eompertum, d. h. im Jahre 74. Bei seinem ersten Aufenthalte daselbst hatte er sich eine Altarinschrift notiert, die er dann in dem Germanenwerke verwertete: s. o. S. 215, 1. .

2) Münzer a. a. 0. 110. XII 6 berichtet er, daß Platanen sogar im Ge- biete der Morini (b. o. S. 187) vorkämen: worauf sonst als auf Autopsie könnte das beruhen?

3) Die Zeugnisse dafür werden wir weiter unten kennen lernen.

Die helvetischen Gaue im J. 69 n. Chr. 255

Schilderung bildet, die 0. Hirschfeld in seinen Gallischen Studien (Kl. Sehr. 62 ff.) von diesem Volksstamme entworfen hat; das vo- contische Municipium Lucus wird außer bei Tacitus in der Literatur sonst nur noch von Plinius n. h. III 37 genannt, und die Genauig- keit des einzelnen bei jenem geht so weit, daß sogar die gallischen Lokalbehörden, mogistratus civitatum, Erwähnung finden.1) Es ist dieselbe, auch das Kleine und das Individuelle berücksichtigende Sorgfalt, die auch die helvetische Kapitelreihe 67 69 auszeichnet.2) Auch in ihr wird „eine nach Art eines Municipiums ausgebaute Ortschaft"3) erwähnt, ihr Name Aquae (Helveticae) durch den Zusatz „ein anmutiges und viel besuchtes Bad" angezeigt4), wobei auch be- merkt sei, daß Plinius Badeorte dieses Namens in dem naturwissen- schaftlichen Werke besonders oft erwähnt hat.5) Auch in ihr ist von prineipes civitatis die Rede, deren Namen wir sogar erfahren. So entrollt sich vor uns in diesen beiden Kapitelreihen ein inmitten der alles Besondere meist ausgleichenden Literatur selten intimes Bild zweier Bürgergemeinden, die, da sie beide das Vorrecht einer civitas foederata besaßen, ihren nationalen Zuschnitt bewahrten, ein Bild, für dessen Zeichnung wir Plinius, für dessen Erhaltung wir Tacitus Dank schulden.

Eine Einzelheit möge unsere Darlegungen an ihrem Schlüsse ab-

1) Nach den Ausführungen Hirschfelds a. a. 0. 75 über die inschriftlich bezeugten Beamten dieses pagus werden wir darunter praefecti (und die ihnen untergeordneten aediles) zu verstehen haben.

2) Die Worte c. 66 Viennenses (ihre Bittgesandten) flexere militum animos und 69 Claudius Cossus, unus ex legatis (der Helvetier) militis animum mitigavit zeigen dieselbe Hand.

3) Gerade für derartiges interessierte sich Plinius, der ja selbst aus einem Municipium stammte. Der Ausdruck in modum munieipii extruetus locus ist anscheinend wörtlich dem Plinius entnommen, denn er wiederholt sich an einer sicher Plinianischen Stelle hist. IV 22 von Vetera: in modum munieipii exstrueta.

4) In Baden ist ein Inschriften f'ragment des [Calv]isius Sabinus gefunden worden (CIL XIII 5237), den Münzer S. 81, 1 für den Nachfolger des Pompo- nius Secundus hält, unter dem Plinius diente.

5) Vgl. den Index der Detlefsenschen Ausgabe s. Aqtiae und Föns. Über eine dieser Stellen, an denen der fons Tungrorum (Tongern bei Lüttich) er- wähnt ist (XXXI 12), werden wir im VI. Kap. (Abschn. 1 1 c) genauer zu sprechen haben.

256 KaP- IV- ^uf (*en Sparen der Bella Germaniae des PlioiuB

runden. Die Worte, mit denen bei Tacitus in dem Historienkap. 67 die Helvetier eingeführt werden Helväii Gallica gens olim armis virisque mox memoria nominis clara, tragen den Typus derjenigen, mit denen das Kimbernkapitel der Germania eingeleitet wird: Cimbri parva nunc civitas, sed gloria ingens. Auf jene folgt die Erwähnung eines alten, schon verfallenen Helvetierkastells Tenedo, auf diese die des Rheinübergangs der Kimbern: er geschah, wie wir erwiesen zu haben glauben, bei Tenedo. Der Gewährsmann ist beidemal Plinius.

5. GESCHICHTE DES KASTELLS TENEDO (ZURZACH) Ein Rückblick auf die Geschichte des Kastells Tenedo ist den Lesern vielleicht erwünscht, jedenfalls war es mir ein Bedürfnis, die Schicksale eines Platzes, der durch die vorstehenden Untersuchungen in historische Beleuchtung gerückt worden ist, mir so gut zu ver- gegenwärtigen, wie ich es auf einem mir streckenweise weniger ver- trauten Gebiete, dem des späteren Mittelalters, vermochte.

Schon in keltischer Zeit, nach der Einwanderung der Helvetier aus ihrer alten südwestdeutschen Heimat in die Schweiz, erhob sich auf dem hohen südlichen Uferrande des Oberrheins unweit östlich der Aaremündung die mit dem jenseitigen Ufer durch eine hölzerne Brücke verbundene Feste Tenedo, durch ihre Lage an einer vor- geschichtlichen Völkerstraße geeignet, etwaigen Eindringlingen aus dem Norden den Weg in die helvetischen Gaue zu sperren. Dieser ihrer Bestimmung, als Grenzschutz zu dienen, wird sie in den an- dauernden helvetisch- germanischen Fehden, die Caesar im I. Kapitel seiner Memoiren erwähnt1), entsprochen haben. Als im Jahre 111 die Kimbern den Durchzug nachsuchten, wurde er ihnen auf dem güt- lichen Wege von Verhandlungen gewährt. Über die Brücke, wahr- scheinlich außerdem auf Flößen und Kähnen der schmale Fluß- lauf ist jederzeit für Fährbetrieb geeignet gewesen wälzte sich der Heereshaufe mit seiner fahrenden Habe durch das helvetische Gebiet, dann weiter am rechten Rhoneufer und durch einen Eng- paß des südlichen Jura nach Gallien. Auch bei ihrem Rückmarsche

1) I 1, 4 Helvetii reliquos Gallos virtute praecedunt, quod fere cotidianis proeliis cum Germanis contenduxt, cum aut suis finibus eos prohibent aut ipsi in eorutn finibus bellum gerunt. Vgl. 1 40,7.

Geschichte des Kastells Tenedo 257

aus dem Westen in die oberitalische Ebene wählten sie wohl diesen Weg. Auf dem Hin- und Rückwege lagerten sie geraume Zeit am nördlichen bzw. südlichen Rheinufer. Spuren ihrer Lagerplätze er- hielten sich mindestens lVs Jahrhundert lang. Bei der Auswan- derung der Helvetier im Jahre 58, die als Ziel den Gau der Santonen zwischen Garonne und Loire am Ozean im Auge hatte1) die Wanderung erfolgte auf demselben alten Völkerwege, den die Kim- bern bei ihrem Zuge nach Gallien eingeschlagen hatten , wurde auch Tenedo preisgegeben: es war offenbar unter den „sämtlichen befestigten Plätzen, an Zahl etwa zwölf", die nach Caesars Ajigabe (I 5, 2) damals von den Helvetiern freiwillig vernichtet wurden, und die Rheinbrücke fiel sicher demselben Schicksal anheim. Als dann aber die Helvetier nach ihrer Niederlage im Haeduerlande noch in demselben Jahre heimkehrten, stellten sie die Feste mitsamt dem Flußübergang wieder her und gaben sie ihrer alten Bestimmung, als Bollwerk gegen Germaneneinfälle zu dienen, zurück. Von nun an verband sich die eigne Sicherheit der Helvetier mit dem römischen Interesse. Der Platz erhielt wohl im Zusammenhang mit der Orga- nisation der gallischen Provinzen durch Augustus (16 13) und der Einrichtung des Grenzschutzes eine aus einer Provinzialtruppe sich rekrutierende Besatzung, die ihre Löhnung aus Aventicum, der hel- vetischen Hauptstadt, bezog. Auch eine römische Niederlassung muß sich in Tenedo befunden haben. Das beweist einer der ganz wenigen Inschriftenfunde aus Tenedo auch Vindonissa hat im Verhältnis zu seiner Bedeutung bisher wenig Inschriften geliefert , der aus Augusteischer Zeit stammende Grabstein des Certus (CIL XIII 5239), eines gewesenen Veteranen der Legio XHI gemina, die damals in Obergermanien stand (Tac. ann. 1 37 zum Jahre 14). Diesem Soldaten scheint also in Tenedo, und zwar außerhalb der Mauern des alten Kastells der Stein ist in der erheblich jüngeren der beiden Festungs- anlagen gefunden nach seiner Dienstentlassung ein Grundstück

1) Nach C. Zangemeisters Annahme (CIL XITI 2, 1 p. 283 zu Nr. 6607) waren die Santones, bevor sie in ihre gallischen Sitze auswanderten, am Main im Odenwald beheimatet, wo sie Nachbarn der Helvetier gewesen waren, ehe diese in die Schweiz zogen. Nun also scheinen die Helvetier die Absicht ge- habt zu haben, sich mit den alten Nachbarn in deren neuer Heimat wieder zu vereinigen.

Norden: Die germanische Urgeschichte 17

258 Kap. IV. Auf den Sparen der Bella Germaniae des Pliniuß

zugewiesen worden zu sein.1) Wohl unter Tiberius wurde mit der Einrichtung des nahen Vindonissa, das auf einer hohen, durch den Zusammenfluß von Aare und Reuß gebildeten Landspitze gelegen war, als 11 auptwaffen platz begonnen; die Aufgabe der dort stationierten Legion war, „die Kommunikation der Rhein- und Donauarniee unter sich und mit Italien zu sichern" (Mommsen). Die obergermanischen Legaten unter Claudius haben sich, wie Inschriftenfunde beweisen (Münzer S. 81, 1), den Ausbau der Befestigungen dieses Standlagers angelegen sein lassen. Einer dieser war P. Pomponius Secundus, unter dem im Jahre 51 C. Plinius als Reiteroffizier diente; er hat die Spuren der Kimbernlager bei Tenedo besichtigt und Erkundigungen über die Donauquelle eingezogen, in deren Nähe er, über die Brücke reitend, selbst gekommen sein mag. Die Anlage und das Aufblühen des ganz nahen Badeortes Aquae (Helveticae) beweist, daß das Land allmäh- lich der kulturellen Segnungen des römischen Imperiums teilhaftig wurde; die Mauern der alten Kelten feste, die nun unter dem Schutze Vindonissas ihre Bedeutung vorläufig einzubüßen begann, verfielen allmählich. Aber im Jahre 69 wurde das Land, wenn auch nur vorüber- gehend, in die Strudel der dynastischen Militäraufstände hineingezogen. Die Erbitterung der Rheinarmeen gegen die keltischen Provinzialen entlud sich beim Durchzug der Armee des Caecina, deren Kerntruppe die in Vindonissa stationierte XXI. Legion war; damals räumte der keltische Landsturm zeitweilig die Feste. Auf das kurze Wüten der Kriegsfurie folgte dann aber eine lange Ruhezeit. Unter Vespasianus wurde nach einem erfolgreichen Kriege gegen germanische und kel- tische Stämme zwischen Schwarzwald und Schwäbischem Jura in den Jahren 73 und 74 (von Zangemeister aus Inschriften erschlossen) die Reichsgrenze vom Oberrhein an den oberen Neckar vorgeschoben. Die Fürsorge dieses Kaisers für die helvetische Volksgemeinde, die so schwer heimgesucht worden war, ist inschriftlich beglaubigt &o ließ er Aventicum ausbauen und erhob es zur Kolonie (CIL XIII

1) Für diese Annahme sei auf eine hübsche Analogie aus derselben Gegend hingewiesen. Nach Fabricius a. a. 0. (o. S. 226 f.) 37 erklärt sich in dem Namen, den Aventicum durch Vespasianus erhielt: Colonia pia Flavia constans emerita Helvetiorum (CIL XIII 5093), die Bezeichnung emerita daraus, daß die aus- gedienten Mannschaften der Alen und Kohorten, die in dem Germanenkriege 73 74 gefochten hatten, in der Schweiz im Gebiete von Aventicum Land erhielten.

Geschichte des Kastells Tenedo 259

5089. 93); es wäre also denkbar, daß er es war, der die alte hölzerne Brücke an dem Straßenübergang bei Tenedo durch eine steinerne ersetzen und das Kastell wiederherstellen ließ. Aber vielleicht ge- schah dies erst später. Denn im Jahre 213 kam Caracalla auf seinem Marsche von Gallien nach Raetien, von wo aus er in den Alamannen- krieg zog, in diese Gegend, und von ihm, der geradezu von einer Manie zur Kastellgründung besessen war,1) heißt es auf einer Inschrift des genannten Jahres in Salodurum (Solothurn, auf der Straße von Aventicum nach Vindonissa und Aquae): vias et pontes vetustate collapsos restiüiit (CIL XIII 9072). Der Friede dauerte im helvetischen Lande bis gegen die Mitte des III. Jahrh. Nun begannen die Vorstöße der Alamannen, die unter Kaiser Gallienus in den Jahren 256/7 und 259 ihren ersten Höhepunkt erreichten. Unter seinen Nachfolgern konnte die Donaugrenze nicht länger behauptet werden, und alles römische Gebiet auf dem rechten Ufer des Rheins wurde den Germanen überlassen; bezeichnenderweise sind in das in Diokle- tianischer Zeit verfaßte „Reichskursbuch", das Itinerarium Antonini, die Stationen der alten Rhein-Donaustraße von Tenedo bis Regina, die uns aus der Peutingerschen Routenkarte bekannt sind (s. o. S.240), nicht mehr eingetragen. Das waren die Zeiten, in denen die helvetischen Grenz- festungen sowie das Waffenlager Vindonissa ihre Aufgabe, die Reichs- grenze zu sichern, von neuem erhielten. Die archäologischen und numis- matischen Funde beweisen es gerade auch für Tenedo, dessen Befesti- gungen von Diocletianus und seinen Nachfolgern erneuert wurden: vermutlich damals entstand neben dem alten, vielfach erneuerten west- lichen Kastell ein neues, unmittelbar daneben gelegenes, mit jenem durch eine Mauer verbundenes östliches. Die Sicherung konnte auch gar nicht stark genug sein: die Alamannen durchbrachen gerade in dieser Gegend immer wieder die Reichsgrenze, fand doch unter den Mauern Vindonissas eine Schlacht statt (zwischen 298 und 305), in der Constantius sie besiegte (paneg. VI 6, 3). Wohl kam der mächtige Aufschwung des Imperiums im IV. Jahrh. auch den helvetischen Gauen zugute: insbesondere mag in dessen letztem Drittel Valenti- nianus I., der den Grenzschutz am Rhein von dessen Quelle bis zur

1) Cass. Dio LXXVI1 13, 4 o livzavlvog ig zovg 'IXa^avvovg 6ZQcczsv6ag Siszazzsv sl' Ttov zi %wqIov iiit.zifösiov Ttgbg tvo/xjjctv stäsv 'ivzav&a cpQovQiov ZEl^Od'^Z co'\

17*

260 Kap. IV. Auf den Spuren der Bella Germaniae des Plinius

Mündung sicherte1), auch die Befestigungen von Tenedo erneuert haben. Unter den Münzen2) ist Gratianus (f 383) mehrmals vertreten: der sehr erhebliche Sieg dieses Kaisers über die Alamannen bei Argen- taria im J. 378 (Ammianus XXXI 10 u. a.) wird dem zur gleichen Provinz gehörigen Tenedo3) Entlastung gebracht haben. Allein diese war nicht von Dauer: eine Münze des Valentinianus II (f 392) ist bisher das letzte sichere Zeugnis des Altertums in Tenedo, eine des Honorius (f 423) ist unsicher. In der zur Zeit des Honorius oder bald nachher redigierten Notitia Galliarum wird es unter den Festungs- werken an den Grenzen der Maxima Sequanorum zu dieser Pro- vinz der dioecesis Galliarum gehörte es seit der Diocletianischen Neu- ordnung der Reichsverwaltung nicht mehr genannt, wohl dagegen das castrum Vindonissense (Notitia dign. p. 268 Seeck). Bald darauf haben die Germanen die Grenze des durch die Ermordung des mäch- tigen Aetius endgültig erschütterten Imperiums auch hier überrannt : „Den Rhein, wilder Alamanne, trankest du auf römischem Ufer'" sagt Sidonius (carm. 7, 373 f.) vom J. 455. Dies war das Jahr der Besetzung des Elsaß und der Nordschweiz durch die Alamannen.4) Hiermit ist die Geschichte des alten Kelten- und Römerkastells Tenedo, soweit sie dem Altertum angehört, zu Ende.

Aus der Zeit des Übergangs zum Mittelalter sei erwähnt, daß, als nach der Niederlage, die der Franke Chlodwig den Alamannen bereitet hatte (496), Alamannien geteilt wurde, der Osten der hel- vetischen civitas mit dem Castrum Vindonissa an Burgund fiel (um 507); das alte Kastell Fines bezeichnete wieder eine Grenze, wie einst zwischen Germanien und Raetien (s. o. S. 204), so jetzt zwischen bur-

1) Ammianus XXVIII 2, 1 (zum Jahre 368) Bhenum omnem a Raetiarum exordio ad usque fretalem oeeanum magnis molibus communiebat, castra attollens altius et castella turresque adsiduas per habiles locos et opportunos, qua Galliarum extenditur longitudo, vgl. XXX 6, 6. Symmachus or. in Valentinianum 2, 23 p. 328 Seeck.

2) Ihre Kenntnis verdanke ich einer durch K. Regling vermittelten Mit- teilung des Münzkabinetts des Schweizer Landesmuseums in Zürich.

3) Argentaria (das allgemein bei Colmar. angesetzt wird) gehörte nach der Not. Gall. IX 8 zur Maxima Sequanorum, in der auch Tenedo lag.

4) Vgl. W. Oechsli, Zur JSiederlassung der Burgunder und Alamannen in der Schweiz (Jhb. f. Schweizerische Gesch. XXXIII 1908) 246 f., dessen licht- voller Darlegung ich auch für das unmittelbar Folgende einige Angaben entnahm.

Geschichte des Kastells Tenedo 261

gundischem und ostgotischem Gebiet. Aus burgundischer Oberhoheit kam Alamannien (nach 523) unter ostgotische, darauf (seit 536) unter fränkische: die civitas Helvetiorum wurde nun ein großes ala- mannisches Stammesherzogtum unter merowingischer Herrschaft. In dieser Gegend hat Columbanus 610—612 für Verbreitung des Christen- tums gesorgt; schon im V. Jahrh. war die civitas Helvetiorum als Bis- tum mit den Sitzen Aventicum und Vindonissa eingerichtet worden1), an dessen Stelle seit der Mitte des VI. Jahrh. die Bistümer Lausanne und Konstanz traten.

In das Mittelalter kam Tenedo mit dem neuen Namen Zurzacha, unzweifelhaft identisch mit dem in der ravennatischen Kosmogra- phie Wrsacha genannten Orte (p. 231, 14 Parthey; gleich darauf Constantia Konstanz).2) Anfänglich Benediktinerabtei, wurde es

1) Die Versuche J. Rahns, in Vitudurum und Fines (s. o. S. 204) Spuren christlicher Bauten nachzuweisen (Mitt. d. Antiquar. Ges. in Zürich XXI 1883, 88ff. uud Anz. f. Schweizer Altertumsk. 111 38 ff.) scheinen mir der Nachprüfung bedürftig.

2) Der Name interessierte mich gerade wegen seiner Eigenart. Da mir aber die bisher angestellten Versuche ihn zu deuten dilettantisch und aben- teuerlich erschienen für denjenigen, der sie prüfen will, seien die Fundstellen, soweit mir bekannt, hier angeführt: D. Maeder, Aargauische Ortsnamen, Aarau 1867, 13. A. Gatschet, Ortsetym. Forsch, als Beiträge zu e. Toponomastik d. Schweiz I, Bern 1867, 288. A. Bacmeister, Alemann. Wanderungen 1, Stuttg. 1867, 20. J. Huber, Gesch. d. Stifts Zurzach, Klingnau 1869, 2 f. , so wandte ich mich an Th. Siebs, dessen, wie mir scheint, einwandfreie Erklärung hier mit- geteilt sei: „Daß Zurzach und Wurzach das gleiche ist, muß einem Germa- nisten von vornherein das Wahrscheinliche sein, denn das ze, z1 (= zuo, zu) bei Ortsnamen ist allgemein und wächst häufig mit ihnen zusammen, wie im Nieder- deutschen und Friesischen te f, ter = te der usw. So erscheint Ochantesdorf neben Zochantsdorf (Foerstemann, Ortsnamen II 434) u. a. m. Umgekehrt wurde bekanntlich der noch heute gebräuchliche slowenische Name Zagrab zu deutsch Agram (Agrab), indem das z fälschlich als ze aufgefaßt wurde. Die meisten Länder- und Ortsnamen bildete man ja früher mit ze: te Kerlingen Frank- reich, ze Sachsen, ze Prinzen = Preußen, ze München zu den Mönchen usw. [Füssen a. Fuß der Allgäuer Alpen = ze Fuszin, wie Piemont = adpedes montium]. Daher sind alle diese Namen Dative Pluralis. Im vorliegenden Falle könnte es sich also nur fragen: ist Wurzaha (für Wu= WV schreibt man W) oder Zwrzaha das ältere? d. h. ist Wurzach mit z' präfigiert worden oder hat man aus Zurzach falsch ein z abgelöst, da man es fälschlich als z' Wrzach auffaßte? (das w wurde oberdeutsch wie konsonantisches m gesprochen, also konnte wu um so leichter zu u (zu) zusammenfließen). A priori ist das erstere wahr-

262 Kap. IV Auf den Spuren der Bella Germaniae des Plinius

seit 1274 Kollegiatstift des Bistums Konstanz; das unansehnliche Dasein, das es als solches führte, erhielt einen gewissen Nimbus durch die in Miracula aus der ersten Hälfte des XI. Jahrh. erzählte Legende von der h. Verena, die im Jahre 301 mit der „thebäischen Legion" aus dem ägyptischen Theben nach Italien, von da weiter über die Alpen an diesen Ort gekommen sein soll, wo sie 344 starb.1)

Das Interesse für die Altertümer des Ortes ist seit dem XVI. Jahrh. nachweisbar (vgl. CIL XIII 2, 1 S. 44) und hat in den Arbeiten der oben genannten Schweizer Gelehrten einen vorläufigen Abschluß ge- funden. „Es bleibt zukünftiger Forschung ein großes Gebiet offen": mit diesen Worten schließt der neueste Ausgrabungsbericht (von Heierli 19072). Vielleicht regen die Darlegungen dieses Abschnittes vorliegenden Buches dazu an, insbesondere zu der durch sie nahe- gelegten Prüfung, ob die ältesten baulichen Spuren etwa noch in die keltische Epoche hinaufführen; ungeklärte Fundtatsachen des älteren der beiden Kastelle3) dürften vielleicht von diesem Gesichts- punkte aus eine Wiederaufnahme der Untersuchung angezeigt er- scheinen lassen. In Windisch hat die Gesellschaft Pro Vindonissa bei ihren Grabungen im Jahre 1910 Spuren vorrömischer, d. h. aller Wahrscheinlichkeit nach keltischer Befestigungen zutage gefördert.41»

Möchte es mir gelungen sein, eine denkwürdige Epoche unserer ältesten vaterländischen Geschichte in etwas helleres Licht zu rücken.

scheinlich, und es wird dadurch zur annähernden Gewißheit, daß Wurzach ein leicht verständlicher deutscher Ortsname ist, der auch sonst vorkommt. So verzeichnet Foerstemann Wrzaha anno 1067 im Nordgau, auch haben wir heute Wurzach im württ. Oberamt Leutkirch. Der Name ist aus Würz = Pflanze herba, Gemüse -f aha = Wasser zusammengesetzt"

1) Vgl. W.Wattenbach, Deutschlands Geschichtsquellen I7 444 und o. S.242,l

2) Soeben lese ich eine neue Ausgrabungsnotiz: Germania IH (1919) 62.

3) Vgl. folgende Sätze aus dem oben (S. 240, 2) näher zitierten Berichte Heierlis : „Das (westl.) Kastell ist von unregelmäßiger Form, und diese Form ist nicht etwa durch die Bodenüguration bestimmt. Neben Rundtürmen erscheinen massive Halbtürme ... An manchen Stellen lassen sich deutlich zwei Bau- perioden unterscheiden. Vielleicht gehören auch die hohlen Rund- und die massiven Halbtürme verschiedenen Epochen an. Kurz, es macht den Eindruck, als wäre ein älterer Bau später restauriert und ergänzt worden." Die ungefähr gleichzeitige (1906) Beschreibung von Burckhardt-Biedermann (a. a. O.) weist auf die merkwürdige Lage des Eingangstores hin (S. 168).

4) Vgl. den Bericht von O. Schultheß, Arch. Anz. 1911, 321.

Geschichte des Kastells Tenedo 263

Dann dürften wir uns einer Nachricht, die einem genau beobachtenden und ortskundigen Augenzeugen verdankt wird, ohne Bedenken freuen, und es läge kein Grund mehr dazu vor, sie zu verdächtigen oder in das Gebiet der Sage zu verweisen oder, ihre Geschichtlichkeit zu- gegeben, auf die Möglichkeit irgendwelcher örtlichen Bestimmung zu verzichten.

III. VOLKSSTÄMME IN SÜD- UND MITTELDEUTSCHLAND In welchem Umfange das Plinianische Germanenwerk für Kultur- und Sittengeschichtliches, an dem es ja überreich gewesen sein muß, von Tacitus benutzt worden ist, entzieht sich meist unserer Kennt- nis. Die vielfach geäußerte Ansicht, wonach die Germania eine Art von Exzerpt aus den Bella wäre, schießt schon aus dem Grunde weit über das Ziel hinaus, weil sich das Material zwischen der Zeit des Claudius und derjenigen des Traianus ganz erheblich vermehrt hatte.1) Von diesem Material ist das meiste uns quellenmäßig nicht mehr faßbar, es war auch unliterarisches darunter, z. B. Aufzeichnungen von Verwaltungsbeamten, Offizieren und Kaufleuten. Aus dieser Fülle hat Tacitus, seiner allenthalben, auch in den historischen Werken kenntlichen Gepflogenheit entsprechend, weniges ausgewählt und zu einem neuen Ganzen verarbeitet. Anders liegt es mit dem geschichtlichen Material, das dem Plane der Schrift gemäß an Umfang erheblich zurücktritt. Hierin mußte das Plinianische Werk, zumal überall da, wo es sich um kriegerische Ereignisse handelte, für Tacitus grundlegende Bedeutung besitzen: denn es umfaßte in sich nicht nur das bei früheren Schriftstellern verstreute Material, sondern hatte dieses vermehrt bis in die Zeit seines Ver- fassers hinein, die sich mit der des Tacitus selbst berührte. Die Möglichkeit, daß dieser neben dem Plinianischen Werke auch die ihm zugrunde liegenden älteren Darstellungen des Livius, Aufidius und anderer uns nicht mehr kenntlichen Schriftsteller über Germanisches las, braucht dabei nicht in Abrede gestellt zu werden. Es ist vielmehr wahrscheinlich, daß er so verfuhr, da das seiner sorgsamen Art ent- sprach: auch steht ja durch sein eignes Zeugnis (c. 28) fest, daß er die Caesarischen Memoiren für Geschichtliches der alten Zeit heran-

1) Selbst ein Urteil wie das von 0. Hirschfeld (Kl. Sehr. 361), daß die Plinianischen Bella das hauptsächliche Material geboten hätten, geht noch zu weit.

264 Kap. IV. Auf den Spuren der Bella Germaniae des Plinius

zog, und für die germanische Urgeschichte ist es nach unseren früheren Darlegungen wohl als erwiesen zu betrachten, daß er neben Plinius auch den Livianischen Exkurs herangezogen hat. Aber historische Angaben der Germania, die nicht mehr in den Bereich jener älteren Werke fielen und noch nicht, wie die gelegentlichen Bemer- kungen über die Chattenkriege des Domitianus (29 a. E.), die Ein- richtung der decumates agri(29) und die Vernichtung der Bructeri (33), der selbsterlebten Zeit des Schriftstellers angehörten, müssen den Bella des Plinius unmittelbar entnommen worden sein, da diese für sie die einzige in Betracht kommende Quelle waren. Von besonderem Interesse sind endlich solche Stellen, wo geschichtliche Vorgänge der Vergangenheit mit Zuständen der Gegenwart durch die Ausdrücke hodieque, adhuc, manent nunc quoque in jene eigentümliche Verknüpfung gebracht werden, die wir an drei Beispielen, der Gründung von Asciburgium, den Inschriften an der Grenze Germaniens und Raetiens und den Überresten der Kimbernlager an den Rheinufern, kennen lernten. Plinius zeigt, wie oben bemerkt wurde, für derartige Gegen- wartsbeziehungen in der Naturgeschichte eine Art von fanatischer Vorliebe, die er offenbar auch in den Bella betätigte, denn auf eine solche Bemerkung der Bella nimmt er in der nat. hist. deutlich Bezug (s. o. S. 250). Also kann es nicht auf Zufall beruhen, daß auch in der Taciteischen Germania für diese schriftstellerische Manier eine Nei- gung zutage tritt wie auf so engem Räume sicher in keiner Schrift des Altertums sonst. Denn den genannten drei Angaben stellt sich eine vierte und fünfte zur Seite, die genau die gleiche Art zeigen.

1. HELVETII, BOII Das ganz geschichtlich angelegte Kapitel 28, das dem Völkerkata- loge vorausgeschickt ist, verfolgt den Zweck, die Germanen von den Nachbarstämmen an Rhein und Donau, insbesondere von den Galliern zu unterscheiden. Nachdem in seinem Anfange die Autorität des divus Iulius angerufen ist, geht es so weiter: „Zwischen dem Her- kynischen Walde, dem Rheinbund [Main ließen sich die Helvetii, darüber hinaus die Boii nieder, beides gallische Volksstämme. Noch bis jetzt dauert der Name Bohaemum und kennzeichnet die alte Geschichte des Landes, obgleich dieses die Bewohner gewechselt hat": inter Hercyniam silvam Bhenumque et Moenum amnes Helvetii, läteriora Boii, Gallica utraque gens, tenuere. man et adhuc Boihaemi nomen

Helvetii, Boii 265

significatque loci veterem memoriam quamvis mutatis cultoribus. In Grundgedanken und sprachlicher Einkleidung ist dies den beiden oben betrachteten Äußerungen gleichartig: manet adhuc ist eine Vereinigung von adhuc extarc (c. 3 über die Inschriften) und manent (c. 37 über die Spuren der Kimbernlager), wozu sich dem Sinne nach hodieque incolitur (c. 3 über Asciburgium) stellt. Die sachlichen Angaben des c. 28, für die wir keine andere Überlieferung haben als diese, sind überaus wichtig und durch historische und geographische Ge- nauigkeit ausgezeichnet. Sie können, auch abgesehen von der Ein- stellung auf die Gegenwart, kaum einem anderen Gewährsmann entnommen sein als dem Plinius. Die gewaltsamen Völkerschiebungen, die zur Besitznahme der Nordschweiz durch die Helvetii, Böhmens durch die Marcomani führten von diesen heißt es in Ergänzung jener Worte c. 42: „An Ruhm und Macht ragen die Marcomani her- vor; auch ihre jetzigen Sitze verdanken sie ihrer Tapferkeit, durch die sie vorzeiten die Boii verdrängten"1) , mußten einen wichtigen Teil der Plinianischen Bella bilden: der Zusammenprall der Boii mit den Kimbern war der Auftakt aller weiteren Ereignisse (Poseidonios bei Strabo VII 293 \ die Boii verbündeten sich später mit den Helvetii, ihren westlichen Grenznachbarn (Caesar I 5, 4). Plinius verdankte die Kenntnis dieser Geschehnisse älteren Werken, insbesondere wohl dem Livianischen, setzte sie aber in Beziehung zur Gegenwart, in die trotz inzwischen erfolgter Veränderungen die alte Landesbezeich- nung Boihaemum („Bojenheim") hineinragte. Daß der Main bei Tacitus sonst nie, wohl aber bei Plinius n. h. IX 145 genannt wird, erscheint geeignet, die hier vorgetragene Ansicht zu unterstützen.

2. CHATTI-BATAVI

Der Völkerkatalog beginnt in c. 29 mit den Batavi. Dieses Kapitel enthält gleich zu Anfang eine historische Angabe, durch die es mit der soeben besprochenen des vorangehenden Kapitels verknüpft ist.

1) In diese wenigen Worte ist eine lange Reihe von Begebenheiten derartig zusammengedrängt, daß Müllenhoff den Schriftsteller des Irrtums zieh (11265); dazu aber liegt nicht der geringste Anlaß vor. Vgl. die Erörterung von G. Kos- sinna in seiner Rezension jenes Bandes der Deutschen Altertumskunde im Anz. f. deutsches Altert, u. Lit. XVI (1890), 40, 2. B. Niese, Kelt. Wanderungen, Z. f. deutsche Alt. u. Lit. N. F. XXX (1898) 160, hat die Verdrängung der Bojen durch die Marcomanen auf die Jahre 63—60 v. Chr. zu datieren versucht, aber seine Kombinationen sind ganz unsicher.

266 Kap. IV. Auf den Spuren der Bella Germaniae des Plinius

„Vor allen diesen Stämmen zeichnen sich an Tapferkeit die Batavi aus, die vom Rheinufer nur einen kleinen Strich, dafür aber eine ganze Insel des Stromes bewohnen. Vordem ein Teilvolk der Chatti sind sie infolge innerer Zwistigkeiten in ihre jetzigen Wohnsitze ein- gewandert, wo es ihnen beschieden war, dem römischen Reiche an- gegliedert zu werden. Es bleibt ihnen eine geachtete Stellung und der Ehrenrang alter Bundesgenossenschaft: kein Steuerpächter schindet, kein Zoll und Zins entwürdigt sie; von Lasten und Fronen frei, nur dem Heeresdienste vorbehalten, bilden sie gleichsam eine Reserve von Wehr und Waffen.** Es wäre nicht zu rechtfertigen, bloß aus den Worten manct honos usw. im Sinne der obigen Ausführungen es ist das fünfte Beispiel für derartige Gegenwartsbezi ehung^n Plinianischen Ursprung zu erschließen. Aber die wichtige geschicht- liche Angabe von der Auswanderung der Batavi aus ihren früheren Wohnsitzen im Chattenlande1) findet sich bei Tacitus, und zwrar nur bei ihm kein anderer Schriftsteller erwähnt diese Umsiedelung , noch einmal in den Historien IV 12, als einleitende Bemerkung zur Erzählung des großen Aufstandes im Jahre 69: „Die Batavi, solange sie noch auf dem rechten Rheinufer saßen ein Teilstamm der Chatti, bewohnten, infolge innerer Zwistigkeiten vertrieben, die äußersten noch unbesetzten Gegenden des gallischen Küstensaums und zugleich die dicht dabei liegende Insel, die der Ozean von vorn, der Rhein- strom von hinten und an den Seiten umspült. Ohne daß sie in ihren Einkünften geschädigt würden eine Seltenheit in der Bundes- genossenschaft mit Stärkeren , liefern sie dem Reiche nur Männer und Waffen2), schon lange in Germanenkriegen erprobt." Die Über- einstimmung beider Stellen in Gedankenführung und Wortwahl (beide- mal seditione domesiica, dort nee publkanus atterit, hier nee opibus attritis, dort Ghattorum populus, hier Chattorum pars) ist so vollkommen wie nirgendwo sonst im Taciteischen Schrifttum, es sei denn, daß es sich gerade wieder um parallele Stellen aus der Erzählung des Bataven- krieges mit solchen der Germania handle, wo ähnlich starke Anklänge

1) Wohl zwischen 55 und 12 v. Chr.: A. Klotz, Caesarstudien 38 f.

2) Ein solcher dilectus wird gleich darauf (c. 14) berichtet: iussu Vitellii Batavorum iuventus ad dilectum voedbatur usw. mit erlesenen Einzelheiten, darunter einer ethnographischen Bemerkung: est plerisque procera pueritia, die derselben Quelle entstammt wie V 14 proceritas corporum (der Germanen).

Chatti Batavi 267

begegnen1); auf die Sonderstellung der Batavi kommt er in den Historien noch zweimal zurück: IV 17 heißen sie tributorum erpertes und V 27 läßt er sie von sich selbst sagen: sibi non tributa sed virtutem et viros indici. Entweder hat er also an allen diesen Stellen der beiden Schriften sich selbst ausgeschrieben das wäre eine nicht leicht vorstellbare Annahme, da er die erlesenen Kenntnisse ja nicht sich selbst verdankte oder einen anderen. Nun ist, wie schon oben (S. 211) bemerkt wurde, durch Münzer unwiderlegbar be- wiesen, daß Tacitus den Batavenkrieg, was das Sachmaterial betrifft, den Annalen des Plinius nacherzählt hat. Diesem Führer hat er sich also auch in der Germania gleich in jener einleitenden Bemerkung des Völkerkatalogs über batavische Ethnographie2), Geographie und Administration angeschlossen.3) Ja, er scheint so sichtbar wie eben möglich, wenn er nicht den Namen selbst nennen wollte, auf ihn hinzudeuten, indem er von den Batavi sagt, sie seien im römischen Heeresdienst schon lange durch Germanenkriege geschult, diu Ger- manicis bellis exerciti: damit vergleiche man die bekannte Quellen- angabe der Annalen I 69 tradit C. Plinius, bellorum Germanicorum scriptor (s. o. S. 212). Plinius hatte in dein Germanenwerke die Batavi wegen des Heeresbannes, den sie den Römern in germanischen Kriegen wiederholt leisteten gemeint sind vor allem die des Germanicus4) , öfters zu nennen. Die dort gemachten ethnographischen und ge- schichtlichen Angaben hat er dann im Annalenwerke kurz rekapitu- liert: auch in die Naturgeschichte hat er, wie wir noch sehen werden, mancherlei aus dem Germanenwerke herübergenommen. Die auffällige Übereinstimmung der weiter oben erwähnten Stellen des Tacitus erklärt sich mithin daraus, daß er sich in der Germania dem früheren, in den Historien dem späteren Werke des Plinius anschloß.

1) Die Stellen s. weiter unten S. 271,2.

2) Abstammung von den Chatti galt auch von deren Nachbarvolk, den Cannenefates : hist. IV 15 Cannenefates origine lingua virtute pares Batavis: wie erstaunlich genau war dieser Schriftsteller unterrichtet, der sogar die Sprachverwandtschaft ein in antiker Ethnographie leider sehr seltenes Argument heranzuziehen vermochte.

3) Schon Müllenhoff D. A. IV 20 vermutete ohne nähere Begründung Plinius als Gewährsmann.

4) Die batavischen Auxilien werden zweimal in der Erzählung der Feld- züge des Jahres 16 bei Tac. ann. II 8. 11 erwähnt, vgl. M. Bang, Die Germanen im röm. Dienst (Berl. 1906) 32.

268 ^ap. ^'' ^u^ ^en Spuren der Bella Germaniae deB Plinius

Auch sonst geht in der ausführlichen Taciteischen Schilderung der Chatti denn. c. 30. 31 manches offensichtlich auf Plinius zurück. In c. 30 wird über ihre militärischen Gepflogenheiten so eingehend gesprochen und dabei mit solcher Sachkunde ein allgemeines Urteil über die Gegensätzlichkeit von Kavallerie- und Infanterieangriffen ab- gegeben1), daß bei dem geringen Verständnisse des Tacitus für der- gleichen Dinge nannte ihn doch Mommsen (R. G. V 165, 1) „den unmilitärischsten aller Schriftsteller" die Vermutung, er habe diese Angaben dem, wie wir sahen, seit seiner Jugend für derartiges be- sonders interessierten Plinius entnommen, sich von selbst aufzudrängen scheint. Dabei ist auch eine an sich unscheinbare Einzelheit be- merkenswert. Von den Chatti heißt es, sie verständen sich darauf, „die rechten Männer zu Führern zu wählen und diesen zu gehorchen, sowie Reih und Glied zu halten" (praeponere electos, audire praeposi- tos, nosse ordines). Hiermit vergleiche man folgende zwei Stellen der Geschichtswerke. In den ann. II 45 (zum Jahre 17) heißt es von den Kämpfen zwischen Arminius und Maroboduus: „Die Heere ordneten sich zur Schlacht, aber nicht, wie sonst bei den Germanen, in plan- losem Anrennen oder in zerstreuten Haufen: in der langen Kriegs-

1) „Der Volksstamm ist besonders abgehärtet, sein Gliederbau gedrungen, sein Blick drohend; die geistige Elastizität, Berechnung und Anstelligkeit ist, wenigstens für Germanen, bemerkenswert groß. Sie verstehen sich darauf, die rechten Männer zu Führern zu wählen und diesen zu gehorchen, Reih und Glied zu halten, Gelegenheiten zum Angriff zu erspähen und anderseits mit diesem zurückzuhalten, am Tage Dispositionen zu treffen und in der Nacht sich zu ver- schanzen, das Schlachtenglück als zweifelhaften, die Tapferkeit als sicheren Posten in Rechnung zu stellen und was besonders selten und ein Vorrecht planmäßiger Disziplin ist sich mehr auf den Führer als auf das Heer zu ver- lassen. Ihre ganze Stärke liegt im Fußvolk, und dieses lassen sie außer den Waffen auch Schanzzeug und Proviant tragen: andere Stämme sieht man wohl in die Schlacht, die Chatten in den Krieg ziehen. Improvisierte Vorstöße, aus denen sich dann bei Gelegenheit ein Gefecht entwickelt, bilden bei ihnen eine Ausnahme. Freilich ist das ja auch mehr die Besonderheit von Kavallerie- streitkräften: rasche Entscheidung des Siegs, dann rascher Rückzug; aber Schnel- ligkeit grenzt an Furcht, während bedachtsames Vorgehen mehr Zeichen der Standhaftigkeit ist." Für das hier über Kavallerietaktik Gesagte equestrium sane virium id proprium, cito parare victoriam, cito cedere vergleiche man etwa Sallust lug. 59, 3 non, uti equestri proelio solet, sequi, dein cedere, sed advorsis equis concurrere: das letztere war eine durch die Besonderheit der Umstände bedingte Ausnahme.

Chatti Batavi 269

zeit gegen uns hatten sie sich nämlich daran gewöhnt, den Feldzeichen zu folgen, sich durch Reserven zu sichern und Befehle der Führer entgegenzunehmen" (sequi Signa, subsidiis firmari, dida imperatorum accipere). Der ganze Abschnitt, in dem diese Worte stehen (1144 46 -f 62 63), ist Plinianisch (s. o. S. 213f.). Ganz analog wird hist. I 68 von den Helvetiern gesagt: „Sie wußten mit den Waffen nicht Be- scheid, hielten nicht Reih und Glied, faßten keinen gemeinsamen Plan" (non arma noscere, non ordines sequi, non in unum consulere). Dies steht inmitten jener Kapitelreihe, die wir im vorigen Abschnitte (S. 251 f.) auf Plinius' Annalen zurückgeführt haben. Man merkt an den drei Stellen deutlich die Hand eines und desselben, für die militärische Disziplin interessierten Schriftstellers. In der Germania geht es dann c. 31 so weiter: „Ein Brauch, der bei anderen germanischen Stämmen nur selten und als Ausdruck persönlichen Wagemutes auftritt, ist bei den Chatten zur allgemeinen Volkssitte geworden. Mit dem Eintritt in die Mannbarkeit lassen sie ihr Haar auf dem Haupte und im Ge- sichte wachsen und legen es nicht eher ab, als bis mit der Erlegung eines Feindes das Gelübde, durch das sie sich zum Heldentume ver- pflichteten, seine Erfüllung gefunden hat." Hier tritt wieder eine Stelle des vierten Historienbuches zur Seite, c. 61: „Civilis legte das Haar, das er sich, barbarischem Gelübde gemäß, beim Beginne des Waffenganges mit den Römern hatte lang wachsen und rötein lassen, erst nach Vollzug der Vernichtung der Legionen ab."1) Für die Quellenfrage tritt bestätigend hinzu, daß Plinius n. h. XXVIII 191 die Sitte des Rotfärbens der Haare apud Germanos erwähnt (ruti- landis capillis Plin., rutilatum crinem Tac.).2) In der Germania geht es weiter: „Die Tapfersten tragen obendrein einen eisernen Ring, bis sie sich von dieser nach dem Dafürhalten des Stammes gleichsam entehrenden Fessel durch Erlegung eines Feindes lösen." Plinius spricht XXXIII 8 ff. über das Symbol der Ringe, gerade auch der

1) Der Unterschied dieser beiden Stellen, daß dort von einem Volksbranche, hier von einer einmaligen Handlung des Civilis geredet wird, erklärt sich aus dem besonderen Falle: Civilis war römischer Bürger und hatte längere Zeit in Rom gelebt, bevor er den Aufstand organisierte.

2) Bemerkenswert Livius XXXVIII 17, 3 promissae et rutilaiae comae von den Galliern. Diese Stelle hatten wir oben (S. 156 ff.) auf Poseidonios zurückgeführt. Der Brauch des Röteins der Haare war Kelten und Germanen gemeinsam oder von den einen zu den anderen gewandert.

270 Kap IV. Auf den Spuren der Bella Germaniae des Plinius

eisernen, bei Griechen und Römern ausführlich; seine Ausdrucksweise ferreum anulum . . . vinculum id, non gesteinten klingt an die Taci- teische ferreum anulum . . . velut vinculum gestat an, und das Plinia- nische virtutis bcllicae insigne stimmt in der Sache mit dem bei Taci- tus folgenden Satze plurimis Chattorum hie placet habitus iamque canent insignes et hostibus simid suisque monstrati überein.

Wir haben auf diese Weise fast den gesamten Wesensinhalt der beiden, die Chatti betreffenden Kapitel 30 und 31 durchmustert: die Ver- mutung, Tacitus habe dieses ganze Stück natürlich verbrämt mit einigen Reflexionen und gekleidet in einen Stil, in dessen besonde- rem Glänze sich die Bewunderung für jenes rauhe Heldentum pracht- voll spiegelt dem Plinius entnommen, erscheint durchaus begrün- det.1) Wenn das richtig ist, so fällt noch ein eigenartiges Licht auf diese, die ganze Schilderung abschließenden * Sätze sie folgen un- mittelbar auf die soeben angeführten über die alten chattischen Recken : „Sie sind es, die jede Schlacht eröffnen, stets im ersten Gliede stehen, ein wundersamer Anblick; denn auch der Friede sänf- tigt diese Gestalten nicht zu milderer Erscheinung. Keiner hat Haus und Hof noch sonstigen Beruf; wo immer er gerade eintritt, da wird er bewirtet . . ., bis die Entkräftung des Greisenalters solch rauhes Heldentum zur Entsagung zwingt." Diese Sätze sind in mehrfacher Hinsicht mit früheren aus dem allgemeinen Teile der Schrift ver- knüpft. Die Worte omnium penes hos initia pugnarum erinnern an die Marschlieder, die sie ituri in proelia auf „Hercules" singen (c. 3). Wir haben gesehen (o. S. 176 ff.), daß wir diesen „Hercules" aller Wahr- scheinlichkeit nach gerade für die Chatti- Batavi in Anspruch nehmen dürfen, und mögen uns nun in unserer Einbildungskraft diese im Heldentum bewährte Altersriege Lieder auf ihren Siegfried, „den aller- ersten der Helden" anstimmend vorstellen. Die Worte ferner nulli domus aut ager aut aliqua cura haben neuerdings die Aufmerksam- keit unserer Wirtschaftshistoriker auf sich gezogen: die hier den alten

1) Schon K. Schumacher, Die Germania des Tac. und die erhaltenen Denk- mäler (Mainzer Ztschr. IV 1909) 13, urteilte: der besonders vorzügliche Bericht des Tac. über die Chatti lasse auf eigne Anschauung und Erfahrung schließen, stamme also wohl aus Plinius. Unabhängig hiervon Gudeman im Komm, zu c. 31, wo der Hinweis auf die Kongruenz des Ringmotivs sehr förderlich ist. Die im Text gegebene Darlegung ist vielleicht geeignet, die vermutungsweise Behauptung der Genannten zu beweisen.

Chatti Batavi 271

Helden gewährte Ausnahmestellung beleuchtet nämlich das vielum- strittene agrargeschichtliche Kapitel 26 insofern, als sich daraus ergibt, daß der dort geschilderte Normalzustand auf keinen Fall, wie man früher wohl annahm, mit einem Agrarkommunismus gleich- bedeutend gewesen sein kann.1) Endlich lassen sich die Worte prout ad quemque venere, aluntur mit den oben (S. 134 ff.) behandelten über die germanische Gastfreundschaft (c. 21) vergleichen, wo es u. a. heißt: proximam domum non invitati adeunt; nee interest, pari hu- manitate accipiimtur. Wenn nun die Chattikapitel Plinianisch sind, so liegt die Vermutung nahe, daß es auch jene früheren sind, zu denen sie in derartigen Beziehungen stehen; ohnehin hatten wir durch die Quellenanalyse für c. 3 und 21 Plinius als denjenigen Ge- währsmann wahrscheinlich zu machen gesucht, der dem Tacitus die über Livius auf Poseidonios hinaufreichende Kunde vermittelt hatte. Plinius scheint also die alten, ihm nur aus der Literatur bekannten Nachrichten über die Germanen insgesamt an den Erkennt- nissen, die ihm lebendige Erfahrung lieferte, geprüft zu haben; er fand sie insbesondere bei den Chatti bestätigt, bei denen sich die dura virtus des alten Germanentums vorzugsweise erhalten hatte. Für die Erkenntnis Plinianischen Gutes in den Chattikapiteln hat uns vor allem das IV. Buch der Historien gute Dienste ge- leistet. Einige weitere, teilweise gleichfalls bemerkenswerte Über- einstimmungen zwischen der Germania und jenem Buche, die geeignet sind, das gewonnene Ergebnis zu sichern und zu ergänzen, mögen, um den Gang der Untersuchungen nicht zu beeinträchtigen, anmerkungs- weise vorgelegt werden.-) Nur eine dieser Stellen, die sachlich mit den besprochenen zusammenhängt, sei hier im Text kurz erörtert.

1) Auf die Beziehung der beiden Kapitel zueinander hat zuerst Fustel de Coulanges a. a. 0. (o. S. 6) 771 ff. hingewiesen und das eine durch das andere schön beleuchtet.

2) Vgl.hist. IV 13 Civilis ultra quam barbaris solitum ingenio sollers <~ Germ. 30 von den Chatti: multum, ut inter Germanos, rationis ac sollertiae (Civilis war als Batave chattischer Nationalität), hist. IV 14 Civilis primores gentis specie epularum sucrum in nemus vocatos . . . (Kriegsrat) ~ Germ. 22 de pace ac bello plerumque in convivüs Consultant -f 9 nemora consecrant. hist. IV 15 Gaiayiarum expeditionum ludibrium <^> Germ. 37 ingentes Gai Caesaris minae in ludibrium versae (s. o. S. 219). hist. IV 18 Civilis . . . omnium coniuges parvosque liberos consistere a tergo iubet, hortauienta victoriae vel pulsi-s pudorem. ut virortm

272 Kap. IV. Auf deu Spuren der Bella Germaniae des Plinius

Am Schlüsse des Kapitels 28, zu dessen Beginn die Nachrichten über die Helvetii und Boii stehen, und unmittelbar bevor zu An- fang des Kapitels 29 von den Chatti-Öatavi gesprochen wird, stehen folgende Worte: „Die Treverer und Nervier . . . (beanspruchen, Ger- manen zu sein, nicht Gallier). Das Rheinufer selbst bewohnen un- zweifelhaft germanische Völker, die Vangiones, Triboci und Nemetes. Selbst die Ubii, obwohl sie sich die Ehre einer römischen Kolonie verdient haben und sich lieber nach dem Namen ihrer Gründerin Agrippinenses nennen hören, schämen sich nicht ihres Ursprungs als germanischer Stamm, der vor alters den Rhein überschritt/" Die Aufzählung der gallischen Völker in der Naturgeschichte des Plinius stimmt hiermit im wesentlichen überein die Abweichungen erklären sich meist aus dem statistischen Zweck dieses Werkes (IV 105 f.): Nervi . . . Treveri . . . Helveti . . . BJienum autem accolcntes Germaniae gentium (vgl. Tac: Rheni ripam haud dubie Germanorum populi colunt) in eadem provincia Nemetes Triboci Vangiones, in TJbis colonia Agrippinensis . . ., Batavi. Wieder tritt eine Stelle der Historien hinzu: IV 28 „Die Ubii, ihrem Ursprünge nach ein germanischer Stamm, ließen sich Agrippinenses nennen." Plinius mußte für diese Uninennung des oppidum übiorum (so Tac. arm. I 36) besonderes Interesse haben: sie war im Jahre 50/1 erfolgt1), gerade als Plinius" Dienstzeit in Germanien begann, und die jüngere Agrippina, deren

cantu, feminarwm ululatu sonuit acies . . . ~ Germ. 3 prout acies sonuit (durch den barditus) -f ? w* proximo pignora, unde feminarum ululatus audiri, unde vagitus infantium . . . illae cibos et liortamina pugnantibus gestant 22 depromptae silvis lucisque ferarum imagines, ut euique genti inire proelium mos est <^> Germ. 7 effigies et Signa quaedam detracta lucis in proelium ferunt. hißt. IV 61 Veleda nationis Bructerae late imperitabat vetere apud Germanos more quo plerasque feminarum fatidicas et augescente superstitione arbitrantur deas <~ Germ. 8 inesse (feminis) sanctum aliquid et providum putant . . . vidimus sub divo Vespasiano Veledam diu apud plerosque numinis loco habitam usw., schließend: deas. hist. V 17 ubi sono armorum tripudiisque ita Ulis mos adprobata sunt dicta ~ Germ. 11 sidisplicuit sententia, fremitu aspernantur ; sin placuit, frameas concutiunt. honoratissimum adsensus genus est armis laudare : im letzten Satze ge- winnt der Superlativ an Bedeutung, wenn man aus der Historienstelle weiß, daß auch tripudia als Zeichen des Beifalls galten.

1) Tac. ann. XII 27 (zum Jahre 50) Agrippina . . . in oppidum übiorum. in quo genita erat, veteranos coloniamque deduci impetrat, cui nomen inditum e voeabulo ipsius. ac forte acciderat ut eam gentem Bhenum transgressam avus Agrippa in fidem acciperet (im Jahre 38 v. Chr.).

Ubii 273

i

Namen ihre Geburtsgemeinde tragen durfte, war die Enkelin des Drusus,

zu dessen Ehren Plinius, wie bemerkt (o. S. 273), noch während seiner Dienstzeit das Germanenwerk begann. Es ist daher wohl auch beach- tenswert, daß er von Tacitus (aun. 1 69) gerade aus Anlaß eines am Rhein erfolgten Auftretens der älteren Agrippina, der Schwiegertochter des Drusus, als Germanicorum bellorum scriptor bezeichnet und als solcher nur dies eine Mal zitiert worden ist. Der junge Offizier des claudi- schen Heeres hatte dem Quellenberichte, auf den er für die Erzählung der Gernianenkriege des J. 15 im übrigen durchaus angewiesen war, die Erwähnung jenes ehrenvollen Auftretens der nun längst verstorbenen Schwiegermutter des regierenden Kaisers, das sich im Gedächtnisse der loyalen Kreise der Hauptstadt erhielt Danksagung an die ge- schlagenen, aber tapferen, Fürsorge für die verwundeten Soldaten in eignem Namen eingefügt (vgl. o. S. 273).

Es hat sich uns bei sämtlichen Stellen der Germania, die durch Ausdrücke wie adhuc, manet u. ä. in unmittelbare Beziehung zur Gegenwart gerückt sind, ergeben, daß Plinius für sie der vermut- liche Gewährsmann war. Auch in den Annalen begegnet innerhalb der germanischen Abschnitte1) ein solcher Hinweis II a. E.: can>- turque adhuc barbaras apud gentes (Arminias). Ein angesehener Germanist2) hat es als auffällig bezeichnet, .,daß in dem Falle Arminius ein Zeitgedicht ausnahmsweise lange, drei Menschenalter, am Leben blieb, während sonst wohl diese Produkte mit ihrer Generation ins Grab sanken". Die Quellenanalyse ermöglicht es, die Ausnahme zu beseitigen3): nach den obigen Darlegungen (S. 213f. )

1) Außerhalb dieser: hist. V 7 in der Beschreibung Judaeas: quos (campos: die Sodomitis) ferunt . . . fulminum ictu arsisse, et mattere vestigia (Quelle unbekannt, aber dieselbe wie Josephus bell. IV 484 cpael ds . . . cog xsQavvoig %axsffXiyr\. Igxi yovv Sri Xslipccva xov ftslov Ttvgög: vgl. N. Jhb. XXXI 1913, 663). ann. IV 43 (zum Jahre "25) monimentuque eins rei (eines peloponnesisch^u Besitzkonfliktes) sculpta saocis et aere prisco martere ( Primärquelle Senatsakten, Vermittler unbekannt). XV 42 Nero . . . eff ödere proxima Averno iugo eonisus est, manentqtte vestigia inritae spei (Plinius' Annalen gesichert: A. Gercke, Jhb. f. Piniol. XXII 1895, 213).

2) A. Heusler, „Dichtung" in Hoops Reallex. I 454.

3) Daß wirkliche Lieder zu verstehen seien, hätte nie bezweifelt werden dürfen. Ich könnte darüber jetzt noch zuversichtlicher sprechen als in der Einl. in d. Alter- tumswiss. I* (1912) 446, übergehe das aber, da es zu weit führen würde.

Norden: Die germanische Urgeschichte IS

274 Kap. IV. Auf den Spuren der Bella Germania« des Plinius

muß die Angabe, wie alles Germanische dieser Annalenbüoher, in den Bella des Plinius gestanden haben, der sie seinerseits nur einer älteren Vorlage entnommen haben kann. Dadurch rückt sie aus der Zeit des Traianus in die des Claudius, dann über diese weiter hinauf und hält sich so tatsächlich innerhalb der Generation, die den Tod des Arminius (21) erlebte. Daß Tacitus die Gegenwartsbestimnmng, obwohl er genau genommen keine Verantwortung für sie mehr übernehmen konnte, aus dem Quellenbericht beibehielt, muß man sich in diesem F;ille wie in sämtlichen anderen hier behandelten gefallen lassen. Plinius starb als hoher Fünfziger, als Tacitus etwa Mitte der Zwanzig war; als er dann, schon ein gereifter Mann, zu Schriftstellern begann, schoben sich ihm die Zeiten zu einer Einheit zusammen, und er durfte, auch ohne deshalb den Vorwurf einer Ungenauigkeit auf sich zu laden, wohl außer acht lassen, daß die Plinianischen Bella von seiner Germania durch einen Zwischenraum von fast 50 J., von den Annalen durch einen noch größeren getrennt waren. Andere Schriftsteller sind mit derartigen aus der Vorlage herübergenommenen Gegenwartsbezeichnungen noch viel freigebiger gewesen, da sie angesichts eines allgemein geübten Brauches sicher sein durften, von ihren Lesern nicht auf zahlenmäßige Genauigkeit nachgeprüft zu werden. Wir sind darin wohl etwas gewissenhafter oder auch pedantischer geworden, müssen uns aber in buchstäblicher Auswertung eines sxi v.ccl vvv, nunc quoque größter^ orsicht befleißigen.

ii. HERMUNDÜRI. DIE GRENZE GERMANIENS GEGEN RAETIEN. REPUBLIKANISCHE MÜNZSORTEN IM FREIEN GERMANIEN

Eine bemerkenswerte Spur der Benutzung des Plinianischen Werkes findet sich im 41. Kapitel der Germania. Tacitus verläßt hier den Rhein- lauf, um sich der Donaulinie zuzuwenden: ,,Dieser Teil des Sueven- gebietes erstreckt sich in die entlegeneren Gegenden Germaniens. Uns näher liegt um jetzt, wie früher dem Rhein, der Donau zu folgen die Gaugemeinschaft der Hermunduren. Den Römern treu gesinnt, sind sie das einzige germanische Volk, mit dem wir nicht bloß von Ufer zu Ufer, sondern mitten auf unserem Boden und in der glänzendsten Pflanzstadt der Provinz Raetien Handels- verkehr pflegen. Allenthalben kommen sie unbeaufsichtigt herüber, und während wir anderen Ausländern nur unsere Waflen und Lager

Hermunduri. Römische Villen in Germanien 275

zeigen, haben wir den Hermunduren unsere Wohnhäuser und Guts- höfe geöffnet, ohne daß sie nach ihnen Begehr trügen. Auf ihrem Gebiete entspringt die Elbe, vorzeiten ein Fluß berühmten und wohlbekannten Namens: jetzt hört man nur noch von ihm." Eine in mehrfacher Hinsicht bemerkenswerte Stelle. Die in den letzten Jahrzehnten erfolgreich begonnene Villenforschung1) domos vülasque sagt Tacitus hat ihr meines Wissens keine Beachtung geschenkt. Wir werden aber berechtigt sein, unsere Kenntnisse, die wir Aus- grabungen von villae beispielsweise in Oberschwaben verdanken, für die Vorstellung solcher bei Augasta Vindelicum, der splendidissima Raetiae provinciae colonia2), zu verwerten und mögen -uns in unserer Phantasie das Erstaunen der Germanen über den rationellen Guts- betrieb in einem solchen aus Stein erbauten Meierhofe mit Kellern. Speichern, Wirtschaftsgebäuden, Bad und teilweise heizbarem Herren- haus ausmalen. Es sollte nicht mehr allzulange dauern, daß sich bei den Hermunduren als Bundesgenossen der Marcomanen, ihren Nachbarn iuxta Hermunduros Naristi ac deinde Marcomani fährt Tacitus fort , aus dem Besichtigen der römischen Häuser und Höfe ein concupiscere ergab, und dem Wunsche blieb die Erfüllung nicht versagt: in den Marcomanenkriegen seit 166 wurde auch Raetien überflutet. Aber uns interessiert hier die Stelle mehr in anderer Hinsicht. Sie ist durch die Limesforschung3), die in jener Gegend seit dem Jahre 1908 mit besonderem Erfolge tätig gewesen ist, in eine ganz neue Beleuchtung gerückt worden. Ich kann nichts Besseres tun als die Worte W. Bartheis aus seiner bereits oben (S. 248, 1) gelegentlich zitierten, die Forschungsergebnisse bis zum

1) Vgl. die sehr instruktive Abhandlung von G. Kropatschek, Das röm. Landhaus iu Deutschland, VI. Bericht der röm.-germ. Komm. 1910—11 (Frankf. 11)13) 51 ff. Hier sind auch die Schriftstellerzeugnisse über die antike villa rustica und, urbana berücksichtigt, aber außer dem Taciteischen die Horazischen neben dem Catonischen und Varronischen die lebensvollsten vergessen worden.

2) Daß Augsburg gemeint ist, hätte nie bezweifelt werden sollen. Seinen Glanz verdankte es dem Handel: es lag auf dem Wege von Italien nach Ger- manien und umgekehrt über den Brenner. Aus Inschriften kennen wir eine große Anzahl dortiger ncgotiatores : vgl. V. Pärvan, Die Nationalität d. Kauf- leute im röm. Kaiserreiche (Diss. Bresl. 1909) 129.

3) Auf ihre Bedeutung hierfür hat zuerst Mommsen hingewiesen (Weatd. Ztschr. IV 1885, 51 = Ges. Sehr. V 452).

18*

276 Kap. IV. Auf den Sparen der Bella Gennuniae de« Plinius

Jahre 1912 zusammenfassenden und durch lichtvolles Urteil er- gänzenden Abhandlung (S. 167) auszuschreiben, wobei ich freilich den zur Nachprüfung gewillten Leser bitten muß, die jener Ab- handlung angefügte Kartenbeilage (Die Kastelle des obergermanisch- raetischen Limesgebietes) zu vergleichen: „Für die Zeit, als Tacitus schrieb, gilt diese Schilderung sicher nicht, denn damals lief bereits seit fast einem Jahrzehnt die Grenze weit im Norden der Donau jenseits der Linie Heidenheim-Gnotzheim- Weißenburg.1) Aber ebenso- wenig verträgt sie sich mit der eng geschlossenen Kastellreihe, die seit Vespasian zunächst das linke und dann das rechte Ufer der Donau2) säumte. Ein passim sine castocle transeunt ist da nicht mehr denkbar: wenn solch eine Grenzpolizei einmal da ist, wider- spricht es ihrem Wesen, den Verkehr frei und ungeschoren zu lassen3). Tacitus hat hier offenbar aus einer älteren Quelle man könnte noch an Plinius denken geschöpft, welche die Zustände zu der Zeit schilderte, als die Donau noch eine offene Grenze war. freilich wohl weniger den Hermunduren zuliebe, als weil die Truppen anderswo nötiger schienen." Der junge Gelehrte, dessen Tod für unser Vaterland ein aussichtsreiches Forscherleben frühzeitig be- endigte, vereinigte in vorbildlicher Weise archäologisches, historisches und philologisches Wissen: so hat er in vorliegendem Falle die Er- gebnisse der Bodenforschung gleich richtig für die geschichtliche Analvse eines Literaturtextes nutzbar zu machen verstanden. Vor-

1) Im den Lesern, denen die genannte Karte nicht gleich zur Hand ist, eine ungefäbi-e Vorstellung dieser Ortschaften, an denen Kastelle nachgewiesen sind, zu ermöglichen, bemerke ich: Heidenheim a. d. Brenz (linker Nebenfluß der Donau in Württemberg) liegt etwa 25, Gnotzheim (ungefäbr in der Mitte zwischen Ansbach und Nördlingen) 40, Weißenburg (südöstlich von Gnotzheim 35 km nördlich der Donau.

2) Unter diesen Kastellen nördlich der Donau ist wohl das bekannteste Kösching unweit Ingolstadt, dessen Prätorium nach einer dort schon im Jahre 1906 gefundenen Bauinschrift (inscr. Baiuariae Rom. ed. Fr. Vollmer Nr. 257, vgl. S. 215) im Jahre 80 erbaut worden war. Über seine vermutliche Identität mit dem auf der tab. Peut. S. 266 Miller genannten Station90it Germanicum darf ich auf meine Bemerkung in den Sitzungsber. d. Berl. Ak. 1918, 133 verweisen.

3) Eine von den Limesforschern gelegentlich angeführte wichtige Stelle des Tertullianus adv. ludaeos 7 lautet: Germani adhuc mqite limites suos trans- yredi non sinuntur.

Die Donaugrenze in vortaciteischer Zeit 277

taciteisches in der Taciteischen Germania in solchem, auf die Gegen- wart des Schriftstellers gestellten Zusammenhange weist in der Tat auf Plinius. Die Darlegungen in den früheren Abschnitten dieses Kapitels berechtigen, wie ich meine, dazu, der vorsichtig geäußerten Vermutung sichere Gewähr zu verleihen. Die auf die besprochenen Worte des Tacitus über die Hermunduren unmittelbar folgenden über die Marcomanen und Bojen (cap. 42) waren von mir auf Plinius zurückgeführt worden (s. o. S. 265), bevor ich bei näherer Beschäftigung mit den Ergebnissen der Limesforschung auf die Ab- handlung Barth eis aufmerksam geworden war: nun stützt die eine Vermutung die andere. Denn die Geschichte der Hermunduren war mit derjenigen der Marcomanen unlösbar verknüpft: sie hatten sich etwa im Jahre 3 v. Chr. an L. Domitius Ahenobarbus, den Nach- folger des Tiberius in Germanien, mit der Bitte um Unterkunft ge- wandt, und er hatte ihnen Sitze in einem Teile des von den Marco- manen geräumten Landes (etwa vom Main bis nach Thüringen) an- gewiesen und darauf als erster römischer Feldherr die Elbe über- schritten. Diese von Cassius Dio LV 10 a erwähnten Geschehnisse müssen auch von Plinius erzählt worden sein; Tacitus erwähnt die Taten des Domitius in Germanien bei Anlaß eines kurzen Nekrologs ann. IV 44 (zum Jahre 25): exercitu flumen Albini transcendit longius penetrata Germania quam quisquam priorum easque ob res insignia triumphi adeptus est, Worte, die ihrem Inhalte nach auch ihrerseits aus dem Plinianischen Germanenwerke stammen werden.1)

Es trifft sich gut, daß die sachliche Beweisführung sich auch hier wieder durch eine stilistische stützen läßt. Mit den Worten sine custode transeunt (die Hermunduren) werden von den Er- klärern der Germania die Worte verglichen, mit denen eine Gesandt- schaft der rechtsrheinischen Tencteren sich vor der Versammlung der linksrheinischen Ubier über die ihr Ehrgefühl kränkende römisch* Grenzaufsicht am Rheinufer beschwert: Tacitus hist. IV 64 ad hunt diem flumina . . . clauserant Romani, ut . . . inermes ac prope midi

1) Dasselbe gilt mit der o. S. 213 f. bemerkten Modifikation von der zweiten Erwähnung des Domitius in den Annalen I 63 (zum Jahre 15): hier sind im Vorbeigehen die pontes longi genannt, die er nach seinem Rückzuge von der Elbe durch das Cheruskenland an den Rhein (Dio a. a. 0.) hatte an- legen lassen.

278 Kap. '^' ^u^ den Spuren der Bella Germaniae des Plinius

sub custode et pretio (Kopfgeld) coircmus, worauf die Ubier er- widern (c. 65): sint transitus incustoditi. Den Batavenaufstand, dem diese Szene angehört, hat Tacitus erwiesenermaßen dem Plinia- nischen Annalenwerke nacherzählt (s. o. S. 211).

Das besprochene commercium der Römer mit den Hermunduren an der Donau läßt es passend erscheinen, hier einige Bemerkungen über die Donau als Grenzfluß und über den römisch- germanischen Geld verkehr anzufügen.

Die Germania beginnt mit den Worten: Germania omnis a Gallis Maetisque et Pannoniis Jlheno et Danuvio fluminibus . . . separatur. Auch hier bezeichnet also der Lauf der Donau die Grenze von Ger- manien und Raetien. Gesprächsweise hatte mir H. Dragendorff ge- äußert, diese Worte seien für die Zeit des Tacitus unzutreffend. Nun beschreibt Tacitus ein paar Zeilen darauf, am Schlüsse des ersten Kapitels, den Donaulauf von der Quelle bis zur Mündung: dasselbe tut Plinius in der n. h. IV 79 in derartiger sachlicher und sprach- licher Übereinstimmung mit Tacitus1), daß Münzer a.a.O. (o.S. 208) dar- aus den Anschluß des Tacitus an das Plinianische Germanenwerk un- zweifelhaft mit Recht gefolgert hatte. Das hat nun also auch für die Anfangsworte der Schrift zu geiten, die, soweit sie die Grenze Germaniens und Raetiens betreffen, bereits überholt waren, als ihr Verfasser sie niederschrieb, während sie für ein in der Zeit des Kaisers Claudius verfaßtes Werk Gültigkeit besaßen. Ja auch was

1) Die Worte des Plinius lauten: ortus hie (Hister) iugis montis Abnobae . . . per innumeras lapsus gentes Danuvi nomine . . . in Pontum vastis sex fluminibus evolvitur . . . in qua (insula: Peuee) proximus alveus . . . magna palude sorbetur. die des Tacitus:

Danuvius mölli et clementer edito montis Abnobae iugo effusus plures populos adit, donec in Ponticum mare sex meatibus erumpat; septimum os paludibus hauritur. Über die Urographie des Schwarzwaldes, Abnoba mons, dessen Namen Plinius zuerst auf Grund von epichorischer Erkundigung bringt (s. o. S. 248), hat er sich in dem Germanenwerke etwas genauer ausgelassen: daher das Plus, das Tacitus darüber im Vergleich mit der Naturgeschichte aufweist. Aus der ge- nauen Darlegung von Brandis R. E. IV 2118 f. ersieht man, daß unter den bei den Schriftstellern abweichenden Angaben über das Donaudelta nur Plinius und Tacitus in dieser Weise übereinstimmen.

Donau- und Rheingrenze 279

er vom Rhein als der Grenze von Germania omnis sagt, stimmte, genau genommen, nicht mehr nach der Einrichtung der linksrheinischen Pro- vinzen und der Einbeziehung des Decumatlandes in die obere: sagt er doch selbst weiterhin (c. 29) *): protidit magnitudo popidi liomani ultra Rhenum ultraque veteres terminos imperii reverentiam. Diese Neuordnung war zur Zeit des Domitianus erfolgt (s. o. S. 219). Auch hier gesell! sich wieder dem sachlichen Beweismaterial stilistisches. Der An- klang des Anfangs der Schrift Germania omnis a Gallis Raetisque et Pannoniis Bheno et Danuvio fluminibus, a Sarmatis Dacisque . . . montibus separatur an denjenigen der Caesarischen Commentarii Gallia est omnis divisa . . . wird gemeinhin auf Nachahmung Caesars zurückgeführt. Aber näher steht, weil dort gleich Flüsse und ein Gebirge genannt sind, ein Abschnitt des IV. Buches der Plinianischen Naturgeschichte, der so beginnt (105): Gallia omnis Comata wno nomine appellata in tria populorum genera dividitur, amnibus maximc distincta. a Sealde ad Sequanam Belgica, ab eo ad Garunnayn Celtica . . ., inde ad Pyrenaei montis excursum Aquitanica. Und dies ist überhaupt die Praxis des Plinius in den geographischen Büchern III— VI: auf den Namen des Landes in seiner Gesamtheit (vgl. VI 117 Mesopotamia tota 187 universa gens) und seiner Teile folgt die Angabe seiner Grenzen nach Gebirgen und Flüssen, deren Lauf, wenn sie namhafter Natur sind, in der Art beschrieben wird wie der des Rheins und der Donau bei Tacitus weiterhin. Die Technik aller dieser Anfänge ist übrigens griechisch: aitccGcc [ihv ovv bötiv avzrj notccnoig JcarccQQvrog fj %6qcc beginnt Strabo IV 177 seine Keltike, und weiterhin ( 195), zum Volke übergehend, tb ds

ÖVflTtCiV CpvloV.

Auf die oben (S. 105 ff.) besprochenen Angaben über die Physiologie der Germanen (c. 4) folgen in c. 5 zunächst einige Bemerkungen über die allgemeine Physiognomie des Landes und das Klima, wieder mit Erwähnung der Grenzen: „Das Land bietet im einzelnen ein recht verschiedenartiges Aussehen, aber der allgemeine Charakter ist schauriger Urwald und häßlicher Moorgrund. Gegen Gallien hin ist das Klima mehr feucht, gegen Noricum und Pannonien vorherrschend windig." Nach wenigen Worten über die Flora „der Boden ist

1) Darauf weist mit Recht A. Lückenbach, De Germaniae Taciteae foDtibus. Diss. Marb. 1891, 16 hin.

280 Kap. JV. Auf den Spuren der Bella Germaniae de= Plinius

für Getreide recht ertragfähig, Obstbäume gedeihen nicht" kommen nicht viel mehr über den Schlag des Kindviehs, worüber wir im nächsten Abschnitt sprechen werden. Dann wird zu den Bodenschätzen übergegangen und in diesem Zusammenhange der Geldverkehr behandelt: „Nur unsere nächsten Grenznachbarn wissen infolge des Handelsverkehrs Gold und Silber zu schätzen, während im Innern noch immer der einfache Tauschhandel herrscht; sie kennen und bevorzugen diese oder jene unserer Münzprägungen, als vollgültig rechnen sie nur alte und längst bekannte Sorten, die Denare mit gezahnten Rändern und die mit dem Bilde eines Zwei- gespanns1)." Die letzten Worte pecuniam probant veterem et diu notam, serratos bigatosquc haben begreiflicherweise längst die Aufmerksamkeit der Numismatiker auf sich gezogen, aber erst die /wohl letzte Behandlung durch K. Regling (Römischer Denarfund von Fröndenberg, Berl. 1912, 29 ff.) ermöglicht es, sie richtig zu be- urteilen. Im freien Germanien kommen nämlich serrati auch bif/atl, aber für sie fehlt noch eine Statistik , also die altrepublika- nischen Denarsorten, in den Sehatzfunden recht häufig vor, doch hören sie nach Nero so gut wie gänzlich auf: 78 Stücken aus Funden der Zeit von Augustus bis Nero2) steht nur eines aus nach- neronischer Zeit gegenüber. Das hat seinen Grund in der Herab- setzung des Denargewichts durch Nero (von 3,9 auf 3,4 g), nach

1) Außer der Victoria auf dem Zweigespann finden sich auch Luna, Magna Mater u. a.: H. Willers, Ein Fund von Serrati im freien Germanien, Numism. Ztschr. XXI (1899) 348 f.

2) Regling schreibt mir: „Einen Schatz von serrati konnte ich in der Arbeit über Fröndenberg noch nicht nachweisen, sondern nur einzelne serrati in Schatzfunden ungezähnter Denare. Nunmehr aber kann ich einen ganzen Schatz nennen: K. Karafiat, Kelt. u. röm. Münzen aus dem Sammelgebiete des prähist. Zentralmus. in Teplitz (s. 1. et a.), hat einen Schatzfund von etwa 200 röm. republikanischen Denaren, deren Mehrzahl serrati sind, aus Liebes- hausen, Bezirk Dux in Böhmen, mitgeteilt." Wann mag dieser Schatz ver- graben worden sein? Die kriegerischen Ereignisse, die im Jahre 18 zum Zu- sammenbruche des Reiches des Maroboduus in Böhmen führten, könnten ein passender Anlaß gewesen sein. Vgl. Tac. ann. II 62 veteres illic (in der Königs- burg des Maroboduus und dem dabei gelegenen Kastell) Sueborum praedae et nostris e provineiis lixae ae negotiatores reperti, quos ius commercii, deinde cupido augendi pecuniam, postremum oblivio patriae suis quenique ab sedibus hostilem in agrum tramtulerat. Diese Ereignisse mußte auch Plinius berichten (o. S 269).

Römische Münzen in Germanien 281

der die alten schwereren Denare rasch aus dem Umlauf verschwan- den. Wie läßt es sich nun hiermit vereinigen, daß Tacitus noch im Jahre 98 die Vorliebe der Germanen für diese Münzsorten er- wähnt, eine Vorliebe, die damals praktisch belanglos war, da sie sich bei dem Verschwinden dieser Sorten gar nicht mehr betätigen konnte? Die Erklärung liegt nach den obigen Ausführungen nahe: Tacitus hat auch diese Angabe, die nach den Fund tat Sachen für seine Zeit keine rechte Gültigkeit mehr besaß, aus einer Quellen- schrift herübergenommen, die dann nur in den der Claudischen Zeit angehörigen Bella des Plinius gesucht werden kann. Offenbar ist es Plinius, der bei seiner jahrelangen Anwesenheit in Germanien oft Gelegenheit gehabt haben muß, den Handelsverkehr zu beobachten, auf- gefallen, daß die Germanen sich ihre Waren nicht gern in den Denaren der ausgehenden Republik oder der frühen Kaiserzeit, sondern den altrepublikanischen bezahlen ließen, die an der Zähnung oder am Typus der Bigae leicht kenntlich waren: in der Tat war es ja auch für das unzivilisierte Volk charakteristisch, daß es auf derartige äußerliche Erkennungszeichen solchen Wert legte.1) Es trifft sich gut, daß Plinius sich auch in der Naturgeschichte für das römische Münzwesen inter- essiert zeigt: verdanken wir ihm doch die wertvolle Darlegung dar- über XXXIil 42 ff. In ihr erwähnt er auch (46) die bigati; die Spezialität der serratl zu erwähnen, lag in der Skizze kein Anlaß vor, aber es ist wohl auch bemerkenswert, daß sich das ganz seltene serratus außer an einer Stelle Petrons nur bei Plinius zu finden scheint, bei ihm achtmal (dcntes, Spinae, folia usw. serrula). Auch das technische denarios probare findet sich bei ihm (XXXIII 132 ).2j Dieses Ergebnis ist nun auch deshalb wichtig, weil es seine Tragkraft nach rückwärts er- streckt. Denn der Satz über die Münzen ist mit den vorhergehen-

1) Regling, dem ich diese Kombination zur Prüfung vorlegte und <ler sie billigte, schreibt mir: „Man findet beim Umlauf von Münzen in unzivilisierten, eigner Münzprägung noch entbehrenden Ländern öfter eine im Münzfuß nicht begründete Vorliebe für gewisse alte Sorten, die man sich an Äußerlichkeiten merkt, wie hier an der Zähnung oder am Typus der Bigae. Das klassische Beispiel dafür ist der seit den alten Stempeln von 1780 bis jüngst fortgeprägte Maria-Theresia-Taler für den Levantehandel."

2) Hier wechselnd mit d. spectare, eine technische Bezeichnung, die soeben von R. Herzog (Aus d. Gesch. des Bankwesens im Altert., Tesserae nmumulariae. Gießen 1919) glänzend aufgeklärt worden ist.

282 Kap IV. Auf den Spuren der Bella Germaniae des Plinius

den über die Metalle unlösbar verklammert (aueli die genannte Skizze des Plinius steht in dem Abschnitt über die meiallorum naturae), diese ihrerseits mit den H" merkungen über da nische pecus,

die wir im nächsten Abschnitt als Plinianisch erkennen werden. So- mit darf das ganze 5. Kapitel seinem Wesensinhalte nach für Plinius in Anspruch genommen werden; atmet es doch auch, man möchte sagen in jedem Worte, den Bericht eines Augenzeugen: est videre apud Mos ärgentea vasa, legatis et principibus eorum muneri data heißt es da unter anderem.1)

IV. DIE NORDSEEKÜSTE Die folgenden Betrachtungen werden uns aus Süd- und Mittel- deutschland in den Norden unseres Vaterlandes, von den Alpen und dem Schwarz wald an den Meeressaum geleiten; dabei wird un3 Plinius selbst der beste Führer sein: es gilt, auf den verschlungenen Wegen der Naturalis historia zu den Bella vorzudringen.

1. BELLA GERMANIAE UND NATURALIS HISTORIA. EINE EPISODE AUS DEN KRIEGEN MIT DEN FRISII

Plinius hat im Texte seines spätesten Werkes die früheren öfters benutzt und gelegentlich auch zitiert (die militärtechnische VIII 162. die grammatische praef. 28, die annalistische II 199. 232). Aber in den Autoren Verzeichnissen seinen Namen zu nennen, diese Geschmack- losigkeit hat er sich, so reich an Wunderlichkeiten dieses Werk auch ist, doch nicht zuschulden kommen lassen: leider, müssen wir fast sagen, denn infolgedessen versagt jene Fundgrube Plinianischer Quellen - analyse für seine eignen Schriften zunächst gänzlich, wir sind für diese auf inhaltliche Merkzeichen angewiesen. Wenn er beispielsweise Vit 39 von der Gattin des Pomponius 8ecundus eine gynäkologische, von diesem selbst in dem gleichen Buche 80 eine physiologische Kuriosität erwähnt, so dürfen wir vermuten, daß diese auch in den zwei Büchern seiner Biographie des Mannes nicht gefehlt haben werden. Auf diese Weise ist besonders von Detlefsen und Gercke viel Wichtiges für das Annalenwerk erzielt worden. Versuchen wir also, ob ähnliches

1) Es scheint mir klar, daß in est videre apud Mos der Begriff des ,, Sehens' nicht verblaßt ist wie in c. 30 alias ad proelium ire videas, Chattos ad bellum, obwohl wir auch in diesem Chattenkapitel die Plinianisehe Vorlage erwiesen zu haben glauben (o. S. 265ff.).

Germanisches in Plinius' Naturgeschichte 283

für die Bella gelingt. Wir werden dabei sehr behutsam vorgehen müssen; denn wollten wir alles Germanische, das über die Natur- geschichte reichlich verstreut ist, für die Bella in Anspruch nehmen- so würden wir einen argen Fehler begehen.

Ob natur- oder kulturgeschichtliche, Germanien betreffende An- gaben, die mit Erwähnung kriegerischer Ereignisse nicht verbunden sind z. B. über Klima und Fruchtbarkeit des Landes, über Drosseln, Honigwaben, Kirschen, Gerste, linnene Frauentracht, Trinkhörner vom ür(X72. XI 33. 126. XV 103. XVII 26. XVIII 149. XIX 8 f.) , auch in dem Germanenwerke gestanden haben, wird sich nur in Ausnahme- fällen entscheiden lassen, zumal nicht vergessen weden darf, daß Plinius nach Abfassung der Bella nicht aufhörte, weitere Erkundi- gungen über das ihn interessierende Land einzuziehen (X 132 acci- pimus, XXXVII 45 vidit eques Rom., dies aus Neronischer Zeit). Immerhin läßt der Reichtum sitten geschichtlichen Materials, das er nach dem Ausweis der Taciteischen Historien in seinem Annalen- werke % allenthalben, wo er auf Germanisches zu sprechen kam, in kurzen Zwischenbemerkungen ausgestreut hatte (s.o. S, 2 12, 3), es glaub- lich erscheinen, daß auch manche der erwähnten Angaben dem Ger- manenwerke bei Gelegenheit eingefügt waren. Wenn wir beispiels- weise in der Taciteischen Germania c. 4 f. lesen, das caeliim solumve Germaniens neige in gewissen Gegenden zur Feuchtigkeit, die Erde sei satis ferax, so läßt sich das mit folgenden der genannten Stellen der Plinianischen Naturgeschichte vergleichen: XVIIi 149: in Germa- nien gedeihe die Gerste soll caelive umore, und XVII 26 quid laudaüus Germaniae pabulis.1) Die hiernach naheliegende Vermutung, daß die kurzen Bemerkungen des Tacitus über Klima, Bodengestalt und Flora Germaniens dem Plinianischen Germanenwerke entnommen sind, <re- winnt an Wahrscheinlichkeit dadurch, daß die bei Tacitus sogleich folgenden Angaben über die Fauna des Landes wiederum eine Ent- sprechung bei Plinius aufweisen. Hierauf möge etwas genauer ein- gegangen werden, da der Stamm der Frisii, der uns weiterhin noch öfters begegnen wird, für den hier versuchten Nachweis wesentlich ist.

Über die Trinkhörner vom Ur sagt Plinius an einer der soeben

1) Es folgt: et (d. h., wie der Zusammenhang zeigt, „und doch") stalini subest harena tenuissimo caespitum corio („Rasendecke"). Diese Beobachtung ist nur für die Geest zutreffend.

284 ^aP W> ^uf ''en Spuren det Bella Germaniae des PHnius

aufgezählten Stellen XI 126: urorum cornibus harbari srplenlrionales potanf, urnisquc bina capitis unius cornua inplcnl.1) Dieses Tier, über (las die bekannten ausführliehen Angaben in den Caesarischen Kommen- tarien Vi 28 stehen daß der ganze, den Herkynischen Wald be- treffende Abschnitt c. 25 28 eine Erweiterung des ursprünglichen Bestandes darstellt, darf als erwiesen gelten , wird bei Tacitus in einem bemerkenswerten Kapitel der Annalen IV 72 beiläufig erwähnt. Drusus hatte, wie dort rückblickend bemerkt wird, den Frisii (im Jahre 12 v. Chr.) als mäßigen Tribut die Lieferung von Ochsenhäuten zum Kriegsgebrauch auferlegt, ohne daß jemand bisher streng auf deren Maß und Dauerhaftigkeit geachtet hätte. Das änderte sich nun aber (im Jahre 28 n. Chr.). Der von dem proprätori sehen Legaten des unteren Germaniens L. Apronius in das friesische Gebiet ab- kommandierte Primipilar Olennius bestimmte, daß hinfort Häute vom Ur als Maßstab für die Größe der abzuliefernden Ochsen- häute gelten sollten. „Diese Verfügung empfanden die Germanen um so drückender, als zwar ihre Wälder reich an riesigen Tieren sind, sie aber nur mäßig großes Hornvieh in den Ställen haben." Es wird nun geschildert, wie es darüber zu einem Aufstande des gepeinigten Stammes kam und Olennius sich in ein Kastell cui nomen Flevum rettete, wo sich eine beträchtliche Besatzung von Bürgern und Bundesgenossen am Gestade des Ozeans befand. Auf die Kunde davon rückte Apronius mit seinem Heere, das er durch Detachements aus der oberen Provinz verstärkt hatte, rheinabwärts gegen die Auf- ständischen heran; inzwischen war die Belagerung des Kastells von (iiesen schon aufgehoben, sie hatten sich, „um das Ihrige zu schützen", zerstreut: ad sua tutanda degressis rebellibus. Apronius machte die Watten (aestuaria) durch Dämme und Brücken für das Passieren des schweren Heereszuges gangbar. Das weitere geht uns nichts

1) Die Worte sind in der Detlefseuschen Ausgabe durch die Änderung rini für bina verunstaltet (vgl. 128 bina sc. cornua). Vielmehr wird durch die Überlieferung hübsch bestätigt eine Beobachtung, die ich unlängst in G. Kossinnas Deutscher Vorgeschichte (Würzb. 1915) 205 las: „Die Beigabe von Trinkhörnern (in Gräbern) geschah meist in doppelter Anzahl." Sie stammten eben von dem einen erlegten Tier. Als Getränk ist natürlich nicht Wein, sondern Bier oder Met verstanden, das man aus bowlenartigen Gefäßen abfüllte (solche findet man in dem genannten Werke Taf. XXVII XXXI abgebildet, darunter ein? etwa aus Plinianischer Zeit).

LTr und Ochse 285

an; doch sei bemerkt, daß der Bericht mit erstaunlicher Genauigkeit alles Militärischen1) so werden die beteiligten Regimenter und Sehwadronen sowie ein Legat der V. Legion mit Namen ge- nannt — und Topographischen das „Landhaus des Cruptorix, eines ehemaligen Söldners" und ein lucus quem Baduhennae vocant2) werden erwähnt verläuft. Daß eine Darstellung dieser Art auf den Primärbericht eines an den Operationen Beteiligten zurückgehen muß, und daß iür seine literarische Vermittlung nur das Plinianische Germanen werk in Frage kommt, bedarf nach Münzer (a.a.O. 75 ff. 95) keiner näheren Ausführung; doch sei als Einzelheit erwähnt, daß die Watten der Nordsee sonst nur noch einmal von Tacitus in einer gleich zu behandelnden, ebenfalls Plinianischen Stelle der Annalen und von Plinius selbst in der Naturgeschichte (XVI lff) erwähnt werden, der sie durch Augenschein kannte. Es trifft sich nun gut. daß sich eine von Tacitus unabhängige Spur dieses Berichts auf einem merkwürdigen Wege erhalten hat. Es ist eine schöne alte Erkenntnis3), daß der bei Ptolemaios (aus Marinos) II 11, 12 neben 0Xrjovii (Flevuni) erwähnte und ganz willkürlich auf 29 ö 20' L.. 54° 20' Br. angesetzte4) angebliche Ort 2Jiarovxavda sein Dasein einem wunderlichen Mißverständnisse der Worte (ad) sua tuianda verdankt, die wir soeben bei Tacitus lasen. Den Irrtum des Marinos— Ptole- maios unmittelbar aus Tacitus abzuleiten, ist unmöglich, denn von

1) Dazu gehört auch tutari c. acc, ein seit Sallust und Livius üblicher technischer Ausdruck. Vgl. Caes I 11,2 se suaque defendere, Tac. Agr. "28 sua defensare.

2) Nicht sehr weit entfernt von dem Schauplatze dieser Begebenheit, bei dem h. Fischerdorfe Üomburg, an der Nordwestküste der Insel Walcheren, sind etwa 30 Inschriften gefunden, deren Fnndstätte ein heiliger Hain der Göttin Neha- lennia war (CIL XIII 8775 ff.); hier war im Altertum ein Hauptexporthafen nach Britannien, wie denn am Siidgestade der genannten Insel Vlissingen liegt. Eine solche Lokalgöttin, aber des Binnenlandes, lernen wir durch das bei Tac. ann. I 51 erwähnte templum Tamfanae im Marsergebiete kennen (Grandquelle, militärischer Primärbericht, den jedenfalls auchPlinius benutzt hatte: s.o.S.213f.)

3) Da dies jetzt vergessen zu sein scheint, möchte ich doch erwähnen, dati sie dem Germanisten Herrn. Müller verdankt wird in seinem Buche „Oie Markei des Vaterlands" I (Bonn 1837) 114, in dem man noch jetzt nicht ohne Nutzen lesen wird.

4) Vgl. R„ Much, Die Städte in der Germania des Ptol. (Ztschr. f. deutsch. Alt. N. F. XXIX 1897) 99.

286 Kap. IV. Auf den Spuren der Bella Germania e des Piinius

den sehr zahlreichen, in die Karte eingetragenen Lager- und Stationi- erten Gerrnaniens findet sich bei Tacitus nur ein verschwindend kleiner Bruchteil genannt: er war mit Ortsangaben so sparsam, daß es für einen Geographen verlorene Mühe gewesen wäre, auch nur einen Blick auf seine Darstellung zu werfen. Aber anders war es in den älteren kriegsgeschichtlichen Werken. Für Marinos, dessen Sorgfalt in der Benutzung älterer Literatur über Länder- und Völkerkunde sein Be- arbeiter bewundernd anerkennt (1 6, 1), mußte das Plinianische Ger- manenwerk eine Fundgrube sein, aus deren Schätzen er oder einer seiner Hilfsarbeiter denn ohne einen literarischen Stab ließ sich ein so gewaltiges Unternehmen nicht bewerkstelligen die leeren Räume der Agrippakarte für die FsQ^avCa [isydXrj ausfüllen konnte1) : wobei die Möglichkeit offen gelassen werde, daß dabei über Plinius auf die teils privaten, teils offiziellen Kriegsberichte zurückgegangen wurde, aus denen Plinius für die Teile seines Werks, wo er nicht als Augenzeuge berichtete, seinerseits sein Wissen schöpfte.-) Daß dem Tyrier bei der Benutzung lateinischen Materials hier und da ein Irr- tum unterlief,3) wird man ihm nicht schwer anrechnen, und an Wunder- lichkeit kommen dem in Rede stehenden Fall berüchtigte Versehen

1) Vgl. auch A. Schulten, Bonn. Jhb. CXXIV (1918) 92 f. 100. Eine quellen- kritische Analyse des Ptolemaios ist ein anerkanntes Bedürfnis; aber bevor sie in Angriff genommen werden kann, sind schwierige, den Text und die Karten- frage betreffende Probleme zu lösen: da sind jetzt tüchtige Kräfte am Werke, und die eindringende letzte Arbeit dieser Art, die von der Kgl. Dänischen Geogr. Ges. publizierte große Abhandlung von Gudmund Schütte, Ptolemy's mapa of northern Europe (Kopenhagen 1917), hat hier und da auch schon das Quellen- problem gestreift. Eine Lösung desselben hat aber die Aufarbeitung der ge- samten geographischen Tradition von der Augusteischen bis zur Hadrianischen Zeit, und da diese Tradition in vielen Brechungen noch in den späten Routen- karten kenntlich ist, bis zum Ende des Altertums überhaupt zur Voraussetzung. Die von mir im Texte gegebenen Andeutungen erheben keinen Anspruch auf Verbindlichkeit.

2) Vgl. über diese Art von Literatur außer o. S. 200 die Schlußbemerkangan dieses Buches.

3) In den ann. II 62 erwähnt Tacitus im Gebiete der Marcomani eine regia castellumque iuxta situm. Das bei Hol. Uli, 29 erwähnte MccQoßo(v)dov wird sich, wie C. Müller in seiner Ausgabe (1883) erkannte, daraut beziehen; bei Tacitus geht die Erwähnung des Maroboduus voraus. Die Erzählung stand auch bei Plinius (s. o. S. 269). Andere Beispiele, die vielleicht auf derselben Linie liegen, bei Schütte a. a. 0. (Anm. 1) 16f.

Marinos-l'tolemaios über Germanien 287

g'rieciiiscber Lexikographen1) nahe genug. Wenn nun also die Ver- mittlung des Plinius für Taeitus als gesichert gelten darf, so ergibt sich daraus, daß die Erwähnung des Urs in der Naturgeschichte eine Art von Seibstzitat aus den Bella ist. Beidemal ist es die Größe des Tiers, auf die exemplifiziert wird, dort durch die Hörner, hier durch die Haut. Die sehr zusammengedrängte Ausdrucksweise des Taeitus8) läßt vermuten, daß in seiner Vorlage genauere Angaben über die Maße des Tiers im Verhältnis zu denen des Rindviehs ge- geben waren.

Die Annalenstelle ermöglicht nun zugleich einen quellenkritischen Schluß für eine Notiz, die in der Germania (c. 5) auf die vorhin erwähnten Angaben über die Flora des Landes unmittelbar folgt. Von dem unansehnlichen germanischen Rindvieh heißt es in den Annalen: modica domi armenta, in der Germania: ne armenüs quidem (so wenig wie den pecora inprocera) Situs Jionor et gloria froniis, und die hier hinzugefügten Worte numero gaudent eaeque solae et gratissimae opes sunt lassen die dort erwähnte Empörung der Frisii über die erpreßte Dezimierung ihres Herdenbestandes besonders be- greiflich erscheinen.3) Ist doch noch heutzutage ein voller Stall der höchste Stolz des niederdeutschen Bauern.

. 2. EINE EPISODE AUS DEN KRIEGEN MIT DEN CHAUCI. DIE NORDSEEINSELN

Während sich in Fällen der genannten Art, wo Germanisches in der Naturgeschichte ohne Verbindung mit Kriegen auftritt, nur ausnahms- weise' ein Rückschluß von der Naturalis historia auf die Bella wird

1) Vgl. M. Schmidt in seiner Ausgabe des Hesychios IV 2 (1864) S. ClXf., G. Bernhardy praef. zum Suidas I 1 (1853) LXVf. Auch an Vergils Inarime (1X716) aus slv lägi^iotg (B 783) sei erinnert.

2) id (die Lieferung so vieler Häute) aliis quoque nationibus arduum apud Germanos difficilius tolerabatur, quis mgentium beluarum feraces saltus, modica domi armenta sunt. Dabei ist vorausgesetzt, daß die Jagd auf den Ur zu be- schwerlich oder doch nicht ergebnisreich genug war, die Liefernngsauflage zu erfüllen (vgl. Germ. 15 non multum venaübus, plus per otium transigunt).

3) Ein kürzlich in Friesland (zwischen Leeuwavden und Harlingen) ge- fundener Kaufvertrag auf einem Triptychon aus der Zeit des Tiberius betrifft gerade ein Rind, das ein römischer Händler auf einem Landgut von einem Friesen kaufte: W. Vollgraff, Mnemosyne XLV (1917) 341 ff. A. G. Rooa, ebd. XLVi (1918) 201 ff. Das ist eine hübsche Illustration zu den im Text be- sprochenen Stellen der Germania und der Annalen.

288 Kap. IV. Auf den Sparen der Bella Germaniae des Plinius

ziehen lassen, dürfen uaturgesehichtliche Notizen, die mit der Er- wähnung kriegerischer Ereignisse in Germanien bis zum Jahre 47 dem wahrscheinlichen Endpunkte des Germanenwerkes (s.o. S. 219) untrennbar verknüpft sind, unbedenklich für die Bella in Anspruch genommen werden: wobei nur festzuhalten ist, daß das Naturgeschich- liche in dem militärischen, das Militärische in dem naturgeschicht- lichen Werke als Beigaben erscheinen mußten. Für diese Gruppe von Fällen kenne ich vier Beispiele. Bei den ersten drei werden wir uns nicht lange aufzuhalten brauchen.

Bei Gelegenheit der (aus Varro entnommenen) Darlegung über den Graskranz (corona gram'mea oder obsidionalis) spricht Plinius XXII 8 über die symbolische Handlung der Überreichung eines Halmes (herbam porrigere) an den Sieger, wodurch der Besiegte seine Geneigtheit zur Landabtretung kundgebe. Er fügt von sich aus hinzu: quem morem etiam nunc durare apud Germanos scio. Es darf mithin als wahr- scheinlich bezeichnet werden, daß er in den Bella Gelegenheit hatte, des Brauches bei bestimmten kriegerischen Anlässen zu gedenken.

Die Nachricht über die mit den Daunen germanischer Gänse ge- stopften Federkissen (X 53 f.) sogar der einheimische Name des Tieres wird genannt: gantae vocantur muß auch in den Bella ge- standen haben, weil bemerkt wird, daß Präfekten von Auxiliartruppeu oft ganze ßk)h orten zum Fange vom Wachtdienste beurlaubt hätten Ja in diesem Falle ist es Münzer (a. a. 0. 74. 95) sogar gelungen, der Nachricht durch den Hinweis auf Tacitus ann. XI 18 ihren be- stimmten Platz anzuweisen: sie gehört in die Erzählung von dem Feldzuge des Domitius Corbulo gegen die Chauci (im Jahre 47), den Plinius selbst mitgemacht hatte. Tacitus hat das für ihn be- langlose Volks- und Sittengeschichtliche begreiflicherweise gestrichen, in der Sache aber und in einzelnen Worten das Wesentliche des Quellenberichts in der Weise wiederholt, daß er, entsprechend dem Brauche republikanischer Historiker1), die Wiederherstellung der militärischen Zucht hervorhebt: „Corbulo brachte die Legionen, die Lagerarbeit ganz verlernt und nur an Plünderungen ihre Freude hatten, zur alten Zucht zurück . . . Posten, Wachen (stationes, vigi- liae Tac, a vigili statione Plin.), Obliegenheiten des Tages und der Nacht wurden unter Waffen besorgt, und man erzählt" es folgen

1) Ein klassisches Beispiel: Sallnstius lug. 44 f. zum Jahre 109.

Feldzug des Corbulo gegen die G'hauci 289

zwei Beispiele unerbittlicher Strenge des Feldherrn1), die der Schrift- steller unzweifelhaft demselben Berichte des als Augenzeuge erzählen- den Plinius entnahm.2) Übrigens läßt sich aus dieser Erzählung des Chaukenkrieges im Jahre 47 eine Bestätigung des vorhin er- brachten Nachweises von dem Plinianischen Ursprung des Friesen- krieges im Jahre 28 gewinnen. Denn Tacitus greift in unmittel- barem Anschluß an die Erzählung jenes auf diesen mit folgenden Worten zurück (c. 19): et natio Frisiorum post rebellionem clade L. Apronii coeptam infensa aut male fida, datis obsidibus consedü apud agros a Corbulone descriptos usw. (Aufwiegelung der Frisü gegen die Chauci). Die Gleichheit der Quelle ist klar, sie er- streckt sich bis in den Ausdruck hinein: dort exercitum Rheno devectum Frisiis intulit . . ., aestuaria aggeribus et pontibus firmat (Apronius), hier triremes alveo Rheni . . . per aestuaria et fossas adegil (Corbulo).

Das dritte Beispiel dieser Art betrifft ebenfalls die Nordseeküste. Die wichtige Nachricht des Plinius XXXV11 42 über den Bernstein, der auf Inseln des nördlichen Ozeans vorkomme auch hier bringt er das ger- manische Wort glaesum darf auch für die Bella in Anspruch genommeu werden, denn er fügt hinzu: „Sicherlich deshalb ist von den Unsrigen eine der Inseln ?Glaesaria' benannt worden, als Caesar Germanicus dort mit der Flotte operierte; die Barbaren nennen sie cAusteravia'." Diese

1) Als solcher lebte er im Gedächtnisse fort: Iuvenal 3, 251 f. Corbulo vix ferret tot vasa ingentia, tot res inpositas capiti, Verse, die übrigens die Deutung des Luciliusfragments 1318 versa quoque omnino dirimit non sollo dupundi auf die strengen Maßregein des Scipio im Feldlager von Numantia (Cichorias, Untersuchungen zu Lucil. 304 f.) bestätigen.

