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DIE GESCHICHTE

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DER

NEUEREN PHILOSOPHIE

IN IHEEM ZUSAMMENHANGE MIT

DER ALLGEMEINEN KULTUR UND DEN BESONDEREN

WISSENSCHAFTEN

DARGESTELLT VON

WILHELM WINDELBAND

PEOFESSOE IN HEIDELBERG

ZWEITER BAND

VON KANT BIS HEGEL UND HERBART

FÜNFTE, DURCHGESEHENE AUFLAGE

LEIPZIG

DRUCK UND VERLAG VON BREITKOPF & HÄRTEL

1911

DIE BLÜTEZEIT

DER

DEUTSCHEN PHILOSOPHIE

yON

WILHELM WINDELBAND

FÜNFTE, DURCHGESEHENE AUFLAGE

LEIPZIG

DRUCK UND VERLAG YON BREITKOPF & HÄRTEL

1911

MAY 2 7 1942^

Copyright 1911 by Breitkopf & Härtel, Leipzig. Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten.

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Aus dem Vorwort zur ersten Auflage.

Der zweite Band dieses Werkes enthält noch nicht, wie ich ursprünglich beabsichtigte, den Abschluß. Der Grund da- von liegt in den Schwierigkeiten, welche der noch fehlende Teil des Gegenstandes bereitet. Nachdem ich mich überzeugt hatte, daß noch Jahre vergehen können, ehe ich meinen Plan zu Ende zu führen in der Lage sein werde, habe ich es jetzt vorgezogen, denjenigen Teil, dessen Quellen mir schon lange vollständig zu Ge- bote standen und dessen Darstellung bereits abgeschlossen war, gesondert zu veröffentlichen. Ich glaube mich dazu um so mehr berechtigt, als nun diese beiden Bände die Geschichte der neueren Philosophie bis zu dem Punkte umfassen, bei welchem auch der größere Teil der bisherigen Darstellungen abschließt und über welchen hinaas nur skizzenhafte Umrisse der neuesten Entwicklung vorhanden sind. Alles, was im eigentlichen Sinne »der Geschichte angehört«, ist in diesen beiden Bänden enthalten: der dritte Band wird es mit der historischen Darstellung derjenigen Bewegungen zu tun haben, in denen wir noch gegenwärtig stehen.

Weiterhin fand ich eine Berechtigung zur gesonderten Heraus- gabe dieses Bandes in dem Umstände, daß der Inhalt desselben, die große Periode der deutschen Philosophie von Kant bis Hegel und Herbart, ein sich gewissermaßen von selbst aus der geschicht- lichen Bewegung heraushebendes und in sich abschließendes Ganzes

VI

Vorwort.

bildet. Je mehi' dem Bewußtsein der Gegenwart das Verständnis für die geistige Größe verloren zu gehen droht, welche jener Zeit trotz aller Irrtümer und Mängel der einzelnen Lehren den unver- gänglichen Wert, der Höhepunkt des modernen Denkens zu sein, aufprägt, um so wertvoller mußte für die historische Darstellung die Aufgabe erscheinen, den tiefsten und bleibenden Gehalt jener gewaltigen Entwicklung in seiner reinen Gestalt hervortreten zu lassen.

Freiburg i. B., Mai 1880.

Inliult.

IL Teil. Die Kantische Ptiilosophie.

Seite

§ 57. Kants Leben und Schriften 4

§ 58. Kants philosophische Entwicklung 16

§ 59. Kants theoretische Philosophie 51

§ 60. Kants praktische Philosophie 112

§ 61. Kants ästhetische Philosophie 164

IIL Teil. Die nachkautisclie Philosophie.

L Kapitel. Die systematische Entwicklung der deutschen Philosophie

nach Kant.

§ 62. Die ersten Wirkungen der kritischen Philosophie 190

§ 63. Der ethische Idealismus (Fichte) 210

§ 64. Der physische Idealismus (Schelling und die Naturphilosophie) . 241

§ 65. Der ästhetische Idealismus (Schiller und die Romantiker) .... 262

§ 66. Der absolute Idealismus (Schellings Identitätssystem) 287

§ 67. Der religiöse Idealismus (Fichte und Schleiermacher) 301

§ 68. Der logische Idealismus (Hegel) 316

§ 69. Der Irrationalismus (Jacobi, Schelling, Schopenhauer, Feuerbach) 355

^ 70. Die kritische Metaphysik (Herbart) 394

§ 71. Der Psychologismus ^Frie3 und Beneke) 416

B

193 .VV5

§

1.

§

2.

§

3.

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4.

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6.

§

6.

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7.

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8.

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9.

I II ll u I t.

Einleitung. snt.

Die innere Auflösung der Scholastik 3

Die Kultur der Renaissance 8

Die Erneuerung der antiken Philosophie 12

Die religiöse Reformation 25

Die deutsche Mystik 27

Die neue Rechtsphilosophie 34

Die Anfänge der Naturwissenschaft 41

Das Zeitalter der Entdeckimgen und Erfindungen 65

Die Gliederung der neueren Philosophie 59

I. Teil. Die Yorkantische Philosophie.

I. Kapitel. Die italienische Naturphilosophie.

§ 10. Bernardino Telesio 62

§ 11. Francesco Patrizzi 65

§ 12. Giordano Bruno 68

§ 13. Tommaso Campanella 80

§ 14. Galüeo GaUlei 88

II. Kapitel. Die deutsche Philosophie im Reformationszeitalter.

§15. Die Reformation und die Philosophie 95

§ 16. Die protestantische Schulphilosophie und ihre Gegner .... 98

§ 17. Die Mystiker 103

§ 18. Valentin Weigel 108

§ 19. Jakob Böhme 111

III. Kapitel. Der englische Empirismus.

§ 20. Der erkenntnistheoretische Charakter der neueren Philosophie. 126

§ 21. Francis Bacon 130

§ 22. Thomas Hobbes 148

Inhalt.

Seite IV. Kapitel. Der Rationalismus in Frankreich und den Niederlanden.

§ 23. Frankreich nach der Reformation 163

§ 24. Rene Descartea 166

§ 25. Die Cartesianer und die Occasionalisten 194

§ 26. Baruch Spinoza 200

§ 27. Nicole Malebranche 240

V. Kapitel. Die englische Aufklärung.

§ 28. John Locke 253

§ 29. Die Moralphilosophie 273

§ 30. Der Deismus 287

§ 31. Die mechanische Naturphilosophie 299

§ 32. Die Assoziationspsychologie 310

§ 33. Der Spiritualismus Berkeleys 318

§ 34. David Hume 330

§ 35. Die schottische Philosophie 357

VI. Kapitel. Die französische Aufklärung.

§ 36. Der Mystizismus 369

§ 37. Der Skeptizismus 373

§ 38. Die mechanische Naturphilosophie 382

§ 39. Voltaires Philosophie der deistischen Aufklärung 385

§ 40. Der Naturahsmus 393

§ 41. Der Materialismus 400

§ 42. Der Sensualismus 407

§ 43. Die Moral-, Rechts- und Gesellschaftsphilosophie 414

§ 44. Die Enzyklopädisten 420

§ 45. Das Systeme de la nature 428

§ 46. Jean Jacques Rousseau 435

VII. Kapitel. Die deutsche Aufklärung.

§ 47. Deutschland im XVII. Jahrhundert 448

§ 48. Leibniz 454

§ 49. Tschirnhaus und Thomasius 505

§ 50. Wolff und seine Schule 514

§ 51. Der Deismus 637

§ 52. Lessing 644

§ 63. Die eklektischen Methodologen 665

§ 64. Die empirische Psychologie 569

§ 65. Die Popularphilosophie 582

§ 56. Hamann und Herder 690

ÜJUMII

II. Teil. Die Knntisc^lio IMiilosopliio.

Von mannigfaclien Ausgai\j];spunkten her hat sich das moderne Denken entwickelt; in der ganzen Breite des europäischen Kulturlebens angelegt, hat es alle Motive daraus zu bewußter Ge- staltung gebracht, und wenn auch der gemeinsame Zug einer inner- lichen Verselbständiofunff der vernünftioen Erkenntnis durch alle diese Bewegungen hindurchgeht, so ergab sich doch von selbst, daß, den besonderen Veranlassungen und Beziehungen entsprechend, jede dieser Bewegungen zunächst sich selbst auslebte und in ihrer ganzen Eigentümlichkeit ausprägte. Zwar war es dabei durch die Natur der Sache und durch den Zusammenhang des geistigen Lebens geboten, daß in der vielfältigsten Weise diese verschiedenen Richtungen sich durcheinanderflochten, und daß hervorragende Geister allerorten diese Zusammengehörigkeit durchscliauten und befestigten. Aber es bedurfte erst jener weitschichtigen Durch- arbeitung und jener allmählichen Ausgleichung aller dieser Ge- dankenmassen, welche sich im Jahrhundert der Aufklärung vollzog, ehe ein Geist erstehen konnte, der mit vollständiger Beherrschung die innerste Struktur ihres Zusammenhan2;es in einem umfassenden Systeme zur Klarheit und zur Darstellung brachte. Dieser Geist ist Kant, und darin eben besteht seine historische Stellung, daß sich in ihm alles, was an bewegenden Prinzipien das moderne Denken vorher erfüllt hatte, zu lebendiger Einheit konzentriert, und daß alle Fäden des modernen Denkens, nachdem sie durch die schwierige Verschürzung seiner Lehre hindurchgegangen sind, in durchaus veränderter Form wieder daraus hervorgehen. Die große Gewalt, welche Kant über die philosophische Bewegung zu- nächst seiner Zeit ausgeübt hat, liegt vielleicht am meisten iu

Windelband, Gesch. d. u. Philos. II. 1

2 Kant.

der unvergleichlichen Weite seines geistigen Horizontes und in der Sicherheit, womit er das Nahe und das Ferne von seinem Stand- punkt aus überall im richtigen Verhältnis zu sehen wußte. Es ist kein Problem der neueren Philosophie, das er nicht behandelt hätte keines, dessen Lösung er nicht, selbst wo er es nur gelegentlich streifte, das eigenartige Gepräge seines Geistes aufgedrückt hätte. Aber diese Universalität ist nur der äußere Umriß und noch nicht der Kern seiner Größe ; dieser liegt vielmehr in der bewunderungs- würdigen Energie, mit der er die Fülle des Gedankenstoffes zur einheitlichen Durchdringung zu bringen und zu verarbeiten ver- mochte. Weite und Tiefe sind in seinem Geiste von gleich be- wunderungswürdiger Größe, und sein Blick umspannt ebenso den ganzen Umfang der menschlichen Vorstellungswelt, wie er an jedem Punkte bis in das Innerste dringt. In dieser Paarung sonst selten vereinter Eigenschaften liegt der Reiz, welchen die Persönlichkeit und die Werke Kants immer ausgeübt haben, und der ihn unter den Philosophen stets den ersten Platz einnehmen lassen wird.

Darin zeigt sich zugleich das eigentümliche Verhältnis, worin sich Kant zum Zeitalter der Aufklärung befindet. Insofern als alle philosophischen Bestrebungen, welche dieses erfüllen, in seiner Lehre irgendwo ihren Platz und zugleich ihre deutlichste Formu- lierung finden, ist er der größte Philosoph der Aufklärung selbst und ihr allseitiger und kräftigster Repräsentant. Insofern aber als dabei jedern dieser Gedanken sein Verhältnis zu den übrigen an- gewiesen und so ein gänzlich neuer Zusammenhang des Ganzen geschaffen wird, erhebt sich die Kantische Philosophie über jede Einseitigkeit, die der Aufklärung in ihren einzelnen Richtungen angehaftet hatte, und beginnt damit eine neue, der Aufklärung teilweise sich entgegenstellende Periode des deutschen und in der weiteren Wirkung des europäischen Denkens. Kants Lehre ist der Punkt, an welchem die Entwicklungslinie der Aufklärung kulminiert und damit aus ihrem Aufstreben in die absteigende Bahn zurück- fallt; sie ist der Abschluß der Aufklärungsbewegung und eben des- halb zugleich die Vollendung und die Überwindung der Aufklärung. Sie hat diese Doppelstellung vor allem dadurch, daß sie von dem Recht der Vernunft, die Welt mit ihrer Einsicht zu durchdringen und das Leben danach zu gestalten, bis an die äußerste Grenze Gebrauch macht und, indem sie sich darüber

Verhält nin zur AiifklKninj?. '.\

K(M*hoiisrliaft i^ibt, rlx'ii dios«» Grenze be^ifflich be.stiiinnt, jonneitH (Inrii (li(^ inatioiialen Momente den Lebens ihr Reich haben.

Eine so dominiereiuleStellun«^ auf der Höhe eine« großen kultur- historischen Prozesses kaini dw IMiilosoph nur dadurch einnehmen, daß es ihm jjjegeben ist, mit schöpferischer Or^^anisation die Ide^^n der Zeit zu einem geschh)ssenen Ganzen zu «gestalten, und diese organisierende Kraft ist nirgends anders als in einem groK'en Prinzip zu suchen, auf welches der ganze Reiclitum des Zeitinhaltes be- zogen und von dem aus er in ein neues Licht gestellt wird. Sucht man dieses Prinzip bei Kant, so stößt man auf die erstaunliclie Tatsache, daß es nicht in einem theoretischen Grundgedanken zu finden ist. Solange man sich auf dem Felde der Ideen umsieht und in dem Reiche der begrifflichen Lehren bleibt, trifft man das Prinzip der Kantischen Philosophie nicht. Es ist keine zentrale Erkenntnis, von der aus das Licht auf alle Teile der Kantischen Philosophie gleichmäßig fiele. Wer da etwa eine Kantische Lehre herausheben und meinen wollte, daß das ganze übrige System sich aus ihrer Entwicklung, aus ihrer Anwendung auf die verschiedenen Probleme mit logischer Notwendigkeit ergeben habe (wie das so oft bei anderen Philosophen der Fall ist), der würde seine Er- wartung getäuscht finden. Einen derartigen Hauptschlüssel, um alle Türen des weitläufigen Gebäudes der Kantischen Philosophie aufzuschließen, gibt es nicht. Die zentralisierende und organi- sierende Kraft dieses Systems liegt nicht in einem abstrakten Gedanken, sondern in einer lebendigen Überzeugung seines Ur- hebers. Es ist der unerschütterliche Glaube an die Macht der Vernunft, welcher die gesamte Kantische Philosophie belebt und durchwärmt, und dieser Glaube ist nicht etwa eine erkenntnis- theoretische Ansicht, sondern er überschreitet von vornherein den Kreis der theoretischen Funktion und nimmt seine Stellung in der sittlichen Vernunft der menschlichen Gattung. Von diesem Mittelpunkt aus, welcher nicht derjenige eines rein theo- retischen Gedankens, sondern derjenige einer persönlichen ÜT)er- zeugung war, muß man die Kantische Lehre bis in ihre Einzel- heiten betrachten, um sie ganz zu verstehen und zu würdigen. Und das ist auch sein wahres Verhältnis zur Aufklärung. Er teilt mit ihr das Bestreben, im ganzen Umkreis der Dinge, der menschlichen und der außermenschlichen, allüberall der Vernunft

1*

4 Kants Leben und Schriften.

ihr Recht zu wahren und ihre Herrschaft zu sichern; aber er über- windet ihre trockene und kühle Verständigkeit, indem er das tiefste Wesen dieser Vernunft statt in theoretischen Sätzen vielmehr in der Energie der sittlichen Überzeugung sucht. So zieht mit ihm in die deutsche Philosophie die gefühlswarme Macht der persön- lichen Überzeugung ein. Und dieser Bund des klaren Denkens mit dem überzeugungsvollen Wollen ist zum bestimmenden Charakter für die von Kant zunächst abhängige Entwicklung der Philosophie geworden.

Den Mittelpunkt also von Kants Philosophie bildet seine Per- sönlichkeit. Wenn irgend einer unter den großen Denkern, so ist er der lebendige Beweis davon, daß die Geschichte der Philosophie nicht ein webstuhlartiges Abspinnen abstrakter ideeller Notwendig- keiten, sondern ein Ringen denkender Menschen ist, und daß wir in jedem bedeutenden Systeme die weltbewegenden Gedanken- mächte in einer individuellen Konzentration vor uns haben. Unter allen Systemen der neueren Philosophie ist keines, das diese so in nuce darstellte, das ein so vollkommenes Bild des modernen Denkens gäbe, wie das Kantische; darum erfordert es eine selbständigere und ausführlichere Behandlung als alle anderen. Wenn aber der Mittelpunkt dieses Systems in der Persönlichkeit seines Schöpfers liegt, so ist es in diesem Falle mehr denn sonst erforderlich, den Mann zu kennen, ehe man an die Betrachtung seiner Lehre geht.

§ 57. Kants Leben und Schriften.

Einsamkeit ist das Geschick der Größe. Davon hat selten eines großen Mannes Leben so vollgültiges Zeugnis abgelegt, wie das- jenige Kants. An der äußersten Peripherie deutschen Kulturlebens geboren und in dem engen Kreise des heimatlichen Daseins bis an den Schluß seines Lebens festgehalten, hat er niemals das Glück kennen gelernt, das in der Berührung ebenbürtiger Geister dem Genie entspringt. Er hat nicht einmal als Schüler zu den Füßen eines bedeutenden Menschen gesessen, und von den persönlichen Anregungen, die er in seiner Entwicklung erfuhr, ist keine, die ihn in seiner wahren Bedeutung unmittelbar gefördert hätte. Um so riesenhafter ragt er aus dieser Umgebung heraus ; was er ge- worden, verdankt er im wesentlichen sich selbst. Sogar da, wo der Einfluß der großen Philosophen, deren Werke er kennen lernte,

Hohulo und UnivcrNitllt. 5

eines licibniz und Hiimo, In'stiinrrvMul in seine innere Tiaufhahn eingreift, S()«^ur du z(M<4t(lie Hclbstiindij^'c Vorhercitimg H«'in<*M (JcÜHtes für diesen Kinfliiß und dessen V(Marl)eitun;^ und l^ni^^estaltung bei weitem gWißere Dimensionen als dieser Kinfbiß selbst. Und yo ist e8 der frische Hauch der Ursprünglichkeit, welcher üIxt der Kantischen (Gedankenwelt schwebt. Aus seiner Pjinsanikeit Reraus erzeugt er in origineller Form die (ledanken, welche die Zeit bewegen, von neuem und liefert den Beweis, daß man die Welt kennen kann, oline sie gesehen zu haben, wenn man sie in sich trägt.

Als der Sohn einer bescheidenen Handwerkerfamilic, die sicli aus schottischer Abkunft herleitete, war Immanuel Kant am 22. April 1724 zu Königsberg in Preußen geboren. Unter den Jugendeinflüssen, die für sein gesamtes Leben bestimmend geblieben sind, ivSt der seiner Mutter hervorzuheben, die in frommer Gläubigkeit der pietistischen Richtung der Zeit ergeben war, jener Richtung, welche als leiser Ausklang der deutschen Mystik in der Verinnerlichung und sittlichen Betätigung des Glaubens das Wesentliche des religiösen Lebens suchte. Ihr Hauptvertreter war damals in Königsberg der Professor F. A. Schultz, und dessen persönliche Bekanntschaft mit der Familie vermittelte es, daß der junge Kant in das von ihm geleitete Collegium Fridericianum eintrat, um die gelehrte Laufbahn zu eroreifen. Es war eine strenge Schule der klassischen Bilduno: und der sittlich-religiösen Erziehung, die der Philosoph hier durch- zumachen hatte, und sie gab seinem Geiste jenen reinen Ernst, jene großartige Kraft der Selbstbeherrschung, welche ihm den antiken Charakter einfacher und edler Größe aufprägt. Frühe gelehrt, das wahre Glück im Innern zu suchen, hat Kant auch auf dem Gipfel des Ruhms niemals die Bescheidenheit verlernt und niemals die Äußerlichkeit gelernt, imd von Jugend auf gewöhnt, in dieser inneren Arbeit die Wahrheit gegen sich selbst für das Höchste zu achten, hat er sein ganzes Leben in den Dienst der Wahrhaftigkeit gestellt jener Wahrhaftigkeit gegen sieh selbst und andere, welche der einzige Weg ist zur Wahrheit.

Als er im Jahre 1740 die Universität seiner Vaterstadt bezog, um dem W^unsche seiner Mutter gemäß Theologie zu studieren, fand er dort vielscitiQ;e imd lebendige Anresjunsf. In dem allgemein- wissenschaftlichen Vorstudium trat er zunächst der Philosophie

6 Kants Leben und Schriften.

nahe. Sein Lehrer Martin Knutzen war einer der besseren Vertreter der Wolffschen Schulphilosophie und erfreute sich auch über Königsberg hinaus einer angesehenen Stellung inner- halb der Schule. In dieser war nämlich ein Sturm in einem Glase Wasser ein sehr lebhaft geführter Streit über den Begriff der prästabi Herten Harmonie entstanden, an welchem Wolff nicht im- stande gewesen war, dem kühnen Gedankenfluge seines Meisters Leibniz zu folgen. Aus den Schriften, mit denen Knutzen diese Frage gewissermaßen zum Abschluß brachte, läßt sich ersehen, daß er, nicht ohne Selbständigkeit des Denkens und mit vöUiger Beherrschung des Leibniz -Wolffschen Gedankenmaterials, wohl- geeignet gewesen sein muß, den jungen Kant in den Zustand der damaligen Schulphilosophie einzuführen, und dabei war es von besonderem Werte, daß er, obwohl er in jener Streitfrage sich wesentlich auf Wolffs Seite stellte, doch im ganzen nicht bei diesem stehen blieb, sondern offenbar auch seine Schüler darauf hingewiesen hat, bei Leibniz selbst die Quelle der philosophischen Erkenntnis zu suchen. Neben den philosophischen waren für Kant hauptsächlich die naturwissenschaftlichen Studien wichtig, die ihn schon damals sehr lebhaft in Anspruch nahmen, und denen er einen so großen Teil seiner späteren Bedeutung ver- danken sollte. In dieser Hinsicht war es eine sehr glückliche Fügung, daß er sich früh von dem Professor der Physik, Teske, in die Newton sehe Weltauffassung eingeführt sah. So kam in Kant ein wichtiger Antagonismus zustande, der sich lange durch sein Denken hindurchgezogen hat. Die beiden großen Männer, welche bei Lebzeiten in so leidenschaftlichem Kriege gelebt hatten, setzten diesen Kampf in dem Geiste des größeren Schülers fort, und die philosophische Entwicklung Kants zeigt sich in ihrer ersten Phase durch den Gegensatz Leibnizischer Metaphysik und Newtonscher Naturphilosophie bedingt. Um so fester aber gestaltete sich in ihm die Überzeugung, welche beiden gemeinsam war, und welche zugleich der Richtung seines Fachstudiums entsprach. In sehr verschiedener Form hatten Leibniz und Newton die Aner- kennung des kausalen Mechanismus des Weltgeschehens einer teleologischen Grundüberzeugung eingefügt und durch das Mittel- glied des physiko- theologischen Beweises für das Dasein Gottes die Versöhnung zwischen der Philosophie und der religiösen Über-

AUgoineino Naturpfoschic^lito. 7

zcunun«; «^osiiclit. Das war dci- riiiikt, an dem sich hei Kant zii- närhst allcKinllüssc seiner .)u<^i'n(l('rzieliun,n und Heijic.sukadtMiiischeii Studiums krenzlen, und dn- desludl) fiir ilm zum Kernjjunkte seiner persönlichen Überzeugung; wurtle.

(Jc»i;cn diese philosophische und naturwisscmschaftliche Vernutt- lum; trat offenbar im Jjaufe der Zeit die doi^matisch-thcologTsche Ausprägung des religiösen Glaubens fiir das Interesse Kants mehr und melir zurück. Äußere Verhältnisse mögen hinzugetreten sein, er verzichtete auf die theologische Laufbahn und verließ ITK) die Universität mit der festen Absicht, sich dem akademischen Lehramte zu widmen und zur pekuniären Vorbereitung dafür sich den Lasten des Hauslehrertums zu unterziehen. Neun Jahre lang hat er diese Pflichten mit treuer Hingabe, aber, wie er selbst sagt, mit geringem pädagogischen Erfolg erfüllt, zuletzt in der Familie des Grafen Keyserlingk, die seine geistige Bedeutmig und seine persönliche Liebenswürdigkeit zu schätzen wußte und auch später mit ihm in den freundschaftlichsten Beziehungen geblieben ist. Rastlos hat er diese Zeit zur Erweiterung seiner eigenen Studien benutzt und besonders auf dem naturwissenschaftlichen Gebiete sich vollständig auf die Höhe der Zeit gestellt. Es schien im Anfange fast, als wollte Kants Geist völlig in die Natur- forschuno- aufgehen. Vor dem Antritt seiner ersten Hauslehrer- stelle schrieb er sein erstes Werk »Gedanken von der wahren Schätzung; der lebendiofen Kräfte«, welches in einer zwischen den Anhängern von Descartes und denjenigen von Leibniz vielfach verhandelten Streitfrage der mathematischen Naturphilosophie mit Sicherheit und Bescheidenheit eine originelle kritische Stellung nahm, und am Schlüsse seiner Hauslehrertätigkeit veröffentlichte er ein Buch, welches in der Tat den Beweis lieferte, daß er ein großer Naturforscher war.

Die »Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels«

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(1755) ist eins von den Werken, die in der Geschichte der mensch- lichen Weltauffassung unvergessen bleiben werden. Es enthält den- jenigen Ausbau der Newtonschen Gravitationstheorie, welcher in seinen Grundzügen noch von der gegenwärtigen Astrophysik der Theorie der Himmelserscheinmigen zugrunde gelegt wird und unter dem Namen der Kant-Laplaceschen Hypothese allgemeiner bekannt ist. Kant geht mit der in diesem Werke vorgelegten

8 Kants Leben und Schriften.

Auffassung; über die Newtonsche Himmelsmechanik in einer Rieh- tuner hinaus, die auch von andern Forschern seiner Zeit, insbesondere von dem Engländer Wright eingeschlagen worden war. Die neue Vorstellungsweise betraf dabei zwei Hauptpunkte. Zunächst bildete die Betrachtung der Milchstraße den Anlaß dazu, ein analoges Verhältnis, wie es in der Gruppierimg und Bewegung der Planeten unseres Sonnensystems besteht, für all jene in annähernd der gleichen Ebene erscheinenden Fixsterne anzunehmen und so auch die Sonnen miteinander in eine durch die Gravitationsgesetze bestimmte Be- wegung treten zu lassen. Wenn auch die Einzelheiten dieses von Kant ausgeführten Analogieschlusses, namentlich was die Gestalt der Milchstraße anbetrifft, von der neueren Forschung anders auf- gefaßt werden, so ist doch jenes Prinzip bisher die einzige Möglich- keit, uns in dem unendlichen Räume zu orientieren und die Be- wegung der Sterne gesetzmäßig zu verstehen. Der andere Schritt der Kantischen Hypothese führt in die Vergangenheit des Planeten- systems zurück. Den Anfang der harmonischen Bewegung, deren mathematische Gesetze Newton aus dem Prinzip der Gravitation erklärt hatte, vermochte dieser selbst nur auf einen unbegreifhchen Anstoß, auf einen göttlichen Bewegungsakt zurückzuführen. In dieser Hinsicht entwickelte nun Kant, gestützt auf die Fortschritte, welche Chemie und Physik hauptsächlich in bezug auf die Theorie der Gase inzwischen gemacht hatten, die Lehre von dem ursprüng- lichen Gasball, aus dessen rotierender Bewegung sich nach rein mechanischen Gesetzen einer nach dem andern von den kleineren Bällen habe ablösen müssen, die nun mit erkalteter Rinde, immer (noch der allgemeinen Bewegung folgend, die Planeten darstellen. Die Grundzüge dieser Anschauung sind zu sehr ein Gemeingut unserer Bildung geworden, als daß es erforderlich wäre, im besonderen hier auszuführen, wie Kant von dieser Annahme aus die einzelnen Verhältnisse der Größe, der Dichtigkeit, der Entfernung der Planeten sowie ihrer Trabanten auf rein mechanischem Weoe ableitete und so sein stolzes Wort bewahrheitete: »Gebt mir Materie, und ich will euch eine Welt daraus bauen.« Nichts weiter als die beiden Grundkräfte der Attraktion und der Repulsion, aus denen sich für ihn schon zu dieser Zeit das Wesen der Materie konstituiert, ist nötig, um den ganzen Zusammenhang der planetarischen Be- wegungen begreiflich erscheinen zu lassen. Und wenn nun auch

AHtropliysik. 9

hierin die llypothoMt^ von miscn^iii SonnenRystcm auf duH Uni- vcrHurn aus^cdclml wird, wi'iiii j<M»or rotierende (iii.sl)all helbnl t?eh()n wieder als der Ausfluß eines ;»röüeren erscheint, so ist damit eine <^r()üarti«^(^ VoUendun;^ ch'r njechanisehen Welt(;rkhirun^ gewonnen, wehhe zu«;leieh das liehen der Weltkörper nicht als ein stets sich i^deic]d)leihendes, sondern vielmehr als einen historischen Prozeß betrachtet. Wenn wir heute j^^ewühnt sind, von einer solchen Entwicklung des Universums zu sprechen, ho darf man auch sagen, daß Kants Hypothese die astrophysische Grundlage dafür geschaffen hat. Denn er geht weiterhin dem Gedanken nach, daß die Planetensysteme so, wie sie einst aus ihren Sonnen hervorgegangen sind, vermöge der allmählichen Verlangsamung ihrer zentrifugalen Bewegungstendenz dereinst wieder in den heimatlichen Gasball zurückstürzen müssen; er stellt die Be- trachtung an, daß vermutlich die verschiedenen Sonnensysteme in sehr verschiedenen Lebensaltern stehen, und daß so das Universum eine unendliche Mannigfaltigkeit von verschiedenen Lebenserschei- nungen zugleich darbiete, und er knüpft daran schließlich Phan- tasien über die Bewohner anderer Welten und Weltsysteme. Aber gerade dieses volle Ausdenken des Prinzips der mechanischen Welterklärung führt nun Kant zu einer vertieften Darstellung des physiko-theologischen Beweises für das Dasein Gottes. Gerade wenn es Tatsache ist, daß die Natur auch aus dem Chaos wirbelnder Gase nach den ihr einmal innewohnenden Gesetzen zum Ausbau der harmonischen Systeme des Gestirnlaufes kommen muß, so zeigt sich eben darin, daß sie mit dieser ihrer Gesetzmäßigkeit in einer höchsten Intelligenz ihren Ursprung haben müsse. So übernimmt Kant das von der Analogie der Maschinen hergenommene Argument, um dessen bisherige Benutzung noch zu überbieten und die mechanische Welterklärung bis an die letzte Grenze zu verfolgen. Und doch ließ auch er noch einen Punkt übrig, an dem das Prinzip der mechanischen Weltbetrachtung versagte. Seine gesamte Erklärung galt nur der unorganischen Natur, und es entsprach der damaligen Stellung der empirischen Wissenschaft, wenn er behauptete, die Hypothese, welche für die Erklärung der Sonnen und der Planeten ausreiche, müsse scheitern am Grashalm und an der Raupe. Der Organismus ist für ihn schon an dieser Stelle der Grenzbegriff der mechanischen Naturerklärung.

J^Q Kants Leben und Schriften.

Die unzweifelhafte Größe, welche Kant als Naturforscher be- sitzt, ist gewiß mit die bedeutsamste Grundlage seiner philo- sophischen Größe. Aber die in jenem Werke niedergelegte Lehre charakterisiert ihn doch mehr persönhch, als daß sie mit seiner späteren Philosophie in unmittelbar notwendigem Zusammenhange stünde. Das gleiche gilt von den zahlreichen kleineren natur- wissenschaftlichen Abl&ndlungen, die er vorher und nachher ver- öffentlicht hat. Erst allmählich kommt in seiner schriftstellerischen Tätigkeit das philosophische Moment in den Vordergrund zu stehen. Noch seine Promotionsschrift (1755) war eine Abhandlung über das Feuer, welche sich in einer gleichfalls modernen Theorien vorgreifenden Weise mit der Lehre von den Imponderabihen be- schäftigte und in ihnen den gemeinsamen Ursprung der Wärme, des Lichts, aber freilich auch der Erscheinungen der Elastizität suchte. Selbstverständlich war die Naturphilosophie, das Gebiet des Überganges von der Naturforschung zur Philosophie, um diese Zeit für ihn von besonderem Interesse. Nachdem er sich im Herbst 1755 mit einer Schrift über die Prinzipien der metaphysischen Erkenntnis (Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio) bei der philosophischen Fakultät der heimischen Uni- versität habilitiert hatte, gab er im folgenden Frühjahr ein natur- philosophisches Programm, seine »Physische Monadologie«, heraus, welche hauptsächhch die verschiedene Stellung der Mathematik und der Metaphysik zum Problem des Raumes behandelte und in dieser Hinsicht zwei Jahre später durch einen kleinen Aufsatz »Neuer Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe« ergänzt wurde.

Wurde Kant nun auch in seiner Ilaupttätigkeit Dozent der Philosophie, so hat er doch bis in sein spätestes Alter stets das re*Tste Interesse für naturwissenschaftliche Gegenstände besessen und bezeugt. Noch das letzte, unvollendete Manuskript seines Alters, das erst in neuester Zeit veröffentlicht wurde und für seine Philosophie freilich irrelevant ist, behandelte den »Übergang von der Metaphysik zur Physik«. In seiner akademischen Lehre war es namentlich die physische Geographie, über welche er von Zeit zu Zeit seine besuchtesten Vorlesungen hielt. Außer der Klarheit der wissenschaftlichen Grundlegung wurden dabei die Zuhörer, welche sich aus allen Ständen in diesen Vorlesungen zusammen- fanden, durch die Anschaulichkeit in seiner Schilderung von Land

VorkritiHcho Al)lmn(llutij(r'n. 1 1

inul Leuten anj^ezo^^^en. Wiihreiul er selbst die Mauern seiner Vatoi'staclt nie nielir als um eini<;e Meilen überschritt, hatte er durch die Lektüre von Keisebeschreibunf^en und durch die scharfe licobachtuni; seiner nächsten Uin^ebun;' eine so feine und aus- gebreitete Welt- und Menschenkenntnis erworben, daß auch seine Vorlesungen über pragmatische Anthropologie (unen gesuchten' (ie- nuß zahlreicher Zuliörer bildeten. In dieser Hinsicht war er ein Weltweiser im antiken Sinne des Wortes, und seine Mitbürger schätzten ihn gerade Tils solchen derartig, daß sie bei Gelegenheiten, wie dem Erdbeben von Lissabon oder dem Auftreten abenteuer- licher Menschen, von ihm Belehrung erwarteten und durch kleine Schriften und Aufsätze erhielten. Dahin gehören die zwei Be- trachtungen über das Erdbeben von Lissabon (175G), der »Versuch über den Optimismus« (1759), das »Räsonnement über den Aben- teurer Komarnicki« (17G4), der »Versuch über die Krankheiten des Kopfes« (17G4), schUeßHch auch in gewissem Sinne die »Träume eines Geistersehers erläutert durch Träume der Metaphysik« (1766).

Durch diese stetige Fühlung mit der Erfahrung hielt sich Kant von dem Schulpedantismus frei, dem die meisten seiner Fach- genossen um diese Zeit in Deutschland verfielen. Seine Sprache in diesen Essays ist fein, beweglich, frisch und zum großen Teil sehr witzig. Es sind Essays im englischen Genre, und es ist des- halb wohl zu bemerken, daß Kant gerade in diesen Jahren sich vielfach und eingehend mit der englischen Literatur beschäftigte und seine Zuhörer mündlich und schriftlich darauf ebenso hinwies, wie auf den von ihm bewunderten Rousseau. Selbst die spezifisch philosophischen Schriften, welche diesem Zeitraum entstammen, zeigen dieselben Eigentümlichkeiten und dasselbe Bestreben, sich von der Schulsprache nicht minder frei zu machen, als von der Schulmeinung. »Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren« (1762), der »Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen« (1763), »Der einzig mögliche Be- weisgrund für das Dasein Gottes« (1763), die »Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und Moral« (1764), der moralisch - ästhetische Essay »Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen« (1764), diese in rascher Folge geschriebenen und erschienenen Abhandlungen sind

12 Kants Leben und Schriften.

ebenso viele Beweise für die Selbstbefreiung des Kantiscben Geistes aus den Fesseln der herkömmlichen Denk- und Schreibweise.

Inzwischen ging es mit der akademischen Laufbahn des inner- halb und außerhalb Königsbergs schon so hochgeachteten Mannes außerordentlich ungünstig vorwärts. Die erste frei werdende Pro- fessur wurde durch den 1758 in Königsberg regierenden russischen General anderweitig besetzt. Eine Professur der Dichtkunst, die man ihm 1762 antrug, lehnte der Philosoph ab, und die im folgenden Jahre errungene Stellung eines schwach dotierten Unterbibliothekars ^ /• . konnte doch dafür nur geringen Ersatz bieten. Erst das Jahr 1770 brachte ihm gleichzeitig Berufungen nach Erlangen und Jena, deren Befolgung indes durch seine Ernennung zum Professor in Königsberg selbst vorgebeugt wurde. Mit der Schrift »De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis<< inaugurierte er nicht nur diese seine Professur, sondern in gewissem Sinne auch seine neue Philosophie, die inzwischen heranreifte, und damit ein neues Zeitalter des philosophischen Denkens.

Die großen geistigen Veränderungen, die während der zweiten Hälfte des siebenten Jahrzehnts in dem Philosophen vorgingen, be- trafen auch, wenn nicht seinen Charakter, so doch seine äußere Art sich zu geben und jedenfalls die Darstellungsweise seiner Schriften. Der leichte, elegante Fluß seiner Eede erscheint ge- hemmt; ihre Frische und AnschauHchkeit, ihr sprühender Humor weichen einer trockenen Sachlichkeit, einer umständlichen Breite, einer sorgsam abwägenden, vielfach sich selbst wieder einschränken- den, die Sätze ineinanderschachtelnden Sprache, aus der nur hier imd da ein wuchtiger Ausdruck voll Pathos und Würde durch- bricht. Ebenso aber ist um jene Zeit in Kants Wesen ein strenger und herber Ernst, eine rigorose Lebensauffassung zum Durchbruch gekommen: aus dem geistreichen Dozenten, der sich leicht und gern in der Gesellschaft bewegt hatte, ist ein einsam grübelnder Professor geworden. Von hier an ist sein ganzes Leben der Aus- bildung und der akademischen Lehre seines eigenen Systems ge- widmet geblieben. Auch einem Rufe nach Halle im Jahre 1778 widerstand er und blieb bis an sein Lebensende in Königsberg. Seine Vorlesungen mit ihrer anregenden Kraft, mit ihrem Bestreben, statt des toten dogmatischen Vortrages den Zwang des Selbst- denkens auf den Zuhörer auszuüben, waren bald weithin berühmt,

Ohfirnktpr. 13

und in Stadt und Universität war or eine p;efcierte Perscinlichkeit. Es ist ein Eindruck stiller, j^danzloser Gniße, mit dem die letzten Jahrzehnte von Kants Leben unwillkürlich ergreifen. Die bewußte Grundsiitzliclikeit seiner Lebensein richtunfif und Ijebenseinteilung, welche ein Ausfluß seines wunderbar hohen Pflichtbewußtseins war, ermöglichte es ihm, die Riesenarbeit seiner philosophischen Werke und die treue Erfüllung seiner akademischen Pflichten mit einer in enge Grenzen gezogenen beliaglichen Geselligkeit zu verbinden. Nie verheiratet, schätzte er den Genuß der Freundschaft sehr hoch und suchte ihn bezeichnenderweise weniger bei seinen Berufsgenossen als in anderen Ständen. Er behielt gerade dadurch die Fühlung mit dem praktischen Leben und den Sinn für die Wirklichkeit, der sich in seinem Charakter und in seinen Schriften so merkwürdig mit dem Grübelsinn des Philosophen verbindet. Die hohe Liebens- würdigkeit, welche er in diesem geselhgen Verkehr entwickelte, ^ fand ihre Grenze nur da, wo entweder das Bewußtsein seiner Pflicht und seiner gewaltigen Lebensaufgabe oder aber jene pedantische Eigensinnigkeit .) ein trat, die sich allmählich, wie die Züge des Menschen durch das Alter eckiger und steifer werden, als die Kehr- seite jener Tugenden bei ihm einstellte, und von der sich zahlreiche Anekdoten erhalten haben. Eine bewunderungswürdige Konsequenz, ' eine großartige Selbstbeherrschung, eine absolute Unterwerfung seiner Lebenstätigkeit unter die erfaßten Ziele, ein eisernes Fest- halten an dem erkannten Gehalte des eigenen Lebens, alle diese Züge machen Kant zu einem Charakter, der so gewaltig war wie sein Geist. Auch er ist ein Bew^eis davon, daß es keine wahre Größe der geistigen Kraft gibt ohne diejenige des Willens.

In diesem stillen Abfluß seines innerlich so tief bewegten Lebens wurde Kant nur einmal gestört, als nach dem Tode des großen Königs, dem er in aufrichtiger Bewunderung die »Natur- geschichte des Himmels« gewidmet hatte, unter dessen Nach- folger eine jener Anwandlungen der gewaltsamen Rehgionsmacherei von oben herab eintrat, die infolge von persönlichen Verschie- bungen von Zeit zu Zeit den ruhigen Gang der preußischen Politik unterbrochen haben. Das verschärfte Zensursystem, welches das Ministerium WöUner einführte, traf Kant nicht nur durch die Beanstandung seiner religionsphüosophischen Schriften, sondern auch durch einen ungnädigen königlichen Erlaß und

J4 Kants Leben und Schriften.

durch das an ihn und alle seine Kollegen gerichtete Verbot eines akademischen Vortrages seiner Philosophie. Kant empfand diese Beeinträchtigung schwer, er trug sie mit mannhafter Würde. Als dann der neue Regierungswechsel 1797^ die Folgen dieses Ver-

7j O botes aufhob, da senkten sich freiHch über Kant schon die Schatten des Alters. Seit demselben Jahre sah er sich genötigt, von den Vorlesungen Abstand zu nehmen, und zerstört von der mächtigen Arbeit des Geistes, siechte der Leib, in welchem die größte aller Philosophien ihren Sitz aufgeschlagen hatte, noch jahrelang in traurigem Marasmus dahin, bis ihn der Tod am

r 0 , .12. Februar 1804 erlöste.

Vom Jahre 1770 an ist Kants schriftstellerische Tätigkeit, von geringen Abzweigungen abgesehen, ausschHeßlich der syste- matischen Darstellung seiner Lehre gewidmet gewesen, deren Ausbildung die Arbeit seines Lebens ausmachte, und der er selbst den Namen der kritischen Philosophie gegeben hat. Wenn die Inauguraldissertation nur einen, obschon einen der bedeutendsten Keime davon zur Darstellung brachte, so dauerte es ein volles Jahrzehnt, bis Kant imstande war, in seinem großen Haupt- werke die theoretische Grundlage seiner Lehre zu veröffentlichen. Die »Kritik der reinen Vernunft«, das Grundbuch der deutschen Philosophie, erschien 1781. Zwei Jahre darauf gab Kant in den

.^ »Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik« eine Er- läuterung und eine Verteidigung dieses Werkes. Sie war nötig; denn die Darstellung der Kritik der reinen Vernunft war so schwierig, Kants Wortgebrauch darin zum Teil so unsicher, der Gedankengehalt so riesig und der Widerspruch der mannigfachen in sie hineingearbeiteten Denkprozesse so ungelöst, daß die zahl- reichen Mißverständnisse imd der verhältnismäßig geringe Erfolg des Buches nicht lediglich der Mißgunst der Schulphilosophen zuzuschreiben waren. Als dann das Interesse des Publikums an d^r neuen Lehre rege geworden war, folgte 1787 eine zweite Auflage, der alle folgenden Auflagen nachgedruckt worden sind. Die vielfachen Veränderungen, welche das Werk dabei erfuhr, zuerst von Schelling und Jacobi bemerkt, dann durch Schopen- hauer und Rosenkranz hervorgehoben, sind die Veranlassung eines ausgedehnten Streites über den Vorzug der einen oder der anderen Auflage geworden. In der Tat liegen wesentliche Verschieden-

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Ihuipiwerko. 15

lioitcii darin vor, daü \(»n den vicifacli vorscldun;^<Mirn flculaiiken- rcihen, ans doiicii dieses Werlv zjisamnion^carbeitct ist, einige in der zweiten Anflaj^e eine entschieden stärkere Jictonung gefunden haben als in der ersten. Aber jeder V()r^vü^f, als habe Kan< in der zweiten Auflage den Geist der ersten verlassen, ist deshalf> unbereclitigt, weil auch die Tone, die in der zweiten Auflage am .stärksten anklingen, ausnahmslos schon in der ersten leise an- geschlagen waren. Zweifellos ist daraus zu schließen, daß bei Kant selbst die Kraft dieser Gedanken nach dem Erscheinen der ersten Auflage sich energischer und bestimmender entwickelt hat als vorher. Aber eine Verwunderung darüber kann nur bei dem- jenigen entstehen, der an die Kritik der reinen Vernunft mit der Erwartung herantritt, in ihr ein vollkommen geschlossenes, ab- solut mit sich übereinstimmendes und fertiges System vorzu- finden. Eine solche Erwartung wird hier mehr als in irgend einem anderen Werke der gesamten Literatur getäuscht. Darin gerade besteht das Einzige der Kritik der reinen Vernunft und zugleich der Grund ihrer unvergleichlichen historischen Wirkung, / daß sie alle Gedankengänge der modernen Philosophie ineinander- arbeitet, ohne zu einem sich scharf formulierenden, jeden anderen . Gedanken ausschließenden Ergebnis zu gelangen.

Der zw^eiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft waren bereits andere Werke vorhergegangen, in denen Kant die Anwen- dung seiner Prinzipien auf die besonderen Aufgaben der philo- sophischen Erkenntnis darzustellen begann. 1785 erschien die >> Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, 1786 die »Metaphy- sischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft <<. Es folgten später 1788^die »Kritik der praktischen Vernunft <<, 1790 die Streit- "^ Schrift gegen Eberhard und das größte, für das Verständnis seiner ganzen Weltanschauung wichtigste seiner Werke, die »Kritik der Urteilskraft <<, 1793 die »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen A^ernunft <<, eine Sammlung von vier religionsphilosophischen Ab- handlungen, 1797 die »Metaphysischen Anfangsgründe der Rechts- und diejenigen der Tugendlehre << , zwei Schriften, welche, imter dem Namen der »Metaphysik der Sitten« zusammengefaßt, bereits das Zeichen des alternden Geistes ihres Verfassers ebenso an der Stirne tragen, wie die unter dem Titel »der Streit der Fakul- täten« zusammengefaßten Abhandlungen aus dem Jahre 1798.

]^ß Kants Entwicklung.

An diese Hauptwerke schließen sich eine Reihe höchst bedeuten- der kleiner Gelegenheitsaufsätze, welche teils in verschiedenen Zeitschriften zu Kants Lebzeiten erschienen, teils aus seinem Nachlaß gedruckt worden sind. Aus ihnen mögen an dieser Stelle hauptsächlich die geschieh tsphilosophischen erwähnt werden, weil ihr Gegenstand durch keines jener Hauptwerke unmittelbar ver- treten wird. Es gehören dazu die »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerhcher Absicht« (1784), die »Beantwor- tung der Frage, was ist Aufklärung« (1784), der »Mutmaßliche Anfang der Weltgeschichte« (1786), das »Ende aller Dinge« (1794) und der »Philosophische Entwurf zum e^vigen Frieden« (1795).

§ 58. Kants philosophische Entwicklung.

Es würde schon ein Blick auf die Gegenstände von Kants schriftstellerischer Tätigkeit genügen, um jene Universalität seines philosophischen Interesses bestätigt zu finden, welche die Grund- bedingung für seine dominierende Stellung in der Geschichte der modernen Philosophie ausmacht. Wer aber auch nur eins von seinen großen Werken in die Hand nimmt, der wird immer wieder über die Fülle der Gesichtspunkte erstaunen müssen, die Kant in der Behandlung der einzelnen Gegenstände geltend macht und in ihr richtiges Verhältnis zu setzen bemüht ist. Aber es sind nicht etwa historische Anknüpfungen, welche dabei im Vorder- grunde stehen. Von jener Gelehrsamkeit, mit deren Früchten Leibniz an die Behandlung eines jeden Problems herantritt, ist Kant weit entfernt, und wenn man eine schwache Seite bei ihm finden will, so ist sie bei der gelehrten Kenntnis der Geschichte seiner eigenen Wissenschaft und besonders der antiken Philo- sophie zu suchen. Aber darin gerade beweist sich die Weite seines Geistes, daß er aus schwachen Andeutungen und aus der Einwirkung der zeitgenössischen Literatur den Kern jeder Denk- weise, nach der die Lösung der Probleme versucht worden ist, zu erfassen und selbständig zu reproduzieren imstande ist. Eben deshalb aber, weil er jeden dieser Gedanken als einen eigenen erzeugt hat, ist seine eigene Denkarbeit die komplizierteste imd verwickeltste von allen, welche die Geschichte der Philosophie darbietet. Jede Richtung der modernen Philosophie ist ein in- tegrierender Bestandteil seines Systems, und darauf beruht die

KriiixintnuR. |7

große Manni«,'falti«^fkeit von Ausdoutuiigcn, welche diehes, oft in diametral ent<j;egenj^esetzie!i Kiclitiingen, bei den späteren Denkern erfaliren liat. Damit hiinj^t es auch zuHammen, daß das, was wir »ein eigenes System nennen, nicht von Jugend an bei ihm vorhanden, ja in seinen ersten Schriften nicht einmal im ent- ferntesten angelegt, sondern erst in verliilltnismäßig spätem Alter zur Reife gekommen ist. In diesem Stadium der J^eife ver- dichten und verschlingen sich in ihm alle die mannigfaltigen Gedankengänge, welche er mit der ruhigen Gewalt, die er über sich selbst besaß, langsam in sich hat zur Entfaltung kommen lassen. Jenes eigene System ist deshalb nicht zu begreifen, wenn man nicht seinen Entwicklungsgang ins Auge faßt, und um diesen zu verstehen, muß man wiederum kein einfaches imd durch- sichtiges Schema annehmen, sondern von vornherein voraussetzen, daß sein Entwicklungsgang überaus vielseitig und verwickelt gewesen ist. Er ist eine Repetition der vorkantischen Philosophie, aber in durchaus oricineller Form: allein die für dessen Ver- ständnis in den Schriften, im Briefwechsel und in Kants Notizen, besonders zu seinen Vorlesungsheften und eigenen Büchern zu- gänglichen Dokumente sind gerade in Rücksicht auf die große Kompliziertheit der Gedankengänge, trotz der stattlichen jVnzahl, worin sie jetzt vorhegen, für die sachliche Ausbeute noch immer so sporadisch, daß man den Entwicklungsgang nur hypothetisch zu rekonstruieren vermag, und daß auch dieser Darstellung nichts weiter übrig bleibt, als zwischen den verschiedenen Wegen, die man dazu einc^eschla^en hat, sich den eigenen zu bahnen.

Wenn Kant seine eigene spätere Lehre als^ Kritizismus be- zeichnet und damit ihre erkenntnistheoretische Tendenz in den Vordergrund gerückt hat, so ist in der Tat die OriginaUtät seines Systems nicht in der Berücksichtigung der erkeimtnis- theoretischen Frage überhaupt, sondern vielmehr in der neuen Fassung zu suchen, die zugleich eine ganz neue Methode der Lösimg nach sich zog. Von erkenntnistheoretischen Unter- suchungen ist die gesamte Philosophie des XVIII. Jahrhunderts durchsetzt; aber einerseits stehen sie immer unter dem metho- dologischen Gesichtspunkte der Frage nach dem richtigen Wege der philosophischen Erkenntnis, anderseits machen sie eine Reihe von Voraussetzungen teils metaphysischer Art, teils in bezug auf den

Windelband, Gesch. d. n. Philos. II. 2

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Kants Entwicklung.

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Zusammen liang und das Wesen anderer Wissenschaften. Es ist das Wesentliche in der Kantischen Entwicklung, daß er sich von diesen Voraussetzungen sukzessive befreit und so zuletzt die ver- hältnismäßig voraussetzungsloseste Formel für den Ausgang des philosophischen Denkens gefunden hat.

Die dem allgemeinen Bewußtsein geläufigste dieser Voraus- setzungen ist jener »naive Realismus«, der da meint, dem erkennenden Geiste stehe eine Welt von Dingen gegenüber, die es nun zu fassen, deren es sich durch das Denken zu bemächtigen gelte, und es sei nur die Frage, auf welchem Wege das am sichersten und richtigsten geschehen könne. Dieser naiven Meta- physik haben sich als der Grundlage ihrer erkenntnistheoretischen Fragestellung und somit als einer die Lösung des Problems von vornherein bestimmenden Voraussetzung) weder der Empirismus noch der Rationalismus der vorkantischen Philosophie entschlagen können. Der eine erklärte sich den Prozeß des Erkennens durch eine Einwirkung der Dinge auf den Geist, der andere mußte schließlich eine prästabilierte Harmonie annehmen, vermöge deren die Gesetze des Denkens mit denjenigen der zu erkennenden Wirklichkeit von vornherein identisch seien. So beruhen die Lehren von Locke und Leibniz gleichmäßig auf jener Voraus- setzung, und es war trotz aller Versuche, zwischen ihnen zu ver- mitteln und ihre Einseitigkeiten zu überwinden, eine prinzipielle Überschreitung der von ihnen gewonnenen Ansichten so lange unmöglich, bis jene Voraussetzung des naiven Realismus als solche durchschaut mid der bestimmende Einfluß, den sie auf die Er- kenntnistheorie ausgeübt hatte, eliminiert wurde. Diese Einsicht ist die Tat, welche Kant zum kritischen Philosophen xax iJo/Y^v gemacht hat, und der Augenblick, wo er sie gewann, bezeichnet den Ursprung seiner eigentümlichen Lehre. Sie ist aber eben deshalb erst das Ziel und der Abschluß seiner vorkritischen Ent- wicklung, und deren Anfänge entspringen an anderen, sehr viel spezielleren Problemen.

Unter den besonderen Voraussetzungen, welche die gesamte vorkan tische Philosophie machte, hat eine geradezu das Ferment für Kants Entwicldung gebildet: die herrschende Meinung über den wissenschaftlichen Charakter der Mathematik. Empiristen und Rationalisten waren darin einig, in der Mathematik das Ideal

LcMbniz und Newton. \[)

alI(M- bowciHOtulcii WisflcnHcliaffc zu erblicken. Dicso AnHJclit wjir die llicl lisch nur, wonacli der cnipiriHtischc Skeptizinnuis in Ihnnc seine rücksichtslose Kritik an den iihrif^en Wissenschaften voll- zog;; diese Ansicht war die Voiaussetzun«^', unter welcher der Rationalisnms von Descartcs bis Wolff unablii-ssi^ an der, Kon- struktion einer >> geometrischen Metliode << der Philosophie arbeitete. Wenn Kant mit seinen pliilosopliischen Studien in diesen Ratio- nalismus hineinwuchs, weim auch er zunächst die Identität mathematischen und philosophischen Verfahrens als etwas Selbst- verständhches ansehen lernte, so mußte der erste Anstoß zu einer selbständigen Entwicldung bei ihm in dem Moment entstehen, wo er sich an irgend einem Punkte einer prinzipiellen Differenz mathe- matischer und philosophischer Behandlung desselben Problems bewußt wurde. Nun war aber gerade die Naturphilosophie, in der am ehesten mathematische und metaphysische Theorien mit- einander in Konkurrenz treten, das Gebiet seiner ersten selb- ständigen Arbeiten, und um so mehr mußte ihm das Verhältnis dieser beiden Wissenschaften zu einem Gegenstande der Unter- suchung werden, als der Philosoph, den er am höchsten schätzen gelernt hatte, und der große Vertreter der mathematischen Natur- forschung, den er auf das tiefste bewunderte, gerade über die wichtigsten Fragen in unlöslichem Widerspruche miteinander zu stehen schienen.

War daher Kant schon in seiner allerersten Schrift auf ein verschiedenes Resultat der mathematischen und der philosophischen Naturbetrachtung aufmerksam geworden, indem er gefunden hatte, daß die »lebendigen Kräfte aus der Mathematik verwiesen werden« müßten, um in die Natur und ihre metaphysische Betrachtung aufgenommen zu werden, so nahm diese Erkenntnis viel weitere Dimensionen an, als er sich klar wurde, daß zu den Problemen des Raumes Leibniz und Newton eine diametral entgegengesetzte Stellung einnahmen und einnehmen mußten. Als er in seiner physischen Monadologie untersuchen wollte, wie sich Metaphysik und Geometrie in der naturphilosophischen Untersuchung mit- einander verbinden, fand er zunächst, daß sie sich trennen. Die Metaphysik, ( worunter Kant immer die Leibnizische Monadologie denkt^N leugnet die unendliche Teilbarkeit des Raumes, leugnet die Existenz des leeren Raumes, leugnet die Wirkung in die

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20 Kants Entwicklung,

Ferne, und die matliematisclie Naturphilosophie behauptet in allen diesen Stücken das Gegenteil. Indem Kant hier einen Versuch der Vermittlung macht, benutzt er gegen Newton die Leibnizische Lehre von der Phänomenalität des Baumes. Die Newtonsche Lehre würde unanfechtbar sein, wenn der Raum eine absolute Wirklichkeit und das Substrat für die Körperwelt wäre, wenn infolgedessen die Gesetze des Raumes auch für das innerste Wesen der Körperlichkeit bestimmt wären. Ist dagegen der Raum nur ein Kraftprodukt der die Körper konstituierenden Monaden, so gelten die räumlichen Gesetze zwar für die Er- scheinungsform der Körperlichkeit, aber nicht mehr für das meta- physische Wesen der Körper. So überwiegt zunächst noch in Kants Betrachtung die Leibnizische Metaphysik über die Newtonsche Lehre, und die letztere wird auf Grund der Unterscheidung zwischen dem wirklichen Körper und dem Räume, den er ein- nimmt (eine Unterscheidung, welche sich zugleich gegen die funda- mentale Annahme der cartesianischen Naturphilosophie richtet), auf die äußere Erscheinungsform der Körper eingeschränkt. Während für Newton der Raum etwas Absolutes bildet, betrachtet ihn Kant mit Leibniz als etwas Relatives und sucht diese Ansicht als einen >> neuen Lehrbegriff von Bewegung und Ruhe« durch empirische Betrachtungen zu begründen (1758).

In gewisser Weise grenzt also Kant in diesen Schriften die Gebiete der Mathematik und der Metaphysik in Rücksicht auf die Gegenstände gegeneinander ab, und es ist sehr zu beachten, daß diese Grenzscheidung an der Linie entlang läuft, welche Leibniz zwischen dem metaphysischen Wesen der Körper und ihrer räumlichen Erscheinungsweise gezogen hatte. Allein wert- voller als diese Einsicht in die sachliche Differenz zwischen beiden Wissenschaften erwies sich in den folgenden Jahren bei Kant diejenige in ihren formellen und methodischen Unterschied. In dieser Beziehung ist es sehr wichtig, daß schon Kants erste er- kenntnistheoretische Schrift, wenn sie auch im allgemeinen den Standpunkt der Leibniz- Wolffschen Schulansicht der Metaphysik festhält, doch daneben sehr lebhaft den Einfluß eines Mannes er- kennen läßt, welcher der Herrschaft der geometrischen Methode in Deutschland am kräftigsten entgegengetreten war. Wenn Kant die ersten Prinzipien der metaphysischen Erkenntnis neu zu beleuchten

Abwondunjf vom Rationalisniua. 21

unternalirn, so tat or es zwar an (l(3r Hand der Grundhogriffo der Wolffisoheii Ontologie, aber ho, daß er stets darauf das Licht der Kritik von Orusius fallen ließ. Er verfolgt die von diesem begonnene Unterscheidung des Realgrundes und des Erkenntnis- grundes, und wenn er sich auch später gerade über Crusius sehr abfällig geäußert hat, so ist doch dessen Wirkung auf ihn ganz augenfällig. Kant sieht wie jener die Aufgabe der Philosophie in der Erkenntnis der Wirklichkeit, und mit dem Sinn für die letztere, der in Kant durch die naturforschende Richtung seines Geistes begründet war und in seinen Schriften dieser Zeit immer lebhafter sich geltend machte, tritt er mehr und mehr in Oppo- sition zu der schulmäßigen Auffassung des Rationalismus, welche ihre Ansichten von der metaphysischen Realität aus logischen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten ableitete. Diesen Sinn hat es, wenn er dem Satze des Widerspruchs in seiner Habilitations- schrift denjenigen der Identität koordinierte, und wenn er daran eine Auseinandersetzung darüber knüpfte, daß es unmöglich sei, das höchste, absolute Sein aus der »Unmöglichkeit des Gegen- teils« nach dem Schema der Wolffischen Ontolosjie abzuleiten. Er hat begriffen, daß es kein Denken geben kann, welches noch hinter die absolute Wirklichkeit zurückginge und deren Grund etwa in logischen Verhältnissen aufsuchte, und er sagt vom »Sein« die tiefen Worte: »Existit: hoc vero de eodem et dixisse et con- cepisse suff icit. « Nicht die Notwendigkeit des Seins, sondern das bloße "Sein selbst gilt es zu konstatieren und zu beweisen.

Innerhalb dieser charakteristischen, schon leise nach der em- piristischen Seite sich hinziehenden Grenzen hält Kant in der Habilitationsschrift an der durch Knutzen vertretenen Metaphysik der Wolf fischen Schule fest. Er ist namentlich überzeugt, daß die analytische Methode der logischen Begriffsentwicklung durchaus imstande sei, die Wirklichkeit und weiterhin ihre kausalen Zu- sammenhänge in einer apriorischen Erkenntnis zu rekonstruieren, und er glaubt noch fest an die Möglichkeit, durch den logischen Gedankenfortschritt eine Erkenntnis der Welt zu gewinnen, xlber nachdem er einmal auf eine gewisse Diskrepanz zwischen Realität und logischer Begründung aufmerksam geworden war, verfolgte er, um »die Methode der Metaphysik zu vervollkomnmen«, die Beziehungen weiter, welche zwischen realen und logischen

22 Kants EntwickluDg.

Verhältnissen obwalten. Es ist ja die Kardinalfrage alles Rationalis- mus, wie weit und in welchem Sinne logische Notwendigkeiten reale Notwendigkeiten sind wie weit m. a. W. die Kraft der Logik reicht, um die Wirklichkeit zu begreifen. War nun Kant in der rationalistischen Ansicht von der Bedeutung der logischen Formen aufgewachsen, so ist in seiner allmählichen Entwicklung diese Ansicht völlig unterwühlt worden: doch war es nicht nur die Beschäftigung mit den englischen Philosophen, sondern weit mehr seine eigene wühlende Kritik, welche ihn dem rationalistischen Vorurteil entfremdete und mit der Zeit zu der Ansicht führte, daß das Vorgeben des Rationalism.us, die Welt aus logischer Kon- struktion zu begreifen, illusorisch sei. Die logischen Ansichten, die Kant in dem kleinen Aufsatz über die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren niederlegte, gehen darauf hinaus, zu zeigen, daß alle begriffhchen Operationen immer nur den bis- herigen Erkenntnisinhalt in neue formale Beziehungen bringen, niemals aber etwas Neues erschließen und hinzufügen können. In einfachster und durchaus selbständiger, rein logisch-theoretischer Form bricht bei Kant dieselbe Ansicht durch, mit der Bacon und Descartes sich gegen den logischen Formalismus der Scholastik empört hatten: Kant wendet diese Einsicht gegen die scholastische Gestalt, die der Rationalismus in der Wolffischen Schule wieder angenommen hatte. Er proklamiert hier bereits den Kampf gegen diesen logisch -metaphysischen »Koloß, dessen Haupt bis in die AVolken des Altertums ragt, und dessen Füße von Ton sind«. Die Ausführung dieses Gedankens ist in den Schriften der sechziger Jahre niedergelegt, und sie endet folgerichtig mit einer völlig neuen Auffassung von der Philosophie.

Zwei Grundfragen sind es, welche alle Metaphysik zu beant- worten hat; die eine lautet: Was ist? die andere lautet: Nach welchen Gesetzen wirkt das Seiende? Existenz und Kausa- lität sind die beiden Grundpfeiler unserer gesamten Weltauffassung. Wenn daher Kant kritisch der metaphischen Methode näher tritt, so fragt es sich, wie diese beiden Fragen auf dem Wege der logischen Analyse zu lösen sind. Für den Schluß auf die Existenz kennt die logische Betrachtung nur den einen Erkenntnisgrund, der in der Unmöglichkeit des Gegenteils besteht. Diese Unmög- lichkeit des Gegenteils wird, insofern es sich um endliche Dinge

Kxititün/ liiid KiiusalitUl. 23

luiiulelt, durch kausale Vcriuittlun;^eu ürachlosHcn. S(>bald ea sich aber um das absolute Wesen haiidell, bleibt nur die lo^i.scho Un- möglichkeit, es als nicht existierend zu denken, iibri;^. So stößt Kant auf den Nerv des ontologischen Beweises für das Dasein (lottes, und seine neue Einsicht entwickelt sich in einer Kritik der Beweisgründe für das Dasein Uottes, welche in der Behauptung gipfelt, daß es in alle Wege unmöglich ist, aus dem begriffe die Existenz »herauszuklauben«, mit anderen Worten, daß die logische Analyse unfähig ist, die Existenz zu beweisen.

Von hier an richtet Kant mit geschärfter Kraft sein Auge auf alle Verwechslungen, die in der bisherigen Philosophie zwischen den logischen und den realen Verhältnissen gemacht worden sind, und unter diesen fällt ihm vor allen der Begriff des Widerspruchs auf. Je größer die Rolle ist, welche in allen logischen Operationen des Menschen die Negation spielt, um so gefährlicher ist dabei die Neigung, diese logischen Verhältnisse zu hypostasieren. Auch in der Wirklichkeit herrscht überall Gegensatz, und der logischen Betrachtung erwächst daraus die Verleitung, die einander wider- strebenden Kräfte der Wirklichkeit in demselben Verhältnis zu- einander zu denken, wie die Begriffe oder Sätze, die zueinander in dem logischen Verhältnis des Widerspruchs stehen. Hiergegen erhebt Kant Protest, und die tiefste seiner vorkritischen Schriften macht den »Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Welt- weisheit einzuführen«, einen Versuch, von dem er sich mehr verspricht als von der Anwendung der mathematischen Methode auf die Philosophie. Die Kräfte, die man in der mathematischen Betrachtung als positiv und negativ bezeichnet, sind beide voll- kommen real, und der Begriff von Positivität und Negativität (der sich durch die Vertauschbarkeit der Vorzeichen als relativ erweist) will nur sagen, daß die Wirkung dieser Kräfte sich gegen- seitig aufhebt. Das ist ein ganz anderes Verhältnis als die logische Aufhebung, welche durch das Zusammentreffen kontra- diktorischer Bestimmungen erfolgt und zum reinen Nichts führt. Kant exemplifiziert diesen Gedanken sehr glücldich an der Körper- bewegung. Ein Körper, der zugleich sich bewegt und sich nicht bewegt, ist ein Unding. Aber ein Körper, der von zwei gleich- starken Kräften nach diametral entgegengesetzten Seiten zugleich bewegt wird, ist in Ruhe. In dem ersteren Falle haben wir das

24 Kants Entwicklung.

Beispiel der logischen Opposition, in dem zweiten Falle dasjenige der Realrepugnanz, und Kant macht darauf aufmerksam, daß sehr viele Begriffe, welche man leicht versucht ist, in das erstere Verhältnis zu setzen, in Wahrheit zueinander in dem zweiten stehen. Lust und Unlust, Haß und Liebe, übel und gut, Tadel und Ruhm, Häßlichkeit und Schönheit, Irrtum und Wahrheit stehen nicht so zueinander, daß das eine immer nur der Mangel oder das Nichtvorhandensein des andern wäre, sondern so, daß es eine dem andern entgegengesetzte, reale und nur in der Ent- gegensetzung Negativ zu nennende Kraft ist. Bedenkt man, welche Bedeutung in der spinozistischen Philosophie die metaphysische Reahtät der Negation spielte, welche Wichtigkeit in der ratio- nalistischen Erkenntnistheorie die Lehre von der Negativität des Irrtums einnahm, und wie sehr sich die Theodicee von Leibniz auf die Negativität der Unlust und des Bösen stützte, so begreift man die Tragweite des Schriftchens, dessen Verfasser sicher das Vorurteil des Rationalismus überwunden haben mußte. Allein Kant begnügt sich nicht damit, die logische und die reale Oppo- sition genau voneinander zu unterscheiden, sondern er gründet darauf den weiteren Schluß, daß das analytische Verfahren logischer Begriffsentwicklung zwar für die Erkenntnis der logischen Opposition selbstverständlich kompetent sei, dagegen das Ver- hältnis der realen Opposition nicht aus den begrifflichen Voraus- setzungen zu entwickeln imstande sei, und so führt ihn am Schlüsse diese Betrachtung zu einer allgemeinen Kritik der kausalen Er- kenntnis überhaupt. Hat sich gezeigt, daß der Syllogismus un- fähig ist, zu begreifen, wie es kommt, daß die eine Kraft die Folge der andern aufhebt, so erweist sich schließlich, daß es ebensowenig möglich ist, auf lediglich syllogistischem Wege »heraus- zuklauben«, daß ein Ding auf ein anderes eine positive Wirkung ausübe, und Kant schließt mit einer kurzen, in ihrer begrifflichen Entwicklung vollkommen selbständigen Andeutung darüber, (faß die kausalen Verhältnisse sich einer Erkenntnis auf dem analy- tischen Wege der Begriffsentwicklung durchaus entziehen.

Wer aber eingesehen hat, daß weder die "Existenz noch die Kausalität begrifflich erkannt werden können, daß die Anwendung des Satzes vom Widerspruch und desjenigen vom zureichenden Grunde innerhalb der bloßen Begriffsbewegung fruchtlos ist, daß

iMiil(jhu[)hic uikI iMullioiniilik. 25

CS also ciiio KikcniilMis der Wirklichkeit aus hloücn Jit!;^rifffn nicht ^ebiMi kann, der ist kein Schüler der ml ionalistischeii Metaphysik mehr, und der iiiul] überzeugt sein, daß die ^geometrische Methode ein Irrweg dei Metaphysik ist. Als deshalb Kant, gleichzeitig^ mit der Abfassunj^ jener beiden Schriften, eine Jieantwortuii^ der Preisfrage der Berliner iVivademie nach der Evidenz in den meta- physischen Wissenschaften unternahm, gab er als seine Unter- suchung »über die Deutlichkeit der (irundsätze der natiirlichea Theologie und Moral« in erster Linie eine formelle und metho- dische Unterscheidung zwischen Philosophie und Mathe- matik. Wählend er für die Metaphysik den Charakter einer analytischen Wissenschaft der Begriffe zu dieser Zeit noch fest- hält, hat er sich klar gemacht, daß die Mathematik ein ganz entgegengesetztes Verfahren einschlägt. Ihr Wesen ist dasjenige der synthetischen Konstruktion, und diese darf sie anwenden, weil ihr Objekt die räumlichen Größen bilden, welche sie selber in der Anschauung erzeugt. An dieser Stelle liegt, vermutlich durch eine Art von Kontrastwirkung entsprungen, Kants erste große wissenschaftliche Entdeckung vor. Es ist die Einsicht, daß die Mathematik keine ^lalytisch verfahrende Wissenschaft des Verstandes, sondern eine sjnithetisch verfahrende Wissen- schaft der Anschauung ist. In gewisser Weise kehrt Kant damit zu Descartes zurück, der sich wenigstens des synthetischen Charakters des mathematischen Denkens bewußt geblieben war, und jedenfalls tritt Kant damit in einer für seine weitere er- kenntnistheoretische Entwicklung bestimmenden W^eise der all- gemeinen Meinung seines Zeitalters durchaus entgegen. Die beiden Elemente seiner wissenschaftlichen Bildung, Mathematik und Phi- losophie, treten zu dieser Zeit am weitesten bei ihm auseinander und erscheinen in durchgängigem xVntagonismus. Denn jener Gegensatz des analytischen und des synthetischen Verfahrens zieht noch weitere Folgen nach sich. Die Mathematik geht von Defi- nitionen aus, die Philosophie hat sie zu suchen; die Mathematik behandelt Größen, w^elche sie selbst in der Anschauung konstruiert, die Philosophie Begriffe, die ihr gegeben sein müssen. Das ist die weiteste Entfernung, welche Kant je von den Prinzipien des Rationalismus erreicht hat ; es klingt darin der Grundgedanke von Crusius an, daß eine nach Analogie der Mathematik

■iBiflMII

26 Kants Entwicklung.

konstruierende Methode für die Philosophie deshalb nicht brauchbar sei, weil sie eine gegebene Wirklichkeit zu erkennen hat. Den Ausgangspunkt der philosophischen Erkenntnis bilden daher für Kant in dieser Schrift nicht die Axiome der Wolffischen Ontologie, sondern vielmehr die gegebenen Begriffe der Erfahrung ; die Phi- losophie ist ihm noch immer eine Wissenschaft aus Begriffen, aber nicht mehr aus reinen Begriffen, sondern aus Begriffen der Erfahrung, und es hängt damit zusammen, daß er um diese Zeit die Lehren des englischen Empirismus mit großer Sympathie er- griff und persönlich wie auf dem Katheder vielfach auf Locke, Shaftesbury, Hutcheson und Hume Rücksicht nahm.

Es ist viel darüber verhandelt worden, an welcher Stelle seiner Entwicklung und in welcher Weise die englische Philosophie und besonders Hume auf Kant jenen Einfluß ausgeübt haben, den er in späteren Jahren wohl etwas überschwengHch selbst anerkannt hat. Es ist namentlich die Frage, ob Kant durch die Lektüre der engHschen Empiristen dem Rationalismus entfremdet w^urde, oder ob er umgekehrt, nachdem er in anderer Weise an der Lehre des Rationalismus irre geworden war, sich der ent- gegengesetzten Richtung zuneigte. Offenbar ist nun die Art, in welcher Kant die Unzulänglichkeit des RationaUsmus hinsichtlich der Erkenntnis sowohl der Existenz als auch der Kausalität in seinen Schriften der sechziger Jahre darstellt, eine so durchaus originelle, daß die größere Wahrscheinlichkeit dafür vorliegt, er habe sich, wenn auch mit Hilfe der mannigfachen Opposition, die in Deutschland selbst gegen Wolff aufgetreten war, im wesent- lichen doch durch eigene Kraft aus den Fesseln des Schulsystems befreit und dann erst dem Empirismus »Gehör geschenkt«. Er war durch die eigene kritische Arbeit auf dieselben Resultate geführt und schien sich eine Zeitlang mit den engHschen Philo- sophen in gewisser Hinsicht einstimmig zu sein. Die »zetetische« Auffassung der philosophischen Methode, wonach sie von den durch die Erfahrung gegebenen Begriffen allmählich zu den höchsten Definitionen aufsteigen soll, dieser Baconismus beherrschte nicht nur seine Vorlesungen, sondern auch seine Schriften und besonders auch die Behandlung der moralischen und ästhetischen Probleme in den »Beobachtungen«. Er war in Form und Inhalt auf dem freien und beweglichen Standpunkte der weltmännischen Philosophie

.Motu|»li)siHcl»c8 HodürrniH. 27

ani^ekoiimu'ii. dci- sich seine eiLM-iie Lehre währeiul dieser Zeit in ziiiioluiiemleiii IMiilJc iiniihiielte.

liis zu (li(, ( Ml INiiiktc ist die Entwicklun;^ Kants verliältnis- niäl3i<i; cinliieh und durchsic'hti«i;; von hier an ;iber wird .sie selir bald außerordentlich viel verwickelter und undurclisichti^er. Schon die Preisschrift zeigt, daß Kaut dem enj^lischen Knipirisnius niemals ohne eine gewisse Jleserve beigetreten ist. Die Erkenntnistheorie, welche er in dieser Schrift entwickelt, ist fast in derselben Weise initertig und widerspruchsvoll, wie es diejenige von Crusius immer geblieben war. Einen gewissen Rest von Kationalisnms hat Kant auch in diesem äußersten Stadium immer bewahrt, und dieser besteht in der Überzeugung, daß mit den gegebenen Begriffen der Erfahrung die letzten x\ufgaben der Erkenntnis nicht gelöst werden können, wenn man nicht gewisse »unauflöshche« Begriffe und unauflösliche Axiome hinzunimmt. Über deren Stellung zu den Begriffen der Erfahrung, über die Art ihres Ursprungs und ihrer Anwendung ist Kant während dieser Übergangszeit offenbar durch- aus noch nicht im Idaren. Und daher ist der Eindruck dieser prinzipiellen Schrift verhältnismäßig unsicher und vielfacher Deutungen fähig. Bemerkenswert aber ist hauptsächlich der Zweck, um deswillen Kant den'^Erfahrungsbegriffetf zur Ergänzung diese ^unauflösHchen Beariffe^ zur Seite stellen will. Ohne sie würde unser Denken niemals den Kreis der endlichen und sinnlichen Dinge zu überschreiten imstande sein. Nur mit Hilfe dieser un- auflöslichen Begriffe lassen sich die, Grundsätze der natürlichen Theologie und Moral in wissenschaftlicher Weise feststellen, und diese Feststellung anderseits galt Kant um diese Zeit noch als die letzte und höchste Aufgabe der Philosophie. Er erw^artete und verlangte von ihr die wissenschaftliche Begründung der religiösen und moralischen Überzeugung, welche er als das Unerschütterlichste in sich trug. In diesem Sinne war er »in die Metaphysik verliebt« und hoffte er eine Methode der Meta- physik zu finden, vermöge deren sie ohne die willkürlichen An- nahmen der schulmäßio;en Ontologie aus der Erfahruno- heraus jenen Beweis leisten könnte. Offenbar aber hatte er, wie es auch aus seiner Korrespondenz mit Lambert hervorgeht, über den Charakter jener unauflöslichen Begriffe und die Methode ihrer Ver- wertung zu dieser Zeit noch durchaus unbestimmte Vorstellungen.

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28 Kants Entwicklung.

Während er aber so dem Gedanken einer metaphysischen Methode nachging, weiche die Grundlage für die religiöse und moralische Überzeugung gewähren sollte, griff allmählich eine ganz entgegen- gesetzte Strömung in seinem Geiste Platz, und deren Ursprung darf man mit Recht in einem ausländischen Einflüsse suchen. Kant war einer der ersten und sein Leben lang einer der auf- richtigsten Verehrer von Rousseau. Wenn er selbst sich in meta- physischen Grübeleien erging, ohne zu dem gewünschten Ziele der theoretischen Begründung absoluter Gewißheit zu kommen, und wenn er dabei beobachtete, wie die metaphysischen Aasichten sich in ihm gewandelt hatten, ohne daß doch seine moralische und seine religiöse Überzeugung ins Wanken gekommen war, so mußte ihn der Emile auf das tiefste ergreifen. Hier fand er Moral und Religiosität aus den Wirren des metaphysischen Zankes heraus- gehoben und auf die Basis des natürlichen Gefühls gestellt. Hier fand er, was ihn auch der Blick in seine Umgebung lehrte, daß moralische und religiöse Überzeugung weder ein Privilegium des wissenschaftlichen Denkens sind, noch durch die metaphysische Spekulation befestigt und erhalten werden. Der freie Ausblick auf die Weite des menschlichen Lebens, den er durch die empiristische Richtung gewonnen hatte, machte ihn diesen Einflüssen noch zu- gänglicher. Und so reifte in ihm die Meinung, daß die Metaphysik zur Begründung der Moralität und der Religion weder nötig noch nützlich sei. In ähnlicher Weise wie Bayle und Voltaire,' dessen Schriften Kant gleichfalls eifrig las, wurde er durch sein skeptisches Verhalten gegen die Metaphysik, in der er aufgewachsen war, dazu geführt , Metaphysik imd moralisch-religiöses Leben' als zwei ge-^ schiedene und zu scheidende Gebiete aufzufassen. Diese Scheidung hat er dann, wenn auch in einer außerordentlich vertieften Form, in seinem eigenen Systeme zur Geltung gebracht. Aber ihre Keime sind bereits in dieser Phase seiner Entwicklung zu suchen. Schon während er sich abmühte, den bisherigen von seiner Kritik zerstörten Beweisen von dem Dasein Gottes noch einen neuen » einzig möglichen Beweisgrund« hinzuzugrübeln, den er später stillschweigend hat fallen lassen, fügte er hinzu, es sei durchaus nötig, daß man vom Dasein Gottes überzeugt sei, aber nicht ebenso nötig, daß man es beweise. Von dieser Äußerung des Jahres 1763 ist zwar ein langer Weg, aber immer in derselben Richtung, bis zu jener Er-

Muta])liyHik und Morcil. 29

kliiruii^', womit er ii\ der Vorrode zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft den Zweck dieses Werkes dahin anj^^ab, er habe das Wissen fortriiunien müssen, inn IMatz für den (ilaubcn zu gewinnen. Je mein sich diese Trenn un^^ deH thcoretiHchen uihI dcH praktischen Elements in Kants Überzeugung befestigte, um so wertloser mußten ihm seine eigenen metaphysischen Spekulationen, mußte ihm die Metaphysik selbst erscheinen. Wenn sie das, was er immer für ihren wesentlichen Zweck gehalten liatte, schließlich doch nicht zu leisten vermochte, was war sie dann noch wert? Was enthielt sie dann anders als nutzlose, törichte Grübeleien? Dieser Antagonismus zwischen seinen eigenen metaphysischen Bestrebungen und der Rousseauschen Überzeugung brachte Kant in eine geteilte und fast verzweifelte Stimmung, und dieser machte er durch eine seiner geistreichsten und charakteristischsten Schriften gewissermaßen gewaltsam Luft. Gerade in seinem metaphysischen Bedürfnis nach dem Übersinnlichen hatte er begierig zu den Ent- hüllungen gegriffen, die ein Führer des damaligen Spiritismus, der schwedische Geisterseher Swedenborg, über die Geheimnisse des Jenseits versprach. Als er dann, enttäuscht und ärgerhch »die Träume dieses Geistersehers durch die Träume der Metaphysik erläuterte «, als er mit glänzendem Witz die luftige Nichtigkeit der gelehrten Spekulation geißelte, da waren es eigene Erfahrungen, die er in diesem Selbstbekenntnis niederlegte, und eigene Bestrebungen, welche sein Spott traf. Darum aber war es auch kein reiner Humor, der in dieser Schrift waltete. Wer zwischen ihren Zeilen zu lesen versteht, der muß herausfühlen, welchen schweren Kampf es den Verfasser gekostet hat und noch kostet, auf jenes geliebte Ziel der m^etaphysischen Spekulation zu verzichten, und wie er nur darum ihr seine bittern Vorwürfe entgegenschleudert, weil sie ihm seinen innigsten Wunsch nicht erfüllt hat. Aber mag er auch damit in das eigene Fleisch schneiden, in vollem Ernste macht er hier den Schnitt zwischen ^Metaphysik und Moral, und während er für die letztere an den gesunden Menschenverstand und an die Lebensweisheit des »Candide« appelliert, verweist er die erstere aus dem Reiche des Übersinnlichen und Unerfahrbaren. Die Bescheidung der theoretischen Philosophie auf das Gebiet der ^Erfahrung als einer der Grundsteine von Kants persönlicher Über- zeugung ist damit vorläufig gewonnen.

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Was sollte aber aus der Metaphysik werden, wenn sie jene »Lieblingsgegenstände« der Aufklärungsphilosophie nicht mehr behandeln durfte, wenn ihr der Weg von der Erfahrung zu dem Unerfahrbaren versperrt war? Auch darin hatte der englische Empirismus und namentlich Hume den Weg gewiesen. Wenn die Metaphysik nicht mehr die Erfahrung überschreiten und wenn sie doch auch nicht in die besonderen Erfahrungswissenschaften sich verlaufen soll, so bleibt ihr nur übrig, die Tatsache derJEr-^ kenntnis selbst zum Gegenstande ihrer Untersuchung zu machen. Die Metaphysik, die keine Lehre von der übersinnlichen Welt sein darf, kann nur Erkenntnistheorie werden. An die Stelle der Meta- physik der Dinge tritt die Metaphysik des »Wissens«. Die theo- retische Philosophie wird Wissenschaftslehre, und da dieser ganze Gedankenprozeß auf der Überzeugung beruht, daß der mensch- lichen Erkenntnis die theoretische Begründung von Moral und Religion versagt ist, so wird die Metaphysik eine Wissen- schaft von den Grenzen der menschlichen Erkenntnis. Wer darin den Schwerpunkt des Kantischen Kritizismus sieht, muß dessen Ursprung bis in das Jahr 1766 zurück verlegen.

Mit dieser Ansicht rechtfertigte sich vor Kant sein fortdauerndes Bemühen, die Methode der Metaphysik sicherzustellen und zu ver- bessern. Mochte sie nun auch nicht mehr dem Zwecke dienen, den er ihr einst gesetzt, so waren doch gerade die Untersuchungen über die Methode wertvoll für die Theorie von dem Wesen und den Grenzen der menschlichen Erkenntnis, in die er jetzt den Schwerpunkt der theoretischen Philosophie verlegte. Seine brief- lichen Äußerungen an Lambert lassen erkennen, wie sehr ihm die Verbesserung der Methode der Metaphysik am Herzen lag, und wie wenig ihn die Versuche förderten, die jener dazu gemacht hatte. Daß die »Erfahrung« dabei mitzusprechen habe, aber allein dazu nicht genüge, daß vielmehr »unauflösliche«, d. h. ur- sprüngUch gültige Begriffe dazu erforderlich seien, darüber waren beide Männer einig, aber darauf beschränkt sich auch die Über- einstimmung. Lambert betrachtete diese Elementarbegriffe unter dem Leibnizischen Gesichtspunkte der primae veritates, d. h. als sachlich bestimmte Urwahrlieiten und suchte vergeblich nach einem Prinzip zu ihrer vollständigen Darstellung. Kants per- sönlich liebenswürdige, aber inhaltlich kühle Aufnahme dieser Ge-

I'iinwirkuiifx villi \jCti\>u\/.. 31

(laiikcii liil.il, wciiii man <jjonau zusieht, nkoiincu, daß er diesen \Ve<^ für weiiiji, aussichtsvoll hicll. Kr seihst schlug einen andern ein, der die unaufKislicluMi l>('i.'riff(' iiiclil im Inhalte, sondern in der Fpi'ni der Erfahruni,^ suchte.

In der Auffinduni; dieses Prinzips ist Kant offenhar am ijieisten durch das erkenntnistheoretische Hauptwerk von Leibniz ge- fordert worden, das um diese Zeit bekannt wurde. Der gewaltige Eindruck der Nouveaux essais mußte ihn in CJedankenrichtungen zuriickfiihrcn, denen er in der Zeit seines Empirismus fremd und fremder geworden war. Die Nouveaux essais beliandelten ja gerade die Frage, wie die sinnliche Erfalirung zur Vernunft- erkenntnis gesteigert wTrdcn kann. Leibniz hatte zu zeigen ge- suclit, daß einerseits jene.,unaufl()sHchen Begriffe und Grundsätze, mit denen der Geist den Inhalt der Erfahrung in seiner Erkenntnis durchsetzt, nichts anderes enthalten, als das Bewußtsein der Ge- setze der geistigen Funktion selbst, und daß anderseits der zu bearbeitende Stoff der geistigen Form nicht als ein Fremdes gegenübersteht, sondern diese bereits in unbewußter, dunkler oder verworrener Gestalt in sich trägt. Diese Iheorie war die tiefste Form, in welcher Leibniz den Gegensatz des Rationalismus und des Empirismus dahin zu versöhnen gesucht hatte, daß er die apriorische Erkenntnis der Vernunft von ihren eigen-^n Gesetzen und die aposteriorische Erkenntnis der sinnlichen Erfahrung in eine graduelle Entwickluns^sreihe brachte. Für Leibniz schloß sich daran die weitere erkenntnistheoretische Annahme, daß die niedere Stufe dieser Entwicklung, die sinnliche Erfahrung, die Dinge nur in ihrer Erscheimmgsweise , daß dagegen die höhere Stufe, die klare und deutliche Vernunfterkenntnis, uns die Gesetzmäßigkeit der Dinge, wie sie an sich sind, zum Bewußtsein bringe. Mit diesem Gegensatze hing der andere zusammen, daß Vernunft- erkenntnis eine notwendige und allgemeine, daß dagegen sinnliche Erkenntnis immer nur eine zufällige und besondere Geltmig zu beanspruchen habe. Wenn sich Kant in diese Gedankenw^elt hinein- arbeitete, so gab sie ihm nach einer Richtung eine wertvolle psycho- logische Erklärung des Gegensatzes von Form und Inhalt der Er- kenntnis. Die Formen, die nur Verhältnisse sind, in welche der Inhalt durch das Denken tritt, durften als die bewußt gewordenen Funktionsgesetze der Intelligenz gelten, und er befand sich mit

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Leibniz in Übereinstimmung, wenn er daran festhielt, daß diese Formen im menschliclien Geiste nur an einem erfahrungsmäßigen Inhalt als die Funktionen von dessen Verarbeitung zum Bewußtsein kommen. Hatte daher Leibniz von einem virtuellen Eingeborensein der Ideen (im Gegensatze zur Lehre der Cartesianer und der Neu- platoniker) gesprochen, so überzeugte sich Kant, daß die »un- auflöslichen« Begriffe, die in der Metaphysik gesucht werden sollten, nur Verhältnisbegriffe und Funktionsformen der Ver- nunft sind, vermöge deren die Synth esis des Erfahrungsstoffes vollzogen und zum Bewußtsein gebracht wird. Die Erfahrung erscheint ihm danach als eine Synthesis, deren Inhalt a posteriori durch die Sinnlichkeit, deren Form a priori durch die Vernunft gegeben ist.

Diese Verstärkung, welche das rationalistische Element in Kants Denken durch den Einfluß von Leibniz erfuhr, wäre viel- leicht dazu angetan gewesen, ihn vollständig auf die Seite des früheren Rationalismus zurückzuziehen, wenn jene Erkenntnis- theorie nicht mit seinen Überzeugungen vom Wesen und Werte der Mathematik in einem weittragenden Widerspruche gestanden hätte. Mit Hilfe der Unterscheidung von "Dingen an sich und Erscheinungen erkannte die Leibnizische Lehre den Empirismus, der jetzt bei Kant schon einen so bedeutenden Raum einnahm, zwar an, aber doch nur in der Weise und mit der Beschränkung, daß die Erfahrung eine zufällige Erkenntnis der sinnlichen Er- scheinungsweise der Dinge enthalte. Hatte Kant in seiner dem Empirismus nahestehenden Periode sich vollkommen klar gemacht, daß es eine Erkenntnis von Tatsachen und ihrem kausalen Zu- sammenhange durch bloße Begriffe nicht geben kann, so war das auch die Ansicht von Leibniz; aber für Leibniz waren deshalb auch die »Tatsachen« nichts als die sinnliche Erscheinungsform der Dinge, während deren wahres metaphysisches Wesen ihm nm- durch die reine Vernunfterkenntnis zugänglich galt. So beruhte die ganze Leibnizische Erkenntnistheorie auf der Grundannahme, daß Vernunfterkenntnis mitlnotwendiger und allgemeiner Erkenntnis und mit Erkenntnis des Wesens der Dinge, umgekehrt aber sinn- liche Erkenntnis mit zufälliger Erkenntnis und mit Erkenntnis der Erscheinung identisch sei. Wenn Kant gegen die zweiten Glieder dieser Identifikation nichts einzuwenden fand, so wurde

Vorfltniul lind Sinnlirhkoit,. 3H

cv lim so inolir stiitzi<j; in Riicksiclit dor crston. Und an dicHor Stelle seiner Eniwicklung nun war oh, wo die Mathematik von entscheidender l^edeutun«]; für ihn winde. Sic füpjto sich in das Schema der Leibnizsclien Krkenntnislehre so lan^e ein, als man sie für eine analytisch verfahrende Wissenschaft des reinen Ver- standes hielt, wie das eben in der pjesamten vorkantischen Pliilo- sophie geschah. Nun aber hatte sich Kant überzeugt, daß die Mathematik eine anschauliche Wissenschaft der Sinnlichkeit sei, und so bildete für ihn die Notwendigkeit und All<^^emcin^ülti^keit ihrer Erkenntnisse, an der niemand und am allerwenigsten er selbst zweifelte, eine negative Instanz gegen die Leibnizsche Er- kenntnislehre. Sie lieferte den Beweis, daß es sinnliche Erkenntnis gibt, welche vollkommen ,, klar und deutlich ist, y und auf der anderen Seite bildete die Verworrenheit der metaphysischen Systeme den Beweis, daß ein Denken, das lediglich mit reinen Begriffen zu operieren glaubt, durchaus nicht immer den Ansprüchen der Klarheit und Deutlichkeit genügt.

Wollte Kant nun seine eigene Ansicht vom Wesen der Mathe- matik und doch zugleich die rationalistische Auffassung von Leibniz, welche ihm in Rücksicht auf die Erkenntnis der Dinge an sich eingeleuchtet hatte, festhalten, so blieb nichts anderes übrig, als jene Annahme seines großen Vorgängers umzugestalten, wonach die Sinnlichkeit sich zum Verstände als die niederere, unklarere und verworrenere zu der höheren, klareren und deutlicheren Er- kenntnisstufe verhalten sollte. Während also für Leibniz Sinnlich- keit und Verstand nur zwei verschiedene Entwicklungsstufen des- selben einheitlichen Erkenntnisvermögens gewesen waren, so kam Kant dem Gedanken auf die Spur, ob nicht in beiden zwei grund- verschiedene Tätigkeitsweisen des erkennenden Geistes vorliegen sollten. Wenn er Sinnlichkeit und Verstand als zwei entgegen- gesetzte Erkenntnisweisen betrachtete und die schärfste Sonderung ihrer Erkenntnisgebiete verlangte, so schien sich zunächst seine eigene Überzeugung von der Mathematik mit der Leibnizischen Lehre vertragen zu wollen. Wendete man nämlich dann auf beide den Unterschied von Form und Inhalt des Denkens an, so konnte man auf beiden Gebieten den Inhalt als ein Zufälliges und Tat- sächliches, die Form dagegen als ein Notwendiges und Allgemeines ansehen. Alles kam daher für Kant darauf an, ob man in der

Windelband, Gesch. d. ii. Philos. H. 3

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Sinnlichkeit ebenso reine Formen zu entdecken vermögen würde, wie es die Leibnizsche Erkenntnistheorie binsicbtlicli des Verstandes tat. Wenn Kant solche »Formen der Sinnlichkeit« suchte, so konnte es nur an der Hand der Mathematik geschehen, deren Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit ja eben dadurch begründet werden sollte. In diesem Zusammenhange der Gedanken machte Kant die einschneidendste seiner Entdeckungen. Es ergaben sich ihm nämlich die beiden reinen Anschauungsformen, Raum und Zeit, jener dem geometrischen, diese (als das Element des sukzessiven Zählens) dem arithmetischen Teile der mathematischen Gesetzmäßigkeit zugrunde liegend. Denkt man sich eine Er- kenntnistheorie von diesem Standpunkt aus durchgeführt, so beruht sie auf der Kreuzung der beiden Gegensätze von Sinnlich- keit und Verstand einerseits, von Inhalt und Form anderseits, und sie überträgt dann das Prinzip von Leibniz' Nouveaux essais auch auf die Sinnlichkeit. Es gibt dann in Gestalt der Emp- findung einen zufälligen Inhalt der Sinnlichkeit, welcher lediglich eine Erscheinungsform der Dinge darstellt; es gibt reine Formen der Sinnlichkeit, Raum und Zeit, welche mit ihren mathematischen Gesetzen ein adäquater Ausdruck der absoluten Wirklichkeit sind; es gibt einen aus den sinnlichen Anschauungen durch das logische Denken gewonnenen empirischen Inhalt der Verstandeserkenntnis, der natürlich auch wieder nur die Erscheinung der Dinge spiegelt; es gibt endlich reine Formen der Verstandeserkenntnis, in denen sich der metaphysische Zusammenhang der Dinge an sich dar- stellt. Eine solche Auffassung arbeitete alle Richtungen der bis- herigen Erkenntnistheorie ineinander, sie erkannte die Subjek- tivität der sinnlichen Empfindungen an, sie gab dem Empirismus so weit Raum, als er eine verstandesmäßige Bearbeitung dieser subjektiven Erscheinungen beanspruchte, sie begründete ^^äeder eine Metaphysik durch reine Verstandesbegriffe, und indem sie mit den letzteren die reinen Formen der Sinnlichkeit, Raum und Zeit, parallel behandelte, gab sie auch dem Newtonschen Grund- gedanken einer metaphysischen Realität von Raum und Zeit eine Stelle im System der Erkenntnistheorie. Betrat Kant diesen Stand- punkt, so stellte er sich vermöge seiner neuen Unterscheidung von Sinnlichkeit und Verstand als zweier nicht graduell, sondern prinzipiell verschiedener Erkenntnisweisen nicht nur der Leibnizi-

Sinnliche uiul ü))crHinnliclio Wolt. HO

sehen Lehre von der Phänoinenalität de« Raumes, .sondern vor aHom seiner ei<venen früheren naturphilosophischen Theorie von dem Vorhiütnis des Körpers zum llainne diametral gegenüber. Als Anzeichen für diese Phase seiner Entwicklun«^ besitzen wir nur das Schriftchen »Vom ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Räume« aus dem Jahre 17()8. In diesem entwickelt Kant an der Hand des Problems der symmetrischen Körper, daß es Unterscliiede im Wesen der K()rper Lubt, die ledifi^lich räum- licher Natur sind, und daß diese Unterschiede niemals begrifflicli definiert, sondern immer nur anschaulich bezeichnet werden können. Daraus folgt in objektiver Beziehung, daß nicht, wie Kant früher mit Leibniz gelehrt hatte, die Körper erst den Raum, sondern vielmehr der Raum die Körper möglich macht, daß also der Raum" eine der Möglichkeit der Körper überhaupt zu- grunde liegende Realität ist: in subjektiver Beziehung da- gegen ergibt sich, daß unsere Erkenntnis dieses Raumes nicht begrifflicher, sondern anschaulicher Natur ist. Das Newtonsche Element steht wieder stark und kräftig neben dem Leibnizischen. Aber Kant ist auch dabei nicht stehen geblieben, sondern hat sich von diesem Standpunkt aus gleichmäßig über beide Elemente erhoben. Was ihn weiter geführt hat, sind offenbar wesentlich zwei Gedankenreihen von sehr verschiedener Richtung. Zunächst vertiefte er sich immer energischer in das von ihm neu formu- lierte Verhältnis von Sinnlichkeit und Vernunft, und dabei erfuhr dieses eine derartige Ausbildung und Umbildung, daß es den Charakter eines Wertverhältnisses annahm. Schon bei Leibniz deckte sich ja dieser Gegensatz mit demjenigen der sinnlichen und der übersinnlichen Welt, und wenn Kant wieder die Möglichkeit der rationalistischen Erkenntnis der Dinge an sich energischer ins Auge faßte, so regten sich in ihm alle Triebe, welche auf die moralische und religiöse, d. h. auf die übersinnliche Bestimmung des Menschen hinwiesen, und er warf wiederum sein Auge auf die Metaphysik, ob sie ihm nicht doch noch den wissenschaft- lichen Beweis für den Inhalt seiner praktischen Überzeugung geben könnte. Zugleich aber nahm diese Überzeugung selbst im Zusammenhange mit jenen theoretischen Überlegungen eine schärfere und eigenartigere Gestalt an. Hatte er nämlich auf dem Gebiete der Erkenntnis eingesehen , daß der allmähliche Übergang der

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sinnlichen in die verstandesmäßige Erkenntnis ein Irrtum des bisherigen Rationalismus und durch die scharfe Sonderung zwischen beiden zu ersetzen sei, so galt die gleiche Konsequenz auch für das praktische Leben. Die empiristische Moralphilosophie, welche er selbst in den »Beobachtungen« noch vertreten hatte, leitete die moraUschen und religiösen Gefühle und Handlungen aus der allmählichen Veredlung der sinnlichen Triebe her. Dieser Ansicht konnte Kant mit seiner neuen psychologischen Auffassung um so weniger beitreten, als gleichzeitig in seinem ganzen persön- lichen Wesen eine rigorosere Stimmung Platz griff, worin er die^ MoraUtät dem ganzen natürlichen Triebsystem in der schärfsten Weise entgegensetzen zu müssen glaubte. So bestimmte seine praktische Überzeugung auch sein theoretisches Denken schon hier: er mußte von ihr aus den sinnlichen Trieb und den ver- nünftigen Trieb als grundverschiedene und ebendeshalb antagoni- stische Formen der praktischen Natur des Menschen ansehen. Jener persönliche Rigorismus, der mit den Jahren mehr und mehr in Kant zur Geltung gekommen war, trat nun hinzu, um die erkenntnistheoretische Ansicht des prinzipiellen Gegensatzes von Sinnlichkeit und Vernunft zur inner- sten Überzeugung des Mannes zu stempeln, und es kam ihm gewiß aus tiefster Seele, wenn er an Lambert schrieb, er habe nun nach mancherlei »Umkippungen« den Punkt gewonnen, von dem er nie wieder weichen werde. Aber mit dieser praktischen Über- zeugung mußte dann die theoretische Hand in Hand gehen, daß die sinnliche und die übersinnliche Welt nicht gleichen W^ertes auch für die Erkenntnis sein dürften. Galt der sinnliche Trieb des Menschen als Gegner des sittlichen, so konnte auch die sinn- liche Erkenntnis nicht eine Erkenntnis des wahren Wesens der Dinge sein. Es war die eigene Natur Kants, es war sein per- sönlicher Charakter, welcher ihn in den Piatonismus der Lcibnizi- schen Lehre zurückzog und ihn die Lehre, daß die reinen Formen der Sinnlichkeit ebenso wie diejenigen des Verstandes die absolute metaphysische Wirklichkeit erkennen, wieder aufgeben ließ.

Eine andere Überlegung trat hinzu. Über die Gegensätze, welche hinsichtlich der räumlichen Probleme zwischen Newton und Leibniz obwalteten, hatte Kant sich früher durch des letzteren Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung hinwegzuhelfen

AiitiiiomioM. 37

gewußt. Wenn er jetzt eine Zeitlang der NewtonHchen Auf- fassung von der absoluten Realität des Raumes und der Zeit zuneigte, so wurden diese Probleme von neuem in ilim lebendig. Es waren nanientlicli die Begriffe der Totalität und der Unend- lichkeit, welclie ihm Scliwierigkeiten machten, und schon damals stieß er, wie sicli durch mancherlei Zeugnisse hat wahrscheinlich machen lassen, auf die rätselhafte und ihn beunruhigende Tat- sache, daß er sich hinsichtlich dieser Probleme die widersprechenden Lehrsätze der verschiedenen Ansichten mit gleicher Sicherheit be- weisen und sie somit auch zu gleicher Zeit durcheinander wider- legen zu können meinte. Daß sowohl die Ausdehnung als auch die Teilbarbeit der räumlichen Körperwelt eine Grenze habe, schien ebenso des Beweises fähig, wie daß es eine solche Grenze nicht geben könne. Was Kant später die mathematischen Anti- nomien genannt hat, bewegte ihn schon um diese Zeit und gab mit den Ausschlag für die weitere Wandlung seiner erkenntnis- theoretischen Ansicht. Ein Raum, von dem sich beweisen ließ, daß er begrenzt und daß er unbegrenzt, daß die ihn erfüllende Körperwelt bis ins UnendÜche teilbar und daß sie es nicht sei, konnte unmöglich eine metaphysische Realität sein : denn er wäre der gesetzte Widerspruch ; eher ließe sich diese Antinomie begreifen, w^enn der Widerspruch in unsere Vorstellungstätigkeit verlegt würde, d. h. wenn der Raum keine metaphysische Realität, sondern nur eine menschliche Anschauungsform wäre. So drängte auch diese Betrachtung von der Newtonschen Lehre wieder ab und der Phänomenalität des Raumes wieder zu; sie störte aber in keiner Weise das frühere Ergebnis von Kants Überlegungen, wonach Raum imd Zeit als reine Formen der Sinnlichkeit und als Grundlage der gesamten Sinnenwelt betrachtet werden sollten. Ja, jene Phänomenalität schien sich am besten begreifen zu lassen, gerade wenn man Raum und Zeit als die im Geiste des Menschen vorgezeichnet liegenden Auffassungsweisen unserer sinnlichen Emp- fänghchkeit bestimmte.

Nur aus der Verschlingung dieser mannigfaltigen Gedanken- reihen läßt sich der eigentümliche, nach vorwärts und rückwärts schillernde Standpunkt begreifen, den Kant in seiner Inaugural- dissertation einnahm. Die wesentliche Aufgabe dieser Schrift sah Kant später selbst darin, seinen neuen Lehrbegriff vom

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Wesen des Raumes und der Zeit zu entwickeln. Diese Aufgabe erfüllt er nach einer vorangeschickten Untersuchung über den Begriff der »Welt«, worin jene an tinomischen Betrachtungen leise anklingen, durch eine scharfe Präzisierung des Gegensatzes von Sinnlichkeit und Verstand. Jene ist die Rezeptivität, dieser die Spontaneität unseres Erkenntnisvermögens. Jene enthält daher nur die subjektive Art und Weise, wie sich die Dinge in unserer Empfänglichkeit darstellen, dieser erkennt mit den reinen Formen seiner eigenen Funktion den Zusammenhang der absoluten Wirk- lichkeit. Aber auch die Sinnlichkeit besteht nicht nur in dem Vermögen affiziert zu werden, sondern vor allem darin, daß die bei dieser Affizierung entsprungenen Empfindungen in uns eine Anordnung nach räumlichen und zeitlichen Gesetzen finden, durch welche Synthesis erst das anschauliche Bild einer Sinnenwelt in uns entsteht. Kant liefert hier den im wesentlichen nachher von der »transzendentalen Ästhetik« reproduzierten Beweis, daß Raum und ^Zeit nicht Gegenstände der Empfindung, sondern viel- mehr synthetische Formen sind, nach denen sinnliche Empfindungen angeordnet werden, und daß diese Formen in uns nicht erst durch Abstraktion aus den einzelnen Erfahrungen begründet werden können, sondern vielmehr die ursprünglichen und bei den ein- zelnen Wahrnehmungen erst zur Anwendung und zum Bewußt- sein kommenden Funktionsgesetze der Sinnlichkeit sind. Er behandelt also Raum und Zeit genau so, wie Leibniz in den Nouveaux essais die Formen der Verstandestätigkeit behandelt hatte; er behauptet von ihnen dasselbe Virtuelle Eingeborensein, welches Leibniz den »ewigen Ideen« zugeschrieben hatte, und wie jener darauf die Möglichkeit einer reinen imd allgemeingültigen Verstandeserkenntnis, so gründet Kant darauf seine Lehre von einer reinen, notwendigen und allgemeingültigen Erkenntnis der Sinnlichkeit, d. h. der Mathematik. War die Leibnizische Ontologie eine Reflexion auf die notwendigen Formen des Denkens, so ist für Kant die Mathematik eine Reflexion auf die notwendigen Formen der sinnlichen Anschauung.

Indem aber Kant mit Leibniz die Erkenntniskraft der Formen des Denkens für das metaphysische Wesen der Dinge anerkannte, schränkte er nun ebenfalls mit ihm die Similichkeit auf die Er- scheinungen ein. Jene ganze Außenwelt, welche durch die Syn-

Iimii^'uriildiHHcrtation. 3U

theais der Einpfinduii;4en in liliuiiliclior und zeitlicher Fonn für unsere Vorstellung entstellt, gilt ihm nur noch als die Erscheinungs- weise der »Dinge jin siclu<. Ihre. Elemente, die sinnlichen Emp- findungsquiilitiiten, sind VVirkungswei.'-en der Dinge auf uns diese seit (Jalilei, Descartes, llobbes und Locke der qiodernen Philosophie allgemein eigene Auffassung behandelt Kant als so selbstverständlich, daß er sie kaum mehr berührt : und die Anschauungsbilder, die sich aus diesen Elementen zusammensetzen, vollziehen sich nach dem Schema von Kaum und Zeit, welches lediglich die Form unserer sinnlichen Anschauung ist. Da nun Kant an der Newtonschen Auffassung festhält, daß die Körper nur im JRaume möglich sind, so fallen damit auch die Körper restlos unter den Begriff der Erscheinung. Die gesamte körper- liche Welt ist lediglich Erscheinung, und von denr Ding an sich,* welches dahinter steckt, wissen wir durch die sinnliche Erfahrung nichts.

Aber das gleiche Prinzip gilt auch für die innere Erfahrung, welche der äußeren als ebenbürtig an die Seite gestellt zu weiden pflegte. Auch sie enthält nur die Axt und Weise, wie unser Be- wußtsein von unserem Wesen und seinen Zuständen affiziert wird, und für die Form der Synthesis dieses inneren Sinnes erklärt Kant in einer weiterhin zu besprechenden Weise die Zeit. Nimmt man dies hinzu, so ergibt sich, daß die ganze Welt der Erfahrung nur die Erscheinung und nicht das Wesen der Dinge an sich uns offenbart. Die Welt der Erfahrung ist der mundus sensilibus, zusammengesetzt aus den Empfindungen und beherrscht von den Gesetzen der reinen Anschauung, Kaum und Zeit. Von diesen gibt die Mathematik eine notwendige und allgemeingültige Er- kenntnis, weil wir imstande sein müssen, die Formen, in denen wir anzuschauen durch unsere eigene Natur genötigt werden, und welche deshalb in aller Anschauung als bestimmendes Gesetz wieder- kehren, uns zum klaren und deutlichen Bewußtsein zu bringen. Daher kann mit Hilfe der Mathematik durch eine diskursiv begriffliche Verarbeitung der sinnlichen Erfahrungsdaten die theoretische Natur- wissenschaft gewonnen werden, wie sie in Newtons »Naturalis philosophiae principia mathematica« vorliegt. Diese Newtonsche Theorie, deren Geltung für Kant durch seine ganze Entwicklung hindurch felsenfest beharrte, erschien jetzt philosophisch als eine

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apriorische Erkenntnis der Erscheinungswelt (apparentia) begründet, und damit war ein Ziel erreicht, das Kant, für den immerdar »Wissenschaft« im Sinne dieser Newtonschen Theorie gegolten hat, bei allen seinen Wandlungen des erkenn tnis theoretischen Standpunkts mit zäher Stetigkeit im Auge behalten hatte.

In solcher Schöpfung der mathematischen Theorie der Er- scheinungswelt war der »Verstand« nur auf den »usus logicus« beschränkt: daneben aber nimmt der Philosoph für denselben spontanen Verstand auch noch einen »usus realis« von meta- physischer Geltung in Anspruch. Denn der sinnhchen Welt stellt er als ein toto genere Verschiedenes die intelligible Welt gegen- über, die Welt der Dinge an sich, auf welche die Bestimmungen unserer Sinnlichkeit keinerlei Anwendung finden, und deren Wesen wir nur durch die reinen Formen der Verstandeserkenntnis zu be- greifen imstande sind. In der Ausführung der letzteren Lehre ist Kant verhältnismäßig kurz; sie war ja nur eine Eeproduktion der Leibnizischen Ansicht, deren Übertragung mutatis mutandis auf die sinnliche Welt und auf die Mathematik die eigentliche Absicht seiner Schrift war. Schärfer aber und weit energischer als Leibniz, und in vermutlich unbewußter totaler Übereinstimmung mit Piaton, betont Kant den unüberbrückbaren Gegensatz zwischen der sinnlichen Welt der Erscheinungen und der intelhgiblen Welt der Dinge an sich. Über das Verhältnis der Wissenschaften und speziell der Metaphysik zu diesen beiden Welten haben sich Kants Ansichten noch mannigiach geändert: aber dieser platonisierenden Weltanschauung, welche sich durch die schroffe Scheidung der sinnlichen und der übersinnlichen Welt charakterisiert, ist er treu geblieben, so treu, daß er damit selbst die Konsequenz seines wissenschaftlichen Denkens durchbrochen hat. In diesem Sinne, mit Rücksicht auf den Durchbruch der persönlichen Weltanschauung, ist die Inauguraldissertation wirldich der Beginn der Kantischen Selbständigkeit; sie ist es, wie der scharfe Bruch mit der sen- sualistischen Moralphilosophie bekundet, nicht minder hinsichtlich der gleichmäßigen Anwendung des Gegensatzes von Vernunft und Sinnlichkeit auf die theoretische und die praktische Philosophie. Aber von dem geheimsten Tief sinn der Kantischen Erkenntnistheorie und damit von der bahnbrechenden Kraft des Kantischen Denkens zeigt sie noch keine Spur. Die Lehre der transzendentalen Ästhetik

ÜhüigHUK zur Krilik. 41

enthält öiü bereits völliir; aber diese betrifft nur jene neue Dur- stellung tler JMiitoniHchen Weltansicht, in der Kants persönliehe Überzeu^aui«^^ sicli ausprägt, und in der seine wahre philosophische Orij^inahtät nicht zu suchen ist. Allein der Inauj^iiraldissertation fehlt noch die eigenste Tiefe des Kantischen Denkenfy sie hat noch keine Ahnung von der transzendi^ntalen Analytik.

Für den Weg bis zu deren Veröffentlichung hat Kant bekannt- lich ein Jahrzehnt gebraucht, und was wir von den Eta}>pen dieses dornenvollen Weges durch die letzten Geheimnisse des menschlichen Denkens wissen, besteht in so abgerissenen Brief- stellen und so schwer datierbaren Notizen, daß schon die hypo- thetische Ökizzierung dieser Entwicklung auf große Schwierigkeiten stößt. Allein die Vergleichung der Kritik der reinen Vernunft mit jenem Stande des Kautischen Denkens, dessen Umriß die Inauguraldissertation darbietet, gibt doch wenigstens einige An- deutungen, aus denen man die Hauptzüge der Entwicklung zu ahnen vermag. Den Schwerpunkt bildet wieder unverkennbar das Verhältnis der Mathematik zur Metaphysik. In der Inaugural- dissertation ist jene die apriorische Erkenntnis der Sinnen weit auf Grund der reinen Anschauungen Raum und Zeit, ist diese die apriorische Wissenschaft von der intelligiblen Welt auf Grund der reinen Formen des Denkens. Darin besteht ihr Parallelismus. Aber zugleich ist die Mathematik eine notwendige und allgemeine Erkenntnis der Erscheinungen, ist dagegen die Metaphysik eine notwendige und allgemeine Erkenntnis der Dinge an sich, weil die eine auf die Formen der sinnhchen Empf änghchkeit , die andere auf die Formen des Denkens reflektiert. Darin besteht ihre Verschiedenheit. Zahkeiche, z. T. auf persönlichen Über- zeugungen beruhende Vermittlungen waren es, infolge deren Kant diesen verschiedenen Wert der Formen der Sinnlichkeit imd des Verstandes auch für die Erkenntnis aufrecht erhalten zu sollen glaubte: der Vorgang von Leibniz, das praktische Bedürfnis, sinnliche und übersinnliche Welt scharf zu scheiden, endlich die sachlichen Schwierigkeiten, welche der antinomische Charakter einer räumlichen und zeitlichen Welt, wenn sie in metaphysischer Realität gedacht werden sollte, ihm darzubieten schien. Aber wie das System der Inauguraldissertation so vor ihm lag, da mußte doch die rein theoretische Frage ihn ergreifen, welches

42 Kants Entwicklung.

denn die Berechtigimg für eine so verschiedene Behandlung beider Elemente des menschlichen Erkennens sei. Raum und Zeit auf der einen Seite und die Verstandesbegriffe auf der andern Seite galten ihm gleichmäßig als die reinen Formen der menschlichen Vorstellungstätigkeit, jene des Anschauens, diese des Denkens. Warum sollten die einen mehr realen Wert haben als die andern? Wenn die Formen der Anschauung nur eine menschliche Vor- stellungsweise der Dinge an sich bilden und das war zur unzerstörbaren Gewißheit für Kant geworden , warum sollten die Formen des Denkens die Dinge an sich begreifen ? Auch das Denken mit allen seinen Formen und Gesetzen ist doch zunächst nur ein subjektiver, eben ein menschlicher Vorstellungsprozeß: wenn die menschliche Anschauung nur subjektiv ist, gilt nicht dasselbe aus demselben Grunde auch für das menschliche Denken ? In der Inauguraldissertation hatte Kant bei der kurzen Behand- lung der rationalistischen Metaphysik das Recht des logischen Denkens, Dinge an sich zu begreifen, darauf zurückgeführt, daß die Welt der Dinge an sich eben die intelligible sei, daß sie ihren Ursprung in demselben göttlichen Geiste habe, aus dem auch der menschliche Geist mit seiner ganzen inneren Gesetzmäßigkeit des Denkens hervorgegangen sei. Er hatte auf Malebranche und dessen Lehre, daß die Erkenntnis Gottes diejenige der Welt in sich enthalte, als die seiner Auffassung am nächsten liegende hingewiesen. Aber dagegen ließ sich zweierlei einwenden. So gut wie die Gesetze des Denkens, sind auch die reinen Formen der Anschauung ursprüngliche Besitztümer des menschlichen Geistes, wie er aus der Hand der Gottheit hervorgegangen ist, Besitz- tümer, deren wir uns als der gesetzmäßigen Funktionen unserer eigenen Intelligenz erst bei Gelegenheit der Erfahrung gerade so wie der Formen des Denkens bewußt werden. Galten deshalb diese als Erkenntnis des Wesens der Wirklichkeit, warum nicht auch jene, über deren bloße Phänomenalität Kant in sich keinen Zweifel mehr duldete ? Zweitens aber setzte diese ganze Auf- fassung zwischen den Formen des menschlichen Denkens und dem Wesen der Dinge eine durch die gemeinsame Abstammung aus der Gottheit erklärte »prästabilierte Harmonie« voraus. In diesem Sinne war die Inauguraldissertation durchaus von Leib- nizischem Geiste beseelt. Aber zu tief wurzelte in Kant die

(legonstand (l(;r KrkfMintniH. 4.'i

Abneigung gc<j;cn die Aniiahiiic der piä.stabilicrtcri Ifarnioiiic (eine Abneigung, die in ihm diiicli Martin Knutzen befestigt war), als daß er sich bei dieser Erklärung hätte beruhigen sollen, und so stieß er auf den Kern aller erkenntnistheoretischen Untersuchungen mit der Frage, wie denn überhaupt das menschliche Denken dazu komme, mit seinem Inhalte so gut wie mit seinen reinen Formen die Wirkliclikeit als seinen Gegenstand zu erfassen. In dieser Frage und ihrer Beantwortung nach den gegebenen Prämissen des Kantischen Denkens, in dieser Frage, welche der Philosoph am klarsten in seinem Briefe an Marcus Herz vom 21. Februar 1772 formuliert hat, liegt der wahre Ausgangspunkt und die Größe der Kantischen Philosophie auf erkenntnistheoretischem Gebiete. Mit dieser Frage steht er auf dem Pmikte, den »naiven Realismus << in seiner ganzen Tragweite zu durchschauen und zu durchbrechen, vmd damit erst an der Schwelle der kritischen Philosophie.

Der naive Realismus des gemeinen Denkens macht sich mit dieser Frage nicht viel zu schaffen ; er meint, die Dinge spazierten so in den erkennenden Geist hinein, drückten sich in ihm ab, spiegelten sich in ihm, würden von ihm erfaßt, oder wie sonst das sinnliche Bild ist, mit dem man dem Erkenntnisprozeß einen Namen gibt. Der RationaHsmus macht diese Frage vollständig überflüssig, indem er von vornherein das Postulat aufstellt, daß, was '^ notwendig gedacht wird , auch ist. Wo ihm einmal das Problem aufstößt, wie man denn dessen gewiß sein könnte, da hilft er sich in der Richtung, wie es Kant selbst in HinbHck aut Leibniz und Malebranche in der Inauguraldissertation ver- suchte. Am schw^ersten wiegt jene Frage für den Empirismus und Sensualismus. Selbst wenn dieser annimmt, die einzelnen Erfahrungen seien Abbilder der Dinge, so wird es für ihn um so schwieriger, zu begreifen, wie es kommen soll, daß die Be- ziehungen, welche das Denken zwischen dem Inhalte der Wahr- nehmungen aufstellt, ebenfalls Abbilder der Realität seien. Wo daher der Empirismus ganz konsequent durchgeführt wurde, da mußte er notwendig in den terministischen Subjektivismus und Skeptizimus umschlagen, da büeb nichts weiter übrig (selbst wenn man von der Phänomenalität der Sinnesempfindungen ab- sehen wollte), als den ganzen Prozeß des Denkens für ein

44 Kants Entwicklung.

subjektives Gebilde zu erklären, dessen reale Bedeutung niemals erwiesen werden könne. So weit war der Scharfsinn und die spekulative Energie von David Hume gedrungen. Das Humesche Argument galt aber, wie sich Kant überzeugen mußte, schließ- lich auch für den Rationalismus und Apriorismus. Konstruierte dieser seine notwendigen Wahrheiten, sei es in der Mathematik, sei es in der Metaphysik, durch Reflexion auf die gesetzmäßigen Funktionsformen der Vorstellungsfähigkeit, so lag nirgends ein Punkt vor, von dem aus sich die metaphysische Realität dieser Formen behaupten ließ. Die Phänomenalität der in der Mathe- matik zu erkennenden Formen der Sinnlichkeit hatte Kant bereits anerkannt: weshalb sträubte er sich, das gleiche von den Formen des Denkens zu sagen?

Aber so einfach ist der Kantische Gedanken prozeß nicht gewesen: er verwickelte sich noch viel mehr durch die weitere Frage, in welcher Weise wir denn überhaupt veranlaßt mid be- rechtigt sind, unsere Vorstellungen auf außer uns befindliche >> Gegenstände « zu beziehen. Alle unsere Vorstellungen von Dingen sind Synthesen jener einfachen Empfindungen, in denen wir uns durch die Außenwelt affiziert glauben. Betrachteten wir nun diese Verbindungen eben lediglich als in unserm Bewußtsein sich voll- ziehende Gebilde, so existierte gar keine erkenntnistheoretische Schwierigkeit. Allein wir sehen diese Synthesen nicht als sub- jektiv und willkürlich, sondern als objektiv und notwendig an. Soll untersucht werden, mit welchem Rechte das geschieht, so hat Kant nach dem Vorgange des gesamten XVIII. Jahrhunderts zunächst nur die psychologische Methode, den Ursprung unserer Vorstellungen von Gegenständen ins Auge zu fassen. In dieser Hinsicht stand nun Hume unter dem Prinzip der Assoziations- psychologie und meinte jene Synthesen lediglich als Produkte des psychischen Mechanismus auffassen zu müssen, in welchem nichts weiter als der ursprüngliche Inhalt der in der Synthesis zu- sammengefaßten Vorstellungen tätig wäre. Hierin aber stand Kant umgekehrt auf dem Standpunkte von Leibniz und war sich darüber klar, daß eine jede solcher Synthesen durch eine geistige Funktion vonstatten geht, deren Form wir uns als einen reinen Begriff zum Bewußtsein bringen können. Wenn daher irgendwo ein Grund dafür vorliegen soll, daß unseren subjektiven

JitMhili/. und ITtimo. IT)

V<)rstcllunpfrtV(M'kniipfun<^foii ohjivlvtivo Orllim;^ zukommt, ho irtt er nur hei der Funktion jener reinen Begriffe zu suchen. In dicHem Zusammenhanij^e der Gedanken er<^'aben sich für Kant zwei Auf- gaben: zuer.st jene reinen Begriffe systematisch zu suchen und zweitens sich khir zu machen, wie dadurch unsere «ubjektiven VorsteUungsgebilde den Wert der Objektivität annehmen. Was das erste anbetrifft, so wurde Kant auf den Umstand aufmerksam, daß nach der Auffassung der Logik Vorstellungsverbindungen, deren Objektivität ausgesprochen werden soll, in der Form des Urteils auftreten: dies benutzte er, um aus den Arten des Urteils, wie er sie in dem Lehrvortrage der Logik darzustellen pflegte, sein System der Stammbegriffe des Verstandes, der »Kategorien« zu entwickeln. In der Lösung der zweiten Aufgabe dagegen gibt er nun dem Leibnizischen Rationalismus der Nouveaux essais die größte Vertiefung, die innerhalb der Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Erkenntnis je erreicht worden ist. Er sah nämlicb ein, daß dasjenige, was wir "Erfahrung" nennen, und was der Empirismus als ein Gegebenes zu betrachten pflegt, bereits eine Verarbeitung des Materials der sinnlichen Qualitäten durch die Kategorien enthält, und daß nur darauf die Notwen- digkeit und Allgemeingültigkeit beruht, womit diese Synthesen im Bewußtsein des Individuums auftreten. Für ihn sind deshalb die Kategorien nicht etwas Fremdes, das willkürlich an die Er- fahrung herangebracht würde, sondern vielmehr die organisierende Kraft, ohne welche die Erfahrung gar nicht zustande kommen und noch weniger in ihrer notwendigen Geltung begründet würde. Indem die Ausführung dieser Theorie der folgenden Darstellung der kritischen Philosophie selbst überlassen bleibt, mußten hier nur ihre Grundzüge angedeutet werden, um die Stellung Kants zu Leibniz und Hume auf diesem entscheidenden Wendepunkte seines Denkens zur völligen Klarheit zu bringen. Kant führte das Leibnizische Prinzip des »virtuellen Eingeborenseins« der Ideen in der umfassendsten Weise durch, und in diesem Sinne hatte er recht, wenn er später einmal erklärt hat, es möchte wohl die Kritik der reinen Vernunft die eigenthche Apologie für Leibniz selbst wider seine Anhänger sein. Aber er unterscheidet sich von Leibniz wesentlich darin, daß die die Erfahrung kon- stituierenden »Ideen« bei ihm nicht sowohl die logischen als die

Kants Entwicklung.

erkenntnistheoretisclien Formen des Denkens sind, und so be- gründet er neben der formalen die transzendentale Logik. Mit dieser Ausbildung der Leibnizschen Gedanken überwindet Kant den Humeschen Skeptizismus, und die erkenn tnistbeoretiseben Formen, unter denen ihm in dieser Hinsicht die Kausalität die wichtigste war, gelten ihm nicht als zufällige Produkte des psychischen Mechanismus, sondern vielmehr als die konstituieren- den Prinzipien des Erkenntnisprozesses, die deshalb für den gesamten Inhalt des Denkens dieselbe apriorische Geltung haben, wie die reinen sinnHchen Formen Kaum und Zeit für den ge- samten Inhalt der Anschauung. Aber wenn damit die Apriorität der Formen des Denkens gegen Hume gerettet ist, so hat es nur in der Weise geschehen können, daß Kant mit Hume ihre Phänomenalität anerkennt.

Denn' nach dieser Untersuchung treten nun die reinen Formen des Verstandes mit denjenigen der Sinnlichkeit in einen voll- kommenen und durchgängigen Parallelismus. Erst aus beiden zusammen besteht die synthetische Funktion, vermöge deren die Empfindungen für uns zu der Vorstellung von Dingen und ihren notwendigen Beziehungen zusammenschießen. Beide sind Funk- tionsgesetze unserer Erkenntnistätigkeit, die erst bei Gelegenheit ihrer Anwendung uns zum Bewußtsein kommen. Von beiden gibt es deshalb eine allgemeine und notwendige Erkenntnis, aber beide gelten auch nur für die notwendige Vorstellungsweise, in welcher wir nach den Gesetzen unseres »Gemüts« die Welt an- zuschauen und zu denken genötigt sind. Jetzt erscheint an dem Horizonte des Kantischen Denkens wiederum eine der Mathematik an Apodiktizität ebenbürtige Metaphysik. Aber es ist nicht mehr eine Metaphysik der "Dinge an sich^ sondern eine Metaphysik der ^Erscheinungen. Es ist eine Lehre von den notwendigen Begriffen und Grundsätzen, nach denen wir die Welt denken müssen, weil schon unsere Erfahrung nur durch sie zustande kommt.

Es darf angenommen werden, daß Kant in der Mitte der siebziger Jahre diese Entwicklung durchgemacht hatte. Wenn er sie noch nicht zum Abschluß brachte, so geschah es, weil in diesem Gedankenzusammenhange (der ja unendlich viel tiefer war, als die im Resultat scheinbar ähnliche Lehre von den »sub-

Metaphysik <lrr Ernchoinungcii. 47

jokiivisclicn NolvvcMuli^^koitcii«, wozu um die. i^hiclu'- Zeit 'I'ctonH nicht olmo Anrosj^un^ von Kants Injuif^iiraldisHcrtation ^elan^tr.) das Problem der lieziehun;^' unserer Vorstcllunf^en auf Din^e, weit davon entfernt, <:rel(")st zu werden, sich nur noch mehr ver- wickelt hatte. Denn stellte sich nun heraus, daß aHes, was wir in Anschauung und Denken für Gegenstände anzusehen gewohnt sind, ein immanentes Produkt unserer Vorstellungstätigkeit bildet, daß mathematische und metaphysische Erkeimtnis, wenn auch mit Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit, so doch immer nur auf die Erscheinung \md nicht auf die Dinge an sich geht, so mußte unser Denken derartig in sich selbst geschlossen und von der absoluten Realität so vollständig getrennt erscheinen, wie nie zuvor in einem anderen philosophischen System. Und zog Kant diese Konsequenz, so mußte sie sich sogleich auch weiter erstrecken und zuletzt gegen sich selber wenden. Denn wenn weder der Weg des Anschauens noch derjenige des Denkens zur Erkenntnis der Dinge an sich führt, so ist zimächst gar nicht zu verstehen, wie wir überhaupt zu Vorstellungen von Dingen an sich kommen sollen. Ist das Ding an sich ein Unbekanntes, das jenseits der Grenze aller unserer Erkenntnisfähigkeit liegt, welche Veranlassung haben wir, eine solche Grenze und ein jenseits davon liegendes Etwas überhaupt anzunehmen? Jedenfalls ist dieser Gegensatz von Vorstellung und Ding an sich, welcher die allgemeine Grundlage des naiven Realismus ausmacht, nicht mehr etwas so selbstverständliches, wie es der gemeinen Meinung er- scheint, sondern er ist selbst eins der höchsten und letzten Probleme der erkenntnistheoretischen Kritik. Wenn man sich nur auf diesem Gebiete hält und sich aller unwillkürHchen Vor- urteile entschlägt, so sieht man bald ein, daß es für die Er- kenntnistätigkeit weder ein Bedürfnis ist, noch einen Sinn hat, ein außer ihr befindliches X anzunehmen, das sie weder anzu- schauen noch zu erkennen imstande wäre, und auf welches sich selbst die Ajiwendung der Kategorien der Dinghaftigkeit und des kausalen Verhältnisses hinsichtlich unserer Empfindungen verbietet.

Aber selbst angenommen, es lägen andere Motive vor und es wird sich zeigen, welche für Kant vorlagen , an der Realität unerkennbarer^ Dinge an sich festzuhalten, so ergibt sich von

43 Kants Entwicklung.

vornherein, daß diese Annahme nicht mehr als Voraussetzung der erkenntnistheoretischen Kritik zugrunde gelegt werden darf. Nun beruhten aber alle die psychologischen Theorien über den Ursprung der Erkenntnis, welche die Philosophie vor Kant und welche Kant in ihrer ganzen Ausdehnung und in ihren fundamen- talen Gegensätzen auch durchgemacht hatte, nun beruhte vor allem die Fragestellung, wie kommt es, daß subjektive Denk- prozesse objektive Geltung haben sollen, selbst auf dieser Voraus- setzung des naiven Eealismus, daß der Geist den Dingen an sich gegenüberstehe. Jetzt mußte Kant sich klar machen, daß schon der Gegensatz von Subjekt und Objekt eine in ihrem Er- kenntniswerte erst zu prüfende Voraussetzung ist, daß also das erkenntnistheoretische Problem anders formuliert werden muß, um jene Voraussetzung nicht von vornherein mitzumachen. Dabei gaben ihm die Untersuchungen über die Genesis unserer Vor- stellungen von Gegenständen die neue Fassung des Problems unmittelbar an die Hand. Sie hatten gelehrt, daß es für den ein- zelnen Geist ein Gegenständliches gibt, sobald durch die Funktion der reinen Formen sich in ihm eine notwendige und allgemein- gültige Synthesis vollzogen hat. Der Begriff de^Sj-nthesis, d. h. der spontanen Vereinheitlichung einer gegebenen Mannig- faltigkeit, der sachlich bereits in der Inauguraldissertation sich ankündigte, wurde nun zum Zentralbegriff der Kantischen Philo- sophie: mit ihm beginnt die »transzendentale Analytik«, der entscheidende Teil der Kritik der reinen Vernunft, von welchem aber damit das Licht einer völlig neuen Auffassung auf die »transzendentale Ästhetik« zurückfällt. Wenn diese noch im Sinne der Inauguraldissertation das Verhältnis von Sinnlichkeit und Verstand nach dem psychologischen Schema des naiven Kealismus als den Gegensatz von Rezeptivität und Spontaneität zugrunde legt, so wird in der Lehre von der Synthesis ge- zeigt, daß in beiden Erkenntnisweisen gleichmäßig die Beziehung auf den Gegenstand erst durch die synthetischen Fimktionen der reinen Formen, d. h. der Anschauungen und der Be- griffe zustande kommt. Gegenständlichkeit heißt für den mensch- lichen Geist Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit seiner syn- thetischen Funktion. Die erste Vorbedingung für das Verständnis der kritischen Philosophie ist deshalb die Einsicht in den Unter-

liegrifT der Synthosii. 49

Hcliiod, (l(Mi Kanl. hier zwisclicn OKjrlvlivitiit und Kraliliit im Sinno (Ics <i,o\V()lmIi('li(Mi l)(^iik(Mi.s nuicht. Seine KriveiintuiMtho.Driji jfolit. nicht mehr auf die Fnij^o liiniius, wie das J)cnkcn die Koalitiit erfasse, sondern viclinelir auf die andere, welche Pro- zesse des Deidcens objektiv, d. h. nolwcndi«^' und allj^cincingülti^ sind. Das ist der Sinn jener b'ra;^!» nach dem Ikgriffe der »syn- thetischen Urteile a priori«, die Kants Kritik eniffnet. Und nacli der ganzen Entwickhmg, welche sein Denken genommen hatte, ist es von vornherein klar, daß diese Apriorität, diese -Notwendigkeit und Allgcmeingiiltigkeit überall nur da gesucht werden kann, wo es sich um eine Anwendung der reinen Formen der Vernunft llandelt.