2) Die Feldzugsberichte des Corbulo selbst so sind sie richtiger zu benennen als „Memoiren": Mommsen, Ges. Sehr. VII 281, 2 , die bei Plinius und Tacitus wiederholt genannt sind, betrafen nur seine Operationen im Orient (54—63). Tacitus hat sie, wie durch die Untersuchungen A. v. Gutschmids (1888) feststeht, ausgiebig benutzt, aber da er die offenkundigen Entstellungen, wie der Vergleich mit der Parallelüberlieferung bei Dio zeigt, teils still- schweigend beseitigt, teils durch glaubhaftere berichtigt, so muß er daneben ein älteres Werk benutzt haben, in dem eine solche Kontrolle der Angaben Corbutos noch möglich gewesen war. Das können dann aber wohl nur die Annalen des Plinius gewesen sein, da dieser auch in der Naturgeschichte eine derartige Korrektur vornimmt VI 40 corrigendus est in hoc loco error multorum, etiam qui in Armtnia res proxime cum Corbulone gessere.

Norden: Die germanische Urgeschichte j<)

290 Kap. IV. Auf den Spuren der Bella Gerinaniae des I'linius

Nordseeinsel wird weder in ihrer epichorischen Namensform1) noch in ihrer germanisch-römischen von einem anderen als Plinius genannt Tacitus hat die Nachricht in seine Erzählung der Feldzü«-e des Germani- cus nicht aufgenommen , von ihm seihst aber noch an einer anderen Stelle, an der eine weitere Notiz aus den Bella damit verbunden wird: IV 96 f., wo nach Erwähnung der Ostseeküste bis zur Weichsel m und ung und der „kimbrischen Chersonnes" (Jütland) mit folgenden Worten zur Nordseeküste übergegangen wird: „Darauf kommen dreiundzwanzig In- seln, die den Körnern durch kriegerische Unternehmungen bekannt ge- worden sind.2) Die ansehnlichste dieser heißt 'Bnrcana'3), von den Uns- rigen „Bohneninsel' genannt nach der Ähnlichkeit4) der dort von selbst

1) Vgl. Kauffmann, D. A. 227, 3: „-avia deckt sieh mit der heutigen Form -oog (= Eiland), die die friesischen Inseln der Nordsee gewahren; Austeravia ■wäre Osteroog, wie es heute noch nordfriesische Eilande Norderoog und Süder- oog gibt." Vgl. außer Scatinavia die interessante Bildung Gepidoios, er- halten bei Iordanes Get. 96: „Gepidenauen", nom. plur. von got. -auio\ ge- meint ist die inselartige Gegend des Weichseldeltas, Stammsitz des gotischen Volksstammes der Gepiden (Näheres darüber: C. D.culescu, Die Gepiden, Beri. 1918, 8).

2) Vgl. II 167 septentrionalis oceantts maiore ex parte navigutus est av- spiciis divi Augusti Germaniam classe circumvecta ad Cimbrorum Promontorium et inde inmenso tnari prospecto aut fama cognito Scythicam ad plagam et umore nimio rigentia. Dies bezieht sich auf die Expedition des Tiberius vom Jahre 6 n. Chr., deren auch Augustus im mon. Anc. 5, 14 f. gedenkt, wozu Mommsen das Nötige vermerkt.

3) Strabo VII 291 i%£iQÖ>Garo (<dgov6os 6 rsQ[iavix6g) d' ov [lÖvov T(i>v i&veav rcc itXslarcc, ccXla Kai rag iv x& kccqcctzXg) (des Jahres 12 v. Chr.) vrfiovg, wv ian Kai r\ BvQ%avls, r\v Ik ■nolioQKiag sllsv. Die an sich bei Namenanklängen ja durchaus berechtigte Vorsicht hat in diesem Falle E. Kornemann doch zu weit gehen lassen, wenn er die übliche Identifikation mit Borkuni als zweifel- haft bezeichnet (Klio IX 1909, 433, 1). Drusus hat die die Emsmündung be- herrschende Insel in seinem Rücken nicht unbesetzt lassen wollen, um un- gehindert weiterfahren zu können; er kam bis zum Jahdebusen. Vgl. auch Mommsen, Reden u. Aufs. 332.

4) So, a similitudine, die einzig maßgebende Überlieferung, die in den neueren Ausgaben mit Unrecht zugunsten minderwertiger mit multi'u- dine vertauscht wird. Bei Namengebungen kommt es gerade auf die simi- litudo an, seit Varro (Aelius Stilo) das technische Wort: schrieb er doch so- gar ein Werk des Titels De similitudine verborum. Entscheidend ist schließ- lich XXVI 70 platyphyllon vocant alii anygdaliten a similitudine, analog XXXIII 114.

Xordseeexpedition des Germanicus 291

gedeihenden Feldfrucht.1) Desgleichen 'Glaesaria', so in der Soldaten- sprache, von den Barbaren cAustera via' genannt. Außerdem 'Actania'".2) Ebenfalls aus den Bella muß stammen der Bericht XXV 20 f. über die einzige Süßwasserquelle, die Germanicus auf seinem Zuge längs der Nord- see küste gefunden habe; die gesundheitsschädlichen Folgen des Genusses dieses Wassers seien durch ein von den treugebliebenen Friesen gewie- senes Heilkraut aufgehoben worden.

Das vierte Beispiel macht eine längere Besprechung in einem be- sonderen Abschnitte notwendig.

3. HALLIGLEUTE IM WATTENGEBIET. RÖMISCHE FLOTTEN- BEWEGUNGEN IN DEN WESTFRIESISCHEN GEWÄSSERN.

Das einzige längere zusammenhängende Stück über Germanisches findet sich zu Beginn des XVI. Buches, und bei seiner Betrachtung werden wir sogar aus dem Autorenverzeichnisse einen gewissen Nutzen ziehen können. Jeder, der sich gewöhnt hat, das Plinianische Werk nie anders als mit stetem Blick auf die Register zu den einzelnen Büchern zu lesen, wird die Erfahrung gemacht haben, daß wir inner- halb der Buchanfänge den sichersten Boden unter den Füßen haben: denn hier kommen Umstände, die das Gesichtsfeld im weiteren Ver- laufe jedes Buches zunehmend verschieben und so die Sicherheit der Identifikationen beeinträchtigen, nach Lage der Dinge noch nicht in

1) Vgl. XVIII 121 nascitur (fdba) et sua sponte plerisque in locis, sicut septentrionalis oceani insulis, quas ob id nostri Fabarias appellant. Die Soldaten des Germanicus, die eine Nordseeinsel Glaesaria nannten (s. o.), bedienten sich also einer Benennungsait, die derjenigen analog war, die unter Drusus (o. S. 290, 3) aar Bezeichnung Borkums als Fabaria geführt hatte. Zur Sache urteilt

. Hoops a. a. 0. (o. S. 6) 465 : „Wenn Plinius berichtet, die römischen Soldaten hätten die Nordseeinsel Burcana wegen der Menge [o. S. 290, 4] der dort angeblich wild wachsenden Bohnen Fabaria genannt, und wenn derselbe Autor IV 94 eine Nordseeinsel [am litus oceani septentrionalis ante Scythiam] mit dem augenscheinlich germanischen Namen Baunonia 'Bohneninsel' erwähnt, so ist anter diesen wild wachsenden fabae . . . nicht die Saubohne, sondern eine Erbsenart, Pisum maritimum, zu verstehen, die noch heute auf den Dünen der ^sordseeinseln massenhaft wild vorkommt.'1

2) Als sicher darf bezeichnet werden, daß unter Austeravia und Actania «■estfriesische Inseln zu verstehen sind. Ameland und Ter Schelling scheinen luf Identifikation einen gewissen Anspruch erheben zu können. Zwischen den •vestlich anschließenden dieser Inselreihe, Vlieland und Texel, mündete die bssa Drusiuna ins Meer; s. u. S. 304, 2.

10*

292 Kap. IV. Auf den Spuren der Bella Germamae dea Piiniua

Betracht. Im Autorenverzeichnisse nun des XVI. Buches wird als erster lateiuischer Autor Varro, als erster ausländischer Alexander Poly- histor genannt; jener wird im Text § 7, dieser § 16 zitiert. Für 1 6 ist kein Quellenautor angegeben, mithin ist der Gewährsmann für den Inhalt dieser Paragraphen Plinius selbst. Dieser eigentlich selbst- verständliche Schluß1) wird durch den, mau möchte sagen, krampf- artigen Übergang zu dem mit § 7 einsetzenden langen Auszuge aus \arro gewährleistet. Der § 1 enthält die Propositio: nachdem die pomiferue arbores besprochen seien (das war in den Büchern XII XV geschehen), kämen jetzt die ylandiferae an die Reihe; aber bevor er dazu übergehe, wolle er das Naturwunder, daß es Völkerschaften gebe, die ohne jede Baumfruchtnahrung lebten, einer Betrachtung unter- ziehen. An diese tritt er in § 2 heran, indem er 2 4 von den kümmerlichen Lebensverhältnissen der Chauci erzählt, die ihr Dasein durch eine ganz primitive Art des Fischfanges im Wattenmeere friste- ten. Das bringt ihn in § 5 auf ein aliud miraculum~) in der Nach- barschaft des Chaukenlandes: dieses Wunder bestehe in riesigen schwimmenden Bäumen. Es gebe aber, so wird in § 6 fortgefahren, in der nördlichen Zone noch ein weiteres, alle anderen übersteigen- des Wunder, den Herkynischen Urwald. Seine Bäume, die sich zu torartigen, für den Durchmarsch von ganzen Reiterschwadronen ge- eigneten Wölbungen zusammenschlössen, seien fast alle eicheltragend, „und diese Art erfreut sich bei den Römern dauernder Ehre". Mit diesen Worten quibus lionos apud B.omanos perpetuus wird zu dem Thema übergegangen, das von § 7 an die Darstellung eine

1) Ahnlich liegt es zu Beginn von B. XII: 1 5 (Mitte) Allgemeines über Nutzen und Verehrung von Bäumen, dann: produnt ...; ob darunter der im Quellenregister als erster römischer Autor genannte M. Varro zu verstehen ist (so 0. Hirschfeld, Kl. Sehr. 17), ist nicht sicher, weil bald darauf 7) apud auc- tores mvenitur folgt und möglicherweise erst hier Varro gemeint ist. Wie dem aber auch sei: jener Anfang des Buches stammt sicher von Plinius selbst. \ Besonders klar auch B. XVIII: 1 5 eine defensio terrae, die neben vielem Segen manche Schädlichkeiten hervorbringe; dann 6 aus dem im Autorenregister an erster Stelle genannten Masurius Sabinus (F. Münzer, Beitr. z. Quellenkrit. der Naturgesch. d. Plin. 349): also jener Anfang des Buches von Plinius selbst (Motiv' aus der stoischen Tbeodicee geläufig, aber ganz individuell behandelt. Ein lehrreicher Fall dieser A t aus B. XXXI wird weiter unten (VI. Kap., Abschn 1 1 c) zur Sprache kommen.

2) Übergang mit denselben Worten XXI 79.

Analyse von Plinius nat. hist. XVI Anf. 293

Strecke lang (bis § 14") beherrscht, zu den römischen Ebrenkränzen aus Eichenlaub. Hinc civicae coronae, müitum virtutis insigne clarissi- tnum geht es nach den soeben zitierten Worten weiter, und hierfür wird nun auch gleich Varro zitiert, aus dessen Antiquitates, wie längst erkannt, dieser Abschnitt (durch geringfügige Bemerkungen des Plinius selbst erweitert) stammt.1) So erleben wir das abenteuerliche Schau- spiel, uns aus dem Wattenmeere der Nordsee und aus der Wunder- welt von Urwäldern des deutschen Mittelgebirges urplötzlich in die Geschichte militärischer Auszeichnungen Roms versetzt zu sehen. Offenbar war dem Verfasser, der seinen Lesern mit der ihn kenn- zeichnenden unkünstlerischen Art solche Gedankensprünge wiederholt zumutet, nur daran gelegen, eine Reihe von Paradoxa aufzutischer. und ihnen den Genuß der wahrhaft harten Eichelkost, die er nach Erledigung des noch ganz unterhaltsamen Ordenkapitels im weiteren Verlaufe dieses Buches (von § 15 an) vorsetzen mußte, durch einen herzhaften (Jriff in den reichen Speisekorb seiner germanischen Er- innerungen etwas schmackhafter zu machen. Empfinden doch auch wir derartige ridvöuura, die allenthalben über seine Naturgeschichte verstreut sind, als Reize auf unsere bei ihrer Lektüre abstumpfenden Nerven, und werden doch auch meine eignen Leser, denen ich im folgenden Kapitel dürre Wortinterpretationen nicht zu ersparen ver- mag, zur Ergänzung der oben (S. 98) gelesenen, noch ganz unvoll- kommenen Schilderung unseres Vaterlandes durch Poseidonios hier Bilder von Land und Leuten sich gefallen lassen, wie sie nur von Augenzeugen haben entworfen werden können. Für das Schlingwerk des Stils bin nicht ich als Übersetzer verantwortlich: der Verfasser hat es hier wie sonst für seine Aufgabe gehalten, Wunder der Natur

1) Bemerkenswert ist die analoge Komposition in XXI: auf ein kurzen l'rooemium mit beiläufigem Catozitat folgt 3 11 ein längerer Abschnitt aus Varro, wieder de coronis (diesmal Blumenkränze), der im Autoreure ister gleich nach Cato genannt ist. Desgleichen in XXII: auf ein Prooemium mit allerlei miracula und einer Invektive auf den Luxus folgt wieder ein Varronisches Exzerpt de coronis (6 ff., daraus stammt die im Text obenS. 288 behandelte Stelle über die Corona graminea). Offenbar setzte er für dies Thema besonderes Interesse vorauf, und verteilte die Exzerpte so, daß er sie jedesmal an Buchanfänge rückte. Die Disposition der n. h. ist ja nach einem ganz bestimmten Plane eingerichtet, das einzelne durch Vor- und Rückverweisungen so 6traft* unter sich, verbunden wie kaum in einem anderen Werke des Altertums.

294 Kap. IV. Auf den Sparen der Bella Germaniae des Plinius

wunderlich zu verzieren1); auch daß arge Rhetorik Nachrichten von einem, wie wir sehen werden, beträchtlichen Werte stellenweise über- wuchert hat, wird man als bedauerlich, aber unvermeidlich hinnehmen.

„(2) Wir haben schon gesagt, daß es auch im Orient, an der Küste des Ozeans, Volksstämme gebe, die in solcher Dürftigkeit leben. Aber auch im Norden haben wir solche gesehen, nämlich bei den sogenannten größeren und kleineren Chauken. In gewaltiger Strö- mung, zweimal binnen Tag und Nacht, überflutet dort der Ozean einen unermeßlichen Landstrich: so bedeckt er einen Raum, um dessen Besitz sich das Weltall streitet, da es unentschieden ist, ob er der Erde oder dem Meere gehört. (3) Dort haust ein armseliger Stamm auf hohen Erdhügeln, die nach Maßgabe der erfahrungsgemäß höchsten Fluten wie Tribunale künstlich aufgeworfen sind mit oben daraufgesetzten Hütten. Schiffenden ähnlich, wenn die Flut alles in der Runde bedeckt, gleichen die Bewohner Schiffbrüchigen, wenn sie zurückgetreten ist; dann machen sie rings um ihre erbärmlichen Be hausungen auf die mit dem Meere fliehenden Fische Jagd. Sie ver- mögen weder Vieh zu halten noch von Milch zu leben wie ihre Nach- barn, ja nicht einmal die Jagd gibt ihnen Unterhalt, da weithin jedes Gebüsch fehlt. (4) Aus Seegras und Binsen flechten sie Stricke zu Netzen, die sie zum Fischfang aussetzen. Den Schlamm greifen sie mit Händen auf, trocknen ihn mehr im Winde als an der Sonne: diese Erde dient ihnen zum Kochen, auch wärmen sie daran ihre vom scharfen Nordwinde starrenden Glieder. Ihr einziges Getränk ist Regenwasser, das sie in Gruben im Vorderhause aufbewahren. Und diese Stämme sagen: ein Sieg des römischen Volkes über sie würde sie zu Sklaven machen! Wahrlich: viele verschont das Schick- sal nur, um sie zu strafen.

(5) Ein anderes Wunder bieten die Walder. Sie bedecken das ganze übrige Germanien und steigern die Kälte noch durch Schatten, sind aber am höchsten unweit der oben genannten Chauken, nament- lich um zwei Seen. Hart an deren Ufern stehen Eichen sehr schnellen

1) Die Paragraphen IX 102 f., wo er, um „die große Mannigfaltigkeit der spielenden Natur" bei den Schaltieren zu malen, selbst anfängt, sein Spiel mit der Sprache zu treiben, sind wohl das tollste Stückchen lateinischer Prosa über- haupt, das höchstens in einigen Abschnitten der Florida des stilistischen Trapez- künstlers Apuleius einigermaßen seinesgleichen findet.

Analyse von Plinius nat. hist. XVI Anf. 295

Wachstums, die, von Fluten unterspült oder durch Stürme losgerissen aanze Stücke des Erdreichs, worin sich ihre Wurzeln verflochten haben, wie Inseln mit sich forttragen. So im Gleichgewichte stehend, fah- ren sie dahin mit ihrem aus Kiesenästen gebildeten Takelwerk, ein Entsetzen oft. für unsere Flotten: trieben doch die Fluten sie gleich- sam absichtlich gegen die Vorderteile der bei Nacht stilliegenden Schiffe, die sich dann nicht anders zu helfen wußten, als ein See- gefecht gegen Bäume zu liefern.

(6) In demselben nördlichen Landstriche liegt der ungeheure Herky- nische Wald: urweltlich, unberührt von den Äonen, ward ihm fast das Los der Unsterblichkeit: es gibt kein größeres Wunder auf Erden. Um anderes, das man nicht glauben würde, zu übergehen: verbürgter- maßen türmt sich das Erdreich durch den Gegendruck aufeinander- stoßender Wurzeln teils zu Hügeln, teils bilden, wo es etwa dem Drucke nicht nachgeben sollte, die Wurzeln bogenförmige Wölbungen wie eine Art Tore; diese reichen bis zu den Asten, die wie die Wur- zeln auch ihrerseits miteinander ringen, hinauf und vermögen so ganze Reiterschwadronen durchzulassen. <T)iese Wälder gehören fast sämt- lich zur eicheltragenden Gattung, die sich bei den Römern dauernder Ehre erfreut. (7) Von ihr stammen die Bürgerkronen)>" usw.

Der Inhalt des ersten dieser drei Absätze wird ausdrücklich aus Autopsie abgeleitet: visae nobis Ghaucorum gentes.1) Den Feldzug des Corbulo gegen die Chauci vom Jahre 47 hat Plinius selbst mit- gemacht, und am Schlüsse dieses Absatzes spielt er auf kriegerische Verwicklungen mit diesem Volksstamme an. Dennoch trage ich Bedenken, seinen Inhalt für die Bella zu verwerten, weil man durch- aus den Eindruck hat, daß er in ihm etwas berichtet, das er, wenigstens in solcher Ausführlichkeit, als neu und unbekannt voraussetzt. Trotz- dem sei es, wegen des Zusammenhangs mit den beiden folgenden Absätzen, erlaubt, hier etwas dabei zu verweilen. Die Schilderung ist anschaulich und durchaus individuell, was Anerkennung verdient. da die Gefahr, ins Schablonenhafte zu verfallen, nahelag: Beschrei- bungen primitiver, in armseligen Daseinsverhältnissen vegetierender Völkerschaften waren in der ethnographischen Literatur häufig, Plinius

1) Vgl. auch die Schlußworte des oben nicht ühersetzten § 1 : admiratio usu comperta. quaenam qualisqne esset vita sine arbore ulla. sine frut'c- vivenlium.

-><}ß Kap. IV. Auf den Spuren der Bella Germaniae des Plinius

weist in den Anfangsworten ja selbst auf solche früher von ihm verwertete Schriften hin.1) Es ist ferner auch nichts Geringes, daß er unseres Wissens seit Pytheas der einzige war, der daf Wattenmeer der Nordsee mit den Augen eines Naturforschers betrachtet und seine Beobachtungen darüber aufgezeichnet hat: aestuarium ist der technische Ausdruck2), und ebendiesen gebraucht er an einer anderen Stelle (XX XVII 35), wo er von der Entdeckungsfahrt des Pytheas an der Nordseeküste freilich durch eine Zwischenquelle berichtet.3) Wir müssen ihm dankbar sein, daß er uns ermöglicht, die durch die Jahrtausende fast nicht angetastete Gleichheit von Land und Leuten zu beobachten. Noch heute kämpfen die Bewohner auf ihren V\ arfen mit dem Elemente um ihr Leben, und daß Deiche, die sie jetzt sichern, nicht immer unbedingten Schutz gewähren, weiß ich, ein Sohn der ostfriesischen Küste, teils aus eigner Erfahrung, als bei einem Nordwestorkane im Jahre 1885 ein Durchbruch der tobenden Fluten zu befürchten war, teils aus Erzählungen meiner Eltern, die einen früheren erlebten. Die von Plinius erwähnte Art der Tau- flechterei aus Seegras oder Rohrkolben und Binsen wird für Stell- netze in der Marsch wohl noch heutzutage, wurde jedenfalls, wenn meine Erinnerung mich nicht täuscht, in meiner Jugend angewendet. Auch habe ich damals nie anderes Wasser als das in ausgemauerte

1) § 2 Anf. (Fortsetzung der in der vorigen Anm. zitierten Worte) dixi- mus et in Oriente quidem iuxta oceanum complures ea in necessitate gentes. Das bezieht sich auf XIII 139, wo er von der Küste des mare rubrum spricht. Agatharchides -xbqI rfjg igv&Qäg d-ald66rig, an dessen Schilderung der Ichthyo- phagen man zunächst denken wird, kann da aber nicht benutzt sein, weil er nicht im Autorenverzeichnis des Buches XIII genannt wird, sondern etwa die dort genannten Nearchos oder Onesikritos (Agatharchides erscheint als auctor im Index von B. VII und zweimal, § 14. 29, in dessen Text).

2) Vgl. o. S. 284. Ein namentliches Fragment aus Suetons Prata (p. 242 Reiff.) bei Tsidorus de nat. rer. 41 (= orig. XIII 18, 1) lautet: aestuaria, per quae mare vicissim tarn aecedit quam recedit. Varro schrieb De aestuariis (von ihm selbst de 1. 1. IX 26 zitiert). Ptolemaios übersetzt den lat. Ausdruck regelmäßig mit si'ö^vöis, das zunächst eine Einbuchtung des Meeres, dann auch das durch sie gebildete Watt bedeutet. Zeuß S. 269 sagt mit riecht daß wahrscheinlich schon Pytheas das Wort gebrauchte.

S) Die berühmten Worte lauten: Pytheas (credidit) Guionibus (Inguionibus Detlefsen) Germaniae genti accoli aestuarium oceani Metuonidis (Name des Watteugebiets der Nordsee: vgl. D. Detlefsen, Die Entdeckung d. germ. Nordens im Altertum, Berl. 1904, 9ff. : Metuonis bedeute .,Medenlandli, d. h. Marschland).

Das Wattenmeer «1er Nordsee 297

Erdlöcher („Backen") aufgefangene Regenwasser in ungekochtem Zustande getrunken. Derartiges verzeichnete der antike Kulturmensch ;ds Kuriosurn.1) Auch die Erwähnung des Torfs meines Wissens die einzige im Altertum gehört dazu; in meiner Jugend war dieses bei uns das gebräuchlichste Heizmittel.

Die Schilderung des Plinius ist mir in manchen modernen Dar- stellungen der Verhältnisse an der Nordseeküste begegnet. Da ich sie aber gelegentlich als nicht ganz naturgetreu oder übertrieben bezeichnet fand, so möchte ich, um die Berechtigung des Tadels nach- zuprüfen, einem Lokalforscher das Wort geben, dessen Buch jetzt wohl fast der Vergessenheit anheimgefallen sein dürfte: Fr. Arends, Physische Geschichte der Nordseeküste und (leren Veränderungen durch Sturmfluthen seit der CymbrischenFluth bis jetzt (Emden 1833). sagt (1140): „Diese Beschreibung deutet auf eine von aller Vegetation entblößte Sand- oder Schlammbank, ein „rohes Watt" hin. Begrüntes Vorland wird nicht von der täglichen Fluth überströmt, Fische geheu nicht dahin, aber Vieh findet sich darauf, Weide in Fülle; bei hohen i'luthen bieten demselben die Anhöhen zum Schutz sich dar. . . Plinius hat nur darin Unrecht, daß er entweder Scenen, die nur bei hohen Fluthen vorfielen, zur alltäglichen machte, oder, und das ist noch wahrscheinlicher, er dehnte die Lage einzelner Strand -Bewohner auf das ganze Volk aus. Wir stellen uns die Sache so vor: Zu Plinius' Zeit hatte das Meer schon starke Eingriffe in das Land gethan, es riß ganze Strecken weg, bedeckte andere mit Sande. Die Bewohner, solche Scenen gewohnt, blieben anfangs ruhig auf ihren Hügeln, denn nicht plötzlich ging das Land zu Grunde, nur nach und nach, ihr Vieh hatte also hinlänglich Weide; zuletzt verschwand das Gras, rohes Watt umgab ihre nur allein noch grünende Hügel, ihr Vieh fand keine Nahrung mehr; ein Theil der Bewohner mag sich weiter landwärts neue Sitze gesucht haben, die übrigen aus An-

1) Plinius selbst VI 20ü nennt in einem Zitate aus Statius Sebogus (dem Bekannten Ciceros) eine Insel der Canarengruppe (b. Lanzarote) Pluvialia, d. h. „Regenwasserinsel", denn dort non esse aquam nisi ex imbribus. Das Regenwasser, vdag o'ft/Jpiov, aqua pluvia, mit edler Bezeichnung to vöwq xb £■* d-eov, aqua caelestis, wurde auch von den Kulturvölkern in Zisternen, (pQ^ara oder läxxoi, aufgefangen, aber sie tranken solches Wasser nur abgekocht: Hippokr. de aere 8; in diesem Zustande verordneten es auch die römischen Ärzte: Plitt. XXXI 81.

298 Kap. IV. Auf den Spuren der Hella Germania': <ies Plinius

hiinglichkeit an die Stätte ihrer (ieburt b]ieb zurück; aus Hirten wurden sie Fischer, kümmerlich sich nährend. So die Sache erklärt, bleibt Plinius in Ehren." Er fährt dann Analogien aus der spätere») Entwicklung der Nordseeküste an. Von den zwei Möglichkeiten, die er für die Entlastung des Plinius zur Wahl stellt, ist ohne Frage die zweite die richtige. Dann aber liegt überhaupt kein „Unrecht'- des Plinius mehr vor: denn sein Bericht betrifft ja gar nicht die Chauei insgesamt über diese und ihre Wohnorte am Ozean schickt er nur eine allgemein unterrichtende Bemerkung voraus , sondern nur eine misera gens derselben1): das sind eben jene Strandbewohner, deren kümmerliche Lebensgewohnheiten er nun erzählen will. Bei dieser Erklärung verringert sich auch oder kommt ganz in Wegfall der Wider- spruch, den man zwischen der Plinianischen Schilderung und der Taciteischen von den Chauei hat finden wollen: populus inter Germanos nobilissimus werden sie von Tacitus (c. 35) genannt. Das schließt nicht aus, daß unter ihnen auch eine am Küstensaume wohnende misera gens war, zumal Plinius durch jene Vorbemerkung, in der er die Einteilung der Chauei in maiores minoresque erwähnt, dem Leser die Vorstellung eines ausgedehnten Volkes gegeben, also dem Irrtume, seinen Bericht über einen kleinen Teilstamm auf die Gesamtheit zu übertragen, vor- gebeugt hat.

Der Ort des zweiten Wunders, der schwimmenden, inselartigen, mit Eichen bewachsenen Erdstücke, wird durch die Worte haut proeul supra dictis Chaucis im allgemeinen gekennzeichnet, aber gleich durch. circa duos praeeipue lacuus genauer bestimmt. Merkwürdigerweise scheint sich noch niemand ernstlich um eine Identifikation bemüht zu haben. Nur der oben genannte Lokalforscher ist meines Wissens kurz darauf eingegangen; er hat sich dem Richtigen auch genähert, ist dann freilich, weil ihm das philologische Material fernlag, gänzlich in die Irre gegangen: in Verlegenheit die „Seen" zu bestimmen, verstand er darunter „Buchten", die er aber auch nicht zu lokalisieren vermochte. Ich glaubte daher, der Frage näher treten zu sollen, und möchte hier die Antwort, die ich gefunden zu haben meine, vorlegen.

Plinius sagt, durch diese umhertreibenden Erdschollen seien die römischen Flotten oft erschreckt worden, da die Gefahr bestanden

1) Vgl. IV 99 Chattcorum gentes, Velleius II 106, 1 Chmicorum nationes.

Kurslinie der römischen Nordsoeflotte 299

habe, daß die nachts vor Anker liegenden Schiffe mit ihnen zu- sammenstießen, was eine Abwehr nötig gemacht habe (saepe territis classibus nostris, cum velut ex induslria fluctibits agerentur in proras staniium noctu inopesqae remedii Mae proelium navale adversus arbores inirent). Hierin ist ein deutlicher Fingerzeig enthalten: die Seen müssen auf einer öfters befahrenen Linie gelegen haben. Nun sind wir über die Bewegungen der römischen Flotte in den germanischen Gewässern durch Tacitus so weit unterrichtet nur die große Expedition des Tiberius im Jahre 5 n. Chr. fiel außerhalb des Rahmens seines Geschichtswerkes , daß alle Aussicht vorhanden zu sein scheint, von hier aus die Antwort auf unsere Frage zu erhalten. „Die Friesen" heißt es Germ. 34 „werden nach Maßgabe ihrer Streitkräfte 'größere' und 'kleinere' benannt. Den Saum beider Stämme bildet bis zum Ozean der Rheinstrom; überdies umfaßt ihr Gebiet gewaltige Seen, die von römischen Flotten befahren worden sind'' (maioribus minoribusque Frisiis vocabulum est ex modo virium. utraeque naiiones usque ad Oceanum Eheno praetexuntur ambhintque immensos insuper lacus et Eomanis classibus navigatos). Offenbar sind die „von den römischen Flotten befahrenen Seen", von denen in der Germania die Rede ist, eben die Plinianischen „zwei Seen, auf denen unsere Flotten oft er- schreckt wurden". Der Plinianische Ursprung der Taciteischen Stelle läßt sich übrigens auch hier wieder durch eine sprachliche Beobach- tung gewährleisten: denn dem Taciteischen Ausdruck nationes Eheno praetexuntur entspricht in der gesamten uns erhaltenen Literatur nur ein Plinianischer : qui (montes) omnes eas gentes praetexunt (n. h. VI 112).1) Bevor wir versuchen, die beiden Seen des Plinius zu bestimmen. werfen wir einen Blick auf die bei Tacitus folgenden Sätze, die wir schon oben (S. 174) wegen der Erwähnung der Herculessäulen im nördlichen

1) Dies entnehme ich einer Anmerkung Gudemans, dem bei Ausarbeitung seines Kommentara das Material des Thesaurusarchivs zu Gebote stand. Es sei bei dieser Gelegenheit auch erwähnt, daß der reichlich gewagte Aus- druck des Plinius, die Flotte habe ein proelium navale adversus arbores ge- liefert, eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Taciteischen aufweist, der in der nach früheren Bemerkungen (S. 211) sicher auf Plinius zurückgehenden Er- zählung des Patavenkrieges vorkommt, hist. V 15: tamquam navali pupna sei in den Sümpfen des rheinischen Mündungsgebietes ge fochten worden. Die „Seeschlacht auf dem Lande" war ein altes, oft variiertes Bonmot des Gorgias: vgl. Ant. Kunstprosa 385 f., wo das Taciteische Beispiel vergessen worden ist.

3()0 Kap. IV. Auf den Spuren der Bflla Germaniae des Plinius

Ozean gestreift hatten. „Ja dort haben wir uns mit dem Ozean selbst versucht. Auch geht eine Sage, daß in jener Gegend noch Hercules- säulen stehen, mag nun Hercules wirklich dorthin gekommen sein, oder mögen wir aus einem gemeinschaftlichen Gefühle heraus. alles Groß- artige, was es in der Welt gibt, auf jenen Heldennamen zurückführen An Wagemut hat es dem Drusus Germanicus nicht gefehlt, aber der Ozean selbst hat auf die vereinten Fragen nach seinen eignen und nach des Hercules Rätseln die Antwort geweigert. Später hat niemand mehr einen Versuch gemacht: in göttlichen Dingen schien der Glaube frommer und ehrfurchtsvoller als das Wissen.' Entkleiden wir die Worte ihres prunkhaften Faltenwurfes1), so ergibt sich als ihr Inha^ daß Drusus auf einer kühnen Expedition in die Nordsee der Sage von Hercules- säulen nachspürte, aber vergeblich. Mit Recht wird allgemein ange- nommen, daß es sich um die Fahrt des Drusus an der Nordseeküste von der Rhein- bis zur Wesermündung im Jahre 12 v. Chr. handle, ein Unter- nehmen, dessen Wagemut von Mit- und Nachwelt, obwohl die Flotte auf der Rückkehr in Gefahr geriet, als erstes seiner Art angestaunt wurde: oceanum septentrionalem primus Romanorum ducum navigavit, wie Sueto- niusi Claud. l)sagt. Alsspäter(im Jahrel6n. Chr.) der jüngere Germanicus dasselbe unternahm, freilich in geringerem Maßstabe, „betete er zu seinem Vater Drusus, er möge ihm bei gleichem Wagnis in Gunst und Gnaden durch sein Beispiel und durch das Andenken an sein Raten und Taten helfen" (Tac. ann. II 8). Nun ist uns durch einen Brief des jüngeren Plinius, wie schon oben bemerkt wurde, bezeugt, daß das Germanenwerk seines Oheims der Verherrlichung des Drusus ge- weiht worden sei: Drusus sei ihm so schrieb Plinius in der Ein- leitung seines Werkes im Traume erschienen und habe ihn ge- beten, Sorge zu tragen, daß das Andenken an ihn und seine Taten bei der Nachwelt nicht in Vergessenheit gerate.2) Es wird daher

1) Für das Ethos sind zu vergleichen die Verse des Albinovanus Pedo über die Nordseeexpedition des Germanicus vom Jahre 16 (bei Seneca suas. 1, 15), wo z. B. der Gedanke vorkommt di revocant rerumque cetant cognoscere finem mortales oculos. Über die das Germanische betreffende Versserie dieses Dichters s. o. S. 162, 1.

2) Plinius ep. III 5, 4 (in dem Katalog der Werke des Oheims): 'Bellorum Germaniae XX\ quibus omnia quae cum Germanis gessimus bellet collegit. in- ehoavit cum in Germania militaret somnio monitus: adstitü ei quiescenti Drusi Neronis effigies, qui Germaniae latissimc vicior ibi periit, commendabat, memoriam

Kurslinie der römischen Nordseeflotte 301

■erlaubt sein, die Taciteische Angabe in dem Germaniakapitel, die ihrem Inhalte nach so recht geeignet war, das Andenken des Drusus zu verherrlichen, auf das Plinianische Werk zurückzuführen1), zu- mal diesem, wie wir soeben sahen, auch der vorhergehende Satz über die Flottenoperationen auf den „Seen" entnommen worden ist Eine Bestätigung dieser Vermutung kann darin gefunden werden, daß die Nachricht von den Herculessäulen durch die Worte, sie seien der Sage nach „noch vorhanden" (superesse adhuc), wieder in jene unmittelbare Beziehung zur Gegenwart gesetzt wird, die, wie wir wiederholt sahen (S. 264), für die Plinianischen Stellen der Taciteischen Germania charakteristisch ist. Auch die Annalenstelle über die Expedition des Germanicus wird in dem früher (S. 213 f.) er- örterten Sinne auf das Werk des Plinius zurückgehen: es ist sicher nicht zufällig, daß in ihr wie in der Germaniastelle von dem „Wag- nis" und wie in der Einleitung des Germanen Werkes von dem „An- denken" des Drusus die Rede ist.

Auf die Friesen kommt Plinius in der Naturgeschichte wieder- holt zu sprechen er ist in der uns erhaltenen Literatur der erste Schriftsteller, der sie erwähnt : insulae Frisiorum IV 101 und be- sonders XXV 21, wo sie anläßlich einer der beiden Unternehmungen des Germanicus vom Jahre 15 oder 16 in kriegsgeschiehtlichem Zu- sammenhang (in Germania trans fflieniim castris a Germanico Caesare promoüs) als eine gens tum fida erwähnt werden: ob die von ihm IV 101 neben Frisii und Chauci genannten Frisiavones mit den Taciteischen Frisii minores identisch sind, eine Gleichung, die sich seit Zeuß (S. 133) großer Beliebtheit erfreut, erscheint mir sehr fragwürdig. Plinius hat die Friesen auch in dem Annalen- werke als einen am Aufstande d'S Civilis beteiligten Stamm öfter genannt, denn ihre wiederholten Erwähnungen bei Tacitus in der Geschichte dieses Aufstandes (hist. iV 16. 18. 56. 79) gehen zweifel- los auf jenes Plinianische Werk zurück. Fast alles sonstige, was

suam orabatque ut se ab iniuria oblivionis adsereret. Münzer hat diese wichtige Angabe ihrer Idee und Ausführung nach sehr schön entwickelt (a. a. 0. 67 AD: vgl. o. S. 273.

1) Schon A. Lückenbach, De Gennaniae Taciteae fontibus (Diss. Marb. 1891) 36 hat diese Vermutung geäußert. Die Möglichkeit, daß Plinius seiner- seits auf Livius, der die Drususi'eldzü^e in Teilen der Bücher CXXX1X CXLII erzählte, zurückging, wird natürlich offen bleiben müssen.

302 Kap. IV. Auf den Spuren der Bella Germaniae des l'linius

wir von dem übrigens engbegrenzten geschichtlichen Lebi-n dieses Volksstammes wissen er blieb dauernd auf seiner Scholle fast iusularer Natur und wurde daher von den gewaltigen Erlebnissen der germanischen Wandervölker nicht berührt , verdanken wir den Bella des Plinius. Er interessierte sich für die Volksstämme der Nordseeküste, mit denen er selbst in Berührung gekommen war, und hat ihrer teils aus älterer Literatur (seit Livius), teils aber auch auf Grund eigner An- schauung oft Erwähnung getan: ohne sein in drei großen Werken, den Bella, den Annalen, der Naturgeschichte, sich betätigendes Interesse ent- zöge sich die älteste Geschichte des Friesenvolkes unserer Kenntnis so gut wie völlig.1) Sicher also hat er es auch bei der Gelegenheit erwähnt, die es zum ersten. Maie auf den Schauplatz geschichtlicher Begeben- heiten führte, dem Feldzuge des Drusus vom Jahre 12 v. Chr.

Die Bestimmung der bei Plinius zu Beginn des X V.l. Buches er- wähnten Seen macht unter diesen Voraussetzungen nicht die ge- ringste Schwierigkeit mehr. Tacitus erwähnt sie, von der Stelle der Germania (c. 31, s. o.) abgesehen, dreimal in den Annalen. Das erstemal anläßlich einer Unternehmung des Germanicus, von der auch Plinius in der angeführten Stelle des XXV. Buches der Naturgeschichte spricht (nur das wird sich nicht entscheiden lassen, ob auch bei Plinius die des Jahres 15 oder vielmehr die des Jahres 16 gemeint ist): ann. I 60 zum Jahre 15 „Germanicus schickte den Caecina mit vierzig Kohorten durch das Land der Bructeren an die Ems. Die Reiterei führte der Präfekt Pedo durch das Gebiet der Friesen. Er selbst schiffte vier Legionen ein, mit denen er durch die Seen fuhr. Fußvolk, Reiterei und Flotte trafen bei dem vorgenannten Flusse zusammen. Die Chauken wurden, da sie Hilfstruppen zu stellen versprachen, in den Heeres verband auf- genommen."2) Dann II 8 zum Jahre 16, eine Stelle, deren zweitem

1) Die Stellen, wo die Friesen von römischen Geschichtschreibern erwähnt werden, e. bei M. Ihm, R. E. VII 106. Unter diesen ist nur eine einzige, die aus dem zeitlichen Rahmen der Plinianischen Werke heraustritt, Tac. Agr. 28 (zum Jahre 83): die TJsipi, eine in Britannien stationierte Auxiliarkohorte, primum a Suebis, mox a Frisiis intercepti sunt. Das erfuhr Tacitus aus den Feldzugsberichten seines Schwiegervaters. Mit dieser wenig rühmlichen Tat verschwindet der Friesenname aus der antiken Historiographie.

2) in commüitium adsciti sunt: derselbe Ausdruck hist. III 5; dort sind Plinius' Annalen die Quelle. Sonst kommt nach dem Thes. diese Verbindung nirgends vor.

Der Zuidersee 303

Satze wir vorhin bereits begegneten: „Kaum war die Flotte an- gekommen, als er nach Voraussendung der Zufulir und Vertei- lung der Schiffe auf Legionen und Bundesgenossen in den sog. Ürususkanal einlief. Hier betete er zu seinem Vater Drusus, er möge ihm in Gunst und Gnaden bei gleichem Wagnis durch sein Beispiel und durch das Gedächtnis an sein Raten und Taten helfen. Darauf gelangte er in glücklicher Fahrt durch die Seen und den Ozean bis an die Ems." Endlich mehr beiläufig XIII 54 zum Jahre 58: „Die Friesen führten ihre junge Mannschaft durch Wal- dungen oder Sümpfe, die wehrlosen Alten über die Seen dem Ufer zu (hier ist die Fahrtrichtung ausnahmsweise umgekehrt: es handele sich aber auch um einen besonderen Vorfall, eine vorübergehende Auswanderung der Friesen an den römischen Niederrhein).1) Daß nun unter den in der Germania und den Annalen erwähnten lacus die Zuidersee zu verstehen ist, unterliegt keinem Zweifel und wird von allen Erklärern des Tacitus sowie den modernen Geschicht- schreibern angenommen. Auf die pluralische Bezeichnung werden wir nachher zu sprechen kommen, doch sei gleich hier bemerkt, daß Plinius selbst IV 101, wo er von der nördlichen Rheinmündung spricht, Seen (Jacuus) in der Mehrzahl nennt. Der Rückschluß von dieser Stelle des IV. Pliuianischen Buches 2) auf die uns beschäftigende des XVI. erscheint mir, zumal im Verein mit den Taciteischen zwingend. Wenn Plinius sagt, diese Seen lägen hauä proeul von den Chauken, so wird man in dieser läßlichen Ortsbezeichnung auf eine genaue kam

1) Diesem Kap. 54 geht eines voran, in dem mit großer Sachkunde über ein Kanalprojekt (Saöne-Mosel) des L. Antistius Vetus, leg. Aug. propr. von Germania sup. (in den Jahren 54 58) berichtet wird. Dieser Mann war auch schriftstellerisch tätig, denn seine Identität mit L. Vetus, den Plinins in den Registern der geographischen Bücher nennt, ist wohl zweifellos. Kanalbauten interessierten Plinius, er erwähnt sie wiederholt in der n. h. : F. Miinzer, Beitr. z. Quellenkrit. d. Naturgesch. d. Plin. 130, 1.

■_') Sie sei hier wegen ihrer meist ganz singulären, aber ersichtlich auf genauester Kunde beruhenden topographischen und ethnographischen Angaben dem Leser in ihrem Zusammenhange vor Augen geführt: in Rheno autem ipso, prope G in longitudincm, nöbilissima Batavorum insula et Cannenefatium, et aiiae Frisiorum Chaucorum Frisiavonum Sturiorum Marsaciorum guae sternuntur inter Helinium ac Flecum. ita appellantur Ostia in quae efl'usus Rhenus u septentrione in lacus, ab oeeidente in amnem Mosam se spargit, medio inter haec ore modicum nomini suo custodiens alveurn.

304 Kap. IV. Auf den Spuren «Jer Bella Germanitfe des Plinius

es ihm für seineu Zusammenhang nicht an kein Hindernis der Identi- fikation erblicken, und wenn wir uns die l'linianischen Warfleute mög- lichst im Westen des Chaukengebietes, also ander Emsmündung, wohn- haft denken, wo noch heutzutage die Wattbildung besonders deutlich ist, so weiden wir die Entfernungsangabe als ungefähre gelten lassen: heißt es doch auch bei Tacitus (Germ. 34 ) von der Chaucorum gern: ineipit a Frisiis. Vor allein muß man aber bedenken, daß die römi- sche Nordseeflotte auf ihrer uns wohlbekannten Kurslinie keine Seen als diese passiert hat, diese aber auch jedesmal hat passieren müssen. Der antike Name des Zuidersees ist uns überliefert, lacus Flevo, der im Namen der dem See vorgelagerten Insel Vlieland weiterlebt.1; Nun spricht Plinius an der Stelle des XVI. Buches von zwei Seen, an der des IV. allgemein von lacuus in der Mehrzahl, deren sich auch Tacitus, wie wir sahen, jedesmal bedient. Daraus haben wir zu schließen, daß in dem nördlichen Mündungsgebiete des Rheins außer dem lacus Flevo ein kleinerer See ehemals vorhanden war. der mit dem größeren durch den Drususgraben, d. h. die kanalisierte Vecht2), verbunden war und so von der Flotte ebenfalls passiert

1) Vgl. A. Norlind in der Anin. 2 zitierten Schaft S. 115. Es liegt die germ. Wz. fleut zugrunde, nhd. fließen. Wahrscheinlich wurde der Name also ur- sprünglich nicht der Seebildung, sondern ihrer stromähnlicheren Fortsetzung (vgl. die unten S. 308, 1 zitierte Stelle des Mela) gegeben (Norlind S. 210).

2) Früher wurde unter der fossa Drusiana fast allgemein die kanalisierte Geldersche Ijssel verstanden, d. h. der nördlichste der drei Rheinarme, der sich dicht oberhalb von Arnheim abzweigt und in den Zuidersee mündet. An die Stelle dieser Annahme ist von E. Ritterling, Bonn. Jhb. 114/15 (1906) 179 f., eine andere gesetzt worden, wonach vielmehr eine beträchtlich weiter stromabwärts. bei Utrecht, erfolgende Abzweigung, die Vecht, die ebenfalls in den Zuidersee mündet, zu verstehen sei. Diese Annahme, die übrigens schon von dem deutschen Naturforscher v. Hoff in seiner u. S.Ö06, 1 zitierten Schrift (S. 328. 334 f.) als eine Möglichkeit erwogen wurde, erfreut sich jetzt, soviel ich sehe, allgemeiner Billigung der Kenner: E. Kornemann, Klio LK (1909) 436, 4. 448, 1. J. H. Hol- werda, Die Römer in Holland (IV. Ber. d. röm.-germ. Komm. 1910) 86. Fr. Koepp, Die Römer in Deutschland (1912) 16. A. Norlind, Die geogr. Entwickl. des Khein- deltas bis um das Jahr 1500, Lund-Amsterdam 1912, 92 f., 107 f. Danach haben wir also, um mich der Worte Ritterlings zu bedienen, anzunehmen, daß bei Vechten, dem alten wichtigen Hafen- und Stapelplatz Fectio (vgl. o. S. 186), die römischen Schiffe das eigentliche Rheinbett verließen, um durch die ruhigen Gewässer des Binnenmeers und dessen schmalen Ausfluß die friesische Seeküste zu erreichen.

Der Zuidersee 305

wurde. Jetzt sind beide Seen durch gewaltige Einbrüche des Meeres längst vereinigt und bilden auch in ihrer Vereinigung nur einen kleinen Teil des Zuidersees in seinem heutigen mächtigen Umfange.1) Nunmehr können wir uns wieder dem oben genannten ostfriesischen Lokalforscher zuwenden und hören, was er über die schwimmenden Inseln der Plinianischen Seen sagt (S. 144 f.): man wird erkennen, daß seine geologischen Voraussetzungen auf die soeben gegebene topographische Bestimmung zutreffen. „Die Seen müssen auf der Marsch gelegen und später sich mit dem Meer vereinigt haben oder zu Land geworden sein . . . Jedenfalls war es auf Moor ruhender Marschgrund, dem die Bäume entwuchsen, denn Sand hält nicht fest zusammen . . . Das ehemalige Vorhandensein von Waldungen auf der Marsch2) findet durch des Plinius Nachricht daher mehr Bestäti- gung, auch ohnedem würde die Benennung mehrerer Marschdörfer

1) Die anschauliche antike Schilderung des Sees bei Mela III 24 lautet: Rhenus . . . iam non amnis sed ingens lacus ubi campos implevit Flevo dicitur eiusdemque nominis insulam amplexus fit Herum artior iterumque fluvius emittitur. Die hier von Mela erwähnte, dem See gleichnamige Insel gilt für das heutige Schokland, eine Insel, die mit dem ganz kleinen, westlich von ihr gelegenen Inselchen ürk ursprünglich verbunden war: vgl. v. Hoff in der S. 306, 1 zitierten Schrift S. 367; auch: Nouveau Dictionnaire de Geogr. universelle (1894) s. v. Urk, wonach die Inseln zusammen 11 km lang sind. Über die weiteren Schick- sale des Sees vgl. H. Toepfer, Die deutsche Nordseeküste in alter und neuer Zeit, Geogr. Ztschr. IX 1903) 313: „Als die Römer in den nördlichen Teil des heutigen Holland vordrangen, trafen sie da, wo sich jetzt der südliche Zipfel des Zuidersees ausbreitet, einen Landsee, in den sich, mit der Tssel vereinigt, der östliche Arm des Rheins ergoß. Seinen Abfluß in den Ozean fand dieser Flevui? genannte See wahrscheinlich zwischen den Inseln Vlieland und Terschelling. Bis ins XII. Jahrh. bewahrte der Flevus seinen Umfang. Nun erfolgte aber in der ersten Hälfte des XIII. Jahrh. vom Meere her eine Reihe großer Über- flutungen, durch welche sich nach und nach die völlige Trennung der heutigen Provinz Nord-Holland von West-Friesland vorbereitete; und diese vollzog sich endgültig im Jahre 1282. Seine volle Ausweitung erhielt aber der neu ent- standene Meerbusen erst nach dem Jahre 1400. Er bedeckt jetzt, wenn mau ihn bis zu den Inseln rechnet, eine Fläche von 5500 qkm; nur die kleinen Inaein Urk und Schokland sind von dem versunkenen Lande übriggeblieben."

2) Er hätte sich dafür auch auf Strabo IV 194 (aus Timagenes) berufen können: Msvämoi 7clr](siov xäv ixßol&v icp' kxdrsga xov noxcc^ov (des Kheins) xazoixovvtEg ilr) kocI ögv^iovg ov% vTpT]Xrjs ccXlä itvxvf.g vXrts xal ccxavd-m&ovs. Man beachte auch die vorhin au» Tac ann. XIII 54 angefiihrteu saltus auf paludes, durch welche die Friesen an die Rheinmündung marschierten (o.S.303).

Norden: Die germanische Urgeschichte 20

306 ^ap. ^- ^n* ^en Spuren der Bella Germaniae des Plinius

dafür sprechen, hauptsächlich aber die Reste von Waldungen unter dem jetzigen Seestrand, wie unweit Catwyk (hier, in der Nähe von Leiden, mündete der Alte Rhein ins Meer) tief in die See hinein, auf den Sandbänken die „Haaks" vor dem Texel . . Deutsche Ge- lehrte können sich keinen Begriff davon machen, wie Eichen mit dem Erdboden herumschwimmen können, da erstere ebensowohl wie Erde im Wasser zu Boden sinken. Dem Marschbewohner kommt das Phänomen gar nicht unglaublich vor. Eigentliche Erde oder Klei war es freilich nicht, sondern Torferde (Darg) mit einer dünnen Lage Marschbodens bedeckt. Solcher Grund, von den Wellen unter- graben und zerrissen, schwimmt herum in größeren und kleineren Massen, indem das Moor, vermöge seines Fasergewebes zusammen- gehalten, sich nicht gleich im Wasser auflöst wie andere Erde und Klei, nur nach und nach." (Es folgen urkundlich bezeugte Beispiele losgerissener Landstücke im Marschgebiet.) Vom Zuidersee in seiner jetzigen Gestalt schreibt er (S. 225): „Im Süden ist der See ziemlich tief, die Nordseite dagegen besteht aus lauter Sandbänken, durch mehrere Ströme zerteilt, sicherer Beweis ehemaligen festen Landes, wie auch historisch erwiesen ist ... Die Insel Schokland gehörte ohne Zweifel zum festen Lande, denn der Boden ist moorig wie dort; die Moorerde konnte sich aber nicht gut mitten im See bilden. Mela beschreibt den See als durch die Überschwemmungen des nied- rigen Landes durch den Rhein entstanden (III 24). Tacitus erwähnt mehrere Seen, um welche die Friesen wohnten (Germ. 34), so auch Plinius IV 101; Herr v. Hoff glaubt daher mit Recht, daß der Südersee ehedem aus mehreren Seen bestand."1) Man sieht aus den letzteren Worten, daß der Verfasser dem Richtigen ganz nahe ge- 1) Der hier genannte K. v. Hoff war ein namhafter Geologe der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, auf dessen bis in die Gegenwart dauernde Bedeutung kürzlich A. Penck in seiner Rede „Die erdkundlichen Wissenschaften an der Univ. Berlin' (1918) 26 hingewiesen hat. In seinem Buche „Gesch. der durch Überlieferung nachgewiesenen natürlichen Veränderungen der Erdober- fläche" I (Gotha 1822) 351 f., schreibt v. Hoff: „Der Zuydersee wird von Mela als ein Landsee unter dem Namen Flevo beschrieben [s. o. S. 305, 1] und von ihm gesagt, daß ihn der Rhein durch Überschwemmung des niedrigen Landes ge- bildet habe. Plinius [s. o. S. 304, 2] gibt zwar dem See keinen Nam n, gedenkt aber doch seines Daseins oder vielmehr des von mehreren Seen. Auch Tacitus (ann. II 8. Germ. 34) schreibt von Seen in der Mehrzahl. Vielleicht war der Zuidersee ehedem in mehrere Seen zertheilt, welches sich gar wohl denken läßt*4

Der Zuidersee 307

kommen ist, und daß es bloß des philologischen Apparates bedurfte, auch die Stelle des XVI. Plinianischen Buches, von der wir ausgingen, in diesem Sinne zu deuten. Neben dem ostfriesischen Lokalforscher möge noch ein namhafter holländischer Geograph zu Worte kommen. J. Kuyper hat in der Ztschr. f. wiss. Geographie III (1882) 105 ff. eine Abhandlung „Alt- und Neu-Holland" veröffentlicht, die durch fünf nebeneinandergestellte kleine Kartenbilder auch dem Nichtspezia- listen eine Vorstellung der geologischen und historischen Verände- rungen eines Landes gibt, auf dessen Boden sich ein nicht unbeträcht- licher Teil auch der Geschichte des römischen Altertums abgespielt hat. Das erste Kartenbild1) zeigt das Holland etwa der Augusteischen Zeit: es war strichweise von Waldungen durchzogen, und im Text wird dazu bemerkt, daß Fichten und Tannen, öfter noch Eichen, Eschen, Birken und Weiden als vielfach nicht ganz zerstörte Trümmer in einer Anzahl von Fehnen gefunden worden seien; ihr einstiges Vorhandensein werde aber auch durch die geschichtlichen Nach- richten beglaubigt, daß Germanicus tausend Schiffe aus inländischem Holze auf der Insel der Bataver und Kaiser Iulianus deren acht- hundert aus Wäldern in der Umgebung; Leidens habe bauen lassen. Von der Zuidersee heißt es (S. 108): „Der Boden dieser Landstriche bestand hauptsächlich aus morastigem Fehngrund, großenteils mit Waldungen bedeckt und reich an Binnenseen." Das liest sich wie ein geologischer Kommentar zu der Plinius stelle, ohne daß der Verfasser ihrer gedächte. Auf die schon oben (S. 302) kurz berührte Tatsache, daß Plinius seine Autopsie des Rheinmündungsgebietes an einer späteren Stelle der Naturgeschichte ausdrücklich bezeugt2), sei hier

1) Dieses ist bei V. Gardthausen, Augustus u. seine Zeit 1 1072 reproduziert. Leider ist dieses Kartenbild, was die historische Topographie betrifft, längst nicht so genau, wie es dem gegenwärtigen Stande unseres Wissens entspricht (auch abgesehen davon, daß die fossa Drusiana falsch eingezeichnet ist, wie es der damaligen Annahme entsprach : s. o. S. 304, 2). Es sei der Wunsch aus- gesprochen, ein philologisch geschulter Geograph möchte uns eine kartogra- phische Skizze nicht zu kleinen Maßstabes bescheren, die wir zum Verständ- nisse zahlreicher Taciteischer Stellen gar nicht entbehren können; daB schon o. S. 304, 2 genannte und weiterhin im Text anzuführende Buch von A. Norlind, das leider der bildlichen Veranschaulichung gänzlich entbehrt, wird dabei die wertvollsten Dienste leisten.

2) XII 98 extremo in margine imperii, qua Rhenus adluit, vidi (sc. casiam) n alvariis apium satam.

20*

308 Kap. IV. Auf den Spuren der Bella Germaniae des Plinius

zum Schluß dieses Teiles der Untersuchung nochmals eigens hin- gewiesen und hinzugefügt, daß er auch gut beobachtet hat. Der schwedische Naturforscher A. Norlind, dem die letzte und genaueste Darlegung der schwierigen Geschichte der Topographie dieser Gegenden verdankt wird (Die geograph. Entwicklung des Rheindeltas bis um das Jahr 1500, Lund-Amsterdam 1912)1), nennt Plinius in der Natur- geschichte den zuverlässigsten und einen der hervorragendsten Bericht- erstatter (S. 41. 54), neben dem er fast nur Tacitus gelten läßt2): er wird daher von dem Philologen gern erfahren, daß diese ziemlich zahlreichen und stets genauen Angaben des Tacitus ohne jede Aus- nahme eben auf Plinius' historische Schriften zurückgehen.

Bevor wir die Nordseeküste verlassen, sei noch bemerkt, daß Plinius in demselben XVI. Buche, aber erst gegen dessen Schluß (203), von einer eigentümlichen Art germanischer Piratenschiffe spricht: „Die Seeräuber (praedones) Germaniens fahren auf Einbäumen (singulis arboribus cavatis), die jeder bis zu dreißig Mann tragen/'3) Diese Worte sind von Münzer a. a. 0. (o. S. 208) 73 f. richtig in Verbindung gesetzt worden mit dem Taciteischen Berichte über den Feldzug vom Jahre 47 gegen die Chauci (ann. XI 18 20). Tacitus berichtet hier (c. 18) von levia navigia oder Untres, mit denen der Cannenefate Gannascus, der sich an die Spitze des Aufstandes der Chauci gestellt hatte, brand- schatzend (praedabundus) die Küstengebiete heimsuchte. Nehmen wir hinzu die oben (S. 288 f.) besprochene Erzählung des Plinius (X 53 f.) die sich durch ihre Übereinstimmung mit dem Berichte des Tacitus über jenen Feldzug in demselben Kapitel (18) mit Sicherheit auf die

1) Einige Ergänzungen dazu bietet J. C. Kamaer, Het hart yan Kederland in vroegere eenwen in: Tijdschrift van het Nederlandsch Aardrijkskundig Ge- nootschap, Ser. II. Deel XXX (1913) 429 ff.

2) Daneben ist von Wert nur noch die eine o. S. 305, 1 zitierte Notiz des Mela, deren Quelle unbestimmbar ist.

3) Den Einbaum erwähnt auch Velleius II 107 in einer lebendigen Autopsie- schilderung aus dem germanischen Feldzuge des Tiberins vom Jahre 5 n. Chr. unus e barbaris . . . cavatum, ut Ulis mos est, ex materia conscendü alveum solusque ■ict navigi genus temperans usw. Das war auf der Elbe: vgl. E. Kornemann, Klio IX ( 1 909) 443 f. Aus Kaaffmann, D. A. I 68, 8, ist zu ersehen, daß in einigen nordischen Sprachen das gemeinidg. Wort für Scbiff die Bedeutung „ausgehöhlter Baumstamm" „Trog" bewahrt: isl. nör, norweg. nö. Die grie- chische Bezeichnung war: iiov6£v\a TtXola, oft erwähnt, z. B. auch von Posei- donios in seiner iberischen Ethnographie, Strabo III 155.

Der Zuidersee. Die silva Hercynia 309

Bella zurückführen ließ, so ergibt sich ein im ganzen verhältnismäßig beträchtlicher Ausschnitt aus diesem Teile des kriegsgeschichtlichen Plinianischen Werkes.

Auch im dritten Absätze der langen Einleitung des XVI. Buches weisen die equitum turmae auf einen Kriegsbericht.1) Aber während Plinius die Fischer am Chaukenstrande und das Mündungsgebiet des Rheins aus eigner Anschauung kannte vidi sagt er beidemal , hat er die Hercynia silva, den Schauplatz des dritten Wunders, wohl nicht betreten, da er unseres Wissens nie im Innern Germaniens ge- wesen ist. Auch würde er sich sonst nicht so ausgedrückt haben: ut aiia omittantur fide caritura, constat . . ., wie denn auch eine frühere Erwähnung dieses Waldgebirges X 132 auf anderweit ihm zugekommene Kunde weist: in Hercynio (Jermaniae saltu invisitato genera alitum accipimus usw. Drusus hat auf seinem Feldzuge im

1) Die Ausdrucksweise ut turmas equitum tramittant (näml. die Bäume) läßt keine andere Beziehung zu; ihre Richtigkeit wird aber auch durch folgendes bestätigt. In Buch VII 21 heißt es von den Baumriesen Indiens: arbores tantae proceritatis traduntur, ut sagittis superiaci nequeant et [hier muß eine Lücke des Textes angenommen werden, in der von dem breiten Laubdach die Rede war; es geht dann gleich weiter:] facit ubertas soll, temperies caeli, aquarum dbundantia, si libeat credcre, ut sub una fico turmae condantur equitum. Damit ist zu vergleichen die umfangreiche Darstellung Strabos XV 694 von der Wunderwelt der Bäume Indiens, wo erst Onesikritos zitiert wird und es dann so weiter geht: xaxcc dk xov 14.%s61vt]v xal ri]v 6v^,ßoi.Tjv rijv ngog ' Tägariv Xai 'ÄQiGToßovXog siqt\xs Ttsgl z&v xarccxcc(i,7tTOiisvovg i^ovtav zovg xXäSovg xul Ttsgl zov (isys&ovg med"' vcp kv) Sbvöqco ^sarjußQi^siv öyuagowsvovg in 7t sag 7t£vzrjxovzcc'ovzog de (näml. Onesikritos) z£ZQccxo6iovg. Wie dieses aus Berichten über den indischen Feldzug Alexanders stammt, so die im Text besprochene Pliniusstelle aus dem Bericht über einen römischen Feldzug in Germanien. Die indische Flora hat Plinius XII 21 ff. ausführlich besprochen; in der Vorbemerkang nunc eas (arbores) exponemus quas mirata est Alezindri Magni victoria orbe eo patcfacto weist er auf seine Quellen allgemein hin, im Autorenregister nennt er die einzelnen Alexanderhistoriker, an erster Stelle Kallisthenes, auf den also bestimmt § 22 f. über einen Riesenfeigenbaum zurück- geht; ebenso sicher ist §33 Nearchos (qui [frutex pestilens] paene equitatu orbavit Alexandrum primo introitu, quod et in Gedrosis accidit), da § 34 Onesikritos zitiert ist und im Autorenregister diese beiden in dieser Reihen- folge genannt sind. Ergänzungen dieser Art zu A. Bretzls bekanntem Buche werden sich durch eine quelleukritische Analyse der in Betracht kommenden Schriftsteller wohl noch vielfach machen lassen.

310 KaP> IV- Auf den Sparen der Bella Germaniae des Plinius

Jahre 9 v. Chr. den Herkynischen Wald betreten: Florus II 30 mvisum aique inaccessum in id tempus Eercynium saltam patefecit. Da, wenn ich nicht irre, keine der späteren Expeditionen bis auf Plinius' Zeit in jene Gegend Deutschlands gelangt ist, so werden wir die kriegsgeschichtliche Episode, die er in jenem dritten Absatz berichtet, wohl eben auf den Vormarsch des Drusus zu beziehen haben. Mit der Erzählung desselben begann Livius sein letztes, das CXLII. Buch: bellum adversus Germanorum Irans Bhenum rivitates gestum a Druso refertur (per.). Die Livianische Erzählung wird man also wohl als die Quelle der Plinianischen betrachten dürfen.

So gewähren uns selbst die armseligen Überreste des Plinia- nischen Germanenwerkes eine vorsichtige Analyse der Taciteischen Schriften verspricht meiner Überzeugung nach weiteren Gewinn eine Vorstellung seines Reichtums und seiner fast pedantischen, aber einem so ausführlichen Spezialwerke durchaus angemessenen Genauigkeit besonders im Topographischen. In Plinius war der Forschergeist, der ihn einen ehrenvollen Tod finden ließ, schon in jungen Jahren lebendig gewesen, und selbst in dem uns allein er- haltenen „Studierlampenbuche", wie Mommsen die Naturgeschichte einmal genannt hat, sind Natur und Leben, die in seinem Herzen dauernd eine wirkliche Einheit bildeten, nicht immer zu einer blof? scheinbaren verbunden worden.1) Er ist als Offizier und Beamter

1) Wie lebensvoll, mit welcher inneren Anteilnahme weiß er II 199 ein Erdbeben bei Mutina aus dem Jahre 9 1 v. Chr. zu schildern, bei dem Flammen und Rauch am hellen Tage gen Himmel stiegen und alle Landhäuser ver- schlungen wurden, ein Schauspiel, das von der Aemilischen Straße magna equitum üomanorum multitudo betrachtete. Dieses Erdbeben kannte er nur aus Büchern (in Etruscae disciplinae voluminibus invenio), ein gleich darauf 200) berichtetes aus der Zeit Neros, dessen er auch in dem Annalenwerke Erwähnung tat, nur aus dem Berichte eines eques Rom. Wer diese seine Worte liest (auch die über die Eruptionen des Aetna III 88), wird sich nicht ohne Ergriffenheit der Schilderung der campanischen Katastrophe in dem Briefe des Neffen an Tacitus erinnern: da bot sich dem Alten, der selbst ein eques Rom. war, einmal die Gelegenheit, ein derartiges Naturschauspiel mit eignen Augen zu betrachten (magnum propiusque noscendum ut eruditissimo viro Visum Plinius ep. VI 16, 7), und er trotzte wider den Rat des Neffen, der es vorzog, bei den geliebten Büchern zu bleiben (ibid. mihi si venire una vettern facit copiam; respondi xtudere nie malle: er war gerade dabei, ein Buch

Plinius als Mensch und als Schriftsteller 311

weit in der Welt des Westens herumgekommen und hat die Augen offen gehalten; er hat auch in den letzten Jahren seines Lebens, die er auf hohen verantwortlichen Posten in Italien verbrachte, die Be- ziehungen zu den von ihm besuchten und z. T. verwalteten Provinzen gepflegt: außer den Zeugnissen der nat. hist. dafür berichtet der Neffe (ep. VI 20, 5 an Tacitus), daß ihn noch an seinem Todestage ein Freund aus Spanien besucht hatte.1) Künstlerischer Sinn freilich ging ihm als Schriftsteller gänzlich ab, und als Historiker sah er nur das einzelne und die Flucht der Erscheinungen. Tacitus, an Polymathie ihm nicht im entferntesten gewachsen, an scharfer Be- obachtung der tatsächlichen Vorkommnisse des Lebens, an prak- tischem Verständnis für das Militärische, auch an unmittelbarer Einsicht in die Wesensart von Land und Leuten weit hinter ihm zurückstehend, wird sich kaum einem anderen Vorgänger an kritischer Denkschärfe, an tiefer Einsicht in die geheimen Triebkräfte geschicht- lichen Lebens und seiner Träger, an Gefühl für die Aufgabe eines Historikers und an Kraftbewußtsein zu ihrer Durchführung so über- legen gefühlt haben wie dem Plinius, und doch hat er sich von ihm einen sehr erheblichen Teil des Robstoffes darreichen lassen. Des Nachrufes, den er ihm in den Historien anläßlich der Schilde- rung seines Todes als Forscher widmete2), und in dem er, der stolz fühlende Angehörige des ersten Standes, sich wohl auch zu einem anerkennenden Worte über die sehr achtungswerte staatsbürgerliche Tüchtigkeit des römischen Ritters und Vertrauten Vespasians herab- gelassen haben mag, ist der Gepriesene für uns mit dem Untergange des zweiten Teiles der Taciteischen Historien verlustig gegangen. Aber

des Livius zu exzerpieren), der Todesgefahr, deren Opfer er wurde, wie er denn das Leben gering wertete (II 27. XXV 24). Er las eben doch nicht bloß in den staubbedeckten Büchern der Alten, sondern neben diesen blieb die Natur Gottes ein Buch, aus dem ihm ein Hauch des Ewigen anwehte. Der stellenweise hymnologisch stilisierte Lobpreis Gottes, mit dem er sein natur- wissenschaftliches Werk eröffnet (II 14 ff.), gehört zu den merkwürdigsten Stücken dieser Art, die wir aus dem Altertum besitzen; wer ihn nur schilt und sich mit Recht oft über ihn ärgert, möge an diesem antiken Gloria in excelsis nicht achtlos vorübergehen.

1) Einen spanischen Gastfreund, auf dessen Grundstück kürzlich eine natur- wissenschaftliche Beobachtung gemacht worden sei, nennt er n. h. XXV 18.

2) Plinius ep. VI 16 an Tacitus.

312 Kap. V. Die Entstehungsgeschichte des Germanennamens

es ist doch auch ein schönes Stück Unsterblichkeit, daß die Materie seiner historischen Werke durch den Geist des größten römischen Schrift- stellers geformt und in dieser Veredlung zu einem kleinen Teile auf die Nachwelt gelangt ist, der nun die mühsame und in ihrem vollen Um- fange gar nicht mehr oder doch nur gefühlsmäßig lösbare Aufgabe obliegt, zu erforschen, wie ein Bildhauer die ihm von einem Stein- metzen dargebotenen Blöcke in seiner Werkstatt zu Kunstwerken von Ewigkeitswerte bereitet hat.

FÜNFTES KAPITEL

DIE ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DES GERMANEN- NAMENS: WORTINTERPRETATIONEN

Der „Namensatz", wie wir ihn der Kürze halber nennen wollen, an dessen Erklärung wir jetzt herantreten, gehört zu den umstritten- sten der gesamten lateinischen Prosaliteratur: wurde doch schon zu Beginn dieser Untersuchungen bemerkt, daß die Zahl seiner Deu- tungen 25 und mehr betrage, und daß kaum ein oder das andere Wort, selbst das unscheinbarste nicht, vor Änderungen geschützt ge- blieben sei. Die germanische „Archäologie", inmitten deren er steht (c. 2), haben wir nach Seite ihrer Komposition zergliedert und inhaltlich analysiert. Dabei hat sich uns ergeben, daß nur diejenige Deutung wie der ganzen Schrift so vor allem dieses ihres Abschnittes Aussicht auf Erfolg habe, die in enger Fühlung mit der antiken Ethnographie steht. Dieses Urteil gilt nun wieder innerhalb der Archäologie in besonderem Maße von dem Namensatze. Denn fast in keiner Ethnographie, und wäre es die kürzeste, fehlt das Motiv vom Ursprünge des Volksnamens. Die Beispiele, von den Hesiodeischen Katalogen bis in die spätbyzantinischen Zeiten hinab- reichend, sind unzählbar. Die Terminologie ist fest und herkömmlich. Es sind also alle Voraussetzungen gegeben, auf solcher Grundlage den Satz zu deuten; aber ohne mühsame lexikalische Untersuchungen sehe ich keine Möglichkeit, zum Ziele zu gelangen. Wenn es einer Entschuldigung dafür bedarf, daß wir hier Wort für Wort, bis auf die Präposition a, unter die Lupe nehmen werden, so sei sie mit folgenden Worten desjenigen Gelehrten gegeben, der seine fast 30 Seiten umfassende, erfolgreiche Sprachanalyse des nächst dem Namenkapitel

Problemstellung 313

schwierigsten Agrikulturkapitels (26) so einleitet : „Observons le sens de chaque mot. Ne craignons pas d' etre long. La meme niethode qui fonde la recherche de la verite sur 1' etude des textes, exige aussi qu'on etudie chaque texte avec une attention rninutieuse et patiente. Les ä-peu-pres sont des causes d' erreur en histoire comme en toute autre science" (Fustel de Coulanges a. a. 0. [o. S. 6] 11). Daß sich uns auf dem Wege zum Ziel des sprachlichen Verständ- nisses die früher gewonnenen Stützpunkte der Quellenanalyse ge- legentlich befestigen werden, ist ein erwünschter Nebengewinn.

Tacitus spricht nicht in eignem Namen, sondern die quidam, nach denen er im vorhergehenden Satze über die Vielheit echter und alter Volksnamen (pluris gentis appellationes, Marsos Gambrivios Suebos Van- dilios, eaque vera et antiqua nomina) berichtet hat, führen auch weiter- hin das Wort. Der Satz hat, kolometrisch abgesetzt, folgendes Aussehen : ceterum Germaniae vocabulum recens et nuper additum,

quoniam qui primi Bhenum transgressi Gallos expulerint

ac nunc Tungri tum Germani vocati sint; ita nationis nomen non gentis evaluisse paidatim,

ut omnes primum a Victore ob metum,

mox etiam a se ipsis invento nomine Germani vocarentur. Die beiden fast gleichlangen und gleichmäßig (trikolisch) gebauten Teile der Periode sind durch ita miteinander zu einer Gedanken- einheit verbunden; der Kreislauf, mit Germaniae vocabulum beginnend, kehrt mit Germani vocarentur in sich selbst zurück. Also im kleinen dieselbe Architektonik, die im großen, wie wir sahen (o. S. 42ff.), der gesamten „Archäologie" ihr künstlerisches Gepräge verleiht. Der erste Teil bietet dem Wortverständnisse keine Schwierigkeiten1) den Sachinhalt werden wir in unserem nächsten Kapitel zu untersuchen haben ; diese beginnen erst im zweiten Teile.

1) Germaniae vocabulum. Der Unterschied von vocabulum, das in strengem Sprachgebrauche auf Nomina appellativa beschränkt war (vgl. Varro de 1. 1. VIII 80 nomina dift'erunt a vocabulis ideo qiiod sunt finita ac significant res proprias ut Paris Helena, cum vocabula sint infinita ac res communis designent ut vir mulier), und nomen wird in der Prosa der Kaiserzeit nach dem Vorgange der Dichter (z. B. Ovid met. XIV 621 Aventinus monte iacet positus tribuitque vocabula monti) nicht mehr festgehalten; Tacitus gebraucht es sehr oft für Nomina propria: Nipperdey gibt zu ann. XII (36 artifex vocabulo Locusta sehr viele Belege für die Katachrese. Dieses mußte gesagt werden, weil von einigen Interpreter

314 Kap. V. Die Entstehungsgeschichte de« Ger ..anennamens

I. VOLK UND STAMM natio, non gens. Über die Bedeutung des ersten Kolon IIa evaluisse paulatim besteht keine Meinungsverschiedenheit: „so1) sei der Name (Germani), der (nur) ein Stammesname, kein Volksname war, allmählich zu einer derart umfassenden Be- deutung gelangt, daß . . ." Hier sind eich natio und gens als Be- griffe des Teils und des Ganzen gegenübergestellt2), wie £&vog und

zwischen Germaniae vocabulum und dem folgenden nationis nomen eine tat- sächlich gar nicht vorhandene Bedeutungsdifferenz angenommen worden ist : an der entsprechenden Periodenstelle wird vocabulum durch nomen variiert. Aus analogem Grunde bedarf die Breviloquenz ac nunc Tungri sc. vocentur aus rocati sint einiger Worte. Sie war zu allen Zeiten der Sprache möglich (F. Leo, Anal. Plautina I, Götting. 1906, 33 gibt mehrere Beispiele) und erfreute sich bei dem wortsparenden Tacitus besonderer Beliebtheit: die nächstvorwandten Stellen sind bist. IV 26 quod in pace fors seu natura, tunc fatum et ira deum vocabatur und Germ. 36 ita qui olim boni aequique Cherusci, nunc inertes ac stulti vocantur (hier umgekehrt vocabantur aus vocantur).

1) ita verbindet einerseits den Gedanken dieses Satzteils mit dem des voraufgehenden („unter solchen Umständen", ,,in Verfolg dieses Vorgangs"), erstreckt aber anderseits seine Kraft vorweisend auf das folgende Verbum evaluisse, dessen Grad es bezeichnet. Denn daß ita . . . evaluisse, ut zu ver- binden sind, zeigt folgende Stellensammlung, die sich wohl vermehren lassen wird: Seneca de ira II 9, 1 adeo in publicum missa nequitia est et in omnium pectoribus evaluit, ut . . ., Quintil. X 2, 10 ut ne ipsa quidem natura in hoc *ta evaluerit, ut . . ., Plinius ep. VI 20, 3 ita invaluit, ut . . . Suetonius- Donatus vit. Verg. Z. 15 virga populea . . . ita brevi evaluit, ut . . .; auch beim Simplex: Cic.pr.Mur.32 tantum spe conatuqve valuit, ut . . ., Plinius XXXV 100 tantumque certe valuit, ut . . . und das Beispiel aus Nepos u. S. 331, 1, sowie beim Adjektivum: Liv. 1 9, 1 res JRomana adeo erat valida, ut . . . Für die zugleich rück- und vorweisende Kraft des ita (sie) wird mir von H. Otte folgendes Caesarische Beispiel zur Verfügung gestellt: V44, 14: ambo incolumes compluribus interfectis summa cum laude sese intra munitiones reeipiunt. sie fortuna in contentione et certamine utrumque versavit, ut alter altert inimicus auxilio salutique esset.

2) Es ist nicht meine Absicht, hier das ganze Material vorzulegen, das ich mir teils selbst gesammelt habe, teils durch Mitteilungen des Thesaurus- bureaus besitze (die Sammlungen von H.Heller, Philol. LI 1892, 340 ff., sind ganz unzulänglich und zu falschem Schlüsse verwertet, dagegen enthält viel wichtiges inschriftliches Material die Abhandlung von A. Schulten, Die pere- grinen Gaugemeinden des röm. Reichs, Rh. Mus. L 1895, 489 ff., sowie spät- lateinisches die von A. Dove, Studien z. Vorgesch. d. deutsch. Volksnamens, Sitzungsber. d. Heidelb. Ak. 1916. 8 Abh.). Stellen wie diese, die meist

Volk und Stamm 315

ysvog1)', dieselbe Unterscheidung findet sich, mir auf ein kleineres Ganze, die Suebi, angewendet, im Kap. 38.2) Das Volk als Ganzes hatte also

schon in W. Boettichers Lexicon Taciteum (Berl. 1830) 219 verzeichnet sind: Velleius II 98, 1 Omnibus eius gentis nationibus, Cicero de prov. cons. 22 novis nominibus gentium nationum locorum, de deor. nat. III 93 (Einwand im Sinne des Stoikers :) non curat (sc. deus) singulos homines. (Replik des Akademikers:) non mirum, ne civitates quidem. non eas? ne nationes quidem et gentes. de off. I 53 gradus plures sunt societatis hominum . . ., propior est eiusdem gentis, nationis, . . . societatis propinquorum, reichen für den vorliegenden Zweck aus.y' Nur über die Praxis der Dichter seien ein paar Worte gesagt. Die Daktyliker konnten das ditrochäische nationes nicht gebrauchen. Im Singular wäre der Creticus durch Kürzung des o an sich seit Augusteischer Zeit frei geworden (mentio Hör. sat. I 4, 93; Vergil hat in den Eklogen öfters Pollio mit Synalöphe, was die Kürze des Vokals zur Voraussetzung hat), aber erst Iuvenal gebraucht es so in dem berühmten Verse 3, 100 natio (Graeca) comoeda est. Das Wort muß in dichterischer Sprache keinen Klang besessen haben, da es bei Horaz in den Oden, wo es im Singular (als Creticus) und Plural metrisch verwertbar gewesen wäre, fehlt und außer an vier Stellen des Plautus (Capt. 887. Cure. 447. Men. 258. Rud. 311) nur begegnet bei Catull 9, 7. Verg. cat. 5, 4. Phaedr. 2, 51 (und bei einigen Spätlingen wie Commodianus), stets im niederen Stil, wie auch in der angeführten Stelle luvenals. Als Ersatz brauchten die Dichter populi. Dies wurde auch in Prosa teils gleichwertig mit nationes verwendet (z. B. auch von Tacitus c. 28), teils zur Differenzierung: Mela 1 21 una gens aliquot populi et aliquot nomina; Iustinus VII 1 adunatis gentibus variomm populorum. "^'ercril bietet ein für unseren Zweck bezeichnendes Beispiel: X 202 gens Uli (Mantuae) triplex, populi sub gente quaterni, vgL VI 706 gentes populique. Lucr.Vl222 populi gentesque. Ovid met. 11215 cumque suis totas populis . . . gentes.

1) Herod. 1 101 Mndixbv $&vog . . . "Eöti Sh Mt\8<ov roßäds yivecc (folgen die Namen der sechs medischen Stämme).

2) Nunc de Suebis dicendum est, quorum non una, utChattorum Tencterorumque gens: maiorem enim Germaniae partem obiinent, propriis adhuc nationibus nominibusque discreti, quamquam in commune Suebi vocentur. In c. 34 werden mit Bedacht die Frisii unter den gentes genannt, aber ihre Unter- abteilungen, die maiores minoresque Frisii als nationes bezeichnet. An anderen Stellen der Germania gebraucht er gens, ohne einen Unterschied zu machen, sowohl vom Gesamtvolke (2. 10. 14. 19. 21. 22) wie von Stämmen (27. 29. 36. 39. 42. 45), und auch in den historischen Schriften wechselt er beliebig (z. B. ann. II 52 Mustdami valida gens, aber gleich darauf Cinithios, haud spernertdam nationem), wie auch Cicero und Livius da, wo sie nicht differenzieren wollen, beide Worte promiscue gebrauchten (z. B. Liv. XXXVIII 17, 2 f. omnium quae Asiain colunt gentium Gallos fama belli praestare. intet mitissimum genus hominum ferox natio pervagata usw.): sie waren ja auch urverwandt und nur durch Ablaut voneinander unterschieden.

316 Kap. V. Die Entstehungsgeschichte des Gernianennamens

nach Ansicht der Gewährsmänner desTacitus anfänglich keine Gesamt- bezeichnung, sondern die Stämme benannten sich mit verschiedenen alten, aus der Ethnogonie abgeleiteten Namen (appcllationes, ixixfafösis)] dagegen Germani sei als Name des Ganzen jung, ursprünglich sei dies nämlich nationis nomen, non gentis gewesen. Was mag nun den Anlaß geboten haben, den engeren und weiteren sich so gegen- überzustellen, daß der weitere durch die Negation ausgeschlossen wird? Diese Frage ist wohl aufgeworfen, aber noch nicht scharf be- antwortet, ja die Negation ist vielfach sogar angetastet worden (z. B. in statt non). In vollem Umfange wird sich die Antwort erst geben lassen, wenn wir das Verständnis des ganzen Satzes ge- wonnen haben werden und die geschichtlichen Folgerungen aus ihm ziehen. Aber so viel muß doch schon hier vorweggenommen werden. Die Formulierung der Worte selbst legt, wie mir scheint, die Ver- mutung nahe, daß hier eine Ansicht bekämpft werde, nach welcher diejenigen Germani, von denen die Ausbreitung des Namens ausging, eine gens gewesen seien. Nun werden wir in dem nächsten Ka- pitel (Abschnitt I 2) sehen, daß diese Germani von keinem Geringeren als dem summus auctorum divus Iulius, und zwar nur von ihm, als eine gens bezeichnet worden sind (VI 3'2, 1 ex gente et numero Ger- manoruni). Hieraus werden wir folgern dürfen, daß die Polemik sich gegen ihn richtet. Diese Annahme wird dadurch bestätigt, daß die Taciteische Schrift noch zwei analoge Fälle solcher Polemik gegen Caesar aufweist, darunter ist besonders der erste dem be- sprochenen nächstverwandt. Von den Suebi heißt es c. 38 Sueborum non una ut Chaltorum Tencterorumve gens, sondern sie zerfallen in mehrere nationes: damit vergleiche man1) Caesar IV 1, 3 Sueborum gens est longe maxima Germanorum omnium. Der zweite Fall be- trifft c. 15 quotiens bella non ineunt, non multum venatibus, plus per otium transigunt, wo die Spitze des Gedankens sogar dem Scharf- sinne des Acidalius entgangen ist, dessen Tilgung des non viele Nachfolger gefunden hat; es liegt aber eine stillschweigende Ab- lehnung Caesarischer Worte vor: IV 1, 8 (von den Suebi) multum

1) Die polemische Beziehung ist erkannt von A. Lückenbach, De Ger- maniae Taciteae fontibus (Dias. Marb. 1891) 33, der auch andere derartige Stellungnahme des Tacitus zu Caesar nachweist, darunter den gleich im Text zu besprechenden zweiten Fall.

Polemik des Livius gegen Caesar 3^7

sunt in venationibus Vi 21, 3 (von den Germani insgesamt) vita omnis in venationibus atque in studiis rei militaris consistit.1) Ja wir dürfen in dem uns beschäftigenden Falle wohl noch einen Schritt weitergehen. Aus der gesamten ethnographischen Literatur ist mir nur noch eine Stelle bekannt, an der dem Begriffe gens ver- mittelst der Negation ein anderer gegeu übergestellt wird. Bei Orosius IV 13, 5 heißt es (zum Jahre 225 v. Chr.): magna formidine consternatus est senatus defectione Cisalpinae Galliae, cum etiam ex ulteriore Gallia ingens adventare exercitus nuntiaretur, maxime Gaesa- torum, quod nomen non gentis sed mercennariorum Gallorum est. Orosius gibt hier die Epitome des XX. Buches der Livianischen Annalen (es folgt sogleich ein berühmtes Zitat aus Fabius Pictor). Livius bestritt also die Auffassung der Gaesati als gens: in der Tat bestand dieser Irrtum, wie wir aus Strabo ersehen, der sie zweimal als keltischen Volksstamm (sd-vog) neben Boii und Senones nennt (V 212. 216). Nun erinnern wir uns des oben (S. 148ff.) versuchten Nachweises, daß der das CIV. Buch des Livius einleitende geographisch- ethnographische Exkurs über Germanien eine wichtige, direkt oder durch Vermittlung des Plinius benutzte Quelle der germanischen Urgeschichte bei Tacitus gewesen sei. Hiernach werden wir es als sehr wahrscheinlich bezeichnen dürfen, daß Tacitus dieser Quelle

1) Der Versuch Müllenhoffs (D. A. IV 273), den Widerspruch als nicht vor- handen zu betrachten, scheint mir, obwohl er von Meusel zu der Caesarstelle gebilligt wird, nicht geglückt zu sein (,,Tacitus will nur sagen, daß die Zeit, die die Germanen auf die Jagd verwendeten, nicht groß ist im Verhältnis zu der, die sie per otium hinbringen: non tarn multum venatibus quam per otium transigunt ist der Sinn." Dies wird richtig sein, hebt aber den Wider- spruch zu Caesar nicht auf). Fustel de Coulanges a. a. 0. (0. S. 6) 716, 3 schreibt: „Remarquer que dans la langue de Tacite non multum n'a pas le Bens de purum . . . Non multum correspond ä notre expression francaise 'assez de'." Obwohl ich dem ausgezeichneten Forscher ungern widerspreche, muß ich diese seine Behauptung so lange bestreiten, bis sie durch Belege erwiesen wird. Wer mit den germanischen Caesarkapiteln im Kopf die Taciteische Schrift liest, wird auch sonst manche versteckte Stellungnahme meist pole- mischer Art bei Tacitus finden. Auf die Prädikation Caesars als sutnmus auctorum darf man sich keinesfalls als Gegeninstanz berufen, denn sie zielt auf ein von ihm berichtetes historisches, nicht auf ein ethnographisches Faktum, und eben dadurch ist das in dieser Schrift ganz vereinzelt dastehende Zitat bedingt worden.

313 Kap. V. Die Entstehungsgeschichte des Germanennamene

auch hier gefolgt ist: in beiden Fällen scheint danach Livius in gleicher sprachlicher Formgebung die irrtümliche Bezeichnung einer Menschengruppe als gens abgewiesen zu haben. l) Dem sprachlichen Kennzeichen gesellen sich sachliche. Eine Polemik gegen Caesar stände dem Livius vortrefflich zu Gesicht: schimmert sie doch durch diejenigen Abschnitte des Cassius Dio, in denen er den gallischen Krieg Caesars dem Livius nacherzählt, wie allgemein zugestanden ist, vielerorts durch. Auch wird sich uns im nächsten Kapitel die Korrektur, die in dem Taciteischen Satze an Caesar vollzogen wird, als so treffsicher und aus so erlesenem Geschichtsmaterial geschöpft erweisen, daß man schon um deswillen sich gern entschließen wird, an einen genau unterrichteten Gewährsmann zu denken, dessen Zeit von den hier vorausgesetzten Begebenheiten nicht allzuweit entfernt gewesen sein kann. Dies alles weist in seiner Gesamtheit auf Livius.

Allein mit diesen Erwägungen haben wir das sprachliche Gebiet bereits verlassen, auf das wir nun wieder zurückkehren. Die Art, wie die Ausbreitung des Namens vor sich ging, wird in dem ut- Satze dargelegt. Bevor wir diesen, der fast Wort für Wort um- stritten ist, ins Auge fassen, verweilen wir bei dem vorangehenden Worte, durch welches das Erstarken des Stammnamens bezeichnet wird.

II. SPRACHLICHE BEZEICHNUNG EINER ETHNISCHEN

NAMENSPROPAGANDA evaluisse. Das in dem uns überlieferten Wortschatze erst bei Vergil Aen. VII 757 nachweisbare Verbum2), dessen Geschichte ich durch eine Mitteilung aus dem Thesaurusarchiv übersehe, ist seitdem

1) Er verbindet öfters den weiteren Begriff gens mit dem engeren populus (vgl. o. S. 314, 2) : IV 49, 3 suae gentis populo 56, 5 utriusque gentis populos n. ö. ; natio liebt er nicht besonders: in den ersten Dekaden hat er es, wie es scheint, gar nicht gebraucht, sondern erst von der vierten ab (6 mal nach ßoetticher in dem o. S. 314, 2 zitierten Lexikon).

2) evalidus hat schon Cicero Arat. 155 pistricisque spina evalida cum luce refulgens (Interpretation der Überlieferung Spinae vdlida von Hugo Grotius) : „mit voll erstarktem Lichte" (Gegensatz im folg. Vers tenui cum luce). Es kommt außerdem nur noch bei Plinius XVIII 104 vor. Das e- hat intensive Kraft, vgl. edocere edolare edomarc, edurus egelidus.

Thukydides über den Namen Hellas 319

iu Poesie1) und Prosa ziemlich oft belegt, auch bei Tacitus.2) In der Bedeutung „sich Geltung verschaffen" ist es, angewendet auf den Gebrauch eines Wortes oder Namens, außer bei Tacitus an der vor- liegenden Stelle für uns nur noch bei seinem älteren Zeitgenossen Quintilianus belegt, aus diesem öfters, z. B. IX 3, 13 iam evaluit 'rebus agentibu-s9, quod Pollio in Labieno damnat (vgl. I 5, 57. 11, 5. VIII 6, 32). Ein Blick auf die ethnographische Literatur der Hellenen wird uns zeigen, daß es auch in dieser ein dem lateinischen genau entsprechendes Wort gab, durch welches das Umsichgreifen eines ursprünglich begrenzteren Stammnamens auf die Gesamtheit eines Volkes bezeichnet wurde; bei der Vorführung der Beispiele wird schon hier darauf zu achten sein, daß sich das griechische Verbum, wie das lateinische bei Tacitus mit omnes, gern mit einem Gesamtheitsbegriff verbindet.

Jeder erinnert sich des Kapitels der Thukydideischen Archäologie (1 3) über den Namen 'ElAdg: „Meiner Ansicht nach führte Hellas damals noch gar nicht diesen Namen in seiner Gesamtheit (ovdh Tovvoficc rovto t,vn,7ta<5u na sl%sv)s), sondern vor Hellen, dem Sohne des Deukalion,

1) D. h. in daktylischer, für die es am Versanfang ein bequemer Ersatz für potuit, potuere war. Es finden sich nämlich ausschließlich die Formen walnit, evaluere, und zwar stets am Versanfang (Verg. 1. c. Horat. ep. II 1, 201. Lucan. I 505. IV 84. Stat. silv. V 2, 79. Claudiau. 28, 81. 303. de rapt. Proserp. [II 92. Ps. Prosper, carm. de prov. 38. 'Cypriauus Gall.', Ind. 153) außer Stat. Theb. VI 877 non evaluere potiri (Hexameterschluß) und dem ganz späten sog.

'yprianus Gallicus in seiner Paraphrase des A. T., der evaluit zweimal (Gen. C86. ^um. 415) in der Fege des Pentameters braucht. Im V. Jahrh. wurde aus len perfektischen Formen die präsentische evaleat -ant zurückgebildet: diese lat am Hexameteranfang Priscian. periheg. 146 und in Prosa Vincentius von jevinum in einer von C. Weyman, Arch. f. lat. Lex. XV (1908) 577f. behandelten teile.

2) In der Germania noch an einer der vorliegenden Stelle auch sachlich hnlicben: c. 28 credibüe est etiam Gallos in Germaniam transgressos: quantulum nim amnis obstabat, quominus, ut quaeque gens evaluerat, oecuparet ermutaretque sedes promiscuas adhuc.

3) Wie fest der Begriff der „Gesamtheit" bei Namengebungen war, ersehe an auch aus Soph. 0. C. 60 f. (von den Einwohnern von Kolonos): cpigovßi tov-

oficc zb xovds (des Heros Kolonos) xoivöv itdvTsg ihvoy,u6yiivQv (diese Über- eferung der Hss. ist gegen die des Scholiasten wvo^ccßfiivot von Kadermacher erechtfertigt worden; die ££r\X%cc/n£vr) (pgdaig dieses Dichters erreicht zumal l diesem Stücke einen hohen Grad).

320 ^aP- V- Diö Entstehungsgeschichte des Germammnameus

gab es diese Bezeichnung überhaupt noch nicht, vielmehr hatte eine jede Völkerschaft, im weitesten Umfange die pelasgische, ihren eignen Sondernamen. Erst später, als Hellen und seine Söhne in der Phthiotis mächtig wurden und man sie zur Hilfeleistung in die anderen Städte herbeirief, wurde es infolge des eingetretenen Verkehrs immer mehr üblich, Einzelstämme ^Hellenen' zu nennen. Indessen dauerte es noch geraume Zeit, bis diese Benennungsweise sich für die Gesamtheit durch- setzen konnte" (oi) iievtoi itoXXov ys %q6vov qdvvaro xcci aitaöiv exvtxfjöai). Die berühmte Stelle1) wird uns noch weiterhin be- schäftigen; schon jetzt ist aber klar, daß sie nicht bloß in ihrem Grundgedanken, sondern auch in dem Gebrauche der für diesen ent- scheidenden Worte ujtuöiv exvixr\6ai = evaluisse . . . omnis der Taci- teischen Stelle so eng verwandt ist, daß irgendwelcher Zusammen- hang bestehen muß, zumal auch paulatim dem ov tcoXXov ys %q6vov nahesteht. Diese Annahme ist um so gewisser, als das überhaupt nicht häufige ixvixüv*) mir in dieser Bedeutung nur noch in ethno- graphischer Literatur, die ersichtlich von Thukydides abhängt, be- gegnet ist. Einmal bei Arrianus in der 'Ivöixtf, wo es von dem Akesines, einem Nebenflusse des Indus, heißt: „Nachdem er von diesen (seinen Nebenflüssen) angefüllt worden ist und sich durch Benennung Geltung verschafft hat (ty kjtixXrfii lxvixi^6ag), fließt er eben mit diesem seinem Eigennamen in den Indus." Bei dem Periegeten Pausanias nicht weniger als 13 mal, und zwar stets in demselben Gedankenzusammenhange wie bei Thukydides, wofür es genügen wird, folgende Stelle anzuführen: X 1, 1 „Derjenige Teil von Phokis, der Tithoria und Delphi umfaßt, hat offenbar seit ältester Zeit diesen Namen von einem Korinthier Phokos, dem Sohne des

1) Ihr nicht ganz leichter Wortlaut ist zuletzt von E. Höpken, De Thucy- didis prooemii compositione, Diss. Berl. 1911, 23f., umsichtig besprochen worden.

2) Thukydides hat es noch einmal, ebenfalls im I.Buche (c. 21, 1): xa tcoXXu vxb xqovov avxä)v &3ii6xcog inl xb (iv&äösg ixvsvixrixoTCc, also in gleicher Be- deutung. Sonst scheint es vor der hellenistischen Zeit nur noch einmal vor- zukommen, aber in anderer Bedeutung: Eurip. Ion 629 si'itoig av mg 6 %Qvabg iv.viv.cf xäSs („daß das Gold einen Sieg davontrage, über dieses", nämlich die vor- her geschilderten Leiden der Tyrannenherrschaft), in hellenistischer bei Polyb. XV 3, 6 ' Pa>iiaLcov ixvixr}6ävxa)v („einen vollständigen Sieg davontragen"). Dann erst wieder bei den im Text zu zitierenden Autoren der Kaiserzeit, die sichtbar auf die Gebrauchsweise des Thukydides zurückgreifen.

Thukydides über den Namen Hellas 321

Ornytion, erhalten. Nicht viele Jahre später setzte er sich für das gesamte, zu unserer Zeit so benannte Phokis durch {s^svCurjös xccl anccöri . . . (fraxidu)". Macht schon der Wortlaut dieser Stelle un- mittelbaren Anschluß des Pausanias an Thukydides, der ja zu seinen, wie auch des Arrianus, Lieblingsschriftstellern gehörte, sehr wahr- scheinlich, so nimmt eine andere (III 20, 6), in der für die Begriffs- erweiterung des Helotentums auf die Analogie des Hellenenn am ens verwiesen wird, jeden Zweifel: Thukydides selbst spricht über das erstere in diesem Sinne I 101, 2. Endlich hat Agathias in seiner kurzen Ethnographie der Alamannen die Thukydideische Phrase in ihrer Gesamtheit wörtlich wiederholt (I 7 p. 18 B).

Können wir somit das Wort selbst nur bis Thukydides hinauf verfolgen, so vermögen wir doch zu sagen, daß die Art der Thukydi- deischen Beweisführung1) weiter zurückreicht. Denn schon vor ihm finden wir sie angewendet auf die Begriffsbestimmung des Landes ^IxuXta. Dessen Heros Eponymos 'ItaXög, seiner Abstammung nach ein Oinotrer, habe das kleine, ihm anfangs gehörige Land „mit der Zeit" erweitert und den Namen auf das neugewonnene Gebiet (bis zum Laosflusse im Westen und Metapontion im Osten) ausgedehnt, so daß nunmehr auch der Volksname 'ItcckoC alle dort wohnenden Völkerschaften in sich befaßte. Als Gewährsmann hierfür wird von unseren Berichterstattern (Strabo VI 254f. Dionys. Hai. I 12, 3. 35, 1, vgl. 73, 4) Antiochos von Syrakus (^ItaXCas oixi6[i6g) ausdrücklich an- gegeben.2) Die mit unseren Mitteln schwerlich zu entscheidende Streitfrage, ob Thukydides dieses Werk des Antiochos und das über Sizilien direkt oder nur durch Vermittlung des Hellanikos benutzte, kann hier auf sich beruhen. Jedenfalls liegt die Vermutung nahe, daß er zu der Hypothese, die er in jenem Kapitel seiner hellenischen Archäologie vorträgt er leitet sie mit den das Subjektive bezeich- nenden Worten doxel de poi ein3) , durch die italische des bedeuten-

1) Ganz ähnlich ist sie für die Propaganda des Makedonennamens II 99 : erst war es die Bezeichnung eines Teilvolkes, dann des Gesain tvolkes: to äi %v\inav Maxsöoviu xaXslrcci.

2) Aristoteles, Pol. H 10. 1329b 7 22, befolgt die gleiche Tradition, ernennt als seine Quelle : oi \6yioi x&v iKslxatoixovvtcov, meint also ebenfalls den Antiochos.

3) Vgl. I 22, 2, wo er es als seinen für die eigentliche Geschieh tserziihlung gültigen kritischen Grundsatz hinstellt, die Ereignisse zu erzählen ovx ix rov ■jcocQutvxövros Ttvv&avönhvog ovd' <ag ipoi idoxti, ccXV olg zs uvtos .TapJjf usw.

Norden: Die germauische Urgeschichte 21

322 Kap. V. Die Entstehungsgeschichte des GermanennamenB

den Vorgängers irgendwie angeregt wurde.1) Antiochos konnte eich auf geschichtliche Vorgänge berufen, die er mit Tatsachenmaterial er- wies; Thukydides übertrug die so gewonnene Einsicht auf vorgeschicht- liche Verhältnisse: eine Art des Rückschlusses, die ganz sein geistiges Eigentum war.

Diese Erkenntnis des Thukydides ist von weittragender Bedeutung geworden. Wir begegnen ihr, auf analoge Verhältnisse übertragen, öfters in guten Schichten der ethnographischen Literatur2), wobei dann aber das in diesem Sinne nur von Thukydides und seinen Nachahmern gebrauchte kxvixäv durch das dem Sinne nach gleich- wertige — auch in Schriften der Grammatiker als Kunstausdruck verwendete hitvx.Qa.xuv ersetzt wird, dasselbe Verbum, mit dem es auch in den Thukydidesscholien glossiert worden ist. Polybios leitet seine Geschichte des achäischen Bundes mit einer Betrachtung über den weiten Begriffsbereich des Namens „Achäer" ein; die Anfangs- worte lauten (II 38, 1): „Zunächst lohnt es sich zu erfahren, wie und durch welche Umstände der Achäername für alle Peloponnesier Gel- tung bekam (ß%£XQaxri<5B xccxä Jtdvtav nskoTtowiiöicw)".3) Bei Strabo heißt es IV 186 in der Beschreibung der Narbonitis: ixi- x garst öh xb täv KaovKQav ovo^ia (die Cavares an der Rhone), xal Ttdvxag ovxag tfdr] %QO<5ayoQSvov6i xovg xavxri ßagßdgovg.

Die sprachliche Beobachtung ermöglicht auch hier wieder eine- quellenkritische. Die germanische Archäologie des Tacitus ist, wie wir zu Beginn dieser Untersuchungen (S.48ff.) sahen, an die sky thische Hero- dots angelehnt; Herodot ist für Tacitus durch Poseidonios— Tiniagenes— Livius— Plinius vermittelt worden (S. 154f, 169). Nun ist in das Herodoteische Gemälde eine Thukydideische Figur hineingestellt:

1) Entscheidend dürfte folgendes sein. Der Golf von Tarent wurde im gewöhnlichen Sprachgebrauch des V. Jahrh. zu Italien gerechnet: Herod. 124. III 136, vgl. Soph. Triptol. bei Dionys. Hai. 112, 2; diesem Brauche folgt Thuk. VIII 91, 2 ix TccgccvTog xal Aoxgäv 'IxaXimxiäsg (sc. vfjsg). Aber Antiochos rechnete den Golf zu Iapygien (Aristo t. Pol. H 10. 1329 b 8. Dionys. Hai. 1 35, 1. Strabo VI 254), und dieser Auffassung folgt Thukydides an einer anderen Stelle : VII 33, 4, wo er die im tarentinischen Golfe liegenden Xoigccdsg als vrjßovg 'Iaitvyiag bezeichnet.

2) Eine andere Stelle der Thukydideischen Archäologie wird von Ammianus XXIII 6, 75 in seiner persischen Ethnographie zitiert: vgl o. S. 141.

3) Vgl. Diodor IV 19, 2 (aus Poseidonios: s. o. S. 197) Oav ixixgaxrißdinor zip vtXrftt.t Ttävzag xovg ivoixovvxccg ixßczQßagwfrfiTCit avvißr}.

Von Thukydides über Timogenes zu Tacitus 323

sollte nicht auch sie Farben gleicher Tradition tragen? Diese Frage muß bejaht werden: denn die Beschreibung des Narbonensischen Galliens bei Strabo, woraus wir soeben die sprachliche Parallele an- führten, ist in ihrer Gesamtheit und in allen Einzelheiten nichts anderes als ein Auszug aus Poseidonios— Timagenes. Man erkennt auch hier wieder, welch erlesener Schriftenapparat aufgeboten worden ist, um das leere Blatt der Urgeschichte des jüngsten in historische Sehweite gelangten Nordvolkes zu füllen. Ist doch Thukydides noch für eine andere Stelle derselben Urgeschichte herangezogen worden. Tacitus sucht das Autochthonentum der Germanen gleich zu Beginn seiner Darlegungen mit folgendem Grunde zu erhärten: „Auch ab- gesehen von den Gefahren eines wilden unbekannten Meeres, wer hätte es sich einfallen lassen, Asien, Afrika oder Italien zu verlassen, um nach Germanien zu wandern, in diese garstigen Landschaften mit ihrem rauhen Klima, ihrem Mangel an Kultur, ihrer Trostlosig- keit für jeden, der in ihnen nicht eben sein Vaterland sieht?" Dies ist, nur etwas anders gefaßt, die Art der berühmten Thukydideischen Beweisführung im Anfange seiner hellenischen Archäologie: diejenigen Landschaften hätten am häufigsten ihre Bevölkerung gewechselt, die, wie Thessalien, Böetien und der größte Teil der Peloponnes am meisten von der Natur gesegnet seien, während in Attika mit seinem kargen Boden sich stets dieselbe Bevölkerung unangefochten behaup- tet habe (avQ-Qconoi Sxovv ol avtol dsC).

III. URSPRUNGSBEZEICHNUNG EINES VOLKSGESAMT- NAMENS. VICTOR ALS TECHNISCHER BEGRIFF DER OKKUPATION

ut omnes primum a Victore . . . vocarentur. Hier beginnen die Meinungsverschiedenheiten. Was heißt a, ist es derivativ als än6 oder causativ als vxö zu verstehen? So unscheinbar die Frage ist, so groß ist hre Bedeutung für das Verständnis nicht bloß dieses Satzteils, sondern es ganzen Satzes und fast jedes seiner Worte. Zum Glück läßt sich diese Streitfrage durch Stellen der ethnographischen Literatur entscheiden: in hr ist bei Völkerbenennungen die Verbindung ituvtsg äjib xov (räv) Elvcc 7tQotiayoQSvovTcu (bvoiiKtpvtcti u. ä.) seit alter Zelt herkömmlich, leist wird der Ursprung in der bekannten, auf die Anfänge ethnographi- cher Onomatologie zurückgehenden Xxi von einem erdichteten Heros

324 Kap. V. Die Entstehungsgeschichte des Germanennamens

ßponymos abgeleitet; doch fehlt es nicht an Beispielen, in denen die Ursprungsbezeichnung das Teilvolk betrifft, von dem aus der Name auf die Gesamtheit übertragen wurde (also im Sinne des so- eben unter II. verfolgten onomatologischen Vorgangs). Da es uns hier weniger auf das Sachliche als auf das Sprachliche ankommt, sondere ich diese beiden Arten nicht, gebe vielmehr die Belege für beide in wesentlich zeitlicher Reihenfolge. Herod. I 7 an* oxtv (Avdov xov "Axvog) 6 dfj[iog Avdiog ixXrj&r] 6 itüg ovxog, tcqöxsqov MtjCcov xaXsöfisvog. Hekataios von Abdera bei Diodor I 51, 3 Äi~ yvnxov, afp* ov xal xi\v 6vy.%a6av yäoav xvytiv xrjg itnoöriyoütug. Poseidonios bei demselben V 24, 3 ay g>v ?} öv^naöa TaXaxia ttQoörjyoQevd-ij. Timagenes bei Dionysios Hai. XIV 1, 4 xotvßt ö' övönaxi r) öv^inaöa Ttabg 'EXXrjvcov xaXelxai KeXxixrj, mg fisv xivig (paöiv, an 6 xivog yiyavxog KsXxov xxX., ähnlich von derselben Sache Strabo IV 189 dnb xovxcov (den Kelten der Provinz) Ö' ot/icu xal xovg 6v \inavx ccg TaXäxag KeXxovgvnb xäv' EXXiqvcov n qoö ay o q sv d"f\- vui. Alexander Polyhistor bei Dionysios Hai. I 25, 5 inl1) yäo ivbg xöov olxovvxav &v avxfj (xrj JTsXonovvrjö'a) i&väv, xov ^Aya'ixov, xal ■i\ 6v\x,na6a XsQQÖvrjöog, iv rj xal xb ^Aoxadixbv xal xb 'Icovcxbv xal äXXa Qvyva iftvi] hvtöxiv, 'A%ata (bvopdöd-rj. 53, 1 aqp' ov xrjv xXr\6iv ol %v{i7tavxsg sXaßov. 60, 2 ol övybnavxag xoivfj övo^iaöCa nooöayoQsvovxsg iavxovg dnb xov ßaöiXicog x&v 'AßooiyCvcov Auxt- vovg (analog II 2, 2). Mythographisches Handbuch bei Diodoros IV 69,2 ol ds öv^inavxsg Xaol dnb Aani%ov Aant&ai nQ06r\yoQSvfrr\(5av, in Apollodoros' Bibliothek III 4 KCXit, näöav xr\v xsi^isvrjv i&gav . . . KiXixlav dg>' savxov sxdXsGsv. Josephus Arch. 16, 1 an' avxrig (Xs&i^d=KvnQog)vijöoinä6aL . . . Xsd-lp vno 'Eßoalav ov o pa'Qov ]x ai. Pausanias IV 1, 2 <5v\ind6r\ [ihv ixs&r] xfj yfj Msöörfvi] xb bvona dnb xr\g üoXvxdovog yvvaixög (analog IX 1, 1). Cassius Diofragm. 2, 1 (I 356 Boiss., bei Tzetzes zu Lykophron 44) Avöovia ds xvQiag, ag

1) Diese Präposition findet sich gelegentlich im Sinne von anö gebraucht, um die Veranlassung der Benennung zu bezeichnen. Herodot gibt ziemüch viele Beispiele dafür (z. B im Völkerkatalog des persischen Heeres B VII); ein- mal verwendet er inl sichtlich, um nicht' a%ö und vno zu nahe aneinander treten zu lassen: IV 45 Aißvri inl Aißvr}g liysrai, vno xwv nollwv 'EllTJvav $%£iv xb ovvoiiu, yvvuiKog uvx6%9ovog worauf mehrere inl folgen, dann ano. In der späteren Literatur habe ich dafür Beispiele nur bei Dionysios Hai. gefunden, in dessen Handschriften dann gelegentlich &it6 interpoliert worden ist (z. B. 1 17, 2).

Ursprungsbezeichnung eines Volksgesamtnamene 325

. iCcov ygcccpsi 6 Koxxeiavög, t] xäv Avoovyxcov yfj fiövrj Xiyexai^ fiaöov Ka^inaväv xal OvoXöxav tcccqu \tulcc66uv xsi[i£vr]. 6v%vol de xal u.i%oi xov Auxlov Av6oviav slvcci £v6[it6av, aöte xal tc&öccv xr\v 'IxaXlav an' avxfjg (.AvöovCav xlri&r[vai>. Schol. B zu B 559 (ol ö' "Aoyog x el%ov): axb "Agyov xov Atbg xal NLÖßiyg xf^g Gtogcovsag. diä ds xb itoäxov axCcd-av nocoxov hxäypri xäv vxb 'Ayafieiivova. äff ov xal xdvxag "EXXqvag AoysCovg xaXsl.1) Dieser Sprach- gebrauch ist ohne Ausnahme. Der Ursprungsbezeichnung eines Völ- kergesamtnamens dient, wie es in der Natur der Sache liegt, die Präposition ano, sowohl bei aktiver wie bei passiver Formung des Gedankens. In letzterem Falle wird gelegentlich auch der Urheber der Benennung durch die Präposition vx6 (noog) mit angeführt vgl. die Beispiele des Timagenes, Strabo und Josephus , aber der Fall, daß zwar der Urheber (vtcö), nicht aber der Ursprung (ano) bezeich- net würde, kommt nie vor.

Die Schlußfolgerung für die Worte des Tacitus ist schon auf Grund des griechischen Vergleichsmaterials zwingend. Das latei- nische ist nicht so reichlich. Aber wenn Caesar seine Memoiren mit Gallia omnis beginnt und dann die verschiedenen gallischen Völker- schaften nennt, so zeigt sich darin seine Kenntnis der technischen Sprache hellenischer Ethnographie: lasen wir doch soeben die Worte des Poseidonios i\ 6v^%a6a TaXaxta. Auch sonst fehlt es nicht an bemerkenswerten Belegen dieser Art2), aber uns interessieren

1) Anmerkungßweise mögen die Stellen verzeichnet werden, wo von Namen eines Gesamtvolkes die Rede ist, ohne daß Ursprungs- oder Urheberbezeichnung dabeisteht. Herod. IV 6, 5 evfiTtaat Sh etvai otivofia UxoXöxovg, xov ßu6i- Isog i7tcovv(iiriv (so viel wie: ä%b xov ß.)' JZxv&ag 3h"EXXr}vsg uvö^cccar. Thuky- dides I 101, 2 tiXelöxoi x&v 'EXXjjvoiv iysvovxo oi x&v TtaXaiäv Ms66r}viav xoxs i$ovX(o&ivx(ov knbyovoi' y xccl Mf.C6r\vioi lv.Xrför\6u.v oi nävxsg. Apollodoros bibl. II 1 77 %ü>Qa aitcc6a AlyiäXsicc ixXri&r], $OQ(ov£vg dh a7tÜ6i]g xf}g vgxeqov U.EXoTtovvq6ov 7tQO(iccyoQEvd-Ei6r}g dvvaGxEvav xxX. Antonin. Lib. 31 xb öe avp- rcav Orvog utvoaaöuv 'Iccnvyav.

2) Vgl. Livius I 1, 3 von den flüchtigen Trojanern und Enetern, die sich im Adriatischen Meere ansiedelten: gens universa Veneti appellati. PliniuF f 125 Mysi, gens ampla per se, etiam cum totum Mysia appellaretur (also Mi/St

sprünglich Teilbegriff, der seine Sonderbedeutung noch behielt, als er zum andesnamen geworden war). Ammianus XXIII 6, 15 quae (Assyria) per popu- pagosque amplos diffusa quondam et copiosa ad unum concessit vocabulum ei unc omnis appellatur Assyria. XXVII 4, 3 tractus avtehuc diflusi latissime

326 Kap. V. Die Entstehungsgeschichte deB Germanennamens

hier nur diejenigen, in denen der Ursprung des Gesamtnamens durch die Präposition a bezeichnet ist. Plinius VI 50 ultra sunt Scytharum populi. Persae Mos Sagas in Universum appellaverc aproxima genfc (vgl. Herod. VII 64 ol TlbQöai xdvrag tovg 2Jxvd-<xg naXkovöi Udy.ng). Isidorus XVI 1, 28 Samaria a qua omnis regio quae circa eam fuit nomen accepit. Folgende Stelle zeigt mit der Taciteischen eine sogar noch über die hier in Vergleich gestellten Ausdrücke hinausgreifende Ähnlichkeit, insofern in ihr auch die Zeitstufen der Benennung (primum— deinde^primum mox) sowie die Allmählichkeit des Vorgangs (paulatim)1) erwähnt wird. Sie findet sich bei Paulus, dem Epitomator des Festus, S. 18 M. und geht durch Vermittlung des Verrius Flaccus auf Varro zurück2): Ausoniam appellavit Auson, Ulixis et Calypsus filius, eam primum partem Italiae, in qua sunt urbes Beneventum et Cales; deinde paulatim tota quoque Italia quae Appennino finitur dicta est Ausonia ab eodem duce, a quo urbem etiam conditam Auruncam ferunt.5) Die Präposition a im Sinne von d%6 bei Verben des Be- nennens, sowohl im Aktivum als auch im Passivum, ist der lateinischem Sprache zu allen Zeiten geläufig gewesen.4) Gelegentlich trat an ihr«

estinatique nationibus feris cuncti TJiraciarum vocdbulo censebantur ; die Stell« über die Alanen (XXXI 2, 17) wird uns weiterhin begegnen (S. 335).

1) Das Wort muß in dieser Literaturgattung typisch gewesen sein: Sal- lust braucht es in der Ethnographie Afrikas zweimal hintereinander (lug. 18 7. 10).

2) Bei Serv. Dan. zur Aen. VIII 328 quidam Ausones cognominatos ab Ausone Ulixis et Circes filio, dicunt ist unter den quidam bestimmt Varro verstanden R. Ritter, De Varrone Vergilii in narrandis urbium populorumque Italiae ori- ginibus auctore, Diss. Halenses XIV (1901) 370, der die Bestätigung a'js Paului vergaß.

3) Varro folgte auch in der Bezeichnung der Zeitstufen griechischer Ter minologie: vgl. was Strabo V 210 über die Propaganda des Namens 'Ixcclol sagt slxäöcci d' av xig svTv%rJGccvrccg xovg XQmxovg dvo^iaa&svxag 'IraXovg fistadovvai xalxolg 7t\r\6io%coQoig, £?•§"' ovxcog iitlSoßiv Iccßsiv ^XQ1 Z^S 'Pco{iixicov imxQursiag 6iph aors . .. %do£s - . . 7iQ06ccyoQ£vcai xccl 'Ixcclicoxag itävxag xul 'Pa[icciovg Der letzten Zeitstufe entspricht bei Tac. vocabulum recens et nuper additum.

4) Für die passive Konstruktion muß ich, da sie wirklich in Zweifel ge- zogen worden ist, einige Belege geben, darunter mehrere mir von Cichoriui beigesteuerte; dabei lasse ich die besonders zahlreichen, in denen die Benennung von Sachen erfolgt, ganz beiseite und wähle nur diejenigen aus, die Personer betreffen. Ennius bei Varro de 1. 1. V 55 nominati, ut ait Ennius, Titienses al Tatio, Bamnenses ab Bomulo, Luceres, ut Iunius, ab Lueumone. Piso fr. S

Ursprungsbezeichnung eines Volksgesamtnamens 327

Stelle auch ex, aber diese Präposition war üblich nur, wenn der Träger der Ursprungsbezeichnung ein Sachbegriff, nicht ein Personen- name oder ein nomen agentis (wie victor) war.1) In unserer Sprache können wir bei passivem Satzverhältnis, um dem Mißverständnisse der Präposition „von" aus dem Wege zu gehen, die Wendungen övoud&ö&cci, cctcö, vocari a übersetzen „benannt werden nach".

Die Taciteischen Worte sind mithin so wiederzugeben: „daß die Gesamtheit nach dem Sieger benannt wurde". Der ethnogra-

Peter tertia (sc. porta) est Ianualis, dicta ab Iano. Varro V161 atrium appellatum ab Atriatibus Tuscis. Hyginus fr. 5 Peter Italia Hesperia dicta a fratre Atlantik 8 Hernicos a Pelasgis oriundos appellatosque ita a quodam Pelasgo duce suo qui Hernicus nominabatur 12 Agylla a conditore appellata. Plinius IV 58 Dosiades tarn (sc. Cretam) a Cretc nympha, Hesperidis filia, Anaximander a rege Cure- tum ... appellatam existimavere. Sache und Person verbunden: Livius per. LX Baleares a teli missu appellati vel a Balio, Herculis comite ibi relicto. Damit es endlich nicht an ganz späten Beispielen fehle, die zugleich erkennen lassen, daß der Sprachgebrauch aus dem Griechischen stammt, lese man etwa Filastrius, haereseon über c. 111 (p. 76 Marx) ipsi pagani in suis historiis referunt, quod a Pagano rege, ut ait Hesiodus Grecus poeta pagani sunt appellati (dieser Schrift- steller des IV. Jahrh. hat diesen von Marx im Index p. 167 notierten Sprach- gebrauch noch sehr oft) und Isidorus IX 2, 88 Alexander Mstoriographus ait: 'Vuls- cos quidam appellatos aiunt a Vulsco Antiphate Laestrygonis filio'.

1) Tacitus selbst bietet in dem vorliegenden Kapitel ein Beispiel: e quorun> nominibus proximi Oceano Ingaevones 3. . vocentur. Für die Differenz des Ge- brauchs besonders bezeichnend ist ann. IV 55 ducum e nominibus indita voca- bula Ulis per Asiam, Ms in Italia, auctamque adhuc Lydorum opulentiam missis in Graeciam populis, cui mox a Pelope nomen. Vgl. ferner Iustinus XX 5, {• Tusci ... ex nomine ducis gentem Raetorum condiderunt, XXXVI 2, 5 populum iv decem regna divisum filiis tradidit (Israhel) omnesque ex nomine Iudae . . . ludaeos appellavit, wofür er auch omnesque a Inda . . . Iudaeos appellavit hätte sagen können. Plinius XXXV 178. Zwischen beiden Präpositionen wechselt schlecht Ammianus XXIII 6, 21 cognominata . . . Hileria ex Hibero et a Baeti amne insigni provincia Baetica. Ein Beispiel für ex bei Personen habe ich nicht zur Hand (möglich, daß sich eins oder das andere bei Servius findet). Im Griechischen ist mir i% bei Namengebungen nicht vor Laurentius Lydus begegnet (z. B. de mens. I 5 Zccßivog ix rfjg tibqI xov olvov yscogylag tuvoftaffOT] und sehr oft so) : er hat es aus dem Lateinischen übersetzt. .Häufiger ist de (Beispiele seit Catos Orig. im Thes. V 55), besonders bei Dichtern, die dadurch gern dem unbequemen Hiatus vor a (ab) oder ex aus dem Wege gehen (z. B. Verg. Aen. I 277 JRo- manosque suo de nomine dicet, OviJ fast. I 592 Ajrica victorem de se vocat), bei Tacitus selbst ann. I 15 ludos qui de nomine Augusti . . . Augustales vocu- rentur.

328 ^ap. *"• Die Entstehungsgeschichte des Germauennamens

phische Sprachgebrauch gibt denjenigen recht, die so verstanden haben.1)

Hieraus folgt gleich ein Weiteres für die Bedeutung von victor. Freilich muß es fast unbegreiflich erscheinen, daß hierüber eine Meinungsverschiedenheit besteht. Tacitus sagt: die jetzt Tungri, früher Germani genannte Völkerschaft habe zuerst den Rhein überschritten und die Gallier vertrieben; der Name dieser Völkerschaft sei all- mählich so zu Ansehen gekommen, daß die Gesamtheit des Volkes nach dem „Sieger" benannt worden sei. Kann es nun etwas Ge- wisseres geben, als daß unter dem Sieger eben die Völkerschaft Germani- Tungri verstanden ist, die siegreich in Gallien eindrang? Aber so groß ist die Verwirrung, die hier Platz gegriffen hat, daß selbst das Augenscheinliche von einigen in sein Gegenteil verkehrt wird. Mit vollem Rechte schrieb 0. Hirschfeld in seinem o. S. 71, 1 genannten Aufsatze (S. 354): „Hält man an der Überlieferung fest, so muß unter dem victor der später Tungri genannte Stamm ver- standen werden: denn die Annahme . . ., daß damit die Römer oder Caesar gemeint sei, kann ernstlich nicht in Frage kommen." Den- noch ist das kürzlich wieder behauptet worden. Auf Widerlegung brauchen wir uns um so weniger einzulassen, als wir gegen jeden Irrtum dieser Art sowie gar gegen zahlreiche Versuche, an dem überlieferten Texte zu rütteln, durch die besprochene herkömmliche Ausdrucksweise der ethnographischen Literatur gesichert sind: der victor ist der Teilbegriff (die siegreiche Völkerschaft), dem sich der Gesamtbegriff omnes (das Volk als Ganzes) in der Weise überordnet, daß gesagt wird, die Benennung des „totum" sei nach der „pars" erfolgt.

Bei dem Worte victor lohnt es sich zu verweilen, da es geeignet ist, diese Deutung nicht bloß zu bestätigen, sondern den Vorstellungs- kreis, in den uns die Taciteische Ausdrucksweise führt, wie von einem Mittelpunkte aus zu beleuchten. Durch den Besitz dieses Wortes, das von der Scipionenzeifc an weithin durch die römische Literatur

1) U. a. hat G. Kossinna, Der Ursprung d. Germanennamen3 (Beitr. z. Gesch. d. deutsch. Spr. u. Lit. XX 1895) 263 ff., diese Auffassung nachdrücklich vertreten. Da er jedoch den zweiten Satzteil, wie wir seheu werden, unrichtig verstand, hat er auch für seine richtige Deutung des ersten nicht allseitig das verdiente Gehör gefunden.

Terminologisches über victor 329

hallt, ist die lateinische Sprache reicher als die griechische, die sich scatt des Nomen agentis partizipialer Ausdrucksweisen bedienen muß. Wieviel stärker ist die Wirkung, die etwa Vergil mit den Worten Capitolia ad alta triumpho victor aget currum erzielt als Pindar jcsvtae&kcp erädiov vix&v öqo^iov oder de&locpÖQOts ävägdöLV 'Olv^ntCa IJvd-ol re viy.GJvts66iv, und dem lovis victor, Mars v., Hercules un- endlich Caesar victor (Horaz: victore laetus Caesare) haben die Griechen nichts an die Seite zu stellen (wie matt klingt z. B. Udcgccrtig ö vixäv), wenn sie nicht, in den freilich unvergleichlichen Reichtum ihrer Sprache an Kompositionen greifend, xakXCvtxog, (psQSvtxos u. dgl. prägten. Nun hat dieses Wort bei der Besitz- ergreifung des Landes einer verdrängten Völkerschaft geradezu tech- nische Verwertung gefunden. Bei einem der Feldmesser (Siculus Flaccus de condicionibus agrorum p. 102, 1 Thulin; heißt es1): occu- patorii dicuntur agri, quibus agris victor populus occupando nomen dedit. bellis enim gestis victores populi terras omnes ex quibus victos eiecerunt publicavere (vgl. 100, 7. 118, 1. 119, 8. 140, 18 f.). Meist ist darunter natürlich das römische Volk, der exemplarische victor2), zu verstehen, der durch Okkupation das Staatsgebiet erweitert, aber die angeführten Worte zeigen, daß die römische Terminologie auch auf andere Völker übertragen wurde, die als Sieger ihre Grenzen durch Einbeziehung feindlichen Gebietes erweiterten.3) Einen Fall dieser Art haben wir bei den germanischen Tungri vor Augen, die als Sieger gallisches Gebiet besetzten. Caesars commentarii bestätigen diese Auffassung in erwünschter Weise. Nicht bloß daß schon er die Germanen gelegentlich als victores im Verhältnis zum Römertum bezeichnet (I 40, 6. VI 37, 7): einmal legt er dem

1) Diese Stelle zitierte Müllenhoff, D. A IV 130; er kannte sie aber noch nicht in ihrem nunmehr festgestellten Wortlaut. Es ist jetzt eine Freude, diese für römisches Empfinden so wichtigen Schriften in Thulius musterhafter Ausgabe zu lesen.

2) Vgl. z.B. Cicero pr. Planco 11 huius principis populi et omnium gentium iomini atqne victoris. Ähnlich Phil. 6, 12.

3) Horaz a. p. *208 postquam coepit agros extendcre victor (sc. populus Vers 206). Dort ist, wie der Zusammenhang zeigt, dem Sinne nach das ittische Volk gemeint (Kießling weist treffend auf dessen Wachstum durch Kleruchien hin), aber der Ausdruck trägt, wie in dem ganzen Ab-chnitt römische Farben.

330 Kap. V. Die Entstehungsgeschichte des Germanennimens

Ariovist, der gallisches Gebiet besetzt hatte, indem er die Sequani zur Abtretung eines Drittels ihres Landes zwang (I 31, 10), die Worte in den Mund, er habe dies kraft seines J{ echtes als victor getan (I 44, 2). Genau dieses meint Tacitus, nur daß bei ihm an die Stelle der siegreichen Suebi Ariovists die siegreichen Tungri, an die der Sequani die Galli insgemein getreten sind. In einem späteren Kapitel der Germania (36) spricht er von den Chatti victores, weil sie die einstige Machtstellung der Cherusci, ihrer Nachbarn, gebrochen hatten. Es empfiehlt sich, jene Zeiten durch spätere zu beleuchten. Den römischen Kaisern seit dem letzten Drittel des III. Jahrh. galt zwar als besonderer Ruhm eine victoria Gotica, als stolzer Siegestitel Goticus, der oft mit dem älteren Germanicus vereinigt wurde als Teilbezeichnung neben dem Ganzen. Aber die Siege waren so teuer erkauft und so vorübergehend, daß mit größerem Recht die Goten sich als die Sieger feiern durften. Daß ihre Lieder aus der Wanderungszeit von diesem Gefühle ge- tragen waren, wissen wir durch ein berühmtes Zeugnis des lordanis, das er durch Vermittlung von Cassiodors Gotengeschichte aus deren Hauptquelle, dem Geschichtswerke des Ablabios, wohl eines Zeit- genossen des Cassiodorus, entnahm: § 28 exinde iam velut victores ad extremam Scythiae partem quae Pontico mari vicina est properant, quemadmodum et in priscis eorum carminibus pene storico ritu in commune recolitur, quod et Ablabius descriptor Gotorum gentis egregius verissima adtestatur historia. Diese Nachricht betrifft das III. Jahrh. in dessen Mitte das stolze Imperium schwer erschüttert wurde. Bei seinem Zusammenbruch wurde dann der Germane dauernder victor, zunächst in Gallien. Ein zum 1. Januar des Jahres 456 verfaßtes Gedicht des Sidonius, das ich bei anderer Gelegenheit ausführlicher besprochen habe1), gibt uns eine lebendige Schilderung dieser welt- geschichtlichen Begebenheiten (7, 372 ff.): „Der Franke", heißt es dort, „warf Germania prima und Belgica secunda über den Haufen, und den Rhein trankest du, wilder Alamanne, auf dem Ufer des Römers: auf beiderseitigem Stromgebiete warst du ein stolzer Bürger oder Sieger (utroque superbus in agro Vel civis vel victor eras)." Das rechtsrheinische Gebiet, will er sagen, war den Alamannen seit fast zwei Jahrhunderten zur Besiedelung überlassen worden: dort fühlten 1) Sitzungsber. d. Berl. Ak. 1917, 675 f.

Terminologisches über victor 331

sie sich längst als cives. Nun aber hatten sie auch einen Teil des linksrheinischen (das Elsaß) okkupiert und besaßen es kraft ihres Rechtes als victores. Dieses Zeugnis mitten aus der Zeit der großen germanischen Invasion in Gallien führt uns an ihren Beginn zurück, da ein damals noch kleiner und vereinzelter Stamm 'Germani* als victor den Rhein überschritt und gallisches Gebiet besetzte. Diese Taciteische Nachricht, eine der ältesten unserer vaterländischen Ge- schichte — die Zeit des Geschehnisses wird im folgenden Kapitel zu besprechen sein , sollen wir uns rauben lassen, indem wir mit Preisgabe des Gedankenzusammenhanges unter dem „Sieger" einen anderen als den Germanenstamm verstehen? Wer sich noch dazu erinnern will, daß, wie oben gezeigt wurde, das dem Substantiv victor vorausgehende und mit ihm in ursächliche Verbindung ge- setzte Verbum evaluisse1) dem griechischen sxvlxtIGcu entspricht, wird der kraftvoll kurzen Beweisführung des Schriftstellers, der uns als einziger so wertvolle Kunde vermittelt hat, auch nach der sprach- lichen Seite hin die Anerkennung nicht versagen.

IV. URSÄCHLICHE BEZEICHNUNG EINER VOLKSBENENNUNG ob metum}) Wieder ist es eine Präposition, deren Deutung die Erklärer in zwei Lager getrennt hat. Ist sie kausal oder final zu verstehen, oder, wie es sich auch ausdrücken läßt, ist metas im passiven Sinne als die Furcht, die man empfindet, oder im aktiven als die Furcht, die man einflößt, gemeint?3) Haben wir also zu

1) Vgl. Nepos IX 1, 2 (IpMcrates) scmpcr consilio vicit tantumque eo valuit ut . . .

2) Ein Spiel des Zufalls hat dazu geführt, daß in zwei der umstrittensten Sätze der antiken Prosaliteratur, dem Taciteischen über den Germanennamen und dem Aristotelischen über die Katharsis die Zahl der Deutungsversuche des letzteren betrug nach einer im Jahro 1899 aufgestellten Berechnung schon achtzig , ob metum und 8ik q>6ßov wesentliche Bestandteile beider Kontro- versen sind. Bei Tacitus handelt es sich, wie wir sehen werden, um die Frage, wer als logisches Subjekt, bei Aristoteles, wer als logisches Objekt des Furcht- begriffs zu verstehen ist.

3) Quintil. VI 2, 21 metum dupliccm intellegi volo, quem patimur et quem facimus. Gellius IX 12, 13 melus quoque et iniuria. atque alia quaedum id genus sie utroqueversum dici possunt: nam metus hostium rede dicitur et cum timenl hostes et cum timentw. Bei Tacitus überwiegt, wie wohl bei allen Schrift-

332 Kap. V. Die Entstehungsgeschichte des Germanennamens

übersetzen: „aus Furcht" (weil man fürchtete) oder: „zum Zweck der Furcht" (um Furcht zu erregen)? Nun haben sich zwar die Vertreter der ersteren, wie sich zeigen wird, richtigen Auffassung auf den Sprachgebrauch des Tacitus selbst berufen, der die Ver- bindung ob metum noch achtmal hat, und nie anders als in kausalem Sinne1), und das sollte eigentlich genügen, um die zweite Deutung abzulehnen. Aber mit so vorgefaßter Meinung wird von vielen an diesen Satz herangetreten, daß sie zu behaupten wagen: achtmaliger Gebrauch zwinge nicht, ihn auch beim neunten Male anzuerkennen. Solche Behauptung ist mit allgemeinen Gründen nicht zu bekämpfen: denn wer wollte leugnen, daß solche Abweichungen von der Norm selbst bei einem und demselben Schriftsteller gelegentlich begegnen? Schwerer wiegt die Tatsache, daß nicht nur bei Tacitus, sondern

steilem, die passive Bedeutung weitaus, aber die aktive fehlt nicht (dies gegen Hirschfeld a. a. 0. 355), z. B. hist. II 66 ni duae praetoriae cohortes causam quartadecumanorum secutae his fiduciam et metum Batavis fecissent. Dagegen ist die Stelle des Agricola 44, die ebenfalls für die aktive Bedeutung angeführt wird, auszuscheiden. In den Texten (aber nicht mehr in dem neuesten vou Andresen) steht hier es handelt sich um die Charakteristik des Agricola : nihil metus in voltu, gratia oris supererat, was erklärt wird „nichts Furcht- erregendes". Aber die maßgebende Überlieferung, jetzt auch durch die Ab- schrift des cod. Aesinas vertreten, hat impetus, für das ein Humanist, der es nicht verstand, metus interpolierte. Wo es sich um Physiognomisches handelt, muß man immer die Astrologen konsultieren: aus dem Index verborum der Firmicusausgabe von Kroll ist zu ersehen, daß impetus animi (mentis) technisch war zur Bezeichnung eines hitzigen, ungestümen Temperamentes, was die griechischen Astrologen ccpodQov Big öquccs nannten und aus der %olr\ ^ikccivcc erklärten. Demgegenüber stand die gratia ingenii. Agricola hatte also nichts Aufbrausendes ('impetuosity' sagen die Engländer), sondern die Liebenswürdig- keit seiner Seele spiegelte sieb auf seinem Antlitz.

1) Z. B. hist. II 49 quidam militum . . . interfecere se, non noxa neque ob metum, sed aemulatione decoris et caritate prineipis. ann. XII 51 coniunx .... fugam ob metum hostilem et mariti caritatem toleravit. Die übrigen Stellen sind (nach dem Gerber-Greefschen Lexicon Taciteum): hist. II 65. ann. I 1. 68. III 40. V 6. XV 73. In Verbindung mit anderen Substantiven braucht auch Tacitus ob neben häufigerem kausalen Sinn gelegentlich in finalem z. B. hist. I 63 non ob praedam aut spoliandi cupidine ann. I 58 neque ob praemium, sed ut me perfidia exsölvam XIV 14 qui peeuniam ob delicta potius dedit quam ne delinquerent ; beides nebeneinander: ann. I 3 abolendae magis infamiae ob amissum cum Varo exercitum quam cupidine proferendi imperii aut dignum ob praemium.

Das Furchtmotiv 333

innerhalb des gesamten, daraufhin geprüften Sprachschatzes die Ver- bindung ob metum (timorem) nur für den passiven Sinn nachgewiesen ist.1) Aber selbst dieses Beweismittel hat diejenigen, die infolge einer Mißdeutung des ganzen Satzes sich gezwungen sahen, auch in allen Einzelheiten auf die falsche Seite zu treten, nicht abgeschreckt: Tacitus' selbstherrliche Sprachmeisterung bot ihnen ja einen wohl- feilen Loskauf von dem Grundsatze der Gesetzmäßigkeit. Nun wird eine Widerlegung demjenigen, der die obige Deutung der Worte a Victore „nach dem Sieger" (wurde die Gesamtheit benannt) für richtig hält, nicht mehr nötig erscheinen, denn sie zieht die kausale Deutung von ob metum „aus Furcht vor ihm" (näml. dem Sieger) mit logischer Folgerichtigkeit nach sich. Es trifft sich aber gut, daß der Sprachgebrauch der Literaturgattung, in die wir den ganzen Satz hineinstellen, es uns ermöglicht, die Beweise für die Deutung der beiden präpositionalen Wortgruppen sich nicht gegenseitig be- dingen zu lassen, sondern den zweiten unabhängig vom ersten zu führen. Zur Benennung von Völkern und Orten gehört di? Angabe der Ursache, niemals die des Zwecks: ob entspricht kausalem diä. Die Belege sind so zahlreich (seit Philochoros), daß es nicht lohnen würde, sie insgesamt anzuführen, aber es ist vielleicht doch er- wünscht, das griechische Gegenstück gerade zu ob metum in ethno- graphischem Zusammenhange2) kennen zu lernen. Timaios erzählte folgendes.3) Eine Abteilung der kolchischen Flotte verfolgt unter dem Befehl des Absyrtos, des Bruders der Medea, die Argonauten und besetzt die Mündung des Istros4) in das Adriatische Meer. Hier schließen beide Parteien einen Vertrag, aber Absyrtos fällt durch

1) P. Hand, Tursellinus IV (Leipz. 1845) 360 f.

2) Außerhalb dieses ist diu cpößov seit Beginn der Prosa belegbar, vgl. auch diu öiog Thuk. IV 125, 1. VII 77, 6. Wo diu c. gen. steht, ist das räumliche oder zeitliche Element nicht zu verkennen: diu cpößov yuo '^g^Ofiai Eurip. Or. 757; diu tpößov zlvai Thuk. VI 34, 2 („in beständiger Furcht"), ebenso mit dem den Komplex der Zeitmomente zum Ausdruck bringenden Plural diu cpoßav Plat. Ges. Vit 791 B. X 906 A.

3) Die Berichte sind analysiert und auf Timaios zurückgeführt von P. Günther, De ea quae inter Timaeum et Lycophronem intercedit ratione, Diss. Leipz. 1889, 62 fF.

4) Auf Grund dieser irrtümlichen Vorstellung glaubte man, trage die Landschaft Istria ihren Namen: lustinus XXXII 3, 15.

334 Kap. V. Die Entstehungsgeschichte des Germanennamens

Verrat des Jason und der Medea. Die Argonauten fahren weiter and entkommen ihren Verfolgern. Diese werden nun aus Verfolgern selbst Flüchtlinge, denn sie wagen es nicht, unverrichteter Sache in die Heimat zurückzukehren, da sie den Zorn des Aietes fürchten. In Istrien gründen sie „aus Furcht" eine Stadt, die sie in ihrer Sprache Tolai' nannten, dem entspreche hellenisch „Flüchtlings- stadt". Das wird erzählt von Apollonios IV 241 ff. und Kallimachos bei Strabo V 216; die für uns hier entscheidenden Worte stehen in einem alten Scholion zu Lykophron 1021 (dessen erster Teil sich mit Iustinus XXXII 3, 13 ff. deckt): „Polai wurde von den Kolchern gegründet. Da diese nämlich auf ihrer Verfolgung die Medea nicht zu fassen bekamen, so ließen sie sich dort aus Furcht (diu cpößov- metu Iustinus) nieder und gründeten eine Stadt. In kolchischer Sprache trägt sie den Namen fPolai': das bedeutet, wie Kallimachos sagt, 'Flüchtlinge' (cpvyccdss)"1) Die „aus Furcht" vor den Ver- folgern benannte Stadt bietet eine Analogie zu der „aus Furcht" vor den Siegern benannten Nation.

Wie eng sich die Formgebung bei Tacitus an einen überlieferten Typus ethnographischer Formelsprache anschließt, ergibt sich end- lich aus einigen Fällen, in denen die Angabe der Ursache (dicc) der Benennung mit derjenigen des Ursprungs (anö) verbunden ist*), ja gelegentlich steht die Bezeichnung des Gesamtvolks (öv^iTCavtss) da- bei, so daß die Übereinstimmung des griechischen Ausdrucks mit dem Taciteischen (omnes . . . a . . . ob . . . vocarentur) eine voll- ständige wird. Strabo3) IV 189 ccito rovrcov (den Kelten der Pro- vinz) d' olpca xai tovg öv^ntavtccg Vakdxag Ksltovg v%b täv

1) Auffallend ähnlich Iustinus XLI 1, lf. Parthi . . . Scytharum exules fuere, hoc etiam ipsorum vocabulo manifestatur, nam Scythico sermone exules 'parthi' dicuntur. <&vydd£g sind genau profugi, über dessen Distinktion von exules Serv. z. Aen. I 2 p. 8, 12 mit dem Zitat von Lucanus IV 9, wo auf etwas Ähnliches angespielt zu werden scheint. Vgl. auch Steph. Byz. S. 33, 3 v4£a>Tos, xöXtg IJaXcci6xlv7]g. xavxt\v l%xi6iv slg xcöv ixavsX&övxav ax 'Eqv&qüs &aXä.66T]<s (pvyäSav usw., Avienus or. mar. 139 (sehr alte Quelle) gens fugax von den durch die Kelten verdrängten Ligurern.

2) Z. B. Diodor V 47, 1 xavxrjv xr\v vf\6ov {Jla\i.o%qä.%i\v) Zvioi fisv cpaai xb naXaibv Zdtiov 6voncc6Q'fjvai, xfjg dh vvv Zdpov xxi6&£i67}g Std xr\v o\i<avv\iia.v dxb rijs jrapaxstfi^vTjs xrj xaXaiä Zdfico &Qdxr\g -£ccfto3'(>«x7ji> övoiiaG&fjvcci.

3) Die hier folgenden Worte Strabos und Diodors waren teilweise schon oben S. 324 angeführt.

Das Furchtmotiv 335

' EXXijvav XQOöayoQEv&ijvai, dicc xy\v iniqxxvsiav r\ xal %qo6- Xaßövxav Ttgbg xovxo xal xäv MußGaXiaxäv diä xb nX^6i6%OQOv. Diodor I 51, 3f. (aus Hekataios von Abdera) a<p ov (Alyvnxov) xal x^v 6v\x,Tta<5av %c6()av xvfjs.lv xr\g %Qo6^yoQia$\ diadi^d^iavov yäg xovxov xijv fjye^oviav ysvsö&ai ßa6iXiu tpilav&Qanov . . . dib xal usydXyg cbrodoj^g <x%iov{isvov v%b %ävx<av diä xijv hvvoiav xvftlv xr\g TtQosLG^^isvrjs xiiifig. Aus der lateinischen Literatur ein Beispiel, in dem neben die Bezeichnung der Gesamtheit die des Grundes der Benennung tritt: Ammianus XXXI 2, 17 Alani . . . licet dirempti spatiis longis per pagos ut Nomades vagantur immensos, aevi tarnen progressu ad unum concessere vocabulum et summatim omnes Alani cognominantur (oby1) mores et modum efferatum vivendi eandemque armaturam; kurz vorher (2, 13) hatte er das so aus- gedrückt2): Alani . . . ex montium appellaüone cognominati (^AXavä &Qrj Ptol.) paulatim nationes conterminas crebritate vktoriarum adtritas ad gentilitatem sui vocabuli traxerunt, ut Persae: da haben wir die charakteristischen Motive des paulatim und des victor (s. o. hei III).

V. SELBSTBENENNÜNG EINES VOLKES

DERIVATIVER UND KAUSATIVER GEBRAUCH

DER PRAEPOSITION A

mox etiam a se ipsis invento nomine Germani vocarentur.

Der Augenschein lehrt, daß dieser Satzteil dem vorangehenden

parallel ist: zerlegen wir die oben (S. 313) xuxä xcbXa abgeteilten

\ beiden Reihen weiter xaxä xou^iaxa, so ergibt sich folgendes Bild:

ut omnes primum a victore ob metum, mox etiam a se ipsis invento nomine Germani vocarentur. Es entsprechen sich zunächst primum und mox. In welchem Sedanken Verhältnis nun auch die beiden parallelen Satzglieder zu- einander stehen mögen, so viel ist sicher, daß zum Ausdruck ge- bracht sein muß: ein anfänglich enger begrenzter Name habe bald eitere Geltung erlangt. Eine Analogie dazu bieten die Worte itrabos V 209. 210, auf die bereits oben (S. 321) hingewiesen wurde:

1) Fehlt in der Überlieferung, von Valesius ergänzt.

2) Entweder folgte er zwei verschiedenen Quellen oder zerlegte die An- abe einer einzigen ungeschickt in zwei.

ggß Kap. V. Die Entstehungsgeschichte des Germanennamens

"ItaloC sei anfangs nur eine kleine Völkerschaft im äußersten Süden der Halbinsel benannt worden, dann habe sich im Laufe der Zeit der Name auf die Nachbarstämme immer weiter ausgebreitet. Die von Strabo zur Bezeichnung des Zeitfortschrittes gewählten Aus- drücke rovg tcqntovs övofiaö&evTccg 'Irukovg . . . slra*) sind den Taciteischen konform (itQcoTovg für %q&tov mit Attraktion an das Substantivum). Denselben Gedanken fanden wir in gleicher Sache und Ausdrucksweise oben (S. 326) in einem Varronischen Zitate durch primam . . . deinäe . . . dicta (Ausonia) bezeichnet. Eine weitere gliedmäßige Entsprechung zeigen die Worte ob metum und invento nomine. Tacitus wechselt in parallelen Satzgliedern zwischen ob und dem Ablativ noch achtmal. Unter den acht Ablativen ist ein absoluter; und dreimal ist das entsprechende Glied gerade ob metum.2) Der Wechsel zwischen präpositionaler und verbaler Aus- drucksform ist aber an unserer Stelle nicht bloß durch die Vorliebe des Schriftstellers für Ungleichheit des Ausdrucks hervorgerufen worden, sondern invento nomine lehnt sich naturgemäß an das folgende vocarentur an: nomine vocari (appellari) ist eine gerade auch in der ethnographischen Literatur seit alters übliche Ver- bindung.3) Das gilt auch von der Phrase nomen invenire, was wir

1) Er fügt noch hinzu: otyk 3i ttote seien als 'IraXoi alle Stämme vom Süden bis an die Alpen genannt worden.

2) Germ. 17 qui non libidine, sed ob nobilitatem pluribus nuptiis ambiuntur. ;inn. III 14 indices per diversa implacabiles erant, Caesar ob bellum provinciae inlalum, senatus numquam satis credito sine fratide Germanicum interisse. bist. II 49 quidam militum . . . interfecere se, non noxa neque ob metum, sed aemulatione decoris 65 hunc Tiberius ob metum, Vitellius Cluvium nulla for- midine retinebat. ann. V 6 ob metum paucae, plures adsuetudine. Die] übrigen Stellen sind bist. I 63, ann. 1 3. 50 (Stellensammlung; nach Gerber-Greet).

3) Schon Cato bietet ein Beispiel, wenn Servius zur Aen. I 6 seine Worte genau wiedergibt: Cato in originibus hoc dicit . . . primo Italiam tenuisse quos- dam qui appellabantur Aborigines. hos postea adventu Aeneae Phrygibus iunctos Latinos uno nomine nuncupatos. Ganz ähnlich Caesar an einer Stelle, die uns späterhin beschäftigen wird, II 4, 10 Condrusos, Eburones, Caerosos, Paemanos, ','ui uno nomine Germani appellantur. Tacitus selbst Germ. c. 28 ne Ubii qui- dem, quamquam . . . libentius Agrippinenses conditoris sui nomine voceniur, origine erubescunt, wo Acidalius, dessen Taciteische Emendationen im übrigen seinen Plautinischen an Genialität ebenbürtig sind (erstere sind nach dem 1595 erfolgten Tode des 28jährigen von seinem Bruder 1607 bekanntgemacht worden), unrichtig <e)> conditoris sui nomine ändern wollte.

nomen invenire 337

/

mit derselben Metapher: „einen Namen bekommen" wiedergeben können; es wird dadurch das zufällige Erlangen eines Namens, den der Betreffende nicht gesucht hat, ausgedrückt. Es scheint immer- hin bemerkenswert zu sein, daß diese Phrase sich bei Plinius, den wir nach den früheren Darlegungen als den unmittelbaren Gewährs- mann des Taciteischen Kapitels betrachten dürfen, fünfmal findet.1) Dies ließ sich rasch erledigen. Aber nun bleibt a se ipsis, das eine längere Besprechung erfordert. Äußerlich betrachtet kann

1) Über die Phrase hat L. Laistner in einem eignen, 'Invento nomine' betitelten Aufsatze (Z. f. deutsches Altert. XXXII 1888, 334 f.) ganz unzuläng- lich gehandelt. Da die Worte auch sonst mißverstanden worden sind, muß ich das mir aus dem Thesaurusarchiv für die Zeit bis Augustus zur Verfügung gestellte, von mir durch Beispiele aus späterer Literatur vermehrte Material hier vorlegen; man wolle bei seiner Durchmusterung beachten, daß die Ursache der Benennung zwar an einigen Stellen hinzugefügt ist (mit a oder ex oder dem bloßen Ablativ), an anderen aber nicht, so daß auch rein formal be- trachtet kein Grund vorliegt, in den Taciteischen Worten stil- und sinnwidrig o se ipsis von invento abhängig sein zu lassen. Piso bei Varro de 1. 1. V 148 ab eo lacum invenisse nomen. Cicero de or. II 257 läßt den Caesar Strabo ein Witzwort referieren: 'Nummium divisorem, ut Neoptolemum ad Troiam, sie illum in campo Martio nomen invenisse'. Cicero selbst de fin. I 23 Torquatum qui hoc primus cognomen invenit. Tusc. IV 49 Torquatum illum qui hoc nomen invenit. de off. III 112 T. Manlius qui . . . torque detracto cognomen invenit. de nat. d. II 104 quarum (stellarum) ita descripta distinetio est, ut ex notarum figurarum similitudine nomina invenerint. de leg. I 58 sapientia, quoius amore graeco verbo philosophia nomen invenit. de or. II 366 eam laudem, ex qua elo- quentia nomen suum invenit. or. 62 Theophrastus divinitate loquendü nomen invenit. Varro r. r. II 4, 2 ut avus cognomen invenerit ut diecretur Scrofa. Plinius XXIV 90 rhododendros ne nomen quidem apud nos invenit latinum. XXVI 22 in lichenis remediis . . . liehen herba omnibus praefertur, inde nomine invento. 100 si Italiae fuisset antiquitus (sc. podagrae morbus), latinum nomen invenisset. XXVII 31 anonymos (sc. herba) non inveniendo nomen invenit: der Ausdruck ist ihm also derart vertraut, daß er mit ihm spielt („bekam seinen Namen dadurch, daß es ihn nicht bekam"). XXXVII 131 astcria regerit radios in modum stellae, Umde nomen invenit. Sueton Tib. 3, 2 Drusus hostium iuee Drauso comminus trueidato sibi posterisque suis cognomen invenit. Ab- weichend nur die ältesten Beispiele: Plautus Merc. 636Mübi habitaret invenires saltem, si nomen nequis (sc. invenire: „wenn du nicht auf den Namen kommen kannst"); Epid. 229 quid istae quae vesti quotannis nomina invenitmt nova: an letzterer Stelle ist es evqiöxelv im Sinne der eüequara-Literatur; im übrigen läßt sich, außer an den beiden Plautinischen Stellen, nomen invenire nur mit vopäfeod'cci oder ovoua Xay.ßävsiv wiedergeben.

Korden: Dio gormanische Urgeschichte *)o

338 Kap. V. Die Entstehungsgeschichte des Germanennamens

freilich nicht zweifelhaft sein, daß es mit a Victore in formalem Parallelismus steht. Demnach wird jeder zunächst annehmen, daß diese beiden Satzteile auch durch den Gedanken verbunden seien. Dann wäre, da a Victore, wie wir sahen, „nach dem Sieger" bedeutet, a se ipsis zu deuten „nach sich selbst". Ich gestehe, daß ich an- fangs diesen Weg gegangen bin, verleitet nicht nur durch den äußeren Schein, sondern auch durch den einer griechischen Analogie. Als ich mit dem Versuche begann, die Taciteischen Worte über den Germanennamen durch Verwertung der ethnographischen Literatur der Griechen zu erklären, fiel mir als erste die Stelle der Tkukydide- i sehen Archäologie über den Hellenennamen ein, mit der ich daher auch diesen Abschnitt meiner Untersuchung eingeleitet habe (o. S. 319f.). Sie bot uns, wie wir dort sahen, das dem Taciteischen evaluisse ent- sprechende ixvixrjöai, und, was noch mehr besagen will, der all- gemeine Gedanke fand in dem Begriffe einer Benennung der Volks- gesamtheit (%v[i7cavT£g, omnes) nach einer Völkerschaft bei beiden Schriftstellern denselben sprachlichen Ausdruck. Wenn es nun dort hieß: „meiner Ansicht nach trug (vor dem Trojanischen Kriege) das jetzt Hellas genannte Land noch nicht in seiner Gesamtheit diesen Namen, sondern in den Zeiten vor Hellen, dem Sohne dei Deukalion, gab es diese Bezeichnung überhaupt nicht, vielmehr boten einzelne Völkerschaften, darunter vor allem die Pelasgische, nach sich selbst die Benennung" doxel ds poi, ovdh xovvo[ii xovto tviiitaGu Ttco sl%£v, äXXä xa [isv jrpö "EXXrjvog xov zIevxaXC&voc 'Aal ttuvv ovös slvca rj inixXrjöis avxrj, xaxä e&vi] de aXXa xs xul xb TlsXaöyixbv kid %Xzi6xov äcp suvx&v xi]v STtcovv^iav naQS^söd-ai , was lag da näher, als dieses eeep eavx&v mit dem Taciteischei o se ipsis zu identifizieren? Als ich jedoch in einem früheren Zeit abschnitte meiner Untersuchung die an den vorliegenden Satz an- knüpfende Streitfrage vor einem Kreise philologischer Zuhörer diesem Sinne erörterte, wurde mir sogleich eingewendet: bei Thuky- dides heiße es „die einzelnen Völkerschaften gaben nach sich selbst d. h. nach ihren Sondernamen, dem Gesamtvolke den Namen", das sei einfach und verständlich, während der Taciteische Satz, so gefaßt „das Gesamtvolk wurde nach sich selbst benannt", unbegreiflich sei. Voi der Richtigkeit dieses Einwandes überzeugte ich mich bald durch genauere Beschäftigung mit der ethnographischen Literatur. Wo immer in ihr Bi

Volks- und Ortsbenennungen 339

nennungen von Völkern (Landschaften, Städten) vorkommen mit hinzu- gefügtem ccrp eavtov, acp savrcov, ist es ausnahmslos so, daß die Person, nach der die Benennung erfolgt, von dem benannten Objekt ver- schieden ist; nie dagegen stehen das Subjekt und das Objekt in reziprokem Verhältnisse. Das aber kann nicht auf Zufall beruhen. Denn die Fälle, in denen es heißt „der und der nannte ein Volk acp' eavtov, nach sich selbst", sind sehr häufig.1) Wenn die Namen- geber in der Mehrzahl sind, wird gesagt acp savzcbv; die Zahl dieser Beispiele, die mit Thukydides beginnen, ist, wie in der Natur der Sache liegt, nicht so groß, aber völlig ausreichend, um das Taci- teische a se ipsis als gänzlich verschieden erkennen zu lassen.2) Die Prüfung der lateinischen Beispiele, in denen außer bei Tacitus solches a(ex)se begegnet3), führt zu dem gleichen Ergebnisse. Bestätigend kommt ein weiteres Moment hinzu. Der victor, nach dem die Ge- samtheit benannt wurde, ist, wie wir sahen (S. 328), das Teilvolk (die Völkerschaft). Wenn nun a Victore und a se ipsis gleichmäßig zu

1) Ein Beispiel aus sehr vielen: Strabo VI 219 TvQQrjvbg •• . xrjv %<bqccv acp' kccvrov TvQQTqviav iv.cd.h6zv.

2) „Skymnos" 636 (über Pallene) Tavxvv de, <&XeyQav xb ngoxegov xaXov- yL&vr\v Tovg &eo[id%ovg Tiyavxag oixfjoai Xoyog, Mexa xavxa HaXXrivovg 6' acp' ccvx&v övowaßai Aeyovßiv, oguriQ'evxag i^ '4.%atag, analog 234. 506.590. 689. 704. Timagenes bei Dionys. Hai. XIV 1, 4:"Ißr]Qov v.al KsXxov, ovg &£6&ai, xaig %co(>iccig . . . xäg ovowaclag acp' avxäv. Alexander Polyh. ib. 122, 2 Ttaqsstisvaeav acp eavxmv Evxaviav ycXrjd,fjVcxi xi[v vf]6ov. 72, 5 oLxlßavxeg de xgeig nöXeig acp' tavxcäv ftsoftat, xolg xxiöuaöi rag övopaölag. Diodor V 40, 1 xb neXayog acp' eavxäv inolrjoav TvQQt]VLV.bv itQ06ayoQ£vd'fivai. Ähnlich Strabo VIII 383 A&qvaioi . . . xr\v ywqav i]v Y.axe6%ov inmvvwov havxcov iitoir\6av 'Icovlav avx' AlyiäXov xXri&Eiöav. Bei passiver Wendung entspricht an avxmv: Thukyd. VI 2, 2 an' avxwv ZiY.avLa tote i] vf\6og ixaXelxo.

3) Ovid fast. I 592 Africa victorem de se vocat III 870 (Helle) de se nomina fecit aqiiae. Velleius I 1, 4 (Tyrrhenus) pervectus in Italiam et loco et incolis et mari nobile ac perpetuum a se nomen dedit. Silius XII 360 in der schon oben erwähnten sardinischen Kolonisationslegende, die er aus Sallusts Historien nahm, Sardus ...ex sese mutavit nomina terrae; derselbe in dem italischen Truppen- tataloge VIII 444 f. Aesis . . . a sese populos tum dixit Asilos. Solinus 7, 10 quem (Inachum amnem) rex Inachus a se nominavit 9, 11 (Macedo) Macedoniam a se dixit 10, 10 quam (Abderam) Diomedis soror et condidit et a se sie voeavit 25, 17 (Icosium) ne quis inposito a se nomine privatim gloriaretur, de eondentium numero firbi nomen datum. Avienus, Ora mar. 437 f. (von der Insel TItxvQv66a) pinus hanc quondam frequens Ex se vocari sub sono Graio dedit.

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340 ^ap V. Die Entstehungsgeschichte des Germanennaniens

verstehen wäre, so würde der an sich schon unverständliche Gedanke, eine Gesamtheit sei nach sich selbst benannt, dadurch nur um so widersinniger, daß gesagt wäre, sie sei zuerst nach einem ihrer Teile, dann nach sich selbst so benannt worden. Die aus diesen Erwägungen sich ergebende Folgerung ist diese: a victore und a se ipsis sind nur äußerlich, nicht begrifflich korrespondierende Ausdrücke.

Wenn nun also a se ipsis nicht icp sccvräv ist, was bedeutet es dann? Setzen wir einmal den Fall, Tacitus hätte den Satz nicht antithetisch gespalten, sondern geschrieben: ut omncs a se ipsis Ger- mani vocarentur, wer würde bezweifeln, daß dies zu verstehen sei: „daß die Gesamtheit von sich selbst Germanen genannt wurde", also a se ipsis vy eccvtäv?1) In der Tat haben fast alle Erklärer diese Worte so verstanden2); und die Richtigkeit dieser Auffassung wird auch dadurch verbürgt, daß Tacitus in den historischen Schriften Germanen, die er redend einführt, sich in ihrer Gesamtheit eben Germani nennen läßt3): er erläutert sich damit gewissermaßen selbst.

1) appellari a im Sinne von v%ö ist natürlich durchaus gebräuchlich, z. B. Livius X 21, 8 duae coloniae ..., una ad ostium Liris fluvii, quae Minturtiae appellata, altera . . . ubi Sinope dicitur graeca urbs fuisse, Sinuessa deinde ab colonis Bomanis appellata. An anderen Stellen gebraucht auch er appellari a im Sinne von ccno, z. B. 1 13, 5 Quirites a Curibus appellati IV 37, 1 Capuam ab duce eorum Capye vel a campestri agri appellatam.

2) Die Wenigen, die es anders fassen, werden entweder zu abenteuerlichen Textänderungen (Gr. Leue, Ztschr. f. d. deutschen Unterricht IX 1895, 451) oder sinnwidrigen Beziehungen (H. Belling, Wochenschr. f. Mass. Philol. IX 1892, 422, der ipsis von se trennen und als Gegensatz zu ob metum fassen will!) oder grammatischen Unmöglichkeiten gezwungen. Das letztere gilt von Kossinna in seiner oben (S. 328,1) genannten Abhandlung. Während er sich, wie wir sahen, in der Deutung der Worte o victore ob metum im ersten Satzteile auf die richtige ' Seite stellte, ist diejenige des zweiten sprachwidrig, und da er durch sie auch die des ersten beeinflussen ließ, wird das Ganze sinnwidrig. Das zeigt am besten, wie schon Hirschfeld (a. a. 0. 356) bemerkte, seine eigne Übersetzung (S. 267): „in der Weise, daß [sogleich] die Gesamtheit [des Volkes, und zwar] anfangs [hloß] nach dem Sieger (den Tungern) infolge banger Scheu, später auch an. und für sich betrachtet [oder: aus sich heraus] mit dem überkommenen ^ Namen Germanen genannt wurde." Auffälligerweise hat sogar E. Schwyzer, der sonst ein so sicheres Gefühl für das Richtige zeigt, in seine Neuauflage (1912) der Ausgabe von Schweizer -Sidler diese Übersetzung in ihrer Gesamt- heit aufgenommen.

3) Eist. IV 14. 17. 63. 64. 65. V 17. 24. 25. Ann. 58.59. XI 16. 17. XIII 54.

Volks- und Ortsbenennungen 34^

Aber man glaubte, unter dieser Voraussetzung auch das im ersten Gliede stehende a (a victore) als vtcö deuten und, in notwendiger Folgewirkung dessen, victore entweder ändern (a victo ist eine von vielen noch jetzt gebilligte Vermutung Jakob Grimms) oder unter dem victor nicht die siegreiche germanische Völkerschaft, sondern irgendeinen anderen „Sieger" verstehen zu müssen. Textänderungen haben ganz außer Betracht zu bleiben. Das an victor sich knüpfende Mißverständnis, durch das die Gesamtrichtung des Gedankens ver- schoben wird, ist oben (S. 328) als solches erwiesen worden. Es fragt sich also, ob es eine Möglichkeit gibt, zu beweisen, daß a se ipsis vcp sttvrav bedeute, obwohl a victore cbrö xov vtxiq6avxog ist. Von vornherein wird niemand leicht geneigt sein, diesen Bedeutungs- wechsel der Präposition innerhalb eines so kurzen Zwischenraums anzuerkennen. Immerhin wäre zu bedenken, daß es bei Tacitus, der mit der Sprache wie kein anderer lateinischer Prosaiker experimen- tierte und den überlieferten Wortschatz bis in seine Tiefen ausschöpfte, an Beispielen für Sinnes Wechsel eines und desselben Wortes in kurzen Abständen nicht ganz fehlt.1) Aber diese Erwägung würde in vor- liegendem Falle doch nur eine Möglichkeit, keine Notwendigkeit er- geben. Ich hoffe jedoch, von einer solchen auch andere durch Tat- sachen zu überzeugen, deren Zwange ich selbst, nach eignem Zweifeln, mich schließlich unterworfen habe.

Der Ursprung einer Volks- oder Ortsbenennung wird, wie wir sahen, durch die Präposition axo, a bezeichnet. Nun liegt es in ier Natur der Sache, daß eine solche Benennung erst vollständig ist, wenn auch ihr Urheber angegeben ist. Sehr häufig ergibt sich dessen Naine aus dem ganzen Zusammenhang. Wo das nicht der Fall ist, steht sein Name bei aktivem Satzbau als Subjekt im Nominativ: „6 hivcc benannte das Volk (den Ort) nach dem und dem (äxb rov hivcc)"; bei passiver Struktur wird der Benannte Subjekt, der Name les Benenners wird durch die Präposition vn6 bezeichnet: „das und las Volk wurde nach {a.%6) dem und dem von dem und dem {ynb :ov dslva) benannt." In dem letzteren Fall treten also die Präpo-

1) Hist. IV 65 Agrippinenses . . . quando neque subire cojxdiciones („Bedingungen") actus futuri neque palam aspcrnari conditio („Lage") praesens sinebat. Ein Wechsel wischen kausalem und finalem ob unmittelbar hintereinander wurde aus ann. 13 ben S. 332,1 notiert.

342 Kap. V. Die Entstehungsgeschichte des Germanennamens

sitionen dito und v%6 zusammen, was dann, wenn die Nachbarschaft eine enge ist, eine gewisse Unbequemlichkeit mit sich bringt, die ge- legentlich durch Vertauschung von v%6 mit itoög etwas gemildert wird.1) Bereits oben (S. 324) fanden wir, in anderem Zusammenhange, drei solcher Beispiele, die hier wiederholt werden müssen: Timagenes bei Dionys. Hai. XIV 1, 4 xoivä d' bv6\kuxi i\ 6v\ma6a %obg 'EXXrjvcov xaXslxai KsXxixrj, tig {isv xivig (pa6iv, an 6 xtvog ytyavxog KeXxov. Strabo IV 189 dnb xovxav (den Kelten der Provinz) <J' ol^ai xal Tovg 6v[iitccvTug FaXdtag KeXxovg vnb xäv 'EXXtfvav nooöuyoDSv- d-fjvai. Josephus Arch. I 6, 1 dn\ avxrjg (Xs^t^id = Kvnoog) vfjöou näöai . . . Xe&lii vnb 'Eßoalcov 6vo[idZ,ovxaL. Diesen Beispielen seien hier die mir sonst bekannten hinzugefügt. Diodor V 3, 5 xrjv an' ixsCvrjg Q4QXS[iidog) vn6 ts xäv %Qiq6iiäv xal xäv av&Qäncov övo- Liaöd'elöccv III 62, 9 Qvcbvrjv vnb xäv do%aCcov xr\v yf\v tivoiidö&ai xal xs&eLö&ai x^v nooörjyooCav 2Js^i£Xt]v fisv dnb xov 6e\xvr\v elvai xi\g &eov xavxrjg xijv ini[isXeiav, ©vävrjv d' dnb xäv d'vo^ievcov avxfj ftvöiäv.3) In noch mißlicherer Lage war das Lateinische. Das a des Ursprungs mit ex zu vertauschen, war, wie oben (S. 327,1) bemerkt wurde, nicht sehr beliebt; mir ist daher auch nur ein Beispiel be- gegnet, wo ein Schriftsteller sich auf diese Weise geholfen hat: Avienus, Ora maritima 291 f. mons Argentarius \ sie a väustis dictus ex specie sui (vnb xäv naXaiäv dnb xov cpaivofisvov). Sonst sahen sich die Schriftsteller fast gezwungen, den Ursprung und den Urheber durch dieselbe Präposition a zu bezeichnen. Zwar zogen sie sich gelegent- lich so aus der Verlegenheit, daß sie das eine a durch den sog. Dativus auctoris vertreten ließen: Plinius III 151 Äbsyrtides Grais (für a Gr.)

1) Herodot und Dionysios Hai. gebrauchen für axo gelegentlich £%i: s. o. S. 324,1. In dem interessanten ÄvdnXovg Boaxögov des Dionysios von Byzanz, den man wegen der Eleganz des Stils schwerlich von der Zeit der zweiten Sophistik wird trennen können, heißt es mit affektiertem dreimaligen Wechsel der Präposition c. 23 (Dionysii Byz. de Bospori navigatione ed. Wescher, Paris 1874): oivonaoxcu d'h (sc. r\ Hcctzqu &dX<xG6a) ovx oldec sixs xccxcc xj\v ixsi- vmv (der in dieses Meer mündenden Flüsse) ysixviccßiv iTCEiyo^svoi yccg dux- qiQ-siQOvöi xr)g &alda6T]g xb av&iyBvig , el'xe v.a.1 tcqos xb a-x.lvy\xov v.al äna&hg vnb TtvBvybdxav dvvcaxo d' av {tüXXov ct%b ({uro cod.) xijg Trpo^axjscos xäv >

3tOX<X(l&V.

2) Thukydides VI 4, 5 wechselt zwischen der passiven und aktiven Struktur: oVofia xb (ihv "Kqwxov ZdyxXr\ rjv vnb xwv HixsXäv ■xXrjd'sTßa . . ., vßxegov öl . . . 'Ava^iXag . . . Msoorfvriv a%b xr\g ^avroü xo &Q%aZov naxQidog ccvxavö^aßsv.

Volks- und Ortsbenennungen 343

dictae a fratre Medeae ibi interfecto Äbsyrto, ähnlich V 28, aber das war, da dieser Kasusgebrauch nur in gewählter Rede und nicht in allen Entwicklungsstufen der Sprache üblich war1), nur ein Notbehelf für wenige Schriftsteller. So finden sich denn zwar nicht eben viele, aber sichere Beispiele eines doppelten a in verschiedener Bedeutung; diejenigen, die ich mir sammelte die Zahl wird sich wohl ver- mehren lassen2) , sind folgende. Varro 1. 1. VI 58 nuntius est a novis rebus nominatus, quod a verbo graeco potest declinatum; ab eo itaque Neapolis illorum Novapolis ab antiquis vocitata nostris. Ein weiteres Varronisches Beispiel wird unten (S. 348) angeführt werden. Wohl ebenfalls auf Varro gehen zurück folgende zwei Stellen. Festus S. 269 M. (über den Namen Roms): Lembos qui appellatur Heraclides existimat . . . propter taedium navigationis inpulsas captivas (die ge- fangenen Troerinnen) auctoritate virginis cuiusdam tempestivae nomine Bhomes incendisse classem atque ab ea necessitate ibi manendi urbem conditam ab is et potissimum eins nomine eam appellatam, a cuius consilio eas sedes sibi firmavissent. Frontinus de limitibus S. 13 Thulin: ■hi (limites) ab incolis variis ac dissimilibus vocabulis a caeli regione aut a loci natura sunt cognominati.3) Dazu kommen folgende Stellen

1) Am besten darüber A. Brenous, Etüde sur les hellenismes dans la syn- taxe Latine (Paris 1895) 154 ff. Danach findet sich in archaischer Poesie der Gebrauch auf Participia perf. mit Pronomina beschränkt (tibi empta u. dgl.), und nicht weiter zieht die Grenzen Caesar in den zwei Beispielen, die er über- haupt hat (Bell. Gall. VII 20. Bell. civ. I 6). Aber Cicero hat die Grenzen be- reits erweitert, die eigentliche Domäne war die Poesie seit den Augusteischen Dichtern und die von ihr beeinflußte Prosa.

2) Mir ist nicht bekannt geworden, obwohl ich danach suchte, daß in jrrammatiken oder Lexicis bisher darauf geachtet worden sei. Meine Beispiele stammen nur aus der Literatursphäre, die ich zum Zwecke vorliegender Unter- rachungen zu durchwandern hatte.

3) Um meine Vermutung, daß dies auf Varro zurückgeht, zu begreifen, nuß man die Stelle in ihrem Zusammenhang lesen: limites appellati transversa iunt a limo, antiquo verbo, a quo dicunt poetae (z. B. Plaut. Bacch. 1130. Mil. 1217. Terenz Eun. 600) 'limis oculis', item limum cinctum, quod purpuram transversam iabeat (vgl. Serv. z. Aen. XII 120) et limina ostiorum. alii et prorsos et tratts- lersos dicunt limites a liminibus, quod per eos in agro intro et foras eatur (darauf 'olgen die im Text zitierten Worte). Dies stimmt z. T. wörtlich überein mit isidorus orig. XV 14 (wo aber mehr steht), und er zitiert kurz vorher (XV 13, 6) m gleichen Zusammenhange, Varro. Nach den früheren Bemerkungen (S. 11,1) tommt als Quelle in erster Linie das Varronische Buch De geometria in Be-

344 Kap. V. Die Entstehungsgeschichte des Germanennamens

des Plinius III 86 ante omnes clarüate Sicilia, Sicania a Thucydidc dieta, Trinacria a pluribus aut Trinacia a triangula specie. 120 hoc (ostium Padi) ante Eridanum ostium dictum est, ab aliis Spineticum ab urbe Spina. IV 120 vocatur ab Ephoro et Philistide Enjthaea, a Timaeo et Sileno Aphrodisias, ab indigenis Iunonis; maiorem Timaeus Potinusam a puteis vocitatum ad, nostri Tartesson appellant, Poeni Gadis : hier schwenkt er zum Schluß, um nicht gar zu arg ins Gedränge zu kommen, in die aktive Konstruktion ein. V 22 ab Ampsaga Numidia est Masinissae clara nomine, Metagonitis terra a Graecis appellata, Numidae vero Nomades a permutandis pabulis : hier bezeichnet die Präposition das erstemal die Entfernung, so daß wir sogar drei Gebrauchsweisen hinter- einander haben.1) Besonders merkwürdig ist I V97, wo er zwischendurch auch den Dativus auctoris braucht: insulac Romanis armis cognitae, earum nöbilissima JBurcana Fabaria nostris dieta a frugis similitudine sponte provenientis, item Glesaria a sucino militiae appellata, a bar- baris Austeravia?) Es ist wohl kein Zufall, daß die meisten Beispiele dieser doppelten Gebrauchsart der Präposition demjenigen Schriftsteller an- gehören, der nach unserer oben (S. 208 ff ) begründeten Annahme der unmittelbare Quellenautor des Tacitus für die germanische Urgeschichte gewesen ist.

Wir müssen uns jetzt auf Grund dessen, was die letzten Dar- legungen lehrten, die Worte des Tacitus noch einmal ansehen.

Er unterscheidet zwei Epochen in der Benennung der Gesamtheit als „Germani". Die erste wird im ersten Satzteil bezeichnet durch

tracht, das einen Teil der Disciplinae bildete; daneben wäre etwa noch zu denken an De mensuris, eine Schrift, die Fr. Ritschi opusc. III 361 besprochen hat.

1) Zwei a, von denen das eine die Entfernung, das andere den Urheber bezeichnet, hat er hintereinander IV 104 a Tyle unius diei navigatione mare concretum a nonnullis Cronium appellatur. VI 55 sunt qui ab aquilone contingi ab ipsis et Conas dixere et Brisaros. Auch einmal so, daß das erste a die Ent- fernung, das zweite den Ursprung angibt: V 19 ab ea Portus Magnus a spatio appellatus.

2) Einige Beispiele aus Isidorus, der keine selbständige Bedeutung für die lebende Sprache mehr beanspruchen darf, seien hier anmerkungsweise zitiert: etym. XIII 21, 26 hie (Padus) a Graecis Eridanus cognominatus ab Eridano Solis fdio quem Phaeihontem dieunt (schlechte Kompilation aus Vergil- scholien: H. Philipp, Die histor.-geograph. Quellen in den etym. des Isidorus II Berl. 1913, 77). XIV 3, 40 Galatia dieta a priscis Gallorum gentibus, a quibus extitit oecupata, analog XV 1, 20. 36.

Volks- und Ortsbenennungen 345

die Worte ut omnes primum a Victore ob metum . . . Germani voca- rentur, „daß die Gesamtheit zuerst nach dem Sieger aus Furcht Ger- manen genannt wurde". Von wem, fragen wir, wurden sie so ge- nannt? Nun, wenn es heißt, jemand sei aus Furcht so und so genannt worden, so ist der ihn Fürchtende sein övopoxrsTrjg gewesen. Also, wie es sich auch ausdrücken läßt: die Bestimmung ob metum enthält implieite die Angabe des Urhebers der Benennung als logisches Subjekt: 6 (poßov[ievog (dsdicog) avxovg hat die Gesamtheit der Ger- manen so benannt. Wer ist nun dieser, der aus Furcht den Namen einer siegreichen Völkerschaft auf das Gesamtvolk übertrug? Der Besiegte, in diesem Falle also der von dem eindringenden Germanen- stamme vertriebene Gallier. So kommt die oben erwähnte Vermutung Jakob Grimms zu Ehren, freilich anders, als er es sich dachte. Wir dürfen nicht, da wir dadurch die feste Terminologie ethnographischer Namengebung aufheben würden, a Victore, d. h. änb xov vixävxogy durch a victo, d. h. vno xov vtxrjd,svxogy ersetzen, wohl aber müssen wir uns diese passive Vorstellung aus dem in ob metum liegenden Gedanken ergänzen.1)

Diesem Gedanke ngliede des ersten Satzteiles entspricht das Sprachglied a se ipsis des zweiten, zu dessen Betrachtung wir nun- mehr übergehen.

In der ersten Epoche der Benennung lebte der Gesamtname Ger- mani nur im Munde der Gallier, insonderheit des von der germanischen Völkerschaft Germani-Tungri vertriebenen Gallierstamms am linken Rheinufer. In der zweiten Epoche, so fährt Tacitus in seinem Be- richte fort, habe die Gesamtbezeichnung einen größeren Geltungs- bereich erhalten: ita evaluisse, ut omnes . . . mox etiam a se ijisis invento nomine Germani vocarentur. Der Gesamtname war nun „gefunden", die Germani hatten ihn „bekommen"; sie machten ihn als einen

1) Interessant zu vergleichen sind die Worte Sallusts in der afrikanischen Ethnographie (lug. 18, 12): utrique . . . finitumos armis aut metu sub Imperium simm coegere . . .; denique Africae pars inferior pleraque ab Numidis possessa est, vidi omnes in gentem nomenque imperantium concessere. Hier ist der Ge- danke aktiv zum Ausdruck gebracht '(coegere, concessere), dementsprechend hat metu aktive Bedeutung, aber die logische Konsequenz ist, daß nun statt des victor die vidi genannt werden müssen. Passivisch gewandt würde es haben lauten können: finitumi ob metum sub imperium coacti et a (anö) Victore omnes Numidarum nomine vocati sunt.

346 Kap. V. Die Entstehungsgeschichte des Germanennamens

Namen, in dem sich die Furcht der Besiegten ausprägte, zu dem ihrigen, „so daß sie nunmehr auch von sich selbst so genannt wurden". Die Richtigkeit dieser von dem Gedankenfortschritte selbst sowie von der unmittelbaren Wortbetrachtung geforderten Deutung wird nun in einem wichtigen Punkte wiederum durch Analogien der ethnographischen Literatur gewährleistet.

Was in diesem zweiten Satzteile zum Ausdruck gebracht wird, läßt sich als Selbstbenennung eines Barbarenvolkes bezeichnen. Wer sich der dankenswerten Aufgabe unterziehen wollte, den in der antiken Literatur ausgebreiteten Reichtum „barbarischen" Wort- schatzes zu sammeln und zu ordnen, würde ein großes Stück des- jenigen Gebietes wiedergewinnen, das in gelehrten ethnographischen und lexikographischen Werken als 'E&väv ovo^iaöCat u. ä. bezeichnet wurde.1) „Dieses Volk wird vnb iisv t&v 'EXfajvav so und so, vnb 8s t&v iy%(OQl(ov, ab indigenis*) so und so genannt": an solchen Bemerkungen haben es die guten Ethnographen seit Hellanikos, Herodotos und Thukydides auch Plinius hat aus seinen Quellen viel derartiges bewahrt nicht fehlen lassen, und das ist ihnen um so höher anzurechnen, als ß&QßaQcc bv6\iaxa ihnen ein Miß- behagen erregten, dem sie oft genug klagend Ausdruck gaben. Eine derartige Barbarenbenennung wird nun gelegentlich in reflexivem Satzbau gegeben, der dann wieder aktiv oder passiv sein kann: „dieses Volk nennt sich so und so" oder „dieses Volk wird von sich so und so genannt". Als Beispiele für die aktive Form sind mir bekannt geworden: Herod. IV 18, 6 Hwbftui yeco^yoC, ro-ug "ElXrjvss

1) Die yXwaaai i&vixaL im Hesychios sind von M. Schmidt in seiner Aus- gabe vol. IV fasc. X (Jena 1864) S. 153 ff. zusammengestellt worden.

2) BccQßaQcov für iy^cogiav Herod. VII 63, 6 ovroi intb (ihr 'EXXtJv&v v.aXiovxai Lvqioi, v%b db xmv ßaQßägcov jl66vQtoi £y.Xrj&r\6a.v. Auch ohne diesen Gegensatz, bloß v%b vav £y%cDQiwv, z. B. Strabo VI 283 Uevusriav Kai Aclvv'küv (X7]d' oXcag Xeyo[i£veav vitb r&v £yxo)Qiiov itXy\v sl rb TtaXaiov, a.7tä6ng dk xa.vxr\g xfjg %d>Qag krcovXiag Xsyo(i£vr}g vvvi, ähnlich 277. Diodor V 13, 3. 17, 1. So ab indigenis oder ab incolis Plinius IV 53. VI 71. Natürlich treten oft auch für die allgemeine Bezeichnung der „Eingeborenen" bestimmte Eigennamen ein, z. B. Herod. VH 72 ol Evqioi ovxoi iao IJsqgscov KannadÖKcci ■x.aXiovxat. Plinius VI 120 sunt qui tradunt Euphraten . . . ab Assyriis universis appellatum Narmalchan, quod significat regium flumen. 179 sie prodidit Bion, Iuba aliter: oppidum in monte Megatichos inter Aegyptum et Aethiopiam, quod Arabes Mirsion voeaverunt; vgl. IV 53.

Volks- und Ortsbenennungen 347

. . . xaXeovCi BoQvöd-evetxag, öcpsag de avxovg 'OXßiortoXCxag. Agatharchides über das Rote Meer bei Photios bibl. cod. 250 § 6 ort ovde cctc6 xivog xäv xov ÜSQöecog kyyövcov d^iol ourog, xaCxoi tcoXXcov Xeyovxcov, xtjv xXx\6iv xovg Ilegöag xXrjgäö'aG&aL' inqde yäo kxeivovg öcpäg avxovg üeoGag naoo^vxov&g övoiidfeiv, dXXd IleoGäg. Poseidonios bei Plutarch Mar. 19 6<päg avxovg ovxag (Bc/AixßoGJveg) xaxä yevog övo^id^ovdL ACyveg. Cassius» Dio XL IX 36 (gegen die Vermengung der Namen Paionen und Pannonier) eyb ixstvovg fiev JlaCovag, xovxovg de IlavvovCovg, (oöiteo itov xal avxol s avxovg xal 'Pojialoi 6cpag xaXovßi, itQoöayoaevo'G). Schol. B zu B 5 17 (fräxog* acp' ov (&G)xeag avxovg covo^iaöav. Ein lateinisches Beispiel bietet Sallust in der Ethnographie Afrikas (lug. 18, 7) quia saepe temp- tantes agros alia, deinde alia loca petiverant, semet ipsi Nomadas appellavere.1) Größeres Interesse bietet für uns die passive Form. Gelegentlich findet sie sich in der Art, mit der Caesar seine Memoi- ren eröffnet. Wir hatten schon oben ( S. 279 ) gesehen, daß der Typus der ersten Worte Gallia omnis, worauf die einzelnen in ihr wohn- haften Volksstämme genannt werden, hellenischen Charakter trägt, und das gilt auch von dem über den dritten dieser Stämme Gesagten: qui ipsorum lingua Celtae, nostra Galli appellantur; das Ganze müssen wir uns griechisch etwa so umdenken: t) övpjtaöa TaXaxia XQiyfiig dirjorjxai, xal xb iiev Ttowxov [i£Qog olxovöt BeXyai, xb de devxeoov 'AxvLxavoC, xb de xoCzov ol vivo phv xdv 'PapaCav rdXXot, xaxä de xijv iavxäv didXexxov KeXxol xaXov[ievoL.2) Aber völlig gleichartig dem Taciteischen Ausdruck a se ipsis vocarentur ist folgende Art der passiven Form: Herod. VII QlexaXeovxo de ndXai vnb per *EXXr\v<üv KrjcpTJveg, vitb ftevxoi <5(psav avxäv xal xäv n&qiotxav Aoxatoi.3) Josephus Arch I 6, 2 Ai&loxeg exi xal vvv v%6 xe eavxav xal xäv kv xrj AeCcc Tidvxmv Xovöaloi xaXovvxai.

1) Vergleichbar, ohne daß es sich jedoch nm einen Barbarennamen handelte, ist auch Plinius V 121 Myrina quae Sebastopolin se vocat.

2) Vgl. beispielsweise Diodor III 31,1 (aus Agatharchides) ävSgss vnb y.hv x&v 'EXXqvcov xalovfisvoi, Kvvapolyoi, xccrcc dh xr\v xwv ttXrjGio^oopwv ßagßdQav diäXsxxov "AyQioi. Nach griechischen Quellen auch Plinius V 1 Africam Graeci Libyam appellavere . . . Populorum eius ojipidoruvique notnina rel viaxime sunt ineffabila praeterquam ipsorum Unguis, cf. 13. 45.

3) Vgl. VII 62 avxol nsoi 6(pi<ov aide Xiyovöi Mfjöoi. Diodor IV 1, 6 xov nag ccvxoig &bov "Oöiqiv 6von<x£6 UEVOV.

348 Kap. V. Die Entstehungsgeschichte des Germanennamens

Diese mühselige Darlegung über ethnologische Namengebung mag mit ein paar Textstellen beschlossen werden, die die für die Erklärung des Taciteischen Satzes wichtigsten Einzelheiten in sich befassen: das Über- greifen der Benennung eines Teiles auf das Ganze und das Nebeneinan- der der Bezeichnungen des Ursprungs und des Urhebers mit den Präpo- sitionen a%6 und vno = a. Josephus beginnt seine Archäologie mit einem großen Völkerkataloge. Dieser war darauf berechnet, hellenischen und römischen Lesern zu imponieren, und wird seine Wirkung, soweit dieses Werk überhaupt Leser außerhalb der jüdischen und später der christlichen Kreise fand, wohl nicht verfehlt haben, da sein Verfasser mit schwerem, freilich von anderen erborgtem llüstzeuge auf den Plan trat und seine „barbarische", aber uralte Ethnologie ganz in die typischen Formen der hellenischen einkleidete (ein Wett- lauf mit Herodot und Thukydides ist unverkennbar). Wir konnten dementsprechend schon oben (S. 324) Einzelheiten dieser jüdischen Archäologie für die Deutung der germanischen verwerten; hier mögen noch zwei Stellen aus ihr Platz finden, die ich nun, ohne weitere Bemerkungen daran zu knüpfen, hersetzen kann. Arch. I 6, 1 f. Mayäyrjg rovg m' avtov Mccycoyccg övoiiuö&svt ag äxiGe, Uxvfrug de v% ccvtav (sc. r&v 'EXXyjvav) TtQOöayoQSvopevovg. %6>v de Iaqt&ä itaidcov 'Iccvccvov xcci Mädov, ä%b [ihv tovtov Madalov yCvovtai e&vog, ol ftQog 'EXXtjv&v Mfjdoi xixXyyvrcu, aitb de Iavdvov "lovCcc xcd jtdvteg "EXXrjveg yeyövccöcv . . . ^[lec&ovg de 'Atidd'ovv xaTGJxtöEVy i']Tig iötl xal vvv vitb [iev täv l7ti%coQicov jilia&r] xaXov(ievrj, Maxedöveg de avrr)v 'EjfKpdvetav äq> evbg täv djtoyövcov ^Ttcovö^iaöccv. Varro hatte sich in dem Werke De lingua latina viel mit Etymologien von Völkernamen zu beschäftigen; dieses Werk bot uns daher einige Beispiele für die Präposition a in doppelter Bedeutung (o. S. 343). In folgender Stelle der Anti- quitates divinae sehen wir das ethnologische Schema auf ein anderes Objekt übertragen: Lactantius div. inst. I 6, 7 M. Varro . . . in libris rerum divinarum . . . SibyUinos libros ait non fuisse anius Sibyllae, seä appellari uno nomine SibyUinos, quod omnes feminae vates Sibyllae sint a veter ibus nuncupatae vel ab unius Delphidis nomine vel a consiliis deorum enuntiandis.

Wenn Müllenhoff Stellen dieser Art gekannt hätte, würde er den Taciteischen Satz richtig gedeutet haben: denn was in ihm gesagt

Volks- und Ortsbenennungen 349

sein müßte, war ihm nicht verborgen, nur wagte er es nicht, dem Tacitus die „Verschrobenheit" zuzutrauen, daß er die Präposition innerhalb so geringen Zwischenraums in verschiedener Bedeutung gebraucht habe; daher nahm er zu der erwähnten Grimmschen Kon- jektur (a victoj seine Zuflucht. Um so größer war meine Freude, als ich, schon an dem Schluß meiner Untersuchungen angelangt, fand, daß vor mehreren Jahrhunderten von einem um Tacitus auch sonst verdienten holländischen Philologen ohne jeden gelehrten Ballast, bloß auf Grund seines Scharfsinns und seines Gefühls für das sprachlich Mögliche diejenige Erklärung gegeben worden war, von deren Richtigkeit ich mich erst nach umständlichstem Zeugen- verhör hatte überzeugen lassen: Marcus Zuerius Boxhorn1), In Tacitum animadversiones, Amstelodami 1643, S. 57 f. Das Hoch- gefühl seines Stolzes, der 'locus vexatissimus' sei von ihm gedeutet, wird man begreifen, wenn man bedenkt, daß auch wirklich Große, 1574 J. Lipsius, 1616 Ph. Cluverius, gänzlich in die Irre gegangen waren. Seine Hoffnung freilich, die er in zuversichtlichen Schluß- worten zum Ausdruck gebracht hat, hiermit seien die Akten end- gültig geschlossen, hat sich in ihr Gegenteil verkehrt: seine Stimme ist fast ungehört verklungen. Da es nun aller Erfahrung wider- spricht, daß es gelingen könne, eine jahrhundertelange Streitfrage zu dem allgemeinen Zugeständnisse des ovxen TtQÖßkrj^ia eötv zu führen, so wird es denjenigen, die meine Beweisführung bekämpfen wollen, erwünscht sein, die eindrucksvollen Worte des alten Ge- lehrten, dessen Buch nicht leicht zugänglich ist, hier anmerkungs- weise zu lesen.2) Auch die Namen derjenigen, die nach Boxhorn

1) Sein eigentlicher Name war Sueris, er nannte sich Boxhorn nacli seinem Großvater mütterlicher Seite. Er -wurde geboren 1612 zu Bergen op Zoom (in Nordbrabant), studierte in Leyden, wo er 1632 Professor wurde und 1653 etarb. (Nach Fr. Aug. Eckstein, Nomenciator philologorum.) Den Ammianus- editoren ist er durch seine Ausgabe vom Jahre 1632 bekannt. Seine Plautus- ausg. (1645) wird von Fr. Ritschi, Op. II 152, ungünstig beurteilt, aber Leo hat in der adn. crit. seinen Namen doch gelegentlich der Erwähnung für wert befanden, z. B. für die scharfsinnige Erklärung eines schwierigen Verses Stich. 192.

2) „Locus integerrimus est, si modo sie distinguas: primo a victore ob tnetum, mox a seipsis, invento nomine, Germani vocarentur. Nomen Germanorum olim non totius gentis fuit, sed unius modo nationis, eins nempe quae postea dieta est Tungrorum. neque exstiterat vocabulum inte Germanos, quo omnes

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350 Kap. V. Die Entstehungsgeschichte des Germanennamens

durch logische Gedankenanalyse alles oder das meiste so verstanden haben, wie ich es als richtig erwiesen zu haben glaube, seien in einer weiteren Anmerkung genannt.1)

Das quellenkritische Ergebnis dieses Kapitels ist in erwünschter Übereinstimmung mit dem früher gewonnenen. Griechischer Stem- pel ist dem Namensatze aufgeprägt. Das Herodoteische Gewand der skythischen Archäologie ist der germanischen übergestreift, sein Gewebe mit einem Ornament der hellenischen Archäologie des Thukydides verziert. Die ethnographische Terminologie ist bis zu dem Grade griechisch, daß der Doppelgebrauch einer und derselben lateinischen Präposition erst recht verständlich wird, wenn man sie in die griechische Sprache zurückübersetzt, in der sie sprachlich unterschieden war. Als Gewährsmann kann nach unseren früheren Darlegungen nur Timagenes in Frage kommen; es trifft sich gut,

in Universum appellarentur ... At vero cum Tnngri, soli olim Germani appellati, primi Rhenum transgressi Gallos expulissent et feliciter gestis rebus nominis sui terrorem ac celebritatem longe lateque auxissent, Galli, atque aliae proximae nationes, omnes Transrhenanos istos populos Germanorum nomine insignivere. Hoc est illud quod dicit: primo a Victore ob metum Germanos omnes esse vocatos. Alii exteri nimirum, ut Galii, a victore popuio, tunc Germanorum, postea Tungrorum nomine insigni, omnibus Transrhenanis Germanorum vocabulum indiderunt. Transrhenani autem, cum illud generale, quo omnes designarentur, nomen iam ab aliis, ut Gallis, esset inventum, haud gravatim ipsi quoque inter se illud admisere, quod neque inconveniens esset unum aliquod extare quod commune esset omnibus nomen, neque dedecorum, id nomen ab omnium fortissima celebratissimaque postea Tungrorum dicta gente mutuari. Hoc vult Tacitus, cum addit, mox a seipsis, invento nomine, Germani vocarentur. Nemo in posterum dubitabit, quin vexatissimi loci ea sententia sit, quam exposuimus."

1) G. L.Walch, Emend Liv., Berl. 1815, 79 (zustimmend W. Boetticher, Lex. Tac, Berl. 1830, 3); F. Hand, Tursellinus IV, Leipz. 1845, 360 (s. v. ob); W. Th. Rudolphi, Observationes gramm. et crit. in Taciti Germaniam, Diss. Münster 1855, 21 f.; Watterich, Der deutsche Name Germanen, Paderborn 1870, 46ff.; G. Egelhaaf, Ausg. der Germania, Gotha 1885; G. Ammon, Cbers. d. Germ, (mir nur bekannt aus Birt, D. Germanen 90, Münch. 1917, 90, der ihr seine eigne, gänzlich verfehlte entgegenstellt). Diese alle sind unabhängig voneinan- der zu ihrer Auffassung gelangt. Den ersten Teil des Satzes haben richtig verstanden auch Leibniz (seine Worte werden weiterhin angeführt werden) und Zeuß, S. 60 Anm.

Ergebnis für die Quellenkritik 351

daß wir unter den Belegen für jene Terminologie auch einen ihm gehörigen fanden (S. 324). Die Darlegung des Timagenes ist dann durch den Livianischen Germanenexkurs des C1V Buches hindurchgegangen und hier erweitert worden; in einer besonderen Formung der Worte (natio, non gensj glaubten wir den Charakter Livianischer Ausdrucks- weise wiederfinden zu dürfen, die eine beiläufige Polemik gegen Caesar enthielt. Daß Tacitus den Exkurs des Livius kannte, ist nicht zu bezweifeln. Aber wahrscheinlich hat er ihn hier nur durch die Vermittlung des Plinius benutzt, da dieser der jüngste von ihm in der germanischen Urgeschichte verwertete Autor war. Die Tat- sache, daß wir im sprachlichen Ausdruck mehrere Übereinstimmungen mit der Naturgeschichte fanden Vorliebe für die Phrase nomen invenire (S. 337,1), doppelte Gebrauchsweise der Präposition a bei keinem Autor so oft wie bei ihm (S. 344) , dient dieser Annahme zur Bestätigung. Endlich vergleiche man die Taciteische Satzform primum a Victore . . ., mox etiam . . . invento nomine Germani vo- carentur mit der Plinianischen XXVI 2 lichenas appellavere latine . . . a mento ioeulari primum lascivia, mox et usurpato vocabulo mentagrano.

SECHSTES KAPITEL

ETHNOLOGISCHE, ONOMATOLOGISCHE UND

GESCHICHTLICHE FOLGERUNGEN

BERÜHRUNGEN VON KELTEN- UND GERMANENTUM

M. Haupt liebte es, auf den methodischen Gesichtspunkt hin- zuweisen, daß man das durch Interpretation gewonnene Verständnis der subjektiven Meinung eines Schriftstellers zu sondern habe von der objektiven Gewähr. Demgemäß müssen wir nun die Angaben des Taciteischen Germanensatzes einer Prüfung unterziehen. Sind die Voraussetzungen, aus denen die quidam des Tacitus ihre Schlüsse zogen, begründet genug, um ihnen historische Glaubwürdigkeit zuzu- erkennen ?

Die folgende Untersuchung gliedert sich, entsprechend den Ent- wicklungsstadien, die der Germanenname durchlaufen haben soll, in drei Teile: Germani als Stammname, als Volksname in Feindesmund, als Volksname zur Selbstbezeichnung.

352 Kap. VI. Ethnologische, onomatologische u. geschichtl. Folgerungen usw.

I. GERMANI ALS STAMMNAME

Die Taciteischen Berichterstatter haben Versuche erwähnt, größere Verbände des Germanenvolkes durch Sammelnamen wieSuebi, Vandilii, die in hohes Altertum hinaufreichten, zu bezeichnen, und fahren in diesem Zusammenhange so fort:

„Der Name Germania jedoch sei jung und unlängst hin- zugefügt, da diejenigen, die zuerst den Rhein überschritten und die Gallier vertrieben hätten, die jetzigen Tungri, damals Ger- mani genannt worden seien . . ." Die Zeitbestimmung „jung und unlängst hinzugefügt" bezieht sich auf Germani nicht als Stammname, sondern als Gesamtbezeichnung. Obwohl der Schriftsteller Germaniae vocabulum sagt, um durch die Wahl des Landesnamens die Gesamtheitsvorstellung unmißverständ- lich zum Ausdruck zu bringen, und obwohl der Verbalbegriff addüum1) seinen genauen Sinn nur unter der Voraussetzung hat, daß der den alten Volksgruppennamen neu „hinzugefügte" Name mit jenen be- griffsverwandt ist, also wie sie einen Komplex bezeichnet, so ist doch auch dies vielfach mißdeutet worden. Die späte Zeit, in der Germani als Volksname jenen alten Gruppenbezeichnungen an die Seite gesetzt wurde, läßt mithin keinen Schluß auf eine etwaige Jugend von Ger- mani auch als Stammname zu. Der Stammname kann vielmehr, un- beschadet der Jugend des Volksnamens, seinerseits in hohes* Altertum hinaufreichen. Daß bis zur Erhebung des Stammnamens zum Volks- namen ein langer Zeitraum anzunehmen sei, wird auch im zweiten Teile des Satzes, auf den der ausgeschriebene erste nur vorbereitet, durch die Worte, er, der Stammname, habe „erst allmählich Geltung gewonnen", deutlich angezeigt. Schließlich kommt, wie wir gleich sehen werden, der Begriff primi erst so zu seinem Rechte.

Als der Stamm über den Rhein kam, hieß er 'Germani'. Das sind dieselben, die jetzt 'Tungri' heißen. Diese Angaben enthalten einen Wink für den Gang, den die Prüfung dieses Satzes einzu- schlagen hat.

1) Gronovs verkehrte Konjektur auditum 6teht in den beiden neuesten er- klärenden Ausgaben der Germania (von E. Wolff 1915 und Gudeman 1916) im Text. Seneca Herc. f. 1237 quis nomen usquam sceleris errori addidit.

Das Belgae- Problem 353

1. DAS BELGAE -PROBLEM. ANALYSE EINES CAESARISCHEN BERICHTS

In den Worten qui primi Bhenum transgressi Gallos expulerint ist primi durch seine Stellung im Satze betont.1) Es haben ja auch später viele Germanenstämme den Rhein überschritten und dort an- sässige Gallier vertrieben: jene Späteren sollen ausgeschlossen werden, nur auf die „Ersten" kommt es an. Um nun eine relative Zeit- bestimmung für die Zeit des ersten Rheinübergangs eines Germanen- stammes zu gewinnen, haben wir zu fragen: wer hat nach diesen Ersten den Strom überschritten, und wann geschah das?

Eine untere Zeitgrenze bietet zunächst die Invasion der Kimbern und Teutonen in die römische Provinz, die bald nach dem Jahre 111 erfolgte. Über dieses Ereignis ist in anderem Zusammenhange oben (S. 224 ff.) das Nötige gesagt worden; es braucht hier nur durch eine Einzelheit ergänzt zu werden. Caesar sagt (II 29, 4) von den Aduatuci (zwischen Eburones und Nervii): sie seien Abkömmlinge der Kimbern und Teutonen, von diesen citra Bhenum zurückgelassen, um das geraubte Gut, das auf dem weiteren Zuge nicht mitgeschleppt werden konnte, zu bewachen.

Zeitlich höher hinauf scheint auf den ersten Blick eine andere Angabe Caesars zu führen. Auf sie müssen wir, obwohl sie sich bei genauerem Zusehen als für unsere Frage bedeutungslos erweisen wird, ausführlich eingehen, einmal deshalb, weil die Taciteische Be- richterstattung mit ihr irgendwie verknüpft zu sein scheint, dann aber auch um ihrer selbst willen: denn sie enthält eins der schwierigsten und bis auf die Gegenwart meistbehandelten Probleme germanischer Ethnologie, dessen Lösung immer wieder versucht werden muß.

Vor Beginn der belgischen Expedition des Jahres 57 zog Caesar bei den Gesandten der Remi, des einzigen ihm freundlich gesinnten Volksstammes der Belgae, Erkundigungen über belgische Wehr- verhältnisse ein. Sein Bericht darüber lautet (II 4): „Als er sie befragte, welche Gemeinden unter Waffen ständen, wie groß ihre Zahl und ihre kriegerische Tüchtigkeit sei, ermittelte er folgendes. Die meisten Belgae seien Abkömmlinge der Germanen und vor alters über den Rhein gegangen; wegen der Fruchtbarkeit der Gegend hätten sie sich dort niedergelassen und die ortsansässigen Gallier vertrieben/*

1) Daß darauf der Nachdruck liegt, zeigen auch die oben (S. 326) aus Strabo und Verrius Flaccus angeführten Stellen.

Norden: Die germanische Urgeschichte 2S

354 Kap. VI. Ethnologische, onomatologische u. geßchichtl. Folgerungen usw.

Cum ab iis quaereret quae civitatis quantaeque in armis essenl et quid in hello possent1), sie repericbat. Plerosque Belf/as esse ortos a Germanis Khenumque antiquitus traductos proptcr loci fertilitatem ibi consedisse Gallosque qui ea loca incolerent expulisse. Die Remi beginnen ihren Bericht also mit einer Angabe über die germanische Herkunft der Belgae, ohne daß Caesar sie aus- drücklich danach gefragt hätte. Aber da die Germanen bei den Galliern zu Caesars Zeit für den Inbegriff der Tapferkeit galten (1 1, 4), so ist diese Angabe der remischen Gesandten dem Sinne nach eine Antwort auf Caesars Frage nach der kriegerischen Tüchtigkeit der Belgae. Daher fahren sie auch fort: „Auch seien die Belgae die einzigen, die, als zur Zeit unserer Väter ganz Gallien heimgesucht wurde, den Teutonen und Kimbern das Betreten ihres Gebietes verwehrt hätten: in Erinnerung daran pochten sie auf ihr Ansehen und nähmen in kriegerischen Angelegenheiten ein hochfahrendes Wesen an." Der Caesarische Bericht von dem vor alters erfolgten Rheinübergang der „germanischen" Belgae stimmt mit dem Taciteischen von dem der Ger- mani qui primi Bhenum transgressi Gallos expulerint derartig überein, daß beide mit Recht oft nebeneinandergestellt und verglichen worden sind.2) Aber über die Art des Abhängigkeitsverhältnisses ist eine Einigung nicht erzielt worden, insbesondere nicht darüber, wie es zu erklären sei, daß es sich bei Caesar um die Belgae, bei Tacitus um die Germani handle. In der Tat ist die Beantwortung dieser Frage schwierig. Nur eine genaue Prüfung der Caesarischen Stelle verspricht Aussicht auf Erfolg.

Die Nachricht Caesars von der germanischen Herkunft der meisten Belgae scheint zunächst das höchste Gewicht zu besitzen: handelt es sich doch nicht um eine von ihm selbst aufgestellte und daher der Möglichkeit eines Irrtums ausgesetzte Behauptung, sondern um die Wiedergabe eines Berichtes der Remi, die selbst der belgischen Völker-

1) Die Ausdrucksweise klingt bemerkenswert an das neue Enniusfrag- ment 222 V. an: quantum is consiliis quantumque pgtesset in armis (über die

Schreibung des Anfangs: W. Jaeger, Hermes LI 1916, 312 f.), wo es sich um eine Erkundung der militärischen Lage Alexanders d. Gr. von seiten der Karthager handelt. Die Kongruenz zeigt, wie echt römisch empfunden die Ausdrucksweise war, und wie prosaisch Ennius gelegentlich stilisierte.

2) Zuerst wohl im Jahre 1616 von Ph. Clüwer, Germania antiqua I 87.