Ist es auf diese Weise klar, daß die Erkenntnistheorie, so gefaßt und durchgeführt, es nur mit dem Umkreise der mensch- lichen Erfahrung und ihrer Verarbeitung durch die reinen Formen der Vernunft, daß sie es also mit dem Begriffe des Dinges an sich überhaupt gar nicht zu tun hat, so mußte für Kant die wissenschaftliche Erkenntnis wiederum in ein ganz anderes Ver- hältnis zu seiner persönlichen Weltanschauung treten. Es hatte sich für ihn herausgestellt, daß auch die reinen Formen des Denkens nur innerhalb der von der sinnlichen Anschauung ge- gebenen Materialien eine Erkenntniskraft besitzen. Die Welt der menschlichen Erkenntnis ist, in der Sprache der Inauguraldisser- tation zu reden, der mundus sensibilis. Wären wir nur er- kennende Wesen, so wüßten wir von der übersinnlichen Welt ebensoviel wie von den Dingen an sich d. h. nichts. Aber Kants moralphilosophische Überzeugung war ja schon vorher völlig in sich befestigt. Für sie war es das Gewisseste, daß der Mensch als ^moralisch frei handelndes Wesen der übersinnlichen Welt an<2;ehört. Mochte daher auch die theoretische Vernunft den Bemff einer intellio;iblen Welt als etwas ihr vollkommen

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Fremdes und Gleichgültiges beiseite schieben, in dem sittlichen Bewußtsein, in der prakt^chen Vernunft ruhte für Kant eine voll- kommen gewisse Überzeugung von der Kealität einer intelligiblen Welt von Dingen an sich. Mochten alle Formen der Erkenntnis nicht ausreichen, sie auch nur als möglich zu denken, die praktische Überzeugung lebte in ihm: sie ist. So erwies sich noch jetzt für Kant die frühere Unterscheidung der Moral und

Windelband, Gesch. d. n. Philos. U. 4

50 Antagonistische Gedankenströmungen.

der Religiosität von ihrer metaphysischen Begründung außer- ordentlich folgenreich und entscheidend Er vermochte seine persönliche Weltanschauung mit ihrem ganzen Rigorismus des Gegensatzes von sinnlicher und sittlicher Welt gerade jetzt auf dem Grunde eines moralischen Glaubens aufzubauen, wo er die Metaphysik aus dem Reiche des Übersinnlichen verwiesen und für eine apriorische Wissenschaft der Erscheinungen erklärt hatte. So fand die Annahme von Dingen an sich, nachdem sie theore- tisch unterwühlt worden war, bei Kant ihre Basis in der prak- tischen Überzeugung, und in diesem Sinne konnte er später mit Recht erklären, es sei ihm nie in den Sinn gekommen, an der Realität der Dinge zu zweifeln. Diese seine Überzeugung deckte sich aber völlig mit der Annahme des naiven Realismus, und so kam es, daß Kant zu derselben Zeit und in demselben Werke, wo er den naiven Realismus als eine für die wissenschaftliche Kritik der Erkenntnistheorie unbrauchbare Voraussetzung ver- warf, in seiner gesamten Weltanschauung mit um so größerer Energie daran festhielt.

Aus diesem Ineinander antagonistischer Gedanken- strömungen ist schließlich die Kritik der reinen Vernunft imd mit ihr die gesamte kritische Philosophie hervorgegangen. In jenem Grundwerke sind alle die Schlußreihen und alle die Auf- fassungen, welche sich in Kants Geist um diese Zeit kreuzten, gleichmäßig niedergelegt. Darin besteht der eigentümliche Charakter dieses Werkes, welches so unsäglich mannigfachen Beurteilungen unterlegen ist. Will man diese Gegensätze an einem Punkte und auf einen Begriff konzentriert finden, so ist es derjenige der Sinnlichkeit. Von dem rein erkenntnistheoretischen Stand- punkte dürfte Kant »Sinnlichkeit« nur als das Gebiet der Emp- findungen und ihrer zeitlich-räumlichen Anordnung bestimmen, und dürfte er nur von unserer Erfahrung und ihren notwendigen Formen sprechen. Weil er aber wegen seiner praktischen Über- zeugung an der Realität der Dinge an sich festhielt, so konnte er seine frühere, aus der Psychologie des naiven Realismus er- wachsene Begriffsbestimmung, die Sinnlichkeit sei das Vermögen des Geistes,^, affizicrt zu werden^ und seine Bezeichnung, die Welt der menschlichen Vorstellungen sei diejenige der Erscheinungen, auch in der Kritik der reinen Vernunft stehen lassen. Die er-

KAnti thoorctischo Philonophio. 51

konn(nisth(MH(»tis(|jo Koi imilicnni;^ isl voraiiKsolzun^HloH ^^ewonlen, aber die psychologischen nestirnimin/^cn Hetzen noch den naiven Realismus voraus. Damit aber war in die Darstellung^ der Kantisclicn Kritik selbst ein innerer An<a,t,'onismuH verlegt, welcher der Polemik eine willkommene Handhabe bot, welcher aber zu- jj;Ieicli auch das kräftijjjste Ferment in der weiteren Ausbildung des Kantischen Gedankenkreises gebildet hat. Diesen nun in seiner ganzen Ausdehnung und in der Mannigfaltigkeit seiner Bestandteile auseinanderzulegen, ist die nächste Aufgabe dieser Darstellung.

§ 59. Kants theoretische Philosophie.

Kant selbst hat stets das größte Gewicht darauf gelegt, daß der unterscheidende Charakter seiner Philosophie in jener neuen Methode zu suchen sei, welche er die kritische oder die transzen- dentale genannt hat. Um so merkwürdiger ist es, daß über das Wesen dieser Methode unter den historischen Forschern eine fast noch geringere Übereinstimmung besteht, als über den Entwick- lungsgang des Philosophen. Während Kant sich schmeichelte, es werde das Ende des Jahrhunderts nicht vergehen, ohne daß der von ihm durch unbetretenes Dickicht gebahnte Fußsteig sich in eine breite Heeresstraße verwandelte, so herrscht über die Ge- samtrichtung und die einzelnen Windungen dieses Fußsteigs noch heute Streit. Diese Tatsache macht es wahrscheinlich, daß ebenso wie Kants Entwicklungsgang und ebenso wie der Grundstock seiner Ansichten auch seine Methode sich nicht in eine einfache Formel brmgen, sondern als eine Verdichtung mannigfacher methodischer Gesichtspunkte ebenso vielfache Deutungen möglich erscheinen läßt wie jene.

Als »transzendental« setzt Kant seine Philosophie dem »transzendenten« Bestreben der früheren Metaphysik, die Dinge an sich zu erkennen, in dem Sinne entgegen, daß er es für ihre Aufgabe erklärt, die Bedingungen apriorischer Erkenntnis auf allen Gebieten des menschlichen Denkens festzustellen, und tran- _szendental will er in diesem Sinne alles dasjenige nennen, was sich auf die Möglichkeit allgemeinen und notwendigen Bewußt- seinsinhaltes bezieht. Aber die bei Kants sonstiger Pedanterie außerordentlich merkwürdige Erscheinung seines höchst laxen und

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52 Kants theoretische Philosophie.

imbestimmten Sprachgebrauches, welche zu der Dunkelheit seiner Schriften ebensoviel wie die Schwerfälligkeit seines Periodenbaues beiträtet und ein deutliches Bild seines steten Ringens mit dem Gedanken gibt, dieser sein Schreibgebrauch läßt ihn an jener Bestimmung des Unterschiedes von ^transzendent" und transzen- dental durchaus nicht festhalten und sehr häufig nach der alten Sitte 'transzendental da brauchen , wo er "^transzendent meint. Sicherer deshalb und weniger Verwirrungen ausgesetzt scheint die Bezeichnung seiner Methode als der kritischen, um so mehr, als dieser Terminus in einem greifbaren und deutlichen Gegensatz erscheint. Dogmatisch nennt Kant alle Philosophie, welche ohne Prüfung der Erkenntnistätigkeit und ihrer Grenzen von irgend- welchen Voraussetzungen und Vorurteilen her gleich unmittelbar an die Erkenntnis der Dinge gehen will, und darunter fällt ihm der Empirismus so gut wie der Rationalismus seiner nächsten Vorgänger. Nicht minder verwerflich aber erscheint ihm der Skeptizismus, insofern dieser den Nachweis liefern will, daß das menschliche Denken den Anforderungen, die man von irgend- welchen dogmatischen Voraussetzungen her daran gestellt hat, nicht genügen kann, und darauf dann eine Art von Verzweiflung an der Erkenntnisfähigkeit des Menschen überhaupt gründet. Nicht also insofern er eine Kritik der Erkenntnis gibt, sondern insofern er diese Kritik unter dogmatischen Vorurteilen ausführt, wird der Skeptizismus von Kant bekämpft. Für die kritische Philosophie aber setzt er die Aufgabe, zunächst den Begriff der Erkenntnis neu, d. h. ohne dogmatische, metaphysische oder psychologische Voraussetzungen zu formulieren und dann zu unter- suchen, inwieweit das menschliche Denken ihn zu realisieren ver- mag. So wurzelt der Begriff der kritischen Philosophie in ihrer erkenntnistheoretischen Aufgabe; aber er überträgt sich dann, wenn auch mit einigen durch die Gegenstände gebotenen Ver- änderungen, auf die übrigen Gebiete der Philosophie. In diesem Sinne gilt es, daß durch Kant der erkenntnistheoretische Gesichtspunkt zum maßgebenden für die Philosophie überhaupt gemacht worden ist. Nun gab es Ansätze zur erkenntniskritischen Behandlung genug auch in der vorkantischen Lehre. Bei Locke, bei Leibniz, bei Hume sind sie unverkennbar vorhanden; aber die Voraussetzung, daß das Urteil über den Erkenntniswert der

SynthotiHclirt ITrtoilo a priori. 53

Vorstollun^on von dor Einsicht in ihron Ursprung abhiingo, ver- quickte vor Kant überall diese Untersuchung mit psychologischen Theorien. Kant wunh» erst dadurch originell, daß er sich klar machte, es sei für den Erkenntniswert des Denkens ganz gleich- gültig, wie es zustande gekommen ist. Dicf Erkenntnistheorie soll weder besclireibende noch erklärende Psychologie sein; sie ist eine kritische, den Wert prüfende Wissenschaft, und sie muß deshalb statt von Voraussetzungen über das Wesen der Seele und den Ursprung der Vorstellungen, vielmehr von einem Idealbegriffe der Erkenntnis ausgehen, der sich lediglich auf immanente Unterschiede im Werte der Vorstellungen bezieht. In dieser Rücksicht nun stellt Kant an die Spitze seines syste- matischen Lehrvortrages der kritischen Untersuchungen das Ideal der synthetischen Urteile a priori. Erkenntnisse sind Ur- teile, aber Urteile, in denen Vorstellungen miteinander in eine Verknüpfung gebracht werden, die nicht durch bloß logische Analyse ihres Inhaltes begründet ist, d. h. synthetische Urteile, aber solche, welche auf *^Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit^ Anspruch machen. Man hat den Unterschied analytischer und synthetischer Urteile, von dem die Kritik der reinen Vernunft ausgeht, vielfach dadurch bemängelt, daß man auf die psycho- logische Tatsache hinwies, es könne dasselbe Urteil für den einen Menschen synthetisch sein, welches für den andern analytisch sei. Dieser Einwurf ist ebenso wohlfeil, wie er den Sinn der Kantischen Unterscheiduno; völlio- mißversteht. Kants Unterschied analvtischer und synthetischer Urteile will nicht ein solcher der psychologischen Genesis, sondern der erkenntnistheoretischen Begründung sein. Die analytischen Urteile haben keinen Erkenntniswert , weil die formal-logische Begründung nur dem Inhalte der Prämissen eine neue Form gibt. Der wahre Erkenntnis wert gebührt erst den- jenigen Urteilen, welche Vorstellungen in Beziehungen zueinander setzen, die nicht durch das logische Verhältnis ihres Inhaltes begründet sind. Dieser Wert gebührt in der ersten Linie allen tatsächlichen Vorstellungs verknüpf ungen , die durch die Wahr- nehmung gewonnen werden. Der Grund der Svnthesis ist aber in diesem Falle ein Akt der Erfahrung. Deshalb nennt Kant diese Urteile synthetische Urteile a posteriori. Nun kommt der rationalistische Charakter seines Denkens mit voller Klarheit

54 Kants theoretische Philosophie.

darin zutage, daß er diese Urteile zwar als zu Recht bestehend und als die Grundlage aller Erkenntnistätigkeit anerkennt, daß sich aber seine Erkenntnistheorie mit ihrer Kritik prinzipiell nicht befaßt. Wenn man Kants Lehre eine Theorie oder Kritik der Erfahrung genannt hat, so darf man darunter im Prinzip nicht eine Untersuchung über den Wert derjenigen einzelnen Urteile vermuten, welche, wie man sich gewöhnlich ausdrückt, durch die Erfahrung gewonnen sind. Alle diese Urteile bilden vielmehr für Kant keinen Gegenstand der philosophischen Kritik: diese richtet sich auf den ganz neuen Begriff von Erkenntnissen, welchen Kant in den synthetischen Urteilen a priori aufstellt. Die Leibnizische Theorie hatte den verites de fait nur die verites eternelles, d. h. die logischen Grundsätze des analytischen Verfahrens gegenüber- zustellen gewußt. Kant aber fand, daß es ursprüngliche Begriffs- verknüpfungen gibt, die nicht logischen Charakters und doch all- gemein und notwendig sind. Gibt es solche, so muß es sich fragen, worin in diesem Falle der Grund der Synthesis liegt. Damit ist die Aufgabe der Kantischen Philosophie und die kritische Methode ihrer Lösung bestimmt.

Auf allen Gebieten des menschlichen Bewußtseins, (nicht nur auf demjenigen des Erkennens, ) forscht Kant nach der Existenz ^synthetischer Urteile a priori,^ d. h. ursprüngHcher, nicht logisch begründeter Begriffsverknüpfungen von ^^ allgemeiner und not- wendiger Geltung. Aber mit ihrer Konstatierung ist es nicht abgetan, sondern darauf folgt erst die wichtigere Frage nach dem Grunde ihrer Synthesis; und erst die Einsicht in diesen kann für die Kritik den Maßstab abgeben, nach welchem sie beurteilt, ob der Anspruch auf , Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit im einzelnen Falle berechtigt sei oder nicht. Man hat die kritische Methode so aufgefaßt, als schlösse sie von den konstatierten syn- thetischen Urteilen a priori auf die Bedingungen ihrer Möglich- keit und lehrte dann, daß diese Bedingungen im menschlichen Geiste wirklich vorhanden seien, weil ja ihre Wirkungen kon- statiert seien. Wäre dies das Schluß verfahren Kants, so müßte er aus der von ihm konstatierten Tatsache synthetischer Urteile a priori in der Metaphysik des Übersinnlichen haben erschheßen müssen, daß die von ihm deduzierte Bedingung dafür, die, in- tellektuelle Anschauung, dem menschlichen Geiste angehöre: denn

Kritiiohe Methode. 56

es wilro sonst ^anz willkiirlicli von ihiii, den Anspruch (l»«,r vÄwn Wissonscliaft andors als denjenigen der andern zu bi^handelri*). Aber Kants Selduliweise ist eine j^anz andere. Er konstatiert die synthetischen Urteile a priori nicht als Hewcismaterial, sondern als Objekt der Kritik. Er untersucht bei^einer jeden Art, unter welchen Bedin«i;un»j;en allein sie bercchti<^t sein könne, und fra^t dann, ob diese Bedingungen sachlich in dem Iidialte der Urteile selbst erfüllt sind oder nicht. Je nachdem diese Frage bejaht oder verneint wird, entscheidet sich dann das Urteil über die Berechtigung der synthetischen Urteile a priori. Wenn dies die eigentliche Anlage der kritischen Methode ist, so kann es ander- seits nicht zwieifelhaft sein, daß sie aus den verwickelten Deduk- tionen der Kantischen Lehre erst herausgeschält werden muß. Namentlich auf dem Gebiete der praktischen Philosophie wird sie, wie sich zeigen wird, durch einen anderen Gedanken der- artig gekreuzt, daß sie fast bis zur UnkenntUchkeit entstellt ist. Hauptsächlich aber ist ihre Klarheit durch die Nötigung getrübt, in welche sich Kant versetzt sah, zu ihrer Durchführung wiederum psychologische Voraussetzungen und Untersuchungen anzuwenden. Denn wenn die Frage nach der Berechtigung des Anspruchs der synthetischen Urteile auf Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit danach entschieden wurde, daß die Bedingungen dazu im Er- kenntnisinhalt entweder vorhanden sind oder fehlen, so liegt ja die Entscheidung der erkenntnistheoretischen Fragen zuletzt doch

*) Die im Text abgelehnte Auffassimg der kritischen Methode ist wesent- lich auf einseitigen Anschluß an die »Prolegomenac zurückzuführen. In diesem Werke gibt Kant nicht das System, sondern eine Einführung dazu, die seinen eigenen findenden Gedankengang wiederholt: darum darf er hier überall die apodiktische Gewißheit der Mathematik (und sogar der reinen Naturwissen- schaft) als etwas Zugestandenes und Selbstverständliches voraussetzen und dies dann zum Richtpunkt seiner Untersuchung machen, indem nach diesem Prinzip auch die Kritik der für problematisch angesehenen Metaphysik durch- geführt wird. Hier heißt es: »Mathematik besteht zu Recht. "Weshalb? Nur, weil ihre synthetischen Urteile a priori in den reinen Anschauungen Raum und Zeit begründet sind. Gibt es etwas ähnliches für die Meta- physik? Nein. Also besteht sie zu Unrecht.« Diese persönliche Behandlung der Sache in den P-^le^^omena ist sehr eindrucksvoll; aber sie darf nicht mit dem objektiven Verfahren in der Kriti^ selbst gleichgesetzt werden. Denn diese darf für keinen der Ansprüche auf Apriorität voreingenommen sein, sondern muß alle gleichmäßig auf ihre Berechtigung prüfen.

56 Kants theoretische Philosophie.

immer wieder bei einer psychologischen Einsicht, wenn auch nicht in den Ursprung der Vorstellungen, so doch in die Eigenschaften der menschlichen Intelligenz oder, wie Kant mit der empirischen Psychologie seiner Zeit sagt, in die^yermögen des menschlichen Gemüts. So kommt es, daß die Erkenntnistheorie, wenn sie auch ihre Aufgabe ohne jede Rücksicht auf psychologische Voraus- setzungen formuliert hat, doch zu deren Lösung überall auf psycho- logische Tatsachen und Theorien rekurrieren muß, und dieses Ver- hältnis rechtfertigt sich von selbst, sobald man bedenkt, daß es sich um die Kritik nicht irgend einer anderen, sondern eben der menschlichen Erkenntnisfähigkeit handelt. Aber Kant hat nun in seiner Durcheinanderarbeitung des ungeheuren Stoffs es ver- säumt, diese verschiedenen, im ganzen sich gegenseitig ergänzen- den und tragenden Gedankenreihen auseinanderzuhalten und ihre Gliederung überall klarzulegen, und er hat dadurch nicht zum wenigsten das Verständnis seines gesamten philosophischen Werkes erschwert.

Es ist aber hieraus klar, daß dem ganzen Umfange der Kanti- schen Kritik eine nicht minder umfangreiche Transzendental- psychologie zugrunde liegt, und es wird das um so merkwürdiger dadurch, daß Kant im Verlaufe seiner Kritik der Wissenschaften die »rationale« Psychologie für unmöglich erklärt und der »em- pirischen« Psychologie den Charakter exakter Wissenschaftlichkeit abgesprochen hat. In dem energischen Hinblick auf die Kritik des Wertes bedachte er nicht die große Anzahl von psychologischen Voraussetzungen, mit denen er selbst nicht nur bei der Lösung jedes einzelnen Problems verfuhr und der Natur der Sache nach verfahren mußte, sondern auch den ganzen Aufbau seiner neuen Lehre ghederte. So enthält seine Lehre zwar die vollkommene Unterordnung des psychologischen Moments unter das erkenntnis- theoretische, aber doch auch zugleich den Beweis, daß ohne die Aufnahme des ersteren die kritische Aufgabe durchaus nicht gelöst werden kann.

Von der psychologischen Grundlage seines gesamten Systems hat Kant den klarsten Ausdruck teils in der Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, teils besonders in einem kleinen Aufsatze gegeben, welcher anfänglich für diese Einleitung bestimmt war, später von S. Beck am Schlüsse seines »Erläuternden Auszuges

VorhültniH zur Psycholoprio. " 57

aus (Ion kritischon Schriften dos Jlorrn ProfcH.sor Kant« mit Aulorisalion dos IMiilosoplion iiuszu«^sw(Mso voröffontliclit wurde und unter doni 'Pitol » ul)or IMiilosoplnc^ ühorluiuptc in dioSanunlun^ seiner Sehrilien iiber<i;ef^an}^on ist. Kant, iiherninunt hier die Drei- teilun<jj der psychischen Funktionen, welc4ie in der enij)irischen Psychologie seiner Zeit durcl» Sulzer, Mendels.«ohn und Tetens geläufig geworden war und neben dem Erkenntnis- und dem Begehrungsvermögen ein Gefühlsvermögen ansetzte. Er fügt dann liinzu, daß allen tlrei Vermögen gewisse synthetische Urteile a priori eigen seien, und daß deren Imtische Untersuchung das ganze Geschäft seiner Transzendentalpliilosopliie ausmache. Im Erkenntnisvermögen bestehen die apriorischen Synthesen in einer Eeihe von Urteilen, welche ohne formal-logische Verknüpfung die Grundbegriffe unserer Weltauffassung in notwendiger und all- gemeingültiger Weise miteinander verbinden*). Auf dem Gebiete des Begehrung-svermögens bestehen die apriorischen Synthesen darin, daß einerseits dem Willen eine allgemein und notwendig geltende Beziehung auf gewisse Gegenstände zugemutet wird, ander- seits gewissen Willensbetätigungen die moralischen Prädikate^ gut" oder" böse in, notwendiger und allgemeingültiger Weise zugesprochen werden: die praktischen Synthesen a priori sind "Pflichten oder Wertbeurteilungen von allgemeiner und notwendiger Geltung. Auf dem Gebiete des Gefühls Vermögens bestehen die synthetischen Urteile a priori darin, daß es gewissen Gegenständen gegenüber allgemeingültige imd notwendige Gefühle der Lust oder Unlust gibt, w^elche sich durch die Prädikate der' Schönheit oder Häß- lichkeit, der Zweckmäßigkeit oder Unzweckmäßigkeit zu erkennen geben: die apriorischen Synthesen des Gefühls Vermögens sind, a potiori benannt, die ästhetischen**) Urteile. Hiernach ghedert sich die kritische Philosophie in die drei Hauptteile einer Kritik

*) Man übersieht von hier aus vielleicht am einfachsten Kants Stellung zu der schottischen Schule. Diese behauptete gegen Locke und die Asso- ziationspsychologie die Existenz und Evidenz »ursprünglicher LTteile«, welche sie auf empirisch-psychologischem Wege konstatieren wollte. In gewissem Sinne decken sich diese mit Kants synthetischen Urteilen a priori; nur mit dem Unterschiede, daß die Schotten diese Urteile als absolute "Wahrheit des Commonsense anerkannten, während Kant ihre Berechtigung in Frage stellte. Kant fängt also genau dajin, wo die Schotten aufhörten.

**) Über den Terminus >ästhetisch« vgl. Bd. 1, § 50, S. 535.

58 Kants theoretische Philosophie.

der theoretischen, der praktischen und der ästhetischen syn- thetischen Urteile a priori, und das ganze Kantische System in seine theoretische, praktische und ästhetische Lehre. Den Grund- stock der kritischen Werke Kants bilden deshalb die sogenannten drei großen Kritiken, von denen jede das Grundwerk für einen dieser drei Teile bildet: die Kritik der reinen Vernunft, die Kritik der praktischen Vernunft und die Kritik der Urteilskraft, die drei Werke, um welche sich alle übrigen Kantischen Schriften mit mehr oder minder naher Beziehung gruppieren.

Wenn man unter theoretischer Philosophie bei den früheren Philosophen in erster Linie ihre wissenschaftliche Begründung der Weltanschauung, m. a. W. ihre Metaphysik versteht, so bezieht sich bei Kant dieser Name im wesentlichen auf seine Theorie der menschlichen Erkenntnis, d. h. also eigentlich auf die Theorie der Theorie. Es ist seine ^ Wissenschaftslehre, welche diesen Namen verdient, und nur ihr besonderer Charakter gibt, wie sich ent- wickeln wird, die Berechtigung, seine Naturphilosophie in diesen Kreis seiner Betrachtungen hineinzuziehen.

Die Grundfrage dieses Teiles der Kantischen Lehre ist also diejenige nach der Berechtigung solcher Wissenschaften, welche 'synthetische Urteile a priori enthalten. Kant konstatiert nach dem Schema, das am deutlichsten die Prolegomena darbieten, I) deren drei. In erster Linie steht die Mathematik. Die Sätze, welche diese entwickelt, sind zweifellos als allgemeingültig und notwendig anerkannt : daß sie zugleich synthetisch sind, behauptete Kant auf Grund seiner Einsicht in den anschaulichen Charakter des mathematischen Denkens. In zweiter Linie kommt die »reine

L) Naturwissenschaft« in Betracht. Unter diesem Namen begreift Kant die Gesamtheit der Grundsätze, die aller Naturanffassung und Naturforschung zugrunde liegen; er fand sie allerdings nicht als ein gegebenes System vor, sondern schuf sie selber erst in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft. Drittens aber

3\ beansprucht die Metaphysik mit ihrer Seelen-, Welt- und Gottes- lehre die Notwendigkeit und die Allgemeingültigkeit von Sätzen, die nur scheinbar durch bloß logische Analyse, in Wahrheit aber durch synthetische Akte begründet sind.

Die Aufgabe der Kritik der reinen Vernunft ist die Prüfung der Berechtigung dieser drei Wissenschaften, und sie vollzieht sich

lOintoilunpf der VornuDfikriiik. 69

wiederum naeli einer pHy('h()l<);4iscben ScheinatiHierun^. Der Clegcn- siitz von Sinnlichkeit und Denken j^liedert die trauHzendentale »Elenienlailehre« in die transzendentale Ästhetik und die tran- szendentale Logik, von denen die erstere die Kritik der Mathe- matik zu ihrem Cregenstaude hat. i)ie letztere teilt sich danach, daß das Denken als Verstand eine rationale Eikenntnis der Sinnen- weit, als Vernunft dagegen eine solche der übersinnlichen Welt zu finden sucht, in transzendentale Analytik und transzendentale Dialektik, von denen der ersteren die Kritik der reinen Natur- wissenschaft, der letzteren diejenige der Metaphysik anheimfällt.

Der gesamten erkenntnistheoretischen Kritik Kants hegt die transzendental -psychologische Auffassung bestimmend zugrunde, daß Sinnlichkeit imd Verstand die beiden vielleicht in ihrer letzten Wurzel vereinigten, in unserem Bewußtsein jedoch vollkommen gesondert und verschieden funktionierenden Stämme der Erkenntnis seien, daß aber anderseits jede objektive, d. h. notwendige und allgemeingültige Erkenntnis nicht an einem dieser beiden Stämme allein reife, sondern vielmehr stets die Frucht von beiden sei. Spielt dabei die Sinnlichkeit die weibliche Rolle der Em^fan^Uchkeit,- so gebührt dem Verstände die befruchtende Funktion der Spon- taneität. Erweisen sich nun in dem Kantischen System alle 'Arten der Erkenntnis a priori durch die verschiedenen Verhält- nisse bedingt, worin diese beiden Faktoren unseres Denkens mit- einander treten, so läßt sich in dem systematischen Aufbau der Kritik der reinen Vernunft eine allmähliche Verschiebung dieses Grund Verhältnisses nicht verkennen. Erst in der transzendentalen Analytik wird es klar, daß die »SinnUchkeit«, i.die in der tran- szendentalen Ästhetik noch wie dereinst in der Inauguraldisser- tation als Vermögen der ^Empfänglichkeit auf tritt,, in Wahrheit schon auch ein aktives Prinzip darstellt, dessen synthetische Funktion in den genauesten Beziehungen zu denen des »Ver- standes« steht. Hier liegt ein Hauptgrund für die Schwierigkeit, die das Verständnis des Werkes darbietet.

Wenn zimächst Kant die Mathematik als eine anschauliche Wissenschaft bezeichnet, so ist das nicht so zu verstehen als ob damit aus ihr die Verstandestätigkeit überhaupt ehminiert werden sollte. Begriffsbildung, Urteil und Schluß gehören selbstverständ- lich zu ihrem Apparate ebenso wie zu demjenigen aller anderen

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AO Kants theoretische Philosophie.

Wissenschaften. Was Kant der früheren Auffassung gegenüber be- hauptet, ist vielmehr nur dies, daß der Grund für die Begriffe und die Axiome*), mit denen die Mathematik operiert, nicht in rein lo<7ischen Prozessen, sondern vielmehr in Akten der Anschauung zu suchen sei. Daß die gerade Linie die kürzeste zwischen zwei Punkten, daß die Summe von 5 und 7 gleich 12 ist, sind Sätze, welche durch logische Analyse ihrer Subjektbegriffe nicht gefunden werden können. Im Begriff der Geradheit liegt kein Merkmal der Entfernungsgröße, im Begriff der Summe zweier Zahlen Hegt nicht eine andere Zahl als ihr Merkmal. Diese Sätze müssen also in einer Synthesis begründet, und diese Synthesis kann nicht die- jenige einer zufälligen Erfahrung sein, denn sonst wäre die All- gemeingültigkeit und Notwendigkeit jener Sätze nicht erklärt..^ Das ein- oder mehrmaHge Ausmessen, das ein- oder mehrmahge Zusammenzählen ist kein Beweis für jene Sätze. Aber sie leuchten sofort und unmittelbar ein, sobald man ihren Inhalt in der An- schauung konstruiert. Indem man die gerade Linie zwischen zwei Punkten zieht, ergibt es sich in der Anschauung als unmittelbar selbstverständUch, daß es keine kürzere geben kann, und indem man den Akt des Summierens in der Zahlenreihe ausführt, bleibt auch nicht der Schatten eines Zweifels darüber bestehen, daß das Resultat unter allen Umständen dasselbe sein muß. Liegt somit der Grund der Synthesis in der Anschauung, so ist es nicht eine einzelne oder die Summe mehrerer einzelner Erfahrungen, sondern vielmehr die Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit des Aktes als solchen, denen jene Sätze ihre Apodiktizität verdanken. Diese Apodiktizität gilt also nur, wenn es allgemeingültige und notwendige Anschauungsakte^ gibt. Nun ist aber in der Anschauung alles, was die sinnliche QuaUtät der einzelnen Gegenstände der Wahrnehmung bildet, Farben, Töne usw., von subjektiver, indi- vidueller Wandelbarkeit. Allgemein und notwendig können des- halb nur die räumlichen und zeitlichen Formen sein; imd auch

*) Daß auch die Beweisführung der Mathematik niclit in der Form des Syllogismus stattfinde, sondern auf anschaulichen Überfülirungen beruhe, hat Kant niemals behauptet. Diese Konsequenz hat erst Schopenhauer zu ziehen gesucht, während für Kant sich die Anschaulichkeit des mathematischen Verfahrens auf die Konstruktion der Begriffe und die der Beweisführung

zugrunde liegenden Axiome beschränkt.

TranBzc»n«lonliilo Änthotilc, (\]

mir für diese «^ilt ja die inatliomatiHche Gcsetzrnäüi^keit. Die liediii^iin;^ also, unter welcher allein der Anspruch der Mathe- matik auf All;jjeniein!4Ülti;^keit uiul Notwendi^^keit berechtiget sein kann, ist diejenige, daß sie eine Reflexion auf die notwendigen und allgemeingültigen Formen aller i\nschauungen überhaupt bildet, und daß die beiden Elemente der mathematischen Konstruktion, Raum und Zeit, solche Formen, d. h. Anschauungen a priori sind. Die Untersuchung dieser Frage gibt also eine transzen- dentale Anschauungslehre, d. h. (nach dem etymologischen Sinne des Wortes) Ästhetik.

Den Beweis für die Apriorität von Raum und Zeit führt Kant auf vier Wegen. Die Vorstellmigen von Raum und Zeit können nicht erst auf dem Wege der Abstraktion aus denjenigen von ^/ einzelnen Räumen und einzchien Zeiten begründet werden, sondern die letzteren tragen bereits in den Merkmalen des Nebeneinander und Nacheinander das allgemeine Merkmal der Räumlichkeit und der Zeitlichkeit in sich. Haben sie auf diese Weise keine em- pirisclie Begründung, so sind sie zweitens dennoch durchaus not- O wendige Vorstellungen, da man zwar alle Gegenstände aus ihnen, nicht aber sie selbst fortzudenken imstande ist. Drittens sind 3^ Raum und Zeit überhaupt nicht Begriffe in dem logischen Sinne des Wortes (diskursive Begriffe). Denn es gibt eben nur den einen allgemeinen Raum und die eine allgemeine Zeit, und eine Vorstellung, der nur ein einziges Objekt entsprechen kann, ist kein Gattungsbegriff, sondern eine Anschauung. Das Verhältnis des Raumes zu den einzelnen Räumen und der Zeit zu den einzelnen Zeiten ist ein gänzlich anderes als dasjenige eines Gattungsbegriffes zu seinen Arten bzw. Exemplaren. Einzelne Räume oder Zeiten sind realiter Teile des allgemeinen Raumes oder der allgemeinen Zeit; aber ein einzelner Tisch ist durchaus nicht realiter ein Teil des all- gemeinen Tisches, sondern hier ist umgekehrt die allgemeine Vor- stellung Tisch nur ein Teil der Vorstellung des einzelnen Tisches. Endlich würde viertens ein Begriff niemals so gedacht werden können, vj daß sein Gegenstand eine imendliche Menge einzelner Gegenstände in sich als reale Teile enthielte. Da nun Raum und Zeit das letztere tun, so folgt daraus, daß sie nur in der Unbegrenztheit einer anschaulichen Funktion begründet sind. So findet Kant durch eine Untersuchung des Verhältnisses, worin sich die Vorstellungen

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ß2 Kants theoretische Philosophie.

von Eaum und Zeit zu unseren einzelnen Anschauungen befinden, daß die letzteren überhaupt erst darauf allein beruhen, daß ihnen Raum und Zeit als notwendige undallgemeineAnschauungs- formen, als Anschauungen a priori zugrunde liegen. Ist aber dies erwiesen, so ergibt sich daraus, daß die Reflexion auf die innere Gesetzmäßigkeit dieser reinen Anschauungen und nichts anderes enthält die Mathematik notwendige und all- gemeine Geltung mit vollem Rechte beansprucht.

Die Apodiktizität der Mathematik griiadet sich also darauf, daß Raum und Zeit die apriorischen Formen der sinnlichen An- schauung sind. Man muß den Begriff der^Apriorität ganz scharf verstehen, um nicht die Kantische Lehre von vornherein miß- zudeuten. Sein Begriff von Apriorität hat mit der psychologischen Priorität nichts zu tun, so sehr es bei Kants vieldeutiger und unsicherer Ausdrucksweise manchmal den Anschein haben mag. Es ist Kant auch nicht im entferntesten eingefallen, jemals zu be- haupten, daß Raum und Zeit^^eingeborene Ideen etwa im Sinne der Cartesianer seien; er hat niemals daran gedacht, zu meinen, daß der Mensch die Vorstellung des allgemeinen Raumes und der allgemeinen Zeit mit auf die Welt brächte und in diese nun die einzelnen sinnlichen Anschauungen an passende Stellen einfügte. Sein Begriff der Apriorität will eben nur sagen, daß Raum und Zeit die immanente, dem Wesen der Anschauunastätiokeit eigene GgsetztBäte:keit bilden, die nicht etwa erst durch die einzelnen Erfahrungen erzeugt wird, sondern vielmehr ihrerseits zu den konstitutiven Prinzipien jeder einzelnen Wahrnehmung gehört. Lösen wir daher in der Abstraktion die räumliche und die zeit- liche Form von ihrem besonderen sinnlichen Inhalt ab, so bringen wir uns nur die Gesetzmäßigkeit zum Bewußtsein, welche bei der Genesis der Wahrnehmimg ohne unser bewußtes Zutun in uns schon wirksam war. Mit der psychologischen Frage wie wir dazu kommen, uns diese unbewußt in uns tätige Gesetzmäßigkeit zum Bewußtsein zu bringen, hat sich Kant niemals eingehender be- schäftigt; wo er sie jedoch streift, hat er stets seine Ansicht dahin ausgesprochen, daß diese Gesetzmäßigkeit uns nicht anders zum Bewußtsein kommen kann, als indem wir sie in den be- sonderen, einzelnen Wahrnehmungen anwenden. In dem Streite der modernen Physiologen und Psychologen über den Ursprung

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AnHcbnmmprii a priori. 08

der Haumvorstolhm«}; würde Kant zweifellos imf Seite der Em- piristen stehen; aber seiiu» Lehre von der Aprioritiit hat iiher- luinpt mit der {ganzen Streitfra«^e niehls zn tun und ist daher am aUerfalscliesten gedeutet worden, wenn man sie mit dem physi()h)gischen Nativismus verglciclien zu dürfen meinte.

Mit der (lültigkeit der mathematischen Apodiktizitüt ist aber dureh die Lehre von der Aprioritiit von Raum und Zeit jene phänomenal istische Konsequenz verbunden, die in Kants Ent- wicklung eine so bedeutsame Rolle spielte. Waren Raum und Zeit die Formen unserer sinnlichen Anschauung, mid zwar ihre not- wendigen und allgemeingültigen Formen, so galt die mathematische Gesetzmäßigkeit ausnahmslos für den gesamten Umfang unserer sinnlichen Vorstellimgswelt. Aber diese Konsequenz reichte nur so weit, als es sich eben um unsere Vorstellungswelt handelt. Müßten wir räumliche und zeitliche Verhältnisse erst durch die Einwirkung wirklicher räumlicher und zeitlicher Dinge auf unseren Geist erfahren, so könnten wir niemals sicher sein, daß nicht eine spätere Erfahrung unsere bisherige Erkenntnis der mathematischen Gesetzmäßigkeit rektifizierte. Ihre absolute Apodiktizität ist da- gegen begreiflich, sobald wir in ihr nur unsere eigene Funktions- weise erkennen. Dann sind wir sicher, daß diese selbe Funktions- weise sich in allen ihren späteren Anwendungen mit derselben Notwendigkeit und Allgemeinheit wiederfindet. So ist die Apriorität der Mathematik nur zu begreifen, wenn alles, was wir anschauen, das Produkt eben unserer Anschauungsweise und ganz originaHter in uns entsprungen ist. Die Rätselfrage, welche Kant durch die Newtonsche Naturphilosophie nahe gelegt war, wie es denn kommen könne, daß die mathematischen Gesetze, die wir aus dem eigenen Geiste heraus zu entwickeln vermögen, sich als bestimmende Mächte des Naturgeschehens zu erkennen geben, diese Rätselfrage nach der, realen Geltung der Mathematik, welche noch viel weiter greift, als diejenige nach ihrer,, Apodiktizität, löste sich nur, aber sie löste sich auch vollständig unter dem phänomenalistischen Gesichtspunkte. Wenn die Sinnen weit nur unsere Vorstellungs- weise von den Dingen ist, so gelten die Formen unserer sinn- lichen Anschauung, d. h. die mathematischen Gesetze, für ihren ganzen Umfang, aber es ist in keiner Weise abzusehen, wie sie weiter reichen sollen. In diesem Sinne spricht Kant von der

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empirischen Realität und der transzendentalen Idealität von Raum und Zeit.

Auf den ersten Blick sieht diese Lehre Kants wie eine ein- fache Erweiterung der allgemeinen phänomenaHstischen Lehre aus, welche schon vor ihm in der modernen Philosophie herrschte. Bei Locke, der die Theorien von Descartes und Hobbes in seiner Weise verknüpfte, hatten alle Qualitäten der einzelnen Sinne für subjektiv, dagegen die räumhchen und zeitlichen Bestimmungen für primäre Qualitäten oder reale Eigenschaften der Dinge ge- golten — ganz so, wie es die moderne Naturwissenschaft lehrt. Was scheint nun Kant anders getan zu haben, als die räumlichen und zeitlichen Eigenschaften auch für subjektiv zu erklären? Gegen eine solche Auffassung hat Kant mit vollem Rechte auf das stärkste protestiert. Ihm gelten Raum und Zeit in ganz anderem Sinne für subjektiv als die sinnlichen Qualitäten. Die letzteren sind es in der Weise, daß sie von einer Beziehung des Gegenstandes auf die Sinne der wahrnehmenden Organismen abhängen, daß sie also durch die wechselnde Funktion dieser Sinne sogar individuell different auftreten. Derselbe räumlich-zeitliche Gegenstand erscheint deshalb verschiedenen wahrnehmenden Organismen und wiederum den verschiedenen Sinnen desselben Organismus, ja sogar dem- selben Sinn unter verschiedenen Umständen verschieden, und die naturwissenschaftliche Theorie selbst liefert, wie es schon Descartes gelehrt hatte, den Beweis, daß wir alle diese sinnlichen Qualitäten von dem Gegenstande fortdenken und doch, oder vielmehr erst gerade dadurch einen deutlichen und klaren Begriff von ihm haben können. Die räumlichen und zeitlichen Bestimmungen der Wahrnehmungsgegenstände dagegen sind nicht nur den ver- schiedenen Auffassungen der verschiedenen Sinne gemeinsam, sondern sie konstituieren das Wesen der Gegenstände derartig, daß ohne sie solche überhaupt nicht mehr gedacht werden können. Sie bilden daher eine allgemeine und notwendige Vorstellungs- form^ der Gegenstände, während die sinnlichen Qualitäten nur besondere und zufällige Wahrnehmungsweisen davon darstellen. Die Subjektivität der sinnlichen Qualitäten ist individuell und zufällig, diejenige von Raum und Zeit^ist allgemein und not- wendig. Indem Kant diese allgemeine und notwendige gesetzmäßige Subjektivität als t)bjektivität bezeichnet.

Kaum und Zeit nln F«>rn>on drr I''r8cheiniinp. (if)

gelten ihm llauin und Zeit alM" ()])jektivc* lkstiiniiiun;^en der Kr- ^scheinuiiuen; aber diese ihre. Objektivität, lehrt er, »ei weit ent- fernt von /Realität im Sinne der alten metaphysischen Auf- fassung.

Gegen diese Wendung des Kantischen Gedankens ist friili (zuerst wohl von Platner) eingeworfen worden, es sei damit zwar vielleicht bewiesen, daß die ganze Vorstellung, welche wir von der Erfahrungswelt haben, in unseren gesetzmäßigen Funktionen ihren Grund habe, aber es sei nicht widerlegt, daß sie trotzdem ein vollkommenes Abbild der absoluten Wirklichkeit sein könne. Die Möglichkeit bleibe offen, daß diese unsere gesetzmäßige Funktion von vornherein so eingerichtet sei, daß das in uns nach den Ge- setzen unserer Sinnlichkeit durchaus neu entspringende Welt- bild dennoch der wirklichen Welt entpreche. Es ist richtig, daß Kants Veröffentlichungen eine ausdrückliche Widerlegung dieses Einwurfes nicht enthalten. Seine Briefe und Notizen dagegen bezeugen, daß er diese »prä formierte« Harmonie zwischen den Formen der InteUigenz und der wirklichen Welt, welche er selbst noch in der Inauguraldissertation hinsichtlich der Verstandesbegriffe vertreten hatte, in seiner kritischen Periode für den seichtesten aller Auswege hielt, auf dem die Erkenntnistheorie sich ihren schweren Fragen entziehen könne. Gewiß hat er damit recht, daß eine solche prästabilierte Harmonie ein rein problematischer Gedanke ist, für dessen Annahme sich ebensowenig wie für seine Ablehnung irgendwie die geringsten Handhaben aufweisen lassen, und der deshalb für eine erkenntnistheoretische Untersuchung gänzlich außerhalb ihres Horizontes bleiben muß. Aber er würde den Gedanken an die Möglichkeit, daß Raum und Zeit zugleich apriorische Formen unserer Sinnlichkeit und reale Formen der wirklichen Welt seien, nicht so völUg absprechend behandelt haben, wenn er nicht einerseits in den »Antinomien« einen direkten Beweis dagegen zu besitzen geglaubt hätte, und wenn nicht anderseits seine persönKche Überzeugung vollständig in der Richtung be- festigt gewesen wäre, daß die Welt der'^Dinge an sich den mo- ralischen Wert der Übersinnlichkeit besitze, und daß eben die gesamte sinnliche Welt nur eine mit dem wahren Wesen inkon- gruente Erscheinungsform' davon sei. Es ist unrichtig, in dieser Überzeugung Kants philosophische Originahtät zu suchen. Die

Windelband, Gesch. d. n. Philos. H. 5

ßß Kants theoretische Philosophie.

Lehre, daß die Sinnenwelt nur der scliwaclie Abglanz einer höheren Welt sei, ist so alt wie das metaphysische Denken überhaupt. Sie ist weder dem Grübelsinn der indischen noch der begrifflichen Klarheit der griechischen Philosophie fremd, sie ist in der mittel- alterlichen und in der neueren Philosophie an mehr als einer Stelle und in mannigfachen Verhältnissen aufgetreten, und sie trägt bei Kant zunächst nur den eigentümlichen Zug, daß sie in der transzendentalen Ästhetik durch ledighch erkenntnistheoretische Überlegungen begründet erscheint und ihren Nerv bei ihm das Prinzip bildet: eine '^allgemeingültige imd notwendige^,Erkenntnis sei nur so weit möglich, als der menschliche Geist nach seinen eigenen Bewegungsgesetzen sich das Bild der Welt entwerfe, und zu diesen Formen, nach denen er es zu entwerfen genötigt sei, gehörten in erster Linie diejenigen der sinnHchen Synthese in

l Raum und Zeit.

Dagegen gibt es noch einen anderen Gesichtspunkt, hinsicht- lich dessen Kants Vertretung des PhänomenaHsmus eine neue Phase innerhalb dieser Lehre bedeutet: das ist seine prinzipielle Ausdehnung der phänomenalistischen Ansicht auch auf die Zeit. Daß die Körperwelt mit ihrer ganzen sinnlichen und räumlichen Gestaltung nur ein subjektives Bild im Geiste des Menschen sei, ist eine vielfach aufgestellte und verfochtene Ansicht: daß aber auch der zeitliche Charakter unserer ganzen Vorstellungswelt nicht eine der absoluten Wirklichkeit realiter zukommende Bestimmung, sondern auch nur eine menschliche Auffassungsweise sei, ist vor Kant zwar gelegentlich in mystisch-religiösen Phantasien gestreift, von der wissenschaftlichen Philosophie dagegen nur selten und auch in gewissem Sinne nur schüchtern behauptet worden. Haupt- sächlich nur bei den Eleaten, bei Piaton und bei Spinoza finden sich Anklänge der Kantischen Auffassung. Die große Schwierig- keit für die Betrachtung der Zeit unter dem phänomenalistischen Gesichtspunkte besteht nämlich darin, daß wir ohne zeitliche Sukzession uns einen Prozeß des Geschehens, der Tätigkeit oder der Veränderung überhaupt nicht vorzustellen imstande sind, imd daß deshalb eine phänomenalistische Auffassung der Zeit, sobald sie sich mit einer positiven Metaphysik verbinden will, zu der Annahme eines absolut starren, in sich veränderungslosen

'^ein^ hindrängt. Eine Welt, in der es keine Zeit gibt, ist auch

rhüiionu'imlitüt der Zt;it. ()7

eine solche, in der nichts, «geschieht. Diese »Schwieri^^keiton sind bei Kant (hulurch verdeckt, daß sein IMiänonienaliHmus eine Metapliysik der Erkenntnis überhaupt ablehnt und nui- eine solche des ethischen Ikwußtseins anerkennt ; aber es wird sich zeigen, daß sie auch in seiner Freiheitslehre nicht überwunden sind. Zur Annahme dieser K{)nse(|uenz ist Kant wohl haupt- sächlich dadurch «geführt worden, daß er infolge des Newtonschen Vorganges Zeit und Raum völlig parallel als die absoluten Be- dingungen für den gesamten Tnlialt der Erfahrung behandelte. In seiner psychologischen Schematisierung faßte er das Verhältnis dieser beiden Bedingungen ( unter Benutzung der Lockeschen Unterscheidung von äußerem und innerem Sinne) derartig auf, daß er den Raum als die reine Anschauungsform des äußeren, die Zeit als diejenige des inneren Sinnes bestimmte. Da nun alle Vorstellungen als Funktionen unseres Geistes überhaupt unter den Begriff des. inneren Sinnes fallen, so gilt die Zeit ausnahmslos für alle, und imter ihnen bilden den äußeren Sinn nur diejenigen, welche zu jener allgemeinen Bedingung der Zeit noch die weitere des Raumes hinzufügen. Kants völlig konsequenter Phänomenalis- mus lehrt also, daß der äußere Sinn mit seiner allgemeinen räumlichen Bestimmtheit nur eine »Provinz« des inneren Sinnes, ' d. h. imseres Wissens von unseren eigenen psychischen Zuständen ist. Die Zeit ist die Form, in welcher wir uns selbst und alle anderen Dinge, der Raum nur diejenige, unter welcher wir jene anderen Dinare anschauen.

Vermöge dieser Ausdehnung des Phänomenalismus auf den inneren Sinn erklärte nun Kant, daß das Wahrnehmungsmaterial unseres gesamten Wissens "^Erscheinung' sei, von deren Ver- hältnis zum^Ding an sich" nichts behauptet werden darf. Nicht nur unsere Vorstellung von den Körpern, sondern auch die von uns selbst und unseren eigenen Tätigkeiten und Zuständen ist eben nur die Art, wie wir vorstellen, und durchgängig von der gesetzmäßigen Form unserer Anschauung abhängig. Indem so der innere Sinn in den phänomenalen Bereich der Sinnlichkeit hineingezogen wird, entsteht bei Kant eine Doj)pelbedeutung des Terminus_>>sinnlich«, welche dem ganzen Zusammenhange seiner Lehre große Schwierigkeiten bereitet und ihre Auffassung be- deutend erschwert hat. Hatte Kant aus einem zum großen Teile

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gg Kants theoretische Philosophie.

ethischen Interesse sich die scharfe Sondening der sinnlichen und der übersinnlichen Welt zur Lebensaufgabe gemacht, so war dabei der Begriff des »Sinnlichen« in metaphysischer Bedeutung und in dem populären Sinne genommen, der unter »sinnlich« das Materielle oder das auf materiellen Veranlassungen Beruhende versteht. Mit der Aufnahme der Lehre vom inneren Sinne gewann das Wort »sinnlich« die erkenntnistheoretische Bedeutung, alles zu umfassen, was durch Wahrnehmung, äußere oder innere, uns zum Bewußtsein kommt, und dabei fallen unter diesen Be- griff, wie unter den platonischen Begriff der ^evsoic, auch alle die psychischen Tätigkeiten, welche nach der metaphysischen Terminologie als übersinnlich bezeichnet zu werden pflegten und pflegen. Auf diese Weise schillern die metaphysische und die erkenntnistheoretische Bedeutung der »Sinnlichkeit« bei Kant fort- während ineinander, und das außerordentlich schwierige Verhältnis seiner theoretischen und seiner praktischen Lehre ist nicht zum mindesten durch diese Unsicherheit bedingt.

Kants Phänomenalismus ist aber mit der Lehre von Raum und Zeit noch keineswegs erschöpft, sondern erfährt seine wahre Vertiefung erst durch den Fortgang der erkenntnistheoretischen Untersuchung. Konnten nämlich auch Raum und Zeit als die objektiven, d. h. allgemeinen und notwendigen Anschauungsfor- men betrachtet werden, so würden sie doch allein noch nicht genügen, um unseren Vorstellungen den wahren Charakter der Objektivität, d. h. der Gegenständlichkeit aufzuprägen. Wenn die sinnlichen Empfindungen nach räumlichen und zeitlichen Ge- setzen angeordnet sind, so bedeuten sie zwar Anschauungsbilder; aber diese würden als bloße Vorstellungen in unbestimmter Schwebe bleiben, wenn nicht zu der räumlichen und zeitlichen noch eine andere Synthese hinzukäme, um diese Bilder zu ob- jektivieren. Erst dadurch, daß die Empfindungen, welche die Elemente unserer Anschauungsbilder sind, bei der räumlichen und zeitlichen Synthese zugleich als Eigenschaften und Zustände von Dingen aufgefaßt, imd daß zwischen diesen Dingen bestimmte Beziehungen als notwendig gedacht werden, verwandelt sich der Inhalt unserer Vorstellungen in das Bild einer Welt von Dingen, die miteinander in Verhältnissen stehen. Diese Verwandlung ist nicht mehr eine Sache der Sinnüchkeit, so sehr auch das gewöhn-

Bogrifl' (1i;m QepfoiistandoB. 69

liclio BewußtHcMii von oinor unmittolharen Walirneliinun«^ von I)in«^on und ihren Voiliältnissen sprechen maj^'. Die reine Wahr- nehmung enthält niclits als Kinpfindungen in räumlicher und zeitlicher Anordnung; das reine Wahrnehmungsurteil ist, wie es Hume charakterisiert hatte, nur das Bewußtwerden einer räum- lichen Koordination und einer zeitlichen Koexistenz oder Sukzession von Empfindungen. Alles was darüber hinausgeht, enthält eine Deutung \ler Wahrnehmungen, welche nur durch die Anwendung gewisser begrifflicher Bezieliungen auf das Material der Empfin- dungen zustande kommt. Begriffliche Beziehungen aber sind die Funktion nicht mehr der Sinnlichkeit, sondern des Verstan- des. Wenn also das gemeine Bewußtsein davon spricht, daß es Dinge mit ihren Eigenschaften und Verhältnissen »erfahre«, so ist diese Erfahrung eine Tätigkeit, welche sich aus dem Zusam- menwirken der Sinnlichkeit und des Verstandes ergibt, und die Erkenntnistheorie hat die Aufgabe, den Anteil, den jeder dieser Faktoren an dem Produkte hat, genau festzustellen. Kants scharfe Sonderung der Sinnlichkeit und des Denkens führt ihn daher zu der weittragenden Einsicht, daß in allem, was wir "lErf ahrung nennen, irnsere Wahrnehmung bereits mit einer großen Anzahl von Funktionen des Denkens durchsetzt und dadurch verarbeitet ist. Offenbar ist dies nun aber eine ganz andere Art der Ver- arbeitung des Empfindungsmaterials als diejenige, welche man im eigentlichen Sinne als die logische bezeichnet. Die logische Funktion des Verstandes, Begriffe, Urteile und Schlüsse zu bilden, setzt bereits ein Material von Vorstellungen voraus, an welchem sich jene Objektivierung der sinnlichen Bilder durch verstandes- mäßige Beziehungen betätigt hat. Es muß also neben den logischen Formen der Verstandestätigkeit noch andere geben, w^elche von einem viel tieferen Gebrauche und von einer viel innigeren Beziehung zu der Anschauungstätigkeit, obwohl von der letzteren durchaus verschieden sind.

x\n diesem Punkte liegt die eigenste Bedeutung, die Kant für die Erkenntnistheorie hat. Sinnliche Anschauungen und logische Formen ihrer Verarbeitung, das waren die beiden ein- zigen Elemente der Erkenntnistätigkeit, welche man vor ihm kannte, und wenn den Inhalt aller menschlichen Erkenntnis die

•^Q Kants theoretische Philosophie.

notwendif^en Beziehungen des Vorstellungsinhaltes bilden, so suchte den Grund dafür der Rationahsmus in den logischen For- men, der Empirismus in dem ursprünglichen Inhalte der Wahr- nehmungen. Nun hatte sich Kant davon überzeugt, daß mit den logischen Formen eine sachlich neue Erkenntnis niemals gewonnen werden kann; er hatte aber auch durch die Kon- sequenz des Humeschen Gedankens erfahren, daß die wichtigste aller Notwendigkeitsbeziehungen, diejenige der Kausalität, in der Wahrnehmung selbst nicht enthalten ist. Sollte es daher all- gemeingültige und notwendige Erkenntnis von den Verknüpfungen des Anschauungsinhaltes geben, so war sie weder durch die An- schauungen selbst noch durch die logischen Formen, noch durch die Verbindung von beiden zu gewinnen. Diese Folgerung hatte Hume gezogen, und im Hinblick auf sie gilt es, daß der größte der englischen den größten der deutschen Philosophen »aus dem dogmatischen Schlummer gerüttelt« hat. Denn im Gegensatz dazu erhob sich nun Kant gleichzeitig über den empiristischen Skeptizismus und über den logisch-formalistischen Rationalismus durch die größte seiner theoretischen Entdeckungen, diejenige nämlich, daß es neben den logischen noch ^jajadere Formen der Verstandestätigkeit gibt, und daß in ihnen der Grund für alle notsvendigo und allgemeingültige Erkenntnis der Erfahrungswelt zu suchen ist. Diese Formen, welche im Gegensatz zu den rein logischen die erkenntnistheoretischen genannt werden dürfen, be- zeichnete Kant als Kategorien.

Aus diesen Prämissen ergibt sich Kants durchaus neue und schöpferische Stellung zur Wissenschaft der Logik. Von ihrer alten Gestalt, worin sie eine Theorie des Begriffs, des Urteils und des Schlusses sein will, behauptete er mit Recht, daß sie seit Aristoteles keinen wesentlichen Fortschritt gemacht habe. Aber der Erkenntniswert dieser analytischen Formen des Denkens hatte sich für Kant dahin herabgesetzt, daß sie lediglich eine formale Umbildung und Verdeutlichung eines schon gegebenen Stoffes zu gewähren imstande sind. So betrachtet, können die logischen Funktionen nicht mehr als Erkenntnisformen im eigent- lichsten Sinne des Wortes gelten, und dann ist die Logik nicht mehr eine Theorie der Erkenntnis, sondern vielmehr eine Lehre von den Formen des richtigen Denkens, soweit es sich auf die

Forinalü und IraDHZoadoDtule Jjogik. 71

aiuily tische JichancUuiiji^ eines irgendwie «onat Bchon feHlHtehendeu Vc)rstellun<;sinlialtes beschränkt. Mit dieser Auffussuni^ wurde; Kant zum Vertreter der formalen Logik im modernen Sinne des Wortes. Er ielirte, (hiü für die wissenschaftliche J5«;trachtung dieser Denkformen jede l^erücksitlitigung des Denkinhaltes fort- zufallen und lediglich die Form des (Jedankenfortschrittes die Untersuchung zu beschäftigen habe. Die scharfe Scheidung, die er zwischen dem Inhalt und der Form des Denkens gemacht hatte, erwies sich für seine Bestimmung der Aufgabe der Logik entscheidend, und unter diesem Gesichtspunkte behandelte er sie in seinen Vorlesungen, deren Grundzüge auf seine Veranlassung von Jäsche (1800) herausgegeben wurden. Aber dieser formalen Logik setzte Kant nun eine erkenntnistheoretische Logik "0 entgegen, welche sich zwar auch mit Formen des Derikens, aber nicht mit den »logischen«, sondern mit den erkenntnistheore- tischen, die er neu entdeckt hatte, beschäftigte und die Frage zu beantworten hatte, wie aus diesen Kategorien eine allgemeine und notwendige Erkenntnis hervorzugehen imstande sei. Das ist Kants Begriff der »transzendentalen Logik«, welche sich also zum Denken ebenso verhält, wie die transzendentale Ästhetik zum Anschauen. Kant suchte nun zwar formale und transzen- dentale Logik als vollkommen gesonderte Wissenschaften zu be- handeln. Wenn sich aber doch zeigte, daß sie in der Lehre vom Urteil nicht nur sich flüchtig berührten, sondern viel- mehr auf das innigste verwachsen waren, so ergab sich daraus als eine Aufgabe der Zukunft eine neue Gesamtbehandlung der Logik vermittels einer Ineinanderarbeitung des formalen und des erkenntnistheoretischen Gesichtspunktes. Auf diese Weise ist in der Tat dmch Kant nach iVristoteles der erste große Schritt zu einer Umbildung der Logik geschehen.

Die transzendentale Logik entwickelt Kant nun im Anschluß an ein zu seiner Zeit gebräuchliches Schema der Behandlung und Bezeichnung; die Kritik der berechtigten Anwendung der Kate- gorien ist die Analytik, diejenige ihrer unberechtigten Anwendung die Dialektik.

Die Frage der transzendentalen Analytik geht auf die Berech- tigung derjenigen s}aithetischen Urteile a priori, aus denen sich die reine Naturwissenschaft konstituiert. An der Spitze der

Y2 Kants theoretische Philosophie.

empirischen Naturforschung figurieren ausgesprochen oder unaus- gesprochen eine Anzahl von Axiomen, welche durch die einzelnen Tatsachen zwar bestätigt, aber in der Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit, mit der wir von ihnen überzeugt sind, niemals durch die Erfahrung begründet werden können. Sätze, wie der- jenige, daß die Substanz in der Natur sich weder vermehrt noch vermindert, oder derjenige, daß %lles Geschehen in der Natur seine Ursache habe; sind unmöglich durch Erfahrung zu begrün- den. Daß sie nur durch die Erfahrung uns erst allmählich zum Bewußtsein gekommen sind, würde Kant gern zugegeben und nicht als einen Einwurf gegen ihre Apriorität angesehen haben, da ja die letztere keine psychologische, sondern eine erkenntnis- theoretische Bestimmung ist. Zugleich sind diese Sätze syn- thetisch: denn es liegt weder im Begriff der Substanz, daß sie quantitativ unveränderlich, noch in demjenigen des Geschehens, daß es ursächlich bedingt sei. Sind nun diese Synthesen nicht durch Erfahrung begründbar, worin besteht ihre Berechtigung? Sie alle enthalten den Anspruch, die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Natur zum Ausdruck zu bringen. Wäre nun die Natur, um die es sich dabei handelt, ein realer Zusammenhang von Dingen, so könnte unser Geist von der Gesetzmäßigkeit dieses Zusammenhanges eine Erkenntnis nur auf zwei Wegen gewinnen: entweder indem er den Zusammenhang durch die Wahrnehmung erführe, oder indem er ihn aus seiner eigenen Gesetzmäßigkeit konstruierte, dabei aber so eingerichtet wäre, daß er damit die Realität wirklich begriffe. Die letztere Annahme setzt wieder jene präformierte Harmonie voraus, welche Kant ein für allemal aus der Erkenntnistheorie verbannt hatte. Die erstere dagegen würde, selbst wenn man zugäbe, daß wir in der bloßen Wahr- nehmung noch einen anderen als den räumlich -zeitlichen Zu- sammenhang erleben (was Kant leugnet), doch niemals die All- gemeingültigkeit und Notwendigkeit, welche wir für unsere allgemeine theoretische Naturerkenntnis in Anspruch nehmen, berechtigt erscheinen lassen. Dagegen wird es möglich, diese Berechtigung zu begreifen, sobald man sich auf den phänome- nalistischen Standpunkt begibt. Daß der Wahrnehmungsinhalt sowohl in seiner sinnlichen Qualität als auch in seiner räumlich- zeitlichen Formung subjektiven Charakters ist, gilt durch die

Natur uIh Krsclioinuiig. 73

transzeiulonlalc Astliclik für IjcwicHcn. Auf alle Fälle i.st also, was wii>Nat\ii^^ nennen, iinnier dodi mii- ein /^'OKctzniäüi;^<'r /u- saninienhang von Kisclieinun;j;en. Eh gibt nnii einen crkenntni«- theoretisclien Standpunkt, der dies ziigil)!. inul dabei doch be- hauptet, daß (Um* ^edaehte Zusammenhang der PJrscheinungen, (1. h. die Formen der Oesctzmäßij^keit, welche das Denken als die Verliiiltnis.se der Erscheinun^^'U auffaßt, nui^^cn die letzteren selbst auch nur phänomenalen Charakters sein, dennoch eine Erkenntnis der Realität bilden. CJenau so verhielt sich die Leib- nizische Lehre. Aber für Kant war diese prästabilierte Harmonie unannehmbar, und so stieß er auf die Frage, ob vielleicht diese Formen auch nur phänomenalen Charakters seien. Wenn sie die Gesetze darstellen, nach denen die Vernunft vermöge ihrer eigenen Ofganisation den Zusammenhang der Erscheinungen denken piuß, (gleichviel ob er in dieser Gestalt real ist oder nicht,jso ist jede aieser Formen für uns ein Natiurgesetz von allgemeiner und not- wendit2;er Geltung. Schriebe eine außer uns bestehende Natur dem erkennenden Geiste seine Erkenntnis vor, so könnten wir nie wissen, ob wir diese Vorschriften schon in dem Umfange kennen gelernt haben, um zu bestimmen, mit welchem Grade von Allgemeinheit die einzelnen gelten : dagegen ist diese Apriorität sogleich begründet, wenn umgekehrt der Verstand, es ist, welcher der Natur die Gesetze vorschreibt. Die Paradoxie dieses Satzes besteht nur so lange, als man dabei an eine will- kürliche Tätigkeit des individuellen Verstandes oder anderseits an eine objektiv-reale »natura rerum« denld;: was Kant meint, ist vielmehr , daß wir von einer allgemeinen und notwendigen Erkenntnis der Natur nur unter der Bedingung sprechen dürfen, wenn das, was wir Natur nennen, nicht eine Welt von Dingen an siclf^, sondern vielmehr der nach_den allgemeinen Gesetzen des Geistes g:edachte Zusammenhang von '^Erscheinungen^ ist. Apriorische Naturerkenntnis ist nur möglich unter dem phäno- menalistischen Gesichtspunkte, nur möglich, w^enn alles, was wir von einer wirklichen Welt zu erfahren glauben, ein Produkt nicht nur unserer Empfindungs- und Anschauungs-, sondern auch unserer Denkweise ist. Danach kann unsere apriorische Natur- erkenntnis nur darin bestehen , daß wir uns die Gesetze zum Bewußtsein bringen, nach denen die Organisation unserer

74 Kants theoretische Philosophie.

Intelligenz schon ohne unser bewußtes Zutun die Vorstellung der Natur in uns produziert. Die Entscheidung der Frage nach der Berechtigung einer reinen Naturwissenschaft hängt also daran, ob sich solche ^ reine Formen^ des Denkens als konstituierende Kräfte für unsere Erfahrung von der Natur ebenso nachweisen lassen wie die reinen Anschauungen für unsere Auffassung der sinnlichen Bilder.

In der Aufsuchung dieser Formen nun lehnt sich die tran- szendentale Logik an die formale an. Wenn es solche reine Formen der Denktätigkeit geben soll, so können sie nur die Arten der Verknüpfung darstellen, unter denen die Vorstellungen im Denken auftreten. Die Vorstellungsverknüpfung aber hat, sobald sie den Anspruch nicht nur auf subjektive, sondern auch auf objektive, d. h. allgemeine und notwendige Geltung macht, stets die Form des Urteils. Gegenständliches Denken ist Urteilen. Die Aufgabe, die verschiedenen Verknüpfungsweisen, welche das Denken anzuwenden imstande ist, systematisch zu finden, muß deshalb zu ihrer Lösung sich des Leitfadens be- dienen, den eben die formale Logik in der Lehre von der Ein- teilung der Urteile darbietet. Es gibt so viel »Kategorien«, als es ursprüngliche Verknüpfungsarten von Vorstellungen gibt, und es gibt der letzteren so viele, als es Formen des Urteils gibt. Wenn man bei jeder dieser Formen auf die eigenartige Beziehung achtet, welche das Urteil zwischen Subjekt imd Prädikat ansetzt und worin seine spezifische Eigentümlichkeit besteht, so wird man in diesem^ Verhältnisbegriffe eine der Grundfunktionen des Denkens erkennen müssen. In dieser Auffassung der Urteilsformen besteht, prinzipiell betrachtet, die entscheidende logische Tat Kants. Mit ihr erhebt er sich über die schematische Behand- lung, welche die Lehre vom Urteil in der Logik bis zu ihm hin deshalb gefunden hatte, weil man dabei lediglich auf die*^ub- sumtionäverhältnisse zwischen Subjekt und Prädikat seine Auf- merksamkeit richtete. Kant hatte eingesehen, daß das Urteil weder stets eine Gleichsetzung von Subjekt und Prädikat besagen noch den Ausdruck für das Verhältnis des Umfangs dieser beiden Begriffe geben will, sondern vielmehr zwischen Subjekt und Prä- dikat eine begriffliche Beziehung, eine Art der »Aussage« stiftet, welche sich in der Abstraktion als einer der reinen Verstandes-

Urteile un«l Kategorien.

begriffe versellmtäiidi'.^en lüLH. ( Das Urteil: Zucker iht büß, will weder die beiden Begiiffe Zucker und süß einander gleichsetzen noch den einen unter den anderen* subsumieren, sondern viel- melir aussagen, daß das Ding Zucker zu seinen Eigenscliaften aucli diejenige habe, .süß zu setn. Das Wesen des Urteils Ije- steht also darin, die beiden V^orstellungen »Zucker« und *süß« in das begriffliche Verliältnis von Dinj^ und Eigeiiachaft mit- einander zu setzen, und der verbindende Akt, der in diesem Urteile die Synthesis von Subjekt und Prädikat vollzieht, spricht sich, wenn er gesondert zum Bewußtsein gebracht werden soll, als das Verhältnis von Ding und Eigenschaft, als die Kategorie der Substantialität oder der Inhärenz aus. Dies Beispiel mag genügen, um die Absicht zu er4äutern, die Kant bei seiner Be- handlung des Urteils vorschwebte^ Die transzendentale Logik will nicht mehr wie die formale eine Logik des ümfangs der Begriffe sein, sondern vielmehr die sachlichen Beziehungen untersuchen, welche durch die verschiedenen Formen der Urteils- tätigkeit zwischen den Begriffen angesetzt werden. Jene ein- seitige Berücksichtigung des Umfangs der Begriffe war der alten Logik dadurch aufgenötigt worden, daß ihre wesentliche Aufgabe auf eine Theorie des wissenschaftlichen Beweis Verfahrens , auf eine Lehre vom Schluß hinauslief. Erst von dem erkenntnis- theoretischen Gesichtspunkte Kants her konnte es entdeckt wer- den, daß den Formen des Urteils ebenso viele Verhältnisse zwischen den Begriffen entsprechen. Mit dieser Entdeckung hat Kant das Problem der »unauflöslichen« Begriffe gelöst, an dem sich z. B. Lambert ergebnislos bemüht hatte, imd damit jene große Umwälzung der Logik begonnen, welche heute noch nicht vollendet ist. Und diese Bedeutung seines neuen Prinzips wird dadurch nicht geschmälert, daß Kant sich in der Ausführung des neuen Gedankens offenbar vergriffen hat.

Denn es ist bei der klaren Vorstellung, welche Kant von der Verschiedenheit der Aufgaben der formalen und der erkenntnis- theoretischen Logik gehabt hat, höchst merkwürdig, daß er dennoch meinte, das von der formalen Logik aufgestellte System der Urteile als Leitfaden für die Aufsuchung der erkenntnis- theoretischen Funktionen benutzen zu können. Mit seiner Über- zeugung von der Unanfechtbarkeit der formalen Logik legte er,

76 Kants theoretische Philosophie.

obwohl ihm doch die Verschiedenheit, die in dem Vortrage der Urteilslehre selbst unter den Schulphilosophen obwaltete, kaum hat entgehen können, dennoch seiner Aufsuchung der Kategorien die >> Tafel der Urteile«, wie er sie vorzutragen pflegte, zugrunde. Diese Tafel zeigte vier Gesichtspunkte, denen jedes Urteil unter- worfen werden müsse, diejenigen der Quantität, der Qualität, der Kelation und der Modalität, und für jeden dieser Gesichts- punkte drei verschiedene Formen, von denen eine in jedem Urteil enthalten sein müsse. Der Quantit;^t nach ist das Urteil entweder ein allgemeines oder ein partikulares oder ein singulares, der QuaÜtät nach entweder ein bejahendes oder ein verneinendes oder ein unendliches, der Relation nach entweder ein kategorisches oder ein hypothetisches oder ein disjunktives, der Modali;^t nach ein problematisches oder ein assertorisches oder ein apodiktisches. Aus der Reflexion auf diese zwölf möglichen Formen des Urteils entwickelt nun Kant seine Tafel der zwölf Kategorien. Die Kategorien der Quantität sind: Einheit, Vielheit, Allheit; die- jenigen der Qualität sind: ReaHtät, Negation, Limitation; die- jenigen der Relation sind: Inhärenz und Subsistenz (substantia et accidens), KausaHtät und Dependenz (Ursache und Wirkung), Gemeinschaft (Wechselwirkung zwischen Handelndem und Leiden- dem); diejenigen der .Modalität sind: Möglichkeit und Unmög- lichkeit, Dasein und Nichtsein, Notwendigkeit und Zufälligkeit. Es ist klar, daß der Zusammenhang zwischen jenen*^Urteilsformen^ (selbst deren System als richtig zugegeben) und diesen 'reinen Verstandesbegriffen,' welche die darin wirksamen Verknüpfungs- funktionen enthalten sollen, zum großen Teile nur ein äußerst^ loser, willkürlicher und zufälliger ist. Und von allen Teilen der Kantischen Philosophie ist diese Ausführung eines seiner bedeu- tendsten und fruchtbarsten Gedanken offenbar der schwächste. Leider ist die Wirkung davon nicht auf diesen Teil beschränkt, sondern Kant fand vielmehr sonderbarerweise an diesem Schema der Kategorien so viel Freude, daß er es in der Folgezeit überall zugrunde legte, wo es ihm um die erschöpfende Behandlung eines Problems zu tun war. Seine zunehmende Pedanterie trat nicht am wenigsten darin zutage, daß er meinte, jeder Gegenstand müsse nach Quantität, Qualität, Relation und Modalität geson- dert abgehandelt werden, und daß er in dieses Schema seine

'Piifel (lor rrtoilr und dor Kfitop^orirn. 77

spiltiM(Mi lTnt(M'snclnm;^on nicht zu ihrem Vorteil künstlich »wie in oin Prokrustosbrtt« hinoinpreßtc.

J)as sind also dic'^rcincii Verstandosbegriffc, deren durcJiauH j)arallcle liohandlunjj; mit dvn reinen Anschauungsformen " den ei<^entlic'lien Charakter von Kants kritischer Erkenntnistheorie bildet, indem er von ihnen mit einer anah);_fen Beweisführung und mit den gleichen phänomenalistischen Konsequenzen die Apriorität behauptet. Auch hier gilt diese nicht in dem psychologischen Sinne, daß etwa l^cgriffe, wie diejenigen der Substantialität und Kausalität von vornherein im Bewußtsein des Menschen vorhanden seien und dann erst ziu: Anordnung des similichen Vorstellungs- materials ausdrückhch verwendet werden sollten. Für Kant ist vielmehr auch das Bewußtsein von diesen reinen Formen des Denkens in derselben Weise wie dasjenige der räumlichen und zeitlichen Gesetze niu' eine Reflexion auf die Arten der Syn- thesis, welche das Denken unwillkürlich in seiner Erfahrungs- tätigkeit anwendet. Den Beweis davon führt Kant in demjenigen Abschnitt der Kritik der reinen Vernunft, welchei von allen am tiefsten geht, aber eben deshalb auch von jeher als der dunkelste und schwierigste gegolten hat. Will man sich den darin ent- haltenen Beweisgang ohne die zum Teil sehr künsthche und ver- wickelte Terminologie, welche Kant dafür konstruiert hat, klar machen, so muß man als Ausgangspunkt die für Kants eigene Ent\vicklung so bedeutungsvolle Frage nach dem Grunde der Gegenständlichkeit unserer sinnlichen Wahrnehmungsbilder nehmen. Versteht man unter Wahrnehmung die nach dem Schema von Raum und Zeit angeordneten Zusammenfassungen von Emp- findmigen, w^elche in dem individuellen Bewußtsein entstehen, unter ^Erfahrung" dagegen das Bewußtsein des Individuums, eine not- wendige und allgemeingültige Vorstellungsverbindung bei dieser sinnUchen Wahrnehmung vollzogen zu haben, so lautet die Frage der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandes- begriffe: wie wird aus Wahrnehmung Erfahrung? oder schärfer im Geiste der kritischen Methode ausgedrückt: aus welchem Grunde kann aus Wahrnehmmigen Erfahrung werden? Erfahrung setzt das Verhältnis eines subjektiven Vorstelliuigsgebildes zu einem Gegen- stande voraus; und so läßt sich die Frage auch so formu- lieren: worin besteht und worauf beruht die Beziehung unserer

7^ Kants theoretische Philosophie.

Wahrnelimungen auf Gegenstände? Um aber in der Beantwortung dieser Frage nicht von vornherein fehlzugehen, muß man sich klar machen, daß Gegenständlichkeit im Sinne des Kantischen Kritizismus nicht mit '^Eealität nach altem und gewöhnlichem Sprachgebrauch, sondern vielmehr lediglich mit , Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit identisch ist. Daraufhin formt sich jene Frage in die weitere um: aus welchen Gründen können wir überzeugt sein, daß die in der Wahrnehmung des einzelnen Subjektes sich vollziehenden räumlich - zeitlichen Synthesen von Empfindungen notwendige und allgemeine Geltung haben? In der Beantwortung dieser Frage entwickelt Kant die größte Energie seines Denkens, und es ist dies der Punkt, wo er sich über das Vorurteil des naiven Kealismus weit emporhebt. Den Nerv aber der gesamten Deduktion der reinen Verstandesbegriffe muß man in Kants Nach- weise sehen, daß schon die Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit, welche in der Wahrnehmung dem räumlichen und zeitlichen Schema der Empfindungen beiwohnt, nicht durch die bloße Anschauungs- tätigkeit, sondern bereits durch begriffliche Beziehungen oder, wie Kant sich ausdrückt, durch Kegeln des Verstandes bestimmt ist. Man sagt gewöhnlich, Kant habe sich nur um die Apriorität von Raum und Zeit und den Kategorien, niemals aber um den Erkenntnis wert der einzelnen Erfahrungen gekümmert, und Jacobi und Herbart haben gleichmäßig diesen Einwurf gegen die Vernunft- kritik gemacht. Die transzendentale Deduktion lehrt das Gegen- teil; sie sucht zu zeigen, daß räumliche und zeitliche Anordnung von Empfindungen nur dann einen^ objektiven, d. h. notwendigen und allgemeinen Wert haben, wenn sie durch eine begriffliche Funktion in ihrer Anwendung bestimmt sind. Zwei Empfindungen A und B, welche in demselben individuellen Bewußtsein hinter- einander aufgetreten sind, können innerhalb desselben nach den Gesetzen der empirischen Reproduktion und Assoziation in be- liebiger Weise und von jedem Individuum in anderer Weise räumhch und zeitlich in Beziehung gesetzt werden. Sollen sie aber in die allgemeine und notwendige Beziehung treten, daß immer B auf A folge, so ist das nur dadurch mögHch, daß A die Ursache von B ist. In ähnUcher Weise, meint Kant, seien alle räumlichen und zeitlichen Verhältnisse in der »Einbildungskraft« individuell ver- schiebbar und würden zur Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit

Transzondontiilt' Doduktion (]ov roinon Vcratandeftbopfrino. 7!*

erst dadiiirli fixiert, daß sie nach den begrifflichen Vcrhältninsen geregelt werden.

Nun liegt aber eine solche Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit in dem, was wir Erfahrung nennen, tatsäclilich vor. Wir haben ein zweifelloses Bewußtsein davon, *daß die räumliche und zeitliche Anordnung, in welche wir bei der Wahrnehmung die Empfindimgen versetzen, allgemein und notwendig gilt. Und doch ist in den bloßen Empfindungen kein Grund für eine solche bestimmte An- ordnung enthalten. Wenn wir z. B. unsere Augen über die einzelnen Teile eines großen Gegenstandes wandern lassen und uns diese Teile sukzessive zum Bewußtsein bringen, so bleiben wir doch davon überzeugt, daß diese sukzessive in uns aufgetretenen Empfindungen als gleichzeitig im Kaume koordiniert gedacht werden müssen, während wir in anderen Fällen nicht minder sicher davon überzeugt sind, daß der Sukzession unserer Emp- findungen (z. B. bei der Bewegung eines Gegenstandes) auch eine objektive Sukzession in der Zeit entspreche. Nichts anderes können wir nun aber meinen, wenn wir den subjektiven Vor- stellungsbewegungen gegenüber von »Gegenständen« sprechen, welche die Eichtschnur für die Richtigkeit der ersteren bilden. Gegenständlichkeit ist eine Regel für die räumlich-zeitliche An- ordnung der Empfindungen, eine Regel, die nach dem obigen jedesmal die Anwendung einer der Funktionen des reinen Ver- standes enthält, und wodurch der subjektiven Vorstellungs- verknüpfung objektive Geltung verschafft werden soll. Von der erkenntnistheoretischen Analyse aus gesehen, ist also Erfahrung nur-not wendige und allgemeingültige Wahrnehmungstätigkeit," und ist der gegenständ 'der Wahrnehmung nur diese Bestimmtheit der räumlich-zeitlichen Sjrnthese durch einen Verstandesbegriff. Die "Gegenstände also sind nicht an sich bestehende Dinge, sondern sie sind der individuellen Assoziation gegenüber lediglich die all- gemeinen und notvrendigen Empfindungsverknüpfungen. ^^

Nun treten aber diese objektiven Synthesen gleichfalls in dem individuellen Bewußtsein auf. Sie zeichnen sich nur dadurch aus, daß ihnen ein Gefühl von Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit beiwohnt, welches aus der empirischen Assoziationstätigkeit des individuellen Geistes nicht erklärbar ist. Deshalb kann der Grund der Objektivität nur darin gesucht werden, daß im tiefsten Grunde

gQ Kants theoretische Philosophie.

des individuellen Bewußtseins eine allgemeine Organisation tätig ist, die nicht sowohl in ihrer Funktion selbst, als vielmehr in ihren Produkten, d. h. als sachlich gegebene Gegenständlichkeit vor das individuelle Bewußtsein tritt. Das letztere findet des- halb die Vorstellung der Gegenstände als ein Fertiges und Ge- gegebenes vor und betrachtet sie als etwas ihm Fremdes und Äußerliches, während sie in Wahrheit in der innersten Werk- stätte seines eigenen Lebens erzeugt worden sind. Das Gegen- ständliche also in unserem Denken beruht auf einer über- individuellen Funktion, welche gleichmäßig den gegenständ- lichen Untergrund aller individuellen Vorstellungstätigkeit bildet, auf dem »Bewußtsein überhaupt«. fMan darf unter diesem viel mißverstandenen Ausdruck nicht ein von dem individuellen Bewußtsein verschiedenes psychisches Wesen oder Subjekt ver- stehen wollen: eine solche metaphysische Deutung ist eben da- durch ausgeschlossen, daß es sich bei allen diesen Kantischen Untersuchungen nicht um psychologische Prozesse, sondern um dasjenige handelt, was als allgemein und notwendig geltende Funktion in dem, was wir Erfahrung nennen, enthalten ist.^ In- dem Kant daran geht, die in den » Prolegomena « zuerst so be- zeichnete Funktion des Bewußtseins überhaupt zu bestimmen, ergibt sich zunächst, daß ihr innerster Charakter in der Einheit des Denkaktes bestehen muß. Alle Gegenstände sind Synthesen von Empfindungen, aber sie sind als solche stets eine Verein- heitlichung des Mannigfaltigen. Wenn nun dies Mannigfaltige in den Empfindungen besteht, so ist anderseits die Vereinheitlichung eine Funktion der reinen Formen der Intelligenz. Raum und Zeit einerseits und die Kategorien anderseits bilden also die Formen der notwendigen und allgemeingültigen Vereinheitlichung für die Mannigfaltigkeit der Empfindungen, d. h. sie sind in ihrer Verbindung die konstituierenden Prinzipien der Objektivität. Diese ganze »transzendentale Synthesis des Mannigfaltigen« ist aber nur so denkbar, daß ihr eine absolute Einheit zugrunde liegt, in welcher und an welcher das Verschiedene als solches erkannt und miteinander in Beziehungen gesetzt wird. Diese absolute Einheit kann natürlich weder in einem bestimmten Denk- inhalte noch in einer der besonderen Denkformen, sondern nur in jener allgemeinsten Form bestehen, welche als der stets sich

»Bowiißtsein Uborliatipt«, H]

jjjleichbliMbeiKlc Akt »ich denke« alle V'orstellungf'n iilxTliaiipt nicht mir bcjj;loitet, soiKh'rn erst nio;_'lich macht. Den tiefsten Crund jener überindivitluellcn Orfjjanisation bildet also dieses »reine Selbstbewußtsein«, vda.^ Kant mit dem Namen der »transzendentalen Apperzeption« bezeichnet.\

In diesem »Bewußtsein überliaupt« liej^t also der Grund für die Allgcmeingültigkeit \md Notwendigkeit der Erfahrung. Die Katcjgorien sind nichts als die besonderen Formen der Synthesis, welche die transzendentale Apperzeption anwendet, um die Mannig- faltigkeit der Empfindungen in die begriffliche Einheit zu bringen, worin allein auch die "" Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit der räumlich-zeitlichen Anordnung begründet ist. Die Welt der Gegenstände ist also ein Produkt der überindividuellen Funktion, die als Erfahrung in uns einzelnen tätig ist. Bildet sich das Individuum willkürlich oder nach den Gesetzen der Assoziation aus dem Material seiner Wahrnehmungen neue Zusammenstellungen, so bezeichnet man diese Tätigkeit als Einbildungskraft, welche im Individuum stets reproduktiver Natur ist. Indem nun die tran- szendentale Apperzeption aus den Empfindungen mit Hilfe des Schemas von Raum und Zeit durch die Einheitsfunktion der Kategorien originaliter die Gegenstände erzeugt, verdient sie den Namen der produktiven Einbildungskraft.

Dies ist nun der »Kopernikanische Standpunkt«, den Kant gewonnen zu haben glaubte, um das Verhältnis unserer Vor- stellungen zu einer gegenständlichen Welt begreiflich zu machen. Die einzige Bedingung, unter der es Begriffe a priori von den Gegenständen geben kann, ist die, daß die Gegenstände unserer Erkenntnis nicht Dinge an sich , sondern Erscheinungen sind. Hätte unsere Erkenntnistätigkeit es mit Dingen an sich zu tun, so würden unsere Begriffe dafür niemals allgemeine und not- wendige Bedeutung haben können. Von den Dingen selbst, durch Erfahrung im gewöhnlichen Sinne des Wortes gewonnen, würden sie a posteriori sein; aus uns als eingeborene Ideen genommen, würden sie ihre reale Gültigkeit niemals erweisen können. Em- pirismus und Rationalismus sind gleich unfähig, apriorische Er- kenntnis von Gegenständen zu erklären; nur die Transzendental- philosophie vermag dies, indem sie zeigt, daß die Kategorien allgemein und notwendig für alle Erfahrung gelten, weil diese

Windelband, Gesch. d, n, Philos. II. 6

g2 Kants theoretische Philosophie.

Erfahrunc: erst durch sie »zustande kommt«, d. h. in ihrer All- gemeingültigkeit notwendig begründet ist. Was aber dadurch zustande kommt, sind nicht Gegenstände an sich, sondern Gegen- stände, die in jenem »Bewußtsein überhaupt« als Vorstellungs- synthesen entsprungen sind, d. h. Erscheinungen. Wenn es nur Erscheinungen sind, mit denen die menschliche Erkenntnis zu tun hat, so folgt eben daraus, daß es für sie Begriffe a priori gibt. Denn als Erscheinungen sind die Dinge nur in uns vor- handen, und die Art, wie das Mannigfaltige der Empfindung in unserem Bewußtsein vereinigt erscheint, geht dann den Er- scheinungen selbst als ihre intellektuelle Form vorher*). Eine Natur als System von Dingen an sich könnte in eine allgemeine und notwendige Erkenntnis nie eingehen; aber eine Natur, die ein Produkt unserer Organisation ist, d. h. eine Erscheinungs- welt, ist in ihren allgemeinen Gesetzen a priori zu begreifen, weil diese Gesetze nichts anderes sind als die reinen Formen unserer Organisation.

Diese Lehre Kants ist Kationalismus, insofern sie eine aprio- rische Erkenntnis mit den Formen des menschlichen Geistes be- hauptet und begründet; sie ist Empirismus, insofern sie diese Erkenntnis nur auf die Erfahrung und die darin gegebenen Er- scheinungen beschränkt; sie ist Idealismus, insofern sie lehrt, daß es nur unsere Vorstellungswelt ist, welche wir erkennen; .sie ist Realismus, indem sie behauptet, daß diese unsere Vorstellungs- welt Erscheinimg, d. h. die Auffassung unseres Geistes von einer wirklich bestehenden Welt, obwohl njcht deren Abbild ist. Sie faßt alle diese Charakteristiken zusammen als transzendentaler Phänomenalismus, indem sie zeigt, daß die Welt der Objekte für den individuellen Geist das Produkt einer überindividuellen Organisation ist, die ihm nicht fremd gegenüber steht, sondern den Grund seines eigenen Lebens bildet. Auch für Kant gilt deshalb die populäre Bezeichnung, daß die Wahrheit des Denkens in seiner Übereinstimmung mit Gegenständen besteht : aber diese ''Gegenstände ^können nicht Dinge im Sinne des naiven Realismus, sondern nur Vorstellungen höherer Art sein. Wahrheit für den

*) Doch muß man dabei immer im Auge haben, daß dies »Vorhergehen« kein psychologisch -zeitliches, sondern ein logisch -sachliches Verhältnis be- deutet.

Tranazondontnlor PliilnomcnalisTnu». H3

.suhjoklivcii Ooist ist ÜlxMciiistinmiun«^ der individuellen mit der üheriiulividiielleii Vorstellung.

Es ist vorzeihlieli, daß dies Resultat des Kritizismus bei seinem Erscheinen mit der Lehre von Berkeley verwechselt worden ist; aber es ist ebenso berechtijj^t, daß Kant sich gep^en diese Ver- wechslung energisch verwahrt hat. Denn während Berkeley jede Realität der Körperwelt überhaupt aufhob, hält Kant daran ab- solut fest und beliauptet seinerseits nur, daß alles, was wir von diesen Körpern durch Wahrnelimung imd Denken wissen, in der Organisation unseres Geistes begründet und deshalb nur ihre Er- scheinungsweise sei : und während Berkeley eine metaphysische Substantialität der individuellen Geister und infolgedessen eine Mitteilung des göttlichen Vorstellungsprozesses an die einzelnen Geister annahm, entschlägt sich Kant/vermöge seiner Ausdehnung des Phänomenalismus auch auf den inneren Sinn , dieses meta- physischen Spiritualismus vollständig und betrachtet das »Be- wußtsein überhaupt« nicht etwa als ein metaphysisches Subjekt, sondern nur als eine allgemeingültige Funktion unü ebenso auch das empirische Subjekt nicht als eine reale Wesenheit, sondern als eine Erscheinung. In diesem Sinne gab er in der zweiten Auflage der Vernunftkritik eine seiner gesamten Lehre vollkommen entsprechende »Widerlegung des Idealismus«, indem er zeigte, daß das individuelle Selbstbewußtsein, statt der Vorstellung der Außenwelt, wie Descartes und Berkeley meinten, zugrunde zu liegen, vielmehr umgekehrt erst auf Grund einer entwickelten Vorstellung von äußeren Gegenständen zustande kommt, daß also mit Rücksicht sowohl auf die psychologische Genesis, als auch auf die erkenntnistheoretische Begründung die Funktion des äußeren Sinnes derjenigen des inneren Sinnes vorhergeht.

So erweist sich die transzendentale Ästhetik nur als Vorspiel zur Analytik. Dort handelt es sich um die von der reinen Mathe- matik zu erkennenden räumhchen und zeitlichen Gesetze, insofern sie in sich apodiktisch und von allgemeiner Geltung für die ge- samte Sinnenwelt sind. Hier dagegen zeigt es sich, daß die ganze Welt unserer Erfahrung erst durch die Zusammenwirkung der SinnHchkeit und des Verstandes zustande kommt, und daß jede besondere Anwendung der räumlichen und zeitlichen Synthese nur dadurch objektiven Wert erhält, daß sie durch eine Funktion des

g4 Kants theoretische Philosophie.

reinen Verstandes, durch eine Kategorie geregelt wird. Die beiden Erkenntnisquellen, Sinnlichkeit und Verstand, welche Kant so scharf gesondert hat, lassen ihre innere Zusammengehörigkeit und ihre gemeinsame Abstammung aus der uns unbekannten Wurzel darin erkennen, daß sie sich an demselben Material der Emp- findungen in engster Verknüpfung betätigen, und daß die Ver- hältnisse der sinnlichen Synthese sich durch diejenigen der begrifflichen S3nathese bedingt zeigen. Indem Kant dieser Ver- einbarkeit der heterogenen Funktionen nachgeht, stellt er zwischen beiden als psychologisches Zwischenglied eine Analogie zwischen den kategorialen Verhältnissen und gewissen zeitlichen Beziehungen auf, die er als den »Schematismus der reinen Verstandes- begriffe« bezeichnet. Die stetige Gleichzeitigkeit z. B. von Empfindungen steht mit der Kategorie der Inhärenz, die stetige Sukzession mit derjenigen der Kausalität in einer ursprünglich unserem Denken einleuchtenden Beziehung. Während nun Hume, der diese Beziehungen wenigstens an den eben gewählten Bei- spielen zuerst entdeckte, sie lediglich als Produkte des individuellen Assoziationsmechanismus auffaßte, sieht dagegen Kant in dieser Koinzidenz sinnUcher und begrifflicher Verhältnisse die eigentliche Funktion der transzendentalen Einbildungskraft, und da das zeitliche Schema und die Formen des Denkens sich in der Tätig- keit des inneren Sinnes begegnen, so glaubt er auf diese Weise die Möglichkeit begriffen zu haben, daß eine transzendentale Ur- teilsla*aft die räumlich-zeitlichen Gebilde unter reine Verstandes- begriffe subsumiere, und daß dadurch die begrifflichen Regeln der Kategorien ihre Anwendung auf die Welt der sinnlichen Wahr- nehmung finden. Kants Lehre von der Zeit zeigt sich hier als ein unentbehrliches Zwischenglied seiner gesamten psychologisch- erkenntnistheoretischen Konstruktion. Die Zeit^als die reine Form des inneren Sinnes) gilt einerseits als transzendentale Bedingung auch für alle Erscheinungen des äußeren Sinnes und anderseits als ein allgemeines Schema für die Anwendung der Kategorien. So vermittelt sie jene Gemeinsamkeit der Funktion zwischen Sinn- lichkeit und Verstand und läßt es begreiflich erscheinen, daß aus der Subsumtion der Erscheinungen unter die Kategorien sich all- gemeine Sätze ergeben, welche für den gesamten Umfang der ersteren als apriorische Gesetze gelten.

I

(IruDclsiltzo dos rolncn Vorstaiulos. 85

Daraiiflnii ontwickcli Kant die CJrundHÜtzc des reiner» V(M'standes. Sie ontluiltcii dasjenige, was er die reine Natur- wissenschaft nennt, d. h. die Axiome, welche, ohne durcli die Kr- falnunü; begründbar zu sein, aller^Erfahrung zu<^'runde lie;^en und alle besonderen Naturgesetze nicht nur als einzelne Anwendungen auf empirische Gegenstände unter sich enthalten, sondern auch allein wirklicli zu begründen imstande sind. Jeder dieser Grund- sätze enthält nichts anderes als das Urteil, daß die betreffende Kategorie oder Kategorienklasse auf jede Erscheinung ihre An- wendung zu finden habe. So ergibt der Gesichtspunkt der Quantität das allgemeine Axiom der Anschauung, wonach alle Erscheinungen ihrer Anschauung nach extensive Größen sind. So folgt aus dem Gesichtspunkte der Qualität der Grundsatz der Antizipation der Wahrnehmung, daß in allen Erscheinungen das Objektive, welches den Gegenstand der Empfindung bildet, eine intensive Größe ist, d. h. einen Grad hat. So begründen die Gesichtspunkte der Modalität als Postulate des empirischen Denkens die Begriffsbestimmungen: möglich sei dasjenige, was der Anschauung und dem Begriffe nach mit den formalen Be- dingungen der Erfahrung übereinkommt; wirklich dasjenige, was mit den materialen Bedingungen der Erfahrung, d. h. der Emp- findung zusammenhängt; notwendig endlich dasjenige, dessen Zu- sammenhang mit dem Wirklichen nach allgemeinen Bedingungen der Erfahrung bestimmt ist. Am wichtigsten aber sind zweifellos unter diesen Grundsätzen des reinen Verstandes die Analogien der Erfahrung, welche aus der Unterordnung aller Erscheinungen unter die Kategorien der Relation sich ergeben. Die Anwendung der Kategorie der Substantialität auf die Erscheinungen ergibt als erste Analogie den »Grundsatz der Beharrlichkeit der Sub- stanz«, w^onach bei allem Wechsel der Erscheinungen die Sub- stanz beharrt und ihr Quantum in der Natur weder vermehrt noch vermindert wird. Aus der Subsumtion aller Erscheinungen unter die Kategorie der KausaHtät folgt als zweite Analogie der »Grund- satz der Zeitfolge nach dem Gesetze der Kausalität«, daß alle Veränderungen nach dem Gesetze der Verknüpfung von Ursache und Wirkung geschehen. Die Kategorie der Gemeinschaft be- gründet in ihrer Anwendung auf die Erscheinungen als dritte Analogie den »Grundsatz des Zugieichseins nach dem Gesetze der

Kants theoretische Philosophie.

Wechselwirkimg«, wonach alle Substanzen, insofern sie im Raum als zugleich wahrgenommen werden können, in durchgängiger Wechselwirkung stehen. Diese Analogien enthalten nicht mehr und nicht weniger als die Grundzüge einer Metaphysik der Natur als Erfahrungswelt; sie lehren, daß nach den Gesetzen unserer geistigen Organisation sich alle Erfahrung als ein System von räumlichen Substanzen darstellen muß, deren Zustände im Verhältnis wechselseitiger Kausalität stehen. In ihnen erst ent- wickelt sich die besondere Darstellung davon, daß die Natur als das System von Ordnung und Gesetzmäßigkeit, welches wir wahr- zunehmen glauben, in Wahrheit auf dem Grundriß der gesetz- mäßigen Funktion unseres Verstandesgebrauches aufgebaut ist: imd so hat Kant erwiesen, daß wir die Welt in diesem ihrem Zusammenhange vermöge unserer Organisation so wie es geschieht anschauen und denken müssen, ganz unabhängig davon, ob sie worüber wir nichts entscheiden können und was uns auch gar nichts angeht außerhalb unseres Geistes so ist oder nicht.

Die so gefundenen und deduzierten Grundsätze des reinen Verstandes enthalten also die Metaphysik, d. h. die apriorische Verstandeserkenntnis der Erscheinungswelt. Allein sie bedürfen behufs ihrer .Anwendung auf die Erfahrungswissenschaften noch einer Ergänzung. Wenn die Erfahrung nur durch die gemeinsame Wirkung der Sinnlichkeit und des Verstandes erzeugt wird, so steht ihr Gegenstand, d. h. die Natur a priori, unter den Gesetzen, d. h. den reinen Formen der SinnHchkeit und des Verstandes. Nun zeigte sich zwar schon die Anwendung der letzteren durch die zeitliche Schematisierung bedingt, und in den Grundsätzen des reinen Verstandes liegt in dieser Weise schon eine Verlmüpfung der beiden Prinzipien vor. Allein da alle Erscheinungen sinn- lichen Charakters sind, so muß sich in ihnen auch die besondere Gesetzgebung von Raum und Zeit, d. h. die mathematische, als maßgebend erweisen. Mit jenen Grundsätzen des reinen Ver- standes ist, da die Tafel der Kategorien als ein vollständiges System gilt, der Umfang dessen, was man durch bloße Begriffe a priori von der Erfahrung weiß und wissen kann, erschöpft. Erst die mathematische Erkenntnis fügt dieser apriorischen Meta- physik der Erscheinungen das anschauliche Element hinzu. Ohne dieses Element ist eine Verknüpfung zwischen jenen höchsten

Naturphilosophie. 87

Gruiidsiitzcii und den besonderen Krfuhrun;^cn nicht denkbur, mithin auch eine Sub.sunition (Kt letzteren unter die crsteren nicht vollziehbar. Die p.sycholo<;ische Konstruktion, die Kant seiner Erkenntnistheorie ziii;runde le^te, läßt die Formen der Sinnlichkeit als das unentbehrliclie Zwischenglied zwischen dem Empfindungsmaterial und den reinen Formen des Denkens er- scheinen, und deshalb ist ihm die Mathematik das einzige Medium, durch welches unsere Erfahrung von der Natur auf jene reinen Grundsätze bezogen werden kann. Darum erklärt Kant, daß in jeder Naturlehre sich nur so viel Wissenschaft (d. h. Wissenschaft im eigentlichsten Sinne oder apriorische Wissenschaft) finde, als sie Mathematik enthalte. Hier zeigt sich nun, wie Kant durch seine kritische Arbeit sich die Möglichkeit geschaffen hatte, die mathematischen Prinzipien der Naturphilosophie ganz in dem Sinne von Newton durchzuführen, mit dem Unterschiede nur, daß die Natur für Newton eine absolute Realität, für Kant^eine in der Organisation des menschlichen Geistes begründete Er- scheinung ist, daß Raum und Zeit bei jenem die Möglichkeit der realen, bei diesem diejenige der Vors tellungs weit bildete. Meta- physik der Erscheinungen oder Naturphilosophie reicht also für Kant so weit, als es eine mathematische Behandlung der Erscheinungen gibt; wo diese aufhört, da gibt es auch keine apriorische Erkenntnis mehr, sondern nur noch eine Samm- limg von Tatsachen. Dieses Verhältnis waltet nun in bezug auf die Erscheinungen des inneren Sinnes ob. Es gibt für die psychischen Tatsachen weder eine meßbare Bestimmung der einzelnen noch infolgedessen eine mathematisch formulierbare Be- stimmung ihrer Verhältnisse und Gesetze. Darum gibt es keine Metaphysik des Seelenlebens, selbst nicht einmal in dem bescheidenen Sinne, welchen die Vernunftkritik unter Metaphysik versteht. Da nun eine rationale Psychologie im alten Sinne, eine Lehre von der^Seele als, Ding an sich nach Kants Ansicht erst recht nicht möglich ist, so bleibt für die Psychologie nur der Charakter einer deskriptiven und mangelt ihr derjenige einer theoretischen Wissenschaft. Kants Ansicht von der Aufgabe der Erfahrungswissenschaften ist bei seiner aprioristischen Tendenz durchaus von dem Galilei-Newtonschen Prinzip beherrscht, daß Exaktheit und wahre Wissenschaftlichkeit nur da zu finden sei.

88 Kants theoretische Philosophie.

wo es eine korrekte Subsumtion der Erfahrung unter a priori aufgestellte Gesetze gibt. Diese Forderung ist eben im strengsten Sinne nur da zu erfüllen, wo das apriorische Element in mathe- matischen Deduktionen und das empirische in meßbaren Größen besteht, so daß die Übereinstimmung zwischen beiden unmittelbar anschaidich und einleuchtend gemacht werden kann. Dieses natur- wissenschaftliche Ideal läßt sich an der Psychologie nicht er- füllen: und deshalb erklärt Kant, sie werde niemals den Charakter der Exaktheit erlangen.

Aus diesem Grunde beziehen sich »die metaphysischen An- fangsgründe der Naturwissenschaft« nur auf die äußere Natur, auf die Erscheinungen im Raum, auf die Körperwelt. Ihre Auf- gabe ist deshalb, zu untersuchen, welche Folgerungen sich aus den Grundsätzen des reinen Verstandes und aus der mathematischen Gesetzgebung für die erfahrungsmäßige Theorie der Körperwelt ergeben. Es wird sich also darum handeln, dasjenige, was an der Körperwelt erfahrungsmäßig ist, bis zu einem gewissen Grade jener apriorischen Gesetzgebung zu unterwerfen. Nun beziehen sich alle besonderen Naturgesetze, welche die Physik aufstellt, auf die gesetzmäßigen Veränderungen der Körperwelt; jedes Gesetz ist ein Gesetz des Geschehens. Da aber die Körper nichts als Erscheinungen im Räume sind, so ist alles Geschehen in der äußeren Natur räumliche Veränderung, d. h. Bewegung. Die Bewegung erweist sich aber auch dadurch als Zentralbegriff der wissenschaftlichen Naturlehre, daß in ihrer Messung und mathe- matischen Bestimmung sowohl das räumliche als auch das zeit- liche Merkmal unentbehrlich ist. Deshalb gestaltet sich Kants Naturphilosophie als eine begriffliche und mathematische Bewegungslehre a priori. In der Ausführung bedient sich Kant des Schemas der Kategorientafel, indem er nach deren vier Gesichtspunkten seine Naturphilosophie einteilt in Phoronomie, Dynamik, Mechanik und Phänomenologie. Den Begriff der Be- wegung bestimmt Kant im Einklang mit seinem Schriftchen aus dem Jahre 1758 auch hier in dem relativen Sinne als die Ent- fernungsveränderung zweier Punkte. Er leitet daraus die ersten Grmidsätze von der Zusammensetzbarkeit der Bewegungen oder die Prinzipien der Disziphn, die man später Kinematik genannt hat, besonders aber die Folgerung ab, daß, sobald im Universum

DynainiHclie Naturcrklürunpf. 8f)

sich ir«^eiKl etwas bcwe«;t, nichts in absoluter itulie bleiben kann. Was sich bewegt, neinien wir die Materie; aber deren rauin- orfüllendes ])asein ist nicht als eine stoffliche Existenz, sondern vielmehr als ein Produkt der urspriini^lichen Kräfte zu betrachten, die einander in verschiedenem JVlaße das Cleichj^e wicht halten. Diese dynamische Naturerklärun«^ stellt dem Atomismus und der Korpuskularphilosophie gleich scharf gegenüber. Die un- endliche Teilbarkeit des Raumes, welcher das gesamte Wesen der Körper beherrscht, läßt die Annahme der Atome als unzulässig erscheinen. Die verschiedenen Aggregatzustände, zu deren Er- klärung man hauptsächhch die Annahme der Korpuskeln benutzt, begreifen sich vielmehr aus dem verschiedenen quantitativen Ver- hältnis der beiden antagonistischen Kräfte, die erst in ihrer Zu- sammenwirkung die Materie konstituieren, der Attraktion und der Repulsion/ Ist Kants Naturauffassung in dieser Hinsicht dynamisch, indem sie als den eigentlichen Grund der stofflichen Erscheinung ein Verhältnis von Kräften bezeichnet, so ist sie in ihrer Lehre von den Ursachen der Veränderung streng mechanischen Cha- rakters. In der Natur als räumlicher Erscheinungswelt kann für die Ursache einer räumlichen Bewegung immer nur eine andere räumliche Bewegung angesehen werden. Jede Abhängigkeit einer körperlichen Veränderung von nichträumlichen Prozessen würde dem gesetzmäßigen Zusammenhange der Natur, d. h. der Funktion unseres reinen Verstandes widersprechen. Deshalb sind in der exakten Naturwissenschaft alle Versuche teleologischer Erklärung eine Absurdität. Nur die mechanischen Gesetze von dem Beharren der Substanz und der Kraft und von der Gleichheit der Wirkung und der Gegenwirkung beherrschen den ganzen Ablauf des körper- lichen Geschehens. Alle Vorstellungen, welche wir darüber haben, beruhen allein darauf, daß wir imstande sind, Bewegungen als Möglich zu denken, als ^wirklich zu konstatieren, als notwendig zu begreifen. Aber so sehr wir dazu durch unsere Erfahrung und durch die mathematisch-physikalische Gesetzgebung befähigt sein mögen, so zwingt ims doch unser Begriff der Bewegung dabei stets eine Voraussetzung zu machen, welche wir weder erfahrungs- mäßig konstatieren, noch durch Anschauungen oder Begriffe zu beweisen imstande sind: es ist diejenige des leeren Raumes. Die Erfahrung zeigt nichts als erfüllten Raum. Denn wahrnehmen

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kann man nur, was auf unsere Sinne wirkt, und das tun nur die den Raum erfüllenden Kräfte. Um uns aber gegenüber dem mechanischen Begriffe der Undurchdringhchkeit die Möglichkeit der Bewegung überhaupt vorzustellen, bedürfen wir der Annahme des leeren Raumes, und die Newtonschen Gesetze beweisen sogar, daß die Größe dieses leeren Raumes den entscheidenden Koeffi- zienten für die Intensität der Kraftwirkung bildet. Hier liegt das alte Rätsel von der Wirkung in die Ferne vor, dem Leibniz und Newton so verschiedene Lösungen geben wollten. Innerhalb der Naturauffassung bleibt Kant hier wieder auf dem Standpunkte Newtons. Aber er fügt auch hinzu, daß der leere Raum nur eine notwendige Voraussetzung für alle besonderen naturwissen- schaftlichen Erklärungen, niemals aber selbst ein Objekt der Er- kenntnis sein kann. Der leere Raum ist das Ding an sich in der Naturphilosophie, d. h. er ist ihr Grenzbegriff, er enthält das Bewußtsein davon, daß für unsere Auffassung der Natur noch ein Etwas vorausgesetzt werden muß, das wir nicht kennen und das sich weder durch Anschauungen noch durch Begriffe umschreiben läßt.

So schließt Kants Naturphilosophie mit der Rückkehr zu der phänomenalistischen Grundlage, auf der sie beruht, und mit der Einsicht, daß in den reinen Formen der sinnlichen und begriff- lichen Erkenntnis, sobald sie auf einen empirischen Gegenstand wie denjenigen der Bewegung angewendet werden, sich eine Hin- deutung auf jene unbekannte Realität entwickelt, ohne welche der gesamte Inhalt, den wir für jene Formen vorfinden, uns un- begreiflich wäre. Die Stellung Kants in der Geschichte des Phäno- menalismus wird erst hier völlig klar, aber zugleich auch von einer außerordentlichen Verwickeltheit. Die transzendentale Analytik hat zu dem Resultate geführt, daß nicht nur die sinnlichen Qualitäten und die räumlichen Formen, wie das schon früher behauptet worden war, nicht nur die zeitlichen Formen, wie die transzendentale Ästhetik bewies, sondern auch die begrifflichen Beziehungen, in die jenes gesamte Material durch den Verstand gesetzt wird, lediglich Funktionen des erkennenden Geistes sind. Das Weltbild in unserem Kopfe mit seinem gesamten Inhalt und seinen gesamten Formen ist ein Produkt imserer Organisation, ein Produkt, das aus ihr mit innerer Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit hervor-

Absoluter PhänonionalismuB. 91

geht, und von dem daher ^ar kein Schluß auf eine dieser Organi- sation etwa gegenüberstehende Welt nuiglich ist. Es ist in dieser Entdeckung Kants, die bestehen bleiben wird, auch wenn die einzehien Formen ilirer Begründung sich verändern und verschieben sollten, es ist in ihr etwas von dem Ei des Kolumbus. Daß alle Erkenntnis der Welt diese Welt nicht realiter, sondern nur in der Vorstellung enthalten und deshalb nur durch die Organi- sation der Vorstellungstätigkcit selbst bedingt sein kann, ist eigentlich eine Binsenwahrheit, und nur das ist das Wundersame, daß in der Geschichte der menschlichen Wissenschaft erst die Riesenarbeit des Kantischen Denkens notwendig war, um sie zum Bewußtsein zu bringen.

In Kants Begriffsbestimmungen und Formulierungen begründet sich die Lehre vom absoluten Phänomenalismus des mensch- lichen Wissens gerade durch seine Theorie der Erfahrung. In der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe erwies sich, daß diese die synthetischen Formen sind, in denen die transzendentale Apper- zeption das Materal der sinnlichen Empfindungen zu Gegenständen ^ gestaltet. Daraus ergibt sich zunächst, daß die Kategorien nur Sinn haben, insofern ein Material vorliegt, dessen Mannigfaltigkeit der Vereinheithchung bedarf. Eine synthetische Form ohne etwas, was verknüpft werden soll, ist eine leere Abstraktion. Zweitens aber zeigte sowohl die Deduktion als auch der Schematismus der reinen Verstandesbegriffe, daß die begriffliche Synthese des Vor- stellungsmaterials nur durch Vermittlung einer sinnlichen Synthese einzutreten vermag. So ist bewiesen, daß die Kategorien nur als Verknüpfungsformen einer sich sinnlich anordnenden Vorstellungs- welt in Funktion treten. Ohne Anschauungen sind diese Begriffe leer, wie anderseits die bloßen Anschauungen ohne die begriff- liche Verknüpfung »blind«, d. h. ohne Erkemitniswert sind. Alle Anwendung der Kategorien ist also durch Anschauung bedingt. Weil nun aber wir Menschen nur eine sinnliche Anschauung be- sitzen, so haben für uns die Kategorien nur Sinn, insofern sie auf die Welt unserer s^nlichen Wahrnehmung bezogen werden. Nach der psychologisch-erkenntnis theoretischen Ansicht Kants beruht die Phänomenalität der reinen Formen des Verstandes nicht so- wohl in ihnen selbst, als vielmehr darin, daß ihre Anwendung stets als Bedingung ein anschauliches Material voraussetzt. An

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sich würden also die Kategorien für einen anderen Vorstellungs- inhalt sehr wohl verwendbar sein, sofern dieser nur anschaulich wäre. Da wir Menschen aber keine andere als unsere sinnliche Anschauung haben, so wird dadurch für uns die Anwendung der Kategorien auf die sinnliche Welt und das ist nach der tran- szendentalen Ästhetik nur eine Erscheinungswelt beschränkt. Unsere nur sinnliche Anschauungsweise also ist es, welche den Gebrauch der Kategorien außerhalb der Erfahrungswelt für uns als unberechtigt erscheinen läßt. Hätten wir eine andere An- schauungsform, so wäre es denkbar, daß auch für diese durch einen ähnlichen Schematismus, wie jetzt den zeitlichen, sich die Kategorien als anwendbar erwiesen.

Eine solche andere als sinnliche Anschauungsweise fehlt uns. Aber es ist gar kein Grund, anzunehmen, daß sie überhaupt un- möglich sei, daß es nicht andere Wesen geben könnte, denen eine solche andere Art von Anschauung beiwohnte. Anderseits aber liegen auf dem theoretischen Gebiete auch gar keine Veranlassungen vor, die Existenz einer solchen anderen Anschauungsweise bei anderen Wesen anzunehmen, und der Begriff einer nicht sinnlichen An- schauung ist daher rein problematisch, d. h. es gibt, theoretisch betrachtet, weder Gründe seine Existenz anzunehmen, noch solche sie zu leugnen.

Mit diesem Begriffe einer nicht sinnlichen Anschauung steht nun aber derjenige des'^Dinges an sich^ in einer sehr innigen Beziehung, und durch diese Beziehung ist Kants Lehre auf diesem Höhepunkte ihres theoretischen Teils ganz außerordentlich schwierig geworden. Denkt man zurück an das gemeinsame Kriterium, das seiner Begründung und Rechtfertigung der Apriorität sowohl der mathematischen Gesetze als auch der reinen Grundsätze des Ver- standes die Richtschnur gab, so beruhte es darauf, daß wir eine allgemeingültige und notwendige Erkenntnis nur von demjenigen haben können, was wir aus der inneren Organisation unseres Geistes heraus selbst erzeugen. Das ist aber nicht der besondere Emp- findungsinhalt, sondern es sind die allgemeinen Formen der Er- fahrung, Raum, Zeit und die Kategorien. Wir erkennen a priori nur, was wir nach der Organisation unseres Geistes selbst schaffen. Wir würden daher Dinge an sich auch nur dann a priori erkennen können, wenn wir sie erzeugten. Eine Erkenntnis der Welt an

Pin Pf- an- «ich. \K\

Hich ist a priori mir für iliicMi Scluipfor möglicli. Der AiiHpruch auf aprioiisclio l^lrkonnliÜH der I)in«^e au sich wäre idcnti.sch mit demjenigen, sie zu sclmffen. Was wir schaffen, ist unwere Vor- stelhiu»:;swcise von den Diui^en, d. h. ihre Erscheinung^, und von dieser haben wir in (h>r Tat eine apriorisclu» Erkenntnis. So be- dingen sich das positive und das negative Resultat derVernunftkiitik gegenseitig. Der Apriorismus ist lun* als Phänomenalismus miiglidi. Allein wenn es eine Erkenntnis dei' Dinge an sich' nicht gibt, wie kommen wir dazu, sie überhaupt vorzustellen und mit Rück- sicht auf ilircr Annahme unserer Vorstellungswelt als eine Welt der Erscheinungen zu bezeichnen? Diese Frage, die von Kant auf dem Übergange von der transzendentalen Analytik zur Dialektik in dem Abschnitte » Über den Grund der Unterscheidung aller Gegenstände in Phaenomena und Noumena« behandelt wird, bildet den Herd aller Widersprüche, welche man in der Kritik der reinen Vernunft und weiterhin in Kants gesamtem System aufzufinden vermocht hat, und zwar deshalb, weil es gerade diese Frage ist, in deren Lösung die verschiedenen Gedankenströmungen, die sich bei Kant entwickelt hatten, sich kreuzen, und weil Kants Dar- stellung keines der ihn bewegenden Motive unterdrückt, aber auch keine endgültige Aussöhnung zwischen ihnen erzielt hat. Fixiert man sich nämhch auf dem rein erkenntnistheoretischen Gesichts- punkte, so ist durch die obigen Ausführungen begründet, daß es sich zwar nicht verbietet, daß aber auch nicht die geringste Ver- anlassung vorhanden ist, Dinge an sich außerhalb der Vorstellungs- tätigkeit anzunehmen. Schon die Begriffe, welche wir bei dieser Annahme anwenden, z. B. diejenigen des'^inges und der'^Realität* sind ja Kategorien, gelten also im eigentlichen Sinne wiederum nur in anschauUcher Vermittlung für die Welt der Erfahrung und dürfen streng genommen auf das außerhalb der Vorstellung Be- findliche gar nicht angewendet werden. Das letztere bleibt danach also ein völHg unbekanntes X, für welches, wie keine unserer Anschauungen, so auch keiner unserer Begriffe gilt. Sowenig es eine Tür gibt, durch die eine Außenwelt, so wie sie da ist, in die Vorstellungen »hineinspazierte«, sowenig gibt es eine Tür, durch welche die Vorstellungstätigkeit ihren eigenen Kreis zu überschreiten und eine solche Außenwelt zu erfassen vermöchte. Damit aber wird der Begriff dej Dinges an sich hinfällig. Für die rein theoretische

94 Kants theoretische Philosophie.

Analyse gibt es nichts als Vorstellungen, deren verschiedener Inhalt nach verschiedenen Kategorien geformt ist, und innerhalb deren dasjenige, was wir ein Ding^ nennen, nur eine allgemein- gültige und notwendige Verknüpfung nach der Kategorie der In- härenz bedeutet. Ist dies die eine Tendenz des Kantischen Denkens, so spricht sie sich darin aus, daß er erklärt, jene Unterscheidung aller »Gegenstände« in Phaenomena und Noumena, welche er im Anschluß an Leibniz in der Inauguraldissertation selbst noch vor- getragen hatte, sei völlig grundlos. Alles, was wir "-Gegenstände nennen, ist Erscheinung in dem Sinne, daß es ein Produkt unserer Vorstellungstätigkeit bildet, und jeder dieser Gegenstände ist Objekt nur dadurch, daß er durch die Anschauung und den Verstand zugleich vorgestellt wird. Will man die Art und Weise, wie wir den Zusammenhang der Erfahrung nach Begriffen in der wissen- schaftlichen Theorie denken, als mtelligible Welt, dagegen die im- mittelbare Erfahrung des gewöhnlichen Bewußtseins als sensible Welt bezeichnen, so ist dagegen nichts einzuwenden: aber man muß sich klar bleiben, daß das Objekt von beiden immer nur die Erfahrung ist und beide nur eine notwendige und gesetz- mäßige Vorstellungsweise darstellen. 'Noumena dagegen in dem Sinne von "Dingen an sich, die vom reinen Verstand ohne An- schauung erkannt werden, gibt es für uns nicht. Die Vorstellung eine.? Gegenstandes an sich ist vielmehr geradezu ein innerer Wider- spruch. Gegenstände gibt es nur in der Vorstellungstätigkeit und nicht außerhalb derselben. Jenes unbekannte X wird nur so an- genommen, daß man die allgemeine Funktion der Vergegenständ- lichung, ohne die es kein Bewußtsein gibt, selbst für ein Ding, für etwas Bestehendes außerhalb der Vorstellung ansieht. Das Ding an sich ist das hypostasierte Korrelatum der synthetischen Funktion, welche das gemeinsame Wesen der Kategorien ausmacht. Die alte rationalistische Metaphysik besteht darin, daß die Gesetze imseres Verstandes, deren Gültigkeit für unsere Erfahrung im- zweifelhaft, aber auch auf diese eingeschränkt ist, als Gesetze einer außer dem Verstände bestehenden Welt angesehen werden; aber die bloße Annahme der letzteren ist, rein theoretisch be- trachtet, nur dadurch möghch, daß die allgemeine synthetische Funktion der Gegenständlichkeit sich den Vorstellungen gegen- über zu einer Welt au sich hypostasiert.

Dinpf-ftn-Hinh. 95

Diesen t'll)(Mloi;un<;(Mi liiiifl nun jibcr eine zweite 'l'endenz des Kantisclion Denkens zuwider. Die thcoreti.scli unbcjfiiindbaro und unverwendbare, aber aueli nicht widerlegbare Annahme einer über- sinnlichen und übererfahrungsnüißigen Welt war für Kant selbst durch das sittliche Bewußtsein bej^ründet. Diesen praktischen Nerv seiner Überzeugun<j; konnte er jedoch in der Kritik der reinen Vernunft nicht bloßle(j;en, sondern nur andeuten. Aber sie machte sich natürlich trotzdem in seiner Auffassung vom Ding an sich geltend. Von ihr erfüllt, wich er von der bloß theoretischen / Konsequenz, daß es für unser Wissen nichts gibt als die Vor- stellungen mit ihren immanenten begrifflichen Beziehungen, wieder ab und identifizierte sich mit jenem naiven Realismus, dem nichts gewisser ist, als die Annahme einer Existenz von Dingen an sich außerhalb der Vorstellungen. Ja, er scheute selbst gelegentlich nicht vor der Benutzung des plausibelsten Arguments der ge- wöhnlichen Meinung zurück, eine solche Welt außerhalb der Vor- stellungen müsse als Ursache der Empfindungen, als das was unsere Sinnlichkeit »affiziert«, oder als das, was »der Erscheinung ent- spricht«, angenommen werden, obwohl er sich doch_ nicht hätte X

verbergen können, daß er die Anwendung der Kategorien des Seins, der Substantialität und der Kausalität über die Erfahrung hinaus soeben verboten hatte. ^

Danach mußte der Begriff des l)inges an sich" noch anders formuliert werden, und auch dafür ließ sich das psychologische Schema seiner Lehre benutzen. Die Beschränkmig der Kategorien auf die Erfahrung hatte ihren Grund darin, daß die Anschauung, die ihre Anwendmig stets vermitteln muß, beim Menschen nur die sinnlich -rezeptive ist. Wir schaffen nur Erscheinungen und können nur solche erkennen. Dinge an sich würden nur einem (göttlichen) Geiste erkennbar sein, der durch seine Vorstellungen nicht nur Erscheinungen, sondern eben diese Dinge an sich er- zeugte. Für einen solchen Geist müßte also der Gebrauch der Kategorien diu:ch eine Anschauung vermittelt sein, welche sich zu den Dingen an sich ebenso verhielte, wie unsere Anschauung zu den Erscheinungen, nämlich erzeugend. Eine solche Anschauung wäre nicht mehr von sinnlicher Rezeptivität, sondern von jener Spontaneität, die nach Kants Lehre nur dem Denken zukommt. Es wäre ein »anschauender Verstand« oder eine intellektuelle

Kants theoretische Philosophie.

Anschauung. Sollen daher Dinge an sich überhaupt möglich sein, so müssen sie gedacht werden als die Objekte zugleich der Erzeugung und der Erkenntnis eines anschauenden Verstandes, d. h. einer In- telligenz, bei der jene beiden Stämme der Erkenntnis, welche im menschlichen Geiste nur in ihrer Besonderung auftreten, von vorn- herein und in ihrer ganzen Ausdehnung identisch sind. Die An- nahme eines solchen Geistes enthält keinen Widerspruch, und danach erscheint für die theoretische Vernunft die Existenz von Dingen an sich zunächst als möglich.

Aus dieser Möglichkeit folgt nun zwar noch nicht die Wirk- lichkeit, und es bleibt in Kants Lehre eben der praktischen Ver- nunft vorbehalten, diese Möglichkeit zu realisieren: die theoretische muß sich damit begnügen, nachzuweisen, daß die Annahme von Dingen an sich keinen Widerspruch involviert. Aber sie gibt noch eine weitere Hindeutung. Es ist zwar richtig, daß sich die rein theoretische Erkenntnis diesen problematischen Begriffen der Dinge an sich und der intellektuellen Anschauung gegenüber völHg in- different zu verhalten hat: allein sobald jemand behaupten wollte, daß, weil sich kein Beweis für die Keahtät dieser Dinge auf theoretischem Wege erbringen läßt, sie gänzlich geleugnet werden müßten, so würde das so viel heißen, als ob unsere sinnliche Anschauungsweise die einzige und die Welt unserer erfahrungs- mäßigen Vorstellungen das einzige Reale wäre. Sofern wir daher nicht die ungeheuerliche Behauptung machen wollen, daß es nicht nur in Rücksicht auf unsere Erkenntnis, sondern überhaupt und an sich gar nichts weiter gibt als unsere Vorstellungen, so bleibt uns nichts anderes übrig, als anzunehmen, daß es eine solche nicht sinnliche, d. h. intellektuelle Anschauung und damit als ihre Objekte Noumena, Dinge an sich, gibt. Jene problematischen Begriffe der intellektuellen Anschauung und des Dinges an sich erweisen sich daher als echt kritische Grenzbegriffe, als das Bewußtsein davon, daß unsere Sinnenwelt, auf welche wir mit unserer Er- kenntnis beschränkt sind, nicht das einzig Reale ist. Freüich auch dieses Bewußtsein ist theoretisch nur in seiner Möglichkeit zu deduzieren, nicht aber zu beweisen, und der entscheidende Grund für diese Überzeugung liegt in dem sittlichen Bewußtsein, daß unsere Bestimmung über diese erfahrungsmäßige Sinnenwelt in ein Reich des »Übersinnlichen« hinaufreicht.

Trnnszendentalc Dialektik. <I7

So VülleiKiot sich Kants thooretischü Lehre, indem «ie dio praktische als ihre unentbehrliche Ergänzung verlangt. Der Zusammenhang zvvisclien diesen beiden Teilen des Kantischen Systems ist der innigste, den es überhaupt geben kann. Die Kritik der praktischen Vernunft ist nicht ein Anliängsel, ist nicht, wie sie verlästert worden ist, ein Abfall des alternden Kant von dem Geiste der Kritik der reinen Vernunft, sondern sie enthält die Entwicklung desjenigen Gedankens, ohne welchen der Höhepunkt der Kantischen Erkenntnistheorie, die Lehre vom Ding an sich, die verworrenste und törichteste Phantasie wäre, die je in der Philosophie sich breit gemacht hätte.

Von diesem Höhepunkt aus gibt nun Kant seine berühmte Kritik der rationalistischen Metaphysik, diese Kritik, welche sich als die »zermalmende« Analyse der Leibniz- Wolf f sehen und der herrschenden Popularphilosophie darstellt. Er beginnt sie in dem Abschnitt über die »Amphibolie der Reflexionsbegriffe«, indem er zu zeigen sucht, daß alle ontologischen Grundbestimmungen des Leibniz- Wolf f sehen Systems eine rein verstandesmäßige Ausdeutung der Kategorien enthalten, die in W^ahrheit nur für anschauliche Gegenstände gelten, daß also Sätze, welche nur auf das Ver- hältnis von "Begriff en Anwendung fluiden dürften, auf dasjenige von Gegenständen bezogen werden. Daraus habe sich dann die monadologische Metaphysik mit allen ihren einzelnen Lehrsätzen notwendig ergeben, und dadurch habe Leibniz sich genötigt gesehen, der sensiblen Welt die intelligible Welt von Substanzen gegenüberzustellen, die doch im Grunde keine eigentlich intelü- gible, sondern vielmehr heimlich mit sinnlichen Bestimmungen durchsetzt geblieben sei.

Ihre volle Energie aber entwickelt Kants Kritik erst in der transzendentalen Dialektik, welche hintereinander die ein- zelnen metaphysischen Wissenschaften, die rationale Psychologie, Kosmologie und Theologie, als prinzipiell verfehlte nachweist. Auch diese Wissenschaften und ihre kritische Betrachtung kon- struiert Kant in das psychologische Schema hinein. Er geht dabei von der Frage aus, wie Metaphysik (in der alten Termino- logie), d. h. rationale Erkenntnis des Übersinnlichen als Versuch oder als Bestreben möglich sei, wenn doch nachgewiesen worden ist, daß keine Berechtigung für sie existiert. Synthetische

Windel band, Gesch. d. n. Philos. 11. 7

98 Kants theoretische Philosophie.

Urteile a priori über Dinge an sich sind nur für die intellektuelle Anschauung' möglich, die dem Menschen versagt ist. Wie kann es nun kommen, daß wir jemals glauben, die Überschreitung der Grenze der Erfahrung zu vollziehen, die uns doch unmöglich ist? Die Beantwortung dieser Fragen gibt, wie man sieht, nicht nur die kritische Verwerfung, sondern zugleich auch die psychologische Erklärung der bisherigen Metaphysik. Kant hat diese Beant- wortung ebenso nach der in der formalen Logik üblichen Lehre vom Schluß schematisiert, wie die Kategorienlehre nach derjenigen vom Urteil, offenbar hier noch viel mehr künstlich und äußerlich. Was die Anwendung der Schlußlehre dabei sichthch nahegelegt hat, ist die Tatsache, daß das Übersinnliche, welches den Gegen- stand der metaphysischen Erkenntnis bilden soll, niemals durch Erfahrung erkannt, sondern immer nur durch begriffliche Operationen erschlossen werden kann. Schlüsse auf die Existenz nicht un- mittelbar erfahrener Gegenstände sind nun nach Kants transzen- dentaler Logik vollkommen berechtigt, solange sie sich eben in den Grenzen der sinnlichen Vorstellung halten. Kants Definitionen von »wirklich« imd »notwendig« in den Postulaten des empirischen Denkens geben ja ausdrücklich das Recht, etwas als existierend zu erschließen, was selbst nicht unmittelbar wahrgenommen ist. Aber dies zu Erschließende muß so beschaffen sein, daß es in den immanenten Zusammenhang der Erscheinungen sich einreiht. Kant hat niemals verlangt, daß für die wissenschaftliche Er- kenntnis nur das als existierend gelten solle, was direkt wahr- genommen worden ist, sondern sein rationaler Empirismus verlangt durchaus die Anerkennung des aus den Erfahrungen begrifflich Erschlossenen: nur darf dieses Erschließen aus der Sphäre des Erfahrbaren, d. h. der sinnlichen Welt, lucht hinausgehen. Denn da die Kategorien für uns nur Verknüpfungsformen des an- schaulichen Inhaltes sind, so gibt es keine Erkenntnistätigkeit, die einen "sinnlichen^ mit einem übersinnlichen Inhalt in allgemein- gültiger und notwendiger Weise zu verknüpfen imstande wäre. Allein die Vorstellung der übersinnlichen Welt existiert, wenn nicht als Objekt einer Erkenntnis, so doch als eine tatsächliche Bildung im menschlichen Denken. Auf diese Weise nun läßt sich begreifen, wie es möglich ist, daß das ungeschulte und unkritische Denken die kategorialen Beziehungen auf das Verhältnis zwischen einem

Transzendontaler Schein. 99

einnlichen und oiiuMii üborsiiuiliilitMi Inhalt anzuwenden sich be- rechtigt glaubt. Dii'se Anwendung ist auch ungefährlich, solange man sich bewußt bleibt, dabei die Gegenstände der Erfahrung nur so zu betrachten, als ob sie in irgend einer solchen Bezicliung zu etwas Übersinnlichen und Unerfahrburen stünden. Sobald man aber eine solche Betrachtung für eine Erkenntnis ausgibt, so überschreitet man die durch die transzendentale Analytik gesteckten Grenzen. Eine Erkeimtnis spräche in einem solchen Falle das Verhältnis zweier Gegenstände aus. Nun sind aber nur die an- schaulichen Begriffe, niemals aber die übersinnlichen auf Gegen- stände zu beziehen. Die Umwandlung also einer solchen Be- trachtung in den Versuch einer metaphysischen Erkenntnis setzt jedesmal die Täuschung voraus, als ob der Inhalt einer über- sinnlichen Vorstellung, deren Erzeugung im Denken möglich ist, einen Gegenstand der Erkenntnis bilden könnte. Diese Täuschung nennt Kant den transzendentalen Schein. In ihm erblickt er das ttocotov »^s'jooc aller rationalistischen Metaphysik, und in- dem er nachzuweisen sucht, daß dieser Schein in der mensch- lichen Erkenntnistätigkeit selbst begründet ist, spricht er der darauf beruhenden rationalistischen Metaphysik mit derselben Untersuchung, welche ihre erkenntnistheoretische Unberechtigtheit ein für allemal in der entscheidendsten Weise festgestellt hat, eine gewisse psychologische Berechtigung zu.

Die Veranlassung, das Übersinnliche, das nicht erfahren, nicht erkannt werden kann, wenigstens zu denken, ist für Kant freilich in erster Linie auf dem Gebiete der Ethik zu suchen. Allein davon ist hier noch nicht die Eede, und es fragt sich daher, ob nicht auch theoretische Veranlassungen vorliegen, den Kreis der Erfahrung, in den das Erkennen gebannt ist, mit dem Denken zu überschreiten. Sollten sich solche aus gewissen Aufgaben der Erfahrungswissenschaft ergeben, so würde sich dadurch die Ansicht über den Begriff des Dinges an sich noch weiter ergänzen. Zu- nächst in der Weise, daß die allgemeine Möglichkeit, welche ihm als dem Grenzbegriffe der Erkenntis beiwohnt, sich für ver- schiedene Richtungen der Erkenntnis in besonderer Weise gestaltete, und zweitens in der Weise, daß innerhalb der theoretischen Fimktion selbst wenigstens eine Tendenz sich geltend machte, dem Erkenn- baren ein Unerkennbares problematisch gegenüberzustellen.

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\Q() Kants theoretische Philosophie.

Im Grunde genommen handelt es sicli also darum, zu unter- suchen, ob der Erkenntnistrieb durch die Erfahrung, in welcher allein er befriedigt werden kann, wirklich befriedigt wird. Stellt sich heraus, daß das nicht der Fall ist und nicht der Fall sein kann, so muß die Erkenntnistätigkeit selbst auf allen den Punkten, wo dieses einleuchtet, sich ihre Grenze setzen, aber es wird dann auch begreiflich, daß, wo sie dieser kritischen Vorsicht entbehrt, sie den Versuch machen wird, ihre Aufgabe, deren Notwendigkeit sie erweisen kann, jenseits der Erfahrung zu lösen, und dadurch dem »transzendentalen Scheine« verfallen muß. Die transzenden- tale Dialektik hat deshalb die höchst interessante Aufgabe, einen inneren Widerspruch in dem Wesen der menschlichen Erkenntnistätigkeit aufzudecken. Sie hat zu zeigen, daß aus dieser Erkenntnistätigkeit selbst mit Notwendigkeit Aufgaben ent- stehen, die dadurch nicht zu lösen sind. Sie hat die Unhalt- barkeit jedes Versuchs zu zeigen, diese Aufgaben mit der Er- kenntnistätigkeit zu bewältigen, und sich mit der Resignation zu bescheiden, daß die Einschränkung auf die Erfahrung, welche das Wesen des Erkennens konstituiert, es zugleich auf immer von der Erreichung der Ziele fernhält, denen es immer und immer wieder nachstreben muß.