Das Belgae- Problem 355

gruppe angehörten. Es ist daher nicht zu verwundern, daß sich dieses Zeugnis lange Zeit unbeschränkter Glaubwürdigkeit erfreute.1) Erst Zeuß wagte es anzuzweifeln (Die Deutschen usw. S. 60. 190), auf seine Seite traten Müllenhoff (II 166. 197 f.) und andere.2) Aber ihre Be- weisführung wurde bald darauf und wird gegenwärtig von angesehe- nen Forschern auf dem Gebiete der germanischen Altertumsforschuno- bestritten.3) Nun ist zuzugeben, daß die von Zeuß und seinen Nach- folgern vorgebrachten Gründe nicht durchschlagend genug waren, um die Beweiskraft eines mit dem Gewicht epichorischer Beglaubigung auftretenden Zeugnisses zu erschüttern. Und doch wäre eine Ver- ständigung darüber erwünscht, ob es statthaft sei, Untersuchungen über germanische Stammesgeschichte mit dem Caesarischen Zeugnisse zu beginnen.4)

Lassen wir zunächst einmal die spezielle Behauptung einer „ger- manischen Abstammung der meisten Belgae" außer Betracht und fassen nur die Voraussetzung dieses Anspruchs ins Auge, die in der allgemeinen Behauptung eines „vor alters erfolgten Rheinüberganges" (Rhenum antiquitus tradudos) zum Ausdruck gelangt. Was wissen wir denn überhaupt von der all erältesten Besiedelungsgeschichte links- rheinischen Gebietes durch Völkerzüge vom rechten Ufer? Die Ge- ringschätzung, der das Keltische bei den meisten Philologen begegnet, und anderseits die Gleichgültigkeit der meisten Prähistoriker gegen- über Textüberlieferung haben zur Folge gehabt, daß jene Frage noch

1) Die Ansichten der Forscher vor Zeuß nnd die älteren Angriffe auf ihn sind aufgeführt und zutreffend beurteilt von H. Brandes, Das ethnographische Verhältnis der Kelten und Germanen, Leipz. 1857, 74ff. Dieser eindringenden Monographie wird vor allem die Widerlegung der unwissenschaftlichen Arbeit von A. Holtzmann, Kelten u. Germaneu, Stuttg. 1855, verdankt, die sich bei manchen trotzdem noch immer eines gewissen Ansehens erfreut.

2) Ihre Namen bei Kossinna a. a. 0. (0. S. 340, 2) 274. Dazu jetzt auch Fr. Kauffmann, D. A. 251, 5, der sagt: ,;Caesar hat den Sachverhalt auf den Kopf gestellt."

3) R. Much, Die Germanen am Niederrhein (Beitr. z. Gesch. d. deutsch. Spr. u. Litt. XVII 1893) 168 ff., das Eingehendste, was in dieser ganzen Frage ge- schrieben worden ist. Auch Kossinna (s. vor. Anm.) scheint sich dieser An- sicht anzuschließen. Wir werden sehen, daß es Verständigungsmöglichkeiten zwischen den Parteien gibt.

4) Dies ist jetzt eine häufige Praxis, z. B. Fr. Stein, Tacitus u. seine Vor- gänger über germanische Stämme, Stuttg. 1904, lff.

23*

356 Kap. VI. Ethnologische, onomatologische u. geschieht]. Folgerungen usw.

niemals in dieser Form gestellt worden ist. Daß ein Versuch, sie zu beantworten, Hypothetisches in sich schließen muß, versteht sich von selbst; übrigens wird die weitere Beweisführung gänzlich unab- hängig von der hier zunächst zu entwickelnden Hypothese gestaltet werden.

In der von uns bereits oft herangezogenen gallischen Kolonisations- legende des Timagenes -Ammianus (XV 9), deren zusammenhängender Text oben (S. 50 ff.) abgedruckt worden ist, heißt es 4): „Die Druiden berichten: in Wahrheit sei ein Teil des Volkes eingesessen gewesen, aber andere seien, durch häufige Kriege und durch eine Sturmflut aus ihren Sitzen vertrieben, von den äußersten Inseln und den Strichen jenseits des Rheins zusammengeströmt" (Dryidae memorant re vera f wisse populi partem indigenam, sed alios quoque ab insulis extimis confluxisse et tractibus transrhenanis, crebriiate bellorum et adluvione fervidi maris sedibus suis expulsos). Hier hören wir also von der Invasion eines Teiles der keltischen Nation aus der jenseitigen Rhein- gegend in das nördliche Gallien. Nun ist freilich Timagenes ein nicht immer verläßlicher Autor, und Bedenken gegen eine nur bei ihm sich findende Überlieferung sind angebracht. Das Zeugnis der Druiden könnte er fingiert, das Motiv der Sturmflut von den Kim- bern auf die Kelten übertragen haben.1) Allein in diesem Falle ginge das Mißtrauen zu weit.2) Denn die neuere Forschung ist, unabhängig davon, zu demselben Ergebnisse gelangt: sie hat eine gewaltige Völker- bewegung erschlossen, die, in der Richtung von Ost nach West erfolgend, die Kelten aus Böhmen, Süd- und Mitteldeutschland in das west- lichste Gebiet des kontinentalen Europa und weiterhin nach Britannien

1) Vgl. Anhang. III.

2) Ich halte es daher für gerechtfertigt, daß C. Iullian, Hist. de la Gaule I (Paris 1908) 227 ff., die Angabe des Timagenes seinem Kap. 'La migration des Celtes' zugrunde legt. Dagegen muß ich die Verwertbarkeit eines an- geblichen Zeugnisses des Avienus (Ora mar. 129 ff.) in Abrede stellen. Die Gründe dafür beizubringen, würde viel zu weit führen; ich muß mich darauf beschränken, zu sagen, daß die Deutung der Verse . durch F. Marx (Rh. Mus. L 1895, 321ff.) und Iullian (a.a.O. 228. 244) verfehlt ist, wie ich mich in einem Gespräche mit H. Philipp, der als Schüler Sieglins genaue Kenntnis von der Komposition und der Ausdrucksweise des unvergleichlich wichtigen Avienischen Periplus besitzt, überzeugt habe. Dagegen werde ich weiterhin von den Versen einen sehr viel begrenzteren, aber wohl einwandfreien Gebrauch machen.

Keltenwanderungen ans Germanien nach Gallien 357

geführt hat, dag folgenreichste Geschehnis der nord- und mitteleuro- päischen Geschichte, soweit diese uns einigermaßen kenntlich ist. Die Anfänge dieser Begebenheit, deren Verlauf sich über eine nicht meß- bare Zeitspanne erstreckt haben muß, verlieren sich in unvordenkliche Zeiten1), in deren Dunkel kein Schimmer geschichtlicher Überlieferung fällt; aber die Prähistorie hat, von der Sprachwissenschaft unterstützt, in behutsamem Vortasten das Geschehnis als solches außer Frage gestellt.2) Dagegen sind die Ausläufer der Bewegung einigermaßen greifbar: die Auswanderung der Bituriges vom Herkynischen Wald an die untere, der Volcae ebendaher an die obere Garonne3), der ursprünglich wohl im Odenwald ansässigen Santones in die Gegend zwischen Garonne und Loire am Ozean.4) Die Zeit dieser Wande- rungen ist unbekannt, aber Aquitanien als Ziel der Züge scheint mir die Annahme zu empfehlen, daß in dem übrigen Gallien kein Platz für neue Zuwanderung mehr vorhanden war, es sei denn, daß er durch Gewalt hätte erzwungen werden müssen, wie später von den stammfremden Sueben des Ariovist und vorher von den Kimbern. Je mehr ich diese Verhältnisse erwogen habe, um so wahrschein- licher will es mir vorkommen, daß die Kimbernzüge mit den aller- letzten Ausläufern der Keltenzüge in Verbindung gestanden haben. Seit Jahrhunderten waren die keltisch-germanischen Völkerschiebungen im Gange; ihr Ergebnis war Abdrängung des Keltentums und Aus- dehnung des Germanentums. Die Kimbernzüge, die uns infolge der mit ihnen einsetzenden literarischen Überlieferung als Beginn der germanischen Völkerwanderung erscheinen, waren nach Ausweis der bodengeschichtlichen Forschung, die gelegentlich durch die lingu- istische unterstützt wird, in Wahrheit nur eine freilich mächtige Teilerscheinung, eine besonders hohe Woge auf dem wildbewegten Meere jahrhundertlanger Völkerbewegungen, durch deren endliches

1) G. Kossinna, Die Herkunft der Germanen (Würzb. 1911) 22 f. setzt die Ausbreitung der Kelten von ihrer Urheimat in Böhmen an das Ende der Früh- periode der Bronzezeit, d. h. um 1800 1700.

2) Eine hervorragend genaue Diskussion diesar Verhältnisse bietet T. Rice Holmes, Caesar's Conquest of Gaule (Lond. 1899) 245 ff. Dagegen stehe ich dem Buche von Bertrand und S. Reinach, Les Celtes dans les vallees du et du Danube (Paris 1894) gänzlich ratlos gegenüber.

3) Vgl. 0. Hirschfeld, Sitzungöber. d. Berl. Ak. 1896, 453 ff. = Kl. Sehr. 235 ff

4) Vgl. C. Zangemeister zum CIL XIII 2, lp. 283 nr. 6607.

358 Kap. VI. Ethnologische, onomatologische u. geschichtl. Folgerangen usw.

Ergebnis das ethnologische Profil Nordeuropas seine entscheidende Gestalt erhielt. Mag uns auch das Versagen schriftlicher Überlieferung die Erkenntnis von Einzelheiten verwehren, so wird man doch dieser Auffassung Wahrscheinlichkeit zubilligen, sofern man Rückschlüsse von bezeugten Tatsachen auf unbezeugte als berechtigt ansieht. Denn die Auswanderung der Helvetier aus ihren mitteldeutschen Stamm- sitzen, in denen sie Nachbarn der Santones gewesen waren, in die Nordschweiz war, wie wir bei anderer Gelegenheit sahen (o. S. 225 ff.), bereits abgeschlossen, aber noch nicht seit langer Zeit, als die Kimbern sieb im Jahre 111/10 den Durchzug durch ihr Gebiet verschafften, und wenige Jahre darauf (107) wurden zwei helvetische Gaugenossen- schaften durch das Beispiel der Kimbern ermutigt, westwärts zu wandern mit der Absicht, sich wie ihre vorhin genannten Stammes- genossen neue Wohnsitze in Aquitanien zu suchen.

Die Keltenwanderung in westlicher Richtung ist also eine unbe- zweifelbare Tatsache: wir können uns ja auch, dank den hochbedeut- samen Entdeckungen des durch den Tod für sein Vaterland der Wissen- schaft zu früh entrissenen Joseph Dechelette, mit eignen Augen über- zeugen, daß die keltische Kultur, von Osten nach Westen sich aus- breitend, in Böhmen, dem alten Stammsitze der Boi1), dieselbe war wie in der Ringwallfeste Bibracte im Departement Saöne-et-Loire.2) Die Überlieferung des griechisch-römischen Altertums hat von der ge- schichtlichen Tragweite dieser Wanderun gen nichts geahnt und die ärgsten Fehlschlüsse begangen: nicht bloß die sonderbare gallische Wandersage,

1) Auch die Cotini, von denen es bei Tac. Genn. 43 heißt Cotinos Gallica lingua coarguit non esse Germanos, wird man für einen zurückgebliebenen kel- tischen Volkssplitter halten dürfen; sie scheinen etwa an der Grenze von Mähren und Ungarn gesessen zu haben.

2) Vgl. Dechelette, Le Hradischt de Stradonitz en Boheme et les fouilles de Bibracte, Etüde d'archeol. comparee. Congres arch. de Mäcon 1899, wieder abgedruckt in den Memoires de la soc. Eduenne, N. S. XXXII 1904, 127 ff. Diese Originalpublikationen sind mir unzugänglich , aber Dechelette hat das Wich- tigste daraus in seinem schon öfters von mir zitierten Manuel d'archeol. pre- hist. II 3 (Paiis 1914) 916 f. 981 ff. wiederholt. Das nahe bei Prag gelegene boische Oppidum (Hradischt s. v. a. „befestigter Platz") ist nach D.'s wahr- scheinlicher, auch von H. Dragendorff (' Bibracte' im Arch. Anz. 1910, 451f.) ge- billigter Vermutung um die Zeit der Räumung von Bibracte, in den letzten Jahren vor Beginn unserer Zeitrechnung, zugrunde gegangen, möglicherweise beim Eindringen der Marcomannen unter Marbod um das Jahr 12 v. Chr.

Keltenwanderongen aus Germanien nach Gallien 359

die wir aus unbekannter Quelle1) bei Livius Y34f. und Trogus-Iustinus XXIV 4 lesen, sondern auch Caesar VI 24 mit seiner (von Tac. Germ. 28 wiederholten) Annahme, daß die in Mitteldeutschland ansässigen Volcae aus Gallien ausgewandert seien, zeigen die falsche Orientierung West- Ost.2) Aber ein Schimmer des Wahren hat sich in einheimisch-kelti- scher Überlieferung erhalten. Timagenes leitet seine Nachricht, daß ein Teil des in Gallien ansässigen Volkes von Osten her über den Rhein eingewandert sei, aus der Druidentradition ab; ich finde keinen Grund, zu bezweifeln, daß im Gedächtnisse einer Priesterschaft, deren memoria Caesar (VI 14, 4) aufs nachdrücklichste hervorhebt, und deren Fortdauer nach der Caesarischen Eroberung noch für mehrere Generationen be- zeugt ist, solche Erinnerungen hätten fortleben und auf diesem Wege zur Kenntnis eines griechischen Literaten hätten gelangen können, der offenbar bemüht gewesen ist, wie einst Herodot über Ägypten, sich allerlei entlegene Überlieferung zusammenzusuchen. Hat sich doch auch unsere Vermutung, daß Timagenes es war, dem die hervorragend wichtigen Angaben der germanischen Urgeschichte bei Tacitus über

1) O. Hirschfeld, Sitznngsber. d. Berl. Ak. 1894, 343 ff. (= Kl. Sehr. 14 ff.), denkt „mit einer gewissen Zuversicht" an Cornelius Nepos. Aber zu irgend- welcher Gewißheit ist dabei nicht zu gelangen. Jung ist die Geschichte un- bedingt: über Aquitanien, von wo sie ihren Ausgang nimmt, ist noch Caesar ganz ungenügend orientiert, erst in Augusteischer Zeit, besonders mit dem Feldzuge des Messala (etwa im Jahre 28), trat es mehr in den Gesichtskreis, wofür Tibullus I, 7, 9 ff. der aus Autopsie berichtende Zeuge ist. Diese Erwä- gung scheint mir die Annahme nahezulegen, daß wir gar nicht nach einer schriftlichen „Quelle" des Livius suchen dürfen, sondern daß er die Geschichte als erster aufgezeichnet hat. Für die Möglichkeit mündlicher Tradition solcher Dinge sei auf die Schlußbemerkungen vorliegenden Buches verwiesen.

2) Nur aus dem Umstände, daß man sich diese Verhältnisse nicht vergegen- wärtigte, vermag ich es mir zu erklären, daß in moderner Literatur gelegent- lich von einer „Rückwanderung" dieses Stammes aus der neuen Heimat in die alte gefabelt wird. Diese Phantasie vermeidet B. Niese (Keltische Wanderungen Ztsch. f. deutsches Alt. u. Litt., N. F. XXX 1898. 137 ff), aber auf Kosten einer schweren Mißdeutung der Caesarischen Stelle: die Volcae am Herkyniscken Walde seien ganz und gar der Fabel zuzuweisen! Vielmehr war dies nebeu Böhmen einer der ältesten keltischen Sitze, die wir überhaupt kennen. Über die Volcae hat Müllenboff II 277 das Richtige kurz gesagt; wer sich nicht ent- schließen kann, an Caesars (und Tacitus') Irrtum zu glauben, überlegt sich nicht, daß Caesar von einer einstigen keltischen Besiedelung Germaniens keine Ahnung hatte, also einem Fehlschlüsse verfallen war.

V

3G0 Kap. VI. Ethnologische, onomatologische u. geschieht!. Folgerungen usw.

Tuistolieder und älteste Stammesgliederungen verdankt werden und zwar ihm allein, nicht etwa durch Poseidonios vermittelt , im Ver- laufe der Untersuchungen zu einer hohen Wahrscheinlichkeit ver- dichtet.

Sind wir nun aber berechtigt, diese Zeugnisse mit dem von Caesar wiedergegebenen Berichte der belgischen Gesandten in Ver- bindung zu setzen? Diese Frage muß verneint werden. Die Druiden- überlieferung ist das nimmt von vornherein für sie ein rein geographisch orientiert, sie spricht nur von einer Wanderung, und zwar der Kelten, in Richtung Ost -West. Dagegen behaupten die Remi einen Einbruch der Germanen, die sie ausdrücklich in Gegen- satz zu den Kelten setzen, und verwerten ihre Behauptung das spricht nicht zu ihren Gunsten zu genealogischem Zweck: pleros- que Beigas esse ortos a Germanis.1) Das miteinander ausgleichen zu wollen, wäre ein überaus bedenkliches Unternehmen.2) Vielmehr müssen wir den Caesarischen Bericht nur aus sich selbst heraus zu begreifen suchen.

Caesar führt den Bericht der remischen Gesandten an, ohne durch eine noch so leise Tönung des Ausdrucks zu verraten, daß er ihm mißtraue. Wird er dadurch also nicht zum Eideshelfer der germa- nischen Ansprüche der Belgae, und müssen wir nicht doppelt auf der Hut sein, ein von solchem Kenner der gallischen Verhältnisse weiter- gegebenes einheimisches Zeugnis zu beanstanden? Wir wollen, dem in diesen Untersuchungen oft befolgten Grundsatze entsprechend, die Worte in den Zusammenhang des ganzen Schriftwerkes, dem sie angehören, rücken: die Stellungnahme Caesars zu den wechsel- seitigen Beziehungen des Germanen- und Keltentums, deren Wesens-

1) Die Behauptung von H. Howorth, The Germains of Caesar (Engl. Historical Review XXIII 1908) 640 f., diese Worte seien rein geographisch zu verstehen, da Caesar von Germanen nie im ethnologischen Sinne spreche, ist unrichtig: er hat den ethnographischen Abschnitt in VI außer acht gelassen. Seine Schlußfolgerung, die Einwanderung der belgischen Germanen sei zwischen 107 und 60 (der Kimbern- invasion und kurz vor Caesars Ankunft in Gallien) erfolgt, ist gar nicht disku- tierbar.

2) Ich trete hier in Gegensatz zu 0. Bremer in seiner Ethnographie der ger- manischen Stämme (in H. Pauls Grundriß d. germ. Phil. III * 1900) 739. 772. Doch hat er, m. W. als einziger, die ohnehin wenig beachtete Stelle des Ammianus in diesem Zusammenhange verwertet.

Analyse eines Caesarischen Berichts 361

Verschiedenheit er zuerst scharf erkannte (o. S. 94 f.), muß dabei zur Sprache gelangen.

Yon einer Nation, die in unermeßlicher Menschenzahl und un- gebrochener Kraft jenseits des Rheins wohnte, durch Eroberungszüge einzelner Stämme auch auf das linke Stromufer hinübergegriffen hatte und sich dort in bedrohlicher Nähe der Reichsgrenze an- zusiedeln im Begriffe war, erfuhr man in Rom Genaueres erst durch die Berichte, die Caesar Jahr für Jahr an den Senat sandte (s. o. S. 87 f.). Mit der vorschauenden Kraft des strategischen Genies oder, wenn man lieber will, mit dem klaren und scharfen Gegenwartsblick für militärische Notwendigkeiten erkannte er in dem Germanentum einen besonders gefährlichen Gegner des Imperiums.1) Auch zog er aus der Geschichte der Vergangenheit Lehren für die Gegenwart und Zukunft. Er begründet sein Vorgehen gegen Ariovist mit folgender Erwägung (133,3): „In der allmählichen Gewöhnung der Germanen, den Rhein zu überschreiten, und in ihrem Übertritt nach Gallien mit einer großen Menschenmasse erblickte er eine Gefahr für das römi- sche Volk; auch war er der Meinung, sie würden in ihrer barbarischen Wildheit sich nicht enthalten, wie einst die Kimbern und Teutonen nach Okkupation von ganz Gallien die Grenze unserer Provinz zu überschreiten und von da nach Italien zu marschieren. Dem glaubte er so schnell wie nur möglich begegnen zu sollen."2) In der Tat hat sein Sieg über Ariovist der für Rom bedrohlichen Gefahr einer germanischen Oberhoheit in Gallien für Jahrhunderte ein Ende be- reitet. Es war nicht zu verlangen, daß der Imperator für seine Weit- sicht in der Hauptstadt Verständnis gefunden hätte. Seine politi- schen Gegner waren von ihrem Standpunkte aus sogar im Rechte, wenn sie den Krieg gegen Ariovist, der soeben erst zum Freunde und Verbündeten Roms erklärt worden war, als ein außerhalb der verfassungsmäßigen Befugnis des Statthalters liegendes, von ihm aus

1) Dies etwa ist die von Mommsen in der R. Gr. begründete Axiffassung. Ich sehe keinen Grund, von ihr abzuweichen; sie wird auch von A. v. Meß, Caesar (Leipz. 1913) 93 ff., vertreten. Intuitive Ausnutzung deB Moments, Caesars stärkste Seite (vgl. Lucanus 1146 ff.), schließt berechnende Voraussicht nicht aus; beides vereinigte auch Themistokles nach der Thukydideiachen Charakteristik.

2) Das Kimbern- und Teutonenmotiv wiederholt er I 40, 5 in seiner Rede an das entmutigte Heer (s. u. S. 362, 2), wendet es dort aber, der Sachlage entsprechend, anders.

362 Kap. VI. Ethnologische, onomatologische u. geschichtl. Folgerangen usw.

Ehrgeiz unternommenes Abenteuer ansahen1), eine Auffassung, die ja auch in der Meuterung des Caesarischen Heeres ihren Ausdruck fand.2) Als Caesar daher in den letzten Monaten des Jahres 52, nach Beendigung des Feldzuges gegen Vercingetorix, seine Memoiren nieder- schrieb, die eins der Mittel waren, dem in der Hauptstadt gegen ihn heraufziehenden Sturm zu begegnen, mußte ihm daran liegen, sein Ein- schreiten gegen die in Gallien eingebrochenen Germanen als militäri- sche Notwendigkeit zu erweisen. Für politische Motivierungen war in seinen, auf der Grundlage der militärischen Dienstberichte an den Senat ruhenden Memoiren kein Platz, aber die Beleuchtung, in die er die Geschehnisse rückte, ermöglichte es ihm, seinen Zweck auch ohne derartige Rechtfertigungsversuche zu erreichen. So wies er von vorn- herein auf die Wechselbeziehungen der sich gegenseitig bekämpfenden, aber in dem Hasse gegen das römische Imperium einmütigen keltischen und germanischen Nachbarvölker hin, die auf einzelnen Gebieten des gallischen Bodens dem alten Fehdezustande ein Ende zu machen und sich zu einer bedrohlichen Koalition gegen Rom zusammenzuschließen begannen. Das Germanentum ist im I. Buche und auf weiten Strecken des II. das eigentliche Leitmotiv, das ihnen vom Standpunkte des rück- schauenden Betrachters einen weltgeschichtlichen Hintergrund verleiht. Über ein paar beiläufige, nur als Mittel zum Zweck dienende ethno- graphische Sätze hinweg schreitet die Darstellung auf das Ziel hin. Die Germanen bilden den Gradmesser der Tapferkeit der gallischen Volksstämme. „Die Belgae sind von allen Galliern die tapfersten, weil

1) Caesars eignes Gesetz, die lex Iulia de repetundis, enthielt einen Ab- schnitt, wonach es dem Statthalter verboten war, bellum sua sponte gerere: Cic. in Pis. 50. Daß die Gegenpartei versuchte, ihn hierdurch zu Fall zu bringen, zeigt Suet. Iul. 24. Vgl. E. G. Sihler, C. Iul. Caes. (Leipz. 1912) 232 f.

2) Cassius Dio XXXVIII 35 : vor dem Kriege mit Ariovist ol 6tQariärat . . . i&QvXovv, ort Tiolsiiov oftrs TiQoerjxovra öftre it^>r\cpi6^,ivov diu xr]v ISiav zov Kai- gccqos cpikoxi[Liav ccvaiQoivro. Caesar selbst, der die drohende Meuterung der Soldaten 139 f. schildert, hat dies Motiv natürlich ausgelassen, aber der Qaellen- autor des Dio hat es richtig herausgefühlt. Daß dies Livius gewesen ist, der überhaupt „die gallischen Kämpfe scharf als reinen Eroberungskrieg charakteri- sierte" (E. Schwartz, ß. E. III 1707), darf als sicher bezeichnet werden. Dio hat das Motiv auch an einer Stelle (c. 41) der langen Rede verwertet, die er, auch darin dem Livius folgend (per. CIV), Caesar bei dieser Gelegenheit halten läßt, indem er die von Caesar selbst berichtete Ansprache zu einer Art von programmati- scher Aktion ausgestaltete.

Analyse eines caesarischen Berichts 3ß3

sie ... den jenseits des Rheins wohnenden Germanen am nächsten sind, mit denen sie in dauernder Fehde liegen. Aus diesem Grunde ist die Tüchtigkeit auch der Helvetier größer als die der übrigen Gallier, weil sie sich fast in täglichen Grenzstreitigkeiten mit den Germanen messen" (1 1, 4). Unmittelbar darauf folgt nach Aussonderung der längst als solche er- kannten Interpolation 5—7), durch die auch der machtvolle Gedanken- bau gesprengt wird1) die Schilderung des Helvetierkrieges (c. 2—29) und des Germanenkrieges (30 54), bei dem die Kimbern und Teuto- nen, wie bemerkt, nicht vergessen werden. Hiermit schließt das I.Buch; die Worte „Caesar reiste, nachdem er in einem Sommer zwei gewaltige Kriege gänzlich beendet hatte, zur Abhaltung eines Ge- richtstages in das diesseitige Gallien" verleiben ihm einen stolzen Ab- schluß. Das II. wird zum weitaus größten Teile mit der Erzäh- lung des Beigenkrieges ausgefüllt (1 28). Der kleinere Teil des Buches (29—33) enthält den Bericht über den Krieg mit den Atuatuci, einer in der Belgica wohnhaften Bevölkerung, von der bemerkt wird, sie seien Abkömmlinge der Kimbern und Teutonen (29, 4). Mit ein paar Zeilen wird dann der Unterwerfung der Völker der Aremorica durch P. Crassus gedacht (34).2) Endlich der Schlußeffekt (35): die transrhenanischen Germanen schicken auf die Kunde solcher Siege eine Gesandtschaft an Caesar, um ihm ihre Ergebenheit zu bezeugen, und in Rom wird auf seinen an den Senat gesandten Bericht ein fünf- zehntägiges Bitt- und Dankfest beschlossen, „was vor dieser Zeit niemandem zuteil ward". Das in diesen tönenden Akkord aus-

1) Die Verteidigung der Paragraphen durch R. Koller, Geographica in Caesars Bell. Grall., Wien. Stud. XXXVI (1914) 140 ff. ist ebenso mißlungen wie die gesamte Abhandlung. Wer an die Echtheit all dieser, von den namhaftesten Caesarkennern als Interpolationen erwiesenen Abschnitte glaubt, dem bleibe das unverwehrt; er darf aber nicht den Anspruch erheben, andere, die Sinn für Komposition und Sprachgefühl besitzen, überzeugen zu wollen.

2) Die ehrenvolle Erwähnung des Legaten, des jüngeren Sohnes von Caesars altem politischen Bundesgenossen, an so sichtbarer Stelle ist be- absichtigt. Auch im I. Buch wird er kurz vor dessen Schluß (c. 52) wegen seines entscheidenden Eingreifens in die Schlacht gegen Ariovist rühmend ge- nannt, desgleichen im III. (c. 27), in dem er zeitweise fast im Mittelpunkte steht (Unterwerfung Aquitaniens). Durch diese Auszeichnung hat Caesar dem jungen Offizier, der bald darauf in die Katastrophe seines Vaters hinein- gezogen worden war, ein Denkma setzen wollen.

364 Kap. VI. Ethnologische, onomatologische u. geechichtl. Folgerungen usw.

klingende 11. Buch1) hebt nun mit einem Auftakte an: die remi- schen Gesandten machen genau genommen ungefragt jene furchterregenden Eröffnungen über die „germanische" Nationalität der Belgae (o. S. 354). Die Absicht ist unverkennbar. Die bei Beginn des I. Buches in eignem Namen gemachte Angabe, daß die Belgae den rechtsrheinischen Germanen nächstbenachbart und daher besonders tapfer seien, wird bei Beginn des IL (c. 4) gesteigert zu der im Munde der Remi besonders maßgebend erscheinenden Behauptung, daß die meisten Belgae von den Germanen abstammten und ihre Tapferkeit durch die ihnen allein in ganz Gallien geglückte Abwehr der Kimbern und Teutonen bewährt hätten. Durch die weiteren Worte der Remi „in Erinnerung daran pochten die Belgae auf ihr Ansehen und nähmen in kriegerischen Angelegenheiten ein hoch- fahrendes Wesen an" wird ein Übergang zu ihrer Wehrmacht erzielt (de numero eorum omnia se habere explorata Remi dicebant usw. § 4 ff.), ein Übergang, dessen Eleganz mehr dem klug berechnenden Schrift- steller, und dessen Hinweis auf die kimbrischen Schrecknisse der Vergangenheit mehr dem „Erben des Marius" zu Gesichte stehen als den remischen Gesandten Iccius und Andebrogius.2) Die riesige Zahlenangabe der belgischen Wehrmacht hat ihre Wirkung auf die Leser gewiß ebensowenig verfehlt wie im ersten Buche die der helve-

1) B. I und II bilden schriftstellerisch eine Einheit; um sie nicht zu zer- stören, hat Caesar den Bericht über den mißglückten Feldzug des Ser. Galba gegen die Alpenvölker am Genfer See, der Ende 57 stattfand, aus dem II. Buch, in das er zeitlich gehörte, in den Anfang des III. (c 1—6) binüber- genommen. Chr. Ebert, Über die Entstehung von Caesars bellum Gallicum (Diss. Erlangen 1909), hat die schriftstellerischen Absichten Caesars nicht genügend beachtet und dadurch seiner scharfsinnig durchgeführten These einer Abfassung der commentarii von Jahr zu Jahr von vornherein den Boden entzogen; er ist von A. Klotz, Caesarstudien (Leipz. 1910), 17 ff., widerlegt worden. Der von F. Hartmann, Glotta IX (1917), llff., unternommene Ver- such, auf Grund der Ebertschen Hypothese eine fortlaufende Wandlung in Caesars Orientierung über Germanisches zu unternehmen, mußte schon um deswillen ergebnislos bleiben.

2) Vgl. Klotz a. a. 0., 101: „Caesar stellt im Eingang des Kapitels die Sache so dar, als ob er seine Informationen über die Belgier, auch die historischen, aus dem Munde der Remer erhalte. Es ist nicht zu entscheiden, ob dies teilweise literarische Fiktion ist, und ob er nicht vielmehr das historische Material aus Posidonius entnommen hat." Letzteres halte ich, soweit es sich um die Angabe über die Kimbern und Teutonen handelt, für sehr wahrscheinlich.

Analyse eines Caesarischen Berichts 365

tischen (I 29): diese ward gegeben hello Helvetiorum confecto, jene zu Beginn des belgischen Krieges, beides durch die Ereignisse selbst be- gründet und doch wohl nicht ohne Absicht die beiden Zahlenpara- den rückten sich dadurch viel näher gerade in dieser umgekehrten Reihenfolge dargeboten.

Wer die geflissentliche Betonung des Germanentums in diesen Büchern auf sich wirken läßt, wird dem Satze über die germanische Abkunft der meisten Belgae, die sich der Imperator von den remischen Gesandten berichten ließ, mit Bedenklichkeit begegnen Denn es muß mit allem Nachdruck hervorgehoben werden, daß dieses angebliche Zeugnis in so extremer Formulierung nicht bloß völlig vereinzelt da- steht, sondern durch andere schwerwiegende geradezu aufgehoben wird. Wer den mit dem IV. Buche Strabos einsetzenden Beginn der Keltixtf liest: „Die einen sonderten sie (die Bewohuer Galliens) in drei Abteilungen, die sie Aquitaner, Beigen und Kelten nannten", wird zunächst, trotz der veränderten Reihenfolge, annehmen, daß hier eine Umschreibung des Anfangs der Caesarischen Comtnentarii vor- liege: Gallia est omnis divisa in partes tres, quarum unam incolunt Belgae, aliam Aquitani, tertiam qui ipsorum lingua Cdtae, nostra Galli appellantur. Aber diese Annahme täuscht. Denn während Caesar die Unterschiede der drei Völkergruppen mit dem Sätzchen hi omnes lingua institutis legibus inter se differunt erledigt1), gibt Strabo

1) Nirgendwo sonst kommt er auf Differenzen der drei großen Völker- gruppen zurück, aher an einer wird die Identität eines Brauches bei Belgae und Galli eigens hervorgehoben, und diese Stelle ist interpoliert. Nachdem II 5 der Übergang über die Aisne und die Errichtung eines befestigten Lagers erzählt worden ist, geht es c. 6 so weiter: ab his caslris oppidum Remorum nomine Bibrax aberat milia passuum VIII. id ex itinere magno impeiu Belgae oppugnare coeperunt. aegre eo die sustentatum est. || Gallorum eadem at- que Belgarum oppugnatio est haec . . . || cum finem oppugnandi nox fecisset, Iccius Bemus usw. Der Augenschein lehrt, daß hier ein Einsehub vorliegt (er ist von J. Lange, Jhb. f. Phil. CLI1I 1896, 690 auf Grund schwerer Ab- weichungen von Caesars Sprachgebrauch erkannt und von H. Meusel, Jhb. d. phil. Ver. XXXVI 1910, 40 f., bestätigt worden). Da im c. 4 von der an- geblichen germanischen Herkunft der meisten Belgae die Hede gewesen war, mag der Interpolator wenn man den Verfasser dieser sehr alten, fast das ganze Werk durchziehenden Einschübe eo nennen will hier ganz gegen Caesars Gewohnheit die Identität eines Brauches bei den B Igae und Galli eigens zu betonen Anlaß genommen haben.

366 Kap. VI. Ethnologische, onomatologische u. geschichtl. Folgerungen usw.

erlesene Einzelheiten: „Die Aquitaner sind nicht nur der Sprache, sondern auch der Körperbildung nach gänzlich abweichend und gleichen mehr den Iberern als den Galliern. Die übrigen zeigen zwar in ihrer äußeren Erscheinung gallischen Typus, sind aber nicht alle gleichsprachig, sondern einige zeigen in ihrer Sprache eine kleine Abweichung; auch Staatsverfassung und Lebensführung weisen einen kleinen Unterschied auf." Derjenige, auf den diese Angaben zurück- gehen, hat sich nicht auf Allgemeinheiten beschränkt, sondern, die Worte sorgsam wählend, jeder Übertreibung abgeneigt, Weite des Blicks mit Genauigkeit verbunden. Daß es Poseidonios war, den Strabo hier durch Vermittlung des Timagenes benutzte, darf* als völlig gesichert gelten.1) Auch Caesar folgte dem Poseidonios: eine nicht geringe Ehre für diesen, wenn auch ungenannt, gleich an der Schwelle des berühmtesten Memoirenwerkes des Altertums zu er- scheinen. Allein da Caesar von bella zu berichten hat, so macht er das Ethnographische kurzerhand mit jenem Sätzchen ab, durch dessen zu- sammengedrängte Kürze alle feinen Schattierungen des Original- berichts begreiflicherweise verloren gehen mußten2), und es drängt sich sofort das kriegerische Germanenmotiv bella der Belgae und Helvetii mit den benachbarten Germanenstämmen als Gradmesser der Tapferkeit , das ihm, wie wir sahen, allein gehört, in den Vorder- grund. Poseidonios hat also die keltische Nationalität der Beigen nicht bezweifelt; betont er doch sogar, ganz wie ein moderner Rassen- forscher es tun würde, den körperlichen Typus: raXartxovg xr\v otyiv nennt er die Beigen und die Kelten des Mittellandes, dagegen die Aquitaner xolg 6i6^a<Siv e^cpsQslg 'IßrjQöi [läXXov r) r<xXutccig.s)

1) Zu den von A. Klotz a. a. 0. 89 f. geltend gemachten Gründen kommt die Gleichheit der Beweisführung, der wir ohen (S. 83) in einigen von Strabo mit dem Namen des Poseidonios signierten Sätzen über Verwandtschaft und Ver- schiedenheiten örtlich benachbarter Völker begegnet sind.

2) Übrigens bewahrt Caesar in der Formulierung des Anfangs Gallia omnis, wie oben (S. 279) bemerkt wurde, den Charakter der Vorlage sogar ge- nauer als hier Strabo, der ihn ähnlich erst im weiteren Verlaufe seiner Dar- legungen bringt: p. 195 öh 6vintav (pvlov.

3) Von der Sprache heißt es, die Aquitaner seien rsXsag i^j}X).ocy(iivoi zrj ylärry, von den Beigen und Kelten [iixQa itaQaXlättovzEg xcclg yXmzrccig. Diese feinen Unterschiede (vgl. mit letzterem Ausdruck Tac. Agr. 11 von der Sprache der Britanner im Verhältnis zur keltischen: sermo haud multum diversus) hat

Poseidonios u. Caesar über die drei kelt. Völkergruppen 367

Wem sollen wir nun mehr glauben, dem kühl und sachlich berichten- den, durch keinerlei Interessen als wissenschaftliche gebundenen Historiker, oder dem Memoirenschriftsteller, der einen lokalpatriotisch gefärbten Bericht weitergibt, weil dessen germanisierende Absicht seinen Zwecken förderlich war? Die Antwort kann nicht zweifelhaft sein. Ja wir müssen noch einen Schritt weitergehen: Caesar selbst kann dem Berichte der remischen Gesandten in diesem Punkte keinen Glauben beigemessen haben. Seine Ansicht über die Nationalität der Belgae hat er ja, dem Poseidonios folgend, zu Beginn seiner Auf- zeichnungen ausgesprochen: sie sind ihm ein wesentliches Glied der keltischen Völkertrias und liegen, wie er von sich aus hinzufügt, mit den rechtsrheinischen Germanen beständig im Kriege. Wenn der- selbe Schriftsteller dann zu Beginn des II. Buches sich berichten läßt, die meisten Belgae stammten von den Germanen ab und hätten bei ihrem Einbruch in das linksrheinische Gebiet die dort wohnenden Gallier vertrieben, wenn er hier also Belgae und Galli wie Stammfremde in einen Gegensatz zueinander gerückt werden läßt, so gibt er eben durch den Widerspruch, in den er dadurch anscheinend zu sich selbst tritt, zu erkennen, daß er sich für den Bericht der remischen Ge- sandten nicht verbürgt. Im Sinne Caesars ist das Belgae -Problem, das die moderne Forschung aufgestellt hat, nur der Kunstgriff einer wohl abgewogenen schriftstellerischen Komposition.

Die besondere Art dieses Kunstgriffs erkennen wir aus folgender Betrachtung. Barbarenvölker galten den hellenischen, dann den römischen Autoren als Renommisten: vielfältige Beobachtung hatte sie diese Erfahrungstatsache immer wieder bestätigt finden lassen. Für kein Volk ist uns der Hang zum Prahlen so häufig bezeugt wie für die Kelten.1) Caesar hat sich dieses Mittel der Charakter- Caesar in dem angeführten Sätzchen hi omnes lingua (institutis legibus) inter se differunt verwischt. Auch nur mit der Möglichkeit zu rechnen, wie es noch in dem neuesten Kommentar geschieht, daß die kleine Sprachdifferenz bei den Belgae durch germanischen Einschlag mitbedingt gewesen sei, ist ein schwerer, durch willkürliches Hineintragen der Stelle des II. Buches in die des I. hervorgerufener Irrtum. Es handelt sich nur um eine in langen Zeit- räumen und durch örtliches Getrenntsein entwickelte Dialektspaltung. Unsere Berichte über die Ionier, Achäer und Dorer lauten analog.

1) Belege sind von mir gegeben worden „Ennius u. Vergilius" (Leipz. 1915 107. 110 ff.

3(J8 Kap. VI. Ethnologische, onomatologiache u. geschichtl. Folgerungen usw.

Schilderung nicht entgehen lassen, sondern stellt uns wiederholt die gallischen und germanischen Prahlhänse denn hierin gaben sich die beiden Nationen nichts nach vor Augen. „Wenn Caesar wolle, so möge er es nur auf einen Zusammenstoß ankommen lassen: er werde begreifen, was die unbesiegten Germanen, im Waffenhand- werk so geübt wie keine sonst, sie, die 14 Jahre lang nicht unter Dach und Fach gekommen seien, durch ihre Tapferkeit zuwege brächten": so läßt er den Ariovist reden (I 36, 7). „Sie nähmen es nur mit den Suebi nicht auf, denen nicht einmal die unsterblichen Götter gewachsen seien; sonst gebe es niemanden auf der Welt, den sie nicht überwinden könnten": diese Worte legt er den Gesandten der Usipetes und Tencteri in den Mund (IV 7, 5). Und denselben Ton schlägt Vercingetorix an: „er werde ganz Gallien zu einer Rats- versammlung machen, deren Einstimmigkeit nicht einmal der Erd- kreis widerstehen könne" (VII 29, 6). Römische Stilisierung ist überall handgreiflich, und der Humor, an dem es dem Imperator nicht gebrach, kommt hier einmal zum Durchbruch: ist es nicht er- götzlich, wenn er den Suebi göttliche Unüberwindbarkeit zusprechen läßt, wenige Jahre nach der Vernichtung Ariovists? Neben Äuße- rungen solcher Art stelle man nun die der remischen Gesandten: Die meisten Belgae seien Abkömmlinge der Germanen und vor alters über den Rhein gegangen; wegen der Fruchtbarkeit der Gegend hätten sie sich dort niedergelassen und die ortsansässigen Gallier vertrieben. Ihnen allein sei es geglückt, bei der zur Zeit unserer Väter erfolgten Heimsuchung von ganz Gallien die Kimbern und Teutonen am Ein- marsch in ihr Gebiet zu hindern. Im Gedenken an solche Taten nähmen sie große Geltung für sich in Anspruch, und groß seien ihre militärischen Ansprüche" (II 4, 2 f.) worauf sie die riesige Zahlenparade der bel- gischen Heereskontingente veranstalten. Was Caesar hier zum Aus- druck hat bringen wollen, ließe sich kurz und derb in die Worte ,Bangemachen gilt nicht" zusammenfassen, denn nun folgt die Er- zählung seines glorreichen Feldzuges gegen diese 296000 Belgae „größtenteils germanischen Ursprungs". War ein Leser naiv genug^ sich täuschen zu lassen: um so besser für den stets die Wirkung be- rechnenden Verfasser; durchschaute er das Spiel: nun, so traf den Schrift- steller kein Vorwurf, der hier einen Bericht nur weitergab, ohne sich für dessen Glaubwürdigkeit einzusetzen, der vielmehr an früherer Stelle

Caesars Charakterisierung der Kelten und Germanen 369

und das an einer so weit sichtbaren wie dem Anfange des ganzen Werkes , wo er in eigner Person sprach, mit ruhiger Sachlichkeit das Ergebnis wissenschaftlicher Forschung zu dem seinigen gemacht hatte. Der Nimbus des epichorischen Zeugnisses löst sich also gerade deshalb in Dunst auf, weil es ein epichorisches ist.

Mancher, der meiner Beweisführung bis hierher zugestimmt hat, wird an diesem Punkte die Frage aufwerfen, ob die Behauptung der remischen Gesandten denn gänzlich aus der Luft gegriffen sei oder doch ein Körnchen Wahrheit enthalte. Zwischen Wahrheit und Lüge gibt es ja ein Mittleres, das ein Unbestechlicher zu dieser, ein anderer, der sich von der Gewissenhaftigkeit etwas abdingen läßt, noch eben zu jener rechnen wird: Übertreibung. In der Tat müssen wir zwischen der Form, in welche die Behauptung sich kleidet, und dem Gehalt unterscheiden. Die Form plerosqae Beigas esse ortos a Germanis ist preiszugeben: wer sich an den genealogischen Schwindel erinnert, der seit frühen Zeiten des Altertums bis in das Mittelalter und die Renaissance hinein Völker, oft in gutem Glauben, zu nebelhaften Ur- sprungslegenden verleitet hat, wird geneigt sein das zuzugeben. Aber vielleicht hat erst Caesars Stilisierung dem Gedanken diese besondere Form verliehen, und es liegt ihm doch etwas Greifbares zugrunde, das die „germanischen" Belgae nicht ganz so als Phantasiegebilde erscheinen läßt wie etwa die „trojanischen" Franken oder die „griechischen" Sachsen? Wir müssen diese Frage einer Prüfung unterziehen.

Die remischen Gesandten erwähnen am Schlüsse ihrer Rede an- hangsweise die Stammesgruppe der Germani cisrhenani, mit der wir uns im nächsten Abschnitte zu beschäftigen haben werden. Sie waren, wie dort weiter auszuführen sein wird, in Caesarischer Zeit fast völlig keltisiert, bewahrten sich jedoch noch damals eine freilich recht be- schränkte Sonderstellung, wie sie denn auch dem belgischen Stammes- verbande nicht angehörten; es ist also anzunehmen, daß ihre nationale Selbständigkeit in älteren Zeiten eine erheblich größere gewesen ist. Ihre Grenznachbarn waren im N. die Menapii (Caesar VI 5, 4. 33, 1), im W. die Atuatuci (V 38), im S. die Treveri (VI 32, 1), die beiden ersteren Stämme Mitglieder des belgischen Verbandes. Diese örtliche Berührung zwischen Kelten- und Germanentum auf dem linken Rhein- ufer konnte, ja, mußte fast notwendigerweise Angleichung zur Folge haben. Dabei waren zwar die Kelten, wie in älteren Zeiten meist in

Norden; Die germanisohe Urgeschichte 24

370 Kap. VI. Ethnologische, onomatologische u. geechichtl. Folgerungen ubw.

ihren Berührungen mit den Germanen, das bestimmende Element; aber wer wollte in Abrede stellen, daß neben der fast gänzlichen Keltisierung jener Germanengruppe eine teilweise Germanisierung der anwohnenden belgischen Völkerschaften habe erfolgen können? Es kommen andere Momente hinzu.

Der mächtigste Stamm jener linksrheinischen Germanengruppe waren die Eburones. Zwischen ihnen im 0. und den zum bei irischen Verbände gehörigen Nervii im W. saßen etwa von der Mündung der Sambre (Sabis) in die Maas (bei Namur) bis Maastricht die schon erwähnten Atuatuci. Die Caesarische Nachricht (II 29, 4), sie stammten von den Kimbern und Teutonen ab und seien nach mancher- lei Irrfahrten in dieser Gegend seßhaft geworden, tritt mit Angabe so besonderer Einzelheiten auf und ist im Gegensatz zu den erwähnten Abstammungslegenden geschichtlich so vollkommen greifbar, daß ein Zweifel an ihrer grundsätzlichen Glaubwürdigkeit unberechtigt wäre. Daß freilich die Formulierung ipsi (Atuatuci) erant ex Cimbris Teutonisque prognati Bedenken erregt, ist aus Caesar selbst zu entnehmen. Denn während er hier ihre Zahl zur Zeit der Kimbernkriege auf 6000 angibt, bemerkt er anderswo (II 4, 9), sie hätten dem belgischen Bundesheere im Jahre 57 ein Kontingent von 19000 Mann gestellt. Ein derartiger Zuwachs nach Verlauf von noch nicht ganz fünfzig Jahren setzt eine Vermischung mit anderen Volkselementen voraus. Die Annahme Müllenhoffs, daß die Reste der zurückgebliebenen Kimbern und Teu- tonen mit den Atuatuci, bei denen sie Aufnahme gefunden hatten, verschmolzen, hat alle Wahrscheinlichkeit für sich. Wenngleich nun also die Caesarische Ausdrucksweise den Sachverhalt etwas verschiebt, so liegt ihr doch Tatsächliches zugrunde.

Ein Weiteres betrifft die Nervii, mit denen die Atuatuci, wie aus zahlreichen Äußerungen Caesars hervorgeht (II 16, 4. 29, 1. V 38, 2. 39, 3. 56, 1. VI 2, 3), in engem Bundesverhältnisse standen. Die Nervii gehörten zu den angesehensten Mitgliedern der belgischen Stammes- vereinigung — die Zahl ihrer Wehrfähigen, 50 000 Mann, war die zweit- größte (II 4, 8) ; bei Strabo werden sie ein, rsQtaavixbv E&vog ge- nannt (IV 194). Diese Angabe Strabos muß zunächst befremden. Denn die Nervii gehörten ja zu den Belgae, zu denen auch Strabo sie rechnet, und von diesen hatte er doch, wie wir sahen, zu Beginn des IV. Buches (S. 176) gesagt, sie seien ein Teil der großen keltischen Völkerfamilie

Keltisch- germanische Blutmischung: Atuatuci, Nervii 371

und sprächen keltischen Dialekt. Wie ist das zu vereinigen? Strabo besaß für seine KsXTixrj ein reiches Quellenmaterial. Artemidoros und Poseidonios, beide teils aus eigner Lektüre, teils bei Timagenes ver- arbeitet, ferner Caesars Angaben, die er nicht direkt, sondern durch Ver- mittlung wieder des Timagenes benutzte, liegen in der Strabonischen Synthese schichten weise übereinander oder sind ineinandergeschoben.1) Welcher Zuwachs der Kenntnisse mußte sich gerade für ein Land wie Gallien, das mittlerweile solche Umwälzungen erlebt hatte, in diesem zeitlich fast ein Jahrhundert umfassenden Quellenmaterial offenbaren. Für das Allgemeine und im Wechsel der Zeiten Beständige konnte Posei- donios dauernd die Grundlage bilden. Für das einzelne reichten aber dessen Kenntnisse, da inzwischen die Eroberung und nach dieser die Neuordnung des Landes erfolgt war, längst nicht mehr aus. Für die Ergänzung des Poseidonios war Timagenes dem Strabo ein um so er- wünschterer Gewährsmann, als Timagenes, der seit Jahrzehnten zu Rom in nahem Verkehr mit den angesehensten Männern lebte, die Caesa- rischen Commentarii, deren Lektüre dem des Lateinischen wenig kundi- gen Amasener unbequem gewesen wäre, in seinem viel gelesenen Werke eingehend benutzt hatte.2) Die bei grundsätzlicher Übereinstimmung doch so zahlreichen und merkwürdigen Abweichungen der keltischen Ethnographie bei Caesar und Strabo erklären sich also daraus, daß Timagenes die inzwischen neu geschaffenen Verhältnisse berücksich- tigte3) und sich auch sonst manche über Caesar hinausgehende Kunde verschafft hatte. Da nun die Angabe über die Nervii als TsQpiCivixov s&vol; weder Posidonisch noch Caesarisch ist, so muß sie, wie der ganze Abschnitt, inmitten dessen sie steht, von Timagenes herrühren, und Strabo ergänzte durch sie die allgemeinen ethnologischen Bemerkungen,

1) Klotz a. a. 0. c. III hat diese Strabonischen Abschnitte einer ergebnis- reichen und überzeugenden Analyse unterzogen. Vgl. o. S. 152.

2) Strabo zitiert die Caesarischen vTco^ivrjfiarcc IV 177 (s. folg. Anm.), aber daß eine Zwischenquelle anzunehmen und daß diese Timagenes zu benennen ist, hat Klotz a. a. 0. 92, 1. 100. 119 bewiesen. Übrigens hat schon Casaubonus in seiner Straboausgabe (1587) in Abrede gestellt, daß Strabo die Caesarischen Commentarii direkt benutzte, wie ich aus Heerens oben (S. 64,4) zitierter Strabo- abhandlung (S. 112) entnehme.

3) Das ergibt sich deutlich aus der in voriger Anm. genannten Stelle: ovtio dh xocl o &ebg KoüßecQ iv xotg vJto[i,vrJnccGiv siqtixev (näml. die Dreiteilung). o Sh 2]sßa6rbs Kcügccq rtxqccxf] dielav usw.

24*

372 £&P- VI. Ethnologische, onomatologische u. geschichtl. Folgerangen usw.

die er zu Anfang seines Buches dem Poseidonios entnommen hatte. Wie mag nun aber Timagenes zu dieser Behauptung gekommen sein? Die Antwort auf diese Frage ergibt sich aus der Nebeneinanderstellung folgender Textstellen: Caesar II 4, 8 sagt inmitten des remischen Ge- sandtschaftsberichtes: Nervios qui maxime feri inter ipsos habeäntur, II 15, 4 wieder auf Grund einer Erkundung von denselben: esse homines feros , und Strabo VII 290 rsQ^iavol ilixqqv l%,aXXäxxovTtg xov KsXxlxov yvXov rtleovccöpLcp xfig ccyQLÖxt]xog, xäXXu dh Ttuoa- %Xr\6ioi . . ., ol'ovg algrixa^Ev xovg KsXxovg. Die „Wildheit" ist ger- manische Besonderheit; da nun die Nervii, so wurde geschlossen, daran ein Übermaß haben, so sind sie ein „germanischer Volksstamm". Dieser Schluß mag uns auf den ersten Blick gewagt erscheinen, aber er ist in dem Sinne richtig, daß dieser Volksstamm eine beträchtliche Mischung mit dem Blute eingewanderter Germanen erfahren hat. Das ergibt sich aus folgenden Erwägungen, die, wenn nicht im einzelnen, so doch in ihrer Gesamtheit Beweiskraft besitzen. Die zweite der soeben angeführ- ten Caesarischen Stellen über die feritas der Nervii enthält eine An- gabe von besonderer Art: quorum (Nerviorum) de natura moribusque Caesar cum quaereret, sie reperiebat nulluni esse aditum ad eos mercatori- hus; nihil pati vini reliquarumque rerum ad luxuriam pertinentium in- ferri, quod his rebus relanguescere animos et remitti virtutem existimarent; esse homines feros magnaeque virtutis. Diese Kulturfeindlichkeit, ins- besondere das Verbot der Weineinfuhr wird fast mit denselben Worten IV 2 von den Suebi berichtet, ja die Nervii gingen in ihrer Abneigung gegen die Zulassung von Kaufleuten, denen die übrigen Gallier un- gehinderten Verkehr gestatteten, sogar noch weiter als die Suebi, hatten also die rohere Art noch zäher bewahrt: mercatoribus heißt es in der suebischen Ethnographie Caesars est aditus magis eo ut quae bello ceperint quibus vendant habeant, quam quo ullam rem ad se im- portari desiderent . . . Vinum omnino ad se importari non patiuntur, quod ca re ad laborem ferendum remollescere homines atque effeminari arbürantur. Von dieser ihrer angeborenen Kraft legten die Nervii im zweiten Kriegsjahre eine glänzende Probe ab: selten sind im Verlauf der gallischen Kriege die Legionen so gefährdet gewesen wie in der großen Nervierschlacht, und Caesar, der nur durch persönliches Ein- greifen in den Kampf eine Katastrophe vermieden hatte, stellt keinem seiner Feinde ein solches Zeugnis des Heldenmutes aus wie den Nervii:

Keltisch -germanische Blutmischung: Nervii, Treveri 373

ut non nequiquam tantae virtutis homines iudicari deberet ausos esse trans- ire latissimum flumen, ascendere altissimas ripas, siibire iniquissimum locum: quae facilia ex difficillimis animi magnitudo redegerat (II 27, 5). Vielleicht darf auch die von Caesar besonders hervorgehobene Bevor- zugung, die dieser Stamm, im Gegensatz zu den übrigen Galliern, den Fußtruppen vor der Reiterei angedeihen ließ, in diesem Sinne geltend gemacht werden: vgl. Caesar II 17, 4 Nervii antiquitus cum equitatu nihil possent, neque enim ad Jioc tempus ei rei Student, sed quicquid possunt pedestribus valent copiis mit Tacitus Germ. 6 in Universum aestimanti plus penes peditem röboris und 30 von den Chatti, dem kriegerischsten Stamme der Germanen: omne röbur in pedite. Es beruhte ferner mög- licherweise auf einem Verwandtschaftsgefühle, daß die mit den Atuatuci verschmolzenen „Nachkommen" der Kimbern und Teutonen sich, wie bemerkt, gerade zwischen den Nervii auf der einen und den Eburones, dem Hauptstamme der cisrhenanischen Germanen auf der anderen Seite, niederließen und zu jenen in ein enges Bund es Verhältnis traten. Wichtig endlich wäre, falls sie zutrifft, die Beobachtung 0. Hirschfelds, daß sich auf einer zu Köln gefundenen Grabschrift CIL XIII 8340 als cives [NJervius bezeichnet ein Mann namens Vellango Haldavron(i)s (filius), dessen Vaternamen wenigstens in seinem ersten Bestandteile möglicher- weise germanischen Typus zeigt.1) Der Stammname Nervii ist dagegen keltisch.2)

Von den Nervii lassen sich in diesem Zusammenhange die Treveri3) nicht trennen, obwohl sie uns, da sie dem Stammesverbande der Belgae nicht angehörten und in dem Kriege Caesars gegen diese sogar auf seiner Seite standen (II 24, 4), hier eigentlich nichts angehen. Aber sie werden eben wegen ihres angeblichen Germanentums von Tacitus an

1) Vgl. Haldavvonius ib. 8068 (Bonn). So zuversichtlich wie Hirschfeld (zum CIL XIII pars I fasc. 2 S. 568), der sich auf die nur sehr mit Vorsicht zu benutzende Arbeit von W. Reeb, Germ. Namen (1895) 28, beruft, wird man freilich nicht sprechen dürfen. Als sicher germanisch gilt Haidagastes Script, h. Aug., vit. Aurel. 11, 4 (überliefert: Haldagates), worüber M. Schönfeld, Wörterb. d. altgerm. Personen- u. Völkernamen (Heidelb. 1911) 125, zu vergleichen ist. Das Suffix des Namens - Haldavvo macht nach Schönfeld a. a. 0. eher keltischen Eindruck, und der Name des Sohnes ist wohl sicher nicht germanisch.

2) Schönfeld a. a. O. 172: „Wie allgemein angenommen wird, hat dieses keltische oder vielleicht germanische? Volk einen keltischen Namen. Nur Much hält germanische Herkunft für möglich."

3) An dem keltischen Ursprung des Namens zweifelt niemand.

374 Kap. VI. Ethnologische, onomatologische u. geschichtl. Folgerungen usw.

einer bekannten Stelle mit den Nervii zusammen genannt. In dem wichtigen Kapitel der Germania (28), in dem er eine Sonderung ger- manischer Stämme von nichtgermanischen vornimmt, sagt er: „Die Treveri und die Nervii machen ihren Anspruch auf germanische Her- kunft mit geradezu geflissentlichem Eifer geltend, gleich als ob sie sich durch den Ruhmestitel dieser Blutsverwandtschaft von der Aholichkeit mit den untüchtigen Galliern lossagen könnten." Die sarkastische Aus- drucksweise würde zum Beweise genügen, daß Tacitus die Berechtigung des Anspruches bezweifelte, auch wenn er nicht fortführe: „Dem eigent- lichen ßheinufer entlang wohnen zweifellos (haud dubie) germanische Völkerschaften, die Vangiones, Triboci, Nernetes."1) Ob Timagenes bei Strabo (IV 194) als Zeuge für die „germanische" Nationalität der Treveri angeführt werden darf, muß als durchaus zweifelhaft bezeichnet werden.2) Es ist über die Ethnologie dieses Stammes sehr viel ge-

1) Unbegreiflicherweise wird von manchen die Ironie in dem ersten der beiden Taciteischen Sätze verkannt und der Schriftsteller zum Zeugen des germanischen Ursprungs der Nervii und Treveri gestempelt. So kürzlich wieder von E. Steffen in der Beilage zum Mannus VI Heft 3 1914) 10 in einer Polemik gegen R. Henning, der dies viel richtiger beurteilt hatte. Die Berufung Steffens auf Müllen- hoif ist ungerechtfertigt, aber die irrtümliche Auffassung der Worte des Tacitus so verbreitet, daß auch ein gründlicher Forscher wie Fr. Cramer (Röm.-germ. Studien, Bresl. 1914, 55) geradezu schreibt: „Die Nervier werden bei Tacitus ausdrücklich als Abkömmlinge der Germanen bezeichnet." Gudeman sagt im Komm, richtig, Tacitus behandle diese Ansprüche mit unverhohlener Ironie, aber seine Behauptung, außer Strabo bezeichne auch Appianus die Nervii als Germanen, ist irrtümlich: in dem uns erhaltenen Auszuge aus dessen KbItikt) 1, 4 steht zwar t\go.v dh xwv Kiiißgcov xaJ Tsvtövav a-jtöyovoi,, aber dies bezieht sich nicht auf die vorher genannten Nervii, sondern auf die von dem Exzerptor aus- gelassenen, mit den Nervii verbündeten Atuatuci, von denen Caesar II, 29, 4 sagt erant ex Cimbris Teutonisque prognati.

2) In den zahlreichen Untersuchungen über die Abstammung der Treveri (vgl. z. B. die zusammenfassende Darlegung von Fr. Cramer a. a. 0. [vorige Anm.] 55 ff.) wird es als sicher hingestellt. Sehen wir uns aber Strabos Worte an. Er nennt die Treveri, ohne etwas von ihrer germanischen Abkunft zu sagen, fährt dann aber fort: Tqt}oviqoiq 3h cvvsxstg Nsqovlol, y.o.1 xovxo Tzq\lo.vi%ov l&vog. Die Worte „auch dieses" beziehen sich auf die Triboci zurück, die Strabo kurz vorher (p. 193) so eingeführt hatte: rsg^aviKov %&vog 7C£Qaia)&hv £x rfjg oly.siag TQißoY.%01. Dies ist von Kossinna a. a. 0. (o. S. 328, 1) 284 und M. Bang, Die Ger- manen im röm. Dienst (Berl. 15)06) 4, 27, richtig bemerkt worden. Aus den Worten Strabos (d. h. Timagenes: Klotz a a. 0. 119) läßt sich also für „germa- nischen" Ursprung der Treveri nichts gewinnen.

Keltisch- germanische Blutmischung: Nervii, Treveri 375

schrieben und doch ein hier in der Anmerkung1) notiertes Zeugnis fast allo-emein übersehen worden. Aber wir dürfen über diese Untersuchungen aus dem angegebenen Grunde mit wenigen Worten hinweggehen. Die Behauptung einer Germanica origo ist in dieser Form gerade so un- zutreffend wie bei den Atuatuci und Nervii, denn auch die Treveri er- scheinen bei Caesar als unlösbares Glied der keltischen Völkerschaften. Da trifft es sich gut, daß wir für die germanischen Ansprüche der Treveri genau den gleichen Grund anzugeben vermögen, aus dem sich, wie wir sahen, diejenigen der Nervii entwickelt haben. Von den Treveri sagt nämlich Hirtius B. G. VIII 25, 2: quorum civitas propter Germaniae vici- nitatem cotidianis exercitata bellis cultu et feritate non multum a Ger- manis differebat. Also auch hier war die „Wildheit" das Entscheidungs- merkmal für eine Ähnlichkeit mit Germanischem, und auf Grund davon ist dann weiterhin der Schluß auf eine Germanica origo gezogen worden. Auch in diesem Fall können wir nur wieder sagen: der Schluß in dieser Formulierung ist falsch, und Tacitus war berechtigt, ihn zu ironisieren; aber daß eine auf ihre Stärke nicht nachprüfbare Mischung mit ger- manischem Blute stattgefunden habe, braucht nicht bezweifelt zu werden. Das ethnologische Ergebnis vorstehender Untersuchung ließe sich etwa so zusammenfassen. Zeuß, Müllenhoff und ihre Anhänger waren mit ihrem Zweifel an der Glaubwürdigkeit des von Caesar weitergege- benen Berichtes der remischen Gesandten grundsätzlich im Rechte, aber sie gingen in ihrer Ablehnung zu weit, wenn sie in diesem Berichte und den ihm zur Seite stehenden Zeugnissen des Strabo und Tacitus über die Nervii nicht einmal Ansätze des Wahren anerkennen wollten. Auf der anderen Seite ist eine bedingungslose Gläubigkeit den Angaben gegenüber unzulässig. Die Wahrheit liegt etwa auf einer mittleren Linie. Die Behauptung einer germanischen „Abstammung" irgend- welcher Stämme der Belgae, und nun gar der „meisten" ist in das Gebiet

1) Tacitus hist. III 35: nach der Schlacht bei Cremona senden die sieg- reichen Flavianer in Galliam Iulium Calenum tribunum, in Germaniam Alpi- nium Montanum praefeclum cohortis, quod hie Trevir, Calenus Aeduus, uterque Vitelliani fuerant. Nur M.Bang a. a. 0. (vorige Anm.) hat die Stelle notiert. Die Quelle ist Plinius, da auf diesen sicher die zwei weiteren Erwähnungen dieses Montanus zurückgehen (IV 31 f. V 19). Plinius war über die Topographie der Treveri genau unterrichtet: Plinius Secundus in Trevcris vico Ambitarvio supra Confluentes sc. Gaium Caesarem natum esse scribit: Suet. Cal. 8, 1 (vgl. o. S. 215, 1).

376 Kap. VI. Ethnologische, onomatologische u. geschichtl. Folgerungen usw.

der Fabel zu verweisen, durch die eine germanische Blutmischung bei einzelnen, den Nervii und Atuatuci, nach Art und Umfang übertrieben und zu einer in ihrer Tendenz noch uns durchsichtigen Scbeinkonstruktion gestaltet wurde. Die germanische Ethnologie darf sich, wenn sie mit „belgischen Germanen" anhebt, auf beglaubigte Zeugnisse nicht berufen, und sollte sich entschließen, ein Phantom, das zur Wesenhaftigkeit zu gestalten ihr.notwendig mißlingen mußte, sich verflüchtigen zulassen.1) „Belgische Germanen" hat es nur in administrativem Sinne gegeben, nämlich als Mitbewohner der von Augustus eingerichteten Provinz Bekrica, die die linksrheinischen Germanenstämme in sich befaßte: dem- gemäß steht in den auf der Augusteischen Ordnung beruhenden Listen bei Plinius IV 105 f. und Ptolemaios 119 unter den Belgae eine ganze Anzahl germanischer Stämme fast von dem Ursprungs- bis zum Mün- dungsgebiete des Rheins. In ethnologischem Sinne darf man dagegen nur von „germanisierten Belgae" sprechen2) und wird vorsichtiger- weise selbst diesen Begriff auf die genannten beiden Stämme be- schränken, ohne daß damit natürlich bestritten zu werden brauchte, daß auch in die Adern anderer belgischer Stämme Tröpfchen des edlen Blutes, um dessen Besitz sie damals so leidenschaftlich warben, ge- langt sein könnten.3) „Rassenreinheit" ist ja auf dem Meere der

1) Die schärfste Kritik an dem Caesa,rischen Berichte hat Fr. Kauffmann in seiner Behandlung der Belgae (D. A. I 212 ff.) dadurch geübt, daß er ihn gar nicht erwähnt; vgl. seine o. S.355, 2 angeführte Bemerkung an einer anderen Stelle (S. 251, 5), Caesar habe den Sachverhalt auf den Kopf gestellt. Das geht frei- lich, wie wir sahen, etwas zu weit, ist aber besser als Gläubigkeit.

2) Die Ableitung des Namens Belgae aus dem Germanischen wird selbst von denjenigen, die sie im Banne des vermeintlichen Zeugnisses der Remi auf- stellten und vertraten, als so durchaus problematisch bezeichnet, daß sie ganz außer Betracht bleiben muß. Aber selbst wenn sie, was unbedingt zu bestreiten ist, richtig wäre, würde sie für die germanische Nationalität der Belgae natür- lich nicht das Geringste beweisen: wer Zeuß' Buch gelesen hat, wird vor dem Fehlschluß von Volksnamen auf Volkstum bewahrt sein. Die Germani selbst sind ja die beste Widerlegung.

3) Ich kann es mir nicht versagen, anch hier, wie so oft in diesem Buche, Worte Mommsens anzuführen, dessen unbestechliches, durch keine Scheinüber- lieferung so leicht zu trübendes Urteil wieder einmal einer umständlichen Be- weisführung vorgegriffen hat. Er schreibt in der R. G. III 245, nachdem er in aller Kürze über deutsche Stämme am linken Rheinufer in Caesarischer Zeit gesprochen hat: „Die vollständige Glaubwürdigkeit dieser Berichte muß aller- dings dahingestellt bleiben, da es, wie Tacitus in Beziehung auf die zuletzt

Belgische Germanen u. germanisierte Beigen 377

Völkerbewegungen, die sich wie eine Welle in die andere schieben, ein Begriff, dessen Theorie sich in der Praxis selten genug be- währt.

Philologisch betrachtet ermöglicht uns das richtige Verständnis des Caesarischen Kapitels die Beantwortung einer zu Beginn dieses Ab- schnitts aufgestellten Frage. Die Worte des Taciteischen „Namensatzes" qui primi Rhenum transgressi Gallos- expülerint ac nunc Tungri tunc Germani vocati sint sind, wie dort bemerkt wurde (S. 354), mit denen des remischen Berichtes bei Caesar plerosque Beigas esse ortos a Ger- manis PJienumque antiquitus traductos . . . ibi consedisse Gallosque . . . expulisse oft zusammengestellt worden, und man hat vielerlei Versuche unternommen, sie in irgendwelche über die Wortanklänge hinausgrei- fende Verbindung inhaltlicher Natur zu setzen. Diese Versuche mußten mißlingen, da sie nicht mit der Wesensbeschaffenheit des von Caesar weitergegebenen Berichtes rechneten. Durch seine Analyse treten die beiden Sätze in ihrer Übereinstimmung und Abweichung jetzt in eigen- tümliche Beleuchtung. Die vor alters erfolgte Vertreibung von Galliern aus Sitzen am linken Rheinufer wird bei Caesar und Tacitus zwar mit sehr ähnlichen Worten ausgedrückt, aber die Subjekte wechseln: dort sind es „germanenentsprossene" Belgae, hier Germani, die den Strom überschritten und die Gallier verdrängt haben. Die beiden Angaben

erwähnten beiden Völker (Nervii und Atuatuci) bemerkt, späterhin wenigstens in diesen Strichen für eine Ehre galt, von deutschem Blute abzustammen und nicht zu der gering geachteten keltischen Nation zu gehören: doch scheint die Bevölkerung in dem Gebiet der Scheide, Maas und Mosel allerdings in der einen oder anderen Weise sich stark mit deutschen Elementen gemischt oder doch unter deutschen 'Einflüssen gestanden zu haben." Auch möchte ich es nicht unterlassen, hier die Worte eines sehr genauen Forschers, T. Rice Holmes, aus seinem schon oben (S. 244, 1) zitierten Buche mitzuteilen, zumal er in einer von der meinigen abweichenden Art der Beweisführung doch zu einem sehr ähnlichen Ergebnisse gelangt: S. 313f. „Neither Caesar nor Tacitus appears to have believed that the Belgae generally were of German origin. Caesar merely records the statement which the Reman envoys made to that effect, without endorsing it . . . Strabo says that the Nervii were Germans : but bis unsupported statement does not count for much .- . . The truth is that, unless we know what the Reman envoys meant by the word Germani, their statement that the Belgae 'were descended from the Germans' proves nothing.'1 Weiterhin (S. 319) macht er aber das Zugeständnis: „it is quite possible that, in the veins of lome of the Belgae there flowed the blood of genuine German forefathers."

378 Kap. VI. Ethnologische, onomatologische u. geschichtl. Folgerungen usw.

stehen also zueinander allerdings in einem Abhängigkeitsverhältnisse, aber die eine ist die Korrektur der anderen, und zwar liegt diese Kor- rektur auf der Linie unserer Analyse des Caesarischen Berichtes: die- jenigen, die ihn so abänderten, daß sie an die Stelle der plerigue Belgae orti a Germanis eine bestimmte Gruppe von Gcrmani die in der Belgica wohnenden c cisrhenanV ', wie wir weiterhin sehen werden treten ließen, haben den Anspruch der Belgae nicht anerkannt, also die Fiktion des Berichtes durchschaut. Dies Ergebnis ist nicht ohne Be- deutung für die Quellenkritik. Schon oben (S. 316 i hatten wir zweimal Stellungnahme der Taciteischen Germania zu den Caesarischen Memoiren festgestellt; die Art der Bezugnahme war eine analoge wie hier: in engstem Anschlüsse an die Worte des Primärberichtes war dessen In- halt sachlich verändert worden. In jenen zwei Fällen glaubten wir mit großer Wahrscheinlichkeit Livius als denjenigen zu erkennen, in dessen Germanenexkurse die Korrekturen des Caesarischen Berichtes enthalten waren. Die eine jener beiden Berichtigungen war in dem „Namensatze" angebracht worden (nationis nomen, non gentis); dasselbe gilt von der jetzt aufgezeigten. Die Gleichheit der Verhältnisse führt fast mit Not- wendigkeit zu dem Schlüsse, daß unter den quidam, auf deren Autorität der ganze Namensatz gestellt ist, beidemal derselbe Gewährsmann zu verstehen ist: also, wenn dort Livius, so auch hier. Die Tragkraft dieses Schlusses erstreckt sich dann weiter auf die vorhin besprochene Stelle des c. 28 der Germania, wo die Berechtigung des Anspruches der Treveri und Nervii auf eine Germanica origo bezweifelt wird: von diesen beiden Stämmen stellen die Nervii die plerosque ortos a Germanis Beigas des Caesarischen Berichtes dar. Nun sahen wir (S. 371), daß Strabo, der die Nervii ausdrücklich ein VsQiiaviy.bv efrvog nennt, sicher von dem Geschichtswerk des Timagenes abhängt. Also wird die Stellung- nahme des Livius zu der Angabe Caesars durch Timagenes bedingt worden sein, dessen Caesarkritik in der Strabonischen Kslnxr] vielfach hervortritt. Dieses Ergebnis entspricht genau demjenigen, das wir schon wiederholt in der quellenkritischen Analyse einzelner Abschnitte der Taciteischen Schrift gewonnen haben (vgl. S. 152 ff.). Es gtellt sich immer deutlicher heraus, daß für die ethnologischen Kapitel der Germania Timagenes, der Fortsetzer und Ergänzer des Poseidonios, der scharfe Kritiker Caesars, für Tacitus der Hauptgewährsmann gewesen ist, der ihm durch Livius -Plinius vermittelt wurde.

Livianische Korrektur eines caesarischen Berichts 379

2. GERMANI CISRHENANI. DIE ÄLTESTE BESIEDELUNG DES LINKEN RHEINUFERS DURCH DIE GERMANEN

Caesar erwähnt diese Stamuiesgruppe oft und deutlich genug, um uns erkennen zu lasseu, daß sie in der östlichen Belgica saß, zwischen den Menapii im Norden, den Treveri im Süden, den Atuatuci im Westen, d.h. in Teilen der Provinzen Limburg, Lüttich, Namur und Luxemburg. Die Wohnsitze der Eburones, der ausgebreitetsten Völkerschaft dieser Germani, müssen sich aber nach unzweideutigen Angaben Caesars im Osten erheblich über die Grenze der belgischen Provinz Limburg hin- aus in die niederländische dieses Namens und weiterhin an den Rhein bis etwa in die Gegend gegenüber Duisburg und Düsseldorf und wohl noch etwas weiter stromaufwärts, im Westen über das sog. Kempenland (la Campine) bis zur Djle, einem rechten Nebenfluß der Scheide, und zu den Inseln der östlichen Scheidemündung erstreckt haben.1) Das

1) Die geographischen Bestimmungen habe ich auf Grund kartographischen Materials unter genauer Erwägung der Caesarischen Angaben nach bestem Ver- mögen vorgenommen. E. Desjardins, Geogr. de la Gaule II (Paris 1878) 437 f. begnügte sich mit allgemeinen Andeutungen, die sich mir zudem teilweise als unrichtig erwiesen. Auch Th. Bergk, Caesars Krieg gegen Ambiorix und die Eburonen (in der aus seinem Nachlasse herausgegebenen Sammlung von Auf- sätzen Zur Gesch. u. Topographie der Rheinlande in römischer Zeit, Leipz. 1882) 29 hat das Topographische nur beiläufig und teilweise recht willkürlich behandelt. Was die Ausdehnung des Eburonengebietes betrifft, so sind dafür entscheidend folgende Stellen: 1) V 24, 4 Eburones, quorum pars maxima est inter Mosain ac Bhenum. 2) VI 32, 4 id (Atuatuca) castelli nomen est. hoc fere est in mediis Eburonum fmibus. Atuatuca ist das jetzige Tongern (Tungri): s. weiter unten Abschn. 3. 3) V 31, 3 qui proximi Oceano fuerunt, hi insulis sese occultaverunt. Darunter können nur die durch die Mündung der Ooster- Scheide gebildeten Inseln von Zeeland verstanden werden, speziell das sog. Land van Tholen (vgl. 33, 1 T. Labienum cum legionibus tribus ad Oceanum versus in eas partes quae Mena- pios attingunt proficisci iubet). 4) VI 35, 4 6 trans Bhenum ad Germanos per- venit fama diripi Eburones atque nitro omnes ad praedam evocari. cogunt equitum duo milia Sugambri qui sunt proximi Bheno . . . transeunt Bhenum naribus ratibusque XXX milibus passuum infra eum locum ubi pons erat perfectus praesi- diumque a Caesare relictum, primos Eburonum fines adeuyit usw. Caesar hat seine zweite Rheinbrücke, wie man jetzt annimmt, bei Bendorf, etwa 9 km ober- halb Neuwied, geschlagen; geht man von da 30 r. M. = 44, 4 km stromabwärts, so kommt man fast genau in die Gegend von Bonn, wo die Sugambrer den Rhein überschritten haben müssen. Ganz so weit kann sich das Ciebiet der Eburonen nicht erstreckt haben, da die Sugambrer, nach Caesars Ausdrucks- weise zu urteilen, in eburonisches Gebiet erst auf ihrem weiteren Marsche ge-

380 Kap. VI. PJtbnologische, onomatologische u. geschichtl. Folgerungen usw.

erstemal nennt Caesar diese Germani in dem Zusammenhange, der uns im vorigen Abschnitte beschäftigt hat. Bevor er an die Gesandten der Remi die uns bekannte Frage nach der Kriegstüchtigkeit der Belgae richtet (II 4, 1), läßt er sich von ihnen die Ergebenheit der Remi als der allein treu gebliebenen belgischen Völkerschaft bekunden (c. 3, 1—2) und sie dann so fortfahren (§4): „Alle übrigen Belgae seien in Waffen, und die diesseits des Rheins wohnenden Germanen hätten sich mit ihnen verbunden " (reliquos omnes Beigas in armis esse Germanosqnc qui eis Mhenum incolant sese cum his coniunxissc). Hier sind also Belgae und Germani unterschieden. Dem entspricht der Fortgang der Unterredung. Als nämlich Caesar die Gesandten nach der Stärke des belgischen A uf- gebotes fragt, geben sie ihm eine Liste zunächst des belgischen Heer- bannes (c. 4, 5 9), dem sie an letzter Stelle den germanischen an- fügen (§ 10). Die Germani werden hier von den Belgae aber auch da- durch unterschieden, daß nur bei ihnen im Gegensatze zu den ganz bestimmten Zahlen der übrigen Belgae eine bloß schätzungsweise Zahl angegeben wird : Condrusos Eburoncs Caerosos Paemanos, qui uno nomine Germani appellantur, arbitrari ad XL milia. Das läßt sich nur so er- klären, daß die Germani auf dem belgischen Konvent nicht vertreten gewesen waren, auf dem die remischen Gesandten die genauen Zahlen der von den belgischen Völkerschaften gestellten Hilfskräfte erfahren hatten (4, 4 de numero eorum omnia se habere explorata Bemi dicebani, propterea quod . . . quantam quisque multitudinem in conimuni Belgarum eoncilio ad id bellum pollicitus sit cognoverint). Zwei der genannten vier Völkerschaften (oder eine dieser beiden) hatten sich unter den Schutz der Treveri gestellt (IV 6, 4 Eburones et Condrusi, qui a) sunt Treverorum langten; da sie aber diese Übergangsstelle wählten, muß sie ihnen für den Raubzug dahin günstig erschienen sein. Vgl. auch V 27, 8, wo Caesar den Ambiorix zu dem Abgesandten der Legaten Sabinus und Cotta, die in Atuatuca überwinterten (V 24, 4 f. VI 32, 3 f.), sagen läßt: magnam manum Germanorum conduetam Mhenum transisse: hanc adfore biduo, woraus sich aber nichts Be- stimmtes schließen läßt, da nicht gesagt ist, ob die zwei Tage vom Moment des Rheinübergangs an gerechnet sind.

1) Ob das Relativum sich auf beide Namen beziehe oder bloß den zweiten, ist nicht ganz sicher zu entscheiden. Letzteres wird angenommen von Th. Bergk a. a. 0. (vorige Anm.) 6, 1 und Müllenhoff II 202, denen sich Chr. Ebert, Entstehung von Caesars B. G. (Diis. Erlang. 1909) 12, anschließt. Anderseits weist H. Meusel in seinem Kommentar z. d. St. darauf hin, daß an der weitaus überwiegenden Anzahl von Stellen (13) Caesar das Pronomen sich

Gerniani cisrhenani 381

clientes), waren also diesen, die nicht zum belgischen Stammesverbande gehörten und daher an der Erhebung der Belgae nicht teilnahmen, zur Heeresfolge verpflichtet; auch sie hatten jetzt aber, während die Treveri von Caesar zur Hilfeleistung gewonnen worden waren (II 24, 4), ihre Beteiligung an dem belgischen Aufstande in Aussicht gestellt. In diesem allem kommt ein individuelles Stammesbewußtsein dieser Germanen- gruppe deutlich zum Ausdruck. Aber den Grad ihrer Keltisierung zeigt die Antwort, die Caesar anläßlich des Aufstandes der Eburones im Jahre 54 deren Fürsten Ambiorix auf die Beschwerden der römischen Gesandten in den Mund legt: „Als Gallier hätten sie es den Galliern nicht leicht abschlagen können, zumal es sich um eine Beschlußfassung über Wiedergewinn der gemeinsamen Freiheit gehandelt habe" (V27, 6); weiterhin läßt er den Ambiorix von den rechtsrheinischen Germanen wie von Fremden reden 8 magnam manum Germanorum conductam Rhenum transiisse; hanc adfore biduo)}) Der Prozeß ihrer Entnatio- nalisierung war mithin so gut wie abgeschlossen. Zwar aus den kel- tischen Namen der von Caesar genannten Teilstämme sowie der Eburo- nenbäuptlinge Ambiorix und Catuvolcus würde an sich nichts für den Grad des Verlustes ihrer Nationalität zu folgern sein: der Sprachtypus von Namen, seien es Völker- oder Personennamen, ist für ethnische Zu- gehörigkeit ihrer Träger nicht unbedingt entscheidend: wie viele sicher germanische Stämme sind keltisch benannt, und auch der Suebe Ario- vist führt einen keltischeu Namen. Aber die politischen Sympathien der linksrheinischen Germanengruppe sind in dem Maße keltisch, daß sie sich zu der Völkerfamilie jenseits des Rheins fast wie in Gegensatz fühlten.

auf beide Nomina beziehen lasse, auf dag zweite allein nur dann, wenn ein Zweifel unmöglich sei (wie I 6, 2 inter fines Helvetiorum et Allobrouum, qui nuper pacati eraui. Bell. civ. I 60, 1 Oscenses et Calagurritani, qui erant Osctnsibus contributi). Daß die Eburones außerdem ihren Nachbarn, den Atuatuci, tribut- pflichtig waren (V 27, 2), steht ihrer Klientelschaft zu den Treveri wohl nicht im Wege.

1) Florus I 43 (p. 71, 27 Jahn) berichtet, es sei dem Ambiorix nach seiner Niederlage gelungen, sich zu den rechtsrheinischen Germanen zu flüchten. Bei Caesar steht davon nichts, aber es ist aus VI 9, 2 und VIII 24, 4 von Livius, dem Gewährsmann des Florus, wohl sicher richtig erschlossen worden. Es wäre natürlich verkehrt, daraus zu schließen, daß Ambiorix sich eines Stamm- zusammenhanges mit jenen Germanen bewußt gewesen wäre.

382 Kap. VI. Ethnologische, onomatologische u. geschichtl. Folgerungen U6w.

Die erwähnten Angaben Caesars im Verein mit einer anderen eben- falls Caesarischen bieten uns wiederum die Möglichkeit zu einer Förde- rung der Quellenkritik des Taciteischen „Namensatzes". In ihm heißt es von diesen Germani: nationis nonicn, non gentis. Schon oben (S. 316) wurde darauf hingewiesen, daß es sich bei dieser Formulierung allem Anscheine nach um eine stillschweigende Korrektur eines Caesarischen Ausdrucks handle. Abgesehen nämlich von der besprochenen Erwäh- nung der linksrheinischen Germanen im IL Buche nennt Caesar diese Stammesgruppe nochmals im VI., wieder aus Anlaß einer romfeind- lichen Verbindung (des Jahres 53), an der sich aber diesmal nicht alle Teilvölkerschaften jener Germanengruppe beteiligten: VI 32, 1 Segni Condrusique ex gente et numero1) Germanorum, qui2) sunt inter Ebu-

1) Dieser Ausdruck bedarf einer Erklärung, da er auch in dem neuesten Komm, von H. Meusel mißverstanden worden ist („die germanischer Abstammung waren und allgemein zu den Germanen gerechnet wurden. Man sollte umgekehrt erwarten tmmero et gente, so daß die allgemeine Ansicht durch ex gente von C. bestätigt würde"). Numerus kann hier nur im technischen Sinne verstanden werden. Ohne Zusatz bezeichnet es oft ein zahlenmäßig begrenztes, in sich ge- schlossenes Heeresaufgebot : so bei Caesar selbst VII 35, 4 uti numerus legionum con- stare videretur, Bell. civ. III 4, 6 (in der Aufzählung der Streitkräfte des Pompeius) tum quem supra demonstravimus numerum expleverat, so auch Livius XXIV 11, 4 numerum legionum explere, Vergil VI 545 explebo numerum. Die militärische Ver- wendung bestand schon zu Plautus' Zeit: Men. 182 f. extrd numerum es mihi. Idem istuc aliis adscriptivis fieri \ ad legionem solet und sie muß überhaupt uralt sein: vgl. die Feststellung des numerus des Heeres beim armilustrium durch Musterung (W.F. Otto, Rh. Mus. LXXI 1916, 30ff.). In der Kaiserzeit wurde der Begriff zu dem einer „unter einheitlichem Oberbefehl eines Offiziers stehenden Truppenabteilung" (Mommsen, Ges. Sehr. VI 104) spezialisiert, und mit weiterer Verengerung wurden dann seit Hadrianus unter numeri vorzugsweise Forma- tionen aus Nationaltruppen oder den aus der Grenzbevölkerung gebildeten Ex- ploratoren verstanden. Es trifft sich gut, daß unter den zahlreichen inschrift- lichen Belegen folgende zwei sind: CIL XIII 8053 n(umerus) G(ermanorum) und VH 1234 n(umerus) Cond(rusorum) . Eine bemerkenswerte Stelle aus ganz später Zeit ist mir bei Jordanesj Get. 112 begegnet: qui (Gothi) foedere inito cum im- peratore (Constantinus I) quadraginta suorum milia Uli in solacio contra gentes varias obtulere, quorum et numerus et miliiia usque ad praesens in re publica nominatur, id est foederati. Für das Nebeneinander von gens et numerus mag darauf hingewiesen werden, daß die älteste Bedeutung von germ. „Volk" (nach Fr. Kluge) „Heeresabteilung" gewesen zu sein scheint, also wie populus (urspr. „Wehrmannschaft": vgl. Mommsen, St.-R. III 1 S. 3, 2) und Xaog (oft Ilias).

2) Daß das Relativum sich nicht auf Germanorum, sondern auf Segni Con- drusique bezieht, hätte nie bezweifelt werden sollen.

Germani cisrhenani 383

rones Treverosque, legatos ad Caesarem miserunt oraium, ne se in hostium numero duceret neve omnium Germanorum qui essent citra Rhenum unam esse causam iudicaret (vgl. 2, 3 Nervios Ätuatucos Menapios adiunctis cisrhenanis omnibus Germanis esse in armis). Hier wird die linksrheini- sche Germanengruppe als gens bezeichnet.1) Diese Bezeichnung lehnen die Gewährsmänner des Tacitus durch ein non kurzerhand ab: sie er- schien ihnen für eine Stammesgruppe zu umfassend und mußte ihrer Ansicht nach durch den engeren Begriff natio ersetzt werden. Daß unter den quidam, deren Auffassung Tacitus berichtet, Livius zu verstehen sei, der im CIV. Buche, in dem er aus Anlaß des Zusammenstoßes Cae- sars mit Ariovist den Exkurs über Land und Leute Germaniens einlegte, glaube ich wahrscheinlich gemacht zu haben.

Caesar nennt also fünf Völkerschaften der cisrhenanischen Germani: die Condrusi, Eburones, Caerosi, Paemani in B. II, die Segni in B. VI. Es kam ihm aber auf Vollzähligkeit nicht an er nennt die Stämme nur, insoweit er bei seinen militärischen Operationen mit ihnen in Be- rührung kam , und in der Tat lassen sich seine Angaben aus ander- weitiger Überlieferung ergänzen. Über die Tungri, die die Namensträger der linksrheinischen Germanengruppe wurden, wird weiterhin (bei 3) genauer zu sprechen sein. In der Aufzählung der belgischen Völker- schaften bei Plinius n. h. IV 106 finden sich außer den Tungri auch die Texuandri erwähnt. Diese müssen recht ansehnlich gewesen sein, denn die Ausdrucksweise Texuandri pluribus no?ninibus zeigt nach der von Plinius in den geographisch -statistischen Büchern befolgten Praxis3), daß dieser Stamm sich in mehrere Abteilungen gliederte, die besondere Namen führten. Der Name Texuandri ist anerkanntermaßen germa-

1) Unter gens ist nicht, wie einige meinen (so auch Meusel, vgl. S. 382, 1), „Abstammung", sondern „Volksstamm" zu verstehen, nämlich eben die Stammes- gruppe der cisrhenanischen Germanen. Die Erwähnung, daß die Condrusi und Segni „von Germanen abstammen", wäre hier gar nicht am Platz, wohl aber ist es die Bemerkung, daß sie Mitglieder jener Germanengruppe seien. Nur zu dieser konkreten Bedeutung paßt ja auch numerus. Vgl. II 28, l genteac nomine Nerviorum, wo nomen, ähnlich wie numerus, im militärtechnischen Sinne als „Stammesaufgebot" (vgl. Mommsen, St.-R. III 1, 608) zu verstehen ist. Die Volks- ganzen der Gallier und Germanen nennt Caesar nicht genics, sondern nationes: VI 11,1. 16, 1; daher empfiehlt es sich nicht, mit Much a. a. 0.(o.S.355,3) hier gens statt auf den Volksstamm der cisrhenanischen Germanen auf das Volksganze zu beziehen.

2) Vgl. meine Ausführungen Sitzungsber. d. Berl. Ak. 1918, 116 ff.

384 Kap. VI. Ethnologische, onomatologische u. geschichtl. Folgerungen usw.

nisch1) und hat sich bis ins Mittelalter als Gaubezeichnung erhalten.*) Daß der linksrheinischen Germanengruppe ein großer Stamm mit echt ger- manischem Namen angehörte, ist von großer Bedeutung; denn die meisten Stämme dieser Gruppe trugen, wie wir sahen, nicht bloß kel- tische Namen, sondern waren bis zu dem Grade in das Keltentum auf- gegangen, daß sie keine Spuren von Germanischem mehr aufwiesen. Die Übertragung des Namens einer Stammesgruppe, die man eher keltisch als keltisiert nennen müßte, auf die rechtsrheinischen Nicht-Kelten bildete für mich so lange ein schweres Problem, bis ich, zur Erkenntnis gelangt, daß Caesars Aufzählung keine vollständige sei, auf die germanischen Texuandri aufmerksam wurde, und es ist mir dann auch gelungen, daraufhin eine Plinianische Stelle im vierten Taciteischen Historienbuche (c. 15), die sich bisher allen Deutungsversuchen ver- schloß, zu erklären; doch schiebe ich, um den vorliegenden Zusammen- hang dadurch nicht zu unterbrechen, diese Erörterung noch etwas hinaus. Hier fahren wir in der Durchmusterung der Plinianischen Liste zunächst fort. Er nennt nach den Tungri die Sunuci und Baetasii, beide auch inschriftlich erwähnt, letztere außerdem zweimal von Tacitushist. IV 56. 66, d. h. also ebenfalls von Plinius. Diese Namen sind keltischer Prä- gung wie die der Tungri3) und der bei Caesar genannten Stämme; aber das steht ihrer Zugehörigkeit zu dem Germanenbünde, wie bemerkt, nicht im Wege. Plinius nennt zwischen den Sunuci und Baetasii auch die Frisiavones, die er einige Paragraphen vorher (101) neben denFrisii an der Nordseeküste erwähnt hatte. Die Annahme Mommsens (R. G.

1) Vgl. Schönfeld a. a. 0. (o. S. 373, 1) : „Texuandri germ. * Tehswandroz zu got. taihswa, lat. dexter 'rechts', wovon es mittels des Suffixes -dra, idg. -trä (vgl. got. aftra, langob. Wiliandrus) abgeleitet ist."

2) Vgl. Zeuß 210f. Piot, Les pagi de la Belgique (Mem. cour. et mem. des savants etrangers publ. par l'academie roy. XXXIX 1879) 68 ff. Dieses Zitat, das ich irgendwo fand, habe ich trotz vielem Suchen nicht verifizieren können.

3) Vgl. Schönfeld 243. Ob die von Fr. Kauffmann, D. A. 251, aufgestellte These: „Der Name Tungri kann nicht gut etwas anderes sein als die deutsche Form des Namens der im Eburonenlande angesiedelten Tencteri" sprachlich zu begründen ist, entzieht sich meiner Beurteilung. Von einer Ansiedelung der Tencteri im Eburonenlande weiß aber die Überlieferung nichts; sie waren, soweit sie nicht zu der von Caesar völkerrechtswidrig festgehaltenen Gesandtschaft und deren Begleitung gehörten (IV 13, 4. 15, 6), teils in dem Gefecht umgekommen, teils zu den Sugambri geflohen (16, 2) und haben hier den Römern noch auf sehr lange hinaus ernstlich zu schaffen gemacht.

Germani cisrhenani 385

V 115, 2), ihre Aufzählung unter den Völkerschaften der Belgica sei ohne Zweifel fehlerhaft, erscheint auf den ersten Blick zwingend. Immer- hin ist zu bedenken, daß Plinius' Angaben, die auf vorzüglichem Mate- rial beruhen, sehr genau sind, unser Wissen dagegen Stückwerk ist; und wenn man zugibt, daß es sich in diesem Teile der Plinianischen Liste um germanische Völkerschaften handelt, so ließe sich die Mög- lichkeit der Übereinstimmung eines cisrhenanischen Namens mit einem transrhenanischen vielleicht erwägen. Wer die ursprüngliche Zugehörig- keit der Frisiavones zu dem linksrheinischen Germanenverbande in Ab- rede stellt, könnte mit einer nachträglichen Verpflanzung dieses Stammes auf das linke Ufer rechnen: erwähnt doch Tacitus ann. XIII 59 (zum J. 58) eine Auswanderung der Friesen vom rechten Rheinufer auf das linke, die sie damals durch römische Waffengewalt rückgängig zu machen gezwungen wurden (vgl. o.S. 303). Zusammen mit den fünf Na- men bei Caesar würden die fünf Plinianischen eine Zehnzahl ergeben; rechnet man die Frisiavones nicht mit, so käme eine Neunzahl heraus. Beide Zahlen finden sich bei Stammesgliederungen der verschiedensten Völker öfters; doch möchte ich darauf kein Gewicht legen, da auch andere Zahlengruppen begegnen.1) Auf ziffernmäßige Angabe der cisrhenanischen Germanenstämme werden wir daher besser ver- zichten.2)

Die Germani cisrhenani als Stammesgruppe werden von Caesar außer an den angeführten Stellen des IL und VI. Buches nicht ausdrücklich erwähnt. Aber er hat sie im Sinne wohl schon zu Beginn des I. Buches (c. 1, 4) : denn durch die Hervorhebung Germani qui trans Hhcnum in- colunt, mit denen die Belgae, ihre Nachbarn, in dauerndem Fehde- zustande leben, sollen, wie mir scheint, die rechtsrheinischen Germanen von ihren linksrheinischen Namensgenossen, die ebenfalls Nachbarn

1) Meine Absicht, das von mir gesammelte, sehr umfängliche Material für ethnische Stammesgliederungen in einem Anhange vorzulegen, habe ich der Raum- ersparnis wegen aufgegeben.

2) Die Rechnung wäre um so unsicherer, als ja die Möglichkeit besteht, daß einzelne Stämme, wie beispielsweise die Segni, nur Zweige der vier von Caesar an der einen Stelle genannten vier Hauptstämme gewesen wären. Der Vorsuch Th. Bergks, Der Grenzstein des Pagus Carucum (Zur Gesch. u. Topogr. d. Rheinlande, Leipz. 1882, 103fF.), die inschriftlich einmal bezeugten Caruces (in der Eifel an der Straße von Trier nach Cöln) als dem Germanenbunde zu- gehörig zu erweisen, beruht auf einer Reihe sehr anfechtbarer Hypothesen.

Norden: Die germanische Urgeschichte 25

386 Kap. VI. Ethnologische, onomatologische u. geschichtl. Folgerungen U6vr.

der Belgae, aber ihre Bundesfreunde waren, unterschieden werden.1; Dieselbe Art der Unterscheidung kam auch bei Livius vor, da, wo er in den letzten Büchern seines Geschichtswerkes die Germanenkriege des Drusus erzählte: per. CXXXIX (zum Jahre 12 v. Chr.) civilates Ger- maniae eis Bhenum et trans Ithenum positae oppugnantur a Druso. Daß jedoch diese Livianischen Cisrhenani dieselben waren wie die Caesari- schen, ist keinesfalls anzunehmen, da sie sich nicht als civitates Ger- maniae bezeichnen ließen. Es werden vielmehr die seit dem Jahre 19 auf dem linken Ufer angesiedelten Ubii zu verstehen sein, die durch eiu von Drusus in Gallien eingeführtes, das ganze Land in Empörung ver- setzendes neues Steuersystem (Dio L1V 32) mitbetroffen waren. Wenn späterhin linksrheinische Germanen genannt werden, so sind darunter außer den Ubii auch die im Jahre 8 v. Chr. hinübergeführten Sugambri sowie die Batavi gemeint. Diese eis Bhenum2) wohnenden Germanen, die auch im I. Annalenbuche des Tacitus unter dieser Bezeichnung vor- kommen3), gehen uns hier nichts an; man sieht aber auch hieraus und wird darin eine Bestätigung der vorhin vorgetragenen quellenkritischen Bemerkungen erblicken, daß Livius, der im Verlaufe seines Werkes die

1) Belgae proxinti sunt Germanis qui trans Bhenum incolunt, quibuscum con- tinenter bellum gerunt. Wer meine Auffassung dieser Worte teilt, wird darin ein Argument gegen die Ansicht finden, daß Caesar jedes einzelne Buch nach Abschluß des betreffenden Jahres verfaßt habe (s. o. S. 91): denn die cisrhenani- schen Germanen lernte er ja erst im folgenden Jahre kennen. Die Worte Ger- mani qui trans Bhenum incolunt stehen auch I 28, 4 ; hier sind die von den Hel- vetiern durch den Rhein getrennten rechtsrheinischen Germanen gemeint (vgl. 1 1, 4 Helvetii .. . fere cotidianis proeliis cum Germanis contendunt), also die im Hegau, Kanton Schaff hausen und im Breisgau ansässigen, über die E. Fabricius in der oben (S. 226) zitierten Schrift Licht verbreitet hat. In derselben Weis-e unterscheidet Caesar übrigens, was meiner Auffassung zur Stütze dient, I 5, 4 Boios qui trans Bhenum ineöluerant von den linksrheinischen 128,5.

2) Die Komposition cisrhenanus kommt, von der im Text behandelten Caesar- stelle VI 2, 3 abgesehen, nach dem Onomastikon des Thes. 1. 1. nur noch vor auf einem Ziegel bei Brambach Inscr. Ehen. 223k. Aber diese Inschrift ist, worauf mich Dessau hinwies, von Lehner, Bonn. Jhb. 111/2 (1904), 296 als plumpe Fäl- schung erwiesen.

3) Tac. ann. I 56 (zum Jahre 15) Germanicus quattuor legiones, quinque auxi- liarium milia et tumultuarias catervas Germanorum eis Bhenum cölentium Caecinae tradit. Dies ist die erste Erwähnung einer (irregulären, tumultuaria) germani- schen Provinzialmiliz (M. Bang, Die Germanen im röm. Dienst, Berl. 1906, 56). Sie mag sich aus Batavi oder Ubii oder Sugambri rekrutiert haben (vgl. Nipperdey).

Germani cisrhenani 387

alten Caesarischen und die neuen Augusteischen Cisrhenani zu erwähnen hatte, die begriffliche Bestimmung notwendigerweise zum Gegenstande einer Erörterung hat machen müssen.

Von der alten germanischen Stammesgruppe auf dem linken Rheinufer ist nun nach der Annahme des Livius-Tacitus die Propaganda des Ger- manengruppennamens zum Volksnamen ausgegangen: eine Annahme, die, wie sich weiterhin ergeben wird, alle Wahrscheinlichkeit für sich hat. Über die Vorgeschichte dieser Stammesgruppe, deren Namen eine so stolze Zukunft beschieden war, wüßten wir gern Näheres, aber die Überlieferung ist fast stumm, und nur mit Behutsamkeit läßt sich ihr einiges von Belang abringen.

Wir werden uns diese Stammesgruppe als besonders stark zu denken haben. Nur unter dieser Voraussetzung erklärt es sich, daß es ihr gelang, auf dem linken Stromufer ein beträchtliches Gebiet zu besetzen. Für diese Annahme spricht auch der von Caesar (II 4, 10) wieder- gegebene Bericht der remischen Gesandten, daß der Heerbann, den vier Teilstämme dieser Gruppe zum belgischen Bundesheere, zu stellen sich verpflichteten, gegen 40000 Mann betragen habe. Da ausdrück- lich bemerkt wird, daß es sich nur um Kontingente handle, muß die Gesamtzahl der Wehrfähigen noch größer gewesen sein. Legen wir nun die von Caesar selbst (I 29, 2) bei der helvetischen Volkszählung angestellte Berechnung zugrunde, daß die waffenfähigen Männer x/4 der Kopfzahl betragen habe eine Schätzung die in neueren Werken (z. B. von J. Beloch und H. Nissen) als zutreffend erkannt und auf ähnliche Verhältnisse übertragen worden ist , so würde sich für jene vier Stämme eine Gesamtzahl von mehr als 160000 Köpfen ergeben. Freilich ist Vorsicht angebracht, denn die Zahlen des belgischen Volks- heeres, die sich Caesar von den remischen Gesandten berichten läßt, sind teilweise übertrieben1): übrigens eine Trübung des Wahren, durch die der vorher erbrachte Nachweis des Verdachtes gesrenüber dem ersten Teile des Berichtes bestätigt wird. Wenn wir aber die abso- luten Zahlen der einzelnen Kontingente auch preisgeben und nur die relativen gelten lassen, so bleibt doch die Tatsache bestehen, daß die Germani -Gruppe (40000) gleich hinter die der mächtigsten Belgae,

1) J. Beloch, Die Bevölkerung d. griech.-röm. Welt (Leipz. 1886) 453 f., und Klio III (1903) 479, wozu jedoch die berechtigte Restriktion von A. Klotz, Caesarstudien 101, 2, hinzuzunehmen ist.

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388 Kap. VI. Ethnologische, onomatologische u. geschieht!. Folgerungen usw.

der Bellovaci (60000), Suessiones und Nervii (je 50000) zu stehen kommt und die nächsthöchsten, die Morini (25000), beträchtlich überragt. Dieses Zahlenverhältnis verschiebt sich aber noch zugunsten der Germani, wenn wir bedenken, daß die vier von Caesar hier o-e- nannten Stämme nur einen Teil der Gesamtgruppe, wie wir sahen, gebildet haben. Die Bevölkerungsdichtigkeit des von den Germani ein- genommenen linksrheinischen Gebietes, dessen Umfang wir oben ver- suchsweise umschrieben, dürfen wir uns streckenweise nur als serinrr vorstellen; denn noch heute gehören die Abhänge der Ardennen und die mit Sand und Heide bedeckte „Campine" zu den am wenigsten bevölkerten Gegenden Belgiens.1)

Über die Etymologie des Namens Germani ist unsagbar viel ge- schrieben worden. Der Mühe ist nur insoweit Erfolg beschieden sre- wesen, als sich die zuerst von Zeuß aufgestellte Annahme, er sei keltisch, besonders durch Müllenhoffs Untersuchungen bestätigt hat. Darüber hinaus ist alles dunkel geblieben: ich darf für das einzelne auf meinen akademischen Vortrag „Germani. Ein grammatisch-ethno- logisches Problem." verweisen.2) Zum Glück hat nun dieses anscheinend

1) Vgl. E. van Bemmel, Patria Belgica, encyclopedie nationale I (Brüssel 1873). Abschn. XVUI: Economie rurale p. 519 'Le Condroz ... est une region uniforme, triste et froide . . . Le Condroz est sans contredit la region de la Belgique les procedes de eulture sont les moins avances relativement aux conditions du sol et du climat1; die Gegend sei ungewöhnlich dünn bevölkert. Eine nicht viel günstigere Schilderung wird p. 522ff. von Her 'Zone Ardennaise' gegeben; es heißt da beispielsweise: wenn es nicht einige besser gegen Winde geschützte und fruchtbare Täler gäbe, 'il est ä croire que rhomme eüt toujours evite cette region sauvage.'

2) Sitzungsber. d. Berl. Ak. 1918, 95ff. Mein dort ausgesprochener Wunsch, die weitere Diskussion bis zum Bekanntweiden etwaigen neuen Materials zu vertagen, hat sich nicht erfüllt: inzwischen hat F. Kluge im Literaturblatt der Köln. Zeitung vom 6. Okt. 1918 einem Laienpublikum eine Deutung vorgetragen, vor der jegliche Diskussion versagt; er hat sie soeben vor einem gelehrten Forum zu wiederholen gewagt: Germania III (1919) lfi*. Ich benutze die Gelegenheit, ein paar Nachträge zu meinem Vortrag zu geben. Zu S. 96 f.: Strabo kleidet seine absurde Deutung des Germanennamens (VII 290) in die Formel der sub- jektiven Meinungsäußerung Sov.it fioi wie die ebenso absurde des Leleger- namens VII 322. Damit vergleiche man IV 189 olyuai für seine Erklärung des Keltennamens als Gesamtbezeichnung (sicher Strabo selbst: Klotz, Caesarstud. 59). Wer das alles glauben will, dem ist das nicht zu wehren; er darf sich aber nicht auf „Quellen" Strabos berufen. Zu S. 103, 1, wo ich kurz auf

Alter des Germanennamens 389

unlösbare Problem mit dem Taciteischen Berichte, dem Gegenstände vor- liegender Untersuchung, nicht das Geringste zu schaffen: gerade unsere Analyse setzt uns in den Stand, dieses Negative mit Bestimmtheit zu be- haupten.1) Die Frage, die die Gewährsmänner des Tacitus und diesen selbst beschäftigte, war nur diese: wie ist der Stammesname zum Volks - namen geworden. Eine Deutung der ersteren zu suchen lag außerhalb ihres und ihrer Leser Interessenkreise, nirgends findet sich in der ganzen, an Namen so reichen Schrift auch nur eine Spur etymologischer Deu- tungsversuche. Wenn man an die Spielereien Strabos und Späterer denkt, so wird man in dem Verzicht auf Erkundung des mit dem verfüg- baren Material nicht Erreichbaren eher Wissenschaftlichkeit als das Gegenteil erblicken, und demgemäß wollen auch wir uns bescheiden. Dagegen gehört in den Zusammenhang unserer Untersuchungen

die Frage: wo hat der Stamm den Namen f Germani' geführt? Als er

noch auf rechtsrheinischem Ufer saß, oder erhielt er ihn erst, als er

auf das linke vorgestoßen war? In den Worten des Tacitus quiprimi Rhenum transgressi Gallos expulerint ac nunc Tungri, tunc Germani vocati sint läßt das Tempus der letzten Worte an sich zwei Auffassungen zu. Entweder ist es das Terfectum logicum' dann hießen sie bei ihrer Überschreitung des Stroms bereits Germani: ol vvv yihv TovyyQoi rörs de reg[iccvol xexlrjiisvot2) oder es ist das Terfectum histori- die Ortsnamen rsg^iri, FsQ^taviu u. ä. im Osten des Reiches zu sprechen kam, verweise ich auf die mir von ihrem Verf. Gawril Kazarow zugesandten Auf- sätze in der Klio VI (1906) 169 ff. und in den Jahresheften d. österr. arch. Inst. XVI Beibl. 205 ff. Zu dem Satze auf S. 102: „Die Germanen haben ihren Namen von dem keltischen Nachbarvolke erhalten, wie sie ihrerseits ihren östlichen Nachbarn, den Esthen (Aestü), Wenden (Venedi) und Finnen (Fe)ini) germanische Namen gaben" möchte ich eine Analogie aus asiatischem Kultur- kreise nachtragen: 'Tocharer' (To^r'i, To%uqoi Strab. XI 511) sind die Bewohner des Landes von ihren Nachbarn, den Uiguren, benannt worden, sie selbst be- zeichneten sich als Arsi, was möglicherweise identisch ist mit den von Strabo a. a. 0. neben den Tocbaren genannten "Aöioi: E. Sieg und F. W. K. Müller, Sitzungsber. a. a. 0. 560 ff.

1) Schon im Jahre 1843 schrieb G. Waitz im I. Bande seiner Deutschen Verfassungsgeschichte (3. Aufl., Berl. 1880, 28f.): „Nach der Bedeutung des Worts fragt offenbar Tacitus nicht, so wenig wie irgendwo sonst bei den deutschen Volksnamen: solche Untersuchungen lagen den Alten fern." Diese Worte haben nur wenig Gehör gefunden.

2) Belege für die typische Art dieser Ausdrucksweise sollen später ge- geben werden.

390 Kap. VI. Ethnologische, onoinatologische u. geschichtl. Folgerungen usw.

cum' dann wurden sie erst hinterher so genannt: ix?.rj&rl6av. So- viel ich sehe, wird jetzt meist die letztere Auffassung vertreten1), durch- aus mit Unrecht. Wenn Tacitus zum Ausdruck hätte bringen wollen, daß die Völkerschaft diesen Namen erst in Gallien bekommen hätte, so würde er aller Wahrscheinlichkeit nach den Satz so geformt haben, daß auch in dessen erstem, soeben zitiertem Teile vocarcntur hätte ge- sagt werden können, wie am Schlüsse seines zweiten Teils evaluisse paidatim, ut . . . vocarentur durch dieses Tempus die Zeitstufe des Ein- tritts in die Vergangenheit unzweideutig bezeichnet wird.2) Aber auch abgesehen davon: die unrichtige Auffassung ist ja nur durch ein Miß- verständnis des Taciteischen Gedankenganges hervorgerufen worden: weil er die Propaganda des Stammnamens zum Volksnamen allerdings in Gallien stattfinden läßt, so glaubte man, auch die erstmalige Be- nennung des Stammes sei dort erfolgt. Vielmehr brachte der Stamm den Namen aus der rechtsrheinischen Heimat bereits mit, als er auf das linke Ufer hinüberging. Dadurch gelangen wir für den Namen in ein sehr hohes Altertum.

So verwegen es nun auf den ersten Blick auch erscheinen mag: eine philologisch -historische Betrachtung scheint es uns zu ermög- lichen, eine ungefähre untere Zeitgrenze für das Alter des Namens zu gewinnen. Ich führe zunächst einige Gedanken aus meinem erwähnten

1) Bei der weiterhin entwickelten, meiner Ansicht nach richtigen befinde ich mich wieder in Einklang mit mehreren der oben (S. 350, 1) namhaft ge- machten alten Gelehrten. Treffend auch, ohne diese zu kennen, Watterich in der dort genannten Schrift (S. 51): „Sehr bedeutsam sagt er nicht: tunc Oer- mani vocarentur, sondern vocati sint: sie, die Hinüberkommenden, hießen schon so, sie bekamen nicht erst diesen Namen, nein, sie hatten ihn, sie brachten ihn über den Rhein mit." Auch Kossinna hat in seiner wiederholt genannten Abhandlung (o. S. 328, 1) 263 f. diese Auffassung mit Nachdruck vertreten, leider nicht mit durchschlagendem Erfolg.

2) Vgl. hist. IV 28 actae utrobique praedae (von dem Germanenheere des Civilis), infestius in Ubiis, quod gens Germanicae originis eiurata patria Boma- norum nomen Agrippinenses vocarentur: „sich hätten nennen lassen". (Die Worte Romanorum nomen sind von Gruter getilgt, dem sich, soviel ich sehe, alle neueren Herausgeber anschließen. Dadurch wird für mein Gefühl dem Gedanken seine Spitze abgebrochen. An dem Kasus von nomen, das Lipsius in nomine ändern wollte, wird man doch keinen Anstoß nehmen: övofia xcdsi6&ui ist sogar das Übliche, und diese Art von Konstruktion gehört zu den sehr früh ins Lateinische aufgenommenen).

Alter des Germanennamens und der keltischen Wanderungen 39 1

Akademievortrage an, die dort mehr nebensächlicher Natur waren, hier aber in den Mittelpunkt rücken; sie suchten das bekannte Pro- blem der bei Plinius III 25 aus den Listen der Reichsstatistik ge- nannten Oretani-Germani in Spanien seiner Lösung entgegenzuführen. „Das Nebeneinander der Namen muß nach dem festen Brauche des Plinius so verstanden werden, daß die Germani ein Teilstamm der Oretani waren. Die Wohnsitze der iberischen Oretanen stießen hart an keltisches Gebiet: nördlich der Oretani wohnten, an der Sierra Morena, die die Grenze von Andalusien gegen Estremadura und Neu- kastilien bildet, die Bebryakes, ein großer Keltenstamm, der, wie durch alte Zeugnisse beglaubigt ist1), in früher Zeit hier eingedrungen war.2) Hier hat sich also eine Vermischung von Iberer- und Keltentum voll- zogen. Für die Etymologie des Namens Germani gibt dies nicht das- Geringste aus, aber es folgt daraus einiges Belangreiche für seine älteste Geschichte." Ein keltischer Stamm, der an der gewaltigen Ex- pansion der Kelten über die Pyrenäenhalbinsel teilnahm und hier in das Iberertum aufging, trug denselben Namen wie der Stamm Ger- mani auf gallischem Boden, den wir aus Caesar kennen. Darin liegt ein wichtiges Zeugnis für das hohe Alter des Namens. Denn über die untere Zeitgrenze jener großkeltischen Propaganda sind wir unter- richtet. Herodot nennt an einer berühmten Stelle (II 33, vgl. IV 49 ) das Keltenvolk im Südwesten der Pyrenäenhalbinsel. Nun ist von F. Jacoby (R. E. VII 1912, Sp. 2682. 2710) sehr wahrscheinlich ge- macht worden, daß Herodot diese Nachricht dem Hekataios entnahm. Neben das Zeugnis des Hekataios tritt ein mindestens gleichaltes, das für keltische Urgeschichte noch nie ausgewertet worden ist. Es findet sich in einer sehr eigenartigen und wichtigen Versreihe des Avienischen Periplus (129 ff.), wonach die Kelten die Ligurer von der spanischen Westküste ins Gebirge zurückgedrängt haben3), wie ja auch, abgesehen

1) Die Quelle von Aviens Periplus 483 ff., Ephoros bei Ps. Skymnos 199 f. {Ephoros schöpft öfters aus gleicher Überlieferung, wie sie uns bei Avienus vorliegt) u. a.

2) Die beste kartographische Anschauung erhält man auf der von A. Schulten seinem Numantiawerke I (1914) beigegebenen Karte I.

3) Auf eine nähere Behandlung der Verse kann ich, da dies zu weit führen würde, nicht eingehen. Die bei Avienus genannten Ligurer an die flandrische Küste zu versetzen, ist ein seltsames Mißverständnis, dem man allenthalben begegnet, z. B. auch bei F. Marx, Rh. Mus. L (1895) 337; es ist

392 KaP- ^- Ethnologische, onomatologische u. geschichtl. Folgerungen usw.

von dieser Stelle, die keltische Besiedelung der Pyrenäenhalbinsel in dem Periplus vielfach bezeugt ist. Jenem Berichte bei Avienus ist wie der ganzen Umgebung, in der er steht, der Stempel höchster Altertümlichkeit aufgedrückt. Von einer „Benutzung" des Hekataios kann hier auch abgesehen davon, daß die nicht überarbeiteten Teile des Periplus nicht auf Buchgelehrsamkeit, sondern auf lebendiger Anschauung beruhen schwerlich die Rede sein. Die Primärquelle des Periplus war, ganz vorsichtig ausgedrückt, der Europe des Milesiers etwa gleichzeitig, aller Wahrscheinlichkeit nach aber sogar noch etwas älter als diese; der übliche Ansatz jener Grundschrift auf ca. 475 erscheint um mindestens 25 Jahre, vermutlich noch um etwas mehr, zu niedrig. Übereinstimmungen mit Hekataios sind also auf gleiche Erkundung zurückzuführen, die bei Hekataios für Spanien wahrscheinlich durch Massalia vermittelt war, bei dem Verfasser der Avienischen Grundschrift in Schiffahrtsaufzeichnungen bestanden zu haben scheint, die sich etwa als ein phokäisches Segelhandbuch be- zeichnen lassen.1) Hierdurch ergeben sich nun weite chronologische

charakteristisch, daß Dechelette a. a. 0. (o. S. 358, 2) II 2 S. 566 mit seinem klaren Blick für alte Siedelungsverhältnisse die Unmöglichkeit begriff und sich ihr durch Annahme eines Irrtums des Avienus zu entwinden suchte. Aber daß bei diesem die Ozeanküste im NW. Spaniens gemeint ist, kann Belbst nach den vorläufigen Bemerkungen W. Sieglins (Verh. d. VII. internal. Geogr. Kongr., Berl. 1899, II 871) keinem Zweifel unterliegen. Die spanische Küste ist bei Avienus 132 ff. deutlich bezeichnet; Ligurer als Nachbarn der Kelten in den Pyrenäen sind auch 196 f. genannt.

1) Die hier gegebenen Andeutungen sind das Ergebnis von Untersuchungen, die A. Schulten (Erlangen) demnächst vorzulegen beabsichtigt; er hat mir in sein noch unfertiges Manuskript Einsicht gestattet und diese Mitteilung daraus genehmigt. Die Probleme des Avienischen Periplns waren mir lange vertraut, die Annahme einer von Hekataios unabhängigen , sehr alten Grundschrift er- scheint mir klärend; aber der Beweis wird von Schulten erst zu erbringen sein. Die Analyse des Avienischen Periplus darf überhaupt wohl als die dringendste Aufgabe der historischen Geographie bezeichnet werden. Ohne Schulten vorgreifen zu wollen, dessen Ansicht, soweit ich sie kenne, darin von der meinigen beträchtlich abweicht, möchte ich die großen Richtlinien, soweit sie mir einigermaßen kenntlich sind , hier freilich in dem Bewußtsein ziehen, daß künftige Analysen, die von Satz zu Satz, Abschnitt zu Abschnitt vor- echreiten, diese vorläufige Linienführung mehr oder minder verändern können. Der Periplus aus der Zeit etwa 520 500 ist um 350 überarbeitet worden. Diese Schrift ist durch Mittelquellen zur Kenntnis des Avienus gelangt. In

Alter des Germanennamens und der keltischen Wanderungen 393

Ausblicke, deren Gewähr übrigens durch die soeben vorgetragene Datierung des Periplus nicht berührt wird: ob wir diesen auf 475 oder 500 oder noch etwas früher ansetzen, macht für die Zeiträume, in die wir hineingelangen werden, nichts aus. In dem Periplus wird von dem Einfall der Kelten in die Pyrenäenhalbinsel und der Ver- drängung der Ligurer als einem längst zurückliegenden Ereignisse gesprochen.1) Dadurch gelangen wir ganz hoch in das VI. Jahrb., ja, eher noch über dieses hinauf. Die gallischen Germanen blieben viele Jahrhunderte lang auf den unwirtlichen Abhängen der Ardennen, einer Gegend, nach der niemand begehrte, unangefochten, bis sie in die Katastrophe des Keltenvolkes, dem sie sich fast gänzlich assimiliert hatten, hineingezogen wurden. Die oretanischen Germanen, die Grenz- nachbarn der Keltiberer, bewohnten die südlichen Ausläufer des Tafel- landes in der Sierra Morena, einem Gebirge, das Strabo (III 142) als „rauh und recht kümmerlich" bezeichnet; hier hielt sich der Germanen- name als Stammesbezeichnung inmitten des Iberertums bis in die römische Kaiserzeit hinein.

Die keltische Propaganda hat auf dem Festlande nicht halt-

einer dieser war schon Iuba von Mauretanien, der Freund des Augustus, zitiert (Vers 277 fT.) ; er hat als Vermittler wohl überhaupt eine bedeutende Rolle gespielt: denn wem ständen die berühmten, ganz singulären Zitate aus den Punicorum annales des Himilco (117. 383. 412) besser an als dem maure- tanischen Könige, aus dem von Plinius V 8 und Ammianus XXII 15, 8 die Punici libri des Hanno zitiert werden? Ammianus war ein Zeitgenosse des Avienus, auch jener für Geographisches lebhaft interessiert; er hat das Iuba- Zitat sicher nicht aus erster Hand, sondern es stand schon in einer Choro- graphie, die er kompilierte. Eine solche dürfte auch die unmittelbare Quelle Aviens gewesen sein: das kostbare Gut, das er aus dem alten Periplus über- lieferte, hatte also einen Zeitraum von etwa 900 Jahren durchlaufen. Die Ansicht von Marx (s. vorige Anm.), daß nur der zweite, größere Teil des Periplus (etwa von Vers 225 an) auf alte Zeit zurückgehe, der erste, kleinere in erheblich jüngere Zeit falle, muß abgelehnt werden. Er hat sich keine richtige Vorstellung von den näheren Umständen der Entdeckungsgeschichte des Westens gebildet und hat vor allem nicht bedacht, daß die europäische Westküste bis nach Britannien hinauf mehrere Jahrhunderte vor Pytheas be- kannt war, von diesem, der die alte phokäisch-massaliotische Tradition natür- lich kannte, nur wiederentdeckt wurde: solche Wiederentdeckuugen spielen ja in der Geschichte der Erdkunde aller Zeiten eino Hauptrolle. Gespräche mit H. Philipp sind mir für diesen ganzen Fragenkomplex aufklärend gewesen 1) 134 dudum 140 diu 142 priscum ob pericleum.

^94 Kap. VI. Ethnologische, onomatologische a. geecbichtl. Folgerungen ubw.

gemacht. Obwohl es nicht dieses Ortes ist, ihr übers Meer zu folgen, so seien doch hier um der Chronologie willen die Worte eines Ge- lehrten angeführt, dem jeder auch auf hypothetisches Gebiet mit Ver- trauen folgen wird. H. Zimmer schreibt in einer von Kuno Meyer aus dem Nachlaß publizierten Bemerkung (Ztschr. f. celt. Phil. IX 1003, 94): „Wann die Kelten nach Britannien und Irland gekommen sind, ist mit Sicherheit kaum auszumachen. Wenn wir sehen, daß die angel- sächsische Eroberung in engstem Zusammenhang mit der germanischen Völkerwanderung steht, liegt der Gedanke nahe, daß die Kelten- eroberung Britanniens ebenso in Beziehung zu der keltischen Völker- wanderung steht, wie denn beide Ereignisse manche Parallele bieten. Dann wären Keltenscharen im VI/V. Jahrh. ebenso nach Britannien übergesetzt, wie sie um dieselbe Zeit nach Spanien vordrangen. Gegen eine solche Annahme spricht nichts, manches steht mit ihr in Ein- klang." Wohl ist es mir schmerzlich, dem großen, mir befreundeten Forscher meine Kombinationen nicht vorlegen zu können, damit er sie prüfe und auf ihre Stichhaltigkeit an den seinigen messe; aber das wird nun die Aufgabe derer sein, die sein Andenken in Ehren halten, indem sie seinen Geist unter sich fortleben lassen, damit der- einst sein Wunsch sich erfülle, dem er einmal in den Worten Aus- druck gab : „Es ist Hoffnung vorhanden, daß die Sonne der wissenschaft- lichen Erkenntnis bis zum kommenden neuen Jahrhundert auch über Westeuropa wird aufgegangen sein." Die von ihm für die keltische Propaganda angesetzte Zeit scheint mir mehr den Abschluß als den Anfang der Bewegung zu bezeichnen, die sich in graue Vorzeit verliert. Es verlohnt sich wohl, an dieser Stelle einen Blick auf die archäolo- gische Forschung zu werfen. Denn wenngleich sie für das Alter des Namens als solchen natürlich nichts ausgibt, so ist doch das Ergebnis, zu dem sie gelangte, die Annahme eines Vordringens deutscher Stämme an und über den Rhein in sehr alter Zeit, in erwünschter Übereinstim- mung mit dem von uns aus der Prüfung literarischer Zeugnisse er- schlossenen Alter des Germanennamens. K. Schumacher hat in seiner Abhandlung „Gallische und germanische Stämme und Kulturen im Ober- und Mittelrheingebiet zur späteren La-Tenezeit" (Prähist. Ztschr. VI 1914, 230 ff.) darauf hingewiesen (S. 291), daß sich die Keramik des V. vorchr. Jahrhunderts „bereits über Bielefeld und Dortmund bis Duisburg ver- folgen lasse und das erste Auftreten der Westgermanen am Niederrhein

Anfänge der germanischen Expansion bis zum Rhein 395

bedeute". C. Schuchhardt stimmt dem zu; er schreibt in seinem soeben erschienenen Buche „Alteuropa" (Straßb.-Berl. 1919) 322: „Die einfache, aus den Bronzezeitformen erwachsene Keramik . . . schiebt sich durch Westfalen an den Rhein vor, wo wir sie bei Duisburg und Cöln von der Sp'äthallstattzeit an in flachen Hügelgräbern auftreten sehen. Wohl mit Recht will man hierin das erste Vordringen der Germarien an den Rhein erkennen." Vielleicht dürfen wir in diesem Zusammenhange nochmals auf das vielberufene Asciburgium zurückkommen. Wir hatten gesehen (o. S. 189 ff.), daß an diesen Ort vermutlich germanischen Namens sich eine Legende knüpfte, die ihm unvordenkliches Alter zuwies. Die Legende als solche und ihre fabelhafte Chronologie aufzulösen war uns ein leichtes gewesen, aber einzelne Momente schienen darauf hinzuweisen, daß es sich um eine alte Siedelung handle. Da ist es nun wohl bemerkenswert, daß in der Gegend des jetzigen Asberg, nämlich im Kreise Ruhrort, und am linken Rheinufer in den Kreisen Gladbach, Cleve, Geldern Hunderte von Hügelgräbern mit keramischen Funden des erwähnten eigentüm- lichen, mutmaßlich germanischen Typus entdeckt worden sind, deren Chronologie A. Kiekebusch in einer diesem Gegenstande gewidmeten Monographie (Der Einfluß der römischen Kultur auf die germanische im Spiegel der Hügelgräber des Niederrheins, Stuttg. 1908) einer Unter- suchung unterzogen hat (S. 43 ff.); er glaubt, in sehr hohes Altertum hinaufgehen zu müssen. Da mir jede Möglichkeit einer Nachprüfung dieser Dinge fehlt, so enthalte ich mich des Urteils, stelle aber gern fest, daß ich durch Untersuchung der unvergleichlich viel spärlicheren lite- rarischen Überlieferung noch vor Bekanntschaft mit der archäologischen zu ähnlichen Ergebnissen geführt worden bin. Als ich vollends bei G.Kos- sinna (Die Herkunft der Germanen, Würzb. 1911, 22) las, seiner Ansicht nach hätten die Germanen in der frühen Eisenzeit, um 700 v. Chr., den Niederrhein gewonnen, fand ich diesen Ansatz in so vollkommener Über- einstimmung mit dem ungefähren Datum, zu dem ich durch Schlüsse aus dem alten Periplus gelangt war, daß ich daraus eine gewisse Zu- versichtlichkeit schöpfen zu dürfen glaubte. Von mehr als einer Mög- lichkeit oder vielleicht Wahrscheinlichkeit zu reden wäre vermessen: hier ist noch alles im Flusse, und man muß schon zufrieden sein, wenn es gelungen sein sollte, einen oder den anderen kleinen Baustein ge- liefert zu haben, der sich zu künftigen Konstruktionen als dienlich erweist.

QQß Kap. VI. Ethnologische, ononiatologische u. geschichtl. Folgerungen usw.

Weitere Erkenntnis wird hoffentlich die Bodenforschung bringen, die zumal in den für die vorliegende Frage besonders in Betracht kommenden Landschaften Hollands und Belgiens ertragreich sein könnte. Aus dem Werke des angesehenen holländischen Altertumsforschers J.H.Holwerda 'Nederlands vroegste Beschaving' (Leiden 1907) habe ich zu meinem Be- dauern ersehen, daß die über die bisherigen Grabungen vorhandene Lite- ratur (dort auf S. 56 verzeichnet) in Deutschland schwer oder gar nicht zuo-äno-lich ist.1) Und doch scheint sich aus der soeben erschienenen Monographie desselben Verfassers „Das Gräberfeld von 'de Hamert' bei Venlo" (1918) zu ergeben, daß systematisch ausgeführte Grabungen in jenen Gegenden Erfolg versprechen; nur dem von dem genannten For- scher unternommenen Versuche, die üblichen Daten zeitlich ganz er- heblich hinabzudrücken, befinde ich mich, obwohl ich mir im übrigen angewöhnt habe, jüngeren Zeitansätzen mehr zu trauen als älteren, in diesem Falle doch in einer Verlegenheit, die, wie mir bekannt geworden ist, andere, deren Urteil viel kundiger ist als das meinige, teilen.

Nunmehr treten wir aus der Dämmernis von Zeiträumen, die nur durch ein spärliches Licht historischer Kunde beleuchtet wird, wieder in hellere Regionen ein.

3. GERMANI -TUNGRI Wie das meiste in dem Taciteischen Satze, so ist auch die Deutung der Worte qui . . . nunc Tungri, tunc Germani vocati sint umstritten. Wie haben wir uns das Verhältnis der Tungri zu den Germani zu denken? Wann und unter dem Zwange welcher Vorgänge hat der Namenwechsel stattgefunden? Die jetzt, soweit ich sehe, verbreitete Ansicht ist recht kompliziert: die Tungri seien von den Galliern einst Germani genannt worden, dann aber habe, als Germani Volksname geworden war, der alte ötammname Tungri wieder Platz gegriffen. Diese Annahme ist in dieser Form unhaltbar: eine solche Kreisläufigkeit der Namengebung ist auf dem weiten Gebiete ethnischer Onomatologie meines Wissens beispiellos; und vor allem: den Tungri wird dabei eine Bedeutung zugeschrieben, die ihnen in alter Zeit nicht zukam. Wir wissen über die Tungri genug2),

1) Leider war mir eine Beschaffung dieser Literatur aus Holland während des Krieges unmöglich.

2) Ich hoffe, daß mir bei der Sammlung der folgenden Notizen nichts von Belang entgangen ist. Vgl. auch 0. Hirschfeld zum CIL XIII 1, 2 S. 573 f.

Germani- Tungri 397

um sagen zu können, daß dieser Stamm in die Geschichte erst eintrat, als die Erweiterung des Stammnamens Germani (cisrhenani) zum Volks- namen bereits abgeschlossen und jener Stammname im Verschwinden war, d. h. in nachcaesarischer Zeit. Die Tungri werden zum ersten Male anläßlich der von Augustus in den Jahren 16 13 veranstalteten Neu- ordnung Galliens als eine Civitas der Belgica erwähnt bei Plinius n. h.IV106, in einer aus denCommentarii des ausdrücklich zitierten Agrippa stammenden Aufzählung. Ebenfalls noch der Augusteischen Zeit glaubten wir die Erwähnung der Tungri an der uns beschäftigenden Stelle der Taciteischen Germania zuschreiben zu dürfen: das Buch C1V des Livius, worauf wir den Satz zurückführten, ist, wie bemerkt (S. 151, 2), jedenfalls noch unter dem Augusteischen Prinzipat, aber ganz gegen dessen Ende verfaßt. Dann nennt Plinius und zwar spricht er hier nachweislich in eigner Person XXXI 12 einen eisenhaltigen Sprudel in der Civitas der Tungri: es ist wohl mit Sicherheit Bad Spaa in der Provinz Lüttich ge- meint.1) Endlich werden die Tungri denn über die Grenze der Taci- teischen Zeit herabzugehen, hat für uns kein Interesse2) bei den gal-

1) Es ist wieder ein Fall von der Art des oben (S. 291 f.) besprochenen, wo die betreffende Nachricht dem Anfange eines Buches angehört, so daß die Be- ziehungen des Autorenregisters auf den Text ganz verläßlich sind:

Index: ex auctoribus Text des Buches XXXI

M. Varrone § 9 auctorestM. Varro: Heilkraft einer Quelle am Taurus

§ 11 Varro auctor est: Heilkraft des lacus Aphius(?) Cassio Parmense § 11 epistula Cassii Parmensis: Heilkraft des Kydnos § 12 Anfang: Heilkraft einer Quelle bei den Tungri Cicerone §12 Schluß: Cicero in Adviirandis: Sümpfe von Beate.

Zwischen § 11 also und dem Schluß des § 12 steht die Nachricht über den fons Tungrorum, für die ein Autor weder im Index noch im Text zitiert wird. Also gehört sie dem Plinius selbst, der übrigens diese von ihm beschriebene Quelle nicht bloß gesehen, sondern auch probiert zu haben scheint (vgl. o. S. 255, 5) : denn er weiß über sie so genau Bescheid, daß er angibt, man merke ihren Eisen- gehalt erst am Schluß des Trinkens. Ihm zu Ehren führt, wie ich einer ge- legentlichen Bemerkung entnehme (Westd. Ztschr. XXV 1906, 10) ein Brunnen in Tongres den Namen 'Fontaine de Pline'; aber der Anspruch von Tongres Bcheint gegenüber dem von Spaa zurückstehen zu müssen (ich habe das nicht genau prüfen können).

2) Nur dies sei erwähnt, daß ihre Civitas, die Plinius (und, nach älterer Vorlage, Ptolemaios II 9, 5) unter den belgischen aufzählt, seit TraianuB zu Ger- mania inf. gehörte ( 0. Hirschfeld a. a. 0.), und daß hier wohl schon in vor- konstantinischer Zeit ein Bistum war (A. v. Harnack a. a. 0. [o. S. 217, 1] 279)

398 Kap. VI. Ethnologische, onomatologische u. geschichtl. Folgerungen usw.

lisch-germanischen Ereignissen der Jahre 69/70 erwähnt: zwei cohortes Tungrorum gehörten zur Armee des Vitellius, und dem Übertritt einer anderen cohors Tungrorum zu Civilis verdankte dieser etwa Juni 69 seinen ersten großen Sieg (Tac. hist. IV 16).1) Im Jahre 70 trat der ge- samte Stamm der Tungri zu Civilis über (Tac. IV 55. 66), wurde aber nach dem Siege des Cerialis bei Trier wieder unter römische Botmäßig- keit gebracht (ebd. 79). Für diese Vorgänge sind die Historien des Tacitus unsere einzige Quelle; da er aber diese Ereignisse sicher nach dem Annalenwerke des Plinius erzählt hat, so müssen wir wiederum diesen dafür an die Stelle setzen.

Sollte nun ein Volksstamm, dessen geschichtliches Dasein uns ver- hältnismäßig so spät sichtbar wird, bereits viele Jahrhunderte vorher denn so hoch müssen wir, wie wir sahen, hinaufgehen mit dem Namen „Germani" in die Geschichte eingetreten sein? Das wäre so unwahrscheinlich wie nur möglich. Jedenfalls dürfte man einen der- artigen Vorgang doch erst annehmen, wenn es keinen anderen Weg gäbe. Nun aber bieten die Mitteilungen Caesars über die Germani eis- rhenani, die wir kennen lernten, eine Erklärungsmöglichkeit, die neben dem Vorteil größerer Einfachheit den gewiß nicht zu unterschätzenden besitzt, daß er uns den Vorgang im vollen Lichte geschichtlicher Über- lieferung zeigt.2) Caesar nennt, wie wir sahen, an der ersten Stelle (II 4, 10), wo er auf diese Germani zu sprechen kommt in dem Wehr- machtsverzeichnisse der Belgae, denen sich die Germani angeschlossen hatten , vier Stämme: Condrusi, Eburones, Caerosi, Paemani (qui uno nomine Germani appellantur). Nun sind wir über das Schicksal eines dieser Stämme, der Eburones, genau unterrichtet. Sie mußten für ihre Erhebung gegen die römische Herrschaft im Jahre 54/3 schwer büßen: Caesar führte gegen sie einen Krieg, als dessen Ziel er hinstellt ut stirps ac nomen civitatis tollatur (VI 34, 8). Vollständig dieses zu verwirk- lichen, ist ihm freilich nicht gelungen. Nicht bloß entgingen außer dem Häuptling Ambiorix andere der Katastrophe (si quos fortuna reliquos

1) Über die cohortes Tungrorum hat C. Cichorius in der R. E. IV 313 f. genau gehandelt. Nach M. Bang a. a, 0. (o. S. 374, 2) 12 waren die Tungri nächst den Batavi und Ubii die am stärksten an den Aushebungen beteiligte Civitas.

2) Eine Andeutung des Richtigen findet sich schon bei Ph. Cluverius, Ger- mania antiqua (1616) II 100, und ohne Kenntnis dieses Vorgängers bei Baumstark a. a. O. (S. 5, 2) 97.

Gennani-Tangri 399

fecisset VIII 24, 4), sondern Caesar mußte noch im letzten Kriegsjahre abermals eine Expedition in das Eburonengebiet unternehmen (VIII 25, 1 cum in omnes partes finium Ambiorigis aut legiones aiit auxilia dimisisset atque omnia caeäibus incendiis rapinis vastasset magno numero hominum interfecto aut capto), und auch nach dieser werden sie in der Strabo- nischen Liste der Stämme der Belgica noch mitgenannt1), ja noch in beträchtlich späterer Zeit ist zu Worms eine Weihinschrift von einem Intamelus Eburo gesetzt worden (CIL XIII 6216). Aber ihre Kraft war gebrochen, und den zentralen Teil ihres einst so großen Gebiets erhielten die Tungri. Denn Atuatuca, das Caesar (VI 32, 4) ein „fast in der Mitte des Eburonengebietes gelegenes Kastell" nennt, begegnet späterhin in den ltinerarien als Aduaca Tungrorum, bei Ammianus mit einer bei gallischen Ortsnamen seit Constantinus I. üblichen Übertragung des Volksnamens auf den Ort als Tungri, in der Notitia Galliarum als civitas Tungrorum?) Schon im Altertum ein sehr wichtiger Straßen- knotenpunkt, wie man aus einem dort gefundenen Meilenstein in Okto- gonform ersieht3), erfreut es sich noch heutzutage eines Namens von gutem Klang. Es ist das jetzige Tongern (Tongres)4), westlich von Lüttich, etwa 15 km westlich der Maas, ein Städtchen, das die Erinnerung an den für die Freiheit seines Volks gegen den Eroberer ruhmvoll kämpfenden Eburonenhäuptling diesen csanglier des Ardennes, 1' energie la plus puissante qui se soit heurtee ä la fortune de Cesar', wie C. Jullian von ihm sagt durch ein ihm gesetztes Bronzedenkmal geehrt hat. Aus dieser Geschichte des Eburonenstammes dürfte sich für die uns be- schäftigende Frage folgendes ergeben.

Die Tungri waren ein Teilstamm der belgischen Germanengruppe, der von Caesar wie andere demselben Verbände angehörigen Mitglieder

1) IV 194, wohl aus Timagenes (vgl. o. S. 371). Wenn Lucanus 1429 sie unter den Hilfstruppen Caesars im Bürgerkriege aufführt, so ist das wohl nur ein poetisches Autoschediasma.

2) Belege hei A. Holder, Alt -Celt. Sprachschatz II 1986 ff.

3) Die ansehnlichen Reste desselben sind jetzt im Museum zu Brüssel: vgl. CILXI1I2. 2. Nr. 9158.

4) Die Frage der Identifikation von Tongres mit Aduatuca Tungrorum ist, weil eine Caesarstelle (V 24) dabei eine Rolle zu spielen schien, vielfach be- handelt worden, am genauesten von T. R. Holmes, Caesars conquest of Gaule (Lond. 1899) 335 ff.; sie ist wohl unbedingt zu bejahen: vgl. A. Kisa, Westd. Ztschr. XXY (1906) 8 ff.

400 Kap. VI. Ethnologische, onomatologische u. geschichtl. Folgerungen usw.

(s. o. S. 383) deshalb nicht erwähnt worden ist, weil er mit ihm nicht in Berührung getreten war. Die Katastrophe der Eburones rückte sie in den Vordergrund. Ein Teil des Eburonengebietes wurde den einstigen Inhabern, deren Zahl zusammengeschrumpft war, belassen; die Ver- pflanzung der Ubii auf das linke Rheinufer durch Agrippa im Jahre 38, eines Teiles der Sugambri durch Tiberius im Jahre 8 v. Chr., die Aus- breitung der Batavi südlich der Waal erfolgte auf Kosten des ehemali- gen Eburonengebietes. Aber dessen zentralen Teil erhielten die Tungri. Wann dies geschah, läßt sich vielleicht ermitteln.1) In dem Corpus der Feldmesser, dem wir im Verlaufe unserer Untersuchungen schon manche Belehrung verdankten, heißt es in einer aus Trajanischer Zeit stammenden Schrift des Hyginus, De condicionibus agrorum p. 86 Thulin : dicitur in Germania in Tungris pes Drusianus. Daß dieses Fußmaß, eine gallisch-germanische Spezialität (F. Hultsch, R. E. V 1740 ), nach dem älteren Drusus benannt war, ist nicht zu bezweifeln, denn er war ja im J. 13 v. Chr. von Augustus, seinem Stiefvater, als Statthalter der Tres Galliae eingesetzt worden und hatte als solcher einen Census veranstaltet, mit dem eine schwere Besteuerung verknüpft wurde (Livius per. CXXXVIII. Dio LIV 32). Da nun die Erhebung der Grundsteuer, des tributum soll, eine Landvermessung voraussetzt so werden unter dem Personal eines hohen Steuerbeamten in Afrika agrimensores und ein chorographus genannt2) , so werden wir ohne Bedenken jene Notiz der gromatischen Schrift mit dem von Drusus veranstalteten Census in Zusammenhang bringen dürfen. Dann aber ergibt sich fast mit Not- wendigkeit weiter, daß die Zuweisung des neuen Gebietes an die Tungri in Verbindung mit der Neuorganisation der gallischen Pro- vinzen durch Augustus erfolgte: er hatte sich zu diesem Zweck drei Jahre (16 13) daselbst aufgehalten, um dann die Verwaltung dem Drusus zu übertragen. Die Ausdrucksweise in Germania in Tungris ist sehr bemerkenswert: sie muß, soviel ich sehe, auf eben jene Zeit zurückgehen, zu welcher die Aufteilung des cisrhenanischen Germanen- gebietes erfolgte, denn späterhin werden die Tungri zu den Civitates von Gallia Belgica gerechnet. So gelangen wir auch auf diesem Wege wieder zu Li vius als demjenigen, der bei seiner Erzählung der Schicksale

1) Ich knüpfe dabei an einen von Th. Bergk a. a. 0. (o. S. 379, 1) 120, 1 an- gedeuteten Gedanken an.

2) O. Hirschfeld, Die kaiserl. Verwaltungsbeamten2 (Berl. 1905) 60.

Germani- Tungri 401

Galliens in nachcaesarischer Zeit die Auflösung des linksrheinischen Germanenbundes und die dadurch bedingte Verschiebung des Germanen- uamens notwendigerweise hat berichten müssen. Übrigens war diese Zerstückelung ausgedehnter Besitzmasse ganz im Sinne der galli- schen Politik des Augustus, der, wie 0. Hirschfeld bemerkt hat1), darauf bedacht war, die großen gallischen Stammes verbände durch Ver- selbständigung ihrer Glieder und Loslösung der Klientelstaaten aus- einanderzureißen.2) Der Bund der cisrhenanischen Germanen war ge- sprengt, der Name des jetzt mächtigsten Teilstammes war so angesehen, daß er als Ersatz des alten Gesamtnamens gelten konnte: ut qui nunc Tungri, tunc Germani vocaü sint. Diese Taciteische Formulierung be- darf jedoch, wie selbst unsere so dürftige Überlieferung erkennen läßt, gewisser Einschränkungen.

Erstens hat der Tungernname keineswegs die Namen aller anderen Einzelstämme der alten Germanengruppe aufgesogen. Es wurde bereits oben (S. 383 f.) darauf hingewiesen, daß in den Plinianischen Listen der belgischen Völkerschaften mehrere Namen begegnen, die sich mit großer Wahrscheinlichkeit auf Teilvölker jener Gruppe beziehen lassen. Ganz sicher ist der Fortbestand des Namens der von Plinius nicht genannten Condrusi, die in dem Caesarischen Verzeichnisse der belgischen Ger- manen an erster Stelle, noch vor den Eburones, aufgeführt sind. Daß sie auch später eine freilich begrenzte Selbständigkeit behaupteten, kommt in einer Inschrift vom Hadrianswalle zu charakteristischem Ausdruck: CIL VII 1073 Deae Viradesthi pagus Condrustis militans in cohorte II Tungrorum3): sie dienten also (im II./III. Jahrh.) in einer Tungern- kohorte, deren Standquartier sich damals im nördlichen England be- fand. Ihr Name hat sich, wie derjenige der Tungri, bis heut« erhalten:

1) Die Organisation der drei Gallien durch Augustus Klio' VIII (1908) 475 = Kl. Sehr. 125, und: Die Haeduer u. Arverner unter röm. Herrschaft (1897), ebd. 189.

2) Daher begegnen nirgends bo viele Ortsnamen Fines wie in Gallien: s. o. S. 204, 2.

3) Vgl. die vorhergehende Inschrift (1072) pagus Vellaus militam cohorte II Tungrorum. Nach 0. Hirschfeld, Gallische Studien I = Kl. Sehr. 74, 6, ist der Gebrauch von pagus in diesen beiden Inschriften ganz eigentümlich und nicht sicher erklärt. Einen Deutungsversuch gibt E.Kornemann, Zur Stadtentstehung in den kelt. u. germ. Gebieten d. Römerreichs (Gießen 189S) 54 f.; er hält eben wegen der Singularität Anlehnung an den germanischen Brauch der geschlossen kämpfenden Hundertschaften für möglich.

Norden: Die gormanische Urgeschichte 26

402 -Kap. VI. Ethnologische, onomatologische u. geschieht!. Folgerungen usw.

er lebt fort im pays de Condroz (wallonisch: les Condrosis), einem Teile der Provinz; Namur, von der Maas und zweien ihrer Nebenflüsse (Lesse oberhalb von Dinant, Ourthe bei Lüttich mündend) in einem großen Bogen eingeschlossen.

Die zweite Einschränkung betrifft den Namen Germani selbst, der zu einer Zeit, da man ihn für längst erledigt halten sollte, noch einmal wieder emportaucht.1) Eine oft behandelte Stelle der Taciteischen Historien erhält nämlich, wie ich glaube, erst durch den Zusammen- hang, in den sie sich nunmehr stellen läßt, ihre richtige Beleuchtung. Die von Civilis aufgewiegelten (Jannenefates und Frisii so wird I V 15 erzählt überfallen und zerstören das Winterlager zweier Kohorten, bedrohen auch die Kastelle derart, daß sie preisgegeben werden. Die römischen Streitkräfte werden in den oberen Teil der insula zusammen- gedrängt, nomen magis exercüus quam robur: quippe viribus coliortium abductis Vitellius e proximis Nerviorum Germanorumque pagis segnem numerum armis oneraverat.fDaü hier linksrheinische Germanen im alten Wortsinne, also die der Belgica zu verstehen sind, die Nachbarn der Nervii, lehrt der Augenschein.2) WTie nun aber? Hatte Tacitus nicht in der Germania gesagt, der Name dieser Germani sei jetzt durch den der Tungri ersetzt worden? Um die beiden Stellen auszugleichen, hat der ausgezeichnete Erklärer der Historien, K. Heraeus(1864), angenom- men, Germanorum sei ein Glossem zu Tungrorum, und dieser Name sei dadurch aus dem Texte verdrängt worden. Wie bedenklich eine solche Annahme ist, liegt auf der Hand: warum wurde, wenn man sie über- haupt erörtern will, das Glossem nicht schon II 14 beigeschrieben, wo die Tungri zum erstenmal genannt sind? Einen Schritt auf dem Wege, der mir der richtige zu sein scheint, tat G. Andresen, indem er kürzlich Jhrb. d. phil. Vereins XLIV 1918, 110, 2) die Frage aufwarf: „Läßt sich annehmen, daß die veraltete Namengebung der Quelle des Tacitus zur Last fällt?" Die Quelle war, wie wir wissen, sicher das Annalen- werk des Plinius. Aber gerade er war über die Völkerverhältnisse der Belgica so hervorragend genau unterrichtet, daß ihm der Gebrauch eines

1) Außer Betracht bleibt, weil aus Caesar stammend, Suetonius div. Iul. 25 in Germanorum finibus Titurio et Aurunculeio legatis per insidias caesis.

2) Die Behauptung Th. Bergks a. a. 0. (o. S. 379, 1) 114, 2, es seien bei den ;Jbii, Sigambri und Cugerni ausgehobene Söldner zu verstehen, steht in direktem Widerspruch zu dem Wortlaut.

Germani-Tungri 403

veralteten Namens nicht zur Last gelegt werden darf; nennt er doch in jener oben wiederholt angezogenen Liste der belgischen Völkerschaften in der n. h. IV gerade auch die Tungri, werden diese doch auch weiterhin von Tacitus nach Plinius zweimal neben den Nervii erwähnt (IV 66 Tungrorumque et Nerviorum 79 Nervios Tungrosque): wie hätte er also an jener einen Stelle Germani schreiben können, wenn er die Tungri meinte? Aber wer sagt uns denn überhaupt, daß hier die Tungri verstanden seien? Wir wissen ja aus jener Plinianischen Liste, daß in der Bellica auf dem einst von dem Germanenbunde eingenommenen Ge- biete außer den Tungri noch eine Anzahl anderer Stämme saß, z.B. die Baetasii, die Tacitus IV 56 Nerviorum Baetasioramque 66 Baetasiorum Tungrorumque et Nerviorum aus den Annalen des Plinius erwähnt. Vor allem werden wir aber an die Texuandri zu denken haben: ihre Wohn- sitze, die wir durch die Fortdauer des Pagus bis ins Mittelalter genau kennen, grenzten an die der Nervii, und ihr Name ist zugestandener- maßen rein germanisch (s. o. S. 384, 1). Für die Richtigkeit der ge- samten, von uns in diesem Kapitel verfolgten Auffassung, wonach die Propaganda des Germanennamens auf die rechtsrheinischen Germani von den linksrheinischen ausging, ist es von nicht geringer Bedeutung, daß die Kenntnis von der germanischen Nationalität wenigstens eines jener linksrheinischen Stämme noch in der Kaiserzeit lebendig war. Aber auch die Tatsache, daß gerade Plinius diese Kenntnis zum Aus- druck brachte und Tacitus sie aus ihm bezog, ist eine wertvolle Be- stätigung für die zutreffende Beurteilung des von uns dargelegten Quellenverhältnisses in dem Namensatze der Germania. Ja wir können der Taciteischen Art der Quellenbenutzung in dem Historienkapitel wohl noch etwas genauer auf die Spur kommen. In dem nächsten Kapitel nämlich (16) ist wieder von Germanen die Rede, die hier ein „kriegsfrohes Volk" genannt werden; darunter sind die rechtsrheini- schen Germanen, insonderheit die Batavi, verstanden. Die beiden An- gaben 15 (Nerviorum) Germanorumquc segnis numerus und 16 Germani laeta hello gens sind nur durch ganz wenige Zeilen voneinander getrennt. Das sich gleich zurecht zu legen, setzt nicht bloß aufmerksame, sondern auch kundige Leser voraus. Plinius, der sich in die Breite erging, wird diese Vermutung drängt sich wohl von selbst auf an ersterer Stelle nicht bloß von Germani im allgemeinen gesprochen, sondern das bestimmte Teilvolk daneben genannt haben; Tacitus, auf äußerste

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40<1 Kap. VI. Ethnologische, onomatologische u. geschichtl. Folgerungen nsw.

Knappheit bedacht, ließ die ihm unwesentlich dünkende Besonderheit beiseite: der Fall, daß derartige Sparsamkeit etwas Harsches in die Darstellung brachte, steht ja bei ihm nicht vereinzelt da.1)

Diese Einschränkungen sind, wie man sieht, nicht so erheblich, daß dadurch die grundsätzliche Richtigkeit der Taciteischen Formulierung in der Germania, die Tungri seien die jetzigen Namenträger der alten Germani, in Frage gestellt würde: die Tungri waren der beherrschende Stamm, dessen sTacpdvEicc, um die alte Terminologie (s.o.S.318ff.) darauf anzuwenden, sich in der Namenpropaganda auf die kleineren Stämme geltend machte. Die sprachliche Einkleidung des Gedankens erfolgte wieder in engem Anschluß an einen Typus hellenischer Ethnographie, der als pstovoiiaGCui i&väv bezeichnet wurde (s. o. S. 195 f.): qui nunc Tungri tunc Germani vocati sint ist, wie schon bemerkt wurde (S. 328), ol vvv [isv Tovyyooi, tcqötsqov dh rsQiiavol xuXoviisvoi. Dieser seit Hekataios nachweisbare Typus2) hat sich bis ans Ende der griechischen

1) Ein bezeichnendes Beispiel bei Mommsen, Tac. nnd Clnvins Rufus, Herrn. IV (1870) 309 = Ges. Abh. VII 237.

2) Ich gebe die mir bekannten Beispiele hier vollständig, weil sie geeignet sind, die im vorstehenden begründete Auffassung der Taciteischen Worte zu bestätigen. Hekataios bei Steph. Byz. s. v. dwoog' %6Xig $>oivixr\g. 'Exaxaiog Aßici' fisra dh 7] TtäXai Awgog, vvv dh A&qa xocXslxcci. Herod. 1 173 xtjv ydg vvv Avxioi vipovxcu, avxr\ xb ■naXcubv i\v MiXvdg, ol dh Milieu, xoxs UoXvaoi ixa- Xiovxo, und besonders viel dergleichen in dem Völkerkatalog der Heeresliste in B. VIT, z. B. ixaXiovxo dh TtccXai itobg ■Jtdvxov "4qioi, ujtLxofiivrjg dh Mrjdsirjg . . . {isxißaXov xcel ovxot rb oüvofta 73 ol dh <&ovysg . . . ixaXiovxo Bgiysg %q6vov oaor EvQnmjioi iövxsg ßvvoixoi r\6av MaxsdÖ6i, fisxaßdvxsg dh ig rjjr AoLr\v apa xt) %<ßQfl xal xb otivo{ia (isxißaXov ig <&Qvyag. 74 ol dh Avdol Mriiovsg ixaXsvvxo ■jtäXai, iitl Sh Avdov xov "4xvog l6%ov rr\v iitavv^iriv, (israßaXovrsg rb o^vo^ia 75 ovroi Sh diaßävrtg phr ig rv\v '4air]v ixXrj&Tjöav Bi&vvol, rb dh tiqoxzqov ixa- Xiovxo, mg avxol Xiyovöi, Zxqv\lvvioi, vgl. 91 95. Thukyd. I 100 olxiovvxsg rag xoxs xaXovy^ivag 'Evvia bdovg, vvv dh 'Apy'vxoXiv. Aristoteles Meteor. A 14. 352 b 2 oi xccXoviisvot, tote [ihv Tqaixoi, vvv d' "EXlriveg. 'Skymnos' 567 ff. Evßoicc xslxui vfj6og, 7j xaXov^iivr} did xr\v cpvßiv rb 71q6xsqov, &g <pa.6iv, Mäxoig, ^tcelxsv anb xfjg XeyoiiEVTjg 'Aßaitidog XQOvco Xaßovßa xovvo^ Evßolccg %äXiv, vgl. 751 f. Schol. B zu Z 200 (päd dh xovg vgxeqov ÜLöidag xliföivxag HoXvfiovg tcqoxsqov xaXElG&ai. Eusebios chron. (Synkellos) z. J. 1045 Abr. (972 v.Chr.): 0gäxsg ä%b 2hgv\Lovog diaßävxeg xaxie%ov xr\v vvv Bi&vvLav, xoxs dh Bsßgvxlav xaXovfiivrjv. Philostor- gios hist. eccl. III 4 (p. 32, 10 Bidez in der Akad. Ausg. der griech. Kirchenväter XXI 1913) xovg -xdXai phv Uaßaiovg, vvv dh 'OiirjgLxccg xaXovfiivovg (die Darle- gungen A. Jeeps, Beiträge zur Quellenkunde des Orients im Alterth., Rh. Mus. LH 1897, 213 ff., dem ich diese Stelle entnehme, sind lesenswert: der wich-

Germani-Tungri 405

Historiographie gehalten. Die spätesten Belege betreffen gerade die Germanen, nunmehr natürlich den Volksnamen, der aber auch seiner- seits damals schon einer neuen Bezeichnung, derjenigen der Franken, gewichen war. Prokopios bell. Vand. I 3: „Die um die Maiotis wohnen- den Vandalen zogen infolge einer Hungersnot an den Rhein zu den jetzt Tranken' genannten Germanen" (ig rsQ^iavovs ot vvv &Qdyyoi nalovv- rcci, vgl. bell. Got. I 12). Agathias I 2: „Italien benachbart ist das Volk der Franken, d.h. die früher sog. ^Germanen"' (tö ysvog x(hv ^Qayyav, slsv ö" av ovtol ol ndXai övo^ul,6(ievoc rsguavol). Diese Formulie- rungen jüngster Zeit bestätigen, sogar über das Sprachliche hinaus, die vorgetragene Deutung der Taciteischen Tungri-Germani, wie folgende Gleichung zeigt:

Die Bezeichnung Franci, eines Teilvolkes des Gesamtvolkes Germani, trat nach dem Untergange des Namens Germanian dessen Stelle.

Die Bezeichnung Tungri, eines Teilstammes des Stammes Ger- mani, trat nach der Auflösung dieses Stammes an dessen Stelle.

II. GERMANI ALS VOLKSNAME Der Stamm Germani brachte, wie wir sahen, seinen Namen mit, als er auf das linke Rheinufer hinüberging, wo es ihm gelang, einen ziem- lich beträchtlichen Teil des gewaltigen, von den Kelten eingenommenen gallischen Gebietes in seinen Besitz zu bringen. Hier verlor er nach den Caesarischen Feldzügen, durch die sein Stammesverband gelockert, eine führende Völkerschaft fast vernichtet wurde, seinen Stammnamen. An dessen Stelle war zur Zeit der Taciteischen Berichterstatter die Be- zeichnung „Tungri" getreten. Aber der als Stammesbezeichnung nun- mehr verlorene Name war längst zum Volksnamen geworden:

tige geographisch -ethnographische Exkurs über die Gegenden am Arabischen nnd Persischen Meerbusen, den Philostorgios in seine gelehrte, uns leider nur im Exzerpt erhaltene, um 430 verfaßte Kirchengeschichte einlegte, gehen auf ausgezeichnete Quellen wie Agatharchides zurück). Viel derartiges auch im Lexikon des Hesychios, z. B. s. v. Alyictlsig' ol petce 'lyccpEfivovog 6tqcctev6uhei>oi 7iQ6TEQOv"Iaveg,vvvdb'A%ccioliv ütxväi vi. PliniusIV~21./4/Ta^m. . .initio Drymodes, mox Belasgis appellata 41 Rhodope, Poneropolis antea, mox a conditore l'hilip- popolis, nunc a situ Trimontium dicta. Iustinus XLIV 1, 2 haue (Hispcmiam) veteres ab Ilibero amne primum Hiberiam, postea ab Hispdlo llispaniam cogno- minaverunt

406 Kap. VI. Ethnologische, onornatologische u. geschichtl. Folgerangen usw.

„So habe der Name des Stammes allmählich derart weite Gel- tung erlangt, daß man nach ihm, dem Sieger, aus Furcht das Ge- samtvolk ^Germanen' nannte." Die Worterklärung haben wir erledigt; was hat nun auf Grund des dadurch gewonnenen sprachlichen Verständnisses von dem sachlichen Gehalte des Satzes zu gelten? Zwei Gedanken sind in ihm zusammen- gedrängt. Die Erhebung eines Stammnamens zum Volksnamen bildet sozusagen das Grundmotiv; mit diesem vereinigt sich das Begleitmotiv der Furcht als Ursache dieser Namenserweiterung. Diese beiden Ge- dankengänge wollen wir aus ihrer Verknüpfung lösen und jedem ge- sondert nachgehen.

1. ERHEBUNG VON" STAMMNAMEN ZU VOLKSNAMEN

Die Erkenntnis, daß sich Stammnamen oft zu Volksnamen erweitern, wird, wie wir sahen (S. 319 f.), der hellenischen Ethnographie verdankt. Auch die sprachliche Einkleidung des Gedankens bei Tacitus ist helleni- scher Ausdrucksweise genau angepaßt worden. Eine derartige Herüber- nahme von Gedanken und Worten macht, wenn es sich darum handelt, die geschichtliche Glaubwürdigkeit eines Berichtes zu prüfen, Vorsicht zur Pflicht: es besteht bei solcher Übertragung auf ein neues Objekt stets die Möglichkeit, daß eine Konstruktion vorgenommen sein könnte, durch die ein vielleicht andersartig zu beurteilender Fall in ein fertiges Schema hineingepaßt worden wäre. Anderseits darf die Behutsamkeit nicht zur grundsätzlichen Versagung des Glaubens verführen: Einzel- erkenntnisse können den Rang einer Allgemeingültigkeit erhalten, wenn die wissenschaftliche Beobachtung, mit deren Hilfe sie gewonnen worden sind, aus solchen Grundgesetzen des Denkens und der Sprache abgeleitet ist, die im geschichtlichen Leben der Völker Stetigkeitswert besitzen.

Nun beruht die Erweiterung eines Teilbegriffs zu einem Gesamt- begriffe — das, was die Grammatik ca parte totum' nennt1) auf einem Sprachprozesse, der bekanntlich gerade auf dem Gebiete der Völker- bezeichnungen zahlreiche Analogien hat. Schon Leibniz, der, wie be- merkt (S. 5), den vorliegenden Worten des Tacitus seine Aufmerksam- keit zuwandte, hat diese Spracherscheinung zu ihrer Erklärung heran- gezogen und gerade auch dasjenige Beispiel angeführt, das uns in seiner

1) Nur ein Beispiel aus vielen: Isidorus etymol. 1X2,5 (aus Hieronymus) quos veteres Assyrios, nunc nos vocamus Syros, a parte totum appellantes.

Erhebung von Stammnamen zu Yolksnamen 407

Tliukydideischen Formulierung für das sprachliche Verständnis der Taci- teischen gute Dienste leistete (S. 319 f.) : das Umsichgreifen der von einem Stammnamen zum Volksnamen erweiterten Bezeichnung „Hellenen".1) Nun läßt sich wohl in den meisten Fällen dieser Art beobachten, daß die Verallgemeinerung nicht von dem Einzelstamme selbst, sondern von anderen, mit denen er in Berührung gekommen ist, ausgeht. Der Name „Hellenen", den das alte Epos in der thessalischen Landschaft Phthia kennt, ward in Asien zum Volksnamen. Wenn die Deutung der Pelasger als „Flachlandsbewohner" (itsXayog wie aequor), nämlich als Insassen der Peneiosebene, des neXaGywbv "Aqyo$, richtig ist, so ist dieser Name von Späteren auf die urgriechische Bevölkerung des Festlandes über- haupt ausgedehnt worden.2) Den Namen der „Danaer", die nach ihrer Auswanderung aus der Peneiosebene sich in der Inachosebene nieder- gelassen hatten, verwendet wenigstens das Epos zur Bezeichnung aller vor Troja kämpfenden Griechen. Die „Grai" waren ein kleiner Stamm in Epirus: durch Vermittlung illyrischer Stämme an die Italiker erhielt dieser Name europäische Geltung. Den Griechen ihrerseits verdankten es die „Italer", ein winziger Volkssplitter, daß ihr Name von der Süd- spitze der Apenninenhalbinsel aus immer weitere Geltung erhielt, „llly- rier", ursprünglich Bezeichnung eines Stammes zwischen Dalmatien und Epirus (etwa begrenzt von den Flüssen Drilon und Aoos),£»-0jöm dicti IUyrii (Plinius III 144. Mela II 3, 11), wurde ein Sammelname für die Völkerschaften der Balkanhalbinsel von der Ostküste des Adriatischen Meeres bis nach Serbien hinein.3) Die „Saker" waren ein skythischer Teilstamm; die Perser dehnten die Bezeichnung dieses ihnen benach- barten Stammes auf die Gesamtheit der Skythen aus.4) „Ruotsi" wur- den die skandinavischen Ansiedler auf der Ostseite des Bottnischen

1) Die Worte Leibnizens lauten: 'nempe ut nomina partis attribui solent toti nationi; sie Hellenes olim pars tantum Graecorum; Iberi Hispanorum; Ale- manni non ita pridem de solis Svevis et Helvetiis aeeipiebantur.'

2) P. Kretschmer, Zur Geschichte der griech. Dialekte, Glotta I (1909) 16 ff.

3) Vgl. P. Kretschmer a. a. 0. 245.

4) Herod. VII 64 Häxcci 6h oi £%v&cci ... rovtovg dh iöi'Tag Sxv&ag H^ivq- yiovg 2Jccxag üxdleov oi yaQ IIsQGai Tcdvrag rovg Sxv&ag —dxccg ixdteov. Plinius VI 50 Scytharum populi. Persae illos Sagas in Universum appeUarere a proxima gente. Die Angabe ist durch die Dareiosinschriften von Behistun beglaubigt, wo die Skythen (Jakd genannt und nach Stämmen unterschieden werden (vgl. W. Tomaschek, lt. E. I 2011).

408 Kap. VI. Ethnologische, onomatologische u. geschichtl. Folgerungen usw.

Meerbusens von den benachbarten Finnen benannt; von den Finnen übernahmen ihn im IX. Jahrh. die Slawen, als die Ruotsi sich in Now- gorod festsetzten; von hier aus wanderte der Name noch in demselben Jahrhundert nach Kiew und wurde Kollektivbezeichnung der Russen.1 ) Die „Volcae" waren ein keltischer Volksstamm, der noch zu Caesars Zeit in Mitteldeutschland (an der oberen Weser und ihren Zuflüssen) seßhaft war; nach Ausweis des Lautwandels haben die Germanen späte- stens um 400 v. Chr. Geb.2) mit dem Namen dieses ihnen benachbarten Keltenstammes das Gesamtvolk der Kelten bezeichnet3), es lebt fort in der Bezeichnung der Briten bei den Angelsachsen (Wales, Cornwallis). der Rumänen (durch Vermittlung der Goten) bei den Slawen (Walachen) und in dem Adjektivuni „welsch". Nach einer neueren glänzenden Hypo- these waren auch „Kelten" und „Gallier" Einzelstämme, deren Namen von ihren Nachbarn zur Bezeichnung der Gesamtheit des Volkes ver- wendet worden sind.4) Der Name der „Iberer" war ursprünglich auf

1) V. Thomsen, Der Ursprung d. russ. Staates (Gotha 1879) 97ff., bestätigt von H. Jacobsohn, Nachr. d. Gott. Ges. d. Wiss. 1918, 309 ff.

2) Die Zeitbestimmung nach G. Kossinna, Die vorgeschichtliche Ausbreitung d. Germanen in Deutschland (in: Ztschr. d. Ver. f. Volkskunde 1896) 7.

3) R. Henning, Die Germanen in ihrem Verhältnis zu den Nachbarvölkern (Westd. Ztschr. VIII 1889, 42 f.), weist in Ergänzung der Nachweise Müllenhoffs II 279 ff. darauf hin, daß den Deutschen das Bild der Kelten als einer anders gearteten Nation nicht im Westen, wo sie sich fast bis zur Unterscheidungs- losigkeit durchdrangen, sondern weiter im Osten, wo die Volcae wohnten, zuerst so bestimmt entgegentrat, daß sie das ganze Volk mit dem Namen desjenigen Stammes bezeichneten, von dem sie diese Anschauung entnahmen.

4) Dies ist so bemerkenswert und im Gegensatz zu den meisten übrigen Beispielen so wenig bekannt, daß ich die Worte Heinrich Zimmers, die aus dessen Nachlaß von Kuno Meyer publiziert worden sind (a. a. 0. 88), hersetzen möchte: „Wie sich bei den Germanen 1. in alter Zeit große, zusammenhängende Einheiten neben den einzelnen Stämmen herausgebildet hatten (Erminonen, Ist- vaeonen, Ingvaeonen, Vandalen) und 2. in späterer Zeit wieder (Franken, Sachsen, Thüringer usw.), so bei den Kelten, ob nun 1. oder 2.:

a) Kelten, im 6. Jahrh. wohl die südwestlichsten, daher ihr Name zur Gesamt- bezeichnung bei fremden Völkern wurde (vgl. Allemands bei den Franzosen), während weder Briten noch Galen einen solchen Gesamtnamen kennen,

b) Beigen,

c) Briten, !

d) Goidelen (Galen), wohl die nordwestlichsten.

Ebenso wie bei den Germanen Walh allgemein den Fremden bezeichnete, so bei den Goidelen aber nur bei diesen (den Briten ist die Bezeichnung un-

Erhebung von Stammesnamen zu Volksnamen 409

einen ganz schmalen Streifen des südlichen Andalusien beschränkt, zwischen dem unteren Anas (Guadiana) im Westen und dem kleinen Küstenflusse Iberus (Rio Tinto) im Osten. Hekataios kannte den Namen nur als Stammesbezeichnung, ebenfalls die Grundschrift des Avienischen Periplus (Vers 472); erst Eratosthenes scheint ihn zur Bezeichnung der Gesamtbewohner der Halbinsel verwendet zu haben; die Propaganda des Namens war wohl von den Griechen ausgegangen.1) Der deutsche Stamm „Alamanni" ist von Seiten der romanischen Nachbarn zur Gel- tung eines Volksnamens erhoben worden, nachdem der Stamm von den Franken geschlagen (496/7) und in deren Reich aufgegangen war (536); vgl. Anhang VIII. ,

Wir haben uns den Vorgang in allen angeführten Fällen so zu denken, daß anfänglich der Stammname allein bestand, dann eine Zeit- lang Stamm- und Volksname nebeneinander hergingen, endlich der engere in den weiteren aufging: das Grundgesetz alles Lebendigen, daß Individuen verschwinden, die Gattung erhalten bleibt, bewährt sich auch im Völkerleben. Damit ein aus einem Stammnamen er- wachsender Volksname sich voll durchsetzen konnte, mußte der Stamm in seiner selbständigen politischen Geltung oder in seinem Bestände überhaupt untergehen: jene Art der Unsterblichkeit scheint

bekannt) Gall. Also wohl nach einem Volksstamm, der den keltischen Vor- fahren der Goidelen so saß wie die Volcae den Germanen. Dies war der Stamm, von dem Gallia zwischen Rhein, Loire und Garonne den Namen hat. Diese Be- zeichnung nahmen die Galen mit in die neue Heimat, wie die Angeln und Sachsen es mit Walh taten. Es ist also wahrscheinlich, daß die Urgälen einst neben den Galli im Nordwesten gesessen haben." Eine Spur davon, daß auch die Belgae ursprünglich ein begrenzteres Gebiet eingenommen haben, scheint sich an einer vielbehandelten Caesarischen Stelle erhalten zu haben: V 24, 3 tres (legiones) in Belgio collocavit, so die Klasse ß, während u in Belgis bietet, was unmöglich ist, da vorher die zu den Belgae gehörigen Morini, Nervii und Remi genannt sind; wenn Belgium, das Caesar auch bald darauf (25, 4) braucht (V 12, 2 gehört einem interpolierten Abschnitte an), richtig ist, so muß darunter nur das Gebiet der Bellovaci (Beauvaisis), Suessiones (Soissonais) und Ambiani (Amiennois) ver- standen worden sein, von wo aus sich dann also der Begriff auf das ganze Land nördlich von der Seine und Marne ausgedehnt hätte: in diesem erweiterten Sinne hat es Hirtius öfters gebraucht. Vgl. die genaue Diskussion der schwierigen Frage bei T. Rice Holmes a. a. 0. (o. S. 399, 4) 385 ff.

1) A. Schulten, Numantia I 35. 97. 101, etwas zu ergänzou aus F. Jacobv, R.E. VII 2710.

410 Kap. VI. Ethnologische, onomatologische u. geschichtl. Folgerungen usw.

nur um den Preis des Verlustes des Sonderdaseins feil gewesen zu sein.1)

Betrachten wir von diesen Gesichtspunkten aus den Taciteischeu Bericht über das Umsichgreifen des Germanennamens, so sehen wir, daß die Voraussetzungen, an die solche Propaganda gebunden zu sein pflegte, in ihm erfüllt sind. „Germani" als Stammname reicht, wie wir oben (S. 390 ff.) gesehen haben, in graues Altertum hinauf. Der Stamm- name wurde von Seiten der gallischen Nachbarn auf das Volksganze ausgedehnt, genau so wie die Germanen ihrerseits den Namen eines ebenfalls uralten keltischen Stammes, der „Volcae", zur ethnischen Be- zeichnung der keltischen Nation erweiterten. Lange Zeit ging im Munde der Gallier der Name „Germani" als Stamm- und Volksname neben- einander her; diesen Zustand spiegeln noch die Caesarischen Aufzeich- nungen getreulich wider: Caesar vermag den Stamm von dem Volk nur durch das geographische Unterscheidungsmerkmal „links-" und „rechts- rheinisch" zu sondern. Aber schon hatte die Schicksalsstunde dieses Stammes und seiner Sonderbezeichnung geschlagen. Sein Verband wurde gesprengt, sein Name geriet in Vergessenheit, um von nun an nur noch als Gesamtbezeichnung fortzuleben: so trat eine ethnische Begriffsabstrak- tion an die Stelle stammhafter Daseinswirklichkeit. Da mithin die von den Gewährsmännern des Tacitus vollzogene Kombination auf einer Vor- aussetzung beruht, die sich etwa als onomatologischer Völkergedanke bezeichnen ließe, so dürfen wir sie als richtig anerkennen. Ja noch mehr: da wir dank den Nachrichten Caesars den Entwicklungs Vorgang sich in seinen letzten Ausläufern noch vor unseren Augen abspielen sehen, da er also nicht, wie der analoge Vorgang bei den Grai, Itali und den meisten anderen vorher genannten Völkerschaften nur noch eben von einem Dämmerlichte verblaßter Kunde gestreift, sondern von einem Strahle geschichtlicher Überlieferung beleuchtet wird, so dürfen wir der Kombination den Wert eines historischen Zeugnisses von vorbild- licher Bedeutung zusprechen.

Der Leser wird meine Überraschung teilen, die vorgetragene Deu- tung dieses Teiles des Taciteischen Berichtes durch das Zeugnis eines

1) Vgl. Wilamowitz, Hermes XXI (1886) 114, 1: „Die Hellenen kennt das alte Epos in Phthia, später sind sie ausgestorben . . . Den Hellenennamen machte man in Asien, vielleicht gerade, weil es keine Hellenen mehr gab, zum allgemeinen Volksnamen; so schon das jüngere Epos."

Erhebung von Stammnamen zu Volksnamen 411

späten griechischen Historikers bestätigt zu finden. Freilich war es ein so überragender wie Prokopios. Er besaß, auch darin ein Epigone von eignem Wüchse *), einen so ausgesprochenen Sinn für Ethnogra- phisches, daß er einmal sagt: er werde durch eingehende völkerkund- liche Exkurse dafür Sorge tragen, daß die Völker, von denen er zu berichten habe, für seine Leser keine schattenhaften Namen blieben. Diese Worte stehen in der langen, sechs große Kapitel umfassenden Einleitung zum IV. Buche der Gotenkriege, die eine Beschreibung der Völker und Ortschaften am Pontos Euxeinos enthält und sich dem Besten, was die ethnographische Literatur des Altertums aufzuweisen hat, an die Seite stellt.2) Im Verlaufe desselben Buches (c. 20, 2 f.) schreibt er über die Warnen folgendes: „Die Warnen sitzen über dem

1) Bei seiner Würdigung wird man freilich nicht außer acht lassen, daß er in Priskos einen Vorgänger ersten Ranges hatte, den Mommsen eines un- gewöhnlich hohen Lobes für würdig befunden hat: 'egregium scriptoris in- genium' 'versamur in penetralibus historiae' (Vorr. zum Jordanes p. XXXV f.); auch für 'variorum populorum proprietates' habe er Sinn gehabt (ibid.): das ist dann auch für Prokopios charakteristisch. Das berühmteste aus Priskos erhaltene Stück hatten wir schon oben (S. 22) zu erwähnen Ge- legenheit.

2) Gelegentlicher Anschluß an Xenophons Anabasis, den großen Exkurs des Polybios über den Pontos und Arrians Periplus kommen kaum in Betracht gegenüber der Tatsache, daß das Ganze, wie er mit berechtigtem Stolze her- vorhebt, auf die Gegenwart eingestellt und größtenteils ein Autopsiebericht ist, wo nicht, auf genauen Erkundigungen beruht. Dabei findet sich so Er- lesenes wie dies (c. 3, 14): ol dh ßccQßccQoi ovroc die westkaukasischen 'Aßa6- yol f'^XQ1' ft*v ^S ty& &l6r\ re v.ai vXag ieißovto, &£ovg yccg to: dsväga ßccQ~ ßägco xivi cccphXela v7idntrsvov slvai. (Auf Baumkultus achteten die Ethnographen seit alters: Lucanus III 399 ff. nach Poseidonios über Kelten, Curtius VIII 9, 34 über Inder. Diese Zeugnisse fehlen, soviel ich sehe, in Mannhardts bekanntem Buche). Ob Prokopios von der Existenz des in der lateinischen Reichshälfte bis auf Ammianus Marcellinus berühmten Exkurses über den Pontos im III. Buche der Sallustischen Historien Kenntnis hatte? Schwerlich: die lateinische Literatur lag dem hohen Staatsbeamten fern (vgl. u. S. 412, 2), und nur die Bella Sallusts waren ins Griechische übersetzt worden (Suidas s. Zrivoßiog). Dagegen bringt der Stubengelehrte Laurentius Lydus, ein Zeitgenosse des Prokopios, je ein Zitat aus dem I. Buche der Historien Sallusts und aus einem Kommentare zu diesem Werke (de mag. prooem. p. 1, 15. III 8 p. 93, 22 Wünsch): beide verdankt er aber allem Anscheine nach Scholien zu Vergil, die für ihn wegen des darin aufgespeicherten Wissensstoffes ergiebiger waren als die Lektüre der Autoren seihst (vgl. Agnostos Theos 59, 3).

412 Kap. VI. Ethnologische, ononiatologische u. geschichll. Folgerungen usw.

Istrosfluß und reichen bis zum nördlichen Ozean und dem Rhein, der sie von den Franken und anderen dort ansässigen Volksstämmen trennt. Diese alle, die vor alters zu beiden Seiten des Rheins wohn- ten, trugen jeder einen Sondernamen. Darunter war nun ein Volks- stamm mit dem Namen 'Germanen'. Insgemein wurde (danach) die Gesamtheit 'Germanen' benannt."1) Der an einer Seite des Rheins wohnende Stamm „Germanen" waren eben die Germani cisrhenani. Wenn Prokopios sagt, insgemein seien dann „alle" so genannt worden, so entspricht das dem Taciteischen ut omnes vocarentur. Prokopios ist von Tacitus durch Welten des Denkens und der Sprache2) ge- trennt, aber zwischen ihnen standen Geschichtswerke, die in griechischer Sprache von Römern noch vor der Trennung der Reichshälften ver- faßt waren: darunter war auch ein nachweisbar noch im VI. Jahrh. im Osten viel gelesenes des Asinius Quadratus (III. Jahrh.). Von ihm sagt Agathias (I 6), Prokops jüngerer Zeitgenosse, er habe das Ger- manische mit besonderer Genauigkeit dargestellt, und bringt aus ihm eine etymologische Deutung des Alamannennamens, die wir im An- hang VIII genauer kennen lernen werden. Prokopios hatte sehr genaue Quellenstudien getrieben: derselbe Agathias sagt von ihm (IV 26), er habe „sozusagen die ganze Geschichte gelesen", sicher also auch ein damals so beliebtes Werk wie das des Quadratus. Dieser also oder

1) Ovccqvol [Ltv V7tSQ "Iözqov Ttorajibv idQvvxai, SirjxovGi Sh &%Qi ig wxsavbv xbv agKxäov Kai Ttoxa^ibv 'Pfjvov, oOtisq avxovg xe öioql^si Kai <&Qayyovg Kai xdXla h'&vr), a xavxrj iSgvvxai. ovxoi aitävxzg. 0601 rb naXaibv &{icpl ' Pfjvov *xattQ(od'Ev -norafibv coktivxo, Idlov [biv rivog ovö^taxog EKaöxoi (isxsXäy^avov. a>v öt] ü&vog £v rsQjiavol tovo^id^ovro, £7tiKOtvTjg xs Tsq^uvoI ixuXovvxo aitccvxsg. Die Stelle ist von den Herausgebern, weil sie nicht verstanden wurde, schwer mißhandelt worden; in der neuesten Ausgabe sind gerade die entscheidenden Worte u>v di] i-ftvog tv rsgpavol avo^id^ovxo, durch die die folgenden erst ver- ständlich werden, als Interpolation verworfen worden. Übrigens variieren die beiden für die Überlieferung in Betracht kommenden Hss. (beide erst saec. XIV) zwischen ovo^ä^ovxai und oivo^id^ovxat, letzteres wohl eine Spur des richtigen Tempus bewahrend.

2) Der zu Kaisareia in Palästina Geborene hat Lateinisch schwerlich mehr verstanden, als e6 für den Verkehr unumgänglich nötig war. In seinem Ge- schichtswerke gebraucht er, im Gegensatz zu einigen anderen Historikern der Zeit, nur wenige lat. Worte (L. Hahn, Sprachenkampf im röm. Reich, Philol. Suppl. X 1907, 712), aber das wird aus seiner ausgesprochen attizistischen Manier zu erklären sein.

Zeugnisse des Prokopios und Agathias für den Germanennamen 413

irgendein anderer seiner Art1) auf den Namen kommt ja nicht viel an hat dem Prokopios, für dessen Leser der Germanenname auch als Volksbezeichnung bereits eine der Erklärung bedürftige Antiquität geworden war, eine Kenntnis übermitteln können, die er nun in der ihn auszeichnenden verständigen Weise weitergab. Nach den frühe- ren Ausführungen über das Quellenverhältnis des Taciteischen Berichtes darf mit Zuversichtlichkeit ausgesprochen werden, daß dieser schließ- lich in die Gotengeschichte des Prokopios einmündende Strom der Überlieferung auf Livius als Quelle zurückging. Aus Agathias selbst wurden bei anderer Gelegenheit (o. S. 15. 57, 2) Kongruenzen mit Tacitus angeführt, auf die nun, quellen kritisch betrachtet, ein eigen- tümliches Licht fällt. Sie seien hier kurz zusammengestellt:

Tacitus c. 4 „Am allerwenigsten sind sie gegen Durst und Hitze gestählt; dagegen hat Klima und Boden sie sich an Frost und Hunger gewöhnen lassen."

Agathias I 19 „Den Franken (= Germanen) ist die Schwüle wider- wärtig, so daß sie ihnen starkes Unbehagen verursacht und sie nie gern im Sommer kämpfen würden; wohl aber strotzen sie vor Gesund- heit bei Kälte, sind dann am kräftigsten und leiden am wenigsten. Denn dazu sind sie entsprechend angelegt, weil sie eine winterliche Heimat haben und ihnen das Frieren zur zweiten Natur geworden ist."

Tacitus c. 6 „Die Pferde zeichnen sich weder durch schönen Bau noch durch Schnelligkeit aus . . . Die Hauptstärke des Heeres liegt, wie man im allgemeinen wird urteilen müssen, im Fußvolke, das daher auch mitten im Reitergefechte verwendet wird."

Agathias II 5 „Pferde sind bei ihnen gar nicht üblich oder doch nur in ganz geringer Zahl; mit dem Fußkampfe sind sie von ihren Vätern her vertraut und vortrefflich darin geübt."

Tacitus c. 30 „Für Germanen sind sie (die Chatten) recht klug und anstellig."

Agathias I 2 „Für Barbaren scheinen sie mir gesittet und ganz anstellig."

1) Aber sicher nicht Cassius Dio, der LIII 12 anläßlich seiner Aufzählung der Augusteischen Provinzen die Germanen als Abkömmlinge der Kelten be- zeichnet (vgl. 0. S. 101,2) und sich dann so äußert: KsXtwv yccQ Ttvsg, o?v <$ij rsQtictvovg xaloviisv, näcccv ti]v tiqos rä> 'Prji'co Kelxi-ni}v xamff^dvrEi,' rfQitavlccv ürofxäjEGahxi i7toir}6av, ttji> {ihv öcva ttjv (ista rag tov rrorafioö rr?;}-ag, xr]v Sh xära T/jv pi%Qi tov 'Slxsctvov tov Bq£tt(xvixov ovoav.

414 Kap. VI. Ethnologische, onoinatologische u. geschieht!. Folgerungen nsw.

Da Agathias, wie soeben bemerkt, seine Lektüre des Quadratus bezeugt und dessen Genauigkeit gerade für Germanisches hervorhebt, so ist hier dasselbe Quellenverhältnis anzunehmen, das wir für eine Kongruenz zwischen Tacitus und Prokopios feststellten. Daraufhin sind die Namen der beiden byzantinischen Historiker in das Über- lieferungsstemma o. S. 170 eingetragen worden.

2. DAS MOTIV DER BENENNUNG Die Caesarischen Commentarii haben uns wichtiges Material zum Verständnis des Taciteischen Berichtes geboten. Das ist begreiflich genug. Denn jeder Autor, der über Beziehungen von Galliern zu Germanen schreiben wollte, schlug selbstverständlich den Caesarischen Primärbericht nach: wird er doch auch von Tacitus selbst, an einer späteren Stelle der Germania, ausdrücklich angeführt die einzige Quellenangabe mit Namen in dieser Schrift : c. 28 validiores ölim Gallorum res fiiisse summus audorum divus lulius tradit, also gerade für das Verhältnis von Galliern zu Germanen. Die Kenntnis der ger- manischen Dinge war freilich inzwischen erheblich gewachsen, es hatten auch Völkerverschiebungen stattgefunden, so daß in den Be- richten der beiden Schriftsteller über die Germanen die Abweichungen stärker hervortreten als die Übereinstimmungen. Überall jedoch, wo der Taciteische Bericht, der ja im wesentlichen die zuständliche Gegen- wart betrifft, auf ältere Zeiten zurückgreift, wie in dem uns beschäftigenden Namensatze, muß mit einer Stellungnahme zu den Caesarischen Commen- tarii gerechnet werden.

Bei diesem Verhältnisse des Taciteischen Berichtes zu dem Caesari- schen darf man hoffen, daß dieser uns Auskunft auch über diejenigen Worte geben werde, in denen die Gewährsmänner des Tacitus ihre Ansicht über den Grund der Propaganda des Germanennamens bei den Galliern niedergelegt haben. Die Erweiterung des Namens über seine anfänglichen Grenzen habe damit begonnen, daß die Gesamtheit des Volkes nach dem siegreichen Stamme von den vertriebenen Galliern „aus Furcht", ob metum 'Germani' genannt worden sei. Daß dies die sprachliche Bedeutung der Worte sein müsse, wurde oben ge- zeigt; hier fragen wir nach dem ihnen zugrunde liegenden Sinn. Mit der „Bedeutung" des Stammnamens hat auch dies nicht das Ge- ringste zu tun: nur infolge eines schweren Mißverständnisses haben

Germanenfurcht 415

viele das, was bei Tacitus als Grund der Erweiterung des Stanim- namens zum Volksnamen angegeben wird, auf einen dem Stamm- namen innewohnenden Sinn bezogen und infolgedessen geglaubt, daß dem Namen von Anfang an etwas Schreckhaftes angehaftet habe, was dann zu kindlichen etymologischen Spielereien mißbraucht wurde.

In der ethnographischen Literatur, an deren Ausdrucksweise sich im übrigen der Satzteil ut omnes a vicbore ob metum vocareniur aufs ge- naueste, wie wir sahen, anschließt, findet sich doch gerade die „Furcht" als Ursache einer Gesamtbenennung nicht vermerkt.1) Das Umsich- greifen eines Stammnamens auf einen größeren Komplex von Stämmen und schließlich auf die Gesamtheit pflegt erklärt zu werden aus dem „An- sehen" des betreffenden Stammes: dtä r^v InupavEiav scheint ein tech- nischer Ausdruck dafür gewesen zu sein (S. 31 8 ff.), claritas, virtus heißt es dafür entsprechend im Lateinischen.2) Aber das Furchtmotiv spielt dabei eine Art von Nebenrolle: denn die Ausbreitung eines Stammes pflegt sich nicht bloß auf gütlichem Wege zu vollziehen, sondern ohne Gewaltsamkeit geht es selten ab. Mag der Sieger auch noch so sehr seine svvoia betonen, sich mit dem Nimbus des Beschützers der kleinen Nationen umgeben: der Unterlegene, der seine politische Selbständig- keit und mit dieser seinen angestammten Namen verliert, empfindet schmerzlich den Zwang des nationalen Opfers, das er, der Kleine, dem Großen bringt, den er daher trotz aller schönen Worte und trotz des Hochgefühls, das der Anschluß an ein Ganzes hervorruft, fürchtet. Man lese einmal bei Polybios (II 38 ff.) nach, was er über die Propaganda des Achäernamens schreibt. Wie kommt es, fragt er, daß der kleine Stamm solche Geltung erhielt, daß nach ihm alle Peloponnesier sich benennen (itäg ^TtsxQcctijöev xal xCvv tgÖTtcp täv Hyaiäv övoua xazä tckvtcov neXonovvrjötav)? Natürlich preist er in überschwenglichen

1) Das oben S. 333 f. angeführte diu cpoßov bezieht sich nur anf die sprachliche Formgebung. Doch werden wir am Schlüsse dieses Abschnittes eine eigen- tümliche Analogie kennen lernen.

2) Plinius VI 121 Babylon diu summam claritatem inter urbes obtinuit in toto orbe, propter quam reliqua pars Mesopotamiae Assyriaeque Babyhmia appcl- lata est. Isidorus etym. XIV 3, 8 (Quelle unbekannt) Parthia ab Indiae finibus usque ad Mesopotamiam generaliter nominatur. propter invictam enim Parthorum virtutem et Assyria et reliquae proximae regiontS in eius nomen transierunt.

416 Kap. VI. Ethnologische, onomatologische u. geschichtl. Folgerungen usw.

Worten die beispiellose Vorzüglichkeit dieses Stammes1), dem sich die übrigen willig untergeordnet hätten; aber er gibt doch zu, daß bei eini- gen Zwang habe angewendet werden müssen (ßtd^sö&ai^ dvuyxuöd-iv- tsg II 38, 7), und die spätere Geschichte des Bundes, vor allem aus der Zeit, wo Amtos ihm gegenüber seine skrupellose Politik anwandte, bietet genug Beispiele eines nur erzwungenen Anschlusses von partikularistisch gesinnten peloponnesischen Gemeinden. Immerhin: „Furcht" als Ur- sache der Namenerweiterung wird nie so unverblümt angegeben wie in dem Taciteischen Bericht über die Germanen, denen die Gallier „aus Furcht" diesen Gesamtnamen beigelegt hätten. Das muß also wenn es nicht eine Verlegenheitserfindung war aus besonderen Voraus- setzungen, die in diesem Maße nur hier stattfanden, erklärt werden. Die Möglichkeit dazu bieten die Caesarischen Kommentarien.

Von Furcht ist in ihnen sehr viel die Rede. Die Zeiten des alten Gallierschreckens2) waren freilich längst vorbei der Römer ist es vielmehr, der jetzt dem Gallier Furcht einflößt , aber an seine Stelle begann nun der Germanenschrecken zu treten. Natürlich fehlt es nicht an Stellen, an denen der Feldherr mit Genugtuung vermerkt, daß auch er seinerseits den Germanen Angst eingejagt habe. Aber wer die Kom- mentarien in ihrer Gesamtheit an seiner Erinnerung vorüberziehen läßt, wird nicht dieses durch das Bedürfnis gelegentlicher Schönmalerei ver- färbte Bild, sondern ein anderes vor der Seele stehen haben: Schrecken und Furcht sind die Kriegsdämonen, die den Germanen voranstürmen. Ein paar Stellen solcher Art seien hier angeführt. „Während Caesar wenige Tage bei Vesontio verweilte, um sich zu verproviantieren, be- mächtigte sich plötzlich des ganzen Heeres große Furcht, die Sinn und Geist aller in Verwirrung setzte. Die Soldaten hatten nämlich durch Ausfragen unserer Leute, ferner auch durch Äußerungen von Galliern und Kaufleuten in Erfahrung gebracht, die Germanen seien Riesen an Körpergröße, unglaublich tapfer und waffenerprobt; bei oftmaligen Be- gegnungen mit ihnen hätten sie es nicht einmal aushalten können, in

1) Ähnlich Strabo V 210 über das i7nxQar^6ai des Namens 'IxaXoi: die Stelle ist o. S. 326, 3 angeführt.

2) Plutarch Marcell. 3 nach Poseidonios: iisyccv 5] rs %mqa itaQSl%s cpößov Sia ri]v ysixpiadv . . . v.a\ xb TtaXcubv cc^ico^a x&v FaXccxav, ovg iiäXiaxu 'Paßcäoi Sslöat, doxov6iv, aze <?r/ xai xr\v TtöXiv vn' avx&v anoßaXovxsg. Iustinus XXIV 4, 7 terror Gallici nominis XXXVIII 4, 1 Gallorum nomen cjuod semper Bomanos terruit.

Germanenforcht 417

ihre stechenden Augen1) zu blicken ... Einige meldeten Caesar: wenn er den Befehl zum Aufbruch und Vormarsch gäbe, so würden die Sol- daten nicht gehorchen und sich aus Furcht (propter timorem) weigern zu marschieren" (1 39).2) Die Sugambri überschreiten den Rhein, über- raschen Cicero in seinem Lager bei Atuatuca: „Voll Angst wird im Lager hin und her gerannt, einer fragt den anderen nach der Ursache des Tumults . . . Der eine ruft, das Lager sei schon genommen, ein anderer behauptet, das Heer mit dem Oberfeldherrn sei vernichtet und jetzt kämen die Barbaren als Sieger . . . Während so alle voller Furcht und Entsetzen waren, wurden die Barbaren in ihrem Glauben bestärkt, es liege im Lager keine Besatzung" (VI 37, 6 ff.). Hier ist bemerkens- wert, daß die bei Tacitus unmittelbar nebeneinanderstehenden Begriffe „Sieger" und „Furcht", a Victore ob metum, bei Caesar nur durch kleinen Zwischenraum getrennt sind (victores barbaros venisse . . . tdli timore omnibus perterritis). In derselben Erzählung heißt es dann am Schluß (41, 2): „Die Größe des Schreckens offenbarte sich sogar noch nach dem Abzüge der Feinde: C. Volusenus fand, als er in dieser Nacht mit der Reiterei in das Lager kam, mit seiner Versicherung, Caesar und sein Heer seien wohlbehalten zur Stelle, keinen Glauben. Die Furcht saß allen so in den Gliedern, daß ihr Sinn wie verstört war." Von be- sonderer Wichtigkeit für den Gang dieser Untersuchung sind diejenigen Abschnitte der Caesarischen Kommentarien, in denen die Furcht sosar der auf ihre Kriegstüchtigkeit noch immer stolzen Gallier3) vor den

1) acies oculorum. Vgl. V. Hehn, Kulturpfl. u. Haustiere e 596: „Erst die Kultur, die das innere Leben weckt, beseelt auch das Auge, das bei den Wald- und Steppenbewohnern noch den eigentümlich frischen Blick des Jagdtiers oder den scharfen des Raubvogels hat."

2) „Furcht" ist gewissermaßen das Leitmotiv dieses ganzen Kapitels: 4 mal timor, je lmal timere, timidus, vereri, dazu 2 mal perturbari. Livius hat den Bericht Caesars seiner Erzählung zugrunde gelegt (diese Worte wurden bereits früher aus anderem Grunde (zitiert): per. CIV C. Caesar cum adversut Gennanos qui Ariovisto duce in Galliam transcenderunt, exercitum duceret, rogatus ab Aeduis et Sequanis quorum ager possidebatur trepidationem militum propter metum novorum hostium ortam adlocuttone exercitus inhibuit et victos proelio Germanos Gallia expulit.

3) Caesar zeigt für den Kampf der Gallier um ihre nationale Selbständig- keit wenig Gefühl: die Unterwerfung des von einer Priester- und Adelskaste niedergehaltenen, an innerer Zerfahrenheit krankenden Volkes unter die Hege- monie und Zivilisation des römischen Staates erschien ihm, von seinem Stand- Norden: Die germauUohe Urgeschichte 27

418 Kap. VI. Ethnologische, onomatologische u. geschichtl. Folgerungen usw.

Germanen geschildert wird. Wer erinnert sich nicht an die lebendige Szene, in welcher der Häuptling der Haedui Diviciacus als Wortführer der übrigen Caesar um Hilfe gegen Ariovist bittet (I 31 f.). In beweg- licher Rede und unter Tränen, in die alle Anwesenden ausbrechen, schil- dert er die Not, in die sein Stamm und der benachbarte der Sequani durch die germanische Besetzung eines großen Teiles des Gebietes der Sequani geraten seien: „Es seien, sagte er unter anderem, 120000 Ger- manen über den Rhein gekommen; nach Verlauf nur weniger Jahre würden alle Haedui aus den Grenzen ihres Landes vertrieben werden und alle Germanen den Rhein überschreiten, denn der germanische Boden sei mit dem gallischen nicht zu vergleichen; die Lage der Sequani sei noch beklagenswerter, da sie vor der Grausamkeit Ariovists in noch viel größerem Schrecken lebten." In diesen Worten interessiert uns vor allem, daß die Furcht sich zu einer ganz bestimmten Vorstellung steigert: futurum esse paucis annis, uti . . . omnes Germani Rhenum transirent (31, 11). Also aus der Invasion der Suebi und der wenige Monate vorher in der Zahl von 24000 Mann zu ihnen gestoßenen Haru- des schließen die Haedui in ihrer Angst auf eine bevorstehende Invasion

punkte aus betrachtet mit Recht, als Befreiung. Er beschränkt sich, alter schriftstellerischer Gewohnheit gemäß, meist darauf, das zur Charakteristik dienende Gefühlsmäßige einzelnen Führern des um seine Existenz kämpfenden Volkes in den Mund zu legen (z. B. VII 77, 15). Nur ganz selten hat er seine Zurückhaltung preisgegeben (III 2, 5. 10, 3. VII 76, 2), nirgends so offen wie gegen Schluß des V. Buches (c. 54), wo er berichtet, die Verweigerung der Botmäßigkeit eines Volksstammes sei für die meisten übrigen das Signal zu gleichem Verhalten gewesen, „und das ist wohl nicht eben sehr zu verwundern: von anderen Gründen abgesehen, empfand ein Volk, das an Kriegstüchtigkeit höher als alle anderen gestellt wurde, begreiflicherweise den tiefsten Schmerz darüber, daß es an dieser Wertschätzung Einbuße bis zu dem Grade einer Unterwerfung unter römische Oberhoheit erlitten hatte." Auch das in den Kommentarien nach Ausweis der Indices nur hier sich findende haud scio (idque adeo haud scio mirandumne sit), das dem Gedanken eine persönliche Tönung gibt, hebt die Stelle aus allen übrigen heraus. Im Verein mit den be- sorglichen, fast kleinlauten Schlußworten des ganzen V. Buches paulo habuit post id factum (die Niederwerfung der Rebellion der Treverer und Tötung ihres Häuptlings Indutiomarus, die in den vier letzten Kapiteln erzählt worden war) Caesar quietiorem Galliam bereitet sie den Leser allmählich auf den letzten Verzweiflungskampf des Volkes vor: wer sich Buch für Buch als Einheit ver- faßt denkt, schädigt auch hier den kunstvollen, auf die Stimmung berechneten Geiamtbau (vgl. o S. 91).

Germanen furcht 419

der rechtsrheinischen Germanen in ihrer Gesamtheit. Eine schönere Be- stätigung des Gesamtinhaltes des Taciteischen Satzes, insbesondere auch der Begriffsbestimmung omnes läßt sich nicht denken: hinter dem Einzel- stamm, mit dem man es gegenwärtig zu tun hat, steht eine siegreich vordringende Gesamtnation von furchterregender Volkszahl (vgl. I 31, 16. 33, 3 f. 35, 3. 37, 3). Noch aus einer anderen Stelle der Kommen- tarien ersehen wir die gleiche Angst der gallischen Bevölkerung (IV 4): dieses Mal sind es die Menapii, die am linken und rechten Ufer saßeu, und auf die nun die Horden der Usipetes und Tencteri stoßen. Die Menapii müssen ihren rechtsrheinischen Besitz räumen, tantae multitudinis ad- ventuperterriü; durch ein Scheinmanöver der Germanen getäuscht, gehen sie sine metu wieder auf das rechte Ufer zurück, wo sie diesen erliegen. Das Bild, das wir so aus den Caesarischen Kommentarien ge- winnen, ließe sich aus der späteren Überlieferung noch farbenreicher gestalten. Unsere Berichterstatter werden, obwohl ihnen doch daran gelegen sein mußte, die Abwehrversuche in ein möglichst günstiges Licht zu rücken, nicht müde, von der beständigen Furcht der gallischen Provinzen vor den Schrecknissen germanischer Einfälle zu erzählen; oft heben sie dabei die unerschöpfliche Menge der Barbaren hervor.1)

1) Dies Motiv muß man im Auge behalten, um das Etho9 der berühmten Worte des Tac. Germ. 20 von dieser tarn numerosa gens (19).- sera iuvenum venus eoque inexhausta pubertas recht auf sich wirken zu lasBen. Ein be- merkenswertes Zeugnis eines ungefähren Zeitgenossen des Tacitus bietet Jo- sephus in der ungewöhnlich reichhaltigen, für die Großmachtstellung des kaiser- lichen Rom 80 charakteristischen Rede, die er bald nach dem Jahre 66 den Iulius Agrippa (II) in Jerusalem halten läßt (Bellum II 16, 4 § 376): ri'g vpäv ovx axoy 7iccQEiXT](pe to rsguavwv TtXf]9,os; ccXxrjv (ihv yctQ Kai fisyi&n eidsze Ö7]7tov itoXXccxig, iitei 7tavTcc%ov 'Panaioi tovg xovxov aixyiccXJoTovg %%ov6iv, wo- bei man beachte, daß, wie hier Menge und Kraft verbunden werden, auch bei Tacitus den zitierten Worten diese vorangehen: in hos artus, in haec corpora quae miramur excrescunt. Analog Velleius II 106, 1 omnis eorum (Germanorum > iuventus in finita numero, immensa corporibus, situ locorum tutissima. Aus späterer Zeit sei an ein berühmtes Wort des Ammianus erinnert: er nennt die Alamannen ein „sich leicht ersetzendes Volk": XXVII 10,5 reparabilis gcnti motus titneb antur infidi, vgl. XXVIII 6, 9 immanis natio, iam inde ab ituuna- bulis primis varietate casuum imminuta, ita saepius adulescit, ut fuisse longis saeculis aestimetur intacta. Ähnlich der Zeitgenosse des Ammianus, Libauios LIX 128 (IV 274 F.) von den Franken: ovxoi itXiföei phv Ttavxa. aqi^\iov biC8Q- ßaivovöiv, l6%{,v 6k xov öcpäv aixcbv itX^&ovg xijv vnsgßoXijV 7iccp£%ovxai. Vgl. 0. Seeck, Gesch. des Untergangs der antiken Welt I* (Berl. 1897) 202. 619.

27*

420 &ap. VI. Ethnologische, onomatologische u. geschichtl. Folgerungen usw.

Die Zahl der Belegstellen, besonders aus Ammianus, ist groß; es wäre aber zwecklos, sie alle anzuführen, da sie keine neuen Motive enthalten. Nur je ein Zeugnis aus den historischen Schriften des Tacitus selbst und aus einem Schriftsteller der Spätzeit mag hier Platz finden. Im Jahre 70 hält Civilis nach dem Falle Triers einen Kriegsrat ab (Tac. hist. IV 76 aus dem Annalenwerk des Plinius): „Bei den Germanen1) stand Ansicht gegen Ansicht. Civilis empfahl, auf die Völkerschaften der Transrhenani zu warten: durch das gewaltige Entsetzen, das sie verbreiteten, würde die schon erschütterte Macht des römischen Volkes zermalmt werden, und was sei dann Gallien anderes als eine Beute für den Sieger?"2) Das zweite Zeugnis stammt aus der Zeit des be- ginnenden Todeskampfes des Reiches. Stilicho hatte sich, um das von Radagais bedrohte Italien zu retten, gezwungen gesehen, Gallien preiszugeben. Da überschritten am letzten Tage des Jahres 406 die Vandalen, von anderen Stämmen begleitet, den Rhein und eroberten Mainz, Worms, Straßburg, Reims und viele anderen Städte. Was die Haedui im Jahre 58, wie wir bei Caesar lasen, vorzeitig gefürchtet hatten, eine dauernde Besetzung großer gallischer Distrikte durch die Germanen eine Gefahr, vor der Gallien damals durch das macht- volle Einschreiten des großen Imperators bewahrt worden war , das begann jetzt, nach Verlauf eines halben Jahrtausends, zum Ereignis zu werden : an die Stelle der römischen Besetzung trat die germanische. Von dieser Katastrophe besitzen wir in einem berühmten Briefe des Hieronymus (123 = Ip. 913 Vall.) eine Darstellung, deren Anschau- lichkeit durch maßlose rhetorische Übertreibung leider stark gelitten hat; einige Sätze daraus seien hier mitgeteilt: „Unzählige wilde Völker- schaften haben ganz Gallien in Besitz genommen. Alles, was zwischen Alpen und Pyrenäen liegt, was vom Ozean und Rhein eingeschlossen wird, haben Quaden, Vandalen, Sarmaten, Alanen, Gepiden, Heruler, Sachsen, Burgunden, Alamannen und wehe dir, armes Reich! Pannonier verwüstet. 'Wahrlich, Assur ist mit ihnen gekommen.' Mogontiacum, einst eine berühmte Stadt, ist eingenommen und dem

1) Gemeint sind die linksrheinischen Germanenstämme im jüngeren Wort- sinne: b. o. S. 386.