Die transzendentale Dialektik hat deshalb zunächst zu be- stimmen, worin jener, Erkennt nistrieb besteht, welcher das für die wirkliche Erkenntnis unmögliche Überschreiten der Erfahrung ver- langt; sie hat das Bedürfnis zu definieren, aus dem alle Versuche hervorgehen, die Sinnen weit an eine übersinnliche Welt anzuknüpfen. Und sie geht deshalb von einer Beschreibung desjenigen aus, was man später ^das metaphysische Bedürfnis^ genannt hat. Sie trifft auch zweifellos den Kern der Psychologie der Metaphysik, wenn sie sagt, daß dieses Bestreben immer darauf hinausgeht, den ganzen Zusammenhang des Bedingten, welchen uns die Erfahrung darbietet, auf ein »Unbedingtes« zu beziehen. Alle besonderen Aufgaben der Erkenntnis kommen doch schließlich darin überein, die einzelnen Gegenstände der Erfahrung miteinander in denjenigen Beziehungen zu denken, durch welche sie sich gegenseitig bedingen. Dieser Prozeß des Bedingtseins geht aber, nach welcher Kategorie man ihn auch zu denken beginnt, stets in das Endlose. Soll daher die Erkenntnis diesen ganzen Prozeßvjallständig^^^greifen, so ist

HAEL'Ö

Dm UDbedin^te und die Ideen. 101

sie Hclbst zu einer endlosen Funktion verurteilt. Sie würde jcdocli dieser Endlosigkeit mit einem Schlage überhoben sein, wenn es ihr mü<j;lich wäre, ein Unbedinj^tea zu begreifen, das den Abschluß jener Kette bildete. Dies^UnbecJingtc^ ist in der Erfahrung nicht gegeben und kann nicht in ihr gegeben sein, da jeder ihrer Gegen- stände unter den Bedingungen der Kategorien steht. Um die Aufgabe der Erkenntnis zu lösen, würde also ein Unbedingtes erkannt werden müssen, welches in der Erfahrung, auf die das Erkennen beschränkt ist, niemals enthalten sein kann. Das Un- bedingte ist also die Vorstellung von der Lösung der Aufgabe, die durch das. Erkennen wirklich nie zu lösen ist. Das Unbedingte ist das niemals zu realisierende Ideal der Erkenntnis, und trotz dieser Unerfüllbarkeit ist doch die ganze Arbeit der Erkenntnis durch dieses Ideal beherrscht und bestimmt. Denn die Aufsuchung der einzelnen Zusammenhänge, die Einsicht in die Verhältnisse der Bedingtheit hat nur dadurch Wert, daß sie in immer höheren und tieferen Zusammenhängen durchschaut werden, und daß die Erkenntnis damit auf das Ziel des letzten und absoluten Zusammen- hanges hinstrebt, das sie niemals erreichen kann. Das ist das Erschütternde, es ist das Tragische in dieser Kantischen Unter- suchung, daß der Wert der menschlichen Erkenntnistätigkeit nur in der Arbeit für ein Ziel besteht, das seinem Begriffe nach niemals erreicht werden kann, daß ein imlösbarer Widerspruch hervortritt zwischen den Aufgaben der Erkenntnis und den Mitteln, welche sie zu ihrer Lösung besitzt. In diesem Geiste verlangt Kant von der Erkenntnistätigkeit dieselbe klare und bewußte Eesignation wie Lessing. Bei beiden Männern ist dieses Verlangen der Aus- fluß ihres sittlichen Bewußtseins. Aber bei Kant ist es zugleich eine die verborgenste Tiefe des menschlichen Denklebens ent- hüllende Theorie. Wer nun diese Klarheit und Resignation nicht besitzt und die Notwendigkeit jener Aufgabe begriffen hat, daß sich die Erkenntnis des Bedingten nur in derjenigen des Un- bedingten vollenden kann, der wird geneigt sein, den Begriff der Lösung der Aufgabe für die Lösung selbst zu halten, der wird versucht sein, das"iJnbedingte7 welches nichts als die ideale Vor- stellung von einem Abschluß der Kette des Bedingten enthält, als einen Gegenstand möglicher Erkenntnis aufzufassen und zu dem Bedingten in die Beziehungen der Verstandeserkenntnis zu

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102 Kants theoretische Philosophie.

setzen. Da nun das Unbedingte seinem Begriffe nach außerhalb der sinnlichen Erfahrung steht, so entspringen auf diese Weise Vorstellungen von^ unbedingten übersinnlichen' Gegenständen, die in ihrem Wesen und in ihren Beziehungen zu der sinnlichen Welt erkannt werden sollen.

Ist nun die Aufgabe des Verstandes die begriffliche S3nithese der Anschauung, so versteht Kant unter Vernunft im engeren Sinne des Wortes das Bewußtsein der Unterwerfung aller Ver- standestätigkeiten unter das Prinzip einer gemeinsamen Aufgabe, und jene Vorstellungen des Unbedingten, in denen sich diese Aufgaben erfüllen müßten, nennt er Ideen. Idee' ist also nach Kant die notwendige Vorstellung von einer Aufgabe der mensch- lichen Erkenntnis*). Insofern sind die Ideen a priori. Auch sie gehören zum Wesen und zur Organisation der menschlichen Gattungsvernunft. Aber diese Aufgaben sind ebenso unerfüllbar, wie sie unentf liehbar sind. Die Ideen bezeichnen eine Aufgabe der Erkenntnis, aber sie sind nicht selbst Erkenntnis. Es ent- spricht ihnen kein Gegenstand; sie sind nicht'^gegeben^ son- dern nur 'aufgegeben.' Der transzendentale Schein besteht darin, daß diese Ideen f'dr" Erkenntnisse, daß diese notwendigen Vorstellungen für Vorstellungen von Gegenständen gehalten wer- den. Jede Idee ist daher als solche berechtigt; sie ist das Licht, welches den erkennenden Verstand durch das Reich der Sinnlich-

;,. keit leitet; aber sie wird zum Irrlicht, sobald sie die Grenzen der Erfahrung überschreiten und in eine übersinnliche Welt hinüber- führen will.

Dieser Ideen sind nun nach Kants System drei. Die Vor- \ Stellung eines unbedingten Substrats aller Erscheinungen des

'/ inneren Sinnes ist die Idee der Seele. Die Vorstellung eines unbedingten Zusammenhangs aller äuQeY^Ji Erscheinungen ist

"l] die Idee der Welt. Die Vorstellung endlich des unbedingten

*) Damit gibt Kant dem Terminus Idee eine neue Bedeutung, die so- wohl von dem ursprünglichen Platonischen Sinne, als auch von dem Ge- brauche des Wortes in der scholastischen und neueren Philosophie genau zu unterscheiden ist. Da aber auch für ihn die Ideen ein L'berschreiten der sinnlichen Erfahrung involvierten, so ist es begreiflich, daß die Platonische und die Kantische Bedeutung des Wortes in der Folge vielfach ineinander griffen.

l.lci; (irr Seulo. 103

Wesens, tlas ülk^n ErschcMiuin^^cii überhaupt zu;^ruiid(' li<'gt, ist ,

tlio Idee der Gottheit. Sobald man diese Ideen als Objekte der -^ Erkenntnis betrachtet, entsprinjjjen daraus die drei metaphysischen SpezialWissenschaften, welche sich an die Ontolojjjie anzuschließen pflefijen, die rationale Psychologie, Kosmologie und Theologie. Aber zunächst zeigt sich schon die Wertlosigkeit dieser drei ver- meintlichen Wissenschaften darin, daß es in alle Wege unmög- lich ist, aus der Idee der Seele irgend eine Tatsache des psychischen Lebens, aus der Idee der Weif irgend ein Geschehen in der Kör- perwelt, aus der Idee der Gottheit " irgend einen besonderen Ver- lauf des Weltprozesses wissenschaftlich abzuleiten. Es gibt gar keine Beziehungen zwischen der rationalen Metaphysik und der empirischen Erkenntnis, und wenn jene Ideen gebildet worden sind, um die Aufgaben der Erfahrungserkenntnis zu lösen, so er- füllen sie diesen Zweck offenbar nicht, da die Erscheinungen nicht unter die Ideen der Vernunft' wie unter die' Kategorien des Verstandes^ in konkreter Anschaulichkeit zu subsumieren sind. Allein der tiefere Grund dieser Wertlosigkeit der rationalen Meta- physik für das empirische Wissen liegt eben darin, daß sie eine nur scheinbare und prinzipiell unmögliche Erkenntnis zu besitzen vorgibt, und in ihrer Kritik handelt es sich also hauptsächlich darum, aufzuzeigen, daß der Grundfehler jener Disziplinen darin besteht, die notwendige Idee als einen Gegenstand möglicher Er- kenntnis zu betrachten.

Am klarsten tritt das bei der ersten hervor, indem sich die Kritik der rationalen Psychologie in Kants Lehre von den Para- logismen der reinen Vernunft entwickelt. Er sucht hier nämlich zu zeigen, daß alle Schlüsse, mit denen man in der Schul- und Popularphilosophie die " Substantialität , die Simpli- zität, die Personalität und die erkenntnistbeoretische Priorität der Seele zu beweisen pflegte, Fehlschlüsse seien. Sie beruhen alle auf einer quaternio terminorum, indem das Ich, welches in dem einen Satze als die allgemeine Form des Denkens verwendet wird, in dem andern als ein substantiell bestehendes Wesen an- gesehen werden soll. Kant führt zunächst im Hinblick auf die transzendentale Analytik aus, daß die Anwendung der Kategorie der ^ Substantialitäf auf den äußeren Sinn beschränkt bleiben müsse, daß infolgedessen die Identität des empirischen Selbst-

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104 Kants theoretische Philosophie.

bewußtseins nur eine identische Funktion, nicht ein gleichbleiben- des Ding bedeute, und daß der cartesianische Versuch, das Selbst- bewußtsein zum Ausgangspunkte des Wissens zu machen und von ihm aus erst auf einem Umwege die Erkenntnis der äußeren Substanzen, der Körper, zu gewinnen, geradezu umgekehrt wer- den müsse*).

Erweisbar also ist die Seele als Ding an sich^ nicht, aber sie ist ebensowenig widerlegbar. Dieselbe Kritik, welche sich gegen den Spiritualismus richtet, trifft auch den Materialismus. Der transzendentale Idealismus aber will auch nicht dem metaphy- sischen Dualismus das Wort reden, der die Fra2;e nach dem Konnex zwischen Leib und Seele durch keine seiner drei For- men, weder durch den influxus physicus noch durch den Occa- sionalismus noch durch die prästabilierte Harmonie, zu lösen vermag. Aber Kant stellt sich hier zunächst auf den Standpunkt des phänomenalistischen Dualismus. Statt des landläufigen Gegensatzes von Körperwelt und Geisterwelt tritt für ihn der prinzipielle Unterschied zwischen äußerem und innerem Sinn in den VordergTund, und es gibt für ihn keine Möghchkeit, die Frage zu entscheiden, ob das^Ding an sich^ welches im äußeren Sinne, und dasjenige, welches im inneren Sinne ^erscheint^' viel- leicht identisch seien oder nicht. Auf dem transzendentalen Standpunkte verwandelt sich die Frage nach dem Verhältnis der körperlichen zur geistigen Welt diese wahre crux metaphy- sica vielmehr in die psychologische Frage nach der Möglich- keit der Verknüpfung des äußeren und des inneren Sinnes in demselben Bewußtsein. Da nun zum inneren Sinne dem Inhalte nach die Funktionen des Denkens gehören, so läßt sich die Frage auch dahin formulieren: wie ist die Vereinigung von Sinnlichkeit und Verstand in demselben Bewußtsein möglich? Diese Frage A. .. aber ist unlösbar; sie bildet die Grenze der Psychologie. Sie

*) Es ist zu bemerken und unrichtigen Deutungen gegenüber zu betonen, daß die erste Auflage der Vernunftkritik an dieser Stelle genau denselben Gedanken ausspricht, den die zweite Auflage in der obenerwähnten »Wider- legung des Idealismus« (vgl. oben S. 83) mit entschiedener Polemik gegen die mißverständliche Auslegung des transzendentalen Idealismus ausführte. Kant widerlegt auch in der zweiten Auflage nur den »empirischen Idealismus«, und zwar tut er dies lediglich vom Standpunkte des transzendentalen Idealis- mus aus.

Idee der Welt: Antinomien. lOf)

betrifft niclil melir und nicht wcni^^cr als die Or^aniHation unKcrer Intelligenz, und diese ist für unsero Erkenntnis eine letzte Tat- eacho, über welche die Forschung nie hinausgehen kann. Allein es ist die Aufgabe aller Psychologie, die Vereinigung der Funk- tionen der Sinnlichkeit und des Verstandes auf allen Gebieten des psychisclien Lebens zu erforschen. Das letzte Ziel aller psychologischen Erkenntnis würde die Einsicht in die absolute Einheit unserer gesamten psychischen Funktionen sein. Nennen wir die Vorstellimg dieser Einheit'^ Seele, so bildet diese Idee das .xe^ulatiye Prinzip' für alle psychologische Erkenntnis, aber sie selbst ist kein, Gegenstand mehr, der sich begreifen ließe.

Kants Kritik der rationalen Kosmologie schlägt einen ganz anderen Weg ein. Die Unerkennbarkeit der Idee der Welt wird / von ihm durch die Antinomien der reinen Vernunft be- wiesen. Alles was wir sollen erkennen können, muß sich den formal logischen Gesetzen unterworfen zeigen. Zu diesen gehört in erster Linie der Satz des Widerspruchs, daß von zwei kontra- diktorisch entgegengesetzten Behauptungen nicht beide richtig

sein können. Wenn man über einen vermeintlichen Gegenstand

mit logischer Unanfechtbarkeit das positive und das negative

Urteil gleichen Inhalts beweisen kann, so folgt daraus unmittel- bar, daß dies kein wirklicher^ Gegenstand sein kann. Betrachtet man nun die Totalität aller Gegenstände des äußeren Sinnes, d. h. die Welt, selbst als einen Gegenstand der Erkenntnis, so sucht Kant in den Antinomien nachzuweisen, daß sich davon in Rücksicht auf alle vier Gesichtspunkte der Kategorien die kontra- diktorischen Sätze gleichmäßig beweisen lassen. Hinsichtlich der Quantität läßt sich zeigen , daß die Welt in Raum und Zeit ^ begrenzt, und daß sie in beiden unendlich ist. Hinsichtlich der Qualität läßt sich beweisen, daß die Welt aus Atomen besteht, und daß sie nicht daraus bestehen kann. Hinsichtlich der Relation ergibt sich, daß es in dem Prozesse des Geschehens unbedingte, selbst nicht mehr kausal vermittelte Ursachen gibt, und daß solche nicht vorhanden sind. Hinsichtlich der Modalität endhch läßt sich die Annahme eines unbedingt notwendigen Wesens ebenso begründen wie widerlegen. Den Beweis für diese vier Paare von Thesis und Antithesis führt Kant (mit Ausnahme der vierten These) apagogisch, so daß schon darin die dialektische

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IQß Kants theoretische Philosophie.

Antinomie zutage tritt, indem stets die Thesis durcli die AVider- legung der Antithesis und umgekehrt bewiesen wird. Selbst wenn sich nun herausstellen sollte, daß diese acht Beweise nicht so absolut stringent und unanfechtbar sind, wie sie von Kant an- gesehen wurden, so würde das doch nichts an der wertvollen Entdeckung ändern, die Kant an diesem Punkte gemacht hat. Es wird nämlich dadurch die Tatsache aufgedeckt, daß unserer gesamten Weltauffassung eine solche, Antinomie zugrunde liegt. Es ist ein Bedürfnis unserer Verstandeserkenntnis, die Totalität der Dinge als ein Fertiges und Geschlossenes zu betrachten. Aber jeder Versuch, dies in einer bestimmten Vorstellung zu tun, scheitert daran, daß die sinnliche Anschauungsweise über jede Grenze hinaus, welche wir im Räume, in der Zeit, in der Kausal- reihe des Geschehens ansetzen wollen, ihre konstruktive Tendenz fortführen muß. Die Gegensätze, die Kant hier behandelt, sind deshalb so alt wie das philosophische Denken überhaupt. Räum- liche Begrenztheit und Unendlichkeit, Zeitlichkeit und Ewigkeit der Welt, Atomismus und Monismus, Freiheitslehre und Mechanis- mus, Schöpfungstheorie und Naturalismus, diese Thesen und Antithesen stehen sich notwendig immer und immer wieder o^egenüber.

Indem nun Kant annimmt, daß diese Antinomien notwendige und allgemeingültige Behauptungen seien, so folgt ihm daraus, daß der Gegenstand dieser Urteile, den ja in allen Fällen der Begriff der^Welu repräsentiert, nicht ein Gegenstand möglicher Erkenntnis sein kann. Wenn Thesis und Antithesis gleich wahr sind, so sind sie auch gleich falsch. Der Satz des ausgeschlossenen Dritten hat hier deshalb keine Gültigkeit, weil es überhaupt von vornherein sinnlos ist, den Begriff der'^Welt zum Subjekt eines Erkenntnisurteils zu machen. Die Rätselhaftigkeit eines den Ge- setzen der formalen Logik so vollkommen widersprechenden und doch mit Notwendigkeit aus der Vernunft entspringenden Ver- hältnisses erklärt Kant daraus, daß Thesis imd Antithesis beide auf der gleichen falschen Voraussetzung beruhen, als sei die Welt, diese unerfahrbare Idee eines totalen Zusammenhangs der Er- scheinungen, der Gegenstand einer möglichen Erkenntnis.

Diese Betrachtung wendet Kant auf die beiden ersten, die mathematischen Antinomien an, und bis zu diesem Pimkte be-

Kusmoloprisclio Antitiümicn. ] ()7

wo^t sich die Antiiioinienlehre durchauH in der gesamten Tendenz der transzendentalen Dialektik. Dadurch aber, daß Kant nun noch mit Hilfe der transzendentalen Ästhetik eine »kritiöche AuflÖHunj^« des notwendigen Widerstreites, in welchen die Vernunft mit sich selbst gerät, zu geben versucht, beginnen sich in diesem Ab- schnitte gleichfalls die verschiedenen llichtungen seines Denkens durcheinanderzuschhngen, und so ist diese zu einem zweiten Nest von schwer entwirrbaren Widersprüchen geworden. Ganz im Gegensatz nämlicli zu dem Resultate der transzendentalen Analytik behandelt Kant die beiden letzten, die dynamischen Antinomien, unter dem Gesichtspunkte, daß möglicherweise die Thesen für die^inge an sich, ^ die Antithesen dagegen für die' Erscheinungen gelten sollten. Für die »mathematischen« Antinomien, diejenigen der Quantität und der Qualität, in denen es sich um die räum- liche und zeitliche Ausdehnung und um die materielle Teilbarkeit der äußeren Welt handelt, bot die Lösung des Widerspruches durch die transzendentale Ästhetik keine Schwierigkeiten. Wenn die räumliche W^elt nichts als Erscheinungen enthält, so sind jene Widersprüche nicht real, sondern nur in unserer Auffassungs- weise der Dinge begründet. Es ist die erwähnte Antinomie zwischen unserem Verstandesbegriffe der Totalität und der ün- aufhörlichkeit imseres anschauenden Prozesses, welche sich darin ausspricht. In gleicher Weise hätte sich die Lehre der tran- szendalen Analytik auf die beiden letzten, die »dynamischen« Antinomien, anwenden lassen, und es wäre dann wiederum die Entscheidung gefallen, daß, da auch die begrifflichen Beziehungen nur phänomenalen Charakters sind, jene Antinomien ihre Wurzel in dem Widerstreite haben, der zwischen den Begriffen und der als Bedingung für ihre Anwendung unerläßlichen Zeitanschauung besteht. Allein die Fragen, welche diese beiden Antinomien be- handeln, diejenigen der Kausalität durch Freiheit und der Existenz der Gottheit, betrafen gerade diejenigen Punkte, an welchen Kant überzeugt war, mit dem sittlichen Bewußtsein den Bann der empirischen Erkenntnis durchbrechen und eine Gewiß- heit der übersinnlichen Welt gewinnen zu können. Hier bejahte er also die Thesen aus ethischen Gründen. Wenn sich nun zeigte, daß auch die Antithesen beweisbar seien, so ging er der Möglich- keit nach, ob nicht vielleicht diese für die^Erscheinungen gelten.

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;[Qg Kants theoretische Philosophie.

Dann war auch der Widersprucli aufgehoben, aber anders als in dem ersten Falle. In den mathema tischen Antinomien ver- schwindet die Kontradiktion dadurch, daß beide Urteile falsch sind, weil sie auf derselben falschen Voraussetzung beruhen, in den dynamischen dadurch, daß beide Urteile richtig sind, nur mit der Einschränkung, daß das eine für Dinge an sich, das andere für Erscheinungen gilt. Dieses Prinzip verwendet Kant, um die wesentlichsten Punkte seiner praktischen Philosophie schon in der Kritik der reinen Vernunft durchschimmern zu lassen. Die dritte und vierte Antithese haben den gemeinsamen Inhalt, daß der Prozeß des Weltgeschehens eine anfang- und endlose Kette notwendiger Veränderungen endlicher Dinge dar- bietet. Diese Sätze sollen nun unbedingt und ausnahmslos für alle Erscheinungen gelten. Aber damit, lehrt Kant, sei nicht ausgeschlossen, daß das Geschehen in der Welt der Dinge an sich einen Akt ursachloser Freiheit bilde, und daß es unter den Dingen an sich ein unbedingtes und absolut notwendiges Wesen gebe. Die Erscheinungswelt in dem gesamten kausal bedingten Ablauf ihres Geschehens sei eben nur eine Erscheinung. Der für imsere Erkenntnis durchaus bedingte und kausal notwendige Ent- wicklungsgang, den die Willensentschließungen in dem erapirischen Charakter eines einzelnen Menschen darstellen, sei nichts weiter als die durch Kaum, Zeit und die Kategorien bedingte Er- scheinungsform eines intelligiblen Charakters, dessen Hand- lung nicht unter dem Gesetz der Kausalität stehe. Freilich ist sich nun Kant bewußt, daß ein Beweis, d. h. eine theoretische Begründung für die Kealität der Freiheit und der Gottheit in der Welt der Dinge an sich niemals gefunden werden kann. Aber die Einschränkung der menschlichen Erkenntnis auf die Er- scheinungswelt läßt auch nicht das Gegenteil behaupten, und es bleibt danach für die theoretische Vernunft die Möglichkeit dafür offen. So muß man es in den Kauf nehmen, wenn jene Möglich- keit, "Dinge an sich^ anzunehmen, die am Schlüsse der transzen- dentalen Analytik gewonnen war, sich hier schon dahin spezia- lisiert, daß als diese Dinge an sich teils die intelligiblen Charaktere, teils die Gottheit betrachtet werden, daß also die Anwendung bestimmter Kategorien, wie derjenigen von Wesen und ihren Handlungen auf jenes unbekannte Etwas, welches dort Ding an

BcwoiBo für das Dasein GotteR. 1()9

sich gonaniit wurde, sclit)ii hier »uls inuj^lich bi.traclilet« und damit die VVeltaiisehauung von Kants Inau/^uraldisscrtatiun, wenn auch unter veriuukntcn (lesiehtspunkten wieder gestreift und als »problematisch« cin<^eführt wird. Allein in einer Rücksicht kehrt sich nun diese Auflösung der Antinomien offenkundig gegen den Beweis. Denn indo!u Kant annimmt, daß die Antithesen für die Erkenntnis der Erscheinungen gelten, und daß in der Er- scheinungswelt das wissenschaftliche Bewußtsein die Thesen ver- wirft, so wird es um so unbegreiflicher, wie es vorher möglich gewesen ist, auf rein theoretischem Wege Thesis und Antithesis gleichmäßig zu beweisen. Hierin liegt also eine noch tiefere_ Antin(Mnio zwischen Kants theoretischem und graktisciiem Denken vor, OHIO Antinomie, wciciie wie diejenige des Dinges an sich die Weiterentwicklung der Philosophie bestimmt liat.

In der vierten Antinomie ist nun auch schon der Gegenstand berührt worden, welcher das letzte Objekt der transzendentalen Kritik bildet: die wissenschaftliche Behandlung der Gottesidee. Kant nennt diese das^ Ideal der reinen Vernunft, weil sie die Idee des^ Unbedingten in Rücksicht auf die Möglichkeit aller Erscheinungen überhaupt, der äußeren und der inneren, bildet. Auch dieses Ideal ist nun nach Kant eine notwendige, es ist die letzte und höchste ^^ufgabe, welche die Erkenntnistätigkeit sich setzen kann und setzen muß. Aber auch hier ist die Idee kein

^.Gegenstand der Erkenntnis, und jeder Versuch, diese Notwendigkeit des ITenkens umzudeuten in einen Beweis von der Notwendigkeit der Existenz der Gottheit, muß durchaus verworfen werden. In diesem Zusammenhange der Gedanken erscheint es selbstver- ständlich, daß für Kant den Nerv aller Beweise, welche die spekulative Theologie und die Metaphysik für das Dasein Gottes angetreten haben, das Argument bildet, welches man das onto- logische nennt, und das ja gerade darauf hinausläuft, aus dem

*^ Begriffe des allerrealsten' Wesens dessen ^Existenz zu erschließen. In der Kritik trägt nun Kant mit schärferer Formulierung der schon in der vorkritischen Zeit von ihm entwickelten Gedanken eine seiner tiefsten und für die Erkenntnistheorie wertvollsten Lehren vor. Er zerstört jenen ontologischen Beweis von Grund aus, indem er zeigt, daß »Existenz« kein Merkmal ist, das wie andere Merkmale zum Inhalt eines Begriffes gehörte und

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1 [0 Kants praktische Philosophie.

deshalb durch logische Analysis daraus gewonnen werden könnte. Ein Begriff bleibt genau derselbe, ob man ihm die^Existenz' zu- schreibt oder nicht. Die Existenz ist vielmehr ein Verhältnis, worin sich unsere Erkenntnis zu einem bestimmten begrifflichen Inhalte befindet: sie ist eine Kategorie der Modalität. Die An- wendung dieser Kategorie aber ist nur durch die Anschauung zu vermitteln. Ein theoretischer Beweis für die Existenz ist also immer nur dadurch zu gewinnen, daß die Wirklichkeit des Be- griffes, d. h. seine Beziehung auf einen Gegenstand in der An- ^schauung direkt oder indirekt nachgewiesen wird. Existentialsätze sind immer synthetisch, und die Begründung der Synthesis hegt stets in der Anschauung. Deshalb ist es unmöghch, den Begriff der Gottheit als das Subjekt eines Existent ialsatzes theoretisch zu behandeln. Aus dem Begriffe allein folgt niemals die Existenz. Aber auch alle andern Versuche, die Notwendigkeit des Daseins Gottes zu beweisen, sind damit um so mehr widerlegt, als sie das ontologische noch mit anderen unberechtigten x^rgumenten komplizieren. Der kosmologische Beweis (eigentlich schon durch die vierte Antinomie widerlegt) schließt von der Bedingtheit und Zufälligkeit der endlichen Gegenstände auf die Existenz eines absolut notwendigen Wesens. Er hat kein Recht, mit der Kate- gorie der Kausalität die Erscheinungswelt zu überschreiten, er hat ebensowenig Recht, von den endlichen Dingen auf eine un- endliche, von den bedingten auf eine unbedingte Ursache zu schließen und damit eine [J:-'raßa^t?__£i?_a^^„j5vo? zu vollziehen. Aber wenn man ihm all dies zugeben wollte, so würde er doch seine Behauptung, daß diese letzte Ursache aller Dinge zugleich das ^ allerrealste und absolut notwendige Wesen sei, d. h. dem Begriffe der Gottheit entspreche, immer wieder nicht durch sich selbst, sondern nur durch das ontologische Argument erhärten können. /Und wie so der kosmologische auf den ontologischen, j'^] so führt der physikotheologische auf den kosmologischen Be- L weis zurück. Gesetzt, er hätte das Recht, als die Ursache der Zweckmäßigkeit, Güte, Schönheit imd Vollkommenheit der Weit (die Kant als Tatsachen behandelt, und nach deren Beweise er gar nicht einmal erst fragt) eine höchste InteUigenz anzunehmen, so würde dieser Beweis nur bis zu dem Begriffe eines welt- b^l^knden, nicht aber bis zu demjenigen eines weltschaffeu^ßQ

Priiniit (l«T luiiktiHclien Vornunft. 1 ] 1

CJottos fühlen. Für dioson müßte iiiinier wieder auf den ko.snio- louischeii und in letzter Instanz auf den ont{)l();^iselu'n Jicweis zurüelv^eurifien werden.

Diese Widerle^uni;; richtet tiicli wieder mit echt kritischem Bewußtsein nicht gegen den 8atz von der Existenz der Gottheit / selbst, sondern nur gegen die Versuche einer theoretischen Beweisführung dafür, und der Scharfsinn dieser Kritik, deren Argumentationen von den besonderen Eigentündichkeiten der tran- szendentalen Erkenntnistheorie durchaus unabhängig sind (wie sie ja auch von Kant im wesentlichen schon im Jahre 17G3 vor- getragen worden waren), hat damit jene Lieblingsgebilde der spekulativen Theologie und der rationalen Metaphysik für immer aus dem Sattel gehoben. Aber auch in diesem Falle trifft die Widerlegung der positiven Behauptung mit gleicher Energie ihre negative Kehrseite. Dasselbe Argument, welches den ^vissen- schaftlichen Beweis für die Existenz der Gottheit verbietet, schlägt auch jeden Versuch, diese Existenz zu leugnen oder zu widerlegen, nieder. Der Atheismus ist wissenschafthch ebenso unmöglich wie der Theismus. Gerade wie die Kritik der rationalen Psychologie gleichmäßig den Spiritualismus und den Materialismus als An- maßung der Metaphysik verdammte, so sieht die Kantische Kritik auch die rationale Theologie und den Atheismus für gleich un- bewiesene dogmatische Behauptungen an. Der eine überschreitet die Grenze der menschlichen Erkenntnisfähigkeit so gut wie die andere. Aber die rationale Theologie unterliegt nur in verzeih- lichem Eifer dem transzendentalen Schein, als könne das Ideal der Vernunft Gegenstand einer objektiven Erkenntnis sein: -der Atheismus macht den viel schlimmeren Fehler, dies Ideal der menschhchen Erkenntnis als eine Illusion zerstören zu wollen. Er sträubt sich daher, meint Kant, gegen eine in der Organisation des menschlichen Geistes selbst angelegte Notwendigkeit. Wenn wir die Zusammenhänge der inneren und diejenigen der äußeren Erscheinungen, wenn wir die geheimnisvolleren Zusammenhänge, die zwischen beiden obw^alten, in der wissenschaftlichen Erkenntnis zu begreifen suchen, so schwebt uns als der Trieb für diese gesamte Arbeit des Verstandes die Idee der Vernunft vor, einen letzten und absoluten Zusammenhang aller Erscheinungen in einem höchsten Wesen zu begreifen. Dies Ideal der Vernunft ist durch

W2 Kants praktische Philosophie.

den Verstand und seine Erkenntnis nie zu erreichen. Aber aller Wert der Verstandesarbeit liegt in der Annäherung an das uner- reichbare Ziel.

Und woher denn nun das ist die letzte Frage diese Wertschätzung und jener ihr zugrunde liegende Trieb? Woher jenes ^metaphysische Bedürfnis, welches unsere Erkenntnis erst vollendbar erscheinen läßt in einem Unerkennbaren? Aus dem bloßen Material der Erscheinungen ergäbe sich für die Erkenntnis nur der Trieb, ihre endlosen Ketten endlos weiter zu verfolgen. Wenn daher in unserm Denken das Bedürfnis auftritt, aus dieser Sinnen- welt herauszugehen und ein von ihr Verschiedenes zu erfassen, so liegt die Veranlassung dafür nicht mehr in unserm theoretischen Verhalten, Die theoretische Betrachtung kann nur die Tatsache konstatieren, daß sie selbst in ihrem ganzen Fortschritte durch das wenn auch niemals zu erfüllende Streben bestimmt ist, ihren Horizont zu überschreiten. Aber die Erklärung dieser Tatsache liegt in einem tieferen Bedürfnis, welches das theoretische Leben beherrscht, und dieses tiefere Bedürfnis kann nur in dem sitt- li^en Bewußtsein von unserer Bestimmung bestehen, die über die Welt unserer Erkenntnis hinausreicht. So zeigt sich, daß das Leben der Erkenntnis in seiner ganzen Ausdehnung durch den ethischen Trieb nach der übersinnHchen Welt bedingt ist, dem es doch selber niemals Genüge tun kann. Das ist es, was Kant den Primat der praktischen über die theoretische Ver- nunft genannt hat, und was den innersten Zusammenhang seiner wissenschaftlichen so gut wie seiner persönlichen Überzeugung am klarsten hervortreten läßt.

§ 60. Kants praktische Philosophie.

Die Nachfolger haben Kants Philosophie als subjektiven Idealis- mus oder als Subjektivismus charakterisiert, und in den hi- storischen Darstellungen ist diese Bezeichnung vielfach angenommen worden. Die wenigsten wissen, was sie bedeutet. Sie will besagen, daß der Kritizismus seinen Standpunkt lediglich in der mensch- lichen Vernunft nimmt. Er läßt alle die Meinungen dahingestellt, welche, sei es im populären Bewußtsein, sei es in philosophischen Versuchen, vor ihm über das Verhältnis dieser menschlichen Vernunft zu den Dingen aufgestellt sind, und er sucht ledighch

KritiHcluT SubjuktivisiiiuB. 1 l.'i

die notwcndi<i;(Mi und allj;cincin;^ültigcn l*rinzi[)icii auf, die in den Formen der Vernunft seihst bo;^ründet sind. Er ist in dieser Hinsicht nichts als eine Selbsterkenntnis der menschlichen Vernunft. Aber die Folge dav4)n ist eben die, daß sich auch die theoretische Kritik vollkonnnen in den Umkreis dieser Ver- nunftformen <j;ebannt sieht, und daß ihr alles, was über die Vorstellungen und ihre immanenten Beziehungen hinausgeht, problematisch bleiben muß. Freilich ist jene Selbsterkenntnis zunächst ein Wissen des Menschen von seiner eignen Vernunft: aber die kritische Untersuchung streift dabei schon auf dem theoretischen Fohle alle empirisch-anthropologischen Momente ab, und das »Bewußtsein überhaupt << ist entschieden etwas Über- greifendes der spezifisch menschlichen Vernunft gegenüber. Allein trotzdem bleibt die theoretische Vernunft, soweit sie Erkenntnis von Gegenständen sein soll, doch vollständig in sich selbst ge- bannt und gebunden. Innerhalb der Vorstellungsbewegung gibt es gewisse gesetzmäßige Verknüpfungen, welche Dinze genannt werden, und gibt es vor allem das notwendige Grundverhältnis von Subjekt und Objekt, welche nur in Beziehung aufeinander gedacht werden können. Ob es aber auch außerhalb der Vorstellung Dinge gibt, ob dem Subjekt und dem Objekt reale Wesen ent- sprechen, darüber zu entscheiden fehlen der theoretischen Vernunft so sehr alle Argumente, daß sie es weder bejahen noch verneinen kann. Für die theoretische Philosophie ist die Vorstellungs- tätigkeit mit ihren gesetzmäßigen Formen das Absolute. Schon von einem vorstellenden Subjekte kann sie nicht als von einem diese Tätigkeit ausführenden metaphysischen Wesen, sondern nur als von einem Inhalte der Vorstellungstätigkeit sprechen. Die Vernunft also ist ein System von Formen, ist der vollständig in sich geschlossene Kreis, aus dem die theoretische Philosophie nicht heraus kann. Der Kritizismus fragt weder nach ihrem Ur- sprünge, noch nach ihrem Verhältnis zu jener problematischen Reahtät, die er nur als ein völlig Unbekanntes jenseits der Grenze ansieht, welche die Vernunft sich selbst zu setzen vermag.

Betrachtet man dies Resultat vom Standpunkte des »naiven Reahsmus«, so heißt es, daß die Vernunft nichts weiter zu er- kennen vermag als sich selbst. Und wer von vornherein, von dem populären Bewußtsein ausgehend, das Wesen der Erkenntnis

Windelband, Gesch. d. n. Pliilos. U. 8

2^24 Kants praktische Philosophie.

in der Übereinstimmung von Vorstellungen und Dingen sucht, dem muß die Kantische Kritik den Eindruck hinterlassen, daß dieses Ziel der Erkenntnis niemals zu erreichen ist. In diesem Sinne ist seine theoretische Philosophie absoluter Skeptizismus. Aber diese Skepsis beweist ihren kritischen Ursprung dadurch, daß sie in vollkommen präziser Formulierung die Unfähigkeit der mensch- lichen Vernunft, von etwas anderem als von ihren eigenen Formen gewiß zu sein, auf die theoretische Funktion der Erkenntnis be- schränkt. Kants Subjektivismus ist nur theoretischer Natur. Wenn die Klarheit seiner Darstellung der Lehre vom Ding an sich in der Kritik der reinen Vernunft durch seine felsenfeste Über- zeugung von dessen Realität getrübt wurde, so rührte das daher, daß der Kritizismus in seinem praktischen Teile die selbstgezogene Schranke des Subjektivismus siegreich durchbricht und von der- selben Selbsterkenntnis der Vernunft aus deren Zusammenhang mit einer bestehenden Welt und ihre Unterordnung imter deren allgemeine Gesetzgebung begreift. Theoretisch betrachtet, sieht die Vernunft sich auf sich selbst beschränkt, praktisch betrachtet, glaubt sie sich im lebendigen Zusammenhange mit einer höheren Welt, von der ihre ganze Erkenntnis nur den Schatten ergreift.

Und doch ist auch diese Überwindung des Subjektivismus bei Kant nur aus dem subjektiven Gesichtspunkte selbst zu ver- stehen. Denn so wie die Vernunft auf dem theoretischen Felde zu ihrer Selbstkritik nichts hat als sich selber, so kann auch die praktische Gewißheit von ihrem Zusammenhange mit einer ab- soluten Weltordnung nur aus ihrer eigenen Tiefe geschöpft sein; nur in sich selbst vermag sie das Motiv zu entdecken, mit ihrer Überzeugung die Schranken ihres Wissens zu überschreiten. Auch der Glaube, mit dem die Vernunft sich einem Weltgesetze unter- wirft, gehört zu ihren eigenen Prinzipien, und dieser Glaube darf deshalb für die kritische Philosophie nur solche Gestalten an- nehmen, welche durch die allgemeine und notwendige Form der Vernunft selbst bestimmt sind. Konnte die theoretische Ver- nunft in allgemeiner und notwendiger Weise nur das erkennen, was sie selbst erzeugt, so kann die praktische Vernunft sich nur einem Weltgesetze unterordnen, welches sie in allgemeiner und notwendisjer Weise sich selbst iribt.

Indem Kant an die Kritik des sittlichen Bewußtseins geht.

Sittliche Urteile. Iir3

fragt er auch hier nach dm iiii^enieinen und notwendigen Be- stimmungen, die darin anzutreffen sind. In «einer empiristi.schen Periode hatte er sich mit den anthropologischen »Beobachtungen« beschäftigt, welche die psychologische Verschiedenheit in der Ge- staltung des sittlichen Lebens der Menschheit zu ihrem Gegen- stande haben. Derartige Fragen liegen der kritischen Moral- philosophie fern; sie richtet vielmehr ihren Blick darauf, daß auf dem Grunde aller dieser Verschiedenheiten eine gemeinsame sitt- liche Vernunft ruht, und daß das ]kwußtsein davon sich in dem Ansprüche auf Apodiktizität zeigt, mit dem die sittlichen Urteile ausgesprochen werden. Diese aber sind zwiefacher Art. Teilweise bestehen sie in gewissen Gesetzen, welche wir als die allgemeingültigen Normen für das sittliche Leben ansehen, teil- weise aber in Beurteilungen, welche auf Grund dieser Normen über Handlungen und Willensentscheidungen der Menschen aus- gesprochen werden. Die letzteren sind offenbar die Form des sittlichen Lebens, welche dem populären Bewußtsein am ge- läufigsten ist. Sie kommt in denjenigen Werturteilen zur Geltung, welche ihr Subjekt mit dem Prädikate"^ gut^oder"bösel)ezeichnen. Kant sucht nun, um aus diesem populären Verhalten in das moral-philosophische Problem hinüberzuführen, zunächst die Eigen- tümlichkeit dieser Urteile scharf zu umgrenzen. Sie enthalten keine Erkenntnis im theoretischen Sinne, sondern vielmehr ein Verhältnis der Beurteilung, in welches sich der Beurteilende zu dem erkannten oder für erkannt angesehenen Gegenstande des Urteils versetzt. Aber nicht alle Beurteilungen sind ethischer Natur. Ein großer Teil davon hat die Tendenz, den Gegenstand als etwas dem Individuum Angenehmes oder Unangenehmes zu bezeichnen. Diese Beurteilung ist stets empirischer Natur, sie setzt die Beziehung des Gegenstandes zu irgend einem Bedürfnis des Individuums, bestehe es nun in einem unmittelbaren sinnhchen Triebe oder in einem Zweck des persönlichen Interesses, voraus. Solche Beurteilungen sind deshalb zwar s}Tithe tisch , aber nicht a priori. Von ihnen gibt es infolgedessen keine über das jedesmalige Bedürfnis des Individuums hinausgehende Notwendigkeit und All- gemeingültigkeit. Wo dagegen etwas als^gut oder böse bezeichnet wird, da geschieht es stets mit dem Anspruch auf Allgemein- gültigkeit und Notwendigkeit, und dieser charakterisiert sich

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115 Kants praktische Philosophie.

dadurch, daß er den Gegenstand der Beurteilung zu einem all- gemeinen und notwendigen Prinzip in Beziehung setzt. Hier haben wir also ein Verfahren unseres Geistes, welches auf Apriorität Anspruch erhebt, und es fragt sich nach der Methode des Kritizismus, ob die Bedingungen erfüllt sind, unter denen dieser Anspruch gerechtfertigt ist. Nun erhält jede sittliche Beurteilung, sofern sie sich ihrer Berechtigung bewußt wird, die Subsumtion des betreffenden Gegenstandes unter ein Prinzip, welches wir ein sittliches Gesetz nennen, und die Beurteilung kann nur dann als berechtigt gelten, wenn die Allgemeingültigkeit und Notwendig- keit dieses Gesetzes feststeht. Alle sittliche Beurteilung setzt ein Sittengesetz voraus, das a priori gilt. Für die praktische Philosophie handelt es sich zunächst darum, ob es ein solches allgemeines Sittengesetz gibt, und wie dessen Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit eingesehen und vielleicht begründet werden kann. Die Frage ist, ob es eine allgemeine und notwendige Be- ziehung des Willens auf Gegenstände gibt, und welches diese Gegenstände sind.

Der Aufsuchung des Sittengesetzes selbst scheint nun die Schwierigkeit im Wege zu stehen, daß erfahrungsmäßig sein Inhalt von Fall zu Fall wechselt und außerdem während der geschicht- lichen Entwicklung des Menschengeschlechts offenbar in Ver- änderung begriffen ist. Heute und hier gilt anderes für sittlich als morgen und dort, und wenn sich so der Inhalt der sittlichen Prinzipien empirisch bedingt zeigt, was am allerwenigsten die kritische Philosophie leugnet, so bleibt der letzteren nur die Möglichkeit, die Apriorität des Sittengesetzes in derselben Rich- tung zu suchen, wo sie diejenige der Erkenntnis gefunden hatte : in einer formalen Bestimmung.

Schon in den Vorbereitungen für diese Fundamentalunter- ßuchung sind von Kant fast unmerklich die charakteristischen Züge angelegt, welche seine persönliche Gesinnung und zugleich die Eigentümlichkeit seiner Moralphilosophie ausmachen. Das Prädikat gut pflegt zwar selbst in seinem sittlichen Sinne von der populären Bezeichnungsweise auch: Handlungen beigelegt zu werden, welche den Anforderungen des Sittengesetzes entsprechen. Allein, meint Kant, das geschieht doch nur im übertragenen Sinne und nur insofern, als sie für den Ausdruck einer guten

IjOgalitili und Moralität. 117

Gesinnung anpjeschen werden. Im schärfsten Sinne des Worte« ist nichts^ gut als der Wille. Er bleii)t gut, wenn er durch den Mcehanisinus der äußeren Natur an der Umsetzung in die Hand- lung gehindert worden ist, und. anderseits verdient eine Hand- lung, die dem Sittengesetze völlig konform ist, das Prädikat gut nur insofern, als sie aus der sittlichen Gesinnung hervorgegangen ist. Wo irgend ein äußerer Zwang den Menschen eine solche Handlung ausführen läßt, da kann sie ihm nicht als moralisches Verdienst zugerechnet, nicht als gut bezeichnet werden. Aber Kant geht sogleich weiter. Was vom äußeren Zwange gilt, dehnt er auch auf den inneren aus. Wenn der Mensch durch den Mechanismus des Trieblebens oder durch seine persönhchen Interessen zu einer Handlung geführt wird, welche den An- forderungen des Sittengesetzes entspricht, so ist eine solche Hand- lung zwar nicht böse, aber auch nicht gut zu nennen, sondern sie ist moralisch indifferent. In solchem Falle hat das Individuum das Glück, daß seine Neigungen es nicht mit dem Sittengesetz in Konflikt bringen; aber das ist ein Zufall und kein Verdienst. Echt moralisch ist deshalb die den Anforderungen des Sitten- gesetzes entsprechende Handlung nur dann, wenn sie aus guter Gesinnung hervorgegangen ist, d. h. wenn der Wille, der ihre Ursache enthält, selbst durch das Bewußtsein des Sittengesetzes bestimmt war. Das Bewußtsein von der Anforderung, welche ein sittliches Gesetz an unsere Handlungsweise stellt, heißt Pflicht, und echt morahsch sind daher nur diejenigen Hand- limgen, bei denen die Pflicht als Maxime, d. h. als subjektives Prinzip der Willensentscheidung zur Geltung gekommen ist. In der kritischen Tendenz scharfer Grenzscheidungen macht Kant jenen berühmten prinzipiellen Unterschied zwischen Pflicht und Neigung, der sich durch seine ganze Ethik hindurchzieht. Die äußere Konformität unserer Handlungen mit den Anforderungen des Sittengesetzes nennt er Legalität. Alles was wir aus Neigung tun, ist im besten Falle nur legal, und von Moralität ist erst da die Rede, wo die pflichtmäßige Gesinnung und sie allein die Ursache der Handlung gewesen ist. In dieser Verinnerlichung des moralischen Prinzips liegt auch auf diesem Gebiete das sub- jektivistische Prinzip der kritischen Philosophie; zugleich kann diese Begründung der Moral auf den Beojiff des Pflichtbewußtseins

118 Kants praktische Philosophie.

als eine abstrakt allgemeine und rein ethische Formulierung des- jenigen Prinzips angesehen werden, welches der Protestantismus in religiöser Form von Anfang an bei seinem Kampfe gegen die katholische Kirche am lebhaftesten betont hatte.

Die Moralität der Handlungen ist also nicht in ihrer legalen Äußerlichkeit, sondern lediglich in der ihr zugrunde liegenden Gesinnung zu suchen, und die Gesinnung ist nur da gut, wo ihre Maxime das Bewußtsein der Pflicht, wo daher das Motiv des Handelns kein anderes ist als die Achtung vor dem sittlichen Gebot. Die sittlichen Gesetze aber erscheinen in unserem Be- wußtsein als die Vorstellung von etwas, was wir tun sollen, es sind Gesetze desSollens, welche den sogenannten Naturgesetzen als denjenigen des Müssens gegenüberstehen. Ein Naturgesetz ist eine Regel, nach der unter allen Umständen etwas geschehen muß und wirklich geschieht; das Sittengesetz ist eine Maxime, nach der unter allen Umständen etwas geschehen soll, aber nicht immer tatsächlich geschieht. Beide können nicht miteinander identisch sein; denn es hätte gar keinen Sinn, etwas zu ver- langen, was mit naturgesetzlicher Notwendigkeit so wie so ge- schieht. Das Sittengesetz hat daher nur darin seine Bedeutung, daß der Mechanismus des natürlichen Geschehens vollkommen unbestimmt läßt, ob es erfüllt wird oder nicht. Die moralische Gesetzrrebunof ist also eine andere als die natürliche und deshalb aus dieser nicht abzuleiten. Moralische Gesetze sind Imperative, Aufgaben, welche erfüllt werden sollen, ohne es zu müssen und ohne immer erfüllt zu werden. In diesem Sinne ist Kant der klassische Vertreter der Imperativischen Richtung in der Ethik, d. h. derjenigen, welche die Aufgabe dieser Wissenschaft nicht in einer Beschreibung und Erklärung des wirklichen sitt- lichen Lebens der Menschen, sondern vielmehr in der Aufstellung einer absoluten Gesetzgebimg dafür sieht.

Prüft man nun, welcher Art die Imperative sind, die in der praktischen Betätigung des menschlichen Lebens auftreten, so zeigt sich, daß der bei weitem größte Teil davon nur in be- dingter Weise gelten kann. Die Vorschriften, welche wir uns und anderen für bestimmte einzelne Tätigkeiten machen, sind selbstverständlich von den Zwecken abhängig, die jeweils durch diese Tätigkeiten erfüllt werden sollen, und gelten nur so weit

DegrifT des Zwecke«. ] \\^

wie diese Zwecke iils eistielx'iisweit uii^^OHehen werden. l)aM lieblet unserer praktischen Tätigkeit ist dusjenige der Zwecke. Der Begriff des Zweckes, den Kant aiia dem System der Kategorien ausschloß, und tk'r deshalb in seiner theoretischen Phik)soplue mit Einschluß seiner Naturlehre keine Rolle spielte noch spielen durfte, gewinnt hier dii^ ßedeutung einer Grund- bestimmung für die praktische Welt. Zwecke sind die Be- dingungen, unter denen die meisten Imperative stehen, insofern sie die Handlungen verlangen, welche die Mittel zur Herbei- führung dieser Zwecke bilden. Alle diese Imperative sind somit, ausgespr(x?hcn oder unausgesprochen, hypothetischen Charakters. Diese Reihe der hypothetischen Imperative oder der teleologischen Verhältnisse von Zweck und Mittel scheint sich nun ähnlich in eine endlose Kette auszudehnen, wie diejenige der Kausalität und der Verhältnisse von Ursache und Wirkung. Ich will eine bestimmte Handlung tun, um einen Gegenstand umzugestalten oder zu ver- fertigen, aber ich will diesen Gegenstand nur haben, um mit ihm irgendwelche andere Funktionen ausführen zu könnon, und ich will diese Funktionen wieder ausführen, um dies und jenes andere herbeizuführen, und so fort. In dieser Weise hängt jener erste hypothetische Imperativ als Schlußglied an einer langen Kette von teleologischen Beziehungen. Aber dieser ganze Prozeß ist nur dadurch möglich, daß es einen letzten Zweck gibt, der selbst nicht mehr Mittel für einen höheren, sondern vielmehr der be- stimmende Grund für die ganze teleologische Reihe ist. Während die kausalen Ketten, diejenigen der Erkenntnis, kein Anfangs- und kein Endglied haben, sind die teleologischen Reihen, die- jenigen des Willens, durch den unbedingten oder absoluten Zweck geschlossen. Ein solches Schlußgiied des teleologischen Prozesses bietet der natürliche Mechanismus der Motivation in dem Glückseligkeitstriebe dar, welcher für den bloß natürlichen Menschen den höchsten und letzten Zweck aller seiner Hand- lungen ausmacht. Aber das Glückseligkeitsstreben ist ein Natur- gesetz. Es braucht nicht als ein höchster und abschließender Imperativ ausgesprochen zu werden, sondern es regelt \äelmehr das ganze System des natürlichen Triebmechanismus von selbst. Die sittUche Gesetzgebung wäre daher von einer naturgesetzlichen Notwendigkeit bedingt, wenn die Glückseli2;keit der absolute Zw^eck

120 Kants praktische Philosophie.

wäre, um dessen willen sie alle ihre einzelnen Imperative auf- stellte. Soll es also in der sittlichen Gesetzgebung einen höchsten Zweck geben, um dessen willen alle übrigen einzelnen Gesetze da sind, so muß dieser an das Pflichtbewußtsein ein Verlangen stellen, das dem menschlichen Willen nicht schon durch den natürlichen Mechanismus eingepflanzt ist. Jeder hypothetische Imperativ appelliert an ein schon bestehendes Wollen, dem er die Mittel zu seiner Befriedigung empfiehlt: die sittliche Pflicht aber ist das kategorische Verlangen eines Wollens ohne jede Rücksicht auFdas schon bestehende.

Nun beruht aber das Hypothetische in den Imperativen stets darin, daß sie ihre Vorschrift von einem bestimmten inhaltlichen Zweck abhängig machen. Sollte daher das oberste Prinzip der Sittenlehre einen bestimmten besonderen Inhalt fordern, so wäre es von diesem abhängig und entspräche nicht mehr dem Begriffe eines absoluten Zweckes. Ein Imperativ, der kategorisch, d. h. ohne jede Bedingung gelten soll, kann also niemals eine einzelne bestimmte Handlung verlangen, sondern nur eine foimiale Be- stinmiung enthalten, deren Anwendung auf den einzelnen Inhalt dann durch die besonderen Verhältnisse der Erfahrung bedingt wird. Das oberste, nicht erfahrungsmäßige, das apriorische Gesetz der Sittlichkeit kann deshalb nur das Gesetz der Gesetz- mäßigkeit sein. Der kategorische Imperativ verlangt nichts anderes, als daß die Maxime, aus welcher eine Handlung hervor- geht, derartig sei, daß sie ein allgemeingültiges und notwendiges Gesetz für alle vernünftigen Wesen bilden kann. Deshalb for- muliert Kant den kategorischen Imperativ dahin: Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum all- gemeinen Naturgesetz werden sollte.

Man hat wohl gemeint, dieser ganze Apparat von Begriffs- entwicklungen bei Kant führe doch schließlich im Grunde ge- nommen auf die triviale Formel hinaus: was du nicht willst, das man dir tu*, das füg' auch keinem andern zu. Nim würde es nicht einmal ein Vorwurf sein, wenn es wirklich so wäre, daß die wissenschaftliche Untersuchung als das Fundamentalprinzip der Ethik einen Satz begründete, der dem allgemeinen sittlichen Bewußtsein als der bestimmende von vornherein einleuchtete. Allein ganz so ist die Sache doch nicht, sowenig sich anderseits

KRtpporinclior imperativ. 121

Icu^iUMi läßt, claÜ Kants Darstollun;^ für (Miie hoIcIic I)(*utiiii^ den breitesten Spielraum f^e^^^ebcn hat. Fraj^t man nämlich, auH welchen Gesichtspunkten denn luin beurteilt werden kann oder soll, welche Maximen siel» zu allf^emeinen Naturgesetzen ei^ien würden und welche nicht, so behauptet Kant von den strengeren, >ninnachläßlichen« Pflichten, es seien solche, bei denen die gegen- teilige Maxime als Natm'gesetz nicht einmal gedacht werden könnte, so daß den misittlichen Grundsätzen die Fähigkeit, all- gemeines Gesetz zu werden, schon aus rein logischen mid theo- retischen Gründen abgesprochen werden müsse. Hieraus geht hervor, daß Kant jene Deutung gerade für die wichtigsten sitt- lichen Maximen nicht im Au<^c hatte. Allein schon hiasichtlich des Egoismus z. B. kann es nicht zweifelhaft sein, daß die Tat- sachen geradezu beweisen, wie diese unsittliche Maxime als all- gemeines Naturgesetz ,' was sie ja in der Tat ist ,A den Bestand der organischen Welt iiicht nur nicht gefährdet, sondern sogar in ihrer empirischen Gestalt erst mögHch macht. Deshalb sieht sich Kant genötigt, hinzuzufügen, daß es Maximen gibt, bei denen es theoretisch keinen Widerspruch involviere, sie als Naturgesetze zu denken, bei denen man aber nicht wollen könne, daß sie es seien. Das ist nun freihch sehr bedenklich: denn der Grund des »Nicht wollen Könnens« ist doch in diesem Falle entweder ein sittlicher und dann bewegt sich die ganze Erklärimg im Kreise oder durch ein Interesse bestimmt und dann liegt die Entscheidung ja doch wieder bei dem von Kant so lebhaft verworfenen GlückseUgkeitsbestreben. Dem letzteren Widerspruche mit sich selbst ist er sogar in seinen Beispielen zweifellos zum Teil verfallen. Aber die große Schwierigkeit der Sache liegt in folgendem: so tief und groß der Kantische Grundgedanke ist, als das absolute und oberste Prinzip der Moral den kategorischen Imperativ in der Form des Gesetzes der Gesetzmäßigkeit auf- zustellen, so völlig unmöglich ist es auf der anderen Seite, aus dieser rein formalen Bestimmung irgend eine empirische Maxime abzuleiten oder auch nur sie darunter zu subsumieren*). Das

♦) Diese Andeutung hat Kant in dem Abschnitt der Kritik der prak- tischen Vernunft gegeben, welcher von der Typik der reinen praktischen Urteilskraft handelt, indem er hier die Frage nach der Möglichkeit, konkrete Bestimmungen unter die Anforderung des kategorischen Imperativs zu

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letztere gelang dem Philosophen nur durch eine sich schon m- ^altlich gestaltende Umformung, nicht durch die rein formale Fassung des kategorischen Imperativs.

Prinzipiell jedoch benutzt Kant gerade diese rein formale Fassung des kategorischen Imperativs, um seine Aufstellung des Sittengesetzes gegen alle früheren energisch abzugrenzen. Sobald man die sittlichen Handlungen von der Erfüllung eines sachlichen Zweckes in letzter Instanz abhängig macht, so betrachtet man die sittliche Tätigkeit als ein Mittel für diesen Zweck und setzt somit den kategorischen zu einem hypothetischen Imperativ herab. Unter solchen materialen Prinzipien der ethischen Gesetzgebung sind neben anderen hauptsächlich zwei von wesentlicher Be- deutung, weil sie den größten Teil der in der Philosophie auf- gestellten Moralprinzipien bestimmt haben: die Glückseligkeit und der göttliche Wille. Der Eudämonismus betrachtet die sittliche Handlungsweise als das einzige oder das beste Mittel, um die Glückseligkeit, wenn er roh verfährt, des Einzelnen, wenn er ver- feinert erscheint, der menschlichen Gesellschaft herbeizuführen: er ist also nur eine Klugheitslehre, die zeigen soll, wie man am besten und sichersten glücklich wird; namentlich wird er dazu in der gesellschaftlichen Form, indem er dann darauf hinausläuft, darzutun, daß nach den Bestimmungen, welche die Gesamtheit nun einmal in Sitte und Recht von ihren Gemeininteressen aus getroffen hat, das Individuum am klügsten tut, sich in diese Lebensformen zu fügen. Damit geht erstens die eigentliche Würde und Selbständigkeit der moralischen Handlung verloren, indem sie einem fremden Zwecke dienen soll; zweitens aber enthält dieser Eudämonismus einen inneren Widerspruch. Eine un- befangene Prüfung der Tatsachen lehrt, daß die moralischen Handlungen, weit davon entfernt, die empirische Glückseligkeit zu ihrer notwendigen Folge zu haben, ihr vielmehr häufig ent- gegenstehen. Für das Individuum wenigstens ist die Moralität unter allen Mitteln zur Herbeiführung der Glückseligkeit das un-

subsumieren, aufwirft und das Naturgesetz als den Typus des Sittengesetzes in demselben Sinne bezeichnet, wie in der Kritik der reinen Vernunft die Zeit als Schema für die Subsumtion der Erscheinungen unter Kategorien figurierte, mit dem Unterschiede nur, daß die Anwendung dieses Typus noch Wel vager und unsicherer ist als die jenes Schemas.

Autonomio. 12.'{

sit'horstc. Iliitle clio Natur uns zur (i!liickHcli<^keif- bestimmt, so hätte sie nichts Törichteres tun können, als neben den Trieben des E«;{)ismu8 uns dies Bewußtsein einer morulischen Pflicht ein- zupflanzen, das jenen immer im^ Wej^e steht. Aus dem üliick- eeligkeitsstreben läßt sich das ethische Leben daher niemals deduzieren./ Wenn auf der anderen Seite die (iültit^keit der moralischen Gesetze aus einer «^^öttlichen Gesetzgebun«^ abgeleitet werden soll, so heißt dies, das sittliche Leben des Menschen einem fremden Willen unterwerfen. Die Unterwerfung unter einen fremden Willen aber kann entweder aus den psychologischen Triebfedern der Fiu-cht und der Hoffnung, welche die Vorstellung von der Mächtigkeit dieses fremden Willens mit sich bringt, oder aus der Überzeugung von der sittlichen Güte dieses Willens hervorgehen. Ist das erstere, wie bei dieser Begründung der Moral wohl in der Mehrzahl der Fälle, gemeint, so wird die moraüsche Tätiüjkeit wiederum als ein Mittel für ein wenn auch noch so verfeinertes und aus dem irdischen in das jenseitige Leben übertragenes Glückseligkeitsbestreben angesehen, und so fällt diese Form des Eudämonismus imter dessen allgemeine Kritik. Soll aber der götthche Wille deshalb befolgt werden, weü man von seiner sittlichen Güte und Vollkommenheit überzeugt ist, so kann diese Überzeugung nur darauf beruhen, daß der Inhalt des gött- lichen W^ülens vom Standpunkte des sittlichen Bewußtseins als diesem durchaus konform erkannt worden ist. In diesem Falle liegt also das letzte Beurteilmigsprinzip doch in dem sittlichen Bewußtsein selbst, und die theologische Begründung ist nui" eine scheinbare.

Der kategorische Imperativ enthält daher in seiner bloß for- malen Bestimmung und in seiner ausdrücklichen Unabhängigkeit von allen inhaltlichen Zwecken der Willensentscheidung doch die sehr wesentliche Bedeutung, daß von dem sittlichen Willen die Befolgung nur solcher Gesetze, aber dieser auch unbedingt ver- langt wird, welche er sich selbst gegeben hat. In diesem Sinne bezeichnet Kant den Grundbegriff seiner Moralphilosophie als den- jenigen der _Autonomie. Sittlich gut ist der Wille, der das selbstgegebene Gesetz befolgt. Die praktische Überzeugungstreue ist der tiefste Gehalt des moralischen Lebens. Der reine Wille, d. h. der allgemeine und notwendige Wille oder die "praktische

124 Kants praktische Philosophie.

Vernunft des Menschen kann sich kein anderes Gesetz als das sittliche geben; aber der empirische Wille, der wechselnde Wille des einzelnen vermag diese Gesetze zu überschreiten, weil er durch anderes als durch sich selbst, weil er durch die sinnlichen Triebe bestimmt ist. Jeder Versuch deshalb, die sittliche Handlungsweise in den Dienst eines anderen Zweckes zu stellen, zieht die Sitt- lichkeit auf den Standpunkt der Heteronomie herab. Mag es die individuelle oder die allgemeine Glücksehgkeit, mag es irgend ein empirisches Gefühl, mag es ein göttliches Gebot oder ein meta- physischer Begriff der Vollkommenheit sein, was man als Be- stimimungsgrund für das sittliche Handeln angibt, immer wird dadurch das sittliche Leben zu einem Mittel herabgesetzt und hört auf, in sich selbst einen absoluten, notwendigen und allgemeingültigen Zweck zu bilden.

Jede heteronomische Begründung widerspricht nach Kant der .Würde des moralischen Lebens. Alles, was einem anderen Zwecke dient, hat in der Welt der Zwecke nur einen Preis. Würde da- gegen kommt allein demjenigen zu, was an und für sich ein Zweck und um dessen allein willen das übrige da ist. Diese Würde gebührt im ersten und eigentlichsten Sinne des Wortes nur dem Sittengesetz selbst. Aber indem das Individuum dieses Sittengesetz sich selber gibt, indem es aus Achtung vor diesem Gesetz ohne alle Interessen seiner Neigung in pflichtmäßiger Gesinnung dies Gesetz befolgt und sich so mit ihm identifiziert, teilt sich ihm jene Würde des Sittengesetzes mit, und in der Welt der Erscheinungen ist deshalb die menschliche Person, als ein vernünftiges, zwecksetzendes und sich selbst Gesetze gebendes Wesen der einzige, absolute Selbstzweck, der die Bedingung für die Geltung aller relativen Zwecke enthält, und dem gegen- über alle übrigen Erscheinungen ^Sacheri^ sind. Mit dieser Über- legung geht der kategorische Imperativ aus der rein formalen in eine inhaltliche Bestimmung über, und das Gesetz der Gesetz- mäßigkeit verwandelt sich in das Gesetz von der Wahrung der Menschenwürde. Alle Sachen können als Mittel zum Zweck, aber eine Person darf niemals nur als Mittel gebraucht, sondern muß stets in ihrer absoluten Würde geachtet werden, und so lautet das oberste Prinzip des Sittengesetzes: Handle so, daß du die Würde der Menschheit sowohl in deiner Person als auch in

Freiheit. 125

der rci-SDii jedos uiidcron jodcizrit arlitcst und die Person iininoi- zugleich als Zwetk, nie bloß uLs iMittel gebrauclist.

Der Beuriff dci\Autonümio iat also in ganz ähnlicher Weiße der Schlüssel für die Erkenntnis des praktischen Lebens wie die Kategorien für diejenige des theoretischen. Wie es apriorische Erkenntnis der Natur nur dadurch gibt, daß ihre Gesetze vom Verstände als seine eigenen Funktionsformen erzeugt werden, so ist ein allgemeingültiges und notwendiges Sittengesetz nur dadurch möglii'h, daß der reine Wille sich selbst das Gesetz gibt. Sowenig von einer gegebenen Natur apriorische Erkenntnis, sowenig ist wahre Sittlichkeit unter einem nur empfangenen Gesetze möglich. Die Kriterien der theoretischen und der praktischen Kritik sind genau parallele Gedanken. Allein während die Berechtigung einer apriorischen Erkenntnis durch die Kategorien sich darauf zurück- führen ließ, daß ihre die Erfahrung produzierende Funktion in der Erfahrung selbst nachgewiesen wurde, muß die Kritik der praktischen Vernunft einen anderen Weg einschlagen.

Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit der synthetischen Ur- teile a priori, welche die praktische Vernunft als sittliche Gesetze aufstellt, ist nur denkbar unter Voraussetzung der Autonomie. Ein Wille aber, der lediglich sich selbst das Gesetz gibt und von diesem aus die Handlung mit allen ihren Folgen bestimmt, ist ein Akt, welcher zwar als Ursache eine unabsehbare Reihe von Wirkungen hat, welcher aber selbst nicht mehr nach dem natur- gesetzlichen Prinzip als die Wirkung einer Ursache angesehen werden kann. Eine solche Funktion nennt Kant Kausalität durch Freiheit. Der autonome Wille ist derjenige, welcher nicht durch einen empirischen Triebinhalt, sondern ledighch durch das Vernunftgesetz bestimmt ist: ein solcher ist innerhalb der Kausalkette der Erscheinungen nicht möglich, er ist vielmehr das Vermögen, eine Kausalreihe von vom anzufangen. Autonomie also gibt es nur, insoweit es einen dem Kausalnexus der Er- scheinungen nicht unterworfenen freien Willen gibt. Die Freiheit ist also das letzte Prinzip, auf welches die Analyse des sittlichen Lebens hinausläuft, und das Ergebnis dieser Untersuchungen ist dahin zusammenzufassen, daß es allgemeingültige und notwendige Sittlichkeit nur unter der Bedingung der Freiheit gibt. Nach dem Prinzip der Kritik der reinen Vernunft würde nun die menschliche

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Willenstätigkeit daraufhin untersucht werden müssen, ob es in ihr Freiheit gibt. Allein diese Untersuchung ist nicht möglich, und in sie darf deshalb gar nicht erst eingetreten werden. Denn die Kritik der reinen Vernunft hat nachgewiesen, daß in der Er- fahrung und ihrer theoretischen Erkenntnis niemals Freiheit ge- funden werden kann. Alle Erscheinungen sind unbedingt dem Grundsatze der Kausalität in der Weise unterworfen, wie es die zweite »Analogie der Erfahrung« ausgesprochen hat, d. h. daß jede Erscheinung durch eine andere Erscheinung bedingt ist. So ist durch die Kritik der reinen Vernunft festgestellt worden, daß nach der Bedingung des sittlichen Lebens nicht wie nach den- jenigen des theoretischen Jn der Erfahrung selbst gesucht werden kann. Raum, Zeit und die Kategorien sind in der Erfahrung selbst anzutreffen, denn sie bilden deren konstituierende Formen, und die Transzendentalphilosophie ist in diesem Falle nur die Reflexion auf Tätigkeiten, aus denen das Wesen der Erfahrung selbst besteht. Freiheit aber ist in der Erfahrung niemals an- zutreffen. Sollte deshalb die Entscheidung der Frage, ob die Apriorität, auf welche das Sittengesetz Anspruch erhebt, berechtigt sei, durch eine theoretische Erkenntnis, wie es bei den parallelen Untersuchungen der Kritik der reinen Vernunft der Fall war, gewonnen werden, so müßte dieser Anspruch gerade so wie der- jenige der Metaphysik zurückgewiesen werden. Denn sowenig wie die'^intellektuelle Anschauung^" ist die^Freiheit in dem erfahrungs- mäßigen Bestände des menschlichen Geistes aufzufinden. Allein schon die Kritik der reinen Vernunft verhielt sich doch beiden Begriffen gegenüber nicht ganz gleichmäßig. Bei dem einen ergibt sich aus der Tatsache unserer sinnlichen Anschauungsweise, daß wir Menschen eine intellektuelle nicht haben können. Bei der Freiheit dagegen wurde in der dritten Antinomie die Möglichkeit gewonnen, daß der naturnotwendige Ablauf der Willensent- scheidungen, den die Erfahrung zeigt oder postulieren muß, nur die "^Erscheinung? eines intelligiblen Charakters sei, dem die Kausalität durch Freiheit ohne Widerspruch als Merkmal zugesprochen werden könne. So gibt die Kritik der reinen Ver- nunft die Jlöglichkeit der Freiheit* für den Menschen als jntelli- gibles Wesen zu, während sie diejenige einer "^ intellektuellen An- schauung für die Erkenntnistätigkeit des Menschen ablehnen muß.

Der Olaube a priori. 127

Allcnlin^s deck«'!! sich dcv koöinolo^Mschc Freiheitsbc^^rifl (Irr tnm- yzciKleiitalcii Dialektik und der et bische Freiheitshegriff der Kritik der praktischen Vernunft nicht volLständiL! : jener bedeutet den inteUigibhui Charakter, dem als Erscheinung der empirische Mensch entspricht dieser besagt eine Fähigkeit des Willens, sich mit Ausschluß aller empirischen Motive lediglich durch das Sitten- gesetz selbst zu bestimmen. Allein das gemeinsame Moment beider Begriffe liegt in der übersinnlichen Realität der Persönlichkeit: sie wird theoretisch als möglich erwiesen, um dann praktisch als notwendig behauptet zu werden.

Die Kritik der praktischen Vernunft stützt sich also aus- drücklich auf diejenige der theoretischen, indem sie es als von dieser erwiesen ansieht, daß über die Realität der^Freiheit, welche als die Bedingung des sittlichen Lebens deduziert worden ist, die auf Erfahrimg beschränkte Erkenntnis nicht zu urteilen, d. h. sie nicht zu bejahen und nur für den Umkreis der Erscheinungs- welt zu verneinen imstande ist. Damit ist innerhalb der tran- szendentalen Methode der Gesichtspunkt gewonnen, daß über die Berechtigung der Apriorität, welche das Sittenge ^etz beansprucht, die theoretische Erkenntnis nicht absprechen darf, imd daß jeder Versuch, auf einem solchen Wege diese Berechtigung zu begründen ebenso verfehlt ist wie derjenige, sie zu bestreiten. Die prak- tische Überzeugung ist also von dem theoretischen Wissen voll- / ständig unabhängig; sie kann von ihm weder Unterstützung hoffen ^ noch Bestreitung befürchten. Hier gibt Kant jener Scheidung der Moral von der Metaphysik, welche vor ihm stets in der Weise aufgetreten war, daß man dem Wissen gegenüber das empirische Gefühl betonte, eine Vertiefung bis in die innerste Analyse der menschlichen Vernunft. Nicht das vage Gefühl des einzelnen, sondern die das gesamte menschliche Leben erfüllende und zu- sammenhaltende Überzeugung von einer absolut verbindenden Würde der sittUchen Gesetzgebung stellt er den metaphysischen Speku- lationen und der empirischen Erkenntnis gleichmäßig gegenüber. Wenn sich gezeigt hat, daß diese notwendige und allgemeingültige Überzeugung vom Wissen weder Bestätigung noch Widerlegung zu erwarten hat, so ergibt sich für sie, daß sie lediglich durch sich selbst besteht, und daß ihre Apriorität niemals theoretisch bewiesen, aber auch niemals theoretisch angegriffen, daß sie nur^ geglaubt

128 Kants praktische Philosophie.

werden kann, aber auch geglaubt werden soll. Niemand ist ein sittlicher Mensch, der nicht von der absoluten Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit einer sittlichen Verpflichtung, mag sie in ihrem besonderen Inhalte noch so sehr empirisch bedingt sein, der nicht von der Apriorität des kategorischen Imperativs überzeugt ist, und diese Überzeugung ist ein integrierender Bestandteil der mensch- lichen Vernunft: sie ist der absolute Grundsatz der reinen prak- tischen Vernunft. Es ist vergebens, die Berechtigung dieser sittlichen Überzeugung theoretisch erweisen, vergebens, sie unter- graben zu wollen. Sie ist da als die absolute Tatsache des sitt- lichen Bewußtseins, und an ihre Realität zu glauben ist eine all- gemeine Notwendigkeit der menschlichen Vernunft. Wie es sich in der Kritik der reinen Vernunft um die Auf v\^eisung eines allgemeinen und notwendigen Wissens handelt, so in der Kritik der praktischen Vernunft um diejenige eines allgemeinen und notwendigen Glaubens. Dieser aber kann seinem Begriffe nach nicht auf ein Wissen gestützt, sondern nur aufgedeckt und aus den wechselnden Verhüllungen seiner empirischen Gestaltung herausgeschält werden. Ist nun der zentrale Inhalt dieses sittlichen Glaubens die apriorische Geltung des Sittengesetzes, so muß er sich auf alle diejenigen Bedingungen erstrecken, unter denen das letztere allein möglich ist. Der praktische Glaube realisiert danach alle die- jenigen Ideen, welche als Bedingungen des sittlichen Lebens deduziert werden können. Aber diese Reahsation geschieht nicht in der Form des Wissens, sondern in derjenigen des Glaubens. Wenn daher Kant auf diesem Grunde eine ethische Meta- physik des Übersinnlichen aufbaut, so darf man diesen »moralischen Beweis« niemals als einen Beweis im theoretischen Sinne auffassen. Man hat Kant sehr bald so mißverstanden, als ob die Grundzüge dieses Teils seiner Lehre etwa folgende wären: das sittliche Leben ist eine Tatsache, diese Tatsache ist nur möglich unter den Bedingungen der Freiheit und der übersinn- lichen Welt, folglich ist erwiesen, daß auch die Freiheit und die übersinnliche Welt existieren. Ein solcher »Beweis« Uefe allen Grundsätzen der Transzendentalphilosophie und dem Resultat der Kritik der reinen Vernunft strikte zuwider, und wer ihn der Kantischen Lehre imputiert, der kann sich nicht wundern, wenn er in ihr nur einen großen Widerspruch zu erblicken vermag.

Dio l'ostulate. 129

In Wahilioit i.st Kants Ai<;unH'ntation eine solche ad homincm, und sie spricht: du {glaubst an dio Notwendigkeit und All<^'cmcin- j^ültigkeit des Sittcn^esetzes, du mußt also auch an alle Be- din«j;un«^en glauben, unter denen «diese allein möglich ist. Diese IkHÜngungen sind die Freiheit und die übersinnliche Welt: folglich mußt du, sofern nicht deine ganze sittliche Überzeugung hinfällig werden soll, notwendig auch an die Realität der Freiheit und der übersinnlichen Welt glauben. Deshalb nennt Kant die Ideen, auf welche sich die Wirksamkeit des praktischen Glaubens erstrecken muß, die Postulate der reinen praktischen Vernunft. In diesem Sinne gilt es, was Schiller gesagt hat, daß diese Lehre dem Menschen, was sich nicht beweisen läßt, »ins Grewisseii_ hineinschiebt <<.

Hier erscheinen nun in der praktischen Philosophie jene Ideen wieder, welche die theoretische nur als die höchsten, für die Erkenntnis unerfüllbaren Aufgaben des Denkens ansehen durfte, und so erklärt es sich, daß diese Aufgaben dort nicht sowohl in theoretischen als in praktischen Motiven ihre Wurzeln haben. Aber sie erscheinen in etwas veränderter Reihenfolge und Ge- stalt. Denn den Ausgangspunkt dieser Metaphysik des sitt- lichen Glaubens muß die Idee der Freiheit bilden, auf welche die Analyse des sittlichen Bewußtseins als auf ihre Grundlage hingeführt hatte. Sofern wir an der Notwendigkeit und All- gemeingültigkeit einer sittlichen Verpflichtung festhalten wollen, müssen wir glauben, daß unser Wille imstande ist, sich selbst Gesetze zu geben und danach seine Handlungen zu bestimmen, d. h. daß er frei ist. Sonst wiu:de wohl vor Kant der Versuch gemacht, theoretisch zu beweisen, daß es Willensfreiheit gibt, und daraus die sittliche Gesetzgebung abzuleiten, also das Sollen durch das Können zu begründen. Kants praktischer Glaube geht den umgekehrten Weg. Er geht von der kategorischen, undiskutier- baren tlberzeugung des Sollens aus und gewinnt aus ihr die sitt- liche Gewißheit des Könnens. Für ihn gilt der praktische Satz: »du kannst, denn du sollst«.

Die Glaubensoewißheit von der Freiheit hat aber ihre wesent- liebste Bedeutung gerade darin, daß sie zugleich die Gewißheit von der Realität einer übersinnlichen Welt von Dingen an sich enthält. Denn da Freiheit in dem Q;esämten Umkreise

o Windeltand, Gesch. ä. n, Philos. H. 9

130 Kants praktische Philosophie.

der Sinnenwelt nicht angetroffen werden kann, so muß sie einer übersinnlichen Welt angehören. Da alle Erscheinungen dem Gesetz der Kausalität unterworfen sind, so ist Freiheit nur bei denlDingen an sich, zu suchen. Unsere Überzeugung also davon, daß unser Wille frei ist, realisiert den für die theoretische Philosophie nur problematischen Begriff der^Dinge an sich/ Unser sittliches Bewußtsein zwingt uns zu glauben, daß es neben unserer Erfahrungswelt noch jene andere Welt gibt, welche die Erkenntnis nur als möglich ansetzen konnte, und rechtfertigt es, daß unsere Vorstellungswelt das Reich der Er- scheinungen genannt wurde. Im moralischen Glauben müssen wir daran festhalten, daß wir nicht nur Erscheinungen in der Sinnen- welt, sondern zugleich Personen in der inteliigiblen Welt sind. Unsere sittliche Selbsterkenntnis zeigt uns, daß wir Doppelwesen sind, und daß unser Leben sich auf der Grenze einer similichen und einer übersinnlichen Welt bewegt. Als Sinnenwesen sind wir den Gesetzen des Raumes und der Zeit und der Kategorien imter- worfen, als intelligible Wesen sind wir frei und geben uns selbst das Weltgesetz der Pflicht. Als empirischer Charakter sind wir in der gesamten Entwicklung unseres Willenslebens naturnotwendig bedingt; aber dieser empirische Charakter ist lediglich die uns erkennbare Erscheinungsform unseres inteliigiblen Charakters, der das wahre Wesen dieser Erscheinungen bildet und die Ver- antwortung dafür trägt. Die Stimme dieses intelHgiblen Charakters wird im empirischen durch das Gewissen laut. Denn so sehr unser Wissen ims lehren mag, daß unsere einzelne Willensent- scheidung nach unentfliehbaren Naturgesetzen erfolgt, so sagt uns doch unser sittliches Bewußtsein, daß dieser unser ganzer em- pirischer Charakter die Erscheinung des inteliigiblen ist, der ver- möge seiner Freiheit hätte anders sein können. Die Notwendigkeit ist nur die dem Wissen zugängliche Erscheinung unseres Wesens, die Freiheit ist dieses innere Wesen selbst. So löst Kant die Anti- nomie von Freiheit und Naturnotwendigkeit durch den Phäno- menalismus, und seine Lehre vom inteliigiblen und empirischen Charakter ist eine tiefsinnige begriffliche Formulierung jenes Platonischen Mythos, welcher für den notwendigen Prozeß der Willensentscheidun^en einen außerzeitlichen imd vorweltlichen Akt der freien Wahl des Individuums verantwortlich machte. In der

Metaphysik (loa Übürslnulicbon. 131

Tat liegt beiden nahe verwandten r^ehrcn das gemeiasarne Bc- ötieben zugrunde, die wissenschaftliche Einsicht in den psycho- logischen Mechanismus dea nieiLschlichen W illcuslebeas mit dem sittlichen Bewußtsein der Verantivortlichkeit zu vereinigen. Bei Kant gelingt dies, indem der Begriff der Freiheit, welcher in seinem ethischen Sinne die Bestimmtheit des »reinen« Willens durch die Form des Gesetzen bedeutet, zugleich in der Transzendental- psycliologie mit demSntelligiblen Charaktet des Individuums, der eich »auch anders hätte entscheiden können«, gleichgesetzt wird. Nachdem so durcli den Glauben an das Sittengesetz derjenige an die Freiheit und an die Realität einer übersinnlichen Welt von Dingen an sich begründet worden ist, meint Kant, diese praktische Metaphysik noch weiterführen zu können. Aber er benutzt dazu ein Argument, welches ihn über den Standpunkt seiner moralphilosophischen Grundlegung hinaus und teilweise zu früheren Lehren zurückführt. Jene wunderbare Verknüpfung des Sinnlichen mid des Übersinnhchen im Wesen des Menschen spiegelt sich in dem Antagonismus unseres natürlichen und unseres sitt- lichen Trieblebens. Jenes hat zum obersten Prinzip die Glück- sehgkeit, dieses die Erfüllung des Sittengesetzes, welche wir als Tugend bezeichnen. Aber die menschliche Natur ist nur eine, und diese Einheit verlangt eine höchste Synthesis beider Seiten unseres Wesens. Da aber nach dem Primat der praktischen Vernunft diese Synthesis nur in der Unterordnung des sinnlichen unter das übersinnliche Moment bestehen kann, so ergibt sich daraus der synthetische Satz, daß für unser sittliches Bewußtsein die ^ Tugend ' allein würdig ist, die Glückseligkeit zu erlangen. Während nun Kant vorher den vollen Rigorismus gewahrt hat, zu lehren, daß die sittliche Tugend in der bedingungslosen Unterwerfung unter das Pflichtgesetz ohne jede Rücksicht auf die Glückseligkeit bestehe, stellte er als den Begriff des höchsten Gutes die For- derung hin, wir müßten die Welt so denken, daß in ihr die Tugend der Glückseligkeit nicht nur würdig, sondern auch teilhaftig sei. Derselbe Mann, der das Lebens ernst genug faßte, um den Aus- spruch zu tun, daß wir nicht da seien, urn glücklich zu werden, sondern um unsere Schuldigkeit zu tun derselbe konnte sich von dem letzten Rest des in der Seele des Menschen begründeten Eudä- monismus so wenig losreißen, daß er es für einen integrierenden "" 9*

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Bestandteil des allgemeinen und notwendigen sittlichen Glaubens hielt, davon überzeugt zu sein, in letzter Instanz müsse dem sittlich Handelnden auch die höchste Glücksehgkeit zufallen. Darauf begründen sich dann die beiden anderen Postulat e der praktischen Vernunft. Es ist Tatsache, daß in dem jrdi^chen Leben der tugendhafte Mensch durch seine sittliche Handlungs- weise die Glückseligkeit nicht erreicht. Muß deshalb an die Realität des höchsten Gutes geglaubt werden, so ist es nicht in der sinn- lichen Erscheinungswelt, sondern nur dadurch zu erreichen, daß der Mensch eine über diese hinausgehende außerzeitliche Existenz in der übersinnlichen Welt führt. Das ist die kritische Idee von der Unsterblichkeit der menschlichen Seele. Aber auch in einem imsterblichen Leben ist die Realisation des höchsten Gutes an und für sich noch nicht gesichert; denn es liegt nicht im Begriffe der kausalen Naturnotwendigkeit, daß durch sie die Tugend auch in dem progressus in infinitum die Glückseligkeit herbeiführte. Der Verwirklichung des höchsten Gutes sind wir also nur dadurch sicher, daß wir an eine moralische Welt- ordnung glauben, welche den naturnotwendigen Prozeß so ein- gerichtet hat, daß er in letzter Instanz die Tugend zur Glück- seligkeit führt. Eine solche gemeinsame Ordnung und gegenseitige Ergänzung der sinnlichen und der übersinnlichen Welt ist nur durch ein allerhöchstes und absolutes Wesen, durch die Gottheit, denk^ bar. So gewiß daher der Glaube an die Realität des höchsten Gutes,^ so gewiß muß auch derjenige an die Existenz der Gottheit sein. So verwandeln sich die drei Ideen der theoretischen Vermmft, die kosmologische, psychologische und theologische, in die drei Postulate der praktischen Vernunft: Freiheit, Unsterbhchkeit und Gottheit. Der allgemeine und notwendige Glaube des sittlichen Bewußseins involviert für Kant eine Metaphysik der übersinnlichen Welt, welche begrifflich die Überzeugung zum Ausdruck bringt, daß wir freie und unsterbliche Wesen sind, die einer sittlichen,, durch die Gottheit bestimmten Weltordnung angehören. Die menschliche Vernunft zeigt sich in ihrer praktischen Tiefe an denj Zusammenhang einer übersinnlichen Welt gebunden, von der das theoretische Bewußtsein nur die Andeutungen ihrer Möglichkeit und auch diese nur deshalb besitzt, weil es seine Aufgaben durch den sittlichen Willen bestimmt erhält.

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Voriiuiirtf^'liiube. 13.'i

Erst in diesem ZusaniinenliHii^e be<^rcift man völli;/ KaiitH Stelluiiij; zur Metaphysik, iasofcni darin eine Vorstellung' von der übersinnlichen und unerlahrbaren Welt erwartet wird. Als Er- kenntnis des Wissens ist sie unmö;.;Iich, als Oberzeu^^un^ de.s Gliiubens ist sie nicht nur möglich, sondern aucli all^^eniein und notwendig in der sittliclien Vernunft des Menschen be^^ründet. Deshalb aber kann die Lehre von der letzteren, die Ethik, weder auf irgendwelche besondere erfahrungsmiißige Grundlage, noch auf irgend einen Versuch wissenschaftlicher Metaphysik, sondern ledig- lich auf das »transzendentale Faktum« des sittlichen Bewußtseins imd auf die Analyse seiner Apriorität gebaut werden. Weit davon entfernt, aus einer theoretisch gewonnenen Weltanschauung ab- leitbar zu sein, ist die Moral vielmehr der einzige Weg, auf dem man eine Überzeugung von dem übersinnlichen Wesen der Dinge erwerben kann: diese aber kann niemals bewiesen, sondern immer nur geglaubt werden.

In diesem Sinne bezeichnet Kant den Vernunftglauben als den »orientierenden« Gesichtspunkt, welcher die kritische Philosophie in der »Nacht des Übersinnlichen« leitet und allein davor be- hütet, sich darin zu verirren. Von der wissenschaftlichen Er- kenntnis aus gibt es keinen Weg, der zum Übersinnlichen führte. Aber auch jenes besondere mystische Wahrnehmungsvermögen, welches als ein eigenes Gefühl die unmittelbare Gewißheit der übersinnlichen Mächte gewähren soll, verwirft Kant, weil in dem Umkreise der menschlichen Erfahrung ein solches nicht gefunden werden kann. Mag man es mit den positiven Religionen eine "" übernatürliche Offenbarung, mag man es mit den Mystikern und Gefühlsphilosophen eine ^übersinnliche Wahrnehmungsfähigkeit" nennen, für Kant gilt es als Einbildung und im günstigen Falle als Schwärmerei. Die letzte Entscheidung darüber, ob derartige für Offenbarungen oder übersinnliche Wahrnehmungen ausgegebene Vorstellungen für wahr und für göttlich gelten sollen, kann in einer allgemeingültigen und notwendigen Weise nur durch die Vernunft, aber freilich nicht durch die theoretische, sondern nur durch die praktische gewonnen werden. Aller Inhalt der Vorstellung von der übersinnlichen Welt muß vor das sittliche Forum gebracht und auf seine Übereinstimmung mit dem Vernunftglauben geprüft werden. Der autonome Wille kann ein Gebot nur darum als göttlich

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ansehen, weil es sittlich ist und weil er von dem Glauben an die Realität einer durch die Gottheit bedingten moralischen Weltordnung erfüllt ist. In dieser Hinsicht gilt es von den empirischen Formen des Glaubens: »an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen«. An die Stelle der theologischen oder metaphysischen Moral setzt also Kant seinen Begriff der Moraltheologie: der apriorische Glaube der praktischen Vernunft bedingt eine Metaphysik des Übersinn- lichen, welche in der Idee der Gottheit gipfelt.

Die Religionsphilosophie würde jedoch auf diese Postulate des moralischen Glaubens beschränkt bleiben, wenn sie sich nur auf die Überzeugungsquelle der reinen praktischen Vernunft be- schränken wollte. Das religiöse Leben aber ist eine empirische Tatsache. Es enthält die Beziehungen des wirklichen Menschen zu den Ideen der praktischen Vernunft. Religionsphilosophie . ist daher im kritischen System eine Betrachtung des wirklichen religiösen Lebens des Menschen unter dem Wertgesichtspunkte jener Metaphysik des Glaubens. Sie ist keine Beschreibung des so unendlich vielspältigen religiösen Lebens der Menschheit, sie ist auch keine wissenschaftliche Begründung irgendwelcher religiösen Lehren, sondern sie hat festzustellen, was innerhalb des religiösen Lebens durch die bloße Vernunft, d. h. durch die praktischen Postulate bedingt ist. Wenn jede der bestehenden Religionen vermöge ihres historischen Ursprungs mit empirischen Elementen versetzt ist, so hat die Religionsphilosophie aufzudecken, welches die Artikel sind, die durch den rein morahschen Vernunftglauben dem religiösen Bewußtsein als wesentliche Bestimmungen auf- genötigt werden. / In der Ausführung dieser Aufgabe geht dann freiHch der kritische Philosoph auf die Lehren und Überzeugungen der positiven Religion, in der sein eignes geistiges Leben er- wachsen war, des pietistisch gefärbten Protestantismus, soweit wie irgend möglich ein und sucht für sie eine Vereinbarkeit mit seinen philosophischen Theorien zu gewinnen, die z. T. weit über das hinausgeht, was er ohne diese Rücksicht daraus allein hätte logisch ableiten können. ;

Wie es nun für die M^etaphysik der Natur notwendig war, der Erfahrung den allgemeinen Begriff der Bewegung zu entnehmen, um ihn unter die Kategorien zu subsumieren, so muß die Religionsphilosophie die Fundamentaltatsache des religiösen

KeligiunsphiloBopbie. IHf)

Leben« konstatieren, um sie auf den nn)ralisch<5n Glauben zu beziehen. Bei dieser Analyse ^eht Kant von dem Grund Verhältnis des empirischen Menschen zum Sitten^ijcsetz aus. Das Sitten- «»esetz erscheint in unserem Bewußtsein als ein kat<!«^orischer Imperativ, als eine Forderung, Velche unbedingt erfüllt werden soll, aber es nicht ist. Der imperative Charakter des Sitten- gesetzes würde inimöglich sein, wenn der Mensch es voUkonunen erfüllte. Wenn daher jenes »Soll« für den moralischen Glauben die Überzeugung des Könnens mit sich führt, so involviert es nicht weniger auch das Bewußtsein von seiner empirischen Nicht- erfüllung. Es gibt für den Menschen kein sittliches Bewußtsein ohne dasjenige der eigenen sittlichen Un Vollkommenheit und Un- angemessenheit. Daraus entwickelt sich ein ebenso notwendiges und allgemeines Vernunftbedürfnis, von dieser Unvoll- kommenheit frei zu werden, und da die Un Vollkommenheit im sittlichen Bewußtsein selber als ein unentfHehbarer Bestandteil der menschlichen Natui erkannt wird, so gestaltet es sich zu dem Wunsche, davon erlöst zu werden. So erweist sich das Erlösungsbedürfnis, in seinem moralischen Sinne gefaßt, als ein notwendiger Bestandteil der allgemeinen menschlichen Or- ganisation, als ein Ausfluß der praktischen Vernunft, und in ihm sieht Kant die Grundtatsache des religiösen Lebens. ""

Hieraus begreift sich die nahe und innige Beziehung, in welcher Kants Religionsphilosophie zum Christentum steht. Denn dies ist diejenige Religion, welche jenen tatsächlichen Kern alles reli- giösen Lebens am klarsten und eindringhchsten zum Bewußtsein gebracht und auch ihrer ganzen dogmatischen Gestaltung zugrunde gelegt hat. Deshalb entwickelt sich Kants religionsphilosophische Lehre so, daß sie zu zeigen sucht, in welchem Sinne die Grund- lehren des Christentums aus bloßer Vernunft aufzufassen und als Anwendungen des rein moralischen Glaubens auf die Tatsache des Erlösungsbedürfnisses zu begreifen sind. Ihren Ausgangspunkt bildet daher die philosophische Untersuchung der Lehre, welche dem Erlösungsbedürfnis den schärfsten Ausdruck gibt: derjenigen von der Sünde. Die Tatsache der Erlösungsbedürftigkeit beruht zweifellos irgendwie in der menschlichen Doppelnatur, vermöge deren dem Sittengesetz der natürliche Mechanismus mit seinem Glückseligkeitsstreben antagonistisch gegenübersteht. Aber das

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Glückseligkeitsbestreben der sinnlichen Triebfedern kann unmöglich als ein an sich böses bezeicbnet werden, da böse ebenso wie gut ein moralisches Kriterium bedeutet und innerhalb des Trieb- mechanismus der Erscheinungen allein keinen Sinn hat. Die Prädikate gut und böse sind weder in der intelligiblen noch in der sensiblen Welt allein von Anwendung. Wo nur das Sitten- gesetz und wo nur das Naturgesetz gilt, da gibt es weder gut noch böse. Gut und böse setzen ein Verhältnis der sinnHchen und der sittlichen Triebfedern voraus. Nun verlangt das Sitten- gesetz die Unterordnung des sinnlichen unter den sittlichen Trieb, und den Willen, in welchem dieses Verhältnis wirklich obwaltet, nennen wir gut oder heilig. In der Tat aber ist im Wesen des Menschen dies richtige Verhältnis der Triebfedern von Anfang an umgekehrt. Mit dem Bewußtsein des Sittengesetzes verbindet sich in dem natürlichen Menschen doch eine Unterordnung dieses / Gesetzes unter seine sinnlichen Triebfedern. Diesen ursprünglichen »Hang«, das erkannte Sittengesetz beiseite zu setzen und dem sinnlichen Triebe zu folgen, nennt Kant das Kadikalböse in der menschlichen Natur. Es gilt ihm als eine Tatsache, aber eine unbegreifliche Tatsache. Es ist weder aus dem empirischen Charakter des Einzelnen noch aus einem tatsächlichen Verhältnis ^ in der Zeit aufeinanderfolgender Exemplare der menschlichen Gattung zu erklären. Der Sündenfall ist weder als eine einmalige und in ihren Folgen sich vererbende noch als eine in jedem Individuum neu sich vollziehende Tatsache zu begreifen. Aber die biblische Erzählung davon ist als der symbolische Ausdruck unseres Bewußtseins von dieser Tatsache anzusehen. Der moralische Glaube, der dem empirischen Charakter gegenüber den intelligiblen kennt, hat in dem letzteren das verantwortliche Wesen für die gesamte böse Erscheinungsform des ersteren zu suchen, und wenn der Mensch auch dieses Verhältnis ganz und gar nicht begreift, so bekommt doch dieser Glaube dadurch für ihn seine er- Bchüttemde Gewalt, daß er dadurch überzeugt sein muß, es sei nicht die naturnotwendig bedingte Erscheinungsform, sondern es Bei sein innerstes intelligibles Wesen selbst, welches die Schuld an jenem Radikalbösen trage.

Hieraus ergibt sich die gesamte Aufgabe des religiösen Lebens von selbst. Es ist der Kampf des guten und des bösen

VürliiiltniH zum (üiribtcntuin. 137

Prinzips im Menschen, der zum endlichen Sie^e des Guten fiUiren soll, welches wir als das absolute Bewußtsein der Ver- pflichtung in uns tragen. Diese Aufgabe läuft also darauf hinau«, daß jenes böse Verhältnis der Triebfedern aufgchobt^n und das entgegengesetzte hergestellt werHe. Aber jener Gegensatz ist nicht graduell, sondern prinzipiell. Die geforderte Umkehrung kann daher nicht durch einen allmählichen Prozeß, nicht durch das empirische Geschehen im empirischen Charakter vonstatten gehen. Die Umkehrung setzt vielmehr voraus, daß in jenem intelligiblen Charakter, der den Grund des Radikalbösen bildete, eine vollkommene Umlvehrung und damit eine spontane Neu- schöpfung seines ganzen Wesens stattfinde. Diese Tat des intelligiblen Charakters, diese seine freie »Wiedergeburt« ist nun ebensowenig zu begreifen wie der Ursprung des Bösen. Eine Veränderung in der intelligiblen Welt kann nie erkannt werden, weil für sie die Bedingung, unter der allein Veränderungen er- kannt werden können, die Anschauung der Zeit, fortfällt: ja, eigentlich ist sogar schon der Begriff der Veränderung, weil er die Zeit voraussetzt, für die intelligible Welt inhaltlos. Aber geglaubt werden muß die Möglichkeit einer solchen Wiedergeburt, weil ohne sie eine Aufhebung des Radikalbösen und eine Er- füllung des Erlösungsbedürfnisses unmöglich wäre. Ist nun auch nie zu verstehen, wie die Wiedergeburt zustande kommt, so sind doch dem Glauben die Bedingungen davon zugänglich. Der gesamte Kampf gegen das Böse ist bedingt durch die Idee des Outen in uns. Aber auch diese wäre unwirksam, wenn wir nicht von ihrer Realisierbarkeit überzeugt wären. Die erlösende Macht kann also nur in der Lebendigkeit bestehen, mit welcher das Ideal eines absolut guten und vollkommenen Menschen in unserem Bewußtsein wirkt. Diese Vorstellung des sittlichen Ideal- menschen und der Glaube an seine Realität ist deshalb die wahre Bedingung zur Herbeiführung der Wiedergeburt. Insofern als in diesem Ideale die göttliche Weltordnung zur vollen Herr- schaft gekommen ist, ist es die Vorstellung eines götthohen Menschen oder des Gottmenschen, und insofern als dies Ideal eben dasjenige unserer eigenen praktischen Vernunft ist, bildet der Gottmensch die erlösende Kraft, durch welche die Wieder- geburt herbeigeführt wird. In diesem sittlichen Menschheitsideal

138 Kants praktische Philosophie.

und in dem Streben nacli seiner Herbeiführung werden die Schwäclien der Individuen versöbnt und ibre Sünde gesübnt. Die praktische Liebe zu diesem Ideale tritt stellvertretend ein für die an sich untilgbare Schuld, welche das Kadikalböse auf sich geladen hat.

In diesem Geiste gibt Kant seine moralphilosophische Deutung der Grundlehren des Christentums. Er ist weit entfernt von jener Yerständnislosigkeit, mit welcher der landläufige Rationalismus ein paar metaphysische Begriffe zu populärem Moralisieren ausbeutete. Mit dem ganzen Ernst seiner tief sittlichen Natur begreift er das Bedürfnis der Erlösung als einen notwendigen Trieb der menschlichen Vernunft, begreift in tiefsinniger Weise die Formen, welche es aus rein sittlichen Gründen annehmen muß, und zei^t, daß gerade die Unterscheidun2:slehren des Christen- tums mit diesen Formen identisch sind. Er kennt keine Natur- religion als rationale Erkenntnis. Aber er hält auch das religiöse Leben nicht für illusionär, sondern für einen notwendigen Aus- fluß der sittlichen Vernunftbetätigung, und er begreift im be- sonderen, daß das Christentum als das höchste Produkt der Ent- wicklung des religiösen Lebens dessen wahren Kern zu seinem tiefsten Gehalte gemacht und die Ideen des vernünftigen Glaubens symbolisch in seinen Dogmen niedergelegt hat. In diesem Sinne steht Kant, wie schon Lessing, der spekulativen Theologie, welche die Mystik des Mittelalters und der Reformationszeit zu entwickeln suchte, verhältnismäßig sehr nahe, nur daß es niemals theoretische Erkenntnisse, sondern immer nur Bedürfnisse des sittlichen Glaubens sind, die er als den allgemeinen und notwendigen Inhalt der posi- tiven Formulierungen nachzuweisen suchte. Deshalb waren die Rationalisten über das intime Verhältnis seiner Religionsphilosophie zum positiven Christentum enttäuscht. Während sie selbst die Mysterien des Christentums verwarfen, sah Kant gerade darin den symbolischen Ausdruck sittlicher Vernunftbedürfnisse. Je mehr ihnen die Begründung der Religion auf Moral sympathisch war, um so mehr scheuten sie davor zurück, daß Kant diese Be- gründung im vollen Ernste nahm, daß er sich nicht mit den Redensarten von Gottgefälligkeit und Vervollkommnung im un- sterblichen Leben begnügte, sondern die unergründlichen Geheim- nisse aufdeckte, welche das sittliche Bewußtsein mit seinen Be-

I{» ^,'riff der Kirrhe. 139

(liirfnissoii und seinem OlauIxMi in »ich trügt, und daß er diese (Vhcimnisso dann in der positiven Religion wiederfand, die jene abueschütlelt zu haben glaubten, und deren Ernst sie in Walir- heit nie begriffen hatten.

Aber auch liier erhellt Kants Stellung über den Parteien aus der nicht minder begründeten Antipathie, womit der konfessionelle Orthodoxisnius die »Religion imierhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« aufnahm und verfolgte. Denn wie das rationale, so wies der Philosoph auch das positive Element in seine Schranken zurück. Weshalb treten denn, mußte gefragt werden, die Grund- sätze des Vernunftglaubens nicht in der rein moralischen, sondern in der positiven Form der Dogmen auf? Der Grund ist, antwortet Kant, die sittliche Schwäche der menschlichen Natur. Der Mensch ist unfähig, dem sittlichen Trieb allein zu folgen, solange ihm dieser nur in der ehernen Majestät des Sittengesetzes entgegen- tritt. Er vermag es nicht zu befolgen, solange er es nur als das selbstgegebene Gesetz auffaßt, was es in Wahrheit allein sein kann. Es wird für ihn erst dadurch motivkräftig, daß 3r es sich in der Form göttlicher Gebote vorstellt. Nun ist diese Vorstellung als Glaube berechtigt, wenn sich auch gezeigt hat, daß für die philo- sophische Begründung Gebote immer nur deshalb als göttlich gelten können, weil sie als'^ sittlich erkannt sind, und niemals um- gekehrt. Aber der Mensch in seiner empirischen Motivation und in dem wirklichen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Leben muß den Glauben an ihren göttlichen Ursprung als eine die Wirkung des Sittengesetzes unterstützende Triebfeder benutzen. Hier liegt der Ursprung und die Berechtigung für alle weiteren Formen, welche unter Mitwirkung empirischer Vorstellungsmomente der reine Vernunftglaube in den positiven Religionen angenommen hat. Allein dieses Moment würde für sich nur zur Ausbildung individueller Überzeugungen auf dem Gebiete des religiösen Lebens führen. In Wahrheit handelt es sich um die Betätigung des praktischen Glaubens in der menschlichen Gemeinschaft. Daraus entsteht das Vernunftbedürfnis, daß diejenigen, welche in diesem Glauben miteinander einig sind und leben wollen, einen ethischen Staat miteinander bilden: die Kirche. Dem Begriffe nach oder dem Glaubensideale nach ist diese eine allgemeine und notwendige sittliche Gemeinschaft aller wiedergeborenen Menschen. Es ist.

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140 Kants praktische Philosophie.

wie Kant sagt, das Reich Gottes auf Erden. Diese Herrschaft der sittUchen Weltordnung im irdischen, sinnlichen Leben der Er- scheinung ist das höchste Gut unter dem Gesichtspunkte der religiösen Entwicklung der Menschheit in der Geschichte. Es ist das höchste Gut für die Gattung, und sein Begriff enthält ebenso wie der des höchsten Gutes für das Individuum, nämlich die Identität von Tugend und Glückseligkeit, das Ideal einer Ver- söhnung des Gegensatzes der beiden Reiche, der Freiheit und der Notwendigkeit, der Sittlichkeit und der Natur.

Allein dies ist das Ideal, an dessen Realisierbarkeit geglaubt werden muß, und das doch in der Erfahrung nicht realisiert wird. In der Erfahrung gestaltet sich die Idee der Kirche zu den em- pirisch begründeten Formen, die in der Geschichte aufgetreten sind. Ihr Verhältnis und ihr Wert bestimmt sich somit nach der Annäherung, welche sie an das Ideal der »unsichtbaren Kirche« enthalten. In dieser Beziehung steht Kant durchaus auf dem historischen Standpunkte von Lessings Erziehung des Menschen- geschlechts, nur mit dem Unterschiede, daß er an die Stelle der Erziehung durch Offenbarung' die Entwicklung des allgemeinen und notwendigen Vernunftbedürfnisses setzt. Die Geschichte der Religionen ist der Prozeß der sittlichen Aufklärung, worin die Menschheit immer vollkommener und immer reiner sich jenes apriorischen Glaubens bewußt wird, welcher in der Organisation der Vernunft selbt begründet ist. Diese Entwicklung gipfelt bisher im Christentum, und sie hat mit dessen Grundlehren das Ziel der vollen Selbsterkenntnis des praktischen Glaubens in symbolischer Form erreicht. Aber dieser Prozeß ist damit nicht abgeschlossen. Die unsichtbare Kirche ist nicht da, und wo die sichtbaren Kirchen sich selbst als den Abschluß dieser Entwicklung fixieren wollen, wo sie sich für mehr halten als für historisch bedingte Erziehungs- anstalten zu der unsichtbaren Kirche, wo das »statutarische Moment«, ohne welches sie in ihrer empirischen Organisation nicht möglich sind, den wahrhaft moralischen Sinn, um deswillen allein es Wert und Bedeutung hat, zu verdrängen sucht, wo aus der Religion des sittlichen Glaubens der Kultiisdienst der Gunst- bewerbung geworden ist : da, sagt Kant, werden die sichtbaren Kirchen zu Brutstätten der Sklaverei und der Heuchelei, Auch Kant vollzieht also wie der Rationalismus eine Kritik der posi-

Mctnpljysik dor Sitten. 141

tiven durch die »reine« Uolipirm. Aber die letztere ißt für ihn nicht ein System natürlicher Wahrheiten, sondern der sittliche (Jlaiibr, welcher mit dem apriorischen Krlösungsbedürfnis d<*8 Menschen auf notwendi<^^e und ^H^'t^'nicingültige Weise verknüpft ist. Ob diese »reine« Reli<^i()n empirisch existiert oder nicht, ist ebenso gleichgültig^ für ihre Geltung, wie die empirische Realität des sittlichen Handelns für die Geltung des Sittengesetzes. Beide, Sittengesetz und Vernunftglaube, sind absolute Ideale, welche die Entwicklung des empirischen Menschenlebens bedingen und seinen Wert beurteilen, ohne jemals darin völlig erreicht zu werden.

Aus der Apriorität des Sittengesetzes folgt also die Metaphysik des Glaubens und in ihrer Anwendung auf das Erlösungsbedürfnis des Menschen die Eehgionsphilosophie. Aber auch eine Meta- physik in dem kritischen Sinne einer apriorischen Erfahrungs- erkenntnis muß sich daraus ergeben, eine Metaphysik der Sitten, welche zwar nicht wie diejenige der Natur eine allge- meine und notwendige Erkenntnis eines wirklichen Geschehens, sondern eine allgemeine und notwendige Gesetzgebung der sitt- lichen Welt enthalten wird. Das Prinzip darin muß die Subsumtion der empirischen Verhältnisse des menschhchen Lebens unter das Sittengesetz und die daraus sich ergebende Ableitung besonderer Imperative sein. Nun verlangt das Sittengesetz von uns Hand- lungen, die aus einer bestimmten Gesinnung hervorgehen sollen. Vom sittlichen Standpunkt aus gesehen, sind Handlungen und Gesinnungen insofern nicht zu trennen, als aus der rechten Ge- sinnimg die rechte Handlung naturnotwendig folgt. Aber in dem lediglich äußeren Zusammenhange des menschlichen Lebens können jene Handlungen ausgeführt werden aus persönlichen Interessen, aus Gewohnheit, durch inneren oder gar äußeren Zwang. Hier ist also die Handlung möglich ohne die Gesinnung. Jener Gegen- satz von Moralität und Legalität teilt danach die Metaphysik der Sitten in zwei Teile. Wenn alles, was das Sittengesetz ver- langt, eine Pflicht genannt wird, so bezeichnet Kant die von demselben erforderten Gesinnungen als Tugen^ pflichten, die von ihm verlangten äußeren Handlungen dagegen als Rechts- pf lichten und behandelt danach gesondert die metaphysischen Anfangsgründe der Tugend- und der Rechtslehre.

Für die Ableitung der besonderen sittlichen Vorschriften zeigt

][42 Kants praktische Philosophie.

sich der kategorische Imperativ nur in der Form des Satzes von der Wahrung der Menschenwürde, aber in dieser auch völüg ausreichend. Er bestimmt positiv und negativ die Richtung von Kants Tugendlehre. Wenn die tugendhafte Gesinnung in der Wahrung der Menschenwürde besteht, so kann es PfHchten ledig- lich zwischen Mensch und Mensch geben. Deshalb schließt die Kantische Lehre Pflichten sowohl gegen höhere als gegen niedere Wesen aus. PfHchten gegen Tiere gibt es nach ihm überhaupt nicht: es ist eine Pflicht gegen uns selbst und unsere Neben- menschen, die Tiere » menschlich « zu behandeln. Von einer Pflicht gegen Gott dagegen kann nur in dem religiösen Glauben, nicht aber in der Sittenlehre die Rede sein, welche die Anwendung des kategorischen Imperativs auf die Erfahrung zu ihrer Aufgabe hat. Auf der anderen Seite teilen sich positiv die deduzierbaren Pflichten in solche ein, welche der Mensch gegen sich selbst, und solche, die er seinen Nebenmenschen gegenüber hat. In der Aus- führung dieses Systems kommt nun die Persönlichkeit Kants in ihren bewunderungswürdigen und in ihren durch das Alter schon bis zur äußersten Schroffheit ausgebildeten Zügen zur Geltung. Der ganze Mann steht vor uns, wenn wir ihn verlangen sehen, daß der Mensch niemals sich selbst wegwerfe, daß er nie sein Recht mit Füßen treten lasse, daß er alles tue, was körperlich und geistig ihn in seinem ganzen sittlichen Werte aufrecht er- halten und befördern soll. Charakteristisch ist es dabei, daß Kant unter diese Pflichten des Menschen gegen sich selbst auch die Wahrhaftigkeit rechnet. Nicht etwa in schädlichen sozialen Folgen, sondern darin allein sucht er die Verwerflichkeit der Lüge, daß sie den Menschen vor sich selber schändet, daß sie in ihm das Gefühl seiner sittlichen Würde rettungslos untergräbt. Den Wert der Wahrhaftigkeit schätzte er so hoch, daß er diese Pflicht des Menschen gegen sich selbst sogar über die Pflichten gegen andere zu stellen keinen Anstand nahm. In einem eigenen Schriftchen entwickelt er, daß es kein sittliches Recht gäbe, »aus Menschenliebe zu lügen«, daß selbst die Rettung eines Freundes aus sicherer Todesgefahr nicht durch eine Lüge erkauft werden dürfe. Denn es sei besser, daß das sinnliche Leben eines Menschen zugrunde gehe, als daß die sittliche Würde eines anderen ver- nichtet werde. Auch in seiner Pädagogik, bei deren Ausführung

Tuffoudlohro. 14.*{

er im all<]jcinoiiUMi den RousseauHcheii Unin<lHiitze!i foI;^te, oIhkj sie weiter als durch die feinen Bemerk un^^en seiner tiefen iVlenschen- kenntnis zu fördern, legt er ein llauptj^ewicht darauf, daß das Kind zur Wahrhaftigkeit crzogou und ihm von Anfang an der sittliche Widerwille gegen die Lüge eingepflanzt werde, welche den Anfang aller Laster bilde. Nur, wo das Kind lügt, seien die schwersten, die persönliche Würde beeinträchtigenden Strafen am Platze; als die Folge der Lüge müsse das Kind es fühlen, daß es »nichtswürdig« sei. Bezeichnend ist ferner für den bis ans Wunderliche streifenden Ernst, mit dem Kant das gesamte eigene Leben unter den kategorischen Imperativ stellte, daß er in seinen kasuistischen Fragen sich damit abmühte, festzustellen, in welcher Weise und in welchen Grenzen die Pflichten des Menschen gegen sich selbst bei den kleinen Wechselfällen des Lebens aufrecht zu erhalten seien, und daß er dabei bis zu den Regeln der Diät, der gesellschaftlichen Vergnügungen, der Höflichkeit usw. herab- stieg. Aber so pedantisch diese Betrachtungen klingen mögen, sie sind doch nur der Beweis davon, daß er selbst ausführte, was er als oberstes Prinzip für das gesamte sittliche Leben verlangte: immer und überall sich der Pflicht bewußt zu bleiben, nur nach ihr zu handeln und bei jedem Schritte im praktischen Leben die ernste Selbstprüfung vor dem Gewissen nicht zu versäumen.

In der Behandlung der Pflichten gegen andere tritt der Rigoris- mus Kants noch viel stärker hervor. Hier wehrt er sich vor allem dagegen, denjenigen Handlungen einen sittlichen Wert zuzuerkennen, welche aus einem natürlichen Gefühle hervorgegangen sind; die »Pathologie des Mitleids« gehört nicht in die Moral. Werm ein Mensch anderen wohltut, weil er sie nicht leiden sehen kann, so mag das recht günstige Folgen haben und in dem gemeinsamen Leben recht hoch angeschlagen werden; einen sittlichen Wert hat die Handlung nur dann, wenn sie aus der Gesinnung hervor- gegangen ist, die das Wohltun als eine Pfhcht erkannte und es im Gegensatz zur eio;enen Neiguncr ausführte. An dieser Stelle schreitet Kant in der Tat bis zu der Konsequenz, daß es aus- sieht, als sei für eine wdrküch sittliche Handlung eine recht un- sittliche natürliche Neigung des Individuums die unentbehrliche Bedingung, und als könne die Sittlichkeit gerade am meisten durch die sogenannten guten Neigungen des Herzens gefährdet werden.

144 Kants praktische Philosophie.

In dieser Eichtung zielten die bekannten Schillerschen Epi- gramme gegen den Kantischen Rigorismus, und sie trafen wirklich dessen wunde Stelle. Kants Begriffsbestimmung des sittlichen Lebens setzt einen Sieg des sittlichen Triebes in seinem Kampfe mit dem sinnlichen voraus, und so würde für ihn das Sitten- gesetz dadurch seinen Wert verlieren, daß das Naturgesetz des psychologischen Mechanismus den gleichen Erfolg vorwegnähme. Der Wert des Sittengesetzes und der dadurch bedingten freien Handlung besteht für Kant gerade darin, daß es etwas anderes verlangt, als das Naturgesetz herbeiführen würde. Das Soll hat nur Sinn im Gegensatz zum Muß. Der imperativische Charakter der Kantischen Ethik involviert durchaus eine Auffassung des natürlichen Trieblebens, wonach es, sich selbst überlassen, nicht notwendig, sondern höchstens einmal zufällig zu legalen Resul- taten führen, meistens aber dem Sittengesetz direkt in seinen Folgen , widersprechen würde. Deshalb ist Kant notwendig der Vertreter eines ethischen Pessimismus. In dem unbedingten *^Soll des Sittengesetzes liegt es als Voraussetzung, daß der natür- liche Trieb ihm widerspricht. Der Mensch empfindet das Sitten- gesetz nur deshalb als eine Norm, weil sein natürlicher Trieb sich dagegen auflehnt. Dieser ethische Pessimismus kam in der Lehre vom Radikalbösen zum Vorschein, und er ist es, der Kant prinzipiell von Rousseau trennt, für welchen die ursprüngliche Güte der menschlichen Natur ein unerschütterliches Dogma ge- wesen war.

In der besonderen Ausführung teilt Kant die Pflichten gegen andere in solche der Liebe und solche der Achtung ein und findet schließlich, daß sie sich beide in dem Verhältnisse der Freund- schaft am vollkommensten vereinigen, demjenigen Verhältnisse,

. welchem er als dem reinsten und sittlichsten, das zwischen

Menschen möglich^ sei, ein begeistertes Lob spricht. Indem er so

/ * ^ die Pflichten der Sittlichkeit auf die persönlichen Verhältnisse

^ *'^ der einzelnen Menschen beschränkt, steht seine Moralphilosophie . jy^ ^noch unter der allgemeinen Tendenz des achtzehnten Jahrhimderts,

^\ das den sittlichen Eigenwert des sozialen Lebens prinzipiell nicht zu begreifen vermochte. Auch seine Ethik bleibt daher im letzten Sinne individualistisch: der einzelne Mensch in seiner eigenen sittlichen Arbeit und dem anderen Menschen gegenüber in seinen

RechtB])liilo8ophie. 145

persönliclien Verbilltiiissen, das ist ihm der Gc<^eri8tand der sittlichen Gcsetzj^ebung ; den öffentlichen Institutionen steht auch Kant noch prinzipiell in der Gliederun;^ seiner Lehre mit der Vorstellung gegenüber, daß sie keiye innere, im eigenthchen Sinne sitthche, sondern nur die »legale« Gemeinschaft des menschlichen Lebens enthalten. Und doch hat gerade er in seiner Behandlung der Formen der Gemeinschaft den kräftigsten Anfang gemacht, um den sittlichen Zweck, welchen sie zu erfüllen haben, und die sittliche Grundlage, auf der sie ruhen, auch in der wissenschaft- lichen Behandlung zum Bewußtsein zu bringen.

Dieses eigentümliche Verhältnis tritt besonders darin hervor, daß bei Kant die Beziehungen zwischen der Rechtsphilosophie und der Ethik merkwürdig geteilte und kompHzierte sind. Ver- möge seiner Scheidung von Legalität und Moralität hält er an der von Thomasius und nach diesem von Wolff hervorgehobenen Bestimmung fest, daß die Rechtslehre es nur mit der äußeren Gestaltung des Menschenlebens zu tun habe. In ihr fragt es sich um Handlungen und gar nicht um Gesinnungen. Sie ist das Reich der Äußerlichkeit und des Zwanges. Handlungen können erzwungen werden, Gesinnungen nie. Anderseits aber ist doch auch für Kant das rechtliche Zusammenleben der Menschen eine Betätigung ihres praktischen Wesens, und es muß deshalb auch in ihm das allgemeine Prinzip der praktischen Vernunft zur Geltung kommen. Mit anderer Begründung, in ganz anderen Formen und Formeln tritt also Kant doch schließlich dem Ge- danken von Leibniz bei, daß die Rechtsphilosophie nur einen Teil der allgemeinen praktischen Philosophie zu bilden und von deren Grundprinzipien auszugehen habe, wenn er auch jede An- knüpfung der Rechtslehre an die Moral, d. h. an die Lehre von den besonderen sittlichen Pf hebten des einzelnen Menschen ab- lehnt. Ist es deshalb auch nach Kants Ausdrucksweise kein eigentlich »sittliches« Verhältnis, welches er prinzipiell der philo- sophischen Erklärung des Rechtslebens zugrunde legt, so ist ihm doch auch dieses ein Ausdruck der praktischen Vernunft und aus deren Grundgesetz abzuleiten. Dies Grundgesetz ist das- jenige der Autonomie oder der Freiheit. Freiheit ist für Kant der Zentralbegriff der praktischen Philosophie, sie ist die Grund- lage der individuellen Sittlichkeit, sie ist auch der richtende

Windelband, Gesch. d. n. Philos. II. 10

J^46 Kants praktische Philosophie.

Zielbegriff des gemeinsamen Lebens. Denn in dem letzteren muß die Betätigung der Freiheit der Individuen notwendig Konflikte herbeiführen. Das politische Leben ist der Kampf der Menschen um die Betätigung ihrer Freiheit. Wollte nun jeder die Freiheit nur benutzen, um das sitthche Gesetz durchzuführen, so gäbe es keinen Konfhkt. Aber der Mensch ist böse, seine Freiheit wandelt er in Willkür um, und es fragt sich deshalb, ob es Be- dingungen gibt, unter denen die Willkür des einen gegen die der anderen durch ein allgemeines Freiheitsgesetz abgegrenzt und da- durch jene Konflikte vermieden werden können. Den Inbegriff dieser Bedingungen nennt Kant Kech t.

Hieraus ist sogleich abzuleiten, wie sich Kant zu jener Vor- stellung verhalten muß, welche das Naturrecht mit dem Namen der 'angeborenen Rechte bezeichnete. Angeboren ist dem Menschen nach Kant nichts als die Freiheit und das unveräußerliche Recht ihrer Betätigung, als die Bestimmung und die Kraft, sich selbst das Gesetz zu geben, und das Recht, nach einem solchen Gesetz zu handeln. Alles andere muß auf Grund und vermöge dieser Freiheit erwQrben sein. Aber auch nicht für sich allein kann das Individuum ein Rechtsverhältnis erzeugen, sondern ein solches entsteht erst dadurch, daß es einen Gesamtwillen gibt, der die Betätigung der Freiheit des einzelnen in gewissen Grenzen und so, daß sie diejenige der anderen nicht aufhebt, sanktioniert und da- durch die Ansprüche des einzelnen für die Gesamtheit verbindlich macht. Ein solcher Gesamtwille ist nur möglich durch den Staat, und es gibt deshalb für Kant im eigentlichen Sinne des Wortes ein" Recht ' nur innerhalb des Staates und durch den Staat. Denn es gehört zum Wesen des Rechts, daß seine Gesetze, da sie sich auf den äußeren Zusammenhang des Menschenlebens beziehen, erzwingbar sein müssen, und das sind sie nur durch die Herr- schaft eines in gemeinsamen Institutionen ausgeprägten Gesamt- willens. Alle diejenigen Verhältnisse daher, welche unter den Begriff des sogenannten Privatrechts gehören und die Beziehung des einzelnen Menschen zum einzelnen anderen regeln, kommen zwar schon im Naturzustande vor, aber sie gelten in diesem nur provisorisch und werden erst im Staate » peremtorisch« . Unter diesen privatrechtlichen Verhältnissen behandelt Kant neben dem eachlichen Rechte des Eigentums und dem persönlichen Rechte

Staatslehre. 147

des Vertrages das »(liiiglich-persönlichc« Reclit dor EIk; und der Familie. Diesen Verliältuisseii weiß Kant nur ihre rechtliche Seite abzugewinnen; gegen die .sittliche Bedeutung der Ehe hat er sich in einer Weise unzugänglich gezeigt, die kaum durch den Mangel persönlicher Erfahrung verzeihlich erscheinen kann. Er behandelt die Ehe nur als ein rechtliches Verhältnis, und sie kommt in seiner Moral überhaupt nicht vor. Und doch sind es wiederum sittliche Gründe, Ableitungen aus dem kategorinchen Imperativ und seinem Verbot, den Menschen jemals nur als Mittel zu gebrauchen, auf welche er die Begründung der Monogamie als der einzig rechtüchen Form der Ehe zurückführt.

Für die Lehre vom Staate schließt sich Kant mehr dem Aus- druck als der Sache nach der Vertragstheorie an. Man muß sich ganz auf das Wesen der kritischen Methode besinnen, um diese Lehre nicht mißzuverstehen. Bei den Naturrechtslehrern erscheint die Lehre vom Vertrag als Erklärung des empirisch-historischen Entstehens des Staates; bei ihnen enthält sie die Fiktion, daß die Menschen, nachdem sie die Unmöglichkeit des Naturzustandes eingesehen hatten, miteinander den Vertrag schlössen, den Staat zu bilden, und dem Gesamt willen jeder einzelne zu gehorchen. Für Kant ist ein rechtlich bindender Vertrat nur im Staate selbst möglich. Wenn er daher davon spricht, daß der Staat auf einen Vertrag hinauslaufe, so kann das nur so viel heißen, daß, wenn man für den Staat eine rechtliche Begründung suchen wollte, sie nur in einem Vertrage gefunden werden kann, der ihn selbst sehen voraussetzt. Der Staatsvertrag ist deshalb »die regulative Idee« von einer absoluten Begründung des Staatslebens, welche aber nur in diesem selbst zu finden ist. Das Staatsleben ist die absolute Tatsache des gemeinsamen Menschenlebens und die selbst unbedingte Bedingung für alle einzelnen rechtHchen Formen, worin es sich darstellt. In der besonderen Ausführung der Staats- lehre sieht Kant als das Wesen des Staates das Prinzip der Ge- rechtigkeit an und erwartet die Verwirklichimg der damit gestellten Aufgabe von der Trennung der Gewalten in die gesetzgebende, die ausführende und die richtende. Nur bei dieser Trennung ist die Herrschaft des Gesetzes und der Ausschluß der Ungerechtig- keit möglich. Die Gesetzgebung aber muß der adäquate Aus- druck des Gesamtwillens sein; in der gesetzgebenden Tätigkeit

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148 Kants praktische Philosophie.

muß deshalb jeder Bürger frei und mit gleichem Kechte wie der andere mitwirken. Sie ist rechtlicli nur in der »republikanisclien« Form möglich, aber diese ist mit einer monarchiscben Exekutive in der konstitutionellen Monarcbie nicht nur vereinbar, sondern gewährleistet auch in dieser Verbindung am meisten die faktische Durchführung des Allgemeinwillens. Nur in diesem Sinne be- grüßte Kant mit lebhafter Zustimmung die republikanischen Tendenzen der Neubildung der nordamerikanischen Union und der französischen Revolution. Aber das Staatsideal war für ihn dasjenige Lockes und Montesquieus, und die Republik schien ihm die verdammungswürdigste aller Staatsformen in dem Augenbhcke, wo sie die absolute Geltung der Gesetze preisgibt und der Will- kür der Individuen Spielraum läßt. In der entgegengesetzten Richtung einer reinen Herrschaft des Rechts bewunderte Kant den Staat Friedrichs des Großen, in welchem ihm das Pflicht- bewußtsein des kategorischen Imperativs poHtisch verkörpert entgegentrat. Er fand zugleich in diesem Staate die Bedingung erfüllt, die er für ausreichend hielt, um die Mitwirkung des einzelnen an der Gestaltung des öffentlichen Lebens zu gewähr- leisten: die Freiheit der Meinungsäußerung, die unbeschränkte Publizität.

Die Aufgabe der Staatsgewalt ist jedoch mit der Durch- führung der Rechtsvorschriften noch nicht erschöpft, und ihre Befugnis, in das Leben des Individuums einzugreifen, beschränkt sich nicht darauf, daß die Befolgung der staatlichen Gebote und Verbote durch die äußere Macht erzwungen wird. Zu dem sitt- lichen Begriffe der Gerechtigkeit, den der Staat reahsieren soll, gehört nach Kants Ansicht auch ihre Bewährimg in der Form der Vergeltung. Damit begründet sich das Stra frech t nicht als ein Ausfluß der empirischen Bedürfnisse imd Nötigungen, nicht als ein Mittel, dem Gesetze Achtung zu verschaffen und vor seiner Verletzimg abzuschrecken, auch nicht als ein päda- gogisches Mittel zur Besserung, sondern als der öffentliche Akt der Vergeltung, welche durch die Gerechtigkeit, wie Kant meint, gefordert ist. Das sittUche Bewußtsein verlangt, daß das Ver- brechen durch Leiden gesühnt werde, und diese Sühne muß, weil der einzelne dazu nicht imstande ist, vom Staate vollzogen werden. In diesem strengen Sinne verlangt Kant die Beibehaltung

GeschiclitsphiloiOphio. 149

der Todesstrafe. Wenn die Geiechti«^k'eit untergeht, so hat es keinen Wert mehr, daß Menschen leben. Ohne jede Rücksicht auf die Nützlichkeit ist die Strafe um ihrer sitthchen Notwendig- keit willen zu vollziehen. Kantfi Strafrechtstheorie, so angreifbar ihr Prinzip sein mag, wonach das Gefühl der Vergeltung ein integrierender Bestandteil dos sittlichen Bewußtseins sei, enthält doch anderseits den besten Beweis davon, daß ihm der Staat nicht nur ein Mechanismus für die Einrichtung des äußeren Zu- sammenlebens der Menschen, sondern im tiefsten Sinne eine Institution der praktischen Vernunft, ein Produkt der Sittlichkeit war. Seine ganze Staatslehre führt auf den Grundgedanken hinaus, daß das Rechtsleben eine Ordnung des äußeren Zusammen- lebens der Menschen nach den Prinzipien der sittlichen Vernunft sein soll.

Er tritt gerade damit in den lebhaftesten Gegensatz gegen alle früheren Theorien, welche den Zweck des Staates immer in der Richtung des Eudämonismus gesucht hatten, mochten sie die individuelle oder die soziale Glückselio^keit zur Richtschnur nehmen. Von diesem Gesichtspunkt aus vertiefte sich aber zu- gleich für Kant die Auffassimg der Geschichte. Und wenn nicht in der Ausführung, so hat er in der prinzipiellen Grundlegung der Geschichtsphilosophie die wichtigste Förderung dadurch gegeben, daß er die naturalistische Auffassung Herders, wie er sie in ihrer Einseitigkeit bekämpfte, seinerseits durch einen höheren Gesichtspunkt ergänzte. Auch Kant muß anerkennen, daß es in der Geschichte sich um einen in seinen einzelnen Fortschritten durchaus naturnotwendig bedingten Prozeß handelt, daß also das Prinzip der natürlichen Entwicklung das einzige ist, nach welchem der Zusammenhang der einzelnen Tatsachen erkannt werden kann. Aber für ihn soll die »Philosophie der Geschichte« mehr leisten als die bloße Zergliederung des viel verschlungenen Gewebes, das ihren Gegenstand bildet. Es ist der Mensch, der sich in ihr entwickelt, und der Mensch ist nicht nur die Blüte der sinnlichen Welt, sondern zugleich ein Glied der übersinnlichen. Seine Ent- wicklung muß daher auch unter dem Gesichtspunkte des Zwecks betrachtet werden, der die Grundkategorie der sitthchen Welt ausmacht. Die Geschichte ist philosophisch nicht zu verstehen, wenn man nicht ihr Ziel kennt. Erst aus der Kenntnis der

150 Kants praktische Philosophie.

Aufgabe, die durch diese Entwicklung erreicht werden soll, ist die Möglichkeit einer Beurteilung davon gegeben, ob die einzelnen Bewegungen wirkliche Fortschritte oder Kückschritte waren. Ge- schichtsphilosophie als Beurteilung des historischen Prozesses gibt es nur unter dem teleologischen Gesichtspunkte. Der Naturalismus wendet ihn heimlich an; aber sein teleologischer Gesichtspunkt ist dabei die Glückseligkeit in gröberer oder feinerer, in indivi- dueller oder sozialer Form: bei Kant ist der Zweck der Geschichte der sittliche. Auf der anderen Seite aber muß man sich aus demselben Grunde klar machen, daß von jenem allmählichen Übergange aus der Natur in die sittliche Welt, den Herder als echter Leibnizianer in seinen »Ideen« darzustellen gesucht hatte, bei der Kantischen Auffassung des Gegensatzes der sinnlichen und der übersinnlichen Welt keine Kede sein konnte. Hier verlangten die Grundbegriffe seines Systems von ihm eine ganz andere Formulierung der Fragen und der Antworten, und in jenen kleinen Schriften, die diese Fragen behandeln, ist die ganze Überlegenheit, mit welcher Kant die Prinzipien der Aufklärung zugleich zu den seinigen machte und in ihre Schranken zurück- wies, am klarsten erkennbar. Er stand hier vor dem größten Problem, welches die Geister des XVIH. Jahrhunderts bewegte, vor der Frage nach dem Verhältnis der menschlichen Kultur zur Natur. Die Herrschaft des Eudämonismus hatte die Antwort darauf immer in der Richtung ausfallen lassen, daß die Bedeutung, der Ursprung und der Zweck der Kultur in der Herbeiführung einer größeren Glückseligkeit bestehen müsse, als die Natur dem Menschen als Sinneswesen ursprünglich zu gewähren imstande sei. Und diese Antwort hatte schließhch in Rousseau zu der Einsicht geführt, daß die Kultur diesen Zweck verfehle, daß sie schlimmer sei als der Naturzustand, und daß man des- halb mit ihr brechen müsse, um einen neuen und besseren Weg einzuschlagen. Diese Gedanken des Genfer Philosophen hat Kant in ihrer ganzen Energie aufrecht erhalten, und er hat sich über die Rousseausche Auffassung nur dadurch erhoben, daß er aus seiner Philosophie selbst einen anderen Begriff der Kultur mit- brachte.

Kultur ist eine bewußte Arbeit des menschlichen Willens und hat daher ihren Wert in dessen sittHchem Charakter. Wenn von

Anfang und Ziel der Welt^CHcliichte. 151

einem KaturzuBtiinde des Menachen die Rede sein soll, so hat das nur insofern Sinn, als man sich das natürliche, auf die Glück- seligkeit gerichtete Trieblebeu noch ohne jedes Bewußtsein einer sittlichen Aufgabe denkt. Dieser Zustand ist derjenige der ab- soluten Unschuld, der paradiesische Zustand. Er ist keine Tat- sache der Erfahrung. Aber wenn man ihn und Kant tut es mit Rousseau als der Kultur vorhergegangen denkt, so ist eine allmähliche Entwicklung des sittlichen Bewußtseins aus diesem natürlichen Triebzustande nicht zu begreifen. Die Erkenntnis des Sittengesetzes ist eine einmalige; sie kann nur darauf beruhen, daß es an seiner Übertretung zum Bewußtsein kommt. Wenn das Radikalböse in der menschlichen Natur zumDurchbruch kommt, dann muß damit auch das Gewissen und das Bewußtsein der sittlichen Aufgabe erwachen. Der »mutmaßliche Anfang« der Weltgeschichte, d. h. die durch die Erfahrungserkenntnis zwar ermöglichte, aber nicht zu begründende Idee eines solchen Anfangs ist der Durchbruch des Radikalbösen, die Auflehnung gegen das in dieser Auflehnung selbst zum Bewußtsein kommende Sitten- gesetz, — es ist der Sündenfall. Und nachdem so das sittliche Bewußtsein entsprungen ist, bildet die ganze menschliche Ge- schichte nur die Arbeit des Willens, diesem Sittengesetze an- gemessen zu werden. Mit dem Sündenfall ist der Naturzustand verloren, und für immer verloren. Denn das sittliche Bewußtsein, einmal vorhanden, kann niemals zugrunde gehen. Aber mit dem Naturzustande ist auch die unbefangene Erfüllung des Glückselig- keitstriebes für immer dahin. Aus dem Paradiese vertrieben, er- fährt der Mensch das Leid der Arbeit. Nun beginnt der Anta- gonismus der Kräfte, nun verschränkt sich und drängt sich das Spiel des gesellschaftlichen Lebens, nun wächst die Tugend und mit ihr das Laster. Immer schärfer werden die Kräfte ange- spannt, aus der Lösung jeder Aufgabe entspringt eine schwierigere, und während die sittliche Arbeit ihrem Ziele, wenn auch unsäg- lich langsam und dabei nicht einmal stetig entgegenrückt, kom- plizieren sich die äußeren Verhältnisse des Menschenlebens der- artig, daß das Glück des Individuums immer zweifelhafter und immer seltener wird. Jeder Gewinn an der sittlichen Kultur wird durch einen Verlust an der natürhchen Glückseligkeit des In- dividuums erkauft. Die sittliche Arbeit des Menschen ist nur

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152 Kants praktische Philosophie.

möglich als Resignation auf seine natürliche Glückseligkeit. Die Kultur mit ihrer ganzen Arbeit und dem ganzen Leid, das not- wendig und in stets steigendem Maße mit ihr verknüpft ist, wäre darum in der Tat, wie sie für Rousseau erschien, eine Torheit und ein Frevel an dem Glück des einzelnen, wenn die Glück- seligkeit' die Bestimmung des Menschengeschlechts wäre, und wenn nicht mit diesem Verzicht auf das paradiesische Glück das höhere, das absolute Gut der Sittlichkeit gewonnen würde. Der Trost dafür, daß der einzelne bei dieser Kulturarbeit verliert, kann nur darin bestehen, daß das Ganze gewinnt. Aber dieser Gewinn des Ganzen liegt nicht in der Glückseligkeit, sondern in der Herbei- führung des sittlichen Zwecks. Denn von einem Wachsen der Gesamtglückseligkeit bei steigendem Unglück aller einzelnen zu sprechen, wie es wohl geschehen, ist eine Absurdität. Nun ist das höchste Prinzip aller Sittlichkeit die Freiheit. Wenn es daher einen Zweck geben soll, der die Kultur begreiflich macht und ethisch so rechtfertigt, daß um seinetwillen ihre notwendigen Schäden ertragen werden müssen, so ist es die Freiheit. Die menschliche Geschichte ist die Geschichte der Freiheit. Aber die Geschichte ist der Prozeß des äußeren Zusammenlebens vernünftiger Wesen. Ihr Ziel ist deshalb das politische, es ist die Herbeiführung der Freiheit in der vollkommensten Staats- verfassung. Dieses Ziel würde nicht erreicht sein, wenn etwa nur ein Staat mit seinen Institutionen dabei angekommen wäre. Denn er stände dann jeden Augenblick in Gefahr, von anderen Staaten darin gestört zu werden. Der gegenwärtige Zustand, worin sich die Staaten miteinander befinden, ist ein Naturzustand, ein Naturzustand des Kampfes, in welchem alle Mächte der ünsitt- lichkeit ihr Wesen treiben. In ihm hat der Krieg nur insofern einen sittlichen Rechtsgrund, als ein Volk in seiner staathchen Existenz bedroht ist und diese verteidigt. Die Möglichkeit solcher Bedrohung wäre nur dann ausgeschlossen, wenn es einen wirk- lichen Rechtszustand der Staaten untereinander gäbe, wenn die Idee des yölker rechts verwirklicht wäre. Sie wäre es nur dann, wenn alle Staaten miteinander einen Bund bildeten, der als oberster Gerichtshof ihre Streitigkeiten entschiede. An der Notwendigkeit der besonderen Staatenbildung hält Kant den kosmopolitischen Träumereien einer Universalrepublik gegenüber auf das ent-

Kritik (li;r Aufklärung. 15.'{

schiedenste fest, ohne jedoch dafür eine nationale Begründun;^ zu suchen. Für ihn beschränkt sich das Weltbürgcrrecht auf die allgemeine llospitalilät und Freizügigkeit, und auch dieser Zu- stand, worin der Bürger des einen Staates nicht mehr, wie es im Naturzustande geschieht, in dem andern als Feind angesehen werden soll, ist in seiner Vollkommenheit nui- durch den Staaten- bund rechtmäßig herbeizuführen. In einen solchen Bund würden U^^ aber nur solche Staaten eintreten können, in denen nicht nur über die innere Gesetzgebung, sondern auch über die Fragen der äußeren Politik lediglich der Wille des Volkes entschiede. Eine )>republikanische« Verfassung aller Staaten und ein schiedsrichter- licher Bund derselben untereinander würden deshalb die Be- dingungen des »ewigen Friedens« sein, welchen Kant als das »höchste politische Gut« in der unendlichen Ferne des Endes der Weltgeschichte sieht. Weit entfernt von der utopistischen Schwärmerei, dieses Ende in dem gegenwärtigen Zustande für herbeiführbar zu halten, legt Kaut diesen idealen Zweck als den Maßstab an, nach dem allein der Wert der weUgeschichtlichen Begebenheiten beurteilt werden kann. Es ist immer derselbe Lessingsche Gesichtspunkt, unter dem auch Kant die Geschichte '^' der Rehgionen, unter dem er das sittliche Leben des Individuums nnd unter dem er die gesamte Kulturentwicklung des mensch- lichen Geschlechts betrachtet. Die sittliche iVufgabe des einzelnen und die historische Entwicklung der Gattung haben dasselbe Ziel: die Realität der Freiheit in der Sinnenwelt. Aber dies Ziel ist eine Idee, deren Verwirklichung in der Unendlichkeit liegt, und welche die Erfahrung nie realisiert sehen kann. Die Herrschaft der einen unsichtbaren Kirche, das Reich Gottes auf Erden, die sitthche Vollkommenheit des Individuums und der ewige Frieden der Staaten, sie liegen alle an ein und demselben Punkte: an dem Schneidepunkte der Parallelen.

In dem ^ttlichen Maßstabe, den er an die Beurteilung aller Entwicklung legt, und in dem Prinzip der nie endenden Arbeit für ein in der Erfahrung unerreichbares Ziel besteht Kants Größe der Aufklärung gegenüber. Er teilt mit ihr die unerschütter- liche Überzeugung, daß es keine Wahrheit gibt, an die der Mensch glauben darf, als diejenige der Vernunft, und behauptet deshalb, daß die philosophische Erkenntnis die kritische Norm für alle

154 Kants ästhetische Philosophie.

positiven Fakultäten bildet. Aber wenn das XVIII. Jahrhundert die Vernunftwahrheit in der theoretischen Erkenntnis zu besitzen meinte, so zerstört Kant diese Illusion, und wenn die Männer, die sich für die Aufgeklärten hielten, diese ihre vermeintliche Er- kenntnis als ein neues Dogma predigten, so tritt Kant dieser Anmaßung der » Auf klär er ei « auf das schärfste entgegen. Gerade durch solchen starren Kationalismus beweist das Zeitalter, daß es kein aufgeklärtes ist. Aber es enthält in sich die Anlagen, es zu werden. Je mehr das Prinzip zum Durchbruch kommt, daß der wahre Besitz der Vernunft nur der selbsterworbene ist, daß nicht die Aimahme sogenannter freisinniger Meinungen, sondern viel- mehr die selbstprüfende Arbeit des Denkens das Wesen des sich aufklärenden Geistes ausmacht, um so mehr reift die mensch- liche Vernunft der sittlichen Bestimmung entgegen, die den tiefsten Gehalt auch ihres Erkenntnislebens bildet. Nicht Ansichten und Theoreme, sondern Absichten und Zwecke sind es, welche über die Erfahrung hinaus dem Triebe der Vernunft genugtun. In ihnen sich einig zu wissen, an ihrer Durchführung mit dem vollen Bewußtsein der Menschenpflichten zu arbeiten und in dieser Arbeit sich mit einer höheren Weltordnung im lebendigen Zusammen- hange zu glauben : das und das allein ist wahre Aufklärung. Wenn Kant es aussprach, daß in diesem Sinne sein Zeitalter ein Zeit- alter der Aufklärung sei, so konnte er es nur insofern sagen, als er selbst mit seiner Philosophie ihm diesen Charakter aufprägte und es über sich selbst emporhob.

§ 61. Kants ästhetische Philosophie.

Die Weltanschauung des Kritizismus charakterisiert sich vor allen anderen dadurch, daß ihre Wurzeln mit vollem und mit wissenschaftlich sich b ergründendem Bewußtsein nicht lediirlich in der theoretischen, sondern hauptsächlich in der praktischen Ver- nunft liegen. Daraus aber entspringt ihr dualistischer Charakter. Der Dualismus von Ding an sich und Erscheinung, von über- sinnlicher und sinnlicher Welt, der sich dm^ch Kants ganze Lehre hindurchzieht, ist derjenige von praktischer und theoretischer Ver- nunft. Aber es wäre nach jeder Kichtung unrichtig, zu behaupten, daß die Kantische Lehre in diesem Dualismus aufgehe. Seine Überzeugung von der innersten Identität dieser beiden Formen

Überwindung des Dualifimu«. 155

der menschlichen Vcrnunfttätigkoit tritt an allen Stellen seiner Lehre hervor. Die gesamte Arbeit der theoretischen Vernunft zeigt sich zuletzt durch die Aufgaben bestimmt, welche ihr die praktische setzt, und die Enerfj^ie der sittlichen Aufgabe findet anderseits ihre Begründung gerade in dem Widerspruche, worin sie zu der sinnlichen Natur des Menschen steht. So weisen in allen ihren Ausgestaltungen die praktische und die theoretische Vernunft stets aufeinander hin und deuten miteinander auf eine Einheit, die in keiner von beiden allein vollständig zum Austrag kommt. In der theoretischen Vernunft hat nur der sinnliche Mensch seine volle Geltung, nur er ist das Prinzip der Erkenntnis, und der übersinnliche erscheint nur als eine problematische Grenz- bestimmung. In der praktischen Vernunft gebietet der übersinn- liche über den sinnlichen, aber er findet in dem letzteren eine nur am unendlichen Ziele zu überwindende Schranke für die Er- füllung seines Zwecks. So einander bestimmend und beschränkend, verlangen die theoretische und die praktische Vernunft den Be- griff einer einheitlichen Funktion, worin ihre ursprüngliche Iden- tität, vermöge deren allein sie jene Beziehungen entwickeln konnten, selbst zum Ausdrucke kommt. Gäbe es nur theoretische und praktische Formen und Tätigkeiten der Vernunft, so wäre deren inniges Ineinandergeflochtensein, welches die Kantische Lehre an allen einzelnen Punkten aufgedeckt hat, die rätselhafteste aller Tatsachen. Daher beruht der Abschluß, den Kants Philosophie in der Kritik der Urteilskraft gefmiden hat, nicht etwa in seinem persönlichen Triebe zum Systembau, sondern der »systematische Faktor« ist in seiner tief sachlichen Begründung das eigentlich entscheidende und vollendende Prinzip der Kantischen Philosophie, ohne dessen Verständnis und Anerkennung man nur die disiecta membra philosophi vor sich hat.

Die Überwindung des Dualismus ist nun aber nur in einer Vernunftfunktion zu suchen, an der das theoretische und das praktische Leben gleichmäßig beteiligt sind, und welche doch beiden gegenüber eine ursprüngliche Eigenhaftigkeit behauptet. Hier be- greift man, weshalb Kant sich jenen Bestrebungen der empirischen Psychologie anschloß, die neben dem Vorstellen und dem Begehren eine dritte Grundfunktion der menschlichen Psyche unter dem Namen des Gefühls einzuführen im Begriffe war. Empirisch zeigt

150 Kants ästhetische Philosophie.

das Gefülil die erforderte Doppelbeziehung auf die beiden anderen Tätigkeitsweisen. Es enthält einen Vorstellungsinhalt und setzt diesen in mehr oder minder ausgesprochener Weise mit einem Zweck in Beziehung, der eine Form des Begehrens darstellt. Der Dualismus der Kantischen Lehre war daher nur dadurch zu über- winden, daß sich eine Vernunftform des Gefühls, d. h. eine^^all- gemeine und notwendige Gefühlstätigkeit nachweisen ließ , und neben die beiden Fragen: gibt es Erkenntnisse a priori, und gibt es Begehrungen a priori, trat die dritte: gibt es Gefühle

a priori? '-''\ " ■"'

Die Kritik der Urteilskraft, welche die Lösung dieser Auf-' gäbe zum Gegenstande hat, gibt ihr noch eine andere Formulierung, die zu gleicher Zeit ihren Gegenstand erweitert. Zwei Welten stehen sich in der Kantischen Weltauffassung gegenüber, die sinn- liche und die sittliche. Die eine ist die Welt der Erkenntnis, die andere diejenige des Glaubens. Die eine ist das Reich der Natur, die andere ist das Reich der Freiheit; in der einen herrscht die Notwendigkeit, in der andern der Zweck. Ein absoluter Dua- lismus, der zwischen beiden eine unüberschreitliche Kluft be- festigte, ist durch die Tatsache des menschlichen Bewußtseins widerlegt, das mit seiner einheitlichen Funktion sich in beiden gleich heimisch weiß. Können sie aber so unmöglich beziehungs- los einander koordiniert werden, so ist zwischen beiden nur da- durch eine Vereinigimg zu finden, daß die eine der andern unter- geordnet wird. Nun kann in der Kantischen Philosophie kein Zweifel darüber sein, wie sich bei dieser Unterordnung die Rollen verteilen sollen. Aus der Unterordnung der praktischen unter die theoretische Vernunft haben sich alle Irrtümer der früheren Philo- sophie ergeben. Aus ihr folgte die verfehlte Tendenz, die Moral auf eine Metaphysik zu gründen, die nicht mögüch ist. Aus ihr folgte die fatalistische Meinung, daß, was man für Freiheit hält, nur eine Art der Notwendigkeit sei, aus ihr der ganze Naturalis- mus, welcher die Welt der Zwecke als ein Produkt der natür- lichen Notwendigkeit angesehen haben will. In der Tat kann man alle die Gegensätze, welche in den einzelnen Lehren zwischen Kant und z. B. Leibniz oder Hume obwalten, darauf zurück- führen, daß bei den letzteren die theoretische, bei dem ersteren dagegen die praktische Vernunft den Primat über die andere

llelloktitTümio UrtoilHkraft. 157

führt. Die A'orlc^^uii;^ {\v>^ [)liil(».s()pliis('hen StuiidpiinkU'H jiuh der theoretischen in die tMaktische Vernunft ist vielleicht der schürfste Ausdruck für die totale Umwälzun«;, die in der Geschichte dea modernen Denkens an den Nansen Kants «zekiiüpft ist.

Die Unterordnun<jj der sinnlichen unter die sittliche Welt ist nun eine Forderun«j; der praktischen Vernunft, welche im Handeln des Menschen niemals vollständig erreicht wird. Es fragt sich, ob nicht auch unsere vorstellende Tätigkeit dieser Forderung ge- recht werden und wir damit zu einem unmittelbaren Bewußtsein von der Einheitlichkeit unseres vernünftigen Wesens gelangen können. Es fragt sich, ob wir das Reich der Natur dem Reiche der Freiheit untergeordnet denken können, und ob es, notwendige und allgemeingültige Formen gibt, in denen dies sogar geschehen muß. Von vornherein ist aber klar, daß diese Unterordnimi»; niemals eine Funktion der Erkenntnis sein kann. Denn die Erkenntnis reicht an die sittliche Welt nicht heran und kann deshalb auch kein Verhältnis der sinnlichen zu ihr erfassen. In Kants psychologischem Schema wird die Unterordnung all- gemein mit dem Namen der Urteilskraft bezeichnet. Insofern diese rein theoretischen Charakters sein soll, muß sie entweder logisch einen Begriff einem Gattungsbegriffe oder transzendental eine sinnliche Anschauung einer Kategorie subsumieren. In beiden Fällen gibt sie eine notwendige Bestimmung für die Erkenntnis des Gegenstandes. Dieser »bestimmenden« Urteilskraft gegenüber nennt Kant die reflektierende Urteilskraft diejenige, ver- möge deren wir einen Gegenstand, ohne damit seine Erkenntnis zu erweitern, einem Gesichtspunkte der Betrachtung unterwerfen, deren Prinzip wir nicht der Erkenntnis des Gegenstandes ent- nehmen, sondern an ihn von uns aus heranbringen. Die Er-~ kenntnis bestimmt den Begriff eines Naturereignisses, indem sie es aus seinen Ursachen erklärt und allgemeinen Gesetzen unter- ordnet; wenn wir dagegen dasselbe Ereignis als^ angenehm oder -unangenehm bezeichnen, so ist dies nur eine Art der Betrachtung, welche wir von imserm Bedürfnis aus an den Gegenstand heran- bringen, und womit wir die theoretische Auffassung durch die reflektierende Urteilskraft überschreiten. Es ist nun klar, daß alle diese Reflexionen auf das innigste mit den Gefühlen zu- sammenhängen, die wir den erkannten Gegenständen gegenüber

j[58 Kant8 ästhetische Philosophie. *

haben. Jedes Gefühl ist ein Akt der Synthesis, wodurch wir die Vorstellung eines Gegenstandes auf unseren subjektiven zweck- setzenden Zustand beziehen. In diesem Sinne ist die Kritik der reflektierenden Urteilskraft eine Untersuchung über die apriorischen Formen des Gefühlslebens.

Jedes Gefühl enthält entweder Lust oder Unlust. Dieses »Ent- weder oder« kann nur darauf beruhen, daß der Gegenstand, auf den sich die mit dem Gefühl verbundene Vorstellung bezieht, irgend einem Bedürfnis entpricht oder nicht entspricht. Im all- gemeinsten Sinne bezeichnen wir diese Bedürfnisse als Zwecke, und es ergibt sich daraus, daß alles Zweckmäßige mit einem Lustgefühl, alles Unzweckmäßige mit einem Unlustgefühl ver- knüpft ist. In jedem Gefühl haben wir eine Unterordnung des vorgestellten Gegenstandes imter einen Zweck. Die reflektierende Urteilskraft also, in ihrer empirischen Gestalt zunächst mit dem Gefühlsleben identisch, läßt uns die höhere Einheit unseres geistigen Gesamtwesens darin erkennen, daß sie einen Gegenstand der Er- kenntnis einem Zwecke unterordnet. Aber diese empirischen Re- flexionen würden, als vollständig willkürlich und subjektiv, niemals notwendigen und allgemeingültigen Charakters sein können. Von der Apriorität jener Vernunfteinheit können wir uns nur dann überzeugen, wenn es notwendige und allgemeine Reflexionen gibt, die mit ebenso notwendigen und allgemeinen Gefühlen verbunden sind.

In der Tat machen wir den Anspruch, solche zu haben. Es gibt zwei Arten eines solchen Verhaltens unserer Vernunft, und sie unterscheiden sich dadurch, daß in der einen Art das Be- trachten, in der andern Art das Fühlen überwiegt. Die eine Art hat daher mehr Verwandtschaft mit unserer theoretischen Tätig- keit und ist in Gefahr, für eine Erkenntnis gehalten zu werden. Erst in der andern tritt das Wesen des Gefühls vollkommen rein hervor.

Die ganze Tätigkeit der reflektierenden Urteilskraft läuft darauf hinaus, die natürlichen Gegenstände unter dem Gesichtspunkte der Zweckmäßigkeit zu betrachten. Darin besteht die Unter- ordnung der Natur unter die Grundkategorie des Reiches der Freiheit. Aber diese Zweckmäßigkeit stellt sich in unserer Be- trachtung entweder so dar, daß wir den Gegenstand, abgesehen

Teleologisclio und Usthetisclie Urteilskrafl. 159

von seiner Wirkung auf uns a('ll).st,^zweikmäßi^ nennen, oihtt so, daß wir seine Wirkung auf uns als eine zweckmäßige fühlen und ihn in diesem Sinne^ schön^" oder erhaben 'nennen. Im crsteren FaUe handelt es sich uni objektive, im zweiten um subjektive Zweckmäßigkeit der natürlichen Gegenstände. Im erstcren Falle verfährt die Urteilskraft teleologisch, im letzteren Falle ästhe- tisch. Im erstercn Falle liegt der Schwerpunkt des Verhaltens in der verstandesmäßigen Auffassung der Beziehungen des Gegen- standes, den wir als zweckmäßig beurteilen, und das Gefühl des Wohlgefallens knüpft sicli nur nebensächlich daran. Im zweiten Falle liegt das Ursprüngliche in der Gefühlswirkung auf uns, und erst in der analytischen Untersuchung kommen uns die Zweck- mäßigkeitsverhältnisse ausdrücklich zum Bewußtsein. Offenbar aber funktionieren wir in beiden Fällen weder rein theoretisch noch rein praktisch, sondern derartig, daß wir die Gegenstände nach Gesichtspunkten betrachten, die aus imseren Bedürfnissen, seien es auch allgemeine und notwendige, hervorgehen. Insofern als wir jetzt gewöhnt sind, ein solches Verfahren im allgemeineren Sinne als ästhetisch zu bezeichnen, darf dieser gesamte Teil der Kantischen Lehre den Namen seiner ästhetischen Philosophie tragen, um so mehr, als eine den beiden anderen Teilen der kritischen Philosophie ebenbürtige Selbständigkeit nur in Kants Ästhetik liegt, während seine Lehre von der Teleologie eine etwas zweifelhafte Mittelstellung zwischen der theoretischen und der im weiteren Sinne ^ästhetischen^ Funktion einnimmt. Insofern die teleologische Betrachtung nur Betrachtung und nicht Erkenntnis enthalten soll, bleibt sie ästhetische Funktion. Insofern aber, als sie die Zweckmäßigkeit im Gegenstande sucht und ihre Objek- tivität behauptet, wird sie theoretischen Charakters und ist nur schwer von einer Tätigkeit der Erkennens zu scheiden.

Die Methode des Kritizismus verlangt für die Begründung teleologischer Urteile a priori zunächst die Analyse der Bi ""■^^ dingungen, unter denen allein sie möglich sind. Diese versteheir^— ^ >^

sich am besten, wenn man wiederum die Veranlassuno;en auf- / / / sucht, welche in der Erkenntnistätigkeit für eine teleologische Betrachtung vorhegen. In dieser Hinsicht entwickelt die Kritik der Urteilskraft zwei neue Grenzbeofriff e der theoretischen Ver- nunft, und wenn man mit Recht sagen darf, daß Kants erkenn tnis-

1QQ Kants ästhetische Philosophie.

theoretisclie Untersuchungen erst hier ihren Abschluß finden, so zeigt sich darin am besten, daß die Teleologie ein Grenzgebiet zwischen dem theoretischen und dem ästhetischen Verhalten der Vernunft darstellt.

Der eine dieser beiden Grenzbegriffe entwickelt sich aus der Keflexion auf die Schranken, welche der apriorischen Natur- erkenntnis durch ihre Form der Gesetzmäßigkeit selbst gezogen werden. Eine allgemeine und notwendige Erkenntnis des Natur- verlaufs beschränkt sich von selbst auf die Darstellung der Gesetze, die darin herrschen. Der besondere Inhalt jeder einzelnen Natur- erscheinung, ihre spezifische Eigentümlichkeit ist a priori nicht zu erkennen. Sie ist aber eine Tatsache, und auch sie bedarf nach dem Gesetze der Kausalität einer Erklärung. Es gehört zu den tiefsten Einsichten Kants, daß er dieses Bedürfnis der Wissen^ Schaft klar formuliert hat. Es erwies sich als ein fundamentaler Fehler der Aufklärungsphilosophie, daß sie in ihrer Bewimderung der großen Gesetzmäßigkeit der Natur den Wert der individuellen Erscheinung vernachlässigte, und daß nur hie und da die historische Betrachtung oder die Gefühlsphilosophie darauf aufmerksam wurde. Kant widerlegt hier zum zweiten Male die Meinung derjenigen, welche die Tendenz seiner Kritik nur in der Erklärung von Ge- setzen sehen. Er konstatiert, daß die »Spezifikation« der Natur nur durch Erfahrung uns zum Bewußtsein kommt und deshalb für die apriorische Erkenntnis »zufällig« bleibt. Zwar vermögen wir den spezifischen Charakter der einzelnen Erscheinungen nach dem Prinzip der Kausalität aus anderen Erscheinungen gesetz- mäßig abzuleiten: aber deren spezifischer Eigentümlichkeit gegen- über befinden wir uns wieder in derselben Lage, und dieser Prozeß geht für die Erkenntnis bis ins Endlose. Wie schon Nicolaus von Cues und Spinoza, so sieht auch Kant ein, daß vom Unendlichen und Unbedingten kein Weg zu einem einzelnen Endlichen und Be- dingten führt, daß vielmehr nur die anfangs- und endlose Reihe des Endlichen als Erscheinung des Unendlichen aufgefaßt werden kann. Der Weltlauf in seiner kausalen Notwendigkeit ist ein Ge- webe von zahllosen Fäden, die sich fortwährend kreuzen und zu immer neuen Gebilden verschlingen. Vermöchten wir es auch, den naturnotwendigen Verlauf jedes dieser Fäden, vermöchten wir es, die notwendigen Folgen, die jedesmal das selbst wieder

(loch dies ganze »System der (^ j klärte Tatsache bleiben. Jeder ^

Spezifikation der Natur. 161

kausalnotwondigc Zusamnicntieffeii der Fäden haben muß, voll- kt)mmen zu verfolgen, so winde Krfahrung<< für uns eine unerl Weltzustand sei in seiner ganzei\ Ausdehnung als die kausal not- wendige Wirkung des nächst vorhergehenden nach Naturgesetzen erklärt, so würde doch dieser ganze Prozeß nur dadurch er- klärlich sein, daß irgend ein Anfangszustand den ganzen folgenden Verlauf bedingt hätte. Es ist unmöglich, nach imserer Zeit- anschauung einen solchen zu denken, geschweige ihn zu erkennen. Und selbst wenn wir ihn erkennen könnten, so würde eben dieser Anfangszustand für uns bloß ein Gegebenes, eine unbegriffene Tatsache sein. Ja, wir müssen es überhaupt schon als eine glück- liche, obschon für unsere Einsicht völlig zufällige Tatsache an- sehen, daß der gegebene Inhalt der Wahrnehmung sich unserer Organisation wenigstens so weit angemessen erweist, daß ^vir unsere logischen und transzendentalen Vernunftformen darauf an- zuwenden imstande sind. Unsere Fähigkeit, in der unendlichen Mannigfaltigkeit der Erscheinungen uns mit unsern Begriffen zu orientieren, beruht darauf, daß die Dinge, die wdr erleben, sich nach Arten, Gattungen und Geschlechtern anordnen und daß die Reo;elmäßigkeiten des zwischen ihnen stattfindenden Geschehens sich zu besonderen, allgemeineren und allgemeinsten Gesetzen zu- sammenfassen lassen. Dieses Zw^eckmäßigkeitsverhältnis zwischen unseren Denkformen und dem für sie gegebenen Inhalt ist für unsere Erkenntnis durchaus unableitbar, also »zufälHg<<. Das ist eben darin begründet, daß der besondere Inhalt der Erfahrung von uns nicht wie ihre Formen erzeugt, sondern in uns vorge- funden wird. Eine allgemeine und notwendige Erkenntnis auch dieses besonderen Inhaltes der Erfahrung und des Grundes seiner Angemessenheit zu den Formen wäre nur für einen Geist möghch, der auch den Inhalt durch seine Anschauung erzeugte. Der Begriff eines solchen Geistes ist in der Kritik der reinen Vernunft schon aufgestellt worden: es ist der der intellektuellen Anschauung oder des intuitiven Verstandes*). Für ihn würde auch die Spezifikation der Natur a priori erkannt sein; denn es wäre ihr

*) Kant braucht hier und auch sonst, namentlich schon in dem Briefe an M. Herz (vgl. oben S. 43; für diesen Begriff gern den älteren Xamen des Intellectus archetypus.

Windelband, Gesch. d. n. Philos. II. 11

252 Kants ästhetische Philosophie.

Urlieber*). Es ist nun konstatiert, daß wir Menschen diesen intuitiven Verstand nicht haben, daß wir ihn auch nicht zu er- kennen und deshalb nicht einzusehen vermögen, wie er den ge- samten Weltlauf auch seinem spezifischen Inhalte nach hervor- bringe; aber es ist ebenso konstatiert, daß die Eeahtät eines solchen intuitiven Verstandes theoretisch auch nicht geleugnet werden kann, daß wir vielmehr im sittlichen Bewußtsein den apriorischen Grund haben, an die Realität eines gemeinsamen Schöpfers der sinnlichen und der übersinnlichen Welt zu glauben. Wenn es deshalb ein allgemeines und notwendiges Bedürfnis unseres Verstandes ist, eine^letzte Ursache für das gesamte System der Erfahrung mit ihrem uns nur gegebenen Inhalte zu denken, welchem gegenüber sich doch unsere ganze Organisation der Denk- tätigkeit als zweckmäßig angepaßt erweist, so ergibt sich daraus das allgemeine und notwendige Bedürfnis, die Natur so zu be- trachten, als ob sie das Produkt eines intuitiven, d. h. eines göttlichen Verstandes wäre.

Erzeugung aber durch den Verstand und ^zweckmäßige Er- zeugung sind miteinander identisch. Denn der Verstand operiert von Begriffen aus; wenn der Verstand etwas erzeugt, so erzeugt er es als das seinem Begriffe Angemessene. Die Betrachtung der Natur als des,^ Werkes eines göttlichen Verstandes ist deshalb die Betrachtung der Natur als eines^^ zweckmäßigen Systems der Er- fahrung. Soweit als das Bedürfnis, einen Grund für die Spezi- fikation der Natur zu denken, und als der moralische Glaube an die Realität eines göttlichen intuitiven Verstandes allgemein und notwendig sind, soweit ist die Vernunft auch a priori genötigt

*J Kant verfolgt hier in seinen Formeln und philosophischen Interessen genau denselben Gedankengang, der bei Leibniz sich dahin ausgesprochen hatte, daß die > tatsächlichen Wahrheiten«, welche sich für die menschliche Erkenntnis nicht auf die ewigen "Wahrheiten zurückführen lassen, im gött- lichen Verstände aus den letzteren müßten abgeleitet werden können. Der Unterschied zwischen beiden Denkern ist dabei wesentlich der, daß für Leibniz, seinem dogmatischen Charakter gemäß, sich daraus eine meta- physische Erkenntnis des Gegensatzes der ewigen und der tatsächlichen Welt und weiterhin derjenige der möglichen Welten und der von der göttlichen Güte ausgewälilten und geschaffenen Welt ergab, während der Kritizismus diesen Gegensatz in den subjektiven Gegensatz der Erkenntnis und der Be- trachtung umwandelte. Vgl. Bd. I d, Werkes, § 48.

I

Zw0okin!ißip:keit der Welt. 103

und berecht iijt, den gesamten Kau.salzusainnienJian^ dos Weltlaufes unter dem teleolo^^iachen Gesichtapunktc zu ^/betrachten, als ob seine '^weckruaßi<^'keit* in seinem Ur- sprung aus der S^Mittlicherw Schöpfertätigkeit beruhe. Diese Betrachtung ist keine ^Erkenntnis. Der physiko-theologische Beweis für das Dasein Lottes ist unmöglich, inid man muß deshalb diesen kritischen Gedankengang Kants durchaus von dem Newton- schen unterscheiden, den auch er noch in der »Naturgeschichte des Himmels« vorgetragen hatte. Gab es dort den kausalen Schluß von der vollkommensten Maschine auf den intelligenten Urheber, so wird jetzt ein solcher Schluß theoretisch geradezu verworfen, dabei aber doch an dem Unbeweisbaren in der Gestalt einer vernunftnotwendigen^ Betrachtungsweise festgehalten. Für die persönliche Gewißheit läuft freilich beides auf dasselbe hinaus: aber die Begründung ist prinzipiell durchaus verschieden. Die Teleologie wird auf eine Betrachtungsweise, auf ein moralisch- ästhetisches Verhalten reduziert und aus der Wissenschaft ver- wiesen. Jeder Versuch, die einzelne Naturerscheinung für die wissenschafthche Erkenntnis aus einem^^Zweck,^ den sie erfüllen solle, zu erklären, ist verfehlt; in der Erkenntnis kann jedes Ding und jedes Geschehen der Natur immer nur aus seinen Ursachen"

abgeleitet werden, und es ist der »Tod« aller Naturwissenschaft, für

. . . '

die Erklärung der einzelnen Erscheinungen . zwecktätige Kräfte

anzunehmen. Die Ursachen, die \vir erkennen können, wirken mit mechanischer Notwendigkeit. Wenn sich zeigt, daß wir aus dieser mechanischen Notwendigkeit das Ganze der Natur nicht begreifen können, so stehen wir eben damit an der Grenze des kausalen Begreifens, und es ist dann eine zwar notwendige und allgemeingültige Betrachtungsweise, aber auch nur eine^Be- trachtungsweise, wenn wir den gesamten Zusammenhang der Natur so ansehen, als ob er die Erscheinungsform für die Verwirklich img einer göttlicTien Zwecktätigkeit sei. Diese Betrachtimgsweise ist aber nicht etwa nur eine Annahme, die wegen ihrer Brauchbarkeit für intellektuelle oder praktische Zwecke trotz ihrer wissenschaft- lichen Unrichtigkeit zugelassen würde, also keine Fiktion, sondern sie ist eine vernunftnotwendige Ansicht, von deren Wahrheit nach Kant der Intellekt geradeso sicher überzeugt ist wie von den Einsichten der Wissenschaft: der Unterschied zwischen den

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\Q^ Kants ästhetische Philosophie.

Wahrheiten der theoretischen Erkenntnis und den Betrachtungen »als ob« von Seiten der praktischen und der ästhetischen Vernunft besteht nicht in dem Maße, sondern in der Art ihrer Geltung. Deshalb ist diese Lehre vom »Als -ob« der typische Ausdruck der Stellung Kants zum Rationalen und zum Irrationalen.

Fragen wir jedoch nach dem Inhalte, welchen der göttliche Zweck haben kann, dem wir den Kausalmechanismus in unserer Betrachtung^^ zu unterwerfen genötigt sind , so ist auch dieser natürlich nicht theoretisch erkennbar, sondern nur ein Gegenstand des praktischen Glaubens. Grund verfehlt ist daher jeder Versuch, nachzuweisen, wie die Kräfte der Natur ineinandergreifen, um Glücksehgkeit herbeizuführen und die Fimktion der einen Wesen in den Dienst des Nutzens der andern zu stellen, und in diesem Sinne »mißlingt jeder Versuch der Theodicee« nicht minder als die Nützlichkeitskrämerei, aus welcher die Aufklärungsphilosophie ihre erbaulichen Betrachtungen machte. Es gibt nach Kant keine »physische Teleologie <<. Der einzige göttliche Zweck, an dessen Realität wir ^glauben können, ist der, welchen uns die praktische Vernunft lehrt: die Erfüllung des Sittengesetzes. An dieser Stelle überwindet die Kritik der Urteilskraft den Rigorismus der ethischen Auffassung durch diese selbst und den Dualismus der Kritik der praktischen Vernunft durch den moralischen Glauben. Wenn es dort hieß, daß die natürliche Notwendigkeit den Anta- gonismus gegen das Sittengesetz unbedingt involviere, so wird diese Auffassung hier auf das individuelle Triebleben beschränkt, und es tritt ihr der höhere Gedanke entgegen, daß der gesamte Kausalmechanismus des Weltlaufes in letzter Instanz doch als der Realisierung des Sittengesetzes unterworfen und ihr allein dienend notwendig betrachtet werden müsse. Es ist für die Naturauffassung ganz dieselbe Versöhnung der Gegensätze, wie sie die Kantische Geschichtsphilosophie für die Auffassung des empirischen Menschenlebens anstrebte: lehrte die Geschichtsphilo- sophie, daß das letzte Ziel der historischen Entwicklung die Ver- wirklichung der Freiheit in der sinnlichen Welt sei, so lehrt die Teleologie, daß nur unter dem Gesichtspunkte dieses Zwecks auch der gesamte Mechanismus des allgemeinen Naturlebens betrachtet werden muß, daß die Herstellung des Reiches Gottes auf Erden der letzte Sinn alles empirischen Daseins ist. Immer weisen die

Kthische 'l'elcologrie. 165

Bedürfiussc unseres Erkenncns in dw Unendlichkeit: diese selbst aber kann nicht erkannt werden, sie ist ein, Postulat dea'^tjjaubena oder ein Gesichtspunkt der* Betrachtung.

Kants Teleologie ist also nicjit nur in ihrer Begründung und in dem Ansprüche, den sie erhebt, nicht sowohl eine Erkenntnis, als vielmehr eine vernunftnotwendige ^Batrachtungi^weise zu sein, sondern sie ist auch in ihrem ganzen Inhalte von der früheren wesentlich verschieden. Sie erklärt ausdrücklich, daß der' Nutzen' in keiner Weise ein teleologisches Prinzip sei, und sie läßt die Nützlichkeitsverhältnisse zwischen den verschiedenen Dingen, welche überdies für die Erkenntnis nur kausal zu begreifen sind, in der teleologischen Betrachtung höchstens als Mittel gelten, die man dem einzigen absoluten Zwecke, dem Sittengesetze, untergeordnet denken kann. Aber niemals ergeben sich aus dieser allgemeinen \ teleologischen Beziehung des Naturmechanismus auf einen gött- lichen Weltzweck einzelne teleologische Urteile über die Zweck- ^mäßigkeit besonderer Vorgänge. Denn jeder Vorgang ist nur ein Glied in der miendlichen Kette des Kausalmechanismus, und welche teleologische Bedeutung darin einem einzelnen Vorgange zukommt, würden wir nur dann verstehen können, wenn wir den ganzen Kausalnexus bis in seine feinste GHederung durchschauten und die Art und Weise, wie er sich dem sittlichen Endzweck unterordnet, uns vorzustellen vermöchten. Da beides nicht der Fall ist , so liefert der Grenzbegriff der Spezifikation und des -^Systems der Erfahrung in Verbindung mit dem praktischen Glauben nur die Berechtigung für eine ganz allgemeine Be- trachtung'^ der Natur als eines in letzter Instanz zweckmäßigen Zusammenhanges der Erscheinungen.

Besondere teleologische Urteile bedürfen deshalb vor der Kritik der Urteilskraft noch einer anderen Rechtfertigung. Sie werden nur dann möglich sein, wenn es Erscheinungen gibt, die in sich selbst ohne Rücksicht auf irgend etwas anderes, sogar ohne Rück- sicht auf den sittlichen Zweck, sich unserer Betrachtung als zweck- mäßig darstellen und der kausalen Erklärung unübersteigliche Hindernisse darbieten. Derartige Erscheinungen müßten also für zweckmäßig gelten ohne Beziehung auf irgend etwas, was durch sie erreicht werden sollte: ihr Zweck müßte nicht außerhalb, sondern in ihnen selbst liegen. Das ist nur dadurch möghch,

166 Kants ästhetische Philosophie.

daß wir uns für berechtigt halten, in gewissem Sinne sie sowohl als Ursache, als auch als Wirkung ihrer selbst anzusehen. Eine solche Identität liegt überall da vor, wo etwas aus bewußter A Absicht zweckmäßig erzeugt worden ist. Die Ursache der Arte- fakten des Menschen bildet die Idee der Wirkung, welche sie hervorbringen sollen. Nun ist aber die bewußte Absicht niemals als eine Ursache in der uns als Natur gegebenen Erscheinungs- welt anzuerkennen; die Natur kennt nur mechanische Wirksam- keit. Wenn jedoch gewisse ihrer Erscheinungen den Eindruck machen, als ob auch bei ihnen die^Idee des Ganzen' die Oenesis der einzelnen "Teile und ihre Wirksamkeit bestimmte, und wenn zur Erklärung dieses Verhältnisses unsere kausale Einsicht nicht ausreicht, so sind wir genötigt, diese Gebilde so zu betrachten, als ab sie aus dem Gedanken ihres '"Zwecks hervorgegangen wären. Alle diese Bedingungen nun treffen zu bei den Organismen. Der Lebenszusammenhang eines Organismus ist derartig, daß dieser nur aus seinen bestimmten Teilen zusammengesetzt gedacht werden kann. Aber diese Teile sind nicht etwa vor ihm und unabhängig von ihm vorhanden, so daß er erst aus ihnen entstünde, sondern umgekehrt sind diese Teile wieder mit ihrer ganz bestimmten Ge- stalt und Funktion nur in diesem Organismus möglich. Sowenig wie das Ganze ohne die Teile, sowenig sind die Teile ohne das Ganze möglich. Darin besteht die Zweckmäßigkeit der Orga- nismen, daß ihre Organe gerade so gebildet sind und gerade so funktionieren, wie es für die Lebenstätigkeit des Ganzen not- wendig ist, und daß umgekehrt erst der Zusammenhang des ganzen Organismus nötig ist, um der Gestalt und der Funktion des ein- zelnen Gliedes Sinn und Bedeutung zu geben. Diese Zweckmäßig- keit der Organismen aber ist, wie Kant lehrt, ganz auf sie selbst beschränkt, sie gilt ohne Eücksicht auf dasjenige, was ein Orga- nismus etwa in der sonstigen Welt für Wirkungen ausübt. Das Wechsel Verhältnis zwischen dem Ganzen und den Teilen trägt die Zweckmäßigkeit insofern an sich, als beide nur durcheinander zu existieren vermögen. Aber diese Tatsache des Lebens ist zu- gleich ein großes Rätsel für unsere Erkenntnis, (^erade dieses Wechsel Verhältnis des Ganzen zu seinen Teilen ist für die mecha- nische Naturerklärung ein undurchdringliches Geheimnis: diese kann immer nur das Ganze als das Produkt der Teile und ihrer

Das Lülien al« Ctrenz))epfri<V. 1(>7

jjjasetzmäßi^oii Bewegungen uuffatüsen, von einer Hestimmung der Teile durch das Ganze gewährt sie keine Erkenntnis, Wir kfinnea niemals verstehen, weshalb dies organische Ganze gerade diese Teile notwendig verlangt. Kant sucht hier die Behauptung zu begründen, welche er in der »Naturgeschichte des Hinimels^< auf- gestellt hatte, daß die Organisation eine unerkennbare Tatsache sei. Er gibt nicht nur zu, sondern er verlangt ausdrücklich, daß die wissenschaftliche Erkenntnis, soweit sie irgend zu dringen vermag, die kausalen Notwendigkeiten aufdecke, welche sich in dem Prozesse des J^ebens abspielen. Aber verfolgt man diese an dem einzelnen Organismus, so wird man immer finden, daß sie ^ nicht nur durch die Einflüsse der umgebenden Welt, sondern in^'-'^^*^ erster Linie durch die ursprüngliche Anlage bedingt sind, die UuU^"^ der Organismus vermöge seiner Abstammung von einem anderen '^^f**^ Organismus anfänglich besaß. Die physiologische Erkenntnis des ^ kausalen Mechanismus im organischen Leben endigt bei dem Be- griffe des Embryo , in dessen ursprünglicher Anlage die Bedin- gung für alle mechanischen Reaktionen auf die Einflüsse der Außenwelt zu suchen ist. Den Ursprung des Embryo kann aber die Erkenntnis immer nur wieder in einem anderen Organismus suchen; die »generatio aequivoca« ist eine unerwiesene und zu gleicher Zeit aller kausalen Erklärung widersprechende Hypothese, und so setzt die Erklärung des organischen Lebens das letztere selbst immer wieder voraus. Sie tut das auch, wenn sie weiter- gehend die Entstehung der verschiedenen Spielarten und selbst die der Arten auf mechanischem Wege aus ursprünglicheren Or- ganisationen herzuleiten versucht. Kant hat diesen Gedanken namentlich an dem für seine anthropologischen Studien wichtigen Begriffe der Menschenrasse entwickelt. Er suchte zu zeigen, daß die verschiedenen Rassen, deren er vier annahm, dm'ch ihre Fähigkeit der fruchtbaren Kreuzung ihre x4.bstammung von ein und derselben Gattung beweisen, und daß sie sich daraus unter der Einwirkung klimatischer Verhältnisse im Laufe der Zeit ent- wickelt hätten. Aber er machte darauf aufmerksam, daß diese Hypothese eben die Entwicklungsfähigkeit, wie man heute sagen würde, die Variationsfähigkeit oder Anpassungsfähigkeit, d. h. eine ursj)rüngliche Anlage in der menschlichen Gattung, auf verschie- dene klimatische Einflüsse verschieden zu reagieren, notwendig

\ßS Kants ästhetische Philosophie.

voraussetze, und daß diese Voraussetzung selbst sich jeder kau- salen Erklärung entziehe. Allein der Blick unseres Philosophen in die Wissenschaft des organischen Lebens reicht weiter. Er sieht ein, daß die Betrachtungsweise, welche auf die Rassen in ihrer Beziehung zu der gemeinsamen Art angewendet werden konnte, möglicherweise auch für die Arten selbst gilt, und ob- wohl noch genaue empirische Versuche und Nachweise dafür fehlten, hält er die Kühnheit eines »Archäologen der Natur« für möglich, erlaubt und berechtigt, welcher nach den Spuren der ältesten Revolutionen die ganze große Familie von Geschöpfen nach mechanischen Gesetzen in immer zweckmäßigerer Gestaltung aus einer ursprünglichen Organisation durch den Prozeß der Gene- rationen hervorgehen ließe. Möglich und sogar wahrscheinlich, daß Kant mit den entwicklungsgeschichtlichen Theorien der fran- zösischen Denker, welche freilich erst nach dem Erscheinen der Kritik der Urteilskraft durch Lamarck eine sichere Fassung er- hielten, bekannt war, daß sie ihm namenthch durch den in Deutschland viel gelesenen Bonnet näher gelegt waren: er steht vor ihnen als vor einem »gewagten Abenteuer« der er- kennenden Vernunft, dessen Durchführbarkeit seinem naturwissen- schaftlichen Geiste prinzipiell nicht unmöglich erscheint. Aber gesetzt, es wäre durchgeführt, so wäre damit das Problem des Lebens nicht gelöst, sondern nur zurückgeschoben : denn jene ursprüngliche Organisation der Hypothese wäre genau so unbegreiflich wie jede besondere Organisation der Tatsachen. Das LebeiS ist der Grenzbegriff der mechanischen Natur-. erkTärung. Kant meint, die Entstehung der Organisation aus dem unorganischen Leben sei für uns unerkennbar. Es ist möglich und nicht zu widerlegen, daß sie aus dem unorganischen Dasein nach lediglich mechanischer Kausalität hervorgegangen sei. Aber wir werden diesen Prozeß nie begreifen und ihn niemals beweisen können. Denn das ist das alte Grundkriterium der Kantischen Erkenntnistheorie dann könnten wir ihn auch selbst herbeiführen : wir*"erk^imenj was wir selbstj^haf f en^^ ^^^,, Z weck- mäßige steht für unsere Erkenntnis wie ein Fremdling in dem mechanischen Naturzusammenhange, den wir verstehen können, und wir sind deshalb berechtigt und genötigt, ihn als einen Gast aus einer höheren Welt, aus der Welt der Zwecke, zu betrachten.

Tolcolügio als huuristinohes Prinzip. 109

ßo ordnen sich die besonderen teleologischen Urteile, mit d«'n<»n wir berechtigt sind die kausal unerklärlichen Tatsachen des orj^anischen Lebens zu betrachten, von selbst jener allgemeinen teleologischen Naturbetrachtung durch die Tatsache unter, daß der zweckmäßigste und vollendetste aller Organismen, der mensch- liche, dasjenige Leben enthält, in welchem die Natur mit der sittlichen Welt vereinigt und als ein ihr zwar widerstiebendes, aber in letzter Instanz dennoch sich ihr unterordnendes Mittel erscheint.

Der »Gebrauch der teleologischen Prinzipien in der Philosophie« ist also der, daß sie niemals als^^konstitutive Prinzipien der Naturerkenntnis gelten dürfen. Die Naturerklärung hat mit ihnen gar nichts zu tun. Deren Aufgabe ist vielmehr, den Prozeß des Lebens in den Individuen und in den Gattungen gleichmäßig als einen großen Ablauf kausal notwendiger Entwicklungen zu verstehen. Aber wenn sie konsequent kritisch und ehrlich ist, so muß sie zugestehen, daß dasXeben" selbst, daß die *\irsprüng- liche Organisation^ für sie einen Grenzbegriff, eiae unerklärliche Tatsache darbietet, und daß sie die Betrachtung nicht widerlegen kann, mit der ein vernunftnotwendiges Bedürfnis diese Tatsache mit ihrer ganzen unabsehbaren Folge von zweckmäßigen Gestal- tungen auf eine^^zwecktätige Ursache zurückführt. Die Betrach- tung der einzelnen Zweckmäßigkeiten aber hat für die Natur- forschung den wertvollen Sinn, daß sie stets die Frage herv^orruft, durch welchen kausalen Mechanismus die besondere Zweckmäßig- keit zustande gekommen ist. Muß dann auch in der Lösung dieser Aufgabe immer der Best bleiben, daß die ^ ursprüngliche organische Anlage^ als ein unentbehrliches Glied in dem so er- kannten Kausalnexus auftritt, so hat doch gerade die Beobach- tung der Zweckmäßigkeit das Problem und die Veranlassung ge- bildet, wodurch die kausale Erkeniitnis eine wertvolle Bereicherung und Erweiterung gefunden hat. /Man darf wohl sagen, daß diese Behandlung des teleologischen 'Problems, wie sie Kant hier ge- geben hat, das Reifste ist, was darüber von jeher und bis heute gesagt worden ist. Es gibt eine »faule << Teleologie, welche den kausalen Zusammenhang der Dinge nicht mehr erforschen zu brauchen meint, wenn sie den Eindruck ihres "^zweckmäßigen In- einanderoreifens konstatiert hat. Dieser tritt Kant auf das

170 Kants ästhetische Philosophie.

schärfste entgegen. Zweckmäßigkeit ist kein Prinzip der Natur- erklärung. Aber es gibt eine echte, die Kantische Teleologie, welche in dem Eindrucke der Zweckmäßigkeit, den das orga- nische Leben der Vernunftbetrachtung notwendig macht, nur die Aufgabe sieht, sich den kausalen Konnex klar zu machen, durch den dieses^ zweckmäßige Ineinandergreifen zustande kommt. Alles Zweckmäßige in der Natur ist ein Wunder. Die faule Teleologie wie sie sich auch sonst nenne begnügt sich mit dem »admirari«; der echten ist die Verwunderung nur ein Stachel, um die kausale Vermittlung des zweckmäßigen Zusammenhanges zu erforschen. Die teleologische Betrachtung ist kein konstitutive:^ ^y'^ Prinzip der Erkenntnis, sondern ein heuristisches Prinzip ^^ der Forschung, und sie ist in der Erkenntnis des organischen Lebens das vornehmste von allen. Der Charakter und die Auf- gabe der organischen Naturforschung sind niemals tiefer und niemals großartiger formuliert worden, als in Kants Kritik der teleologischen Urteilskraft.

9 Die teleologischen Prinzipien bleiben also für die objektive

Erkenntnis problematisch und erweisen sich nur als subjektive Notwendigkeiten der Betrachtung. Noch stärker aber kommt // /, /Kants Subjektivismus in seiner Ästhetik zum Austrage. Schon ^ ^^mit der Formulierung des ästhetischen Problems verlegt er diese Untersuchungen völlig auf den subjektiven Standpunkt. Er fragt nicht, was^schön'ist, sondern worin der subjektive Zustand be- steht, in welchem wir von einem Gegenstande so berührt werden, daß wir ihn „schön nennen, und worauf die Notwendigkeit und allgemeine Mitteilbarkeit dieses Zustandes beruht. Das ästhetische Urteil mit seinem Anspruch auf Apriorität ist der Gegenstand der Kritik der ästhetischen Urteilskraft. Es gilt zunächst, diesen Gegenstand ganz scharf abzugrenzen, da er sowohl in der empi- rischen Betätigung, als auch in der populären Bezeichnungsweise gegen die angrenzenden Gebiete nur sehr unbestimmt abgeschlossen ist. Sowohl von dem Angenehmen und Nützlichen, als auch ander- seits von dem Guten (den beiden Gegensätzen, zwischen denen die Ästhetik der AVolffschen Schule das Schöne als einen all- mählich vermittelnden Übergang auffaßte) sucht Kant den Be- griff der Schönheit scharf zu sondern. Wenn er auch der Urteils- kraft eine ähnlich vermittelnde Stellimo: zwischen Sinnlichkeit und

Dum Schöne. 171

Vernunft anwies, so ist ihm doch diese Vennittlunj^ nicht die- jonigc eines allniähiichen t^berj^an^es, sondern vielmehr eine Syn- thesis prinzipiell verschiedener l^'unktionen. Angenehm nennen wir alles, was unseren Sinnen und ihren Bedürfnissen wohltut, "^nützlich, was einem auf diese Annehndichkeit gerichteten Be- streben entspricht; 'gut nennen wir, was einer sittlichen Aufgabe genügt. So verschieden diese Tätigkeiten sein mögen, so haben sie doch den gemeinsamen Charakter, daß das Wohlgefallen, welches uns dem Angenehmen und dem Guten gegenüber ergreift, auf der Erfüllung eines Bedürfnisses, eines Interesses beruht. In dem einen Falle sind dies die sini^lichien Interessen des Indi- viduums, in dem andern Falle ist es das sitt|iQhe Vernunftinter- esse der Gattung. Aber in beiden Fällen muß das Interesse demlp^^^^ Wohlgefallen als seine Bedingung vorhergehen. Diese Arten des * Wohlgefallens beruhen daher, um in Kants Formel zu sprechen, auf der Übereinstimmung des Gegenstandes mit einem Begriffe, den wir uns als gedanlvlichen Ausdruck des darin erfüllten Inter- esses bilden oder bilden können. Und gerade darin besteht nun das Wesen des Schönen, daß ein solches Interesse bei ihm nicht vorliegt. Weder sinnhche noch sitthche Bedürfnisse sollen durch das Schöne erfüllt werden. Alles was uns als schön gefallen soll, muß von jeder Beziehung auf eine Absicht frei sein. Das spezi- fische Wohlgefallen, welches wir das ästhetische nennen, ist ein ^ ^ Wohlgefallen ohne Interesse und ohne Begriff. Die Wohl- * gefälligkeit des Angenehmen hängt von sinnlichen Bedürfnissen, Stimmungen und Verhältnissen des Individuums ab. In diesen gibt es keine Allgemeingültigkeit imd Notwendigkeit. Darum ist eine philosophische Hedonik unmöglich. Die Wohlgefälligkeit des Guten hängt von dem sittHchen Vernunftinteresse ab. Dieses ist c ) a priori, und darum gibt es eine philosophische Moral. Während aber niemand verlangt, daß, was ihm angenehm und nützlich ist, es auch jedem andern sei, erheben wir den Anspruch, unsere ^ ästhetischen Urteile als notwendig und allgemein anerkannt zu . sehen, wenn wir darauf auch vielleicht nicht ebensoviel Gewicht zu legen pflegen wie bei den ethischen Urteilen. Die Prinzipien einer philosophischen Ästhetik werden somit nur dadurch ge- funden werden können, daß die Wohlgefälligkeit des Schönen auf . einen allgemeingültigen und notwendigen Grund zurückgeführt

L^^/ 172 Kants ästhetische Philosophie.

wird. Wenn dieser aber weder in einem sinnlichen noch in einem ßittlichen, wenn er überhaupt in keinem Interesse gesucht werden kann, so muß er in einem Gefühle liegen, das unabhängig von jedem Interesse einen notwendigen und allgemeingültigen Grund hat. Ästhetische Urteile also sind nur durch ein »Gefühl a priori« möglich, und es fragt sich, ob es ein solches gibt.

Jedes ästhetische Urteil setzt einen in der Anschauung gegebenen Gegenstand voraus, auf welchen das Prädikat schön angewendet werden soll. Diese Prädizierung ist nur möglich in einer voll- kommen interesselosen Betrachtung. Der ästhetische Zu- stand des Menschen kann in nichts weiterem, als in dieser reinen Betrachtungstätigkeit, die von jedem Interesse frei ist, bestehen. Indem Kant diesen Begriff fixiert, ist er weit davon entfernt, eine Behauptung darüber aussprechen zu wollen, ob überhaupt und in welchem Sinne ein solcher Zustand in dem Gefühlsleben des empirischen Menschen vöUig rein vorkommt. Die naturnot- wendige Erregung sinijlicher Bedürfnisse und die sittlich not- wendige Erweckung des Vernunftinteresses werden jeden Augen- blick in die äs^thetische Funktion hinübergreifen. Und völlig rein ist diese eben nur da, wo die beiden anderen schweigen. Dieser Zustand der Bedürfnislosigkeit und der praktischen Indifferenz ist derjenige des Spiels. Die reine spielende Betrachtung ist aber von der empirischen Wirklichkeit ihres Gegenstandes völlig unabhängig. Die Interessen des sinnlichen Gefühls imd diejenigen des sittlichen Wohlgefallens beziehen sich gleichmäßig auf die empirische ReaHtät des Gegenstandes, welche von dem einen vor- ausgesetzt, von dem andern verlangt wird. Die interesselose Be- trachtung wendet sich nur an die Vorstellung des Gegen- standes ohne Rücksicht darauf, ob er in der Erfahrung wirklich ist oder nicht. Sie bezieht sich deshalb nicht auf den erfalirungs- mäßig gegebenen Inhalt der Vorstellung, sondern nur auf die Vor- stellungsform, und so muß ihr Wesen in einem Verhältnis der Vorstellungsfunktionen und nicht in einer Beziehunu auf die empirische Wirklichkeit zu suchen sein.

Nun setzt alles Wohlgefallen, folglich auch das ästhetische, eine Zweckmäßigkeit des Gegenstandes voraus, auf den es sich bezieht. In dem spielenden Zustande also, der jede Absicht aus- schließt, muß doch irgendwo ein Verhältnis aufgefunden werden

Harmonie von Sinnlichkeit und Verbland. 173

können, vennögc dos8en die Zwe('kniiißi<^keit eines Gegenstandes beurteilt werden kann. In der reinen Betrachtung muß es eine Zweckmäßigkeit der Gegenstände ohne Beziehung auf einen dem Bewußtsein gegenwärtigen Zweck ^eben können. Zweckmäßigkeit ohne Zweck oder, genauer gesagt, ohne Absicht ist also das Wesen der Schönheit. Jede Absichthchkeit stört den ästhetischen Ein- druck. Der Gegenstand, der schön genannt sein soll, muß in vollendeter Zweckmäßigkeit sich vor einer Betrachtung darstellen, in der auch nicht eine Spur von Absicht zum Bewußtsein kommt. Damit ist das Wesen der Schönheit bestimmt, aber auch die ganze Schwierigkeit des Problems aufgedeckt. Denn worin kann eine solche absichtslose Zweckmäßigkeit gesucht werden? Im Gegenstande selbst nicht: denn jede objektive, in der Materie der Anschaumig begründete Zweckmäßigkeit ist immer nur auf ein Interesse zu beziehen. Deshalb kann die Zweckmäßigkeit des schönen Gegenstandes nur darin beruhen, daß seine Betrachtung uns in einen Zustand versetzt, der ohne ein anderes Interesse als das der Betrachtung selbst zweckmäßig erscheint. Nun hat die Kritik der reinen Vernunft gelehrt, daß in der Vorstellung eines jeden Gegenstandes die beiden Grundfunktionen der sinnlichen Anschauung und des verstandesmäßigen Denkens sich miteinander vereinigen. Aber diese Vereinigung gelingt nicht immer gleich gut. Es wird Gegenstände geben, bei denen mit der Fülle der sinnhchen Anschauung die Klarheit der verstandesmäßigen Durch- dringung nicht Schritt halten kann, bei denen deshalb die Energie der sinnlichen Funktion überwiegt und die Erregung der sinn- lichen Gefühle im Vordergrunde des Bewußtseins steht. Es wird andere Gegenstände geben, in denen das verstandesmäßig Gedachte nicht seine volle sinnliche Anschaulichkeit finden kann, bei denen also das Element des Denkens überwiegt und seine Interessen, gerade weil sie anschaulich sich noch nicht verwirklicht haben, die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Der ästhetische Zustand reiner interesseloser Betrachtung wird dagegen nur da eintreten können, wo in der Auffassung des Gegenstandes Sinnlichkeit und Verstand mit harmonischer Gleichmäßigkeit funktionieren, wo die KJarheit der Anschauung und die DeutHchkeit der Begriffe ein- ander die Wage halten. Dies Verhältnis der Harmonie zwischen Sinnlichkeit und Verstand ist offenbar für die reine

174 Kants ästhetische Philosophie.

Betrachtung das denkbar zweckmäßigste, und diese Zweckmäßigkeit empfinden wir in demjenigen Gefühle, womit wir den Gregenstand schön nennen. Die Verknüpfung von anschaulicher und ver- standesmäßiger Funktion ist aber, wie gleichfalls die Kritik der reinen Vernunft in der transzendentalen Analytik gezeigt hat, eine Sache der »Einbildungskraft«, und diese enthält daher den Boden, auf welchem allein sich jenes harmonische Verhältnis entwickeln kann. Schönheit entspringt aus derjenigen Funktion der Ein- bildungskraft, in welcher die Anschauung und das Denken völlig miteinander harmonieren.

Die Zweckmäßigkeit des schönen Gegenstandes liegt also nicht in ihm selber, sondern in seiner Wirkung auf unsere Betrachtung. Schönheit ist kein Prädikat der Dinge, welches wir wie andere Eigenschaften daran wahrzunehmen und deshalb in einem analy- tischen Urteile aus ihrem Begriffe abzuleiten vermöchten. Wäre sie das, so gäbe es nur empirische Begriffe von Schönheit und keine notwendigen und allgemeingültigen ästhetischen Urteile. Diese sind darin besteht der Parallelismus in dem Gedanken- gange aller drei großen Kritiken Kants nur durch den »Idealis- mus der Zweckmäßigkeit« möglich: die Zweckmäßigkeit muß lediglich in unsere Betrachtungsweise der Gegenstände verlegt werden. Denn jene Harmonie in der Funktion von Sinnlichkeit und Verstand ist keine zufällige und individuell bedingte. Die Auffassung eines Gegenstandes und die verschiedene Energie, wo- mit Sinnlichkeit und Verstand daran beteiligt sind, gehören der überindividuellen Organisation der menschhchen Vernunft, dem »Bewußtsein überhaupt«, dem »übersinnlichen Substrat der Menschheit« an. Deshalb ist auch das Gefühl des Wohlgefallens, welches diese Harmonie für die reine Betrachtung mit sich bringt, ein allgemeingültiges und notwendiges: es ist ein »Gefühl a priori«, und darauf beruht die apriorische Geltung der ästhetischen Ur- teile. Damit löst sich auch die logische Schwierigkeit, unter der sich Kant, wie es scheint, das kritische Problem der Ästhetik zuerst dargestellt hatte: die Frage, wie singulare Urteile denn das sind alle ursprüngHchen Behauptungen über Schönheit und Erhabenheit allgemeine und notwendige Geltunoj nicht nur be- anspruchoT!, sondern auch de jure haben können.

Es ist verfehlt, diese Theorie Kants durch den Hinweis auf

Freie tiud uiiliüngeiidü Schönheit. 175

die empirische VerschicMlciilieit der üstbct Ischen Urteil«' zu bo- kiimpfon. Das Auftreten tlcs ästlictischcn Urteils in dem einzelnen Individuum nuiÜ psycholoj^iseh dudureh bedingt sein, daß es nicht unter der Herrschaft ])es()nderer l]iteressen steht, sondern für die ^interesselose Betrachtung, für den , spielenden Zusttind zugänglich ist. Diese Bedingung ist, wenn je, äußerst selten erfüllt, und so wird empirisch das reine ästhetische Urteil fortwährend durch individuelle Neigungen uiul Stlinniungen gekreuzt werden. Daher der stetige Streit über ästhetische Gegenstände. Und dieser Streit ist dem Wesen der Sache nach nicht durch Beweisführungen zu schlichten. Beweisführung muß in Begriffen vonstatten gehen. Jemandem beweisen, daß ein Gegenstand schön sei, hieße zeigen, daß er einem Begriffe entspräche. Aber das Schöne ist ja das betriff los Zweckmäßige. Es läßt sich nur fühlen. Dieses Gefühl ist zwar allgemein mitteilbar, indem jeder, bei welchem nicht die reine Betrachtung durch individuelle Verhältnisse unmöglich gemacht oder gestört wird, durch die Anschauung des Gegen- standes in den ästhetischen Zustand jener Harmonie von Sinn- lichkeit imd Verstand emporgehoben wird. Aber beweisbar ist dies Gefühl nicht. Deshalb gibt es, wie Kant sagt, keine ästhe- tische Doktrin, sondern nur eine allgemeine Kritik der Ästhetik, d. h. eine transzendentale Untersuchung über die Möglichkeit ästhetischer Urteile a priori überhaupt.

Diese bahnbrechenden Untersuchungen Kants beschränken nun freilich sogleich den Umfang der Gegenstände, welche in diesem reinen Sinne '^chöu'^ zu nennen sind, auf sehr enge Grenzen. Die reine Schönheit, die dem Kantischen Begriffe völlig entspricht, ist nur die bedeutungslose. Alles, was für uns eine Bedeutimg hat, besitzt diese nur durch seine Beziehung auf ein Interesse. Die reine, oder wie Kant sie nennt, die freie Schönheit ist deshalb nur da zu suchen, wo es gar keine Zwecke zu erfüllen gibt. In der idyllischen Natur, in Blumen, in Arabesken, da, wo es nur ein Spiel der Formen gibt, welches die Sinnlichkeit in harmonische Beziehung zum Denken setzt, da allein ist die beziehmigslose , die reine Schönheit zu finden. Anders schon stehen wir denjenigen Naturerscheinungen gegenüber, bei denen bereits für die theoretische Betrachtung das teleologische Moment zur Geltung kommt. Kant macht hier sehr fein auf den Unter-

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176 Kants ästhetische Philosophie.

schied aufmerksam, daß nur bei den höheren animalischen Wesen uns eine Idee der Gattung vorschwebt, an der wir die einzelnen Exemplare prüfen und, je nachdem sie ihm mehr oder minder angemessen sind, mehr oder minder schön finden. Diese »an- hängende Schönheit« ist also von einem Gattungsbegriffe ab- hängig, obwohl dieser nicht eigentlich als formulierter Begriff, sondern als ein Typus der Anschauungsgewöhnung unbewußt imser ästhetisches Verhalten beherrscht. Der höchste dieser Gattungs- typen ist nun derjenige des Menschen. Er ist derjenige, in welchem sich die Organisation der Erscheinungswelt für uns voll- endet: die menschliche Gestalt ist das Ideal der ästhe- tischen Vernunft. Darin zeigt sich, daß das ästhetische Ver- halten eine charakteristische Eigentümlichkeit des Menschen ist. Das harmonische Verhältnis von Sinnhchkeit und Verstand ist das Objekt des ästhetischen Wohlgefallens. Dies Verhältnis ist spezifisch menschlich. Nur ein Wesen, welches wie der Mensch zugleich der sinnlichen und der übersinnlichen Welt angehört, kann die Harmonie dieser beiden Eichtungen seiner Tätigkeit als Schönheit empfinden. Weder unter ihm in der Sinnenwelt, noch über ihm in der vernünftigen Welt gibt es Schönheit. Er selbst in der sinnlichen Erscheinung seines vernünftigen Wesens ist des- halb auch das Ideal der ästhetischen Betrachtuno;.

Zeigt sich nun schon in dieser Lehre von der^ anhängenden Schönheit,^ daß Kants Begriff einer Interesse- und begriffslosen Betrachtung das ästhetische Leben des Menschen in dem empi- rischen Umfange des Begriffs nicht vollständig erschöpft, so tritt das noch mehr in seiner Lehre vom Erhabenen hervor. Das Erhabene pflegte dem Schönen in der englischen und deutschen Literatur, aus der Kant für seine systematische Lehre mancher- lei Anregungen empfangen hat, als eine andere Art des ästhe- tischen Verhaltens koordiniert zu werden. Kant aber hatte den Begriff der ästhetischen Funktion so sehr auf das Schöne kon- zentriert, daß er in dem Erhabenen nicht mehr eine rein ästhe- tische, sondern nur noch eine zugleich morahsche Funktion er- blicken konnte. Seine Begriffsbestimmung des Erhabenen läßt die ästhetische Tätigkeit unnuttelbar mit dem moralischen Be- wußtsein verwachsen erscheinen. Auch sie zeigt dieselbe subjek- tive Tendenz wie diejenige des Schönen. Wie er das Prädikat

Das Erhabene. 177

der Schönheit nicht in dem Gegenstände, sondern in der Wirkung auf uns begründet fand, so sind ihm auch die Gegenstände nur erhebend, und erst der Zustand, in den sie uns versetzen können, ist erhaben. Auch hier ist es das Verhältnis von Sinn- lichkeit und Verstand, worauf das Wesen des ästhetischen Zu- standes beruht. Aber es ist nicht mehr die harmonische Ruhe der Betrachtung, sondern vielmehr eine durch den Kampf hin- durchgegangene Erhebung des menschlichen Bewußtseins, worauf in diesem Falle der »ästhetische« Eindruck beruht. Gegenstände sind selbst nicht erhaben, aber sie werden erhaben genannt, wo ihre Auffassung einen Zustand des Bewußtseins hervorruft, der dem moralischen Zwecke gegenüber als zweckmäßig erscheint. Es gibt Gegenstände, welche entweder als »mathematisch-erhabene« durch ihre unfaßbare Größe oder als »dynamisch-erhabene« durch ihre alles Maß übersteigende Kraft unserer Vorstellungstätigkeit die unerfüllbare Aufgabe setzen, die Unendlichkeit, welche wir in ihnen zu denlcen vermögen, mit unseren Sinnen anzuschauen. Aus dieser Unangemessenheit der Sinnlichkeit zu den An- forderungen des Denkens entspricht notwendig ein Gefühl der Unlust; aber diese Unlust wird durch das Bewußtsein überwunden, daß unsere übersinnliche Funktion des Denkens der sinnüchen Funktion des Anschauens sich überlegen erweist, daß wir als über- sinnliche Wesen mehr verlangen, als wir als sinnliche zu leisten vermögen. Alles Erhabene wirft uns als Sinnenwesen zu Boden, um uns als Vernunftwesen desto höher aufzurichten, es hat stets etwas von dem »gigantischen Schicksal, welches den Menschen erhebt, wenn es den Menschen zermalmt «. Dies Verhältnis ist vom sittlichen Standpunkt aus das richtige, und der erhebende Gegenstand versetzt uns daher in einen Zustand, in welchem wir den Triumph unseres übersinnlichen über das sinnliche Wiesen als einen Gegenstand des Wohlgefallens vom sittlichen Standpunkt aus empfinden. Ein solches Wohlgefallen ist mora- ,^sch, wo es sich um den in der wirklichen praktischen Tätigkeit des Willens bewährten Triumph unseres übersinnlichen Wesens oder desjenigen eines anderen Menschen über die sinnliche Natur handelt: es ist ästhetisch, wenn es ganz unabhängig von dem wirklichen Geschehen in der bloßen Betrachtung des Gegenstandes sich vollzieht. Aber es ist auch in diesem Falle von unserem

Wi ndelb an d , Gesch. d. n. Philos. 11. 12

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]^78 Kants ästhetische Philosophie.

sittlichen Interesse an der Unterwerfung des sinnlichen unter den übersinnlichen Menschen abhängig. Es ist somit durch den sitt- lichen Zweck bedingt und empfängt durch diesen einen Teil seiner Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit, wenn auch anderseits die Apriorität seines ästhetischen Moments darauf beruht, daß das in dem Eindruck des Erhebenden entspringende Gefühl von der Unangemessenheit unseres sinnlichen zu unserem übersinnHchen Wesen und von der Erhabenheit des letzteren über das erster e in derselben Weise und in demselben Sinne allgemeingültig und notwendig, unbeweisbar und doch allgemein mitteilbar ist, wie das harmonische Gefühl der Schönheit. Das letztere also zeigt die beiden Seiten unseres Wesens in harmonischer Vereinigung und ist deshalb ein reines Lustgefühl: das Erhabene wühlt den tiefen Gegensatz jener beiden Seiten auf und läßt das Unlustge- fühl dieses Widerstreites untergehen in dem Siegesgefühl unseres wertvolleren Teiles, der über den niederen triumphiert. Im Er- habenen bewundern wir unsere eigene übersinnüche Bestimmung im Schönen genießen wir die harmonische Einheit unseres ge- samten sinnlich-übersinnlichen Wesens.

So geht Kant mit den einander parallelen Begriffsbestimmungen des Schönen und des Erhabenen auf das Verhältnis der ver- schiedenen Funktionen des menschlichen Wesens zurück, wie er sie ursprünglich in der Erkenntnistheorie aufgestellt hatte. Auch hier liegt das psychologische Schema zugrunde, das bereits in der Kritik der reinen Vernunft bestimmend hervortrat; aber vielleicht an keinem anderen Punkte der Kantischen Lehre führt es zu so überraschend großartigen Resultaten wie hier, wo das Senkblei der Kritik bis in die äußerste Tiefe des ästhetischen Lebens hinab- reicht. Aus "den gewonnenen Grundbestimmungen entwickeln sich sodann eine Reihe weiterer Definitionen ästhetischer Begriffe wie diejenigen des Witzes, des Lächerlichen usw. Feinsinniger noch und tiefer jedenfalls als die ein Viertel jähr hundert vorher ge- schriebenen »Beobachtungen«, haben nur alle diese Untersuchungen ein ihrem Gegenstande nicht völlig entsprechendes Gewand da- durch angelegt, daß die Kritik der Urteilskraft sich ebenso gliedern muß, wie es das Schema der Kritik der reinen Vernunft verlangt. So sind in ein schulmäßiges System alle jene leben- digen Gedanken eingekerkert, welche sich in der Weiterentwick-

Kunst und Künste. 179

lunü: der deutschen Ästhetik als ebenso viele fruchtbarr Keime erwiesen haben. Es gehöit dazu unter anderem auch Kants Ver- such, aus einem der allgemeinen Prinzipien der Ästhetik schließ- lich das System der Künste \l\\ entwickeln. Er selbst hat diesen von den späteren Ästhetikern stets wiederholten Versuch eben nur als einen solchen an^^esehen. Aber das Prinzip, das er dabei verfolgt, bleibt trotz seiner Angreifbarkeit höchst interessant. Er geht nämlich von dem Gedanken aus, daß die Kunst als die- jenige menschliche Tätigkeit, welche schön wirkende Gegenstände erzeugen soll, und welche deshalb von den Künsten der Annehm- lichkeit und der Nützlichkeitstechnik als »schöne Kunst« genau zu sondern ist^ zu ihrem Ideale eben nichts weiter haben könne, als die sinnliche Erscheinung des Menschen in ihrer ganzen Aus- dehnung und mit allem, was zu ihr gehört. Nun ist die Art, wie der Mensch sein Wesen in der siimlichen Welt äußert, die dreifache des Wortes, der Gebärde und des Tones, und danach zeigt das System der »schönen Künste« die Trichotomie der redenden Kunst, der bildenden Kunst und der Musik. In der zweiten Klasse mußten dann neben der Plastik imd der Malerei in etwas gezwungener Weise auch die Architektur, die Tektonik, die Gartenkunst untergebracht werden. Die Palme unter den Künsten reicht Kant der Poesie, weil sie die freieste und viel- seitigste Entfaltung der Phantasie ermögliche, in der die ästhe- tischen Verhältnisse der Schönheit und der Erhabenheit durch das Spiel der Vorstellungskräfte zustande kommen können.

Bedeutsamer jedoch als diese Einteilung der Künste ist Kants Lehre von der Kunst im allgemeinen. Alle Kunst ist eine be- wußte, also absichtliche Erzeusuno^, und ihre Aufgabe ist die Er- Zeugung " schönef Gegenstände. Schön aber ist das absichtslos Zweckmäßige. Dieser Widerspruch ist nur dadurch zu lösen, daß die Werke der Kunst so erzeugt werden, daß sie auf den OcQ-f^i^- nießenden den Eindruck machen, als seien sie Produkte der ab- \,^,X sichtslos schaffenden Natm\ Alle Kunst muß als Natur an- gesehen werden können, und darin besteht das Geheimnis des Künstlers, daß er in der vollendeten Zweckmäßigkeit seines Werkes jede Spur der Arbeit verbirgt, durch die es erzeugt worden ist. Das Kunstwerk ist verfehlt, sobald man ihm die bewußte Er- zeugung anmerkt, aus der es hervorgegangen istT^ Keine Spur der

>y--^y^^>'. ^ ^^- 4ant. ästhetische 'äiioiief^^^'^ ^ *^ ^^^

Absicht, keinen »Zeugen menschlicher Bedürftigkeit«, wie es nach Kant der Dichter genannt hat, darf es an sich tragen. Es muß vor uns stehen wie eine Gabe der Natur, bei der wir nicht fragen, woher sie kommt und wohin sie zielt.

Diese Tätigkeit des Künstlers ist in der Tat ein Geheimnis, imd es existiert, um sie hervorzubringen, ein eigenes, von allen übrigen verschiedenes// Vermögen des menschlichen Geistes. So wie der Geschmack die Fähigkeit der interesselosen Betrachtung und der Boden für die Entfaltung des apriorischen ästhetischen Ge- fühls, wie er das Vermögen des ästhetischen Genusses ist, so ist das Genie das Vermögen der ästhetischen Erzeug-ung. Die Er- zeugung des künstlerischen Produkts durch das Genie ist stets "^riginelL Sie verfährt nicht nach begrifflich vorherbestimmten Regeln, sondern sie gibt vielmehr selbst in der Produktion und mit ihr die ästhetischen Regeln, nach denen die hinterherkommende Theorie ihre Kritik vollzieht. Das Genie ist exemplarisch. Es erzeugt seine Werke nicht aus bewußter Reflexion, sondern völlig naiv und in der natürlichen Entfaltung seines eigenen Wesens. Es arbeitet bewußt, und doch arbeitet in ihm etwas so notwendig und so absichtslos wie eine Naturgewalt. Soll die Kunst wie eine Natur angesehen werden können, so ist das nur dadurch möglich, daß das sie erzeugende Genie eine Intelligenz ist, die als Natur wirkt. Dieser Charakter des Genies, diese seine naive und absichtslose, naturnotwendige Wirkung eines intelligenten Wesens ist eine Tatsache; aber sie ist unbegreiflich. Die Funktion l des Genies bewundern wir, aber wir verstehen sie nicht. Die

^ Tätigkeit des Genies ist deshalb, wie Kant meint, auf die Kunst

-t beschränkt; er will sie vor allem aus der Wissenschaft verwiesen

sehen. In ihr gelte nur der »große Kopf«. Aber dieser unter- scheide sich von dem gewöhnlichen Menschen nur quantitativ und nicht wie das Genie prinzipiell. Während die Produktion des Künstlers mit jedem Schritte ein neues unlernbares Geheimnis enthalte, sei in den Werken eines Newton nichts, was nicht der ^ gewöhnliche Verstand nachrechnend begreifen könnte. Die wissen- J schaftliche Größe ist erwerbbar, die künstlerische nie. Sie ist eine ''^ Gabe der Natur.

Für die Behauptung, daß das Genie in der Wissenschaft keinen Platz habe, gibt es keine glänzendere Widerlegung als Kant selbst

yy. ^ ^'.M -/ y , . i Wesen des (Jenics. , y , > ».^ 181

und seine iistholisthe Lrhro. Er hat recht, daß aucli in den größten wissenschaftliclicn Taten nichts ist, was, wenn sie einmal geschehen sind, nicht für jeden be«^^reiflich gemacht werden könnte. Aber eben sie zu tun und das zu finden, was nachher jeder ein- sehen kann, das ist selbst nicht mehr eine Sache des Erlernenfl und Erwerbens, sondern vielmehr der genialen Intuition. In der ^beweisenden"" Darstellung der Wissenschaft darin hat Kant zweifellos recht hat die geniale Behauptung auch nicht die Spur eines Bürgerrechts. Aber in der Erforschung muß der große Blick des Genies dasjenige unmittelbar erfassen, was erst nach- her durch die strenge Arbeit des Verstandes bewiesen werden kann. Oder war es etwa nicht eine geniale Intuition, mit der ein Newton die Identität der Naturwirkung in dem Falle des Apfels und in der Bewegung der Gestirne erfaßte? Und ebenso war es nicht erworben und nicht erlernt, wenn Kant in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft das Wesen der Schönheit und des Genies in seiner letzten Tiefe erfaßte und in den Begriffen seiner Philosophie formulierte.

Aber unter allen philosophischen Taten Kants ist dies persön- lich gewiß die bewunderungswürdigste. Mancherlei einzelne Ge- danken und Formulienmgen seiner ästhetischen Lehre mag er in der englischen und der deutschen Literatur, die er auch in dieser Hinsicht fleißig verfolgte, vorgefunden und schon in seiner vor- kritischen Zeit schriftlich oder mündlich vorgetragen haben; ins- besondere haben von den Deutschen Winckelmann und von den Engländern Gerard bedeutsam mit ihren Gedanken und Formeln auf ihn eingewirkt: aber die einheitliche Energie, mit der sie in der Kritik der Urteilskraft entwickelt werden, ist sein eigenstes Werk. Eben hier erweist sich der »systematische Faktor«, der in seinem Denken eine so große und häufig entscheidende Rolle gespielt hat, geradezu als schöpferisch. Und dabei wirkt die Größe seiner Leistung auf diesem Gebiete um so eindrucksvoller, je mehr man bedenkt, wie wenig er dem Gegenstande persönlich nahe stand. Im kimmerischen Norden, wo die Natur ihre Reize sparsam ausgestreut hat, den engen Mauern seiner heimatlichen Feste kaum jemals entronnen, von der Anschauung nennenswerter Werke der bildenden Kunst vöUi«^ absfeschlossen, mit dem pe- dantischen Geschmack des Aufklärungszeitalters in die Werke von

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1Q2 Kauts ästhetische Philosophie.

Dichtern wie Pope und Haller eingelebt und von dem gewaltigen Aufschwünge der deutschen Poesie verhältnismäßig wenig berührt, so entwirft dieser Mann in seiner Einsamkeit aus der philo- sophischen Überlegung heraus eine Lehre vom Ursprünge des ästhetischen Gefühls und von der Produktionsweise des künstle- rischen Genies, welche in ihrer Einfachheit bis auf den heutigen Tag das Tiefste ist, was darüber geschrieben wurde, und dringt in das innerste Wesen dieser ihm völlig heterogenen Tätigkeit so mächtig ein, daß unsere beiden großen Dichter, sonst zurück- gestoßen von der schulmäßigen Strenge seiner theoretischen Unter- suchungen und von der rigoristischen Einseitigkeit seiner sittlich ea Überzeugung, in diesem seinen Werke das Geheimnis ihrer eigenen Schöpfungen ausgesprochen finden und es ausdrücklich bekennen: so ist es und nicht anders.

Die Kritik der Urteilskraft ist der Schlußstein des Kantischen Gedankenbaues : aber sie ist zugleich der mächtigste Eckstein für den Weiterbau der Nachfolger geworden. Denn die glücklichste aller Fügungen wollte es, daß, was Kant in ihr begrifflich er- kannte, in der unmittelbaren Gegenwart lebendig wirkte. Für den gesamten Zusanomenhang des deutschen Geisteslebens am Ende des XVIII. Jahrhunderts ist kein Werk bedeutsamer geworden als dies. Es enthält in sich den größten und einflußreichsten Moment unserer Kultm^geschichte : der große Philosoph denkt den großen Künstler Kant konstruiert den Begiiff der Goetheschen Dichtung.

III. Teil. Die nachkantischc Philosopliie.

Kants Lehre macht in der Geschichte des modenien Denkens die grollte Epoche aus, die es erfahren hat. Aber mannigfache Umstände vereinigten sich, imi ihre Wirkungen zunächst auf die deutsche Geistesbewegung zu beschränken. Die anderen Nationen, überdies nicht gewohnt, aus Deutschland Anregungen für das philo- sophische Denken zu empfangen und sich mit der deutschen Lite- ratur eingehend zu beschäftigen, waren zugleich aus verschiedenen Gründen nicht dazu angetan, den Kantischen Gedanken Folge imd Ausbildimg zu geben. In England war die philosophische Energie mit der großen Bewegimg von Locke zu Hume erschöpft. Die schottische Schule mit ihren bequemen psychologistischen Untersuchungen des Commonsense beherrschte so gut wie aus- schließlich alles, was sich von philosophischen Tendenzen noch regte. In Frankreich dagegen trat für alle bedeutenderen Geister mit dem Beginne der Revolution und allen ihren großartigen Folge- erscheinungen das theoretische Interesse hinter das politische und soziale noch mehr zurück als früher, und die Franzosen hatten damals am wenigsten Zeit, sich mit den tiefsinnigen Untersuchungen eines Kant zu beschäftigen. Auch ihre philosophische Bewegung war bei den letzten Resultaten angelangt, die in ihrer anfänglichen Tendenz angelegt gewesen waren, und nachdem das letzte Wort des Systeme de la nature einerseits und Rousseaus anderseits aus- gesprochen worden war, gab es auch in der französischen Auf- klärung zunächst keine Veranlassung mehr zu weiterer selbständiger Bewegung, Für Italien dauerte die Unselbständigkeit des philo- sophischen Interesses, welche es seit der Gegenreformation des XVI. Jahrhunderts im ganzen gezeigt hatte, noch fort, und die

184 I^ie nachkantische Philosophie.

Verwicklung in die große politische Bewegung, bei der die ersten Regungen seines nationalen Selbstgefühls wieder zutage traten, war eben auch nicht geeignet, eine besondere philosophische Leistung hervorzurufen.

Um so günstiger lagen die Verhältnisse in Deutschland. Erst seit einem halben Jahrhundert waren hier die bürgerlichen Klassen in die geistige Bewegung der Aufklärung eingetreten und hatten jetzt erst recht das brennende Interesse gewonnen, in einer geistigen Gemeinschaft die nationale Zusammengehörigkeit zu finden, die ihnen politisch abging. War ihnen die Sehnsucht danach durch die gewaltige Erscheinung Friedrichs des Großen neu erweckt worden, so zeigte sich der zerrissene und kleinliche Zustand der politischen Verhältnisse so wenig kräftig, das Interesse der be- deutenderen Geister auf sich zu ziehen, daß diese vielmehr nur in ihrem intellektuellen und ästhetischen Leben die nationale Ge- meinschaft finden zu sollen glaubten. Diese Abwendung des Inter- esses der Gebildeten von dem öffentlichen Leben ist vielleicht neben den alten Sünden einer jahrhundertelangen politischen Zer- fahrenheit eine Veranlassung dafür geworden, daß der ganze po- litische Bau der deutschen Nation wie ein Kartenhaus über den Haufen geworfen wurde. Aber die Konzentrierimg dieses Inter- esses auf eine gemeinsame wissenschaftliche und künstlerische Arbeit hat mitten in dem Untergange der alten politischen Institutionen eine nationale Bildung aufgerichtet, aus der dann als aus ihrer kräftigsten Wurzel und zugleich mit der sittlich größten Berech- tigung im XIX. Jahrhundert die Neubegründung der deutschen Nationalität hervorgegangen ist.

An dieser nationalen Bildung, die das wahre Fundament der heutigen Zustände bildet, haben zwei Mächte des geistigen Lebens gleichen Anteil: die Dichtung und die Philosophie. Wenn aber die deutsche Aufklärung, sich selbst überlassen und nachdem sie die ausländischen Anregungen vollständig in sich aufgesogen hatte, schließlich doch derselben trostlosen Versandung des philosophischen Denkens verfiel wie das Ausland, so ist die Stellung Kants in der Geschichte der deutschen Nation dadurch in ihrer ganzen eminenten Bedeutung bezeichnet, daß es seine Lehre war, welche dem philosophischen Interesse einen neuen Inhalt und eine uner- schöpflich fruchtbare Energie verschaffte, vermöge deren sie jähr-

lOiiiteilung dur iiaühkantiiichen Philosopliio. 185

zohntelang zu oincin Gcsamtintorosso (h r nationalen Bildung und ihre Fortentwicklung zu einem Sammelplatz der lieivorragendsten C^eister werden konnte.

So kam es durch die Gunst der Verhältnisse und durch die Macht des Gedankens, daß sich an Kant unmittelbar in Deutsch- land eine der lebhaftesten und rapidesten philosophischen Be- wegungen anschloß, welche die Geschichte je gesehen hat. Die große Mannigfaltigkeit der in seiner Lehre verarbeiteten Prin- zipien gab den Kaum für einen nicht minder großen Reichtum von Systemen der Philosophie, die sich in rascher Folge aus dem eeinigen entwickelten. Die Darstellung der nachkanti sehen Philo- sophie hat daher in erster Linie diese systematische Entwicklung zu ihrem Gegenstande zu machen, worin die Kantische Philosophie alle ihre Anlagen zu selbständiger Gestaltung herausbildete. Diese Zeit reicht bis in die dreißiger Jahre des XIX. Jahrhunderts. Nach ihr tritt in Deutschland jene Erschlaffung ein, welche den Zeiten bedeutender Produktion zu folgen pflegt. Von hier aus muß sich der Blick der Geschichte auf die Beweoun^en des ausländischen Denkens zurücklenken, um zu sehen, wie inzwischen die anderen Nationen allmählich wieder teils mit originelleren Schöpfungen, teils besonders durch die Anregungen von Seiten Kants und der übrigen deutschen Denker in die philosophische Bewegung ein- treten und bis in die neueste Zeit hinein mit steigendem Liter- esse und steigendem Erfolge sich daran beteiligen. Endlich ver- langt die frischere Bewegung, welche etwa seit der Mitte des Jahrhunderts auch in Deutschland wieder eingetreten ist, und welche teilweise auch auf Rückströmungen aus England und Frank- reich hinweist, die Darstellung der neuesten deutschen Philosophie, mit der die Geschichte von selbst in die kritische Betrachtuns der Gegenwart ausläuft. In dieser Weise wird die Geschichte der nachkantischen Philosophie in vier Kapiteln darzustellen sein. Das erste behandelt die systematische Entwicklung der deutschen Philosophie nach Kant, das zweite die französische, das dritte die englische Philosophie des XIX. Jahrhunderts. Das vierte Kapitel wird der Darstellung der neuesten Philosophie in Deutschland ge- widmet sein*).

*) Von diesen vier Kapiteln enthält dieser Band nur noch das erste. Vgl. das Vorwort zur ersten Auflage.

186

I. Kapitel.

Die systematische Entwicklung der deutschen Philosophie

nach Kant.

Die Entwicklung der deutschen Philosophie nach Kant ist an dem Sternenhimmel der Geschichte der Philosophie die dichtest besetzte und leuchtendste Stelle. Zu keiner anderen Zeit drängen sich Sterne erster Größe so nahe wie hier zusammen, und nirgends sind sie von einer solchen Fülle mitleuchtender kleinerer Genossen umgeben. Wohl mag es manche Zeiten in der Geschichte geben, welche ein ähnlich intensives Interesse einer ganzen Nation an philosophischen Fortschritten erkennen lassen. Die griechische Bildung in der Zeit um Sokrates und das französische Geistes- leben um die Mitte des XVIII. Jahrhunderts zeigen eine ähnliche Breite des nationalen Interesses an der Philosophie wie die deutsche Bewegung nach Kant. Aber so dicht beieinander, so in unmittel- barer Folge von kaum mehr als drei Jahrzehnten hat selbst die attische Philosophie nicht ihre großen Systeme erzeugt, wie die deutsche. Die letztere zeigt eben darin, daß sie mit der lauge zurückgestauten Hochflut der deutschen Geistesbewegung wächst und einen ihrer wesentlichsten Teile ausmacht. Die Kantische Philosophie mit ihrem unerschöpflichen Ideenreichtum und mit ihrer nach allen Eichtungen fruchtbar auszubildenden Methode wurde sehr bald von der gesamten nationalen Bildung als ein ge- waltiges Mittel ergriffen, um den Kulturstoff durchzuarbeiten und abzuklären, der gleichzeitig dem deutschen Geiste neuen Inhalt und neue Aufgaben gegeben hatte. Die kritische Philosophie fiel in die Zeit der zweiten, der gereiften Renaissance, welche Deutsch- land erlebt hat, und welche den in der Mitte abgebrochenen Prozeß der ersten zu Ende zu führen bestimmt war. Es war die Zeit, in der die deutsche Kirnst und die deutsche Dichtung neu in die Schule der Alten gingen und in der auch die Wissenschaft mit reinerem und vollerem Verständnis zu den ewigen Quellen menschlicher Kultur zurückstieg, die in Hellas fließen. Es war die Zeit, wo der deutsche Geist der Einwirkungen der beiden west- lichen Nationen, die ihn zuerst wieder aus dumpfem Schlafe ge- weckt, Herr zu werden und sich in seiner eigenen Selbständigkeit

DüulBchlundH /.weite Renaiittnco. 187

zu fiihlon bo«;ann. Es war mit ciuem Worlc die Zeil, wo dcT deutsche Geist sich anschii kto, in (Ut «ganzen Allseitigkcit seiiicä Wesens das Fazit zu ziehen aus zwei ^roüeii Kultwrperioden und damit die Bewegung abzuschließen, die in der Renaissance be- gonnen hatte. Wenn Kants rhilosophie als das reife Resultat aller der phÜDSophisehen Bewegungen angesehen werden muß, deren Beginn wir in den zerstreuten Anfängen des modernen Denkens verfolgt haben, so begreift .<ich, weslialb gerade seine PhilüS()[)hie geeignet war, den philosopliischen Keim zu bilden, der in meinem Wachstum die ganzt^ reiche Ideenwelt dieser zweiten Renaissance zu assimiheren vermochte und so zu einem Baume heranwuclis, in dessen Schatten ein Jahrhundert wohnen sollte.

Es kann hier nicht ausgefülirt w^erden, wie sich genau der- selbe Prozeß um dieselbe Zeit in der poetischen Literatur der Deutschen vollzog, wie auch hier die modernen Ideen mid Formen in eine kongeniale Erneuerung des klassischen Geistes einschmolzen, und wie es auch hier eine große dominierende Persönlichkeit war, in der alle Fäden dieser Bewegung zusammenliefen. Die Parallel- stellung Kants und Goethes hat in dieser Richtung jener ganzen unvergleichlichen Zeit ihren Charakter aufgeprägt. Sie sind die beiden königlichen Geister, um welche sich alle übrigen, die einen dem einen, die andern dem andern näher, gruppieren. Sie sind die beiden Pole, um welche die ganze Bewegung der Geister sich dreht. Ihre Verwandtschaft und noch mehr ihr Gegensatz ist das treibende Moment der folgenden Entwicklung.

Deshalb zeichnet sich diese höchste Blütezeit des deutschen Kulturlebens vor allen anderen Epochen der Geschichte durch eine so innige Gemeinsamkeit der philosophischen und der poetischen Bewegung aus, wie sie niemals vorher dagewesen ist. Zu keiner Zeit waren die Dichter philosophischer, zu keiner Zeit standen die Philosophen so immittelbar unter dem Einflüsse der Poesie. Zu keiner Zeit war die Bildung einer Nation so gleichmäßig poetischen und philosophischen Charakters wie zu dieser. Die äußere Veranlassung dazu lag eben darin, daß beide und beide allein die geistige Grmidlage der nationalen Einheit bildeten. Die innere lag darin, daß die Philosophie aus ihrem eigensten Be- dürfnis heraus Fühlung mit dem künstlerischen Leben suchte imd suchen mußte. Die letzte Synthese der kritischen Philosophie

188 Philosophie und Dichtung.

bildete der Begriff des künstlerisclieii Genies. Darin lag eine not- wendige Gedankenverbindung zwischen Philosophie und Dichtung, welche beide Teile zueinander hinziehen und schließlich zu dem Versuche voller Verschmelzung zwischen ihnen führen mußte.

Eine besondere äußere Veranlassung trat hinzu, um das, was die geistige Verwandtschaft notwendig machte, in kürzester Zeit zur wirklichen Erscheinung werden zu lassen. Durch eine Anzahl von persönlichen Beziehungen wurde seit der Mitte des neunten Jahrzehnts des XVIII. Jahrhunderts die Universität Jena »die zweite Heimat« der kritischen Philosophie. Damit trat der Ge- danke Kants aus der Einsamkeit seines Urhebers mitten in eine lebhafte Bewegung ein, die wesentlich poetischen Charakters war. Es ist das nie genug zu rühmende Verdienst Karl Augusts von Sachsen- Weimar, daß er die Träger der poetischen und ebenso diejenigen der philosophischen Entwicklung so miteinander ver- einigt hat, daß sie in stetiger persönlicher Berührung jene große Verschmelzung der Ideen herbeiführen konnten. Weimar und Jena wurden in wenigen Jahren und für mehr als ein Jahrzehnt die Hauptstädte des geistigen Deutschlands. Sie büdeten in der politisch zerrissenen Nation einen Mittelpunkt, nach welchem alles hinstrebte, was in die Bildung der Zeit eintreten und sie fördern wollte. Hier fand eine Berührung und eine rapide Gesamtent- wicklung der Geister statt, ähnlich wie diejenige in Paris während der Mitte des XVIII. Jahrhunderts, nur mit dem Unterschiede, daß der Inhalt dieser Entwicklung und deshalb auch ihr Resultat ungleich bedeutender war als dort.

Die Jenenser Universität ist deshalb der Mittelpunkt, an welchem die philosophische Seite dieser Bewegung, soweit sie von der poe- tischen trennbar ist, verfolgt werden muß. Hier folgen sich Schlag auf Schlag die großen Systeme der deutschen Philosophie. Sie entstehen im Uni versitätsleben ; aus dem Haupte ihrer Schöpfer setzen sie sich sogleich in die Überzeugungen lernbegieriger Männer und Jünglinge um und werden hinausgetragen in alle Schichten des Volkes, um in kürzester Zeit das geistige Leben der Nation zu durchdringen und ihm einen neuen Inhalt zu geben. Zu der- selben Zeit, wo der europäische Staatenbau aus den Fugen geht und das Deutsche Reich zusammenbricht, reichen sich Dichtung imd Philosophie die Hände, um die eherne Schlange einer natio-

Jena und Weimar. 189

iialeii Bildung zu criiclitcn, in der die* Zukunft ihr JL ii finden sollte.

Aber aucli den Tiägern des philoso|)hisclien Gedankens erwies sich ihre Wirlc^^andvcit an der Univei^ilät als ein mächti;.^er Anreiz für die Weiterentwicklung. Sie sind die leuchtenden Typen für jenes »docendo discitur«, welches die Signatur des akademischen Lebens in Deutschland bildet. Genötigt, den philosophischen Ge- danken vor einer in die liöchste Bildung eingolebten oder zu ihr aufstrebenden Zuhörerschaft immer neu zu produzieren, müssen sie auf die geheimsten Beziehungen und Wendungen darin auf- merksam werden und befinden sich aus diesem Grunde in einer stetigen Umbildung zunächst der Form und dann auch des In- halten der Philosophie. In dieser rastlosen Arbeit kommen dann alle die zahlreichen Motive des Kantischen Systems nacheinander zu überwiegender Geltung und verbinden sich je nach ihrem In- halte mehr oder minder fest mit den übrigen Elementen der nationalen Bildung. So sind es gerade die Vielseitigkeit und der innere Antagonismus der Teile der Kantischen Lehre, welche in Verbindimg mit der Reichhaltigkeit des übrigen Bildungsmaterials die Vielgestaltigkeit der folgenden Philosophie und die verhältnis- mäßig große Anzahl bedeutender Systeme ermöglicht haben, worin sich diese ausprägte.

Den Grundstock dieser Entwicklung bilden somit die Systeme, die in Jena selbst erzeugt worden sind; an sie schUeßt sich alles an, was auch außerhalb und teilweise im Gegensatze zu ihnen mit wirklich fruchtbarer Originalität zutage getreten ist. Aber auch hier wie in dem Paris des XVIII. Jahrhunderts hat man es mit einer Gesamtentwicklung zu tun. Auch hier ist der Gang, welchen der einzelne Denker nimmt, durch die gemeinsame Arbeit bestimmt. Auch hier ist es oft schwer, den Anteil, den der ein- zelne daran hat, genau gegen denjenigen des anderen abzugrenzen. Auch hier sind bei aller persönlichen Initiative die einzelnen Werke nur die Etappen eines gemeinsamen Fortschrittes. Die führenden Persönhchkeiten unterHegen zum Teil selbst den Wandlungen, welche durch das Zusammenströmen der verschiedenen Tendenzen in der Atmosphäre dieser Bildung entstehen, und sie begegnen uns deshalb in verschiedener Gestalt an verschiedenen Punkten der Gesamtentwicklung.

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190 Erste Wirkungen der kritischen Philosophie.

§ 62. Die ersten Wirkungen der kritischen Philosophie.

Der erste Erfolg der Kritik der reinen Vernunft entsprach einerseits der Schwierigkeit ihrer Untersuchungen und der voll- kommenen Neuheit ihres erkenntnistheoretischen Standpunktes, anderseits dem Umstände, daß das System Kants darin nur zur Hälfte niedergelegt war und seiner Ergänzung noch bedurfte. Sie wurde in den ersten Jahren wenig beachtet und, wo man sie las, mißverstanden. Wenn später einmal von Seiten der preußischen Zensur das Imprimatur für eine der religionsphilosophischen Ab- handlungen Kants mit der Begründung erteilt wurde, »daß doch nur tiefdenkende Gelehrte die Schriften des Herrn Kant läsen«, so waren solche tiefdenkenden Gelehrten die Häupter der zeit- genössischen Popularphilosophie nicht. Sie, die mit ihren dogma- tischen Begriffen oder mit ihreno,, gesunden Menschenverstände ' am Ende des Wissens angekommen waren, hatten kein Organ mehr, um auch nur die Probleme zu verstehen, an welchen der große Denker sich abmühte. Sie fanden in der Kritik nur dasjenige wieder, was sie selbst oder ihre Gegner gesagt hatten, und sie waren auf das äußerste darüber entrüstet, daß nun doch dieses Werk ihre sauberen Beweise für das Dasein Gottes und für die Unsterblichkeit der Seele als eitel Schein und Sophisterei zer- störte. Die einen hielten Kant für einen Leibnizianer, weil er die Möglichkeit apriorischer Erkenntnis behauptete; die andern stellten ihn zu Locke, weil er das menschliche Wissen auf die Erfahrung beschränkte: die meisten sahen in ihm eine der vielen Verschmelzungen von Leibniz und Locke, welche die deutsche Philosophie versucht hatte. Den Kern der Sache verstand niemand. Und doch bemächtigte sich vieler ein gewisses unbehagliches Ge- fühl davon, daß man es mit einem großen Ereignis zu tun habe, das man nur noch nicht recht zu fassen vermöchte, und daß man sich gegen diese neue Lehre auf Tod und Leben zu ver- teidigen haben würde. Ein Nicolai freilich meinte noch spät, als der Sieg bereits entschieden war, die »vonvornige<< Philosophie durch seine albernen Satiren, wie die »Geschichte eines dicken Mannes« (1794) und »Leben und Meinungen Sempronius Gundi- berts« (1798) abgetan zu haben. Aber ein Mendelssohn gab schon seine »Morgenstunden« (1785) mit den alten Beweisen vom Dasein

Eindruck der Kritik. 191

Gt)ttes in einer Art von wohniiitig(Mn ({cfühl Heiner Überlebt iieit dem »alles zermalmenden« Kant ^ej^enüber heraus.

Immerhin <;ini>;en die ersten breitereu Wirkim<i;en der Kantischen Philosophie nicht von der Kritik» der reinen Vernunft, sondern von anderweitigen Darstellungen aus. Das Ha\iptwerk selbst fand nur sehr wenige und äußerst unbedeutende Besprecliungen , die hauptsächlichste noch in den »Göttinger gelehrten Anzeigen«. Von Garve ursprünglich verfaßt (sie ist später in dieser Gestalt mit mancherlei Zusätzen in Nicolais »allgemeiner deutscher Bibliothek« reproduziert worden) und von Feder redaktionsmäßig zusammen- geschnitten und überarbeitet, zeigt sie durch die Behauptung, Kant stehe etwa in der Nähe von Berkeley, eine so völhge Un- fähigkeit, die neuen Untersuchungen zu verstehen, daß Kant ihr in den » Prolegomena « eine scharfe Zurechtweisung erteilte. Aber auch die Absicht dieser Schrift, die kritische Lehre dem allgemeinen Verständnis näher zu bringen, hatte wenig Erfolg, und erst Kants Freund und Kollege, der Hofprediger und Professor der Mathe- matik Johann Schulze (1739 1805, auch Schultz geschrieben), erwarb sich durch seine »Erläuterungen über des Herrn Prof. Kant Kritik der reinen Vernunft<< (1784) das Verdienst, der neuen Philosophie Freunde zu werben. Er zielte darin, wie auch später in der »Prüfung der Kantischen Kritik der reinen Vernunft« (2 Bde., 1789 und 1792) hauptsächlich auf den Nachweis der religiösen Ungefährlichkeit des kritischen Systems. Seine Dar- stellung, viel elementarer als die Kantische, führte dem Kriti- zismus viele Jünger zu. Von noch größerer Wichtigkeit aber wurde es, daß die beiden Herausgeber der Jenenser »Allge- meinen Literaturzeitung« (seit 1785), Schütz und Hufe- land, sich auf den Kantischen Standpunkt stellten und dieses Journal geradezu als Organ der kritischen Philosophie behandelten. Damit begann die Einströmung der Kantischen Lehren in die besonderen Wissenschaften. NamentHch gewann durch Hufeknd selbst die Jurisprudenz Fühlung mit den Kantischen Prinzipien, mid Rehberg, der bekannte Staatsmann und Publizist, gab später seine geistreiche Beurteilung der Literatur über die fran- zösische Revolution ganz von den Gesichtspunkten der kritischen Rechts- imd Geschichtsphilosophie aus. An der allgemeineren philosophischen Verteidigung Kants beteiligte sich neben den

292 Erste WirkuDgen der kritischen Philosophie.

beiden Herausgebern in diesem Journal besonders Kraus (1753 bis 1807), Kants Spezialkollege in Königsberg, obwohl er in seinen ei^^enen Ansichten skeptischer war. Die entscheidende Tat aber für den Durchbruch der kritischen Philosophie geschah durch K. L. Reinhold. Seine »Briefe über die Kantische Philosophie« (1786 und 1787 in Wielands »Deutschem Merkur« erschienen und darauf besonders gedruckt) haben das Interesse der gebildeten Welt in Deutschland wie mit einem Schlage für Kant erobert. Es gelang ihnen deshalb, weil sie mit glühender Begeisterung und in beredter, schöner Sprache diese Lehre so schilderten, wie sie auf den Verfasser selbst gewirkt hatte : als eine neue sittlich- religiöse Überzeugung, welche mit der höchsten Klarheit des Denkens die wertvollsten Gegenstände des Glaubens umfaßte. Nicht mehr die religiöse Ungefährlichkeit des Kritizismus wollte er dartun, sondern dieser galt ihm selbst als eine neue Religion. Als dann Reinhold 1787 auf die Jenenser Professur berufen wurde, als neben ihm mit Wort und Schrift der unermüdliche Erhard Schmid (1761 1812) für die Ausbreitung des Kantianismus wirkte, da war der Bann gebrochen, und mit rapider Geschwindigkeit ^Yurde die kritische Philosophie zu einem Gegenstande des lebhaf- testen Interesses in ganz Deutschland.

Inzwischen waren nun auch Kants moralphilosophische Werke erschienen, und 1790 kam die Kritik der Urteilskraft. Immer allseitiger offenbarte sich die Revolution, welche der große Mann in das philosophische Denken brachte, immer breiter wurde die Berührung, die seine Lehre mit den allgemeinen wie mit den besonderen Interessen der wissenschaftlichen und der literarischen Bildung gewann, immer stattHcher wuchs die Zahl der Anhänger; aber desto lebhafter und eifriger regte sich auch der Widerspruch der Gegner. Schon im Jahre 1791 war die Bewegung so groß geworden, daß die Berliner Akademie, in welcher die Wolffsche Schule und die Popularphilosophie in Eintracht herrschten, sie nicht mehr ignorieren konnte und im Hinblick auf sie die Preis- frage stellte, »welche Fortschritte die Metaphysik seit Leibnizens imd Wolffs Zeiten in Deutschland gemacht habe«, worauf sie dann einige Jahre nachher die Antwort eines Wolffianers strenger Observanz, Schwab in Stuttgart, krönte, weil diese dahin lautete: die Metaphysik habe keine Fortschritte seit Wolff gemacht, und

Freunde und Feinde. 193

nie bedürfe ilersolben auch nic'bt . Abor nchon vorher hagelten die (Jcgenscbvifton dicht. Von der Ausdebmni«; der Bewegung gibt jianicntlicli die Fülle von Broschüren und akademischen DisHcr- tationen Zeugnis, welche sich nnt den Kantischen Problemen, wenn auch noch so ablehnend, beschäftijj^ien. Am absprechendsten urteilten die Popularphilosophen. Die »all};emeinc deutsche Bibliothek« eröffnete mit den Waffen des Ernstes und des »Scherzes einen langjährigen Krieg gegen den Kritizismus, Meiners erklärte in seinem »Grundriß der Geschichte der Weltweisheit« (Lemgo 1786) Kant für einen modernen Sophisten, Feder schrieb eine triviale Schrift »über Raum und Kausalität, zur Prüfung der Kantischen Philosophie« (Göttingen 1787), deren spärliche Gedanken von seinen Anhängern Weishaupt und Tittel in Büchern und Re- zensionen ausgetreten wurden; die beiden ersteren gaben schließ- lich sogar eine »Philosophische Bibliothek« zur Bekämpfung Kants heraus. Stellte sich die Popularphilosophie bei ihren An- griffen meist auf den Standpunkt des Empirismus, worin sie bei Empiristen niederen Ranges wie Seile, Ouvrier u. a. Unter- .stützung fand, so machte anderseits der schulmäßige Ratio- nalismus Kant den Vorwurf, Leibniz und AVolff verlassen und dafür teils zu Locke, teils zu Hume gegriffen zu haben. Das große Wort führte hier Eberhard in Halle, der gegen den Kriti- zismus zwei Zeitschriften hintereinander, das »Philosophische Magazin« (1789 1792) und das »Philosophische Archiv« (1792 1795) gründete. Im ersteren führte er selbst den Angriff, den Kant in seiner Rephk »über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrhch gemacht werden soll« (Königsberg 1790) vorzüglich parierte. An dem letzteren wirkte hauptsächlich auch Schwab mit, der außer- dem eine Anzahl eigener Schriften gegen die Kantischen Lehren verfaßte. In dieselbe Posaune stieß mit dem Brustton Wolff scher Orthodoxie Flatt in Tübingen, der zwar auch die übrigen Teile der kritischen Philosophie, vorzügUch aber Kants Moraltheologie (1788) angriff. Besonders eifrig tat sich auch als Gegner der neuen Philo- sophie in dieser Richtung J.G.E.Ma in Halle (1766 1823) hervor, der unter anderem seine scharfsinnigen »Briefe über die Antinomie der Vernunft« (1788) brachte und später sich ganz der empirischen Psychologie mit zahlreichen beachtenswerten Schriften gewidmet hat.

WindeUand, Gesch. d. n. Philos. H. 13

2^94 Erste Wirkungen der kritischen Philosophie.

Während aber bei all diesen Männern der Angriff wesentlich darin bestand, daß sie zeigten, wie wenig sich Kant an das ihnen Feststehende gehalten hatte, und daß sie die Lehren der früheren Richtungen gegen ihn ins Feld führten, erfuhr der Kritizismus verständnisvollere und tiefere Einwürfe von selten der Gefühls- und Glaubensphilosophie. Hamann zwar veröffentlichte aus persönlichen Gründen weder seine » Rezension << (1781 geschrieben und erst 1801 in Reinholds »Beiträgen« gedruckt) noch die »Meta- kritik über den Purismum der Vernunft« (1784): aber er hatte darin vor allem den Gedanken ausgesprochen, daß die Kritik der reinen Vernunft an der Trennung von Sinnlichkeit und Verstand leide; daß diese beiden Stämme der menschlichen Erkenntnis ver- dorren müßten, wenn man sie von ihrer »gemeinsamen Wurzel« ablöse. Er hatte hier wie sonst darauf hingewiesen, daß in der Sprache diese konkrete Einheit zutage trete, und daß es falsch sei, sie in der Abstraktion auseinanderzureißen. Jener Gedanke, daß die »Vermögen«, die Kant analysierte, auf ihre Grimdeinheit zurückgeführt werden müßten, hat in der Tat später die auf Kant folgende Entwicklung nach mehr als einer Richtung beherrscht, aber freilich in ganz anderer Weise, als es Hamann dachte.

Schwieg Hamann, so sprach Herder um so lauter imd um so gereizter. Ihn hatte die Rezension, welche Kant im ersten Hefte der »allgemeinen Literaturzeitung« von seinen »Ideen« gab, er- bittert. Er fühlte, abgesehen von allen persönlichen Beziehungen, daß sein Prinzip der Geschichtsphilosophie dem Kantischen gegen- über berechtigt sei. Aber wie es zu gehen pflegt, sahen die beiden Standpunkte, die sich zu ergänzen berufen waren, zunächst nur ihren Gegensatz. Herder hatte für die Auffassung der Geschichte den Gesichtspunkt der natürhchen Entwicklung geltend gemacht: Kant betonte, daß die Beurteilung der Fortschritte der historischen Entwicklung nur unter Voraussetzung ihres Ziels und Plans möglich sei. Aber der tiefere Gegensatz lag allerdings vor, daß der Leib- nizianer Herder die Kluft zwischerf Natur"* und ^tthcher Willens- tätigkeit", die Kant statuierte und auch auf die Geschichtsphilo- sophie anwendete, nicht annehmen konnte. Sein in der Geschichts- philosophie entwickeltes Prinzip, die menschliche Kultur und die in ihr sich stufenweise vervollkommnende »Humanität« als das gesetzmäßig entwickelte Schlußergebnis des Naturlebens verstehen

llaiuaiin, llonler, Jacobi. 19:")

zu wollen, stand mit den Grundlehrou Kants in i-Äiwin für ihn nicht lösbaren Widerspruche. So richtete sich denn auch Herders unwürdi<]; gereizte und nörüclnde Schrift »Verstand und Erfahrung, eine Metakritik zur Kritik der Feinen Vernunft« (1799) auf die Ausführunii des Haniannschen dedankens, daß alle die schroffen Gei;ensätze in der Kantischen Lehre, Sinnlichkeit und Verstand, Erfahrung und reine Begriffe, Inhalt und Form des Denkens, Natur und Freiheit, Neigung und Pflicht lauter Gegensätze, die ja alle auf demselben Grunde beruhen falsch seien, daß die »Physiologie der menschlichen Erkenntnis« ihren allmählichen Übergang ineinander erkennen und ihre Einheit zum Prinzip machen müsse -eine Aufgabe, die freilich, als die »Metakritik« erschien, schon von ganz anderen Männern und in ganz anderer Weise gelöst war. Noch schwächer endlich fiel Herders Be- streitung der Kantischen Ästhetik in seiner »Kalligone« (1800) aus, obgleich er sachlich auch hier mit seiner Betonung der »Be- deutsamkeit« des Schönen gegen den Formalismus, der in der Kantischen Lehre lag und besonders in ihrem Wortlaut zunächst aufgefaßt wurde, nicht so ganz im Unrecht sein mochte.

Bestimmter und einschneidender waren die Einwürfe, welche /l / Jacobi gegen die Kantische Erkenntnistheorie in seiner Schrift lA^^ »David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus </ (1787) machte und später in der Abhandlung »über das Unter- nehmen des Kritizismus, die Vernunft zu Verstände zu bringen« (1801) und in der »Einleitung in seine sämtlichen philosophischen Schriften« (1815) über den gesamten nachkantischen Idealismus ausdehnte. Er sah diese Entwicklung teilweise prophetisch voraus. Die Tiefe seines Einblicks in den Antagonismus der Kantischen Gedankengänge beweist am besten die Energie, womit er seine Kritik auf die Achillesferse der kritischen Erkenntnistheorie richtete: auf den Begriff des "Dinges an sich? Er zeigte zuerst, daß Kant in der Begriffsbestimmung der Sinnlichkeit von der naiven Voraussetzung der Dinge an sich ausgeht, und daß die spätere Untersuchung nicht nur diese Voraussetzung in Frage stellt, sondern eben damit den Begriff der Sinnlichkeit wieder aufhebt. Die Sinnlichkeit ist das »Vermögen affiziert zu werden«, und zwar soll sie durch ^Dinge an sich"' affiziert werden; aber »affiziert werden« ist jedenfalls ein kausales Verhältnis, und die

18*

][96 Erste Wirkungen der kritischen Philosophie.

transzendentale Analytik verbietet, das Ding an sict in irgend welche kategoriale, also auch in kausale Relation zu setzen. Die Kritik der reinen Vernunft lehrt, daß unsere ganze Vorstellungswelt ohne Beziehung zu den Dingen an sich betrachtet werden muß, während sie anfänglich allen Inhalt unseres Vorstellens aus einer Einwirkung eben dieser Dinge ableitet. Man kann ohne die Voraussetzung des Realismus in Kants Lehre nicht hineinkommen und mit derselben nicht darin bleiben. Der transzendentale Idealist wird daher den Mut haben müssen, den stärksten Idealismus zu behaupten, der je behauptet worden ist: er wird den Begriff des Dinges an sich aufheben müssen. Das war die Antezipation der Fichteschen Lehre. Aber wenn das geschieht, so ist die ganze Vorstellungswelt zu einem sinnlosen Traume geworden. In einem zwiefachen Hexen- raume, Raum und Zeit genannt, spuken Erscheinungen, in denen nichts erscheint. Kant redet von Erscheinungen und behauptet, daß in ihnen nichts von dem wahrhaft Wirklichen und wirkUch Wahren erscheint. Die Seele stellt vor, aber nicht sich selbst noch andere Dinge, sondern was weder sie selbst noch andere Dinge sind. Kants Vernunft nimmt nur sich selbst wahr, wie ein Auge, das nur sich sehen, wie ein Ohr, das nur sich hören wollte. Das Erkenntnisvermögen schwebt zwischen einem pro- blematischen X des Subjekts und einem gleich problematischen X des Objekts: die Sinnlichkeit hat nichts vor sich, und der Verstand hat nichts hinter sich. So ist Jacobi unermüdlich, die Wider- sprüche dieser »positiven Unwissenheit« in geistreichen Antithesen auszudrücken.

Während aber diese Einwürfe der zukünftigen Entwicklung unverloren blieben, hielten sie zunächst den Siegeszug der Kan- tischen Philosophie nicht auf. Einmal durchgedrungen, ergriff diese unwiderstehlich die junge Generation, und im letzten Jahr- zehnt des XVIII. Jahrhunderts eroberte sie nach und nach fast alle deutschen Katheder, so daß sie auf jeder Universität eine lebendige Vertretung fand. Die Männer dieser Kantischen Schule, deren Namen in den Handbüchern aufbewahrt sind, waren nun freilich zum größten Teile auch nicht fähig, dem Meister bis in die innerste Tiefe seiner Gedanken zu folgen, und sie bewiesen dies sehr bald dadurch, daß, als Reinhold die Kantische Lehre in eine gröbere und populärere Form brachte, sie in hellen Haufen zu ihm über-

Kuiitiauor. 197

^ini>iMi. Xhvr schon dincl» ilnc lit'hitilti;^lvoit sickerten doch all- iniihlieh die Prinzij)ien der niMien I*hih)sophie in das allgemeine Bewußtsein durch, und nicht ndnder wirkte dafür die >;Kärrner- arheit<< ihrer teilweise nehr zahh-^'ichen Schriften, in denen sie Kant umschrieben, erläuterten und verteidi;;ton, sowie d^e Zeit- schriften, die sie für denselben Zweck im Ge^^ensatze zu den anti- kantisehen gründeten, z. B. das>>Neue })hilosophische Magazin zur Erläuterung des Kantischen Systems«, welches Abicht und Born, der Übersetzer der Kritik ins Lateinische, 1789 1791 herausgaben, otler die von dem Hallenser Jacob redigierten »Annalen der Philosophie und des philosophischen Geistes« (1795 97). Auf diese Weise strömten Kants Lehren auch in die besonderen Wissenschaften ein. Ani wenigsten wurde davon um diese Zeit verhältnismäßig die Naturforschung berührt; denn alle Regungen, die sich namentlich in betreff der dyna- mischen Naturauffassung zeigten, wm'den sehr schnell von Schellings Naturphilosophie (vgl. § 64) aufgenommen. Wichtiger wurden Kants Lehren für die Jurisprudenz und die historische Gesanit- auffassung. Nach Hufeland und Rehberg sind hier Schmalz, Pölitz, Zachariae, besonders aber der bekannte Kriminalist und Strafrechtstheoretiker Anselm v. Feuerbach zu nennen: sie führten die Gedanken der Kantischen Rechtsphilosophie in die Behandlung der juristischen Probleme ein. In der Geschichts- wissenschaft dürfen K. v. Rotteck und im weiteren Sinne auch Schlosser, der berühmte Historiker des XVIII. Jahrhunderts, als Kants Schüler gelten. Am tiefsten empfand den Einfluß der kritischen Philosophie die protestantische Theologie. An- fangs freilich wurde Kants ReHgionsphilosophie sowohl von dem orthodoxen Supranatm:alismus als auch von dem aufklärerischen Rationahsmus lebhaft genug bekämpft: jenem mißfiel seine mo- ralische Deutung, diesem seine spekulative Anerkennung der posi- tiven Lehren des Christentums. Neue Gedanken brachten aber beide in ihren Dogmatismus eingesponnenen Teile nicht hervor, und je mehr die philosophische Büdung, welche die Theologen auf den Universitäten erhielten, unter den Einfluß Kants trat, imi so größer wurde die Ausdehnung, worin bald jene beiden Gegner die Waffen ihres fortdauernden Streites aus der kritischen Rüst- kammer holten. Kants Zwischenstellung erlaubte ähnlich wie

198 Erste Wirkungen der kritischen Philosophie.

einst die Doppellehre Wolffs, daß innerhalb des Eahmens seiner philosophischen Grundlehren alle theologischen Parteien Platz fanden. Männer wie Süskind, Ammon, Tieftrunk konnten leicht die negativen Resultate der Vernunftlcritik mit einer Offen- barungslehre verknüpfen und gaben dem »moralischen Beweise« eine immer mehr dogmatische, damit freilich von Kants Geist entschieden abführende Form. Rationalisten anderseits, wie Röhr, Gesenius, Paulus u. a. brauchten nur die »Vernünftig- keit«, die Kant überall für den Glauben in Anspruch nahm, und seinen Gegensatz gegen das »Statutarische« der positiven Reli- gionen schärfer hervorzuheben, um zu ihrer theoretischen Über- zeugung und ihrem negativen Verhalten gegen die Dogmen eine neue, scheinbar tiefere philosophische Begründung zu finden. Langsamer und der Natur der Sache nach auch weniger nachhaltig war der Einfluß Kants auf die katholische Theologie, von der seine Lehre teils ignoriert, teils a limine abgelehnt wurde. Und wenn später Hermes (1775 1831) den Versuch machte, mit eingehender Benutzung der Kantischen Erkenntnistheorie und namentlich der Lehre von den praktischen Postulaten den rationalen Teil der katholischen Theologie zu reformieren, zu welchem Zwecke er den ersten Band seiner »Einleitung in die christkatholische Theologie« (1819) schrieb, so bildete er damit zwar zunächst eine stattliche Schule; allein einerseits war doch seine Umformung und Abänderung der Kantischen Lehren nicht bedeutend genng, als daß sich eine nennenswerte philosophische Bewegung daran angeschlossen hätte, anderseits genügte bald nach seinem Tode die gegen seine Lehre von der kirchlichen Macht ausgesprochene Zensur, um diesen Versuch auch innerhalb seines Gebietes keine größere Ausdehnung gewinnen zu lassen.

Drang so der Kritizismus wenigstens teilweise in die besonderen Wissenschaften ein, so konnte es inzwischen nicht ausbleiben, daß er sich auch auf dem philosophischen Gebiete mehr oder minder glücklich mit den älteren bestehenden Lehrmeinungen vermischte. Die Anhänger Kants kamen ja meistens von irgend einem der früheren Systeme her und suchten von diesem so viel wie mög- lich mit der neuen Überzeugung zusammen festzuhalten. Deshalb ist die Grenzscheide zwischen den Kantianern und den sogenannten Halbkantianern so flüssig und schwer zu bestimmen. Aber

lU'iuhüld. WJ

auch die letzt crcn hahon rs zu koinerlci bedoiitciKlcien oder fruchfc- barorcn LoiiStuiigon gebracht- und sind Hchbeßlich alle durch die große Bewegung fortgeschwemmt worden, iu welcher «ich die kritisclie Philosopliie den gesamten allgemeinen Bildungsstoff der Nation assimilierte. Die Träger dieser Bewegung aber sehen wir in der Reihe der IMännei-, die in Jena die Kantische Lehre fort- bildeten. An ihrer Spitze steht derselbe Mann, der auch weit über den akademischen Wirkungskreis liinaus die meisten Schüler für das neue System gesammelt hatte.

Karl Leonhard Reinhold, 1758 in Wien geboren und in einem Jesnitenkloster erzogen, trat nach dei- Aufhebung des Ordens unter Clemens XIV. in das BarnabitenkoUegium ein, wo er bald seiner hervorragenden Begabung nach zum Lehrer der Philosophie gemacht wurde. Aber er atmete zu sehr die Luft des Josephi- nischen Zeitalters ein, als daß er in dieser Stellung lange hätte bleiben können, und entfloh 1783, um bei Wieland, an den er empfohlen war, eine Zuflucht zu finden. Er wurde später dessen Schwiegersohn und dankte es seiner Vermittlung, daß, nachdem er die erwähnten »Briefe über die Kantische Philosophie« heraus- gegeben hatte, er in Jena Professor wurde. Hier eröffnete er die Reihe jener glänzenden Lehrer, welche auf dem Katheder für die Kantische Lehre und ihre Weiterentwicklung eintraten. 1794 ging er von dort nach Kiel, wo er bis zu seinem Tode 1823 in wissen- schaftlicher Hinsicht allmählich verkümmert ist. Reinhold war kein schöpferischer Philosoph: er war eine Natur von großer Empfänglichkeit, aber auch von ebenso großer Unselbständigkeit, Er hat nacheinander die Standpunkte von Kant, Fichte, Schelling imd Jacobi geteilt, er hat schießlich sein Heil in Bardili und sogar in den etymologischen Spielereien seines Freundes Thorild gefimden. Seine Bedeutung beruht nur auf den Jahren seiner Jenenser Wirksamkeit: aber sie beschränkt sich nicht auf die mächtige Anregmig, die seine glänzende Redegabe für die An- erkennung der kritischen Philosophie gegeben hat, sondern erstreckt sich auch auf einen Versuch der Neubegründung der Kantischen Lehre, welcher zwar ihrem tiefsten Sinn in keiner Weise gerecht wurde, aber durch seine scharfe Formulierung in negativer und in positiver Richtung die nächste Veranlassung zu ihrer Weiter- entwicklung gegeben hat.

200 Erste Wirkungen der kritischen Philosophie.

Es ist merkwürdig, daß Reinhold zwar persönlich, wie es gerade die »Briefe« bestätigen, von der sittlich -religiösen Seite her für die Kantische Lehre gewonnen worden war, daß er aber von dem wahren Zusammenhange, worin die kritische Moral mit der kri- tischen Erkenntnistheorie steht, so gut wie gar keine Vorstellung gehabt hat. Er glaubte vielmehr, die Grundlehren von Kants Philosophie auf eine rein theoretische Weise entwickeln zu können, und brachte gerade dadurch die Lehre vom Ding an sich in eine so verfehlte und so widerspruchsvolle Position, daß sie zum Haupt- angriffspunkte der Gegner und zum Hauptprobleme der Anhänger der Kantischen Lehre gemacht wurde. Es war offenbar seine genauere Vertrautheit mit der früheren Philosophie, welche ihn, ohne daß er die Tragweite davon ahnte, zu dem theoretischen Rationalismus zurückführte und ihn an den ganzen Umfang der Kantischen Kritik eine neue und sehr folgereiche Forderung heran- bringen ließ. Kant hat die verschiedenen Funktionen der mensch- lichen Vernunft untersucht, von jeder die Bedingungen festgestellt, jeder die Grenze ihrer Anwendung zugewiesen. Warum haben alle diese nach Reinhold unwiderleglichen Untersuchungen nicht die allgemeine Anerkennung gefunden, warum nicht das Bedürfnis erfüllt, daß endlich einmal die Philosophie aus der Mannigfaltigkeit persönHcher Meinungen auf den Boden einer gemeinsamen wissen- schaftlichen Arbeit geführt wurde, daß aus den vielen Philosophien die Philosophie, die Philosophie ohne Beinamen wurde? Der Grund ist der, daß es der Kantischen Philosophie an der aus- drücklichen Aufstellung des zentralen Satzes mangelt, der allen ihren besonderen Untersuchungen als letzter und höchster zu- grunde liegt. Reinhold ist überzeugt, daß es einen solchen gibt, daß Kant es nur unterlassen hat, ihn wissenschaftlich zu formu- lieren, und daß es die Aufgabe einer Fundamentalphilosophie, Philosophia prima oder einer Elementarphilosophie sei, diesen Satz über allen Zweifel zu erheben und zu zeigen, wie sich aus ihm alle Lehren der kritischen Philosophie mit Notwendigkeit er- geben. Es ist Descartes' Forderung eines Universalprinzips für alles philosophische Wissen, welche Reinhold für die deutsche Philosophie erneuert. Es gilt, das was Kant mit seiner induk- tiven Analyse von der Peripherie aus gefunden hat, aus dem Zentrum her zu deduzieren. Das ist nur möglich, wenn es eine

Roinholtla Kloincntari)hilo80phie. 201

ztMitrale Funktion aller Verniinfttätij^keit ^ibt, deifii wesentliche JVk'rkmalo .sich in allen besonderen Funktionen wiederfinden miiü.sen. liuleni Reiidiold als diese die Vürst<.'llungstiitigkeit bezeichnet, merkt er nicht, daß er Kants Prinuit der praktischen über die theoretische Vernui\l't damit aufgibt und zu dem psychülo;^if":chen Prinzip des dogmatischen llationalismus zurückkchit. Seine beiden bedeutendsten Schriften sind der »Versuch einer neaen Theorie des monschlichtui Vorstellungsvermögens« (1789) und »das Fun- dament des philosophischen Wissens« (1791); auch die »Beiträge zurBeiichtiuuug bisheriger Mißverständnisse der Philosophie« (1790) bringen wichtige Ergänzungen dazu. In der Hauptsache lehrt Keinhold, daß der verlangte Fundamentalsatz seinem Begriffe nach nicht beweisbar, sondern unmittelbar evident sein müsse: des- halb könne er nur ein »Faktum«, aber ein allgemeines und not- wendiges Faktum, das absolute Faktum aller Vernunfttätigkeit enthalten, während er eben dadurch vollständig in sich selbst be- stimmt sei. Dieses »Faktum« sei das Bewußtsein als das »Ver- mögen« aller Vorstellungstätigkeit überhaupt. Nuii enthalte jede Vorstellung das BewußtseinAron einem Subjekt, das sie ausführe, und^-on einem Objekt, worauf sie sich beziehe, und von beiden werdej^die Vorstellungstätigkeit als solche imterschieden. Der Fun- damentalsatz, durch den alle Lehren der kritischen Philosophie bedingt seien, laute daher: Im Bewußtsein wird die Vorstellung durch das Subjekt vom Subjekt und Objekt unterschieden und auf beide bezogen. Reinhold berührt hier wirklich die letzte Tat- sache aller psychologischen Analyse des Vorstellungsprozesses, jene geheimnisvolle Verschmelzung des Vorstellungsinhaltes mit der Position des Seins. Aber er benutzt diese Analyse nur, um dar- aus gerade die Ansicht des naiven Realismus von einer zwischen Subjekt und Objekt schwebenden Vorstellungstätigkeit als tatsäch- liche imd in sich selbst evidente Wahrheit abzuleiten, gerade das also, worin die theoretische Kritik Kants das Problem aller Probleme gesehen hat.

Von diesem Satze her ist es dann natürlich leicht, den Kan- tischen Gegensatz von Form und Inhalt des Denkens zu be- gründen. Muß in der Vorstellung etwas sein, was sich auf das Subjekt, und etwas, was sich auf das Objekt bezieht, so ist klar, daß der Inhalt von den Objekten, die Form vom Subjekt

202 Erste Wirkungen der kritischen Philosophie.

herstammt. Dabei ist natürlich der Stoff das Gegebene, die Form das aus dem Wesen des Geistes her Produzierte. Der Kantische Gegensatz von SinnHchkeit und Verstand in Beziehung auf den- jenigen von Kezeptivität und Spontaneität erscheint danach als das Selbstverständlichste von der Welt. Um unsere Vorstellungen zu erklären, müssen wir annehmen, daß ihr gjgf| aus der Affi- zierung unserer Sinnlichkeit durch die Dinge entspringt, und daß wir von uns aus die Form hinzutun. Aber die Wirkungen der Dinge auf uns sind nicht die Dinge selbst; die »Dinge an sich« lassen sich also denken, müssen gedacht werden, sind aber selbst nicht zu erkennen. Es ist klar, daß Keinhold damit aus dem Kantischen in den Lockeschen Phänomenalismus dem Prinzip nach zurückfällt, wenn er auch hinsichtUch der Lehren von Raum und Zeit (oder der primären Qualitäten) durchaus auf seilen Kants steht. Es ist deshalb unnötig, zu verfolgen, wie Reinhold aus dem so aufgestellten Prinzip die einzelnen Teile der Kantischen Lehre systematisch abzuleiten versuchte. Er zeigt seine Verwandt- schaft mit der vorkantischen Philosophie auch darin, daß er auf diese theoretischen Bestimmungen weiterhin die praktischen gründete und den Kantischen Gegensatz von sinnlichen und Vernunfttrieben als denjenigen von »Stoff trieb« und »Formtrieb« bezeichnete, woraus sich sovfohl die Autonomie der ihr eigenes Formgesetz be- folgenden Vernunft als auch die Heteronomie jedes auf einen sinn- lichen Gegenstand gerichteten Wollens ergab. Kants Lehre war unter den Händen Reinholds scheinbar einfacher und durchsichtiger geworden. Aber sie hatte dabei mit ihren Schwierigkeiten einen großen Teil ihrer Tiefe verloren. Reinhold war der praktischen Überzeugung Kants allerdings darin gefolgt, daß er den darauf begründeten Dualismus in schroffster Form auch zum Prinzip der theoretischen Philosophie machte. Aber er meinte diesen theo- retischen Dualismus auch durch theoretische Gründe stützen zu können und knüpfte infolgedessen den Kantischen Phänomenalis- mus an die Weltanschauung des naiven Realismus an. So machte er die Kantische Lehre genau zu dem Ungetüm, als welches Ja- cobi den kritischen Idealismus geschildert hatte. Bei ihm schwebte in der Tat die Erscheinungswelt auf unerklärliche Weise zwischen einem unerkennbaren X von Ding an sich und einem ebenso un- erkennbaren X von Subjekt.