2) Man beachte, daß hier terror und victores nahe beisammen stehen wie victor und metus in der Stelle der Germania und der vorhin (S. 417) an- geführten Caesarischen.

Germanenfurcht 421

Boden gleichgemacht1); in der Kirche viele Tausende hingemetzelt. Die Stadt der Vangiones (Worms) 2) nach langer Belagerung zerstört. Die gar mächtige Stadt der Remi (Reims), die Ambiani (Amiens), die Atrebates (Arras) und die Morini „die fernsten der Menschen"3) (Bou- logne), Tornacus (Tournai), die Nemetes (Speyer), Argentoratus alle diese Städte verpflanzt nach Germanien. Ganz Aquitanien ver- heert. Selbst Hispanien, dem Untergange geweiht, erbebt täglich vor Schrecken, gedenkend des Einfalls der Kimbern."4) Mit diesem Namen alten, nie vergessenen Entsetzens schließt er.

Nach diesem allem kann es nicht zweifelhaft erscheinen, daß die von den Taciteischen Gewährsmännern angestellte Kombination auch in diesem ihrer Teile aus Caesarischen Angaben entwickelt worden ist, und daß ihr insofern eine Berechtigung zuerkannt werden darf, als das „Furcht "-Motiv, das bei sonstigen, uns aus dem Altertum über- lieferten Fällen von Erweiterung eines Stammnamens zum Volksnamen in dem „Ansehen"- oder „Macht "-Motive nur mit- oder anklingt, auf den Germanennamen im Sinne der römischen Berichterstatter an- gewendet zum Grundtone werden konnte. Mag nun aber auch der Moti- vierung eine richtige Beobachtung zugrunde liegen: ihr Erfinder ist in seinem Bestreben psychologischer Begründung hier doch über die Grenze des tatsächlich Erkennbaren etwas hinausgegangen. Eine pri- märe oder gar einzige Bedeutung kommt dem „Furcht"-Motive schwer-

1) Dieser Ausdruck wie die entsprechenden weiterhin folgenden beruhen auf übler Amplifikation. Als Wahrheit hat vielmehr zu gelten, daß die Ger- manen die Kontinuität der römischen Kultur auf dem Lande wie in den Städten zu konservieren bestrebt waren: das hat Dopsch a. a. 0. (o. S. 84, 1) 145 ff. sehr schön an einer Fülle von Beispielen gezeigt. Natürlich hat es an Plünderungen nirgends gefehlt.

2) Die meisten der folgenden Städtenamen gibt er in der Form, die sie durch einen Erlaß des Constantinus I. vom Jahre 310/11 erhalten hatten, d. h. nach den Gaunamen.

3) Verg. VIII 727 extremique hominum Morini (vgl. o. S. 187). Bei Er- wähnung der Morini stellte sich diese poetische Floskel sozusagen automalisch ein: vgl. PliniuB n. h. XIX 8 ultumi hominum existimali Morini, Tacitus hist. IV 28 (d. h. also ebenfalls Plinius) Morinos et extrema Galliarum.

4) Mit den letzten Worten ist zu vergleicben Seneca de cons. ad Helviam 7, 2 Pyrenaeus Gertnanorum transitus non irihibuit, übrigens ein auch von mir (Sitzungsber. d. Berl. Ak. 1918, 128, 2) vergessenes Zeugnis für die germanische Abkunft der Kimbern.

422 Kap. VI. Ethnologische, onomatologißche u. geschieht!. Folgerangen uiw.

lieh zu: die Machtfülle des fremden Nachbarstammes bot genügenden Anlaß, seinen Namen auf das Volksganze, dem er angehörte, aus- zudehnen. So haben wir es uns in allen oben (S. 406 ff.) angeführten Fällen vorzustellen, also auch in dem des Germanennamens. Insonderheit kann uns die Analogie des Alamannennamens auch hierfür dienlich sein. Gewiß war auch dieser Stamm Gegenstand dauernder Furcht von Seiten der romanischen Nachbarn, und welcher Schreck diese erfaßte, als er erobernd auf das linke Rheinufer vorstieß (455), haben wir oben (S. 330) mit den Worten des Sidonius kennen gelernt; aber als dieser Stamm- name sich als Volksbezeichnung durchzusetzen begann, war der Stamm von den Franken geschlagen (496) und in deren Reich aufgegangen (536): die Erinnerung an seine einstige Macht hatte seinem Namen Expansionskraft verliehen. Der Taciteische Bericht darf mithin auch in diesem seiner Teile als beglaubigt gelten, es wird sich aber viel- leicht empfehlen, die psychologische Begründung „aus Furcht" in eine allgemeinere „infolge der Machtausdehnung" aufgehen zu lassen, die wir auf Grund zahlreicher Beispiele als einen „onomatologischen Völker- gedanken" glaubten bezeichnen zu dürfen.

Wie verhielten sich zu dem Volksnamen, den sie in gallischem und römischem Munde erhalten hatten, die nunmehrigen Träger selbst? Auf diese Frage antwortet der letzte Teil des Taciteischen Berichtes. Eine merkwürdige, einem anderen Kulturkreise entnommene Analogie mag uns zu seiner Prüfung hinüberleiten.

Anderthalb Jahrhunderte nach dem Ereignis, das den Hieronymus in jene beweglichen Klagen ausbrechen ließ, begann in Byzanz der Avarenschrecken. Über das erste Auftreten dieses gefürchteten Volkes besitzen wir einen Bericht des Theophylaktos (VII 8 p. 258 de Boor). Von den Türken bedrängt, wandten sich die Avaren aus den Gegenden am Kaspischen Meere, wohin sie aus Innerasien eingedrungen waren, nach Westen und forderten im Jahre 557 von Iustinianus Wohnsitze. Der byzantinische Historiker hält ob mit Recht, bleibe dahin- gestellt — diese Avaren nicht für identisch mit den älteren eigentlich so genannten, sondern ihr ursprünglicher Name sei War' gewesen, eine mit den Chunni (Hunnen) aus dem Innern Asiens vorgedrungene Horde, und aus Furcht seien sie von den skythischen Völkerschaften, in deren Gebiet sie einfielen, „Avaren" genannt worden, da dieses Volk wegen

Germanenfarcht 423

seiner Tücke verrufen gewesen sei. Als nun die Var und Chunni merkten, daß die Furcht, die sie einjagten, ihnen Nutzen bringe, machten sie sich den Irrtum zu eigen und nannten sich selbst Avaren ('AßccQovg iavtovg xaravonaöav). In diesem Berichte fehlt freilich das für den Taciteischen entscheidende Moment, die Ausdehnung des Stammnamens auf das Gesamtvolk. Aber daß der Landesfeind infolge der Furcht, in die er die eingesessene Bevölkerung versetzt, von dieser seinen Namen erhalten und ihn dann sich selbst zu eigen gemacht haben soll, scheint mir die Analyse, die dem Taciteischen Berichte in einem seiner Teile aus dem Sinne der Berichterstatter zu geben versucht wurde, zu bestätigen, und mit einem Gefühle des Vertrauens wenden wir uns der letzten seiner Angaben zu, der Aneignung des dem Eindringling „aus Furcht" beigelegten Namens durch diesen selbst.

III. GERMANI ALS SELBSTBEZEICHNÜNG „Der Name des Volksstammes 'Germani' habe allmählich solche Geltung erlangt, daß das Gesamtvolk . . . auch von sich selbst mit dem Namen, den es bekommen hatte, cGermani' be- nannt wurde." Dieser Angabe steht gegenüber die eines neueren Forschers (R.Much, Deutsche Stammeskunde S. 66): „Gewiß ist, daß sich die Germanen selbst nicht mit diesem Namen benannten, und wahrscheinlich hat es überhaupt eine für ihre Gesamtheit geltende Bezeichnung in ihrer Sprache nicht gegeben." Der letzte Teil dieses Satzes, durch den die Taciteische Angabe ja auch nicht berührt wird, ist zweifellos richtig; aber der erste, den schon J. Grimm ähnlich formuliert hatte, bedarf einer Einschränkung. Darauf zwar, daß Caesar öfters da, wo er Reden oder Meinungsäußerungen von Germanen anführt (stets in indirekter Form), diese von sich selbst als ?Germani' sprechen läßt (1 36, 7. 44, 6. IV 7, 3. 16, 4. 7. VI 9, 7), und daß Tacitus an dreizehn Stellen der historischen Schriften (s. o. S. 340, 3) ebenso verfährt, ist nichts zu geben. Es klingt ja sehr schön, wenn wir zu hören bekommen, daß römisch gebildete Häupter einer Koalition germanischer Stämme wie Arminius und Civilis in ZeiteD, da der Haß gegen die Fremdherrschaft in Flammen aufschlug, den Versuch unternehmen, in glühenden Freiheitsreden unter Hinweis auf den ihnen seit langer Zeit beigelegten Gesamtnameu den ihrem Volke von innen heraus fehlenden Gemeinschaftlichkeitssinn zu

424 &aP- VI. Ethnologische, onomatologische u. gesehichtl. Folgerangen usw.

wecken (Tac. ann. I 59. hist. IV 14. V 17), oder wenn Gesandte der Tencteri in einer Versammlung der Agrippinenses so anheben (hist. IV 64): rediisse vos in corpus nomenque Gcrmaniae communibus deis et praecipuo deoram Marti graten agimus. Allein Freiheitsreden mit dem Appell an das Nationalbewußtsein waren in der Geschichtschreibung seit den Perserkriegen zu beliebt, als daß wir in ihnen mehr als wir- kungsvolle Rhetorik erblicken dürften. Aber es gibt eine Gruppe von Urkunden, denen niemand Glauben versagen wird. Schon Caesar hatte, da er die Zuverlässigkeit und Kriegstüchtigkeit der Germanen erkannte, mit der Heranziehung germanischer Elemente zum Auxiliardienst be- gonnen; seine Nachfolger gingen darin weiter. Auf den recht zahl- reichen Inschriften von Germanen, die unter der Julisch-Claudischen Dynastie zur kaiserlichen Leibwache gehörten, steht neben der Stammes- bezeichnung natione Bata(v)us, Ubius, Frisius usw. stets die Volks- bezeichnung ex collegio Germanorum. Als kaiserliche „Hausgardisten"1) hießen sie also Gcrmani und nannten sich auch selbst so: es war weniger eine Nationalitäts- als eine Standesbezeichnung. Die germanische Leib- wache wurde von Galba aufgelöst (Sueton Galba 12). Dann haben die beiden germanischen Provinzen für das seit der Traiani sehen Zeit in- schriftlich nachweisbare Kavallerieregiment, die equites singulares2 _), als Aushebungsbezirke eine beträchtliche Rolle gespielt. Auf den In- schriften dieser Truppe finden sich meist nur Stammnamen wie natione Bata(v)ns, Suaebus, Trever usw., auch Tunger.3) Aber auch Germanus (-ni) mit oder ohne Zusatz des Stammes begegnet öfters4), darunter besonders bemerkenswert die religions- und militärgeschichtlich be- rühmten Altarinschriften aus der Zeit des Alexander Severus5): Deo

1) So bezeichnet sie M. Bang a. a. 0. (o. S. 374, 2) 70, der auch die Zeug- nisse gesammelt hat.

2) Nach Mommsens Abhandlung aus dem Jahre 1881 (Ges. Abh. V 402 ff.) jetzt Liebenam in der R. E. VI 312 ff.

3) CIL VI 10177 (=5104 Dessau), ferner eine im Jahre 1908 hinzu- gekommene Inschrift bei A.Riese, Das rhein. Germanien usw. (Leipz.1914) Nr. 2593.

4) Beispielsweise CIL VI 3280 n(atione) Germanus. 4344 Nereas nat. German(us) Peucennus (d. i. Peuänus: Tac. Germ. 46 Peucini quos quidam Bastarnas vocant). VII 332 (Dessau 4640) deo Mapono (vgl. VII 1345 Äpollini Mapono) et n(uminious) Aug(ustorum) Durio et Ramio et Trupo et Lurio Ger- mani v. s. I. m.

5) Bei Riese Nr. 2440 und 1855 (— Dessau 4760f.).

Germani ala Selbstbezeichnung 425

Marti Thingso et duabus Älaisiagis Bede et Fimmüene et n(uminibus) Aug(ustorum) Germ(ani) cives Tuihanti1) und: deo Marti et duabus Älaisiagis et n. Aug. Ger(mani) cives Tuihanü cunei Frisiorum.")

Wir werden mithin auch diesem Teile des Taciteischen Berichtes sein Recht zuerkennen, nur seinen Geltungsbereich, über den er genau genommen ja auch keine Angaben enthält, erheblich begrenzen müssen. Unter sich haben die Germanen nicht aufgehört, sich mit den Stamm- namen zu bezeichnen, die ihnen seit unvordenklichen Zeiten eigneten. cGermani', ursprünglich auch ein solcher uralter Stammname, hatte in ihren Ohren keinen Klang mehr: er war längst zum Volksnamen ge- worden und als solcher, wie es in dem Berichte bei Tacitus heißt, ein recens vocabulum, und zwar ein fremdländisches, von Kelten und Römern dem Volke zuerteilt, das keinen ihm selbst eignen Gesamtnamen be- saß. cGermani' haben sie sich nur genannt, soweit sie im römischen Reiche als römische Soldaten u. dgl. lebten und nur soweit sie römisch von sich sprachen, sich gewissermaßen mit den Augen des Römers an- sahen. So bleibt der Satz von Zeuß (S. 60) in voller Geltung: „So wenig konnte der keltische Name in die Sprache der Deutschen über- gehen, als der deutsche Name Wenden in das Slawische übergegangen ist, und sein Gebrauch bei Deutschen wird nur für ihren Verkehr mit den Auswärtigen, Römern und Kelten, sich zugeben lassen."8) Aber auch bei den Römern selbst ist der Geltunp-sbezirk des Namens Ger-

1) Tuihanü ist von W. Scherer, Mars Thingsus (Sitzungsber. d. ßerl. Ak. 1884) 573, als der alte Name der Landschaft Twenthe in der niederländischen Provinz Overijssel erkannt worden. „Das Wort ist deutlich komponiert und Tui-hanti abzuteilen. In dem ersten Kompositionsglied steckt die Zweizahl, treu erhalten wie in Tuisto . . . Das zweite Koinpositionsglied kommt, mit der Dreizahl verbunden, dicht neben Twenthe in dem Namen Drenthe, alt Thrianta, vor." Diese Erkenntnis ist für alte Stammesgliederuug von hervorragender Wichtigkeit. Übrigens befinden wir uns hier ganz in der Nähe des römischen Kolonisationsgebietes in der Umgebung des Zuidersees, das wir oben (S. 298 ff.) wiederholt gestreift haben. Es war die Urheimat der salischen Franken.

2) Hiermit zusammenzunehmen ist die Inschrift eines Schiffervereins, 4757 Dessau: deae Viradecdi cives Tungri et nautae qui Fectione consi^tuut. Diese Inschrift ist gefunden bei Vechten (vgl. o. S. 186), dessen Name sich also fast unverändert erhielt. Die Vecht trennt die in der vorigen Anin. er- wähnten niederländischen Landschaften Twente und Drente.

3) Vgl. auch G. Waitz, Deutsche VerfasBurgsgesch. I* (1880) SO. 0. Brernor in H.Pauls Grundriß d.germ. Phil. III» (1900) 739. Baumstark a.a.O. (o.S.5,2) 124 f.

426 Kap. VI. Ethnologische, onomatologische u. geschieht!. Folgerungen usw.

mani ein zeitlich beschränkter gewesen. Er sank im Laufe der Zeit zum Werte nur eines Literaturwortes, das nach dem Vorgange des * Vergil und Horaz von Dichtern öfter als von Prosaikern gebraucht wurde, während das Leben und meist auch die Historie sich echter neuer Stammnamen der germanischen Völker, wie Alamanni und Franci, bediente.1) In der lateinischen Literatur des frühen Mittel- alters verschwindet der Volksname fast gänzlich, der Landesname wird dagegen als geographischer Begriff weitergeführt2), ein Unter-

1) Vgl. script. h. Aug. XXIX 13, 3 Alamannos qui tunc adhuc Germapi dicebantur. Bei Eutropius IX 8. Hieronymus chron. 2280. Orosius VII 22, 7. 41, 2 sind Germani genannt, wo andere Quellen, Aurel. Vict. Caes. 33. Dio- Zonar. XII 24, von Franken reden. Prokopios, Bell. Vand. I 3 reQpavovg ol vvv <&Qäyyoi xccXovvtcci (ganz ahnlich Agathias I 2 in den o. S. 413 ange- führten Worten). Sehr bezeichnend ist folgende Stelle, die ich, wie mehrere der erwähnten, dem Artikel 'Franci' von M. Ihm in der R. E. VII 86 f. ent- nehme: Hieronymus, Vit. Hilarion. 22 (II 24 Vall.) inter Saxones quippe et Ala- mannos gens eins, non tarn lata quam valida, apud historicos Germania, nunc Francia vocatur. Zeuß S. 334 bemerkt, daß bei Venantius Fortunatus Germania gleichbedeutend mit Gallia = Francia gebraucht werde. Ein paar etwas andersartige Beispiele aus Claudianus und Sidonius hei Th. Birt, Die Germanen (Münch. 1917) 117.

2) Charakteristisch Jordanis Get. 67 Germanorum terras quas nunc Franci optinent. Den späteren Tatbestand habe ich aus den Indices der betreffenden Bände der Monumenta Germaniae hist. leicht feststellen können. So fehlt Ger- mani bei Gregorius von Tours und Widukind ; Einhart und Paulus Diaconus haben esje einmal, ersterer v. Car. 18 quae de orientalium Francorum , Germanorum videlicet, gente erat, letzterer in der aus älterer Überlieferung kompilierten Vorrede seiner Langobardengeschichte. Dagegen führen die meisten von ihnen Germania noch weiter fort. Ganz wenige Belege für Germani aus Dichtern der Karolingerzeit bei Birt a. a. 0. 119, 1. Aber eine sehr bemerkenswerte Stelle findet sich bei Baeda, Hist. eccl. V 9 (ed. A. Holder2 p. 389): famulus Christi et sacerdos Fcgberct (Angelsachse aus vornehmem Geschlecht, f 729) . . . proposuit animo pluribus prodesse, id est . . . verbum dei aliquibus earum quae nondum audier ant gentibus euangelizando committere: quarum in Germania plurimas noxerat esse nationes, a quibus Angli vel Saxones qui nunc Brittaniam incolunt genus et originem duxisse noseuntur; unde Jiactenus a vicina gente Brettonum eorrupte Garmani nuneupantur (Über die Namensform vgl. meine Be- merkung Sitzungsber. d. Berl. Ak. 1918, 104,4). sunt .autem Fresones, Rugini, Danai, Hunni, Antiqui Saxones, Boructuari. Baeda gebraucht Germania öfters als geographischen Begriff, aber Germani nur I 2 (p. 8): Germanorum Gallo- rumque gentes aus Caesar, dessen britannischen Expeditionsbericht er in diesem Kapitel exzerpiert.

Germani und Barbari 427

schied, der bei der festen kartographischen Überlieferung niemanden verwundern wird. Der entscheidende Beweis für das Fehlen jeder landesüblichen Bezeichnung der Gesamtheit liegt schließlich darin, daß das siegreiche germanische Volk sich in den Gesetzbüchern der Bur- gunden und Franken aus der Wende des V. und VI. Jahrh. gegenüber den romanischen Untertanen ohne Arg mit dem ihm von diesen bei- gelegten Sammelnamen Barbari bezeichnet hat.1)

1) Die Tatsache ist wohl im allgemeinen bekannt; da sie aber m. W. noch keine genügende Untersuchung gefunden hat (vgl. den kurzen Hinweis von G. Paris, Romani in: Romanial 1872 S. 3, 2; G. Kurth, La France et les Francs in: Rev. des quest. hist. N. S. XIII 1895, 394 f. über barbarus fast = miles bei Gregorius von Tours; H.Werner, Barbarus in: N. Jhb. XXI 1918, 389 ff. ist gerade auf diesen Sprachgebrauch nicht näher eingegangen), so möchte ich meine Sammlungen hier vorlegen. Für die Burgunden gibt der Index der Ausg. in den Mon. Germ. Hist. Leg. sect. I Tom. II ParsI (1892) auf S. 175 viele Belege; darunter ist der interessanteste tit. 79, 1 barbara natio, d. h. nach Gaupp a. a. 0. (o. S. 6) 368 die germanische Nation insgesamt, seien es Burgunden, Westgoten, Alamannen oder andere Germanen. In der lex Salica finden sich zwei hübsche Beispiele: XIV 1 u. 2 (p. 82 Hesseis): St quis hominem ingenuum in superventum expoliaverit . . . (Strafmaß). Si vero Romanus barbarum Salico (d. h. Salicum) expoliaverit . . . XLI 1 (p. 244) Si quis ingenuo Franco aut barbarum qui legem Salega (so die alte Überlieferung = lege Salica) vivit occiderit. (Ist hier aut wirklich, wie behauptet wird, z. B. von G. Waitz, Deutsche Verfassungsgesch. 1 1* S. 108, 2 nach Sohm, = id est? Sollte nicht vielmehr dadurch eine zweite Klasse unterschieden werden, etwa An- gehörige anderer Germanenreiche, die als Kriegsgefangene in das fränkische gekommen waren?) In den leges Visigotorum, dem Vorbilde der burgundischen Gesetzgebung, fand ich dagegen kein Beispiel, was offenbar damit zusammen- hängt, daß wir sie infolge des fast gänzlichen Verlustes des ältesten, von König Eurich um 470—475 gegebenen Gesetzes in Fassungen erst des VII. Jahrh. be- sitzen: es lag ja in der Natur der Sache, daß der Sprachgebrauch beim Er- starken der Volksstaaten abkam, wie er denn auch der langobardischen Ge- setzgebung des VII. und VIII. Jahrh. fremd ist. Dagegen entnehme ich der Abhandlung von Fr. Schramm, Sprachliches zur Lex Salica (Marb. 1911) 14, eine Stelle aus einem Edikte des Ostgoten Theoderich: quae barbari Bomanique sequi debeant. Es wird sich also sagen lassen, daß der Gebrauch in den ger- manischen Gesetzesbüchern des V. und VI. Jahrh. allgemein üblich gewesen ist. Da nun eine genauere Beschäftigung mit diesen interessanten Dokumenten mir gezeigt hat, daß sie in ihrer Sprache ersichtlich an diejenige des Codex Theodo- sianus (vom Jahre 439) anknüpfen (die langobardischen an den Iustinianus vom Jahre 529), so leuchtet es wohl ein, daß der Gebrauch von barbari in den ger- manischen Volksrechten ohne weiteres aus der Gesetzessprache jenes Codex

428 Schlußbetrachtung. Militärische u. kaufmänn. Berichte als Primärq ;

Seiner nationalen Kraft ist unser Volk sich von alters bewußt ge- wesen, aber politisches Nationalbewußtsein hat es erst im späten Ver- laufe seiner Geschichte gewonnen und in entscheidenden Zeitläuften dieser öfters wieder verloren. Dieses Mißverhältnis des Physischen und Psychischen, an dem sein Organismus immer von neuem erkrankte, ist ihm jetzt zum Verhängnis geworden. Nur von einer dauernden Durch- dringung beider Lebenselemente ist seine Gesundung zu erhoffen.

SCHLUSSBETRACHTÜNG

MILITÄRISCHE UND KAUFMÄNNISCHE BERICHTE ALS PRIMÄRQUELLEN

Ob das Maß der Überlieferung, die in drei furzen Kapiteln der Taciteischen Schrift vorliegt, es rechtfertigt, daß über sie ein Buch vom Umfange des vorliegenden geschrieben wurde, mögen seine Leser beurteilen. Sie werden dabei freilich in Anrechnung bringen, daß ein beträchtlicher Teil der ethnographischen Literatur des Altertums in den Kreis der Betrachtungen gezogen werden mußte, weil nur dieser Weg zum vollen Verständnisse der andeutungsweise verlaufenden

herübergenommen worden ist, in dessen Titeln über das Einquartierungswesen wiederholt von barbari die Rede ist (üb. VII de re militari tit. VIII. IX). Übrigens wurzelt die Herübernahme des Sprachgebrauchs von Seiten der Ger- manen wahrscheinlich in viel früherer Zeit. Am Hadrianswall ist die dem IL Jahrh. angehörige Weihinschrift eines aus Ulpia Tiaiana im Kugernerlande (am Niederrhein) stammenden emeritus der ala Petriana (vgl. C. Cichorius, R. E. I 1244) an die dei Herfculis injvicti confsorjtes (wohl Mars und Mercurius) pro sfalute] commilitonfum] barbarorum gefunden worden (CIL VII 924); wegen der germanischen Heimat des Dedikanten sind unter den barbari mit M. Bang a.a.O. (S. 374, 2) 47 Germanen zu verstehen. Die Barbarisierung des römischen Heeres besonders durch das Germanentum brachte es mit sich, daß Soldat und Barbar fast identische Begriffe wurden. Dafür ein hübsches Beispiel ans einer Papyrus- urkunde : eine Mutter schreibt in einem Gesuch um Befreiung ihres Sohnes vom Militärdienste: anfjX&sv oiv ptia zbv ßägßagov, Pap.Lond. II 298,6 bei U. Wilcken, Papyruskunde 408,2. Dies gehört alles dem Leben an; dagegen ist rein lite- rarisch zu beurteilen, wenn Einhart sich in seiner Biographie' Karls d. Gr. hominem barbarum nennt (praef.) und den Kaiser barbara carmina sammeln läßt (c. 29); ein Satz wie deinde omnes barbaras ac feras nationes quae inter Bhenum ac Visulam fluvios oceanumque ac Danubium positae Germaniavi incolunt (c. 15) trägt fast in jedem Worte die Signatur archaisierender Imitation.

Quellenkxiti3che Ergebnisse 429

Taciteischen Berichterstattung zu führen schien. Wenn wir uns auf einzelnen aussichtsreichen Nebenstationen dieses Weges länger auf- gehalten haben, als zum Erreichen des Zieles unbedingt nötig gewesen wäre, so muß die Entscheidung auch darüber, ob der Gewinn das Ver- weilen lohnte, anderen anheimgestellt bleiben. Auf eine Zusammen- fassung der ethnologischen Ergebnisse glaube ich, da sie hauptsäch- lich in dem letzten Kapitel des Buches enthalten sind, verzichten zu dürfen; möchte der Versuch, den Nebelschleier, der das älteste Ein- treten unseres Volkes in die Geschichte verhüllt, an einem Zipfel be- hutsam zu lüpfen, einer Prüfung standhalten: Mommsens Wort, daß, verglichen mit den Anfängen Germaniens, die von Hellas und Rom lichtvoll klar seien, bleibt trotz allem leider bestehen. Dagegen wird man es dem Philologen gestatten, hier seine Ansicht über die Quellen- frage zusammenzufassen. Es hat sich nicht vermeiden lassen, sie in Einzeluntersuchungen über das Ganze zu verteilen: Schritt vor Schritt mußten wir uns den Boden zum Verständnis der Texte zu bereiten suchen, und mit jeder neuen Erkenntnis wuchs unsere Einsicht in das Werden und Wachsen des Überlieferungsstromes. Die Zusammen- fassung der quellenkritischen Ergebnisse wird aber auch den Vorteil darbieten, einer Frage näher treten zu können, die von uns bisher nur ganz nebenbei in den Gesichtskreis gezogen wurde.

Tacitus hat in den drei Kapiteln, die die germanische Urgeschichte behandeln, durch die fast ausschließlich angewandte Form indirekter Rede zum Ausdruck gebracht, daß er im wesentlichen nur ältere Über- lieferung weitergab. Um die Identifikation dieser quidam, von denen uns kein einziger erhalten ist denn die Caesarische Ethnographie kommt für diese Kapitel nur mittelbar in Betracht , haben wir uns vielfach bemüht, weniger um der Namen selbst willen, obwohl auch in ihrem Aufspüren ein nicht geringer Reiz liegt, als in der Über- zeugung, daß ihre Erkenntnis einen Einblick in die lange Tradition gewähre, die fast zwei Jahrhunderte durchlaufen hatte, bis sie in die Schrift des Tacitus gelangte. Der jüngste Gewährsmann war Plinius. Alle Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß Tacitus die Erörterung über germanische Urgeschichte ihrem wesentlichsten Bestände nach, wenn nicht gar in ihrer Gesamtheit in den Plinianischen Bella vor- fand und sie verkürzt wiedergab, aber so, daß er mit Kritik Stellung zu ihr nahm; das Plinianische Werk hat Tacitus auch in gelegent-

430 Schlußbetrachtnng. Militärische u. kaufmänn. Berichte als Primärquellen

liehen Bemerkungen über die spätere Geschichte des Landes und seiner Bewohner von den Kimbernkriegen an stark benutzt. Hinter Plinius stand Livius, der im ersten Teile des CIV. Buches säum Germaniae moresque behandelte und in späteren Büchern wiederholt auf ger- manisch-römische Ereignisse einging, wie er schon in früheren (LXIil ff.) die Kimbernkriege erzählt hatte. Er war einer der Hauptquellen- autoren des Plinius für die germanische Urgeschichte sowie für die Germanenkriege bis in die Augusteische Zeit. Tacitus hat sich wahr- scheinlich nicht darauf beschränkt, für die Urgeschichte das Livianische Gut aus Plinius zu entnehmen, sondern den Exkurs des genannten Buches selbst eingesehen; doch ist die Entscheidung darüber ziemlich unwesentlich. Über Livius hinauf kommen wir zunächst in griechische Atmosphäre. Livius hatte das Urgeschichtliche in der Hauptsache nach einer Schrift gegeben, die noch in seine eigne Zeit hinein- reichte. Ihr Verfasser war Timagenes, der vermutlich in dem um- fänglichen Exkurse eines historischen Werkes die germanischen Ver- hältnisse, wie es damals in der Natur der Dinge lag, und wie es auch Livius tat, in seine Darlegung der gallischen hineinbezogen hatte. Das außer von Livius auch von anderen Schriftstellern der Augusteischen Zeit, Trogus, Dionysios und besonders Strabo benutzte Werk lag noch dem Ammianus Marcellinus vor; die von ihm daraus mitgeteilte kel- tische Ur- und Besiedelungsgeschichte (o. S. 50 f.) ist trotz der Ent- stellung, die sie durch ihren Benutzer erfahren hat, in ihrem Gesamt- bau so eng der germanischen Archäologie bei Tacitus verwandt, daß man in beiden unschwer die Erzeugnisse eines und desselben Schrift- stellers erkennt. Die germanische Urgeschichte hatte Timagenes an die skythische Herodots angelehnt. Die wichtigsten Angaben der Tacituskapitel über Lieder auf Tuisto und seine Nachkommen- schaft sowie auf einen germanischeu „Herkules" werden aller Wahrscheinlichkeit nach dem Timagenes verdankt. Über die Ur- geschichte hinaus kann der Exkurs des Timagenes nichts Beträcht- liches für germanische Geographie enthalten haben: dafür reichte der Blick damals, d. h. in der ersten Hälfte der Augusteischen Zeit, noch längst nicht weit genug, und sonst müßten bei Strabo, der den Tima- genes für Gallisches aufs stärkste benutzte, auch für Germanisches seine Spuren nachweisbar sein, was nicht der Fall ist. Über Tima- genes hinauf gelangen wir zu Caesar, dessen gallische Commentarii

Quellenkritische Ergebnisse 431

von Timagenes stark benutzt worden sind, jedoch so, daß er ihre ethnographischen Angaben an der Hand der Augusteischen Neuordnung der Tres Galliae (16 13) kontrollierte; an Polemik gegen Caesar hat es dabei nicht gefehlt, und es ist daher mit der Wahrscheinlichkeit zu rechnen, daß polemische Stellungnahme zu Caesar, der wir in der Taciteischen Germania hier und da für ethnographische Angaben all- gemeiner Art, einmal auch in der Urgeschichte, begegnen, durch Livianische Vermittlung auf Timagenes zurückgeht; jedoch ist dabei der Sonderanteil des Timagenes von dem des Livius selbst nicht mehr mit Sicherheit abzugrenzen. Der Hintermann des Timagenes war Poseidonios, der älteste Berichterstatter über die Geschichte unserer Vorfahren, wenn wir von Artemidoros absehen, der kurz vor ihm die ersten vorläufigen Nachrichten über die Kimbern gegeben hatte. Der Umfang und die Genauigkeit des ethnographischen Materials für Ger- manisches war aber zu der Zeit, als das Geschichtswerk des Poseidonios erschien (Ende der 80 er Jahre), noch ganz unzulänglich, es wurde schon von Caesar einer erheblichen Ergänzung und Berichtigung unterzogen, und erst fast ein halbes Jahrhundert nach diesem wurden Land und Leute Germaniens der Forschung recht eigentlich erschlossen. Wer Caesarische oder Taciteische Angaben über Stämme des inneren Germaniens auf Poseidonios zurückführt, nimmt die Verantwortung auf sich, durch einen grundsätzlichen Fehler die gesamte Quellen- kritik über Altgermanisches aufs schwerste zu schädigen, ja sie in die Luft statt auf festen Boden zu stellen: je spezieller, desto jünger, dies muß in engster Fühlung mit der Entdeckungsgeschichte des Landes die Losung beim Zuweisen von Angaben an bestimmte Ge- währsmänner sein. Jedoch das in der Flucht der Erscheinungen Stetige, nämlich das Anthropologische und vor allem die kultur- geschichtliche Betrachtungsart werden in der Tat dem Poseidonios verdankt. Daß die Kimbern, deren Geschichte er für alle späteren Darsteller verbindlich schrieb, Germanen seien, war ihm zur Zeit der Abfassung seiner Historien noch unbekannt; die bald darauf zu- gewachsene Erkenntnis gewährte nun die Möglichkeit, die Posidonischen Ki{ißQLxd für germanische Ethnographie auszuwerten: wie das geschah, haben wir in dem Verfolg der Geschichte eines Hippokratischen Dic- tums von einem „nur sich selbst ähnlichen" Volke zu zeigen versucht, das von Hekataios, wie es scheint, für die Ägypter geprägt, von dem

432 Schlußbetrachtunpr. Militärische u. kauf mann. Berichte als Primärquellen

Hippokrateer auf die Skythen, von Poseidonios auf die Kimbern, von Timagenes auf die Germanen übertragen wurde und dann durch Ver- mittlung des Livianischen Germanenexkurses in die Taciteische Ger- mania kam. Poseidonios hatte .aber in sein Geschichtswerk auch eine Ethnographie der rsQiiavoC eingelegt, von der uns bei Athenaeus ein Fragment (über Essensgebräuche) erhalten ist. Er verstand unter diesen Germanen eine am rechten Rheinufer siedelnde Gruppe, deren Sitten er von denen der Kelten nur durch kleine unterschiede zu sondern vermochte. Schon Caesar unternahm daran eine durch- greifende Verbesserung. Aber aus dem, was an der Posidonischen Skizze sich als haltbar erwies, ist wieder durch Vermittlung des Timagenes -Livius mancherlei, z. B. über den Schlachtgesang, Gefolg- schaftswesen, Gastfreundschaft, in die Taciteische Schrift gelangt, und zwar mit solcher Treue, daß wir gelegentlich eine umschreibende Rück- übersetzung ins Griechische glaubten wagen zu dürfen.

Es ist wohl möglich, daß in dieser Linienführung, die wir früher (S.170) mit Ergänzungen nach unten durch eine Art von überlieferungs- geschichtlichem Stammbaum uns zu veranschaulichen suchten, der eine oder andere Punkt insofern unsicher ist, als die Zuweisung einzelner Nachrichten gerade an diesen oder jenen der genannten Schriftsteller hypothetisch bleiben muß. Insbesondere dürfte der Anteil des Posei- donios von dem des Timagenes nicht überall leicht zu scheiden sein, da Livius den Poseidonios, einen seiner Hauptgewährsmänner für die Zeit nach Polybios, auch für den Germanenexkurs des CIV. Buches aller Wahrscheinlichkeit nach nicht bloß durch Vermittlung des Tima- genes benutzte, sondern ihn nebenher auch selbst einsah, genau so wie es Strabo für die Keltike tat (vgl. o. S. 371); immerhin wird auch da der erwähnte Grundsatz, daß speziellere Kunde über Stammesgeschicht- liches noch nicht Posidonisch sein kann, eine gewisse Norm des Urteils ermöglichen. Jedenfalls betrifft dieser Zweifel, wie man sieht, nur verhältnismäßig unwesentliche Einzelheiten, nicht die Linienführung als solche, die den Gang der literarischen Überlieferung für germanische Ethnographie von ihren Anfängen bis auf Tacitus einigermaßen zuver- lässig zum Ausdruck bringen dürfte. Die Hauptsache, die sich aus dem durch die Fülle der Einzelheiten etwas figurenreichen Bilde heraushebt, ist und bleibt diese: die germanische Urgeschichte, die wir bei Tacitus lesen, trägt griechische Farben. Die Herodoteischen Uxv&ixd bilden

Quellenkritische Ergebnisse 433

sozusagen den Grundtext (S. 48 ff.), in den Thukydideische Gedanken hineingewoben sind (S. 322 f.). Die altvertrauten Inventarstücke helle- nischer <xQ%caoXoyCcci, Herakles, Odysseus, Inschriften auf Altären und Denkmälern erscheinen schemenhaft auf der Bildfläche. Der „Namen- satz", wie wir ihn nannten, ist bis zu dem Grade griechisch stilisiert, daß uns seine Deutung nur gelang, indem wir die lateinische Prä- position a als ,die einheitliche Wiedergabe der griechischen Doppelheit von ebrd und v%6 erkannten (S. 341 f.). Wer ethnologische Offenbarungen über die Stammesverbände der Ingvaeonen, Hermionen und Istvaeonen erwartete, wird etwas enttäuscht sein, daß er sie nicht gefunden hat dies Urtümliche zu betasten wird schwerlich je gelingen ; aber ihm wird zu denken geben, daß ihre Ortsbestimmung proximi oceano . . . , medii l) . . . ceteri in der seit Herodot geläufigen Terminologie 7ittQ(t&cdd66iot, (nccQGJXsavltaL Strabo) psäöycuoL*) ol ds Xovxol erfolgt.3)

Dies alles betrifft nur die Literatur. Nun aber muß ausgesprochen werden, daß dieser Strom schriftlicher Überlieferung das Beste, was er mit sich führte, dem steten Zufluß teils mündlicher teils halbliterarischer Quellen verdankte. Diese Unbekannten und Unbenennbaren sind die eigentlich Gebenden gewesen, denen gegenüber die Literaten bloß eine Vermittlungsrolle gespielt haben. Unser Beruf bringt es mit sich, daß wir meist am geschriebenen Worte haften; und da Quellenanalyse im modernen Wortsinne noch gar nicht alt ist, so haben wir allen Grund

1) Proximi Bheno Istiaeones, mediterranei Hermiones Plinius IV 100 in einer sonst abweichenden Ordnung (o. S. 218).

2) Auch vom Lande selbst, z. B. 17 fiECoyaia xal 17 TtocQaxsccvuig Poseido- nios bei Strabo XVII 824.

3) Th. Birt, Die Germanen (München 1917) hat, offensichtlich ohne zu wissen, daß er daran in W. Scheel (Philol. LVII 1898, 589) einen Vorgänger hatte, griechische Überlieferung aus der Schreibung der Ingyaeones mit y bei Plinius IV 99 geschlossen. Dies Argument ist aber wohl nicht ganz sicher: Birt selbst (S. 18) weist auf die Sygambri hin (bei Caesar, Strabo u. a. mit u, bei Horaz und sonst oft mit y). Es handelt sich da um die Bezeichnung des Lautes zwischen u und i; so schreibt Augustus im mon. Anc. V 16 die von Caesar Harudes genannte Völkerschaft (auch Ptol. XccQovdeg) Charydes (woraus dann der griechische Übersetzer XäXvßag machte). Die Ansicht Scheels, die Endung -ones erweise eine griechische Vorlage, ist von einem Kenner des Germanischen, M. Schönfeld (Wörterb. d. altgerm. Personen- u. Völkernamen, Heidelb. 1911 S. XXV f.), zurückgewiesen worden.

Korden: Die germanische Urgeschichte 28

434 Schlußbetrachtung. Militärische u. kaufinänn. Berichte als Primärquellen

zur Ehrfurcht vor unserer Wissenschaft, der es gelang, auf dem Trümmerfelde der Überlieferung so viele Säulen mit bestimmten Namens- aufschriften aufzurichten. Diese Art der Forschung wird und muß ihren Fortgang nehmen, da jede neue Entdeckung eine weitere zeitigt. Aber gerade weil unsere Kenntnis des sichtbaren Ganges der Tradition der- artig wächst, dürfen wir uns nun auch an die Aufgabe heranwagen, das leise Sickern der für das Auge unsichtbaren Quellen mit verfeinertem Gehör zu erlauschen. Hier hat sich die Forschung verhältnismäßig noch sehr wenig betätigt, ja selbst die Methode steht hier noch in ihren ersten Anfängen1), und Fragestellungen vielfacher Art sind noch zu suchen. Begreiflich genug: ist doch der Reiz, der im Nachweise greifbarer Individualitäten mit oft stolzen Namen und künstlerischen Auswirkungen liegt, unvergleichlich stärker als das Aufspüren des gestaltlos Unpersönlichen, das sich näherem Betrachten entzieht und weder dem Gefühl noch dem Kunstsinne Nahrung bietet. Aber darauf allein darf es der Wissenschaft nicht ankommen, und so mag denn hier am Ende unseres Erkundungsweges der Versuch unternommen werden, mit Mitteln freilich, über deren Unzulänglichkeit ich mich keiner Täuschung hingebe, den Strom der Tradition, in den wir uns einzuschalten bestrebt gewesen sind, in seinem Entstehen zu beobachten.

Schon oben (S. 200f.) wurde gesagt, daß sich bei Strabo wiederholt die 6TQutsv6avT£s worunter er für die römische Zeit auch die Provinzialstatthalter begreift2) und die epitogoi als diejenigen ge- nannt finden, denen wichtige ethnographische Kunde verdankt wird; zweimal nennt er in solchem Zusammenhang auch Germanien.3) Bei

1) Musterhaft die Berliner Dissertation „Untersuchungen zu Xenophons Hellenika" (1919) von A. Banderet, einem jungen Schweizer Gelehrten, dessen hoffnungsreicbes Leben ein heroischer Tod während der Unruhen in der Haupt- stadt März 1919 jäh beendet hat.

2) JI 130 beruft er sich auf eine mündliche Mitteilung des Statthalters von Afrika (um Chr. Geh.) Cn. Piso.

3) Hier einige Stellennachweise, ohne die Absicht einer Vollständigkeit. STQccTSvöocvTsg: Erweiterung des geographischen Gesichtskreises durch die Feld- züge Alexanders und der Römer I 10 (Germanien). 14 II 117 f. III 153. 155. 160f. 169. 172. 175f. IV 191fi\ 199f. 203. 204ff. 206. VII 290ff. (Germanien). 294. 301f. 306f. 309. 315. 322. XI 502 (ol 6XQaxEv6avrsg finden in Albanien den Homerischen Kyklopenbios wieder, Quelle sicher @Eocpuvr}g 6 evörgatsvöag rät' nofiTiriiw xccl ysvoiievog iv rolg 'AXßccvolg: 503). 507 u. 523 (an diesen beiden

Unliterarisches Quellenmaterial 435

Plinius (VI 140 f.) stehen negotiatores nostri und arma Romana (diese allein auch VI 160. XII 55) als Quellen der Erkundung Arabiens neben- einander1), ein kaufmännischer Bericht und arma Romana für die Ger- maniens IV 96 f. (über diese SteUe s. o. S. 290), Britanniens IV 102; aber sein ganzes Werk legt Zeugnis für die Wichtigkeit solcher Be- richte ab2), die wir für Britannien ja in Tacitus' Agricola vollständig, für Arabien und Äthiopien in den Mitteilungen besonders des Strabo und Plinius über die Expeditionen des Aelius Gallus (25/4) und C. Pe- tronius (24/3) in ansehnlichen Resten besitzen. In der Tat müssen

Stellen treten die Parther hinzu, Zitat aus Dellius, dem Freunde des Antonius). 530. XV 685 f. (wichtige Stelle, auch von H. Bretzl, Botanische Forsch, d. Alexanderzugs, Leipz. 1903, 307 verwertet). XVI 766. 780. XVII 820. "EfntoQot und Reisende überhaupt: IV 202. VI 294. XI 528. XII 553. XVI 779. Umge- kehrt betont er die Wichtigkeit der Geographie für militärische und kauf- männische Zwecke IlOf., wo auch die Germanen erwähnt sind. Aus Diodor vgl. III 38, 2 f. IV 56, 8. V 21, 2 (Kriege); II 55. III 18, 3 (Kaufleute). Ein besonders schönes Beispiel findet sich in dem Herkulanensischen Stoikerver- zeichnis, wo es mit Bezug auf die Forschungsexpedition an der Nordwestküste Afrikas während des dritten Punischen Krieges heißt: 6tQarsv6äiisvog (Scipio) . . . avtbv (Panaitios) iv vavölv hmcc 7iQog qp^ofiaabjetv , . . (Text verstümmelt). Vgl. o. S. 32.

1) Abesse a litore (sc. Charax oppidum) CXXp. legati Arabum (diese auch XII 57 mea aetate legati ex Aräbia venerunt) nostrique negotiatores qui inde vettere adfirmant . . . In hac tarnen parte arma Montana sequi placet nobis Iu- bantque regem ad . . . Gaium Caesarem scriptis voluminibus de eadent expeditione Arabica. Letzteres bezieht sich auf das Gutachten des Iuba von Mauretanien über die vorbereitete Expedition des Prinzen in den Orient vom Jahre 1 v. Chr. Aber schon zwei Jahrzehnte vorher, im Jahre 24, hatte Aelius Gallus seinen Feldzug nach Arabien unternommen, der für die hier vorausgesetzten Bezie- hungen zwischen Praxis und Wissenschaft ein Musterbeispiel bietet: Strabo XVI 780 führt auf ihn ausdrücklich die Erweiterung der geographischen Kennt- nis dieses Landes zurück, desgl. Plinius VI 160, der wieder bemerkt: die arma Montana hätten Kunde von einer ganzen Anzahl neuer Städte gegeben, die er mit Namen aufzählt.

2) Wenige Stellen aus vielen: arma Montana V 8 f. (Afrika) 11 f. (Maure- tanien) 14 f. (Atlas) 36 ff. (Garamanten) 83 (Euphratquellen) VI 3 (Krim) 23 ff. (Armenien) 51 f. (Skythien) 120 (Mesopotamien) 181 (Äthiopien). An mehreren dieser Stellen wird die alte Kenntnis (cetera) der neu gewonnenen Kunde fast immer mit Angabe der Feldherren genau so gegenübergestellt wie von Tacitus Agr. 10. Mercatores V 34 (Kyrenaika) VI 15 (Kaukasien). 88 f. (Ceylon). 101 ff. (Indien). 140f. (Euphrat- u. Tigrisdelta). 116. 149.167 (Arabien. 173 (Arabischer Meerbusen).

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436 Schlußbetrachtung. Militärische u. kaufmänn. Berichte als Priraärquellen

auch in römischer Zeit militärische Berichte und Erzählungen von Kaufleuten, abgesehen von den ganz seltenen Fällen, -\vo es sich um Forschungsreisen oder um Gesandtschaftsberichte1) handelt, als die Primärquellen ethnographischen Wissens betrachtet werden, wie sie es immer gewesen sind, in althellenischer und hellenistischer Zeit, im Mittelalter durch die Grönlandfährten der Normannen und die Asien- reise des Marco Polo2), dann durch die Conquistadores der Neuen Welt. Es verlohnt sich vielleicht, diese Verhältnisse für die römische Zeit einer raschen Überschau zu unterziehen, aber nur insoweit das Quellen- mäßige dabei in Frage kommt, weil eine solche Betrachtung uns das richtige Augenmaß für die Beurteilung der unliterarischen oder halb- literarischen Vorlagen der Taciteischen Germania verschaffen kann.

Briefe aus dem Felde finden sich gelegentlich erwähnt3): in den Ciceronischen von seiner kilikischen Expedition des Jahres 51 an Atticus (V 20) und Cato (fam. XV 4) sind uns Exemplare erhalten, aus denen wir den Zuwachs geographischen Wissens, der aus solchen Nachrichten erwuchs, ermessen können. Daneben gab es Lagertagebücher von Feldzugsteilnehmern; auf die Wichtigkeit dieses Primärmaterials, das dann vielfach in die große Geschichtschreibung überging4), ist oben wiederholt hingewiesen worden. In der 'IßrjQLxrj des Appianus ist die letzte Epoche des Numantinischen Krieges mit einer Lebendigkeit und

1) Mon. Anc. 5, 16 Cimbri et Charycles et Semnones et eiusdem tractus dlii Germanorum populi per legatos amicitiam meam et populi Eomani peiierunt. SO ad me ex India regum legationes saepe missae sunt (dazu Mommsen8 S. 132 f.). Vgl. Plinius VI 84 ff. (Gesandtschaft aus Ceylon zur Zeit des Claudius). 145 (arabische Gesandte zur Zeit des Plinius, vgl. XII 57), sowie eine merkwürdige Nachricht XXXV 25 über einen Gesandten der Teutonen. Tac. ann. II 45 Gesandtschaftendes Marbod, Cassius Dio LXXI 20 der Marcomanen und Quaden. Aus späterer Zeit allerlei Ethnographisches in den exe. de legationibus.

2) Als besondere Erkenntnisquelle kam dann aber hinzu die religiöse Propa- ganda durch Islam und Christentum.

3) Ich kenne freilich außer den im Text erwähnten nur noch wenige Bei- spiele, die sich aber wohl vermehren lassen werden: Livius XXII 30, 7 (zum Jahre 217); Sallust lug. 65,4. 73,3 (zum Jahre 109/8: daraus Plutarch Mar. 7); Cicero de imp. Cn. Pomp. 39.

4) Selbständig erhalten haben sich nur die Aufzeichnungen eines Teilnehmers an Caesars spanischem Feldzuge. Hätten wir für diesen Abschnitt Livius, so würden wir vermutlich beobachten können, wie ein derartiger Bericht dann in die literarische Historiographie hinübergeleitet worden ist.

Uiiliter arisches Quellenmaterial 437

Anschaulichkeit beschrieben, der sich nicht viel Ebenbürtiges aus an- tiker Historiographie an die Seite stellen läßt: überall merkt man hier die Hand eines an den Ereignissen selbst Beteiligten, der seine Auf- zeichnungen späterhin schriftstellerisch ausgearbeitet hatte; kein Zwei- fel, daß es Rutilius Rufus war, dessen Name inmitten der Erzählung; als Feldzugsteilnehmer genannt ist1): der Reichtum des topographischen und ethnographischen Materials ist bemerkenswert. Auch die zuver- lässigsten Feldzugsberichte in den Taciteischen Anualen und Historien stammen letzthin aus solchen Aufzeichnungen, und etwa an der Er- zählung der Germanicusfeldzüge in den Annalen erkennt man gerade für Germanisches, welche Fülle landeskundlichen Wissens aus solchen Quellen zu schöpfen war. Daß noch gegen Ende der römischen Historio- graphie das Werk des Ammianus unsere Kenntnis für Germanisches so bereichert, wird wesentlich der Tatsache verdankt, daß die schrift- lichen Quellen, die er bis zum Tode des Iulianus benutzte, auf derartigem „stratiotischen" Material, wenn der Ausdruck erlaubt ist2), fußten. Zu schriftlichen Berichten dieser Art aus erster Hand traten gleich- artige mündliche. Offiziere, die aus dem Felde heimkehrten, erzählten ihren Verwandten und Freunden von dem, was sie da draußen gesehen hatten: „Ich werde dich gesund wiedersehen und dich erzählen hören von den Orten, Völkerschaften und Taten der Iberer, wie es deine Gepflogenheit ist", so schreibt Catullus in einem der Gedichtchen an Veranius (9): also wird er die in zwei anderen Gedichten (37. 39) be- richteten Mirabilia Keltiberiens aus den Erzählungen dieses Busen- freundes erfahren haben, der wohl Mitglied einer cohors praetoria war. Einen Offizier, der von seinen Feldzügen in Aquitanien erzählt und mit einer Menge bisher ungehörter Namen prunkt, haben wir in Ti- bullus (I 7) vor uns. Tacitus hat im Agricola Erzählungen seines Schwiegervaters über Britanniens Land und Leute verwertet. Als Liba- nios nach dem Jahre 363 seine Gedächtnisrede auf Iulianus vorbereitete,

1) Appian. Iber. 88 o 3h (Zxwiav) 'PovriXiov 'Povcpov, 6vyygoccpicc rcbvSs xeäv t'eywj', töxs (im Jahre 134/3) %iUct(>%ovvxcc, ixiXsvGs usw. Die Erzählung des Rufus, die sich bei Appianus weithin verfolgen läßt, ist zu diesem durch Zwischenglieder gelangt, deren Ermittlung nicht dieses Ortes ist.

2) Vgl. Lukian de hist. conscr. 16 aXlog di xig ccvxcbv vTtö^vr^ia xCov yt- yovoxav yv^ivbv cwayaywv iv ygcccpy xo(ilöi~j Tts^bv xccl %a;j auxexsg, olov xal 6TQCCTimxr}g ccv xig rd xa^' i)[isq<xv ccTtoyQcccpöiisvog 6vve&tixsv.

438 Schlußbetrachtang. Militärische u. kaufmänn. Berichte als Primärquellen

ließ er sich von Soldaten, die an dem Perserkriege teilgenommen hatten, genaue Angaben über Tagesdaten, Wegemaße und Orts- benennungen machen.1) Neben solche private Kunde trat die für die Öffentlichkeit bestimmte. Caesars Kommentarien vom Gallischen Kriege sind das leuchtendste Beispiel, an dem wir noch mit Händen greifen, wie diese Kunde von Timagenes und Strabo in die geographische Wissenschaft hinübergeleitet wird (o. S. 370 f.). Aber schon vor Caesar sehen wir Cato, nicht ohne Kenntnis der ethnographischen Literatur der Griechen, die auf seinem spanischen Feldzuge vom Jahre 195 ge- machten Erfahrungen in den Origines verwerten. Eine Fülle ethno- graphischen Stoffes hat Plinius in der Naturgeschichte solchen Kriegs- berichten entnommen: Domitius Corbulo über Armenien, Suetonius Paulinus über Mauretanien, Cornelius Bocchus über Spanien. Hier kennen wir einmal, dank der Gewissenhaftigkeit des Plinius, die Namen.2) Diese Mitteilungen waren für ein interessiertes Lesepublikum bestimmt. Neben ihnen standen die militärischen Berichte der Feldherren an den Senat, die das wichtigste topographische Material in sich befaßten. Noch bevor Caesars Memoiren erschienen, waren die Senatoren in der Lage, seine epistulae ad senatum zu lesen, wie sie Suetonius nennt (div. Iul. 56, 6): die eindrucksvollen Worte Ciceros (de prov. cons. 33) über die geographische und ethnographische Erschließung Galliens und Germaniens, die wir oben (S. 93, 1) lasen, sind auf Grund von Be- richten des Imperators geschrieben, und Cicero selbst hat solche Bul- letins über seinen kilikischen Feldzug vom Jahre 51 nach Rom ge- sandt, von deren an geographischen Namen reichen Art wir uns aus seinen soeben erwähnten privaten Briefen an Atticus und Cato eine deutliche Vorstellung machen können.3) Aus Taciteischer Zeit sei an

1) Die merkwürdigen Worte, auf die ich durch einen Hinweis von 0. Seeck, Hermes XLI (1906) 483, 2, aufmerksam geworden bin, stehen im Brief Nr. 1186: ergattazai di rivsg ov tiqÖtsqov (is sLdörsg idoßav rjfieQ&v ri rivav ccgiO-fibv Kai oöov (xirpa v.a.1 TiQ06T\yoQiag totkov. Ganz ähnlich Nr. 1218: hier bittet er einen Teilnehmer an dem Perserkriege, ihm die Tagebuchnotizen zu schicken, die er sich gemacht habe über %caQlav yvaeig *a\ piroa itölsav v.a.1 vipog cpQOvgicov Kai Ttotociiwv 7tXäzog Kai o6a dgäoal rs Kai Tta&eZv avvsßrj, damit er, Libanios, sie stilisieren und für seine Zwecke verwerten könne.

2) Die von Plinius benutzten Trebius Niger (im Stabe des Prokonsuls von ßaetica L. Lucullus 151/50), Statius Sebosus (Ciceros Bekannter) und Turranius Gracilis gest. um 48 n.Chr.?) gehören auch in diese Reise. 3) Vgl. auch Anhang Vi.

Unliterarisches Quellenmaterial 439

Traians Daeica erinnert, einen Feldzugsbericht an den Senat wie der Caesarische und wie dieser wegen des Namens seines Verfassers auch in Buchform veröffentlicht (wir besitzen ein charakteristisches Frag- ment daraus: s. o. S. 90,2). Solche Publikation amtlicher Schriftstücke war natürlich eine Ausnahme. Die meisten blieben im Archiv, waren aber hier der Benutzung von Interessenten zugänglich: sehr bemerkens- wert ist eine Stelle des Plinius (VI 40), der in der Lage war, einen geographischen Irrtum von Teilnehmern an Corbulos armenischen Feld- zügen aus amtlichem kartographischen Material (situs depicti et inde missi) zu berichtigen.1) Solches werden wir uns auch als eine Grund- lage des Marinos-Ptolemaios zu denken haben; der erstaunliche Reich- tum ihres Werkes gerade auch für Germanien ist zum nicht geringen Teile militärischen Ursprungs (s. 0. S. 286).

Dem Krieger trat der Kaufmann zur Seite2), die Segnungen der Kultur waren damals wie jederzeit von dem Erwerbsleben unzertrenn- lich. Daß man freilich den Erzählungen von Handelsleuten nicht blindlings glauben dürfe, sondern sie einer wissenschaftlichen Kritik unterziehen müsse, hat schon Polybios betont.3) Nur hat er sich von dieser gewiß berechtigten Skepsis verführen lassen, selbst einem Pytheas zu mißtrauen, der uns als ein wissenschaftlicher Pilot ersten Ranges erscheint: sein Name ist uns öfters begegnet, noch zu Plinius ist, freilich durch Mittelquellen, die Kunde seiner Entdeckungen gerade auch für Germanisches gelangt. Irland, noch in Augusteischer Zeit eine terra incognita, ist, wie ich glaube zeigen zu können, durch Kaufleute in der Zeit des Claudius oder Nero erstmalig erschlossen worden.4) Noch der Geograph Ptolemaios (I 17, 5 [6]) beruft sich auf Kaufleute: nccQa rav ifiTCÖgcov fiav&ävofiev] der Genauigkeit seines

1) Über die portae Caspiae; vgl. A. Heeren, De chorographia a Valerio Flacco adhibita (Dias. Götting. 1899) 33. 44.

2) Plinius XXVI 19 Romani duces primam semper in bellis commerciorum habuere curam.

3) In dem Exkurse über den Pontos stellt er die iiLTC0Qiy.cc 8ir\yi\Liara in Gegensatz zu der xuru cpvdv d-sagia (IV 39, 11), gesteht ihnen aber weiter- nin (42, 7) neben vieler iptvSoXoyiu Kai zsoavEiix doch i'%vi\ rf\? a\r\d-ticc$ zu. Ähnlich äußert sich noch .Marinos bei Ptolemaios I 11, 7. Übrigens stand eine ergötzliche Parodie solcher kaufmännischer Berichte schon bei dem Ko- miker Philemon: Plaut. Trin. 931 ff.

4) Den Nachweis muß ich für eine andere Gelegenheit zurückstellen.

440 Schlußbetrachtung. Militärische u. kaufmänn Berichte ale Primärquellen.

Gewährsmannes Marinos verdanken wir so interessante, et»vaausTraia- nischer Zeit stammende kaufmännische Kunde über Handelsstraßen in das Innere Afrikas und an die Westgrenze Chinas, daß hier in einer Anmerkung etwas näher darauf eingegangen werden möge.1)

1) Die erste Stelle betrifft zwei Expeditionen in das Innere Afrikas, von denen eine bis in den Sudan führte. Ptol. 18, 4: „Marinos sagt, daß auf der Reiseroute von FaQcc(irj (in Fessan, der südlichsten Provinz von Tripolis) zu den Äthiopen Septimius Flaccus, der aus Libyen einen Feldzug unternahm, in das Land der Äthiopen gelangte, indem er von den Garamanten in drei Monaten gen Süden marschierte. Ferner sei Iulius Maternus aus Groß-Leptis (in Ost-Tripolis), der den König der Garamanten auf seinem Feldzuge gegen die Äthiopen begleitete, auf einem durchweg südlich gerichteten Marsche von vier Monaten in das Äthiopenland 'Ayiöv^ßa (Gegend am Tsadsee) gelangt, wo die Rhinozerosse ihren Sammlungsort haben." Die beiden hier genannten Persönlichkeiten sind unbekannt: der erste war ein Militär, der zweite wohl eher ein Kaufmann. Auch die Zeit der beiden Expeditionen ist unbekannt; die Lebenszeit des Marinos (unter Traianus und Hadrianus) bildet die untere Zeitgrenze: die Wende des I. und II. Jahrh. hat alle Wahrscheinlichkeit (vgl. auch H. Dessau, R. E. VII 751). Die zweite Stelle betrifft die Erforschung eines Karawanenweges in das Innere Chinas: Ptol. I 11, 5 f. „Die Route von Ai&tvog TLvQyog bis HrJQa ist durch ein Handelsunternehmen bekannt geworden. Marinos sagt nämlich, ein gewisser Maes mit dem Beinamen Titianus, ein Makedone aus kaufmännischer Familie, habe die Wegevermessung aufgezeichnet, ohne selbst dahin gelangt zu sein, vielmehr auf Grund von Angaben seiner Sendboten zu den Serern". Dieser Mär\g ö xai Tvxiavög ist sonst unbekannt; der inschriftlich oft belegte Name Mär]g weist auf orientalische Herkunft („Wo wir das Vaterland der so benannten Personen bestimmen können, ist es meist das Gebiet um das Schwarze Meer": W. Drexler in Roschers Lex. d. Myth. II 2225. Art. 'Ma'), die Familie hatte dann in Makedonien eine Heimat gefunden. Dieser Maes scheint nach einer ansprechenden Vermutung von A. Herrmann, Die Seidenstraßen vom alten China nach dem röm. Reich (Mitt. d. Geogr. Ges. in Wien LVIII 1915, 481) sein Handelshaus in Tyrus, dem wichtigsten Um- schlagshafen für die aus dem fernen Osten importierte Seide, gehabt zu haben. Die Lektüre des- Herrmannscken Aufsatzes sei auch Philologen empfohlen. Es ist interessant, daraus zu erfahren, daß die Grundlage des erwähnten Berichtes ein chinesisches Reisehandbuch durch die Westländer gewesen ist, das uns in den Annalen der älteren Han-Dynastie (206 v.Chr. 24 n. Chr.) noch erhalten ist: dieses Handbuch haben die Agenten jenes Maes für ihre diesem gemachten Angaben be- nutzt. Der bei Marinos-Ptolemaios genannte „Steinerne Turm" bezeichnete den westlichsten Grenzpunkt des alten chinesischen Reiches im westlichen Winkel des Alai-Tales in Pamir. Hier endete der westliche Teil der Handelsstraße. Der östliche zog sich von da nach Sera, das von Marinos kurz vorher als priTQOTioXig züv 2i]qo)v bezeichnet wird ; nach Herrmann ist es mit Liang-tschou zu identifizieren.

Unliterarisches Quellenniaterial 441

Die Handelsbeziehungen erstreckten sich über das ganze Im- perium.1)

Ohne die Annahme solcher Primärberichte ist bei der Quellenana- lyse der Taciteischen Germania gar nicht auszukommen: eine je ge- nauere Vorstellung man sich von der militärischen und kaufmännischen Entdeckungsgeschichte macht, die hier nur in flüchtigen Umrissen hat skizziert werden können, einen um so festeren Boden schafft man sich. Gerade in der Zeit von Nero bis Traianus, in die größtenteils die Lebenszeit des Tacitus fiel, hat sich der Gesichtskreis nach Westen und Osten außerordentlich erweitert, und das Interesse für die neugewonnenen Erkenntnisse der Länder- und Völkerkunde war nachweislich sehr rege: Schriften des Seneca und des Plinius, die uns wiederholt begegnet sind, legen davon Zeugnis ab. Offenbar muß die Taciteische Germania quellen- mäßig in diesen Rahmen hineingestellt werden. Nuper cognüis quibus- dam gentibus ac regibus quos bellum aperuit: diese Worte2) stehen gleich im ersten Kapitel der Schrift, sie können sich dem Zusammenhange nach nur auf Völkerschaften am septentrionalis oceanus, der Nordsee, beziehen, die durch die Expeditionen weniger des Germanicus als des Tiberius (im Jahre 5) bekannt geworden waren.3) Auf Handels-

1) Vgl. die nützliche, von Cichorius angeregte Dissertation des Rumänen Vasile Pärvan, Die Nationalität der Kanfleute im röm. Kaiserreiche, Bresl. 1909. Ich benutze die Gelegenheit, auf die von H. Zimmer in den Sitzungsber. d. Berl. Ak. 1909. 1910 niedergelegten, erstaunlich reichhaltigen und weittragenden Forschungen „Über direkte Handelsverbindungen Westgalliens mit Irland im Altertum und frühen Mittelalter" hinzuweisen. Zimmer besaß neben großer Gelehrsamkeit einen ausgesprochen praktischen Sinn, der ihn gerade auch kaufmännische Verhältnisse sicher zu beurteilen befähigte. Über Kaufleute als Vermittler der Landeskunde ist daher aus seinen Darlegungen auch viel prinzipiell Wichtiges zu lernen.

2) Zum Ausdruck vgl. Agr. 22 tertius expeditionum annus novas gentes aperuit, Plinius IV 97 insulae (germanische) Momanis armis cognitae und be- sonders charakteristisch V 51 quae (die deserta, in denen der Nil entspringt) fama tuntum, incrmi quaesitu cognita sunt sine bcllis quae ceteras omnis terras invenere.

3) Die Beziehung voraus gehen die Worte cetera oceanus ambit, latos sinus et insularum immensa spatia complectens, nuper usw. ist von Müllen- hoff II 286 Anm. erkannt worden (die von ihm angeführte Stelle des Velleius II 106 ist entscheidend). Für die relative Zeitbestimmung des nuper wird u. a. verglichen c. 2 Germaniae vocabulum recens et nuper auditum (in Caesarißcher Zeit!); vgl. darüber auch o. S. 273 f.

442 Schlußbetrachtung. Militärische u. kaufmänn. Berichte als Primärquellen

beziehungen zu Germanien wird in der Taciteischen Schrift wiederholt hingewiesen.1) Die meisten Quellennachrichten dieser Art lagen dem Tacitus schon in älteren literarischen Schriften vor: wir verstehen von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet die Bedeutung, die die Plini- anischen Bella als Fundgrube solchen Wissens für ihn besaßen. Aber für den germanischen Osten und Nordosten, dessen ethnographische Beschreibung den letzten Teil der Schrift (von c. 43 an) umfaßt, ver- sagte diese Überlieferungsquelle, da Rom mit den dort genannten Stämmen in vortaciteischer Zeit nie in politische oder militärische Be- ziehungen getreten war. Hier müssen Erkundungen vorliegen, die auf dem Wege des Handels gewonnen worden waren. Die Fülle des in jenen Kapiteln ausgebreiteten Wissens ist sehr beträchtlich und vor allem: es war, wie wir wohl werden annehmen dürfen, beim Erscheinen der Schrift größtenteils neu, wenigstens in literarischem Sinne. So stark in dem ersten, den Westen Germaniens behandelnden Teile die Anlehnung an Vorgänger, besonders Plinius, war, so geringfügig war sie im zweiten Teile, in dem zum ersten Male unliterarisches Material in den Bereich der Literatur trat. Unsere Kenntnis reicht nicht ganz dazu aus, uns von der Art, wie Tacitus es sich verschaffte, eine ge- naue Vorstellung zu machen. Mündliche oder briefliche Erkundigung bei Augenzeugen erscheint keineswegs ausgeschlossen, wenn wir an die Sorgsamkeit denken, mit der er sich wegen Britanniens an Agricola, wegen der Todesart des älteren Plinius an dessen Neffen wandte. Aber wir werden unbedenklich annehmen dürfen, daß Kunde dieser Art. auch wenn sie nicht auf diesem Wege erworben wurde, für Wißbegierige zugänglich war. Das uns zufällig erhaltene, der Zeit zwischen Seneca und Tacitus angehörige Handelsbuch eines ägyptischen Kaufmanns über Faktoreien am Arabischen Meerbusen und Indischen Ozean2) kann

1) c. 5. 17. 23. 24. 41. 45: vgl. A. Lückenbach, De Germaniae Taciteae fontibus (Diss. Marburg 1891), der mir S. 53 richtig zu urteilen acheint: 'cum alia tum ea quae de populis Suebicis a Tac. c. 38 45 traduntur, maxima ex parte ex hoc fönte emanasse commercioque Romanis Tacitoque pernotuisse recte iudicaveris'. Übrigens beruft sich schon Caesar I 39, 1. IV 3, 3 für Ger- manisches auf mercatores.

2) A. Herrmann, der ausgezeichnete Kenner der antiken Geographie des fernen Ostens, setzt die Schrift um das Jahr 90, jedenfalls nach 87 (Ztschr. d. Ges. f. Erdkunde z. Berlin 1913, 553, 3). Mommsen bewertete die Schrift des Ägypters so hoch, daß er schrieb (R. G. V 613, 1) „Wenn Strabon und

Handelsbücher. Reiseerzählungen 443

ja nur eines von vielen seiner Art gewesen sein: der die Oikumene von Britannien bis China, von der Weichselmündung bis zu den Nilquellen umfassende Handel der frühen Kaiserzeit mußte eine Fülle solcher Auf- zeichnungen zur Folge haben. Jenes Handelsbuch des Ägypters der Flavischen Zeit wird Vorgänger in der Ptolemäerzeit gehabt haben: es empfiehlt sich ja stets, Verwaltungsmaßnahmen der Kaiserherrschaft aus dieser Wurzel sich entstanden zu denken. Die Ptolemäer haben dem Handelsverkehr in kluger Berechnung ihre Aufmerksamkeit zu- gewandt, und die Wissenschaft hat ihren Nutzen daraus zu ziehen ver- standen. In der eisagogischen' Schrift des Geminos, deren gelehrter Apparat ganz auf Poseidonios beruht, wird berichtet (c. 16, 32), Po- lybios habe sich in einer Schrift mit dem Titel „Über die Bewohnbar- keit der Gegend unter dem Äquator"1) auf „Erzählungen von Reisenden berufen, welche diese Wohnsitze aus eigner Anschauung kennen ge- lernt haben und die Himmelserscheinungen durch ihre Aussagen be- stätigen". Woher Polybios diese Kunde hatte, ergibt sich aus einer Bemerkung derselben Schrift kurz vorher (16, 24): die Gegenden zwischen den Wendekreisen seien bereits in Augenschein genommen, die über sie angestellten Forschungen niedergeschrieben und auf Ver- anlassung der „Könige in Alexandreia" geprüft worden. Später unter- nahm Eudoxos von Kyzikos, ebenfalls im Auftrage zweier Ptolemäer seine beiden Reisen nach Indien (vor 116 und 111/10); was wir darüber wissen, verdanken wir ebenfalls dem Poseidonios (Näheres o. S. 32). Nach dem festen Zeremoniell am Ptolemäerhofe werden wir es uns so zu denken haben, daß die Leiter der Unternehmungen nach ihrer Rückkehr Audienzen erhielten, über die Protokoll geführt wurde; dessen Inhalt bildete dann einen Bestandteil des Hoftagebuchs, der Ephe- meriden.2) Diese geschäftliche Behandlung wurde am Hofe der Caesaren im wesentlichen beibehalten. Seneca berichtet an einer merkwürdigen

Tacitus für diese Dinge so offene Augen gehabt hätten wie jener praktische Mann, so wüßten wir etwas mehr vom Altertum." Übrigens ist die Schrift jetzt in der Ausgabe von B. Fabricius (Leipz. 1883), die auch einen reich- baltigen Kommentar bietet, bequem zu benutzen.

1) BißXiov o imyQcccprjv %%si Iltijl tfjg vnb xbv l6r\aüQivbv oixi]6S(Dg. Diese Ausdrucksweise scheint mir keineswegs auf einen Teil des XXXIV. Buches der 'IgtoqLcci zu passen, sondern nur auf eine Spezialschrift.

2) Vgl. über das Zeremoniell W. Schubart, Einfuhr, in d. Fapyruskunde (Berl. 1918) 257.

444 Schlußbetrachtung. Militärische u. kaufmänn. Berichte als Primärquelien

Stelle seines naturwissenschaftlichen Werkes (VI 8, 3 f.), Nero habe eine Expedition nach Äthiopien veranstaltet. Das wissenschaftliche Interesse an dem Nilquellenproblem, das Seneca als einzigen Grund der Expedition angibt, wird nur ein nebensächliches gewesen sein: militärische und handelspolitische Gründe müssen im Vordergrunde ge- standen haben1), aber Seneca, in dem sich Erkenntnisdrang auch für Geographisches (s. o. S. 39, 1) mit Bereicherungssucht verband, wird die Gelegenheit, den Führern der Expedition einen Fragezettel mit- zugeben, nicht ungenutzt gelassen haben.2) Bei dem Vortrage, den Nero sich erstatten ließ, war sein Minister zugegen, und er führt nun einige Sätze aus dem Berichte der Reisenden in direkter Rede als Ohren- zeuge an: in ihrer schlichten Ausdrucks weise mit inde pervenimus vidimus erinnern sie uns an die Anfänge der ethnographischen Literatur.3) Das gleiche Verfahren werden wir bei analogen Anlässen für spätere Kaiser voraussetzen dürfen, die wie etwa Vespasianus oder Traianus ihr Amt so sorgsam verwalteten, daß sie sich auch über das Kleinste, was in den weiten Grenzen des Reiches geschah, schriftlich oder mündlich Bericht Erstatten ließen. Das den Handel betreffende Material in Archiven niederzulegen empfahl sich schon im Interesse der Reichs- statistik, die den praktischen Zwecken des Steuer- und Zollwesens so- wie der Aushebung diente. Material dieser Art ist von Plinius in den geographischen Büchern IV VI literarisch verwertet worden. So hat er aus jenem Nero erstatteten Berichte über die äthiopische Expe- dition, der also der wissenschaftlichen Benutzung zugänglich gemacht worden war, einige Mitteilungen bewahrt, durch welche die Angaben Senecas4) ergänzt werden: Entfernungsangaben von Syene bis Meroe,

1) H. Diels, Seneca u. Lucan (Abh. d. Berl. Ak. 1886) 30 f. unter Hinweis auf Plinius VI 181. XII 19.

2) Bemerkenswert Quintilianus X 1, 128 über Seneca: multa reram cognitio, in qua tarnen aliquando ab Ms quibus inquirenda quaedam mandabatdectptus est.

3) Ego centuriones duos quos Nero Caesar, ut aliarum virtutum ita veri- tatis in primis amantisnmus , ad investigandum caput NM miserat audivi narrantes longum Mos iter peregisse, cum a rege Aethiopiae instructi auxiho commendatique proximis regibus penetrassent ad ulteriora. qui 'inde' (so wohl zu schreiben; quidem die Hss. ; vgl. ivrsvQsv o. S. 23) aiebant 'pervenimus ad immensas paludes' usw. ; es folgt weiterhin vidimus.

4) Ich halte es für sehr wahrscheinlich, daß auch Seneca aus dem ver- öffentlichten Berichte zitiert; seine Angabe audivi narrantes braucht deshalb

Berichte über kaufmännische Expeditionen 445

Zoologisches, Botanisches, auch einiges über Handelsobjekte (Elfen- bein, Ebenholz) sowie über politische und sakrale Einrichtungen.1) Versuchen wir nun, diese Linie, die, wie man sieht, sich mit einiger Deutlichkeit erkennen läßt, auf germanisches Gebiet zu führen. Die Forschung über den Handelsverkehr mit Ost- und Nordgermanien diese Gegenden kommen, wie bemerkt, für unsere Frage vorzugsweise in Betracht steht erst in ihren Anfängen, aber die rege Tätigkeit der Archäologen und Numismatiker hat doch schon gesicherte Ergeb- nisse erzielt; es ist ja auch klar, daß solche nur von der Boden- forschung zu erwarten sind. Ihre Ergebnisse sind meist in Fachzeit- schriften verstreut und schwer zugänglich; ich habe mich jedoch be- müht, mich mit ihr bekannt zu machen und neben vielem Dilettan- tischen, das auf einem derartigen Arbeitsgebiete unvermeidlich ist, manche bedeutende Leistungen kennen gelernt, die meinen literarisch gerichteten Untersuchungen zugute gekommen sind. Es ist in diesen Schlußbemerkungen nicht der Ort, auf Einzelheiten einzugehen. Ich glaube aber aussprechen zu dürfen, daß durch diejenigen Ergebnisse, die als beglaubigt gelten können, meine Erwägungen bestätigt werden, wonach die vier letzten Kapitel der Taciteischen Germania Angaben enthalten, die nur durch kaufmännische Vermittlung zu erklären sind, und zwar durch eine solche, die der Zeit des Schriftstellers ganz nahe lag. Denn der Handel mit jenen Gegenden setzte nach Ausweis der Fundstücke erst mit der Neronischen Zeit ein. Hier befinden sich die Ergebnisse der Bodenforschung in erwünschter Übereinstimmung mit einem sehr bekannten, einzigartigen literarischen Zeugnisse. Plinius XXXVII 45 berichtet von der Reise eines römischen Kaufmanns von Carnuntum zu den Faktoreien an der Weichselmündung zum Zweck der Bernsteingewinnung.8) Über den Lauf dieses Handelsweges

keine Fiktion zu sein, aber es dürfte fraglich sein, ob sich Nero den ganzen Bericht habe vorlesen lassen und sich nicht vielmehr mit der Entgegennahme der Denkschrift begnügte.

1) IV 181 solitudines nuper renuntiavere principi Neroni missi ab eo milites praetoriani cum tribuno ad explorandum, inter reliqua bella et Aethiopicum co- gitunti. Die Exzerpte aus dem Bericht folgen 184—86, mit einer Ergänzung XII 19.

2) Die Worte lauten: DC m.p.fere a Carnunto Pannoniae abesse litus id Germaniae ex quo invehitur (sc. sucinum) percognitum est nuper. vidtt eques B. ad id comparandum missus ab Iuliano curante gladiatorium munus Ncronts principis; quin et commercia ea et litora peragravit.

446 Schlußbetrachtung. Militärische u. kaufmänn. Berichte als Primärquellen

Plinius gibt nur Anfangs- und Endpunkt an ist früher viel Phan- tastisches geschrieben worden ; jetzt darf wohl als erwiesen gelten, was ich mit den Worten C. Predrichs anführen möchte, der in einer be- sonders ergebnisreichen numismatischen Abhandlung1) auch die Präge der Siedelungen und der durch diese bedingten Handelswege berührt hat (S. 235): „Von Carnuntum erreichte dieser Hauptweg an der March2) entlang die Mährische Pforte, zog durch Oberschlesien in den Südzipfel der Provinz Posen, gewann an der Prosna entlang Calisia3;, weiter gen NO den Goplosee, die Weichsel und deren Mündung." Die von Plinius angegebene Distanz (600 m. p. = 888 km) weicht von der Länge des genannten Weges nicht beträchtlich ab.4) Der Handel, der etwa in Neronischer Zeit begann0), erreichte um 150 seinen Höhe- punkt, um dann wieder langsam zurückzugehen; die Zusammenhänge dieses Aufsteigens und Niedergangs mit den germanischen Völker- schiebungen sind von Fredrich sehr schön entwickelt. Die Handels-

1) Funde antiker Münzen in der Prov. Posen, Ztschr. d. Hist. Ges. für d. Prov. Posen XXIV (1909) 193 ff.

2) Antiker Name wahrscheinlich Marus, nur erwähnt von Plinius IV 81 und Tac. ann. II 63. Die Taciteischen Kap. II 44 46 -f 62 63 stammen aus den Plinianischeu Bella. Dort stehen c. 62 folgende für den vorliegenden Zusammen- hang wichtige Worte: veteres illic (näml. in einem castellum, das bei der Königsburg des Marbod lag) Sueborum praedae et nostris e provinciis lixae ac negotiatores reperti, quos ius commercii ... hostilem in agrum trans- tulerat: also ein kaufmännischer Verband (conventus civium Rom. qui nego- tiantur: E. Kornemann, R. E. IV 1199) in Böhmen aus dem J. 18. Auch in dem Plinianischeu Kapitel der Taciteischen Historien IV 15 sind lixae ac negotia- tores in Germanien erwähnt.

3) KccXieia Ptol. II 11, 13. Die Identität mit Kaiisch hat J. Partsch, Schlesien I (Bresl. 1896) 332 ff. gesichert.

4) Partsch a. a. 0. 333 f. Dort auch eine Kartenskizze für den mittleren Teil des Weges.

5) Eine merkwürdige Stelle aus Senecas Medea mag hier Platz finden:

Medea gebraucht für ihren Zaubertrank die magischen Mittel der ganzen Welt,

darunter , . . . , 7 ,

quos suo axe frigido sucos legunt

lucis Suebae nobiles Hyrcaniis

(712 f.). Er umschreibt offenbar sucinum, ein Wort, das für uns zuerst bei

Plinius XXXVII 30 ff. begegnet, das aber älter war (43 arboris sucum esse etiam

prisci nostri credidere, ob id sucinum appellantea). Die Nennung der Herkynien

bildet keinen Hinderungsgrund für diese Annahme: Timaios (beiDiodor V21,l)

läßt sie sich bis zur Nordsee erstrecken.

Der Handelsweg vom Adriatischen zum Baltischen Meere 447

expedition jenes Kaufmanns blieb also nicht vereinzelt, und es wird anzunehmen sein, daß die Aufzeichnungen dieser germanischen Reisen ebenso zur Kenntnis gelangen konnten wie diejenigen der erwähnten äthiopischen, aus der uns Seneca und Plinius Auszüge überliefert haben: gibt doch derselbe Plinius, wie bemerkt, die Gesamtlänge des germanischen Weges von Carnuntum bis zur Weichselmündung an, der sich in dem kaufmännischen Reisetagebuch selbst doch wohl aus Teilrouten zusammensetzte. Überhaupt wird man sich Carnuntum als den Mittelpunkt für die Erkundung des östlichen Germaniens zu denken haben: hier lief die Grenze zwischen Pannonien und Germanien (Plinius IV 80 Pannonica hiberna Garnunti Germanorumque ibi confinia), hier war die Zollstation, auf der die aus dem Norden kommenden Waren umgeladen wurden, um dann über Poetovio (Pettau), Celeia (Cilli) und Emona (Laibach) nach Aquileia zu gehen1), so daß das Adriatische Meer mit der Ostsee verbunden war. Das in Carnuntum gelegene Oberkommando war auf Befragen jederzeit in der Lage, über die sich von hier mit dem Norden ermöglichenden kaufmännischen Konjunkturen an den Kaiser zu berichten.

Nun braucht man nur zu erwägen, daß die von Tacitus in der Richtung S N genannten Völkerschaften der Marsigni, Cotini, Osi, Buri, Lugii, Gotones teils genaue, teils ungefähre Anwohner jener Handels- straße waren an der Weichselmündung selbst saßen damals die zuletzt genannten Goten , um meiner Ansicht, daß diese Nachrichten merkantilen Ursprungs waren, beizupflichten. Eine lehrreiche Analogie läßt sich aus Herodot beibringen2): IV 17 zählt er die Skythenstämme in gleicher Richtung, dem Laufe des Hypanis (Bug) folgend, auf; die Nachrichten verdankte er Kaufleuten in Olbia, seinem Standquartier. Dann (c. 18) wendet er sich ostwärts dem Pontos entlang zu den Stämmen am unteren Borysthenes (Dnjepr). Dementsprechend nennt Tacitus weiterhin Völkerschaften an der Ostsee zwischen Weichsel

1) Der Lauf dieser Straße ist uns aus den Itineraren genau bekannt, vgl. H. Kiepert, Formae orbis antiqui XVII. Eine lebendige Anschauung des Handelsverkehrs gibt H. Willers, Neue Unters, über d. röm. Bronzeindustrie von Capua u. Niedergermanien (Hann. 1907) 27 f. Übrigens ersehe man aus Dechelette, Manuel a. a. 0. (o. S. 358, 2) II 2 (1913), daß die Bernsteinstraße in ihren ersten Etappen demselben Wege folgte, auf dem um 900 v. Chr. das Eisen in Zentraleuropa bekannt wurde.

2) Den Hinweis darauf verdanke ich F. Jacoby.

448 Schlußbetrachtung. Militärische u. kaufmänn. Berichte als Primärquellen

und Oder einerseits, Weichsel und Njemen anderseits. Unter den letzteren erhalten die hier zuerst erwähnten Aestii eine eigne Ethno- graphie im kleinen; der Grund ihrer genauen Bekanntschaft ist der Bernsteinhandel (pretium accipiunt). Dabei erinnere man sich, daß Plinius seinen Bericht über die Reise jenes Kaufmanns mit den Worten schließt: commercia (d. h. Faktoreien: s. o. S. 39, 1) ea et litora peragravit. Nach Tacitus hat erst Cassiodorius dieses Volk wieder erwähnt, aus dem- selben Anlaß. Das Volk hatte dem Theoderich durch Gesandte das glitzernde Geschenk aus der alten Gotenheimat überreichen lassen und empfing nun ein Dankschreiben, in welchem der Kanzler des Königs, sich in die gewohnte literarische Positur setzend, es über die Wesensbeschaffenheit des Geschenks durch ein Zitat aus der Taciteischen Schrift, das er ausdrücklich als solches bezeichnet, aufklärt (var. V 2, zwischen den Jahren 523 u. 526): ein gar kurioser Gruß von der adria- tischen Seestadt Ravenna an den Ostseestrand, auf demselben Wege zu- rückgegeben, auf dem, wie wir sahen, einst die Kunde von dem fernen Volke in die antike Kulturwelt gelangt war. Jetzt war auf deren Trümmern der direkte Verkehr eines Germanenvolkes des Nordostens mit der gotischen Vormacht des Südens möglich geworden: das Ger- manentum begann sich seiner Zusammengehörigkeit auch auf so weit entfernten Punkten der Peripherie bewußt zu werden. Auch die Länder des hohen Nordens begannen in der frühen Kaiserzeit zum ersten Male in Sehweite zu treten: Tacitus erwähnt im Anschluß an die genannten Völkerschaften als erster die Suiones in Südschweden; schon damals wird ein Handelsverkehr von dort an die Weichselmündung bestanden haben, wo lange der Hauptumschlagshafen für den Import bestand1), bis er sich im Mittelalter an die Peenemündung verschob.2) Genauer wurden aber auch die skandinavischen Länder erst in römisch-byzan- tinischer Zeit bekannt: wieder sind es Fundgegenstände, vor allem

1) Den Kurs der Handelsschiffe von dem Ausfuhrhafen Fectio (s. o. S. 304,2) über die Weichselmündung bis Memel hat an der Hand ausgewählter Funde festzustellen versucht H. Willers, Die röm. Bronzeeimer von Hemmoor (Hann. 1901) 202, doch betont derselbe ausgezeichnete Forscher in seiner späteren, soeben (S. 447, 1) angeführten Arbeit S. 47 die Notwendigkeit einer Aufarbei- tung des gesamten Fundmaterials.

2) R. Henning, Zur Verkehrsgesch. Ost- und Nordeuropas im 8.— 12. Jh., in: Hist. Ztschr. III. Folge, Bd. XIX (1916) 1 ff., eine auch für Philologen, die das Byzantinische interessiert, lesenswerte Abhandlung.

Der Handelsweg vom adriatischen zum baltischen Meer 449

Münzen, durch die ein paar überaus wichtige literarische Zeugnisse aus den Gotengeschichten des Cassiodorius (Jordanes) und des Pro- kopios volle Bestätigung erfahren. Das ist in zwei hervorragenden Werken skandinavischer Forscher1) dargelegt worden. Prokopios hat sich uns gelegentlich (o. S. 411 f.) als ein für Ethnographisches inter- essierter und sehr genauer Schriftsteller bewährt. In einem Exkurse (bell. VI 15) behandelt er „Thule", worunter er Skandinavien versteht, Er habe gewünscht, selbst dahin zu gelangen, avtÖTitrjg zu werden, aber das sei ihm nicht beschieden worden, doch habe er Kunde er- halten von denen, die von dort nach Konstantinopel gekommen seien (tcov iievtoi sg rj^iäg kv&ivds dcptxo^isvav ETCvv&avö^irjv usw.). Da- mals bestanden rege Beziehungen zwischen dem byzantinischen Reiche und den germanischen des hohen Nordens Teile des gotischen Volks - Stammes der Heruler saßen sowohl in Illyricum als im südwestlichen Schweden und standen miteinander in Verbindung (Prokop. a.a. 0.) : die Möglichkeit persönlicher Erkundigung war also in reichem Maße gegeben, und Prokopios hat sie ausgenutzt; seine Schilderung bei- spielsweise der Opfergebräuche ist von hohem Interesse und erinnert vielfach an diejenige, die Tacitus an verschiedenen Stellen seiner Schrift, gerade auch in den Kapiteln über die Ostgermanen, bietet. Prokopios be- spricht ferner eingehend die primitiven Daseinsformen der 2JxQi&£cpLvvoi. worunter man gewöhnlich die Lappen versteht. Ob nun diese &Cvvot. mit den Taciteischen Fenni, den Ahnen der heutigen Finnen, ur- verwandt sind oder nicht, bleibe dahingestellt: jedenfalls ist das, was Tacitus über dieses von ihm als üngermanisch bezeichnete Volk mit- zuteilen weiß (Fenni s mira feritas, foeda paupertas . . ., victui herba, vestitui peius, cubile humus usw. mit sehr ins einzelne gehenden An- gaben), der Schilderung des byzantinischen Historikers wesensähnlich und zeigt, wie solche Kunde, mündlich verbreitet, in die Literatur gelangen konnte. Es ist, wie schon oben gesagt wurde, durchaus mit der Möglichkeit zu rechnen, daß auch Tacitus seine Nachrichten über den Osten und Norden Germaniens aus dem Munde eines Reisenden sei es direkt oder durch Vermittlung erhielt; ebenso möglich

1) C. F. Wiberg, Der Einfluß der klass. Völker auf den Norden durch d. Handelsverkehr. Aus d. Schwedischen von J. Mesdorf, Hamb. 1867. 0. Montelius in vielen Einzeluntersuchungen, zusammengefaßt in: Kulturgesch. Schwedens, Leipz. 1906.

Norden: Die germanische Urgeschichte 29

450 Schlußbetrachtung. Militärische u. kaufmänn. Berichte als Primärquellen

ist, daß sie aus Aufzeichnungen stammen, die ihm irgendwie zugäng- lich wurden: die Wahl zwischen diesen beiden Arten der Erkundung ist, wenn man sich nur über den merkantilen Ursprung klar ist, ziem- lich belanglos.

Die kleine Schrift des Tacitus, in der so viel Leben pulsiert, ge- winnt auch quellenkritisch betrachtet erst dann Saft und Blut, wenn wir uns darüber klar sind, daß auf den Büchern, aus denen sie in den weitaus meisten Teilen geschöpft ist, nicht bloß der Staub der Biblio- theken lag, sondern daß sich in sie, bevor sie diesen einverleibt wur- den, ein Strom bewegter Gegenwart, frischer Lebendigkeit und un- mittelbarer Beobachtung ergossen hatte, ja daß manche Nachrichten allem Anscheine nach erst durch Tacitus in die Literatur hinein- gelangten. Das „Ich" als Ausdruck eigner Beobachtung spielt bei ihm freilich nur eine ganz untergeordnete Rolle: c. 8 vidimus sub divo Vespasiano Veledam diu apud plerosque numinis loco habitam und 20 in haec corpora quae miramur excrescunt: das ist alles, und dabei er- scheint es sogar zweifelhaft, ob die erstere Angabe als Bezeugung eigentlicher Autopsie zu verstehen ist. Aber in den seiner Schrift zugrundeliegenden Quellenberichten, schriftlichen wie mündlichen, die er am Schlüsse des ersten Teils in den sehr allgemein gehaltenen Worten haec in commune de omnium Germanorum origine ac moribus accepimus mit einbegreift, war das anders gewesen. Dort hatte das „Ich" als frischer Ausdruck unmittelbar erworbener epichorischer Kunde dominiert1); vidimus und audivi: wie horchten wir doch bei diesen Worten auf, die wir bei Plinius in Schilderungen des Nordsee- strandes und der Donauquelle lasen. Das ist jener Ton primärer Be- richterstattung, wie er uns aus den Reiseerzählungen des Odysseus entgegenklang, und so schließt sich Anfang und Ende dieses Buches, so weit auch der in ihm durchmessene Kreis gewesen ist, zusammen.

1) Selbst bei Strabo, der doch nicht besonders viel eigne Beobachtung zu bieten vermag, begegnet es gelegentlich: ei'doiiev V 223. XII 536. sagw^ev XIII 630. Den Versuch von R. Münz, Quellenkrit. Unters, z. Strabos Geographie (Diss. Basel 1918) 50 f., Strabo auch hier die Autopsie abzudingen und die Ausdrücke auf die Quelle („Poseidonios") zu schieben, halte ich für mißglückt. Vgl. Ammianus Marc. XXIII 6, 30 (in der Beschreibung Persiens) ut scrip- tores antiqui docent nosque vidimus (vgl. XXVII 4, 2).

ANHANGE I. ZUR ÜBERLIEFERUNGSGESCHICHTE DER GERMANIA

1. DER HANDSCHRIFTLICHE TITEL (Zu S. 28 f.)

Der Unsicherheit über die handschriftliche Beglaubigung auch der cod. Aesinas, dem für die Germania kein Eigenwert zukommt, hatte die Lösung nicht gebracht ist durch das Finderglück von E. Jacobs ein Ende gemacht worden. Poggio hatte das „Inventarium", das ihm um das Jahr 1425 von einem Mönch des Klosters Hersfeld gesandt worden war, seinem Freunde Niccolö Niccoli mitgeteilt; dieser schloß es in die Instruktion ein, die er dem päpst- lichen Sendboten Enoch von Ascoli im Jahre 1451 über die Alpen mitgab. Diese Instruktion und mit ihr das Inventarium fand Jacobs in dem Antiquariats- kataloge einer italienischen Firma als käuflich angezeigt und machte darüber eine vorläufige Mitteilung in der Wochenschr. f. klass. Philol. 1913 Nr. 25. Durch die Liebenswürdigkeit von Jacobs bin ich im Besitze einer Abschrift des Inventariums, soweit es die in der Handschrift stehenden Taciteischen Schriften betrifft. Mit seiner Erlaubnia teile ich daraus mit, daß der Titel der 'Germania' im Hersfeldensis (saec. X) so lautete :

Cornelii Taciti de origine & situ Germanorum.

In einigen der uns erhaltenen jungen Apographa ist das rein bewahrt, in anderen durch Zusätze (moribus oder moribus ac populis) und durch Vertau- schung von Germanorum mit Germaniae verdunkelt. Ein ähnliches Schwanken betrifft den 'Agricola'. Im Hersfeldensis lautete nach dem Inventarium der Titel

Cornelii Taciti de vita Iulii Agricolae.

Hier hatte auch der Aesinas das Richtige gebracht, alle übrigen Hss. inter- polieren et moribus nach vita.

Meine oben (S. 28 ff.) über die Titelfrage der Germania aufgestellte Hypo- these möchte ich bei dieser Gelegenheit zurückziehen. Daß wir keinen un- bedingt zureichenden Grund haben, die Crsprünglichkeit des von der Hera- felder Hs. überlieferten Titels anzuzweifeln, wird die gleich folgende Zu- sammenstellung wohl zeigen. Damit fällt dann aber auch eine der Stützen der von mir dort geäußerten Vermutung, die Schrift sei von Tacitus nicht zur Ver- öffentlichung bestimmt gewesen; auch die übrigen Stützen haben sich mir in- zwischen als zu schwach erwiesen.1) Ich möchte nunmehr hier vorlegen, was

1) Die isolierte Stellung der Schrift innerhalb der uns erhaltenen Lite- ratur müssen wir hinnehmen; auch besteht kein Grund, die indische und ägyp- tische Schrift Senecas nicht als Vorbild gelten zu lassen. Das Fehlen einei Prooemiums wiegt wohl auch nicht so schwer, wie ich dort annahm; daß der Anfang Germania omnis offizieller Terminologie entspricht, ist S. 279 bemerkt worden.

29*

452 *• ^ur Überlieferungsgeschichte der Germania

ich mir über das Vorkommen von situs1) in ethnographischen Schriften so- wohl in deren Titeln als im Text selbst gesammelt habe, wobei ich zu beachten bitte, daß mit dem situs gelegentlich die origo vereinigt ist. Die Anordnung des Stoffs ist nach Möglichkeit chronologisch.

Sallustius lug. 17, 1 res postulare videtur Africae situm paucis exponer e et eas gentis quibuscum nobis bellum aut amicitia fuit attingere, gleich darauf, nur im Ausdruck wechselnd, loca et nationes. Das Wort situs scheint auch im Exkurse über Pontus im III. Buche der Historien (fr. 71 Maur.) vorgekommen zu sein, während der Schriftsteller in dem das II. Buch einleitenden Exkurse über Sardinien, seiner Vorliebe gemäß, ein ungewöhnlicheres Wort dafür ge- brauchte: fr. 1 cum praedixero positum insulae.*) Livius per. CHI situm Galliarum continet (sc. liber) CIV prima pars libri situm Germaniae moresque continet (vgl. über diese beiden Stellen o. S. 150). Pompeius Trogus hat seiner Universalgeschichte nach dem Ausweise der Prologe die origines der meisten namhaften Völker der Oikumene von den Spaniern bis zu den Parthern eingefügt, wovon in der Epitome des Iustinus ansehnliche Reste erhalten sind ; in den Prologen begegnet origo oder origines allein 27 mal (darunter beispiels- weise auch XXXVI origo Iudaeorum), mit situs verbunden : XLII origines Arme- niorum et situs XLIII origines Priscorum Latinorum, situs urbis Romae und situs allein XLII Arabiae situs. In einigen Hss., darunter einer des IX. Jahrb., trägt das Werk des Trogus in der Überschrift zu den Prologen den unursprüng- lichen Nebentitel: et totius mundi origines et terrae sittis. Seneca contr. II praef. 3 urbium situs moresque populorum nemo descripsit abundantius (sc. Fabiano in suasoriis). V eil eins II 96, 3 gentes Pannoniorum Delmatarumque nationes situmque regionum. 106, 1 von Germanien nach Erwähnung der gentes und nationes: situ locorum tutissima; analog 115, 3 Delmatae situ loco- rum . . . inexpugnabiles. Der Titel der Schrift des Mela lautet in der ein- zigen ma. Hs. (s. X) De chorographia; die Schrift beginnt: orbis situm dicere aggredior.s) Eine Schrift des Hyginus zitiert Servius zur Aen. HI 553 de situ urbium Italicarum, VIII 638 de origine urbium Italicarum; möglicher- weise lautete der Titel also: de origine et situ u. 2., aber Bestimmtes wird sich nicht sagen lassen, da Servius in der Bezeichnung von Buchtiteln will- kürlich verfährt. Das gilt daher auch für die nur von ihm genannten Titel der beiden chorographischen Schriften des Seneca: zur Aen. VI 154 Seneca scripsit de situ et sacris Aegyptiorum IX 30 secundum Senecam in situ In-

1) Das Wort ganz getrennt davon ist zu halten situs „Moder", schon Plaut. Truc. 915 kommt zuerst in der Schrift ad Herennium vor (III 32 situs loci), die, wie ich bei meinen lexikalischen Studien öfters zu beobachten Gelegenheit hatte, eine Art von Sprachgrenze im Wortgebrauch darstellt. Es war wohl eine Neuprägung nach &£ßig (s. o. S. 12, 1) etwa aus der Zeit zwischen den Gracchen und Sulla. Vgl. auch o. S. 85, 1.

2) Danach Tac. ann. IV 5 positus regionis; vgl. positura an der o. S. 12, 1 angeführten Stelle des Propertius.

3) Offenbar daraus der frühmittelalterliche Anonymus de situ orbis : vgl. M. Manitius, Gesch. d. lat. Lit. des Ma. 675 f.