Acru'BidcTnus - Schulze. 2()'i

In dieser Forniiilieruii<,^ der kritiHchcii Philosophie waren die ( Gegensätze der verschiedenen Kantisrlien Gedankengänge und da- mit die Widersprüclie, welche die Kritik der reinen Vernunft ent- hält, wenn man sie als ein für sich^ bestehendes Ganzes betrachtet, gewissermaßen handgreiflicher geworden, \md gegen sie richtete sich deshalb auch der Hauptangriff von seiten des Skeptizismus. Während andere Skeptiker, wie Tiedemannes schon 1784 in den »Hessischen Beiträgen zur Gelehrsamkeit« aussprach, die Ver- nichtung der rationalistischen Metaphysik mit Freuden begrüßten, aber hinsichtlicli der a])riorischen Vernunfterkenntnis Kant vor- warfen, nicht skeptisch genug verfahren zu sein, gab Gott lieb Ernst S_chulze (1761—1833, erst Dozent in Wittenberg, dann J^^ Professor in Helmstädt, seit 1810 in Göttingen) in seinem »Aene- sidemus« (anonym 1792) eine vernichtende Kritik der Reinhold- schen Elementarphilosophie. Er hat den glänzenden Scharfsinn, der diese einflußreiche Schrift auszeichnet, später noch einmal in seiner allgemeineren »Kritik der theoretischen Philosophie« (2 Bände, Hamburg 1801) betätigt, in der Folgezeit aber sich mehr der Jacobischen Lehre und der empirischen Psychologie an- geschlossen. Sein Hauptwerk sucht zu zeigen, daß auch die kri- tische Philosophie, die gegen den Eationalismus so vornehm tue, mit einer Reihe von dogmatischen Voraussetzungen weiter operiere, ohne auf die unwiderlegten Einwürfe der Skeptiker, insbesondere Humes, Rücksicht zu nehmen. Der »Satz des Bewußtseins« sta- tuiere für die Möglichkeit der Vorstellungen die vermeintlichen Bedingungen nach dem Grundsatze, daß, was nicht anders gedacht werden kann, auch so sei, wie es gedacht werden muß. Reinholds Theorie des Vorstellungsvermögens setze für alle Vorstellungstätig- keiten ein gemeinsames Vorstellungsvermögen voraus. Aber dies könne sie nur dadurch erschließen und seine Existenz nur darauf begründen, daß sie für die gleichartigen Vorstellungsfunktionen den Begriff einer sie alle erzeugenden Kraft hypostasiere, welche wieder nicht anders zu definieren sei, als durch die aus ihr her- vorgehenden Wirkungen selbst. Das ^ Vorstellungsvermögen ist selbst keine Tatsache. Die Lehre davon schließt also über die Erfahrung hinaus mit dem Begriffe der Kausalität. Allein ein solcher Schluß ist wertlos, selbst wenn er berechtigt wäre: denn es ist keine Vermehrung und Erweiterung der Erkenntnis und

204 Erste Wirkungen der kritischen Philosophie.

Einsicht, sondern lediglich ein formales Postulat, wenn man als Ursache einer Anzahl einander ähnlicher Tätigkeiten eine Ejraft ansetzt, die man selbst wieder nur durch eben diese Tätigkeiten bzw. ihre Gattungsmerkmale bestimmen kann. Das ist nur eine Übersetzung des Assertorischen in das Problematische. Insbesondere gilt dies und hierin liegt eine wertvolle, später von Herbart prinzipiell ausgeführte Einsicht Schulzes für alle die »Ver-^ mögen«, mit denen die empirische Psychologie jener Tage die Seele ausstattete: sie alle sind nur Gattungsbegriffe, die durch das leere Anhängsel des Ej:aftmerkmals metaphysischen Wert er- halten sollen.

Diese Widerlegung trifft nun aber auch die Kritik der reinen Vernunft. Auch diese will ja nur die Bedingungen der Erfahrung imtersuchen und findet sie nach der Auffassung des >>Aenesidemus« nicht innerhalb, sondern außerhalb der Erfahrung. Auch sie lehrt wie Reinhold, daß die Bedingung für die sinnlichen Emp- findungen in der /Einwirkung der iDinge an siclT liege. Auch sie statuiert in den reinen Formen der Yernunfttätigkeit allgemeine »Vermögen«, welche der Erfahrung zugnmde liegen sollen. Die Vernunft ist in Kants Kritik selbst ein Ding an sich, und doch will die Kritik gerade von diesem Ding an sich die allergenaueste Kenntnis haben. Die Kritik der reinen Vernunft behauptet, daß nicht nur die Vernunft vermögen, sondern auch die Dinge an sich als Bedingungen, d. h. doch wohl als Ursachen, und zwar außer- halb der Erfahrung liegende Ursachen der Erfahrung angenommen werden müssen, und sie tut das in einem Atem mit ihrem Haupt- satze, daß man mit den Kategorien, also auch derjenigen der Kausalität, über die Erfahrung nicht hinausschließen dürfe. Diese Einwürfe waren zum Teil schon auch von den Wolffianern, z. B. von Schwab in dem Eberhardschen »Magazin« und von Flatt in den »Tübinger Anzeigen«, hinsichtlich der Lehre vom Ding an sich und ihres Verhältnisses zu Kants Theorie der Sinnlichkeit gemacht worden: bei Aenesidemus-Schulze treten sie als eine ge- schlossene und unwiderstehliche Phalanx auf, und darin besteht die auch von Fichte sogleich erkannte Bedeutung dieses Werkes. In ihm kommt der geheime Antagonismus ans Tageslicht, der zwischen der transzendentalen Ästhetik imd der transzendentalen Analytik besteht, und der sich historisch daraus erklärt, daß jene

Ding an sich. 205

noch unter Voranssctzun«; dos Standpunktes der Inanj^uraldisser- tation entworfen und znni «großen Teil auch auH^'eführt, diese da- <^egen, die Analytik, diircli die kritit^che jjelire von der Synthcsifl bestimmt ist. Innerlialb der Ktgitisclien Erkenntnistheorie, wie sie min einmal in den verschiedenen Teilen der Kritik der reinen Vernunft vorliegt, ist es in der Tat der schreiendste aller Wider- sprüche, die »Ursache« der Erfalirung in^Dingen an sich imd in transzendentalen ^Vermögen zu suchen. Wenn die Kritik der reinen Vernunft die Bedingungen der Erfahnmg, d. h. etwas, was der Möglichkeit der Erfahrung »vorhergeht <^, analysieren und erweisen soll, so setzt sie sich eine Aufgabe, deren Lösung sie selbst für unmöglich erklärt. Und wenn darin kein Widerspruch wäre, so bliebe es doch eine vollständig nutzlose Theorie: denn eine Ableitung des Erkennbaren aus dem Unerkennbaren macht das Erkennbare in keiner Weise begreiflicher. Namentlich aber zeige Kants und Reinholds Behandlung des Kausalitätsbegriffs und ihre widerspruchsvolle Anwendung dieser Kategorie, daß durch sie die Humesche Skepsis nicht im mindesten überwunde^^^^ sei, sondern noch immer in voller Energie bestehe.

Man muß bei allen diesen Bewegungen noch besonders be- denken, daß sie sich durchaus nur auf die Kritik der reinen Ver- nunft bezogen, und daß von keinem dieser Männer der letzte Zusammenhang der Kantischen Kritiken auch nm* annähernd verstanden war. Eben deshalb wurde der Begriff des ^Dinges an sich^, welcher bei Kant das Bindeglied zwischen der theore- tischen Philosophie und der praktischen enthält, hier zunächst ledidich in seiner theoretischen Bedeutung; und Be^ründuns auf- gefaßt und in dieser mit Kecht als unhaltbar erfunden. Da- durch aber ist es gekommen, daß dieser Begriff, der für das eigentliche Interesse von Kants Erkenntnistheorie weit hinter demjenigen der apriorischen Erkenntnis zurückstand, bei der Weiterentwicklung in den Vordergrund trat, und daß man all- gemein die Absicht der Kritik der reinen Vernunft, die in Wahr- heit auf die Begründung einer apriorischen Erkenntnis hinzielte, in ihrer Lehre vom Ding an sich suchte. Diese Wendung konnte dadurch nur gefördert werden, daß die gToße Masse der Gegner aus solchen Schul- und Popularphilosophen bestand, denen es in erster Linie darum zu tun sein mußte, Kants Widerlegung der

206 Erste Wirkungen der kritischen Philosophie.

nationalen Erkenntnis von Dingen an sich als unberechtigt zurück- zuweisen. Indem diese Einwürfe auf die Anhänger der Kantischen Lehre zurückwirkten, mußte unter diesen das Bestreben entstehen, den Begriff des Dinges an sich, der in der Eeinholdschen Fassung gewiß unhaltbar war, von seinen offenbaren Widersprüchen zu befreien. So lange aber, als man dabei nicht die praktische Tendenz der Kantischen Lehre in ihrer Beziehung zu der theore- tischen aufzufassen wußte und den Begriff des "^Dinges an sich noch ebenso wie die Gegner von selten der rein theoretischen Begründung nahm, bedurfte es, um deren Angriffen zu entgehen, in der Tat einer wesentlichen Umbildung der Lehre vom Ding an sich. Infolgedessen vollzog sich die Weiterentwicklung der kritischen Philosophie zimächst an der Zersetzung des Be- griffes des*l)inges an sich.^

Den ersten Schritt dazu tat Salomon Maimon. Ein pol- nischer Jude, 1757 in Littauen geboren, hat sich dieser Mann mit einer seltenen Begabung und mit eiserner Zähigkeit aus den elenden Verhältnissen seiner Jugend auf die Höhe der deutschen philosophischen Bildung emporgearbeitet. Als er sich aus den verrotteten Zuständen seiner Heimat, von tiefstem Wissensdurst getrieben, herausriß, mußte er zeitweise die letzte Neige der Not und der Entwürdigung kosten. Erst die Gunst, welche ihm Mendelssohn zuwandte, gab ihm ein menschenwürdiges Dasein und ließ die Kräfte seines Geistes in dem Studium der Philosophie mit staunenswerter Geschwindigkeit sich entwickeln. Aber wieder rissen ihn die Beste seiner jugendlichen Verwahrlosung in das Elend eines vagabundierenden Lebens hinein, und erst im letzten Jahrzehnt seines 1800 endenden Lebens verdankte er der Pro- tektion eines Grafen Kaikreuth eine ruhige Existenz, worin er nach dem Studium Kants eine originelle Umbildung der kritischen Erkenntnistheorie in seinen Schriften ausführen und sich neben der »grenzenlosen Achtung« Fichtes und Schellings das Wort Kants verdienen konnte, daß keiner seiner Gegner ihn besser ver- standen habe als er. Von den darauf bezüglichen Schriften sind hervorzuheben: der »Versuch über die Transzendentalphilosophie << (1790), »Über die Progressen der Philosophie« (1793), die »Kathegorien des Aristoteles« (1791) und der »Versuch einer neuen Logik oder Theorie des Denkens« (1798).

Maiinon. 207

Auf dem Standpunkte der theoretischen Venuinft, den Maimon allein einnimmt, ist das I)in<; an sich der absolute Widerspruch. Jedes Merkmal eines Begriffes existiert als Vorstellung im Bewußt- sein, ist also vom Bewußtsein sdbst abhängig und hat nur inner- halb desselben Sinn. J3ie Vorstellung eines vom Bewußtsein un- abhängigen, mcrkmallosen (denn das heißt unerkennbaren) Dingo an sicK ist deshalb undenkbar und völlig unmöglich. Das Din;: an sich ist nicht nur nicht zu erkennen, es ist nicht einmal zu denken. Für die Kritik der Erkenntnis gibt es nur das Bewußt- sein mit seinen Vorstellungen. Maimon zuerst hat den Mut, sich zu jenem strengsten Idealismus zu bekennen, den Jacobi als die notwendige Konsequenz des transzendentalen behauptet hatte. Alle Erkenntnis ist deshalb nur aus dem Bewußtsein abzuleiten und reicht nur so weit als dieses selbst. Aber die Täuschung, das ^Ding an sich sei wenigstens denkbar, besteht, und wie sie entstanden ist, begreift man am besten, wenn man verfolgt, wie Reinhold sie begründet. Er glaubt zur Annahme von Dingen an sich genötigt zu sein, um den, Stoff der Vorstellimgen ihren Formen gegenüber zu erklären. Darin ist das richtig, daß dieser Stoff aus dem Bewußtsein nicht abgeleitet werden kann. Das Bewußtsein findet ihn vielmehr in sich als ein nicht von ihm Produziertes, als ein »Gegebenes« vor. Wenn sich nun jedoch die Erklärung dieses Gegebenen aus einer Affizierung durch Dinge an sich von selbst verbietet, weil darin der oben dargelegte Wider- spruch liegt, so bleibt nur übrig, dem Begriffe des Stoffes unserer Voirstellungen eine andere Formulierung zu geben. Indem er dieses versucht, führt Maimon eine der wesentlichsten Lehren von Leibniz neu und fruchtbar in die kritische Erkenntnistheorie ein, ohne davor zurückzuschrecken, daß er damit der psychologischen Annahme eines prinzipiellen Gegensatzes von Sinnlichkeit und Denken, der Kant in seiner Entwicklung so viel verdankte, wieder durchaus entgegentrat. Wie Leibniz machte er nämhch darauf aufmerksam, daß wir ein »vollständiges« Bewußtsein nur von demjenigen haben, was das Bewußtsein aus sich selbst erzeugt. In jedem Falle also, wo wir in unserm Bewußtsein etwas vor- finden, von dem wir nicht wissen, wie es zustande gekommen ist, und das wir deshalb als'^gegeben oder 'empfangen zu bezeichnen pflegen, haben wir von dem Gegenstande nur, ein unvollständiges

208 Erste Wirkungen der kritischen Philosophie.

Bewußtsein. Es sind die »petites perceptions« von Leibniz, welche Maimon für die kritische Lehre fruchtbar macht. Diese Ver- wandtschaft kommt auch im Ausdruck zutage: Maimon nennt das Gegebene »die Differentiale des Bewußtseins«*). Kants Gegensatz von Rezeptivität und Spontaneität ist nach Maimon in Wahrheit derjenige von unvollständigem und vollständigem Bewußtsein. Dieser aber ist nicht mehr prinzipieller, sondern gradueller Art. Von dem vollständigen Bewußtsein her, welches seine eigenen reinen Formgesetze zum Inhalt hat, bis zu dem unvollständigen Bewußtsein der bloß gegebenen Empfindung ist eine stetige Abnahme der Vollständigkeit des Bewußtseins in unserer Erfahrung aufzuweisen. Und die Idee eines nur Gegebenen, die Idee eines von dem Bewußtsein gar nicht produzierten Be- wußtseinsinhaltes ist deshalb nach Kantischem Prinzip nur der Grenzbegriff für diese unendliche Reihe, in der die Vollständig- keit des Bewußtseins abnimmt. Das Gegebene also, der Stoff der Vorstellung ist dasjenige, dessen Genesis im Bewußtsein dem Be- wußtsein selber unbekannt ist; es ist das im Bewußtsein selbst unbewußt Produzierte, und der Begriff des 'Dinges an sich ist der Grenzbegriff für das vollständige Bewußtsein. Für die Kantisch- Reinholdsche Fassung ist er nicht ein unbekanntes X, sondern, um in der mathematischen Formel zu bleiben, eine gänzlich ima-

Lanäre Größe wie V 1 : für Maimon ist er der Grenzbegriff einer unendlichen Reihe oder die Bestimmung einer unlösbaren Aufgabe,

eine irrationale Größe wie )/2. Der Begriff des Dinges an sich bezeichnet lediglich das Bewußtsein davon, daß es eine Grenze gibt, an der unser Bewußtsein seinen Inhalt nicht mehr voll- ständig zu durchdringen vermag. Er ist das Bewußtsein von einer irrationalen Grenze der rationalen Erkenntnis. So vollzieht Maimon mit voller Konsequenz diejenige Betrachtung des Ding-an-sich-Begriffes, welche auf dem Standpunkte der bloß theoretischen Vernunft die allein folgerichtige ist, und welche auch bei Kant angeschlagen worden war, ohne zum vollen Austrag zu kommen, da für den Kritizismus diese irrationale Größe der theo- retischen Vernunft zugleich ein Objekt der praktischen Vernunft darstellte. Jetzt erst, bei Maimon, ist das Ding an siel? zum

*; Vgl. Bd. I dieses Werkes, S. 485 f.

Maimons kritischer Skoi)tizinmu9. 209

wahren und reinen Grenzbegriffe geworden, indem es jede meta- physische Realität abj^estreift hat.

Auf diesem Standpunkte hat nun natürlich auch di<^ Frage nach der Erkenntnis der Dinge an sich gar keinen Sinn mehr, sondern die erkenntnistheoretische Untersuchung hat nur auf den Umkreis der Vorstellungen das kritische Prinzip der größeren oder geringeren Vollständigkeit des Bewußtseins anzuwenden. Denn es ist klar, daß von demjenigen, wovon wir nur ein unvollständiges Bewußtsein haben, wir auch immer nur eine unvollständige Er- kenntnis behalten müssen. Das kritische Kardinalprinzip, daß- wir nur vollständig erkennen, was wir selbst erzeugen, stellt sich bei Maimon in dieser neuen Form dar, daß nur die Gegenstände des vollständigen Bewußtseins auch solche der vollständigen Er- kenntnis sein können. Nun ist aber jeder Inhalt der Erfahrung nur ein Gegenstand des unvollständigen Bewußtseins. Alle wahr- hafte, vollständige Erkenntnis ist also auf die Formen des Be- wußtseins beschränkt. Somit gibt es nur zwei absolut evidente Wissenschaften: die Mathematik und die Transzendentalphiloso- phie, jene die Lehre von den Formen der Anschauung, diese von denjenigen des Denkens. Von der »gegebenen Erfahrung« da- gegen gibt es immer nur unvollständige, niemals notwendige und allgemeine Erkenntnis, da die Empfindung stets Gegenstand des unvollständigen Bewußtseins ist. Dieser kritische Skeptizis- mus nimmt den Zweifel an der Apodiktizität der Erfahrung in den transzendentalen Apriorismus hinein und schränkt die Grenze der notwendigen und allgemeingültigen Erkenntnisse noch mehr ein. Jener Zweifel aber ist von dem Humeschen grundverschieden. Er bezieht sich nicht auf die Notwendigkeits Verknüpfungen zwischen den einzelnen Elementen der Erfahrung, sondern er be- hauptet die Unvollständigkeit des Bewußtseins schon hinsichtlich des einzelnen tatsächlichen Empfindungsinhaltes, während Humes Empirismus gerade die reine und nackte Konstatierung von Tat- sachen als die zweifelloseste Funktion unserer Erkenntnis bezeichnet hatte. Dieser Unterschied des empiristischen und des kritischen Skeptizismus hat aber zuletzt darin seinen Grund, daß für jenen auf dem dogmatischen Standpunkte des naiven Realismus das »Gegebensein« der Empfindung gar kein Problem bildete, während es für die kritische Erkenntnistheorie zu dem schwersten aller

Windelband, Gesch. d. n. Pliilos. IL 14

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210 Fichte.

Probleme werden mußte, sobald der problematische Charakter des Ding-an-sich-Begriffes zum klaren Bewußtsein gelangte. Kant noch hatte dies Problem nur gestreift. Teils war es in der pro- duktiven Einbildungskraft der transzendentalen Analytik berührt, teils in den Paralogismen dahin angedeutet worden, daß die Ver- knüpfung des spontanen Denkens mit der sinnlichen Rezeptivität in demselben Bewußtsein die unlösbare Grenzfrage der Psychologie bilde. Es ist Maimons großes Verdienst, den skeptischen An- griffen gegenüber dies Problem in seiner Reinheit herausgestellt zu haben. Aber was seine Lehre gibt, ist auch nur die Stellung der Frage und nicht die Lösung. Denn wie das Bewußtsein zu jenen Funktionen der »Unvollständigkeit« kommt, welche sich in der Empfindungstätigkeit darstellen, das blieb für ihn eine aus dem Wesen des Bewußtseins selbst unableitbare Tatsache. Maimon hatte die Grenze der theoretischen Vernunft erreicht; die Lösung seines Problems war nur dadurch möglich, daß der Primat der praktischen Vernunft in seiner ganzen auch erkenntnistheoretischen Bedeutung erfaßt und systematisch zur Lösung der kritischen Ge- samtaufgabe verwandt wurde. In dieser Einsicht liegt die große und entscheidende Bedeutung Fichtes.

§ 63. Der ethische Idealismus.

Fichte.

Johann Gottlieb Fichte war 1762 in dem Dörfchen Rammenau in der Oberlausitz als der Sohn eines Leinewebers geboren und wurde durch die Unterstützung des Freiherrn von Miltitz in Schul- pforta und später im theologischen Studium zu Jena und Leipzig ausgebildet. Nach Beendigung der Universitätszeit hatte er lange mit Not und Armut zu kämpfen, war an verschiedenen Orten Hauslehrer und fand nur eine Zeitlang in Zürich eine freundliche Existenz. Im Jahre 1790 lebte er sich in Leipzig auf äußere Anregung schnell in die Kantische Philosophie ein, fand in ihr und gerade in ihrem praktischen Teile die Erhebung über die schweren Zweifel, in welche er durch den überwältigenden Ein- druck des Spinozistischen Determinismus gestürzt worden war, und beherrschte ihre Gedankenwelt imd ihre jMethode bald der- artig, daß, als er kurz darauf nach Königsberg verschlagen wurde, er dort dem großen Meister sein schnell geschriebenes Erstlings-

Leboü. 211

werk, die »Kritik aller Offonburuii'^« vorlegen konnte und dessen vollen Beifall damit erwarb. Kant sorgte für ihn in zartfühlender Weise nicht nur dadurch, daß er ihm eine angenehme Stellung verschaffte, sondern indem er j^^ner Schrift zum Druck verhalf. Der Zufall wollte es, daß der Name des Verfassers auf dem Titel fortbheb, daß infolgedessen alle Welt in diesem Buche die mit äußerster Spannung erwartete Religionsphilosophie Kants sehen zu dürfen glaubte, und daß, als Kant den Namen des wahren Verfassers öffentHch verkündete, sein Ruhm mit einem Schlage begründet war. 1793 wiederum nach Zürich zurückgekehrt, trat Fichte dort mit Pestalozzi und Baggesen in fruchtbare Berührung, veröffentlichte seine »Beiträge zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution« und seine »Zurück- f orderung der Denldreiheit von den Fürsten Europas«, und hielt vor einem auserlesenen Kreise Vorträge über die Kantische Philo- sophie und deren in seinem Kopfe sich bereits gestaltende Um- bildung. Im folgenden Jahre ward er bei Reinholds Abgang auf die Jenenser Professur berufen und begann nun nier eine glück- liche imd großartige akademische Tätigkeit, welche mehr durch seine eigene Hartnäckigkeit als durch den AViderstand feindKcher Elemente getrübt und schließlich in traurigster Weise beendet wurde. Fichte war ein Charakter von stählerner Energie, aber auch von jener Rücksichtslosigkeit, welche, indem sie der Welt ihr Gesetz vorschreiben will, an dem Widerstände der Welt zu scheitern in Gefahr ist. Er war getragen von tiefem reforma- torischen Bedürfnis; es war ein Prophetengeist in ihm. Ihm war es völlig Ernst damit, daß die neue Philosophie ein Ideal der Überzeugimg aufstelle, das berufen sei, die im argen liegende Welt von Grund aus umzugestalten, und er besaß die Kantische Hingebung an dies Ideal, er rang dafür, ohne nach rechts und links zu schauen, und verkündete das Evangelium des katego- rischen Imperativs, ohne darum zu fragen, ob seine eigene, ob irgend eine andere Existenz darüber zugrunde ging. Er war der Mann der Pflicht, wie sie Kant aufgestellt hatte, der eiserne Wille, der nur selbst sich das Gesetz gibt. Aber er war unfähig, mit den Verhältnissen der Wirklichkeit zu paktieren, und er schadete mit seiner Starrköpfigkeit nicht nur sich selbst, sondern am meisten der guten Sache, die er vertrat. Ein geborener Redner^

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212 i'ichte.

entwickelte er eine mächtige Wirkung auf die studierende Jugend und bec^ann sogleich an der Umgestaltung des Studentenlebens zu arbeiten, welches er in das wüste Wesen der Landsmannschaften versunken vorfand. Trotz des großen Erfolges ergaben sich daraus bald Konflikte mit den Kirchenbehörden und mit der Studenten- schaft, welche ihn veranlaßten, den Sommer 1795 in Osmannstädt zuzubringen. Am schärfsten aber trat seine ganze weltfremde Rücksichtslosigkeit in dem Atheismusstreite zutage. In einem von ihm imd Niethammer herausgegebenen »philosophischen Joumal<< hatte sein Schüler Forberg eine »Entwicklung des Be- griffs der Eeligion<< gegeben, welcher Fichte selbst einen Auf- satz »Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Welt- regierung << beifügte. Eine anonyme Denunziation, die vielleicht seinen akademischen Feinden nicht fern stand, brachte es dahin, daß das Journal wegen des »Atheismus« seines Inhaltes von der kursächsischen Regierung konfisziert und von derselben die Weimarische Regierung zu einem Vorgehen gegen Fichte gedrängt wurde. Goethe gab sich alle erdenkliche Mühe, die Sache auf diplomatischem Wege beizulegen. Aber Fichte machte die gute Absicht zunichte: einerseits gab er seiner begründeten Entrüstung über die niederträchtigen Verdächtigungen in seiner »Appellation an das Publikum wegen der Anklage des Atheismus« und in der darauf an die Behörden eingereichten »gerichtlichen Verant- wortungsschrift« den schärfsten und zugespitztesten Ausdruck, anderseits ließ er sich in dem naiven Vertrauen, die Kollegen würden das Versprechen, mit ihm aus Jena wegzugehen, im Falle der Entscheidung halten, dazu hinreißen, daß er der Regierung mit seinem und vieler anderen Professoren Abgang drohte, sobald er auch nur einen Verweis erhielte. Eine solche Sprache konnte die Regierung, sowenig sie es gewollt hatte, nur mit dem Ver- weise beantworten, und Fichte ging 1799 von Jena fort allein. Er wandte sich nach Berlin, wo er in den Kreisen der Roman- tiker einen für die Umwandlung seiner Anschauungen wichtigen Umgang fand und in den nächsten Jahren private Vorlesungen hielt. 1805 folgte er einem Ruf an die damals preußische Uni- versität Erlangen mit der Erlaubnis, im Winter in Berlin seine privaten Vorlesungen fortzusetzen. Aber das folgende Jahr riß s^uch seine äußere Existenz zu Boden. Als Preußen nieder-

Lebrn und Wirken. 213

j;eworfen und Berlin in die Hände dos Feindes gefallen war, suchte er im Otiten eine Stätte freien Wirkens, hielt vorübergehend in Königsberg Vorlesungen und inuüto .chließiich über Memel und Kopenhagen fliehen. Trotzdenfu kehrte er nach Bcrhn zurück und liielt hier mitten in der Napoleonischen Herrschaft unangefochten jene gewaltigen »Reden an die deutsche Nation« (1808), welche das lebendige Denkmal seiner feurigen Überzeugung bleiben und in der Geschichte der Erweckung des deutschen Nationalgefühls einen der ersten Plätze einnehmen. Sie enthalten in populärer Form und in ergreifender Rhetorik den Ausdruck für jene größte Tatsache der deutschen Geschichte, daß unsere Nation die Existenz, die sie in der äußeren Welt durch ihre Schuld verloren, nur durch eine Wiedergeburt der Gesinnung und der Bildung zurückgewinnen konnte. Als aus diesem Geiste heraus die Berliner Universität gegründet wurde, geschah das zwar nicht nach dem völlig un- durchführbaren Plane Fichtes, sondern mehr nach dem Schleier- machers. Aber Fichte wurde nicht nur der erste Professor der Philosophie, sondern auch der erste gewählte Rektor der neuen Hochschule; freilich sah er sich durch Konflikte, in die er wegen der akademischen Disziplin mit seinen Kollegen kam, zur Nieder- legung des Amtes genötigt. Als dann die deutsche Nation in neu entflammter Gesinnung und mit dem ganzen Ernste einer sittlichen Überzeugung auszog, um sich von der äußeren Knecht- schaft zu befreien, als es sich Fichte versagt sah, in den Reihen der Kämpfer selbst aufzutreten, da ließ er sein mächtiges W^ort »über den wahren Krieg« erschallen imd widmete sich mit seiner Gattin der Pflege der verwundeten Krieger. In dieser hingebenden Pflichterfüllung fand er seinen Tod, indem ihn das Lazarettfieber 1814 dahinraffte.

Fichtes Stellung zur Kantischen Philosophie war diejenige, daß er vermochte, was Reinhold forderte: die methodische Ab- leitung aller ihrer Lehren aus einem Prinzip. W^enn Reinhold mit der Aufstellung dieser Forderung seine Bedeutung erschöpft hatte, so kam das daher, daß er ein viel zuwenig systematischer Kopf war, um für diese Ableitung eine Methode zu finden. Bei Fichte liegt deshalb die Hauptsache in dem methodischen Prinzip. Die stetigen Umarbeitungen, denen er seine » W'issenschaf tslehre « unterzogen hat, und die sogar eine Veränderimg seiner philo-

214 Fichte.

sophischen Weltanschauung mitgemacht haben, bewegen sich doch sämtlich innerhalb derselben Methode, welche er seit 1794 in seinen Schriften wie auf dem Katheder anwandte. Wenn es sich darum handelt, die einzelnen Funktionen der Vernunft, die Kant aus den einzelnen Problemen heraus analysiert hat, als die notwen- digen Ausgestaltungen einer allgemeinen Grund tätigkeit zu ent- wickeln, so ist es nur eine äußerliche Lösung dieser Aufgabe, daß Reinhold einen zentralen Satz aufgestellt und aus dessen formaler Anwendung auf die verschiedenen empirischen Tätigkeiten die be- sonderen Lehren abgeleitet hat. Was Fichte verlangt, ist die Einsicht in die innere Notwendigkeit, womit sich die allgemeine Vemunf tfunktion gerade in diese bestimmten, aus der Erfahrung bekannten besonderen Funktionsarten ghedert. Diese Erkenntnis aber ist nicht selbst aus der Erfahrung zu gewinnen. Sie kann nur dadurch zustande kommen, daß man die Vernunfttätigkeit selbst auf ihre immanenten Notwendigkeiten hin untersucht. Allein diese Notwendigkeiten können keine von vornherein gegebenen und damit in letzter Instanz irgendwo anders herstammenden sein. Denn die Vernunft kennt theoretisch wie praktisch nichts als sich selbst. War daher Kants Kritik überall bei der Orga- S^^ nisation der Vernunft, bei dem »Bewußtsein überhaupt« als bei dem Letzten und Höchsten stehen geblieben, so stellt die Fichtesche Philosophie sich die Aufgabe, diese Organisation zu begreifen : aber sie kann nach Kantischem Prinzip aus nichts anderem als aus sich selbst begriffen werden. Sie ist autonom: sie selbst, diese Organisation, muß als ein System gedacht werden, das in allen seinen besonderen Funktionen durch die Idee des Ganzen be- dingt ist. Soll der Zusammenhang der Vernunfttätigkeiten ver- standen werden, so ist er nicht durch naturgesetzliche Notwen- digkeit aus irgend etwas anderem abzuleiten; denn von dieser naturgesetzUchen Notwendigkeit hat die Kritik der reinen Ver- nunft bewiesen, daß sie selbst nur eine Vernunftform der Er- scheinungswelt ist. Der Zusammenhang der Vernunfttätigkeiten ist nur aus einem absoluten Prinzip der Vernunft selbst abzu- leiten. Ein solches absolutes Prinzip aber ist nur der Zweck. Will man die Organisation der Vernunft deduzieren, so ist das nur dadurch möglich, daß man alle ihre einzelnen Funktionen als die notwendig zu ergreifenden IJlIittel entwickelt, die dem

Dus Syatom der Vernunft. 215

lotztx^n Zwocke der Veniunfttäti^^'keit dienen raü.sscn. Das isfc der Fichtesche (Jriind^^edanke. Es ist die vollige JJurclifüluung des Primats der praktischen über die theoretische Vernuaft, und dies ist der Grund für die aufc^schließlich teleologische (iestalt, welche die Fiehtesche Lehre bis in ihre einzelnen Teile hinein trägt. Die Deduktion der Wissenschaffcslehre hat nur die Auf- gäbe, aus dem höchsten Zwecke der Vernunft das System aller der Tätigkeiten zu entwickeln, mit denen sie diesen Zweck reali- siert. In diesem Sinne nennt sich Fichtes Lehre eine »Geschichte des Bewußtseins«. Aber diese Geschichte ist keine Erzählung kausal notwendiger, sondern eine Entwicklung teleologisch not- wendiger Prozesse. Alles, was Kant von reinen Formen der Vernunftorganisation gefunden hat, findet darin eine Stelle, an der es als die notwendige Lösung einer notwendigen Aufgabe er- scheint. Alle Vernunftformen bilden ein teleologisches System, welches durch eine letzte und höchste Aufgabe bedingt ist.

Ein solches System ist nur dadurch möglich, daß das gesamte Wesen der Vernunft in einer Tätigkeit gesucht wird, die um eines in ihr selbst begründeten Zweckes willen sich vollzieht. Die Fichtesche Lehre muß so in ihren Begriff der Vernunft einen ursprünglichen Gegensatz zwischen der ihr durch sie selbst ge- setzten Aufgabe und ihrer Tätigkeit aufnehmen, und sie muß diesen Gegensatz als einen der Vernunft wesentlichen betrachten, weil sich nur aus ihm jede besondere Vernunftfunktion erklärt. Der Gegensatz einer Aufgabe und eines in unendlicher Annähe- rung auf deren Realisierung gerichteten Strebens bestimmt des- halb den Fichteschen Begriff der Vernunft. Jener sittliche Ge- sichtspunkt, den Lessing und Kant aufgestellt hatten, wird von Fichte zum Kardinalprinzip der Philosophie gemacht, und die Überzeugung, daß der Grund aller "Wirklichkeit in dem Ideal zu suchen sei, das sie erfüllen soll, diese Grundüberzeugung prägt seiner Lehre den Charakter des ethischen Idealismus auf.

Daraus ergibt sich aber auch unmittelbar die so folgenreiche Methode der »V^issenschaftslehre«. Gelten alle Vernunfthandlungen als das System von Mitteln für die Erfüllung einer Aufgabe, so muß innerhalb der Vernunft selbst ein Widerspruch existieren zwischen dieser Aufgabe und ihrem Tim. Denn die völlige Über- einstimmung beider müßte das ganze Wesen dieser Funktionen

216 Fichte.

ebenso hinfällig machen, wie für Kant das Sittengesetz gegen- standslos erschien, sobald seine völlige Verwirklichung gesichert war. Der Begriff des^SoUensJ der nun von Fichte zum Zentral- begriff der gesamten Philosophie gemacht wird, verlangt den Widerspruch zwischen der Aufgabe und dem wirklichen Tun, und diesen Widerspruch verlegt die Wissenschaftslehre in das Wesen der Vernunft. Ihre teleologische Deduktion der Vernunfthandlungen läuft darauf hinaus, daß gezeigt wird, wie durch den Widerspruch zwischen der Aufgabe und dem ersten Tun sich die Notwendig- keit eines zweiten ergibt, wie auch dieses sich als unzulänglich erweist und dadurch ein drittes bedingt usf., bis entweder ein Processus in infinitum sich darstellt oder durch die Rückkehr zu der ersten Tätigkeit der gesamte Kreis der Vernunfthandlungen sich systematisch abschließt. In diesem Sinne ist Fichtes Methode diejenige der Widersprüche, und seine Entwicklung der Vernunft- formen aus dem Grundprinzip ist deshalb Dialektik. Auf eine solche dialektische Methode, welche sich am liebsten in der trichotomischen Einteilung und in dem Verhältnis vonjhesis, Antithesis und Synthesis bewegt, hatte gelegentlich schon Kant hingewiesen; ja, die ganze Dreiteilung seines Systems beruhte ja darauf, daß zwischen theoretischer und praktischer Philosophie ein Gegensatz obwaltete, aus welchem sich die Aufgaben der ästhetischen entwickelten. Hatte Kant als Grundverhältnis hier gelehrt, daß die zunächst einander fremden Funktionen des Wissens und des Begehrens in der Form des Gefühls eine Synthesis zu finden vermögen, hatte z. B. auch seine theoretische Philosophie in bezug auf den Gegensatz von Sinnlichkeit und Verstand in der Einbildungs- oder der Urteilskraft eine iVndeutung von der gemeinsamen Wurzel beider Funktionen hervortreten lassen, so macht Fichte dies Verhältnis zu einer dialektischen Methode, womit er das ganze System der Vemunfthandlungen aus ihrer letzten Aufgabe zu entwickeln unternimmt.

Ist damit der Grundcharakter von Fichtes Philosophie ge- kennzeichnet, so hatte sie diese ihre Aufgabe erst aus dem ge- gebenen Standpunkte der philosophischen Forschung heraus und anderseits aus dem allgemeinen Denken zu entwickeln. Die häufigen Umarbeitungen der Wissenschaftslehre beweisen, daß Fichte sich damit immer nicht genug tat, und doch mögen

WissenscliartHlchro. 217

manche der anfiln;j;liclu'n I)arstt'llun«^en die bcHten «geblieben nein. Die un<^owöhnliclic Höbe der Abstraktion, auf der sich diese Untersuchungen bewegen, und die vollkommene Neuheit der «ich darin entwickelnden Ansichten l^ildetcn für die sprachliche Dar- stellung außerordentlich große Schwierigkeiten, und so sehr es dem Denker an gewissen Punkten gelang, darüber Herr zu werden, so gewalttätig mußte er an andern der gewöhnlichen Sprache gegenüber verfahren. Für den modernen Geschmack, der es liebt, die Gedanken so platt ausgedrückt zu finden, daß er selbst so wenig wie möglich Arbeit daran hat, werden daher alle jene Be- arbeitungen Fichtes ungenießbar bleiben. Um so unberechtigter ist die Keckheit, mit der lange Zeit solche, die nie einen Satz von ihm verstanden hatten, über ihn abzusprechen pflegten. Für die Einführung in den Standpunkt der Wissenschaftslehre dürften die beiden Einleitungen dazu (1797), eine Meisterleistung von dialektischer Entwicklung, für die Vertiefung in das Ganze die »Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre« (1794) das Geeig- netste sein. Die populärste Darstellung des Zusammenhanges seiner theoretischen und seiner ethischen Lehre hat er in der »Bestimmung des Menschen« (Berlin 1800) gegeben, wobei jedoch nicht zu übersehen ist, daß sich in dieser Schrift schon die An- fänge seiner später 67) zu berührenden Umwandlung der meta- physischen Ansicht zeigen.

Wenn Fichte der Philosophie den deutschen Namen der Wissen- schaftslehre gab, so bezeichnete er damit die volle Geltung, die durch Kant der erkenntnistheoretische Standpunkt im Mttel- punkte des philosophischen Denkens gewonnen hatte. Sind die übrigen Tatsachen gruppenweise auf die anderen Wissenschaften verteilt, so ist es die Erklärung des Wissens, welche der Philo- sophie eine besondere Aufgabe gibt und eine besondere Methode aufnötigt. Zu dieser Erklärung hat das naive Bewußtsein den Gegensatz von Subjekt und Objekt. Der Dogmatismus erklärt das Bewußtsein aus Dingen an sich, der Idealismus erklärt die Dinge aus dem Bewußtsein, der Synkretismus versucht mehr oder minder geschickte Verschmelzungen von beiden und ist als Halbheit für Fichte von vornherein verdammt. Der Dogmatismus, als dessen Typus er die Lehre Spinozas betrachtet, ist unfähig, aus dem Sern die Vorstellung abzuleiten. So konsequent er in sich sein

218 Fichte.

mas:, er scheitert an dem Problem des Ich, des Selbstbewußtseins. Deshalb bleibt nur die andere volle Konsequenz übrig, den Idea- lismus so auszubilden, daß aus dem Subjekt das Objekt, aus der

Vorstellung das Sein erklärt wird. Dieser Idealismus EaFdarinr auch seinen besonderen Grund, daß, wie es auch metaphysisch um die Dinge bestellt sein möge, das Bewußtsein jedenfalls sich selbst das Nächste ist und nur von sich aus auch zur Vorstellung des Seins gelangen kann.

Der Begriff des"^ Wissens kann deshalb auch bei Fichte nicht in der Übereinstimmung von Gegenständen und Vorstellungen ge- sucht werden, sondern setzt die immanente Bestimmung voraus, daß es innerhalb der Vorstellungen solche gibt, welche mit dem Gefühle der Notwendigkeit auftreten. Kant hat diese einzeln auf- gesucht, aber Keinhold hat mit Recht gelehrt, daß das Wissen nur als System mögüch ist. Wenn es ein Wissen als kritisches System geben soll, so kann es nur in einem System notwen- diger Handlungen der Intelligenz gesucht werden. Aber zu dieser Aufsuchung muß die Philosophie von einem Satze aus- gehen, der in Form und Inhalt durch sich selbst notwendig be- stimmt ist. Allein dieser Satz darf nicht der Reinholdsche sein. Er darf nicht ein totes Wissen von irgendwelchen Verhältnissen und Beziehungen enthalten wollen, sondern er muß notwendig die voraussetzimgslose Urhandlung aller Vernunft, er muß den ursprünglichen Prozeß des Denkens in sich tragen. Er darf nicht der Ausdruck einer Tatsache sein, sondern derjenige einer Funk- tion, einer Handlung, welche nichts voraussetzt und alles zu ihrer Folge hat, welche deshalb eine freie Tat im eigentlichsten Sinne des Wortes ist der Ausdruck einer »Tathandlung«. Diese ur- sprünglichste und allgemeinste, durch keinen weiteren Inhalt und durch keine Formbeziehung oder Kategorie bedingte Tathandlung besteht darin, daß das Bewußtsein sich selbst denkt. Die rätsel- hafte Rückbeziehung auf sich selber, welche darin hegt, bezeichnet die Sprache mit dem Worte Ich. In diesem Sinne, nicht als das empirische Selbstbewußtsein einer einzelnen Persönlichkeit, sondern als das allgemeinste und ursprünglichste Handeln des vernünftigen Denkens ist das Ich oder das reine Selbstbewußtsein das Prinzip der Philosophie.

»Das Ich" setzt sich selbst.« Dieser Satz soll im Beginne der

Da« Icl.. 219

Fichtcschcii Phil()S()j)hi(' nicht eine Tatsache behaupten, ein '/Fak- tum« wie Keinholds Satz des BewiiütHcins, sondern er soll viel- mehr die Funktion aussprechen, durch welche_alles Denken be-_ dingt ist. Die Philosophie soll ijicht mit einer Behauptung be- ginnen. Behauptungen sind immer anfechtbar und niemals ein absolutes Prinzip. Den Anfanu' der Philosophie bilde nicht irgend ein Satz, über den sich streiten läßt oder der Voraussetzungen enthält, sondern vielmehr eine Forderung, die Urhandlung alles vernünftigen Denlcens auszuführen. Wie der Geometer damit be- ginnt, daß er verlangt: Stelle den Raum vor, so der Philosoph der Wissenschaftslehre mit dem Postulate: Denke dich selbst. Mit diesem Akte des Selbstdenkens wird die Vernunft erzeugt. Sie ist nur durch diesen Akt. Sie ist deshalb nicht etwas von irgendwo andcrsher Gegebenes oder Ableitbares. Sie entsteht nur durch diesen rätselhaften Akt des Sich- sei ber-Denkens. Die Ver- nunft ist die sich selbst schaffende Handlung, das sich selbst er- zeugende Tun, und die Philosophie fordert jeden auf, dieses Tun in sich zu erzeugen. Fichtes Verhältnis zu Kant laßt sich hierbei am besten übersehen. Für Kant war die Vernunft mit ihren Formen eine gegebene Organisation, welche in der kritischen Reflexion sich als allgemeine überindividuelle Tatsache offenbarte. Für Fichte besteht diese Organisation nur in der Selbsterzeugung der Vernunft. Seine Lehre enthält die Ausdehnung des Begriffes der Autonomie über die gesamte und speziell über die theoretische Vernunft. Er will zeigen, daß jene überindividuelle Organisation, in welcher Kant den Grund aller Apriorität suchte, überall, an welchem Inhalte sie sich auch entwickle, eine sich selbst er- zeugende Tat des vernünftigen Denkens enthalte. Kant hatte diesen Gedanken in der Lehre von der transzendentalen Apper- zeption'berührt, er hatte darin gezeigt, daß die Kategorien nur die Funktionsformen des reinen Selbstbewußtseins sind, und dieser dunkelste Teil seiner Lehre wurde hier zu dem Lichte, welches den Nachfolgern den Weg zeigte. Der Akt des Selbstbewußtseins, das ist die Summe der Fichteschen Erkenntnistheorie, ist die ur- sprüngliche Handlung, aus der die gesamte Vorstellungswelt mit ihrem Inhalte und ihrer Form sich ableitet. Nur wenn man von diesem Standpunkt aus die K^ntische Lehre betrachtet, ver- schwinden die Widersprüche, welche sich aus der realistischen

220 Becks Standpunktslehre.

Fassung vom ' Ding an sicH ergeben haben. Es ist unmöglich, die Vorstellung durch Dinge bestimmt zu denken. Aber es ist möglich, in den notwendigen Handlungen der Intelligenz diejenige aufzudecken, durch welche die Vorstellung von Dingen und ihrer Realität hervorgebracht und begründet, d. h. als notwendig ver- langt wird. Wenn es unter den Funktionen des empirischen Bewußtseins keine solche gibt, so muß der Grund für die Vor- stellung von Dingen in einem ursprünglichen Vorstellen, in jenem reinen Selbstbewußtsein gesucht werden, ohne welches auch nach Kant kein empirisches möglich ist. In diesem Sinne erkläite Fichte auch gegen den ausdrücklichen Widerspruch von Kant, daß seine Lehre nichts als der_ wohlverstandene und konsequent durchgeführte Kritizismus sei, und in diesem Sinne stimmte ihm hinsichtlich der theoretischen Deduktionen Sigismund Beck (1761 1842, später Professor in Rostock) bei, welcher unter Billigung des Meisters einen »erläuternden Auszug aus den Schriften des Herrn Professor Kant« herausgegeben hatte und nun, vielleicht schon unter dem Einfluß der Wissenschaftslehre, einen dritten Band unter dem Titel: »Einzig möglicher Standpunkt, aus welchem die kritische Philosophie beurteilt werden muß« (1796) hinzufügte. Der Idealismus, den diese interessante »Standpunkts- lehre« vertrat, wendet sich namentlich gegen Reinhold, welcher Kant durch seine Fassung der Lehre vom Ding an sich zum Dogmatiker gemacht habe, und sucht den wahren Schlüssel zum Verständnis Kants in der Lehre von der transzendentalen Apper- zeption. Es gibt kein Band zwischen Vorstellungen und Dingen an sich. Gegenstände, die als Norm der Richtigkeit dem indi- viduellen Bewußtsein gegenübergestellt werden sollen, sind mit den Vorstellungen des letzteren nur dann vergleichbar, wenn sie selbst Vorstellungen sind, und sie können als solche nur dadurch aufgefaßt werden, daß sie als Produkte eines »ursprünglichen Vorstellens« gelten, das allem individuellen Bewußtsein vorher- geht. Es ist nicht zu leugnen, daß zwischen diesem Beckschen Standpunkte und dem Berkeleyschen nur äußerst schwierig die Grenzen zu ziehen sein würden. Aber auf ihm standen auch weder Kant noch Fichte; Kant nicht, insofern er an der Realität der Dinge an sich festhielt, Fichte nicht, insofern er der spiri- tualistischen Grundlage des englischen Denkers gänzlich fern stand.

Das urs|irünf(liche N'oretellen. 221

namontlich aber iusoftMii or die V()i}iiisHotzun<,'('n für jenes ur- {5[)rüii<^li('lie Vorstollen in dci praktischen Venninft suchte. Auch Beck hat die Lehre vom J)ing an si(;h ledi^jlich als ein theo- retisches Problem behandelt, und ^leshalb könnt»' auch sein Stand- punkt nicht der abschließende sein. Aber in seiner Auffassung tritt deutlich die Tendenz zutage, Kants »Bewußtsein über- haupt« metaphysisch zu deuten und das »ursprüngliche Vorstellen« als ein überindividuelles Subjekt zu behandeln, eine Vorstellungs- weise, welche in der theoretischen Entwicklung der Kantischen Prinzipien keine Stelle hatte.

Aus jenem Grundprinzip der Fichteschen Lehre ergibt sich aber sogleich eine Foli2;erunc; , welche sie mit allen ihren dialek- tischen Konsequenzen in einen unversöhnlichen Gegensatz zu der gewöhnlichen Weltauffassung versetzte. Es ist besser, diesen Gegen- satz ganz scharf herauszuheben, als ihn zu verdecken: er enthält den letzten Grund für alles dasjenige, was in der idealistischen Philosophie als Paradoxie erschienen ist und noch heute erscheint. Das naive Bewußtsein kami sich eine. Funktion nur denken als den Zustand oder die Tätiojkeit eines funktionierenden Wesens. Wie man sich auch dies Verhältnis vorstellen mag, immer denkt das nach den gewöhnlichen Kategorien sich vollziehende Denken zuerst Dinge und dann erst Funktionen, welche diese ausführen. Die Fichtesche Lehre stellt dies Verhältnis auf den Kopf. Was wir Dinge nennen, betrachtet sie als Produkte von Tätigkeiten. Wenn man sonst die Tätigkeiten als etwas ansieht, was ein Sein voraus- setzt, so ist für Fichte alles Sein nur ein Produkt des ursprünglichen Tuns. Die'Funktion ohne ein funktionierendes Sein^ ist für ihn das metaphysische Urprinzip. Für das gewöhn- liche Bewußtsein scheint eine solche Funktion in der Luft zu schweben und unvorstellbar zu sein. In der Natur, um es am besonderen Beispiel zu erläutern, denkt das naive Bewußtsein die Kräfte und die Bewegungen an existierende Stoffe oder an seiende Atome gebunden : schon Kants dynamische Naturphilosophie lehrte, daß, was als Stoff erscheint, nur ein Kraftprodukt sei. Bei Fichte führt die konsequente Erweiterung dieses Gedankens zur Zer- trümmerung des "Ding-an-sich-Begriffes : für ihn ist alle Realität nur ein Produkt des Tuns.

Hier sieht man am deutlichsten den weiten Abstand, der den

222 Fichte.

deutschen Idealismus von demjenigen eines Descartes oder eines Berkeley trennt. Diese mochten wohl die Körper weit zum Teil oder ganz in Vorstellungen auflösen, aber die Vorstell imgen selbst betrachteten sie mit der naiven Weltauffassung als Funktionen denkender Substanzen. Für Fichte ist das Selbstbewußtsein eine Tathandlung, die, statt eine denkende Substanz vorauszusetzen, vielmehr ihrerseits erst eine solche Substanz erzeugt. Der denkende Geist »ist« nicht erst und kommt dann hinterher durch irgend- welche Veranlassungen zum Selbstbewußtsein, sondern er kommt erst durch den unableitbaren, unerklärlichen Akt des Selbst- bewußtseins zustande. Die wahre Geburtsstunde des Menschen ist der Moment, wo er zum ersten Male »ich« sagt.

Beginnt also die Philosophie damit, daß sie jeden auffordert, die schöpferische Tätigkeit des Selbstbewußtseins zu ^vollziehen, so besteht ihr Fortschritt lediglich in der Reflexion auf dasjenige, was in dieser Handlung geschieht, und was notwendig mit ihr als weitere Funktion verbunden ist. Dazu gehört nun in erster Linie, daß das Ich, um sich selbst zu bestimmen, sich von allem anderen unterscheiden, daß es sich ein »Nichtich« gegenübersetzen muß. Aber dieses Nichtich ist doch selbst immer wieder etwas Vorgestelltes, es ist also vom Bewußtsein und im Bewußtsein gesetzt. »Das Ich setzt das Nichtich im Ich.« Somit entsteht durch den Akt des Selbstbewußtseins in diesem ein doppelter Inhalt, und, im Bewußtsein vereinigt, heben _Ich und Nichtich einander teilweise auf und beschränken sich gegenseitig. Keines von beiden nimmt das ganze Selbstbewußtsein ein, und jedes ist nur in Beziehung auf das andere gesetzt und durch dies andere bestimmt. Subjekt und Objekt wenn man diese populären Bezeichnungsweisen mit der Vorsicht anwenden will, daß die Kategorie der Substantialität von beiden noch fern gehalten wird sind die beiden notwendigen Urgegensätze , welche im Akte des Selbstbewußtseins enthalten sind, und welche nur in Beziehung aufeinander gedacht werden können. Sowenig wie ein Subjekt an sich ohne Objekt, sowenig ist ein Objekt an sich ohne Subjekt zu denken. ])iese gegenseitige Beziehung entwickelt sich in der Kategorie der Wechselwirkung und führt so zu dem Grund- satze, daß das Ich und das Nichtich einander wechselseitig be- stimmen. Denkt man die beiden Verhältnisse, die darin vereinigt

Das Hewuütlosi! im Ich. 22'{

blind, gesüiulert, so zoi<;t sicli iiuf der einen Suite eine Jiesiiinnit- licit des Ich durch das Niclitich, auf der andern eine Bestimmtheit des Nichtich durch das Ich. Wird im Selbstbewußtsein das Subjekt durch das Ohjekt 1 estimmt, so ist die KausaHtät diejenige des (Jrundes, und das Ich verhält sich theoretisch: wird umgekehrt das Objekt durcli das Subjekt bestimmt, so ist die Kausalität diejenige des Zwecks und der Tat, und das Ich verhält sich praktisch. So teilt sich nach diesen allgemeinsten Begriffsbe- stimmungen die Wisseuschaftölchre, die Fichtesche Philosophie, in einen theoretischen und einen praktischen Teil.

Die Aufgabe des ersteren besteht also in der Entwicklung der- jenigen notwendigen Vernunfthandlungen, welche sich aus der Be- stimmtheit des Ich durch das Nichtich ergeben. Es ist klar, daß, wenn das Nichtich als Objekt des Ich erscheint, es nur von diesem produziert sein kann. Es ist ebenso klar, daß, wenn es nichts gibt als das Ich und seinen selbstgeschaffenen Inhalt, das eigent- liche Problem darin zu suchen ist, daß die an sich unendliche und unbeschränkte Tätigkeit des Ich sich bei jedem besonderen Bewußtseinsakte, der irgend ein Nichtich zum Inhalt hat, selbst beschränkt. Das Nichtich beschränkt die Tätigkeit des Ich, aber es ist ja selbst nur eine Funktion im Ich. Es ist also diejenige Funktion, durch welche das Ich sich selbst beschränkt. Der ein- zelne Inhalt des Bewußtseins also in der ganzen Notwendigkeit, womit er darin sich geltend macht, kann nicht aus einer Abhängig- keit des Bewußtseins von irgendwelchen Dingen an sich, sondern nur aus dem Ich selbst erklärt werden. Nun ist aber alles be- woißte Produzieren durch Gründe bestimmt und setzt deshalb immer wieder besonderen Vorstellungsinhalt voraus. Das ur- sprüngliche Produzieren, wodurch zu allererst das Nichtich im Ich gewonnen wird, kann nicht bewußt, sondern nur bewußtlos sein. Es ist auch nicht durch Gründe bestimmt, sondern absolut fiei und grundlos. Die Funktionen also, welche Beck als das »ur- sprüngliche Vorstellen« bezeichnete, sind für Fichte grundlos freie Akte, die eben deshalb nicht als solche, sondern erst in ihren Produkten zum Bewußtsein kommen. Dem empirischen Bewußt- sein, für welches der Reinholdsche Satz von dem Verhältnis der Vorstellung zum Subjekt und zum Objekt gilt, muß ein unbe- wußtes Vorstellen vorhergehen, welches, selbst frei und grundlos.

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224 Fichte.

den Grund für die Notwendigkeit enthält, womit der besondere Inhalt dem Bewußtsein sich aufnötigt.

Dies ist der wichtigste Schritt, den Fichte über Kant hinaus tut. Es leuchtet ein, daß dieses . bewußtlose, grundlos freie Vor- stellen als eine Funktion eben derselben überindividuellen Ver- nunfteinheit gedacht wird, welche Kant als transzendentale Apper- zeption bezeichnete. Während aber Kant auf diese nur die for- malen synthetischen Verknüpfungen des Empfindungsmaterials zurückführte, ohne sich um die Begründung des letzteren zu kümmern (da er vielmehr dessen Notwendigkeit und Allgemein- gültigkeit leugnete), sucht Fichte in der produktiven Ein- bildungskraft den Ursprung der Empfindung. Die Besonderheit der einzelnen Empfindung ist allerdings auch auf diesem Stand- punkt nicht zu begründen: aus dem empirischen Bewußtsein nicht, weil dieses nicht weiß, wie es dazu kommt; durch Dinge an sich nicht, weil diese überhaupt nicht gedacht werden können; durch die Vereinigung von beiden erst recht nicht. So bleibt nur übrig, sie als eine absolute Urposition zu betrachten und als das Produkt einer vollkommen freien, grundlosen Handlung anzusehen, deren Ursprung in dem überindividuellen Ich zu suchen ist.

Diese Lehre Fichtes hat, recht verstanden und von den Formeln der Wissenschaftslehre befreit, eine enorme Tragweite. Ihr tiefster Gehalt ist der, daß alles Bewußtsein sekundärer Natur ist und auf ein Bewußtloses hinweist, welches ihm den Inhalt gibt. Alle Versuche des Rationalismus, aus dem Wesen des Bewußtseins, aus seinen Formen und Gesetzen auch den Inhalt des Denkens herauszuklauben, werden hier an einer noch viel tieferen Wurzel abgeschnitten als bei Kant. Das empirische Bewußtsein ist nur möglich, wenn sein Inhalt gegeben ist. Der Empirismus war schnell mit der Behauptung bereit, daß es eben die Dinge an sich seien, von denen dieser Inhalt des Bewußtseins stamme. Aber die Kantische Kritik, wie Fichte sie auffaßt, hat die Möglichkeit dieser Erklärung vernichtet. Auch Dinge an sich sind Vor- stellungen. Deshalb sieht Fichte den einzigen Ausweg für die Er- klärung des gegebenen Bewußtseinsinhaltes darin, daß dieser aus einem Vorstellen höherer Art, einem freien unbewußten Vorstellen herstamme. Zum zweiten Male wird hier in der deutschen Philo- sophie der Begriff einer unbewußten Vorstellungstätigkeit

ThoorotiHcheH Ich. 226

ontdorkt, abor mit pjanz andormi Sinno inid in panz anderem Zn- samfnonhan^o als bei Leibniz. Dort handelte eH Hich (und Mai- mon hatte diesen Gedanken innerhalb deHKritizismiisernenert)umdie ♦illmähbehe Abnahi\)e (Ut I5ewiißts*^insener<^Me bis zu verschwindend kleiner Größe, liier ist es eine toto coelo verschiedene Funktion, als welche das unbewußte dem bewußten Vorstellen j^e;^'eniiber- tritt. Jenes ist grundlos und frei, dieses ist begründet und not- wendig; jenes ist ursprünglich und originell, dieses ist abgeleitet und abbildlich. Damit rundet sich die idealistische Erkenntnis- theorie zu dem geschlossensten System ab', das sie je gefunden hat und finden kann. Was das naive Bewußtsein als eine fremde Welt von Dingen an sich ansieht, ist das Produkt einer unbe- wußten Vorstelhingstiitigkeit, welche als die ursprünglichste theoretische Funktion allem empirischen Bewußtsein zugrunde liegt.

Ist so die Empfindung als allgemeine Funktion aus dem über- individuellen Ich deduziert worden, so enthält sie einen Wider- spruch im Wesen des Ich und damit eine Aufgabe, welche die Reihe der notwendigen Formen bedingt, in denen sich die theo- retische Vernunft entwickelt. Bei der Konstruktion dieser Reihe, welche im wesentlichen darauf hinausläuft, alle die Vernunft- formen darzustellen, die Kants Erkenntnistheorie analysiert hatte, bewegt sich Fichte mehr oder minder ausgesprochen in einem räumlichen, teilweise an optische Verhältnisse erinnernden Bilde. Die an sich unendliche Tätigkeit des Ich setzt sich durch die freien Handlungen der produktiven Einbildungskraft überall Schranken. Aber sie ist infolgedessen bei jeder solchen Handlung begrenzt und unbegrenzt zugleich, und sie kann das nur dadurch sein, daß sie, indem sie sich diese Schranke setzt, zugleich auch darüber wieder hinausgeht. Dies Darüberhinausgehen aber ist selbst nur wieder eine Tätigkeit des Ich, also ein Vorstellen, und muß darin bestehen, daß das Ich sich die Schranke, welche es sich selbst gesetzt hat, zum Objekt des Bewußtseins macht. Die Reflexion auf die Empfindung ist die »Anschauung«, in der eben deshalb die Empfindung als ein dem Bewußtsein Fremdes, Äußer- liches und Gegebenes erscheint, und dieser Prozeß wiederholt sich immer wieder. Über die Anschauung hinaus geht die Tätigkeit des Ich zu der »Einbildungskraft« über: hier wird der Inhalt der

Windelband, Gesch. d. n. Philos. U.

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226 Fichte.

Anschauung als ein Bild mit der synthetischen Anordnung seiner Bestandteile betrachtet, welche durch die Kategorien bestimmt wird. So erscheinen bei Fichte die Kategorien und mit ihnen auch die sinnlichen Formen von Raum und Zeit als Funktionen der Einbildungskraft, die bei Kant die Beziehung beider vermittelt hatte. Aber auch über das Bild hinaus muß das Ich seine Tätig- keit entwickeln, indem es als »Verstand« das Bild für einen realen Gegenstand erklärt, der die Ursache der Empfindungstätigkeit enthalte. Deshalb stellt sich bei Fichte die Kategorie der Kau- salität als Grundform der Verstandestätigkeit dar. Diese Ver- standesreflexion aber weist ihrerseits auf die Fähigkeit des Be- wußtseins zurück, sich seinem eigenen Inhalte in freier Abstraktion gegenüberzustellen, und wenn diese Fähigkeit die »Urteilskraft« genannt wird, so wurzelt sie wieder in jenem allgemeinsten Ver- mögen, mit dem das Ich über jede beliebige Schranke hinaus- gehen, sie in der Abstraktion fixieren und auf sie als sein eigenes Objekt reflektieren karm. Indem Fichte dieses allgemeinste Ver- mögen im engeren Sinne als »Vernunft« bezeichnet und dabei auf den Kantischen Wortgebrauch zurückweist, betrachtet er da- mit die theoretische Reihe der Handlungen des Ich als ge- schlossen; denn als der tiefste Grund aller dieser Funktionen ist dieselbe allgemeine Tätigkeit gefunden worden, die anfänglich das Problem bildete. Damit aber ist zugleich erkannt, daß die theo- retische Wissenschaftslehre zwar ein in sich vollständig geschlossenes System bildet, aber ein Grundproblem enthält, welches sie selbst zu lösen nicht imstande ist.

Es ist keine Frage, daß die Konstruktion, deren Grundzüge hier nur angedeutet wurden, neben den vielen geistreichen Wen- dungen und feinen Beobachtungen, welche sie enthält, im ganzen doch durchaus künstlich und zum Teil überaus willkürlich ist. In dem Aufbau der Vernunftformen spielen dabei namentlich die Kategorien die sonderbare Rolle, daß sie an verschiedenen Punkten wiederkehren, und daß somit ihre völlig systematische Ableitung nicht als gelungen betrachtet werden kann. Es kommt hinzu, daß das Grundprinzip, wonach jede der deduzierten Handlungen erst durch das System der folgenden begründet erscheinen soll, zwar eine gewisse Berechtigung dafür gibt, daß die späteren Funk- tionen unvermerkt schon in den früheren mitspielen, daß aber

PraktiHrhcH Ich. 227

dadurch v'm DurcheinanderKcliillcrn ullor dieser Tätipkriton zu- wep;o gebracht wird, welches pe^en die Bor^samo Scheidung, die Mch Kant überall zur Auf^nibe gemacht hutU;, wenig vorteilhaft wirkt. Es zeigt sich scliun hier% die (iofährlichkeit des dialek- tischen Prinzips, wonach die verschiedenen Funktionen unter der treibenden Macht einer gemeinsamen Aufi^abc auseinander hervor- gehen und ineinander umschlagen sollen. Aber es tritt auf der anderen Seite auch die ganze Großartigkeit des Gedankens her- vor, die gesamten Formen der Intelligenz als ein System aus einem Guß zu begreifen und dessen Grundaufgabe in allen einzelnen Formen wiederzuerkennen.

Dies ganze System enthält also nichts als die Reihe der Hand- lungen, mit denen die Vernunft über jede selbstgesetzte Schranke immer wieder hinausstrebt: das Wesen der theoretischen Vernunft ist diese Bewegung, sich selbst Grenzen zu setzen und diese immer wieder zu überschreiten. Sie hängt also an der Empfindung als der ersten grundlosen und deshalb theoretisch unbegi-eif liehen Schranke, welche das Ich sich setzt. Den Gegensatz der unbe- schränkten und der beschränkten Tätigkeit findet das theoretische Ich als den Grund seiner ganzen Entwicklung vor, ohne ihn ver- stehen zu können. Jener erste Anstoß für die Entwicklung der ganzen Reihe, der in der Empfindung gesucht werden muß, macht die ganze theoretische Vernunft erst möglich und ist deshalb aus ihr nicht abzuleiten. Die theoretische Vernunft kann keine Rechen- schaft darüber geben, weshalb das Ich seine unendliche Tätigkeit durch die freien und grundlosen Handlungen beschränkt und da- mit den ganzen Prozeß veranlaßt, der von da aus notwendig durch alle die deduzierten Formen hindurch sich entwickelt. Der Grund dieses Anstoßes kann deshalb nur darin gesucht werden, daß das Ich seinem tiefsten Wesen nach praktischer Natur ist. Die unendliche Tätigkeit, welche das reine Ich ausmacht, würde inhaltlos sein, wenn es für sie nichts zu tun gäbe. Eine Kraft kann sich nur dadurch wirksam erweisen, daß sie einen Widerstand überwindet. Eine unendliche Tätigkeit ist nur dadurch möglich, daß es immer wieder eine Schranke gibt, welche sie zu überwinden hat. Um daher unendliche Tätigkeit zu bleiben, muß das Ich sich Schranken setzen, die es zu überwinden hat. Der Anstoß für die ganze theoretische Reihe, die ursprünghche Selbst-

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228 Fichte.

beschränkung des Ich in der Empfindung, geht daraus hervor, daß das Ich eine unendliche Tätigkeit sein soll und als solche eines Widerstandes bedarf, um sich an ihm zu entfalten. Das Ich setzt sich die Schranke, um sie zu überwinden: es ist theoretisch, um praktisch zu sein.

Den tiefsten Charakter des Ich bildet also die UnendHchkeit seiner Funktion; aber es ist das keine Unendlichkeit des Seins, denn das wäre eine fertige Unendlichkeit, sondern eine Unend- lichkeit des Tuns und des Streben s. Es liegt im Wesen der un- endlichen Tätigkeit, daß sie ihr Ziel nicht erreichen kann. Sie wäre nicht mehr unendlich, sobald das Streben erfüllt wäre und darin sein Ende hätte. Die Tätigkeit des Ich kann daher nur darin bestehen, daß sie notwendig durch die Setzung der Schranken sich immer neue Aufgaben steckt und über deren Lösung zu neuen Aufgaben fortschreitet. Der empirische Wille findet den Wider- stand, an dem er sich betätigen soll, im Nichtich vor: das un- endliche Streben des reinen Ich findet keinen Widerstand vor und muß deshalb selbst ihn sich setzen. Daher seine Selbstbeschränkung in der unbewußten Vorstellung, deren Produkt die'Hlmpfindung' und das 'Nichtich ist. Auch aus der praktischen Vernunft kann nicht deduziert werden, weshalb deren einzelner Inhalt gerade so und nicht anders bestimmt ist, wie er im Bewußtsein als ge- geben erscheint; denn es sind^ freie, grundlose Tätigkeiten, um welche es sich dabei handelt; aber es läßt sich im allgemeinen feststellen, welches der Zweck ist, um deswillen alle diese grund- losen Akte des unbewußten Vorstellens geschehen, aus denen die objektive Welt hervorgeht.

Die Grundbestimmungen der Wissenschaftslehre sind danach folgende. Das reine oder absolute Ich ist die unendliche, nur auf sich selbst gerichtete Tätigkeit (das Tun des Tuns, wie es Jacobi ausdrückte). Diese unendliche Tätigkeit, die keinen anderen Gegen- stand hat als sich selbst, ist aber keine Tatsache; es widerspricht ihrem Begriffe, fertig zu sein, und sie existiert daher nur als un- endliches Streben oder Trieb. Um der VerwirkHchung dieses Triebes willen setzt das reine Ich durch freie Handlungen sich selbst Gegenstände, an denen sich besondere endliche Tätigkeiten entwickeln können, und erzeugt auf diese Weise die Welt der Vor- stellung oder die objektive Welt. Der Grund der Welt also ist

Slaiulpunkt der LleutitUt. 229

nicht eine Ursache, die sio mit Notwendigkeit erzeugte, wie im Spiiiüzistischen System, somlern ein Zweck, der durch Hie ver- wirklicht werden soll. Dieser Zweck ist die Tätigkeit, und zwar die Tätigkeit, die um ihrer selbst» willen und nicht zur Herbei- führung irgend anderer Zwecke da sein soll, die Tätigkeit als Selbstzweck. Das reine Ich ist also nicht gegeben, sondern viel- mehr aufgegeben. Die unendliche Tätigkeit ist die Aufgabe, die selbst niemals erfüllt wird, und um derenwillen alle besonderen Tätigkeiten mit allen ihren Produkten, d. h. mit der ganzen ob- jektiven Welt da sind. Die Tätigkeit als Selbstzweck ist aber nichts anderes als die absolut autonome, nach Kantischer Be- stimmung die sittliche Tätigkeit. Wie der kategorische Im- perativ das Gesetz der Gesetzmäßigkeit, so ist das unendliche Streben der Trieb, Trieb zu sein, der nur auf sich selbst ge- richtete Trieb oder der Selbstzweck. Das Sittengesetz also, d. h. die Forderung eines Handelns, das lediglich sich selbst zum Zwecke hat, ist der die Welt erzeugende Trieb des absoluten Ich. Auf diesem ihren Höhepunkte zeigt sich nun die Fichtesche Lehre zugleich in ihrer ganzen Abhängigkeit mid in ihrer ganzen Verschiedenheit von der Kantischen. Der Primat der praktischen Vernunft über die theoretische ist vollständig durchgeführt: die letztere gilt nur noch als ein Ausfluß der ersteren, und die Um- legung des metaphysischen Standpunktes aus der theoretischen in die praktische Vernunft ist so vollständig vollzogen, daß die letztere als der Urgrund der gesamten Wirklichkeit betrachtet wird. Zugleich aber gilt die Analyse der notwendigen Vernunft- tätigkeiten nicht mehr bloß als solche, sondern als die meta- physische Erkenntnis. Die Wissenschaftslehre ist nickt nur Er- kenntnistheorie, sondern zugleich Metaphysik, weil es zu ihren ersten Prinzipien gehört, daß*Dinge an sich^ überhaupt undenkbar sind, und daß es nichts weiter geben kann, als die Vernunft und ihre notwendigen Produkte. Geht man von der landläufigen Be- trachtungsweise aus, \velche Denken und Sein einander gegen- überstellt, so lehrt diese Konsequenz des transzendentalen Idealis- mus die absolute Identität des Seins mit den notwendigen Handlungen der Vernunft, und in diesem Sinne pflegt die von Fichte begonnene Kichtung als Identitätsphilosophie be- zeichnet zu werden. Sie charakterisiert sich in bezuo; auf die

230 Fichte.

philosophischen Disziplinen durch die Identifizierung von Logik und Metaphysik und hat in dieser Hinsicht ihre Wurzeln in Kants transzendentaler Logik insofern, als schon in dieser die synthetischen Formen der Denktätigkeit als die bestimmenden Gesetze der objektiven Welt erkannt wurden. Die Restriktion jedoch, welche Kant durch seine Lehre vomtDing an sich gemacht hatte, fiel schon bei Fichte fort, und aus der Metaphysik der Erscheinungen wurde wieder eine absolute Metaphysik. Diese Umänderung kam sogleich an der Behandlung desjenigen Be- griffes zutage, der bei Kant das Kriterium für die Möglichkeit einer absoluten Metaphysik gebildet hatte, der intellektuellen Anschauung. Mit diesem Ausdruck hatte Kant den höchsten Grenzbegriff seiner »Metaphysik des Wissens« bezeichnet: die An- nahme eines schöpferischen Geistes, der mit den Formen seines Denkens zugleich auch deren Inhalt, die Noumena, die Dinge an sich erzeugt. Diese Bedeutung des Begriffs wurde für Fichte mit dem des Dinges an sich gegenstandslos und hinfällig. Er ver- stand vielmehr unter intellektueller Anschauung nur die sich selbst und ihren Tätigkeiten zuschauende Funktion des Intellekts, worin eben für ihn das ganze Geschäft der Wissenschaftslehre bestand. Aber eben diese Selbstanschauuno des Bewußtseins sollte nun in sich jene grundlos freien, aus der praktischen Auf- gabe des Ich stammenden Handlungen der Empfindung entdecken, deren Inhalt den Bestand der empirischen Wirklichkeit ausmacht. So unbegreiflich der Inhalt dieser Urtätigkeit des theoretischen Ich blieb, so deutlich lag der Sinn und der Zweck der Tätigkeit selbst vor jener Selbstanschauung da. Und damit wurde die Reflexion, womit in der Wissenschaftslehre das philosophierende Bewußtsein sich selbst zuschaut, zu einem Verständnis des Zu- sammenhanges der Dinge, das an die Stelle derjenigen Unter- suchungen trat, welche man früher als Metaphysik im dogmatischen Sinne getrieben hatte. Doch darf dabei nicht übersehen werden, daß diese auf der intellektuellen Selbstanschauung des Ich be- gründete Metaphysik zu ihrem Inhalte schließlich auch eben nur, genau wie die Kantische Vernunftkritik, das System der Ver- nunftformen hat: Fichte hat niemals verkannt, mit der Zeit aber immer mehr betont, daß seine idealistische Deduktion bis zu den besonderen Inhalten der Empfindung und Erfahrung nicht hinab-

Dua Sollen. 2'\\

reich(Mi kcinnc. Wenn or einmal im »Naturrecht« so weit ^'ing, das organisiho Leben als Mittel für die sitt liehe Pflichterfüllung zu konstruieren , so hat er sehr bald danaeh um ho deutlicher darauf lnn»^ewiesen , daß aller l)e}*on(lei(^ Inhalt der Wirklichkeit nach seinem Sein wie nach seinem Werte niemals aus den all- <;emeincn Formen der Vernunft zu bestimmen, sondern immer nur zu er_ltiben sei.

Das reine' Icli, welches den letzten Punkt dieser ganzen Kon- struktion der Vernunftformen bildet, ist also kein Sein, sondern eine Tätigkeit und nicht einmal eine wirkliche Tätigkeit, sondern die Aufgabe einer solchen. Der letzte Grund aller Wirklichkeit liegt im Sollen. Das Ich soll unendlich tätig sein. Darum er- zeugt es die Welt seiner Vorstellungen als das Objekt für diese Tätigkeit. Das praktische Ich ist der Trieb zum Handeln. In dem einzelnen empirischen Ich ist somit das Sittengesetz nur das Bewußtsein davon, daß das Ich reines Ich, d. h. unendliche, auf sich selbst gerichtete Tätigkeit sein soll und es nicht ist. Aus diesem Widerspruche geht in ewiger Erzeugung die wirkliche Welt hervor. Nicht aus dem Bewußtsein der wirklichen Welt ist das Bedürfnis des Handelns abzuleiten, denn sonst wäre es heteronom und imsittlich: sondern umgekehrt der Trieb zur Tätiokeit schafft die wirkliche Welt. Er schafft sie nur als ein Objekt der Tätig- keit: die^Natur^hat Sinn nur als Material unserer Pflichterfüllung. Deshalb gibt es für die Fichtesche Lehre keine Naturphilosophie im sonstigen Sinne des Wortes. Er hätte sie nicht geben können, weil ihm, wie es scheint, bei der Einseitigkeit seiner Jugend- bildung genaue und spezielle naturwissenschaftliche Kenntnisse mangelten. Aber die Prinzipien seiner Philo3ophie erlaubten sie ihm gar nicht. Als einen in sich bestehenden ^ausalmechanismus konnte die Wissenschaftslehre die Natur nicht betrachten. Von einer '^immanenten Zweckmäßigkeit der Natur zu sprechen, war Fichte ein Greuel. Seine teleologische Natuiauffassung besteht nur darin, daß er deduzieren will, die Natur, wie sie da ist, habe erzeugt werden müssen, um als ein Widerstand die Verwirk- lichung der sittlichen Aufgabe möglich zu machen. So überträot sich auch in Fichtes Naturauffassung der Widerspruch, bei dem Kant stehen geblieben war. Beiden Denkern gilt das natürliche Wesen und vor allem das dazu gehörige sinnliche Trieblebeu des

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232 Fichte.

Menschen als etwas dem Sittengesetze Widerstrebendes und seine Erfüllung Hemmendes. Aber beiden erscheint doch anderseits dieses selbe natürliche Wesen notwendig, um das sittliche Handeln überhaupt zur Entfaltung zu bringen, und beide betrachten des- halb diesen Widerstand als einen für die sittliche Aufgabe zweck- mäßig eingerichteten, der ihre Erfüllung nicht nur hemmt, sondern vielmehr anderseits nur um ihretwillen da ist und durch sie in seinem ganzen Wesen bestimmt wird. Eben deshalb ist dje_Welt für Fichte der^gesetzte Widerspruch 'und die Dialektik die Methode ihrer Erkenntnis.

In der besonderen Ausführung der praktischen Philosophie (System der Sittenlehre 1798) geht somit auch Fichte von dem Gegensatz des Sinnlichen und des Sittlichen oder des sinnHchen imd des reinen Triebes aus, und dieser Gegensatz bestimmt für ihn auch die Auffassung dessen, was Kant das "^Radikalböse in der menschHchen Natur genannt hat. Wie der eigene rastlos tätige Charakter imd das titanische Streben, welche das Wesen von Fichtes Persönlichkeit ausmachen, sich positiv darin kund- geben, daß für ihn das sittliche Handeln die Tätigkeit ist, die nur um der Tätigkeit willen geschieht, so kommen sie negativ darin zutage, daß für ihn das radikale Übel der menschlichen Natur in der Trägheit besteht. Der sinnliche Trieb geht auf die Behaglichkeit, auf die Euhe und den Genuß, er ist die Schlaff- heit des Fleisches. Der sittliche Trieb geht auf die Arbeit, auf das immer neue Ringen und Kämpfen. Wer da handelt, um sich des Fertigen zu freuen, der handelt heteronomisch und imsittlich. Nur der ist der sittliche Mensch, der eine Aufgabe erfüllt zu dem Zweck, um in ihrer Lösung eine höhere Aufgabe zu finden. Wie das ewige Soll den Urgrund aller Wirklichkeit bildet, so verlangt auch das Sittengesetz, daß jede menschliche Handlung auf ein Ideal gerichtet sei, das, niemals vollkommen erreichbar, doch jede besondere Aufgabe des Lebens zu bestimmen hat.

In der Formulierung dieser Aufgabe überschreitet Fichte den subjektiven Standpunkt der Kantischen Moral dadurch, daß er noch energischer als dieser die Stellung des Menschen als eines Gliedes der sittlichen Weltordnung ins Auge faßt. Er deduziert, daß die Verwirklichung des sittlichen Endzwecks die VieDieit der endlichen Ich, der empirischen Persönlichkeiten notwendig mache.

Kthik und llochtHlehre. 283

Aber auch diese Vielheit ist nicht als ein Aggregat oder als eine Masse, sondern als ein System zu denken, und sie kann dies nur dadurch sein, daß in dem großen Plane der Erfüllung des sitt- lichen Zwecks jedem einzelnen Igli eine besondere Bestimmung zugewiesen ist. Diese seine Bestimmung hat das Individuum aus seiner empirischen Existenz und aus seinem sittlichen Bewußtsein zu erkennen und sie als oberste Maxime allen seinen Lebenstätig- keiten zugrunde zu legen. Seiner Stellung in dem Reiche ver- nünftiger Wesen macht sich der Mensch nur dadurch würdig, daß er mit dieser seiner Bestimmung all sein Denken, Wollen und Handeln durchleuchtet, daß er sich ihrer in jedem Augenblicke bewußt bleibt und aus ihr heraus sein ganzes Leben gestaltet. Er weiß sich eben dadurch als ein Glied der gesamten sitthchen Weltordnung und findet seinen Wert darin, sie an seinem Teile zu verwirklichen. Er denkt nicht an sich, er lebt für das Ganze, für die Gattung: er opfert sich und seine Glücksehgke^t dem Ideal seiner Aufgabe, die in der sittlichen Gemeinschaft der Gat- tung wurzelt. Für Fichte nimmt daher der kategorische Impe- rativ die inhalthche Form an: Handle stets nach deiner Bestim- mung. Deshalb war er imstande, in viel tieferer Weise als Kant die sitthche Bedeutung der wirklichen Lebensverhältnisse, vor allem z. B. der Ehe, aufzufassen und viel inniger die großen In- stitutionen der menschlichen Gesellschaft in ihrem ethischen Werte zu begreifen.

In hervorragender Weise hat sich diese hohe sittliche Lebens- auffassung bei Fichte selbst in der Umwandlung seiner Auffassung vom Wesen des Staates betätigt. Als er seine »Grundlage des Naturrechts« (1796) herausgab, stand er noch völlig imter der äußerlichen Auffassung des XVIII. Jahrhunderts. Er konstruierte zwar hier aus dem Prinzip der Wissenschaftslehre die Vielheit der leibhch organisierten PersönUchkeiten und fand, daß in deren äußerem Zusammenleben die Freiheit jeder einzelnen durch die- jenige aller anderen eingeschränkt werden müsse. Aber wenn er den. Staat als das Mittel dazu betrachtete, so bezog er dessen Funktionen eben nur auf den äußeren Zusammenhang und nicht auf sittliche Zwecke. Im besonderen stellte er sich ganz auf den Rousseauschen Standpunkt des Staatsvertrages und der Volks- souveränität, fand jedoch, daß die letztere nicht in einer

234 Fichte.

demokratischen Verfassung zum Ausdruck komme, sondern ver- langte, daß die monarchische Exekutive in ihrer Ausführung des allein gesetzgebenden Volkswillens durch ein Ephorat kontrolliert werden solle. Im wesentlichen faßte er damals den Staat von seiner polizeilichen Seite und als eine Kegulierungsmaschine für die ge- sellschaftlichen Assoziationen auf. Für sein nationales Wesen zeigt Fichte um diese Zeit bei einer ausgesprochenen Hinneigung zu kosmopolitischen Vorstellungen keinerlei Verständnis. Von einer Andeutung ethischer Aufgaben des Staates finden sich nur einzelne Spuren. Dazu gehört seine Theorie des Strafrechts, welches er auf einen Abbüßungsvertrag gründet, vermöge dessen der Schuldige, um der durch die Verletzung der Staatsgesetze verwirkten Ausschheßung zu entgehen, eine Buße freiwillig über- nähme, deren Charakter auf seine eigene Besserung und auf die Abschreckung der übrigen berechnet sein müsse. Ähnlich ver- hält es sich auch mit Fichtes Verlangen, daß der Staat die Pflicht habe, jedem seiner Bürger das sittliche Grundrecht, von seiner Arbeit leben zu können, vollauf zu gewährleisten. Diesem Grund- gedanken des Sozialismus hat Fichte eine genaue und höchst inter- essante Ausführung in dem »Geschlossenen Handelsstaat« (1800) gegeben. Er entwickelt hier, jenes Verlangen sei nur dadurch zu erfüllen, daß der Staat nicht den Naturmechanismus der Kon- kurrenz walten lasse, sondern die gesamte Organisation der Arbeit in seine Hand nehme, daß er deshalb jedem Bürger seine Arbeits- tätigkeit anweise und ihm den Lohn dafür in dem entsprechenden Mitgenuß an dem Gesamterwerbe des Staates zukommen lasse. Diese Organisation aber setzt voraus, daß der Staat selbst alle Einfuhr und Ausfuhr, d. h. allen Handel mit anderen Staaten in die eigene Hand nimmt. So entwarf Fichte mit seiner rück- sichtslosen Konsequenz von jenem Prinzip aus eines der frühesten und interessantesten Bilder des sozialistischen Staatsideals. Aber damit schon hörte der Staat für ihn auf, ein bloßes Polizeünstitut zu sein und wurde ihm vielmehr ein gesellschaftlicher Organismus. Noch weiter aber gestaltete sich seine Auffassimg um, als der Umsturz der Polizeistaaten in den Napoleonischen Kriegen dem Gedanken einer sittlichen Neubegründung des politischen Lebens Raum und Veranlassung gab. Je mehr dieser letzte Versuch, ein kosmopolitisches Reich zu gründen, den Charakter einer franzö-

Reden un die deutsche Nation. 2)^5

sischon Erobcnmjrspolitik an sich trug, um so energischer wurde gerade dadurch das lange sclilummcrnde Nationalgefühl der Deutschon geweckt. Jndoni Fichte von diesen Bestrebungen be- rührt wurde, mußte er sie sogleifh auf seinen ethischen Grund- gedanken beziehen und dem Probleme nachgehen, ob nicht ebenso wie den einzelnen Persönlichkeiten, auch den einzelnen Nationali- täten in dem großen Weltplan eine besondere Bcietimmung ' zu- "Eomme, in der niil der Pflicht, sie zu erfüllen, auch das sitt- liche Recht ihrer politischen Selbständigkeit beruhe. Diesen Ge- danken verfolgte er dann mit lebhafter Energie, und in der konstruktiven Weise, die ihm eigen war, deduzierte er in den Reden an die deutsche Nation für diese eine so gewaltige und hohe Kulturbestimmung, daß sie fast allein neben den Einseitig- keiten der übrigen Nationen zur Erfüllung des Ideals der Humanität berufen erschien. Was sich in dieser Überschwenglichkeit von Fichtes Nationalenthusiasmus ausspricht, ist das Selbstgefühl der Nation, die in ihren großen Dichtungen diesem Ideal so nahe gekommen war. Es ist zugleich der radikale, immer gleich bis an die äußersten Grenzen gehende Charakter seines Denkens, welcher Fichte zu der Überzeugung führt, daß allein aus der Regeneration des deutschen Volkes das Heil für die gesamten verfahrenen Zustände des Zeitalters erhofft werden könne. So betrachtet er die Selbstbefreiung des deutschen Geistes als eine Pflicht, welche die Nation im Hinblick auf ihre Bestimmung zu erfüllen hat. Aber die Deutschen besitzen keine politische Natio- nalität, sie müssen sie erst erwerben. Nicht durch eine äußere Macht, sondern nur durch eine sitthche Überzeugung kann der deutsche Nationalstaat gegründet werden. Diese Überzeugung muß also geweckt werden, imd die Aufgabe der bestehenden Generation kann nur die sein, durch eine nationale Erziehung den Boden für die Zukunft zu bereiten. Das einzige Mittel, die Freiheit wieder zu gewinnen, liegt in der Befestigung der sitt- lichen Überzeugung und in der Begründung einer gemeinsamen Bildung. Diese allgemeine Tendenz der »Reden« ist wertvoller als vielleicht die einzelnen Vorschläge, die zum Teil auf Lehren Rousseaus, Pestalozzis und des Philanthropinismus zurückweisen. Die Nation soll zum Pflichtbewußtsein erzogen werden: das ist das Alpha und Omega der Ficht^schen Predigt. Es ist ein

236 Fichte.

unvergeßliches Verdienst, daß Fichte diese großen und bleibenden Wahrheiten mit seinem feurigen Wort den Zeitgenossen ins Herz geredet hat. Die »Reden« haben nicht zum wenigsten die Be- geisterung jener Freiheitskämpfer entflammt, welche wenige Jahre darauf auszogen, um für die Neugründung der deutschen Natio- nalität freilich nur den ersten Kampf auszukämpfen. Auf ihren Fahnen stand in der Tat der kategorische Imperativ. Der große Korse mochte meinen, daß er den »Ideologen« ruhig in Berlin seine Vorträge halten lassen könne. Aber in der geistigen Schlacht, die entbrannte, war es in erster Linie der sittliche Mut der Kantischen und Fichteschen Philosophie, welcher dem Genius Bonapartes die Stirne bot.

So überzeugte sich denn Fichte, daß der Staat selbst eines der höchsten sittlichen Güter sei, und daß er anderseits wertvolle sittliche Aufgaben zu erfüllen habe. Denn von einer nationalen Erziehung kann zuletzt nur in dem Falle die Rede sein, daß der Staat selbst die Erziehung in die Hand nimmt, und daß er sich zum alleinigen Herrn darüber macht. Deshalb stellte Fichte in seiner späteren Zeit eine der Platonischen sehr nahe kommende Forderung von dem absoluten Erziehungsrecht und der absoluten Erziehungspflicht des Staates auf, und wie für Piaton, so wurde konsequenterweise auch für ihn der Stand, welcher die Bildung trägt imd die Erziehung leitet, nicht nur ein integrierender, son- dern geradezu der wichtigste Bestandteil der Verfassung. Seine »Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten« (zuerst Jena 1794) nahmen bei ihrer Wiederholung in Erlangen und Berlin immer mehr die Tendenz an, daß die höchste Aufgabe des Ge- lehrten die Leitung des Staates sei. Darin drückte sich die Überzeugung aus, daß der Staat kein Mittel zu äußerlichem Rechts- und Eigentumsschutz, sondern vielmehr eine Organisation sein solle, in der ein ganzes Volk mit gemeinsamer Hingebung an seiner geistigen imd sittlichen Bildung arbeite, um dadurch seiner Bestimmung in der Gesamtaufgabe des menschlichen Ge- schlechts gerecht zu werden. Fichte hat sich durch sein ethisches Prinzip zu der höchsten und edelsten Auffassung vom Wesen des Staates emporgearbeitet, wenn er sie auch nicht spezifisch wissen- schaftlich formulierte, sondern ihr nur einen beredten Ausdruck in seinen populären Vorträgen gab.

GeRchichiHphilonophio. 237

Dio Tjchro von der Bestimmung der einzelnen Nationen weißt aber auf eine durch einen ^gemeinsamen Plan bestimmte GcBamt- entwicklimi^' des menschlichen (Geschlechts hin und vollendet sich deshalb nur in einer <T;eschichtÄj:>}iilosophischen Auffassunp^. Es ^(^hört zu den Eigcntiimlichki'iten der von Kant abhängigen Philosophie, daß unter ihren notwendigen Bestandteilen eine Ge- schichtsphilosophie auftritt, welche, statt wie die von Herder be- gründete Richtung die natürliche Notwendigkeit, ihrerseits viel- mehr das ethische Ziel des historischen Prozesses als den ent- scheidenden Gesichtspunkt betrachtet. Fichte zuerst ist dem Beispiel Kants gefolgt und hat in den »Grundzügen des gegen- wärtigen Zeitalters« (1806) die im Titel ausgedrückte Aufgabe so zu lösen gesucht, daß er die Stellung der Gegenwart innerhalb der Reihe der notwendigen Entwicklungsperioden des Menschen- geschlechts fixieren wollte. Er ist sich dabei sehr wohl bewußt, daß eine solche Trennung der »Zeitalter« keine absolute ist, daß diese vielmehr, namentlich sofern es sich rnn die besonderen Persönlichkeiten handelt, sich vielfach ineinanderschieben. Eine philosophische Geschichtskonstruktion hat selbstverständlich nur den allgemeinen und durchschnittlichen Charakter der Zeiten zu ihrem Gegenstande. Fichte entwirft sie im entschiedenen An- schluß an Kant als einen Entwicklungsprozeß, der von dem Stande der Unschuld durch die Sünde hindurch bis zur vollendeten Ver- nunftherrschaft führt. Da für ihn das ganze natürliche Wesen als ein Produkt des Ich gilt, so bezeichnet er den paradiesischen Anfangszustand als denjenigen des »Vernunftinstinktes«, in welchem das Vernünftige bewußtlos durch den natürlichen Trieb vollzogen wird. Wenn darauf das Vernunftgesetz zum Bewußtsein kommen soll, so tritt es dem Menschen zunächst als ein fremdes, als eine äußerhch gebietende Macht entgegen. Das Gesetz des Ganzen er- scheint als »Autorität« dem Individuum gegenüber, als Autorität, der es sich zu fügen gewöhnt ist, und gegen die es doch schon sich aufzulehnen vermag. Auf dieses »Zeitalter der beginnenden Sündhaftigkeit« folgt durch die immer fortschreitende Abwerfung der Autorität die vollkommene Entfaltung der individuellen Selb- ständigkeit. Aber das Individuum, das sich gegen die Autorität aufgelehnt hat, findet zunächst nur in sich selbst den Maßstab seines Denkens und Tuns. Der Freiheit ungewohnt, verfällt das

238 Fichte.

Geschlecht der Willkür, der Anarchie und dem Egoismus, der »vollendeten Sündhaftigkeit«. Erst aus dem Elend dieses Zu- standes heraus beginnt das Individuum seine Freiheit auf das rechte Ziel zu lenken und zunächst seine Erkenntnis der Gattungs- vernunft zu unterwerfen. Dieses »Zeitalter der beginnenden Ver- nünftigkeit« muß dann allmählich in das letzte überführen, in die »vollendete Vernünftigkeit« oder die »Vernunftkunst«, in der der Wille des Individuums seine volle und wahre Freiheit durch bewußte und bedingungslose Unterwerfung unter das Sittengesetz findet und in dem Rahmen des allgemeinen Vernunftlebens seine darin enthaltene besondere Bestimmung erfüllt.

Diese Gedanken sind außerordentlich tief und zu gleicher Zeit außerordentlich charakteristisch für ihren Urheber. Sie kenn- zeichnen das historische Leben durch das Verhältnis des Indivi- duums zur Gattung. Sie zeigen, wie die Geschichte damit be- ginnt, daß das Individuum sich gegen die Gattung auflehnt, und darauf hinleitet, daß es aus eigener Einsicht und eigenem Willen sich der Gattungsvernunft unterordnet, ohne darum seinen per- sönlichen Eigenwert preiszugeben. Sie berühren jene wunder- barste Tatsache, daß von allen Wesen, die wir kennen, der Mensch auf der einen Seite das zur selbständigsten Ausbildung der Individualität befähigte und zugleich auf der andern Seite das am meisten durch den sozialen Zusammenhang der Gattung bedingte ist. Sie sind um so interessanter, als Fichte selbst eine überaus scharf ausgeprägte, ihre Selbständigkeit bis auf die äußerste Grenze festhaltende Individuaütät war, und als es anderseits gerade in ihm die bedingungslose Unterwerfung unter das Sittengesetz war, welche er zum innersten Halt seiner Per- sönlichkeit machte. Aber diese Gedanken werfen noch weiter ein überraschendes Licht um sich. Sie zeigen in noch schärferer Formulierung die überlegene und zugleich vollendende Stellung, welche die neue Philosophie zur Aufklärung einnimmt. Denn jenes dritte Zeitalter, dasjenige der autoritätslosen Anarchie und des egoistischen Glückseligkeitsbestrebens, dies »Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit« trägt an sich alle Züge der Auf- Gärung. Ihr dogmatisches Freigeistertum, ihr flacher Eudä- monismus mit seiner Nützlichkeitstheorie, ihre ideallose Selbst- gefälligkeit werden von Fichte mit schonungslos einschneidender

RcligionaphiloHOphio. 23!)

Kritik gebraiulniavkt, luul der einzige Woi-t, den er diesem f^e- fährlichen Abschütteln der Autorität zuerkennt, ist der, daß es scliließlich doch die Vorbedinj^un<^ für jenes selbständige Denken bildet, wodurch die individuelle V'ernunft in sich die höhere Ge- setzgebung aufzufinden vermag. Von der Aufklärung, wie Kant und Fichte auf sie herabsehen, gilt das Wort: >>Es sind nicht alle frei, die ihrer Ketten spotten <<, und wenn Fichte in seiner Zeit die ersten Anfänge für das Zeitalter der beginnenden Ver- nünftigkeit sah, so fand er sie nur in dem Sinne, daß die neue Philosophie mit dem ganzen sittlichen Ernst ihrer Denkarbeit und ihrer Weltansicht berufen und befähigt sei, das Bewußtsein^ der Gattungsvernunft in den Individuen zu begründen und zu ^ bekräftigen. In diesen geschichtsphilosophischen Fundamental- begriffen von Kant und Fichte liegt die tiefste Selbsterkenntnis der modernen Denkbewegung. Mit der Entfesselung des Indivi- duums, mit der Abwerfung der Autorität beginnt sie, und mit der kritischen Versenkung in die menschliche Gattungsvernunft und deren sittlichen Grundcharakter vollendet sie sich.

Alle moral- und geschichtsphilosophischen Untersuchungen Fichtes weisen durch den teleologischen Grundbegriff der »Be- stimmung« auf eine sittliche Weltordnung hin, und deren Begriff kann bei Fichte nur mit dem höchsten philosophischen Prinzip, mit dem'"absoluten Ichidentisch sein. Der letzte Grund aller Wirklichkeit, das letzte Ziel alles Geschehens liegt in der *^ sittlichen Weltordnung. Sie ist das" Absolute in Fichtes Lehre. Wie bei Spinoza, den Fichte immer als seinen äußersten Gegen- satz betrachtet, und von dem er gerade deshalb schon in seiner ersten Periode der Wissenschaftslehre mehr abhängig war als er glaubte, wie bei Spinoza die absolute Substanz, die causa sui, als natura naturans bezeichnet wurde, so wird von Fichte das absolute Ich, der Selbstzweck, der ordo ordinans genannt: und wie für Spinoza die Naturnotwendigkeit, so ist für Fichte die sittliche Weltordnung Gott. Die Keligionsphilosophie ist auf diesem ersten Standpunkte der Wissenschaftslehre derjenigen Kants in der Begründung durchaus verwandt, in ihrem Inhalte dagegen doch wesentlich davon verschieden. Auch Fichte lehrt lediglich eine Moraltheologie. Auch bei ihm stützt sich der Glaube an die Gottheit durchaus auf das sittliche Bewußtsein,

240 Fichte.

wenn auch Fichte vermöge des innigen Ineinandergreifens, das die Wissenschaftslehre zwischen der theoretischen und der prak- tischen Vernunft ansetzte, den Gegensatz des Erkennens und des Glaubens nicht mehr so scharf wie Kant betonte. Für ihn stützt sich jedoch der Glaube an die sittliche Weltordnung, der ihm mit demjenigen an die Gottheit identisch ist, auch nur auf die ethische Überzeugung, daß nicht nur der Wert, sondern auch die Wirklichkeit aller Dinge in dem sittlichen Streben und in ihrer ethischen Bestimmung begründet ist. Für den populären und konfessionellen Standpunkt war diese Lehre freilich in der Tat Atheismus. Auf dem Standpunkte der Wissenschaftslehre kann die Gottheit gar nicht als Sein, als ein existierendes Wesen gedacht werden. Denn sie wäre in diesem Falle nicht ursprüng- lich, sondern abgeleitet, da alle Kealität für Fichte erst ein Pro- dukt des Tuns ist. Fichte macht vielmehr von der allgemeinen Gewöhnung der Philosophen Gebrauch, den Namen der"tjrottheit für den höchsten metaphysischen Begriff in Anspruch zu nehmen, und dieser ist eben bei ihm das Tun des reinen Ich oder die absolute Funktion der sittlichen Weltordnung. Auch für Fichte hat deshalb Gott die Merkmale der Weltschöpfung und Welt- regierung. Aber man muß seine Philosophie ganz verstanden haben, um einzusehen, weshalb sein Gottesbegriff nicht die Merk- male der ^Realität, der Substantialität, der Persönlichkeit tragen konnte, die für den populären Gebrauch des Wortes unerläßlich erscheinen. Für Fichte ist die Gottheit das absolute sittliche Ideal, welches, obwohl selbst niemals real, doch den Grund aller Realität in sich trägt. Unser Glaube an sie beruht deshalb lediglich auf dem Bewußtsein dieses Ideals, auf jenem wahren und höchsten Selbstbewußtsein, welches uns sagt, daß wir das rejn^ Ich sein sollen, und daß wir nur das empirische sind, auf dem Gewissen, welches die Triebkraft unserer ganzen Existenz bildet. Man darf diese Lehre als ethischen Pantheismus bezeichnen: das Sv xat ttocv ist für sie das Sittengesetz. Fichtes viel verschlungene Lehre vom Selbstbewußtsein enthält das pan- theistische Problem in seiner rein ethischen Gestalt. Den innersten Widerspruch im individuellen Selbst bildet das sittliche Bewußt- sein davon, daß dieses Selbst bestimmt ist, in das absolute Ich aufzugehen, und daß es dieser Aufgabe niemals genügen kann.

Sohollingr. 241

So zeigt sich auch hier Ficlitcs Lohro in ihron (Jnnulziigen durch das Problem bedingt, welche Stelhmg das Individuum dem Uni- versum gegenüber hat. Der für die gesamte moderne Phih)sophio so überaus wichtige Gegensatz des Individuahsmus und des Uni- vcrsalismus tritt bei ihm in seiner rein ethischen IMeutung her- vor und ist deshalb geradezu in das Gewissen hineinverlegt.

Die Lehre von der Gottheit als dem »ordo ordinans« mit ihrer Leugnmig des^Scins' der Gottheit ist die strikte Konsecjuenz s^ der »Philosophie des Tuns«, welche den ersten Standpunkt der / j Wissenschaftslehre charakterisiert. Von ihr aus muß die von ' den Historikern der Philosophie vielfach erörterte Frage ent- schieden werden, ob die Darstellungen der Wissenschaftslehre nach 1800 ein zweites, ein verändertes System zu ihrem Inhalte haben. Und von diesem Gesichtspunkt aus muß die Frage ent- schieden bejaht werden. Denn in der zweiten Lehre erscheint ^y bei Fichte die Gottheit als das absolute Sein, was sie auf dem ersten Standpunkte gar nicht sein konnte. Diese Veränderung war nur dadurch möglich, daß jener »Philosophie des Tuns«, die Fichte zuerst vertrat, inzwischen die Spitze abgebrochen worden war. Welche Veranlassungen jedoch dazu vorlagen, kann erst an späterer Stelle besprochen werden; denn sie bestehen in Rückwirkungen, welche Fichte selbst von den Konsequenzen er- fuhr, die andere aus seiner ersten Lehre gezogen hatten.

§ 64. Der physische Idealismus.

Schelling und die Waturphilosopbie.

Die große historische Wirkung Fichtes beruht nicht auf der Büdung einer Schule im engeren und eigentlichen Sinne des Wortes. Die Wissenschaftslehre war ein viel zu sehr von der Individualität ihres Urhebers bestimmtes und getragenes System, als daß sie eine strenge Heeresfolge in weiterer Ausdehnung hätte hervorrufen können, und sie stand mit ihrer abstrakten Tendenz auch den übrigen Wissenschaften zu ferne, um un- mittelbar darauf zu wirken. Dies war mittelbar nur dadurch möglich, daß Männer von ausgebreiteterer Kenntnis und von persönlich lebhafterer Berührung mit den übrigen Wissenschaften das Prinzip der Fichteschen Lehre für deren Behandlung flüssig

Windelband, Gesch. d. n. Philos. U. 16

242 Schelling.

ZU machen suchten. Dabei erfuhr es jedoch notwendig mancherlei mehr oder minder tief greifende Umgestaltungen. In diesem weiteren Sinne darf der ganze Kreis der folgenden Träger der deutschen Philosophie als die Schule Fichtes ebenso sehr wie als diejenige Kants bezeichnet werden. Von Fichte sind per- sönlich und sachlich alle die großen systematischen Formen der Philosophie angeregt, welche in diesem Kapitel noch darzustellen sind, und dadurch ist er der entscheidende Durchgangspunkt für das Hervorgehen aller folgenden Systeme aus Kant geworden. Seine nächsten Anhänger, die an der Wissenschaftslehre fest- zuhalten suchten, Männer wie Niethammer, Forberg, Schad, Memel, Schaumann u. a. haben es zu keiner Bedeutung ge- bracht: um so wichtiger ist diejenige positive Weiterentwicklung der Wissenschaftslehre geworden, deren hervorragendster Träger in mehreren Phasen Schelling ist. JiLt/yi^f Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, 1775 zu Leonberg

77

_ in Württemberg geboren, erhielt seine Ausbildung hauptsächlich auf der lateinischen Schule zu Nürtingen und auf dem Seminar zu Bebenhausen und bezog im Jahre 1790 die Tübinger Uni- versität, wo er als Schüler des Stifts eine vertraute Freundschaft mit Hölderlin und Hegel schloß. Die Ideale des klassischen Altertums, dessen Studien mit demjenigen der Philosophie an dieser Anstalt als Basis für das theologische Fachstudium gelten, wurden für die Bildung der drei Freunde in gleicher Weise be- deutsam und entscheidend. Für Hölderhn haben sie das tragische Geschick seines Geistes bedingt: für die beiden Philosophen da- gegen ist die griechische Gedankenwelt der fruchtbare Boden ge- worden, in welchen sie das junge Keis der neuen Philosophie ein- pflanzten, um es zur Blüte und zur Frucht zu bringen. Das inm'ge Verständnis, das beide der klassischen Bildung entgegen- brachten, hat sie und Hegel freilich noch mehr als Schelling dazu befähigt, auf dem Gebiete des philosophischen Denkens die- selbe Versöhnung des deutschen und des griechischen Genius her- beizuführen, welche Goethe und Schiller in ihren Dichtungen darstellen. / Schellings allseitige Natur verlangte jedoch bald nach einer Ergänzung dieser humanistischen Bildung durch die moderne Naturwissenschaft, und nachdem er die theologische Laufbahn aufgegeben hatte, benutzte er eine Hofmeisterstellung in Leipzig,

\

Leben und Entwicklung. 243

um sich eingehend solchen Studien zu widmen. Inzwischen hatte er sich vollkommen in die Spinozistische, zugleich aber auch in die Kantische und Fichtesche Leh^c hineingearbeitet und schon während der Jahre 1794 1790 eine Reihe von Schriften veröffent- licht, in denen er die Prinzipien des transzendentalen Idealismus nach der Fichteschen Auffassung teilweise glücklicher und faßlicher entwickelte als Fichte selbst, indem er ihre metaphysische Tendenz durch einen Einschlag spinozistischer Gedanken illustrierte, und er beherrschte in dieser frühen Jugend die Gedanken dieser Lehre derartig, daß er bereits 1797 daran gehen konnte, seine An- wendung der Wissenschaftslehre auf die philosophische Natur- erkenntnis zu veröffentlichen. Infolgedessen wurde er 1798 als außerordentlicher Professor nach Jena berufen und begann zuerst neben Fichte eine nicht minder erfolgreiche akademische Wirk- samkeit. Allein bald brachte seine Fortbildung der Wissenschafts- lehre eine Umgestaltung dieser Philosophie hervor, die Fichte ebensowenig anerkannte wie Kant Fichtes Auffassung seiner Lehre. Dazu kam, daß der Umgang mit den Vertretern der romantischen Schule, vor allem den beiden Schlegels, der zuerst in Dresden angesponnen ward und sich dann in Jena fortsetzte, Schellings Auffassungen denjenigen Fichtes immer mehr entfremdete, und , so vollzog sich allmählich zwischen beiden Männern ein Bruch, j der auch äußerlich und öffentlich die bedauerliche Form gegen- \ seitiger Beschuldigungen und Verdächtigungen angenommen hat. (Ähnlich ist es später zwischen Schelling und Hegel gegangen, noch akuter und gereizter ist das Verhältnis, in dem sich Jacobi und Herbart, sowie später Schopenhauer gegenüber der Identitäts- philosophie befanden, und so muß leider gesagt werden, daß das Bild jener großen Zeit vielfach durch persönliche Zwistigkeiten getrübt ist. So zweischneidig war Fichtes Gedanke, daß, was für eine Philosophie man wähle, davon abhänge, was für ein Mensch man sei: die Wärme der Überzeugung, mit der diese Männer ausnahmslos von der Wahrheit ihrer Lehren durchdrungen waren, machte sie in der Behandlung der Andersdenkenden rücksichtslos und der bedeutsame Kampf ums Dasein, den hier die Weltan- schauungen führten, brachte teilweise eine grobe und leidenschaft- liche Form der Polemik hervor.^

Als Fichte Jena verlassen hatte, beherrschte einige Jahre lang

16*

mmti

244 Schelling.

Schelling dies Zentrum der philosoplii sehen Bewegung. Dann trat Hegel hinzu, mit dem jener in den ersten Jahren des neuen Jahr- hunderts das »Kritische Journal der Philosophie« herausgab. In- zwischen gestalteten sich Schellings persönliche Verhältnisse in Jena mit und ohne seine Schuld immer unerfreulicher, und er folgte daher gern dem Rufe nach Würzburg, wo die neue bayrische Regierung eine bedeutende Universität zu schaffen versprach. 1806 siedelte er dann an die Münchener Akademie der Wissen- schaften über, und als wenige Jahre darauf ihm seine Frau, die ehemalige Gattin Wilhelm Schlegels, Karoline, entrissen worden war, verfiel er für lange Zeit in literarische Untätigkeit. Er hielt gelegentlich in Stuttgart Privatvorlesungen; er trat auch einmal in ein freies Verhältnis zur Universität Erlangen, vermöge dessen er an ihr Vorlesungen hielt. Erst als König Ludwig die Uni- versität München gründete, übernahm Schelling 1727 dort die Vertretung der Philosophie. Inzwischen hatte sich nach auswärts die Meinung verbreitet, daß er in der Stille ein neues philo- sophisches System entwickelt habe, welches nicht nur den Hegel- schen Rationalismus von Grund aus widerlege, sondern auch dem religiösen Bedürfnis vollkommen Rechnung trage. In dieser Meinung wurde er von Friedrich Wilhelm IV. bei dessen Regierungs- antritt an die BerHner Akademie berufen und ging 1841 darauf ein. Aber die hochgespannten Erwartungen, welche man auf seinen Erfolg gesetzt, wurden getäuscht. Der Eindruck, den er anfangs machte, verblaßte sehr schnell, und so zog er sich nach wenigen Jahren gänzlich aus der Öffentlichkeit zurück. Er ist . 1854 im Bade Ragaz gestorben.

Schelling ist der Hauptträger für die Entwicklung der Iden- j.V^ titätsphilosophie. Er hat die meisten ihrer Phasen nicht nur mitgemacht, sondern mit schöpferischer Initiative hervorge- rufen. Er ist durch sein ganzes Leben hindurch, dem eigenen Triebe und den mannigfachsten Einflüssen folgend, in einer stetigen Umbildung seiner Lehre begriffen gewesen. Nur die Kon- tinuierlichkeit dieser Umbildung läßt es erklären, daß er selbst fortwährend behauptete, nur immer in neuer Form denselben Gedanken auszuprägen, und daß er sich über die großen Gegen- sätze täuschte, die zwischen den Lehren seiner verschiedenen Perioden obwalten. In der Tat könnte man ihm kein größeres Un-

Natuqihiloflophie. 245

recht tun, als wenn man ihn beim Worte nehmen und die ge- samten 14 Bände seiner gesammelten Werke (1856 61) als ein einheitliches System interpretieren wollte. Sie zeigen vielrnelir den Gang, den ein bedeutender jGeist vom Jüngling bis zum Greise gegangen ist, und den die deutsche Philosophie mit ihm mitgemacht hat. Eine gewaltige und geniale Kraft ist es, welche diese Metamorphosen erlebt hat, und welche nur vermöge der ungewöhnlichen Reichhaltigkeit ihrer geistigen Interessen hinter- einander so verschiedene Woge einzuschlagen vermocht hat. Sieht man von jenen Jugendjahren ab, in denen Schelling als ein zwar völlig reifer Schüler, aber doch eben nur als ein Schüler von Spinoza und Fichte erscheint, so sind es fünf verschiedene Perioden, die mit teilweise sehr leisen und kaum merklichen Übergängen sich in seiner Entwicklung unterscheiden lassen und ihn mit allen Gedankenströmungen der nachkantischen Bewegung in wechseln- dem Kontakt zeigen. Ungefähr mit Jahreszahlen begrenzt, können sie folgendermaßen bezeichnet werden: die Naturphilosophie 1797 bis 1799, der ästhetische Idealismus 1800 und 1801, der absolute Idealismus 1801 1804, die Freiheitslehre 1804 1813 und die positive Philosophie, der Standpunkt seines Alters.

Der Pimkt, an welchem Schelling die Fichtesche Lehre zu- nächst fortzubilden beabsichtigte und dann unwillkürlich umzu- bilden sich genötigt sah, betraf die darin entschieden verkümmerte Naturerkenntnis. In der Wissenschaftslehre galt die Natur nur als Mittel zur Eealisation des sittlichen Zweckes. Aber sie sollte doch auch hier so betrachtet werden, als ob sie eben um dieses Zweckes willen von der Vernunft gesetzt wäre, d. h. als ein Produkt der Vernunft, welches deshalb die Züge seines Ursprunges an der Stirn tragen müsse. Nun hatte zwar auch Kant eine Abhängigkeit der Natur von der Intelligenz gelehrt. In der transzendentalen Analytik schrieb der Verstand der Natur ihre Gesetze vor. Aber diese Gesetzmäßigkeit war bei Kant nur die mechanische, und die transzendentalphilosophische Erkenntnis beschränkte sich für ihn auf die allgemeinen, durch Kategorien und reine Anschauungen begründeten Formen der Gesetzmäßigkeit für die Erscheinungs- welt. Die teleologische Betrachtung galt ihm daneben nur als ,, Betrachtung und nicht als eine theoretische Erklärungsweise des Naturzusammenhanges. Und gerade indem er die teleologische

246 Schelling.

Betrachtung für die erklärende Theorie abwies, hatte Kant auf die wissenschaftliche Erkenntnis vom Ganzen der Natur und von der Rolle, welche darin die besondere Eigentümlichkeit der ein- zelnen Erscheinung spiele, Verzicht getan. Fichte umgekehrt, der Kenntnis der kausalen Gesetzmäßigkeit fern stehend, hatte die Natur lediglich in allgemeinster Weise teleologisch deduziert oder höchstens gelegentlich einzelne ihrer Formen, z. B. den menschlichen Organismus, aus besonderen Zwecken erklärt. Er war aber nicht darauf ausgegangen, diesen Gesichtspunkt bis in die Gliederung der besonderen Naturerscheinungen zu verfolgen. Er hatte nur im allgemeinen behaupten, aber nicht beweisen können, daß die ganze Natur ein zweckmäßiger Zusammenhang sei, der zur Lösung der sittlichen Aufgabe diene.

Hierauf richtet sich das jugendliche Denken von Schelling. Diese Idee soll ausgeführt, die NaJLur soll als ein großes System erkannt werden, das aus der Vernunft hervorgegangen ist, um ihren, Zweck zu erfüllen. In der Wissenschaftslehre erschien der einzelne Inhalt der Empfindung, aus der wir unsere Erfahrung von der Natur schöpfen, als eine freie Handlung der produktiven Einbildungskraft, also der unbewußten Intelhgenz, und war des- halb nicht deduzierbar, d. h. aus der allgemeinen Gesetzmäßigkeit nicht ableitbar. Aus dem unbewußten Wesen jener Schöpfer- tätigkeit des Ich erklärte sich der mechanische Charakter, welchen der Naturprozeß an sich trägt, und welchen Kant hinsichtlich der wissenschaftlichen Behandlung hervorgehoben hatte. Aber es sollte doch Vernimft sein, was dabei in der unbewußten Form wirkte, und daraus erklärte sich das zweckvolle Ineinandergreifen dieses Kausalmechanismus, welches für Kant nur ein Gegenstand der Betrachtung gewesen war. Soll aber die Natur als ein teleo- logisches System erscheinen, so kann der Zweck, urn deswillen das Ganze da ist, immer nur wieder in der Vernunft gesucht werden. Es kann jedoch nicht die sittliche Handlung selbst sein, da diese Jiiemals durch den natürlichen Mechanismus, sondern immer nur durch Freiheit möglich ist. Der^weck der Natur kann also nur darin bestehen, eine Bedingung zu realisieren, unter der die sittliche Handlung allein möglich ist. Diese Bedingung ist die bewußte Intelhgenz, das theoretische Ich, und wenn deshalb auf dem Standpunkte der Wissenschaftslehre mit dem Versuch

Natur als ZweckoiDheit. 247

einer tele{)Io«j;ischon Deduktion der Natur Ernat gemaclit werden soll, so muß diese als ein System von Prozessen aufgefaßt werden, dessen höchsten Zweck die Produktion der' bewußten Intelligenz' bildet. Die Jbfatur muß als die unbewußte Form des Vemunft- iebens aufgefaßt werden, die keinc^ andere Tendenz hat, als die bewußte zu erzeugen. Die Natur ist die Odyssee, in welclier nach mancherlei Irrwegen der Geist zuletzt schlafend seine Heimat, d. h. sich selbst findet. Auch im System der Wissenschaftslehre wird die Empfindung nur produziert, damit die Intelligenz in der bewußten Anschauung darüber hinausgehe. Die Basis aber, auf der dieser Zweck allein erfüllt wird, ist das organische Leben mid im besonderen das menschhche. Das animalische Leben also ist jenes höchste Produkt der unbewußten Intelligenz, worin ihr Zw^eck, das Bewußtsein, zur Verwirklichung kommt. Soll es eine philosophische Naturerkenntnis geben, so besteht sie darin, den gesamten Naturprozeß als ein zweckmäßiges Zusammenwirken von Kräften zu betrachten, die von den niedersten Stufen aus in immer höherer und feinerer Potenzierung zur Genesis des anima- lischen Lebens und des Bewußtseins führen. Die Natur darf nicht als ein zufälliges Nebeneinander von Erscheinungen und Gesetzen, sondern sie muß selbst als ein großer Organismus gedacht werden, dessen gesamte Teile nur dazu da sind, das Leben und das Be- wußtsein zustande zu bringen. Die Philosophie der Natur ist die Geschichte des werdenden Geistes. Sollte bei Fichte die ge- samte Wissenscliaftslehre eine »Geschichte des Bewußtseins« sein, so wendet Schelling diesen Begriff auf die Natur als auf das Produkt der Vernunft an und verlangt, daß die verschiedenen Stufen ihres Lebens als die »Kategorien der Natur«, d. h. als die notw^endigen Formen begriffen werden, in denen die Vernunft aus der unbewußten in die bewußte Gestalt emporstrebt. Damit aber war dem transzendentalen Idealismus weit iiber Kants und Fichtes Meinung hinaus , die Aufgabe gestellt, auch die einzelnen empirischen Bestimmimgen der natürlichen Wirklichkeit aus der allgemeinen Formgesetzgebung des Ich zu deduzieren oder zu »konstruieren«.

Jener Grundgedanke von Schellings Naturphilosophie aber kam in sehr glücklicher Weise den Strömungen entgegen, die zu seiner Zeit in der Naturwissenschaft sich geltend machten. Diese zeigt

248 Schelling.

seit der Kenaissance eine Art von oszillatorischer Bewegung zwischen der Vertiefung in die Aufgaben der besonderen Forschung und dem zusammenfassenden Überblick über die Einheit der von ihr gewonnenen Naturerkenntnis. Ist sie in dem einen Falle in Gefahr, sich in die Kuriositäten der Detailforschung zu verlieren, so hat sie in dem andern Falle darüber zu wachen, daß sie den Boden der tatsächlichen Begründung nicht unter den Füßen ver- liert. Jedesmal, wenn eine Zeitlang eine dieser Richtungen vor- wiegend befolgt worden ist, macht sich die entgegengesetzte Strömung wieder geltend, und nur ein anderer Ausdruck für diese Tatsache ist es, daß die moderne Naturforschung ab- wechselnd bald die Philosophie flieht, bald zu ihr sich hinwendet. Schellings Bestrebungen fielen in eine Zeit, in der wieder einmal das letztere der Fall war, und in welcher sich der Naturforschung selbst überall die Tendenz bemächtigt hatte, den Zusammenhang der Naturkräfte ins Auge zu fassen und die Verwandlungen der identischen Grundkräfte in die scheinbar spezifisch verschiedenen Erscheinungsformen zu beobachten. Auf diesem Bestreben be- ruhte die große Bewegung, die um jene Zeit sich der gesamten Naturforschung bemächtigte und durch eine Reihe neuer Ent- deckungen begünstigt wurde. Von besonderer Wichtigkeit war dabei die Elektrizitätslehre, welche seit der Mitte des XVIII. Jahr- hunderts in rapider Weise gefördert worden war und bereits zu der für die Naturphilosophie namentlich wichtigen Coulombschen Theorie des Gegensatzes von einem positiven und einem negativen elektrischen Fluidum geführt hatte. Schon ahnte man, daß zwischen dieser und der magnetischen Polarität ein geheimnis- voller Zusammenhang obwalte. Schon begann man auch die Be- ziehungen zu studieren, in denen die Elektrizität zum chemischen Prozesse steht, und schon hörte infolge der Entdeckung der Oxydation durch Priestley und Lavoisier die alte phlogistische Theorie auf, die Anschauungen der Chemiker zu beherrschen. Von besonderer Wichtigkeit aber war in dieser Bewegung Galvanis Entdeckung der sogenannten tierischen Elektrizität. Der elek- trische Prozeß, der sich für die Übergänge in den anorganischen Erscheinungen, für den Zusammenhang physikalischer und che- mischer Vorgänge so wichtig erwies, sollte auch für die organische Natur eine entscheidende Bedeutung gewinnen; er schien so

NaturwiflsenHchaften. 249

gewisscrniaßoii den Übcrf^aiij^ auH dem iinorgaii Ischen in das organisfho Dasein zu vermitteln mid eine Lösung der alten Rätselfrage zu versprechen, wie man sich den einhcitliclien Charakter der Natur in dem Ge«iXMisatzc dieser beiden Reiche gewahrt denken sollte. Die Frage nach dem Verhältnis der Organismen zu dem Mechanismus der imorganisclien Welt hatte das XVIII. Jalirhundert auf das lebhafteste bewegt, und auch in Deutscldand waren die Bestrebungen im Fluß, welche keine Kluft zwisclien beiden annehmen wollten, welche aber gerade deshalb auch zu einer neuen Auffassung von dem Zusammen- hange der Organismen untereinander gedrängt wurden. Es galt den Proteus des Lebens in der Identität zu erfassen, die allen seinen wechselnden Gestaltungen zugrunde liegt. Schon 1759 hatte Kaspar Friedrich Wolff seine »Theoria generationis « herausgegeben, welche die Identität der physiologischen Grund- form im Tier- und Pflanzenreiche behauptete und zum Staunen des Zeitalters den Parallelismus in dem morphologischen Bau der Fledermaus und des Pflanzenblattes nachwies. In dieselbe Richtung gehören die bahnbrechenden Untersuchungen Goethes. Seine Entdeckung des Zwischen knochens fügt den menschlichen Organismus morphologisch dem gemeinsamen Schema der höheren Wirbeltiere ein. Seine »Metamorphose der Pflanze« darf als der erste Versuch zur Ausführung der biologischen Theorie angesehen werden, die von dem Grundsatz aus, daß jeder Organismus immer nur wieder aus organischen Teilen besteht, die Diffe- renzierung der einheitlichen Grundform durch alle Gebilde des Lebens hindurch verfolgt. So begann die junge Wissenschaft der vergleichenden Morphologie,^ die später durch Goethes und Okens Theorie von der Bedeutung des Schädels als eines entwickelten Wirbels lebhaft gefördert wurde,"! die Täuschung zu durchschauen, welche in dem gewöhnlichen Bewußtsein durch die Verschieden- heit der äußeren Konfiguration der Organismen entsteht, als ob jede Art völlig unabhängig von den übrigen auf einen besonderen Ursprung zurückgeführt werden müsse, und es dämmerten die ersten Ahnungen davon herauf, daß das ganze organische Reich in der Reihenfolge seiner Formen eine einzige große Entwicklung darstelle, einen Lebensprozeß, welchem nicht nur die Individuen, sondern auch die Arten unterworfen seien, daß es vor allem ein

250 Schelling.

und dasselbe allgemeine Gesetz sei, das allen Entwicklungsstufen des Individuums und der gesamten organischen Natur gleich- mäßig zugrunde liege. Und schon fing man an, daran zu denken, daß auch die abnormen und pathologischen Erscheinungen auf dieselben Gesetze, wie die normalen, in letzter Instanz zurück- geführt werden müßten. Jene entwicklungsgeschichtliche Auf- fassung des organischen Lebens war schon von den französischen Philosophen und Naturforschern mehrfach geäußert worden; namentlich Männer wie Robinet und Bonnet, welche mit dem Leibnizschen Systeme vertraut waren, hatten darauf hingewiesen. Auch Kant gab in der Kritik der Urteilskraft wenigstens die Möglichkeit eines solchen »kühnen Abenteuers der Vernunft« zu, und nach seiner Anregung veröffentlichte 1793 Kielmeyer seine bedeutende Schrift »über das Verhältnis der organischen Kräfte in der Reihe der verschiedenen Organisationen«. Es kam dabei der Grundgedanke zutage, daß die Verschiedenheit der Organismen zuletzt auf das verschiedene Maßverhältnis der organischen Grund- kräfte zurückgeführt werden könne, die, überall dieselben, durch ihre verschiedene Verteilung die Besonderheiten der einzelnen Arten und Individuen bedingen. Von solchen Vorstellungen ließ sich leicht die pathologische Hypothese ableiten, welche die Genesis der anomalen Zustände in eine Verschiebung des normalen Gleichgewichts der Grundkräfte versetzte. In dieser Beziehung gelangte namentlich Hallers Lehre von der Irritabilität des Nervensystems und die sogenannte Erregungslehre von John Brown zu großer Wichtigkeit.

Alle diese Bewegungen in einem Kopfe vereinigt und unter den gemeinsamen Gesichtspunkt der Wissenschaftslehre gebracht, geben Schellings Naturphilosophie. Diese ist zuerst in seinen »Ideen zur Philosophie der Natur« (1797), dann in der Abhand- lung »Von der Weltseele, eine Hypothese der höheren Physik« (1798), weiterhin in dem »Entwurf eines Systems der Natur- philosophie« (1799) dargestellt. Außerdem kommen die später geschriebenen Einleitungen und Vorreden zu diesen Schriften, besonders aber eine Reihe von Abhandlungen in den Zeitschriften in Betracht, welche Schelling im Interesse der Naturphilosophie herausgab, auch als er diese bereits einem höheren Gesichtspunkt unterordnete, der »Zeitschrift für spekulative Physik«, die er

NaiurphiloHophio. 251

1800 «^liiudcic, der »Neuen Zeitschrift für spekulative Physik«, die 1804 erschien, und der »Jahrbüclier der Medizin als Wissen- schaft« (180G 1808). Es kann kein Zweifel darüber sein, daü die Angriffe, welche diese Lehren später von Seiten der Natur- forscher erfahren haben, zum «großen Teile berechtigt waren. Aber die Unrichtigkeiten, denen Öchelling verfiel, wurzelten zum größeren Teile in dem unvollkommenen Zustande der damaligen Naturwissenschaft selbst. Für die Ausführung des Gedankens, eiii »Systeni der Natur << zu konstruieren, war die exakte For- schung damals noch weniger reif, als sie es heute ist, und wo in der empirischen Kenntnis die Zwischenglieder fehlten, da glaubte Schelling diese Lücken durch Hypothesen ausfüllen zu dürfen, die er aus seinem Grundgedanken konstruierte. Wo er damit fehlgriff, da hat die spätere Forschung von ihrer experi- mentellen Sicherheit her auf ihn herablächeln zu können ver- meint; wo er damit späteren Theorien und Nachweisen Vor- griff, da hat man von glücklichen Zufällen und unbewiesenen Einfällen gesprochen. Aber man hat nicht bedacht, wie oft es gerade diese genialen Konzeptionen waren, welche die exakte Forschung der Folgezeit auf den Weg der Untersuchungen ge- führt haben, mit denen sie jene Einfälle durch positive Er- kenntnis widerlegen oder beweisen konnte. Man hat vor allem vergessen, daß gerade für die Entwicklung der exakten For- schung der naturphilosophische Gedanke, die Natur wieder als ein Ganzes zu fassen und die Identität ihres Wirkens in der Mannigfaltigkeit ihrer Formen zu verstehen, eine mächtige För- derung gew^esen ist. Wenn die Tendenz einer einheitlichen Natur- erklärung den heutigen Naturforschern als selbstverständlich er- scheint, so mögen sie nicht übersehen, daß die Ausführung dieser Aufgabe durch das Prinzip, die Umsetzung der Natmkräfte in- einander^ zu verstehen, in universeller Weise zuerst von Schelling versucht worden ist.

Diese Bedeutung der Naturphilosophie bleibt bestehen, auch wenn sich herausstellen sollte, daß ihr Versuch, das identische Wesen des ganzen Naturprozesses aus dessen "allgemeiner Zweck- bestimmtheit* zu begreifen, mißlungen ist. In der Art, wie Schelling von der Wissenschaftslehre aus diese Aufgabe erfaßte, lag es begründet, daß sein Versuch ihrer Lösung nur teleologisch

252 Schelling.

ausfallen konnte. Die Natur ist die werdende Intelligenz. Sie ist die bewußtlose Vernunft, welche Ich werden will. Ihr Wesen besteht daher in dem Triebe, der sein Ziel im Bewußt- sein hat. Sie erreicht dies Ziel im animalischen Leben, und das Leben ist deshalb der Eichtbegriff der gesamten Naturphilosophie. Schelling geht dabei von dem Kantischen Gedanken aus, der für den Standpunkt der damaligen Naturforschung noch mehr als heute berechtigt war, daß aus einer Natur, deren Prinzipien man von vornherein mechanisch gefaßt habe, das Leben niemals begriffen werden könne. Deshalb muß man die Sache umkehren und die Natur aus dem Zwecke des Lebens begreifen, welcher in der Wissenschaftslehre aus dem Wesen des Ich deduziert worden ist. Somit sieht Schelling als das ursprüngliche und einheitliche Wesen der Natur ihr Leben an. Was in ihr ^tot erscheint, ist nur erstarrtes oder noch nicht vollkommenes Leben. Man darf ihre Erscheinunoen nicht in ihrer Vereinzeluno auf- fassen; sie ist vielmehr nichts als ein großer Lebenszusammen- hang, ein ewiges Ineinandergreifen der Kräfte, Ibei welchem es nur auf die Lebendigkeit des Ganzen ankommt. Das war der- selbe Gesichtspunkt der Naturauffassung, den aus seinem ästhe- tischen Bewußtsein heraus Goethe vertrat, und dieser bildete daher den ersten Berührungspunkt zwischen Schelling und dem großen Dichter. Eine merkwürdige und höchst interessante Be- ziehung gewann diese Lehre zu Spinoza. Die Lehre des ver- gessenen und geschmähten Juden hatte in dem 9. Jahrzehnt des XVIII. Jahrhunderts in Deutschland plötzHch eine neue Macht gewonnen. Es ist das Verdienst Lessings, ihre Bedeutung er- kannt zu haben, und dazu trat ein ungewolltes Verdienst Jacobis. Durch den Streit, der sich zwischen ihm und Mendelssohn über den Spinozismus Lessings im Anschluß an Jacobis »Briefe über die Lehre Spinozas« (Berlin 1785) entwickelte, wiurde die Auf- merksamkeit darauf noch mehr gelenkt, als durch seine eigene Behauptung, der Spinozismus sei die vollendete Form aller Wissen- schaft. Jedenfalls wurde Spinozas Lehre um dieselbe Zeit, als die Kritik der reinen Vernunft ihre ersten Erfolge erlangte, zu einem Gegenstand eifrigen Studiums in Deutschland, und be- sonders wirksam wurde der Gegensatz, in welchem sie zur Kantischen Freiheitslehre stand. Daß dieser Gegensatz nicht

Natur als Lebon. 253

uniibcrbrückbnr war, beruhte auf Kant« Anerkennunf^ der ab- soluten kiiusalon N()twondi«^keit in der Jlirscheinungswclt: so er- wuchs eine große metaphysische Aufgabe für den tran.szendentah'n Idealismus, und diese gestaltete sich schon bei Fichte zu einem wichtigen Moment in der Weiterentwicklung des pliilosophLschen Geistes. Für die Wirkung jedoch, welche dies Moment ausübte, war weniger der Spinozisnius selbst als die Auffassung entschei- dend, welche Herder und Goethe davon hatten, und welche sich nun auch Scholling mitteilte. Sie übersahen dabei allerdings vollständig den Gegensatz, worin sie sich mit ihrer im tiefsten Grimde vitalistischen Naturauffassung zu der rein mechanischen Formalität Spinozas befanden, und sie bewunderten an diesem nur seinen großen Gedanken eines absolut einheitlichen, unend- lichen Naturzusammenhangs. Aucb Spinoza freilich hatte zwischen anorganischer und organiscber Natur keinen Sprung und keine Verschiedenheit anerkannt, und diese Universalität des Prinzips zog Herder, Goethe und Schelling zu ihm hin. Aber es wurde dabei übersehen, daß das Prinzip der Natureinheit bei Spinoza das mechanische, hier das organische war.

Auch darin fühlte sich die Naturphilosophie wie damals Goethe diesem poetisierten Spinozismus verwandt, daß beide ihren BHck auf das allgemeine Leben der gesamten Natur richteten. Für beide galt deshalb das Individuum nur als eine vorüber- gehende Erscheinung in dem Gesamtprozeß. Auch für die Wissen- schaftslehre war wenigstens in gewissem Sinne das individuelle Ich nur ein Mittel für das allgemeine, das individuelle Bewußt- sein nur der notwendige Durchgangspunkt für die ewige imd unendliche Realisierung des absoluten Zweckes. Deshalb sind auch der Naturphilosophie die Individuen mit ihrem Sonder- bewußtsein nicht die letzte Absicht der Natur, aber ihre not- wendigen Mittel. Denn das Leben, auf das es allein ankommt, ist, wie Fichte deduziert hat, nur im Kampf und im Austausch der Kräfte möglich, und das Individuum beruht, wie schon sein Springpunkt, die Empfindung, nur darauf, daß entgegengesetzte Kräfte einander hemmen, binden und beschränken. Alles indi- viduelle Dasein in der Natur ist ein vorübergehendes Gebilde, in welchem das Wechselspiel der Kräfte zum Stillstand kommt, um sogleich wieder zu beginnen.

■I

254 Schelling.

Der Antagonismus entgegengesetzter Kräfte ist also das eigentliche Wesen der Natur, worauf ihr Leben ruht. Dualis- mus und Polarität bilden die Grundform alles natürlichen Geschehens, und dieses besteht immer in der Synthesis anta- gonistischer Momente. So wird das triadische System der Wissenschaftslehre zum Prinzip für die gesamte Deduktion der Naturphilosophie, und in diesem Sinne wird für Schelling der JJagnet in seiner untrennbaren Vereinigung polar entgegengesetzt wirkender Kräfte zum Typus der gesamten Naturkonstruktion. Alles Leben ist das Produkt entgegengesetzter Kräfte, und jede einzelne Naturerscheinung kommt nur als Synthesis antithetischer Kräfte zustande. Damit betritt Schelling den Boden von Kants dynamischer Naturanschauung. Was in der Natur als "^ Ding erscheint, was*^ Stoffe oder 'A^toni genannt wird, ist nur das Pro- dukt von Kräften. Die Naturphilosophie verlangt dieselbe Ab- straktion von der naiven Weltauffassung wie die Wissenschafts- lehre. Was als^ Seiendes^ erscheint, ist ein Produkt des Tuns. Auch in der Natur sind nicht zuerst Dinge da, Körper, Stoffe, Atome, oder wie man sie sonst genannt hat, welche Kräfte haben und mit ihnen funktionieren, sondern das Wesen der Natur ist der Trieb und die Kraft, und die physische Realität entspringt erst als deren Produkt.

Nur so ist nach der Natiurphilosophie die Einheit des Natur- lebens zu verstehen. Sie ist unbegreiflich, wenn lauter selb- ständige Dinge existieren sollen, die nach den Gesetzen, von denen niemand weiß, woher sie kommen und was sie mit diesen Dingen zu tun haben, in Zusammenhang treten. Sie ist aber völlig verständlich, wenn diese Dinge nur die Produkte von Trieben und Kräften sind, welche sämtlich die Ausgestaltungen eines ürtriebes bilden, der sich in die Gegensätze spaltet, um zu leben und um sein Ziel zu erreichen. Nicht als ein Aggregat von Atomen in mechanischen Beziehungen, sondern als das ein- heitliche Leben einer Urkraft, die in immer wechselnder Gestal- tung ihrem Ziele zustrebt, ist das System der Natur zu begreifen. Diese Ahnung schwebte den Denkern vor, welche von einer >>^Weltseele« gesprochen haben, deren lebendige Entfaltung das Universum sei. Weltseele ist das Ich, das aus dem unbewußten Triebe zum bewußten Leben kommen will und durch alle Ge-

Katep;orion der Natur. 255

stalten der iinorganischon und der orj^'anischen Natur t^'ivh zu dieser Selhsterfassung emporrin^t; es ist der »Uiesengei.st«, der .sich versteinert findet, dvr sich wunderlicli reckt und dehnt, die rechte Form und Gestalt zu finden, und der endlicli in einem Zwerge »heißt in der Sprache Menschenkind« vor sich selber staunt.

Hinter dieser großartigen Konzeption des Ganz<'n bleibt nun freilich die besondere Deduktion, womit die Naturphilosophie die notwendige Umbildung der Naturkraft aus den niederen in die höheren Formen zu konstruieren unternimmt, bedeutend zurück. Es zeigt sich dies vor allem darin, daß Schelling selbst in den verschiedenen Darstelluncfen die »Kategorien der Natur« nicht immer in der gleichen Reihenfolge und die teilweise sehr ge- künstelten Übergänge aus der einen in die andere auf sehr ver- schiedene Weise entwickelt hat, wenn auch selbstverständlich die GrundzÜ2[e des Systems dieselben geblieben sind.

Den Ausgangspunkt bildet immer Kants dynamischer Begriff von der Materie. Der Gegensatz der zentrifugalen und der zentri- petalen Kraft erschien um so fundamentaler, als auch Fichte in der Deduktion der Empfindung das Verhältnis der unendlichen zu der beschränkenden Tätigkeit des Ich darauf zurückgeführt hatte. Hatte dieser daraus die subjektive Erscheinung der Emp- findung abgeleitet, so deduziert nun Schelling mit Kant die ob- jektive Erscheinung der Materie aus demselben Gegensatze, welcher in diesem Fall als derjenige der Repulsion und der Attraktion auftritt. Auf das Intensitätsverhältnis dieser beiden Kräfte sucht Schelling mit Kant die Funktionen der Schwere, der Kohäsion, der Elastizität, besonders aber die verschiedenen Aggregatzustände und in einigen Darstellungen sogar einen Teil der chemischen Eigen- schaften zurückzuführen. Der gesamten ponderablen Materie tritt aber sodann als der notwendige Gegensatz die imponderable oder der Äther hinzu, und aus der Synthesis, aus der gegenseitigen Hemmung beider deduziert Schelling das Licht und die Wärme. Erst auf der höheren Stufe jedoch tritt das der Natur eigentüm- liche und auch in dem Verhältnis der ponderablen zur impon- derablen Materie noch verdeckte Grundgesetz der Dualität und der Polarität klar und deutlich hervor. Diese höhere Stufe be- ginnt mit den elektrischen Erscheinungen, deren tieferen Grund

256 ScheUing.

Schelling im Magnetismus sucht. Wenn die spätere Forschung das Verhältnis geradezu umgekehrt hat, so ist doch nicht zu ver- gessen, daß es wesentlich auf Veranlassung dieses Schellingschen Hinweises war, als die ersten experimentellen Untersuchungen über den Zusammenhang der Elektrizität und des Magnetismus von Oerstedt gemacht wurden. Die höchste Form der unorganischen Polarität glaubte endlich Schelling in den chemischen Wirkungen des elektrischen Prozesses sehen zu dürfen, und in dieser Beziehung wurde die Entdeckung der Voltaschen Säule (1800) für die Naturphilosophie von großer Bedeutung. Denn so bildet der Gal- vanismus den Übergang in die organische Welt. In dieser hält sich die Schellingsche Konstruktion wesentlich mit Kielmeyer an das Verhältnis der drei Grundkräfte der Keproduktionsfähigkeit, der Irritabilität, d. h. der physiologischen Reizbarkeit, und der Sensibilität, d. h. der animalen Empfindungsfähigkeit. Bei den niederen Organismen überwiegt die Reproduktion nicht nur in der Ungeheuern Masse der Vermehrung, sondern auch darin, daß das einzelne Individuum fast nichts anderes als ein Durchgangs- punkt in der Kontinuität der Gattung ist, und daß seine selb- ständige Funktion und noch mehr seine Empfindungstätigkeit von der allergeringsten Ausdehnung ist. In dem Stufenreiche der Or- ganisation kehrt sich dies Verhältnis allmählich um; die Repro- duktion nimmt immer mehr ab, sowohl hinsichtlich ihrer Masse, als auch hinsichtlich der Bedeutung, welche sie im Leben des In- dividuums einnimmt, dagegen wächst um so mehr die Verschieden- heit in der Reaktion auf äußere Einflüsse, und die Fähigkeit der spezifischen Reaktion auf spezifische Reize gipfelt endlich in der bewußten Empfindung. In den höchsten Organismen überwiegt deren SensibiHtät derartig, daß die beiden anderen Funktionen untergeordnet erscheinen, und dabei erreicht zugleich die Re- produktion ihre vollkommenste, die polare Form: sie tritt als ge- schlechtliche Zeugung auf. So zeigt sich das ganze Reich der Organismen als eine Variation des Verhältnisses dieser drei Funk- tionen. Diese seine Einheit tritt in dem gemeinsamen Typus der Organisation hervor, den die vergleichende Anatomie zutage ge- fördert hat. Die Verschiedenheit dagegen tritt in der Gestalt eines kontinuierlichen Fortschritts auf, womit durch die feinsten und zartesten Übergänge die niedere Form allmählich in die

Kntwiükluiif^Hlehro. 2i)l

liöluMV übergeht. Dieses Verhältnis bezeichnet Schellinf^ als Ent- wickliin«^. Er hat weder geleugnet noch anderseits ausdriickhcli behauptet, daß dieser Übergang des Unvollkommenen in das Voll- kommenere eine historische TatsaclRi, d. h. ein zeitlicher Prozeß sei, und seine Entwicl<lungslehre ist daher nicht im eigentlichsten Sinne als Deszendenztheorie aufzufassen. Die »Entwicklung« ist für ihn ein ideelles Verhältnis, dasselbe wie bei den großen Plii- losophen des Altertums und wie bei Leibniz; sie will nur sagen, daß die Stufenleiter der Natur ein System von Erscheinungen bilde, in welchem jede einen bestimmten Platz im Verhältnis zu den übrigen einnimmt, und in dessen Zusammenhange sich die Grundidee mit allen ihren Beziehungen ausbreitet. Diese Ent- wicklunsjslehre enthält somit nicht sowohl eine Theorie der kau- salen Erklärung, als vielmehr eine Deutung der Erscheinungen. Sie will die Bedeutung begreifen, die im System des Ganzen dem Einzelnen gebührt; sie ist in letzter Instanz eine Lehre von dem Werte, welcher den einzelnen Erscheinungen in bezug auf den Gesamtzweck der Natur zukommt. Darum sind alle ihre De- duktionen, alle ihre Vermittlungen und Übergänge teleologisch gemeint, und sie wird nur in dem Sinne auch zu einer Deszendenz- theorie, als sie von dem Gesichtspunkte der Wissenschaftslehre ausgeht, daß der Ursprung aller Dinge in dem Zweck zu suchen sei, den sie zu erfüllen haben. Der Übergang der Naturformen ineinander ist bei Schelling nicht mechanisch, sondern teleologisch bedingt. Das war der Grund, weshalb die Naturforschung mit seinen Auffassungen des Zusammenhanges der einzelnen Natur- kräfte und insbesondere der organischen Arten direkt nichts an- zufangen wußte. Er will gar nicht die mechanische Kausalität verstehen, wodurch diese^ Umwandlung vollzogen wird, sondern er begnügt sich damit, zu zeigen, daß der allgemeine Zweck der Natur diese Umwandlung notwendig mache, und er betrachtet diese teleologische Notwendigkeit als den zureichenden Grund der Wirklichkeit. Darin liegt sein großer Abstand von der Kantischen Teleologie. Für Kant war die Betrachtung der Zweckmäßigkeit das heuristische Prinzip für die Aufsuchung des kausalen Mechanismus, für Schelling ist sie ein metaphysisches Prinzip der Erklärung. Dieser Abstand ist gerade so weit wie derjenige zwischen dem Kritizismus, der die Metaphysik auf die Erscheinungen beschränkt,

Windelband, Gesch. d. n. Philos. H. 17

258 Anhänger der Naturphilosophie.

und der Wissenschaf tslehre , welche durch Aufhebung des Ding- an-sich-begriffes den Boden für eine neue Metaphysik gewann.

In der Sensibilität der Organismen gipfelt das System der Natur. Sie endet da, wo die bewußte Intelligenz anfängt: bei der Empfindung. Durch die Stufenreihe der Kräfte hindurch er- reicht sie zum Schluß den Zweck, auf den sie in bewußtloser Notwendigkeit hindrängt. In dem ganzen Formenreiche ihrer Er- scheinungen ist sie nichts als werdender Geist. Sie ist deshalb im eigentlichen Sinne die sichtbar gewordene Vernunft. Die natür- liche und die vernünftige Welt sind im tiefsten Grund identisch. Die eine enthält unbewußt, was die andere im Bewußtsein hat, und der ewige Prozeß der Natur ist nur der, in ihrem bewußt- losen Triebe den Geist zu erzeugen. Mit dieser Durchführung des naturphilosophischen Prinzips überschritt SchelHng, ohne daß er es wollte, den Standpunkt der Kantischen und Fichteschen Weltauffassung. Der ethischen Metaphysik, welche diese beiden lehrten, war der Gegensatz von Natur und Vernunft wesentlich gewesen. Aber sie waren freilich in mehr als eine Schwierigkeit dadurch verwickelt worden, daß auch sie die Vernunftgesetzgebung in der Natur nach der einen oder der andern Richtung hin an- zuerkennen genötigt waren. Indem Schelling damit völlig Ernst machte und die Natur restlos in Vernunft aufzulösen suchte, gab er jenen Gegensatz auf, und so wurde für ihn die Natur ein reines Vernunftprodukt. Damit charakterisiert sich diese Lehre, welche in der Natur nichts anderes als die bewußtlose Erscheinung der Vernunft sehen will, als physischen Idea- lismus.

Die Naturphilosophie hatte einen mächtigen Erfolg und gewann in kürzester Zeit eine Reihe bedeutender und begeisterter An- hänger. Ihr ideenreicher Versuch, in der Natur den Geist wieder- zuerkennen, übte eine zündende Anregung aus. Aber diese Wirkung war zum Teil nicht so glücklich, wie sie lebhaft war. Schellings eigene Lehre schon überschritt die rein wissenschaftliche Behandlung der Natur und betrachtete ihr Objekt vielfach unter Analogien und Deutungen, die, mochten sie noch so geistreich konzipiert sein, doch schließlich mehr der Phantasie als dem strengen Denken angehörten. Dies Verhältnis trat, wie immer, noch weit mehr bei

Novaliü. 25ü

(Ich SchiiNMii horvor. Es l)einii(h(it;te nicli der ihm NahcHtchciMlcn eine Art von Rausch der Nulurspekulation, und die Phantasie boj^ann mit ihrem Spiel von Deutungen, Ver^Moichun^en und Kom- binationen jene Or<^ncn zu feiern, welche ihr später die Verachtuii;^ der exakten Wissenschaft zum'zoi^en und den Namen der Natur- philosophie zu einem »Schmiiliwort «gemacht haben. Am meisten wirkte Schellings Lehre auf poetisch anj;ele<^e Gemüter. Seine Konstruktion der Natur war ja selbst mehr ein großartig gedachtes Gedicht als ein wissenschaftliches System, ein Gedicht von reizender Schönheit, für welches nur, wie bei Dichtungen üblich, die Be- weise fehlten. Wenn er im Leben der Natur das leise Herauf- dämmern des Geistes schilderte, so ist es begreiflich, wie ihn freudig die Dichter begrüßten, die in den Gestalten der Natur, in den phantastischen Bildungen des äußeren Daseins die Stimmungen und die Geschicke der Seele wiedergespiegelt fanden. So sab sieb Tieck von der Naturphilosophie ergriffen, und vor allem die Märchendichtung, deren Art es ja ist, den Geist in die Natur hineinzutragen, mußte der Schellingschen Lehre wie ihrem wissenschaftlichen Zwillingsbruder entgegenkommen. Auf diese Weise begannen in der Naturphilosophie Poesie und Wissenschaft ineinander zu verschwimmen. In der analogischen Betrachtung der Natur verwischten sich ihre Grenzen, und die Phantastik fing an, sich für Wissenschaft zu halten. Als ein Typus dafür dürfen die abgerissenen Bemerkungen gelten, welche Novalis (Friedrich von Hardenberg 1772 1801) in seinen »Fragmenten« niederlegte. Sie beruhen alle auf einer Grundauffassung, die tief in Fichtes Wissenschaftslehre und zugleich in des philosophischen Dichters eigenes Gemüt zurückweist. Sie betrachten alle äußere Natur als Erscheinung und Symbol des inneren Trieblebens, sie suchen hinter dem Mechanismus ein geistiges Gestalten und betrachten so die gesamte Welt in Raum und Zeit unter dem Gesichtspunkte des magischen Idealismus. Wie Novalis selbst wünschte und hoffte, von seinem Innenleben des Willens her den starren Zu- sammenhang der Naturnotwendigkeit zu durchbrechen, geistige Beziehungen über den Tod hinaus fortzusetzen, so verwandelten sich ihm die Geheimnisse der Naturerkenntnis in phantastische Allegorien. Neben feinen und geistreichen Wendunsfen finden sich hier Sätze, in denen das empirische Denken kaum mehr den Rest

17*

260 Steffens.

eines Sinnes zu entdecken vermag. Da heißt die Natur eine ver- steinerte Zauberstadt oder ein enzyklopädischer Index unseres Geistes, da heißt aber auch der Raum ein Niederschlag aus der Zeit, das Wasser eine nasse Flamme, heißt Farbe das Bestreben des Stoffes, Licht zu werden und umgekehrt, da ist Denken Galvanisation, da soll im Schlaf der Körper die Seele ver- dauen usf.

Geht dabei die geistreiche Analogie in Phrase über, welche um so gefährlicher ist, als sie eine tiefe Erkenntnis zu sein glaubt, so sind anderseits auch viel wertvollere Wirkungen von der Naturphilosophie ausgegangen. Sie bot eben doch neben diesen spielenden Deutungen eine Eeihe bedeutender Gesichts- punkte dar, welche sich für die Naturwissenschaften fruchtbar

'^fu^v. erweisen sollten. So wendete vor allen Steffens (ein geborener Norweger, 1773 geboren, in Deutschland gebildet und als deutscher Universitätslehrer tätig, in BerHn 1845 gestorben) in seinen »Beiträgen zur inneren Naturgeschichte der Erde<< (1801) das Schellingsche Prinzip auf die in der Umwälzung begriffene und durch seinen Lehrer Werner in Freiberg mächtig geförderte Wissen- schaft der Geologie an und stellte zuerst auf Grund der Tat- sachen die Idee einer »geologischen« Entwicklungsgeschichte des Planeten auf, vermöge deren dieser sich in allmählicher Um- bildung zum Träger des organischen Lebens gestaltet und zu dessen immer höherer Ausbildung befähigt habe. So verfehlt die einzelnen Hypothesen gewesen sein mögen, in denen er diesen Gedanken durchführte, so groß bleibt das Verdienst des letzteren selbst, und auch dieser beruhte doch schließlich auf dem teleo- logischen Grundprinzip Schellings, daß alles Leben auch der sogenannten unorsjanischen Natur in dem Zwecke wurzele, den Geist zu erzeugen. /Am meisten jedoch lassen sich selbstver- ständlich die Anregungen Schellings auf dem Gebiete der orga- nischen Naturforschung verfolgen. Es war ausdrückhch unter

\f>y^xxy^ seinem Einfluß, daß Carus (1789 1869) die vergleichende Ana- tomie in Deutschland einbür<:erte. Der Nachweis der Identität des Baues in der Fülle der Organismen galt auch ihm nur als ein Beweis für die Einheitlichkeit des Plnnes, nach welchem das gesamte Leben von der unvollkommensten bis zur vollkommensten Form aufgebaut ist. Ein wahrhaft fruchtbarer Vertreter aber dieses

ükon. 2V)\

rrinzip.s war Lokmiz Okcn (1779—1851). Er int für Dcnt«chlan(l OA* der Bü«^ründer clt^r ürL,'anül()»4i. cIkmi Entwicklunij^sgcscliicbtc; auch er lehrte (»Die liedoutuii^ der Schiuh'lknochon« 1807), daß man im Schädel nur eine höher cnt'wickelle Form des Wirbels zu sehen habe; er beliauptcte bereits au.sdrückbch, daß das ^anze Stufeureich der Or«;anisnien, die Tiere so gut wie die Pflanzen, durch allmähliche Umbildung aus einem organischen Urschleim'^-' entstanden sei, der, in unendlichen Formen differenziert, den Stoff aller Organismen bilde. Er gliederte das ganze Tierreich nach dem teleologischen Gesichtspunkte, daß die sechs verschie- denen Systeme, die er in der physiologischen Funktion des Menschen annahm, in den sechs Grundklasseu des Tierreiches die innerhalb jeder einzelnen mannigfach variierten Typen darstellen sollen, so daß das ganze Tierreich überall den zerstückten Menschen enthält. Er betrachtet ebenso auch den ganzen Prozeß der Organi- sation als einen Weg der Entwicklung, den die Natur durch viele verfehlte Bildungen hindurch nimmt, um zu der Erreichung des Zweckes der bewußten Intelligenz erst im Menschenleben zu ge- langen. Aber ihm lösen sich diese Betrachtungen vollständig von dem Prinzip der Wissenschaftslehre ab, ihm ist schon die Natur nicht ohne Einfluß Spinozas eine vollkommen selbständige Existenz, er tritt ganz zum physischen Pantheismus über und sucht diesen in einer Weise zu begründen, deren Formeln bereits auf Schellings absolutes Identitätssystem (vgl. unten § 66) zurück- zuführen sind.

Aber das Prinzip der Naturphilosophie leitete noch über das organische Leben hinaus in die Psychologie hinüber. Galt die Natur als bewußtlose Intelligenz, so mußte der Übergang von ihr zum Bewußtsein zuletzt in jenen dunklen Regionen des geistigen Daseins gesucht werden, welche dem bewußten Vernunft- leben in uns zugrunde Hegen. Vom Standpimkte der Naturphilo- sophie aus mußte sich daher für die Psychologie das Bestreben geltend machen, diese »Nachtseite« der menschlichen Psyche, diesen unbewußten Untergrund des bewußten Lebens eingehend zu erforschen und ihn als den wahren Übergang der organischen Natur in das vernünftige Dasein zu begreifen. Solche Tendenzen finden sich bei Carus (»Vorlesungen über Psychologie« 1831 und »Psyche, zur Entwicklungsgeschichte der Seele« 1846), bei Steffens

262 Schellings transzendentaler Idealisraus.

(»Anthropologie«, Breslau 1822), bei Burdach (»Anthropologie« 1827), vor allem aber bei Schubert (1780—1860), der dem allge- meinen Publikum wie Oken als Verfasser verbreiteter Handbücher der Naturgeschichte bekannt ist. Seine »Ahndungen einer allge- meinen Geschichte des Lebens« (1806 1821), mehr noch seine »Geschichte der Seele« stellen diesen Gesichtspunkt in den Vorder- grund, und von demselben aus beschäftigte er sich besonders mit der unbewußten Grundlage der psychischen Störungen, mit den geheimnisvollen Erscheinungen des Somnambulismus und jenem rätselhaften Ineinandergreifen bewußter und unbewußter Tätig- keiten, welches die menschhche Psyche auf der schwanken Grenze der natürüchen und der vernünftigen Welt erscheinen läßt.

§ 65. Der ästhetische Idealismus.

Schiller und die Romantiker.

Die "Naturphilosophie, vom Prinzip der Wissenschaftslehre aus begonnen und anfänglich ihr untergeordnet, war unter Schellings Händen mehr und mehr zu einer selbständigen Disziphn gereift. Sie erschien ihm jetzt als eine Ergänzung und ein Gegenstück der Wissenschaftslehre. Zeigte die letztere, wie das Ich um seines praktischen Zweckes willen die Natur als das Nichtich setzt, zeigte sie, wie das Ich Natur wird, so hat die Naturphilosophie die umgekehrte Aufgabe, zu entwickeln, wie die Natur zum Ich wird. Indem Schelling noch daran festhält, sich mit Fichte einig wissen zu wollen, faßt er dies Verhältnis so auf, daß die Philo- sophie oder Wissenschaftslehre nach den allgemeinsten Grund- bestimmungen sich in zwei, einander umgekehrt korrespondierende Teile zerlege, einen objektiven, welcher als Naturphilosophie die Entwicklung der Natur zum Bewußtsein darstelle, und einen sub- jektiven, welcher die in Fichtes Wissenschaftslehre behandelte »Geschichte des Bewußtseins« zu seinem Inhalte habe. Diesen subjektiven Teil der Philosophie benannte Schelling jetzt mit dem Namen der Transzendentalphilosophie oder des transzen- dentalen Idealismus. Indem er aber an die selbständige Be- arbeitung dieser zweiten philosophischen Grundwissenschaft geht, bilden sich ihm unter der Hand die Fichteschen Gedanken der- artig um, daß das Gesamtbild dieses notwendigen Systems der

BedouiuiiRf dcir Anthotik. 203

Vornuiiftliiiiullun^^cn ein wrHentlich anderes wird. Zu dem Gegen- aatze der theoretischen und der praktischen Wissenschaftslehre, welcher sich selbstverstiindlich in diese neue Phase des Scheüinj;- schen Denkens hinüberzieht, tritJL der He^^riff einer dritten Ver- nunltfunktion hinzu, die in der Versöhnung des Gegeiusatzes den Abschhiß des Systems und die Krönung des Gebäudes bildet. Aus den Grundbestimmungen dov Kantischen Philosophie und aus der schon durch die Naturphih)8ophie bekundeten Einwirkung der Kritik der Urteilskraft auf das Schellingsche Denken ist von vornherein abzusehen, daß diese verknüpfende Funktion nur die ästhetische sein konnte. Wenn aber so der ganze Entwurf, den Schelling hier von der Transzendentalphilosophie machte, auf die Überwindung des Gegensatzes von theoretischer und praktischer Vernunft durch die ästhetische hinausläuft, so lagen die Prä- missen dafür zwar vollständig schon in Kants Philosophie; allein, bevor Schelling sich ihrer bemächtigte, hatten sie bereits eine Weiterbildung erfahren, die jetzt für ihn bestimmend wurde. Diese war nicht von allgemein philosophischem Interesse, sondern von spezifisch ästhetischen Tendenzen ausgegangen, die durch Kants Werk eine mächtige Anregung erfahren hatten. Ihre Träger waren daher Dichter, welche sich in bezug auf die Theorie des ästhe- tischen Lebens mit der neuen Philosophie auseinanderzusetzen suchten und dadurch die für die Weiterentwicklung entscheidende Verschmelzung der philosophischen und der poetischen Bewegung herbeiführten. So wurde die Ästhetik nicht nur das lebendige Zwischenglied zwischen beiden, sondern auch auf der einen Seite eine Macht in der poetischen Produktion, auf der andern Seite ein wesentliches Moment für die philosophische Weltauffassung. Nach beiden Richtungen hin ist diese Wirkung eine mächtige ge- wesen, aber sie hatte auch nach beiden ebenso ihre gefährlichen wie ihre segensreichen Folgen. In der Dichtung gab sie zu einer philosophischen Vertiefung Anlaß, welche die höchsten und wert- vollsten Interessen des menschhchen Denkens zu Gegenständen einer poetischen Darstellung machte, von der Schillers sogenannte philosophische Gedichte das unerreichte und unvergleichliche Muster sind. Aber sie führte zugleich durch das Überwiegen des theo- retisierenden und reflektierenden Moments eine Absichtlichkeit und Gekünsteltheit herbei, die der poetischen Produktion schadete,

264 Schiller.

wie es namentlich bei den Romantikern ersichtlich ist./ Die Philo- sophie anderseits gewann dadurch nicht nur einen Blick auf den Zusammenhang des menschlichen Kulturlebens, wie er in dieser großartigen Allseitigkeit bis dahin gemangelt hatte, sondern auch für ihre Darstellung eine viel lebendigere Form, vermöge deren sie mit dem allgemeinen Bewußtsein eine viel innigere Fühlung erzielen und erhalten konnte als in der abstrakten Schulmäßigkeit ; aber es drang zugleich damit in sie, wie es schon bei der Natur- philosophie der Fall war, die phantasievolle Deutung und das ästhetische Bedürfnis überhaupt in einer Ausdehnung ein, welche der strikten Wissenschaftlichkeit feindselig war und dadurch den Erkenntniswert ihrer Konstruktionen auf das lebhafteste ge- schädigt hat.

Der Führer dieser Bewegung ist Schiller. Als Dichter wohl hie und da überschätzt, ist er in seiner wahrhaft großartigen Bedeutung für das deutsche Geistesleben selten voll gewürdigt worden. Sie besteht eben darin, daß er die Bahn eröffnet hat, auf der ein Jahrzehnt lang das poetische und das phüosophische Schaffen der deutschen Nation Hand in Hand gegangen sind. Und er hat diese Bedeutung dadurch gewonnen, daß er zuerst mit gleich innigem, mit gleich tiefem Verständnis das Wesen Kants und dasjenige Goethes begriff, daß er ihren Gegensatz in sich aus- zusöhnen und aus ihrer Verknüpfung das Ideal der höchsten Bil- dung zu gewinnen suchte. Von allen den Geistern, in denen der Einfluß jener beiden Genien sich kreuzte, ist er der erste ge- wesen, ist er mit Schelling der vornehmste geblieben. Er ist zur vollen Reife seines eigenen Geistes und seiner poetischen Schöp- fungen erst dadurch gediehen, daß er mit diesen beiden Männern, die ihn merkwürdigerweise anfangs beide abstießen, die innigste Fühlung gewonnen hat. In seinem Wesen ist schon von Juueiid an eine wunderbare Mischung des künstlerischen Geistes, in welchem er schließlich seine Verwandtschaft mit Goethe fand, und des rin- genden Charakters, worin er Fichte ähnelte, und von dem aus er wie dieser das Verständnis Kants gewann.

Der Gegensatz dieser Elemente bedingte die stürmischen Um- wälzungen, die migelösten Widersprüche seiner Jugend, und erst auf der Höhe seines Lebens in Jena und Weimar klärte er sich zu bewunderungswürdiger Reife ab. Es war in ihm ebenso viel

ÄsthetiBohc AbhttnUluugen. 205

sprülieiulc und spruih Indc (Icniaiitiit wie sittenstrenger Ernst uwd Neigun«4 zur bojArifflichcn AbHlraktion. J)er RigoriBmuH Kant» schlug in Briiiom Cliarakter niclit minder verwandte Saiten an als die schöne Freiheit in der individueUcn Iveben.sgestaliung bei Goethe, und die (Jaben des Denkers waren ihm ebenso eigen wie dieieuigen des Künstlers. Er besaß die naive Kindlichkeit des

wahren Dichters und daneben die männliche Reflexion des Cha- rakters, der alles aus Prinzipien zu gestalten und zu begreifen denkt. Es gibt unter seinen Schöpfungen solche, in denen das eine oder das andere Element rein und mit ungeteilter Kraft waltet, es gibt viele darunter, in denen namentlich das letztere das erstere beeinträchtigt, und die höchsten sind die, in denen beide einander die Wage halten. Das gerade ist der Charakter seiner Abhandlungen, mit denen er in die ästhetisch -philoso- phische Bewegung bedeutsam eingegriffen hat. Sie behandeln zum Teil besondere Gegenstände der ästhetischen Theorie, sie be- sprechen den >> Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen « (1792) oder »das Wesen der tragischen Kunst« (1792), sie ent- wickeln die Begriffe von »Anmut und Würde« (1793), den des »Pathetischen« (1793) oder den des »Erhabenen« (1793 und um- gearbeitet 1801); aber sie beziehen immer jedes besondere Problem auf das allgemeine, und sie bewegen sich alle um die gegen- seitigen Beziehungen des ästhetischen und des moralischen Lebens. Der Dichter Schiller sah in der ästhetischen Funktion die wert- vollste und vollkommenste Ausprägung des menschlichen Wesens, der Charakter Schiller unterwarf mit strenger Überzeugung alles menschliche Tun dem sittlichen Zweck. Nennt man das eine das Goethesche, das andere das Kantische Ideal, so war der Geist Schillers von beiden so sympathisch berührt und von beiden so gleichmäßig erfüllt, daß man vom Anfang bis zum Ende in seiner schriftstellerischen Tätigkeit beide Elemente verfolgen kann. Ja, oft in derselben Schrift überwiegt bald das eine und bald das andere, je nachdem der Gegenstand das lebhafte Wiesen des dichterischen Denkers nach der einen oder nach der andern Seite mit sich reißt. Dieser Kampf der Elemente hat weder mit dem Siege des einen oder des andern, noch mit einer vollen und all- seitigen Versöhnung zwischen ihnen geendet, sondern er ist viel- mehr bis in die letzten Äußerungen Schillers hinein zu erkennen;

266 Schiller.

aber immer neue und neue Versuche hat er gemacht, damit zum Abschluß zu kommen.

Alle diese Versuche bewegen sich in einer Richtung, die Schillers Lehre in einem interessanten Parallelismus zu Kants Religionsphilosophie erscheinen läßt. Wenn es sich um die Auf- stellung des moralischen Gesetzes und um die einzelnen Aufgaben handelt, die der vom Naturtriebe beherrschte Mensch zu erfüllen hat, so steht Schiller niemals und auch in seinen letzten Schriften nicht an, dem vollen Rigorismus der Kantischen Moral zu hul- digen; dann gilt auch für ihn als sittlich nur eine bedingungs- lose und durch die bewußte Maxime herbeigeführte Unterwerfung des sinnlichen unter den geistigen Menschen. Aber anders ist es, wenn man den Menschen in seiner gesamten Entwicklung be- trachtet; hier ist er ein sinnlich-übersinnliches Wesen, hier wirkt in ihm die ganze imwiderstehliche und als Bestandteil seines Wesens berechtigte Gewalt des Naturtriebes, und hier wäre zu befürchten, daß, wenn wir ihm das Sittengesetz nur im Gegen- satze zu seinem natürlichen Wesen zeigten, er vor der Majestät des Gebotes nur zurückschreckte, und daß er in der physischen Notwendigkeit unterginge, ehe er sich zum sittlichen Bewußtsein erhoben hätte. Der im Kampfe begriffene Mensch bedarf einer Unterstützung seiner sinnlichen Natur, um zum mora- lischen zu werden. Auch Kant hatte das verstanden, und er hatte diese Unterstützung in der Religion gesucht. Schiller hat an vielen Stellen seiner Schriften darauf hingedeutet, daß neben der Religion für diesen Zweck ästhetische Bildung das wesent- lichste Mittel sei. Durch sie soll das natürliche Triebleben ver- edelt und verfeinert werden, um zu dem Übergange in das mora- lische Leben fähig zu werden.

Hiernach gewinnt es den Anschein, als solle nach Schillers Überzeugung ähnlich wie es in der aufklärerischen Ästhetik betrachtet worden war das ästhetische Leben wesentlich nur das notwendige Mittel sein, um den Menschen aus dem sinnlichen in den sittlichen Zustand überzuführen. Und unter diesem Ge- sichtspunkte entwarf Schiller in der Tat seine großartigen »Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen« (1795 1796). Aber die Ausführung dieses Planes geht in mehr als einer Beziehung über den Kantischen Standpunkt der Ethik hinaus. Sie nimmt

Wort und Wesen der äBthotischen Bildiinpf. 2^)7

zunächst schon ihr Problem nicht in der Auf;;abc des einzelnen Menschen, sondern in derjenij^en des ganzen (ie.H<hlechts. »Sie folgt in dieser Hinsicht in entschiedener Weise der Geschichtsphilosopie des Königsber^er Dcnivcrs. Sic» sieht die moralische Ordnung oder, wie Schiller sagt, den »moralischen Staat« als die Aufgabe an, zu welcher sich die Menschheit aus dem Stande des »phy- sischen Staates«, der durch die natürliche Notwendigkeit herbei- geführten Gewaltherrschaft, entwickeln soll, und sie konstruiert als das unumgängliche Zwischenglied den »ästhetischen Staat«, d. h. den Stand des veredelten Naturtriebes, durch den allein die Kluft zwischen der physischen Wirklichkeit und der moralischen Aufgabe ausgefüllt werden kann. Im physischen Zustand erleidet der Mensch die Macht der Natur, er entledigt sich ihrer im ästhe- tischen, und er beherrscht sie im moralischen. Diese Klimax ent- wickelt Schiller noch in einem der letzten dieser Briefe; aber in- dem er an der Hand der Kantischen Begriffsbestimmung das Wesen des ästhetischen Zustandes untersucht, gewinnt ihm dieser einen von seinem moralischen Nutzen völlig unabhängigen Wert, und während er ursprünglich eine durch das ästhetische Element sich vollendende Erziehung zur Moralität schildern wollte, gibt er in der Mitte der »Briefe« eine Theorie der Erziehung zum ästhetischen Leben selbst.

Schillers Auffassung ist dabei wesentlich durch die KantisChe bedingt, und ihre Darstellung bewegt sich teilweise in den durch Eeinhold und Fichte geschaffenen Formen. Die letzte Unter- scheidung, welche wir in uns finden, ist diejenige unserer iden- tischen Persönlichkeit und ihrer wechselnden Zustände; jene ist die rein geistige Form, diese sind durch den gegebenen Stoff unserer sinnlichen Natur bestimmt. Aus jener stammt daher der »Formtrieb« als die sittliche Betätigung unseres übersinnlichen Wesens, aus diesen der »Stoff trieb« als die naturnotwendige Ent- faltung unserer sinnlichen Natur. In beiden Fällen handeln w^ir um bestimmter Zwecke willen, gleichviel ob wir diese autonom bestimmen oder ob wir darin von dem Einfluß der sinnlichen Reize abhängig sind.

Ein unmittelbarer Übergang nun aus der einen in die andere Art der Bestimmtheit ist nicht denkbar. Der plötzliche Umschlag der sinnlichen Bestimmtheit in die sittliche Selbstbestimmung des

268 Schiller.

Willens ist im psychologischen Mechanismus nicht möglich. (Auch Kant betrachtete die »Wiedergeburt« als eine imerklärbare Tat des intelligiblen Charakters.) Dieser Übergang muß also dadurch vermittelt werden, daß es einen Zwischenzustand gibt, worin weder der Stoff trieb noch der Formtrieb herrscht und der Wille weder sinnlich noch sittlich bestimmt, sondern völlig unbestim.mt, d. li. auch unwirksam ist. Dieser Zwischenzustand ist derjenige der interesselosen Betrachtung, d. h. nach Kant der ästhetische. Er ist derjenige, in welchem wir dem Gegenstande nur anschauend, d. h. weder mit sinnlichem noch mit sittlichem Bedürfnis, sondern lediglich mit der ^Betrachtung ^gegenüberstehen. Er befreit uns deshalb von der Herrschaft der sinnlichen Triebe und macht uns gerade durch seine Unbestimmtheit fähig, dem sittlichen Triebe zu folgen. Der ästhetisch empfindende Mensch steht nicht mehr unter der Herrschaft der sinnlichen Natur und ist darum dem sittlichen Motive zugänglich geworden. Die Überführung aus dem natürhchen in den sittlichen Stand, für welche Kant die Mysterien des religiösen Glaubens in Anspruch nahm, wird von Schiller in der ästhetischen Bildung gesucht. In diesem Zwischen zustande schweift sowohl die sinnliche Bederde als auch der Ernst des sittlichen Strebens. Er ist der bewußten Anspannung des Willens gegenüber derjenige des Spiels; wir wollen nichts von den Dingen, wir spielen nur mit ihnen, indem die Anschauung auf ihnen ruht. Diesen Zustand herbeizuführen, gibt es in unserem Wesen eine ursprüngliche Tendenz, das ästhetische Bedürfnis oder den Spieltrieb. Seine Tätigkeit besteht also darin, den Form- trieb und den Stofftrieb gleichmäßig zu paralysieren und alle unsere Tätigkeiten in einem absichtslosen Spiele zu entfalten.

Ist so der, Spieltrieb ursprünghch als das Mittel gedacht, ver- möge dessen der sinnliche Mensch fähig wird, dem sittlichen Motive die Bestimmung auf seinen Willen zu gewähren, so erweist er sich nun bei Schiller in seinen Wirkungen derart, daß durch ihn erst das gesamte Wesen des Menschen zur vollkommensten Entfaltung gelangt. Ist der Mensch nun einmal, was auch die Kantische Moral nicht leugnen kann, ein zugleich siimliches und übersinn- liches Wesen, so ist die interesselose Betrachtung derjenige Zu- stand, in welchem keine der beiden Seiten seines Wesens auf Kosten der anden n überwiegt, in welchem er für die Einflüsse

Spioltricl). 26<)

von boidon Seiten hvr L'lcicli ciiipfäü^licli ist, inid in welclioin (leshalb Heine jj;anze, ihm Hpezifisch ei<;one Natur als reinste und vollkoiunienste Harmonie zum Ausdruck kommt. »Der Mensch ist nur da wahrhaft Mensch, wo *er spielt.« Seine sinjdi^e Natur teilt er mit den niederen Wesen, seine sittliche lieatimmunf^ mit höheren Geistern; das ästhetische Leben, die harmonische Aus- gleichung des sinnlichen und dos übersinnlichen Elements besitzt er allein. Es ist zu bemerken, das Schiller diesen Gedanken völlig selbständig bereits in den »Künstlern« aussprach, einem Gedichte, dessen Gesamttendenz in einer an Herders Geschichtsphilosophie anklingenden Weise auf die Herbeiführung der höchsten intellek- tuellen und sittlichen Kultur durch die Kunst angelegt ist. Der Antagonismus beider Auffassungen steckte in Schiller schon, ehe er von Kant einerseits iind von Goethe anderseits abhängig wurde. Nur die theoretische Formulierunuf änderte sich. So erscheint denn in seinem Briefwechsel mit Körner und Humboldt und in den Schriften der neunziger Jahre der ästhetische Zustand als der spezifisch menschliche und zugleich als derjenige, in welchem das sinnlich - übersinnliche Wesen des Menschen seine höchste Ausojestaltunfif findet. Schönheit ist Freiheit und Z\veck- mäßigkeit in der Erscheinung, ist die Harmonie der sinnlichen und der übersinnlichen Welt und damit die Vollendung des mensch- lichen Geistes, der, sonst um die Grenze beider herüber und hin- über scliwankend, hier die Ruhe in beiden findet. Dies ästhetische Ideal sieht Schiller in den^ olympischen Göttern verkörpert, und das ist bei ihm der kongeniale Zug, der ihn zu den Griechen, der ihn zu Goethe hinführt.

Vor dem Glänze dieses ästhetischen Ideals verblaßt, wo sich Schillers Betrachtung darin versenkt, das Kantische Moral- prinzip, dem der Dichter an anderen Stellen bedingungslos huldigt. Aus solchen Stimmungen erklärt sich der Widerspruch , den er schon früh gegen den Rigorismus des Philosophen in Ernst und Scherz äußerte, und der in seinen Schriften bis zum Schluß immer wieder mit der Anerkennung desselben abwechselt. Von diesen Gedanken aus verwarf er dann auch auf dem rein ethischen Gebiete die Notwendigkeit des Antagonismus von Pflicht und Neigung, der bei Kant geradezu als Merkmal der moralischen Hand- lung erscheint. Er stellt dagegen das höhere Ideal auf, daß durch

270 Schiller.

die ästhetische Gewöhnung das natürliche Triebleben des Menschen selbst zu einer Veredlung gelange, worin er nicht mehr nötig hat, die Regungen der sinnHchen Natur durch die sittliche t 'berzeugung in erhabenem Ernste zu unterdrücken, sondern von selbst und durch die Notwendigkeit seiner edlen Natur tut, was das Gesetz verlangt; er ist dann nicht mehr Sklave der Pflicht, sondern hat das Sittengesetz zum Naturgesetz seines Wollens gemacht. Dabei gibt Schiller immer zu, daß ein solches Handeln der »schönen Seele <<, wenn es aus bloß natürhcher Anlage folgt, moralisch in- different sei; aber er hält dem Kantischen Rigorismus gegenüber daran fest, daß eine solche Veredlung der Natur, wenn sie das unter Mitwirkung des ästhetischen Lebens gewonnene Resultat der Bildung und der sittHchen Erziehung ist, die höchste Voll- endung des menschlichen Wesens enthalte, und er begründet den Wert dieses höheren Ideals namentlich auch mit dem Hinweise, daß durch diese AVirkung der veredelten Natur der Zustand der Gesellschaft aus der rohen Natürlichkeit in die Herrschaft des Vernunftgesetzes übergeführt werde. Er macht damit den Versuch einen ethischen Wert auch der Handlungen als solcher zu be- haupten, worauf sich ja schließlich auch Kant in der Rechtslehre gedrängt sah, und beginnt somit die Bewegung, welche den streng subjektiven Charakter der Kantischen Ethik wieder verließ, um ein objektives Prinzip der praktischen Philosophie zu suchen, eine Bewegung, von der, wie es sich zeigte, auch Fichte in seinen späteren Jahren mehr und mehr ergriffen wurde.

Aus dieser verwickelten Stellung Schillers zu Kant erklärt sich nun der große Einfluß, welchen des letzteren Geschichtsphilosophie auf den ersteren ausübte. Dies Verhältnis war außerdem durch die gemeinsame Hinneip^ung zu Rousseau bedingt. Für beide Männer ist die Geschichte der Prozeß, welcher von der Natur zur Freiheit führt, aber für Schiller war auf diesem Wege das Wesentlichste die ästlietische Bildun<i. Schon ehe er mit der Kantischen Lehre vertraut war, hatte er in den >> Künstlern << den Gedanken ausgeführt, daß das ästhetische Leben berufen sei, das verlorene »Arkadien« in höherer Form, als »Elysium«, wieder herbeizuführen \md den Menschen durch die Befreiung von der sinnlichen Bedürfti;^keit zur Vollendung seines Wesens zu führen. Während er so die Kunst zu einem wesentlichen Momente der

Naiv und nontimcnialigch. 271

hiatoriHcluMi I^^iiiwickhin;^' machte, führte er uni^ckolirt in dio Ästhetik (las Prinzip der j^oHchichtsphilosophischcn Konstruktion ein. Die reifste und bedeutendste seiner ästhe- tischen Schriften, diejenige »Üb^r naive und sentimen talische Dichtung« (1795— 17%), ist für die Entwicklung der Ästhetik nicht minder entscheidend geworden als die Kritik der Urteils- kraft. Ihr Schwerpunkt ist darin zu finden, daß j-ie sowohl die einzelnen ästhetischen Grundbegriffe, als auch die Arten des künst- lerisclien, insbesondere des dichterischen Schaffens aus dem ver- schiedenen Verhalten abzuleiten sucht, worin sich während der Entwicklung der menchlichen Kultur der Geist zu dem natür- lichen Zustande des Menschen befindet. Der große Gegensatz des Naiven und des »Sentimentalischen«, aus dem dabei alles Weitere abgeleitet wird, läuft darauf hinaus, daß in dem ersteren das geistige Wesen noch einfach und unbefangen in das natürliche Dasein eingelebt ist, daß dagegen die Wurzel der Sentimentalität in dem Gegensatz der geistigen Kultur zur ihrer natürlichen Grundlacfe beruht. Ist einmal die unbefanüene Einheit der beiden Seiten der mcnschHchen Natur verloren, so ist das ganze Be- streben des ästhetischen Triebes darauf gerichtet, sie wieder zu gewinnen. Während der naive Zustand sich dieser Einheit nicht als solcher bewußt ist, da in ihm die Gegensätze noch nicht hervorgetreten sind, empfindet der sentimental^ sie als ein ver- lorenes Ideal oder als eine Aufgabe, die er nicht völlig zu er- füllen imstande ist. Aus diesem Grunde deckt sich in der Schiller- schen Konstruktion der Gegensatz des Naiven und des Sentimentalen mit demjenigen des Antiken und des Modernen. Die antike Kunst j

und ebenso das antike Leben gelten ihm als wesentlich natürlicb"^^ *-7- ^

und naiv^ Aber dieser Zustand, den die Menschheit verloren hat,^^^^y^^5^ und der für die moderne Sentimentalität als das goldene Zeit- alter erscheint, ist als solcher nicht wieder zu gewinnen. Für unsere Kultur ist die Entfremdung von der Natur ein Mangel, /:->,^->5^. den wir wie eine Krankheit empfinden, und alle Tendenz des modernen Lebens läuft darauf hinaus, jenen Zustand in einer höheren, durch das Bewußtsein hindurchgegangenen Form durch w-^^^^ die Kultur selbst wiederzufinden. Die Erreichung dieses Zieles ist für Schiller wie für Kant und Fichte das Ende, das Ziel des historischen Prozesses. Und das Streben danach wird deshalb

272 Schiller.

erst in der unendliclien Ferne enden. Aber was die wirkliche Kultur des Menschen nicht völlig erreichen kann, das vermag die Kunst in der Anschauung zu leisten. Im ästhetischen Leben ist jene Zurückführ ung des Kulturgeistes zur naiven Natürlichkeit möglich, welche im wirklichen Leben niemals ganz gewonnen werden kann. In der Welt des Schönen ist die Aufgabe erfüllt, die in dem Gedränge der Wirklichkeit immer wieder in die Ferne weiter rückt. Ist der Dichter von der Aufgabe dieser Arbeit selbst erfüllt, und stellt er ihre niemals völlige Erfüllbarkeit in seinen Werken dar, so ist er der große Idealist; hat er in seiner ästhetischen Produktion die Aufgabe gelöst, hat er mitten aus der modernen Sentimentalität heraus die antike Naivität wieder- gefunden, und vermag er den ganzen Inhalt der mühsam ar- beitenden Kultur als ein harmonisches Gebilde natürlicher Ein- fachheit zu gestalten, so ist er der große Eealist. Wenn bei dieser Gegenüberstellung zweifellos die höhere ästhetische Voll- endung dem Realisten zufällt, und wenn bei der Zeichnung dieses Gegensatzes dem Dichter auf der einen Seite die eigenen, auf der andern die Züge Goethes vorgeschwebt haben, so vollzog er da- mit eines der größten und edelsten Selbstbekenntnisse. Auch er verehrte in Goethe das Ideal einer Bildung, in der das natür- liche und das sittliche Wesen des Menschen aus ihrer Entzweiung, welche die Kultur mit sich gebracht hat, zu ihrer harmonischen Versöhnung zurückgekehrt sind, einer Bildung, die dem Natur- zustand darin gleich und doch über ihn unendlich erhaben isl, daß sie dasselbe, was jener als Gabe und Instinkt besitzt, ihrer- seits als ein Bewußtes und Erworbenes genießt.

So nimmt schon bei Schiller die Ästhetik gerade vermöge ihrer Be^^ründuno; in der Kantischen Lehre die Tendenz, eine bewußte Zeichnung des Goetheschen Genies zu werden und zugleich das Ideal jener Bildung aufzustellen, deren Typus eben Goethe ist. Gerade im Bewußtsein dieser Bildung überragten die beiden großen Dichter riesenweit das Zeitalter der Aufklärung, aus dem sie so gut wie Kant hervorgewachsen waren, und sie gaben dieser Überlegenheit in den Xenien den klassischen Ausdruck. Wenn später namentlich durch die Romantiker die »Bildung« geradezu das Stichwort im Gegensatz zur Aufklärung wurde, so lag die Berechtigung dazu eben in dem, was die beiden großen Dichter

Zweite deulRcho Konaisitnoe. 27.'^

erroidii liatton. Das XVIII. .laiirliundert vorstand unter »Kultur« des (lüistes eine nüchttM-no llieoretische Erkenntnis und eine nicht minder nüchterne I\Ioral der Gcnieinniitzigkeit. lli<'r dagej^en ist Bildung volle und allseitige EntfaRung des nienachlichen Wesens,

daß nichts in ihm verkiunmero, daß jede seiner Tätigkeiten und Eiihigkeiten ihre ungehemmte Entwicklung in der Harmonie seiner ganzen Natur finde. Dies Ideal der Bildung, das schon in Shaftes- burys »Virtuosität« sich angekündigt hatte, erstreckt sich haupt- sächlich auf die gleichmäßige Entwicklung der sinnHchen und der übersinnlichen Seite des menschlichen Wesens, und es ist eben darum in seiner tiefsten Bestimmung ästhetischen Charakters. So verstanden, ist dies Bildungsbewußtsein der Höhepunkt der modernen Kulturentwicklung und die wahre Vertiefung der modernen Kultur in sich selbst. Diese zweite Renaissance der Deutschen ist nicht nur die Vollendung der ersten, die in der Mitte unterbrochen worden war, sondern sie enthält auch erst die Sielbstbewußtwerdung des Grundtriebes, welcher die gesamte europäische Renaissance beseelte. Hier erst wird man sich be- wußt, w^elches der tiefste Sinn aller Gegensätze ist, in deren Ver- söhnung die moderne Kultur ihre Aufgabe findet. Die beiden Seiten des menschlichen Wesens, deren harmonische Ausgleichung den Inhalt der Bildung darstellt, haben in der historischen Be- wegung mannigfache Verhältnisse angenommen. In der antiken Kultur überwiegt der sinnliche, in der christlichen Kultur der übersinnliche Mensch. Die volle Versöhnung dieser beiden Ent- wicklungen zu finden, war von Anfang an die Tendenz der modernen Kultur. Das sinnliche Wesen des Menschen beherrscht seine wissenschaftliche Erkenntnis, das übersinnliche bedingt sein sittliches Bewußtsein und den daran geknüpften Glauben. Und diese »zwiefache Wahrheit« auszugleichen, ist das stetige Be- streben des modernen Denkens. Aber die sinnlich- übersinnliche Natur des Menschen offenbart sich als fertige Totalität nur in seiner ästhetischen Funktion. Darum war die ganze Renaissance in erster Linie künstlerisch bewegt. Und darum war das Selbst- bewußtsein der modernen Kultur in der deutschen »Bildung«, dieses Selbstbewußtsein, welches sich als die aussöhnende Ver- schmelzung des antiken und des christlichen Prinzips fühlte, durch die Einsicht Kants bedingt, daß die ästhetische Funktion die

Windelband, Gesch. d. n. Philos, U. 18

274 Wilhelm von Humboldt. Ästhetischer Humanismus.

Synthesis der theoretisclien und der praktischen Vernunft sei. Das eben war die große Epoche, daß zu gleicher Zeit diese Syn- thesis des sinnlichen und des übersinnlichen Menschen in dem modernen Griechen, in Goethe, lebendig war, imd es ist das un- sterbliche Verdienst Schillers, diesen Moment bis in seine tiefste Bedeutung begriffen und seinen Sinn nach allen Richtungen hin formuliert zu haben. Er ist in Wahrheit der Prophet des Selbst- bewußtseins der modernen Kultur.

Als einer der hauptsächlichsten Vertreter dieser vollbewußten . modernen Bildung ist neben Schiller Wilhelm von Humboldt l^islir zu nennen. Auch ihm ist das Gleichgewicht des geistigen und des sinnlichen Wesens das Ideal der menschlichen Ausbildung, auch für ihn gilt Goethe als die Verkörperung dieses Ideals, auch sein Interesse breitet sich mit gleichmäßiger Wärme über alle Wendungen des Kulturlebens in der Geschichte aus, und der ästhetische Humanismus, der alle diese Bildungsmomente mit künstlerischer Ausrundung in sich aufgenommen hat, macht den Grundcharakter seines reichen und vielseitigen Geistes aus. Aber der feurigen Begeisterung Schillers gegenüber erscheint Hum- boldt kühler; der ästhetische Humanismus wird bei ihm oft recht eigentlich eine »interesselose« Betrachtung, und namentlich kommt gelegentlich bei ihm auch die Exklusivität zur Geltung, wie sie einem solchen Bildungsideal in der Tat notwendig eigen sein muß. Auf der anderen Seite ist gerade Humboldt theoretisch und praktisch dafür eingetreten, den großen Gedanken Schillers von einer ästhe- tischen Erziehung des Menschen zur Durchführung zu bringen. Er machte in dieser Beziehung eine ähnliche Wandlung durch wie Fichte, und während er anfangs versuchte, die »Grenzen der Wirksamkeit des Staates« ganz nach den Auffassungen des XVIII. Jahrhunderts zu bestimmen, hat ihm später die Erziehung des Volkes und als ihre Krönung die ästhetische Bildung für eine der wichtigsten Aufgaben des Staates gegolten, eine Aufgabe, an deren Erfüllung er selbst als preußischer Minister besonders bei der Gründung der Berliner Universität in der segensreichsten Weise gearbeitet hat. Derselbe allgemeine Begriff der »Bildung«, in der das ganze Wesen der Menschheit mit harmonischer Aus- gleichung sich zu entfalten habe, weist endlich auch auf die Ge- danken zurück, durch welche Humboldt später neben Herder zum

HiHtorischo Bildung. 275

Bc^riiiulrr der Spra eil plii lose )pliic «geworden iat; denn er sieht in der Sprache, als dem zentralen Herde aller incn.schlichen Kultur, die Tiiti«;keit des Geistes, sich ini sinnlichen I^aute darzustellen. Gleich sehr physiologisch und psychologisch, ^deich sehr durch das Bedürfnis des Gedankens und durcli die Notwendigkeit des leiblichen Mechanismus bedingt, ist die Sprache die fundamentale Lebensform, worin das Gleichgewicht der sinnlichen und der geistigen Natur des Menschen zum Ausdruck kommt, und alle ihre Bewegungen und Entwicklungen sind durch das Bestreben reguliert, dies Gleichgewicht, welches sich stets nach der einen oder andern Seite zu verschieben droht, immer wieder her- zustellen. Hat er auf diese Weise für die philosophische Be- handlung der Sprache eine neue Anregung gegeben, der später besonders August Wilhelm von Schlegel gefolgt ist, so ist es auf der anderen Seite bekannt, wie er den ersten Schritt zur Be- gründung der vergleichenden Sprachwissenschaft getan und da- mit die exakte Forschung in die Bahnen gelenkt hat, welche sie jetzt geht.

Zu dem Wesen dieses ästhetischen Humanismus gehört in erst'fer Linie die Universalität der historischen Bildung; er führt jenes von Herder begonnene Bestreben fort, die Entwicklung der menschlichen Kultur durch alle ihre Formen hindurch zu ver- folgen, die Stellung zu begreifen, die innerhalb des ganzen Pro- zesses die einzelnen Völker mit ihrer Bildung einnehmen, imd deren reifste Früchte in das eigene geistige Besitztum aufzunehmen. So beruht auf dieser Tendenz der mächtige Assimilationsprozeß, durch welchen um jene Zeit der deutsche Geist in einer Reihe musterhafter Übersetzungen die größten Leistungen fremder Literaturen sich zu eioen machte und die Schriftsteller anderer Völker geradezu in deutsche Xationalschriftsteller umwandelte. So wurde Homer, so wurde bald darauf auch Piaton, so Shake- speare, so die romanischen Dichter, so wurden schließlich auch die Schätze der älteren deutschen Literatur für die deutsche Bildung erobert, und so wurden die Lebenssäfte der früheren Kultur in das Blut des deutschen Geistes aufgenommen. Den Mittelpunkt dieser Bewegung bildete die romantische Schule. Ihre Be- strebungen waren prinzipiell ebenfalls durch den ästhetischen Ge- sichtspunkt bedingt, den Schiller ausgesprochen hatte, daß nämlich

18*

276 ^^® Romantiker.

die ästhetischen Grundbegiiffe und die poetischen Ideale der Älenschheit aus einer geschichtsphilosophischen Auffassung ge- wonnen werden müßten.

Der Kreis der Komantiker ist eine der bedeutsamsten Er- scheinungen in dieser großen Zeit. So zufäUig und verwickelt die persönlichen und die literarischen Beziehungen gewesen sein mögen, durch welche er zusammengeführt wurde, so sehr tritt doch in ihm die ganze Konzentration eines Ungeheuern Bildungsstoffes, die den Charakter der Zeitbewegung ausmacht, in klarer Gestalt hervor: eine unendhche geistige Regsamkeit, eine unvergleichliche Fülle des Interesses vereinigt in dem Denken dieser Männer die verschiedensten Richtungen, um sie durchein- ander zu befruchten. Drei Hauptgesichtspunkte sind es, welche sie leiten: der literarisch-ästhetische, der philosophische und der politische; und indem sie diese zu vereinigen suchen, leben sie dem Ideale, daß eine völlige Neugestaltung des gesamten mensch- lichen Kulturlebens vor der Tür stehe: es gelte, durch ein reifes Verständnis alle großen Produkte des menschlichen Geistes in einer allseitigen Entwicklung zu verbinden und die neue Periode seiner vollendeten Entfaltuna; herbeizuführen. Nach allen drei Richtimgen ist es deshalb die historische Erkenntnis, welche für sie den Boden der Verständigung bilden soll. Selbst im geringen Maße schöpferisch, zeichnen sie sich durch die Feinheit des historischen Sinnes und durch die Fähigkeit aus, die Aufgaben der Gegenwart aus dem vollen Verständnis der Leistungen der Vergangenheit zu begreifen. Von ihnen ist deshalb zweifellos die Bewegung ausgegangen, welche das historische Interesse als be- deutsames Moment in die wissenschaftliche Bildung eingeführt hat, und sie sind auch in diesem Sinne die äußersten Gegenfüßler der Aufklärung7 deren größter Mangel in ihrer Unfähigkeit be- stand, den Wert der Geschichte zu verstehen. An Lessing und Herder sich anschließend, sind sie die Schöpfer der Literatur- geschichte und der Kulturgeschichte geworden. Durch sie vor allem hat die historische Forschung aufgehört, eine Kuriositäten- sammlung zu sein, und zwar deshalb, weil sie daran den philo- sophischen Maßstab einer Gesamtentwicklung legten, deren Fazit die Gegenwart zu ziehen habe. Es ist auch bei ihnen der Kan- tische Gedanke mächtig, daß nur, wo von einem ^ Ziel der Ge-

PliiloHophiHcli-UsthetiHche Bildung. 277

schichte «^esprodicn wird, sich beurteilen läßt, was in ihr als ^"Fortschritt^ charalvtcrisiort worden darf. So sehr sie sich dabei im cinzehicii ver<^Tiffen haben, so oft sie genöti;;t gewesen sein niöjijcn, die noch so «großen Lücken ihres historischen Wissens durch Konstruktionen auszufidlon, welche sie ihrer allgemeinen pTiilosophischen und iistlietischen Tendenz entnahmen, und so Hy- pothesen aufzustellen, welche die strenge Kritik der späteren Forschung vorwerfen mußte, so sollte doch diese Kritik nicht vergessen, daß der historische Geist, der ihr Gewissen bildet, gerade durch den ausgedehnten Einfluß der Romantiker am leb- haftesten geweckt worden ist.

Als nach mancherlei Vorbereitungen dieser Kreis sich zuerst in Jena zusammenfand, waren es drei große Interessen, die ihn belebten: die französische Revolution, die Goethesche Dichtmig und die Kantisch-Fichtesche Philosophie. Aus ihrer Vereinigung sahen die Romantiker die Morgenröte der neuen Zeit herauf- dämmern, und deren Licht suchten sie in einer Bildung, durch welche diese drei »Tendenzen« sich gleichmäßig konzentrieren sollten. Die Herbeiführunor eines vernünftigen Zustandes der menschlichen Gesellschaft, welche den Trieb der Revolution bil- dete, schien ihnen nur dadurch möglich, daß der Geist der Vernunftüberzeugung, den Fichte predigte, zum Durchbruch kommt, und ein allgemeiner Durchbruch dieses Geistes schien ihnen wiederum nur durch den Sieg jener universellen und har- monischen Bildung möglich, welche Goethe repräsentierte. Die Hoffnung der Gesellschaft müsse deshalb darauf gerichtet sein, daß die Philosophie der Vernunft und die ästhetische Bildung sich miteinander vereinigten. Alle Linien der menschhchen Kultur laufen an dem Punkte zusammen, wo der Dichter und der Philosoph auf derselben Stelle stehen müssen. Die Philo- sophie soll den ganzen Gehalt der ästhetischen Bildung in sich aufnehmen, und damit soll zugleich die ästhetische Bildung ihre bewußte Vollendung finden, um die Macht des öffentlichen Lebens und die Grundlage einer neuen Form der Gesellschaft zu werden. Der leitende Gedanke der Romantiker ist das totale Ineinander- auf gehen von Dichtung und Philosophie. Sie waren weder große Dichter noch große Philosophen. Darum konnten ihnen die Grenzen beider Gebiete sich verwaschen. Sie waren Männer von

278 Novalis.

universeller Bildung, Kritiker von bedeutenden Gesichtspunkten und feinfühlende Bearbeiter der großen Gedanken, welche die Zeit produziert hatte, und welche sie mit einem einzigen Griffe zusammenzufassen hofften.

In philosophischer Hinsicht sind sie durchgängig von Fichte beeinflußt, unter dessen persönlicher Einwirkung sie sich in Jena befanden, und unter den Grundbegriffen seiner Lehre ist es hauptsächlich derjenige der ^ produktiven Einbildungskraft, welcher die Brücke zu den ästhetischen Interessen bildete, von denen sie anfangs herkamen. Fichte gründete im Sinne des transzendentalen Idealismus die äußere Welt auf eine Funktion der schöpferischen Phantasie,' derselben Phantasie, schien es, welche im Künstler tätig ist. Bei geringer Neigung zu begriff- licher Schärfe sahen die Dichterphilosophen der Romantik darin eine vollkommene Gleichsetzung beider Funktionen, und so ver- ,JU^3 wandelte sich für Novalis die natürliche Wirklichkeit in eine traumhafte Schöpfung der Phantasie. Wie er als Anhänger der Naturphilosophie sich ganz in ein spielerisches Analogisieren verlor, so nahm sein »magischer Idealismus« eine schillernde Doppel- stellung zwischen Dichtung und Philosophie ein. Zwar biUigte er in persönlicher Überzeugung den ethischen Idealismus, mit dem Fichte die Welt als ein Material der Pfhcht ansah, aber er selbst war im Gegensatz dazu eine weiche, träumerische Natur, und so ist ihm auch die weltschöpferische Tätigkeit des Ich nicht die ernste Arbeit des sittlichen Willens, sondern vielmehr ein träumerisches, phantastisches Walten. »Die Welt wird Traum, der Traum wird Welt.« Das JMärchen, als die Dichtungsart, in der Wirklichkeit und Phantasie am meisten ineinander über- gehen, in der alle Gestalten mit unbestimmter Vieldeutigkeit in- einanderfließen, gilt ihm recht eigentlich als die höchste mensch- liche Produktion. In Märchen entwickelt sich seine poetische Philosophie, und in ihr gewinnt deshalb die Welt selbst einen märchenhaften Charakter, vermöge dessen alle bestimmten Ge- stalten in die allgemeine Verwandelbarkeit untergetaucht werden. Sein unvollendeter Roman »Heinrich von Of terdingen «, der zugleich eine Philosophie und eine Dichtung sein will, ist ein wunderlicher Vexierspiegel, in welchem vor lauter Gleichnissen, Verwandlungen imd Allegorien jeder faßbare Inhalt in ungreifbare Ferne zurückflieht.

Friedri(^h voi» Schlegel. 279

Wenn (losluill) boi Novalis die Diclitun^ und die PliiloHophie glcic'liniülii^^ sich in eine tniuinhaftc Diimnicrunp; auflÜHen, so treten die Tendenzen der Romantiker mit um so schärferer Zu- spitzung bei Friedrich von "Schlegel (1772 1820) h<MV<;r. Dieser merkwürdig begabte und doch im letzten Grunde pro- duktionslose Kritiker hat jede Wendung, welche das romantische Denken in dem Jahrzehnt von 1794 bis 1804 durchgemacht hat, auf den schärfsten Ausdruck gebracht, mit übermütiger liück- sichtslosigkeit zugespitzt und durch die Übertreibung selbst wieder zerstört. Persönlich eine intrigante und skandalsüchtige Natur, ist er der Trommelschläger der Romantik gewesen und zeigt nach den guten und nach den schlechten Seiten hin vielleicht am voll- kommensten das merkwürdige Wesen dieses interessanten Kreises. Von Lessing und Schiller ausgegangen, an Goethe und Fichte emporgerankt, hat er das Prinzip der Romantik auf seine typische Form gebracht und hat schließlich zu derselben Zeit, als Sclielhng seine theosophische Wendung nahm, aus Verzweiflung an der Durchführung jenes romantischen Ideals einer neuen Gestalt der menschlichen Kultur im Schöße der römischen Kirche geendet. Wie Schiller das Griechentum, so idealisierten die Romantiker das Mittelalter. Schon bei Novalis tritt die Neigung hervor, jene inmgeVerschmelzung der philosophischen, literarischen und poHtischen Bestrebungen, jene volle Dm-chdringmig aller mensch- lichen Lebenstätigkeiten, welche die Romantik suchte und selbst nicht zu schaffen vermochte, in einer ähnlichen Unterwerfung der gesamten Kultur miter ein religiöses Prinzip zu finden, wie sie das Wesen des Mittelalters ausmacht, und Friedrich Schlegel ist der erste von den zahlreichen Vertretern des romantischen Prinzips gewesen, welcher in der radikalen Art, die ihm bei- wohnte, durch den Übertritt zur katholischen Kirche diesen Weg in der Tat einschlug. Das lag weit ab von den Bahnen, die er anfangs gewandelt w^ar. Zu dem Opfer der persönlichen Über- zeugung gelangte er erst, nachdem er von der schwindelnden Höhe der äußersten Subjektivität herabgestürzt war.

Die Theorie, womit er die Romantik zu begründen gedachte, entwickelte sich in ihm aus seiner Auffassung Schillerscher imd Fichtescher Gedanken, welche mehr ein Mißverständnis als eine absichtliche Umdeutung enthielt; sie ist hauptsächlich in den

fiJüUt

2g0 Friedrich von Schlegel.

>> Cliarakteristiken und Kritiken« (1801) und in den Fragmenten niedergelegt, welche er in dem von ihm und seinem Bruder 1799 und 1800 herausgegebenen »Athenäum« veröffentlichte. Den Schillerschen Gegensatz von naiv und sentimental führte er zu- erst sehr glücklich namenthch nach der Eichtung aus, daß der naive oder »klassische Dichter« derjenige sei, welcher gewisser- maßen in seinem Stoff aufgehe und dahinter verschwinde, wäh- rend bei dem sentimentalen oder »romantischen« Dichter seine Persönlichkeit im Vordergrunde stehe und auf den behandelten Stoff ihr eigenes Licht werfe. Den antiken Dichter vergessen wir und versenken ims in die Welt, die er darstellt; zu dem modernen Dichter haben wir ein persönhchcs Verhältnis und beziehen den von ihm behandelten Stoff auf ihn selbst. Das Wesen der modernen oder »romantischen« Dichtung besteht also in dem Vorwalten der Subjektivität. Der moderne Künstler ist die große bedeutende Persönlichkeit, welche freigestaltend über ihrem Stoffe schwebt und ihn aus ihrer Phantasie erzeugt. So erscheint hier die produktive Einbildungskraft nicht mehr wie bei Fichte als allgemeine Vernunfttätigkeit, sondern als die schöpferische Phantasie des Dichters; diesem wird von Schlegel die absolute, grundlose Freiheit zugeschrieben, und die Vernunft- notwendigkeit verwandelt sich in die Willkür des genialen Indi- viduums. Das gilt bei den Romantikern zunächst hinsichtlich der Ästhetik. Was man Gesetze oder Regeln der Kunst ge- nannt hat, sind die Launen der großen Künstler, und der ästhe- tische Genuß ist das kongeniale Mitleben in ihrer schöpfe- rischen Willkür, ist die Bewunderung der Größe und Freiheit ihrer Persönhchkeit. So gestaltet sich bei diesen Männern das ästhetische Leben wesentlich zu einem Kultus der Genialität, und ihre Theorie enthält nach dieser Seite hin die bewußte Vertiefung jener ersten leidenschaftlichen Bewegung, welche als »Sturm und Drang« sich gegen die Knechtung des künstlerischen Triebes unter regelrechte Formen aufgebäumt hatte; sie wendet sich zugleich, Herders Gedanken fortführend, mit verächtlichem Hohne gegen die »platte« Aufklärung, die auch das Dichten zu einer verstandesmäßigen Arbeit hatte machen wollen.

Aber Friedrich Schlegel führt dies Prinzip mit kecker Rück- sichtslosigkeit auch in die Moral hinüber. Auch hier statuierte

Oonialo INForrtl. 281

er wie Jacobi das Kocht dos genialen Individuums, sich selbst das Gesetz zu <:;eben und sich über die Kej^elii zu (Theben, die im gemeinsamen Leben für den Philister mit seiner prosaischen Nüchternheit gelten. Auch Ficlit«' war, damit Jacobi sich nähernd, in seinen Lehren um die Wende der beiden .lalirliunderte, mehr und mehr von dem Kantischen Prinzip abj^ekommen, wonach alle ethische Wcrtbcstimmun^^ von der Erfüllun«,' allgemeiner Maximen abhängig gemacht werden sollte; auch er hatte mehr und mehr das sittliche Eigenrecht der individucllenUestimmung* und den Freiheitswert der Persönlichkeit anerkannt. Aber bei den Romantikern nahm nun der Kultus der Genialität auf dem moralischen Gebiete die Form der bedenkhchsten Exklusivität an. Es gehört zu den Eigentümlichkeiten der geistigen Bewegung des XV in. Jahrhunderts, daß sie sich auf enggeschlossenem ge- sellschaftUchen Boden abgespielt hat, und dieser Umstand ist bei den Romantikern zu einem bewußten Gegensatze zwischen ihrer eigenen genialen Freiheit und der großen Masse der Alltags- menschen'' geworden. Wie sie sich in ihrem wirklichen Leben nicht scheuten, sich über die Regeln der allgemeinen Moral hin- wegzusetzen, so besaß Friedrich Schlegel den Übermut, diese ge- setzlose Willkür als ein Recht der genialen Naturen in Anspruch zu nehmen. Sein Roman >>Lucinde« (1799) proklamierte eine ^ ^j geniale Moral, der es wesentlich sei, die Schranken der gewohnten '' Sitte zu durchbrechen, und entwickelte diese hauptsächlich in einer Polemik gegen diejenige Institution, an welcher die Roman- tiker selbst am meisten sündigten, gegen die Ehe. Indem er den ästhetischen Begriff einer"^ freien Liebe^ aufstellte , worin das sinnhche und das geistige Wesen des Menschen gleichmäßig zur Geltung kommen sollen, mochte er manchen prosaischen und hyperspirituellen Auffassungen gegenüber so weit im Rechte sein, daß Schleiermacher diesen im Grunde genommen auf Schillers Ästhetik zurückweisenden Gedanken in seiner durchaus idealen Weise durch die »Vertrauten Briefe über die Lucinde« (1800) verteidigen konnte. Aber die Durchführung jenes Gedankens in Schlegels Roman selbst, weit entfernt, eine harmonische Ver- schmelzung des sinnlichen und des geistigen Elementes der Liebe zur Darstellung zu bringen, erging sich vielmehr teils in Lüstern- heit, teils in völlig verfehlter Phantastik. Die geniale Moral der

282 Friedrich von Schlegel.

Lucinde zeigt aber auch darin ihren ästhetisierenden Charakter, daß sie die interesselose Betrachtung als ethischen Selbstzweck ansieht. Die sittHche Funktion des Genies ist der Selbstgenuß seiner schöpferischen Phantasie, sie richtet sich nicht auf irgend- welche praktische Tätigkeit, sie dient weder dem eigenen noch _ dem fremden Nutzen; keines der Ziele, welche man im gemeinen Leben*^ sittlich nennt^ hat sie zu ihrem Gegenstande, sie ist keine , Arbeit, sondern der in seiner eigenen Freiheit schwelgende Genuß. Der Müßiggang ist das Ideal des, Genies und die Faulheit die romantische Tugend. Aus der rastlosen Arbeit des ethischen Ich ist bei Schlegel das ästhetische Spiel der Phantasie geworden. Arbeit mit allen ihren Zwecken des Alltagslebens bleibe dem Philister: das Genie hat, wie die olympischen Götter, in seiner Freiheit nur die Aufgabe, sich selbst auszuleben und sich selbst zu genießen.

Die Abhängigkeit und die Verschiedenheit des romantischen von dem Fichteschen Denken tritt hier in voller Klarheit hervor. Auch das Fichtesche Ich ' war nur mit sich selbst beschäftigt ; aber in der sittlichen Arbeit, die Aufgabe zu realisieren, die sein Wesen ausmacht, war es unendliches Streben. Das romantische Ich soll in seiner Selbstbeschäftigung nur den Launen seiner Phantasie folgen, es ist unendliches Spiel. Von diesem Gegensatz V aus gewinnt Schlegel die tiefste Begriffsbestimmung des roman- ^/^v^' tischen Prinzips unter dem Namen der Ironie. Er knüpft sie an Fichtes Bestimmung, daß das Ich über jede selbstgesetzte Schranke wieder hinausgeht, und überträgt diese Lehre auf die Phantasie des Genies. Die Ironie des künstlerischen Schaffens besteht darin, daß das Spiel der Phantasie jedes ihrer eigenen Produkte wieder auflöst, daß sich die Freiheit der Subjektivität in der Willkür offenbart, mit der sie in keinen ihrer Gegenstände aufgeht, sondern, stets darüber herrschend, ihr Spiel beliebig fort- setzt und diesen ihren Triumph über den Stoff genießt. Das war die theoretische Ansicht, welche m Verbindung mit dem Mangel an wahrer Gestaltungskraft den Produkten der Roman- tiker, besonders von Novalis und Friedrich Schlegel selbst, den Charakter der Formlosigkeit aufdrückte: schon die Lucinde, welclie das Muster dieser Art poetischen Schaffens sein sollte, war nach dem treffenden Ausspruch der romantischen Chor-

Ironie. 283

fiihrorin Caroline ein totgeborenes Kind, das der PedantiHmu» mit der Sünde statt mit der Pliantasie Rezeugt hatte. Die iro- nische Willkür läßt es zu keiner bestimmten Gestaltung kommen, jeder Versuch dazu wird wieder vernichtet, und der an sich end- lose Prozeß dieser Selbstironisierun;^ wird srhlicüiicli nur will- kürlich abgebrochen. Hierin besteht der wahre Gegensatz des romantischen ffegen das klassische Prinzip. Während nach dem letzteren jeder Gegenstand in der künstlerischen Anschauung seine volle Ausprägung findet, ist in der romantischen Kunst alles nur __angedeutet, oft nur allegorisch versucht, und das ganze W^erk zeigt ein unendliches Ringen, zu einem Abschluß zu kommen, der nie erreicht wird ein Ergebnis, das auf einem anderen Gebiete der Gegenwart als die »unendliche Harmonie« in der Zukunfts- musik bekannt ist. Darin wieder zeigt sich die nahe Verwandt- schaft dieses Prinzips mit dem Fichteschen.

Aber der Begriff der stetigen Beschäftigung mit sich selbst führt Schlegel noch weiter: der Standpunkt der Ironie verlangt von der Philosophie, immer nur das Philosophieren selbst, von der Dichtung, immer nur das Dichten selbst zu ihrem Gegen- stande zu machen. Für die romantische Auffassung wird des- halb der reale Inhalt sowohl des phüosophischen Problems als auch der poetischen Darstellung gleichgültig. Sie philosophiert nur, um zu philosophieren, sie dichtet nur, um zu dichten, und ihr Interesse liegt deshalb nur bei der Form ihrer eigenen Tätig- keit, worin deren Freiheit zum Genüsse des künstlerischen Be- wußtseins kommt. Das »Tun des Tuns« wird ernsthch durch- geführt. Das W^esenthche der Philosophie ist, sich mit den Formen zu beschäftigen, welche sie schon entwickelt hat, und in der Zusammenfassung von deren geschichtlichem Wechselspiel ihr eigenes Wesen zu gestalten, und in den poetischen Versuchen der Romantiker nimmt das Wesen des Dichtens und des Dichters eine große Ausdehnung unter ihren Gegenständen ein. Damit hängt denn auch die historische Tendenz zusammen, welche die Romantiker zur Geschichte der Philosophie und der schönen Literatur führte.

Die Anschauungen des romantischen Kreises würden jedoch auf die allgemeine Entwicklung der deutschen Phüosophie keinen so großen Einfluß gewonnen haben, wie es wirklich geschehen ist,

284 Schelliog.

wenn ihm nicht der Hauptträger dieser Entwicklung angehört hätte. Durch persönliche Beziehungen war Schelling in den letzten Jahren des Jahrhunderts mit den Romantikern so verbunden, daß er völlig zu ihnen gezählt werden muß. Zu dem unendlichen Reichtum seiner Begabung gehörte nicht nur die dichterische Produktivität, sondern vor allem auch eine hohe ästhetische Empfänglichkeit. Die Bewunderung Goethes ist dabei ein wesent- liches Bindeghed zwischen ihm und den Dichtern, Kritikern und Rezensenten, die sich um die romantische Fahne scharten. Allein, was Schlegel zwar immer geistreich, aber meist paradox und oft als unverdauten Einfall hinwarf, das gestaltete sich in dem großen Sinne Schellings zu einer klar gedachten Theorie, und so sehr sich die Romantiker persönHch von Schiller entfernen mochten, so war es doch die Aufnahme des Schillerschen Gedankens in die Transzendentalphilosophie, vermöge deren Schelling eine Um- wandlung seiner Lehre vollzog, welche als die abgeklärteste Gestalt der romantischen Philosophie und als das vollkommenste Denkmal der Durchdringung des philosophischen und des ästhetischen Denkens angesehen werden muß. Diese Wandlung besteht der Hauptsache nach in einer allgemeinen philosophischen Ausbeutung der ästhetischen Theorie, die Schiller als echter Kantianer auf den subjektiven Prozeß der ästhetischen Funktion des Menschen bezogen, aber doch auch schon teilweise in eine objektive Be- stimmung umgedeutet hatte. Sie ist niedergelegt in der Schrift: »Der transzendentale Idealismus« (1800) und in den Vorlesungen über die Philosophie der Kunst, die Schelling zuerst im Winter 1799 auf 1800 in Jena hielt, und deren Inhalt, allerdings in der Redaktion, welche sie erst bei ihrer Wiederholung in Würzburg erhielten, in seinen Werken vorhegt.

Der transzendentale Ideahsmus soll die Lehre vom Ich sein, wie die Naturphilosophie die Lehre vom Werden des Ich ist. Zum Wesen des Ich aber gehört nach Fichte der Gegensatz der be- wußtlosen und der bewußten Tätigkeit; der Akt, durch welchen der Inhalt des Bewußtseins erzeugt wird, ist als solcher not- wendig immer bewußtlos. Aus dem gegenseitigen Verhältnis dieser beiden Elemente ergab sich die Disjunktion der theoretischen imd der praktischen Wissenschaftslehre. Diese wird von Schelling im wesentlichen unverändert übernommen. Aus der Abhängig-

IMiiloHophio der Kuntt. 285

koit (1<M' l)(*\vußl(Mi von drr unhcwiiüton Täii/^'kelt cr^'ibt kJcIi <Iio thoorotisrho Reihe dos Hewuüt.scinH, die, von der Einjifiiidun^ jinhebcnd, durrh die Anschauung' und das Denken bis zur vollen Freiheit des Selhstbewußlseins iftifstei«^t, worin das Ich sich selbst schließlich als Wille begreift und verwirklicht. Aus der BcRtirnmt- heit der bewußtlosen durcli die bewußte Tätigkeit ergibt sich die j)raktische Reihe des Bewußtseins, die sich in der gemeinsamen Jjebenstätigkeit der Individuen als die Entwicklung der Freiheit durch die Oeschichtc darstellt.

Nach diesen beiden Richtungen folgt Schelling den Lehren von Kant und Fichte besonders in der Erkenntnistheorie und Geschieh ts- philosophie und zeigt dabei doch eine große Selbständigkeit teils in der dialektischen Anordnung des reichen Stoffes, teils in der Auffassung der einzelnen Probleme: allein darüber hinaus fügt er nun jenen beiden Reihen eine abschließende Synthese hinzu, die zwar auf der Kritik der Urteilskraft und auf der Schillerschen Lehre vom Spiel trieb prinzipiell beruht, aber doch in dieser Aus- führung völhg originell ist. Während das Ich sowohl in der theo- retischen als auch in der praktischen Reihe mit einseitiger Be- stimmtheit auftritt, muß eine höchste Form seiner Entwicklung gesucht werden, in welcher es zu seiner vollendeten Erscheinung kommt. Bei Fichte wie bei Kant ist der Gegensatz des Theore- tischen und des Praktischen derjenige zweier Linien, die sich erst im Unendlichen treffen; aber das Ich ist einheitlich, und so muß diese seine Einheit des bewußtlosen und des bewußten Tuns auch zur Erscheinung kommen: es muß neben dem theoretischen und dem praktischen Ich eine Funktion der Vernunft geben, worin der Gegensatz jener beiden Tätigkeitsformen aufgehoben ist. Diese Funktion ist die ästhetische; denn das Genie, durch welches sie bedingt ist, ist die bewußtlos-bewußte Tätigkeit des Ich; sein Pro- dukt, die Kunst, ist deshalb die vollendete Darstellung vom Wesen des Ich. Die Wissenschaft als das Produkt des theoretischen Ich und die Moral in ihrer Entwicklung; durch die Geschichte als das Produkt des praktischen Ich enthalten beide einen progressus in infinitum; nur die Kuns^; als das Produkt des ästhetischen Ich enthält die fertige Lösung der Aufgabe, an der jene beiden ar- beiten. Soll in der theoretischen Funktion das Bewußte vollständig durch das Bewußtlose, soll umgekehrt in der praktischen Funktion

;

286 Schclling.

das Bewußtlose vollständig durch das Bewußte bestimmt sein, 80 erreichen beide ihr Ziel erst in der Unendlichkeit, d. h. in der Erfahrung niemals. Die Kunst dagegen zeigt in der Erscheinung selbst das Gleichgewicht der bewußtlosen und der bewußten Tätig- keit, worin sie sich gegenseitig vollständig bestimmen, und worin keine über die andere überwiegt. Das Genie ist die Intelligenz, die_als Natur wirkt. In der Kunst allein decken sich die sinn- liche und die geistige Welt, die sonst überall entweder aus- einander oder aufeinander zu streben. Das Kunstwerk ist daher die vollkommene Darstellung des Ich in der Erscheinung, die Kunst ist daher das höchste Organon der Philosophie; denn sie enthält die Lösung des Problems, an welchem das philosophische Denken arbeitet. Jedes wahre Kunstwerk ist eine Welt in sich, eine zur vollkommenen Ausgestaltung gelangte Erscheinung der absoluten Welteinheit; in ihm ruhen der Trieb des Denkens und der Trieb des Willens. Ihr Gegensatz ist aufgehoben, und die Arbeit des Ich, das sich selbst realisieren will, ist vollendet in der Anschauung, welche die Tätigkeit des Ich zu vollkommener Harmonie entwickelt hat.

Getreu dem Zuge der idealistischen Weltanschauung deutet SchelUng die psychologischen Bestimmungen, unter denen Kant und Schiller die künstlerische Produktion und den ästhetischen Genuß begriffen hatten, zu allgemeinen philosophischen Auf- fassungen um, und die abschließende und vollendende Stelle, welche nach Schiller die Romantiker dem ästhetischen Moment für die Entwicklung des menschlichen Geistes zuwiesen, führt bei SchelUng dazu, daß die Kunst als der Kulminationsbegriff in der meta- physischen Konstruktion der Transzendentalphilosophie erscheint. Die Kunst ist die Vollendung des Weltlebens, sie ist die reifste Erscheinung des Ich, das den Urgrund aller Wirklichkeit bildet. Damit ist das ästhetische Moment zu dem bestimmenden der Weltauffassung geworden, aus dem Kantischen und Fichtescheu hat sich der ästhetische Idealismus entwickelt.

Damit ist aber zugleich die Ästhetik nicht nur zu einer, sondern zu der abschließenden Disziplin der Philosophie geworden. Sie ist unter diesem Gesichtspunkte wesentlich eine metaphysische Lehre von der Kunst. Sie betrachtet alles ästhetische Leben nur in Beziehung auf die künstlerische Tätigkeit. Der Genuß eines Naturschönen gilt hier nur als abgeleitet und analogisch,

IdeuiifdiBiystcm. 2H7

und die Äsilioiik entwickelt »ich demnach in eine Deduktion de« Systeuia der Künste. Nach dem diah^ktiHchen Schema werden diese aus dem alli^^cmeincn Wesen der Kunst abgeleitet, und es wird schließlich «;ezeit^t, daß jehes all^jcmeine Wesen der Kunst am reinsten und vollkommensten in der Poesie zur Darstellun«^ kommt. Mit icicher Sachkenntnis und feinstem Geschmack ent- ledigt sich Schclling dieser Auf{j;abc, und diese seine Vorlesungen über die Philosophie der Kunst sind, obwohl erst nach seinem Tode gedruckt, doch durch ihren persönliclicn Einfluß das Fundament geworden, auf dem jahrzehntelang der Ausbau der ästhetischen Theorien in Deutschland erfolgt ist.

§ 66. Der absolute Idealismus.

Schellings Identitätssystem.

Der Einfluß des ästhetischen Moments auf die Entwicklung der deutschen Philosophie zeigt sich nicht nur materiell in der Bedeutung, welche die Kunst für die Weltanschauung gewann, sondern mit gleicher Bedeutsamkeit auch formell. Es ist wesentlich das ästhetische Bedürfnis, vermöge dessen in jener Zeit von den verschiedensten Seiten her verlangt wurde, daß die Philosophie ein in sich geschlossenes System absoluter Totalität sein sollte, das aus seinem inneren Wesen heraus den Gegensatz aller seiner besonderen Aufgaben erzeuge und sich in ihrer Lösung schließlich zu einer harmonischen Versöhnung zusammenfasse. Diesen Gedanken, den schon Hamann in seiner mystischen Un- klarheit hingeworfen hatte, vertritt auf dem Fichteschen Stand- punkte die interessante Abhandlung, mit der Hülsen die Preis- frage der BerHner Akademie über die Fortschritte der Metaphysik seit Leibniz und Wolff beantwortet hatte (gedruckt 1796). Derselbe Gedanke bewegte und beseelte die poetischen, aber nicht zur Klarheit vordringenden Spekulationen, mit denen sich Hölderlin, Schellings und Hegels Freund, abmühte und später auf Hegel bedeutungsvoll einwirkte. Das gleiche Ziel betont sowohl in seiner Korrespondenz als auch in den Fragmenten Friedrich Schlegel. Aber die wichtigsten Folgen, welche dies Prinzip gehabt hat, zeigen die großen Systeme Schellings und Hegels. Von ihm aus erhielt Ficht es dialektische Methode eine neue Bedeutung.

288 Schelling.

Ihre ^riplizität mit dem Schema von Thesis, Antithesis und Synthesis brauchte nur vollständig auf alle Teile der Philosophie angewendet zu werden, um diese im ganzen wie im einzelnen dem ästhetischen Bedürfnis entsprechend zu gestalten. So haben sich die Lehren der deutschen Philosophie zu dialektischen Be- griffsdichtungen entwickelt, Weltgedichten, die mit künstlerischer Komposition auf die Entfaltung der Gegensätze und ihre schUeß- lich harmonisch austönende Ausgleichung gerichtet sind.

Dies ästhetisch - philosophische Bedürfnis wendet sich bei Schelling zunächst dem Gegensatze der Naturphilosophie und der Transzendentalphilosophie zu. Er hatte das Verhältnis dieser Wissenschaften zueinander zwar aus den Prinzipien der Wissen- schaftslehre abgeleitet, aber beide Teile hatten sich ihm unter den Händen derartig umgebildet, daß er sie nicht mehr darauf zurückführen konnte. Die Natur war ihm durch die philosophische Behandlung selbständig geworden und stand ebenbürtig dem Ich gegenüber, dessen Funktionen die Transzendentalphilosophie deduzierte. Aber beide Teile wiesen stetig aufeinander hin. Der Prozeß der Natur hat zu seinem Ziele die Genesis des Ich, und dieses wieder entfaltet den Gegensatz seiner theoretischen, prak- tischen und ästhetischen Funktionen nur durch die Verschieden- heit der Beziehungen, worin es sich zur Natur befindet. Darin zeigt sich, daß die Natur und das Ich beide auf demselben Grunde beruhen, und daß jene beiden Teile der Philosophie einer höchsten Begründung bedürfen, vermöge deren ihre Gegenstände aus dem gerr einsamen Grunde abgeleitet werden. Diesen aber konnte Schelling nicht mehr wie Fichte als das reine oder ab- solute Ich bezeichnen, zumal da er sich mehr und mehr daran gewöhnt hatte, das Wort Ich in dem gewöhnlichen Sinne des individuellen Selbstbewußtseins zu gebrauchen; sondern er nannte ihn jetzt schlechthin das Absolute oder die absolute Vernunft. Das hatte zugleich seinen Grund darin, daß diese Tendenz den romantischen Denker immer energischer von Kant und Fichte zu Spinoza zurückzog, dessen Einfluß, wenn auch in jener von Herder und Gv-ethe vermittelten Form, bereits in den noch un- entwickelten Darlegungen seiner Jugendschriften und besonders in dem pantheistischen Zuge der Naturphilosophie sich fühlbar gemacht hatte. Jetzt war Schelling durch die eigene Entwicklung

Nü08|)MH>/iHIUUH. 2H'J

in (Ion briiloii ToIUmi seiner Lehre auf einen («cpensatz von Natur und deist gestoßen, welcher dem Spinozistischcn der göttlichen Attribute Ausdohnunj' und Denken nahe verwandt schien, urul die Absicht, für die NaturphiIos()i)hie und die Transzendentiil- philosophie eine geiueinaanie Begründung zu finden, führte von selbst zu einer Lehre, welche in Natur und Geist die beiden Er- scheinungsweisen des Absoluten" sah; bald hat denn auch Schelling wie Spinoza und mit gleich viel und gleich wenig Kecht wie dieser, das Absolute Gott genannt. Mit dieser Wendung Schellings beginnt daher dasjenige, was man als Neospinozismus der tieutschen Philosophie bezeichnet hat. Wenn man diese Eichtung mit Recht als eine Verschmelzung der Kantischen und der Spino- zistischcn Prinzipien ansieht, so darf man doch eben nicht ver- gessen, daß die Auffassung Spinozas dabei wesentlich immer durch das vitalistische Prinzip alteriert war, das schon bei Herder aus der Einwirkung von Leibniz herstammte. Die Stärke des Ein- flusses Spinozas zeigt sich aber auch äußerlich darin, daß Schelling sogar die geometrische Methode der Ethik mit ihren Axiomen, Lehrsätzen, Beweisen und KoroUarien in der »Darstellung meines Systems der Philosophie« (1801) nachahmte, einer Schrift, die freilich schon bei der Naturphilosophie abbrach und auch wesent- lich nur nach dieser Seite in anderen gleichzeitigen Abhandlungen ergänzt wurde. Sa veröffentlichte er den Aufsatz »Über den wahren Begriff der Naturphilosophie« in der »Zeitschrift für spekulative Physik« (1801) und die »Ferneren Darstellungen aus dem Systeme der Philosophie« in der »Neuen Zeitschrift für spekulative Physik« (1802), so das Gespräch »Über das ab- solute Identitätssystem« und den Aufsatz »Über das Verhältnis der Naturphilosophie zur Philosophie überhaupt« in dem »Kri- tischen Journal der Philosophie«, so trug er endlich das »System der gesamten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere« in den AVürzburger Vorlesungen vor, die erst aus dem hand- schriftlichen Nachlaß herausgegeben worden sind.

Die^ intellektuelle Anschauung, von welcher der metaphysische Idealismus nach Kant ausgehen mußte, ist bei Schelling nicht mehr die Fichtesche Selbstanschauung des Ich, sondern mit einer gewissen Zurückbiegung zu dem Kantischen Begriffe, aber mit einer metaphysischen Umbiegung seines erkenntnistheoretischen

Windelband, Gesch. d. n. Philos. U. 19

290 Schelling.

Sinnes, die ^^ Anschauung des Absoluten. Diese kann nicht auf irgend einem Wege des Denkens erworben und demonstriert werden; sie ist vielmehr eine geniale Intuition, ohne welche für diesen Standpunkt keine Philosophie möglich ist. Da aber auch der anschauende endliche Geist eine Funktion und Erscheinung des einen Absoluten ist, so enthält die Anschauung, welche der Philosoph von Gott hat, doch zugleich eine Selbstanschauimg des Absoluten selber, und es ergibt sich daraus der Begriff des "absoluten ^ als Jdentität von Subjekt und Objekt. Indem aber diese Identität, wie es der Begriff des Wissens verlangt, vollständig sein soll, ist das Absolute die vollkommene, unge- schiedene Einheit von Subjekt und Objekt, es ist keines von beiden, sondern die völlige Indifferenz beider. Der Gegensatz von Subjekt und Objekt setzt sich aber bei Schelling sogleich in denjenigen von Ideahtät und Realität oder in denjenigen von Geist und Natur um. Das Absolute ist weder ideal noch real, es ist weder Geist noch Natur, sondern die absolute Identität oder die Indifferenz beider Bestimmungen. Der Magnet ist nicht nur der naturphilosophische, sondern der allgemeine metaphysische Typus. Wie der ganze Magnet weder Nordmagnetismus noch Südmagnetismus, sondern die Identität beider ist und in seinem Mittelpunkte ihre Indifferenz enthält, so ist das Absolute die ungeschiedene Vereinigung aller Gegensätze. Deshalb ist in ge- wissem Sinne das Seh elHngsche "Absolute ebenso wie die Gottheit der Mystiker und wie die Substanz Spinozas das Nichts, und es erklärt sich daraus, weshalb einer seiner naturphilosophischen Schüler, Oken, zum Ausgangspunkte der dialektischen Konstruktion das Zero (dz 0) nehmen konnte. Dagegen enthält das Absolute bei Schelling als Indifferenz die Möglichkeit seiner Differenzierung, vermöge deren es sich als Universum zu dem System der ver- schiedenen Erscheinungen entwickeln kann. Wenn im Absoluten die Gegensätze mit völliger Gleichheit sich gegenseitig aufheben, so befinden sie sich an den einzelnen Erscheinungen in einer Differenz, vermöge deren der eine oder der andere Teil über- wiegt. Auch hier liegt das Schema des Magneten vor; wie bei diesem an jrdcm Punkte sowohl der Süd- als auch der Nord- magnetisiiuis tätig sind, wie die Lage des Punktes zwischen dem Indifferenzpunkt und einem der Pole das größere oder geringere

ItlciititHtfifiyHleni. 291

t^borwio«»«»!! (In- vhwn üIxt die andoro Knift bestimmt, .so JHt aiK'h in jodor der bcsondorcn ErHcheinuii^^cn Subjcktivitilt und Objektivität, Oeist und Natur ho enthalten, daß in dem (juan- iitativen Verhältnis beider das spezifische Wesen dicHer Krsehei- nuni^ be«j:riindet ist. Der i^Toße Weltnui«^Miet, der die Indifferenz von Geist und Natur enthält, würde, wenn man ihn zerteilte, auch in seinem i^erin^sten Teile dieselbe Polarität zei^^'en. Da er aber ein einheitliches Leben darstellt, so besitzt jeder Punkt in ihm ein besonderes Verhältnis der beiden Grundbestimmungen, deren Indifferenz das Wesen des Ganzen ausmacht.

Die Verschiedenheit der endlichen Dinge besteht also in der quantitativen Differenz des natürlichen und des gei- stigen Moments, die in allen enthalten sind. Darin besteht der Unterschied dieses Neospinozismus von dem Spinozismus selbst; für diesen teilten sich die endlichen Dinge in zwei große, vollkommen geschiedene Reiche, von denen das eine nur die Natur und das andere nur der Geist war. Für Schelling ent- wickelt sich die absolute Vernunft in zwei Reihen, welche sich aus der Abstufung in dem quantitativen Verhältnis des natür- lichen und des geistigen Elements derartig konstituieren, daß in der einen die Natur oder das »reelle Moment«, in der andern der Geist oder das »ideelle Moment« überwiegt. Jede dieser Reihen stellt deshalb eine Entwicklung dar, die von dem äußersten Pole her, bei welchem das in ihr überwiegende Mo- ment am selbständigsten und von dem entgegengesetzten am meisten frei ist, bis in die Nähe des Indifferenzpunktes zu einer Erscheinung führt, worin es sich mit dem entgegengesetzten Moment am vollkommensten identifiziert. Die einzelnen Stufen dieser Entwicklung bezeichnet ScheUing als die Potenzen, und deshalb ist diese seine Lehre auch als Potenzenlehre charak- terisiert worden.

Das ganze System sollte also eine doppelte Entwicklung ent- halten, innerhalb deren jede besondere Erscheinung ihren Platz durch das Verhältnis angewiesen erhielte, welches in ihr zwischen dem geistigen und dem natürlichen Element obwaltet. Ausge- führt hat ScheUing nur die reale Reihe, diejenige der Natur. Die ideale Reihe, diejenige des Geistes oder der Geschichte, hat er nur angedeutet. Den äußersten Pol der realen Reihe bildet

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292 Schelling.

die Materie (oder in den späteren Darstellungen der Raum), worin das objektive Element über das subjektive vollständig überwiegt. Als zweite Potenz folgt das Licht, als dritte und abschließende der Organismus, in dessen höchsten Formen und Lebensbewegungen zwar immer noch das physische Element über- wiegt, aber doch anderseits das ideelle die größte Bedeutung erreicht hat, die es innerhalb der natürlichen Reihe gewinnen kann. Zwischen diesen drei Stufen sollte in einer Weise, die sich in Schellings Auffassung mehrfach variiert hat, die gesamte Konstruktion der Naturphilosophie Platz finden. /Darf man an- derseits nach Andeutungen und nach den Prämissen des Schel- lingschen Denkens die Gestalt vermuten, welche die ideelle Reihe gefunden hätte, so würde hier der geistige Pol in dem sittlichen Selbstbewußtsein geruht haben, das sich zur Natur im Gegensatz weiß, es würde als zweite Potenz die gesamte theoretische Reihe mit ihrer Unterordnung unter das Bewußtlose gefolgt sein, und endHch würde sich diese Konstruktion mit der ästhetischen Tätig- keit abgeschlossen haben, deren Produkt, wenn auch überwiegend ideellen Charakters, doch das Sinnlichste und Natürlichste ist, was die Intelligenz erzeugt.

Wenn sich so aus der Indifferenz des Absoluten die beiden Reihen der differenzierten Erscheinungen entwickeln, so erreicht doch in keiner darunter das Absolute selbst seine volle Dar- stellung; auch im menschlichen Organismus überwiegt das phy- sische, auch im besten Werke des Künstlers überwiegt das ideelle Moment. Die letzte Synthese, die vollkommenste Entfaltung der absoluten Vernunft, ist in einer besonderen Erscheinung nicht möglich. Aber sie muß vollzogen werden, damit das System sich abschließe, und sie kann deshalb nur in der Totalität aller Erscheinungen, d. h. im Universum gesucht werden. Das Uni- versum ist die vollendete Selbst ersch einung des Absoluten, die totale Entwicklung der Vernunft, es ist die Potenz, worin das Absolute aus dem Indifferenzpunkte' durch die ganze Fülle der Differenzierungen hindurch seine Identität wiederherstellt. Es ist deshalb der Punkt, an welchem die reale und die ideale Reihe sich treffen und zur absoluten Einheit gelangen; es ist der vollkommenste aller Organismen und zugleich das vollkom- menste Kunstwerk; es ist die Identität des absoluten Or-

Pütouzen und Ideen. 293

ganisiniis und des absoluten Kunstwerkes. Von hier aus fiililte sich Schclliu;^ zu der [^roßartii^^en Weltdichtuu^ hin<^czogen, womit die Naturpliilosophie der Keiiaissance das Universum als einen Organismus und als ein iCunstwerk betrachtet hatte, und er legte diese Lehren, in denen Wahrheit und Schönheit eins geworden sein sollen, dem größten der italienischen Naturphilo- sophen in den Mund. Sein Dialog »Bruno oder über das gött- liche und natürhche Prinzip der Dinge« (1802) bringt diese Phase seiner Entwicklung zur vollständigsten Darstellung. Das Identitäts- system oder der absolute Idealismus ist ein ästhetischer Pan- theismus, der die Einheit des sinnlichen und des geistigen Ele- ments, welche die Ästhetik bei Schiller als maßgebendes Prinzip gewonnen hatte, durch alle Erscheinimgen der wirklichen Welt hindurch verfolgt und dadurch die starren Linien des Spinozi- stischen Naturalismus in die schöne Wellenbewegung eines leben- digen Zusammenhanges verwandelt.

Aber bereits in die Darstellung des »Bruno« drängt sich ein anderer Einfluß und mit ihm eine Veränderung der Auffassung ein, wodurch schon leise die Motive einer späteren, vom Identitäts- system wieder abführenden Entwicklung Schellings anklingen. Die dialogische Form ist sichtlich Piaton nachgebildet und von allen modernen Nachahmungen des großen hellenischen Vorbildes sicher die vollkommenste. Allein der Einfluß Piatons auf Schelling w^ar nicht nur formell, sondern er wurde in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts auch sachlich sehr bedeutsam. Das System der absoluten Vernunft kam aus eigenem Bedürfnis der Ideenlehre entgegen. Es ergriff sie, zog sie in sich hinein und begann sich dadurch innerlich umzubilden. Der große Assimilationsprozeß, in welchem der deutsche Geist die Kesultate aller früheren Kultur verarbeitete, warf sich nun auch auf die reifsten Produkte der griechischen Philosophie. Es ist höchst wahrscheinlich, daß für Schelling die Hauptanregung dazu von der neuen persönlichen Berührung mit Hegel ausging, welcher nicht so wie jener durch seine Entwicklung auf das naturwissenschaftliche Interesse ab- gelenkt worden war, sondern in der Stille das antike Moment ihrer Jugendbildung zm* vollen Kraft in sich hatte ausreifen lassen. Er sollte später die Verschmelzung der deutschen und der antiken Philosophie auf den vollkommensten Ausdruck bringen, und er

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294 Schellin^.

war es schon jetzt, der in Schellings Denken das bereits vor- handene Platonische Element derartig verstärkte, daß es in der Darstellung des Identitätssystems immer mehr überwog. Freilich wurde die Lehre Piatons dabei nicht in ihrem reinen und ur- sprünglichen Sinne aufgefaßt, und es ist erst ein Verdienst von Herbart gewesen, das historische Verständnis des großen attischen Philosophen im Gegensatz gegen die Identitätsphilosophen wieder- herzustellen. Schelling und Hegel folgten der Deutung des Pla- tonischen Systems, die von den Neupythagoreern und den Neu- platonikern an das ganze Mittelalter und die neuere Zeit hindurch geherrscht hatte: sie sahen in Piatons Ideen nicht übersinnliche Wesenheiten, sondern^ Gedanken Gottes^

Diese Auffassung verband sich bei Schelling mit dem Begriffe der intellektuellen Anschauung als einer Selbstanschauung des Absoluten. Soll sich nämlich die letztere auch auf das voll ent- wickelte und durch die Differenzierungen zur TotaUtät des Uni- versums hindurchgegangene Absolute erstrecken, so muß dieses auch alle seine Differenzierungen in sich anschauen. Jene Differen- zierungen oder » Potenzen « sind danach doppelt vorhanden, einmal als objektive Erscheinungen, d. h. als reale Entwicklungsformen des Absoluten und zweitens als die Formen der Selbstanschauung des Absoluten. In diesem zweiten Sinne nun nennt sie Schelling Ideen, und je mehr er diesen Gedanken verfolgt, um so mehr gewöhnt er sich, das in ihnen sich selbst anschauende Absolute Gott zu nennen. Die Gottheit schaut sich selbst in jenen Ideen an und realisiert sie in den objektiven Erscheinungen der Natur und der Geschichte. So ist aus der Potenzenlehre eine Ideen- lehre geworden; die Potenzen der empirischen Wirklichkeit sind nicht die unmittelbaren Differenzierungen des Absoluten, sondern die Veiwirklichungen und Verselbständigungen der Ideen, in welche die Gottheit sich bei ihrer Selbstanschauuug differenziert. Eine gewisse Zweideutigkeit entstand dabei in der Anwendung des Terminus ideal oder ideell. In den Potenzen der empirischen Wirklichkeit wurden die reale und die ideale Reihe als ebenbürtig behandelt. Aber indem nun ihnen beiden eine Ideenwelt als Ur- bild im Platonischen oder neuplatonischen Sinne vorhergehen sollte, erschien das ideelle Moment als das ursprüngliche und das natür- liche oder reelle als das abgeleitete. Andere Begriffe kamen hinzu,

SyBtom dftr WiBSüiiHnhafton. 295

um die Darstellung dieser Phase der Schcllin/^scheu Lehre eher zu verwiekeln als zu verdeutliehen. War nÜFiilieli das Absolute selbst als das Unendliche den endlichen Erscheinungen gegenübergestellt worden, so offenbarte sich nun «das unendliche Wesen der Gott- iieit in ihren Ideen. Der Gegensatz der* Ideen und der Er- scheinungen fällt mit demjenigen des Unendlichen und des End- lichen zusammen, und die (;}ottheit wird nun gerade in dem Sinne die absolute Identität genannt, daß sie zugleich unendlich in der Idee mid endlich in der Erscheinung und dabei in beiden Formen dasselbe ist.

Von diesem Standpunkt aus entwarf nun Schclling das System der Wissenschaften in seinen »Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums«. Ihre Niederschrift (1803) gehört zu dem Formvollendetsten, was in der deutschen Philosophie je geschaffen worden ist; sie ist auch äußerKch ein leuchtendes Denkmal jener Zeit, welcher Schönheit und Wahrheit wie den Griechen als iden- tisch galten. Sie enthält \vieder den ersten Versuch, aus dem philosophischen Gedanken heraus den gesamten vielgliedrigen Or- ganismus der Wissenschaften zu entwickeln imd damit jeder ihre Aufgabe und ihre Methode anzuweisen. Wenn dabei auch die universalistische Tendenz verfehlt sein mag, wonach die besonderen Wissenschaften bis in ihre einzelne Arbeit hinein von der Philo- sophie aus durch deren dialektische Methode geregelt erscheinen sollen, so ist doch anderseits die gemeinschaftliche Aufgabe und der ideelle Zusammenhang aller wissenschaftlichen Tätigkeiten nie so glänzend dargestellt und so tief begründet worden wie in diesen Vorlesimgen. Sie verbinden damit den anderen Zweck, ein ideales Bild von dem Wiesen und der Aufgabe der deutschen Universi- täten zu entrollen. Sie sehen darin diejenige Institution, durch welche jener in sich zusammenhängende Organismus der Wissen- schaften zum lebendigen Ausdruck kommen soll. Die Universität ist kein A^orregat von Schulen des Brotstudiums, in denen man lediglich sich für bestimmte technische Fertigkeiten vorbereiten soll; sie ist noch weniger ein Sammelplatz für Jünglinge, die einige Jahre ohne praktische Tätigkeit ihre Freiheit genießen wollen; sondern sie ist eine Schule der wissenschaftlichen Arbeit, an der alle Aufgaben der menschlichen Erkenntnis durch ihr stetiges Ineinandergreifen und durch die Gegenseitigkeit der persönlichen

296 Anhänger des Identitätssystems.

und sachlichen Unterstützung zu immer höherer Lösung gedeihen sollen, und an welcher jeder einzelne lernen muß, den Inhalt seines einstigen praktischen Berufs unter dem wissenschaftlichen Gesichtspunkt und in seinem innigen Zusammenhange mit dem ganzen übrigen Kulturleben zu verstehen. Wer den vollen und reinen Idealismus kennen lernen will, der den innersten Lebens- trieb der deutschen Universitäten in dieser ihrer großen Ver- gangenheit gebüdet hat, soll diese Schrift lesen; sie ist zugleich das edelste Zeugnis von der Auffassung, die Schelüng selbst von seinem akademischen Berufe hatte.

Das Identitätssystem war in der Gesamtentwicklung der deut- schen Philosophie ein verhältnismäßig nur kurzer Moment. Schelling selbst verließ es bald und geriet auf theosophische Wege (vgl. § 69), und die Aufgabe, die er sich darin gestellt hatte, wurde nachher in viel durchgreifenderer Weise von Hegel gelöst. Gleichwohl ist eine Keihe von Abzweigungen aus dem Hauptstamme der Ent- wicklung von diesem Punkte ausgegangen. Als Anhänger Schellings in dieser Phase seines Philosophierens köimen Klein (»Beiträge zum Studium der Philosophie« 1805) und Stutzmann (»Philo- sophie des Universums« 1806) gelten. Die Geschichte der Philo- sophie behandelte von diesem Standpunkt aus Friedrich Ast (»Grundriß einer Geschichte der Philosophie« 1807); derselbe gab auch ein Handbuch der Ästhetik (1805) heraus, und überhaupt wurde das Identitätssystem namentlich in seiner platonisierenden Form für die Behandlung der Ästhetik ganz außerordentlich fruchtbar. Schon Schiller konnte in der Lehre von dem "Abso- luten als der Indifferenz des Geistigen und des Natürlichen seinen eigenen Grundgedanken wiedererkennen und diesen deshalb in dem Vorworte zu der »Braut von Messina« auf Formen bringen, die sich durchaus an die Schellingsche Sprache anschließen. In der Folge aber wurde für die Ästhetik namentlich das Verhältnis der unendlichen Idee zu der endlichen Erscheinung bestimmend. Während das ideelle Wesen der Gottheit in keiner wirklichen Erscheinung voll zur Entfaltung kommt, ist es die Aufgabe der Kunst, die Identität des UnendHchen und des Endlichen, welche von der wissenschaftlichen Erkenntnis niemals vollständig erreicht werden kann, in jedem Kunstwerke derartig darzustellen, daß die Idee vollständig in die Erscheinung, die Erscheinung vollständig

Solger. 297

in die Idee aufgeht. Wahrheit und Schönheit «ind eins, sie ent- halten beide nichts anderes als die Idee in der Erscheinung und sind in diesem Sinne die Synthesis des Sinnlichen und des Über- sinnlichen, des Natürlichen und des Geistigen. Mit diesem Begriffe wird in die Ästhetik das Moment des i> Bedeutsamen« aufgenommen, das Herder in seiner Kalligone (1800) im Gegensatz zu dem For- malisnms der Kantischen Ästhetik geltend machte, auch hier wie in der Geschichtsphilosophie mit Recht, sofern es sich um die Ergänzung, mit Unrecht, sofern es sich um die gereizte Be- streitung des gegnerischen Standpunktes handelte. Indem nun so der Grundsatz sich befestigte, daß das Schöne das sinnliche Erscheinen der "Idee"^ sei , gestaltete sich die deutsche Ästhetik immer ausgesprochener zu einer Theorie der Kunst und wurde darin durch den Umstand bekräftigt, daß ihre Ausbildung haupt- sächlich in den Händen von Männern der literarischen Kritik lag, welche in der Dichtung mit Recht nach der Darstellung von Ideen zu fragen hatten. Auch die geschichtsphilosophisc^he Tendenz in der Konstruktion der ästhetischen Grundbegriffe konnte dieser Wendung gut folgen; bei der antiken oder klassischen Kunst fand man ein unbefangenes und naives Walten der Idee in der sinn- lichen Gestaltung; als das Wesen der modernen oder romantischen Kunst dagegen begriff man ein Streben des Künstlers, den zum Bewußtsein gekommenen Gegensatz von Idee und Wirklichkeit cf ^^ wieder zu überwinden. Mit diesen Begriffen hat später Solger (1780 1819) das romantische Prinzip der Ironie^auf eine neue "^^2i Formel gebracht, die zu ihrer Zeit um so origineller erschien als Schellings eigene Philosophie der Kunst noch nicht veröffentlicht war. Solgers »Erwin« (1815) und seine »Philosophischen Ge- spräche« (1817), deren tiefste Begründung erst durch die posthum (1829) herausgekommenen »Vorlesungen über Ästhetik« zur vollen Klarheit gebracht wiu:de, entwickeln den romantischen Grund- begriff dahin, daß es sich in dem ironischen Verfahren des mo- dernen Künstlers, bei welchem Idee und sinnliche Darstellung nie mehr zur vollen Deckung gelangen, sondern stets die erstere über die letztere überwiegt, wesentHch darum handelt, das EndHche dem Unendlichen, die Erscheinung der Idee, das Individuum dem Absoluten aufzuopfern, und daß in dieser Aufopferung das tra- gische Schicksal des Schönen bestehe, eine Auffassung, die

298 Wagner, Krause.

ganz von selbst duicli das Aufgehen alles Besonderen in die Gott- heit eine religiöse Färbung der Ästhetik mit sich brachte.

Unter den Männern, die vom Identitätssystem aus eine verhältnismäßig selbständige Laufbahn beschrieben, ist zuerst J. J. Wagner (1775 1841) zu nennen. Dieser war schon in

^'' der naturphilosophischen Periode als Anhänger Schellings mit mehreren Schriften hervorgetreten und machte auch die Phase des absoluten Idealismus mit, trennte sich jedoch, auf dem letz- teren Standpunkte prinzipiell beharrend, in seinem »System der Idealphilosophie« (1804) von der theosophischen Richtung, die der Meister einzuschlagen begann. Später versuchte er das tri- adische Schema des Identitätssystems durch ein tetradisches der Kreuzung von Gegensätzen zu ersetzen und verrannte sich mit seiner »Mathematischen Philosophie« (1811) und seinem »Organon der menschlichen Erkenntnis« (1830) derartig in einen trockenen Schematismus des Methodisierens, daß er alle menschlichen Tätig- keiten nach dieser vierteiligen Methode geregelt wissen wollte. Die Überzeugung der Identitätsphilosophie, daß die Denkgesetze Weltgesetze seien, dehnte er hauptsächUch auf die mathematische Berechnung aus und behauptete, daß sich nach seiner tetra- dischen Methode alles müsse rechnungsmäßig konstruieren lassen. Seine »Dichterschule« wendete diesen Gedanken schließlich sogar auf die poetische Produktion an, wobei nur anzuerkennen ist, daß er dafür keine Proben der Ausführung veröffentlicht hat. Weit erhaben über diese Pedanterie, die von dem tiefen, sachlichen Denken Schellings so weit abführt, ist ein anderer

^^^^Fortbildner des Identitätssystems: Friedrich grause. 1781 geboren, 1802 als Privatdozent in Jena habilitiert, ist er nach stetigen Mißerfolgen in der akademischen Lehrtätigkeit, die ihn auch in Berlin und Göttingen verfolgten, und nach einem mit Not und Sorge durchrungenen Leben 1832 in München gestorben. Eine edle Natur, von reinstem Eifer erfüllt, ist er an dem un- praktischen Idealismus seines Wesens und an der Wunderlichkeit seiner philosophischen Darstellung zugrunde gegangen. In der an sich berechtigten Absicht, die zufällig zusammengesetzte Ter- minologie der Philosophie durch eine rein deutsche Darstellung zu verdrängen, hat er sich in eine neue, völlig willkürhche und individuelle Terminologie verirrt, welche er die Marotte hatte

Panentlioismus. 299

für echt deutsch zu halten, und welche seine Schriften für den uneinjjjeweihten Deutschen unlesbar macht. Er hat damit zu- gleich seine liistoiische Stellung verhüllt, indem er die Grund- gedanken der deutschen PhilüSü\)hie, die er Kant, Ficlite und Schelling verdankte, in seine Sünderlingssprache übersetzte und dadurch aucli bei sich selbst den Anschein erregte, als seien es originelle Schöpfungen. Als daher sein Schüler Ahrens die Krausesche Lehre durch Vorträge und Schriften in das Fran- zösische übersetzte (z. B. Cours de philosophie, Paris 183G und 1838), da perlten die allgemeinen Grundgedanken der deutschen Philosophie reih aus der Krauseschen Schale heraus, und so er- klärt sich der große Erfolg, den sie dann im romanischen Aus- lande hatten, wo Krause lange Zeit als der größte deutsche Philosoph gegolten hat. Eine ähnliche Übersetzung ins Deutsche steht noch aus; die wichtigsten und verhältnismäßig lesbarsten seiner Schriften sind der »Entwurf eines Systems der Philosophie« (1804), das »Urbüd der Menschheit« (1811), die »Vorlesungen über das System der Philosophie« (1828) und diejenigen »Über die Grundwahrheiten der Wissenschaft« (1829)*). Was Krause dem Identitätssystem hinzugefügt hat, besteht einerseits in einer größeren Verselbständigung des x4bsoluten den Erscheinimgen gegenüber, anderseits in einer neuen methodischen Behandlung des Ganzen. Er betont vor allem, daß die Gottheit (oder »Wesen«, wie er sie nennt) in ihrer ideellen Selbstanschauimg ajs Selbstbewußtsein oder Persönlichkeit gedacht werden muß, und da gleichwohl alle endhchen Dinge nur den Prozeß dar- stellen, worin diese absolute Persönlichkeit sich selbst entwickelt, mid so nur m ihr und durch sie leben und subsistieren, so be- zeichnet Krause seine Lehre nicht mehr als Pantheismus, sondern als Panentheismus. Es ist der Versuch, durch das System der Entwicklung Pantheismus und Theismus zu verschmelzen. Aber die intellektuelle Anschauung, vermöge deren wir uns so als Teile des göttlichen Selbstbewußtseins wissen, soll nach Krause nicht als ein Vorzug begabter Naturen, wie bei Schelling, oder

*) Auch die massenhaften Veröffentlichungen aus Krauses Nachlaß , die später von unermüdlichen Schülern herausgegeben worden sindj^.^i^b'yi ß^ dem Gesamtbilde seiner Lehre nichts lindern können. ^x'"""^' •^' ~'^^

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300 a-' 1^ Krause

als ein bloßes Postulat der Philosophie gelten, sondern wissen- schaftHch gefunden, erworben und einleuchtend gemacht werden; in diesem Verlangen besteht die Verwandtschaft Krauses mit Hegel. Wenn daher auch seine Philosophie in ihrem konstruk- tiven Teile von der Gottesanschauung wie das Identitätssystem ausgeht, so bedarf sie doch eines vorbereitenden Teils, worin jene Anschauung erst gefunden werden soll. Infolgedessen nimmt Krauses Lehre, wie es besonders in der ersten Abteilung von seinem »Abriß des Systems der Philosophie« (1825) hervortritt, methodisch eine Gestalt an, die als Kopie des Cartesianismus erscheint. Sie bildet wie dieser eine Parabel, deren aufsteigender Ast, der subjektiv-analytische Lehrgang, durch die ganze Keihen- folge der endlichen Dinge und ihre sich immer höher poten- zierenden Lebensformen bis zu dem höchsten Punkte führt, von dem aus der absteigende Ast, der objektiv-synthetische Lehr- gang, die Konstruktion des Universums aus dem Grundprinzip entwickeln soll; und den Kulminationspunkt dieser Parabel bildet nicht wie bei Descartes das" Selbstbewußtsein, sondern etwa wie bei Malebranche die intellektuelle Anschauung, vermöge deren wir nicht nur uns selbst, sondern auch alle Dinge in Gott schauen. In diesem Schema fanden dann, stets in Krauses eigentümliche Terminologie gepreßt, nicht nur alle die Grund- lehren der deutschen Philosophie ihre entsprechende Stelle, son- dern es ergab sich auch eine universalistische Entwicklimg des Systems der Wissenschaften. Von besonderem Wert ist dabei die Betonung, welche Krause auf die Geschichtsphilosophie legt. Von rechtlichem, sittlichem und religiösem Idealismus getragen, sucht er die notwendigen Entwicklungsformen zu begreifen, die alles menschliche wie das organische Leben im Individuum und in der Gattung als parallele Prozesse durchzumachen hat, und sieht die Aufgabe des Menschengeschlechts in der durch äußere Zusammengehörigkeit ebenso wie durch innere Gemeinschaft sich ausprägenden Vereinigung der Geister. Jede derartige Institution schildert er nicht ohne der Analogie des Freimaurerbundes zu folgen als einen »Bund«^ der schließlich in den allgemeinen Menschheitsbund aufzugehen habe. Aber seine Phantasie führt ihn weiter und hofft, daß einmal auch dieser sich als Erden- menschheit dem allgemeinen Bunde der Menschen des Sonnen-

\)cr rolij^iöfto IdcaÜBinui. HOl

syatiMna oififii«;on \iiul so d'w Tio})ons^'cinoinHcliiift nii( allen ver- nünftigen Cci8tern nnd mit der (Jottheit, zu der wir bentimmt sind, erreichen werde.

§ 07. Der religiöse Idealismus.

Fichte und Schleiermacher.

Mit dem Identitätssystem liat die idealistische Richtung eine Wendung gewonnen, welche sie über den subjektiven Charakter des Kantischen und Ficliteschen Denkens weit hinausführt. Der Konstruktionspunkt der dialektischen Methode wird nicht mehr im Ich, sondern im Absoluten genommen, und die Entwicklung_ des Unendlichen in die AVeit der endlichen Dinge wird dadurch zum wesentHchsten Probleme der Philosophie gemaclit. Dies Problem ist aber mit dem religiösen identisch, und so gewann der absolute Idealismus die religiöse Tendenz, welche sich in ScheUings eigenem Denken, bei vielen seiner Schüler, in der Umbildung seiner Lehre durch Krause und besonders bei den Romantikern geltend machte. Hier war es zuerst Schleier- macher, der das bestimmende Wort fand, und sodann wiederum Friedrich Schlegel, der, wie er äußerlich durch seinen Übertritt voranging, so auch in seinen Vorlesungen aus dem Jahre 1807 diese Wandlung theoretisch formulierte und das Verhältnis des Unendlichen zum Endlichen für das Grundproblem der Philo- sophie erklärte.

Eine merkwürdige Rückwirkimg aber hat in dieser Beziehung Fichte von der allgemeinen Bewegung, die er selbst hervor- gerufen hatte, in seiner späteren Zeit erfahren. Auch er wurde von der Tendenz des absoluten Idealismus ergriffen, und dadurch bildete sich ihm, zum Teil im Gegensatz gegen Schelling, die Wissenschaftslehre zu einem neuen System um, in welchem ihre besonderen Lehren sich um einen anderen Gesichtspunkt grup- pieren sollten. Mit den Jahren milderte sich in ihm der sitt- liche Rigorismus und die titanenhafte Unruhe des unendlichen Strebens. Der Einfluß Schillers und teilweise auch der Roman- tiker ist dabei unverkennbar. Immer wertvoller erscheint in der Fichteschen Darstellung die Kunst und das ästhetische Leben, immer mehr vertieft er sich in die Vorstellung, daß auf diesem

302 Fichte.

Wege und im Siime von Kants Kritik der Urteilskraft eine Er- füllung der Aufgaben gewonnen werden könne, welche ihm an- fänglich unmöglich zu sein und dem ethischen Begriffe selbst zu widersprechen schien. Schon in der Abhandlung »über Geist und Buchstab in der Philosophie«, die (1794) seinem Verkehr mit Schiller entstammte und ursprünglich für dessen Hören bestimmt war, klangen diese Gedanken an; dazu trat die immer mehr sich Jacobi und den Romantikern nähernde Überzeugung von der Eigenexistenz und Eigenwertigkeit der Individualität, wie sie namenthch in dem »Sonnenklaren Bericht über das Wesen der Philosophie« (1801) betont wurde. In der Geschichtsphilosophie, die in den »Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters« (1805) vorgetragen wurde, erschien bereits als Ziel der Entwicklung das Zeitalter der »Vernunftkunst«, in welchem der vernünftige Zu- stand des Lebens als ein Produkt der Freiheit, als das sittliche Kunstwerk des individuellen Menschenlebens mit seiner Einstel- lung in den zweckvollen Zusammenhang; des Ganzen erzeugt werden soll. Aber diese Erzeugung setzt dabei ein Urbild der absoluten Vernunft voraus, und dieser Begriff des »Urbildes« ist es, an welchem man die Veränderung der Wissenschaftslehre viel- leicht am einfachsten sich klar machen kann. Das absolute Ich hatte in Fichtes erster Periode als eine Aufgabe gegolten, die erfüllt werden soll, aber niemals vollkommen erfüllt wird, und dieses selbst nie Reale sollte dann als der Grund aller Realität erkannt werden. Aber der Trieb des Ich, absolutes Ich zu werden, blieb doch schließlich unbegreiflich, wenn nicht sein Ziel irgendwie real war. Es ist nicht zu verstehen, wie das Ich sich eine Aufgabe setzen kann, deren Inhalt weder in ihm noch außer ihm wirklich ist. Aller Idealismus des unendlichen Strebens ge- winnt erst dadurch Sinn und Begreiflichkeit, daß das Ziel des Strebens eine höchste Wirklichkeit ist, der es sich annähert. Parallele Überlegungen waren auf dem theoretischen Felde durch die Auffassung des Wissens in der Identitätsphilosophie nahe- gelegt. Das absolute Wissen erschien hier als Identität von Denken und Sein. Aber es mußte deshalb auch unmöglich er- scheinen, solange man wie Fichte leugnete, daß es ein absolutes Sein gebe. Wenn Jacobi bei seiner Bekämpfung des Idealismus sich in seiner [wpulären Sprache so ausdrückte, die Wahrheit

VeräiulertcB Sy»lfm. 'M)'.i

des Wissens setze die »Koalitiit einer absoluten Wahrheit« vor- aus, so folgte Fichte jetzt demselben (ledankenzu^^e und trat damit in eine von beiden Seiten empfundene Verwandtschaft n)it Jacobi. Der Begriff des absoluten Wissens, von dein die Wisscn- schaftslehre ausgeht, wird nun dahin definiert, es sei das abso- lute Bild des absoluten Seins. In diesem Begriffe des absoluten Seins findet Fichte jetzt den höchsten l*unkt seines Philoso- phierens und denjenigen, welcher noch über dem früheren Be- griffe des absoluten Tui)^^ liegt. Das ist die entscheidende Ver- änderung seiner Lehre. Ebenso wie Kant die Auflösung des ganzen Weltinhaltes im Vorstellungsprozesse, die als Tendenz in seiner Erkenntnistheorie angelegt war, nicht durchfijhrte, sondern mit dem Begriffe des"^ Dinges an sich zu der Annahme einer ab- soluten Wirklichkeit und damit zu den Voraussetzungen des naiven Realismus zurückkehrte, ebensowenig blieb Fichte auf der Höhe der ursprünglichen Abstraktion stehen, die alle Realität in Funktionen auflöste, sondern kehrte nun zu der Ansicht des ge- meinen Bewußtseins zurück, welche das Tun an ein ursprüng- liches und absolutes Sein anheftet. Inwieweit dabei die Selbst- kritik mitwirkte, welche ihm durch die schweren Folgen seines Atheismusstreites aufgenötigt war, inwieweit ferner der Einfluß des ästhetischen Bewußtseins dabei maßgebend wurde, wonach das unendliche Werden und Tun der sinnlichen Erscheinung nur das Bild einer bleibenden ideellen Wirklichkeit sein sollte, in- wieweit die parallelen und doch im einzelnen anders gefärbten Gedankenentwicklungen von Schellings Identitätssystem den Wider- spruch Fichtes reizten und gerade dadurch auch positiv be- stimmten, inwieweit endlich die erneute Beschäftigung mit Spinoza die formelle Ausführung dieser Gedanken begünstigte und be- dingte, — das kann hier nicht im besonderen ausgeführt werden. Aber alle diese Momente wirkten zusammen, um aus der »Philosophie des Tuns« wieder eine »Philosophie des Seins« zu machen. Auch Fichte gravitierte von Kant zu Spinoza zurück und trat mit seiner zweiten Lehre in die Bewegung des Neo- spinozismus ein.

Der ewige Trieb des »reinen«, »allgemeinen« Ich, auf dem sich erst das empirische und individuelle Ich aufbaut, muß im Wissen wie im Handeln ein Ziel vor sich haben. Dieses

304 Fichte.

Ziel wurde früher im nie vollendeten Werden als das »abso- lute« Ich gedacht, jetzt ist es für Fichte das absolute Sein oder die Gottheit. Dieses erzeugt in ewiger Ruhe in sich sein Abbild, das absolute Wissen, welches nun die

Stelle des reinen theoretischen Ich einnimmt, und dieses Bild sucht sich ewig zu verwirklichen in einem unendlichen Stre- ben. das mit dem reinen praktischen Ich zusammenfällt. In der Konstruktion dieser Grundbegriffe folgt Fichte unverkennbar der ümdeutung der Trinitätslehre, die Lessing analog den alten Mystikern in der »Erziehung des Menschengeschlechts« aufge- stellt hatte. Eine solche Deutung ist aber bei Fichte haupt- sächlich in der Hinsicht wichtig, daß nun das »Bild« oder das absolute Anschauen und Wissen sowohl der metaphysischen Existenz als auch dem Werte nach als das Primäre dem Han- deln gegenüber erscheint. Der Primat der praktischen Vernunft hat wieder aufgehört. Wie bei Schelling die^Ideen der göttlichen Selbstanschauung^ als die Urbilder für die' Potenzen der empi- rischen Wirklichkeit gelten, so ist es auch bei Fichte das Abbild der Gottheit, welches das Ziel aller Tätigkeit des Ich bilden soll. Nicht mehr das »Tun um des Tuns willen«, sondern die Reali- sierung des göttlichen Urbildes ist der höchste Zweck des Lebens, ist der Inhalt des »Reichs«, dessen Gestaltung die höchste und letzte Aufgabe der menschlichen Geschichte bildet. Das Tun ist kein Selbstzweck mehr, sondern es hat seinen Zweck und sein Maß in einem Ziele, das dadurch erreicht werden soll, und dies besteht darin, daß das Ich sich mit dem absoluten Sein, mit der Gottheit eins weiß und in dieser Anschauung das selige Leben führt. Der Zweck des Tuns also ist jetzt die Ruhe des religiösen Bewußtseins, worin das Ich sich mit dem göttlichen Abbild identifiziert. Darin besteht die Seligkeit des Individuums: das Tun um des Tuns willen führte ssine ewige Unbefriedigtheit mit sich; das Tun um der Gottesanschauung willen kann sein Ziel erreichen, wenn die Gottheit nicht mehr als die ewig werdende sittliche Weltordnung, sondern als das absolute, bleibende und ruhende Sein gedacht wird. So hat in der Kontemplation der weit verbessernde Tatendrang des kategorischen Imperativs sein Ende gefunden. Gott zu schauen und sich als sein Abbild zu wissen, ist der wertvolle Zweck, zu welchem alles sittliche Leben

Sühleionnachor. 305

liiiiführcMi snil. Der yiUlichc Trid) fiiuL't sein Kiido, wenn er das Ziel doH roli^iösen ZuHtandcs circicht hat. D<'r cthiKchn Idea- lismus hat sich in den roliL^iosen verwandelt, und die Wisöcnschaftw- lehrc wird eine »Anweisuni^^ zum "seligen Leben«.

Wenn so das Fichtesche Denken damit ;^eendet hat, daß die ewige Unruhe des sittlichen Triebes in der Selii^keit des religiösen Bewußtseins untergeht, so haben dabei zweifellos auch die Ein- flüsse eines Mannes mitgewirkt, mit dem Fichte durch die Ver- mittlung der Romantiker in Berlin in nahe persönliche Berührung kam, und welcher innerhalb der idealistischen Denkbewegung der vollkommenste Vertreter des religiösen Prinzips ist. Diese nach allen Seiten hoch bedeutsame Persönlichkeit ist Friedrich jc/ilt^LeA Schleier mache r. Er war 1768 als Sohn eines reformierten yy^A^^A^ Predigers in Breslau «geboren und wurde unter dem Einfluß der j^/q.

Überzeugungen der Herrnhuter Gemeinde, von der er sich später trennte, zuerst auf dem Pädagogium zu Niesky und dann auf dem Seminar zu Barby für das theologische Studium vorbereitet, das er 1787 in Halle begann, und nach dessen Vollendung er einige Jahre Hauslehrer wurde. Nachdem er sodann zwei Jahre lang Hilfsprediger in Landsberg an der Warthe gewesen war, ging er 1796 als Prediger an die Charite nach Berlin. Die sechs Jahre, die er in dieser Stellung zubrachte, sind für seine Ent- wicklung die wichtigsten geworden. In der Anknüpfung zahl- reicher, feiner persönlicher Beziehungen entfaltete sich die Reich- haltigkeit seiner mehr imd mehr in sich ausreifenden Persönlich- keit, und von besonderer Wichtigkeit war dabei seine Stellung zu den Romantikern, hauptsächlich seine Freundschaft mit Friedrich Schlegel, der um diese Zeit wie sein Bruder August Wilhelm einige Jahre in Berlin zubrachte.

Nur in sehr bedingter Weise freiHch ist Schleiermacher dem romantischen Kreise beizugesellen; er hatte dazu auch in dieser Zeit eine freiere und selbständigere Stellung, in der er ebensoviel gab wie empfing. Während damals ScheUing auf dem Punkte stand, ganz in den Naturalismus zu verfallen, dem er in dem »Epikurisch Glaubensbekenntnis Heinz Widerporstens« einen so großartig poetischen und teilweise so übermütigen Ausdruck gab, betonte Schleiermacher von der anderen Seite in seinen »Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern«

Windelband, Gesch. d. n. Philos. U. 20

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306 Schlciermacher.

(1799) und in den »Monologen«, der Neujahrsgabe von 1800, daß die allseitige und harmonische »Bildung«, welche die Roman- tiker anstrebten, sich nur im religiösen Leben vollenden könne. Jene innere Einheit aller Lebenstätigkeiten, welche die Romantik anstrebte, war nach Schleiermachers Überzeugung nur in einem religiösen Prinzip zu finden: damit warf er das entscheidende Ferment in die Gärung der romantischen Ideen hinein. Freilich war der Erfolg anders als er gewollt: da die Romantiker die religiöse Einheit alles Kulturlebens nicht neu zu schaffen ver- mochten, so suchten sie, ihrem historischen Wesen getreu, das Ideal in der Vergangenheit und ideahsierten in diesem Sinne das Mittelalter, ähnlich wie es Schiller im ästhetischen Interesse mit dem Griechentum getan hatte. Novalis sprach diese Wendung zuerst in dem damals auf Goethes klugen Rat nicht gedruckten Aufsatz »Europa oder die Christenheit« aus, und Friedrich Schlegel zog mit seinem Übertritt die praktische Folgerung. Auf dieic Weise geriet die deutsche Romantik aus theoretischen Bildungsmotiven auf dieselben rückläufigen Bahnen, welche die französische Romantik von vornherein aus praktisch -pohtischen Gründen eingeschlagen hatte.