Der handschriftliche Titel der Germania 453

diae1) (vgl. o.S. 28.39, 1). Plinius d.Ä. in den Inhaltsverzeichnissen zu B. II continen- tur situus gentes maria usw., zu B. VI ebenso und : Scytliarum gentes et situus, im Text III 46 situus originesque. Plinius d. J. pan. 15, 3 von Traianus: cognovisti . . . mores gentium, regionum situs. Tacitus selbst beginnt den Exkurs des Agricola 10 Britanniae situm populosque und sagt ann. IV 33 situs gentium . . . retinent ac redintegrant legentium animum XIII 34 Armenii situ terrarum, similitudine morum Parthis propiores. Cassius Dio XL 15 lehnt eine ausführliche Ethnographie der Parther (aus Anlaß ihres Zusammenstoßes mit Crassus) mit den Worten ab: tcsqI (ihv ovv xov rs yivovg y.a.1 rfjg %mQ(x.g rfjg te ldi6rr}Tog rätv iTfirrjÖEVUccvcov avrwv itolXolg te sigrirai, xul iya ovx iv yvä^tn 7coiov[icci, evyyQCCTpai: hier entspricht ysvog origo, %cöqcc situs, inizndevßaTcc mores. Ammianus bietet einige bezeichnende Beispiele. Seinen gallischen Exkurs leitet er mit den Worten ein (XV 9, 1): Galliarum tr actus et situm ostendere puto nunc tempestivum, beginnt dann aber mit der origo Gallorum, um erst 10, 1 auf das Topographische einzugehen, das er 11, 18 mit den Worten sit satis de situ locorum: nunc figuras et mores hominum designabo beschließt; das letzte Thema behandelt er 12, 1—4. Der lange Exkurs über Persien XXIII 6 enthält zunächst (6, 1 74) den situm locorum, dann die mores (75 84); der kurze über die Diözese Thrakien wird so eingeleitet (XXVII 4, 1) convenit pauca super harum origine regionum et situ transcurrere. Symmackus schreibt in dem oben (S. 210, 3) aus Anlaß des Plinianischen Germanenwerkes behandelten Briefe IV 18 über Caesars Werk de bello Gallico, das er ephemeris nennt: Jiaec te origines, situs, pugnas et quidquid fuit in moribus mit legibus Galliarum docebit. Von Hieronymus besitzen wir eine aus Eusebio3 7tsQi tcov xoTCw&v ovoudtav übersetzte Schrift, deren Titel in einigen Hss. zu lauten scheint (Genaues läßt sich vorläufig nicht sagen): de situ et nominibuslocortim hebraicorum (vgl. E. Klostermann in der Berliner Kirch enväterausg. des Euse- bios III, 1904, S. XI). Eucherius (Mitte s. V) episcopus: de situ terrae repro- missionis epistola ad Faustum presbyterum: so u. ä. in Subskriptionen der Hss. (s. VIII); wahrscheinlich ursprünglich ohne Überschrift; die Hss. beginnen: Fausto presbyter o insulano Eucherius episcopus. Hierosolimitanae urbis situm atque ipsius Iudaeae . . . breviter amplexus sum (ed. P. Geyer im CSEV XXXIX 1898, 123 ff.).*) Einen Teil der lateinischen Redaktionen des Alexanderromans

1) C. Weyman hat die einleuchtende Vermutung geäußert (Deutsch. Ztschr. f. Geschichtswiss. XI 1894, I 152), daß Lucanus den Inhalt der Schrift seines Oheims über Ägypten mit folgenden Worten paraphrasiere: X 177 f. Phariae primordia gentis / terrarumque situs volgique edissere mores / et raus formasgue deum; hier würden also primordia der origo entsprechen. Aber seine weiteren Schlußfolgerungen auf den Titel der Tacitelschen Germania sind nicht so überzeugend.

2) In dem ebd. S. 135 ff. edierten Schriftchen eines Theodosius (um 530) de situ terrae sanctae hat der Titel keine alte hs. Beglaubigung. Die Bezeich- nung de situ findet sich dann öfters auch in der Schrift des Adamnanus (Abt von Iona um 670) de locis sanctis (ebd. S. 219ff.) als Teilüberschrift von Kapiteln, sowie im Text selbst, z. B. auch de situ Tyri (277, 11), de Alexan- driae situ (281, 16), de Constantinopolcos situ et conditione ^295, 20).

454 I- ^ur Überlieferungsgeschichte der Germania

bildet eine Epistola Älexandri Macedonis ad Aristotelem, die, nach der Aus- gabe im Anhang zu B. Kühlers Iulius Valerius (Leipz. 1888) S. 190 ff., in einigen Hss. (von s. IX an) den Zusatz zu haben scheint: de itinere suo et de situ Indiae. Die Gotengeschichte des Cassiodorius trug wahrscheinlich denselben Titel wie die daraus epitomierte des Iordanes in unseren Hss.: De origine actibusque Getarum (Mommsen, prooem. zu ßeiner Ausg. p. XLII), aber die Titelparaphrase des Cassiodorischen Werkes lautet so (Anecd. Holderi ed. H. Usener, Bonn 1877, 4): scripsit praecipiente Theodoricho rege liistoriam Goihicam, originem eorum et loca moresque XII libris annuntians. Diese Paraphrase berührt sich mit dem Titel der Germania in unseren Apographa: de origine situ moribus uc populis Germanorum. So erweiterten die Huma- nisten den ihnen aus der Hersfelder Hs. bekannt gewordenen Titel im Anschluß an c. 27 haec ... de omnium Germanorum origine ac moribus accepimus, nunc singularum gentium instituta . . . expediam.

2. EINE INTERPOLATION DER GERMANISCHEN EINQUARTIERUNGSZEIT (saec. V.) (Zu S. 135) Das Kap. 21 schließt mit den Worten victus inter hospites comis, „der Ver- kehr zwischen Wirt und Gast ist ein gefälliger." Die Interpolation ist längst erkannt; Lachmanns Versuch, die Worte durch doppelte Konjektur (vinculum comitas) zu schützen, war ebensowenig glücklich wie ein kürzlich von Persson (in der o. S. 52, 2 genannten Festschrift S. 174 f.) unternommener, die Über- lieferung durch Interpretation zu verteidigen. Die Worte sind nichts als eine schwächliche Inhaltsangabe des Kapitels, das mit der Überreichung der Gast- geschenke, d. h. der Verabschiedung, seinen in der Natur der Sache gelegenen und in der antithetisch pointierten Formgebung sed nee data imputant nee aeeeptis obligantur gerade für diese Schrift charakteristischen Abschluß erhalten hat (vgl. Aristot. Eth. Nik. J 5. 1123 a 3 ^sveiv vTiodoxccg Kai ano- ßxoXäc, -x.a.1 dojQsccs xcä avtidageäg). Auch der Hinweis Gudemans, daß victus bei Tacitus sonst nur „Kost" bedeute (Germ. 46 und dreimal sonst), hat Ge- wicht; das Kapitel beginnt convieiibus et hospitiis. Nun genügt es in Fällen wie diesen noch nicht ganz, die Interpolation als solche erkannt zu haben, sondern man möchte ihre Genesis verstehen. Das ist mir, wie ich glaube, durch die Lektüre des schon zu Beginn dieser Untersuchungen (S. 6) zitierten Buches des Rechtshistorikers E. Th. Gaupp, Die germ. Ansiedlungen usw. (1844) gelungen. Er hat (S. 85 ff.) auf die eigenartige Regelung des Einquartierungs- wesens in der Völkerwanderungszeit hingewiesen, die seitdem von Juristen öfters behandelt worden ist (vgl. den Artikel „Hospitium" von R. Leonhard in der R. E. VIII 2498). Unsere Quellen sind zwei Titel'des im Jahre 439 publi- zierten Codex Theodosianus (lib. VII de re militari: tit. VIII de metatis und tit. IX de salgamo hospitibus non praebendo), dazu einige Ergänzungen im lustinianus XII 41. 42; ferner die lex Burgundionum (aus dem Ende des V. Jahrh.) tit. 54. Liest man nun die Paragraphen dieser Titel, so erkennt

Eine Interpolation der germanischen Einquartierungszeit 455

man daraus, daß der Verkehr zwischen Hausbesitzern und Einquartierung

hospites ist der Name für beide bis in Einzelheiten gesetzlich geregelt worden war, vor allem auch deshalb, weil es begreiflicherweise oft zu Unzu- träglichkeiten zwischen den Parteien kam, da die eine mehr zu beanspruchen geneigt, als die andere zu gewähren willens war: von gravamina, molestia, ininria, iniquitas, ciolentia, competitio et cälumnia („rechtswidrige Forderung") der hospites ist in jenen Paragraphen vielfach die Rede.1) Diese Dinge hatten in den Zeiten, als eine germanische Nation nach der anderen auf dem Boden des Imperiums angesiedelt wurde, ganz aktuelle Bedeutung, und so scheint ein Leser oder Schreiber der Germania, verleitet durch die ein paar Sätzchen vorher stehenden Worte ius hospitis (vgl. lex Burg. 55, 1 hospitalitatis ius), seinem Herzen durch eine Randbemerkung Luft gemacht zu haben, indem er den Inhalt des Kapitels in der angegebenen Weise zusammenfaßte: cso war's in der guten alten Germanenzeit, victus inter hospites comis; jetzt ach wie haben die Dinge sich geändert'. Vielleicht gehörte er aber auch zu denen, die bessere Erfahrungen mit den Barbaren gemacht hatten. Jeder Philologe kennt das poetische Itinerarium des Rutilius Namatianus und weiß es als wichtige Quelle für das zweite Jahrzehnt des V. Jahrh. zu schätzen; weniger bekannt ist die hexametrische Ephemeris ('Eucharisticos') des Paulinus, der in Pella geboren, aber in Buxdigala begütert war (Enkel des Ausonius). Das Gedicht

eine Autobiographie auf Grund von Tagebuchnotizen und als solche von G. Misch, Gesch. d. Autobiographie I, Leipz. 1907, 445 ff. gewürdigt hat er erst in seinem 84. Jahre, nach der Mitte des V. Jahrh., verfaßt; es ist für die Zeit- und Kulturgeschichte höchst bedeutsam, uns interessieren hier die Verse 281 ff. (Corp. Script. Christ. Vind. XVI p. 302), die sich auf ein Erlebnis des Jahres 412 beziehen, als er in den dreißiger Jahren seines Lebens stand. Da- mals waren die Westgoten unter Ataulf nach Südgallien gekommen, das Honorius ihnen, um Italien zu retten, preisgegeben hatte; während nun das Ge- dicht des Namatianus, dessen Güter in Tolosa lagen, in der handschr. Über- lieferung abbricht, bevor sein Verfasser die Zustände schilderte, die er infolge der gotischen Invasion in seiner Heimat vorfand, bekommen wir von Paulinus gerade dieses zu hören. Sein Haus sei von der Einquartierung verschont ge- blieben (er war ein sehr vornehmer Herr, und Befreiungen hochstehender Personen, auch Gelehrter und Künstler, von der Einquartierungslast werden in den Ge- setzen ausdrücklich vorbehalten): domus . . .

hospite tunc etiam Gothico quae sola careret . . . nam quosdam scimus summa humanitate Gothorum hospitibus studuisse suis prodesse tuendis.

Solche humanitas . . . quantum ad ins hospitis war nach den Worten des Tacitus

1) „Der Name hospes verschleierte die wahre Sachlage, die schließlich d< i Gast in einen Herrn des ihm zugewiesenen Gebietes verwandelte. Hierdurch wurde zwangsweise die Grundlage eines freundlichen Zusammenlebens sowie «iner Verschmelzung verschiedener Völker geschaffen" Leonhard a. a. 0.

456 I- ^ur Oberlieferungsgeschichte der Germania

bei den alten Germanen die Regel; humanitas heißt hier ,/iastlichkeit": s. o. S. 137, 2.1)

Diese Erwägungen sind, wenn sie zutreffen, für die Vorgeschichte der Überlieferung der Taciteischen' Schrift von einem gewissen Belang. Die dar- gelegten Verhältnisse über germanische Einquartierung auf römischem Boden betreffen das V. Jahrb.: in dieses dürfte also jene Randbemerkung fallen, die dann in den Text Eingang fand. Es läge darin übrigens nur eine Bestätigung einer allgemeinen Erwägung, wonach die Überlieferung der lateinischen Lite- ratur in der Karolingerzeit im wesentlichen auf Handschriften des V. Jahrhun- derts zurückgeht. Als Ursprungsländer der Überlieferung kommen fast nur Gallien und Italien (in Ausnahmefällen Spanien) in Frage. Die angeführten Zeugnisse könnten in vorliegendem Falle für Gallien zu sprechen scheinen, auf das auch sonst mancherlei weist. Hier gedenkt in der Mitte des V. Jahrh. Sidonius Apollinaris der historischen Schriften des Tacitus öfters mit Bewunderung; hier hat, schon fast an der Wende zum Mittelalter, etwa zu Ende des VI. Jahrh., der Verfasser der sog. fränkischen Völkertafel die ethnogonischen Sätze der Germania von Mannus und seinen drei Söhnen durch Hineinbeziehung der mosaischen Völkertafel umgestaltet*); und wenn man seine Phantasie walten läßt, was man ja freilich auf diesem Gebiete besonders meiden soll, so möchte man sich gern einbilden, daß unter den historiae et antiquorum res gestae, die Karl der Große sich nach Einharts Biographie (c. 24) vorlesen ließ, Tacitus nicht gefehlt habe, dessen handschriftliche Überlieferung wenigstens zu einem Teile ja auf Mainz" zurückweist. Aber auf der anderen Seite muß doch zugestanden werden: auch in Italien lagen während der Zeiten der Okkupationen durch Odovakar und Theoderich die Hospitalitätsverhältnisse ähnlich3) so wird ein hoher Beamter durch die Feder des Cassiodorius

1) Ich kann mir nicht versagen, hier auf Worte von Fustel de Coulanges a. a. 0. (o. S. 6) 775 hinzuweisen, da sie ganz in der Richtung meiner An- nahme liegen. Er schreibt über die Worte, die Tacitus in dem Kap. 31 von den alten chattischen Helden gebraucht, und die wir schon oben (S. 271) mit den hier behandelten verglichen haben prout ad quemque vettere, aluntur, prodigi alieni, contemptores sui : „11 serait heureux pour nous que Tacite eüt ecrit quelques mots de plus pour nous faire mieux connaitre cette sorte d'hospitalite qui n' etait peut-etre pas absolument benevole. Quelle part la coutume accordait-elle au guerrier dans la maison et sur les biens de l'agri- culture, c'est ce que nous voudrions savoir. Car il serait pas impossible que cet usage contint l'une des origines d'une hospitalite que nous retrouverons au Vesiecle."

2) Die Annahme Müllenhoffs, daß der Nachklang eines alten Liedes zu- grunde liege, halte ich, obwohl sie noch immer Gläubige findet, für verfehlt; auf die Seite der richtig urteilenden Partei hat sich unlängst L. Schmidt, Gesch. d. deutsch. Stämme II 4 (Berl. 1918) 436 gestellt.

3) Vgl. außer Gaupp S. 455 ff. jetzt auch J. Sundwall, Abh. zur Gesch. des ausgehenden Römertums (Helsingfors 1919) 178 f. Die Zeit der langobar- dischen Okkupation (im Jahre 568), bei der sich die Verhältnisse in ähnlicher Form wiederholten (Gaupp 503 ff., wo u. a. ein interessantes Zeugnis des Paulus Diaconus hist. Lang. III 16 über die Langobardi hospites angeführt wird, die sich angeblich keine violentia und keiner Chikanen schuldig machten), kommt

Gallien als Ursprungsland der Überlieferung 457

(var. II 16) von König Theoderich dafür belobigt, daß durch seine umsichtige Ordnung dieser Verhältnisse die amicitia beider Völker gefördert worden sei , und die einzige unmittelbare Spur der Taciteischen Germania in dieser Spät- zeit ist ein Zitat eben Cassiodors (var. V 2) aus ihr (s. o. S. 448), wie denn der italie- nische Überlieferungszweig der historischen Schriften auf Monte Cassino be- ruht, wo die Anregungen CasBiodors durch die Jahrhunderte hindurch fort- dauerten. Übrigens bestand zwischen den Literaten der beiden Länder seit dem ausgehenden IV. Jahrh., wie uns vor allem der Briefwechsel des Symmachus und derjenige des Paulinus von Nola lehrt, ein reger Gedankenverkehr, der auch in gelegentlichem Schriftenaustausch und Zusendung von Büchern der alten Literatur zum Ausdruck kam (vgl. o. S. 210, 3), so daß an der Entscheidung für das eine oder das andere Land nicht viel gelegen ist. Was mich mehr als die vorgetragenen historischen Erwägungen geneigt macht an Gallien zu denken, ist die philologische, daß die einzige Sachinterpolation, die in der Germania außer der hier besprochenen nachgewiesen worden ist, die früher (S. 173) er- wähnte des c. 9, wo Hercules' Name denen des Mercurius und Mars als kul- tisch verehrter Gott hinzugefügt worden ist, auf Gallien zu weisen scheint, wo dieser Name, wie wir wissen (S. 176 ff.) und im Anhang VII 2 noch genauer sehen werden, in den Grenzgebieten gallischer und germanischer Kultur besonders guten Klang hatte.1)

II. STILTECHNISCHES ZUR GERMANIA

Die Ethnographie als Literaturgattung hat einen Sprachstil entwickelt, dessen Phasen im einzelnen darzulegen nicht dieses Ortes ist. Doch sei es er- laubt, meine Ansicht darüber insoweit auszusprechen, als sie geeignet erscheint, eine stiltechnische Besonderheit der Germania in geschichtliche Beleuchtung zu rücken.

Hekataios *) hat, wie die Urteile der alten Kritiker bezeugen und die wenigen uns erhaltenen zusammenhängenden Fragmente bestätigen, mit schlichter Sachlichkeit geschrieben, ohne Bedacht auf Unterhaltung des Lesers, streng

für die Überlieferungsgeschichte der Profanautoren in der Epoche des Über- gangs vom Altertum zum Mittelalter nicht mehr in Betracht; man sieht aber, wie fest und dauerhaft der Gedanke wurzelte.

1) Bei dieser Gelegenheit sei auf eine merkwürdige Interpolation des Agricola (c. 24) hingewiesen, wo es in der kurzen Ethnographie Irlands heißt: solum caelumque et ingenia cultusque hominum haud multiim a Briiannia difle- runt [in melius: del. Fr. Wex]. Dazu bemerkt H. Zimmer, Sitzungsber. d. Berl. Ak. 1909, 377, 1: „Wenn unsere Agricolaüberlieferung durch die Hand eines irischen Schreibers gegangen ist was ja nicht unmöglich wäre , dann läßt sich wohl denken, daß er als Patriot ein in melius zusetzte." Die Versuche, durch Emendation statt durch Annahme eines Glossems zu helfen, haben zu keinem wahrscheinlichen Ergebnisse geführt; auch die doppelcretische Klausel (s. o. S. 194) spricht für Satzschluß nach di/ferunt.

2) Ich gebe nur das Resultat der Charakteristik, die Jacoby in seinem Hekataios-Artikel in der R. E. VII (1912) 2748ff. bietet; sie ist für die gesamte altionische Prosaliteratur grundlegend.

458 ^* Stiltechnisches zur Germania

■wissenschaftlich, wie es sich für einen aus dem Kreise des Anaximandros er- wachsenen Forscher gehörte. Der Ernst und die Herbheit des Stiles ist dieser Literaturgattung nie ganz verloren gegangen. Aber nach Hekataios kam Herodotos, den antike Urteile als Stilisten in Gegensatz zu jenem stellen. Er verband die rein wissenschaftliche Art mit der yXvwvxr\g ionischer Rede, die sich an dem Epos emporgerankt hatte, zum Teil aus derselben Wurzel, der mündlichen Erzählungskunst, entsprossen war. Diese altionische Art ist in der ethnographischen Literatur auf weite Strecken hin kenntlich. Beispielsweise finden wir ihn wieder in dem einzigen längeren Zitate, das aus den an ethno- graphischem Material noch in den Fragmenten ergiebigen Politien des Aristo- teles bei Athenaeus XIII 576 A erhalten ist (ÜQiGzozsXrig £v xf] MaaöaXuoxwv TtoXirsia ygäyaiv ovxcog)1)-. „Die ionischen Phokäer, die sich des Seehandel» beflissen, gründeten Massalia. Der Phokäer 'Gastlich' war dem König 'Zwerg' so hieß der begastet. Er kam gerade dazu, als Zwerg seiner Tochter Hochzeit ausrichtete. Da hat Zwerg den Gastlich zum Schmause eingeladen. Die Hochzeit aber geschah auf folgende Art"1) usw. Mit seinen aneinander- gereihten, einmal durch kurze Parenthese unterbrochenen, einmal durch Epana- lepse des Nomens verbundenen kurzen Sätzen, seiner märchenartigen Naivität^ der Schlichtheit der Worte, die ohne jede Rücksicht auf schwerste Hiate nebeneinandergestellt sind, zeigt das Stückchen jene archaische Simplizität, die uns etwa an das Herodoteische und an das Platonische Gygesmärchen oder an den Prometheusmythus in Piatons Protagoras erinnert; diese Nachbildung primitiven Erzählungsstiles ist in Wahrheit höchste Kunst.8) Auch Poseidonios,

1) Inhaltlich ist es unlängst von L. Radermacher, Rh. Mus. LXXI (1916)1 ff. analysiert worden; dagegen hat es sich A. Hausrath in seinen feinsinnigen Untersuchungen über die ionische Novellistik (Neue Jhb. 1914, 441 ff.) entgehen lassen. Massalia als Schauplatz ist charakteristisch: dort spielte ein Teil des Petronischen Romans, der ja mit den 'Icaviv-d diriyri^axu literarhistorisch un- lösbar verbunden ist. In diesen Rahmen paßt das bekannte Zeugnis Aristot. Poet. 21. 1457a 35 (in der neuen Fassung der syrisch-arabischen Übersetzung), in dessen Auslegung Rekonstruktion eines parodistischen Hexameters ich mit Diels (Sitzungsber. d. Berl. Ak. 1888, 52) gegen Wilamowitz (Arist. u. Athen II 29, 39) übereinstimme.

2) <&coxaslg ol iv 'Iavia iintogia %qw(isvoi fx,xi6av MaßOaXiav. Ev^evog de ö <&(oxasvg Ndvcp xö> ßaeiXsl zovxo S'r\v avxä ovofia r\v %ivog. ovxog 6 Ndvog iTtizsX&v ydpovg rfjg ftvyaxQog xaxu xv%t\v 7taQaysvo^Evov xbv Ev^svov 7caQaKiy.Xriy.sv i%\ xr\v &oivr\v. 6 äk ydpog iyiyvsxo xovde <Vöv^> xqotiov xxX. Kaibel notiert in seiner Athenaeusausgabe: Totius 7caQ£ydXs6sv'. Aber Wila- mowitz, der das reizende Stückchen im Griech. Lesebuch II 212 abdruckt, läßt das Perfektum stehen, das für mein Gefühl der Rede ein besonderes 7]dv6(ia gewährt.

3) Piaton ist in ihr auch da Meister, wo er nicht Ttagadst. Man denke etwa an die ergreifende Einfalt des Anfangs der Erzählung von dem Besuche bei Sokrates im Gefängnisse (Phaid. 59 DE, eingeleitet durch die Worte iyco 6oi aQ%fjg itdvxa Ttsipatfoftca dii\yr]Ga6d,ai) und achte dabei auf eine Sim- plizität wie diese: 7CEQiE(isvo(i£v ovv exdexoxs, tag avoi%&eiT} xb dsc^azr,- giov . . .' avsmysxo yaQ ov itgä ' ixsidi} °*^ avoi%%,slT]i siejj(isv . . TtaQtjyysi- Xauiv ovv aXXrjXotg rjxtiv ayg 7CQataixaxa slg xb Eia&ög. xal ?jxo(i£)i xal

Von Hekataios zu Poaeidonios 459

der doch wahrlich da, wo ihn der Schwung der Gedanken eniportrug, das nayccloitQExes des Stiles wie wenige zu handhaben wußte, hat in seinen ethno- graphischen Schilderungen sich der acpsXsta als Grundton bedient. Das war nun aber nicht mehr die ionische Herodots, sondern die aus der vorherodote- ischen entwickelte attische, die uns aus Xenophon kenntlich ist. 'O WvXXixbg xöXitog, usyug xul ßafrvg, tqlwv fjiisQwv nXovg: das ist Hekataios (fr. 303); i^sXavvsi ozad-[iovg rhccQQtxg . . . itgog Java, itoXiv olxov^£vr]v, fiEydXrtv xal svdaifiova oder evtev&ev i^ETtoQEv&Tjßav 6ra&[iovg XQElg . . . iiti xov TriXeßoair 7Cora(i6v ovrog tfi]v itaXog fie'v, piyag d'ov: das ist Xenophon (I 2, 20. IV 4, 3). Keinem Leser kann die Stilähnlichkeit des langen wörtlichen Fragments des Poseidonios über die Sitten der Kelten (bei Athenaeus IV 151. 152) mit den Abschnitten entgehen, in denen Xenophon die Sitten der Völker Kleinasiens mit schlichter Grazie geschildert hat (beispielsweise V 4, 27 34). Aber Posei- donios stand auf der Höhe seiner anspruchsvollen Zeit, die rhetorische Eleganz nicht missen mochte. Er hat den Hiatus in jenem langen Fragmente mit isokrateischer Strenge vermieden ') und einige Lichter aufgesetzt, die der unscheinbaren Grundfarbe Glanz verleihen.2) Mit der durch die zeitgenössische Philosophie stark beeinflußten hellenistischen Historiographie3) teilt er die psychologische Vertiefung, die nun von Einzelindividuen auf die Charakteristik der Lebensäußerungen ganzer Völker übertragen wird; liebevolles Sich versenken in deren Eigenart verleiht dem Stil Wärme und Innerlichkeit; „stark ist bei ihm die Neigung ausgeprägt, nach den Gründen der Erscheinungen zu forschen" sagt Strabo von ihm (s. o. S. 122). Dieses wissenschaftliche Haltung bei allem rhetorischen Lichterglanz, Streben nach psychologischer Vertiefung und Gefühlswärme sind die besonderen Stilkriterien auch der Taciteischen Germania. Die Wissenschaftlichkeit des Grundtons ist als altes Erbe dieser

TJUlV i^sX&COV 6 d-VQCOQOg . . . ElTtEV TtEQlllEVELV Xal (IT} TtQUTEQOV CT a Q l E V K l , £ü)ff

av avrbg xsXsvGi] . . . ov itoXvv ö'ovv %q6vov £-jii6%(bv ijxsv v.al ixEXEVEV 7]\iäg Elöiivai.

1) (7} v.EQaiLioig) 7} agyvQolg (Athen. IV 152 B) haben sich auch Schriftsteller strengster Observanz, außer den Gazäern des V./VI Jahrh., erlaubt.

2) Sie blinken noch bei Strabo, dem nüchternen, und Diodoros, dem stumpfen Stilisten vielfach hindurch; G. ßudberg, Forschungen zu Poseidonios (Uppsala- Leipz. 1918). hat sie in Kap. IV „Zur Bildersprache" gesammelt. Bei Strabo III 147 heißt es: „Bei seinem Lobpreise der Bodenschätze lberiens und der Ergiebigkeit dieses Landes enthält sich Poseidonios nicht seines gewohnheits- mäßigen Bedeschmucks, sondern ergeht sich in verzückten Hyperbeln1' {ovvev- ftovciä ralg vnEgßoXalg). Der Gebrauch desselben Verbums in analoger Sache in der Schrift über die Erhabenheit 13, 2 große Schriftsteller lehnen sich oft an große Vorbilder an %al ttigav 6vvsv&ov6t ö> gl LLEys&st, scheint mir bemerkenswert. Die von Poseidonios, der ja auch eine theoretische Schrift über den Stil (tieqI Xi^scog) verfaßt hat (Diog L. VII 60), zu jenem Anonymus hinüberleitenden Fäden hat H. Mutschmann, Tendenz, Aufbau u. Quellen der Schrift vom Erhabenen (Berl. 1913), sowie im Herrn. LH (1917) 161 aufgewiesen, dann kürzlich auch Rudberg a.a.O. 134 ff.

3) Einen ihrer vornehmsten Bepräsentanten, Duris von Samos, zitiert Posei- donios^ bei Strabo I 60-fXI 514, richtig beurteilt von S Sudhaus im Komm, zum Ätnagedicht (Leipz. 1898) S. 62 f.

460 U" Stiltechnisches zur Germania

Literaturgattung so gut festgehalten, wie es römisches Vermögen gestattete. Die lumina des Stiles hat er, dem Zeitgeist und eigner Veranlagung gehorchend, nach Art und Zahl mehr gesteigert als es unser Gefühl verträgt, Das Be- streben, sich in die Psyche des Volkes zu versenken, ihren Regungen auf den Grund zu gehen, hat ihn wie Poseidonios gelegentlich zu Pseudologien ge- führt. So sucht er für den germanischen Brauch, bei den Gelagen Rats zu pflegen (s. o. S. 127 f.), nach einem Grunde: „in der Überzeugung, daß gerade zu solcher Stunde die Seele besonders fähig sei, sich einem offenherzigen Gedanken zu erschließen, für einen großen sich zu erwärmen". Diese Motivierung macht uns lächeln, wenn wir uns die des Mets vollen Recken vorstellen, die so gern vom Trinkkorn des Urs zum Ger griffen. Aber solche Idealisierung war in die Ethnographie hineingetragen worden, seit die Philosophen sich ihrer bemäch- tigt hatten, zumal die Stoiker, die auch aus der Barbarenseele Funken des göttlichen Logos sprühen sahen. Wie hübsch und doch wie verkehrt xoft- ipözEQov ?} cdr}Q-£6tEQ0v fühlt man sich versucht ihm zuzurufen sagt Posei- donios (bei Diodor V 31) von den Druiden, sie hätten im Kampfe die Tobenden wie wilde Tiere in diesem Vergleiche schwelgt er überhaupt verzaubert: „so weicht auch bei den wildesten Barbaren die Leidenschaft der Weisheit, und Ares schämt sich vor den Musen." Die Beseelung des Stoffes, man möchte sagen seine Durchstrahlung, ist von Tacitus durch die ihm eigne Tiefe des Ethos zu einem Grade der Vollendung gebracht worden, an den selbst die Höhenskala der griechischen Vorgänger, mit denen ihn ja auch nach unserem Dafürhalten (0. S. 142 ff.) nur ein ideelles, durch jahrhundertelange Tradition ge- gebenes, kein tatsächliches Band verknüpft, nicht entfernt heranreicht. Dafür ist freilich das bildhafte Anschauungsvermögen, das den hellenischen Ethno- graphen als Erbteil ihres Volkes eignete, bei dem römischen arg verkümmert. Künstlerisch abgewogen wie die Stilfärbung ist auch die Gruppierung des Stoffes. Dies mag hier nur an einer einzigen, aber charakteristischen Besonder- heit gezeigt werden, die uns wieder einen Blick in literargeschichtliche Zusammen- hänge tun läßt. Keinem aufmerksamen Leser der Germania ist das Bestreben des Schriftstellers entgangen, Stoffgruppen inhaltlich zu verknüpfen1) und so statt des Neben- oder Nacheinander eine Kausalitätsbeziehung herzustellen: ein Gebilde, das sich etwa als Gedankentektonik bezeichnen ließe, und das, in Verbindung mit der Sprachtektonik, dem Ganzen das Gepräge des Monumen- talen verleiht. Meist nun wird die Verknüpfung erreicht mit jener unmerk- lichen, jedenfalls unaufdringlichen Kunst, auf die man das Wort anwenden könnte „dann erst ist die Kunst vollkommen, wenn sie Natur zu sein scheint, die Natur hinwiederum zielbewußt, wenn sie verborgene Kunst in sich be- faßt" (ä. vtyovg 22). Wie fein wird, um aus der Fülle der Beispiele wenige herauszugreifen, von der Bemerkung, daß die Germanen ihre Ausdauer gegen Kälte und Hunger dem Klima und der Bodenbeschaffenheit ihres Landes ver- dankten (4 a. E. caelo solove), zur Behandlung der terrestrischen Verhältnisse,

1) Vgl. Gudeman in der Einleitung seines Kommentars S. 37, 2 und be- sonders Trüdinger a.a.O. (0. S. 8, 1) 146 ff.

Assoziationsprinzip 461

speziell der Bodenerzeugnisse (Flora, Fauna, Erze, 5 Anf. terra), übergegangen und so die Geologie mit der Anthropologie verknüpft. Der Abschnitt (8) über die angesehene Stellung der Frau ist mit dem über das Religionswesen (c. 9 f.) durch Erwähnung der Prophetinnen (8 a. E.) in Verbindung gebracht worden- Vom Erbrecht (20 a. E.) wird der Leser durch den Gedanken, daß mit dem Besitze sich auch die Pflichten der Freundschaft und Feindschaft vererbten, zur Gastfreundschaft (21), von dieser weiter zu den Mahlzeiten (22) hinüber- geleitet, weil bei dem Verkehr der Gastfreunde (eonvictibus et hospitiis) Ge- lage (convivia) und Festmahle (epulae) eine Hauptsache waren; dabei prälu- diert dem Essen und Trinken Schlaf und Bad (22 Anf.), wodurch die Vor- stellung eines gewöhnlichen Tageslaufes mit der eines festlichen sinnreich ver- bunden erscheint. Aber ein Kompositionsprinzip wie dieses ist der Gefahr, in Manier zu verfallen, ausgesetzt: die Verklammerung artet bisweilen in Künstelei aus. So werden die Abschnitte über Tracht (17) und Ehe (17 a. E.) folgender- maßen verknüpft. „Die weibliche Tracht unterscheidet sich von der männlichen nur insofern, als bei den Frauen leinene, mit purpurroten Lappen verzierte Umhänge ziemlich häufig sind und der Leibrock in seinem oberen Teile nicht in Ärmel ausläuft; Unter- und Oberarm sind bloß, || aber auch der angrenzende Teil der Brust bleibt unbedeckt. || Und doch wird bei ihnen die eheliche Sitte streng gewahrt (sed et proxima pars pectoris patet. quam quam severa illic matrimonia)" , und nun folgt die lange Darlegung über die Ehen. Oder wenn die heterogenen Abschnitte über Würfelspiel (24) und Sklaverei (25) durch die Bemerkung verknüpft werden, daß die Germanen sich beim Würfelspiel in freiwillige Sklaverei verkauften: hier hat das Spielerische der Gedankenver- knüpfung viele Herausgeber und Erklärer gar zu Eingriffen in den Text ver- anlaßt. l)

Um nun diese gelegentlich zur Manier ausartende Kunst genetisch zu be- greifen, habe ich bei meiner Lektüre ethnographischer Literatur auf ihre Spuren geachtet und nirgends so deutliche Spuren gefunden wie in den aus, Poseidonios stammenden Ethnographien Diodors. Von der keltiberischen Sitte, mit der Gastfreundschaft einen wahren Kult zu treiben, wird zu den Essens- gebräuchen übergegangen (V 34, lf.): dieselbe Verknüpfung fanden wir bei Tacitus. Besonders reichhaltig ist die umfänglichste Posidonische Ethnographie bei Diodor, die keltische, V" 25 32.') Vom Klima (25) wird, wie es bei Tacitus

1) In c. 25 Anf. ist überliefert ceteris servis, im Gegensatz zu dem unmittel- bar vorhergehenden (c. 24 a. E.) servos condicionis huius (näml. die erwürfelten). In den neuesten Ausgaben steht jetzt auf Grund moderner Konjektur: ceterum servis, wodurch die künstliche Gedankenstruktur geschädigt wird. Auch c. 13 ist die Überlieferung ceteris robustioribus (sc. adulescentulis) einem ceteri (LipsiuB, zuletzt Andresen) oder certis (Gudeman) geopfert worden; vgl. über diese Stelle jetzt Trüdinger a.a.O. 160, 1.

2) Diodor hat den klaren Gang der Posidonianischen Darstellung durch störende Einschöbe verunziert, die im wesentlichen von Mülleuhoff il 303 ff. ausgeschaltet sind; Wilamowitz hat im Griech. Lesebuch II 219 ff. den Text ohne diese Zusätze abgedruckt.

4ß2 U- Stiltechnisches zur Germania

geschieht, zu den Bodenerzeugnissen (26) ühergeleitet durch den Satz1): „Da aber durch das Übermaß der Kälte5) die MischuDg in der Atmosphäre ver- dorben wird, so trägt das Land weder Wein noch Öl." Nun will der für Metallurgie hier wie stets besonders interessierte Schriftsteller sich einen Über- gang schaffen zu den Erzeugnissen des Bodens an Edelerzen, die wir bei Tacitus an der entsprechenden Stelle behandelt fanden. Dieser Übergang wird nun von Poseidonios durch folgende Gedankenreihe gewonnen. Die Armut des Landes an Wein gleichen seine Bewohner, die dem Trünke sehr ergeben sind, durch Import aus Italien aus, wobei sie unerhörte Preise für die Ware zahlen: „die Händler erhalten als Entgelt für einen kleinen Krug Wein einen Knaben, tauschen also für den Trunk einen ihn kredenzenden Diener ein. Denn3) (27) Silber kommt in Gallien überhaupt nicht vor, Gold aber in Masse, und dieses gibt ihnen die Natur ohne die MühsaD) des Bergbaus in folgender Weise an die Hand." Es folgt die Beschreibung des Gewinns von Gold durch das Schlämmungs- verfahren, worauf seine Verwertung in der Tracht und im Kultus besprochen wird. Darauf (28) wird ohne Verbindung von dem Lande zu seinen Bewohnern übergegangen6) und zunächst deren Aussehen beschrieben. Auf die Haartracht seit Homer und Herodot ein ethnographischer Topos (s. o. S.16, 2) folgt die Barttracht. „Die Adligen glätten ihre Wangen, lassen den Kinnbart aber so lang wachsen, daß der Mund dadurch bedeckt wird. Daher verwickeln sie sich beim Essen in die Speisen, und beim Trinken geht die Flüssigkeit durch den Bart wie durch einen Filtriersack. Sie speisen aber" , und nun sind wir mitten in der Beschreibung eines Gastmahls.

Die Gleichartigkeit des Kompositionsprinzips mit dem Taciteischen ist augenfällig. Man darf nun aber nicht glauben, daß es allgemein gebräuchlich gewesen wäre. Das Gegenteil ist der Fall: in den meisten sonstigen Ethno-

1) Dazwischen steht (26, 1) eine hier sinnstörende, von Diodor selbst als Einschiebsel gekennzeichnete Bemerkung über die gallische Bise, von der es heißt, daß durch sie sogar faustgroße Steine emporgeschleudert, Waffenstücke von dem Körper losgerissen, Menschen von den Wagen heruntergeworfen würden. Das liest man auch bei Strabo IV 182, aber an derjenigen Stelle, an der es bei Poseidonios stand. Sachlich bemerkenswert ist die Analogie eines Frag- ments aus Catos Origines (bei Gell. II 22, 2S) über den spanischen Wind cercius: ventus cercius, cum loquare, buccam implet, armatum hominem, plau- strum oneratum percellit. Auf dergleichen Mirabilien ist also in der ethno- graphischen Literatur, zu der ja auch große Teile des Catonischen Werkes ge- hörten, frühzeitig geachtet worden, und deshalb registrierte hier Cato, was ihn die Erfahrung gelehrt hatte. ^

2) ,, Diodor verallgemeinert und übertreibt, was Posidonius nur von der nördlichen Keltike gesagt hatte" Müllenhoff.

3) Zu ergänzen ist der Gedanke: (andere Zahlungsmittel besitzen sie nicht) ; Silber kommt nicht vor, Gold freilich in Masse, aber dieses bleibt wegen seines Wertes für den vorliegenden Fall als Zahlungsmittel außer Betracht.

4) xuxonäQ-siu: dies Wort auch in den Poseidoniosexzerpten bei Diodor V 38, 1 (v<-m iberischen Bergbau). 39, 2. Athenaeus VI 233 E ßa&siaig xcl xaxonäd'ois perccXlsLCCig.

6) Den Worten 25, 1 r) xoivvv Falaria entspricht 28, 1 ol Sh Talaxai. Analog Tacitus c. 1 Germania 2 ipsos Germanos.

Assoziations- und Stichwortprinzip 4ß3

graphien werden die einzelnen Stoffgruppen eine nach der anderen, ohne irgendwelche äußere Verbindungsglieder oder gar Verklammerungen inhalt- licher Art abgehandelt.1) Aber es gibt doch Spuren, die erheblich weiter nach rückwärts führen und so auch auf stilistischem Gebiet die Zusammen- hänge der Taciteischen Ethnographie fast mit den Anfängen dieser Literatur- gattung erkennen lassen. Herodot hat den großen Abschnitt über die persischen Bräuche (1 131 ff.) mit besonderer Liebe komponiert.2) Von der bildlosen Götterverehrung wird zu der Beschreibung eines Opfers, dann zu der einer Geburtstagsfeier übergegangen; das Bindeglied bildet die verschiedene Be- schaffenheit des Festbratens; von der Mahlzeit eines besonderen Tages wird zu Speise und Trank des Alltags, hiervon zu den Beratungen beim Symposion übergegangen.8) Die Zusammenkünfte zum Gelage finden im Hause des Gast- gebers statt. Es gibt aber noch eine andere Gelegenheit der Begegnung: auf der Straße. Das Verhalten dabei ist nach der Standesverschiedenheit der sich Begegnenden genau abgestuft. Eine solche Stufenfolge zeigt auch die Wert- schätzung anderer Völker bei den Persern, ähnlich wie früher bei den Medern. Überhaupt gehen die Perser in der Herübernahme fremder Bräuche so weit wie kein anderes Volk: so haben sie medische, ägyptische, hellenische Sitten übernommen. Von den Hellenen die Knabenliebe; es folgt Hochzeit, Kinder- erzeugung, Erziehung (Stichwort bei diesem allem: naldsg). Bis hierher reicht ununterbrochen die sechs Kapitel lange Gedankenkette, in der, wie man aus dem kurzen Referate ersieht, mit größtem Bedacht ein Glied in das andere eingepaßt worden ist. Hier ist ein Abschnitt: er geht nun (137 ff.) über zu dem, was wir den Moralkodex nennen könnten; aber auch bei diesem Über- gang vergißt er die Verknüpfung nicht, mag sie auch nur eine äußerliche sein: „ich lobe nun diesen Brauch (näml. den über die Kindererziehung), lobe aber auch folgenden" nun folgen die Sittengesetze unter dem Gesichtspunkt des Lobenswerten. Er schließt mit dem Begräbnisritus, auch dieser mit dem Vor- hergehenden wenigstens äußerlich verknüpft: „dieses (er hatte ganz zuletzt anhangsweise eine aus der Reihe herausfallende sprachliche Observation mit- geteilt) weiß ich genau über sie zu sagen, das Folgende, da es Geheimlehre ist, nicht mit Sicherheit, nämlich über die Bestattung." Überblicken wir das Ganze, so werden wir sagen dürfen: es ist im kleinen dieselbe Kunst des Gruppierens, die im großen das ganze Werk durch die imponierende Bewäl- tigung und Gestaltung des Gesamtstoffes zu einem Monumentalbau der Welt- geschichte hat werden lassen.4) Dem Paradestück der persischen vöpoi läßt

1) Ich wüßte höchstens die Alyvitria^ä des Hekataios von Abdera (bei Diodor I 70 ff.) zu nennen, in der das Streben, die Fugen zu verkleiden, stellen- weise nachweisbar ist. Ihr Verfasser war ja auch ein feiner Stilist von Demo- kriteischer Eleganz.

2) Ich schließe mich in der Analyse vielfach an Trüdinger a. a. 0. 25 an.

3) Dies ist die wegen ihrer merkwürdigen Kongruenz mit einigen Sätzen der Germania (o. S. 127 ff.) ausführlich besprochene Stelle.

4) Das hat uns vor allem F. Jacoby in seinem Herodotartikel in der R. E. verstehen gelehrt.

464 H- Stiltochnisches zur Germania

sich aber kein anderes vergleichen : im allgemeinen verfährt er in den ethno- graphischen Partien kunstlos, indem er den einzelnen Abschnitten fast titel- artig ihre gesonderten Überschriften gibt.1) Offenbar war dies die ältere, ihm aus Hekataios geläußge Gepflogenheit. Verknüpfung inhaltlich verwandter Motive fand dabei nur in Ausnahmefällen, wo die Natur der Dinge selbst darauf führte, statt. Ein Fall dieser Art, der gerade auch für die Taciteische Schrift Interesse bietet, läßt sich wohl noch erkennen. Im Kapitel 5 der Ger- mania, das über die Bodenschätze des Landes handelt, wird das Fehlen von Gold und Silber konstatiert und dann fortgefahren (6. Anf.) : „Auch Eisen ist nicht im Überfloß vorhanden, wie sich aus der Art der Waffen schließen läßt" woran sich die ausführliche Behandlung der germanischen Bewaffnung an- schließt. Dieselbe Art der Verknüpfung, nur daß die Glieder in umgekehrter Reihenfolge stehen, findet sich bei Herodot am Schlüsse des I. Buches in der Ethnographie der Massageten (c. 215): „Gold und Erz brauchen sie zu allen ihren Waffen" (die dann im einzelnen aufgezählt werden), „Eisen und Silber aber gar nicht: denn diese Metalle gibt es bei ihnen überhaupt nicht, während Gold und Erz in reicher Fülle vorhanden sind." Der massagetische Xöyog Herodots (I 201 203. 215 216) stammt nach der Vermutung F. Jacobys (R. E. Suppl. II 426) wahrscheinlich aus Hekataios.5) Wir dürfen also diese nahe-

1) Musterbeispiel die skythischen vö\ioi (IV 59 ff.): 59 &eovg [ihv (tovovg tovöSb l%cc6K0VTai ... 60 &v6ir] dh ... 64 rcc d'ig 7t6lB[iov h%ovTcc ads cq>t diccnisTui ... 67 fiävrisg dh Zxv&eav sißi icolloi ... 70 oqxicc dh ■xoievvrai JSxvö'ai wds ... 71 racpal dh . . . 76 ^eivinoioi dh vo[iaioi6i xccl ovrot, uiv&g %q&6&cci cpsvyovßi.

2) Diese mir sehr wahrscheinlich vorkommende Vermutung hat A. Herrmann, Alte Geographie des unteren Oxusgebietes (Abb. d. Gott, Ges. d. Wiss., Phil.- hist. KL, N. F. XV Nr. 4) 1914 zu erweitern versucht. Aber der geo- graphische Teil dieser Abhandlung hat nicht die Zustimmung von H. Philipp (B. ph. W. 1915, 1214 ff.) erfahren, und gegen den philologischen hege ich Bedenken. Der Consensus der massagetischen Ethnographie bei Herodot und Strabo Xt 512 f., der doch wieder so beschaffen ist, daß die ausführlichere Strabonische nicht direkt aus der Herodoteischen stammen kann, ist, wie man dem Verf. zugeben muß, beachtenswert, darf aber keinesfalls auf eine an- gebliche jüngere Bearbeitung des Hekataios zurückgeführt werden. Auch abgesehen nämlich davon, daß mir eine solche Bearbeitung, die von jüngeren Forschern aus Sieglins Schule angenommen wird, vorläufig hypothetisch er- scheint — vgl. auch F. Jacoby, R. E. VII 2674 , ist in der Herrmannschen Ab- handlung das Isolieren bedenklich. Die massagetische Ethnographie bei Strabo ist mit ihrer Umgebung, den Ethnographien der Völker in Ost-Pontos und am Kaspischen Meere, viel zu eng verklammert, als daß sie getrennt von diesen betrachtet werden dürfte. Diese aber stammen anerkanntermaßen aus Theo- phanes von Mytilene. Wer sie hintereinander liest, insbesondere auch darauf achtet, daß Theopbanes wiederholt zu Herodot, billigend oder ablehnend, Stellung nimmt, wird auf Grund der Gleichartigkeit der Darstellung wohl zur Überzeugung gelangen, daß Strabo ihm auch die massagetische Ethno- graphie entlehnte: eine Ethnographie der Völker am Westufer des Kaspischen

' Meeres, wie sie Theophanes gab. konnte die an das Nordufer dieses Meeres reichenden Massageten schwerlich ausschließen. Vgl. auch J. Partsch, Die arktischen Elemente in der arolokasp. Fauna (Ztschr. d. Ges. f. Erdkunde z. Berlin, 1918, lff.).

Assoziations- und Stichwortprinzip 465

liegende Motiwerknüpfung, die uns außer bei Tacitus auch sonst begegnet1) und mithin zur traditionellen Typologie der ethnographischen Literatur ge- hört zu haben scheint, wohl bereits für Hekataios in Anspruch nehmen. Ein Ausnahmefall wie dieser, dem noch einer oder der andere uns nicht mehr kenntliche zur Seite gestanden haben mag, scheint Herodot veranlaßt zu haben, in einem einzigen Abschnitt seines Werkes diese Komposition von einer Einzel- heit auf ein ethnographisches Ganze auszudehnen. Im übrigen ist, wie be- merkt, die ältere Art wie bei Herodot selbst so bei den Späteren die eigent- lich übliche geblieben.*) Aber große Stilkünstler wie Poseidonios und Tacitus, denen Herodot, auch er ein Stilist ersten Ranges, die Wege wies, haben, um es so auszudrücken, aus der „aneinanderreihenden" Rede der archaischen Zeit eine „periodische" der modernen gemacht, indem sie, Glied in Glied durch Gedankenassoziation oft verschlingend, auch diese Literatur stilisierten. Stichwortartige Abschnittsbezeichnungen haben auch sie dabei nicht ver- schmäht 8)

Vielleicht könnte jemand auf Grund vorstehender Darlegungen dem Ge- danken Raum geben, Tacitus habe sich den Poseidonios zum Vorbilde ge- nommen, und weiterhin daraus ein Argument gegen die oben (S. 142 ff.) vertretene Annahme ableiten, wonach kein direkter Zusammenhang zwischen diesen beiden Schriftstellern besteht. Allein eine solche Schlußfolgerung wäre nicht stichhaltig. Die hier dargelegte assoziative Gedankenverknüpfung läßt sich nämlich als Kompositionsprinzip noch auf einem scheinbar ganz getrennten Literaturgebiete nachweisen. Jedem Leser der Ovidischen Metamorphosen ist die Art des Dichters geläufig, die Sagen durch Übergänge zu verknüpfen: in der Erfindung immer neuer Formen der Verknüpfung ist er unerschöpflich, aber neben vielem Gelungenen steht manches Gezierte. Das fiel schon dem Altertum auf: Quintilianus IV 1, 77 spricht über die modernen gesuchten Übergänge von Prooemium zur Narratio und fügt hinzu: ut Ovidius lascivire in metamorphosesi solet, quem tarnen excusare necessitas potest, res diversissimas in speciem unius corporis colligentem. Auch Tacitus hat in seiner ethno- graphischen Schrift eine heterogene Stoffülle zu bewältigen gehabt, bei deren

1) Trogus-Iustinus in der parthischen Ethnographie XLI 2, 10 auri ar- gentique nullus nisi in armis usus.

2) Man vergleiche mit dem o. S. 464, 1 angeführten Herodoteischen Beispiel etwa Trogus-Iustinus XLI 2 f. über die Parther: administratio gentis . . . sermo . . . vestis . . . armorum mos . . . auri argentique nullus nisi in armis usus . . . uxores . . . carne non nisi venatibus quaesita vescuntur . . . equis omni tempore vectantur . . . sepultura . . . superstitiones ac cura deorum . . . ingcnia gentis. Ferner etwa noch Timaios bei Diodor Vl7f. (Ethnographie der Be- wohner der Balearen), Onesikritos bei Strabo XV 701 (eines indischen Volks- stamms).

3) Vgl. für Tacitus die stichwortartigen Anfänge von Abschnitten l) deorum 10 auspicia sortesque (vgl. Herod. IV 172 oqmoiöi de xai uccvrwji) 14 cum ven- tum in aciem (vgl. <Sh nolsfiixcc) 17 tegimen (kod-r)Ti de Poseid. bei Diod. V 30) 18 dotem 21 suscipere inimicUias. ib. convictibus et hospitiis (rcc 3h £svixä) 23 potui umor 24 genus spectaculorum 25 cetcris seruis 26 fenus 27 funera.

Norden: Die germanische Urgeschichte 30

466 III. Eine Polemik d. Poseidonios geg. Artemidoros üb. d. Ethnologie d. Kimbern

Vereinigung zu einem schriftstellerischen Ganzen er neben geistreicher Er- findung nicht immer die Manier vermieden hat. Wir werden also wohl zu sagen haben, daß es sich bei dieser Kompositionsart um Erwägungen ge- handelt hat, vor die sich Schriftsteller in solchen Fällen mit Notwendigkeit gestellt sahen, und von denen sie sich, wenn sie ein kunstvolles tV gestalten wollten, leiten lassen mußten. Die Dispositio des Stoffs ist das bisher am wenigsten untersuchte Gebiet schriftstellerischer Kunstübung, und doch liegen in ihm ihre feinsten Wurzeln eingebettet. Tacitus sah sich auch bei den ge- waltigen Stoffmengen seiner historischen Werke vor ähnliche Probleme gestellt; auch in ihnen hat er neben zahlreichen sonstigen Mitteln feinerer Art das- jenige der assoziativen Verknüpfung gelegentlich zur Anwendung gebracht. Da jedoch einer meiner Schüler diesen Nachweis einmal zu führen beab- sichtigt, so möchte ich ihm nicht vorgreifen.

III. EINE POLEMIK DES POSEIDONIOS GEGEN ARTEMIDOROS

ÜBER DIE ETHNOLOGIE DER KIMBERN. DIE ANFÄNGE DER

GERMANISCHEN VÖLKERWANDERUNG

(Zu S. 68)

Bei Plutarch wird in dem Kap. 11 seines Marius, das die wichtige Dis- kussion über die Ethnographie der Kimbern enthält, von Poseidonios, wie wir sahen (S. 68), eine Ansicht bekämpft, wonach das Volk eine Mischung aus „Keltoskythen" gewesen sei. Cichorius, mit dem ich vor Jahren das quellen- kritisch schwierige Kapitel durchging, sprach es gleich als Vermutung aus, daß als der von Poseidonios bekämpfte Autor Axtemidoros anzusehen sei.1) Diese Vermutung hat sich mir bei genauerer Prüfung bestätigt. Da es immer- hin Interesse bieten dürfte, denjenigen Hellenen zu kennen, der sich wissen- schaftlich als erster über unser Volk geäußert zu haben scheint, so lege ich die Ergebnisse meiner Untersuchung hier vor, mit dem Wunsche, daß sie nach- geprüft werden möchten.

Bei Plutarch wird die Ansicht über die „Keltoskythen" mit den Worten si6l dk ol . . . liyovöL eingeführt. Ihr Vertreter war unbedingt ein Geograph : das zeigen die Worte slöl ab ol xt\v KeXtixi]v dia ßä&og zmgccg xul iiiys&og d'jro rfjg %£co &alä66T]s xul xwv v7tccQxri(ov xXinccT<av itgbg iqXiov kv'i6%ov%u. y.ccxcc. tt}v Mcci&tlv £Tii6tQ&(povGav UTtTZ6&(u xfjg ITorTtxTJs 2xv&iag Xsyovöt, xccxei&ev yivr\ pmiX&cu Sib xai JioXXug xarä {itQog iainX^asis £%6vta)v xoivfi KsXro67ivd,ag zbv G-coazbv cdv6iicc£ov. Plutarch fand, wie die ganze Art seiner Darlegung zeigt, diese Ansicht bei Poseidonios; denn er fährt fort: aXXoi St tpaai; das ist, wie o. S. 98 bemerkt, Poseidonios. Dieses Abhängigkeitsverhältnis des

1) Eine Sammlung der Fragmente des Artemidoros muß als dringliche Aufgabe bezeichnet werden; die von R. Stiehle, Philol. XI (1856) 193 ff. ist jetzt gänzlich veraltet, die Dissertation von R. Daebritz, De Artemidoro Strabonis fvuctore (Leipz. 1905) bei aller Reichhaltigkeit doch nicht über Anfänge hinaus- gekommen.

„Keltoskythen". 467

ersten Berichts vom zweiten hat Müllenhoff richtig erkannt. Er verwickelt sich aber dann in einen Widersprach mit sich selbst, wenn er annimmt, daß Posei- donios jene Ansicht von dem keltoskythischen Mischvolke gebilligt habe, ob- wohl dieser ihm doch mit Recht als erster gilt, der die Eigenart eines von den Kelten nnd Skythen differenzierten Nordvolkes erkannte. Um diesen seinen Irrtum aufrechterhalten zu können, muß er den Plutarch „einer heillosen Konfusion" zeihen, während alles in Ordnung ist, wenn man annimmt, daß, worauf die ganze Art der Plutarchischen Darlegung hinführt, Poseidonios jene Ansicht nur anführte, um gegen sie Stellung zu nehmen. Eine von Posei- donios bekämpfte geographische Ansicht über die ethnischen Verhältnisse der Kimbern kann nun aber aus zeitlichen Gründen nur von Artemidoros her- rühren, dessen Blütezeit von seinem Epitomator Markianos in die 169. Olympiade (104 100 v.Chr.) gesetzt wird1): er war also noch ein älterer Zeitgenosse des Poseidonios. In seinen aus 11 Büchern bestehenden rsaygacpov^Bva (Titel nicht ganz sicher) konnte das neue Volk, von dessen Schrecknissen er auch auf seiner Gesandtschaftsreise nach Rom (Strabo XIV 642) gehört haben wird, gerade schon Erwähnung finden, und welcher zeitgenössische Geograph hätte an dieser größten Sensation vorübergehen können? Eben Artemidoros ist es nun aber, an dessen Fersen sozusagen sich Poseidonios heftete, wie er ihm ja auch zeitlich auf dem Fuße folgte. Die Bücher Strabos sind voll von teilweise heftiger Polemik de3 Poseidonios gegen diesen seinen Vorgänger (z. B. III 138), der seinerseits die älteren Geographen, darunter sogar den Eratosthenes, mit Selbstbewußtsein angegriffen hatte.

Es bleibt noch ein "Wort zu sagen über den Verlegenheitsbegriff „Kelto- skythen". Er begegnet außer an der Plutarchischen Stelle nur noch zweimal bei Strabo I 33. XI 507, wo die aq^aloi "EXXrjvsg, oi vtaXaiol x&v 'EXXrjvcov als seine Vertreter genannt werden. Artemidoros übernahm aläo, um dem neuen Volke seine ethnische Stellung anzuweisen, einen rein konstruierten Begriff, mit dem ältere Geographen ein nordeuropäisches Mischvolk bezeichneten. Wer mag nun unter jenen „Alten" verstanden worden sein? An der zweiten der Strabonischen Stellen (XI 507) werden diesen naXaiolg gegenübergestellt oi 'in ■xqötsqov , unter denen nach dem Inhalt des aus ihnen Berichteten sicher Herodot (und wahrscheinlich Hekataios) verstanden ist. Dann aber bleibt für die „Alten" wohl nur Ephoros übrig2), der in seiner Europe über Kelten und Skythen gehandelt hatte (vgl. z. B. Strabo I 34 u. a.), und der von Artemidoros auch sonst zitiert worden ist (so bei Strabo III 137); auch Polybios VI 45, 1 rechnet ihn zu den ao%aioi evyyQccysig. Timaios, der den Namen KsXToXiyves

1) H. Philipp wird im V. Anhange (unten S. 476, 1) wahrscheinlich zu machen suchen, daß die Abfassungszeit des Artemidorischen Werkes vor 103/2 anzu- setzen sei. Von mir war o. S. 68, 3 etwa 102/1 als das Jahr der Abfassung angenommen worden.

2) Diese Worte waren längst geschrieben, als ich bei S. Forderer, Ephoros und Strabon (Diss. Tübing. 1913) 13, fand, daß ihr Verfasser eine andere Stiabo- stelle (III 148), in der ebenfalls die itecXaiol genannt sind, mit Wahrscheinlich- keit auf Ephoros zurückgeführt hat.

30*

4ß8 HI- Eine Polemik d. Poseidonios geg. Arteraidoros üb. d. Ethnologie d. Kimbern

erfand oder jedenfalls gebrauchte (Strabo IV 203. Ps. Aristot. mir. aase. 85), wird jenen Begriff bereits vorgefunden haben; nach dessen Muster wurde dann auch KflrißriQsg geprägt, eine Bezeichnung die für uns zuerst in den von Livius XXI 67, 5 benutzten Annalen des Jahres 218, dann bei Polybios III 5, 1 u. ö. (möglicherweise aus Silenos) nachweisbar ist.1)

Meine Ansicht ist, kurz zusammengefaßt, also diese. Der erste Geograph, der das neue Volk, noch unter dem unmittelbaren Eindruck seines Auftretens in der Geschichte, behandelte, war Artemidoros von Ephesos. In Verlegenheit, dessen ethnische Stellung anders zu bezeichnen, griff er zu einem Ausdruck der älteren Geographie, den vermutlich Ephoros eingeführt hatte, Kelto- skythen", worunter jene Älteren ein imaginäres Mischvolk Nordeuropas ver- standen hatten. Diese Ansicht des Artemidoros hat Poseidonios berichtet und bekämpft. Er hatte inzwischen über die Originalität des Volkes bessere Kunde erhalten, kam aber in betreff von dessen ethnischer Provenienz auch seiner- seits nicht über einen Verlegenheitsausweg hinaus, indem er es, freilich den eignen Zweifel nicht verhehlend, auf Grund einer Buchstabenspielerei den Homerischen Kimmeriern anglich (o. S. 68). Die richtige Erkenntnis, daß die Kimbern der germanischen Völkerfamilie angehörten, brachte erst der Sklaven- krieg der Jahre 73—71 (o. S. 79).

Aus der Polemik des Poseidonios gegen Artemidoros in Sachen der Kl^qi-ho. läßt sich noch folgende Einzelheit gewinnen. Poseidonios bekämpft bei Strabo VII 292 f. die Annahme, daß die kimbrische Auswanderung durch eine große Sturmflut veranlaßt worden sei, mit dem Argumente, Sturmfluten gebe es nicht. Die Polemik kann sich aus den angeführten Gründen wohl nur gegen Artemi- doros richten; dafür spricht auch, daß wieder Ephoros in die Diskussion hinein- gezogen wird, der von großen Überschwemmungen am keltischen Ozean be- richte: diese alte Kunde scheint also Artemidoros als Hypothese für die Aus- wanderung der Kimbern verwertet zu haben, die ihm ja, wie wir sahen, als KeltoBkythen galten. Die Überlegenheit des Artemidoros als Geograph kommt hier deutlich zum Ausdruck: Poseidonios, der von Doktrinarismus nicht immer freizusprechen ist, wollte nur anerkennen, was er selbst in Gades beobachtet hatte, die regulären ozeanischen Gezeiten; Artemidoros aber war nicht nur in Gades gewesen, sondern hatte auch nördlichere Teile des Atlantischen Ozeans kennen lernen (Markianos epit. 3 Müller).2) Berechtigterweise hat sich daher seine Ansicht, trotz der Polemik des Poseidonios, bei Späteren erhalten: Livius nach Florus I 37 Cimbri Teutoni (atque Tigurini: dies ein törichter Zusatz des Florus) ab extremis Galliae profugi cum terras eorum inundasset oceanus, novas sedes toto orbe quaerentes usw. Verrius Flaccus nach Paulus Festi 17

1) A. Schulten, Numantia 1 19. Er erwägt daselbst (S. 19. 97) die Möglich- keit, daß der Name von den Hellenen, die längst auf der spanischen Ostküste Fuß gefaßt hatten, geprägt und schon von Timaios, also um 260, in die Lite- ratur eingeführt worden sei. Ich halte das für sehr wahrscheinlich.

2) Müllenhoff (I 232. II 166) hat dies alles merkwürdig verkannt; sein Glaube an die .Richtigkeit der Beweisführung des Poseidonios ist übrigens auch von Joh. Fr. Marcks, Bonner Jhb. XCV (1894) 35 ff. bestritten worden.

See- oder Landnot als Auswanderungsgrund 469

Ambrones fuerunt gens quaedam Gallica, qui subita inundatione maris cum amisissent sedes stias usw. Mag aber Artemidoros mit seiner Anerkenntnis des Vorkommens von Sturmfluten noch so sehr im Rechte gewesen sein: als ent- scheidenden Grund für die Auswanderung der Kimbern aus ihrer Heimat in Nordjütland dürfen wir sie nicht gelten lassen. Ich möchte das sich dagegen erhebende Bedenken mit Worten eines Naturforschers wiedergeben: H. Toepfer, Die deutsche Nordseeküste in alter und neuer Zeit, Geogr. Ztschr. IX 1903, 309 : „Wir brauchen an dem Auftreten einer besonders hohen und verderblichen Flut, deren Gedächtnis sich noch lange im Andenken der Menschen erhalten habe, nicht zu zweifeln; mag aber eine Flut noch so gewaltig und verheerend gewirkt haben, wie damit die Austreibung ganzer Volksstämme in Verbindung zu bringen sei, will nicht recht einleuchten. Sooft später schlimme Fluten über die norddeutschen Küstenländer gekommen sind, eine Auswanderung in größeren Massen haben sie niemals veranlaßt.'1 Der Mensch weicht, wie mich die Geschichte meiner eignen Heimat gelehrt hat, vor der Gewalt des Elementes wohl etwas zurück, aber er erlahmt in diesem Kampfe nie ganz, solange ihm die Daseinsverhältnisse ein Verbleiben auf der angestammten Scholle ermög- lichen. Einen entscheidenden Grund zu deren Preisgabe haben zu allen Zeiten nur Ernährungsschwierigkeiten gebildet , die , durch Übervölkerung hervor- gerufen, zunächst ein Expansionsbedürfnis und, wenn dieses in Widerstreit mit gegebenen Naturgrenzen oder hemmenden Einflüssen feindlicher Nachbarn ge- riet, eine Auswanderung verursachten.1) Weniger Seenot also, als „Landnot" dies ist jetzt bei unseren Wirtschaftshistorikern die zutreffende Bezeich- nung — hat die Kimbern zur Auswanderung veranlaßt. Übervölkerung wird als Grund des kimbrischen Auszuges denn auch in zwei Zeugnissen des Altertums angegeben, die m. W. in der Erörterung dieser Frage bisher übersehen worden sind. Seneca cons. ad Helviam 7, 4 stellt mehrere Gründe für Völkerwanderungen zur Auswahl; er hat u. a. auch die Invasion der Pyrenäenhalbinsel durch die Kimbern erwähnt und sagt von ihnen: nimia super- flucntis populi frequentia ad exonerandas vires emisit. In den unter Quintiliaus Namen überlieferten größeren Deklamationen heißt es 3, 13: influ.vit Italiae inaudita multitudo quam ne ea quidem potuit sustinere terra quae genuit.*) Die richtige Erkenntnis jenes AuswanderuDgsmotivs8) ist natürlich durch keinerlei Überlieferung, sondern nur auf Grund zutreffender Erwägungen gewonnen

1) Vgl. Caesar VI 24, 1 fuit antea tempus, cum . . . Galli . . . propter hominum multitudinem agrique inopiam Irans Bhenum colonias mitterent mit richtiger Angabe des Grundes, aber falscher Orientierung (a. o. S. 358 f.).

2) Das ist, nebenbei bemerkt, dieselbe Deklamation, in der weiterhin (16) die Worte stehen nihil tale (näml. stuprum) vorere Germani , et sanctius vivitur ad oceanum, die jeden an verwandte Stellen der Taciteischen Schrift erinnern werden.

3) Die kimbrische Chersonnes (Jütland, Schleswig, Holstein) war nach Ptol II 11, 7 von mehreren Völkern besetzt, von denen die Kimbern die nörd- lichsten waren. Ihre Südnachbarn waren die Charudes, die sich mit einem Heerhaufen von 24 000 Mann dem Zuge des Ariovist anschlössen, also auch sie Auswanderer (Caes. I 31, 10).

470 IV- Columnae Herculis. Die „Nordsäule" im Kanal

worden. Wir, die wir weitere Räume der Völkergescliichte überblicken als jene Zeugen, können die Erklärung auch historisch rechtfertigen. Der Cim- brorum exitus, wie Tacitus nach Livius-Plinius ihn nennt, war der wilde Auf- takt zu der germanischen Völkerwanderung, in deren Schlußdisharmonien ein halbes Jahrtausend später der stolze Bau des Imperiums aus den Fugen ging. Das ist allgemein anerkannt; dagegen fand ich nirgends erwähnt die wohl ebenso unzweifelhafte Tatsache, daß die Kimbernwanderung ihrerseits wieder nur ein Glied in der Kette der keltischen Völkerverschiebungen gewesen ist, die den europäischen Norden Jahrhunderte vorher revolutionierten. Von ihnen ist auf den vorstehenden Blättern wiederholt die Rede gewesen (vgl. besonders S. 356 ff.).

IV. COLUMNAE HERCULIS. DIE „NORDSÄULE" IM KANAL

(Zu S. 174)

Unterden bei Tac. Germ. 34 genannten Columnae Herculis muß man sich ragende, das Meer torartig einengende Inseln vorgestellt haben, die als Grenz- marken1) der Seefahrt im „äußeren" Ozean galten. Vgl. J. Partsch, Die Grenzen der Menschheit, I: Die antike Oikumene (Ber. d. Sachs. Ges. d. Wiss., Phil.-hist. Kl. LXVIII 1916, 2. Heft, S. 39): „Als Grenzmarken der Seefahrt seinerzeit, als Torsäulen einer undurchschreitbaren Pforte betrachtete vor den Tagen des Alexanderzuges der Historiker Ephoros die Inseln der heißen Straße Bab el Mandeb (Plinius n. h. VI 199 Ephorus auetor est a Rubro raari navigantes in eam [Cernen insulam] non posse propter ardores ultra quasdam cölumnas ita appellantur parvae insulae provehi), ganz so wie einer älteren Zeit an der Straße von Gibraltar die Säulen des Herakles als Grenzpfeiler sicheren Seeverkehrs can der Schwelle des Inneren Meeres' erschienen waren" (Strabo III 168 Tigbg avrccis den Heraklesstelen ovo vi]6ldicc, a>v Q-drtQOV "Hgag vf\aov ovofid^ovcf v.al Sri T^V£9 *£" reevtag 6rjjlag Kcckov6iv). Bei den Taci- teischen Herculessäulen denkt D. Detlefsen, Die Entdeckung des germanischen Nordens (Berl. 1904) 43 f. an Helgoland, das bis zur Sturmflut Neujahr 1720/1 aus zwei durch einen iyg km langen Steinwall verbundenen Klippen bestand. Diese Ansicht hat, mag sie auch nicht streng beweisbar sein, große Wahr- scheinlichkeit; zu ihrer Stütze ließe sich vielleicht der Ausdruck saxa promi- nentia heranziehen, der bei Avienus Ora marit. 343 von den Herculessäulen Abila und Calpe an der Straße von Gibraltar gebraucht wird.

Die Columnae Protei bei Vergil XI 262 (Atrides Protei Menelaus ad- usque cölumnas exulat) scheinen auf einer Fiktion des Dichters zu beruhen, der dabei an die der ägyptischen Küste vorgelagerte Insel Pharos gedacht haben mag (vgl. die Exegese von d 354 bei Strabo I 37). Die' in dem Scholion des Servius quod autem ait ^Protei cölumnas' ratione non vacat (also war die ratio wohl strittig): nam cölumnas Herculis legimus et in Ponto et in Hispania erwähn-

1) Über das uralte Säulenmotiv als solches s. o. S. 183 f.

„Säulen" als Seefahrtsgrenzen. Die Kanalinsel Ouessent 471

ten ,, Säulen" im Pontus sind m. W. sonst nicht nachweisbar. Wo spätere lateinische Autoren Geographisches über den Pontus berühren, pflegen sie ihre Kenntnis dem Exkurse in Sallusts Historien B. III zu verdanken. Da nun von den 19 uns erhaltenen Fragmenten dieses Exkurses nicht weniger als 10 dem Servius verdankt werden, so wird die Vermutung, daß er ihm auch seine Kenntnis der pontischen Herculessäulen entnahm, um so mehr erlaubt sein, als Sallust in dem Exkurse über Sardinien in B. II auf die Wanderungen des Hercules im Westen zu sprechen kam, wobei er auch die spanischen „Säulen" erwähnt haben muß (vgl. fr. 4. 5 Maur.).

In vielbesprochenen Versen des sog. Skymnos (188 ff.) heißt es:

xovxcov dh xslxai Isyoiitvr] xig i6%äxr\

6xr\Xr\ ßoQSiog' %6xi d'viprilij nävv

slg xviiccT&dsg niXayog avaxzlvovo' ccxqccv.

oixov6i xf\g 6xrjXr\g dh xovg iyyvg xonovg

KsXxäv ocoi Xtfyovöiv övxeg £ff£aT(H. Ephoros als Gewährsmann ist gesichert: vorangehen (von 183 an) die Verse über die Gastfreundlichkeit der Kelten, bestimmt Ephorischer Tradition (s. o. S. 140, 1). Die modernen Versuche, diese „Säule des Nordens" zu lokalisieren, sind teilweise ganz abenteuerlicher Natur.1) Auf das Richtige führt nur die einst von J. A. Letronne, Fragm. des poemes geographiques, Par. 1840, 67 auf- gestellte Ansicht, unter den „äußersten Kelten" seien die in der Bretagne wohnenden zu verstehen. Den Urnamen der Bretagne Oestrymnis kennen wir nur aus dem Avienischen Periplus 90 ff.; die ihr vorgelagerten Inseln hießen Oestrymnides (ib. 96), die Kanalinseln. Eine kleine Insel dieser Grnppe heißt Ouessent, die 22 km vor der NW-Ecke der Bretagne liegt und zu dem Depar- tement gehört, das den bezeichnenden Namen Finistere führt.2) Ihr keltischer Name ist uns aus Pytheas bei Strabo I 64 erhalten: Ov^i6d(ir} s) ; Pytheas, der sie anlief, nannte sie die äußerste der der Bretagne vorgelagerten Inselgruppe; hier war der Ausladehafen für Zinn, das britannische Schiffer über den Kanal brachten (Avienus 96 ff.). Der Name bedeutet nach dem o. S. 198 über den keltischen Wortstamm oux- Bemerkten „die Hochragende"; also wirklich eine oxrfl.r\ vipr}%r), eine moles celsa sarei fastigii, wie es bei Avienus 92 heißt.

1) H. Berger, Gesch. d. wiss. Erdk.2 234 f. streift wohl das Richtige, aber zum klaren Verständnis ist auch er nicht vorgedrungen.

2) Das bei Avienus 160 genannte Vorgebirge Anjium ist wohl das an der Küste von Galicia gelegene Kap Finisterre, auch ein solcher äußerster Vor- sprung. Die gleichartigen modernen Benennungen illustrieren hübsch die Ver- Avochslung, die bei Avienus vorliegt, der das Kap der Pyrenäenhalbinsel von dem Inselvorsprung der Bretagne nicht zu scheiden vermag (164 f.). Das Ver- kennen dieser Tatsache hat den Modernen viel zu schaffen gemacht; mir ist das Richtige aus Gesprächen mit H. Philipp vertraut; vgl. o. S. 392, 1.

3) Itin. Ant. 509 Uxantis, wohl identisch mit der von Pliniua IV 103 Axantos genannten Insel.

472 V- Beiträge zur Bevölkerung und Kartographie der Schweiz bei Avien usw.

V. BEITRÄGE ZUR BEVÖLKERUNG UND KARTOGRAPHIE DER SCHWEIZ BEI AVIEN; CAESAR, STRABO, PTOLEMAEUS ' UND DEREN VORLAGEN.

VON HANS PHILIPP. Die älteste Nachricht über die Bewohner schweizerischen Gebietes finden wir in Aviens Ora maritima (Vs. 674 ff.):

meat amnis (Bhodanus) autem a fönte per Tylangios, per Daliternos, per Clachilcorum sata Lemenicum et agrum1) . . . Gemeint sind die Bewohner des Rhonetales von der Quelle bis zum Genfer See. Avien selbst bemerkt zu seinem Zögling Probus über die barbarischen Namensformen dieser Stämme:

dura sat vocdbula auremque primam cuncta vulnerantia, sed non süenda tibimct ob Studium tuum nostramque curam. Uns erinnern wenigstens die Lemeni an den lac Lernan, das Ende des Rhone- tales. Auch die Tylangii an der Rhonequelle sind uns nicht unbekannt, da sie uns Caesar2) als Tulingi nennt, freilich in ihren neuen Schweizer Wohnsitzen. Über die verbleibenden beiden Stämme ist wenig zu sagen, aber ihre Rasse- zugehörigkeit ist unverkennbar: es sind Ligurer. Schon Müllenhoff D. A. 1 197

1) Text nach Sieglins Privatdruck der Avien ausgäbe. Die ed. princeps hat Temenicum, die Korrektur Lemenicitm stammt von K. Müller, Ptolem. II, 10, 2, p. 235.

2) Bell. Gall. I, 5. Nur Sieglin zeichnet auf seinem kleinen Atlas die Tulingi nicht in Süddeutschland ein, sondern verzichtet auf der Hauptkarte auf Fest- legung. Auf der Nebenkarte „Gallien zur Zeit Caesars" irrt auch er. Die an- deren bringen Stühlingen bei Schaff hausen mit ihrem Namen in Verbindung und setzen sie östlich des Rheins an. Dagegen spricht aber Bell. Gall. I, 5, wo nur die Boier trans Rhenum wohnten. Wenn dann weiter nach Bell. Gall. I, 28 die Tulingi in ihre alten Sitze zurückkehren, so müssen diese ganz entlegen sein, denn nie wieder hört man von ihnen, was bei Wohnsitzen am Rhein ebenfalls nicht erklärlich wäre. Vielmehr werden die Tulingi aus ihren Sitzen an den Rhonequellen, wo sie Aviens Quelle kennt, abgedrängt durch die Kelteninvasion, die die Nantuates usw. ins Rhonetal führt. Man wird die Tulingi nunmehr am Thuner und Brienzer See suchen. Hier sind sie die Nachbarn der Rauraci (Bell. Gall. I, 5), die mit den Helvetiern aus Württemberg kamen, wo die vielen mit Rohr- zusammengesetzten Namensbildungen zu vergleichen sind (vgl. Bell. Gall. VI, 25, 2, wo zwar die Rauraci in Süddeutschland, noch nicht aber die Tulingi, die I, 5 ihre Nachbarn geworden sind, erscheinen). Nach Bell. Gall. IV, 10 berührt der Rhein weder das Gebiet der Tulingi noch der Rauraci. Kiepert zeichnet also falsch, wenn er bereits zu Caesars Zeit die Rauraci bei Basel = Augusta Raura- corum ansetzt. Nach Basel ziehen die Rauraci nach der Niederwerfung der Hei vetiei, mit denen sie kamen, aus Schwyz, Unterwaiden oder St. Gallen. Im einzelnen lassen sich die Wohnsitze der Tulingi nach der Abdrängung aus dem Rhonetal und der Rauraci vor ihrer Niederlassung bei Basel nicht bestimmen. Vgl. auch Müllenhoff D. A. I 196 und meine Karte am Schluß.

Verdrängung der Ligurer im Rhonetal durch die Kelten 473

erinnert an den Claocelus mons bei Genua (Thes. 1. 1. Onomast. II 481), einen liguriachen Bergnamen, der sieb dann hier bei Genava wiederfände.

Sieglin ist in der Lage gewesen, mir am oberen Drac ein Dörfchen Glaizil, früher Glaizilium nachzuweisen (M. J. Roman. Dict. topogr. du depart. des Hautes - Alpes p. 73. Paris 1884). Die Daliterni endlich bringen Cuno (Vorgesch. Roms I 134) und Holder (Altcelt. Sprachschatz I 1216) mit dem Dalatal bei Lenk in Verbindung. Demnach kennen wir die gesamte ligurische Bevölkerung des Rhonetales von der Quelle bis zum lacus Lemanus: Tylangii an der Quelle, danach um Leuk die Daliterni, dann folgen die sata Clachil- corum zwischen Sitten und St. Moritz, endlich die Lemeni oder Lern an i am lac Leman.

Aviens Quelle kennt also noch nicht die Keltenstämme im Kanton Wallis, d. h. sie schildert die Zustände vor 387 383, als die Kelten der Rhone folgend in Oberitalien Stamm für Stamm eindringen. Bei Caesar, der sich im Jahre 56 an die Unterwerfung dieses Gebietes um Octodurus-Martigny macht, finden wir eine andere Geographie. Während Bell. Gall. I, 2, 3 als Provinzgrenze der Genfer See und die Rhone genannt werden, gerade als ob der Genfer See, wie man dies mit Mommsen *) aus dem Wortlaut Caesars schließen muß, die Rhonequellen ent- hielte, lernt Caesar erst 56 (III, 1) 2) den wirklichen Oberlauf der Rhone kennen. Seine Legaten finden hier Nantuates, Varagri und Seduni, 'qui a finibus Allobrogum et lacu Lemanno et flumine Rhodano ad summas Alpes pertinenf. Bei der Aufzählung der genannten drei Stämme ist es recht auffällig, daß sich die Kenntnis der Römer nur auf diese drei Stämme beschränkt. Der Legat scheint ja eine Besiedelung des Rhonetales nur bis Sitten-Sedunum festgestellt zu haben. Hier liegt denn auch gerade das Dörfchen Pfin- (ad flnes) *), hier ist, wie mir Sieglin zeigte, gerade die Sprachgrenze der romanischen und deutschen Schweiz (vgl. Baedeker, Schweiz). Wir müssen annehmen, daß jenseits von Pfin, das unweit westlich von Leuk liegt, von den Römern keinerlei Bewohner mehr angetroffen wurden. Die Besetzung des Kanton Wallis durch die Kelten erstreckte sich also nur auf den fruchtbaren Talstrich bis Pfin. In der Tat kennen wir am Rhonequellgebiet nur noch die Lepontii, deren Namen die volle Leventina, also das Tessintal, erhalten hat: Plinius n. h. III 135 Lepontiorum qui TJberi vocantur, fontem Rhodani eodem Alpium tractu (aeco- lunty. Diesen besonderen Stamm der Lepontii nennt auch das tropaeum Alpium als Uberi.*) Cato bei Plinius n. h. III 134 und Plinius 1. c. bezeichnen sie

1) Mommsen, Schweiz. Nachstudien, Hermes 16 (1881) 445. Auch Auson. ord. nob. urb. 19, 113 p. 151 P 'Rhodanus genitore Lemanno' teilt diese von Mommsen erkannte Anschauung Caesars. Klotz, Caesarstudien, bestreitet p. 37 ohne Kenntnis antiker Geographie die Auffassung Mommsens.

2) Ich schließe auch hieraus auf jahrweise Entstehung der Bücher, wo- durch selbstverständlich die Tatsache der Gesamtedition für das Publikum nach Beendigung des Krieges unberührt bleibt; vgl. Norden 0. S. 91 f.

3) Über ein anderes ad fines vgl. 0. S. 204, 2.

4) CIL V p. 906; sonst begegnen sie noch als Viberi: Desjardins, Geogr. de la Gaule II 234 IT.

474 V. Beiträge zur Bevölkerung und Kartographie der Schweiz hei Avien ubw.

mit Becht als Gallier, Strabo IV 206 als Baeter.') Die Lepontii hatten ihre Wohnsitze an den Bhonequellen mehr ins Tessintal hinein, jedenfalls klafft zwischen 'ad fines' und den Bhonequellen, den Sitzen der Lepontii, eine Völker- lücke, die erst später ausgefüllt wurde und deshalb eine Sprachgrenze bewirkte. Nördlich der Bewohner des Bhonetales sind wir gewohnt, die Helvetier anzusetzen. Auf Grund eigner Kenntnis 2) gibt die Grenzen des Helvetier- gebietes Caesar Bell. Gall. I, 2, 3: Bhein, Jura, Genfer See und der Teil der Bhone, der aus dem Genfer See fließt s), d. h. die heutige Westschweiz, Genf einbegriffen.

Es dürfte demnach nicht eigne Kenntnis verraten, wenn Caesar Bell. Gall.

VI 25, 2 dieselben Holvetier statt in der Schweiz in Süddeutschland nennt:

(Hereynia silva~y oritur ab Helvetiorum et Nemetum et liauracorum finibus

rectaque fluminis Danuvii regione pertinet ad fines Dacorum et Anartium.

Nehmen wir dazu noch Tac. Germ. 28:

igitur inter Hercyniam silvam Rhenumque et Moenum amnes Helvetii . . . , so ist mit Gewißheit zu erkennen, wie Caesar und Tacitus hier eine gemein- same Vorlage benutzen, die die Helvetier bis zum Main kennt. Ich will mich hier an dieser Stelle, wo es sich nicht um eine Arbeit über die geographischen Quellen Caesars handelt, mit der Frage nach dieser gemeinsamen Vorlage Caesars und Tacitus' nicht eingehend befassen, möchte aber betonen, daß ich nicht mit Klotz den Timagenes als postcaesarischen Iuterpolator bemühen will, viel- mehr an Caesarischer Entstehung dieser und der anderen geographischen Einlagen festhalte. Bell. Gall. "VI 24 erkennt man ja klar, wie Caesar auch selbst fremde Autoren heranzieht: (Hercynia silva) quam Eratostheni et quibusdam Graecis fama notam esse video; vgl. auch V 13 'ut existimatur' 'complures existimantur' . Caesar ist sich des Widerspruches der beiden Angaben über das Helvetiergebiet nicht bewußt. Hat er ihn von der Abfassung des I. Buches zum VI. Buch vergessen? Indessen liegt der Widerspruch bereits I, 2 vor, nur weniger kraß. Hier heißt es nämlich § 5, scheinbar in schönstem, in einem nicht einmal nach Klotz interpolierten Zusammenhang mit § 3, weiter:

pro multitudine autem hominum et pro gloria belli atque fortitudinis an-

gustos se fines habere arbitrabantur, qui in longitudinem milia passuum

CCXL, in latitudinem CLXXX patebant.*)

Sieglin, der mich hierauf aufmerksam machte und mir dadurch die

Lösung der Frage in den Mund legte, sagte mir bei einer Besprechung mit

1) Wenn Strabo IV 206 die Lepontii an den Bhein statt an die Rhone bringt, so beruht das wohl auf der üblichen Verwechslung des Oberlaufs beider Flüsse. Vgl. auch Kossinna, Ursprung des Germanennamens p. 287.

2) Plut. Caes. 17 ; vgl. Bell. Gall. 1, 7, 1 ; Klotz a. a. 0. 40. 3) Vgl. S. 473, Anm. 1.

4) [Meiner Ansicht nach sind die Worte qui patebant ebenfalls eine Er- weiterung. Für den Gang der Philippschen Beweisführung ist diese Annahme jedoch ohne jeden Einfluß, da die Erweiterung nach meiner wiederholt be- gründeten Auffassung von einem Kriegsteilnehmer fast unter Caesars Augen erfolgte. Die Annahme, Caesar sei sich eines solchen Widerspruchs nicht be- wußt geworden, gilt mir als Bestätigung uncaesarischen Ursprungs. E. N.]

Die Wohnsitze der Helvetier bei Caesar und in Caesars Quellen. 475

Recht, daß seltsamerweise wohl noch niemand diese Strecke auf der Karte ab- gemessen habe. Die Angaben sind für die Westschweiz, d. h. das Gebiet, das § 3 den Helvetiern zuzuweisen scheint, völlig falsch, stimmen aber fast genau für die Strecke Mainz -Bern in der Länge, Rhein - Regensburg in der Breite. Eier sind die Maße so genau, daß der Zirkel wohl bis Bern, aber nicht mehr bis Genf reicht. Demnach ist innerhalb desselben Kapitels das Gebiet der Helvetier in § 3 auf Grund eigner Kenntnis Caesars auf die Westschweiz be- schränkt, in § 5 auf Grund einer flüchtig benutzten literarischen Quelle un- bekannten Ursprungs auf Württemberg ausgedehnt.

Wir vermögen zu der Quelle der Caesarstelle noch eine Angabe zu machen. Rechnet man nämlich die Maße durch Multiplikation mit S1^1) in Stadien um, so bekommen wir für die Länge 240» 8 */, = 2000 s) Stadien, für die Breite 180 81/, = 1500 Stadien. Das sind derartige Rundzahlen echt griechischer Prägung3), daß sie m. E. deutlich erkennen lassen, wie hier wieder einmal (vgl. VI 24) eine griechische Vorlage benutzt worden ist.

Die Helvetier sind also irgendwann aus Süddeutschland nach der West- scbweiz gezogen, gewißlich vor der Abfassung der beiden Werke des Posidonius über Gallien, dessen frühstes wohl nsgl uxeccvov (Strabo II 94) ist. Die Abfassungs- zeit dieses Werkes hängt von der Auffassung von Strabo II 100 ab. K. J. Neu- mann will Philol. 45 (1886) 386, aus dem Schlußsatz jener Eudoxuserzählung bei Strabo schließen, daß das Werk vor dem Aufenthalt in Spanien abgefaßt ist, oder genauer, vor dem Aufenthalt in Gades. In Spanien, und damit wohl auch in Kadix, war Posidonius kurz vor 90 a. Chr. n.4), unmittelbar nach der Prätur des P. Licinius Crassus 97 94. Daß K. J. Neumann mit seiner Folge- rung einer Abfassung vor dem Aufenthalt in Gades irrt, erkennt sogar sein Schüler Strenger a. a. 0. 33 an und setzt eben auf Grund jener Strabostelle die Abfassung unmittelbar nach dem Aufenthalt in Spanien, zumal die Schrift Ergebnisse dieses Aufenthaltes bereits verarbeitet. Weiter hinunter als etwa 90 können wir nicht gehen, da spätere Ereignisse nicht erwähnt werden.6)

Ich bin der Ansicht, daß bereits Posidonius die Helvetier nicht mehr in den Grenzen Süddeutschlands, genauer gesagt, schon bis nach Bern hin kennt. Nach Posidonius bei Strabo IV 193, VII 293 hatten die Helvetier in den Kimbern- kriegen drei Gaue, von denen die Tigurini und Tougeni6) mit den Kimbern

1) Polyb. 34, 12, 1—3 = Strabo VII, 322: Xoyi&yiivcp Si, ms (ihv oi noXXoi, xo fiiXiov oxzccGtccdiov . . . üoXvßios itgoatifrEig 6xTa6Tccöico dinXB&Qov, o iotiv tqitov Grccdiov . . .

2) Beachtenswert ist, daß Ptolemaeus die Helvetiereinöde von Forum Tiberii im SW. bis Locoritum im NO. auf 2000 Stadien berechnet, also wie Caesars Vorlage. Ich will zugeben, daß ich die Breite des Helvetiergebietes bis Regens- burg nicht erklären kann.

3) Z. B. Skylax 30 (fr. 69 KL), der 500 Stadien als Tagesleistung für den Seefahrer rechnet, Herod. IV 101: *200 Stadien für den Fußgänger.

4) F. Strenger a. a. 0. (o. S. 32, 2) 33 f. 5) [Doch vgl. o. S. 103, 3. E. N.] 6) Caesar Bell. Gall. I, 7, 12, 27 nennt die Tigurini, die 107 die Kömer an der

Garonne schlugen (Mommsen, R. G. III 249), und als weitere Namen die Verbi- geni (I 27, 4), zählt aber vier Gaue. Die Tougeni identifiziert Zeuß (Die

476 V. Beiträge zur Bevölkerung und Kartographie der Schweiz hei Avien usw.

zogen und in Gallien zugrunde gingen: 2/s des Gesamtvolkes waren also in dieser Zeit vernichtet worden. Wenn also bis zu diesem Zeitpunkt auch noch Reste der Helvetier, die, wie von Norden und mir bereits aus zwingenden Gründen bewiesen, schon vor den Zügen der Kimbern in die Schweiz bis Bern vorgedrungen waren und hier neue Sitze gefunden hatten, in Süddeutachland vorhanden waren, jetzt war hier r) r&v 'EXovntlcov ^Q-naog (Ptolem. II, 10, 11) ent- standen, so daß Posidonius, wenn Bell. Gall. VI 25 eine Einlage aus ihm wäre, ver- altete Geographie bringen würde. Ganz abgesehen davon, daß Artemidor notorisch eine von Posidonius genugsam benutzte Quelle ist, kommt sie für die Geographie Galliens, von Apollodorus abgesehen, der einige keltische Stämme nennt, aber nur im Rahmen seiner Chronik, fast allein, soweit wir wissen, in Frage, da es für die Zeit zwischen 146 und 100 etwa weitere Quellen dieser Art nicht gibt, so daß Polybius kurz vor diesen beiden sagen konnte, Europa nördlich Narboa sei gänzlich un- bekannt. Dazu kommt, daß Artemidor auch sonst als eine von Caesar be- nutzte Quelle selbst von Klotz (p. 110 ff.) nachgewiesen ist, insbesondere paßt dazu auch seine mit der Maßangabe im Bell. Gall. I, 2, 5 durchaus übereinstimmende Art der Entfernungsberechnung, die wieder Ptolemaeus benatzt. Da er vor der Anlage der fossa Mariana schrieb, also vor 104, paßt er auch zeitlich für die Helvetiersitze von Bern-Main.1)

Nach den Kimbernkriegen reichten die Helvetier nicht mehr zur Ausfüllung ihres damaligen Gebietes aus. Da uns die griechischen Zahlangaben in Caesar Bell. Gall. I, 2, 5, die der Maingrenze wegen nicht auf Posidonius zurück- gehen können, bereits bis Bern führen, so erfolgte die Einwanderung der Hel- vetier in die Schweiz ebenfalls vor 90, ja vor Artemidor (104/8), den Maßangaben zufolge aber erst bis Bern, statt bis Genf. Es gab also eine Zeit des Überganges,

Deutschen u. ihre Nachbarstämme 225) mit den Teutoni, zumal Strabo IV 138 bei Aix die Teutonen nicht nennt, wohl aber Ambrones und Tougeni. Desjar- dins II 402 setzt Tougeni und Tulingi gleich und nimmt als den 4. Gau die Rauraci ohne Berechtigung, denn die Tulingi sind Ligurer (S. 472), keine Kelten. In Wahrheit wissen wir aus Posidonius bei Florus I, 38, 18, daß die Tigurini an den Alpenpässen warteten, dann verschollen; erst aus Caes. Bell. Gall. I, 12, 4 erfahren wir, daß ein Rest in die Heimat sich retten konnte und bei Aventicum seine Sitze nahm: Mommsen, Schweiz. Nachstud., Hermes 16 (1881) 454 ff. Wenn also die Helvetier vor dem Anschluß an die Kimbern drei pagi bildeten, von denen nach Posidonius zwei vernichtet wurden (Strabo I.e.; Flor. I.e.), so zeigt Caesar, daß es keine restlose Vernichtung war. Caesar kennt vier Gaue, diese aber mit wesentlich anderen Wohnsitzen als zur Kimbernzeit. Nach 1 26, 5 zwang Caesar sie zur Rückkehr in die „alten Sitze" der Schweiz, nur ein Gau, eben der von Caesar als 4. Gau genannte Verbigenus pagus sucht nach I 27, 4 ad ühenum finesque Germanorum zu ziehen, wird aber daran gehindert. Vgl. S. 472, 1. 477, 1. 3. 1) Nach Strabo 183 kennt Artemidor nur drei Rhonemündungen: ifprsfu- Scoqos dh TQLTtroLiov Xiysi. Unbekannt ist ihm also die fossa Mariana, die Marius als einen vierten Mündungsarm von seinen Soldaten anlegen ließ, um sie so wieder nach der afrikanischen Zuchtlosigkeit an Disziplin und Arbeit zu gewöhnen. Die a.v.\ir] Artemidors fällt bei Marc. epit. Peripl. Menipp. 3 (CCM. I) in die 169. Olympiade der Jahre 104/10Ö. Von diesen beiden Jahren ist keineswegs wie üblich 100 zu wählen, sondern 104, denn die fossa Mariana kann 103/2 angelegt sein, also schrieb Artemidor post 104, ante 103/2.

Allmähliche Besiedlung der Schweiz durch die Helvetier. 477

in der wir Helvetier noch bis zum Main, aber schon in der Schweiz bis Bern finden, d. h. Süddeutschland war durch eine Völkerwanderung von seiner hel- vetischen Bevölkerung entblößt worden, deren Reste sich nunmehr auf die Schweiz beschränkten, die sie -schon vor dem Kimbernkrieg bis Bern, jetzt aber allmählich bis Genf besiedelten. Artemidor, oder wem wir sonst die Zahlen in Caesar Bell. Gall. I, 2, 5 verdanken, kennt diesen Übergang, während dessen die Helvetier spärlich noch in Süddeutschland, in ihrer Hauptmasse bereits bis Bern wohnen. Wie auch Norden o. S. 225 fi. nachgewiesen hat, ist die helvetische Einwanderung in die Schweiz bereits vor Artemidors Zeit in der Hauptsache zum Abschluß gekommen.

Meine Annahme, daß das Gebiet von Genf bis Bern erst später eine Beute der wieder erstarkenden Helvetier wurde, die die "Westschweiz also erst nach den Kimbernkriegen völlig besetzten, stützt sich nicht nur auf jene Maßangabe der griechischen Vorlage Caesars, deren Zahlen Ptolemaeus benutzt.

Wer das Gebiet Genf- Bern kennt, weiß, daß es immer die Einfallpforte von der Schweiz aus nach Burgund hin gebildet hat. Es ist ganz gewiß dieses Gebiet ehemals im Besitz der Sequani gewesen, deren Sicherheit am Besitz dieser Einfallpforte hing. Caesar verschweigt gern in seiner nach deutschen Begriffen herzlosen Art, mit der er aus seinen Siegen die Folgerungen zieht, die sich aus Cicero pro Balbo 14, 32 ergeben. So nimmt Caesar auch den Helvetiern das zuletzt von diesen eroberte Gebiet Bern -Genf und gibt den Kanton Waadt den Sequanern zurück: in diesem Sinne sind die „alten Sitze" gemeint, in die nach I, 28 die Helvetier zurückkehren dürfen. Den Kanton "Waadt sieht Caesar nicht als „altes'1 helvetisches1) Gebiet an. An sich ist dieser Vorgang nirgends unmittelbar überliefert, aber tatsächlich ist seit Be- siegung der Helvetier dieser Kanton wieder sequanisch: Aventicum ~ Avenches rv Wiflisburg nennt die Vorlage des Ptolemaeus II, 9,21 im Besitz der Sequaner.8) Zur Befestigung dieses Gebietes, das seiner natürlichen Beschaffenheit wegen den Zugang in die Provence erschließt, wird a. 27 colonia Iulia Equeslris3)

1) Auf den Karten Kieperts und anderer ist die Helvetiergrenze stets un- genau. Wir haben folgende Perioden: I. Helvetier nur in Süddeutschland. II. Helvetier vom Main bis Bern. III. Helvetier vom Rhein bis Bern. IV. Hel- vetier vom Rhein bis Genf. Die Bewohner des Wallis waren nie Helvetier. Im Gegenteil,' die ligur. Tulingi (S. 472) flüchten vor den Nantuates usw. 383 nach Norden, wo wir sie dann im Bunde mit den Helvetiern finden, die die Gegner der Kelten des Wallis sind. Die Zugehörigkeit der VaUis Poenina zu Raetien, also des Rhonetales von Lenk bis zur Quelle zu Raetien bis Marc Aurel (161 180) weist Mommsen nach: Eph. ep. IV 516 (gegen Zippel). Viro- magus, nördlich von Viviscus -Vevey, gehört schon zu Raetien: Mommsen, Schweiz. Nachstudien, Hermes 16 (1881) 491. Das Südufer des Bodensees west- lich von Rheineck und ad fines rechnet zu den Helvetiern. Recht gut gibt die Grenze: Sieglin im kleinen Schulatlas p. 27.

2) Vgl. Tac. hist. I 68; It. Anton. 352; tab. Peut.; not. Gall. IX 4: civitas Elvetiorum Aventicus in prov. Maxima Seauanorum. Amm. Marc. XV, 11, 12.

3) CIL XIII 2, 1 p. 1 ; Mommsen, Schweiz. Nachstudien, Hermes 16 (1881) 489 ; 587 (=Ges. Schrift. V 375). Ebenso nennt Eutrop. VI 17, 2 die Helvetier jetzt Sequaner: is (Caesar) primos vidi Helvetios nui nunc Sequani appelUintur ;

478 V. Beiträge zur Bevölkerung und Kartographie der Schweiz bei Avien usw.

angelegt. Aber auch dafür, daß dieser Kanton bereits vor der Besetzung der Helvetier früher sequanisch war, fehlt es nicht an einem Zeugnis. Plut. Marius 24 berichtet die Gefangennahme germanischer Herzöge durch die Sequaner in den Alpen. Also müssen bereits 102 Sequaner in den Alpen, d. h. im Kauton Waadt, Freiburg und Teilen des Berner Oberlandes gewohnt haben. Die Hel- vetier wohnten also 102 erst bis Bern, -so daß die Kimbern auf ihrem Zuge durch die Schweiz erst auf Helvetier, dann auf Sequaner stoßen. Die Helvetier, im Kampf mit den Sequanern um den letzten, wichtigen Rest der Schweiz, er- klären sich für die Kimbern (vgl. o. S. 235 ff.).

In einen gewissen Zusammenhang zu der Frage nach den Wohnsitzen der vorher behandelten Völker gehört auch noch das irgendeiner geographischen Vorlage entnommene Kapitel Caesar Bell. Gall. IV 10.

Rhenus autem oritur ex Lepontiis, qui Alpes incolunt, et longo spatio per fines Nantuatium, Helvetiorum, Sequanorum, Mediomatricorum, Tribo- corum, Treverorum citatus fertur . . .

desgleichen bekommt seit Diokletian die Südhälfte der Germania superior den Namen Sequania oder Maxima Sequanorum. Sehr wichtig ist auch Ptolemaeus, der (vgl. die Karte) die Sequaner vom Jura bis Aventicum und dem St. Gott- hard ~ Adula ansetzt, also sogar im Kanton Wallis. Demnach sind vielleicht die Kelten im unteren Wallis, die stets Gegner der Helvetier sind (vgl. S. 477, 1), ehemalige Sequaner. Die Tigurini sind vielleicht derjenige Teil der Helvetier, die das Gebiet um Aventicum besetzten. App. Kelt. 16 und Plut. Caes. 18 schei- den diese Tigurini, die a. 107 nicht restlos untergingen (vgl. S. 475, 5), von den sonstigen Helvetiern. Aus alter Feindschaft endlich werden die Sequaner den Helvetiern den Durchzug zur Garonnemündung verwehrt haben, obwohl sie zum ernsten Widerstand zu schwach waren. Beachtenswert ist auch Plut. Caes. 26, wo den Sequanern das Land „vor Italien in Richtung auf das übrige Gallien" zugewiesen wird, also wie bei Ptolemaeus das untere Wallis. Strabo206 nennt Raeter und Vindeliker im 0. und S. der Alpen und läßt sie als Nach- barn an die Ebene der Helvetier und Boier grenzen, auch sollen Vindeliker und Noriker nebst ihren raetischen Nachbarn, den Breuni und Genauni (am Oberrhein), die Länder der Helvetier, Sequaner, Boier und Germanen durch- zogen haben. Dies paßt nur in eine Zeit, wo die Boier noch in den Ebenen Bayerns saßen, die Helvetier in der Schweiz bis Bern, doch nicht mehr in nennenswerter Zahl in Schwaben, die Sequaner in der Südschweiz, da sonst, wenn wirklich der Paß von Bellegarde bereits forciert war, die Raubzüge nicht in den Alpen bei den Sequanern haltgemacht hätten, sondern auch die Ge- biete der Haeduer getroffen hätten. Über frühere Wohnsitze der Helvetier vgl. auch Niese, Keltische Wanderungen, Z. f. d. Alt. N. F. 30, 152; Mommsen, R. G. II 166A.; Much, Beiträge z. Gesch. d. deutsch. Sprache 17, 2. Wir haben also folgendes Bild:

I. Kanton Wallis: ligurisch bis 383. Helvetier in Schwaben bis Main.

IL Kelten (Nantuates) von Genf bis ad fines nach 383. Bund mit den Sequanern gegen die bis Bern vorgedrungenen Helvetier, in deren Gefolge die Tulinger des Wallis und die Rauraker Schwabens. Tiguriner bei Aventicum. Kimbern- krieg.

III. Helvetier stark dezimiert. Gänzliche Räumung Schwabens, Vorstoß von Bern bis Genf, Anmarsch gegen Gallien, Verdrängung der Sequaner.

IV. Caesars Eingreifen. Vernichtung der Helvetier und Rückführung in die „alten" Sitze Bern -Rhein. Sequaner von Genf bis Rhein. Tulinger in der Schweiz, Rauraker bei Basel.