Diesen Folgen seiner Mahnung stand niemand ferner als Schleiermacher selbst. Seine eigene religiöse Überzeugung war um diese Zeit durchweg außerkonfessionell, sie war individualistischer und mystischer Art. In ihren theoretischen Formen lehnte sie sich an Spinoza, in ihrem religiösen Gehalte knüpfte sie an das Leben der Brüdergemeine und damit an ältere Traditionen der deutschen Mystik an. Durch das Jahrhundert der Aufklärung hindurch hören wir als feine Obertöne und Untertöne die leisen Nachklänge der Mystik zittern: sie sind überall da vernehmlich, wo die Geister weder durch das konfessionelle Christentum noch durch den Deismus befriedigt sind. So zeigt es sich bei den zahl- reichen Sekten, so anfänglich bei dem Pietismus, der die Einflüsse der praktischen Mystik sehr stark erkennen läßt, so in ver f einer tster Form in der Brüdergemeine, welche die reine Innerlichkeit des christlichen Glaubens um so lebhafter betonte, je mehr der Pietismus wieder ein orthodox konfessionelles Gepräge angenommen hatte. Durch Schleiermacher wurden nun diese bis in die frühesten

Lrl.cu mi-l Wirkrn. HO?

Zeiten dcv (leutschon Spekulation zuriickreichcn-len Fiiden des mystischen Lebens in die Entwicklung der naclikantischcn Philo- sophie hineingesponnen.

Mit diesen Überzeugungen aber befand er sich auch zu der protestantischen Kirche in solchem Gegensatze, daß er von der vorgesetzten Behörde im Jahre 1802 als ITofprediger nach Stolpe gemaßregelt wurde. Aus dieser Verbannung erlöste ihn nach zwei Jahren eine Berufung als außerordentlicher Professor der Philosophie und Theologie nach Halle. Als dann die Universität Halle bei dem Zusammensturz der preußischen Monarchie ge- schlossen wurde, ging er nach Berlin und fand erst 1809 eine Anstellung als Prediger, in der er mit mächtigem Erfolg bis an sein Lebensende wirkte. Schon im folgenden Jahre wurde er zu- gleich als Professor der Philosophie an die z. T. nach seinem Ent- wurf aeu[ründete Universität Berlin berufen und bildete in der akademischen Wirksamkeit bis zu seinem Tode 1834 jene große theologische Schule, die sich nach ihm nennt. Er ist neben Schelling und Hegel der ebenbürtige Vertreter der universalistischen Bildung, die damals der philosophischen Arbeit zugrunde gelegt wurde. Der größte Theologe des Jahrhunderts, der erfolgreiche Förderer der protestantischen Union, war er zugleich ein hervorragender Philologe und hat dies auch hinsichtlich der Philosophie durch zahlreiche Arbeiten über die Geschichte der gTiechischen Philo- sophie und durch seine meisterhafte Übersetzung Piatons betätigt. Er nimmt aber auch in der Entwicklung der Philosophie eine höchst wertvolle und interessante Stelle ein. Von Kant, Fichte imd Schelling gleichmäßig angeregt, hat er die Prinzipien der deutschen Philosophie in eine originelle Verschiebung gebracht, durch welche er von der philosophischen Seite her seine persön- liche Überzeugung als religiösen Idealismus begründete.

Die theoretischen Grundlagen seiner Lehre sind wesentlich in der » Dialektik « niedergelegt , die nach seinen Vorlesungen von Jonas herausgegeben worden ist und sich in der dritten, philo- sophischen Abteilung seiner gesammelten Werke (Berlin 1835 1864) findet. Auch er nimmt darin seinen Ausgangspunkt vom Wissen ; aber nicht wie Kant von der Tatsache, sondern wie Fichte von dem Ideal des Wissens, und er faßt dieses mit Schelling als die

20*

308 Schleierraacher.

absolute Identität von Denken und Sein, welche deshalb formell dem Kantischen Begriff der Apriorität entspricht^ d. h.^ notwendig und allgemein gilt? Aber dies absolute Wissen ist im empirischen Bewußtsein des Menschen nirgends vorhanden; es ist nur die ewige Idee des Wissens, die nach Fichteschem Prinzip in unend- licher, nie sich vollendender Verwirklichung begriffen ist. Deshalb ist die Philosophie nicht Wissenschaft, sondern Wissenschaftslehre; sie ist eine Kunstlehre des Denkens, welche zeigt, wie sich das Denken als Erkennen seinem Ideale annähern soll ; sie ist in die-sem Sinne Dialektik und entsteht nach sokratisch-platonischem Prinzip durch das gemeinsame Untersuchen, worin wir uns der Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit des Denkens bewußt werden. yean aber die Apriorität nach dem Schellingschen Prinzip als Identität von Denken und Sein aufgefaßt wird, so gestaltet sich die Kunstlehre des Denkens, die man sonst, Xogik genannt hat, von selbst auch zu einer Erkenntnis der Realität. Wie Kants transzendentale Logik, so ist Schleiermachers Dialektik zugleich Logik und Metaphysik. Allein der Standpunkt der Identität, den er mit Schelling einnimmt, hebt dabei innerhalb gewisser, sogleich näher zu bestimmender Grenzen die Kantische Restriktion auf, wonach es nur eine Metaphysik der Erscheinungen war, mit der die transzendentale Logik identisch sein sollte.

Alles Wissen setzt also Denken und Sein oder den Gegensatz des Idealen und Realen voraus, wie ihn Schellinj^ definiert hat. Es enthält infolgedessen von beiden etwas, einen idealen und einen realen Faktor. In dem menschlichen Wissen zeigen sich diese beiden Faktoren als die intellektuelle imd die organische Funktion, die stets aufeinander bezogen und nie voneinander ge- trennt sind. Die intellektuelle Funktion, für sich betrachtet, nennen wir Denken, die organische, für sich betrachtet. Wahr- nehmen; aber keine ist ohne die andere, es gibt weder reines Denken noch bloßes Wahrnehmen; das eine würde, mit Kant zu sprechen, leere Begriffe, das andere bhnde Anschauungen geben. Denken und Wahrnehmen verknüpfen sich in der Anschauung, und wenn sie bei dieser Verknüpfung in vollem Gleichgewicht stehen, so ist diese Anschauung die ästhetische. Auch Schleier- machers Ästhetik (von Lommatsch herausgegeben) weist auf Schillers Lehre vom Spieltrieb und die ersten Theorien der Ro-

Dialektik. 30!l

iimntikor zurück, iiulrin das (ik'ichgcwicht der Binnliclien uihI der geiatiijjen Natur dc^ Mcusohcii für hIo den Kiclitbc;^riff bildet. In dem wirklichen Wis.scn aber scheiden sich die beiden Fakton^n so, daß der eine (xler der andere teils im Objekt, teils in der subjektiven I^ehandlung überwiest. Daraus erj^ibt sich eine Vier- teilung der besonderen Wissenschaften. Das Wissen vom realen Faktor ist die Physik, dasjenige vom idealen Faktor die Ethik. Von beiden aber gibt es eine wahrnehmende und eine denkende, eine empirische und eine theoretische Wissenschaft. So teilt sich die Physik in Naturgeschichte und Naturwissenschaft, die Ethik in Geschichte und Ethik in engerem Sinne. Die beiden Haupt- zweige der Wissenschaft aber müssen nach dem Prinzip der Iden- tität zuletzt auf dasselbe hinauslaufen. Die Erkenntnis des Phy- sischen vollendet sich darin, daß, wie die Naturphilosophie gezeigt hat, alles physische Dasein sich fortwährend in Intelligenz um- setzt; die Erkenntnis des Ethischen begreift das Handeln in seiner steten Beziehung auf das Physische und sucht dessen höchste Aufgabe in der vollkommenen Durchdringung und Beherrschung der Natur. Das letzte Ziel aller ethischen und physischen Er- kenntnis liegt in der Ausführung des Spinozistischen Grundsatzes: ordo rerum idem est atque ordo idearum. Aber innerhalb der endlichen Dinge, innerhalb der'iVIodi der unendlichen Substanz,^ wie Spinoza, oder der" Potenzen der göttlichen Offenbarung, wie Schelling gesagt hat, ist diese Erkenntnis nie vollständig; immer überwiegt der eine oder der andere Faktor, und Physik und Ethik befinden sich deshalb nur in stetiger, unendlicher An- näherung aneinander. Das Wissen kommt nie zu Ende; es ist nur als Wissenstrieb , als Denken. Das wirkliche Wissen des Menschen also steht für Schleiermacher imter dem Fichteschen Begriffe des unendlichen Strebens. Aber es ist nur zu verstehen unter der Voraussetzmig , daß es eine absolute Identität von Denken und Sein wirklich gibt, unter der Voraussetzung des Identitätssystems und derjenigen Spinozas. Gott als die Identität des Denkens und des Seins, des Idealen und des Kealen ist das unerreichbare Ziel, auf welches alle wissenschaftliche Erkenntnis hinstrebt; aber dies Streben ist nur zu begreifen, wenn sein Ziel, die absolute Wahrheit, wenn die Identität von Denken und Sein wirklich ist. Der Glaube an Gott ist die Voraussetzung aller Erkenntnis.

310 Scbleiermacher.

Das ist eine viel durchsichtigere Darstellung als die schwer- fcälligen Formeln der AVissenschaf tslehre , in welche der spätere Fichte denselben Grundgedanken preßte: sie trägt zugleich die klaren Züge der Kantischen Erkenntnistheorie und ist die voll- kommenste unter den positiven Synthesen, welche der Kritizismus mit dem Spinozismus gefunden hat. Der Gedanke, der Kants Ideenlehre zugrunde lag, daß der Trieb des Erkennens auf einem durch dieses selbst nie erreichbaren Ideal beruhe, wird von Schleier- macher mit den Besiriffen der Fichteschen und Schellinojschen Lehre durchgeführt. Aber zu dem »Ideal der reinen Vernunft« verhält er sich ganz anders als Kant: er verzichtet zwar wie dieser auf dessen wissenschaftliche Erkenntnis; wenn er jedoch trotzdem eine bestimmte Vorstellung von der Gottheit hat, so gründet er sie nicht wie Kant auf eine moralische Überzeugung, sondern auf ein Gefühl, dessen Vorstellungsinhalt sich mit dem Spinozistischen Gottesbegriffe, wie dieser von den deutschen Denkern aufgefaßt wurde, vollkommen deckt. Darin besteht die eigentümliche und originelle Stellung, die Schleiermacher in der Keligionsphilo Sophie einnimmt. Er ist nicht Offenbarungs- theologe; denn von einer offenbarenden Tätigkeit der Gottheit können wir ebensowenig etwas wissen wie von seinem Wesen. Er ist ein Gegner des Rationalismus; denn die Gottheit ist un- erkennbar. Er bestreitet aber auch die Kantische Moraltheologie, die das religiöse Leben zum Vehikel des moralischen macht. Er will die Religion ebenso sehr von der Moralität wie von der Er- kenntnis frei machen. Seine Religionsphilosophie gründet sich nicht auf die theoretische, nicht auf die praktische, sondern auf die ästhetische Vernunft. Da Gott nicht gewußt werden kann, so ist die ReligionsphilosojDhie nicht eine Lehre von Gott, sondern eine Lehre von dem religiösen Gefühle. Sie ist der Versuch, das- jenige zum klaren Bewußtsein zu bringen, was in dem religiösen Gefühl als Voraussetzung enthalten ist, den Inhalt des sub- jektiven Gefühls sich objektiv zu machen. Das Wesen des reli- giösen Grundgefühls sieht nun Schleiermacher darin, daß wir uns von einem absoluten Weltgrunde, den wir nicht erkennen und mit Rücksicht auf den wir deshalb auch unser Handeln nicht einzurichten vermögen, in unserer gesamten Lebensbetätigung ab- hängig fühlen. Er definiert es deshalb als das »fromme« oder

UolififionHphiloNO]»hio. }]]]

das »schlochthini'^o Ablu'iii^i;^'keits^rofiilil«, und es kann sic^h nur auf jciUMi absoluten Wclti^rund, auf jene absolute Identität von Denken und Sein, von KealeMi und Idealem, die Indifferenz aller Ge«j;ensätze richten. SchleierniTieher bestreitet darum in echt mystischer Weise die Möglichkeit, ir<^'endwelche besonderen Eigen- schaften der Gottheit auch nur im Gefühle zu behaupten, und ist in der Philosophie seiner jungen Jahre vollkommen klar darüber, das Objekt des Abhängigkeitsgefühls nicht als Persön- liclikeit^zu denken. Erscheint so sein religiöses Gefüld durch die gesamte Tradition der Mystik, besonders aber durch den Gottes- begriff des von ihm gefeierten Spinoza bestimmt, so ist doch ander- seits zu bedenken, daß dieser Begriff von ihm wie von dem ganzen deutsclien Neospinozismus nicht sowohl historisch korrekt als die abstrakte Substanz der endlichen Modi, sondern vielmehr als der Urquell des Lebens, als die lebendig schaffende Weltkraft auf- gefaßt wird.

Es ist der Yi^alißtische Pantheismus, in den Herder, Goethe und Schelling die Lehre Spinozas umgedeutet hatten, der auch bei Schleiermacher den Inhalt des religiösen Gefühls bildet. Nach- dem er so den Versuch durchgeführt hat, das fromme Gefühl ob- jektiv zu fassen, kann er von diesem Standpunkt aus eine kritische Behandlung der positiven Religionen geben, bei welcher das Christen- tum als die reinste und vollkommenste Form erscheint, in der sich jenes Abhängigkeitsgefühl ausgeprägt hat. Aber die ganze Auffassung des Wesens der Religion wird durch diese Begründung eine neue. Alle dogmatischen Lehren, die supranaturalistischen /; gerade so gut wie die rationalistischen, gründen die Religion auf eine Erkenntnis und suchen ihr Wesen in einem theoretischen Fürwahrhalten. Die Moraltheologie, wie sie nach Voltaires und Lessings Vorgange Kant aufgestellt hat, gründet die Religion auf eine ethische Überzeugung und sucht ihr Wesen in der sittlichen Gesinnung und Handlung, die sie hervorzurufen bestimmt ist. Schleiermachers Gefühlsreligion von der nur gleichnamigen ^) Jacobis weit verschieden sieht in der Religion, um sie ganz selbständig zu machen, einen rein innerlichen Zustand des Grefühls; sie ist ihm ein Durchdrungensein des ganzen Menschen von dem Gefühle seiner Abhängigkeit dem Universum gegenüber. Dies Gefühl bedarf keiner äußerlichen Gestaltung, weder in der

312 Schleiermacher.

Formulierung einer Ansicht noch in der Erzeugung irgendwelcher Handlung. Es ist ein_ Zustand, vermöge dessen der Mensch die Harmonie seines ganzen Wesens im Zusammenhange mit dem Welt- leben genießt. Es soll das gesamte Leben des Menschen durch- leuchten, aber es bedarf keiner eigenen und besonderen Funktion, in der es sich nach außen absichtsvoll zu erkennen gäbe. Das »fromme Gefühl« ist deshalb durch und durch persönHch und individuell. Indem das Individuum sein eigenes Wesen in der Tiefe erfaßt, fühlt es sich eben darin von dem Urgründe aller Dinge und dem Gesamtleben des Universums abhängig. In dieser Hinsicht ist Schleiermachers Religionsphilosophie eine der inter- essantesten und bedeutendsten Synthesen der individualistischen und der universalistischen Tendenz, welche sich durch das moderne Denken antagonistisch hindurchziehen. Der Gegenstand des Ab- hängigkeitsgefühls ist die absolute Welteinheit, in der alle Be- stimmtheit untergegangen ist: der Ursprung dieses Abhängigkeits- gefühls liegt in dem voll entwickelten Individuum. Die harmo- nische Ausbildung der Persönlichkeit vollendet sich darin, daß es sich in der ganzen Ausdehnung seines Wesens von dem göttlichen Urgründe abhängig fühlt. Das fromme Gefühl ist für Schleier- macher der Schlußstein in der harmonischen » Bildung « des In- dividuums, und seine Lehre bezeichnet deshalb den Punkt, an welchem das Bildungsideal der Romantiker sich als religiös be- greift. Darum aber ist für ihn das religiöse Leben ein durchaus individualistisches, es ist nicht auf Satzungen einer Konfession oder einer Vernunfterkenntnis zu beschränken, und aller Fort- schritt des religiösen Lebens der Menschheit geschieht nur durch bedeutende Persönlichkeiten, welche dem Abhängigkeitsgefühl eine neue Gestalt geben und diese in ihrer Umgebimg erwecken. Jede positive Religion ist durch die Persönlichkeit ihres Stifters bedingt, und in diesem Sinne führt Schleiermacher das Christentum auf die sündlose Persönlichkeit Jesu zurück. Die feinere Beziehung zu der romantischen Lehre, die sich bei Schleiermacher überall durchfühlen läßt, zeigt sich auch darin, daß es das religiöse Genie *) ist, worauf er die Epochen der Religionsueschichte gründet,

*) Der IJegritF des religiöseü'^Genies^'ist später von Schleiermachers be- deutendstem Schüler Alexander Schweizer am eingehendsten und glänzendsten entwickelt worden.

Kthik, 313

und die religiöse Clonialitiit besteht in einer originellen AushihJung des Abhängigkeitsgefühls. Die wahre .liingersehaft dem Kcligions- stifter gegenüber ist die kongeniale Versenkung in das fromme Gefühl, in welchem er zuerst gelebt hat. Die Parallele zum Kunst- genuß ist unverkennbar, und es zeigt sich, daß der religiöse Idealismus seine Wurzeln in dem ästhetischen Zuge des deutschen Denkens hatte. Allein diese reine Verinnerlichung, die Schleier- macher mit dem Begriffe der Religion vollzog, um alles Äußer- liche von ihr abzutun, hatte notwendig eine gewisse Unfähigkeit zur Folge, mit der realen Organisation des religiösen Lebens Fühlung zu gewinnen, und erst in seinen späteren Jahren hat Schleiermacher durch mancherlei Konzessionen und Wendungen, die von seinem philosophischen Standpunkt aus als Inkonsequenzen erscheinen müssen, dieser Aufgabe Genüge tun können.

Mit der religionsphilosophischen geht die ethische Bedeutung Schleiermachers Hand in Hand. Auch hier betont er, namentlich während der ersten Zeit, in vollkommenster Weise die Idee der Persönlichkeit und spricht damit auf viel reiferem Standpunkt als Shaftesbury das Geheimnis seiner Zeit aus, in der die großen und originellen Individuen sich gewissermaßen drängen. Gerade diese Jahrzehnte zeigen auf allen Gebieten eine Fülle bedeutender Persönlichkeiten, von denen jede den großen Reichtum der ge- meinsamen Bildung in seiner selbständigen Weise für sich aus- gestaltete. Von dieser Feinheit der persönlichen Kristallisation eines gewaltigen Bildungsstoffes, von dieser Filigranarbeit eines reichen inneren Lebens, von diesem Herausarbeiten der Indivi- dualität aus einer miiversalistiscben Kultur haben wir Epigonen nur noch eine schwache Vorstellung. Durchschnittsmenschen, die nur in der Masse und dm'ch die Einfügung in diese wirken, finden unsere Zeitgenossen schwer den Maßstab für jene Fülle eigen- artiger und dabei doch unendlich vielseitiger Geister. Was unsere Zeit ihre Größen nennt, ist fast immer die einseitige Entfaltung einer gewaltigen Kraft, deren Züge unvergleichlich viel gröber ausfallen, als bei den Heroen jener Zeit. Der Triumph der In- dividualität über den ganzen Reichtum einer universalistischen Bildung ist für uns ein Ideal der Vergangenheit geworden. ^ Wer sich mitten darein versetzen will, findet es nirgends besser aus- gesprochen als in Schleiermachers Ethik. Wir besitzen sie in den

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314 Schleiermacher.

beiden posthumen Ausgaben von Schweizer (1835) und Twesten (1841). Sie ist schon formell ein sehr schön geschlossenes, liebe- voll durchgearbeitetes, architektonisch bewunderungswürdiges »System der Sittenlehre«. Aber sie sucht auch namentlich in ihrem Inhalt alle Harten des Kantischen und Fichteschen Rigo- rismus in dem Geiste abzuschleifen, den schon Schiller vertrat. Auch sie wendet sich gegen den kategorischen Imperativ und vor allem gegen die imperativische Behandlung der Moralphilosophie. Das Sittengesetz gilt ihr als die innerlich notwendige Funktion des intelligenten Wesens. Es steht deshalb mit dem Naturgesetze nicht in einem notwendigen und prinzipiellen Gegensatze. Es geht vielmehr eine Linie der Entwicklung und Vervollkommnung aus der Natur in die Geschichte. Das Entwicklimgssystem von Leibniz, Herder undSchelling wird von Schleiermacher im ethischen Sinne gedeutet. Nur da, wo die niederen Triebe mit den höheren streiten, erscheinen die letzteren im Bewußtsein als ein Gesetz des Sollens. Aber das Ideal ist nicht, daß jene durch diese ver- nichtet werden, sondern daß beide zu der harmonischen Aus- gleichung gelangen, die durch ihr Wertverhältnis bestimmt ist. Die sittliche Aufgabe besteht also in der vollendeten Ausbildung des Individuums, welches in dem Gleichgewichte seiner ver- schiedenen Kräfte sein inneres Wesen auszuleben hat. So hat jeder Mensch eine persönliche Aufgabe Fichte hatte es die ^Bestimmung^ des Menschen genannt und erfüllt sie in einer persönlichen Durchbildung, die alle Momente des gemeinsamen Kulturlebens auf den einheithchen Zweck der individuellen Voll- endung zu beziehen hat. Das wahre sittliche Leben ist ein Kunst- werk, welches die allgemeinen Lebensbeziehungen in eine indivi- duelle Gestalt konzentriert. Deshalb aber ist die sittliche Ent- wicklung des Individuums nur auf der breiten Basis des all- gemeinen Kulturlebens denkbar und besteht lediglich in einer per- sönlichen Verarbeitung aller der Momente, die den Gehalt des Ganzen ausmachen. Das reife sittliche Individuum muß sich mit der Gesamtheit eins wissen, indem es diese in sich zu einer per- sönlichen Form gestaltet hat. Von diesem ethischen Standpunkt her gewann Schleiermacher die ideale Schätzung der großen Güter des gemeinsamen Menschenlebens, so begriff er den Staat, die Geselligkeit, die Universität und die Kirche, und so gab er in

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(Jütorlehre. :\\f}

seiner Lehre das vollkommene Rild seiner eigenen, in sich ge- schlossenen und doch überull mit dem (Jesumtlebcn in lebendigster Fühlung begriffenen Persünliehkeit.

Auf der (lüterlchrc beruht nun*das lliiuptinteressc in dem ans- geführten ethischen System des l^hil()so[)hen. Er behandelt darin als »ethische Organismen« die konkreten Formen der menschlichen Lebensgemeinschaft, welche das »höchste Gut«, d. h. die Ein- heit von Natur und Vernunft zur geschichtlichen Erscheinunf; bringen. Die Grundbegriffe des realen und des idealen Faktors, welche der Schleiermachcrschen Dialektik zugrunde lagen, wieder- holen sich hier in der Unterscheidung der »organisierenden« und der »symboHsierenden« Tätigkeit. Unter den ersteren Begriff fallen alle Handlungen und Verhältnisse, durch welche die Ver- nunft das natürliche Leben durchdringt und für sich gestaltet; als symbolisierend erscheint die Intelligenz überall da, wo sie das von ihr durchdrungene und gestaltete Naturgebilde in ihr eigenes Leben aufnimmt und als sich zugehörig bezeichnet. Indem mit dieser Einteilung sich der Gegensatz des Identischen und des Differenzierten, d. h. des Allgemeinen und des Individualisierenden kreuzt, entstehen als die vier Gebiete des sittlichen Lebens der Verkehr und das Eigentum, das Denken und das Gefühl. Auf diese Weise gestaltet sich das System des Ethik zu einer in großen Zügen entworfenen Lehre von dem sittlichen Gesamtleben der Vernunft, welches als allgemeinste und höchste intellektuelle Wirklichkeit den Untergrund für jene Lebensentfaltung des Indi- viduums bildet. Zum Hauptgegenstande der Ethik wird damit (dasselbe, was Hegel als den »objektiven Geist« bezeichnet, nämlich^ die menschliche Gattungsvernunft in ihrer geschichtlichen Aus- prägung durch die Organisationen des öffentlichen Lebens. Wie die Physik als Theorie neben die beschreibende Naturwissenschaft, so tiitt die Ethik als Geschichtsphilosophie neben die erforschende und erzählende Historie.

Die Wirkung Schleiermachers ist in der Theologie zweifellos umfassender als in der Philosophie gewesen, und sie betrifft auch auf jenem Gebiete wesentlich erst die Zeit, welche der späteren Darstellung vorbehalten bleibt. In der Philosophie vollends wurde Schleiermacher zmiächst beinahe gänzlich durch den umfassenden Erfolg der Hegelscher» Lehre zurückgedrängt. Nur auf den

316 Hegel.

romantisclieii Kreis wirkte seine Betonung des religiösen Elements der Bildung unmittelbar zurück. Freilich nur in der allgemeinsten Weise. Denn auch die Bahnen der Theosophie, die SchelUng ein- schlug, lagen weit von der Richtung ab, in die Schleiermacher gewiesen hatte. Aber den Erfolg darf man ihm sicher zuschreiben, daß die Gebildeten unter den Verächtern der ReHgion ihren Wert wieder zu schätzen anfingen, wenn sie ihn auch anders auffaßten als er. Hauptsächlich für die Naturphilosophie lag der Anschluß an die Spinozistische Fassung des Gottesbegriffes, die Schleier- macher gegeben hatte, nahe, und unter ihren Anhängern war es namentlich Steffens, welcher durch die persönliche Berührung in Halle zu Schleiermacher hinübergezogen wurde.

§ 68. Der logische Idealismus.

Hegel.

Die Lehre Schleiermachers ist in gewissem Sinne ein Versuch, von Schellings Identitätssystem aus zu Kant zurückzukehren. Sie betrachtet wie der absolute Idealismus die natürliche und die geschichtliche Reihe der Erscheinungen als differenzierte Selbst- objektivierungen des göttlichen Urbildes, aber sie hält das letztere selbst für unerkennbar und gewinnt seine Vorstellung nur aus dem religiösen Gefühle. Sie hat deshalb auch nicht im ent- ferntesten eine Erkenntnis davon, wie ^ das Absolute' dazu kommt, sich gerade in diesen und keinen andern Erscheinungen zu offen- baren. Aber im Grunde genommen fehlte die Lösung dieses Problems, das Schleiermacher gar nicht erst aufstellte, auch in Schellings Identitätssystem. Hier wurde diese Differenzierung zwar überall behauptet, aber nicht begriffen, und das war die selbstverständliche Folge davon, daß das Absolute hier als quali- tätslose Indifferenz aller Erscheinungen gedacht war. Wie sich aus diesem bestimmungslosen Grunde die Bestimmtheit der ein- zelnen Erscheinungen entwickeln sollte, war ebensowenig zu ver- stehen wie die Verwandlung der Spinozistischen Substanz und ihrer allgemeinen Attribute in die einzelnen Modi.

Aus der »Nacht des Absoluten«, in der alle Unterschiede ver- dämmerten, war die feste Bestimmtheit der Gestalten in der Tageshelle der Wirklichkeit nicht abzuleiten. So entstand in der

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Der Geist als Entwicklung. 'A\7

idealistischen Riclitiiiij; ihre letzte und iiücliste Aufgabe, die Kr- scheinun«;cn aus dem Absoluten ho zu deduzieren, daß sich ein- sehen ließe, weslialb es sich ;^'erade in diese und keine andere Wirklichkeit entwickeln muß: die transzendentale J.ogik sollte die allgemeine Form der Vernunft so fassen und so formulieren, daß sich daraus auch die wesentlichen Inlialtsbestimmungen der em- pirischen Wirklichkeit ableiten ließen. J)iese Aufgabe war nur dadurch zu lösen, daß der Begriff des Absoluten aus jener Un- bestimmtheit, worin er die Indifferenz aller Besonderheiten enthielt, in eine bestimmte Qualität übergeführt wurde, aus deren Wesen heraus alle seine Entwicklungsformen herzuleiten waren. Dies höchste Ideal aller menschlichen Wissenschaft, das man als solches verstehen muß, auch wenn man es für unerreichbar hält, bildet die Aufgabe, die sich He^^el setzte, und jene Bedingung ihrer Lösung fand er darin, daß er das "^bsolute^als den sich selbst entwickelnden Geist charakterisierte. Das ist der Sinn

seines Ausspruchs: die Substanz müsse zum Subjekt erhoben werden. Mit diesem Bestreben führt die Philosophie in einer ganz anderen Weise als bei Schleiermacher von Schelling zu Kant zurück und zugleich über ihn hinaus. Daß alle philosophische Erkenntnis aus der Organisation des Geistes stammt, ist das Grundthema für die ganze Bewegung der deutschen Philosophie. Diese Organisation ist für Kants kritische Methode diejenige des menschlichen Geistes, sie beschränkt sich deshalb auf die Formen des Denkens, und in diesem Sinne wird die Erscheiuungswelt von dem wahren Wesen der Dinge unterschieden. Aber schon Kant überschritt nicht nur diesen Ausgangspunkt auf der theoretischen Linie mit dem Begriff des »Bewußtseins überhaupt«, sondern er sah sich auch in der Kritik der praktischen Vernunft genötigt, das Fundament jener Organisation als ein für alle vernünftigen Wesen geltendes Gesetz zu betrachten. So durchbrochen, wurde der anfängliche Subjektivismus in der Weiterentwicklung Schritt für Schritt aufgehoben, und das Identitätssystem betrachtete wieder auch die theoretische Vernunft als ein Weltgesetz. Die Identität von Denken und Sein, von dem alten Rationalismus naiv an- genommen, erschien, nachdem sie bei Kant als problematisch beiseite geschoben war, in diesem neuen Rationalismus als ein bewußtes und ausdrückliches Postulat wieder. Sie wurde von

318 Bardili.

Hegel gerade dem Kritizismuy gegenüber als der »Mut der Wahr- heit«, als »der Glaube an die Macht des Geistes« proklamiert, welcher die erste Bedingung aller Philosophie sei. Für diesen Standpunkt ist die Kantische Kritik der Erkenntnis gegenstandslos geworden: für ihn ist der „Geist, dessen Organisation die philo- sophische Welterkenntnis bedingen soll, nicht mehr der "mensch- liche, sondern der absolute Geist. Nun bezieht sich seine Or- ganisation nicht mehr bloß auf die Formen, sondern auch auf den Inhalt des Denkens. Nun beschränkt sich seine Erkenntnis nicht mehr auf subjektive Erscheinungen, sondern sie umfaßt die objektiven Entwicklungsformen des absoluten Geistes. Vom Stand- punkte der Identität aus gesehen, ist die Organisation des Geistes zugleich diejenige der realen Welt: es ist Kants »intuitiver Ver- stand«, den die Philosophie jetzt sich zu eigen machen soll. Dadurch wird von Seiten der metaphysischen Anschauung die Welt zu einer Entwicklungsgeschichte des absoluten Geistes; dadurch wird hinsichtlich der philcsophischen Methode die Welterkenntnis zu einer dialektischen Deduktion der not- wendigen Selbstent Wicklung des Geistes. Mit dem Postulat der Identität verbunden, setzt sich Kants transzendentale Logik in eine philosophische Grundwissenschaft um, welche das System der Kategorien als dasjenige der absoluten Wirklichkeit betrachtet. Die Vereinigung von Lo^ik und Metaphysik, die bei Schleiermacher als das Ideal des absoluten Wissens auftrat, er- scheint in Hegels Logik als eine gelöste Aufgabe.

Ähnliche Gedanken waren schon von anderen früher aufgestellt /!/'/> worden. Namentlich Bardili (1761 1808) hatte von einem ver- wandten Standpunkt aus die Kantische Lehre in seinem »Grundriß der ersten Logik« (1800) und in der »Philosophischen Elementar- lehre« (1802 1806) bekämpft, und sein und Reinholds »Brief- wechsel über das Wesen der neuesten Philosophie und das Unwesen der Spekulation« (1804) hatte diese Gedanken weiter ausgeführt. Die Trennung des Denkens vom Sein, welche der Kritizismus mit sich führt, sei Fein Grundfehler und mache alle wissenschaftliche Erkenntnis unmöglich. Wenn das Denken, auf sich selbst be- schränkt, nur seine eigenen Formen ausspinnt, so ist es ein Traum und keine Erkenntnis, so ist es haltloser denn ein Spinngewebe, weil es nichts hat, woi-an es sich anheften kann. In dieser Hin-

Berpcr. .'il!l ,

sieht synipatliisiorcn Keinliold uiul Hardili mit JawbiH Bcliaiiptun;:, daß der Kritizisimis zum Nihilismus führe. Man muß sorgfältig; so knüpft diese Lehre an die »Elemmtarpliilosophie* an zwischen dem Vorstellen und dem Denken unterscheiden; letzteres ist das notwendige, (^d. li. das mit der Realität identische Vorstellen. Was notwendig gedacht wird, ist, und nur das Sein wird notwendig gedacht. Deshalb nennt sich dieses System rationalen Realis- mus. In ihm ist die Lehre vom Denken die Lehre vom Sein und die Logik gleich der Metaphysik oder der Ontologie; sie wird in diesem Sinne auch von Bardili als Dialektik bezeichnet. Daraus folgt aber auch umgekehrt, daß alles Sein ein Denken ist; denn die Erkenntnis besteht nur darin, daß unser Denken den Begriff^ welcher das Wesen des realen Dinges ausmacht, reproduziert. Alles ursprüngliche Sein ist Gedanke oder reale Idee, und wir erkennen die letztere, indem wir sie subjektiv in uns wiederholen. W^enn sich auf diesen Grundlagen eine Metaphysik aufbauen soll, so geschieht es nach dem Prinzip, daß alle Verschiedenheit des Seins in der"^ Verschiedenheit der Intensität des Denkens^ seinen Grund hat. Damit greift Bardili zu der Monadologie von Leibniz zurück imd konstruiert ein System aufsteigender Formen des Seins, welches die allmähliche Verdeutlichung des Denkens zum Maß- stabe nimmt. Zugleich erinnert diese Lehre an die Schellingsche Naturphilosophie und entnimmt ihr hauptsächlich den Gedanken, welcher platonisch-aristotelischen Ursprungs ist, daß in der höheren

Potenz immer die niedere enthalten sein soll. In der Materie

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sich passiv genießend, erscheint das Sein in der Pflanze vor- stellend imd träumend und gelangt im Tier zum Bewußtsein, um sich schließlich im Menschen zum Selbstbewußtsein zu steigern.

Ähnlich wie Bardili ist diu'ch Hegel Erich von_Ber^r (ArMaej, (1772 1833, geborener Däne und Professor in Kiel) in Schatten ^^

gestellt worden. Er versuchte in seiner »Philosophischen Dar- stellung der Harmonie des Weltalls« (1808) eine Vermittlung der Wissenschaftslehre und des Identitätssystems, in der viel- leicht schon ein Einfluß der Hegeischen Phänomenologie zu er- kennen ist, und jedenfalls lassen ihn seine »allgemeinen Gnmd- züge der Wissenschaft« (4 Bände 1817 1827) bereits mehr als einen relativ selbständigen Schüler Hegels erscheinen. Er legt das Postulat der Identität dahin aus, daß die Wirklichkeit nur

320 Hegel.

erkennbar ist, wenn sie selbst reales Denken enthält. Die,^ Ver- nünftigkeit der Welt ist die Voraussetzung ihrer vernünftigen Erkenntnis. Nur eine Welt, die selbst Vernunft ist, kann von der Vernunft erkannt werden, und auch dies nur dann, wenn die erkennende und die zu erkennende, wenn die subjektive und die objektive Vernunft in ihrer Wurzel und in ihrem Wesen identisch sind. Die Natur ist nur erkennbar, insofern sie reales Denken ist. Dieses Prinzip hat Schelling durchgeführt. Aber der Naturphilosophie muß deshalb die Wissenschaftslehre oder die Logik als die Selbsterkenntnis der Vernunft vorhergeschickt werden. Hieraus hat Berger später eine Dreiteilung der Philo- sophie abgeleitet. Der Geist erkennt sich selbst in der Logik, er erkennt sich als eine äußere und fremd gewordene Realität in der Physik, und er erkennt sich als die dies »Andere« be- herrschende Macht in der Ethik. Das Absolute ist die Idee, welche in allem anderen erscheint, und welche darin sich selbst realisiert und sich selbst erkennt. Die volle Ausführung und systematische Entwicklung dieses Gedankens war die Lebens- arbeit Hegels. J(oA^ Georg Wilhelm Friedrich JLsj^^el war 1770 in Stuttgart

-^ geboren und studierte in den Jahren 1788 1793 auf dem Stift II in Tübingen. In der Freundschaft mit Hölderlin und Schelling

" / ^3/ erfüllte sich sein Geist mit dem ganzen Reichtum der klassischen imd der modernen Bildung. Das Griechentum mit seiner har- monischen Entfaltung reiner Menschlichkeit war auch ihm die geistige Heimat, die er in dem idealen Lichte der Schillerschen Darstellung sah. Die Dichter und die Philosophen von Hellas waren ihm durch das ganze Leben hindurch vertraute Freunde, und in dem griechischen Staate verehrte er das Ideal eines ästhe- tisch-sittlichen Zustandes der Gesellschaft. Die französische Revolution und die Kantischc Philosophie, die mit den faulen Zuständen dort des politischen, hier des wissenschaftlichen Lebens aufzuräumen versprachen, fanden in ihm die erste einen be- geisterten, die andere einen still verarbeitenden Jünger. Als er dann einige Jahre in Bern als Hauslehrer zubrachte, vertiefte er sich in historische Studien und folgte zugleich auf das ge- naueste der philosophischen Entwicklung, die einerseits Fichte, anderseits Schiller nahm. In denselben Jahren entstand ein

FiOl)on und Wc^rko. 321

MaiuiMkripl iibor das LcIxmi .Icsii, wolrhos ilm mit (1<t liCKwin»^- schon Auffassung dor roli^iöson Entwicklun«^' auf dcinsclbcn SUnd- punkto zeii^t. Duivli soiiio Oboisjodlun«^ nach Frankfurt a. M., wo er sich in dvv !j;UMc'hni äußeren Stelhni^ befand, wurden zwar die theologischen und die politischen Studien nicht unterbrochen, aber das nauptintcrcssc seiner Arbeit fiel dort schon auf einen Entwurf seines phih)sop]iisclien Systems, den er in einem aus- führliclien Manuskript niederleujte und teilweise mit Hölderlin besprach. Dieser Entwurf zci<^t methodisch und inhaltlich be- reits die Grundzüge seiner späteren Lehre und beweist, daß sich ihr Grundproblem unabhängig von dem Identitätssystem bei ihm aus der Kantischen und Fichteschen Philosophie entwickelt hat. Aber Hegel besaß bei seinem kühlen und ruhigen, von allem Übermut der Genialität freien Wesen die Strenge gegen sich selbst, daß er die Gedanken in der Stille ausreifen ließ und mit ihnen nicht eher vor die Öffentlichkeit trat, als bis er ihren Abschluß gefunden hatte. Während Schellings AVerke, wie die Dialoge Piatons, ihren Verfasser in einer stetigen Umbildung begriffen zeigen, tritt das Hegeische System schon in dem ersten großen Werke wie die Minerva aus dem Haupte des Zeus fertig imd gepanzert hervor, und in seinen Schriften spricht deshalb von Anfang bis Ende, wie es bei den überlieferten Lehrschriften von Aristoteles der Fall ist, der mit sich selbst einige Denker. Diese geschlossene Einheit aber war durch eine tief bewegte, mit zähem Ernst ringende und erstaunlich vielseitige Entwick- lung erworben worden, in der die ganze Mannigfaltigkeit des geistigen Lebens seiner Zeit zur Geltung gekommen war: die Prinzipien der zu Ende gehenden Aufklärung und die Motive der aufsteigenden Romantik waren sich in Hegels Geiste be- gegnet. Über diesen hochbedeutsamen Prozeß hat erst jüngst Wilhelm Dilthey auf Grund der in der BerHner Bibliothek auf- bewahrten Manuskripte ein reizvolles Licht zu verbreiten be- gonnen.

Nach einem Menschenalter der Vorbereitung, der Sammlung und der Verarbeitung begann Hegel im Jahre 1801 sein zweites Menschenalter, dasjenige seiner Lehrtätigkeit. Durch den Tod seines Vaters selbständig geworden, habilitierte er sich auf Schellings Veranlassung in Jena und gab dort mit dem Jugend-

Windel"band, Gesch. d. n. Philos. U. 21

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322 Hegel.

freunde das »Kritische Journal der Philosophie« heraus. Er und Schelling meinten damals in ihrer philosophischen Über- zeugung einig zu sein, und in den Abhandlungen, die Hegel in diesem Journal veröffentlichte, zeigt er sich so sehr als ein selb- ständiger Genosse Schellings, daß über einige dieser Abhand- lungen, besonders über diejenige, welche von dem »Verhältnis der Naturphilosophie zur Philosophie überhaupt« handelt, später ein Streit entstehen konnte, welcher von beiden der Verfasser sei. Von anderen Aufsätzen hat sich nachher herausgestellt, daß die Freunde sie gemeinschaftlich verfaßt haben. Aber auch die Abhandlung über »Glauben und Wissen« und die »Differenz des Fichteschen und Schellingschen Standpunktes« sind völlig im Geiste des Identitätssystems gehalten. In der Tat lag da- mals noch die MögHchkeit vor, daß die Schelhngsche Lehre in die von Hegel bereits betretene Bahn einmündete, und, wie oben erwähnt, zeigen die späteren Darstellungen im »Bruno« und in der »Methode des akademischen Studiums« auch bei Schelling ein Überwiegen des ideellen Faktors im Absoluten, welches ganz in der Richtung von Hegels Grundgedanken lag, das "Absolute^ sei der Geist. Erst als Schelling auf andere An- regungen in Würzburg die theosophische Wendung nahm, vollzog sich mit der räumlichen auch die geistige Trennung der beiden Freunde, welche später zu einer bedauerlichen und namentlich auf Schellings Seite leidenschaftlich gereizten Gegnerschaft ge- führt hat. Diesen Bruch mit dem Identitätssystem bekundete 3 7 0 Hegel durch seine »Phänomenologie des Geistes« (Jena 1807), das erste und in gewissem Sinne das großartigste seiner Werke. Er war mit der Abfassung desselben eben fertig, als der preußisch-französische Krieg den geistigen Kämpfen in Jena für einige Zeit ein Ende machte; er verlor damit die außerordent- liche Professur, die er 1805 erhalten hatte, und sah sich ge- nötigt, während der folgenden Jahre in Bamberg als Redakteur einer kleinen Zeitung sein Leben zu fristen. Aus dieser Position erlöste ihn Niethammer, durch dessen Vermittlung er zum Di- rektor des Ägidien- Gymnasiums in Nürnberg berufen wurde. Das Denkmal dieser seiner Lehrtätigkeit bildet die philosophische »Propädeutik«, welche er für den Unterricht in der obersten Klasse entwarf; zugleich gab er in diesen Jahren sein Grund-

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Loben und Wirken. 323

work, die dreibiiiuiigo »Wisöcn.scliaft der Lo;jik« (Niiinbor;^ 1812 bis I81l)) henius. Als die Kriege; juis;^el()bt hatten, erhielt er 1810 «^leichzeitij^ Berufungen nach Jkrlin, Erlangen und Hcidelber;^ und f()ljj;tc auf Daubs Driin^^'cn der letzteren, um jedoch öcIidu 1818 nach Berlin überzusiedeln. Von da bis zu seinem Tode, der 1831 durch die Cholera erfolgte, entwickelte er auf dem ^ ^ 'l Berliner Katheder eine ausgebreitete und glänzende Wirksamkeit. Er sah nicht nur die Scharen seiner Jünger sich von Jahr zu .Jahr mehren und die Spitzen des Staates und der Gesellschaft sich in seine Vorlesungen drängen, sondern er fing namentlich durch Vermittlung des Ministers Altenstein an, bei der Regie- rung solchen Einfluß zu gewinnen, daß seine Lehre als die »preußische Staatsphilosophie« galt, und daß sich auch die übrigen Universitäten mit seinen Schülern bevölkerten. An der Spitze dieser Schule, deren Organ seit 1827 die Berliner »Jahr- bücher für wissenschaftliche Kritik« bildeten, wurde er zeitweili«; eine Macht in dem geistigen Leben Deutschlands, wie es kaum Kant gewesen war, und der enzyklopädische Charakter seiner Lehre brachte es mit sich, daß alle Wissenschaften in diese Be- w^egung hineingezogen wurden. Er wurde für Deutschland genau das, was ein Jahrhundert vorher Wolff gewesen war, und zw^ar deshalb, weil er die Nation in dieselbe rationale Schulung nahm, durch welche sie Wolff für die Zeit ihrer großen Entwicklung^ vorbereitet hatte. War Wolffs logische Universalität die Grund- lage für die gewaltige Entwicklung des inhaltlichen Denkens, die seit Kant der Idealismus entfaltete, so ist Hegels logische Uni- versalität die abschließende Verarbeitung dieser Entwicklung. * Darin besteht ihre Ähnlichkeit, darin aber auch die gewaltige Überlegenheit, welche Hegel Wolff gegenüber besitzt. Man kann den Reichtum der Entwicklung, welche der deutsche Geist in jenem Jahrhundert durchgemacht hat, nicht besser beurteilen, als wenn man die Systeme beider vergleicht.

Hegel selbst hat nur noch seine »Enzyklopädie der philo- sophischen Wissenschaften im Grundrisse« (3 Teile, Heidelberg 1817) und die »Grundlinien der Philosophie des Rechts« (Berlin 1821) herausgegeben. In die ge.-ammelten Werke (Berlin 1832—1845) aber, zu deren Herausgabe sich eine Reihe seiner Schüler ver- banden, sind außerdem seine Vorlesungen über Philosophie der

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324 Hegel.

Geschichte, Ästhetik, Eeligionsphilosophie und Geschichte der Philosophie nach seinen Notizen und den Nachschriften von Zu- hörern aufgenommen worden. Seine Darstellung ist keine glück- liche; nur an seltenen Stellen kommt der Gedanke in klarer, gelegentlich auch in schöner und großartiger Form zum Ausdruck. Meist und das trifft zumal die Vorlesungen ist es das Ringen des Denkens mit sich .^:elbst, das in einer schwierigen Terminologie sich offenbart. Der formale Schematismus, der das Ganze beherrscht und sich bis in die fein.-ten Gliederungen fort- setzt, ist dem Verständnis des Uneingeweihten überall hinderhch, und es ist wohl zu begreifen, daß es eine geraume Zeit lang nur sehr wenige waren, die durch diese starre Schale zu dem lebens- kräftigen und unerschöpflich fruchtbaren Kerne des Ganzen zu dringen wußten.

Betrachtet man die großen idealistischen Systeme als meta- physische Weltgedichte, so verteilen sie sich nach dem Charakter ihrer Urheber merkwürdig auf die verschiedenen Diclitungsarten. Die gewaltige, zur Tat drängende Persönlichkeit Fichtes entlädt sich in dem dramatischen Aufbau der Wissenschaftslehre. Der umfassende Weltblick Schellings schildert wie in epischer Aus- breitung die Entwicklungsgeschichte des Universums. Die zarte Religiosität Schleiermachers spricht sich in der lyrischen Schön- heit seiner Gefühlslehre aus. Hegels System ist ein großes Lehr- gedicht, sein Grundcharakter ist didaktis,ch, und mit der Lehr- haftigkeit, die zu dem Wesen seines Urhebers gehörte, erscheint es den Vorgängern gegenüber oft wie eine prosaische Ernüchterung. In der Tat bestand der Bruch, den Hegel durch dieThänomeno- logiemit dem Schellingschen System vollzog, darin, daß er sich gegen das »geniale Philosophieren« erklärte. An Stelle der Intuition, die unmittelbar das Wesen des Absoluten zu erfassen meinte, setzt er wieder die strenge Arbeit des Begriffes. Die Identität von Denken und Sein enthält die Voraussetzung, daß das Wesen aller Dinge die ^Vernunft' sei. Alles was ist, ist ver- nünftig, und nur das VernünftTge ist. Aber deshalb muß auch die Vernunfterkenntnis bis in das innerste Wesen aller Dinge zu dringen und sie völlig aus der Notwendigkeit der Vernunft ab- zuleiten vermögen. Was bisher durch geniale Konzeption, durch Behauptungen und Analogien aufgestellt worden ist, muß sich

Ilatiüiiulisnius. 3^25

als ein notwcndi^os Piotlukt des vcniünfti^^cn Denkens er<,'ebon. Das lilentitätssystem soll sicli in einen neuen Rationalismus verwandeln. Von dem poetischen P]iil()sopliieren ^'eht Hegel wieder auf das wissenschaftliche zurück. Darum hat man sein System mit Recht die Rationalisierung der Romantik genannt.

Aber der Inhalt der Romantik, den JJegel zu rationalisieren vorfand, war eine so starke Geistesmacht, daß der neue Rationa-

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lismus sich ihm fügen mußte, und daß die^Eegriffswissenschaft, welche Hegel gab, das allerwunderlichste Durcheinanderschillern der Phantasie und des Verstandes zeigt. Gerade darin besteht die gefährliche Eigentümlichkeit Hegels, daß bei ihm das geniale Philosophieren der Phantasie und der Analogie in dem Kleide ,, begrifflicher Notwendigkeit auftritt. Der rationalistische Charakter seiner Lehre ist deshalb ganz andersartig als derjenige des vor- kantischen Dogmatismus. Auf die Reflexionsphilosopliie des Ver- standes, welche sich streng an die Regeln der formalen Logik hält, eben deshalb aber nichts Neues zu erzeugen vermag, sieht auch Hegel vornehm herab, und er mutet dem »rationalen« Denken zu, eine ü^anz andere Form der bearifflichen Erkenntnis sich zu eigen zu machen, welche er »Vernunft« nennt. Weit über der Verstand eserkenntnis, die nur, wie der Kritizismus gezeigt hat, mit der Anerkennung ihrer eigenen Beschränktheit und mit dem Verzicht auf das wahrhaft wertvolle Wissen enden kann, steht die dialektische Methode.

Die unmittelbare Abstammung des Hegeischen Denkens aus der Fichteschen Wissenschaftslehre zeigt sich in der universellen Ausbildung, die Hegel dieser Methode gegeben, und in dem Gegen- satz, worin er sie zu der gewöhnlichen formalen Logik gebracht hat. Zu den schwierigsten Darstellungen der Wissenschaftslehre gehörte diejenige, welche ihre ersten Sätze aus den Problemen ent- wickelte, die in den Grundsätzen der formalen Logik enthalten sind. Schon hier trat der Gedanke hervor, daß die Konstruktion der Wissenschaftslehre sich nicht jenem höchsten Prinzip unter- ordnen könne, welches als der Satz des Widerspruches an der Spitze der formalen Logik steht. Die Realität der Widersprüche ina Ich war ja das Prinzip, auf welches die Wissenschaftslehre ihre Entwicklung der Geschichte des Bewußtseins gründete. Diese Auffassung erweiterte sich bei den Nachfolgern vom Ich aus über

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326 Hegel.

alle Dinge, die ja als Produkte jenes in sich widerspruchsvollen Ich galten. Die Naturphilosophie mit ihrer Lehre von der Polarität lag bereits ganz in dieser Richtung. Schelling bezog sich in der »Methode des akademischen Studiums« direkt auf Giordano Brunos »coincidentia oppositorum«. Die Romantiker, Novalis und Friedrich Schlegel, sprachen es sehr bald aus, daß »es um den Satz des Widerspruches unvermeidlich geschehen sei« , daß alles Leben auf Widersprüchen beruhe und deshalb durch das Prinzip der formalen Logik nicht begreiflich sei. Diese Sätze entsprechen der Tatsache, daß es entgegengesetzt wirkende, aber doch stets beiderseits positive Kräfte sind, aus deren Wechselwirkung das Geschehen hervorgeht. Aber sie verwechselten diese »Real- repugnanz« mit der logischen »Kontradiktion« in einer Weise, die Kant in seinem »Verbuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen« längst aufgedeckt und wie vor- ahnend widerlegt hatte. Allein diese Verwechslung griff immer mehr um sich, und sie führte im großartigsten Maßstabe schließ- lich zu dem Hegeischen System, in welchem die »Negativität« als die metaphysische Macht der Entwicklung betrachtet wurde. Sollten nämhch die Gegensätze nicht bloß als gegebene Tatsachen anerkannt, sondern durch das Denken als notwendig erkannt werden, so war das nur dadurch möghch, daß die logische Form der Negation als der reale AViderspruch aus der ursprünglichen Position entwickelt wurde. ^Dies Prinzip sprach Friedrich Schleojel in seinen Vorlesunpjen aus den Jahren 1804 180G (herausgegeben von Windischmann 1836 1837) aus. Auch er hatte damals bereits den Standpunkt des genialen Philosophierens verlassen, und wie er denn immer zwischen Extremen oszillierte, so verlangte er nun eine strenge Methode der Philosophie. Als deren Form behauptete er, wie die Wissenschaftslehre, die Triplizität, welche durch die Widersprüche hindurch zur höheren Einheit empordringt. Dabei folgte auch Schlegel in diesen seinen späteren Lehren demselben Gedankenzuge wie Bardili und Berger; auch ihm galt dieses Denken, welches sich durch den Widerspruch zur Wahrheit erhebt, als das göttliche Denken, das zugleich real ist, und dessen Reproduktion im menschlichen Geiste »Erinnerung« ist; auch ihm umfaßt deshalb diese Methode der Widersprüche zugleich die Logik und die Metaphysik. Der Gedankengehalt, den

Dialoktinchn Moiliode. H27

er in dieser Methode darstellte, und den spüter seine » Philosoph ir des Lebens^ (1828) und seine »Philosophie der Geschichte« (1829) aus«>eführt liaben, ist wesentlich mystisch -rclij^iösen Charakters. Er sucht zu zeigen, wie das Un(.*ndliche durch die dialektische Notwendigkeit sich in das Endliche verwandelt, wie dies Endliche in dem sündigen Menschen die volle Negation des Unendlichen ausmacht, und wie der ganze Prozeß der Geschichte darin bisteht, daß das Endliche wieder zum Unendlichen zurückkehrt und schließlich darin aufgeht, eine Wendung, die teils an den Spinozismus Schleiermachers, teils an die letzten Lehren von ScheUiug erinnert und bei Schlegel auch theoretisch zu dem Ge- danken führte, daß die Unterwerfung des Individuums unter d^ positive göttliche Gesetz dessen höchste und letzte Aufgabe sei^

Den Abschluß aller dieser Bestrebungen bildet Hegels dia- lektische Methode. Das Schema der »Dreieinigkeiten«, wie es Schlegel genannt hatte, erscheint hier lediglich als die logische Triplizität von Position, Negation und Aufhebung des Wider- spruchs; aber diese Aufhebung wird nicht etwa so gedacht, daß sie allein die Wahrheit sei und die vorangegangenen Momente der Thesis und Antithesis widerlege, sondern so, daß alle drei die notwendigen und realen Entwicklungsformen der Wahrheit sind. Die Widersprüche sind das Wesen der Wirklichkeit, aber die Wirklichkeit enthält zugleich ihre Versöhnung. Jeder Be- griff schlägt mit metaphysischer Notwendigkeit in sein Gegenteil um, aber aus der Syn thesis der Gegensätze ergibt sich der höhere Begriff ihrer Vereinigmig ; daran enfaltet sich wieder derselbe Prozeß, und dieser geht so lange fort, bis die abschließende und"^ höchste Synthese gewonnen worden ist. Dieser Prozeß ist aber nicht nur derjenige des philosophischen Denkens, sondern, da der "Geist und der "Begriff das Wesen der Dinge ausmacht, so ist er zugleich die reale Entwicklmig, worin der Geist aus sich selbst das Universum erzeugt und dadurch zu sich selbst kommt. Die Entwicklung der Begriffe ist also zugleich Logik und Metaphysik. Die notwendigen Formen, welche der Geist in dieser seiner inneren Dialektik erzeugt, sind die Kategorien der Wirklichkeit. Alle Stufen dieses Prozesses gelten für Hegel nicht mehr als subjektive, sondern als objektive Erscheinmigen. Die Unendlichkeit der Dinge in ihrer dialektischen Stufenfolge ist die Selbsterscheinung des

328 Hegel.

absoluten Geistes, dessen Wesen es ist, sich in sich selbst zu ent- zweien und aus der Zerrissenheit zu sich zurückzukehren.

Trotz der Veränderung der Terminologie erweist sich doch dieser Grundgedanke des Hegeischen Systems offenbar als eine Assimilation der aristotelischen Metaphysik durch den Fichte- schen Idealismus. Der aristotelische Begriff der Entwicklung beherrscht die Lehre Hegels in noch viel tieferem Sinne als diejenige von Leibniz*). Der göttliche Geist enthält in seinen Kategorien die ideelle Möglichkeit aller Dinge, und der ganze Weltprozeß besteht darin, daß diese Möglichkeit in den Gestalten von Natur mid Geist ihre Verwirklichung findet, so daß erst damit die Idee selbst zur vollkommenen Wirklichkeit (Entelechie) wird. Aber diese Verwirklichung ist nun selbst wieder nichts anderes als das wahre und ursprüngliche Wesen des göttlichen Geistes.

Hierauf beruht zunächst die dreigliedrige Haupteinteilung des Hegeischen Systems. Die Erkenntnis des absoluten Geistes, wie er »an sich« ist (oder der »Idee an sich«), und der in ihm selbst liegenden Notwendigkeit der dialektischen Entwicklung enthält die Logik, in deren System selbstverständlich bereits alle die- jenig^Si Entwicklungsformen eine entsprechende Stelle finden, welche in den beiden anderen Teilen besonders ausgeführt werden. Der Geist in seinem »Anderssein«, der Geist, wie er »für sich« als ein Gegebenes und Äußerliches erscheint, ist die Natur. Neben die Naturphilosophie tritt endlich als dritter Teil die Geistes- philosophie als die Lehre von den Formen, in welchen derGeist »an und für sich« sich selbst erfaßt und seine notwendige Ent- wicklung vollendet. Jeder dieser Teile gliedert sich dann wiederum nach dem triadischen Prinzip der Dialektik, und dies Schema ist von Hegel mit der äußersten Kunst bis in das einzelnste durchgeführt worden. Mit der äußersten Kunst: aber auch mit der äußersten Künstlichkeit, mit einem Virtuosentum der begrifflichen Konstruktion und einer scholastischen Schematisierung, die hin und wieder sich in Nomenklatur verliert und dabei an die triadischen Ketten erinnert, in denen der letzte der Neu- platoniker, Proklos, die Gedankenperlen der antiken Philosophie

♦) Vgl. Bd. I dieses Werkes S. 482 f.

Prin/ip der Kntwioklun^. 329

aufj^creilit hat. Die (lialoktisclic, MctlnKlo lo«^tc dem Stoff der Krkoinitiiis rinen Zwiiu;^' auf, dein sich dieser oft nur mit wcsent- hchon Verlusten und iniiner nur durch die bewunderungswürdige Kombinat ionsgabe Hegels fügte. Seine Voraussetzung, daß das logische (Jesetz der Dialektik das Weltgesetz sei, und daß der menschliche (Jeist wie den Mut so auch die Kraft habe, die logische Gliederung des Weltinhaltes zu verstehen, ließ ihn seine Gedanken veibindungen in den Stoff des menschlichen Wissens hineindenken, auch wo sich dieser gegen die Schematisierung sträubte. Darum ist sein ganzes System wesentlich konstruktiver Natur. Er besitzt geringe Achtung vor dem empirischen Wissen und verwendet es nur willkürlich, um es in das Fächerwerk der dialektischen Gliederung hineinzustecken und dann als ein Produkt der^ Selbstbewegung des Geistes daraus hervorspringen zu lassen. Dadurch entsteht der Schein, als erzeuge die dialektische Methode all das Wissen, welches die besonderen Wissenschaften in ihrer Weise empirisch gewonnen haben, aus sich von neuem, und al-5 drohe sie, die übrigen Disziplinen überflüssig zu machen und in die Philosophie aufgehen zu lassen. In W^ahrheit steht die Sache ganz anders. Nicht ein einziger Inhalt des positiven Wissens ist von der dialektischen Methode erzeugt worden, und es konnte von ihr nichts erzeugt werden. Ihre scheinbare Fruchtbarkeit beruht auf einer Kryptogamie mit dem empirischen Wissen. So konnte es sich denn später ereignen, daß der eine oder andere der näheren oder ferneren Schüler von Hegel, wie z. B. W^eiße, den sachhchen Gehalt dieser Lehre, mit dem Hegel oft so tief gedrungen war, allein ohne die Methode darzustellen versuchte, und daß der Gegenstand dabei zu vieler Erstaunen nicht nur nichts verlor, sondern eher noch gewann. Der eigentliche Sinn der Methode ist also nur der, die gesamte Welterkenntnis, welche die übrigen Wissenschaften in ihrer besonderen Weise gewonnen haben, in ihrem letzten logischen Zusammenhange und als die gemeinsame Entwicklung des absoluten geistigen Weltgrundes zu verstehen, und durch das logische Schema begreiflich zu machen, weshalb der absolute Weltgrund sich gerade in denjenigen Formen entwickelt hat, welche die Erkenntnis der übrigen Wissenschaften als die wirklichen konstatiert hat. Die dialektische Methode ver- folgt das absolute Ideal alles menschlichen Wissens; sie ist der

330 Hegel.

Versuch, zu begreifen, weshalb die Welt so ist, wie sie sich vor unserer empirischen Erkenntnis darstellt, und sie glaubt diese Aufgabe dadurch zu lösen, daß sie die Welt als die notwendige Entwicklung des göttlichen Geistes betrachtet und die Stelle und den Wert angibt, die innerhalb dieser Ent- wicklung jeder einzelnen Lebensform des Universums gebühren. Es handelt sich darum, daß der Satz, worin Philosophie und Religion einig sind, wenn sie die Welt als ^'Erzeugnis des gött- lichen Gcistes'^betrachten, nicht bloß behauptet, sondern begriffen und bewiesen werden soll. Die Grundidee, daß ein spekulatives Denken aus dem Begriff des Ganzen diejenigen seiner Teile müsse konstruieren können, hatte zur Handhabung ihrer Methode eben nur die Momente der logischen Kontradiktion als der einzigen rein formalen Disjunktion, und diesem Schema der Gegensätze mußten deshalb die Verschiedenheiten des empirischen Inhalts als ihre selbstverständlichen Vertreter untergeschoben werden.

Gewiß, dieser Versuch Hegels ist gescheitert, wie denn über- haupt dies Ideal zu denjenigen Kants und Fichtes gehören möchte, deren Wesen die Uneifüllbarkeit involviert; aber es ist ebenso seicht wie billig, sich, wie es lange Mode gewesen ist, über Hegel lustig zu machen, der an der Lösung dieser Aufgabe mit aller Kraft eines reichen und gewaltigen Geistes gearbeitet hat. Denn nur nüt einer universalistischen Bildung und mit der lebendigsten Verarbeitung alles menschlichen Wissensstoffes konnte jemand sich dieser Aufgabe unterziehen. Die Voraussetzung für die Durch- führung der dialektischen Methode war die kolossale Poly- historie, welche Hegel in der Tat besaß. Sie bezog sich zwar auch auf die Naturwissenschaften, aber in eminentem Sinne auf das historische Wissen, und sie beschränkte sich in dieser Richtung nicht auf die Massenhaftigkeit der gelehrten Kenntnisse, sondern sie zeigte sich vor allem in der außerordentlichen Feinfühligkeit, womit Hegel das Wesen der historischen Erscheinungen auf allen Gebieten des menschlichen Lebens zu durchdringen vermochte. Mit wahrhaft genialer Auffassung verstand er es, die wesentlichen Züge der geschichtlichen Tatsachen herauszuheben, und seine historischen Konstruktionen, so sehr sie auch im einzelnen manch- mal mit der Chronologie im Hader leben mögen, sind doch überall durch das reifste Verständnis für die innere Bedeutung der ein;':elneu

KiiiiRt dei SyslcmatiBicrent. H31

Erschcinun^'on ausgezoiclmot und jj;oradc dadurch hcsc^iidcT« frucht- bar geworden. Und iibcr diesem ganzen Stoff der KenntniHKe waltet n\in Hegels (Jeist mit einer souveränen Freiheit; er weiß sie mit unnachahmlicher Sicherheit seiner systematischen Gliederung einzufügen und die {Bedeutung der empirischen Erscheinungen g(Made durch die Stellung klar zu machen, die er ihnen in seiner Konstruktion des (umzen anweist. Das Bewunderungswürdigste an ihm ist die Beherrschung seines eigenen Wissens durch die dialektische Behandlung, die zähe Energie, die er in der logischen Formulierung des empirischen Details betätigt, und die unver- gleichliche Kunst der Systematisierung, womit er den ganzen Uedankeniichalt seiner Zeit aus einem Gusse zu entwickeln wußte. Hierin mehr als in der Originalität besonderer Lehren hat der Zauber bestanden, den seine Persönlichkeit auf die von der uni- versalistischen Tendenz getragene Bildung seiner Zeit, und den seine Philosophie auf alle Wissenschaften und besonders auf die Instorischen ausgeübt hat. In ihm waltete siegreich der wahrhaft philosophische Geist, der alles Besondere aus dem Ganzen ver- stehen und in seinem Werte für das Ganze beurteilen will. Sein System ist auf dem Gebiete der Wissenschaft das reife Produkt jener universalistischen Bildung, wie es die Goethesche Dichtung in der schönen Literatur ist. Dies ist endlich auch seine Stellung in der Entwicklung der idealistischen Philosophie. Seine Lehre bildet ihren Abschluß, indem sie alles Bedeutende, was von Kant an darin erzeugt worden ist, in ein großes System zusammenfaßt. Was Hegel in den einzelnen Teilen seiner Philosophie lehrt, be- rührt sich mehr oder minder mit den verschiedenen Theorien der idealistischen Richtung ; was er hinzufügt, ist überall die direkte Anknüpfung an den Plan des Ganzen mid die Ableitung durch die einheitliche Methode. Er ist der größte Systematisator, den die Philosophie je gesehen hat, und in seinem Systeme vereinigen sich alle Grundlehren des deutschen Idealismus zu einem ge- schlossenen Ganzen, das in der Symmetrie seines Baues und in der Herrschaft des methodischen Gesetzes über den Inhalt der Erkenntnisse die vollkommenste Ausführung der ästhetischen Forderung ist, die in der ideaUstischen Entwicklung waltete.

Diesem Systeme selbst hat Hegel ein Präludium vorangeschickt, durch welches er es einführen und vorbereiten wollte. Die

332

Hegel.

dialektische Methode setzt keine intellektuelle Anschauung des Genies voraus, sie will eine rein wissenschaftliche und deshalb von jedem zu erwerbende Form der Erkenntnis sein. Aber sie bewegt sich auch nicht in der Art des landläufigen Denkens, und ihr Stand- punkt muß deshalb erst aus diesem heraus entwickelt werden. Das menschliche Denken steht nicht von selbst in seiner natür- lichen Ursprünglichkeit auf dem philosophischen Standpunkte; es hat ihn erst in der historischen Entwicklung gewonnen, und es muß jeden Augenblick neu dazu herangebildet werden. Diese Entwicklung des philosophischen Standpunktes aus dem gemeinen Bewußtsein ist für den Dialektiker nur dadurch möglich, daß die Widersprüche aufgedeckt werden, die in dem gemeinen Bewußt- sein enthalten sind, und daß durch die innere Nötigung darin der philosophische Standpunkt als der einzig übrig bleibende dar- getan wird. Es gibt eine philosophische Vorbereitungs Wissenschaft, welche den Geist von seiner gewöhnlichen Gestalt aus durch die xlufzeigung seiner Widersprüche von Stufe zu Stufe drängt und ihn schließlich auf den philosophischen Standpunkt führt. Diese Lehre von den Erscheinungsformen^_wejche_das_Wissen durch- machen muß, um vom gemeinen Bewußtsein sich bis zur Philo- sophie zu erheben, ist die Phänomenolofrie des Geistes. Dies Werk verfehlt nun freilich seinen Zweck, aus dem populären in das philosophische Denken hinüberzuleiten, so vollständig wie nur möglich. Denn sein Verständnis setzt nicht etwa nur das Interesse und die allgemeine Fähigkeit philosophischer Überlegung voraus, sondern es ist geradezu das schwierigste von allen Werken, welche in der gesamten Literatur der Philosophie je geschrieben worden sind. Ein platonischer Dialog und die Kritik der reinen Vernunft sind eine leichte Lektüre gegenüber den Anforderungen, welche diese Einführung in die Hegeische Philosophie an das Ver- ständnis des Lesers stellt. Fragt man nach dem Grunde dieser merliwürdigen Erscheinung, so liegt er nicht nur in der formellen Schwierigkeit, welche dies Buch mit allen anderen seines Ver- fassers teilt, sondern vor allem in seinem eigentümlichen und ganz unvergleichhclien Inhalte. Der Übergang nämlich vom gemeinen zum philosophischen Bewußtsein ist zunächst als eine erkenntnis- theoretische Notwendigkeit aufzufassen, in der die Motive ent- wickelt werden sollen, durch welche das Denken von Stufe zu

Phünomenolüßio. 3H3

Siufo weitciriu'kon imiß, bi« auf (l<'iii pliilosopliisclicn Süind- punktc «eine \\\\\ic findet. Aber dieser l'rozeü i8t( nach Jlc^ela Cberzeugunif) zu^leicli der Entwicklun;^^H«^an«^', den jedes indivi- duelle Denken als eine, wenn aueh nocli so unvollkonnncne Mani- festation des Weltgeiötcs mit psychologischer Notwendigkeit durch-/ niaclit. Doch damit ist es nicht genug. Für Hegel wie für iSchelling gilt auch auf dem geistigen Gebiete das, was die heutige organische Naturforschung das biogenetische Grundgesetz nennt, die Annahme nämlich, daß die Entwicklung des Individuums und diejenige der Gattung einen analogen Gang zeigen. Infolgedessen muß der Prozeß, um dessen Darstellung es sich in der Phänome- nologie handelt, sich auch in der wissenschaftlichen Entwicklung der menschlichen Gattung, d. h. in der Geschichte der Philosophie/ ]/ und der besonderen Wissenschaften wiederfinden. Endlich aber, da alles geistige Leben einheitlich ist, enthält diese Entwicklung auch den ideellen Spiegel der allgemeinen Kulturbewegung, und{ W auch in deren Phasen müssen sich somit die Stufen jenes Pro-^ zesses wiedererkennen lassen. /Freilich ist das in der Phänome- nologie noch nicht im Sinne cmes totalen Parallelismus, aber doch so zu verstehen, daß die dialektisch und psychologisch kon- struierten Übergänge und Zusammenhänge ihr Abbild und ihre Illustration in einzelnen Gesamterscheinungen der Geschichte und in deren Beziehungen finden. So erweitern sich die logischen Ge- bilde zu w^eltgeschichtlichen Gestalten. Diese mehrfache Analogie erweist sich nun als überaus fruchtbar, indem die verschiedenen Formen, in denen derselbe Grundprozeß obwaltet, einander er- leuchten mid verständlich machen, und sie bliebe auch vollkommen ungefährlich, wenn die verschiedenen Fäden, deren analoger Ver- lauf die Voraussetzung bildet, auseinandergehalten oder auch nur in ihrer Verschlingung sorgfältig verfolgt und genau bezeichnet würden. Aber das ist nun gerade nicht der Fall; sondern Hegel bewegt sich vielmehr vollkommen frei und ohne ausdrückliche ^ Bezeichnung fortwährend von dem einen auf das andere Gebiet. Unmerkhch und unvermittelt versetzt er den Leser aus der er- kenntnistheoretischen bald in die Esj;cholog;ische, bald in die phi- losophiegeschichtliche, bald in die kultuAist()ijsche Linie, und dieser Wechsel der Betrachtung wird nie sichtbar gemacht, sondern vielmehr absichtlich verdeckt. So bildet die Phänomenologie ein bunt-

334 Hegel.

ßchillerndes Gewebe dieser verschiedenen Fäden, dessen Eindruck zuerst derjenige einer absoluten Verwirrung ist. Wer in dies Buch hineinkommt, muß zuerst glauben, er tappe wie im Nebel herum; denn er weiß nie, auf welchem Gebiete der Untersuchung er sich eigentlich befindet, und jede Gestalt, die er erfaßt zu haben glaubt, verwandelt sich sogleich wieder in eine ganz anders- artige und verquirlt in eine Unbestimmtheit, in der man nirgends festen Fuß fassen kann. Es steckt in diesem Buche ein geradezu unerschöpfHcher Quell von Geist und von Wissen. Gerade hier betätigt Hegel die Grvoßartigkeit des historischen Blickes, mit dem er die charakteristische Eigentümlichkeit der geschichtlichen Er- scheinungen aufzufassen wußte ; aber diese tiefe Weisheit ist oft in so überfeine Anspielungen und Andeutungen »hineingeheinmisst«, daß die schärfste Aufmerksamkeit und das reichste Wissen dazu gehören würden, sie alle zu verstehen. Das Geschlecht, welches dem Reichtum dieses Werkes gewachsen war, stirbt aus, und schon jetzt dürften diejenigen, die es auch nur von Anfang bis zu Ende gelesen haben, zu zählen sein. Um so dankbarer ist es zu begrüßen, daß Kuno Fischer in seiner Darstellung Hegels eine glänzende und glückliche Analyse der Phänomenologie gegeben hat, worin er mit seiner gewohnten Klarheit den Entwicklungs- gang des Ganzen deutlich herausgestellt und die einzelnen Zu- sammenhänge ebenso wie die besonderen Gestalten erleuchtet hat. Auf diese ausführliche Entwicklung muß der moderne Leser an dieser Stelle verwiesen werden.

Die Konstruktion der Phänomenologie folgt dem Leitfaden, daß die Reflexion zeigt, wie auf jeder Stufe das Bewußtsein in Wahrheit etwas ganz anderes ist, als es zu sein glaubte, daß daher jedesmal die folgende Stufe das volle Bewußtsein des wahren Inhaltes der vorhergehenden ist, und daß dieser Prozeß erst da endet, wo in der Philosophie das Bewußtsein sich mit seinem eigenen Inhalte vollkommen identisch weiß. Drei Hauptstufen \ werden in dieser Entwicklung von Hegel unterschieden. Der / / primitive Zustand des gegenständlichen Bewußtseins, welcher

/ mit der Gewißheit der sinnlichen Empfindung beginnt, leitet durch

den Prozeß der Wahrnehmung und der verstandesmäßigen Auf- fassung der Dinge hindurch bis zum individuellen Selbstbewußt-

-^1 sein. Dieses wirkt zuerst im Gegensatz zur Außenwelt als das

riiilnoincnologio. 335

zcrstörciulo iiiul daiui als da.s «^ostaltciRlo uihI HolHipferisclic Selbst; OS ziolit sk'li aus dw foindlichon Aulionwolt in Hoine Freiheit, in don .stoischen Trotz seiner lJnan;;reifharkeit zurüek, aber ch ver- zweifelt scldießlieli an sich selbst und unterwirft sich der hi- storischen Autorität. So «^ewituit es den Übcr;2an<c zur Kntwicklun:^ der Vernunft, die auf dem Ikwußtscin der (Jemcinschaft berulit. J y Diese höchste Stufe entwickelt Ifejj^el wieder in drei Formen. Die erste ist das vernünftige Selbstbewußtsein, welches als L'\j beobachtende Vernunft Gesetze der objektiven Welt sucht, aber in der Erkenntnis, daß es nur überall seine eigenen Formen wiederfindet, sich in das praktisclie Ich verwandelt. Dieses be- ginnt damit, die Dinge zu genießen, es lernt im Schicksal ihre Eitelkeit verstehen und erhebt sich als Tugend darüber, um schließlich einzusehen, daß auch in jenem Weltlaufe die höchste Vernunft waltet, und sich dieser objektiven Macht unterzuordnen. So verwandelt sich das vernünftige Selbstbewußtsein in den sitt- 7^^ ~7 liehen Geist. Dessen reine Form ist das griechische Leben mit seinem Aufgehen des Individuums in die staatliche Gemeinschaft. Aber auch hier bricht der Konflikt des Individuums mit der Gattung aus. Das Allgemeine triumphiert als das ungeheure Selbstbewußtsein des universellen Eechts ; und wieder bäumt sich das Individuum gegen die Allgemeinheit auf: es entsteht der Kampf der Bildung und des Glaubens, welcher das Bewußtsein zerreißt und als Aufklärung zum absoluten Terrorismus führt, bis die moralische Weltanschauung die widerspruchsvolle Dialektik der banalen Nützlichkeit und der sittlichen Genialität entwickelt, um in der Religion ihre Vollendimg zu finden. Diese als die Z> J dritte Form der Vernunft verfolgt die Phänomenologie durch die dreifache Entw'icklung als Naturreligion, Kunstreligion und ge- offenbarte Religion, um schließlich zu zeigen, daß die Einheit aller endlichen Dinge mit dem miendlichen Geiste, die auf dem religiösen Standpunkte nur vorgestellt w^ird, in ihrer Notwendig- keit begriffen werden muß, und daß dies die Aufgabe der Philo- sophie ist, für deren kunstvolle Komposition die Phänomenologie nur die Ouvertüre bildet.

Es konnte hier nur durch diese kurzen Sätze angedeutet werden, wie in der Phänomenologie alle Motive der Hegeischen Lehre be- reits kräftiger oder leiser anklingen, und wie aus ihr die Stimmen

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336 Hegel.

der Weltgeschichte in wechsehidem Rhythmus ertönen. Sie er- scheinen durchaus nicht in chronologischer Reihenfolge. Je nach der Verwandtschaft, welche sie zu der einzelnen dialektisch kon- struierten Entwicklungsstufe besitzen, treten bunt durcheinander die Gestalten der antiken Welt, des Mittelalters und der modernen Kultur auf, und Hegels Absicht ist nur die, zu zeigen, daß aus der Fülle aller dieser Gestaltungen heraus die philosophische Er- kenntnis sich als die Selbsterfassung des absoluten Geistes ent- wickeln müsse, der in allen diesen Formen die verschiedenen Seiten seines Wesens ausgelebt und den Reichtum seiner Inner- lichkeit entfaltet hat. Jenes Bewußtsein, welches Schiller pro- klamiert hatte, daß die moderne Kultur in der Zusammenfassuni]j und Ausgleichung der früheren Lebensformen der Menschheit be- stehe, jene Aufgabe, welche die Goethesche Dichtung in ihren reifsten Erzeugnissen löste, erscheint bei Hegel als das Problem der Philosophie. Sie soll alles, was der menschliche Geist in seiner Entwicklung, die auf sie hinzielt, durch alle Formen seiner Betätigung erzeugt hat, in seiner tiefsten Bedeutung verstehen und zu einem Systeme der Welterkenntnis dadurch zusammen- fassen, daß sie alle diese Produkte als die notwendigen Ent- wicklungsformen des Weltgeistes begreift. Wie Schiller die ästhe- tischen Begriffe aus einer geschichtsphilosophischen Konstruktion gewann, so will Hegel in umfassenderer Weise die gesamte Philo- sophie aus dem Zusammenhange der historischen Entwicklung des menschlichen Geistes herausbilden. Das menschliche Selbst- bewußtsein ist der zu sich selbst gekommene Weltgeist, die Ent- faltung des menschlichen Geistes ist die bewußte Selbstcrfassung des Weltgeistes, und das Wesen der Dinge ist aus dem Prozeß zu verstehen, den der menschliche Geist durchgemacht hat, um seine eigene und um damit die Organisation des Universums zu begreifen. Die Hegeische Philosophie betrachtet sich selbst als das Selbstbewußtsein der gesamten Kulturentwicklung der mensch- lichen Gattungsvernunft, und sie sieht in dieser zugleich das Selbst- bewußtsein des in die Welt sich entwickelnden absoluten Geistes. Damit wird diese Philosophie auf der einen Seite zu einer durch- aus historischen Weltanschauung, auf der andern Seite aber gerät sie in eine vollkommen anthropozentrische Welt- betrachtung hinein, indem sie die Entwicklung des menschlichen

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(icistcs als (licjciii^c des » WoltjjjoiHtos« ansioht. So zieht Hc^el die letzte Konsiniueiiz daraiiH, daß das IV)stulat der Identität von Denken und Sein die Organisation der menschlichen Vernunft, die für Kant den urs[)iünglichen Gegenstand der philosophischen biikenntnis bildet-o, in die Organisation der Weltvernunft um- deutete: es ist die äußerste Folgerung aus der Zertrümmerung des~Ding-an-sich-Begriffos, die Fichte gelungen war.

Hegels Logik vollzieht die »Erhebung der Substanz zum Sub- jekt«, indem sie von dem absoluten »Sein« ausgeht, um bei der »Idee« zu endigen und auf diesem Wege das gesamte System der sj^^ Begriffe durch den dialektischen Fortschritt zu entwickeln. Aber*^^^ die Katogorien sind hier nicht mehr die Verknüpfungsformen der Verstandestätigkeit wie bei Kant, sondern vielmehr die objektiven Gestalten des AVeltlebens, in welches sich die Idee durch ihre Selbstentwicklung entfaltet. Selbst wo jene Verknüpfungsformen mit denjenigen der formalen Logik oder mit Kants transzenden- talen Begriffen zusammenfallen, da gelten sie, wie bei Aristoteles, zudeich als die realen Gesetze des wirklichen Geschehens. So wird diese Lo^ik zu dem »Schattenreich der Wirklichkeit«. In der Bewegung des abstrakten Gedankens erzeugen sich die Schemen alles realen Lebens, und in den Evolutionen dieses Balletts der Begriffe soll das Abbild des gesamten Weltprozesses gefunden werden. In das Element der Abstraktion getaucht, sollen die reinen Formen alles Daseins vor dem geistigen Auge hervor- treten

Der erste Teil oder die Lehre vom Sein beginnt mit diesem abstraktesten aller Begriffe, verwandelt ihn in denjenigen des Nichts und findet ihre Verknüpfung in dem, was zugleich ist und noch nicht ist , im Werden : und von da aus gewinnt Hegel durch die Kategorien des Daseins, der Qualität, der End- lichkeit und Unendlichkeit, der Einheit und Vielheit, der Quan- tität und des Maßes schließlich den Begriff des »Wesens«, dessen Entwicklung die Aufgabe des zweiten Teils bildet. Auf diesem ganzen Wege ergibt sich aus der Betrachtung der Kategorien eine stetige Rücksicht auf die Probleme der Naturphilosophie, welche die konkrete Durchführung dieser Begriffe im empirischen Gebiete zu ihrer Aufgabe hat. Die Lehre vom Wesen geht von dem Gegensatze des Wesens und des Scheins zu den Reflexions-

Windelband, Gesch. d. n. Philos. H. 22

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338 Hegel.

begriffen über, durch die jener Gegensatz aufgehoben werden soll, und entwickelt als solche die Identität, den Unterschied, den Widerspruch und den Grund; sie erhebt sich sodann durch das Verhältnis der Erscheinung und der Wirklichkeit zum Absoluten und dadurch zum Gegensatze von Notwendigkeit und Zufällig- keit, der in die Kategorien der Kausalität und der Wechsel- wirkung ausmündet. Der dritte Teil enthält die »subjektive Logik«; er beginnt mit den Lehren vom Begriff, Urteil und Schluß und führt von da zur Kategorie der Objektivität, die sich als Mechanismus, Chemismus und organische Teleologie entwickelt. Darüber erhebt sich die Idee in dem Prozesse des Lebens, dessen höchste Formen die Erkenntnis und die Moralität bilden, um sich von hier aus in der absoluten Idee zu vollenden. Es ist nicht möglich, in dieser kurzen Übersicht die Übergänge zu reproduzieren, welche das eigentliche Wesen des dialektischen Fortschritts aus- machen; denn der Fortgang des Ganzen ist nicht sowohl durch begriffliche Notwendigkeit, als vielmehr durch willkürliche Asso- ziation und durch den stetigen Hinblick darauf bedingt, daß der Voraussetzung nach diese Logik schon den gesamten Inhalt der philosophischen Erkenntnis in nuce und in derselben An- ordnung wie das ganze System enthalten soll. Daraus ergibt sich für Hegel die Nötigung oft sehr künstlicher Vermittlungen, die nur im ganzen reproduziert und nicht auf eine kurze Formel gebracht werden können. Es kommt hinzu, daß Hegels schwierige Sprache gerade auf diesem Gebiete der Abstraktion sich in die größte Dunkelheit verliert, und es kann dem deutschen Leser von heute nur empfohlen werden, in Kuno Fischers Darstellung den Keichtum, womit Hegels Geist dies System der Kategorien ge- woben hat, sich bis ins einzelnste deutlich zu machen; wir be- sitzen darin jetzt eine Übersetzung des Hegeischen AVerkes in das Verständnis der Gegenwart, welche den zahlreichen Versuchen dazu, die schon früher in der ausländischen, namentlich der eng- lischen Literatur gemacht worden waren, weit überlegen ist. Es steht zu hoffen, daß damit die Vorurteile, unter denen Hegels Andenken lange gelitten hat, mehr und mehr zerstreut werden. Denn sowenig man an der Konstruktion des Ganzen festhalten mag, so hat doch noch niemand, der diese Logik verstand, es verkennen können, daß eine unendliche Fülle feinster Wendungen

und ^ruinier ^'ork^ii[)f^Illu» ii oft (Irr sclioinluir lioirroirensfcn DiriL'i' ila?iii nitlialtiMi ist, wodurcli fast iih»MalI auf din ve^cliiodcnstrn (icl)ir(o (los in('ns(hli( licn Wis-sons iibcTraschciulc SchlaL'lichtvr fallen. Und »j;ova(l(* darin bestand die Ixfruclitcndc; Kraft, mit d(^r dioso Loyik auf dic^ iil)ii<j;on WiasrnHcliaftcn g(^wirkt hat. Ho^^cIh Prinzip, daß die Lo<i;ik mit den F(^rmen zut^Ieioh auch den wert- vollsten Inhalt der Erkenntnis zu entwickeln habe, ist <(ewiß luch nicht diejenige Gestalt, in welcher die durch Kants transzenden- tale Analytik begründete »erkenntnistheoretischc Logik« bestehen bleiben kann. Aber nur durch das Festhalten an dem Prinzip der letzteren, daß alle Denkformen nur in der Beziehung auf die Aufgaben des IfUialtcs ihren Sinn haben, kann die Logik im Zu- sammenhange mit der lebendigen Wirklichkeit der menschlichen Erkennt nistätigkeit bleiben. Hegel ist nach Aristoteles und Kant trotz aller Willkürlichkeiten seiner Konstruktion der größte Logiker, den die Geschichte gekannt hat, und er ist wie jene beiden anderen der Beweis dafür, daß eine wahrhaft originelle und schöpferische Behandlung der Logik nur für denjenigen möglich ist, der mit reicher wissenschaftlicher Erfahrung den Ausblick auf die gesamte Arbeit der menschlichen Erkenntnis gewonnen hat.

Am wenigsten originell ist Hegel in seiner Naturphilosophie. fj Er folgt hier wesentlich dem allgemeinen Schema der Schelling- ^y sehen Lehre, verfährt aber, da er hier am w^enigsten mit seinem ,r ^ Interesse, mit semem empirischen Wissen und mit der Gewöh- ^ nung an die diesem Gebiete eigenen Forschungs weisen heimisch ist, noch viel willkürlicher und konstruktiver als sein Vorgänger. Und doch zeigt sich die Tiefe seiner philosophischen Einsicht gerade auf diesem Gebiete darin, daß er die Grenzen der ratio- nalen Deduktion, die es nach seinem Prinzip eigentlich über- haupt nicht geben sollte, in der Tat zwar nicht ausdrücklich, aber doch indirekt scharf und genau bestimmt. Die Natur ist der Geist oder die Idee in ihrem Anderssein. Dieser alkemeine Charakter und scheinbar auch die großen Formen dieses Anders- seins lassen sich aus Hegels Begriff des Geistes als der sich ent- wickelnden Idee ableiten, weil sie im Prinzip schon darin an- gelegt sind. Aber in der Natur ist deshalb überall etwas dem Geiste Fremdes, und dessen besondere Eigentümlichkeit läßt sich nicht deduzieren. Daß überhaupt der Geist sich in diese seine

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340 Hegel,

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Äußerlichkeit verwandelt, liegt nach Hegel in seinem Begriffe. Wie aber diese Äußerlichkeit im besonderen beschaffen ist, das folgt aus dem Wesen des Geistes nicht. Wenn die Hegeische Lehre als die Voraussetzung, daß alles W^irkliche'^vernünftig^und als solches '^erkennbar sei, ihrem Prinzip nach den äußersten Paulo gismus enthält, der je aufgestellt worden ist, so erkennt sie in der Natur selbst die Grenze ihrer Deduktion an; hier kann auch sie nur höchstens die allgemeinen Formen und Ge- setze aus der absoluten Vernunft entwickeln, und sie muß zu- gestehen, daß es in der wirklichen Natur überall einen Rest gibt, welcher sich gegen eine solche Ableitung sträubt und eine unerklärliche Tatsache bleibt, ^gerade wie bei Kant die »Affi- zierung« durch die Dinge an sich und im anderen Ausdruck die »Spezifikation der Natur« oder bei Fichte die »gTundlosen« Handlungen der Selbstbeschränkung des Ich/\ Von seinem Stand- punkt aus drückt Hegel dies so aus, daß die Natur ohnmächtig und zu schwach sei, die Begriffsbestimmungen nur abstrakt zu erhalten, und er nennt sie deshalb das Reich der Zufälligkeit. Die Anwendung dieses Terminus deutet wieder auf die innige Verwandtschaft hin, die zwischen dieser und der Aristotelischen Naturauffassung besteht. Auch in jenem größten System der antiken Philosophie war das begriffliche Verhältnis des Wesent- lichen und des Zufälligen in eine metaphysische Beziehung um- gedeutet worden, und genau so gilt auch für Hegel die dedu- zierbare Gesetzmäßigkeit der Natur als ihre ideelle Notwendigkeit und dieser gegenüber die tatsächUche Besonderheit nur als eine zufällige Nebenbestimmung. Die letztere aber wird von Hegel ebenso wie von Aristoteles unter den teleologischen Gesichtspmikt gebracht, daß ihr Zweck lediglich der sei, die ideelle Notwendig- keit zu realisieren, ohne daß sie jedoch dieser Bestimmung voll- kommen genüge. Die Äußerlichkeit soll ja schließlich von dem Geiste selbst gesetzt sein, damit sein Wesen darin zur objek- tiven Erscheinung kommt. Die besonderen Stufen dieses teleo- logischen Prozesses stellen sich nun bei Hegel in ganz ähnlicher Weise wie bei Schelling dar. Den ersten Teil der Naturphilo- sophie bildet die Mechanik, welche nach der Konstruktion des Raumes, der Zeit und der Synthesis, die beide in der Bewegung finden, die Lehre von der Materie, der Schwere und der Trag-

Naturpliilofiophio. Hl 1

hoit entwickelt und mit der .uif die Gravitiition.sthcoric begrün- deten Auffassung des Sonnensystorns endet. (JharakteristiKch ist dabei die geozentrische Konstruktion iU^a Sonnensystems, mit der ]Iegel auch auf die entsprechenden Theorien der Schellingschen Naturphih)sophie eingewirkt zu haben scheint, fn der Physik kommen sodann die besonderen Erscheinungen des materiellen Daseins zur S[)rache. Es wird von den kosmisclien Grundver- hältnissen und dem meteorcdogischen Zusammenhange der Ele- mente, darauf von dem spezifisclien Gewichte, von der Kohäsion, vom Magnetismus und von der Kristallisation, endlich von der Elektrizität und dem Chemismus gehandelt, und dabei werden in diese dialektischen Konstruktionen auch die spezifischen Wir- kungen der Dinge auf die menschlichen Sinne, die akustischen, thermischen und optischen Verhältnisse und die Lehre vom Geruch und Geschmack eingeflochten. Der dritte Teil, die Organ ik, beginnt mit der Darstellung des Gesteins- und Stofflebens der Erde, entwickelt den Gegensatz des Pflanzen- und des Tierreichs und bespricht schließlich die Gestaltung, die Assimilation und die Reproduktion als die drei Grundformen des animalischen Prozesses. Die Untersuchung schließt mit einer Betrachtung des Verhältnisses, in welchem das organische Individuum zu seiner Gattung steht. Darin kommt die ganze Grundauffassung noch einmal leuchtend zutage. Die ideelle Notwendigkeit und Ver- nünftigkeit ist nicht im Individuum, sondern nur in der Gat- tung zu suchen. Wie für Schelling, so ist auch für Hegel das Individuum nur ein Durchgangspunkt in dem Leben der Idee, die darin erscheint; aber er legt das Hauptgewicht darauf, daß der Gattungsbegriff in keinem Individuum vollständig und rein zum empirischen Dasein kommt. Jedes Individuum trägt in seiner Abweichung vom Gattungsbegriff das Moment der Zu- fälligkeit in sich, es erfüllt den Zweck, ein Träger der Gattungs- idee zu sein, nicht vollkommen, und diese seine »Unangemessen- heit zur Idee« ist seine »ursprüngliche Krankheit« und der wahre Grund seines Todes. Die Individuen Q;ehen daran zu- gründe, daß sie ihre Aufgabe, die in ihrem Gattungsbegriffe liegt, nicht erfüllen. Dies ist die bedeutendste Form, welche die Platonische Ideenlehre bei ihrer Aufnahme in den deutschen Idealismus gefunden hat. Die Gattuno'sbeoriffe sind hier nicht

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Heffel.

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wie bei Piaton eine selbständige, für sich existierende Welt der reinen Formen, sondern vielmehr ähnlich wie bei Aristoteles die ideellen Mächte, welche das empirische Dasein teleologisch be- stimmen; sie bilden den ideellen Zweck, der niemals vollkommen erfüllt wird, und der doch den Lebenstrieb und die Lebenskraft aller der Erscheinungen enthält, in denen nacheinander immer von neuem seine Verwirklichung versucht wird. Der Fichtesche Grundgedanke, daß das nie reale Ideal den Grund aller Eealität in sich trägt, ist zum Prinzip der Auffassung des organischen Lebens geworden und damit der Aristotelische Grundbegriff der Entelechie' auf dem Boden des Idealismus zu neuer Fruchtbar- keit gekommen. Wenn man heutzutage diesen Lehren ferner als je zu stehen glaubt, so sollte man anderseits anerkennen, daß, solange die organische Naturforschung selbst an der Realität ihrer Klassen-, Gattungs- und Artbegriffe festhielt, eine philo- sophische Behandlung dieses Verhältnisses nicht großartiger ge- dacht werden konnte, als es hier von Hegel geschah : und wenn man heute davon zu reden gewohnt ist, daß nicht nur diejenigen Individuen, sondern auch diejenigen Arten der Gefahr des Unter- gangs mehr als andere ausgesetzt sind, bei denen die zufällige Variation eine unzweckm.äßige, d. h. den Lebensbedingungen der Gattung weniger entsprechende Richtung eingeschlagen hat, sollte man da bei aller Verschiedenheit des Ausdrucks so sehr weit von jenem Hegeischen Gedanken entfernt sein, der Unter- gang des Individuums entspringe aus seiner Unangemessenheit zur Idee der Gattung? Die Sprachen der Naturphilosophie von heute und derjenigen vom Anfang des vorigen Jahrhunderts klingen sehr verschieden; aber was sie darin sagen, ist vielleicht so verschieden nicht, wie es diejenigen anzunehmen geneigt sind, welche sich nie die Mühe gegeben haben, jene geschmähte ältere Naturphilosophie kennen zu lernen.

Den dritten Hauptteil des Hegeischen Systems bildet die Philosophie des Geistes. Es ist derjenige, in welchem die hauptsächlichste und die weitestgreifende Bedeutung seines Den- kens sich entwickelt. Auch die triadische Gliederung ist hier am glücklichsten durchgeführt und findet in den tatsächlichen Verhältnissen so viel Verwandtschaft, daß die Gegenstände durch die Konstruktion \nel weniger vergewaltigt, häufig sogar in das

I)or objektive Geist. H43

allerknifti}j;sic und iciiistii Licht ^«bracht würden. Die; drei Knt- wickluii«;sf()rinen den (Jcistes sind der subjektivem oder individuelle, der objektive oder allgemeine und der absolute oder göttliche Geist. ])ie Psychologie als den ersten Abschnitt der Geistes- JM

j)hilosophie hat Hegel in der Enzyklopädie nur scheniatisch skiz- ziert, erst seine Vorlesungen und die Werke seiner Srhiiler haben dies Gerippe mit Fleisch und JMut umgeben, ihre Aufgabe ist die, das psycliische Leben des Individuums durch alle Stufen seiner Entwicklung hindurch von der ersten Bedeutung, welche die" Seele als Entelechie des organischen Leibes hat, bis an den Punkt zu verfolgen, wo sie ihr innerstes Wesen in ihrer Iden- tität mit dem allgemeinen Geiste erkennt. Hegel behandelt des- halb in der »Anthropologie« die natürliche, die fühlende und // 1 die in der bewußten Vorstellung zur vollen Wirklichkeit gelan- gende Seele, in der »Phänomenologie« den Prozeß, durch welchen das Bewußtsein in Selbstbewußtsein und Vernunft übergeht, end- lich in der engeren »Psychologie« die Entwicklung der Vernunft > t j auf der theoretischen und der praktischen Linie: sie endet zu- ^ letzt darin, daß der selbstbewußte freie Wille als die Einheit der theoretischen und der praktischen Vernunft sich zugleich als die allgemeine, überindiyiduelle Vernünftigkeit, als den objektiven Geist weiß.

Was Hegel unter dem objektiven Geiste versteht, darf man als die Vernunft im menschlichen Gattungsleben bezeichnen. ^/ Unter diesen Begriff, dessen literarische Ausführung er nicht ^r^ ^ \ glücklich unter dem Namen der »Rechtsphilosophie« zusammen- faßte, gehören deshalb alle die Institutionen der menschlichen r t / J Lebensgemeinschaft und alle die Prozesse der individuellen und ^/^

der allgemeinen Entwicklung, \velche die Ausprägung der Gat- tungsvernunft in dem wirklichen Leben der Gattung zu ihrem Inhalte haben. Hegels Lehre vom objektiven Geiste umfaßt daher im weitesten Sinne das ganze Gebiet, für w^elches heute der geschmacklose Name Soz^olo^e üblich geworden ist. Es handelt sich darum, die Entwicklungsformen zu begreifen, in denen die Freiheit des Geistes sich im wirklichen Menschenleben realisiert. Die niedrigste dieser Formen ist nach Hegel das ab- strakte Eecht oder das sogenannte Naturrecht. Es ist die Fest- stellung derjenigen äußeren Lebensformen, welche die allgemeine

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344 Hegel.

conditio sine qua non für das gemeinsame Leben der zur Frei- heit bestimmten Geister bilden. Dieses »An-sich« der Gattungs- vernunft oder des objektiven Geistes wird als Eigentumsrecht, Vertragsrecht und Strafrecht deduziert. Das letztere kann, da das Hegeische Naturrecht für seine Geltung den Begriff des Staates noch nicht voraussetzt und ebensowenig an das mora- lische Bewußtsein appelliert, nur auf eine logische Notwendigkeit zurückgeführt werden und wird daher aus dem dialektischen Ver- langen abgeleitet, daß das Eecht, wenn es durch das Unrecht aufgehoben worden ist, durch die Aufhebung des letzteren wieder hergestellt wird. Dieser Triumph des Rechts über seine Ver- letzung, diese ^Negation der Negation des Rechts ist die Strafe.

Der Legalität steht nach Kantischem Prinzip die Moralität gegenüber. Betrachtet jene die rein äußerhchen, so diese die rein innerlichen Formen des objektiven Geistes, und Hegel be- handelt hier im Sinne dessen, was man sonst Moral nennt, die Prozesse des subjektiven Geistes, durch welche dieser seinen Willen dem objektiven Geiste unterwirft. Es ist eine tiefe Weis- heit des Philosophen, die Ethik nicht vom subjektiven, sondern vom objektiven Standpunkt aus zu behandeln; gerade der Sub- jektivismus der Kantischen und der anfänglichen Fichteschen Moralphilosophie hat gezeigt, daß das Prinzip der Ethik über dem Individuum zu suchen ist. Aus dem individuellen Ich sind das sittliche Bewußtsein imd die sittliche Gesetzgebung niemals abzuleiten; sie wurzeln vielmehr in dem Verhältnis, worin sich ^ fL^ das Individuum der , allgemeinen/ Vernunft untergeordnet weiß. Der Inhalt der sittlichen Gesetzgebung ist aus ihrer subjektiven Form nur scheinbar zu deduzieren, in Wahrheit beruht er auf der Gattungsvernunft, imd diese überindividuelle Abstammung ist auch der einzige Grund seines imperativischen Charakters. Für diesen Standpunkt ist daher die Lehre von der Moralität auf die Untersuchung der subjektiven Vorgänge beschränkt, die ,i, sich im Individuum auf Grund seines Bewußtseins vom objek- iv ^ .\^>^ tiyen Geiste vollziehen; in diesem Sinne behandelt Hegel den \y Vorsatz und die Schuld, die Absicht und das Wohl, das Gute

und das Gewissen.

Das Wesen des objektiven Geistes aber vollendet sich erst darin, daß seine äußerliche und seine innerliche Form sich decken.

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StuatHlohre. .'{45

Diese Syntlioso von Lcf^alitiit und Moraliliit nennt llej^el die Sittlichkeit, welclie also aiisdriicklich von der Moralität unter- schieden wird. Sie umfaßt alle diejeni<;en Institutionen des Menschenlebens, welche die (uittungsvernunft zur Realisierung^ in dem äußeren Zusammenleben bringen, in denen sich deshall) der rechtliche und der moralische (^harakter gleichmäßig aus[>rägt, die Institutionen, welche das wertvollste Recht darstellen, indem sie das äußerliche Zusammensein auf die moralische Überzeugung gründen, und welche zugleich die vollendete Moralität bilden, indem sie die Herrschaft der Gattungsvernunft zum Prinzip der äußeren Organisation macheu. Als die Grundform dieser Sitthch- keit behandelt Hegel die Familie und verlegt daher erst an diese Stelle die Lehre von der Ehe, das Erbrecht und die Theorie der Kindererziehung. Als die zweite Stufe der Sitthchkeit erscheint die Gesellschaft. Hier wird das System der Bedürfnisse, die c '-/ Rechtspflege und die soziale Funktion der Polizei und der Kor- porationen besprochen. Die Vollendung der Sittlichkeit endlich und die konkrete Realisation der sittlichen Idee ist für Hegel der Staat. An keiner anderen Stelle seiner Lehre tritt das antike Moment seines Denkens so klar und so vollendet hervor wie hier. Wenn unsere großen Dichter ihre wertvollsten ästhe- tischen Überzeugungen aus der innerlichen Neuschöpfung des Hellenismus gezogen haben, so leistete Hegel dasselbe auf dem pohtischen Gebiete. Während selbst ein Mann wie Fichte erst allmählich dazu kam, dem PoHzeistaate, welchen die Wirklich- keit ihm darbot, höhere und zuletzt ethische Aufgaben zuzu- schreiben, so ist Hegel von Anfang an von dem antiken Ideal erfüllt, daß der Staat die lebendig gewordene Gattungsvernunft des Menschen sein solle. Für den antiken Menschen war das Staatsleben die Konzentration aller seiner wesentlichen Interessen. Der gesamte Inhalt des gemeinsamen Geisteslebens prägte sich in ihm aus. Weder Wissenschaft noch Kunst noch Religion, vor allem aber auch nicht der individuelle Lebensgenuß führten neben dem griechischen Staate ein Sonderdasein. Das im Staate ge- ordnete gemeinsame Leben war der alles umfassende Ausdruck für die höchsten Interessen, die das Individuum bewegten. So haben Piaton und Aristoteles das Idealbild des antiken Staates gezeichnet, und sowenig manchmal die historische Wirklichkeit

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346 Hegel.

ihm entsprochen haben mochte, so idealisiert sich doch für Hegel ebenso wie für Schiller das im Staate konzentrierte Gesamtleben des Altertums zu einem »lebendigen Kunstwerk«, das der Philo- soph an verschiedenen Stellen seiner Werke und seiner Vorlesungen mit begeisterten Zügen geschildert hat. Je weiter das politische Leben seiner Zeit von diesem Ideal abstand, um so gTÖßer ist das Verdienst seiner Lehre, welche die staatlichen Institutionen als das Fleisch und Blut gewordene Gattungsleben des Menschen und als die ideelle Konzentration aller derjenigen Interessen be- zeichnete, durch welche das Individuum sich über sich selbst hinaus zur Gattungs Vernunft potenziert. Kant hatte die voU- koromene Staatsverfassung für den Zweck des historischen Pro- zesses erklärt ; Herder hatte entgegnet, daß das nur eins der Momente in der gesamten Kultur entwicklung sei, die das Wesen der Geschichte ausmache. Hegel vereinigt diese Gegensätze, indem er den vollkommenen Staat als die Organisation betrachtet, in welcher die gesamte Kulturtätigkeit des Menschen ihre zentrale ReaHsation und der »allgemeine Geist« seine äußere Verwirk- lichung findet. In dieser Hinsicht bezeichnet Hegels Staatslehre in der Geschichte des deutschen Geistes den Moment, in welchem dieser zur Schätzung des sittlichen Wertes des Staatslebens zurück- kehrt. Während bei Fichte diese Erkenntnis erst allmählich heranreifte, ist Hegel vermöge seiner durch und durch antiken Überzeugung davon anfangs sogar mit einer Überschwenglichkeit erfüllt, welche ihn im Staate geradezu den »absoluten Geist« selbst finden läßt.

Von diesem antiken Staatsideal, das die Gesamtheit aller Werte in sich beschließen sollte, ist Heojel in seiner eisjenen Ent- Wicklung erst allmählich zum Verständnis des modernen Staates fortgeschritten. Je mehr er begriff, daß sich über dem objektiven Geiste, den der Staat verwirklicht, der absolute Geist in den Formen von Kunst, Rehgion und Wissenschaft aufbaut, um so freier wurden auch in seiner Auffassung diese Kulturtätigkeiten vom Staat, und um so mehr beschränkte sich ihm dessen Auf- gabe wieder auf die Realisierung der sittlich- politischen Inhalte des empirischen Gesamtgeistes. Aber auch so gelten ihm in der »Rechtsphilosophie« die staatlichen Institutionen, welche das innere Staatsrecht behandelt, als die volle Ausprägung des Volks-

StuatBphiluHophic. ;{47

«!;eistes, und die Staat sverfassung, die er auH dichcni Begriffe konstruiert, ist im wesentlichen die konstitutionelle Mc^narchic worin der Volksjj;eist selbst die gesetzgebende Macht sein Holl. Allein Hegel ist von dem objektiven Werte, den die staatlichen Institut ioni*n als der Ausdruck des allgemeinen Geistes haben, so sehr erfüllt, daß er den zufällig zustande gekommenen Majori- täten des Augenblicks und ihren subjektiven Überzeugungen nicht das Recht einräumen kann, an den wesentlichen Grundlagen des Staatslebens zu rütteln. J)er (leist des Volkes spricht nicht im Wechsel des Tagesmeiuung noch in der Willkür parlamentarischer Stimmführer, sondern in dem festen Gefüge, welches der Staats- \\ bau tlurch seine kontinuierliche Entwicklung besitzt. Mit dieser historischen Auffassimg ist Hegel echt konservativ und vor allem durch und durch antirevolutionär. Der chemaüge Schwärmer für die französische Revolution, der in Tübingen als der wildeste Jacobiner und als Schüler Eousseaus galt, hatte den Schwerpunkt seiner Weltauffassuntif in dem Begriffe der Entwicklung gefunden, und gegenüber dem Bruch mit der Geschichte, der das letzte Resultat der Aufklärung war, hatte er eingesehen, daß die Ver- nunft nur in dem historischen Fortschritte walte. So konnte er in gewissem Sinne wegen dieser prinzipiellen Anerkennung für das Recht des historisch Gewordenen als der Philosoph der Restaurationszeit gelten, und so erklären sich mancherlei Angriffe, welche weniger der echte als der radikale Liberalismus gegen ihn gerichtet hat. Wenn er aber "erade in der Vorrede zu seiner Rechtsphilosophie jenen typischen Ausspruch tat: Alles was ist, ist vernünftig, so konnten mir solche, die ihn mißverstanden oder nicht verstehen wollten, dies Wort dahin deuten, als ob nach seiner Meinung alle bestehenden Institutionen als absolut ver- nünftig gelten und deshalb so, wie sie sind, festgehalten werden sollten. Von einem solchen bornierten Konservativismus, den ihm Anhänger oder Gegner imputierten, ist bei Hegel keine Rede. Wer seine Lehre kennt, weiß, daß ^Vernunft für ihn mit Ent- wicklung^ identisch ist, und daß die W^irklichkeit für ihn nur in dem Sinne als vernünftig gelten kann, als sie den notwendigen Prozeß einer Entwicklung darstellt, in welcher die ursprüngliche Anlage, d. h. in diesem Falle der Gesamtgeist des Volkes zur vollen Verwirklichung kommt. Was Hegel bekämpft, ist nicht

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die Reform, sondern die Revolution, es ist der Wahn, als könne man die Notwendigkeit des historisclien Prozesses durch die Dekrete doktrinärer Willkür ersetzen. Wie Lessing und Kant an Stelle der Aufklärerei die allmähliche Selbstbefreiung des denkenden Geistes, so will Hegel an die Stelle des radikalen Fanatismus die vernünftige Entwicklung setzen. Auf dem politischen Gebiete selbst betätigt er den historischen Sinn, der in der Bewegung des deutschen Geistes während jener Jahrzehnte vielleicht das kräf- tigste und fruchtbarste Ferment gewesen ist.

Derselbe Sinn kommt nun an dem Abschlüsse der Lehre vom objektiven Geist in der großartigsten Weise zutage. Dem inneren Staatsrechte steht das äußere als die Lehre von der Souveränität des Staates in seinem Verhältnis zu anderen Staaten gegenüber, und es vermittelt so den Übergang zu der letzten und ab- schließenden Synthese. Die wahre Verwirklichung der Idee des Staates ist nicht in einem einzelnen wirklichen Staate, sondern in der historischen Entwicklung der gesamten Menschheit, in der Weltgeschichte zu suchen. Sie erst ist die volle Verwirk- lichung des objektiven Geistes. Die »Rechtsphilosophie« voll- endet sich in der » Philosophie der Geschichte «. Hegels Grund- gedanke darin ist, zu zeigen, wie im historischen Prozesse der Weltgeist sich in den verschiedenen Formen der einzelnen Volks- geister sukzessive entwickelt hat. Jede Periode der Geschichte ist dadurch charakterisiert, daß in ihr ein besonderes Volk die leitende Stellung einnimmt und in seinem ganzen Leben den In- halt zur Darstellung bringt, den der Gesamtgeist auf dieser Stufe in sich selbst erfaßt hat. Wenn ein Volk diese Aufgabe erfüllt hat, so beginnt die Zeit seines Niederganges ; es tritt in die Dunkel- heit, aus der es zur Herrschaft hervortrat, zurück und übergibt das Zepter an ein anderes Volk, dem einst dasselbe Schicksal be- stimmt sein wird. Der Untergang der Völker beruht darauf, daß sie ihre Mission erfüllt haben, und daß für die neue Ent- wicklimg eine neue Kraft als Träger erforderlich ist. Aus diesem Gesichtspunkte konstruiert Hegel die vier großen Perioden der Geschichte: die orientalische, die griechische, die römische und die germanische Welt, und sein Bestreben ist darauf gerichtet, das Gesamtleben jeder dieser Perioden derartig zu erfassen, daß der notwendige Zusammenhang, worin die Äußerungen des Volks-

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Tioliro vom absoluten (JcIhI; Ästhetik. 349

<;oiytcs auf allen Gebieten niiteinundor stehen, au« dein innersten Wesen der Entwiekluni^spluise he^^riffen worden soll. Seine Phi- losopliie der Cescliiclife stellt ein Ideal der Kulturgeschichte auf,^ in der die historischen Tatsachen nicht mehr äuUerlich zuKainmcn- gestellt inid nicht nur in ihrer pragmatischen und kausalen Ver- mittlung erzählt, sondern als notwendige Entwicklungsformen des allgemeinen Geistes erkannt werden. Manche Mißgriffe mögen in diese Konstruktion eingelaufen sein; im allgemeinen bewährt Heo;el nirgends mehr als hier die Sicherheit seines historischen Verständnisses, welches die Auffassung der Geschichte noch heute überall beherrscht, wo sie sich von der Einzelforschung zu dem großen Gange des Ganzen erheben will. Und jenes »ungeheure Schauspiel«, welches seine Geschichtsphilosophie entrollt, worin man »von der Höhe des Staatsbegriffes die einzelnen Staaten als ebenso viele Flüsse sich in das Weltmeer der Geschichte stürzen sieht«, ist noch immer die vollkommenste Darstellung, welche wir von dem Sinn der Gesamtentwicklung unseres Geschlechts besitzen.

Der allgemeine Geist, dessen einzelne Inhaltsbestimmungen in der historischen Entwicklung zur Wirklichkeit werden, ist, in seiner Totalität zusammengefaßt und in seiner Einheit gedacht, der absolute Geist. Er entwickelt sich in drei Formen: als Anschauung m der Kunst, als Vorstellung in der Religion, als Begriff in der Philosophie. Das ästhetische, das rehgiöse und das philosophische Leben sind nur die verschiedenen Aus- gestaltungen desselben absoluten Prinzips. Der romantische Grund- gedanke kommt hier in einer systematischen Gestalt als der Ab- schluß des Hegeischen Systems zur Geltung. Was zunächst die Ästhetik anbelangt, so ist das Schöne die Anschauung des ab- soluten Geistes insofern, als es die volle Identität der Idee und der Erscheinung enthält, und so geht auch Hegel auf diesem Gebiete von der Auffassung des Identitätssystems aus, die ihren letzten Ursprung in Schiller hat. Deshalb ist auch bei ihm das Kunstschöne oder das » Ideal « der wesentliche Begriff, für dessen Entwicklung das Naturschöne nur als ein dialektisches Moment betrachtet wird. In der Erzeugung der besonderen Formen des Kunstschönen folgt Hegel sodann durchaus der von Schiller be- gründeten geschichtsphilosophischen Konstruktion. Die Einheit

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350 Hegel.

der Idee und der Erscheinung hat drei Grundformen: die symbolische welche die Idee in der Erscheinimg nur ahnen läßt, die klassische, welche diese Einheit in voller Naivität darstellt, und die romantische, die den bewußten Gegensatz der Idee und der Erscheinung wieder versöhnt. Die Symbolik verfolgt Hegel durch ihre unbewußten Gestalten, die er in den orientalischen Schöpfungen findet, bis zu den Formen, in denen sie die Natur als die Andeutung der göttlichen Erhabenheit betrachtet, und stellt dann in der Fabel, in der Allegorie und der beschreibenden Poesie die dieser Stufe entsprechenden besonderen Kunstformen auf. Das klassische Ideal entwickelt sich aus den Tiergestalten zur Vollendung der olympischen Götter und findet seine Auf- lösung in der satirischen Einsicht von der Vermenschlich ung des göttlichen Prinzips, die darin enthalten war. Wie bei Solger, nimmt also auch bei Hegel diese ganze Konstruktion eine wesent- lich religiöse Tendenz; der Zusammenhang des Kunstlebens mit der religiösen Ent^vicklung prägt den besonderen ästhetischen Be- griffen fast überall eine religiöse Eedeutung auf, und so wird auch das romantische Prinzip zuerst aus dem christlichen Bewußtsein entwickelt. Es tritt sodann die Erscheinung des Rittertums hinzu, um die Abenteuerlichkeit der romantischen Kunstformen zu be- gründen, und den Abschluß dieser Reihe bildet der Begriff des Humors als der frei und objektiv über dem Stoffe schwebenden Subjektivität. Liegt darin etwas von dem romantischen Grund- prinzip der Ironie, so zeigt sich dabei anderseits, wie Hegels kühle, durch und durch sachliche Persönlichkeit sich weit über den will- kürlichen Subjektivismus der Romantiker erhob. Es ist außer- ordentlich charakteristisch, daß ihm die abschließende Kunstforni eben jene völlige Ruhe des Humors bildet, von der die Roman- tiker mit allem Witz und aller Ironie kaum einen Tropfen in sich hatten. Als dritten Teil endlich üibt seine Ästhetik ein System der Künste, das auf demselben Grundriß aufgebaut ist; als die symbolische Kunst erscheint die Architektur, in welcher die Beziehung auf den geistigen Inhalt nur angedeutet ist ; als die klassische die Slailptur, durch welche die geistige Individua- lität in ihrer vollen sinnliclien Gestalt wiedergegeben wird; als die romantischen Künste die Malerei, die Musik und die Poesie, welche den allgemeinen Gehalt des Bewußtseins in den Formen

RpliKionHi)hilo(io|)hio. Hf) 1

des Bildes, des Tones und am vollendeUstcn der Spraclie zur ad- äquaten siindichcn Ersclieinun«f ])rin^en.

Das Wesen der Religion besteht darin, eine Vorstellung des absoluten Geistes zu sein. Das tief iihl wird dedialb von He^^^el (jnit sichtlicher Polemik gep^en Schleiermacher) nur zu einem Moment in dem dialektischen Prozeß der P^ntwicklung des Begriffes der Religion herabgesetzt, und es werden die besonderen Religionen aus den Vorstellungsstufen konstruiert, welche der absolute Geist im menschlichen Bewußtsein annimmt. Die erste dieser Formen der »bestimmten Religion« ist die Naturreligion. Sie ist zunächst eine Rehgion der Zauberei, dann, wie bei den Indern, eine solche der phantastischen Naturauffassung und sie weist über sich selbst liinaus, indem sie im Lichte die Macht des Guten ahnt oder, wie in der ägyptischen Symbolik, die Rätselhaftigkeit der tierischen Gestalten zum Bewußtsein bringt. Die zweite Stufe ist die Re- ligion der geistigen Individualität, welche sich als diejenige der Erhabenheit bei den Juden, als diejenige der Schönheit bei den Griechen, als diejenige des Verstandes oder der Zweckmäßigkeit bei den Römern entwickelt. Die höchste Stufe ist die absolute oder die cbiistliche Religion. Hier erscheint Gott als das, was er ist, als der ,, absolute Geist. Er erscheint deshalb in der Ge- stalt der TrmiJbät. Denn der absolute Geist ist einerseits die ewige Idee, welche sich in der Welt entwickelt: als solche ist er der Vater. Er ist anderseits die zum Bewußtsein gekommene, ganz in die Vorstellung eingegangene Idee: als solche ist er der Sohn, der mit dem Vater eins ist. Er ist endlich die als der allgemeine Geist der Gemeinde in ihr waltende und in ihrer äußeren und inneren Gemeinsamkeit sich reaHsierende Idee: als solche ist er der Geist. Mit dieser spekulativen Umdeutung der christlichen in die absolute Religion schUeßt die Hegeische Re- ligionsphilosophie. Diese Umdeutung selbst weist auf die mancher- lei Versuche zurück, die seit Lessing in der deutschen Philosophie gemacht worden waren. Aber sie war in dem Hegehchen Systeme deshalb notwendig, weil hier nach dem allgemeinen Prinzip der Entwicklung das letzte und höchste Produkt der Religions- geschichte als die vollkommene Verwirklichung der religiösen Idee angesehen werden mußte. Freilich scheint es Hegel völlig entgangen zu sein, daß in diesem seinen dialektischen

352 Hegel.

Systeme der Religionen der Islam keine Unterkunft finden konnte. , Was nun endlich die Kunst als Anschauung, was die Religion

( 0 ) als Vorstellung, das soll die Philosophie als Begriff enthalten. / Aber auch sie löst ihre Aufgabe nur in ihrer historischen Ent- wicklung. Die Geschichte der Philosophie ist deshalb der abschließende Teil des Hegeischen Systems. Gerade darum soll auch sie eine philosophische Wissenschaft sein; sie darf sich weder damit begnügen, die Meinungen der Philosophen zu erzählen, noch auch zu erforschen, wie diese im einzelnen dazu gekommen sind, sondern sie hat die ideelle Notwendigkeit dieser Entwicklung zu begreifen. Diese ideelle Notwendigkeit besteht aber darin, daß die einzelnen Momente, die erst in ihrer konkreten Zu- sammenfassung den Begriff des absoluten Geistes ausmachen, in der Entwicklung des begrifflichen Denkens sukzessive ebenso zur Geltung gekommen sind, wie die vollendete Philosophie diese Kategorien in ihrem System entwickeln muß, und wie anderseits der absolute Geist diese verschiedenen Seiten seines Wesens, in der Reihenfolge der historischen Erscheinungen ausgelebt hat. Daraus ergibt sich für die Geschichte der Philosophie jener doppelte Parallelismus, der schon in der Phänomenologie an- gedeutet war und teilweise zur Geltung kam. Die Systeme der Philosophie müssen einerseits den Kategorien der Logik ent- sprechen, welche ja die abstrakte Ausbreitung des Inhaltes des götthchen Geistes enthalten sollte, und müssen anderseits das Bewußtsein des wesentlichen Gehaltes derjenigen Perioden der Kulturgeschichte in sich tragen, aus denen sie entstanden sind. Jener erste Parallelismus hat nun in der Tat die Hegeische Kon- struktion gelegentlich verleiten müssen, mit dem tatsächlichen Material der Geschichte der Philosophie teils hinsichtlich seiner Deutung, teils hinsichtlich der chronologischen Anordnung etwas gewaltsam umzuspringen, und dies wäre noch gefährlicher ge- worden, wenn sich nicht anderseits nachweisen ließe, daß Hegel von dieser Anschauung aus von vornherein schon den dialek- tischen Prozeß der Logik im Hinblick auf diesen seinen historischen Doppelgänger angelegt hat, so daß die Übereinstimmung nachher keine Schwierigkeiten finden konnte. Um so bedeutsamer ist der zweite Parallelismus. Hegel hat zuerst eingesehen, daß jedes

Üeschichto der l'hilosophie.

:\bH

Systoni der Philosophie ein n()twen(li<^'es Prcxlukt des mcnsch- liclien Denkens und eine notwendige Stufe in seiner Entwicklunrr ist; er hat zwar mit der einseitigen Betonung dieser ideellen Notwendigkeit die Ikdeutung Mer individuellen Vermittlungen, durch welche sie sich realisiert, entschieden unterschätzt und damit der Meinung Vorschub geleistet, als ließen sich alle Lehren eines philosophischen Systems jedesmal als die logischen Kon- sequenzen aus der Grundidee ableiten, die ihm seine charak- teristische Stellung innerhalb der Gesamtentwicklung anweist. Aber er hat anderseits den Ged.mken zur Geltung gebracht, daß jedes der philosophischen Systeme einen Versuch enthält, sich des gesamten Inhaltes, den der menschliche Kulturgeist auf der be- treffenden Stufe seiner Entwicklung erreicht hat, in begrifflicher Konzentration bewußt zu werden. Mag auch dann die Ausführung dieses Versuches noch so sehr von der Individualität des Philo- sophen und seiner persönlichen Stellung abhängig sein, so sind doch immer die in seinem System verwobenen Gedankenmassen dieselben, welche den Gehalt der zeitgenössischen Bildung aus- machen, und so wird jedes philosophische System trotz seiner individuellen Bedingtheit zu einem Spiegel des Kulturzustandes, aus dem es hervorging. Die Geschichte der Philosophie so auf- zufassen, hat die deutsche Wissenschaft von Hegel gelernt. Das ist eins seiner größten Verdienste; es ist zugleich die Richtung, in der er die bedeutendsten Schüler «ehabt hat. Die Geschichte der Philosophie ist die fortschreitende Selbstbewußtwerdung des menschlichen Kulturgeistes. Hieraus allein, folgert Hegel, kann die^ Wahrheit der philosophischen Systeme beurteilt werden. Die stetige Veränderhchkeit, w^elche die Philosophie in ihrer Geschichte aufweist, erklärt sich aus der stetigen Veränderlichkeit des Ob- jekts, das in ihr zum Selbstbewußtsein kommt: des Geistes selbst. Jedes System ist wahr, insofern es einen bestimmten Entwick- lungszustand oder ein Moment der selbst in der Entwicklung begriffenen Wahrheit zum Bewußtsein bringt; es ist unwahr, in- sofern es dies Moment in seiner Einseitigkeit festhält und in ihm allein das Absolute gefunden zu haben meint. Die volle Wahr- heit ist die entwickelte, diejenige, welche alle diese einzelnen Momente in der dialektischen Notwendigkeit erzeugt und sie in die konkrete Einheit zusammenfaßt. Die Abstraktion, die eines

Windelband, Gesch. d. ii. Philos. II.

23

ou

r

354 Hegel.

dieser Momente isoliert, ist immer nur die halbe Wahrheit. In diesem Sinne begreift nun die Hegeische Philosophie sich selbst als den Schlußstein der Entwicklung; ihre historische Grund- anschauung besteht eben darin, daß sie alle Momente der Wahr- heit, welche in der Entwicklung gesondert und teilweise in feind- lichem Gegensatze zueinander aufgetreten sind, in sich aufnimmt und als die notwendigen Formen der Entwicklung begreift, um sie in ihrer Totalität zusammenzufassen und dadurch jedem seine Stellung im Ganzen zu bestimmen. In der Tat ist die Hegeische Philosophie mit ihrer umfassenden Systematisierung die Ver- arbeitung des ganzen Gedankenstoffes der menschlichen Geschichte, und darin besteht ihre universelle und bleibende Bedeutung. Das historische Denken ist bei Hegel ohne die skeptische Konsequenz der absoluten Relativität aller Systeme; es hat vielmehr den Mut, den ganzen Prozeß der Gedanken qait all«»^ seinen Widersprüchen aufzunehmen und als die integrierenden ^Bestandteile seiner eigenen höchsten Wahrheit zu proklamieren. Diese Anerkennung enthält zugleich die Kritik dieser höchsten Gestalt, welche der deutsche IdeaUsmus gefunden hat. Denn die Synthese aller übrigen Systeme kann sich nur deshalb für das absolute System halten, weil Hegel von der Ansicht ausgeht, daß in der Entwicklung des menschlichen Geistes der ^^ absolute Geist selber seine höchste Entfaltung findet. In Hegels Geschichts- philosophie, Rehgionsphilosophie und Geschichte der Philosophie führt nicht nur fortwährend der menschhche Kulturgeist den Namen des »Weltgeistes«, sondern er wird auch tatsächlich als solcher betrachtet. Darauf allein beruht schließlich die schöne Harmonie dieses Systems, daß die notwendigen Entwicklungs- formen des menschhchen Geistes als diejenigen des Universums gelten. Hegels absoluter Geist ist in Wahrheit der menschhche Geist. Darin besteht die weite Kluft, die ihn von Kant trennt. Achtet man darauf, so begreift man auch die dialektische Methode in ihrer innersten Bedeutung. Hat das menschliche Denken sein Maß nur an sich selber, ist es wirklich das^ absolute, so ist seine eigene notwendige Entwicklung auch die ,)Vahrheit. Die psycho- logische Notwendigkeit aber des menschlichen Denkens bringt es mit sich, daß seine Entwicklung darin besteht, die Vorstellungen in Fluß zu bringen, sie ineinander übergehen und sich durch die

Der IrnitionaliRnm». 355

Fülle der Vcrinittlun^on iiUMiiaiuler verwandeln zu laswen. J)ie Dialektik mit ihren Widersprüchen und ihrer unbeHtimmten Ver- wandelbarkeit des Vorstellun»^sinhaltes ist der naturiiotwendi^e Charakter des menschhchen De*nken8. Die dialektinche Metliode besteht also darin, diesen psychologisch notwendi^^en Prozeß mit dem logischen zu verwechseln. Ihr setzt sich deshalb die psycho- logische Gegeneinanderbewegung der Vorstellungen in einen realen Kampf- und Versöhnungsprozeß des Vorstellungsinhaltes um. Für sie hat der Widerspruch und die Negation eine metaphysische Bedeutung, und ihre eigene rastlos schaffende und wieder zer- störende Bewegung projiziert sie in eine Weltanschauung des ewigen Werdens.

§ 69. Der Irrationalismus.

Jacobi, Schelling, Schopenhauer, Feuerbach.

Der Hegeische Panlogismus bringt den Gesamtcharakter der dialektischen Entwicklung der deutschen Philosophie auf den schärfsten Ausdruck. Sie führt Schritt für Schritt mehr zu der Aufgabe einer rein rationalen Erkenntnis des Universums: es handelt sich schließlich um eine restlose Auflösung der Wirklich- keit in Begriffe der Vernunft. Und das System Hegels verkündet klar imd laut die Voraussetzung, unter der allein der Philosophie eine solche Aufgabe gesetzt werden kann, als ihre tiefste Grund- überzeugung: »Alles, was ist, ist vernünftig.« Soll das Universum restlos in eine rationale Erkenntnis aufgehen, so heißt das von vornherein, daß alle Realität selbst schon ein Rationales daß, wie Bardili sagte, jedes Ding nichts weiter als sein Begriff , daß, wie Hegel sich ausdrückte, das Wesen der Dinge der Geist sei. Nur dann ist für die vernünftige Erkenntnis die Welt kommensurabel und bezwingbar, wenn sie selbst bis auf den Grund vernünftig ist. Aus dieser Voraussetzung erwuchs Kants tran- szendentale Logik; aber diese schloß eben daraus, daß das Welt- bild im Kopfe des Menschen, durch die Vernunft bedingt, eine Erscheinung sei, von deren Verhältnis zur Reahtät wir nichts wissen können. In dem Maße, als diese kritische Restriktion durch die Zertrümmerung des Ding-an-sich-Begriffes dahinfiel, kehrte die Philosophie zu der alten rationalistischen Auffassung

23*

356 Grenzbegriffe.

zurück. Dieser Prozeß spitzte sich bis zu Hegel immer energi- scher zu, und aus dem Kantischen IdeaHsmus war nun wieder absoluter, schrankenloser Rationalismus geworden.

Allein das restlose Aufgehen der Wirklichkeit in die »Vernunft« ist nur ein Schein. In Wahrheit bleibt für jedes dieser rationa- listischen Systeme ein letztes Etwas übrig, was sich der rationalen Erkenntnis entzieht, was sich für die begriffliche Auflösung als unnahbar darstellt und dem vernünftiojen Bewußtsein als inkommen- surabel erscheint. Bei aller rationalen Durcharbeitung unseres Bewußtseinsinhaltes bleibt darin ein Rest, der wie ein Fremdes imd Gegebenes dazwischen steht, und der sich aus der Vernunft selbst nicht ableiten läßt. Es gibt im Grunde der Dinge etwas Inkalkulables, ein geheimnisvolles Etwas, welches da ist, auf welches wir die Hand legen, und welches wir doch nie begreifen können. In der Tiefe des »Deduzierten« ruht ein Undeduzier- bares, von dem wir nichts wissen als: es ist!

So findet sich in jedem rationalistischen System ein Rest, an welchem die Vernunfterkenntnis scheitert. Aber, nur eins dieser Systeme hat diese Tatsache unumwunden ausgesprochen der kritische Rationahsmus von Kant. Er beschränkte die apriorische Erkenntnis auf die Formen der Vernunft und behandelte die Mannigfaltigkeit des Erfahrungsinhaltes als schlechthin »gegeben«. Das ist, wie es besonders bei Maimon hervortrat, der tiefste Sinn der Lehre vom T)ing an sich.' Der Rationalismus bedarf eines Grenzbegriffes, vermöge dessen er eingesteht: hier liegt ein Unbegreif Hohes, eine Tatsache, die gilt, ohne erkannt zu sein. Von hier aus fällt vielleicht das schärfste historische Licht zurück auf das innerste Gefüge der Metaphysik von Leibniz und seine tiefste Verwandtschaft mit Kant, die sich in der Kritik der Urteilskraft an dem Begriffe der Spezifikation der Natur heraus- stellte*). Neben den »ewigen Wahrheiten« nahm Leibniz die unerforschliche Tatsache der göttlichen Wahl an, nach welcher unter den zahllosen Möglichkeiten gerade diese Welt in ihrem ganzen Ablaufe wirkhch geworden sei: auch für ihn liegt also in der Wirklichkeit eine Verite de fait vor, welche für das logische Bewußtsein inkommensurabel bleibt. Bildet so der göttliche Wille

*) Vgl. oben S. 162 Anm.

ÜP"

Der IrrationaÜHiiius. 357

den (.ilrenzbegriff des Loibnizsciion Katioiialismus, so liegt, wenn aucli in ganz anderer Verschlingung der Gedankenfäden, etwas •sehr ähnliches bei Fichte vor : hier ist es die »grundlose« und deshalb unbegreifliche »Tathandlung« des absoluten Ich, welche den für das rationale Bewußtsein undurchdringlichen Grund der ges^amten Wirklichkeit ausmacht. Wenn Fichte je daran gedacht hatte, nach der Abwerf ung des Ding-an-sich- Begriffs die Welt restlos aus dem Ich und seinen zwecknotwendigen Handlungen zu begreifen, so fand er an der Empfindung, deren Tätigkeit zwar abzuleiten,. deren Inhalt aber nicht zu deduzieren war, seinen Grenzbegriff: und diese Einsicht scheint für ihn den Umkehr- punkt seiner philosophischen Entwicklung ausgemacht zu haben. Es war zugleich der Punkt, an dem SchelHng sich nachher von ihm trennte, um für die Metaphysik des Identitätssystems jene »intellektuelle Anschauung« in dem Kantischen Sinne des Wortes in Anspruch zu nehmen, deren mystische und ästhetische Be- ziehungen in der weiteren Entwicklung immer klarer hervortraten. Diesen Grenzbegriff der intellektuellen Anschauung suchte dann Hegel zu eliminieren, und eben darin bestand die »Rationali- sierung« der romantischen Ideenwelt, die das unterscheidende Merkmal seines Systems bildet : aber er stieß dafür wieder auf einen anderen Grenzbegriff. Denn indem er den »Umschlag« der Idee in die natürliche Wirklichkeit dialektisch zu entwickeln unternahm, traf er in der Natur etwas der Idee Fremdes, eine »Negation«, die nicbt nur den Mangel des ideellen Moments, sondern vielmehr eine entgegenstehende Macht der Realität bedeutete, und welche er unter dem Namen der »Zufälligkeit der Natur« als Tatsache anerkennen mußte, ohne sie rationell begreifen zu können. Und so trat wiederum in anderer Form dieser Proteus desjrrationaleii Restes der Wirklichkeit zutage, und diese »Zufälligkeit« bildete den Grenzbegriff des logischen Idealismus.