Der Rheinlauf bei Caesar Bell. Gall. IV, 10. 479

Klotz (a. a. 0. 36 ff.) hält es der sachlichen Irrtümer wegen für unecht, doch steht die frühe Einordnung in den Caesartext nach den obigen Bemerkungen (S. 474, 4) außer Frage. Auch interessieren uns hier mehr die geographischen Fehler dieser Vorlage. Der scheinbar schlimmste ist die Beschreibung des Rheinoberlaufes: von den Lepontiern soll der Rhein ins Gebiet der Nantuaten bei Genf, Helvetier und Sequaner strömen. Wir finden denselben Fehler z. T. auch bei Strabo, der p. 194 Helvetier, Sequaner, Mediomatriker, Triboker nennt.

Wenn Klotz zur Beseitigung der Nantuates aus der st- Klasse die Nemdes bemüht, so ist ihm offensichtlich selbst nicht wohl dabei. Denn die Sache wird durch diesen Verlegenheitseinfall keineswegs gebessert der Hinweis auf die Mediomatrici, die 'auch nicht am Rhein wohnen sollen', ist sachlich sogar falsch , denn dann würde der Rhein bei den Lepontiern entspringen, zu den Nemetern am Main kommen, um sodann durch das Gebiet der Hel- vetier und Sequaner zu fließen. Glücklicherweise hat bisher Klotz allein die Nemeter bemüht.

In betreff des Rhone- und Rheinoberlaufes herrschte im Altertum lange die größte Unkenntnis. Ich will nicht auf jene Bifurkationsvorstellungen, die in der Argonautensage eine Rolle spielen, eingehen, aber ich verweise auf Caesar selbst, der I, 2, 3 den Rhoneoberlauf noch nicht kennt (vgl. 473, 3). Genau so unklar wie über den Oberlauf der Rhone, den die Legaten erst 66 fest- stellen und auch dann erst bis Pfin, sind die Nachrichten über den Oberlauf de» Rheines. Kein Geograph des Altertums kennt den Knick des Rheines bei Basel, immer hat der Rhein entweder S.-N. Richtung oder O.-W. Richtung, höchstens nimmt man einen mäßigen Bogen innerhalb dieser Richtung an. Den Rheinfall bei Schaffhausen kennt niemand, so daß man sich schon be- müht hat, die Entstehung dieser Fälle in einer jüngeren Zeit nachzuweisen. Obwohl Tiberius den Bodensee kennen lernt, zeigt doch die Ptolemaeuskarte die hoffnungslose Vorstellung der Geographie dieses Gebietes. Hilflos steht Ptolemaeus, wie oft, dem Wust der einander widersprechenden Nachrichten gegenüber.

Um Ptolemaeus in seiner Arbeitsweise oder Hilflosigkeit zu verstehen, diene zuvor folgendes Beispiel, das ebenfalls unsere Helvetier betrifft. Als diese Helvetier noch bis zum Main wohnten, waren sie auch einmal Nachbarn der Usipiter, von denen das Wisptal bei Lorch den Namen hat, und Tenkterer, über deren Wohnsitze nördlich des Main auch Caesar Bell. Gall. IV 1. 4 keine Zwe ifel läßt. Ptolemaeus zeichnet sie daher, wie ihm eine seiner Quellen angab, als Nach- barn der Helvetier, nur geschieht ihm das arge Mißgeschick, daß er diese Helvetier auf Grund der Angabe einer anderen Quelle einer anderen Zeit in den Schweizer Grenzen wohnhaft einzeichnet. Da müssen die Usipiter wandern und erscheinen plötzlich als Nachbarn der Helvetier in der Gegend von Frei- burg im Breisgau. Ptol. II 11, 6, „Die Tenkterer folgen auf die Sigambrer an der Sieg, dann kommt eine Reihe weiterer Stämme, darunter die Intergi vom Interisgau bei Bacharach und die Vangiones sowie Carilni 'vcp' ovg Oiiiöitol xcci T) x&v 'EXovririav "Equiios jie#(?i xmv ti^rj^iBvcov 'AkTittav ogtav.'

480 V. Beiträge zur Bevölkerung und Kartographie der Schweiz bei Avienusw.

Ptolemaeus findet sich wieder einmal in seinen Notizen, die den verschiedensten Geographen der verschiedensten Zeiten entstammen, nicht mehr zurecht; die Vangiones z. B. haben ihn bereits erheblich südlich des Main geführt, er muß daher Usipiter und Tenkterer trennen, macht die einen zu Nachbarn der in- zwischen verzogenen Helvetier, die anderen läßt er zwar in ihren Sitzen nörd- lich des Main, trennt sie aber von Helvetiern und Tenkterern.

Nach dieser Einführung in des Ptolemaeus Arbeitsweise beschäftigen wir uns mit der Schweizer Karte des Ptolemaeus. Wir betonten bereits, wie die Geographen über den Rheinoberlauf nur wenig wissen. Falsche und richtige Kunde steht ihnen zur Verfügung, die sie zu kühnen Kombinationen benutzen. Sie hören, daß der Rhein auf dem Adula entspringe, können aber mit dieser guten Nachricht nur wenig anfangen, da sie über die Lage des Adulaberges keine gute Kunde haben. So beginnen sie zu raten. Strabo ist ein gutes Beispiel dafür. Während Plinius n. h. III 135 aus eigner Kenntnis die Le- pontü richtig an die Rhonequellen ansetzt, wohnen sie bei Strabo IV 206 ') be- reits weniger genau an den Rheinquellen IV 2042); weiter fallen dann 213 Rhein- und Addaquellen bei Strabo zusammen, VI 292s) Ister und Rhein, IV 1924) sind es Helvetier und Rheinquellen, die plötzlich zusammengehören. Bereits Strabo hat offenbar keine klare Vorstellung mehr aus seinen Vorlagen ge- winnen können. Was macht aber Ptolemaeus daraus?

II 12, 3 TtQog dh xfj uscpaly xov ' Prjvov noxauov Ta^yaLxiov ^Eschenz bei Stein) = 29°20' und 46°15';

Bqiyävxiov <(Bregenz) = 30° und 46°; also entspringt der Rhein hier

aus dem Bodensee wie bei Caesar Bell. Gall. I, 2, 3 die Rhone aus

dem Genfer See.

Derselbe Ptolemaeus, der hier die Rheinquellen am Bodensee sucht, weiß II 12, 1 auch bessere Angaben zu machen: rj}s 'Paixiag v.a\ OvivSsXi-Kiag t) fihv dvö{iixr} 7tlsvQa OQigkxai xs 'Aöovla oqsi xai iisxa^v xäv xsqpal&v tov xs ' Ptjvov xul xov Aavovßlov noxaiiov.

Leider kann er diese gute Vorlage nicht verwerten, denn für ihn liegen nun einmal die Rheinquellen im Bodensee, so muß sein Adula-Gotthard zum Bodensee wandern. So erreicht er alles, denn nun entspringt der Rhein nahe der Donau im Bodensee beim St. Gotthard, wo die Helvetier wohnen. Der eigentliche Rheinoberlauf vom Bodensee bis St. Gotthard fehlt völlig. Auch die Angabe über die Helvetier am St. Gotthard stimmt, so- bald der St. Gotthard zur Rheinquelle bei Eschenz - Taxgaetium kommt,

1) Vgl. S. 474, 1; vgl. hierzu die Nebenkarte der Hauptkarte am Schluß.

2) p. 204: ovx cctho&sv dh xovxav oidh xov 'Prjvov ai itriyai, ovd' 6 'ASoiXag xb ooog, £| ov §£1 xul 6 ' Pfjvog ixl xag cioxxovg v.a\ 6 'ASovag slg xavavxia . , .

3) p. 292: $6x1 dh nlrjOiov avxf]g <^Herkyn. Wald) ' r) xs xov "Igxqov 7cr\yi] Y.a.1 r) xov 'Prjvov xal i] \isxah,v a^icpoiv l.i{ivr} y.al skr} ix xov 'Ptfvov dia%s6[isva <^Bodensee).

4) p. 192: xr\v d'inl ' Prjvco tcq&xoi xäv änävxav olxovaiv ' Elovrjxxioi., itao' olg sleiv ai %r\yal xov noxa^iov iv 'AdovXa oqsi. Vgl. aber die Les- art u S. 482.

Rhein- und Rhonequellen bei Ptolemaeus 431

denn hier bei Stein ist in der Tat die Helvetiergrenze. *) Bei diesen Fehlern bleibt es nicht. Bodensee und Genfer See zeichnet zwar Ptole- maeus noch als zwei Seen, aber ihre Lokalisierung ist falsch, denn die Gradzahlen für die Orte am Ufer dieser Seen stimmen nicht zu den An- gaben, nach denen "er die Seen zeichnet. Auf diese Weise, eine Folge der Verschiedenheit seiner Vorlagen, trennen sich bei ihm die Städte des Genfer Sees von ihrem See:

II, 12, 13 heißt es nämlich weiter (s. o.): {isra de tavxas Ovi6xog <Vevey> 30°15' und 45°50'.

'EßoSovQOv: 30°40' und 45°50'. 'OktöSovqov: 31°20' und 45c40' (Martigny). Die Rhonequellen und den Genfer See zeichnet er II 10, 2: Genfer See: 27° 15' und 45° 15'. Rhonequelle: 28°20' und 44°20'. Wollten wir aus der Lage von Vevey auf die des Genfer Sees schließen und ebenso zu Martigny -Vevey den Rheinoberlauf zeichnen, so fiele Genfer See und Bodensee zusammen, ebenso Rhein- und Rhoneoberlauf, das erste wie bei Apollon. Rhodius, der auch beide Seen verwechselt, das zweite wie bei Caesar Bell. Gali. IV 10, dessen Nantuaten und Lepontier auf den Genfer See und die vermeintlichen Rhonequellen daselbst führen. Ptolemaeus schreckt vor der Gleichsetzung der beiden Seen zurück, aber nun muß er Vevey vom Genfer See und Martigny von der Rhone trennen, die dadurch, daß sich Ptolemaeus hier an die Zahlen seiner Vorlage klammert, mitten ins Gebirge kommen, wie meine Kartenskizze am Schluß zeigt.

Südlich der Rheinquellen, also des Bodensees, folgt dann folgerichtig der St. Gotthard:

Bodensee <Bregenz> : 30° und 46°

Adula <St. Gotthard) : 29° 30' und 45° 15', also südlicher als Octodurus <Martigny> : 31° 20' und 45° 40'. Ptolemaeus versteht es also, ganz geschickt die verschiedenen Angaben seiner verschiedenen Gewährsmänner zu verwerten, freilich ist die entstehende Karte ungeheuerlich. So unsicher und unklar war man noch 150 n. Chr. Ist es da so seltsam, daß Bell. Gall. IV 10 Caesar und seine Vorlage, vielleicht Arte- midor, Rhein- und Rhoneoberlauf ebenfalls verwechseln oder, besser gesagt, sich selbst unklar sind? Gewiß hatte er durch seine Legaten die Bhone von Genf bis Sitten erforscht und von den drei Stämmen bis Leuk etwa ge- hört und dementsprechend berichtet; als ihm jetzt eine andere Vorlage Lepon- tier neben den Nantuaten nennt, merkt er es nicht, daß damit wieder die Khone gekennzeichnet ist. Wer den bisherigen Ausführungen gefolgt ist und sich von dem Banne moderner geographischer Kenntnis frei macht, wird Caesar und seiner Vorlage den Irrtum zutrauen, die Rheinquellen ebenfalls im Genfer See oder nahe dabei gesucht zu haben. Vielleicht überzeugt Strabo 192, 3, wo die

1) Vgl. Norden S. 204 ff. und die Ptolemaeuskarte.

Norden: Die germanische Urgeschichte 31

482 V. Beiträge zur Bevölkerung und Kartographie der Schweiz bei Avien usw.

Rheinquellen ganz folgerichtig im Gebiet der Nantuaten, bei Genf also, zu sein scheinen:

rijv <? inl 'Prjvw itQwxoi rä>v ccnocvtcov oIkovolv AITOTATIOI, Ttug'

ols !i('nv cd %r\yal rov Ttova^iov t'v rü> 'AdovXoc oqsi. Die modernen Straboausgaben haben natürlich den verderbten Namen AITOTATIOI in EAOTHTTIOI umgewandelt. K. Müllers Straboausgabe zeigt auch hier wieder einmal ihren besonderen Wert dadurch, daß sie auf die frühe Casaubonus - Lesart NANTOTATAI aufmerksam macht. Wie wirklich die Varianten lauten, kann ich leider nicht angeben, da der handschriftliche Appa- rat noch immer der Veröffentlichung harrt und auch K. Reinhardt, der künftige Herausgeber, keine Auskunft erteilen konnte. Jedenfalls beruhen die Helvetier nicht weniger auf einer „Konjektur" ala die Nantuaten. Während aber die Helvetier ihre Einsetzung in den Strabotext dem Umstände verdanken, daß die handschriftlich wahrscheinlicheren Nantuates nach der Ansicht des modernen Herausgebers nicht am St. Gotthard und den Rheinquellen wohnen können, scheint mir die alte Lesart begründet zu sein. Ich stütze mich wieder auf die Ptolemaeuskarte. Vergleicht man die Ansetzung des Adula auf der Länge 29° 50' zu der Zeichnung von Vevey und Martigny <30° 15'; 31° 20'>, so führt das unbedingt auf eine Vorlage zurück, die Rheinquellen und Adula- berg westlicher ansetzte als Vevey und Martigny, d. h. der Gotthard rückte etwa in das Gebiet der Nantuates. Daß Ptolemaeus bei der Vielheit und dem Widerstreit seiner Vorlagen den Genfer See ganz anders einzeichnet, setzt nur den in Staunen, der Ptolemaeus nicht kennt. Wer den Genfer See und Vevey trennt, trennt auch Nantuaten und Genfer See. Da Vevey westlicher als der St. Gotthard auf der Ptolemaeuskarte liegt, so kommen die Nautuaten, die östlich von Vevey ihre Sitze haben, folgerichtig zum St. Gotthard, d. h. den Rheinquellen = Bell. Gall. IV 10.

Auf jeden Fall zeigen die Ausführungen, daß den Angaben über den Bhein- lauf Bell. Gall. IV 10 kartographische Vorstellungen und literarische Tradition zu- grunde liegen.1) Die Tatsache, daß Caesars Quelle die Rauraker noch nicht bei Basel kennt, so daß sie in der Völkeraufzählung IV 10 fehlen, daß dagegen die Sequaner genannt werden, die erst Ariovists Leute vom Rheine abdrängten, weist auch auf eine ziemlich frühe Vorlage Caesars. Diese Vorlage Caesars, meiner Ansicht nach Artemidor, verwechselte Rhein und Rhone in ihrem Oberlauf und ließ somit den Rhein bei den Lepontiern entspringen und dann gleich zu den Nantuaten kommen; er erwähnt mit Recht Sequaner am Rhein, läßt die Rauraker mit Absicht aus, nennt richtig die Mediomatriker am Rhein

1) Strabo 192, 193 fließt der Rhein durch das Gebiet der Helvetier, Se- quaner, Mediomatriker, bei denen sich nach p. 194 die germanischen Triboker niederließen. So zeichnet Ptolemaeus. Strabo 194 folgen ebenfalls die Treverer, dann die Nervier und Menapier. Die Nemeter und Vangionen fehlen nicht nur Bell. Gall. IV 10, sondern auch Strabo 193. Diese Zeugnisse vermag ich nicht zu verwerfen, weil wir zu Caesars Zeit die Stämme in anderen Sitzen, bzw. an- dere Stämme, vorfinden. Vgl. auch Kossinna, Ursprung des Germanennamens p. 286.

Seine Saöne Aare und die Kartographie der Schweiz bei Ptolemaeus 433

vor den Tribokern und läßt richtig die Treverer folgen. Vangionen und Nemeter sind zur Zeit der Quelle noch nicht aus Germanien über den Rhein gekommen. Wenn nun der Rhein von den Nantuaten bei Genf per fines Helvetiorum Sequanorum . . . strömen soll, so muß der Rhein-Rhon nunmehr mit der Aare verwechselt werden, die die gedachte Verbindung von Genf bis Basel herstellt. Wir werden sehen, daß in der Tat diese Aare, deren latei- nische Namensform (Axura, Arara, Ararius, Arurius) nicht ßicher ist, aus zwei Gründen eine wahre Fehlerquelle antiker Kartographie ist. Die Irrtümer be- ruhen hier auf den Verwechslungen von Sequana-Seine, Arar = Saöne und Aare, die dann geschickt kombiniert die seltsamsten Vorstellungen zeitigten.

Nach Strabo 192 sollte die Sequana-Seine in den Alpen entspringen, wie der Rhein von S. nach N. strömen (p. 193), also parallel zu ihm fließen (p. 192): (Znxoävagy qsi: d'slg xov dixsavbv 7CaQäX7.r\log rät 'Prjvco dicc i&vovg öiicovvnov. Der Fluß der Sequaner ist der Arar, nicht die Seine, aber der gleiche Name verlegte die Sequana - Seine ins Land der Sequaner. Da nun, wie wir sahen, die Sequaner zeitweise bis an die Alpen (Bern) wohnten, so war es ganz folgerichtig, wenn mit ihnen auch ihr Fluß Arar-S&öne wanderte: Strabo p. 192 J) und Ptolemaeus (vgl. Karte) lassen die Saöne in den Alpen entspringen, was für keinen der beiden Sequanerflüsse, Sequana oder Arar, paßt, aber aus den Wohnsitzen der Sequaner kombiniert ist. Gewiß dachte der Autor des Irrtums hierbei an die Aare, die er mit dem Arar identifiziert. Da weiter diese Aare ~ Arar durch das Gebiet der Sequaner strömte, als diese in der Schweiz vor den Helvetiern wohnten, so finden wir bei Strabo p. 186, 192 und Caesar Bell. Gall. I 12 die Angaben: flumen est Arar quod per fines Haeduorurn et Sequanorum in Bhodanum influit. Man könnte diese Caesar- stelle gewiß auch so auffassen, als wäre die Saöne Grenzstrom zwischen beiden Stämmen, wie sie es sein soll, aber der Wortlaut der oben genannten Strabo- stelle diu t-frvovg byiwvviLOv macht mich bedenklich.2)

Jedenfalls haben die Sequaner als zeitweises Alpenvolk die Seine und Saöne zu Alpenflüssen gemacht, zum Alpenvolk aber wurden sie, da wir sie historisch nur von Genf bis Bern nachweisen können, nicht zum wenigsten in der Vorstellung durch die Verwechslung ihres Flusses ^4rar-Saöne mit Ararius- Aare. Kombinierte man weiter, der Rhein habe die Richtung S.-N. von den Nantuaten bei Genf aus, so folgen in der Tat, genau wie Caesar Bell. Gall. IV 10, auf die Nantuates die Helvetii und Sequani, so fließt in der Tat, wie bei Strabo p. 192 (vgl. 0.), die Seine, d. h. in Wahrheit der Sequanerfluß Aare, parallel zum S.-N. strömenden Rhein durch das Laüd des gleichnamigen Volkes.

Hiermit will ich schließen. Es kam mir darauf an, das allmähliche, frühe Eindringen der Helvetier in die Schweiz, die Verdrängung der Sequamn- als

1) Vgl. oben S. 477 ff. u. Anm. 1 sowie Strabo 1. c: ovroi (Dubis und Arar) {ihy ovv, mg HpTjrca Ttgorsgov (p. 186), &xb twv "AXitscov (statt auf dem Jura oder den Vogesen). . . . aXXog 8'icxlv u^ioicog iv zarg"AXntai rag ariyug i%iov 2Jt]xod- vccg ovoucc.

2) Immerhin schließt sich Strabo p. 186 Caesar an: qh äh xal ö"Aquq ix twv " AX-ntav dgigwv Ziixoavovg ts xal Aldovovg xal Aiyxaoiovg . . .

31*

484 VI. Die ethnographischen Abschnitte Caesars über Suebi und Germani

Folge dieses Vordringens sowie die Kämpfe um das Rhonetal zu kennzeichnen, die die Ligurer zum Bunde mit den keltischen Helvetiern im Kampfe gegen die kel- tischen Nantuates fuhrt. Gleichzeitig stellte es sich heraus, wie stark Caesar literarische Quellen, insbesondere griechische, benutzt und wie die antike Kartographie bei Strabo und Ptolemaeus mancherlei Einblicke auch in diese Vorlagen Caesars gewährt.

VI. DIE ETHNOGRAPHISCHEN ABSCHNITTE CAESARS ÜBER SUEBI UND GERMANI

(DIENST- UND LITERATURBERICHT) (Zu S. 87 ff.) Der große Exkurs des VI. Buches (c. 11 24), der die 6vyx,Qioig von Kelten und Germanen enthält, ist bei Gelegenheit der Schilderung des zweiten Rhein- übergangs eingelegt. Ihm geht bei der Erzählung des ersten im IV. Buche (c. 1,3 3,4) eine kleinere skizzenartige Ethnographie der Suebi voraus. Beide weisen die stärksten Übereinstimmungen auf, jedoch werden die Bräuche im Exkurs oft eingehender begründet als in der Skizze. Beispielsweise:

IV 3, 1 publice maximam putant esse laudem quam latissime a suis finibus vacare agros: hac re significari magnum numerum civitatum suam vim sustinere non potuisse. VI 23, 1 civitatibus maxima laus est quam latissime circum se vastatis finibus solitudines habere, hoc proprium virtutis existimant, expulsos agris finiiimos cedere neque quemquam prope se audere consistere; simul hoc se fore tutiores arbitraniur repentinae incursionis timore sublato.

IV 1, 8 neque multum fmmento , sed maximam partemlacte atque pecore vivunt. VI 22, 1 agri culturae non Student, maiorque pars eorum victus in lade, caseo, carne consistit.

IV 1, 7 privati ac separati agri apud eos nihil est, neque longius anno remanere uno in loco colendi1) causa licet. VI 22, 2 4 neque quisquam agri modum certum aut fines habet proprios, sed magistratus ac principes in annos singulos gentibus cognationibusque hominum quique una coierunt quantum et quo loco visum est agri attribuunt atque anno post alio transire cogunt. eius rei multas adferunt causas (folgen fünf Gründe). Wie sind diese Kongruenzen und zahlreiche andere der Art zu erklären? Diejenigen, die an sukzessive Abfassung der einzelnen Bücher glauben, pflegen dieses Verhältnis der ethnographischen Abschnitte in IV und VI als eine Haupt- stütze ihrer Ansicht zu betrachten, und in diesem Sinne sind sie zuletzt von dem eindringendsten Verfechter dieser Hypothese, Chr. Ebert (Über die Ent-

1) So die Hss.-Klasse ß; incolendi cc. Ersteres ist von A. Klotz, Rh. Mus. LXVI (1911) 629 ff. als richtig erwiesen worden.

Sachübereinstimmungen und Sprachabweichungen 485

Btehung von Caesars Bell. Gall., Diss. Erlang. 1909, 56 ff.), verwertet worden. Nun aber stehen, wie früher (S. 91. 363,1. 365, 1. 474,4) bemerkt wurde, dieser Annahme schwerwiegende Bedenken entgegen, und sie findet, zumal nach der umfassenden Widerlegung durch A.Klotz, Caesarstudien (Leipz.1910, 17fl.), kaum einen Vertreter mehr. Nur die erwähnten Kongruenzen von IV und VI haben noch keine Erklärung gefunden: Klotz übergeht sie, und es ist Ebert in seiner Rezension des Klotzschen Buches (Gott. gel. Anz. 1912, 283 ff.) zuzugeben, daß seine Hypothese so lange nicht als widerlegt zu gelten habe, bis nicht alle seine Gründe als unrichtig erwiesen seien.

Bevor ich meinen Erklärungsversuch mitteile, möchte ich auf zweierlei Erscheinungen hinweisen, die mir besonders merkwürdig erscheinen. In dem Exkurs wird mit keinem Worte auf die Skizze zurückverwiesen.1) Dies ist um so auffälliger, als Caesar sonst in Rückverweisen sowohl innerhalb desselben Buches als auch auf weit zurückliegende Bücher durch Wendungen wie ut supra demonstravimus (docuimus, diximus, mentionem fecimus, commemo ravi) auch bei Kleinigkeiten, die ganz unverhältnismäßig unscheinbarer sind als die er- wähnten, so genau ist (nach den Speziallexika gegen 20 mal im Bell. Gall., sehr oft auch im Bell, civ.), daß ich außer Plinius in der Naturgeschichte keinen Schrift- steller zu nennen wüßte, der darin so gewissenhaft verführe. Die zweite Eigenheit ist folgende. Mit einer Sorgfalt, an der die Absicht unverkennbar ist, geht er hier innerhalb der Sachkongruenzen der Wiederholung gleicher Worte möglichst aus dem Wege. Die angeführten Beispiele bieten eine Reihe von Belegen dafür, denen aus den übrigen sachlichen Übereinstimmungen von Skizze und Exkurs etwa noch diese hinzugefügt seien: multum sunt in vena- tionibus ~ vita omnis in v. consistü; quae res et vires alit et immani corporum magnitudine homines efficit ~ hoc ali staturam, ali vires nervosque confmnari putant; a pueris ~ a parvis; lavarentur in fluminibus ~ in fl. perluunlur ; neque vestitus praeter pelles haberent quicquam ~ pellibus aut parvis renorum tegimentis utuntur (dies alles innerhalb weniger Sätze IV 1, 8 10 <~ VI 21, 3 5). Das ist um so auffälliger, als Caesar, dem hypomnematischen Charakter seiner Commentarii entsprechend, der Wiederholung derselben Worte und Wendungen selbst innerhalb eines kleinen Zwischenraums sonst durchaus nicht aus dem Wege geht.2) Aus beiden Besonderheiten wird jeder den Eindruck erhalten, daß der Schriftsteller im Exkurs bemüht war, die Skizze vergessen zu machen. Warum hat er denn aber, so wird man fragen, die Skizze nicht gestrichen und das Wenige, was sie an ethnographischen Bemerkungen über den Exkurs hinaus aufweist, in diesen herübergenommen? Nur ein Kompositionszwang macht seine Handlungsweise verständlich; es kommt auf den Versuch an, diesen festzustellen.

Die genetische Entwicklung, die zu dem Exkurse in B. VI führte, ist oben (S.84ff.) dargelegt worden: er ist ein reines Literaturprodukt, in den militärischen

1) VI 29, 1 quod, ut supra demonstravimus, minime omnes Qermani atjri culturae student geht auf c. 22, 1 agri culturae non student.

2) Viele Beispiele, besonders aus B. I, bei Klotz, Caesarstudien 6 ff.

486 "VI. Die ethnographischen Abschnitte Caesars über Saebi und Germani

Kriegsbericht äußerlich eingefügt und daher aus diesem, ohne dessen Kontext zu schädigen, lösbar. Ganz anders die Skizze in IV: sie ist mit der Erzählung der kriegerischen Operationen verwachsen. Die Usipetes und Tencteri haben den Rhein überschritten (1, 1). Welches war die causa transeundi (1, 2)? Das Expansionsbedürfnis der Suebi (ib.). Wie kamen diese dazu, ihre Nachbarn zu verdrängen? Sie waren das kriegerischste Germanenvolk, das an den eignen Sitzen nicht Genüge fand und nun auf seine Umgebung drückte (bis 3,2): dieübii, deren Verdrängung ihnen mißlang, haben sie sich wenigstens botmäßig ge- macht (3, 3 f.), aber die.Usipetes und Tencteri erlagen ihrem Drucke. Mit den Worten in eadem causa (wie die Ubii) fuerunt Usipetes et Tencteri, quos supra diximus (4, 1), ist der durch den Rückverweis auf 1, 1 markierte Bericht an seinen Aus- gangspunkt angelangt. Die Festigkeit dieses Gefüges ersehe man auch aus folgender Einzelheit. Der Satz publice maximam putant esse laudem quam latissime a suis finibus vacare agros: hac re significari magnum numerum civi- tatum suam vim sustinere non potuisse (3, 1) wird hier sofort durch ihr Ver- halten gegenüber den Ubii, dann den Usipetes und Tencteri bewahrheitet, während die entsprechende Bemerkung, des Exkurses (s. o.) als eine rein ethno- graphische inmitten anderer steht. Sehen wir nun zu, was in der Skizze von den Suebi berichtet wird, so erkennen wir: sie ist ganz militärisch orientiert. Der Leitsatz, mit dem sie beginnt: Sueborum gens est longe maxima et belli- cosissima Germanorum omnium (1, 3) bezeichnet das Thema. „Aus ihren hundert Gauen zieht jährlich ein Heerbann von je tausend Mann bellandi causa aus, der andere Teil bleibt zu Hause, um dem Ackerbau obzuliegen; durch diesen Wechsel wird weder der Ackerbau noch ratio atque usus belli unterbrochen (1,4 1, 7). Ihre Lebensgewohnheiten1) sind kriegerischer Art: ihnen verdanken sie Kraft, Größe, Abhärtung (1, 8 1, 10). Kaufleute lassen Bie hauptsächlich Dur deshalb zu, um ihnen zu verkaufen, quae hello ceperint (2, 1); auch den Import von Lastpferden2) dulden sie nicht, sondern begnügen sich mit den unansehnlichen einheimischen, die sie durch tägliche Übungen höchst arbeits- tüchtig machen (2,2); ihre Streitrosse richten sie ihrer Kampfesart entsprechend ab; auf Sätteln zu reiten gilt für schimpflich (2,3 2,5). Auch Weinimport ist verboten: er würde sie schlapp machen (2,6). Eine ödzone um ihr Gebiet gilt ihnen als Zeichen ihrer kriegerischen Überlegenheit (3, 1 2). Diese haben die Ubii, dann die Usipetes und Tencteri zu fühlen bekommen ( 3, 3 4, 1)." Im Gegensatze hierzu findet in dem Exkurs keine solche Beschränkung statt : Religion, Geschlechtsverkehr, politische Einrichtungen, Gastrecht werden be- handelt.

1) Genannt wird die Jagd, in der auch die Römer eine militärische Vor- schule erblickten; vgl. VI 21, 3 (im Exkurs) vita omnis in venationibus atque in studiis rei militaris consistit; a parvis labori ac duritiae student.

2) iumenta: es sind, wie auch Meusel bemerkt, nur Pferde gemeint, wie sie für kriegerische Zwecke verwertet wurden. Vgl. VH 12, 3 f. Vercingetorix arma conferri, equos produci iubet, unmittelbar darauf: qui arma iumentaque conquirerent. Man denke etwa an die Fortbewegung der bei Caesar öfters er- wähnten carri, z. B. I 3, 1 iumentorum et carrorum quam maximum numerum.

Militärischer Charakter der Skizze, literarischer des Exkurses 487

Die Skizze ist mithin aus dem Zusammenhang organisch herausgewachsen.1) Damit ist zugleich gesagt: sie gehörte in der Hauptsache dem militärischen Berichte an, den der Imperator am Eride des vierten Kriegsjahres an den Senat sandte. Ich darf den Leser für das grundsätzliche Recht zu dieser Art der Schlußfolgerung auf die früheren Darlegungen (S. 87) verweisen; es trifft sich aber gut, daß der vorliegende Fall noch eine Bestätigung besonderer Art er- möglicht. Caesar beginnt den Bericht mit der Meldung, im Winter hätten die Usipetes und Tencteri in großer Zahl den Rhein überschritten: Usipetes Ger- mani et item Tencteri magna cum multitudine hominum flumen Bhenum trans- ierunt (1, 1); auf die Kunde hiervon sei er aus Furcht vor dem Wankelmut und der Neuerungssucht der Gallier zeitiger als sonst zum Heere gereist: his de rebus Caesar certior factus et infirmitatem Gallorum veritus, quod . . . novis plerumque rebus Student . . ., maturius quam consuerat ad exercitum proficiscitur (5, 1 ff.). Hiermit vergleiche man den Anfang des amtlichen Schreibens Ciceros an den Senat, dem wir oben (S. 88 f.) zahlreiche andere Kongruenzen mit den Caesarischen Commentarii entnahmen (ep. fam. XV 1): regis Antiochi Comma- geni legati primi mihi nuntiarunt Parthoricm magnas copias Euphratem transire coepisse . . . His rebus adlatis, etsi intellegebam socios infirme animatos esse et novarum rerum exspectatione suspensos . . ., sperabam tarnen . . . Ciliciam fir- miorem fore, si aequitatis nostrae particeps facta esset, ob eam causam . . . exer- citum ad Taurum institui ducere. Ersichtlich folgten beide einem traditionellen Typus amtlicher Berichterstattung. Über die Parther brauchte Cicero im Jahre 51 dem Senate nichts Näheres zu sagen; aber über die Suebi nicht die in Gallien eingedrungenen Scharen Ariovists, sondern das Stammvolk im Innern Germanlens wußte im Jahre 56 in Rom niemand das Geringste. Wenn ein so folgenschwerer Konflikt, wie es derjenige war, in den Caesar mit den Usipetes und Tencteri geriet, durch die Suebi veranlaßt wurde, so war es in der Ordnung, daß er dem Senate über dieses Volk nähere Kunde gab. Daher verklammerte er mit den Anfangs- und Schlußsätzen des Berichtes, die soeben ausgeschrieben wurden, die ganz militärisch orientierte suebische Ethnographie. Wir wissen zudem aus einer bereits bei anderer Gelegenheit (S. 93, 1) herangezogenen Rede Ciceros vom Mai des Jahres 56, daß in den Send- schreiben Caesars gerade die vielen neuen Volksstämme, die durch seine Er- oberungen bekannt wurden, Aufsehen erregten: an ego possum huic esse ini- micus, cuius litteris fama nuntiis celebrantur aures cotidie meae novis nominibus gentium nationum locorum? (de prov. cons. 22); cum acerrimis nationibus et maximis Germanorum et Helvetiorum proeliis felicissime decertavit . . . et quas regiones quasque gentis nullae nobis antea litterac, nulla vox, nulla fama notas feeerat, eas noster imperator nosterque exercitus et populi Romani arma per- agrarunt (ib. 33). Übrigens stellt sich der suebischen Ethnographie Caesars die der Nervii zur Seite, nur daß sie, der geringeren Bedeutung dieses Stammes

1) Das gilt für den Konflikt der Suebi nicht bloß mit den Usipetes und Tencteri, sondern auch mit den Ubii, die weiterhin wegen ihres gespannten Verhältnisses zu den Suebi oft genannt werden: c. 8, 3. 11,2. 16,5. 19, 1 f. i.

4§g ^H- Zwei Stationennamen am Niederrhein

entsprechend, kürzer ist: II 15, 3 eorum (Ambianorum) fines Nervii attingebani. quorum de natura moribusque Caesar cum quaereret, sie reperiebat: nulluni esse aditum ad eos mercatoribus ; nihil pati vini reliquarumque rerum ad luxuriam pertinentium inferri, quod his rebus relanguescere anintos et remitti virtutem existimarent ; esse homines feros magnaeque virtutis. So sicher es ist, daß diese Sätze in dem amtlichen Bericht des Jahres 57 standen, so wenig ist es von den teilweise bis auf die Worte mit ihnen stimmenden des Jahres 55 zu be- zweifeln.

Das Ergebnis vorstehender Darlegungen läßt sich kurz so zusammenfassen. Als Caesar im Jahre 52/1 an der Hand seiner jährlichen Dienstbericbte die Commentarii diktierte, beschloß er, dem VI. Buche eine vergleichende Ethno- graphie der Gallier und Germanen als Exkurs einzuverleiben. Nun aber fand sich in dem Berichte über das vierte Kriegsjahr bereits eine ethnographische Skizze der Suebi. Diese bei der Publikation zu streichen war unmöglich, da sie dem Zusammenhang der Kriegserzählung fest eingefügt war. So beließ er beides, Skizze und Exkurs, nebeneinander, gab sich aber bei der Ausarbeitung des Exkurses durch peinliche Änderungen der Worte und Wendungen alle Mühe, die Skizze zu variieren und in Zusätzen zu ergänzen, und war durch Weglassen jedes Rück Verweises im Exkurse auf die Skizze darauf bedacht, den Leser diese gewissermaßen vergessen zu mache n. Der hypomnematische Charakter der Publikation vertrug solche Unausgeglichenheit.

VII. ZWEI STATIONENNAMEN AM NIEDERRHEIN

1. ONOMATOLOGISCHES ZU ASCIBURGIUM MIT EINEM BEITRAG VON TH. SIEBS

(Zu S. 189 ff.)

Was ich über die Geschichte des Ortes zu sagen vermochte, ist im Text (S. 189 ff.) dargelegt worden. Hier handelt es sich nur darum, die Hypothesen, die zur Deutung des Namens vorgebracht worden sind, einer kurzen Prüfung zu unterziehen. Eigne Verantwortung kann ich nicht übernehmen , muß viel- mehr alles dem Urteil von Sachverständigen unterstellen, deren Rat ich für einzelnes eingezogen habe.

Seit J. Grimm (Deutsche Mythol. I 1835, 334) und K. Zeuß (Die Deutschen 1837, S. 7, 2) scheint von den Gelehrten, die sich öffentlich darüber geäußert haben, nicht bezweifelt zu werden, daß Asciburgium „Eschenburg" bedeute. Zeuß weist darauf hin, daß die Esche, der heilige Weltbaum der nordischen Mythologie, seit grauem Altertum ihre Rolle in deutschen Namen spiele: Ptolemaios erwähnt außer dem 'AaxißovQyiov oQog, einem Gebirgszuge im Südosten Germaniens (darüber gleich Genaueres), auch die Ortschaft im Nordwesten, aber mit falscher örtlicher Bestimmung (II 11, 12); ferner 'A6Y.akiyyiov, 'A6%avy.aXig ; später werden genannt Askituna, Ascatruno, Ascfeld, Ascloha (wohl = Elsloo an der Maas unterhalb Maastricht),

Asciburgium = Eschenburg? 489

Ascliebach, Aschaha, Ascapha (= Aschaffenburg).1) Müllenhoff, D. A. II 191 und vor ihm andere 2) wollten Asciburgium, mit Spezialisierung des Begriffs des ersten Wortkomponenten s), „Schiffsburg" deuten auf Grund einer Glosse, über die jetzt ein Artikel des Thes. 1. 1. II 777 (von M. Ihm) folgende Angaben ent- hält: 'ascus (-um?) linter fraxinea, fortasse i. q. bavar. 'asch' „Eschen-Nachen" Lex Sal. 21, 3 si quis navem (ascum et vel ascum habent vel adscribunt ali- quot Codices) . . . furaverit. 21, 4 si quis ascum . . . furaverit (gloss. Est. 'id est scavola i. scaphula).' Diese Bedeutung muß sich, wie ich hinzufügen möchte, im Germanischen lange erhalten haben, denn sie liegt einem Namen der normannischen Seeräuber zugrunde: Adamus Bremensis (XI/XII. Jahrh.), Gesta Hammenburgensis ecclesiae pontificum II c. 29 (Mon. Germ, hist., Script. VII 1846 p. 317): ferunt eo tempore (a. 994) classem pyratarum, quos nostri Ascomannos vocant, Saxoniae appulsam, IV c. 6 (p. 370) ipsi enim pyratae, quos Uli Wichingos appellant, nostri Ascomannos, regt Danico tributum solvunt. Es wäre nun ja ganz hübsch, wenn der Name des Ortes, in dessen Nähe die Legende Odysseus landen ließ, griechischen Ortsnamen mit Nav- entsprechend, diese Bedeutung gehabt hätte; allein diese Annahme Müllenhoffs, die sich noch des Beifalls so angesehener Gelehrter wie Fr. Kauff- mann (in: Beitr. z. Gesch. d. deutsch. Sprache u. Litt. XVI 1892, 224) erfreut, ist doch wohl trügerisch. Wie soll sich das bei Ptol. II 11, 5 genannte 'Aaxt.- ßovgyiov ogog damit vereinigen lassen? Dies war die möglicherweise von einer Ortschaft gleichen Namens abgeleitete Bezeichnung eines Gebirges , dessen Fortsetzung Ptolemaios ib. 7 EovSr\xu oqv nennt (Sudeten, ein keltisches Wort), wahrscheinlich ein Teil desjenigen Gebirgszuges, denDio Cass. LV 1 OvavSaXixa öqt) nennt, auf denen die Elbe entspringe.4) Ja noch mehr.- es könnte der Be-

1) Ich bemerke noch, daß in der Kosmographie des sog. Geographus Bavennas p. 232, 23 (ed. Pinder-Parthey, Berl. 1860) Ascis als oberdeutscher Ortsname genannt wird. Nach den Untersuchungen Mommsens (jetzt Ges. Sehr. V 286 ff.), die von H. Groß, Zur Entstehungsgesch. d. Tabula Peutingeriana (Diss. Berl. 1913) nachgeprüft und in den Hauptsachen bestätigt worden sind, enthält diese Kosmographie zwar in ihren älteren Teilen Angaben aus einer römischen Landkarte des III. Jahrh., aber gerade Deutschland (und Frank- reich) ist nach einer viel späteren Quelle dargestellt und bietet daher eine vom germanischen Standpunkt aus betrachtet wertvolle Menge deutscher Namen. Dazu wird Ascis auch deshalb gezählt werden dürfen, weil unmittel- bar dahinter (p. 223, 1) Ascapha genannt ist, das mit Aschaffenburg identifiziert zu werden pflegt: das Suffix -apha (-afj'a) ist das in vielen keltischen Ortsnamen übliche -apa, das oft auch an germ. Stämme angehängt wurde. Vgl. jetzt auch J. Schnetz, Die rechtsrbein. Alamannenorte des Geographen v. Ravenna, Würzb. 1918, der die Deutung von Ascapha = Aschaffenburg sichert und Ascis auf Asberg i. Württemberg bezieht.

2) Vgl. die Namen bei Stollwerck in der oben S. 189, 1 genannten Schrift.

3) Also etwa so wie im Lateinischen seit den NeoterikernjpJHWS metonymisch für navis gebraucht wird.

4) Aus B. Muchs Deutscher Stammeskunde2 (Leipz. 1905) 56 ersehe ich, daß das „Eschengebirge" von den später eingedrungenen Slawen als 'Jesenik' (von jesen „Esche") bezeichnet wurde. Doch bemerkt J. Partsch, Schlesien I (Bresl. 1896), 332: „Das Askiburgische Gebirge, dessen Name wohl nur zufällig

490 VU- Zwei Stationennamen am Niederrhein

stand nicht nur dieser besonderen, sondern der gesamten Kombination durch ein lautliches Bedenken gefährdet erscheinen. Th. Siebs hatte die Güte, mir seine Ansicht darüber in ausführlicher Darlegung mitzuteilen, die ich hier un- verkürzt wiedergebe.

„Alle überlieferten Formen zeigen in der Kompositionsfuge das i~. So- wohl die Formen der Germania als auch der Historien (IV 33), ferner Ptole- maios (II 11, 12 AöxißovQyiov), die Tabula Peutingeriana (Asciburgia) und der Geograph von Ravenna (IV 12 Asciburgio).

Man hat bisher diesen Namen stets zu dem Stamme germ. *aska- gestellt, der „Esche" bedeutet. Zweifellos ist, daß dieser Stamm nicht nur im Deutschen, soudern sowohl im Westgermanischen als auch im Skandinavischen, also ver- mutlich schon in urgermanischer Zeit, sowohl „Esche"' als auch „Speer11 als auch „Eschengefäß" und „Schiff" bedeutete, denn wir haben diesen Sinn so- wohl für altnord. askr als auch für angelsächs. äse als auch für das Deutsche reichlich bezeugt. Der Name Ascomanni für die Piraten, wahrscheinlich eine Latinisierung des im nord. askmadr angelsächs. äseman vorliegenden Wortes, war weit verbreitet. Ein lateinisches *Ascoburgium oder allenfalls *Ascaburgium konnte also „Eachburg", „Speerburg" oder „Schiffburg" meinen eine Ent- scheidung zwischen diesen drei Bedeutungen wäre uns unmöglich.

Wollte man „Schiff bürg" als Bedeutung annehmen, so müßte man dennoch jede Verbindung des Namens mit der Odysseussage ablehnen, denn es gibt nicht den geringsten Anhalt für die Verknüpfung dieser Sage mit einem deutschen Mythus oder gar mit einem einschlägigen Worte. Der Name Askr kommt (neben Embla) in der nordischen Mythologie, bekanntlich in Voluspä und Gylfaginning vor, wo aus den Bäumen Askr und Embla Odin die Menschen erzeugt; auch erscheint Aske als einer der vielen Beinamen Odins (von einigen als Koseform für Asgautr, von anderen besser als *Ansuko gedeutet) für unseren Fall ist aus all diesem nichts zu entnehmen. Überhaupt ist die Be- ziehung des Wortes gerade auf den Begriff „Schiff", wie gesagt, eine jeder Stütze entbehrende Vermutung.

Alle diese Deutungen aber sind hinfällig, falls sich nicht die i'-Form Ascibiirgiu'ii mit jenem germanischen Worte vereinigen läßt. Ob dieses i statt eines zu erwartenden o oder a der Latinisierung zu danken sein könnte, ver- mag ich nicht zu entscheiden.1) Ähnlich gebildete Formen geben uns keinen Aufschluß und sprechen in keiner Hinsicht dafür, daß i für o eingeführt sei. AuxißovQyiov (Ptolemaios, vgl. Much, Ztschr. f. deutsches Alt. 41, 103ff.) ist ganz unsicher; in dem neben TsvtoßovQyiov (Ptol. II, 15, 3) erscheinenden Teutiburgium (Itin. Anton. 243, 4) und Teutiborgio (Notitia dignit. pag. 91, in

dem des Gesenkes {jesenik = Eschengebirge) der Bedeutung nach sich nähert und in seiner langen Erstreckung wohl völlig den Begriff deckt, den wir seit Melanchthon fälschlich mit dem Wort 'Sudeten' bezeichnen."

1) [J. Schnetz in der vorhin S. 489, 1 angeführten Abhandlung schreibt S. 54.3: „Das i halte ich nicht für ein J-Suffix, da dann in den hierher- gehörigen Namen Umlaut eingetreten wäre, sondern für einen durch phone- tischen Widerstand zwischen sk und b hervorgerufenen Sproßvokal." E. N.]

Agciburgium = Burg des Asko? 491

Pannonien) kann sich, wie ich noch zeigen werde, das i durch germanische Formen erklären; desgleichen in 'AXixavißovgyov und UtiXißovQ'/ov bei Prokop. de aedif. IV 6, 18.

So ließe sich die Verbindung mit „Esche" usw. nur aufrechterhalten, wenn im Germanischen die t'-Form nachzuweisen wäre. Much (a. a. 0. S. 141) setzt kurzweg ein germanisches Wort *Aslti-z „Esche" an (er ändert diesem zu- liebe auch des Ptolemaios 'AßxaXiyyiov in ,A6y.iXiyyiov). Das alles halte ich für ungerechtfertigt; denn altnord. askr ags. äse ahd. ask usw. weisen auf den Stamm *aska- hin. Im Hildebrandsliede freilich erscheint laut üblicher Lesung der Dativ Pluralis als asekim, was an sich einen «-Stamm vermuten lassen könnte; aber daneben kommen laut üblicher Lesung auch die Formen sciltim und scurim vor, für die gewiß niemand einen z'-Stamm wird behaupten wollen; übrigens lese ich in allen diesen Fällen askun, scurun, sciltun, das wie heriun (Vers 3), wortun (Vers 40, neben wortum Vers 9, mannum Vers 28, uambnum Vers 68) ein einwandfreier Dativ Pluralis ist, vgl. Ztschr. f. deutsch. Philol. 29, 412. Daß die hoch- und niederdeutsche Form esche erst eine neue Feminin- bildung nach einem «'-Plural csche zum Sing, asch ist, ist bekannt.

Eine gewisse Ausnahme macht das Altnordische, wo neben dem Stamm *aska- (Nomin. askr) ein neutraler Kollektivstamm *askm- (Notnin. eski) erscheint. "Wäre dieser ta- Stamm auch im Westgermanischen vorhanden (Spuren davon liegen nicht vor), so hätte er in unserer Komposition vermutlich * Ascio-burgium ergeben, wie wir aus Namen wie Inguiomerus Tac, Cariovdlda Tac. (falls es sicher germanisch ist), XccQioßavdrig Zosimus Chariobaud Sid. Ap. schließen. Das vom VI. Jahrh. ab für solche Fälle bezeugte i- der Kompositionsfuge (Chart-, Hart-) schon für des Tacitus Zeit anzunehmen, scheint mir nicht statthaft. Über den indogerm. Stamm *askhw- vgl. Beitr. z. Gesch. d. deutsch. Sprache u. Lit. 26, 295.

Da wir somit die unmittelbare Verbindung des Namens mit germ. *aska- ,, Esche" nicht aufrechterhalten können, vielmehr an der Form aski- durch- aus festhalten müssen, möchte ich hierin den Ersatz eines germanischen *Askin- vennuten. Die außerordentlich zahlreichen Personennamen, deren erstes Glied * ask- iet (Foerstemann, Namenbuch I, 147 ff.), sind, da sie im Angelsächsischen (Ascwine, Äschere usw.) sowie im Deutschen (Askarik u. a.) vorliegen, zum mindesten schon als westgermanisch zu betrachten. Die übliche Koseform althochd. Asko Genit. Askin ist in Ortsnamen (Foerstemann II 1, 211 ff.) sehr reichlich bezeugt; viele von den Ortsnamen, deren erstes Glied zumeist als Adjektiv eslcin „eschen" gedeutet wird, gehören wohl hierher: Namen mit Deminutivformen wie Eskilin-, Eskili- sprechen dafür. Dieser Genitiv der Koseform * Askin- kann nun m. E. auch in Aseiburgium stecken. Der Verlust des n vor dem b ist für spätere Zeiten (Aschinbrun(n)<i>i neben Aschi- VIII. Jahrb., Eskinbah neben Eskibah usw.) sehr häufig bezeugt und scheint mir auch für frühere Zeit glaubhaft; übrigens bätte auch ein *Askim- burgium wohl leicht lautlich als Aseiburgium aufgefaßt werden können. Die sich zum Vergleiche bietenden Formen aus früher Zeit scheinen mir diese Er-

492 VII. Zwei Stationennamen am Niederrhein

klärung zu stützen. Bei Prokop erscheint der Name 2Jrt.lißovQyov ; auf Grund der Deminutivform Stilico dürfen wir eine Koseform *Stilo Genit. * Stilin zu Namen wie ahd. Stillolf usw. annehmen: also „Burg des Stilo". Auch die Form 'Alix.avißovQ-/ov Prokop. dürfte sich in Anbetracht von Namen wie Elkanc (Foerstemann II, 104 ff.) oder heutigem Elken-roth ähnlich erklären; und die Form Teutiburgium (vgl. Much, Beitr. z. Gesch. d. d. Spr. u. Lit. XVII, 218) möchte ich als Komposition deuten, deren erstes Glied eine Koseform Gen. fieuäin- darstellt, während TevroßovQyiov Ptol. eine Wortbildung nach Art von Teutobod usw. zeigt.

Jedenfalls würde meine Deutung den Namen Asciburgium in jene große Gruppe der in allen späteren Zeiten häufigsten Ortsnamenbildungen einreihen, deren erstes Glied die Koseform eines Personennamens ist.

Die gegenüber dem germanischen Femininum bürg- auffällige neutrale Form burgium, die wir in den erwähnten und anderen Namensformen (vgl. z. B. Bsgyiov u. a. : Much, Ztschr. f. deutsches Alt. 41, 136) bei Ptolemaios und Prokopios finden, mag sich vielleicht durch Einfluß eines lateinischen castellum erklären."1)

2. CASTRA HERCULIS (Zu S. 176)

Dies ist der Name einer Station an der von Lugdunum Batavorum nach Noviomagus führenden Straße. Sie wird außer auf der Peutingerschen Karte (Itineraria Romana ed. K. Miller, Stuttgart 1916, S. 43 f.) meines Wissens nur noch bei Ammianus XVIII 2, 4 genannt2) in seiner Erzählung der Maßnahmen, die der Caesar Iulianus im Jahre 359 zur Sicherung der Rheinmündungen traf, indem er die im Jahre 350 von den Franken zerstörten Festungen wieder-

1) [Diese auch von R. Much (Ztschr. f. deutsches Alt. XIX 1897, 113) neben einer lautlich nicht einwandfreien erwogene Annahme von Siebs ist glaub- lich: Quadriburgium begegnet als Stationsname am Niederrhein (Ammianus XVIII 2, 4); eine Ruine dieser Art ist am arabischen Limes erhalten: R. Brünnow und A. v. Domaszewski, Die Prov. Arabia II (Straßb. 1905), 52 ff. Aber der Versuch Muchs, das lateinische burgus unmittelbar ans nvgyog, als volks- tümliches Lehnwort, herzuleiten, ist abzulehnen, da in der späten Zeit, zu der das Wort im Lateinischen auftaucht nicht vor Ende des IL Jahrh. n. Chr. (vgl. die Belege im Thes. 1. 1. II 2250) , der Lautprozeß, der in der alten Sprache anlautendes griech. n zu lat. b hatte werden lassen (vgl. Burrus, buxus), längst erloschen war. Es kann nur germanisches Lehnwort sein, übernommen von der Grenzbevölkewmg am Limes: burgi werden besonders häufig seit Commodus an den Reichsgrenzen erwähnt, vgl. E. Kornemann, Klio VII (1907) 109, 6. Auf den Namen Balovßovqy, d. h. „Walburg", einer germanischen Seherin, der als Rarität ersten Ranges auf einem Ostrakon aus Elephantine etwa des II. Jahrh. n. Chr. durch den Scharfsinn W. Schubarts entdeckt wurde (Amtl. Bericht aus d. Kgl. Kunstsammlungen XVIII 1917, 328 ff., vgl. die wich- tigen Ergänzungen durch E. Schroeder, Arch. f. Religionswiss. XIX 1918, 196 ff.), sei auch hier hingewiesen.] E. N.

2) Civitates occupatae sunt Septem: Castro, Her cutis Quadriburgium Trieensima (Lager der leg. XXX, Vetera) et Novesium, Bonna Antennacum et Bingio. Der Bericht des Ammianus stammt in diesem Teile aller Wahrscheinlichkeit nach aus dem Geschichtswerke des Nicomachus Flavianus: 0. Seeck, Hermes XLI 1906, 506.

CaBtra Herculis in Gelderland 493

herstellte. Aber auch Libanios meint diese Station, wenn er in seiner Leichenrede auf Iulianus (or. 18, 550 R. = II 273, 8 Foerster) von demselben Vorgange sagt: xazißuive [ihr i%' avrbv axEavov, 7toi.iv dh ' HgänXeiav, 'Hpa- xXsovg Zgyov, uvi6xr\. Welcher Hercules mag diesem Orte1) seinen Kamen ge- geben haben? Man könnte versucht sein, an eine Gründung des gegen die Germanen erfolgreich tätigen Kaisers Maximianus zu denken, dem Diocletianus im Jahre 285, als er ihn zum Mitkaiser erhob, das Cognomen Herculius er- teilte, und der daraufhin von seinem Panegyriker Mamertinus (,paneg. X [II] 2 ff.) als neuer Hercules gefeiert wird; legte sich doch nach ihm die Stadt Perinthos den Namen Heraclea Thracum bei (vgl. Mommsen, Ztschr. f. Numiam. XV 1887, 241, 3j. Allein die Stationennamen der Peutingerschen Karte weisen auf einen früheren Bestand als den Ausgang des III. Jahrh. Man wird da- her folgende Kombination vorziehen. Auf vier Münzen des Postumus (258 68) begegnet, einmal die Züge des Kaisers selbst tragend, der Hercules Deu- soniensis.2) Dieser Name ist längst zu einem Ortsnamen Deuso in Be- ziehung gesetzt worden, der in den Chroniken aus Anlaß einer Niederlage der Sachsen im Jahre 370 durch Valentinianus I. (vgl. Ammianus XXVIII 5, 1 ff.) erwähnt wird: Hieronymus p. 246, 25 (Helm) Saxones caesi Deusone in regione Francorum (entsprechend spätere Chroniken). Die Ortsbestimmung von Deuso ist oft versucht worden, es herrscht darüber aber, soviel ich sehe, noch immer kein Einvernehmen. Als erledigt darf gelten die Beziehung auf Deutz, gegen die schon Eckhel, D. N. VII 443 Einspruch erhob, noch ohne zu wissen, daß der alte Name Divitia (keltisch: verkürzt aus Divitiäcum) lautete, der auf einer Inschrift des IV. Jahrh. aus Cöln im Jahre 1888 (Dessau 2784) zum Vorschein kam.8) Gegenwärtig scheint sich Duisburg der Ehre der Identi- fikation zu erfreuen4), ohne irgendwelche Begründung. Demgegenüber muß man m. E. zurückgehen auf des alten Hendr. Cannegieters6) gelehrtes Buch De mutata Romanorum nominum sub principibus ratione, Traj. ad Rhen. 1758, wo der Hercules Deusoniensis auf S. 142 ff. behandelt worden ist; dort heißt es (nach Zurückweisung von Deutz) S. 143: 'ipse existimo Deusonem esse Doesburgum ad Isalam Gelricum oppidum, quod veteres et Dusburgum no- minarunt . . . lllud inprimis est observandum, eo in loco ubi nunc Does- burgum, id est ad Isalam, Saxonum et Francorum confinia fuisse.' Der heu-

1) Einen anderen Ort dieses Namens gab es in Pannonien an der Donau unweit von Aquincum (Alt-Ofen): ad Hercidem castra Itin. Ant. 266, castra Herculis Not. dign. occ. 32, 42 (Sitz der auxilia HercuJensia: zahlreiche In- schriften im CIL 111). Ferner eine Station ad Herculem auf Sardinien (Itin. Ant. 80).

2) Cohen Vls 27 f. Vgl. R. Peter in Roschers Lex. d. Myth. 1 2996. 3017L, dem ich auch weiterhin einiges entnehme; auch Haug, R. E. VIII 611.

3) Erst durch sie wurde bestätigt, daß das bei Greg. Tur. h. Franc. IV 16 genannte Divitia eben Deutz sei. Näheres bei J. Klinkenberg, D. röin. Köln (Kunstdenknüiler d. Rheinprov., herausg. von P. Clemen VI Düsseid. 1906) 352f.

4) F. W. Ohligschläger, Die Deutung alter Ortsnamen am Niederrhein (Ann. d. bist. Vereins für d. Niederrhein 21/22, Köln 1870) 178 f.

5) Er ist den Philologen bekannt durch seiue Ausgabe der Fabeln des Avianus (Amsterd. 1731), eine von Lachmann geschätzte Leistung.

494 VII. Zwei Stationennamen am Niederrhein

tige Ort Doesborgh am rechten Ufer der Yssel liegt in der niederländischen Provinz Gelderland. Nehmen wir diese Identifikation als richtig an, so lehrt ein Blick auf die Karte, daß die Castro, Herculis benannte Station unfern dem Orte Deuso lag, und für diesen ist, wie bemerkt, eine Verehrung des Hercules durch die Postumusmünzen bezeugt.

Mit dem Hercules Deusoniensis hat Cannegieter den Hercules Magu- s an us für identisch erklärt, der viel bekannter als jener ist, da er oft auf Widmungsinschriften aus dem alten Batavenlande1), einmal auch auf einem in Rom gefundenen Altar mit einer Widmung batavischer Reiter der Kaiser- garde vom Jahre 219 genannt wird: darüber sind schon oben (S. 176) einige näheren Angaben gemacht worden. Den Beinamen dieses Hercules hat Canne- gieter a. a. 0. 137 ff. glänzend gedeutet: Mahusenham2) ist mittelalterlicher Name einer Ortschaft bei Duurstede im Gebiet von Utrecht.8)

Es handelt sich also um einen in zwei Ortschaften der unteren Rhein- gegend, des alten Bataven- und späteren Frankenlandes, verehrten germanischen Heros, der von den Römern dem Hercules gleichgesetzt wurde. Meine Ver- mutung, daß die in eben jener Gegend gelegenen Castra Herculis ihren Namen nach eben jenem Hercules trugen, leuchtet wohl von selbst ein. Weiter dürfte es sehr wahrscheinlich sein, daß der Kaiser Postumus, der mehrere Kastelle am rechten Ufer des unteren Rheins hat errichten lassen (hist. Aug., trig. tyr. ö, 4), der Gründer der Station war.

1) Darunter besonders bemerkenswert CIL XIII 8771 ein Votivstein des summus magistratus Batavorum.

2) Ich glaubte der Sache etwas nachgehen zu sollen, da man in neueren Angaben den Namen des Ortes verschieden geschrieben findet. Einzig und allein Mahusenham ist die beglaubigte Namensform, die urkundlich durch das „Groot-Charterboek van Holland" belegt ist, wie man aus Cannegieter S. 140 ersehen kann. Alle anderen Formen, die ich z.B. bei L. J. F. Janssen, De Romeinsche Beeiden en Gedenksteenen van Zeeland (Middelburg 1845) 33 ge- funden habe, und die sich ohne Quellenangaben auch in späteren Schriften finden, sind durch sekundäre Irrtümer entstanden, deren Ursprung man bei Cannegieter S. 163 ersehen kann. Fr. Kauffmann, Hercules Magusanus (in: Beitr. z. deutsch. Spr. u. Litt. XV 1891, 553ff.) stellt eine Etymologie des Bei- namens Magusanus auf, die ich nicht nachzuprüfen vermag; daß ich seiner Deutung auf Thor nicht folgen kann, ergibt sich aus meinen Ausführungen auf S. 179. Da der Hercules Deusoniensis sicher von einem Orte benannt ist, so muß man das- selbe von seinem Ebenbilde postulieren (vgl. Hercules Thebanus, Argivus usw.).

3) Wijk bij Duurstede liegt genau an der Abzweigungsstelle der Lek vom Krummen Rhein. Im Altertum trat das dortige römische Grenzkastell hinter dem nahen wichtigen Hafenplatze Fectio (Vechten; b. o. S. 186. 304, 2) zurück. Um so größer war die Bedeutung des Platzes im frühen Mittelalter (erste Erwähnung in einem Diplom vom Jahre 777 Dorestadum), so daß A. Norlind (Die geogr. Entwicklung des Rheindeltas, Lund-Amsterd. 1912, 14.1) ihn „die Rhein- mündungsstadt par preference" nennt; aber schon nach der Mitte des IX. Jahrh. trat es infolge der Plünderungszüge der Normannen seinen Vorrang an Utrecht ab. Uns Philologen ist die Ortschaft wohlbekannt aus der Sub- scriptio des cod. Vindobonensis des Livius, wo sie Dorostat geschrieben ist (M. Gitlbauer, De cod. Liviano vetustissimo Vindob., Wien 1876, 2 ff., mit wichtigen Bemerkungen über die älteste Geschichte dei Ortes).

495

VIII. ALAMANNI STAMM- UND VOLKSNAME

(Zu S. 409) Der Geograph Ptolemaios kennt sie noch nicht unter diesem Kollektiv- namen, sondern nennt sie nach Einzelstämmen (vgl. Zeuß S. 305). Aber bald darauf, gleich bei ihrem Eintritt in die Geschichte, als sie den Limes über- schritten und von Caracalla im Jahre 213 in Raetien geschlagen wurden, trugen sie schon jenen Namen.1) Über diese Vorgänge besitzen wir den zeit- genössischen Bericht des Cassius Dio LXXVII 13 ff. Ihr Versuch also, die Reichsgrenze zu überschreiten, scheint sie zum Zusammenschluß veranlaßt zu haben. Diesen Versuch haben sie in den folgenden Jahrzehnten öfters wieder- holt. Darüber gab es gleichfalls den Bericht eines Zeitgenossen, des Histo- rikers Asinius Quadratus, der -zur Millenniumfeier Roms im Jahre 248 die tausendjährige Geschichte der Stadt in ionischem Dialekt schrieb und wegen seiner besonderen Genauigkeit für Germanisches von Späteren gerühmt wurde (vgl. o. S, 412). Dieser Bericht ist uns nicht erhalten, aber durch einen glück- lichen Zufall besitzen wir die von Quadratus gegebene Etymologie des Ala- mannennamens. Im VI. Jahrh. nämlich, als das Werk noch eifrig gelesen wurde Stephanos von Byzanz hat es in seinem ethnischen Lexikon vielfach exzerpiert schreibt Agathias 16: ol dh 'AlauccvoL, et ys xqtj 'Aßivico Kova- fioccTa) insod'at,, avögl 'ItaXiooTT] xal rsQuavixa. ig to axgißsg arayeyQauuiva), £,vvrß.vdig elaiv av&gcoTiot. xal utydösg, %a\ rovzo Sivazai avrolg f, incow^iia. Quadratus, der Etymologien überhaupt geliebt haben muß aus seiner „Par- thischen Geschichte" wird von Steph. Byz. s. TiyoavoxeQza eine Etymologie dieses Stadtnamens aus der Landessprache zitiert , erklärte also den Xamen Alamanni als den einer Völkervereinigung: „alle Mannen".2) Die Deutung eines germanischen Volksnamens in antiken Quellen ist eine Rarität ersten Ranges, sie hat m. W. nur noch eine einzige Analogie an dem Namen der Langobardi, der ebenfalls von einem griechisch schreibenden Historiker, aber viel späterer Zeit*), gedeutet wird: Etym. M. s. yivuov' Aoyyißagdoi, tovtso n

1) Freilich heißt es in der vita des Usurpators Proculus (hist. Aug. XXIX 13, 3) Alamannos qui tunc aähuc Germani dicebantur, aber für jene Zeit (etwa 280/1: vgl. Mommsen zum CIL II 3738) stimmt das jedenfalls nicht mehr. In der besonders elenden vita des Usurpators Marius (etwa 268) heißt es gar (hist. Aug. XXIV 8, 11) omnis Alamannia omnisque Grrmayiia. Übrigens be- gegnet Alamannia erst bei den Panegyrikern des IV. Jahrh. und auf der tab. Peut.

2) Vgl. die letzte Diskussion der Stelle des Agathias bei J. Egger, Die Barbareneinfälle in die Provinz Raetien (Arch. f. österr. Gesch. XC 1900) 115 ff., wo die umfangreiche ältere Literatur angeführt ist.

3) Er erwähnt nämlich bereits die Slawen, HxXäßoi. Der Name begegnet (in der Form ZxXavr\roi) nach Müllenhotf II 367 zuerst in einem unter dem Namen des Caesarius, Bruders des Gregorios von Nazianz, erhalteneu Dialog, dessen wahrer Verf. unbekannt, und dessen Zeit umstritten ist; 0 Seeck, R. E. III 1300 setzt ihn etwa Anf. des V. Jahrh., Müllenhotf (dessen Argumente Seeck übersah) erst um 530 Ich vermag keine Entscheidung zu treffen.

496 VIII. Alamanni Stamm- und Volksname

ßa&siccv v%r\vr\v %a\ [mxxquv i^ovxsg. l) Die von Quadratus gegebene Deutung des Alamannennamens'-') ist sprachlich einwandfrei :i); ob sachliche Bedenken gegen die Verwendung eines derartigen Begriffs der „Gemeinschaft" (xoivcovict, communio) für einen Stamm bestehen, vermag ich nicht zu entscheiden, möchte es aber nicht glauben.4)

Wann mag nun der Prozeß der Erweiterung des kollektivischen Stammes- namens zum Volksnamen, also Alamanni im Sinne von Germuni, bei den ro- manischen Nachbarn begonnen haben? Die Besetzung des Elsaß durch die Alamannen erfolgte im Jahre 4556); Sidonius, der das in seinem zum 1. Januar 456 verfaßten Gedichte (7, 373 ff.) berichtet, gebraucht dabei den Namen Alamanni noch durchaus als Stammnamen, denn er nennt daneben die Franci, Saxones, Chatii. Nun wurden die Alamannen im Jahre 496/7 von dem Frankenkönig Chlodwig I. besiegt (angeblich bei Tolbiacum = Zülpich in der Eifel) und ge- rieten im Jahre 536 völlig unter fränkische Oberhoheit.6) Dieser politische Untergang des Stammes scheint also, ganz so wie in den o. S. 406 ff. behandelten Fällen, die Möglichkeit geboten zu haben, seinen dadurch sozusagen frei gewordenen Namen auch zur Bezeichnung eines Volksganzen zu verwenden. Doch dürfte es, bis er sich als solcher durchsetzte, einer geraumen Zeit be- durft haben, wie sich aus folgenden Mitteilungen zu ergeben scheint, die ich H. Morf verdanke: „Wenn man die Stellen, die Langlois in seiner Table des noms propres dans les chansons de geste es sind mehrere Hundert Alemant, Alemaigne vereinigt, nur mit ein paar Stichproben prüft, so sieht man, daß Alemant sowohl als Stammname wie als Sammelname in den Heldengedichten

1) Dieselbe Etymologie auch bei Isidorus IX 2, 95, dann auch bei Paulus Diaconus, Hist. Langob. I 8. Sie ist übrigens in ihrem zweiten Teile umstritten: einige deuten „mit der langen Barte bewaffnet", von germ. bardon, alts. barda ,,Beil": vgl. A. Erdmann, Über die Heimat und den Namen der Angeln (Uppsala 1890) 7 f., doch treten die meisten Kenner jetzt, wie es scheint, für jene andere ein: vgl. M. Schönfeld, Wörterb. d. altgerm. Personen- u. Eigennamen (Heidelb. 1911) 152.

2) Es läßt sich, wie ich glaube, noch bei einem späteren Historiker eine Spur dieser Deutung nachweisen: Zosimos IV 9, 1 xo Pe q^iccvikov aitav . . . öftoös 7tdvrsg to/~s vitb xr\v ' Pa[i,ai(av ßaöilsiccv i7tfj£6ccv %(üQioig, vgl. III 4, 1 iitsl öh xavxa öiSTtoitför} rät Kalöagi . . ., inl xbv xccxcc xov rsg^iccviKOv Ttavxog nccQE6xsvd&xo itolsiLov. Gemeint sind die Feldzüge des Iulianus gegen die Alamannen nach der Schlacht bei Argentorate. Daß ein so kenntnis- reicher Schriftsteller wie Zosimos das namhafte Werk des Quadratus, das noch mehrere Generationen nach Zosimos Agathias zitiert, gelesen hatte, ist selbstverständlich.

3) Das einfache l ist, wie mir G. Roethe mitteilt, lautlich zu rechtfertigen. Die Schreibung mit nn ist besser bezeugt als die mit einfachem n: vgl. darüber meine Bemerkungen, Sitzungsber. d. Berl. Ak. 1918, 107, 1.

4) Ein Kenner wie Schönfeld a. a. 0. (Anm. 1) 8 . verhält sich freilich zweifelnd: „Man könnte auch, anstatt an einen Völkerbund zu denken, die Be- deutung 'die Männer xar' i£,oxrjv' annehmen."

5) Vgl. W. Oechsli, Zur Niederlassung der Burgunder und Alamannen in der Schweiz (Jhb. f. Schweiz. Gesch. XXXIII 1908) 225 ff.

6) Vgl. L. Schmidt, Allg. Gesch. d. germ. Völker (Quellen u. Forsch, z. alt. Gesch. u. Geogr. XXIX 1915) 294ff. (XXX 1918) 506.

Zeitbestimmung der Namenspropaganda 497

des XII. und XIII. Jahrh. gebraucht wird. Ähnlich Tiois. Der Prozeß, der Älemant vom Stamm- zum Volksnamen werden ließ, ist also in Frankreich um 1200 noch nicht abgeschlossen. Jedenfalls aber ist Al&mant schon in all jener Zeit die häufigste Bezeichnung eines germanischen Stammes, die im Epos vorkommt: es sind eben die nächsten Nachbarn. Die Terminologie der früheren Jahrhunderte scheint noch nicht untersucht zu sein. Nach diesen flüchtigen Beobachtungen möchte ich annehmen , daß Alcmant sich erst in französischer Zeit, d. h. nicht vor dem Jahre 1000, zum Generalnamen zu ent- wickeln begonnen hat; vielleicht hat erst die Symbiose der Kreuzzüge den An- laß dazu gegeben." l) Über den Gebrauch in mittelhochdeutscher Poesie schreibt mir G. Roethe: „Walther läßt den wälschen Papst sagen, er habe zwei Almän unter eine Krone gebracht; Gottfried läßt Tristan in Almanje allerlei Abenteuer bestehen und meint jedenfalls ein Land nicht weit von der ScJiampawje, was zu Deutschland stimmt; an anderer Tristanstelle erscheinen die Alamanjen neben Norwegern, Dänen, Schotten und Iren. Bei Wolfram werden im Wille- halm Franzoyse und Alemäne verbunden, im Parzival erscheinen die stolzen Alemäne in einer Aufzählung, die auch sonst deutsche Elemente enthält. Alle diese Dichter sind jedenfalls der Meinung gewesen, daß Aleman, Almanje im Munde ihrer französischen Nachbarn den Deutschen bezeichne. Ob Wolfram und Gottfried in ihren französischen Quellen das Wort so gebraucht fanden und da entnahmen, ist überall zweifelhaft, bei Wolfram zumal recht unwahr- scheinlich. Aber die deutschen Dichter vermeinten jedenfalls sich französischer Ausdrucksweise durch jenes Aleman anzunähern. Sie selbst haben ohne solchen Seitenblick auf romanische Gewährsmänner natürlich nie daran ge- dacht, Älman und Almanje zu brauchen."

1) Fr. Vigener, Bezeichnungen für Volk und Land der Deutschen vom X. bis XIII. Jahrh., Eeidelb. 1901, 102 ff., untersucht nur die lateinischen Quellen. Danach kommt Alamannia bei italienischen Schriftstellern für das ganze deutsche Land wohl zuerst bei dem Lombarden Anselm, dem sog. Peri- patetiker, vor, der unter Beinrich III. (1039—56) schrieb, bei französischen Schriftstellern schon um 1000, und bald danach der Volksname Alemnnni.

Norden: Die germanische Urgeschichte 32

NACHTRÄGE UND BERICHTIGUNGEN.

S. 48,3 Z. 4 v. u. lies: androgyn. S. 52. Für Tac. Germ. 4 habitus quo- que corporum, tamquam in tanto hominum numero, idem omnibus: truces et caerulei oculi, rutilae comae weist mich F. Jacoby auf folgende Verse Iuvenals hin: 13, 164 ff. caerula quis stupuit Germani lumina, flavam caesariem et madido torqueniem cornua cirro? nempe quod liaec Ulis natura est omnibus una, euie bemerkenswerte Kongruenz. Den Stellen für die Gebrauchsweise von tamquam = ut mit folgendem Quantitätsbegriff (S. 52,2) sei hinzugefügt Ovid tr. I 1,17 si quis, ut in populo, nostri non immemor extat. S. 63ff. Poseidonios' Anthropo- geographie: vgl. R. Münz, B. ph. W. 19-20, 282 ff. Die Beziehungen des Aristoteles zu der hippokratischen Schrift de aere sind durch eine Beobachtung H. Schönes, Rh. Mus. LXXIII (1920) 144 f. neu beleuchtet worden. S. 71,3 lies: VII 291. S. 129,2. Die von K. Mengis, D. schriftstell. Technik d. Athe- naeus (Paderborn 1920) 114 ff. vorgebrachten Gründe zugunsten der Kaibelschen Annahme, daß uns das gesamte Werk des Athenaeus in einer Epitome vorliege^ scheinen einer Nachprüfung wert. S. 138,1 cpt,7.av&Qa>7t[a xccl i7tiEiKS ta: A. v. Harnack in: Festgabe f. Kaftan (Tübing. 1920) 113ff. S. 138 f. Germa- nische Gastfreundschaft. Was mir Jacoby über Tac. Germ. 21 schreibt (quem- cumque mortalium arcere tecto nefas habetur, pro fortuna quisque apparatis epulis excipit. cum defecere, qui modo hospes fuerat, monstrator hospitii et comes: pro- ximam domum non invitati adeunt, nee interest: pari humanitate aeeipiuntur), möge hier seiner Wichtigkeit halber unverkürzt Platz finden: „In dem Satze cum defecere aeeipiuntur muß ich etwas spezifisch Germanisches sehen, das eich in der in diesem Buche oft nachgewiesenen Weise in die Motive der helle- nischen Ethnographie kleidet, ohne sich aber auf sie zu beschränken. Über diese Motive TQiyovTus diaTtsiLTtziv (dies ist die Art der Abioi, aber auch der Phaiaken) hinaus geht nämlich 1) der Grund des Sia7ti(MEt.v: cum defecere, also wenn die Vorräte zur Neige gingen, 2) das Mitgehen des Wirtes, nicht um dem Wan- derer den Weg zu zeigen, wie es die Abioi und Phaiaken tun, die dann so- gleich zurückkehren, sondern um nun den Nachbar heimzusuchen, also daß der Wirt jetzt selbst Gast wird, comes hospitii, wovon die hellenischen Stellen nichts wissen. Ich weiß bestimmt, daß dieser Brauch in einigen ländlichen Kreisen Deutschlands bis in sehr junge Zeit existiert hat, kann aber die Quellen und Stellen nicht finden; das Nächste, was ich finde, ist die Schilderung in E. M. Arndts Erinnerungen S. 35 (ed. Kircheisen) über die Gastlichkeit auf den Pommerschen Inseln bei Stralsund, wo auch das non invitati seine Entsprechung hat: eEs war damals überhaupt eine große allgemeine Gastlichkeit auf der Insel, die z. T. noch besteht . . . Man fuhr, wenn der fröhliche gesellschaftliche Trieb aufstieg, unangemeldet zu Nachbarn oder Freunden . . . Dies war etwas so Abgemachtes, daß, wenn z. B. ein oder zwei wohlgepackte Wagen eben angeschirrt standen und abfahren wollten und dann etwa ein dritter Wagen vorfuhr, man diesen umwenden und mit zu denen, die man besuchen

Nachträge und Berichtigungen 499

wollte, fortrollen ließ.' Die mir im Sinne liegenden eigentlichen Belegstellen der Taciteischen Worte werden volkskundliche Kenner Niederdeutschlands leicht nachweisen können.'1 S. 143 f. Daß Tacitus Xenophons Schriften gelesen habe, wird man K. Münscher, X. u. d. griech.-röm. Lit. (Leipz. 1920) 91 ff. nicht zuzugeben brauchen. Die bekannte Kongruenz der Schlußworte von ann. II über Arminius mit denen der Kyrupaedie (12, 1) über Kyros braucht, wie die von mir (Einl. in d. Altertumswiss. ls 446) angeführten, jetzt leicht zu vermehrenden Stellen zeigen, nicht auf direkte Beeinflussung zurückzugehen. Sichere Spuren der X.-Lektüre sind, wie Münschers eigne Nachweise lehren, nach Cicero im Westen des Reiches nicht kenntlich; denn der Jurist Gaius und Hieronymus sind östlich orientiert. S. 178,1. Unter auxilia Celtica sind nach A. v. Domaszewski, Sitzungsber. d. Heidelb. Ak. 1918, 103 die freien Kelten Britanniens (Pikten u. Skoten) zu verstehen, die Postumus im Jahre 256 über den Grenzwall rief. S. 179 Z. 7 lies: Helm. S. 199 Z. 2 u. 4 lies: Ov&llov u.OvXL£ov. S. 199. Fremden- führer: P. Sonnenburg, Rh. Mus. LXXIII (1920) 134f. S. 229 Z. 17 lies: Kim- bern (statt: Helvetier). S. 244,2 (vgl. S. 202,1. 250,1. 2) castra ac spatia (Tac. Germ. 37). Die m. E. irrtümliche Auffassung vertritt K. Schumacher jetzt auch in der Germania II (1920) 78 ff. S. 250 lies: Lagererrichtung. S. 261,2 Etymologie des Ortsnamens Zurz-ach (= ze Wurz-ach): vgl. Würz-burg (beim Anon. Ravenn. IV 26 Uburzis, wo üb graphisch = «7; in Urkunden seit dem "VIII. Jahrh. Wirza-burg u. ä. ; seitdem X. Jahrh. latinisiert Herbipolis), also beide Namen von ahd. würz, das in Glossen mit gramen paraphrasiert wird. V"gL J. Schuetz, Herkunft d. Namens Würzburg, Progr. Lohr a. M. 1916. S. 273. Z. 2 und 14 lies: S. 213. S. 290,4. In den Worten des Plinius n. h. IV. 97 Burcana Fabaria nostris dicta a frugis similitudine sponte provenientiti gibt Jacoby zu erwägen, ob nicht doch die webiger gut bezeugte Lesart multitudine den Vorzug verdiene nach Steph. Byz. s. Aä^iipay.og-'ETteccpQodirog dh Tlitveiav vcp' '0[itJqov xavxi]v %%i]%,f]vai diä toTtitvcüv &%ziv TcXqd'og u. ä. S. 314,2 gens naiio. Vgl. Cassiodor. in Psalm. XCV vers. 7 (Migne 70, 679) gens . . . aliquos potent habere peregrinos, et dum natio dicitur, non advenas complectimur sed tan- tum gentem unius sanguinis indieamus. S. 322 f. Thukydideisches in der ger- manischen Archäologie des (Timagenes-Livius-)Tacitus. Zu Germ. c. 2 ut in licentia vetustatis verweist Jacoby auf Thuk. I 21,2 (hellenische Archäologie) <ag Ttalaia elvca (in Anbetracht, nach Verhältnis des Alters). S. 337,1 nomine invento auch Plin. XXXIII 68. S. 358,2 lies: Platz. S. 362 Z. 2 und Anm. 2 lies: Meuterei. S. 388 f. Germauenname: R. Henning, Z. f. deutsch. Alt. LVII (1920) 266 ff., eine zum Nachdenken reizende Abhandlung. S. 456,1 lies: c. 21. S. 465,2 Stichwortprinzip in Ethnographien: Beispiele aus Am- mianus XXIII 6,75 ff. (Perser), XXXI 2 (Hunnen u. Alanen).

REGISTER

I. ALLGEMEINES

a : Bedeutungsarten der Präposition

323 ff. Ackerbaufrage 84,1. 270 f. aestuarium 'Watt' 296,2 Agatharchides 25. 116. 296, 1 Agathias 14,2. 321. 405. 412 f. 495 Agrimensoren 11,1. 204, 1. 2. 329. 343, 3.

400 Agrippas Weltkarte 12, 1. 151 Alexanderhistoriker 39,1. 62,2. 97. 116.

296, 1. 309, 1 alienus : non alienum videtur 85, 1 Alphabetgeschichtliches 202ff. 215,2 ambactus 126, 2 Anthropologie u. Klimatologie 59 ff.

105 ff. 119. 157 f. Appianus (Quellenkritisches) 67,2. 163,4.

374, 1. 436 f. arae Alexandra 183. ccQXcaoloyla 'Urgeschichte' 46, 1 Ariovist 200, 2. 246, 1 Aristeasepos 18 ff.

Aristoteles 25. 62, 1. 63. 107. 116. 141 Arminiuslieder 273 f. Arrianus, 'Ivdixt) 26 f. Artemidoros 37. 68 f. 466 ff. 476 f. Athenaeus, Schriftstellerisches 72. 129,2.

498

barbari als Volksbenennung 427, 1 Barden u. barditus llöff. 180 ff. Bernstein 34,1. 289. 445 f. Brückenbau 242, 2 burgus 193. 492, 1

Caesar:

Abfassungszeit der Bücher des B. G.

91 f. 364,1. 386,1. 484 f. Berichte an den Senat 87 ff. 438 Ethnographische Exkurse 38. 78. 84 ff. Interpolationen 84, 1. 363, 1. 365, 1.

474,4. 479 Polemik desLivius gegen C. 316 f. 378.

382 f. Welteroberungsplan 95, 1 C.u. das Germanenproblem 251. 361 ff.

416 ff. C. u. Poseidonios 99 f.

Chorographie 10 ff. 400 comites 'Gefolgsleute' 125, 1 commercia 'Faktoreien' 39, 1. 448 confinium 204, 1. 216

Dio Cassius 74. 162. 318. 362,2

Domitius Corbulo in Germanien u. Ar- menien 288 f. 295

Druiden 118,2. 359

Drusus in Germanien 183, 1. 191. 210, 1. 284. 290,3. 300 f. 309 f. 386. 400

£%viy.äv 320 f.

Entdeckungsgeschichte 31 ff.

Ephoros 133,2.3. 140,1. 391,1. 467.

471 iTtiziY.ua 138, 1 Eratosthenes 23. 32. 35. 38. 96. 131.

133, 2. 3. 142 Ethnographie 10 ff. Stilistisches 181 f.

195 f. 457 ff. evalescere 314, 1. 318f. Eudoxos v. Kyzikos 32,2. 443 Experimentalphysik 109

Florus, Historiker u. Dichter 143, 2 Folk-Lore 115

Gastrecht 130ff. 271. 454f. 498 f. Gefulgschaftswesen 124 ff. ysxygacpla 10, 1. 13, 1 Germanicus in Germanien 213. 267, 4.

273. 289. 291,1. 300 Gold 230 ff.

Handelswege 206. 228. 275,2. 440,1.

445 ff. Heerstraßen 240 f. Hekataios 25. 60f. 169. 391 f. 404. 457.

459. 464 Hercules = Donar 173, 3, = Siegfried? 179 f.

Hercules Aegyptius, Galliens usw. 1 7 4 f . ; Deusoniensis , Magusanus 176 ff. 493 f. Eerculis columnae 174, vgl. 184, 1. 300. 470 f. Herodotos 21f. 25 55,1. 181. 458 ! Hippoki ates ksqI asgog 53 f.

Register

501

Homer 13ff. 23. 24 f. 74 f. 98,3. Home- rische Schrift (sog. Diosknrides) 129 f. 135 ff.

humanitas = liberalitas 137, 2, vgl. 498 f.

Indus kelt. Personenname 200, 2 invenire nomen 337, 1. 499 Iuba (Geograph) 392, 1. 435, 1

xägrcc 19, 1

Kataloge von Autoren 111, 1. 147, 3 Kauf leute 200 f. 434 ff. Vgl. Handelswege Kriestsgeschichtliche Berichte 200f. 213. 248. 285 f. 289,2. 434 ff.

Lieder 115f. 165f. 172

Limes 275 f.

Livius 73. 148 ff. 221,4. 232,2. 265 301,1.

317f. 351. 362,2. 378. 381,1. 382f.

386. 400. 413. 468

M antik 118 ff. 165 f. Marinos v. Tyros 35. 285 f 439 f. Münzen 82, 2. 176f. 192, 2. 206, 1. 227 ff. 232. 260. 280 f. 446. 449. 493

natio u. gens 3l4ff. 382 f. 499 Nikolaos v. Damaskus 146., 3 novus orbis 39, 1. 96, 1 numerus militärtechnisch 382, 1

Paulinus v. Pella 455

Periplus d. Roten Meeres 39, 1. 442, 2

Petronius 24, 1

Pfahlbauten 60, 2. 228, 3. 242

q>ileidrj(i(ov 36, 1

Philemon (Geograph) 34, 1

Physiognomiker 113,1. 331,3

Plinius:

Annalen 211 f. 253 ff. 402

Bella Germaniäe 207 ff. 247 ff.

Biographisches 209, 1. 2. 216. 247 ff. 254. tlZ. 281. 300. 309. 310f. 397, 1

Quellenkritisches zur nat.hist. 111,1. 282 ff. 292, 1. 309, 1 Polybios 32. 62. 145 f. 163,4. 165, 1. 443 Pomponius Secundus 209 Poseidonios 25 f. 32,2. 33,2. 35. 59 ff.

98. 105 ff. 116ff. 125. 131f. 135f. 144ff.

ir,9ff. 163 ff. 171,1. 175,2. 197,2.

207,1. 221 f. 224. 229 ff. 234. 237 ff.

366. 371. 431 f. 443. 466 f.

Abfassungszeit einzelner Werke 78,2. 1U3, 3. 475

Lebenszeit 103, 2. 475

Schicksale dea Geschichtswerks 145 ff.

Stil 67, 2. 110,1. 144,4.163,4.238,1. 459 ff.

Postumus (Kaiser) 177 f. 493 f. 499

Prokopios 411

Ptolemaios (Geograph) 35. 38,1. 285f.

439. 479 ff. Pytheas 35. 40. 98, 3. 131 f. 151,1.

296,2.3. 439

Reiseberichte 14 ff. Ringwälle 244,2. 252,2 Rutilius Rufus als Historiker 69, 3. 437,1

Sallastius: geographische Exkurse 37.

145, 2. 411, 2. 471. Prooemien 145,2. Seneca als Geograph u. Ethnograph

28. 35,1. 39,1. 114f. Siegfried 176 ff. 270. Situs = d-eöig 452 f. spatium im röm. Lager 250, 2 Sprichwörter 11 5 f. 138 Strabo 33f. 64f. 106. 146. 152,1. 371

Tacitus: Bildungsstand 38 f. 143 f. 218. 311 Germania: bei den Humanisten 3 f. 142; Publikationsart 28 ff. (s. aber 451, l);Stilistischesu. Künstlerisches 45f. 118,1. 122 f. 127,3. 175. 181,1. 182. 194 f. 202,1.220,2.221,2. 270. 313. 403 f. 457ff. ; Überlieferungsge- schichtliches 193, 3. 451 ff. Quellen- kritisches zu Ann. u. Hist. 211 ff. 264ff. 274. 375, 1

Theophanes v. Mytilene 34. 434, 3. 464, 2

Timagenes 50 ff. 152 ff. 229. 233, 2. 237, 2. 323. 324. 350f. 356. 359f. 366. 371 f. 378. 430

Timaios 184,3. 333 f. 467 f.

T07toyga(picc 12, 1

Tuisto 'Zwillich' 48, 3

Ulixes in Germanien 182 ff., in Gallit'n

186 f. Ur 284. 287 Uxelos u.a. (keltisch) 198 f. 471

Yarro 11,1. 24,1. 111,1. 145. 147,3.

151,1. 161,1. 174. 215,2. 292,1. 298.

296, 2. 326. 343, 3. 348 Victor 328 ff.

Villeuforscbung in Germanien 275 Viriatus 163 ff. Vitruvius u. Varro 111, 1 Völkerwanderung 21,5. 468 ff.

Xenophon 2 2 f. 469

502

Register

IL ORTS- UND VÖLKERNAMEN

Aare u. Nebenflüsse 230 ff. 233,4. 240.

256. 483 Abioi 131 ff.

Abnoba mons 248. 278, 1 Actania (westfries. Insel) 291,2 Adula mons 480 f. 482 Aedui 235 ff. Ägypter 55. 59 f. Aestii 445

Alamanni 259 ff. 426,1. 495 ff. Alanen 22 'AXi^mvsg 16, 4

Aquae Helveticae (Baden) 208. 252. 255 Arar (Saöne) 235 f. 239,1. 244,1. 483 Ascapha (Aschaffenburg) 489. 1 Asciburgium 189 ff. 216. 488ff. Atnatuca Tungrorum (Tongres) 399 Atuatuci 370

Augusta Vindelicum 274 f. Ansteravia (westfries. Insel) 289 f. 291, 2 Avaren 20, 3. 422 Aventicnm (Avenches) 253. 477

Batavi 176 ff. 265 ff.

Bebryäkes (Kelten in Spanien) 391

Belgae 353 ff.

Bodensee 205. 239,3. 480 f.

Boii 264 f. 358

Bononia (Boulogne-suv-mer) 187

Burcana (Borkum) 290,3

Caledonia 155, 1. Caledonicus angulus

(Firth of Clyde) 184, 2 Calisia (Kaliscb) 446 Campine (Belgien) 388 Cannenefates 267, 2 Carnnntum 446 f. Castra Herculis 190. 492 ff. Chatti 177 ff. 265 ff. Chäuci 288. 291 ff. China 440, 1 Condrusi 401 f. Cugerni 192, 1

Deuso (Doesborg a. d. Yssel) 176. 179.

493 f. Divitia (Deutz) 493 Donau 223. 240. 248. 274ff. 278,1 Duurstede (b. Utrecht) 494

Eburones 379 ff. 398 f. Elbe 222 f. 308,3. 489

Fectio (Vechten) 186. 304, 2. 425, 2.

448, 1. 494,3 Fenni 449

Fines, Ad Fines 204,2. 208. 260.401,2.

473 Finisterre, Kap 471,2 Flevo lacus (Zuidersee) 304 f. Flevum, Kastell 284 f. Fossa Drusiana 210,1. 291,2. 304,2 Franken 14, !. 20,3. 178,1. 179. 191.

192,1. 405. 422. 425, t. 426,1.2.

494. 496. Frisii 284. 287, 3. 289. 299 ff. Frisiavnes

384 f.

Gades 32, 2. 475

Gallograeci 157 ff.

Gelduba (Geilep, Heg -Bez. Düsseldorf) 216f.

Genava 233. 243. 472. 476 f.

Germani: erstesVorkommen desNamens 71 ff.; bei Caesar 93 ff.; Anthropolo- gisches 105 ff. 372; Entdeckungsge- schichtliches 151 G. cisrhenani 369 379 ff. G. als kaiserliche Haasgardi- sten 424 '

Glaesaria (= Austeravia, westfries. Insel) 34, 1. 291

Goti 290, 1. 330. 448. 455

Helgoland 470

Helvetii 205 f. 225 ff. 251 ff. 264f. 474 ff. Hercynia silva 98 f. 309f. Hermunduri 2 74 ff.

Iberer 155,1. 163 ff. 408 f. Vgl. Kelt-

iberer u. üretani Indien 39,1. 116. 309,1 Irland 439. 457, 1 Issedonen 19, 1 Italien: Propaganda des Begriffs 321 f.

335 f.

Kelten 82, 2. 83, 3. 9t. 101 f. 103. 113,1. 114.117. 124 ff. 135 f. 140. 198 f. 200,2. 206. 232,1. 241,2. 242. 355ff. 391 ff. 408,4. 471. 472ff. Vgl. Aedui Atua- tuci Bebryäkes Belgae Boii Condrusi Eburones Helvetii Lepontii Morini Nantuates Nervii Rauraci Santones Sequani Treveri Vocontii Volcae

Keltiberer 116. 188

Kimbern 67ff. 219ff. 235ff. 370. 421,4. 466 ff. 476

Langobardi 495 f. Lemannus lacus 472 f. 481 Lepontii 473 f. 480

Register

503

Ligurer 134,1. 203,1. 391,3. 412t. Locus (Luc, Dauphine) 251. 255

Mahusenham (b. Utrecht) 176

iiarcomani 265. 277

Massalia 18, 5. 69, 3. 83. 144. 158. 162.

206 392. 458,1 Moguntiacum 246, 1 Mo'rini 187. 421,3

Kantuates 479. 482 Nervii 370 ff.

Oestrymnides insulae (Kanalinseln) 471

Oretani 391

üuessent (Kanalinsel) 471

Eaetien 204ff. 239f. 275. 278. 477, 1. 3

Rauraci 472, 2

Rbein: Besiedlung des 1. Ufers durch Keltenu. Germanen 355 ff. 379 ff. Ober- lauf 223 ff. 256 ff. 479. Mündungs- gebiet 212, 1. 214, 1. Widmungen an Rhenus 186

Rhone 472 f. 476,1. 479

Santones 257, 1

Sequani 232 ff. 235 ff. 477 f. 483

Skiren 79, 4

Skythen 48 ff. 58, 1. 105, 2. 112 ff. 134,1.

141. 151. 157, 1 Slawen 495, 3 Stratisburgus 192,3 Sugambri 84. 191 f. Suiones 448

Tenedo (Zurzach, Nordschweiz) 241 ff.

253. 256 ff. Texuandri 382 f. 403 Tigurini 475, 6. 477, 3 Treveri 215, 1. 373ff. Tuihanti (Twenthe, Niederland) 425,1.2 Tulingi 472,2 Tungri 2.55,5. 384. 396ff.

Ubii 82. 272 f. 386

Vetera castra 249, 2. 3

Vindonissa 208 f. 240. 247. 251 f. 258 f.

Vinxtbach 204,2

Vocetius mons (Kanton Aargau) 252, 2

Vocontii 251. 254 f.

Volcae 359, 2. 408

Walcheren (Insel, niederl. Seeland) 285, 2 Weichsel 151. 290, 1. 44*. 448 Würzburg (Etymologie des Namens) 499

Zuidersee 298 ff. 425, 1. Vgl. Flevo lacus Zurzach 239 ff. 256 ff. 499. Vgl. Tenedo

III. STELLENREGISTER

Albinovanus Pedo b. Seneca suas. 1,15:96,2. 300,1; b. Seneca de ira 1115:115. 1, vgl. 162, 1 Ammianus Marc. XV 9: 60 ff. 163,2. 175. 356

XVIII 2, 4 : 492, 2 XXIII 6 : Ulf. XXXI 2 : 335 Aristoteles Politeiai 116, 4. 129, 2. 458 Athenaeus I 11 Fff. : 136

IV 153 E : 71ff.

V 211 Eff. : 72,2

VI 233 Z : 230

Avienus ora mar. 225, 2. 356, 2. 391, 1. 391 f. 470 f. 472

Baeda hist. eccl. V 9 : 426, 2

Caesar B. G. I 1 : 325. 347. 365 f. 385 f. 2,5 : 474 f. 29 : 206 31 H3 : 89 37,3 : 246 f. 39 f. : 80

II 4 : 353 ff.

IV lff. : 484 ff.

3.3 : 81f.

6.4 : 380 f. 7,3 : 181,1 10 : 478 ff.

V 14, 2 : 84, 1 24, 3 : 40$, 4

VI Uff. : 85 ff. 484ff. 17, 1 : 53. 101 24 : 359 32, 1 : 3>2f.

Cassiodorius Var. V 2 : 448 Cicero de div. I 79 f. : 119 f. de prov. cons. 22 32 f. u. 81 : 93, 1. 96,1. 97, 1. 487 ep. fam. XV 4 : 90, 1 XVI 1. 2 : 88 f. 487 Claudianus in Rufin. I 123 ff. : 186f.

Biodor V 25 ff. : 461 f. 28 : 136 f.

Florus I 37. III 3, 13 : 73. 155. 159

457

Pis.

504

Register

Galenos de plac. Hipp, et Plat V 5 : 107,1 Geminos isag. 6, 15 : 98, 3

Herodotos I 131 ff. : 127. 463 201 f. 215 f. : 464 II 33. 35 : 59 f. 391

IV 5 ff. : 48 ff. 28 ff. : 53 108 : 52

V 7 : 53

Hieronymus comm. in Pauli ep. ad Gal. 3,1 : 161,1 ep. 123 : 420 f. Hippokrates de aere 2. 4. 5 f. 12. 14 f. 18 f. : 54 ff. 59 f. 100. 105, 2. 108. 156,1 Homer B 653 ff : 16

I 70 mit Schol. : 128 f. N lff. mit Schol. : 130 ff. a 3 : 13 i 39 : 17 f. Horatius sat. I 6, 77 f : 52, 2, vgl. 498

Inschriften 38,1. 176f. 186. 191. 198.

202 ff. 208. 225,3. 249,1. 257 ff. 285,2.

287, 3. 373. 382, 1. 386, 2. 401. 424 f.

427,1. 493 Josephus Arch. I 1 : 348

XIX 1, 15 : 157, 1 Bell. II 16,4 : 419,1 IV 10,1 : 212,3,

Iuvenalis 13, 164 ff. : 498

Lex Salica XLI 1 : 427, 1 Livius I passim : 168

XX 317

XXXVIII 12 ff. : 166 ff. 18 ff. : 244,2. 269,2 LH— LIV : 166 LXVHf. : 246,2 CHI ff. : 150 f. 163. 317 CXLII : 310 Lucilius 1318 : 289, 1

Mela III 5, 8 : 200, 2 24 : 305, 1. 308, 2

Piaton Ges. V 747 DE : 61, 3

Phaid. 59 DE : 458, 3 Plinius nat. hist. II 14 ff. : 310,1

III 25 : 391

IV 79 : 278 96 : 290 f.

101 : 303,2 105 f. : 272 106 383 f.

VI 112 : 299

VII 21 : 309, 1

210 : 215

X 53 f. : 288

XI 126 : 284 XIT lff. : 292,1

21 ff. : 309,1 XVI lff. : 292ff. 203 : 308 237 : 215, 1

XVIII 1 ff. : 292, 1

XIX 90 : 217

XXI lff. : 293,1

XXII 8 : 288 XXXI 9 ff. : 397.1 XXXIU 8 ff. : 269f. .

42 ff. : 281 XXXV 169 : 250 XXXVII 42 : 289 f. 45 : 445'f. Marcellus 20 : 120 Plntarchos Marius 11: 87 f. 98. 156. 221,4. 466 f. 24 : 232f. 478 26 : 165 quaest. conv. VII 9 : 129, 2 Polybios II 17,12 : 124 f.

IV 21, 1 f. : 62,3 Prokopios bell. IV 20, 2 : 411 f.

VI 15 : 449 Propertius IV 3,35 ff. : 12, 1

Seneca Med. 712 f. : 446,5

nat. qu. VI 8, 3 : 444 Sidonius 7, 372ff. : 330f. 496 Silius III 344 ff. : 165 f. 'Skjmnos' 188 ff. : 471 Strabo I 100 : 32, 2

III 19S : 81

IV : 152 f. IV in. 365 f.

192 : 235 ff. 481 f. 483

193 : 229. 475

194 : 242,2. 370 f.

195 : 114

VH 290 : 81. 292 f. 468f. 291 : 71,3

293 : 224. 229. 475

294 : 123

295 ff. : 131 f. XI 512 f. : 464,2 XV 694 :. 309, 1 XVII 834 : 185

Symmachus ep. IV 18 u. 36 : 210, 3

Tacitus Agr. 24 : 457, 1 44 : 331, 3

Register

505

Ann. I 51 : 285,2

56 : 214, 1. 244, 2

60 : 302

61 : 249,2

63 : 277, 1

64 f. : 214,1

69 : 212 f. 272 f. II 8 : 302 f. 44—46 : 2<38 f. 60 : 172 2. 176

62f : 269. 280,2. 286.3. 446,2 £8 : 149,1. 273 f. 499 IV 44 : 277 72 : 281 f. VI 6 : 144 XI 14 : 215, 2

18—20 : 288 f. 308 f. XIII 53 f. : 303 Germ. 1 : 248. 278 f. 2—4 : 42 ff. 498 f.

5 : 279 ff.

6 : 214,1

9 : 173. 457 10 : 124,2 12 : 182, 1 13 f. : 124ff. 15 : 101, 1. 316f. 2 t : 134 ff 454 ff. 498 f. 22 : 111. 127 ff. 140 25 : 461,1

28 : 225. 264 f. 272 f. 374. 378 30f. : 111. 268ff. 456,1

33 : 149, 1

34 : 173 f. 299 f. 470

37 : 219 ff.

38 : 316

39 : 127,3 43 ff. : 442 ff. Hist. I 8 : 62, 2

67—69 : 251 ff. 269

III 5 : 302, 2 35 : 375, 1

IV 12 : 266

14f. : 214,1. 266,2. 271,2. 402f.

15 : 3^4

17 f. : 267. 271,2 22 : 249, 2.3

26 : 216 f.

28 : 272. 390, 2

32 f. : 216 f.

61 : 269

64 : 277 f.

72 f. : 216. 248,3

76 : 420

78 : 249, 3

V 7 : 273,1

16 : 299,1

17 : 271,2 19 f. : 212, 1

27 : 267 Theophylaktos VII 8 : 422 f Thukydidee I 3 : 31 9 f.

6 : 141 VI 2,2 : 167 f.

Varro de 1. 1. V 8 : 127, 3 Velleius II 8, 3 : 224

107 : 308, 3 Vitruvius VI 1 : 106 ff

Xenophon Anab. IV 7, 1 f. : 244, 2

Zoaimos III 4, 1. IV 9, 1 : 496,2

Norden: Die ^onnanim;);e Urgnichichto

32

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