Diese Grenzbegriffe der rationalistischen Systeme sind nun die Ausgangspunkte für eine Reihe höchst merkwürdiger und interessan- ter philosophischer Lehren geworden, welche die Entwicklung des rationalistischen Idealismus von Kant bis zu Hegel gewisser- maßen wie ihr Schatten begleiten und deshalb hier zunächst in Betracht kommen. Die kritische Einsicht in die Unzulänglichkeit des Rationalismus, das Wesen der Dinge bis auf den Grund zu

358 Jacobi.

begreifen, führt zunächst dazu, dem rationalen ein irrationales Wissen gegenüberzustellen, welches in irgend einer Tatsächhchkeit seinen Ursprung habe, dann aber zu dem weiteren und wichtigeren metaphysischen Schritte, den Gegenstand dieses irrationalen Wissens aus der Sphäre des »Vernünftigen« herauszuheben und ihm den Charakter sei es der Übervernünf tigkeit, sei es der Unvernünftig- keit zuzusprechen. Die Systeme der Philosophie, die auf diesem Wege durch die Reflexion auf die Grenzbegriffe des Rationalismus entstehen, und welche mn dieser innersten Verwandtschaft ihres Ursprungs willen hier unter der Bezeichnung des Irrationalismus zusanamengefaßt werden, zeigen natürlich ein sehr verschiedenes Gepräge und stehen untereinander nicht im Zusammenhange einer kontinuierlichen Entwicklung: jedes von ihnen ist vielmehr ein Nebensproß, der von dem Hauptstamme des Idealismus auf einer bestimmten Phase seiner Entwicklung nach der Schattenseite hin abgesendet wird. Die Begriffe, mit denen diese Systeme des Irrationalismus arbeiten, sind deshalb immer wesentlich diejenigen des rationalistischen Systems, gegen welches sie sich kritisch und polemisch entwickeln. Darum sind es zum Teil Männer von hervor- ragender kritischer Begabung, welche diese Systeme aufgestellt haben, daraus erklärt es sich aber auch, daß nicht minder eben diese Männer ihren Gegensatz gegen die rationalistischen Systeme viel lebhafter empfinden und zur Darstellung bringen, als ihre Abhängigkeit davon, und daß erst die historische Forschung über ihre wahre Stellung in der Gesamtentwicklung hat orientieren müssen, die sie selbst vielfach verkannten. Neben dieser sehr mannig- fach verwickelten Beziehung zu den rationalistischen Systemen ist endlich allen diesen Irrationalisten auch die Abstreifung der schulmäßigen Form der Begriffsentwicklung und damit die freiere und teilweise populärere Darstellungsweise gemeinsam, vermöge deren sie in gutem und minder gutem Sinne auf die all- gemeine Bildung häufig einen direkteren Einfluß ausgeübt haben, als die strengeren Gedankengänge der rationahstischen Schule.

Der erste in dieser Reihe der irrationalistischen Denker ist

r , 1 \ Friedrich Heinrich Jacobi, dessen fruchtbare und förderliche

Kritik der Kantischen Lehre schon an anderer Stelle erwähnt

worden ist. Was seine positive Lehre anbetrifft, so wurzelt sie

l'crsünlichkeit. iJ.OO

zwar vielfach ii\ den vorschicdcMisten ilichtunj^en der vorkantiFchen Philosophie; aber ihre Ausbildung und iiire f)räzi.se Darstellung knüpft überall an den von.ihr bekämpften Idealismus an. Seiner «ijanzen Persönlichkeit nach «^'chört .Jacobi jener Reaktion gegen die nüchterne Aulkliirun«^ an, welche mit »Sturm und Drang auf das geniale Gefühl der ursprünglichen Individualität pochte. 1743 zu Düsseldorf geboren, zog er sich aus der kaufmännischen Lauf- bahn, die er anfänglich in Genf begonnen hatte, allmählich ganz in die literarische Tätigkeit zurück und war von 1804 an bis zu seinem Tode (1819) Präsident der Münchner Akademie der Wissen- schaften. Von seinen zahlreichen mit Liebe gepflegten, aber mit unsäglicher Empfindsamkeit und Empfindlichkeit verbundenen persönlichen Beziehungen sind diejenigen zu Hamann und zu Goethe die bedeutsamsten und für seine Lebensauffassung wichtigsten ge- wesen. Solche Verhältnisse waren bei ihm um so einflußreicher, als er eine außerordentlich weiche Natur war. Ein Schweben im zartesten Gefühlsleben, ein Wühlen in der eigenen Empfindung, ein Forcieren aller persönlichen Verhältnisse machen ihn zum Typus jener Periode subjektiver Verinnerlich ung und individueller Durchbildung, welche die Aufklärung abzulösen bestimmt war: aber nicht minder zeigt er auch den genialen Eigensinn, das leiden- schaftliche Verranntsein in persönliche Überzeugungen, welches dem melancholischen Temperament anzuhaften pflegt. In seinem Stile di'ückt sich das durch den Mangel objektiver, ruhiger Beweisführung und das Vorherrschen des warmen Gefühls aus. Seine Schriften bilden keine wissenschaftlichen Darstellungen, sie sind immer im Affekt geschrieben, stets erregt und überschwenglich ; sie sind aus der Gestalt von Ansätzen, Anfängen und Einleitungen niemals zu einem fertigen, geschlossenen Werke gereift, imd da in ihnen nicht der Verfasser über den Stoff, sondern der Stoff über den Verfasser herrscht, so enthalten sie keine Beweise, sondern nur Versich erunc^en ; sie ähneln den Werken der alten Mystiker auch darin, daß in ihrer lebhaft dahinwallenden Bede oft aus der trüben Dunkelheit prächtige Blitze des Geistes hervorbrechen.

Allein diese Verwandtschaft mit der Mystik ist bei Jacobi in der Tiefe der Weltauffassung begründet. Das unmittelbare Er- greifen des unendlichen und unbedingten Weltinhaltes durch den endlichen Geist ist das Thema aller seiner Rhapsodien, und was

360 Jacobi.

seinen Blick für die Bedeutung der kritischen Erkenntnistheorie so wunderbar schärfte, war nur die ihn von Anbeginn erfüllende Überzeugung, daß dieses Erfassen des Unendlichen niemals durch die wissenschaftliche Denktätigkeit, sondern nur durch das ur- sprüngliche Gefühl geschehen könne. Darum fand er sich zu der skeptischen Tendenz der Kritik der reinen Vernunft durchaus sympathisch hingezogen. Die wissenschaftliche Unerkennbarkeit des Übersinnlichen galt ihm als von Kant streng erwiesen. Aber die Kritik ging ihm nicht weit genug; denn sie ließ noch die wissenschaftliche Denkbarkeit einer übersinnlichen Welt bestehen. Deshalb richtete Jacobi sein Augenmerk in erster Linie auf die prekäre Stellung, welche bei Kant der Begriff des Dinges an sich^ als der Kreuzungspunkt seiner verschiedenen Denkinteressen ein- nimmt, und zeigte in der oben erwähnten Polemik, in welche Widerspiüche sich dieser Grundbegriff notwendig verwickelt. Die wissenschaftliche Kritik muß das Ding an sich nicht als proble- matisch betrachten, sondern leugnen; der transzendentale muß absoluter Idealismus werden. Die Wissenschaft muß die üfcer- similiche Welt nicht nur als etwas ihr Unbeiührbares hinstellen, sondern sie muß sie leugnen. Sie kann nicht einmal den Begriff des Unbedingten bilden, sie kennt nur den kausalen Zusammen- hang endlicher Existenzen. Das Postulat der Kausalität muß lauten: es gibt nichts Unbedingtes. In diesem Sinne bezeichnet Jacobi den Spinozismus als die vollendete Form der Wissenschaft, wobei er freilich vollkommen die große Rolle übersieht, welche gerade in diesem das Unbedingte spielt, und nur auf seinen Naturalismus hinsichtlich des Welt2:eschehens reflektiert. Die Wissenschaft, sagt Jacobi, kann nur anerkennen, was sich be- weisen läßt. Beweisen heißt etwas aus etwas anderem ableiten, bewiesen werden kann nur das Bedingte. Das Unbedingte, die höchsten Grundsätze, sind ursprünghche, allgemeine, unüberwind- liche »Vorurteile«. Aber mit dieser Argumentation, welche an sich als die Behauptung unerweisbarer Gründe für alle Bewtis- tätigkeit durchaus korrekt ist, verbindet Jacobi ncch die naiv rationalistische Verwechslung der Begriffe von "^Erkenn tnisgrund^ und^ealursache~und begründet damit den Satz, daß ein Gott, welcher bewiesen werden könnte, kein Gott wäre, und daß es das Interesse der Wissenschaft sei, daß kein Gott existiere. Naturalis-

Wissen uiul (jlauhon. 36|_

mus und Atheismus sind für ilm dc^halij notwendige Charaktere der Wissenschaft; es gibt für sie kein unbedingtes, t^ondern nur bedingtes Sein eine Auffassung, wekhe Kants »kritischer Auf- lösung« der beiden dynaniischen Antinomien in der Tat sehr nahe steht.

Aber eben deshalb kann sich nach Jacobis Meinung die mensch- liche Überzeugung nicht mit der Wissenschaft begnügen. Man muß sorgfältig zwischen unmittelbarer und mittelbarer Erkenntnis unterscheiden. Alles wissenschaftliche Denken ist mittelbar und setzt £omit ein unmittelbares voraus, das es selbst nicht begreifen kann. (So sprach Fichte vom sekundären Cha- rakter des Bewußtseins.) Es ist das irpwTov '!;£uoo? der ratio- nalistischen Aufklärung, nur glauben wollen, was sich wissen- schafthch beweisen läßt. Das unbedingte Sein ist nie zu beweisen, sondern immer nur unmittelbar zu fühlen. Es ist kein Objekt des Wissens, sondern nur ein Gegenstand des Glaubens. Jacobi schließt sich damit wie Hamann an Humes Gebravch des Wortes »belief« an, bleibt jedoch in der Anwendung nicht innerhalb der von Hume oesteckten Grenzen der sinnlichen Tatsächlich keit. Denn er behauptet zugleich, daß dies unbeweisbare Gefühl, wodurch sich das unbedingte Sein in unserem Bewußtsein ankündigt, zwei Grundformen habe: die Gewißheit der sinnlichen Wahrnehmung und diejenige des übersinnlichen Glaubens. Beiden ist gemeinsam, daß sie die Realität ihres Gegenstandes nicht beweisen können, sondern ihrer unmittelbar gewiß sind; beide sind deshalb, wie Jacobi nicht ohne Beziehung auf die Leibnizische Monadologie ausführt, nur dadurch erklärbar, daß im Akte der Wahrnehmung Wahrnehmendes und Wahrgenommenes unmittelbar eins sind, daß also die Gewißheit der Wahrnehmung ein inte grierec der Bestandteil unserer Selbstgewißheit ist. Nur vermöge dieses »Glaubens« sind wir der Existenz der äußeren Welt sicher. Beweisen läßt sie sich nicht. Die theoretische Wissenschaft kennt nur Vorstellungen, und die Kritik der reinen Vernunft führt, konsequent verfolgt, zum Nihilismus, sie ist eine in alle Ewigkeit um lauter Nichts beschäftigte Vernunft. Als daher Fichte diese Konsequenz zog und das Ich als den nur auf sich selbst gerichteten Trieb de- finierte, da stellte sich Jacobi ganz auf den Standpunkt des naiven Realismus und behauptete, ein solches »Tun des Tuns«, ein

362 Jacobi.

»ursprüngliches Tun« sei absolut unvorstellbar*). Alles Tun weise auf ein »ursprüngliches Sein« zurück, das es »zu enthüllen gilt«, und das sich nur dem »Gefühl« zu erkennen gibt. Der Eealismus, die Annahme einer außer uns existierenden Welt, ist Sache des Glaubens: und so führt Jacobi die naive Weltansicht durch die sensualistische Evidenz ein, eine Lehre, worin ihn seine Vertrautheit mit Bonnet bestärkte. Es wiederholt sich auch bei ihm die häufig erwähnte Tatsache, daß der Antirationalismus mit dem Sensualismus gemeinschaftliche Sache machen muß.

Aber das ist zuletzt nur eine Konzession; das eigentliche Inter- esse liegt für Jacobi bei jener anderen Wahrnehmungsfähigkeit, derjenigen des Übersinnlichen, welche er in seinen späteren Schriften nach Herders Vorgange mit etymologischer Spielerei »Vernunft« nennt, und es ist nur die Sache seiner persönhchen Überzeugung, daß er diese nicht wie frühere Antirationalisten in irgend einer positiven Offenbarung, sondern im individuellen Gefühle sucht. Er ist in dieser Hinsicht und namentlich in bezug auf das Doppel- verhältnis zu Kant und Spinoza das negative Seitenstück zu Schleiermacher. Darin besteht auch bei ihm die eigentümliche Zwischenstellung, daß er den Glauben an das Übersinnliche weder auf einen theoretischen noch auf einen praktischen Beweis stützt, sondern ihn lediglich im Gefühle sucht und dabei doch mit der- selben Unklarheit wie Rousseau eine gewisse Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit dieses Gefühls mehr voraussetzt als ausdrück- lich behauptet. Zwar spendet er, wie vorauszusehen, Kants Lehre von dem Primat der praktischen Vernunft und seinem Begriffe des moralischen Glaubens eine be;>eisterte Anerkennung; aber gegen die kritische Ausführung dieser Gedanken sträubt er sich teils wegen ihrer Richtung auf das »Sollen«, statt, wie er verlangt, auf das »Sein« der Postulate, teils wegen ihrer wissenschaftlich beweisenden Form, teils besonders we^cn der Rigorosität des Kantischen Moralprinzips. Das starre Pfiichtgesetz erfüllt ihn geradezu mit einer Art von Haß. Wie ihm die Individualität die stärkste, lebhafteste und festeste aller Gewißheiten ist, so betrachtet er auch die individuelle Natur als das Heiligste auf

*) Er glaubte witzig zu sein, wenn er das Fichtesche Ich >ein Stricken nicht etwa des Strumpfes, sondern ein Stricken des Strickens« nannte.

ZwoifttclKi WjilirhciL :J03

(\vu\ monvlisclion Gebiete. Von der moralischen Autonomie hält er sich mehr an auro?, als an den vo|io;. Es sind Anklän;^e an Shaft-esbury und dessi'n ]jehre von der ^q-olicn sittlichen Indi- vidualität, mit denen Jacobi das Hecht der Subjektivität, sich ihr eigenes Gesetz zai i^eben und ihr Leben danach zu gestalten, in begeisterter Weise verkündet. In seinen phil()S()j)hischen Romanen, besonders im »Allwill«, entwirft er das Bild einer solchen großen Persönlichkeit, welche gegen die philisterhafte Eingeschränktheit des landläufigen Moralisierens das sittliche Recht hat, ein Bild, zu dessen Zügen unverkennbar Goethe gesessen hat. Jacobi war selbst eine zu edle und moralisch sichere Natur, als daß dieser ethische Individualismus bei ihm zu dem Übermute genialer Willkür geführt hätte, welchen die Romantiker proklamierten. Aber die Richtung seines ethischen Denkens ist dieselbe. Sie wendet sich deshalb gegen die maximenhafte Formulierung der sittlichen Wertbestimmung und trägt alle Züge einer ästheti- sierenden Moral. Das Wesentliche in der sittlichen Überzeugung ist auch bei Jacobi die Selbstgewißheit der Freiheit und der Glaube an die Gottheit und die Unsterblichkeit; aber diese Gewißheit ist kein Wissen, sondern eine Tugend. Sie ist lebendige Wirk- lichkeit, wie alle Wahrnehmung, und der Versuch, sie zu denken, erfaßt wie alles Denken nur ihren toten Schatten. Im Verstände ist Fatalismus, Gottlosigkeit und schattenhaftes Wissen; Wahrheit, Freiheit und Gottesglaube sind nur im Gefühl. So nennt sich Jacobi mit dem Kopfe einen Heiden, mit dem Herzen einen Christen und er sagt: licht ist in meinem Herzen, aber wenn ich es in meinen Kopf bringen will, erlischt es.

Seine Lehre ist der Beweis davon, wie sich der Kantische Dualismus von Wissen imd Glauben gestalten muß, wenn er in das populäre Bewußtsein mit radikaler Konsequenzmacherei über- setzt wird. Bei Jacobi sind alle Brücken zwischen Glauben und Wissen derart abgebrochen, daß es gar keine Verbindung mehr zwischen beiden gibt, daß sie vielmehr in einen vollkommenen und prinzipiellen Widerspruch zueinander gesetzt werden. Für ihn ist die Wissenschaft nicht nur wie für Kant unfähig, die Objekte des Glaubens zu beweisen, sondern vielmehr genötigt, sie zu leugnen. In dieser Hinsicht hat Jacobi einige Ähnlichkeit

364 Schelling.

mit dem großen französisclieii Skeptiker Pierre Bayle. Er ist wie dieser ein hervorragender Vertreter der Lehre von der zweifachen Wahrheit. Er bringt den Dualismus von Wissen und Glauben bis auf die scharfe Form, daß seine persönliche Überzeugung überall da anfängt, wo die Beweise aufhören, und daß er von dem Gegenteil desjenigen überzeugt ist, was seiner Meinung nach bewiesen werden kann. Seine Vernunftlehre ist deshalb daä.Ä-Uß.crste Widerspiel des RationaUsmus. »Vernunft« ist ihm kein Denken, sondern ein »Vernehmen« des Übersinn- lichen, und was man sonst Vernunftwahrheit genannt hat, ist für ihn eine Verstandesreflexion. Daraus folgt, daß von einer wissenschaftlichen Schule, die sich an Jacobi angeschlossen hätte, keine Rede sein kann, und Männer wie Wizenmann, Koppen, Salat u. a., welche als seine Anhänger gelten, konnten immer nur in seinen Fußtapfen nach treten. Aber anderseits hatte doch sein Dualismus mit dem Kantischen viel zuviel Ähnlichkeit und war viel zu sehr nur eine Verschiebung davon, als daß man sich darüber verwundern könnte, wie manche Kantianer nament- lich im Gegensatz gegen die Identitätsphilosophie sich mehr und mehr zu Jacobi hinneigten. Und schließlich bot diese Verwandt- schaft die Veranlassung dafür, daß Fries eine volle Vereinbarung beider Denker auf seinem psychologistischen Standpunkte zu voll- ziehen versuchte.

Jacobi ist im eigentHchsten Sinne mehr AntirationaHst als Irrationalst. Zwar setzte er die Wahrheit des Gefühls geradezu in Widerspruch mit dem reflektierenden Denken, welches er in den früheren Schriften selbst das vernünftige oder rationale ge- nannt hatte. Aber was er als den Inhalt des Glaubens be- zeichnet, bleiben doch dieselben Ideen von ^Gott^ 'Freiheit und Unsterbhchkeit, welche Kant mit der gewöhnlichen Sprache als die Gegenstände des vernünftigen Glaubens charakterisiert hatte. Wendet man, ohne sich um Jacobis willkürhchen Sprachgebrauch zu kümmern, die gebräuchlichen Termini an, so ist doch auch seine Lehre die, daß den letzten Inhalt aller Wirkhchkeit eine göttliche Vernimft bildet, welche nur die denkende Vernunft des Menschen nicht zu fassen vermöge. Der Antirationahsmus von Jacobi betrifft nur noch die Erkenntnis des Absoluten, nicht

Pbilosopliio und Religion. ;U)5

den Begriff des Absoluten sechst, er ist kritischer Antirationa- lismiis. Die weiterjjjehendc Wendung, die im Absoluten selbst die Unvernünftigkeit entdecken wollte, war erst auf dem Stand- punkte der Identitätaphilosopliie möglich, wenn der undeduzier- bare Rest auch metaphysisch als das der Vernunft Vorhergehende betrachtet wurde. Diese Wendung vollzog Scheu ing in der- jenigen Phase seiner Entwicklung, der man den Namen der Freiheitslehre gegeben hat.

Die Veranlassungen dazu lagen in einem Problem, welches die letzte Form des Identitätssystems darbot. Dem Begriff des Absoluten standen darin die göttlichen Potenzen gegenüber. Aber die letzteren waren einerseits im Platonischen Sinne als Ideen in Gott aufgefaßt, anderseits galten sie als selbständige Wirklichkeiten in Natur und Geschichte. Das alte Problem von der Substantialität der einzelnen Dinge der Gottheit gegenüber war darin mehr verdeckt als gelöst. Pantheismus und Theismus schlummerten friedhch nebeneinander. Schelling selbst war an- fangs ganz entschieden Pantheist gewesen, und die Naturphilo- sophen, besonders Oken, prägten diesen Standpunkt noch ent- schiedener aus. Aber die Notwendigkeit des Fortschrittes hatte ScheUing selbst darüber hinausgeführt, und der »Bruno«, sowie die »Methode des akademischen Studiums« lehrten bereits aus- drücklich eine Selbständigkeit des Absoluten der Welt gegenüber und umgekehrt. Wenn nun, wie selbstverständlich, das Absolute mit seinen Ideen als das Ursprüngliche angesehen wm'de, so entstand die von dem Identitätssystem ungelöste Frage: wie kommen die Ideen zur Selbständigkeit? oder populär ausge- drückt: wie geht die Welt aus G<)tt hervor? Diese Frage an die Schellingsche Phüosophie gestellt und damit ihre Fortbil- dung veranlaßt zu haben, ist das Verdienst eines ihrer Schüler, üschenmayer (1770—1852) suchte in seiner Schrift: »Die Phi- ^*'^^'^*^' losophie in ihrem Übergange zur Nichtphilosophie« (1803) nach- zuweisen, daß die Philosophie zwar die Entwicklimg der Ideen in der natürlichen und der geschichtlichen Wirklichkeit begreifen, daß sie aber ihr Hervorgehen aus der Gottheit und diese selbst nicht zu erfassen vermöge und solche Mysterien der Religion überlassen müsse. An dem Punkte, wo die Ideen in ihrem Ver- hältnis zur Gottheit betrachtet werden sollen, hört das rationale

366 Schelling.

Denken auf, und die Philosophie geht in die Keligion über. Von hier aus ist Eschenmayer später immer mehr der Philosophie ent- fremdet und vom Supranaturalismus gefangen genommen worden und hat schließlich in seinen »Grundzügen einer christlichen Philosophie« (1838) namentlich Hegel bekämpft. Seine Bedeu- tung beruht wesentlich darin, daß er Schelling auf den neuen Weg seines Denkens gestoßen hat. Denn Schelling empfand den Stachel dieser Frage tief, und er beantwortete sie in seiner Schrift: »Philosophie und Keligion« (1804) dahin, daß sie von einem Standpunkte gelöst werden müsse, der das religiöse und das philosophische Denken nicht auseinanderreiße, sondern beide zu der Vereinigung zurückführe, die nur im Laufe der Zeiten verloren gegangen sei. Dieselbe Frage, welche später Hegel auf rein philosophischem Wege zu lösen unternahm, indem er das Absolute als die in notwendiger Entwicklung begriffene Idee oder den absoluten Geist auffaßte, dieselbe wollte jetzt Schelling durch eine Verschmelzung von KeUgion und Philosophie, d. h. auf dem Wege der Theosophie lösen. Damit aber verläßt er die Bahn des Rationalismus und betritt diejenige des Irratio- nalismus.

Die Erkenntnis des ''Absoluten^ ist, wie auch später Hegel ge- sagt hat, die gemeinsame Aufgabe der EeHgion und der Philo- sophie. Aber das Absolute kann, da in ihm alle Wirklichkeit erschöpft ist, nur sich selbst erkennen. Und nichts anderes sind die Ideen als diese ewige Selbstobjektivierung der Gottheit. Die Ideenlehre ist daher die wahre »transzendentale Theogonie«. Als diese Selbstoffenbarung Gottes sind die Ideen in ihm, und sie besitzen in diesem Anteil, den sie an dem absoluten Wesen haben, die Möglichkeit der Selbständigkeit. Daß aber diese Selb- ständigkeit wirklich geworden ist, dieser Abfall der Ideen von Gott, durch den die Welt in ihrer metaphysischen Realität ent- stand, ist eine aus dem Wesen der Gottheit nicht begreifliche und deshalb nicht als notwendig zu erkennende Tatsache. Hier ist der Sprung im Identitätssysteme; die Genesis des Endhchen aus dem Absoluten ist irrational, sie ist eine Urtatsache, welche aus dem Absoluten nicht deduziert werden kann. Sie ist deshalb nur anzuerkennen und zu beschreiben. Sie besteht in dem Verlangen der Idee, das Absolute selbst zu sein. Sie

Hiiador. 307

trägt an sich alle Züge des Sündenfalls. J)er Akt der Ver- selbständigung der Ideen, die Genesis der Welt, ist der Sünden- fall; er ist eine im Wesen der Ideen mögliche, ai)er nicht not- wendige, er ist eine absolut freie Handlung. In dieser erkennt Schelling Fichtes Tathandlung des Ich. Das Endliche, das un- endlich sein will, ist die selbständig werdende Idee, ist die Welt in ihrem Abfall von der Gottheit. Die uralte Auffassung orien- talischer Mystik, daß die Sonderexistenz der Einzelwesen Sünde^ sei, wird in philosophischer Formulierung zum bestimmenden Prinzip des Schellingschen Denkens, und die Folge davon ist die, daß dann auch das ganze Leben der selbständig gewordenen Idee als eine Sühne des ersten Abfalls erscheint. Das selbständig gewordene Endliche soll in die Gottheit zurückkehren, das ist der ganze Inhalt des historischen Prozesses, der sich auf der Natur als jener sündigen Verselbständigung des Endlichen auf- baut. Die Mysterien von Fall, Läuterung und seUgem Leben enthalten die volle Offenbarung der Gottheit in der historischen Wirklichkeit, und erst nachdem es durch das abgefallene End- liche zu sich selbst zurückgekehrt ist, hat das Absolute seine vollendete Selbstobjektivierung gefunden. Es gilt auch hier das dialektische Prinzip, daß erst aus der Selbstentzweiung das Ab- solute den Abschluß seiner Entwicklung erreicht.

Damit war Schelling durch seine eigene Entwicklung zu einer Theosophie gekommen, welche derjenigen der alten Mystik sehr nahe stand. Der Gedanke einer Entwicklung des göttüchen Wesens durch die von ihm abfallende Welt hindurch war von ihm zwar originell gefunden, aber er war nicht neu, und es war deshalb von großer Wichtigkeit, daß Schelling von neuem auf denjenigen deutschen Mystiker aufmerksam wurde, welcher solche Gedanken mit tiefsinniger Grübelei durchzuführen versucht hatte, auf Jacob Böhme. Die Anregung ging jetzt von Schellings Freunde Franz /^ o,^^ von Baader (1765 1841) aus, welcher selbst in der nachhaltigsten Weise unter dem gleichen Einflüsse stand. Baader selbst bewies den überkonfessionellen Charakter der Mystik dadurch, daß er den Gedanken des Protestanten Böhme mit seiner katholischen Überzeugung in einer Weise vereinbarte, die freilich nicht die Zustimmung der kirchhchen Macht finden konnte. Auch er hat die aphoristische , behauptungsvoUe^ und^_wenig^ wissenschafthche

I-

Hl

368 Schelling.

Denk- und Schreibweise, die allen Mystikern gemein zu sein pflegt, und seine Werke (16 Bände Leipzig 1851 1860) bestehen meist aus kurzen abgerissenen Blättern. Nur die »Fermenta cognitionis« (6 Hefte 1822 1825) und die » Vorlesungen über spekulative Dogmatik« enthalten Zusammenhängendes über seine Lehre, welche man am besten aus den Schriften seines unermüdlichen Anhängers Franz Hoffmann und besonders aus dessen »Spekulative Ent- wicklung der ewigen Selbsterzeugung Gottes« (Amberg 1835) kennen lernt. Es ist eine etymologien- und analogienreiche Ver- quickimg der Böhmeschen Mystik mit Kantischen und Fichte- schen Gedanken. Es handelt sich um dieselbe Konstruktion des theogonischen Prozesses und um den Aufweis des Parallelismus, worin dieser mit dem Sündenfall und der Erlösung des Menschen stehen soll. Es ist im Grunde genommen die theosophische Um- deutung einer Geschichtskonstruktion unter einem religiösen Ge- sichtspunkte. Die Entwicklung des Individuums und der Welt sei durch den Sündenfall als Anfangspunkt und durch die Er- lösung als Endpunkt bestimmt und aus ihnen zu begreifen, und diese Entwicklung enthalte zugleich die Selbsterlösung der Gott- heit von ihrem dunklen Urwesen durch ihre volle imd absolute Selbsterkenntnis.

Dieselben theosophischen und theogonischen Gedanken sog nun auch Schelling aus Jacob Böhme ein, aber ihre Phantastik milderte sich bei ihm durch die Klarheit der Kantischen Gedanken und namentlich der Kantischen Rehgionsphilosophie , welche ja in mancher Hinsicht diesen Problemen nahe stand und auch ihrer- seits eine spekulative Umdeutung der Lehren vom Sündenfall und von der Erlösung versuchte. Man kann von einer sukzessiven Wirkung der großen Kantischen Werke sprechen. Reinholds Elementarphilosophie rekurrierte wesentlich auf die Kritik der reinen Vernunft. Fichtes Lehre steht der Kritik der praktischen Vernunft am nächsten. Schellings Naturphilosophie und die ästhetische Wendung der Philosophie s'nd durch die Kritik der Urteilskraft bedingt, und seine »Freiheitslehre« schließt sich teil- weise an die »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Ver- nunft«, im besonderen aber an die Theorie des intelligiblen Cliarakters an, die darin eine wichtige Rolle spielte. Diese Freiheits- lehre entwickelte sich vollständig in den »Untersuchungen über

FroihoitBlehro. 3H9

das Wesen der mcnschliclien Freiheit« (1809), welche Srhellin^ gegen einen |)lnin])en Angriff .lucohis in einer groben und ge- hässigen Replik )>J)enkinal der Schrift von ditn g<)tt liehen Dingen mul ihrer Offenbarung des Herrn F. IL Jacobi« (1812) und gegen Einwürfe von Eschenmayer in der von ihm herausgegebenen »Allgemeinen Zeitschrift von Deutschen für Deutsche« (1813) verteidigte.

Das theosophisclie Problem besteht vor allem darin, daß alles Endliche seinen Grund im Absoluten haben und doch selbst zum Absoluten gehören soll. In diesem Sinne muß also das Absolute seinen Grimd in sich selber haben ; es muß in ihm zwischen dem Grunde seiner Existenz und seiner vollen, wirklichen Existenz, es muß zwischen der Natur in Gott und dem vollendeten Gott, zwischen Dens implicitus und Dens explicitus, zwischen seinem AJpha und seinem Omega unterschieden werden, und zwischen beiden Grenzpunkten muß die Welt der selbständigen einzelnen Dinge als der Prozeß der Entwicklung von dem einen zum andern begriffen werden. Das Universum ist die Selbstentwicklung der Gottheit in sich, aus sich, zu sich selbst; es enthält eine große Linie, welche vom Unvollkommenen zum Vollkommenen, vom Natürlichen zum Geistigen, vom Sündigen zum Heiligen führt. Den Anfang dieser Entwicklung bildet also der Grund in Gott, der Urgrund, Ungrund oder Abgrund, wie er auch von Schelhng genannt wird. Er ist das absolute Dunkel, das bloße Sein, die vernunftlose Existenz, der Urzufall, der nicht notwendig, sondern eben einfach vorhanden ist. Aber in ihm muß doch die Möglich- keit des Vollkommeneren gegeben sein. Sie kann also nur als ein Trieb, als ein dunkler Drang, als ein unbewußtes Streben be- stehen, imd so ist der Urgrund der dunkle, unbewußte W^ille. »Es gibt in letzter Instanz gar kein anderes Sein als Wollen«. Aber die Tendenz dieses Willens kann wiederum auf nichts anderes als auf das Absolute gerichtet sein; sie bezieht sich lediglich darauf, daß der dunkle Grund sich selbst offenbar werde; sie ist die Tendenz der Selbstobjektivierung des Willens. So erzeugt sich in Gott fortwährend das Abbild seiner selbst, seine Selbstoffen- barung, und diese besteht in den ewigen Ideen, in jener bewußten Natur in Gott, welche Böhme "Sophia^ genannt hat. So tritt zum unbewußten Willen die Vernimft. Nun scheiden sich die regellosen

Windelband, Gesch. d. n. Philos. H. 24

370 Schelling.

Kräfte des dunklen Willens, und es entstellt durch den Gegen- satz der Vernunft und jenes dunklen Dranges die Welt, die Welt, in der beide herrschen, die Vernunft in der Gesetz- mäßigkeit, Zweckmäßigkeit und Schönheit der Erscheinung, der Wille in jenem ewig unerfüllten Triebe, der wie ein Schleier des Wehs und der Sehnsucht über allem Dasein liegt. Das Geschick dieser Welt aber besteht eben darin, daß mit jener unbegreiflichen Freiheit, die zum Wesen des selbst nicht notwendigen Willens gehört, die Welt sich selbständig gemacht, der besondere Wille sich von dem allgemeinen Willen emanzipiert hat. Deshalb be- ruht auch das ganze Weltgeschick auf dem Verhältnis des In- dividualwillens zum Universalwillen. In der Natur ist der Indi- vidualwille gebunden und bedingungslos von dem Universalwillen beherrscht, der sich hier durch die a priori erkennbaren, d. h. vernünftigen Gesetze darstellt, und dieses Verhältnis gilt auch für das animale Triebleben, m welchem nur der psychologische Me- chanismus waltet. Dieses Verhältnis ist dasselbe, welches Kant und Fichte in ihrer Geschichtsphilosophie als den paradiesischen Stand der Unschuld und des Vernunftinstinktes bezeichnet haben. Erst im Menschen hat sich der Individualwille gegen den Universal- willen empört, und diese Genesis des Bösen ist aus Naturgesetzen nie zu begreifen. Der Sündenfall ist die irrationale, vorzeitliche Tat des intelligiblen Charakters. Mit ihr begonnen, hat der ge- samte Prozeß der Geschichte zu seiner Aufgabe nur die Über- windung des Individual willens durch den Universalwillen. Diese ist, nachdem der Individualwille sich einmal selbständig gemacht hat und als solcher nicht mehr zu vernichten ist, nur dadurch möglich, daß er selbst den Universalwillen in sich aufnimmt und sich so in ihn verwandelt; er muß aus eigener Erkenntnis und eigener Absicht zu jenem Verhältnis der Unterordnimg zurück- kehren, das in der Natur bewußtlos herrscht. Diese Aufgabe ist^ diejenige des sittlichen und des religiösen Lebens. So ordnen sich in Schellings Freiheitslehre die Bestimmungen von Kants und Fichtes Geschichtsphilosophie dem theosophischen Gesichtspunkte unter. Der Prozeß der Geschichte gilt ihm jetzt, der Natur gegen- über, als die höhere Offenbarung der Gottheit; die Erreichinu des Ziels, die völlige Unterwerfung des Individualwillens untej den Universalwillen, welche freihch in der unendlichen Ferne de?

Schopenhauer. 371

Endes der GcHchichte liegt, ist die Rückkehr der Dinge zu Gott, d. h. die Rückkehr der Gottheit zu sich selbst, die vollendete Selbstoffcnbarung des Urgrundes der Deua explicitus.

Wer mit der Kenntnis der Schopenhauerschen Lehre der bis- herigen Darstellung gefolgt ist, der wird in ihr allmählich alle die Steine haben zum Vorschehi kommen sehen, aus deren über- Jj

raschender Kombination sich das glänzende Mosaik des Systems/^ m

von Arthur Schopenhauer zusammengefügt hat. Keiner der ^^^^^'^^^ großen Denker vielleicht ist über seine historische Stellung in / 7 r / einer solchen Selbsttäuschung befangen gewesen, und keiner hat / die Erkenntnis der wahren Ausgangspunkte seiner Ansichten durch '^ /i'^ 0 seine Darstellung so sehr getrübt wie er. Wer ihn ohne historisches Wissen liest, der muß meinen, Schopenhauer habe seine einzige ;

Voraussetzung in Kant und sei von diesem in einer Richtung fortgeschritten, welche der durch die Namen Fichtes und Schellings bezeichneten gänzlich entgegengesetzt sei und gar nichts mit ihr gemein habe. In Wahrheit ist es nur eine durch die Gegensätze seines persönlichen Wesens bestimmte, überaus origi- nelle Verschiebung der Grundgedanken dieser gesamten Ent- wicklung, welche Schopenhauer vollzogen hat, und der große Vor- zug, den er vor den übrigen Nachfolgern Kants besitzt, besteht wesenthch darin, daß er zugleich ein Schriftsteller ersten Ranges ist. In der philosophischen Literatur aller Völker gibt es keinen Denker, der mit so vollendeter Klarheit und mit so anschaulicher Schönheit den philosophischen Gedanken zu formen verstanden hätte wie Schopenhauer. So war es ihm gegeben, eine Anzahl von Prinzipien, die er selbst nicht geschaffen, aus der Schul- sprache in eine wahrhaft leuchtende und durchsichtige Darstellung zu übersetzen und die gemeinsame Weltanschauung des deutschen Idealismus zum Teil in Schlagwörter zu fassen, die, als seine Werke einmal anfingen dem weiteren Pubhkum bekannt zu werden, eine große Wirkung nicht verfehlen konnten. Anderseits unter- stützte er diese Wirkung durch die Eigenart seiner Individualität, die mit ihren starken, ausgeprägten Zügen in seiner Lehre aus den begrifflichen Untersuchungen mit elementarer Kraft hervor- brach und unmittelbar zum Leser zu sprechen schien.

Er war 1788 als Sohn eines Danziger Patriziers geboren und

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372 Schopenhauer.

wurde von seinem Vater nach längeren Reisen zum Beginne der kaufmännisclien Laufbahn genötigt. Als er dann selbständig wurde und seine Mutter, die bekannte Romanschriftstellerin, nach Weimar zog, begann er seine wissenschaftUche Bildung nachzuholen, be- zog 1809 die Universität Göttingen und hörte später in Berlin Fichte. Dann nach Jena und Weimar zurückgekehrt, erfreute er sich näheren Umgangs mit Goethe. Die Jahre 1814 1818 brachte er in Dresden mit der Abfassung seines Hauptwerkes zu, machte dann eine italienische Reise und habilitierte sich 1820 in Berhn. Der geringe Erfolg, den er auf dem Katheder hatte und der sich wiederholte, als er nach Unterbrechung durch eine dreijährige Reise abermals den Versuch akademischer Wirksamkeit machte, ließ ihn zuletzt darauf verzichten, und vom Jahre 1831 an zog er sich in eine grollende Einsamkeit und Sonderlingsexistenz nach Frankfurt a. M. zurück, wo er 1860 gestorben ist.

Schon der Titel seines Hauptwerkes »Die Welt als Wille und Vorstellung« (Leipzig 1819) zeigt die oben berührte glückliche Fähigkeit des Schriftstellers, dem philosophischen Gedanken eine populäre Fassung zu geben. Der Kantische Gegensatz von Ding an sich und Erscheinung, die phänomenalistische Lehre, daß die Welt unserer Erfahrung und verständnismäßigen Erkenntnis eben nur eine Welt der Vorstellung sei, die Umlegung des meta- physischen Gesichtspunktes aus der theoretischen in die praktische Vernunft, die Einsicht, daß das wahre Wesen der Dinge im Wülen bestehe, alle diese Grundlehren von Kant, Fichte und Schelling sind in diesem Schlag worte zusammengefaßt. Die Welt der Er- scheinung ist lediglich eine vorgestellte, sie hat daher für Schopen- hauer etwas Traumhaftes an sich, sie ist ein Schleier, der uns das wahre Wesen verhüllt und der zur Täuschung wird, wenn ei dafür gehalten wird. Im besonderen entwickelt Schopenhauer diese Gedanken an dem Begriffe der Kausalität, von welchem seine scharfsinnige Promotionsschrift »Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Gnmde« (Rudolstadt 1813) handelt. Ihr Haupt verdienst besteht in der genauen Unterscheidung zwischen dem metaphysischen Verhältnis von Ursache und Wirkung und dem logischen Verhältnis von Grund und Folge. Wenn Schopen- hauer in den mathematischen Beziehungen imd in der »Motivation « noch zwei andere »Wurzeln« des Satzes aufstellte, so hat er

Das iiiuitijiliyBiscIie iJedürfiiii. 373

später aiisclrüc'klicli di*' lotztore (l<'iii Prinzip der Urnaclift unter- ^eordiiüt, und es ist anderseits klar, daß die erstere sich dem Prinzip^ des Erkenntnis«i;rundes subsumiert. In ihrer meta- physischen Bedeutung betrachtet nun Schopenhauer die KausaHtät als die einzig wahre in dem Kantischen System der Kategorien und bezeichnet sie, wie es schon bei Fichte in der theoretischen Wissenschaftslehre geschah, als die Grundfunktion des Verstandes, aus der allein in Verbindung mit den reinen Anschauungen der Sinnliclikeit, Raum und Zeit, sich die Vorstellung einer objektiven Welt erzeuge. Er führt namentlich, in pliysiologische Unter- suchungen eingreifend, den Gedanken aus, daß keine Sinneswahr- nehmung ohne diese Mitwirkung der Kausalität zustande komme, daß nur durch sie die Empfindung sich zum Bilde eines äußeren Gegenstandes projiziere, und diese seine Theorie, welche er haupt- sächlich auf optischem Gebiete ausführte und als die Intellek- tualisierung der Siuneswahrnehmung bezeichnete, hat später durch die Zustimmung von Helmholtz einen bedeutenden Einfluß auf die Physiologie gewonnen.

Die Kausalität als einzige Grundform der Verstandesfunktion bildet daher für Schopenhauer auch den einzigen Leitfaden der wissenschaftHchen Erkenntnis. Aber die letztere ist deshalb auch auf Erscheinungen beschränkt, sie kann immer nur von Bedingtem zu anderem Bedingten fortschreiten, und sie findet bei diesem Fortschritt weder vorwärts noch rückwärts ein Ende. Nament- lich ist die Erkenntnis außerstande, irgendwie den Begriff einer ersten, selbst nicht mehr kausal bedingten Ursache aufzustellen. Die Kausalität ist nicht wie ein Fiaker, den man anhalten lassen könnte, wo es einem beliebt, sondern wie der Besen in Goethes Zauberlehrling, der, einmal in Tätigkeit, sich nicht wieder bannen läßt. Wie für Jacobi, so ist auch für Schopenhauer alle Er- kenntnis nur eine anfang- und endlose Kette kausaler Notwendig- keitsbeziehungen zwischen Erscheinungen. Aber der menschHche Geist hat daneben das Bedürfnis, das Ganze der Erfahrung in seinem innersten Zusammenhange zu überschauen, die Er- scheinungen in ihrer Gemeinsamkeit zu überblicken und sich der wesenhaften Einheit bewußt zu werden, die darin zur wechselnden Erscheinung kommt. Indem Schopenhauer das^meta^hjsische Bedürfnis so bestimmt, setzt er es ohne jeden Beweis mit der

374 Schopenhauer.

pantheistischen Voraussetzung einer den Erscheinungen zugrunde liegenden absoluten Welteinheit gleich. Raum und Zeit sind das »principium individuationis « , das Prinzip der Vielheit und Ver- änderHchkeit. Aber dieses gilt eben nur für die Erscheinung, für die Welt als Vorstellung. Das^Ding an sicir^ ist die absolute Ein- heit, die darin verschleiert erscheint: es ist wie die ewig unver- änderliche Idee gegenüber der Vielheit der immer werdenden und vergehenden Sinnenwelt. Auch wenn Schopenhauer es nicht selbst ausgesprochen hätte, würde kein Zweifel darüber bestehen können, daß diese Überzeugung bei ihm auf seiner genauen Beschäftigung mit Piaton beruht, die ihm sein Lehrer Aenesidemus- Schulze in Göttingen besonders nahegelegt hatte.

Von der absoluten Welteinheit ist eine kausale Erkenntnis nicht möglich; ihre Erkenntnis kann deshalb durch wissenschaft- liche Methode nicht gewonnen werden. Wenn nun die ganze Aufgabe der Philosophie darauf hinausläuft, dem metaphysischen Bedürfnis Genüge zu tun, so ist sie nicht durch spezifisch wissen- schaftliche Arbeit, sondern vielmehr durch eine geniale Intuition^ zu lösen, mit der der Philosoph den Zusammenhang der Erfah- rung »deutet«. Diese Ansicht ist für Schopenhauers Stellung innerhalb der deutschen Philosophie nach jeder Richtung hin entscheidend. Sie stellt ihn zunächst dem Bestreben gegenüber, die Philosophie als eine apriorische Begriffswissenschaft nach eigener Methode zu entwickeln; er leugnet, daß jemals ein großer Philosoph auf dem Wege der Methode zu seinen Lehren ge- kommen sei; er meint vielmehr, der Nachfolger stümpere sich immer erst aus der genialen Schöpfung des Selbstdenkers müh- sam die Methode etwa ebenso zusammen, wie der Ästhetiker aus der Produktion des großen Künstlers die Kunstregel heraus- lese. Daraus geht ungewollt hervor, daß auch Schopenhauer das philosophische mit dem ästhetischen Produzieren in eine ganz ähnliche Parallele setzte wie die Romantiker; auch seine Tendenz einer künstlerisch anschauenden Philosophie trägt den Stempel jener Zeit der innigen Verknüpfung von Dichtung und Philo- sophie. Deshalb war ihm niemand so sehr zuwider wie Hegel, der diesem Zusammenhang ein Ende machen und die Philosophie wieder zu einer reinen Begriffswissenschaft gestalten wollte, wenn auch eben nur wollte./ Auf der anderen Seite weiß sich Schopen-

Dor Wille als Din^an-sicb. 375

liaiKM* in der in^i<^^ste^ lU'riilirun^ mit der Erfahrung. Seine Philosophie will nichts als die Erfahriin«^ erklären. Aber das sei eben nur dadurch niöj^^lich, daß vor der unmittelbaren An- schauimt; sich die L,^eheime Verwandtschaft und das innerste Wesen aller Erscheinun<];en enthüllt. Metaphysische Erkenntnis ist nicht durch das auf Raum, Zeit und Kausalität beschränkte Denken, sondern nur durch unmittelbares Erfassen des Wesens der Dinge möglich. Indem Schopenhauer das metaphysische Be- dürfnis innerhalb der Kantischen Erkenntnistheorie erfüllen will, spricht er dem Menschen eine intellektuelle Anschauung zu, wenn er auch diesen Namen vermeidet, imd er hätte sich nicht so sehr über Fichte und Schelhng lustig machen sollen, denen er es nachtat. Auch er fühlte sich vornehm im Besitz dieses ge- nialen »Blickes über die ganze Erfahrung«, welcher nicht durch die Arbeit der wissenschaftlichen Erkenntnis gewonnen werden könne, sondern nur eine Gabe des bevorzugten Geistes sei. In der Tat besaß er selbst die geniale Unmittelbarkeit anschaulicher Auffassung der Gegenstände ebenso wie die glückliche Kraft künstlerischer Wiedergabe dieser Anschauung.

Es kommt hinzu, daß sogar die Art jener intellektuellen An- schauung bei Schopenhauer auf ein Haar derjenigen von Fichte gleicht. Es ist die subjektive Selbstanschauung, welche ihn wie Fichte lehrt, daß das wahre, aller Vorstellung und aller Erschei- nung zugrunde liegende Wesen der Persönlichkeit der Wille ist. Wenn das Subjekt sein eigenes Wesen anschaut, so erkennt es, daß sein ganzes Bewußtsein nur seine Selbsterscheinung, sein wahres und unveränderliches Wesen dagegen seinXharakter oder sein^ Wille ist. Aus dieser Intuition folgert Schopenhauer ledig- lich nach dem Prinzip des h xctl Tiav, daß die metaphysische Betrachtung per analogiam den Willen als das allgemeine Ding an sich zu betrachten habe, das allen Erscheinungen ausnahmslos zugrunde liegt. Alle ^Kräfte und triebe, welche die Erschei- nungen darstellen, sind nur Manifestationen des einen unend- lichen Willens, den unsre Selbstanschauung uns als unser eignes Wesen erkennen läßt. Dabei muß freilich aus dem Begriff des Willens das Merkmal der bewußten Absicht fortgelassen werden: nur der unbewußte Wille ist mit der Kraft und dem Triebe zu identifizieren, und diesen meint auch Schopenhauer zunächst

376 Schopenhauer.

nur, wenn er gleich sich über diese seine Anwendung des Wortes nicht näher ausgelassen hat. Gerade darauf aber beruht, wie sich leicht absehen läßt, eine gewisse Zweideutigkeit, indem ge- legentlich jener dunkle Welttrieb doch wieder Merkmale zeigt, die eigentlich nur dem bewußten, durch Vorstellungen motivierten Willen beiwohnen.

In betreff des Verhältnisses zwischen dem Willen als "^ Ding an sich und der Erscheinungswelt herrscht nun in Schopenhauers Lehre eine eigene und charakteristische Zwiespältigkeit. Den erkenntnistheoretischen Grundlagen imd zumal der Kausalitäts- lehre gemäß kann der Wille in Schopenhauers Metaphysik nun und nimmermehr die Ursache der Erscheinungen genannt werden. Die Sinnenwelt heißt deshalb, echt kantisch, bei Schopenhauer nur die »Objektität« des Willens, d. h. die Form, worin das Ding an sich für die Vorstellung erscheint. Allein wie bei Kant, so heißt es doch auch hier wieder, daß der »Grund« der Er- scheinung im Ding an sich liege. Wenn aber so das Verhältnis von Ding-an-sich und Erscheinung mit dem von Grund und Folge gleichgesetzt wird, so ist es bei Schopenhauer doch wieder nicht ein bloß logisches Verhältnis (wie etwa bei Spinoza), sondern eine^eale, eine metaphysische Beziehung, die von dem ursäch- lichen Verhältnis kaum noch zu unterscheiden ist; und so wird bei der Ausführung des Systems wenigstens im Ausdruck imd viel- fach auch in der sachlichen Auffassung Schopenhauers »Wille« wieder zu der erzeugenden Weltkraft, welche die Sinnenwelt verursacht.

Die^Welt an sich'' also ist die TVelt als Wille.^' Schärfer als bei irgend einem anderen tritt bei Schopenhauer die Tatsache hervor, daß die Weltanschauung auch in der deutschen Philo- sophie wesentlich eine metaphysische Umdeutung der psycho- logischen Ansicht enthält. Die vorkantische Philosophie betrachtet überall die Yorstellun^ als das Prius und den Willen als das durch sie Bestimmte: daher ihr Determinismus, daher ihre Auf- fassung der logischen Gesetze als Weltgesetze, daher jener inteUi- gible Fatalismus von Leibniz*). Die nachkantische Philosophie

*; Vgl. Bd. I dieses Werkes, S. 505.

Itt'1ttfi'nil^^

W ilU; zum Leben. 377

sieht, wofür Fichtes Lehre von dem sekundären Charakter dea Bewußtseins typiscli ist, im Willen das bestimmende Wesen des deistes und in der Vorstellung hloß seine Erscheinungsform; daher ihre Freihcitslehre, daher der Primat der praktischen über die theoretische Vernunft, daher die Lehre vom Willen als dem Ding an sich. In dieser Hinsicht steht also Schopenhauer völlig auf dem Standpunkte der Wissenscliaftslehre. Aber er verläßt ihn durch seine gänzlich veränderte Auffassung vom Wesen des Willens. Darin zwar stimmt er mit Fichte überein, daß der Wille als Ding an sich auf nichts anderes als auf sich selbst gerichtet sei: er ist nichts als der Wille zu wollen oder, da nach dieser Lehre alles^ Leben" nur Erscheinung des Willens und im tiefsten Grimde nur immer wieder Wille ist, der »Wille zum Leben«. Aber Fichte bezeichnete dieses Handeln um des Han- delns, dieses Streben um des Strebens willen als das sittliche und deshalb als"^^ praktische Vernunftr Diese Nebenbestimmung streicht Schopenhauer, und darauf beruht sein ganzer Unter- schied von Fichte. Man kann sagen, daß er dabei vielleicht in gewissem, rein äußerlichem Sinne konsequenter verfuhr. Denn die bloß formale Bestimmung des »Tuns um des Tuns willen« ist eben in der Tat noch nicht die inhaltliche Bestimmung des sitt- lichen Tuns, und sie wird von Fichte nur aus persönlicher Über- zeugung und mit Kücksicht auf Kants kategorischen Imperativ so gedeutet. Schopenhauer macht völHg Ernst mit dem Begriff eines ^unbewußten Willens^, der gar nichts weiter will als wollen, der darum seine eigene endlose Fortsetzung involviert, der gar kein inhalthches Ziel hat, und der deshalb der absolut unvernünftige '_ Wille ist. Mit dieser Wendung schlägt Schopenhauers Lehre noch mehr als mit ihrer grundsätzlichen Methodenlosigkeit in den Irra- tionalismus um. Das Bewußtsein mit allen seinen vernünftigen Formen ist nur Erscheinung. Das Wesen, das sich darin dar- stellt, ist die absolute Unvernunft eines W^illens, der immer nur wollen will. Mit dieser Veränderung wird Schopenhauers Lehre zur Fratze der Fichteschen. Beide betrachten den Willen als das Urprinzip aller Dinge: aber die Züge des sittlichen Willens, den die Wissenschaftslehre zum Prinzip machte, verzerren sich bei Schopenhauer zu der Unvernunft eines blinden und inhaltlosen Triebes.

378 Schopenhauer.

Hieraus erklärt sich ein merkwürdiger Gegensatz, der sich durch alle Lehren Schopenhauers hindurchzieht, und der auch in seinen Konsequenzen genau an die Schellingsche Lehre von der Schöpfung der Welt aus dem unbewußten Willen und der Ver- nunft erinnert. Als Erscheinung des Willens muß die Sinnenwelt zweckmäßig, d. h. vernünftig sein: als Erscheinung des unver- nünftigen Willens muß sie den Stempel dieser Unvernünftigkeit an sich tragen. So verknüpft sich bei Schopenhauer in wunder- licher Weise eine teleologische Naturbetrachtung mit dem Pessi- mismus, der zugleich ein Ausfluß seiner persönlichen Weltbetrach- tung ist, und um den Widerspruch voll zu machen, kommt die Schwierigkeit hinzu, wie man sich denken soll, daß jener im ver- nünftige Urwille den Einfall gehabt hat, in der Gestalt des ver- nünftigen Bewußtseins zu erscheinen, eine Frage, die gerade so schwer wiegt, wie im umgekehrten Falle bei dem Optimismus der theoretischen Vernunft das Problem, weshalb die gütige Weis- heit eine solche Welt von Elend und Sünde hervorgerufen hat.

Die Naturphilosophie, die Schopenhauer in seiner Schrift »Über den Willen in der Natur« (Frankfurt 1836) ausgeführt hat, zeigt die »Objektivation« des Willens in drei Hauptstufen: in der niedrigsten Form erscheint der Wille als mechanische Ur- sache, in höherer Gestalt schon in dem organischen Keiz, in voll- endeter Entfaltung endlich als bewußt bestimmendes Motiv im ani- malischen Wesen. So stellt sich die Natur als ein Stufenreich von Manifestationen des Willens dar, in welchem dieser allmählich aus der äußerlichsten in die innerliche Form der Kausalität übergeht. Der ganze Prozeß der Kausalität in der Natur hat also den Sinn, daß in ihr der Wille aus der unbewußten sich in die bewußte Er- scheinungsform verwandelt, ein Gesamtresultat, worin, so ver- schieden die begriffliche Formulierimg ist, doch der Grundgedanke von Schellings Naturphilosophie unverkennbar wiederkehrt. Diese Verwandtschaft wurzelt in der gemeinsamen Abhängigkeit von Fichte, der alle Kraft und allen Trieb als eine Wirkung des »Willens« auffaßte: so ist für Schelling das innerste Wesen der Natur der Trieb, »Ich« zu werden; für Schopenhauer ist es der imbewußte Wille, der schließlich zum Bewußtsein und zur Vernunft gelangt. Allein die Allgemeinheit der »Deutung«, welche Schopenhauer nur für seine metaphysische Auffassung der Erfahrung in Anspruch

Nuturphilüsophie. *^79

nahm, verhinderte ihn dabei, den tatsächlichen Erkenntnissen der Naturwissenschaft derarti<jj Gewalt anzutun, wie es von Seiten Schellings und seiner 7Vnhän<^er «geschah, und so vertrug]; sich in der Tat die Schopcnhauersche Lehre mehr mit der empirischen Wissenschaft, als es seit Kant bei den Philosophen der Fall ge- wesen war. Darin liegt ein Hauptgrund dafür, daß Schopenhauer später bei den Natiu'forschern eine verhältnismäßig ausgedehnte Anerkennung gefunden hat. Aber auch darin steht Schopenhauers Naturauffassung derjenigen des späteren Schelling nahe, daß er di^Kräfte,^ Gesetze und Gattungstypen als die wandellosen Ideen bezeichnet, in denen sich durch den ewigen Wechsel hindurch das konstante Wesen des Willens offenbart. Es ist das Platonische Element, welches sich in dieser Lehre auch bei Schopenhauer geltend macht, hier aber schwer mit der anderen Behauptung zu vereinigen ist, daß der all-eine Wille erst durch Raum und Zeit individualisiert erscheint. Die Ideen , als das Unräumliche und Außerzeitliche, bilden in ähnlicher Weise eine Zwischenstufe zwischen der Sinnenwelt und dem Willen, wie bei Piaton zwischen derselben und der Idee des Guten.

Dasselbe, was von den Ideen in der Natur, gilt innerhalb der Schopenhauer sehen Lehre auch für die individuellen Charaktere. Auch sie enthalten eine Individuation des Willens, welche der räumlich-zeitlichen Erscheinungsform vorhergehen soll. In dieser Hinsicht war Schopenhauer so glücklich, eine volle Überein- stimmung zwischen den beiden von ihm am höchsten verehrten Denkern, Piaton und Kant, zu konstatieren, und er führte die Lehre vom intelligiblen Charakter weiter, für die auch Schellings Freiheitslehre das Interesse neu belebt hatte. Da die Motivation sich als eine Form der natürlichen Kausalität zu er- kennen gab, so nahm auch Schopenhauer für die Entwicklung des enapirischen Charakters imd für die Genesis aller seiner Handlungen den vollen Determinismus an. Für diese gesamte »Erscheinung« aber machte auch er den intelligiblen Charakter verantworlich , aus dessen unbegTeif lieber Freilieit des Seins die ganze Notwendigkeit des Tuns folge. Im Grunde genommen sind also auch hier die freien Individualcharaktere l)inge an sich,^ welche als ^^ Ursachen der ^Erscheinung "^ ebenso wie bei Kant fi- gurieren.

m

380 Schopenhauer.

Es hängt mit der lediglich formalen und des ethischen Merk- mals entkleideten Begriffsbestimmimg des Willens zusammen, daß Schopenhauer für die Ethik eine ganz andere Basis als Kant und Fichte suchen mußte. Bei ihm ist das Wollen durch kein Sollen bestimmt, und er muß daher die ganze imperativische Form der Moralphilosophie verwerfen. Er kehrt deshalb zu der früheren Auffassung zurück, daß es sich darin nicht um die Auf- stellung von Geboten, sondern um die metaphysische und psycho- logische Erklärung des wirklichen sittlichen Lebens handelt. Infolgedessen geht seine ganze Untersuchung auf den Eudä- monismus zurück und betrachtet das Glückseligkeitsstreben als das Grundmotiv des empirischen Willenslebens. Allein die ego- istische Form der Motivation hängt lediglich an der Täuschung, als ob die einzelnen Wesen für sich bestehende wären. In Wahr- heit ist es ja nur der eine, selbe Wille, welcher in Raum und Zeit differenziert erscheint*), und für diese Erkenntnis ist alles, was wir dem anderen Wesen tun, Gutes und Böses, uns selbst getan. Hierauf beruht die Möglichkeit der ethischen Motivation, in welcher das Individuum das fremde Interesse zu dem seinigen macht. Als die Grundform des Altruismus betrachtet aber Schopen- hauer nicht die »wohlwollende Neigung«, sondern vielmehr das Mitleid. Das ist die Konsequenz des Pessimismus, der sich bei ihm unmittelbar an den Begriff des Willens anschließt. Denn ein Wille, der immer nur wollen will, ist seinem Wesen nach der in alle Ewigkeit unbefriedigte Wille. Gerade dadurch, daß er seinen Zweck erreicht, erzeugt er sich von neuem, und mit ihm ist deshalb in der bewußten Erscheinung das Gefühl der Unlust notwendig und unentf liehbar verknüpft.

Dieser Argumentation kann man freilich entgegenhalten, daß, wenn der Wille nichts will als wollen, er seinen Zweck ja durch sich selbst immerfort erreicht und so der stets befriedigte Wille ist. Im besonderen hat daher Schopenhauer immer den Pessimis- mus hedonistisch begründet, indem er die Unerfüllbarkeit des Glückseligkeitsstrebens aus den Tatsachen zu beweisen suchte:

*) An dieser Stelle besteht zwischen der Lehre von der außerzeitlichen Ding-an-sich-haftigkeit der Individuen und der metaphysischen Basierung der Ethik eine von Schopenhauer, wenn überhaupt, so jedenfalls erst spät bemerkte Differenz,

PessinunmuB. ,'i81

wie denn bei dem Philosophon Hclhst der Pes-simLsmus, soweit er iiichl. l)lüß die 'J'hcorio des zuschiiuendon I^ctrachtcrH war, auf die porsöidichon Gefühle, auf s(iinniun«^sniaüi<^«' Vcranla;4un;4 und dadurch gefärbte KrlebiiiHse zAiiiick^ing. In seiner Pliilosophie wird er nicht müde, die Frivolität zu brandmarken, womit der hindljlufige Optimismus dem Elend der Wirklichkeit gegenüber von einer unbegreiflichen Zweckmäßigkeit und Weisheit der Welt- einrichtung zu predigen weiß. Er zeigt, daß dem geringen Quantum von Lustgefühl, das in dieser Welt mciglich ist, im besten Falle stets eine größere Unlust des noch unbefriedigten Triebes vor- hergeht, und betrachtet deshalb die Unlust als das positive Ge- fühl imd die Lust nur als den Mangel daran. So enthält dieser Pessimismus bis in die einzelnen Lehren hinein eine Umkehrung der Theorien von Leibniz' Theodicee: es ist der auf den Kopf gestellte Optimismus; beide sind widersprechende Antworten auf die eudämonistisclie Frage, deren prinzipielle Yerfehltheit Kant eingesehen hatte. Deshalb aber ist nun für Scliopenliauer das "Mitleid das ethische Grundgefühl; die sittliche Handlung besteht ihm in der Linderung der fremden Not und erst sekundär in der tätigen Liebe für das fremde Wohl, wobei er besonders hervor- gehoben hat, daß er nach seinen Grundsätzen der einzige unter den europäischen Moralphilosophen direkt auf die Tiere die sittliche Verpflichtung des Mitleids und der Liebe ausdehnt. Allein selbst dies ethische Handeln bleibt doch nur ein Palliativ. Dem Willen ist die Unlust wesentlich, und eine völlige Aufhebung des Elends der Welt ist nur dadurch möglich, daß die Axt an diese tiefste W^urzel, an den Willen selbst, gelegt wird. Es hüft schließlich nichts, daß der Wille aus der egoistischen in die al- truistische Richtung gebracht wird; denn er führt auch so immer nur zum Elend. Es gibt vor dem Leid nur eine Rettung : das ist die Flucht in das Nichts. Diese Rettung ist nicht durch die Auf- gebung des irdischen Lebens zu erreichen; denn der individuelle Wille ist ein unzerstörbares Ding an sich, er würde sich sogleich eine neue Erscheinungsform schaffen. Die Metempsychose läßt den Selbstmord als eine Torheit erscheinen. Die Vernichtung muß nicht die Objektivation des Willens, sondern diesen selbst treffen. Erst wenn der Wille aufhört, endigt auch die Unlust, die er notwendig bei sich führt. Über dem ethischen Handeln

382 Schopenhauer.

stellt der Quietismus der Willenlosigkeit, über der tätigen Liebe die asketische Weltentfremdung, die Einsicht in die Nichtig- keit alles Strebens und die vollkommene Abtötung aller Triebe. Die mystisch orientalische Lehre vom Aufgehen der sündigen Einzelexistenz in die Gottheit verwandelt sich in das Ideal der absoluten Vernichtung. Fichtes zweite Lehre sah im sittlichen Leben nur die Vorbereitung zu der höheren »Seligkeit« der Gottes- anschauung: für Schopenhauer ist diese Seligkeit das Nichts; die Aufhebung alles Willenslebens ist zugleich die absolute Vernichtung. Denn bei Schopenhauer steht hinter dem Willen nicht mehr, wie in Fichtes zweiter Lehre, das absolute Sein, das der willenlose Intellekt »anschauen« könnte. Die Darstellung dieser Schlußlehre verbrämt Schopenhauer mit Analogien aus der indischen Philosophie, von der damals die ersten Bruchstücke in Europa bekannt wurden; die Büßer am Ganges, die, nicht mehr vom Schleier der Maja ge- täuscht, sich in das Nirwana versenken, werden ihm zum philo- sophischen,(" wenn auch nicht zum persönlich befolgten) Ideal. Wie nun freihch nach seinen metaphysischen Bestimniungen diese Quieszierung des Willens möghch sein soll, ist durchaus nicht abzusehen; er erklärt sie deshalb für eine" Wiedergeburt, die ebenso ein Mysterium bleibe wie die^^Freiheit. In dieser Verneinung des Willens zum Leben, in diesem totalen Aufgeben aller und selbst der sittUchen Willenstriebe sieht Schopenhauer den eigentlich religiösen Akt; er bildet ihm auch den tiefsten Gehalt des Christentums, dessen pessimistische Seite, wie sie in dem Erlösungs- bedürfnis unverkennbar ausgesprochen ist, von Schopenhauer ge- rade im Gegensatz zu dem optimistischen Dogma von der gött- lich enW eltschöpf ung und Weltregierung geflissentlich hervorgehoben wird. So kommt der Philosoph zu der Paradoxie, ein religiöses Verhalten ohne den Glauben an die Gottheit zu statuieren. Bei Fichte und seiner ersten Lehre war eine ähnliche Kombination insofern vorhanden, als es auch für ihn nicht den Glauben an die Existenz einer göttlichen Substanz, sondern nur denjenigen an ein absolutes sittliches, Ideal gab. Schopenhauers ^Wille ist der unvernünftige, und sein Ideal ist deshalb das Nichts. Aber weder dies Ideal noch jener vernunftlose Wille können Gott genannt werden: deshalb bekennt sich Schopenhauer zu der »atheistischen Religion« des Buddhismus.

Vorncinuni^ tlcB Willeni«. ,'JH3

Dio absolute Quif^Hzirrun«^ des Willens N\ür(lc' mit ihm Hclbst auch srine i;caamtc Ei. schein irnj^Hform vernichten, sie wäre idcn- tiscli mit dem Knde der Welt. Sie int also für öihopciihaU(!r, was Kant einen (Jrenzbegriff oder eine Idee genannt haben würde. Er betont aber dabei eben das Merkmal ihrer Unerfüllbarkeit in der Erscheinungswolt. Sie gilt ihm deshalb auch nicht als ein Ziel, auf welches die letztere in allmählicher Entwicklung zu- streben kömite. So dumm ist der Wille nicht, daß er auf seine Vernichtung hinarbeitete. Infoluedessen verhält sich Schopenliauer zu den geschichtsphilosophischen Tendenzen auch Kants durchaus ablehnend. Er leugnet jeden Fortschritt im historischen Prozeß: ihm gilt die Geschichte nur als eine ewige, sinnlose Wiederholung des Elends, worin sich der Wille zum Leben stürzt. Seine Welt- anschauung ist völlig unhistorisch; sein Irrationalismus wendet sich vor allem gegen die Geschichte, in der er keine Spur von Vernunft anerkennt, und er ist darin allerdings der konsequenteste unter den Gegnern Hegels.

Allein innerhalb der Erscheinungswelt gibt es doch auch für Schopenhauer eine partielle Vernichtung des Willens, die deshalb die wahre Seligkeit mitten darin gewährt. Im allgemeinen ist der Intellekt die Erscheinung des Willens und durch ihn bestimmt. Nach dem Primat der praktischen Vernunft hegt der Trieb des Denkens im Willen. Aber es gibt eine Möghchkeit, vermöge deren der Intellekt sich vom Willen zu befreien vermag. Wo er es er- reichen kann,^mteTesselos anzuschauen und zu denken, da schweigt, wenn auch nur für Momente, der unselige und törichte Wille, und da entsteht in der bloßenBetrachtung die intellektuelle Lust, die deshalb als eine Erlösimg von den Lbeln des Trieblebens wirkt. Es ist klar, welchen Wert in diesem Zusammenhange für Schopen- hauer der Kantisch- Schillersche Begriff der" interesselosen Betrach- tung' gewimien mußte ; sie hat für ihn fast genau denselben Wert wie bei den Eomantikern die~Ironie, d. h. sie ist der Genuß der Phantasie, welche von aller Arbeit des W^illens frei geworden ist, und sie bildet für ihn in der Erschein ungs weit die Erfüllung des religiösen Bedürfnisses nach der Vernichtung des Willens. Aber er gibt ihr einen allgemeineren, nicht nur ästhetischen Sinn. Das interesselose Anschauen gewährt der ästhetische Naturgenuß und die Kimat, das mteresselose Denken gewährt die Wissenschaft;

384 Schelling,

In dem ästhetischen und dem wissenschaftlichen Verhalten ist der Intellekt vom Willen frei geworden und betätigt das dadurch, daß er in beiden Fällen sich nicht mehr auf die Besonderheit der einzelnen Erscheinungen, sondern auf das Allgemeine, auf die Idee und das Gesetz richtet, das sich darin darstellt. So wird auch Schopenhauer ein Prophet jener Bildung, welche in Kunst und Wissenschaft ihre Religion hat und darin ihre Erlösung von

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dem Leide des Lebens findet. Der intellektuelle Genuß ist die wertvolle Selbstbefreiung, die das vernünftige Bewußtsein dem dunkeln und unvernünftigen Weltgrunde abgerungen hat. Und so geht am Schluß der Schopenhauerschen Philosophie klar und deutheh das dialektische Prinzip des W^iderspruchs hervor, worin sie ihren historischen Ursprung hatte: der dumme Wille hat wüßte man nur wie das vernünftige Bewußtsein erzeugt, das ihn zu überwinden berufen ist. Dieser Zwiespalt zwischen dem Willen und dem Intellekt beherrscht die ganze Philosophie Schopen- hauers: er bildet die Einheit seiner Lehre wie seiner Persönlichkeit und seines Lebens.

Schopenhauers System ist der Beweis davon, daß Schelling auf dem Wege, der ihn zuerst zu dem Begriffe eines unbewußten und irrationalen Weltgrundes geführt hatte, sich nicht allein be- fand. Aber auch Schelling selbst ging in derselben Richtung noch weiter fort. Er überzeugte sich immer mehr davon, daß das[Wollen das Höchste sei und die unbegreifliche Urtatsache genannt werden müsse. Man kann von ihm nur sagen, daß es^ ist, nicht daß es notwendig ist, und in diesem Sinne ist es der »Urzufall«. Es spottet jeden Versuchs, es aus irgendwelchen Vernunftprinzipien zu deduzieren. Es ist vielmehr da, mitten in der vernünftigen Welt, und es ist sogar der tiefste Grund, auf dem diese sich aufbaut. Das ganze System der endlichen Dinge ist vernünftig gestaltet, aus der Vernunft abzuleiten und deshalb a priori zu erkennen. Aber daß es überhaupt da ist, daß es aus dem Absoluten sich entwickelt hat, dieser »Abfall« des Universums von Gott und der- jenige der Vernunft von dem irrationalen Weltgrunde ist selbst nicht rational zu deduzieren. Deshalb bezeichnet Schelling jetzt allen Rationalismus, auch sein früheres Identitätssystem, besonders aber die ganze Hegeische Lehre als die Wissenschaft vom End-

Positive l'hilüsoiihie. .'iH5

liclicn oder auch als die negative l'hiloHophic und erklärt es für die schwoi'öto aller Verirrunj^en , w(^nn man in dieHcr die ganzo riiiloaophie zu besitzen meine. Zu ihrer Er^änzun;^ bedürfe es einer i>positiven Philosopliie«, die jenen unau.-.sa^baren Welt- grund und seine Entwickhuiif zu der vernünfti^'cii Welt als ihren Gt^genstand behandelt. Diese positive Philosophie kann jiber selbst nicht eine rationale Deduktion enthalten, sondern muß sich auf die Erfahrung stützen, in welcher sich der unvernünftige Weltgrund geltend macht. Die positive Philosophie will meta- physischer Empirismus sein. Die Einsicht, daß es einen für die Vernunft unauflöslichen Rest der Erscheinungen gibt, verlangt eine Ergänzung des Rationalismus durch die Erfahrung. Das hat Schelling, der vielgestaltige Vertreter der aprioristischen Philo- sophie, zum Schluß erkannt. Aber nach den Prämissen seinas Denkens kann diese Erfahrung nicht diejenige einzelner endlicher Tatsachen sein; denn diese gehören dem vernünftigen Denken an; sondern es kann nur die Erfahrung sein, welche die Vernunft von dem unendlichen Weltgrunde macht: das religiöse Bewußtsein. Prinzipiell vollzieht also Schelling schließlich genau den Gedanken Jacobis. Aber er faßt dabei das reUgiöse Bewußtsein nicht wie dieser in einer individuellen Form auf, wodurch jede philosophische Behandlung der Sache unmöglich gemacht wird, sondern er ver- folgt den Gedanken, daß es der absolute Weltgrund selbst ist, der sich in dem vernünftigen Universum entwickelt, imd daß somit die einzelnen Momente seines Wesens in den verschiedenen Auffassimgen vom Wesen des Weltgrundes zutage treten müssen, welche die Vernunft der Erscheinimgswelt in ihrer bewußten Form erzeugt hat. Die metaphysische Erfahrung der „positiven Philo- sophie ist also keine andere als das religiöse Vorstellungsleben der Menschheit in seiner historischen Entwicklung. Die meta- physische Erfahrung ist die der 'Offenbarung', aber der Offen- barung weder in einer individuellen noch in einer besonderen konfessionellen Form, sondern vielmehr in der Gesamtheit der Vorstellungen, worin sich der Weltgrund für das vernünftige Be- wußtsein überhaupt jemals dargestellt hat. In den Kreis dieser Erfahrung gehört also nicht nur diejenige göttliche Offenbarung, welche als solche ausdrücklich geglaubt wird, sondern auch die- jenige, welche noch naiv als die natürliche Vorstellung vom Wesen

Windelband, Gesch. d. n. Philos. II. 26

386 Schelling.

der Gottheit erscheint, d. h. die mythologische Form des Gottes- bewnßtseins. Deshalb ist die positive Philosophie eine Philo- sophie der Mythologie und Offenbarung. Damit kehrt der Greis Schelling zu Interessen zurück, die er schon als Jüngling verfolgt und nie vergessen hatte. Schon achtzehnjährig schrieb er >>Über Mythen, historische Sagen und Philosopheme der ältesten Welt«. Am Ende der Kunstphilosophie deutete er an, daß viel- leicht die Naturphilosophie geeignet wäre, eine neue Mythologie zu schaffen, vermöge deren die altheilige Verbindung von Kunst und Religion wieder herbeigeführt werden könne. In diesem Sinne war die Schrift angelegt, die er unter dem Titel » Die Welt- alter« lange versprach, in den dreißiger Jahren teilweise aus- arbeitete, aber aus dem begonnenen Druck wieder zurückzog; imd dieser Plan war es endlich, den er in den Berliner Vorlesungen ausführte. In das weitere Publikum drangen darüber außer vagen Gerüchten zunächst nur die unzuverlässige Nachschrift von Frauen- städt (Schellings Vorlesungen in Berlin, Berlin 1842) imd eine Karikatur, welche ein persönlich verbissener Gegner, der Ratio- nalist Paulus, unter dem Titel: »Die endlich offenbar gewordene Philosophie der Offenbarung« auf Grund von Heften der Zuhörer 1843 erscheinen ließ. Erst in den gesanmaelten Werken sind Schellings eigene Niederschriften für diese Vorlesungen als die vier Bände der zweiten Abteilung veröffentlicht worden, und so hat sich ein Bild von dem großen Plane gewinnen lassen, den er durch die wunderhchen Konstruktionen des Ganzen hindurch verfolgte. Gleich zu Anfang haben ScheUings Gegner mit Phrasen wie Mystik, Gnostizismus usw. nicht gespart, und diese pflegen um so mehr nachgesprochen und nachgedruckt zu werden, als man sich dadurch der Mühe überhebt, jene vier Bände zu lesen und zu verstehen. Aber man braucht in dieser letzten Phase des Schellmgschen Denl^ens nicht das Heü der Zukunft zu suchen und kann doch die Großartigkeit der Tendenz und die gelehrte Vielseitigkeit, sowie den überraschenden Kombinationsblick darin anerkennen. Da nämlich nach dem früheren Prinzip für Schelling die Entwicklung der Welt mit derjenigen der Gottheit identisch ist, so erhalten wir eine Religionsphilosophie in der Form einer philosophischen Religionsgeschichte. Dabei waltet im ganzen der dialektische Grundgedanke ob, daß die einzelnen

Älytholo^io und OfTenliaruiig. 387

Moinrutp des «^öttlicIuMi Wesena in ihrer Vereinzelung sukzewiive bei dieser Entwicklung der Mytlien und der Offenbarungen luirvor- treton, und daß nur die absolute Synthese aller dieser Moment«^ die vüllkominene Erkenntnis des i^öttlichen Wesens enthüll. So ist es im Grunde genommen genau das Prinzip der Hegeischen Philosophie der Geschichte und des HegelsclK^n Systems überhaupt, was Schelling in der Theosophie geltend macht, und obwohl er das irrationale Moment in seiner vollen Bedeutung durchschaut hat, bleibt er doch bis zum Ende Dialektiker. Die besondere Ausführung dieses Planes ist natürlich durch den damaligen Stand der mytliolouischen Forschungen und Hypothesen bedingt, und man wird Schelling nicht absprechen dürfen, daß er auch hier in das zerstreute Material überaus glückhch den ideellen Zasammen- hanü: hineinzudenken verstand. Freilich verfuhr er dabei mit den historischen Tatsachen gelegentlich ebenso willkürlich, wie einst mit den physikalischen. Wieder fügt sich unter seiner Hand das gesamte Material dem triadischen Schema, und dor 'Gottesbegriff, der so gewissermaßen aus dem Niederschlage der ganzen Rehgions- geschichte gewonnen werden soll, zeigt die aufsteigende Reihe von drei Entwicklungsstufen. Die erste bildet na türhch jenes blind not- / i wendige Willenssein, der dunkle Drang zum Leben, den schon die »Freiheitslehre« als die ewige Natur in Gott bezeichnet hatte, und den man auch den Schopenhauerschen Willen nennen könnte. Den dialektischen Gegensatz dazu enthält der sich selbst offenbar (^ ) weidende Wille, den Schelling wiederum in drei Stufen entwickelt, wonach er zuerst als bewußtlos schaffender Wille die wirkende Naturkraft oder die causa materiaHs, sodann als besonnener Wille das tätige Weltleben oder die causa efficiens, endhch als zweck- tätiger Wille der sich selbst begTeifende Weltzweck oder die causa finalis ist. Den Abschluß dieser Selbstevolution bildet also das Bewußtsein, und so erweist sich auch hier, daß die irrationalistische Dialektik auf den Gegensatz von Willen und Denken oder von unbewußtem imd bewußtem psychischen Leben hinausläuft. Die Synthesis endlich dieser beiden Momente enthält den absoluten ^ / Gottesbegriff als denjenigen einer Überwindung des dunkeln durch den offenbar gewordenen Willen. Diese Überwindung ist der Inhalt des christlichen Gottesbegriffes in seiner trinitären Fassung. Die Möglichkeit der Überwindung ist der ^ater, die Macht der

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388 Feoerbach.

Überwindung ist der Sohn, die Vollendung der Überwindung ist der Geist. So endet Schelling mit einer spekulativen Ümdeutung des positiven Dogmas, und der Grundgedanke ist dabei der einer Über- windung des unvernünftigen Weltgrundes durch seine eigene ver- nünftige Offenbarung. Es ist das positive Gegenstück zu Schopen- hauers Lehre von der Verneinung des Willens durch die vernünftige Erkenntnis seiner Unvernunft. Die volle Herrschaft dieses höchsten Gottesbegriffes erwartet Schelhng erst von der Zukunft. In der Geschichte des Christentums konstruiert er mit Kant und Fichte drei Perioden, die Petrinische des Katholizismus, die Paulinische des Protestantismus und als ihre Versöhnung die Johanneische Eehgion der Liebe, das Christentum der Zukunft.

So erfolglos diese letzte Konstruktion Schellings sich in der Geschichte der Philosophie erwiesen hat, so zeigt doch ihr Grund- motiv, mit wie tiefem Verständnis er bis zum Ende der philo- sophischen Gedankenbewegung folgte. Er begriff vollständig, daß die Zeit des aprioristischen Kationalismus vorüber war, und daß der unerklärte Rest in der Wirklichkeit für die Dialektik eine Ergänzung notwendig mache, welche nur durch irgend eine Er- fahrung gewonnen werden könne. Seinen Versuch, diese nur im religiösen Bewußtsein zu finden, versteht man aus seiner Ent- wicklung; aber seine Zeit verschmähte ihn und griff um so be- gieriger nach einem anderen, welcher den metaphysischen Em- pirismus, dessen Notwendigkeit Schelling erkannt hatte, auf dem entgegengesetzten Ende, bei der sinnlichen Wahrnehmung suchte. Auch dieser führte zu einer Art von Irrationalismus, zu einer freilich ganz anderen und viel roheren Lehre von dem unver- nünftigen Weltgrunde. Der große Träger der idealistischen Ent- wicklung war vor der Plumpheit sicher, den bewußtlosen Urgrund der Wirklichkeit in dem materiellen Stoff zu suchen, der als ein Vorstellungsprodukt durch die Kantische Lehre ein für allemal erkannt ist. Aber wer diese vergaß, der konnte wohl wieder an den Gedanken geraten, da, wo der Rationalismus scheiterte, auf die^Materie ' als auf den irrationalen, nur durch die sinnliche Er- fahrung in das Bewußtsein tretenden Weltgrund hinzuweisen. Die einzig originelle Form daher, worin unter den Deutschen der Materialismus je gelehrt worden ist, ging von einem Manne aus,

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VerhUltni« zu Hrj^el. 3HiJ

der sich von dem Rationalismus durch dio Einflicht in dessen Unzulänglichkeit befreite. Dies ist die historische Sti»llung Ludwig Feuerbachs, und deshalb muß der Gedanken<^anji, durch den er zu seiner »Philosophie der Zukunft« gelanj^te, schon in diesem Zusammenhang entwickelt werden, während die rcligionsphilo- //fff sophische Zersetzung der l[egelschen Schule und die materialistische Bewegung, mit denen Feuerbach verwachsen ist, erst an späterer Stelle zm* Darstellung kommen.

Er war 1804 als Sohn des bekannten Kriminalisten Anselm Feuerbach zu Landshut geboren, besuchte in München und Ans- bach die Schulen mid studierte in Heidelberg und Berlin. Hier sattelte er unter dem Einflüsse Hegels von der Theologie zur Philosophie um, beschäftigte sich sodann in Erlangen eingehend mit naturwissenschaftlichen Studien und habilitierte sich an dieser Universität 1828. Da er sich jedoch infolge seiner Schrift »Ge- danken über Tod und Unsterblichkeit« (Nürnberg 1830), deren Anonymität nicht gewahrt geblieben war, in der akademischen Laufbahn zurückgesetzt fand, so zog er sich 1832 von ihr zurück und gab sie, nachdem er nach drei viertel] ähriger Unterbrechung noch einmal gelesen hatte, vollständig auf, um sich nach Bruck- berg, der Heimat seiner Frau, zurückzuziehen. Aus dieser Ein- samlvcit trat er zuerst im Jahre 1848 heraus, um in Heidelberg nach Aufforderung der dortigen Studentenschaft Vorlesungen über das Wesen der Religion zu halten. Schlimmer aber wurde er aus dem Idyll herausgerissen, als die der Familie gehörige Fabrik zuerunde sing, und er sich seit 1859 bis zu seinem Tode 1872 mit den Seinigen zu einer kümmerlichen Existenz in einer Vor- stadt von Nürnberg verurteilt sah.

Feuerbach ist der irrationalistische Ausläufer des Hegelianismus, und seine Entwicklung ist daher wesentlich durch den Grenz- begriff bestinmit, der sich innerhalb dieses Systems als die Schranke der Deduzierbarkeit darstellte: es ist das, was Hegel die ZufäUigkeit der Natur genannt hat. Bezeichnete der Meister die undeduzierbare Besonderheit der einzelnen Naturerscheinungen als eine Unansemessenheit der Wirklichkeit zima Begriff, so hat schHeßlich der Schüler diesen Gedanken umgekehrt und war der populären Beistimmung sicherer, wenn er erklärte, dies Verhältnis beweise nur die Unangemessenheit des Begriffes zur Wirkhchkeit.

390 Feuerbach.

Diese Umkehrung entwickelte sich bei Feuerbach sukzessive in dem religionsphilosophischen Streite, der die Hegeische Schule seit der Mitte der dreißiger Jahre bewegte. Es ist nicht erforder- lich, auf diesen hier schon genauer einzugehen ; es genügt hervor- zuheben, daß Feuerbachs Stellung darin zunächst durch seine An- sicht vom Wesen der Gattungsbegriffe und speziell von der Be- deutung des Begriffes der menschlichen Gattung bestimmt war. Gerade in diesem Streite stellte sich bei den »Linken« unter den Schülern Hegels, zu denen Feuerbach wie Strauß gehörte, heraus, daß Hegels »absoluter Geist« eigentlich doch nichts anderes als sein »objektiver Geist«, d. h. die menschliche Gattungsvemunft war, und solange beide Männer an der ReaHtät dieser Idee im Hegeischen Sinne festhielten, konnten sie, wenn auch als äußerste Gegner des Supranaturalismus , einen religionsphilosophischen Standpunkt ausbilden und festhalten. Aber schon Feuerbachs »Gedanken über Tod und Unsterblichkeit« betonten das Prinzip der Unangemessenheit des Individuums zur Gattung und den Ge- danken des Aufgehens des ersteren in die letztere mit einer der- artigen Anlehnung an den Spinozistischen Naturalismus, daß das ideelle Moment der Hegeischen Lehre hinter dem Pantheismus entschieden zurücktrat. Und schließlich ist es denn auch dieser Spinozistische Begriff der unendlichen Natur gewesen, der, von Hegel in die dialektische Entwicklung der Idee aufgenommen, bei Feuerbach seine übermächtige Kraft entwickelte und die Schale des Idealismus zersprengte. Denn als Feuerbach 1839 seine »Kritik der Hegeischen Philosophie« gab, wies er vor allem darauf hin, daß in der Hegeischen Dialektik zwar für die Suk- zession, aber nicht für die Koordination, zwar für die Zeit, aber nicht für den Raum gesorgt sei, und daß darin zwar die Ge- schichte, aber nicht die Natur ihren Platz finde. Der Hegelianismus als die historische Weltanschauung stehe ratlos vor der Natur, er könne sie nicht begreifen und betrachte sie als das »Zufällige«. Aber gerade dieses Zufällige sei in Wahrheit das Wesentliche; die ganze nach Hegel deduzierbare Gesetzmäßigkeit der Natur hat nur Sinn in der Anwendung auf die spezifische Eigentümlich- keit der Erscheinungen, welche dialektisch nie deduziert werden kann. Das Wesen der Natur ist gerade die Individualisierung, deren Erkenntnis die Hegeische Lehre ausdrücklich preisgeben

AnthropologiMinui. 391

muß. Unter Ftuierbachs liistorisc-hen Arbeiten ist die vJJurHt<lliing, Entwicklung und Kritik der Ii<Ml>nizschen VhiloHf^pliie« (1837) die bedeutendste, und der IndividualismuH dieser Lehre hat bei ihm offenbar die tiefsten Wurzeln j^eschlaj^en. Ist deshalb eine Philo- sophie unfähig, die Individualität und damit die Natur zu begreifen, so muß sie verworfen werden. So wird Feuerbach aus einem An- hänger zum Gegner der Hegeischen Philosopliie. Während er früher diese so dargestellt hatte, daß sie sorgfältig von der Theo- logie unterschieden werde, wirft er ihr jetzt vor, sie habe mit ihrer Lehre von der~ Realität der Idee und von der Zufälligkeit der Natur einen durchaus theologischen Charakter. Im Zusammen- hans; entwickeln sich diese Gedanken in seinem berühmtesten Werke, dem »Wesen des Christentums« (1841). Die Wissenschaft hat nicht die scholastische Aufgabe, welche sich auch Hegel ge- setzt hat, die Religion zu rechtfertigen, sondern nur diejenige, sie zu erklären, und sie kann sie nur aus dem Wesen des Menschen und aus dessen psychologisch notwendiger Entwicklung erklären. Feuerbach deckt das Geheimnis der Hegeischen Lehre auf, indem er offen und präzis den Standpunkt des Anthropologismus be- tritt. Der Mensch hat einen Begriff von seiner Gattung, und sein Verhalten zu diesem ist der Grund seines religiösen Lebens. Aber er betrachtet diesen Begriff nicht als sein eigenes Wesen, sondern als ein fremdes ; er glaubt an die Realität dieses fremden W^esens und schafft sich damit seinen Gott. Die Religion ist also auf diesem anthropologischen Standpunkt eine notwendige Illusion, und zwar diejenige, in welcher der ' Gattungsbegriff des Menschen^ als ein dem individuellen Menschen gegenüberstehendes reales Wesen gedacht wird. Alle religiösen Dogmen beruhen auf einer Umkehrung der ursprünglichen Sätze, in denen die idealen Merk- male des menschlichen Gattungsbegriffes als das Wertvollste, als das Göttliche bezeichnet werden. Der Mensch wünscht selbst diesem seinem Gattungsbegriff zu entsprechen, und vermöge dieses Wimsches erscheint ihm sein Gattungsbegriff als die höchste Realität, als Gottheit. Der Mensch steigert sein eigenes Wiesen ins Unendliche und stellt es sich als "Xrott^ gegenüber. 'Gott ist, was der Mensch sein möchte. So erscheint die Religion als Er- zeugnis des Bedürfnisses. Während also Feuerbach früher mit Strauß die Realität der Idee der Menschheit angenommen hatte,

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392 Feuerbach.

sieht er die letztere jetzt in seiner »Theorie des Wunsches« als eine Illusion des Individuums an. Man kann sagen, er ist No- minalist geworden, und zwar deshalb, weil er sich in der Kritik der Hegeischen Philosophie überzeugt hat, daß aus der Idee die Individualität nicht zu deduzieren ist.

Aber derselbe Gedankengang führte notwendig weiter. Das Allgemeine, der Begriff und die Idee sind das Qeistige, die In- dividualität, das Besondere ist das Natürliche. Die dialektische Methode ist unfähig gewesen, die Natur zu begreifen, und zwar deshalb, weil sie die'^Idee^ für die höchste Wirklichkeit gehalten hat. Feuerbachs Naturaüsmus dagegen behauptet, man müsse die ^Natur und das Individuuni als die wahre Wirklichkeit betrachten. Die Hegeische Philosophie stellt den wahren Sachverhalt auf den Kopf; ihr gilt der Geist imd die Allgemeinheit, welche nur ein Bild der natürlichen Individualität sind, als das Wirkhche, und darin besteht zugleich nach Feuerbachs Ansicht die Gefährlichkeit des Christentums, daß auch dieses die düstere Innerlichk:eit des Geistes zur religiösen Weltmacht hypostasiert. Als darum Feüer- bach 1843 die »Grundsätze der Philosophie der Zukunft« pro- klamierte, erklärte er ganz konsequent, daß nur das sinnliche In- dividuum das ^Wirkliche und das Allgemeine die Illusion des In- dividuums sei. Der Geist ist die Verdoppelung und Entzweiung des Individuums mit sich selbst. Er ist nicht das Wesen, sondern das verblaßte Abbild der Natur. So negiert in Feuerbach die deutsche Philosophie sich selbst, indem sie ihr Prinzip, den Geist, negiert. Der Geist, der sich bei Hegel als die notwendige Selbst- entzweiung begriff, erscheint bei Feuerbach als die Entzweiung des natürlichen Menschen mit sich selbst. Seine Lehre ist in dieser Entwicklung der Selbstmord des Geistes, der sich in den Abgrund der Materie stürzt. Feuerbach mußte damit enden, daß er in der Einleitung seiner gesammelten Werke erklärte: »Meine / / Philosophie ist, daß ich keine Philosophie habe.«

Das ist der Fall ins Bodenlose. Feuerbach ist der verlorene Sohn des deutschen Idealismus, der im sinnlichsten MateriaHsmus enden muß. Wie er damit einer weiteren Bewegung entgegenkam, wie er sich zum Stimmführer einer seichten Reproduktion der entsprechenden Lehren des XVIII. Jahrhunderts hergab, wie seine Lehre von der alleinigen Wahrheit des sinnlichen Individuums

Dialcktieclier MuteriaÜHiuuH. ,'j<l3

Bchließliuh zu ethischen und sozialen Konsequenzen fühlte, ver- möge deren er sich zum Vorfechter radikaler und revolutionärer Parteien machte, das kann erst in anderem Zusammenhan;^e dargestellt werden. Hier handelte es sich nur darum, die Tra- gödie seiner Entwicklung aufzuzeigen, mit der er aus dem Pau- logismus heraus zum Materialisten wurde. Diese Tragödie hat in der Tat ihren Ursprung in der Unzulänglichkeit der dialektischen Konstruktion. Er hatte vollkommen recht damit, daß die Natur und das Individuum aus der Idee und dem Allgemeinen nicht zu deduzieren sind. Der »unlogische Rest«, der unter dem Namen der (Zufälligkeit in dem Panlogismus eingesperrt war, zerstörte von innen heraus das ganze Gebäude, und es gehörte nur die kräftige Sinnlichkeit eines Mannes wie Feuerbach dazu, um das zarte Maschennetz der Dialektik zu zerreißen. Und doch trägt ander- seits gerade dieser Materialismus die Züge seines idealistischen Ursprunges deutlich an der Stirn und unterscheidet sich eben da- durch von den älteren Lehren, mit denen er sich im Resultat identifiziert. Es ist ein Rest der abgeworfenen Dialektik, der darin zutage tritt, daß Feuer bach den »Geist« als die Negation der Materie, als die mit sich selbst entzweite Natur betrachtet und gerade aus diesem Grunde in der Theorie und in der Praxis be- kämpft. Das war eine Art von Nemesis, mit der sich an der dialektischen Methode der Übergang der Begriffe ineinander rächte. Sah Hegel in dem Geist das Ursprüngliche und in der Materie die Negation, die jener aus seiner Selbstentzweiung notwendig erzeuge, wie kann man es dem Schüler verargen, wenn er umgekehrt die Materie für das Ursprüngliche, den Geist als die mit sich selbst entzweite Natur betrachtete? Dieser Materialismus ist der Zwilhngs- bruder des dialektischen Idealismus. Feuerbachs Lehre ist nichts ) / als der umgestülpte Hegehanismus. Die schemenhafte Verschw^ommen- , heit, mit der die Begriffe der dialektischen Logik ineinander zer- ^ I rannen, gewährte die Möglichkeit, mit derselben Dialektik das j Umgekehrte von dem zu konstruieren, was der Meister darin nieder- ^ gelegt hatte. Diese Tatsache ist noch viel später in einem der merkwürdigsten und wunderlichsten Bücher erkennbar, die je ge- schrieben worden sind: es ist das »System der Rechtsphilosophie « von Ludwig Knapp (Erlangen 1857), das Feuerbach auf das freudigste begrüßte, ein Buch, das den Materialismus mit der

394 Irrationalistischer Empirismus.

feinsten Dialektik, oft in holiem poetischen Schwünge und mit jener hin und wieder ans Barocke streifenden Kombinationsfähigkeit darstellt, ohne welche die dialektische Methode nicht gehandhabt werden kann. Es ist vielleicht die spirituellste Form, worin der Materialismus je gedacht worden ist, und während die Sprache sich in die feinsten Abstraktionen verflüchtigt, soll darin der gröbste Stoff als das Wesen aller Dinge und Verhältnisse gelehrt werden.

Der Irrationalismus aber, in den Feuer bach die Hegeische Lehre verwandelt hat, zeigt sich noch in einer anderen Kon- sequenz. Denn dieser Materialismus ist selbstverständlich, sofern er sich noch mit einer Betrachtung der Erkenntnistätigkeit ab- gibt, der einfachste und roheste Sensualismus. Wenn das sinn- Hche Individuum die einzige Wahrheit ist, so besteht alle Er- kenntnis nur in der sinnlichen Empfindung. Diese selbstverständ- hche Folgerung muß aber deshalb ausdrücklich hervorgehoben werden, weil sie ein interessantes Gegenstück zu den übrigen ir- rationalistischen Lehren enthält. Wer die Unzulänglichkeit des Rationalismus durchschaut hat, muß die Erkenntnis jenes un- deduzierbaren Restes immer in der Erfahrung suchen. Bei Jacobi erscheint zu diesem Zwecke neben der sinnlichen Wahrnehmung die »Vernunft« als das Wahrnehmungsvermögen für das Über- sinnliche, bei Schopenhauer die Selbstanschauung des Subjekts, in der es sich als Wille erkennt, bei Schelling die Offenbarung, mit der der göttliche Urgrund im menschUchen Bewußtsein sich selbst entwickelt, bei Feuerbach die sinnliche Empfindung. Alle diese Systeme des Irrationalismus sind ebenso viele Formen des Empirismus, und es ist von hier aus zu übersehen, wes- halb, als der Glanz des Hegeischen Systems erloschen war, die Philosophie der Epigonen zunächst die Tendenz nehmen mußte, eine Ausbildung des Empirismus zu werden. An dem unlogischen Reste mit seinen apriorischen Konstruktionen gescheitert, fiel der philosophische Geist in die Arme der Erfahrung zurück.

§ 70. Die kritische Metaphysik.

Herbart.

Der Umschlag der rationalistischen in irrationalistische Sy- steme, den der vorige Paragraph in seinen einzelnen Gestalten

Herl>art. 895

verfolgte, zeigt fant nocli charakteristischer als das llcf^clsche System selbst die außerordentliche Flüssif^'keit und Wandolhar- keit der Begriffe, mit denen die bisher betrachtete Entwicklung^ der deutschen Philosophie nach Kant arbeitete. In der Tat ent- spricht nun ein solches Übergehen der Begriffe ineinander durch- aus dem psychologischen Prozesse, den das menschliche Denken unwillkürlich durchmacht, und gerade deshalb erwies sich als der eigenste Charakter des Hegeischen Systems seinem Urheber unbewußt die metaphysische Hypostasierung psychologischer Begriffsverhältnisse. Seine Logik war im gewissen Sinne eine vortreffliche Psychologie, eine richtige Beschreibung der schwan- kenden Bewegung, vermöge deren die menschlichen Vorstellungen sich ineinander weben und durcheinander mengen. Diese Fein- fühligkeit, womit in dem Gewebe unserer Gedanken »ein Tritt tausend Fäden regt«, dieses phantasievolle Schimmern und Schil- lern, vermöge dessen sich analoge Denkbestimmungen ineinander mischen, war recht eigentlich ästhetischen Charakters; aber dies entsprach eben deshalb nicht den strengen Anforderungen der Wissenschaft, für welche immerdar die Wolf f sehe Forderung »deut- licher Begriffe und gründlicher Beweise« maßgebend bleiben wird. Die Philosophie nach Kant war wirklich, wie er verlangte, eine »Wissenschaft aus Begriffen« : aber ihre'Begriffe waren so schwan- kend, so unsicher geworden, daß sie sich stets ineinander zu ver- wandeln vermochten und, statt sich abzuklären, vielmehr in eine allgemeine Unbestimmtheit sich auflösten, worin jeder seinem per- sönlichen Denkwesen nach eine eigene Deutung zu finden ver- mochte.

Deshalb tat der deutschen Philosophie, um sie zur Strenge der wissenschaftlichen Arbeit zurückzuführen, die Erscheinung eines Kritikers not, der sich der Gnindf orderung scharfer Be- griffsbildung klar bewußt und sie durchzuführen befähigt war. Er mußte dem genialen Drange der Identitätsphilosophie gegen- über etwas von dem pedantischen Anstrich haben, welcher der vorkantischen Schulphilosophie eigen gewesen war; er mußte der Überzeugung sein, daß mit dem neuen Prinzip der Kantischen Lehre der strenge logische Methodismus von Wolff nicht zu Grabe getragen, sondern vielmehr mit ihm zu versöhnen und zu durchdringen sei. Er durfte kein sklavischer Anhänger des Alten,

396 Herbart.

aber aucli kein enthusiastischer Verehrer des Neuen sein. Diese kritische Mittelstellung, welche für das deutsche Denken außer- ordentlich wünschenswert und förderlich war, ist diejenige Johann ^sxl^aAJ- Friedrich Herbarts.

/ Auch er gehörte zu den hochstrebenden Jüngern, die sich um

I / Fichte während seiner Jenenser Wirksamkeit scharten. 1776 zu

^^ /^y/ Oldenburg geboren, hatte er 1794 die Universität bezogen und trat in die dort herrschende Gedankenströmung schon mit einer tüchtigen, auf dem Gymnasium und durch persönlichen Umgang erworbenen philosophischen Vorbildung ein. Diese enthielt nicht nur eine gründliche Kenntnis Kants, sondern auch eine eingehende Vertiefung in die Leibniz- Wolffische Lehre. Dazu kam eine her- vorragende kritische Begabung, um den jugendlichen Zuhörer schon damals selbständig der idealistischen Lehre gegenüber seine Stellung nehmen zu lassen. Er legte dem gefeierten Lehrer über Schellings erste, noch ganz den Fichteschen Standpunkt vertre- tende Schriften kritische Bemerkungen vor, in denen er an Stelle der idealistischen Weiterentwicklung eine sorgfältige Prüfung der Kantischen Lehre für notwendig erklärte. Diese Gedanken reiften dann zu positiven Überzeugungen heran, als Herbart nach Ab- schluß der Universitätsstudien drei Jahre in der Schweiz als Hauslehrer lebte, eine Zeit, in der besonders die Bekanntschaft mit Pestalozzi von Wichtigkeit für ihn wurde. 1802 in Göttingen habilitiert, wurde er 1809 durch Wilhelm von Humboldt nach Königsberg berufen und verließ diesen Wirkungskreis erst wieder 1833, um als Professor nach Göttingen zurückzugehen, wo er 1841, schon als Haupt einer sich um ihn bildenden Schule, ge- storben ist.

Hinsichtlich der Strenge des wissenschaftlichen Denkens war Herbart offenbar in der auf Kant folgenden Generation der be- rufenste, sein Nachfolger auf dem Königsberger Lehrstuhle zu sein. Seine Auffassung von der Aufgabe der Philosophie, die am besten in seinem »Lehrbuch zur Einleitung in die Philo- sophie« (Königsberg 1813) zugängÜch ist, geht ausdrücklich auf Kant zurück, indem er die Philosophie als eine Begriffswissen- schaft betrachtet haben will. Die Vermischung der philosophischen und der empirischen Disziphnen, welche durch die universalistische Tendenz der Identitätslehre einzureißen drohte, findet an ihm

Bearbeitung der Bogriflo. 397

einen nicht minder scharfen Gej^ner, als jene,, geniale, die ver- standesniiißige iieflexion verac'htende Hehandliingsweise der Philo- sophie, der dieselbe Richtung zuneigte, (jleich energisch von der Empirie und von tler iisthetisierenden Betrachtung sich ab- grenzend, soll Ilerharts Philosophie eine ^ klare und deutliche Wissenschaft der ]3ogriffc sein. Dabei verfällt er durchaus nicht dem Pedantismus Wolffs : mit freiem Blick umspannt er die Weite des Kantischen (ledankenhorizonts und sucht innerhalb dieser Gedankenwelt sich in dem kritischen Zentrum selbst anzubauen. Indem er damit zu der gesamten identitätsphilosophischen Denk- bewegung in bewußten Gegensatz tritt, knüpfen sich doch seine Lehren der Form und dem Inhalte nach daran überall an: ja, sie enthalten stets gewissermaßen den Rückschlag nach der ent- gegengesetzten Seite, und sie würden vielleicht ohne diese Kon- trastwirkung nicht immer dieselbe Schärfe der Zuspitzung er- fahren haben. Dies Verhältnis tritt sehr bezeichnend in seiner Darstellung hervor, welche meist polemisch von anderen An- sichten, am häufigsten von Kant und Fichte, ausgeht, darüber stets neues und wertvolles Licht verbreitet, im ganzen aber für die unmittelbare Wirkung sehr ungünstig ist, so daß man sich über die Grundzüge seiner Lehre am bequemsten in der Dar- stellung eines seiner Schüler, z. B. in Hartensteins^ vortreff- \^^^^ liehen »Problemen und Grundlehren der allgemeinen Metaphysik* (Leipzig 1836) orientieren wird.

Ist Herbart mit Kant darin einig, daß Philosophie eine'Wissen- schaft der Begriffe^ sei, so weicht er doch von dem Altmeister sogleich darin ab, daß er sie nicht wie dieser auch als eine "Wissenschaft aus Begriffen bestimmt sehen will. Nicht der apriorische, sondern der gegebene Begriff ist ihm der Aus- gangspunkt der philosophischen Tätigkeit. Diese gegebenen Be- griffe liegen teils in der allgemeinen Erfahrung, teils in den empirischen Wissenschaften vor: sie werden in unwillkürlicher Betätigung der Erkenntnis gewonnen und haben nie darauf ge- wartet, daß die Philosophie sie erst begründen sollte. Aber wie sie nun da sind und das ganze System der Erfahrung ausmachen, zeigt sich sogleich, daß es »damit sein Bewenden nicht haben kann«. Der so mannigfach gestaltete Inhalt unserer Weltauf- fassung bedarf einer allgemeinen Ausgleichung; seine Gegensätze

398 Herbart.

wollen vermittelt, seine Widersprüche gehoben sein. Wichtiger aber ist es, daß, je genauer man zusieht, um so mehr sich das scheinbar Einfache verwickelt, sich gerade das Gewohnteste in ein Problem verwandelt. Das landläufige Bewußtsein freilich streift oberflächlich über die Welt hin, ohne die Abgründe zu bemerken, die in unserm Denken aufklaffen; ihm gilt als selbst- verständlich, was es alle Tage anwendet. Philosophenarbeit ist es, in dem scheinbar Selbstverständlichen das Problem zu er- kennen. So hat Kant einmal im ironischen HinbHck auf die aufklärerische Alles wisser ei gesagt, er mache aus der Schwäche seiner Einsicht kein Hehl, wonach er gemeiniglich dasjenige am wenigsten begreife, was alle Menschen leicht zu verstehen glauben. In gleichem Sinne besteht für Herbart der Eingang in die Philo- sophie darin, daß man sich klar macht, welche großen Schwierig- keiten, welche ungelösten Widersprüche gerade in den Begriffen stecken, mit denen wir als den einfachsten und vermeintlich klarsten fortwährend operieren, und welche als das feste Gerippe dem Stoffwechsel unserer Erkenntnis zugrunde liegen. Vorstel- lungen wie^DingJ^VeränderungPMaterie^ Selbstbewußtsein^ brauchen wir unablässig, als ob sie die durchsichtigsten und sichersten von der Welt wären: imd doch bedarf es nur einiger Besinnung, um uns klar zu machen, daß sie ganze Nester von Widersprüchen sind, und daß sie, statt uns die Erfahrung verstehen zu lehren, vielmehr selbst eine noch unaufgelöste und unbegriffene Ver- wirrung enthalten. An der Erfahrung selbst also hat die Philo- sophie nicht zu rütteln; aber sie hat sie begreiflich zu machen, indem sie alle ihre Arbeit darauf verwendet, nüt rücksichtsloser Energie die Erfahrung selbst zu Ende zu denken und dasjenige in ihr, was in unklarer Gewohnheit mit Widersprüchen sich be- haftet zeigt, zu eliminieren. Zur Lösung dieser Aufgabe aber besitzt die Philosophie nichts als die gegebene Erfahrung selbst und das Denken mit seinen immanenten Gesetzen. Philosophie also ist ein begriffliches Denken des Gegebenen, um es mit voller Klarheit und Widerspruch slosigkeit vorstellen zu können: sie ist in diesem Sinne Bearbeitung der Begriffe.

Aus dieser Formulierung schon geht hervor, daß Herbart ein Vertreter der formalen Logik im Kantischen Sinne des Worts ist. Und er hält diese aiisdrücküche Besinnung auf die formalen

Siitz lies WidoiBprucliH. .'J99

Gesetze des Denkens um so mehr für erforderlich, als sie und mit ihnen ihr oberstes Prinzip, dasjenige des Widerspruch«;«, in der identitätsphiU^sophisclien Entwickhm^ mehr und mehr zu untergeordneter Bedeutung herabgesetzt worden waren. Wurden sie doch in Hegels großer Logik nur als ein Kapitel der »sub- jektiven Logik« abgehandelt, und das vornehme Denken der intellektuellen Anschauung und des absoluten Standpunktes sah auf die Reflexionsarbeit des Verstandes mit seiner Gebundenheit an den Satz des Widerspruches als auf etwas Überwundenes herab. Gerade die Realität der Widersprüche galt dem absoluten Idealismus als das höchste Prinzip der spekulativen Entwicklung. Auch Herbarts Lehre geht von den^ Widersprüchen des empirischen Denkens aus, aber nicht um sie metaphysisch zu hypostasieren, sondern um sie durch streng formales Denken zu eliminieren. In dieser Hinsicht verhält er sich zu den Identitätsphilosophen ähnlich wie im Altertum die Eleaten zu Heraldit. Er geht von der Über- zeugung aus, daß das Wirkliche nur als durchaus widerspruchs- loses Sein zu denken sei. Das höchste Prinzip der formalen Logik, der Satz des Widerspruches, gilt ihm in dem rationalistischen Sinne, daß, was sich widerspricht, nicht wahrhaft* real sein könne. Wenn daher unsere Vorstellungen von der Wirklichkeit Wider- sprüche enthalten und sie tun es , so folgt daraus, daß sie so, wie sie sind und in der unwillkürlichen Erfahrung gedacht werden, keine richtige Erkenntnis der Realität gewähren können. Enthält also die Erfahrung mit allen zu ihr gehörigen und aus ihr erwachsenden Wissenschaften ein widerspruchsvolles Weltbild, so ist es die Aufgabe der Philosophie, es zu einer widerspruchs- losen Auffassung der wahren Realität umzuarbeiten.

Auf den alten Gegensatz einer widerspruchsvollen Erschoin^i^gS- welt und einer wahren, von der Metaphysik zu begreifenden Welt der Dingern sich läuft somit auch Herbarts Lehre hinaus: man könnte seinen Standpunkt in metaphysischer Hinsicht denjenigen von Kants Inauguraldissertation nennen. Aber er hat jenen eleatisch-platonischen Gegensatz in einer durchweg originellen und allen früheren Ansichten der Sache gegenüber selbständigen W^eise behandelt. Er leugnet zunächst, daß es außerhalb der Erfahrung selbst irgend eine Quelle für die metaphysische Erkenntnis gibt. Eine rationalistische Metaphysik, die aus bloßen logischen Formen

400 Herbart.

eine inhaltliche Welterkenntnis abzuleiten versuchte, ist nach Kants vernichtender Kritik nicht mehr möglich. Aber auch Kants »Meta- physik der Erscheinimgen« ist unmöglich, sowohl in ihrer positiven, als auch in ihrer negativen Tendenz. Auch die reinen Formen der Erkenntnis, als welche Kant Kaum, Zeit und die Kategorien be- handelt hat, glaubt Herbart als Produkte des Vorstellungsmecha- _nismus ableiten zu können und kann daher eine aus ihnen zu entwickelnde apriorische Erkenntnis nicht zugeben; anderseits, mögen die sinnlichen Empfindungen, deren Verschmelzungs- und Assoziationsprozesse zu jenen Formen führen, noch so subjektiven Charakters sein, sie haben doch immer eine Beziehung auf die Wirklichkeit, und die Versuche des Idealismus, sie l^iglieh für Produkte der Vorstellungstätigkeit auszugeben, sind alle gescheitert. »So viel ^^chf^i^j so viel Hindeutung auf das Sein.« Wenn daher der Schein, der sich in der Erfahrung darstellt, als ein durch und durch widerspruchsvoller sich zu erkennen gibt, so bleibt nur übrig, ihn so lange begrifflich zu bearbeiten, bis diese Wider- sprüche aufgehoben sind. Ist dadurch die Erfahrung^, be- greif lieh gemacht/ so ist das die einzige Möglichkeit, zu einer Vorstellung von~(Jen Dingen an sich zu gelangen, und der Ver- wirklichung einer solchen Metaphysik steht dann nichts entgegen, weil die Erscheinungen immer doch in dem Wesen begründet sein müssen.

Für diese ^Bearbeitung der Erfahrungsbegriffe^ hat nun Herbart ein Verfahren aufgestellt, welches er die Methode der Bezie- hungen nennt und welches bei alier Verwandtschaft mit Fichtes dialektischer Methode doch in der Absicht und im Resultat gleich sehr davon abweicht. Auch er geht, wie es Fichte in einer seiner Darstellungen der Wissenschaftslehre getan hatte, von dem synthe- tischen Charakter aus, den alle Erkenntnisurteile an sich tragen: aber er nimmt dabei den Standpunkt der formalen Logik in der schematischen Auffassung ein, die in jedem Urteil eine Gleich- setzung von Subjekt und Prädikat sieht. Aus dieser Auffassimg i/-<|^ hatten sich schon bei Ploucquet und anderen Leibnizianern die Anfänge des sogenannten »logischen Kalküls« entwickelt*), der im XIX. Jahrhundert eine noch viel einseitigere Ausbildung der

*) Vgl. Bd. I dieses Werkes, S. 558.

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Methudu dur lieziuhuugen. 401

Logik hervorgerufen hat. Danach ))eKtelit also das Wesen dea Urteils in der Gleichsetzung eines Begriffes mit einem andern : a »ist« b. Diese Gleichsetzung widerspricht jedoch dem logischen Gesetze der Identität, wonach jeder Begriff nur sich selbst gleich- gesetzt werden kann. Wollte man nun dieser vSchwierigkeit etwa dadurch entgelien, daß man das Subjekt des Satzes als einen Allgemeinbegriff auffaßte, dessen einzelnen Exemplaren, a,, a^ usw. das Prädikat b zukomme, so würde man in ganz dieselbe Schwierig- keit verfallen, indem man jeden dieser Artbegriffe mit dem Prä- dikat-sbegriffe gleichsetzte. Dagegen entgeht man dem Wider- spruche, sobald man das Prädikat der Beziehung' gleichsetzt, w^elche zwischen zweien oder auch mehreren dieser Begriffe ob- waltet. Der Satz a = b verliert seinen Widerspruch, wenn sein eigentlicher Sinn sich in die Formel bringen läßt: a^ : a2 = b. Wo sich also in den Erfahrungsurteilen Widersprüche finden, da wird versucht werden müssen, ob man nicht den fraglichen Be- griff in eine Anzahl von Arten einteilen kann, um aus der Be- ziehung dieser Arten zueinander das Prädikat zu entwickehi, das dem einfachen Begriff allein nicht ohne Widerspruch zugeschrieben werden konnte.

Diese abstrakte Formel gewinnt nun sogleich eine lebendige Anwendung, sobald man besondere Probleme ins Auge faßt. Das wichtigste darimter ist für Herbarts Lehre das der Inhärenz, das Verhältnis des Dinges zu seinen Eigenschaften. Ist es schon ein Widerspruch, daß in dem gewöhnlichen Urteile das Ding einer Eigenschaft gleichgesetzt wird, so ist es noch widerspruchsvoller, in demselben Begriffe mehrere Eigenschaften zu vereinigen, welche danach auch gleich sein müßten, während sie doch durchaus von- einander unterschieden werden sollen. Ist es ein Widerspruch, daß a = b sei, so ist es noch widersprechender, daß dasselbe a auch = c und = d sei, weil dann auch b = c = d sein würde. Diesen Widerspruch führen wir nun meint Herbart in der Tat immerfort aus: stets behaupten wir, daß dasselbe Ding mehreren Eigenschaften gleich sei, und können doch gar nicht sagen, wie es kommen soll, daß dasselbe Ding, welches weiß ist, zugleich auch hart sei usf. Eben die synthetische Funktion der Ver- einheitlichung des Mannigfaltigen, welche Kant als das Wesen der Kategorie angesehen hatte, gilt bei Herbart als ein Widerspruck

Wi ndelb an d . Gesch. d. n. Philos. II. 26

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402 Herbart.

gegen das Grundgesetz der formalen Logik. Eine Lösung dieses Widerspruches gibt es nur durch die Methode der Beziehungen. Die Vereinigung vieler Eigenschaften in einem Dinge ist nur dadurch möglich, daß dasselbe Ding in vielen Beziehungen zu andern Dingen steht, und daß jedesmal dasjenige, was wir seine Eigenschaft nannten, nicht sowohl es selbst als vielmehr eine Beziehung ist, worin es zu anderen Dingen steht. Der Satz a = b = c = d löst sich dadurch in eine Reihe von Sätzen auf : a : a^ = b, a : a2 = c, a : ag = d usf., Sätzen, welche weder in sich noch untereinander einen Widerspruch enthalten. Was wir also gewöhnhch die^^Eigenschaft eines Dinges nennen, ist in Wahrheit nur die Beziehung, in der es zu irgend einem andern Dinge steht. So ist »weiß« die Eigenschaft eines Körpers nur in Beziehung auf das Licht, das er reflektiert, »hart« nur die Beziehung eines Körpers auf einen andern, der in den Raum, welchen er einnimmt, eintreten will, usf. Alle Eigenschaften sind Bezieh UÄgsbegriffe. Von einer Eigenschaft, die einem Ding an sich und ohne Be- ziehung auf ein anderes Ding zukäme, können wir uns gar keine Vorstellung machen. Und doch müssen wir eine solche annehmen; denn nur in ihr kann der Grund dafür Hegen, daß das Ding in seiner Beziehung zu andern Dingen gerade diese und keine andern Eigenschaften entwickelt. Der Satz der Identität verlangt, daß wir jedes Ding mit einer einfachen und konstanten Qualität aus- gestattet denken, vermöge deren es mit sich selbst absolut iden- tisch ist und bleibt. Während also die Eigenschaften nur relativ und deshalb veränderlich »gesetzt« werden, ist das S«in als »abgo- lute Position« ein für allemal unveränderlich und unzurück- nehmbar gesetzt. Aber diese einfachen Qualitäten der Dinge an sich können wir niemals erkennen, da alle Eigenschaften, die wir vorstellen, die Beziehungen der Dinge auf andere Dinge enthalten. Alles was wir Eigenschaften nennen, sind, mit Locke zu reden, sekundäre Qualitäten; die primären, einfachen Qualitäten der Dinge sind unerkennbar. Deshalb erkennt Herbart an, daß die "Dinge an sich^ unerkennbar sind; aber er behauptet, daß sie al& »Reale«*) von einfacher Qualität an.^enommen werden müssen..

*) Dieser Ausdruck, welchen Herbart zur Bezeichnung der auch nacli seiner Lehre unerkennbaren *"Dinge an sicli einführte, ist die Veranlassung dafür geworden, daß sein System in der traditionellen Terminologie der Ge-

mm

Dio llciiloii und iliro B(*/iuliun((oii. 4()ii

um die VorstelIun}T von Dinj^en mit ihren ,^Eigcn«chaftcn, auH denen .sich unsere Erfahrung zuHammenHctzt, durch die Mannig- faltigkeit der Beziehungen zwischen diesen Keah^n be^eifhch zu machen. Was ein Ding in seinem eigensten Wesen ist, können l""^"^ wir weder erfahren noch durch Denken ertjchUeßen. Aber in diesem seinem unbekannten Wesen müssen wir den einzigen Grund für die Mannigfaltigkeit von Eigenschaften* suchen, womit das Din^ in seinem Verhältnis zu andern Dingen ersclieint./r Ganz ähnlich löst sich mm auch das analoge Problem der Veränderung. So wenig wie wir irgend eine Eigenschaft eines Dinges kennen, die es ohne Beziehung auf ein anderes Ding besäße, so wenig können wir ims den Übergang des Dinges aus einem Zustande in einen andern aus ihm allein und seiner einfachen Grundqualität er- klären. Wo nur ein Wesen existierte, gäbe es kein Geschehen, kein Tun und kein Leiden. Alle Veränderung ist Eeaktion eines Realen gegen ein anderes, ist die Selbsterhaltung seiner eigenen Quahtät gegen die Störung, welche es durch ein anderes Reale ^ erfährt^

Trotz der kritischen Anerkennung der Unerkennbarkeit der Dinge an sich entwickelt hiemach Herbarts Philosophie eine Meta- physik, deren Grundzüge er in den »Hauptpunkten der Metaphysik« (1806) angelegt und in der »Allgemeinen Metaphysik nebst den Anfängen der philosophischen Naturlehre« (1828 und 1829) ausge- führt hat. Sie ist also nicht eine Lehre von den Qualitäten der Dinge an sich, sondern niu* von ihren Beziehungen zueinander und zu der Erfahrung. Ihren Grundcharakter bildet der Pluralis- mus der Substanzen. Auch hinsichtlich der Weltanschauung

schichte der Philosophie als Realismus charakterisiert wurde. So ist es auch noch in der ersten Auflage dieses Werkes bei der Paragraphenüber- schrift geschehen. Allein diese Bezeichnung sollte als irreführend aufgegeben werden. Versteht man unter >Idealismus< die Lehre, daß die "Welt der Wahrnehmung als solche nicht real, sondern nur im Bewußtsein als Vor- stellung ist, so muß Herbart gerade so als Idealist charakterisiert werden wie Kant. Herbarts Opposition gegen den »Idealismus« von Fichte, Schelling und Hegel besteht nur darin, daß er die'^Dinge an sich gerade wie Kant für real, aber ihrer Qualität nach für unerkennbar hält. Will man ihn des- halb einen >Realisten« nennen, so gilt dasselbe auch von Kant. Man sieht an diesem Beispiel, wie bedenklich die^Vieldeutigkeit der landläufigen Aus- drücke ist, und wie wenig mit ihnen gewonnen wird.

26*

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404 Herbart.

steht Herbart der monistisclien Tendenz, welche die gesamte Identitätsphilosophie beherrscht, scharf gegenüber. Wenn man darin eine Kückkehr zu Leibniz gesehen hat, so wäre es wohl in dieser Hinsicht korrekter, von einer solchen zu Wolff zu sprechen. Denn erstens sind Herbarts »Reale« keine in der Entwicklung begriffenen Monaden, sondern vielmehr einfache und unveränder-

1 ) liehe Substanzen. Zweitens sind diese unerkennbaren Qualitäten weder als körperlich noch als psychisch zu bezeichnen; sie sind an sich und allgemein weder Atome oder Korpuskeln noch Seelen.

y) Drittens fehlt bei Herbart wie bei Wolff zwischen diesen Sub- stanzen das Bindeglied der prästabiüerten Harmonie. Infolgedessen wird Herbarts Metaphysik doch derartig atomistisch, daß von einem inneren Zusammenhange der Realen, welcher sich in dem Pro- zesse des Geschehens entfaltete und ihn möglich machte, im eigent- lichen Sinne bei ihm keine Rede ist. Er ist auch darin der äußerste Gegenfüßler der identitätsphilosophischen Weltansicht. Machte diese vergebHche Anstrengungen, aus der absoluten Einheit die Vielheit der Erscheinungen als deren notwendige Entwicklimgs- formen zu deduzieren, so ist es anderseits der Herbartschen Philo- sophie nicht gelungen, von der'^ielheit der^ Realen aus_zu einer lebendigen Welteinheit zu kommen. Als ein Zeichen davon ist es anzusehen, daß der Gottesbegriff in Herbarts theoretischer Philosophie gar keine Rolle spielt und bei ihm nur als Objekt eines ethisch-ästhetischen Bedürfnisses erscheint, das in unserer Auffassung der, zweckmäßigen Gestaltung der gesamten Natur eine Bestätigung seines Glaubens finde. Da nämlich die Quahtäten der Realen und ebenso ihre wirklichen Beziehungen, aus denen die Erfahrungswelt mit ihren Veränderungen hervorgeht, theoretisch unerkennbar sind, so bleibe (als regulatives Prinzip nach Kant) die ästhetische Betrachtung möglich, den Zusammenhang des ab- solut Seienden als eine zweckmäßige, gottgewollte Ordnung zu deuten. Infolge dieser Auffassung ist Herbart von jener speku- lativen Umdeutung der positiven Dogmen, welche in der Identi- tätsphilosophie einen so großen Raum einnahm, weit entfernt, und seine Religionsphilosophie gewinnt eben dadurch eine gewisse Farblosigkeit, die unter Umständen der Verbreitung seines Systems förderlich sein konnte und gewesen ist.

Allein die pluralistische Weltanschauung bringt dem Begriffe

Dio /.uialligcn AiiHicIiien. 405

des Geschehens gcgenüher eine Reihe von Sehwicrigkeitcn mit Hicli, denen Herbarfc kaum (Mil4»angen ist. Hot die dialektische Pliilo- sophio eine Lelire vom ewigen Werden, in welcher es kein Sein gab, so haben wir hier eine Lehre vom Sein, nach der es im Gnmde genommen kein Werden gibt. N'ergleicht man beide, so ist es etwa so, als ob denselben chemischen Stoff II.O der eine Forscher, der ihn nur bei der Temperatur über Null beobachtet hat, für flüssig, der andere, der ihn nur unter Null gesehen hat, für fest erklären wollte. Das eigentliche Wesen der Realen ist bei Herbart durchaus unveränderlich. Das Geschehen in der Welt kann also nur darin bestehen, daß die Realen in wechselnde Beziehungen treten, die aber an ihnen selbst nichts ändern. Es ist daher ein völlig äußerliches »Kommen und Gehen« der Substanzen, für welches sinnliche Bild Herbart den Begriff eines intelligiblen Raumes 'aufstellt, worin sie sich alle bew^egen. Weshalb freilich und nach welchen Gesetzen diese Bewegung stattfindet, das ist der menschlichen Erkenntnis durchaus verschlossen; von dem wirklichen Geschehen wissen wir ebensowenig wie von den Qualitäten der^Dinge an sichT Wir müssen beide nur annehmen, um uns das scheinbare Geschehen und die scheinbaren Eigen- schaften der Dinge, welche die Erfahrung darbietet, zu erklären. Indem nämlich die Substanzen im intelligiblen Räume sich »be- rühren«, treten sie miteinander in die »Beziehungen«, vermöge deren an ihnen die erfahrbaren Eigenschaften erscheinen, und durch den Wechsel dieser Beziehungen erpdbt sich aus dem wirklichen Geschehen die Veränderung der erscheinenden Eigenschaften oder das scheinbare Geschehen. Alle diese in die Erscheinung fallenden Eigenschaften und Veränderungen aber bleiben dem eigentlichen Wesen der Dinge fremd; sie sind deshalb nur »*u- lällige Ansichten«. Dieser Begriff hat bei Herbart eine etwas zweideutige Stellung zwischen subjektiver und objektiver, zwischen erkenntnistheoretischer und metaphysischer Bedeutung. In manchen seiner Ausführungen scheint es, als ob die Beziehimgen der Realen aufeinander lediglich in das auffassende Bew^ußtsein verlegt werden sollte: auch das wirkliche Geschehen »passiert« ja nicht den Realen, die davon in ihrem Wesen unverändert bleiben, folgUch passiert es nur dem »Zuschauer«. Aber dann w^ürde alles wirk- liche Geschehen aufgehoben sein, und es wäre dann nicht einmal

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Herbart.

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mehr zu begreifen, wie das die Realen in Beziehung setzende Bewußtsein selbst einen Wechsel in seiner beziehenden Tätigkeit erzeugen könnte, der dann das einzige wirkliche Geschehen bilden müßte. Außerdem soll ja das Bewußtsein selbst erst ein Produkt der Beziehungen sein. Deshalb scheint Herbarts eigentliche Mei- nung doch die zu sein, daß das wirkliche Kommen und Gehen der Substanzen an ihnen oder in ihnen diejenigen Selbster hal- J'3??g^?L.^§S?ii die Störungen durcheinander hervorruft, welche das Bewußtsein als die erfahrungsmäßigen Eigenschaf teiT und" Tätig- keiten auffaßt, und diese für das Bewußtsein durchaus notwen- digen, durch das wirkliche Geschehen bedingten Ansichten werden nur in dem Sinne »zufällig« genannt, als sie das Wesen de/ Dinge I an sich nicht treffen. Um so unbegreiflicher freilich ist es, was dieses Geschehen, das die Realen nichts angeht und nicht aus

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ihnen kommt, bedeuten soll. ^

. Das scheinbare Geschehen entwickelt sich nun auf zwei von- einander zu sondernden Gebieten. Das Bewußtsein selbst, das die Beziehungen auffaßt, ist ebenfalls eine Reaktion des einfachen Seelen Wesens, welches zu den Realen gehört. Betrachtet man es von dieser Seite, so enthält es insofern die unmittelbarsten aller Erkenntnisse, als es eben selbst die scheinbaren Eigenschaften und Veränderungen dieses Seelenwesens darstellt. Die Vorstellungen sind die Reaktion der an sich unbekannten Seelensubstanz gegen andere Substanzen, mit denen jene durch das wirkliche Geschehen in Beziehung tritt. Insofern aber die Vorstellungen auf dieser Beziehung beruhen, so enthalten sie zugleich in sich die schein- baren , Eigenschaften derjenigen Substanzen, gegen welche die Reaktion stattfand, und bilden so die Erfahrung von den übrigen Realen. Indessen treten nun auch diese untereinander in Be- ziehungen und verändern eben damit die scheinbaren Eigen- schaften, mit denen das Bewußtsein ihr Zusammensein auffassen muß. Die ^Metaphysik des scheinbaren Geschehens 'teilt sich da- durch in zwei Teile: die Eidologie, welche in die Psychologie, und die Synechologie, welche in die Naturphilosophie ausläuft. Was zunächst die letztere anbetrifft, so liegt Herbarts Interesse bei ihr darin, die Grundbegriffe, mit denen die empirische Natur- forschung operiert, aus seinen metaphysischen Voraussetzungen abzuleiten und zu widerspruchsloser Gestaltung umzuarbeiten.

NaturphiluBOphio. 407

Mit dem feinen kritischen GrcnzbcwuütKein, das ihn auszeichnet, sucht er die rhiU)S()pliie davor zu bewahren, in die sachliche Arbeit der besonderen Wissenschaft<;n huicinzupfuächen und das- ienij^e, was diese erkannt haben, noch einmal, nur in anderer Weise, erkennen zu woHen. Er will nur zeigen, daß die Wider- sprüche, in welche die Begriffe der^Materie^ des Atoms ußw. sich verwickeln, verschwinden, sobald man darin nur die Erscheinungs- form des wirklichen Geschehens, welches uns unbekannt ist, er- blicken will. Seine Naturphilosophie ändert daher an den be- sonderen Erkenntnissen der Naturforschung nichts: aber sie ist auch gerade infolgedessen sowohl nach der guten als auch nach der schädlichen Seite hin ziemlich wirkungslos geblieben. Sie vertrug sich mit der empirischen Forschung, aber sie befruchtete diese auch nicht: sie verhielt sich eben völlig umgekehrt wie die Schellingsche. Sie lehnt deshalb auch alle dynamische und teleologische Naturbetrachtung ab und stellt sich auf den Stand- punkt des Mechanismus auch für die Erklärung der physio- logischen Erscheinungen und der biologischen Veränderungen und Umbilduno en. Herbart' sucht zunächst darzutun, daß der sinn- Iklj^ Raum die notwendige Erscheinungsform des Zustandes der »unvollkommenen Durchdiingung « ist, in welchem sich die Realen bei ihrem »Zusammensein« befinden, wobei man freilich mit in Kauf nehmen muß, daß die räumhchen Verhältnisse in dem Be- «jriffe des intellidblen Raumes, des »Kommens und Gehens« der Substanzen doch unvermeidlich schon vorausgesetzt waren. Durch eine sehr künstliche Konstruktion werden dann der Begriff des ^ Atoms" als des starren Elements und weiterhin diejenigen des Moleküls ^ und des Körpers" gewonnen , wobei die Attraktion als das Prinzip der Durchdringung, die Repulsion als dasjenige der Unvollkommenheit dieser Durchdringung gilt. Dadurch nun, daß die Tendenz der Durchdringung und, subjektiv gefaßt, der Ver- such des Bewußtseins, die Realen vollständig zusammenzufassen, niemals gelingen kann, entsteht der objektive Schein der' Be- wegung. In der Entwicklung dieses Begriffes zeigt sich am meisten die oben erwähnte Zweideutigkeit der Lehre von den zufälligen Ansichten. Auf der einen Seite soll die Bewegung nicht in den Dingen vorgehen, sondern nur etwas sein, was dem Zuschauer widerfährt, auf der andern soll diese Beziehung zwischen

408 Herbart.

den Dingen ein objektiver Schein in dem Sinne sein, daß er auch ohne irgend ein beobachtendes Bewußtsein ein Verhältnis der Dinge selbst bildet. Neben der Bewegung ist es hauptsächlich noch die Verschiedenheit der Stoffe, welche die Synechologie aus den verschiedenen Verhältnissen konstruiert, in denen sich die Elemente der Materie durch ihren Gegensatz zueinander befinden. Herbart gewinnt daraus eine Vierteilung aller Körperlichkeit in ponderable Materie, Wärmestoff, elektrisches Fluidum und Äther: aus dem letzteren will er neben dem Licht auch die scheinbare »actio in distans« der ponderablen Materie erklärt wissen.

Bedeutsamer und einflußreicher ist Herbarts Psychologie. Sie hat er neben kleineren, teils methodologischen, teils sachlichen Abhandlungen in dem »Lehrbuch zur Psychologie« (1816) und in seinem Hauptwerke: »Psychologie als Wissenschaft, neu gegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik« (1824—1825) dar- gestellt. Auf diesem Gebiete hat er durch seine originelle Auffassung einen mächtigen Umschwung hervorgerufen und eine Richtung be- gründet, die noch heute eine andauernde Bedeutung besitzt. Aus der Konsequenz seiner Metaphysik ergab sich ein klares, wissen- schaftliches Prinzip, das den unbestimmten, halb belletristischen Betrachtungen, worauf sich so vielfach die psychologische Lehre beschränkt hatte, in der wirksamsten Weise gegenübertreten konnte und selbst da anerkannt werden muß, wo man darin nicht die ganze Methode der Psychologie sehen will. Wenn Herbart auch hier zunächst polemisch verfährt, so befindet er sich in vollem Rechte gegenüber jener mythologisierenden Theorie der seelischen »Vermögen«, mit der man die Seele in lauter kleine Seelchen zersplittert, um für verwandte Erscheinungen eine ge- meinsame Kraft" anzunehmen. Hatte schon Aenesidemus-Schulze im Streite gegen Reinhold und Kant die Unbrauchbarkeit mid Schädlichkeit dieses Begriffes der ^Vermögen in der empirischen Psychologie betont, so hat Herbart dagegen einen systematischen Vernichtungskampf geführt. Von einer wissenschaftlichen Psycho- logie kann nur dann die Rede sein, wenn man sich entschließt, ebenso wie in der Naturwissenschaft die komplizierten Erschei- nungen nicht auf besondere »qualitates occultae« zurückzuführen, sondern sie aus den gesetzmäßigen Kombinationen elementarer Vorgänge zu erklären. Dies Prinzip in der deutschen Philosophie

l*8ych(»logio. 401)

zuerst aufgestellt zu haben, i.st das ^roße Verdienst Ifcrharts. Es ist persönlich inn so größer, als sich eine direkte Abhängig- keit von der englischen Assoziationspsychologie, die ja denselhcm Gedanken vertrat, bei ihm nicht nachweisen läßt. Hei den Eng- ländern ist es das zeigt die typische Behandlung dicßer Pro- bleme bei dem Schotten Thomas Brown die nominalistische Tendenz, welche sie zur Leugnung der Realität solcher Allge- raeinbegriffe wie Wille," Verstand ' usw. bringt; bei Herbart ist es die metaphysische Ansicht von der einfachen Qualität des Seelenwesens, die verbietet, darin eine Mehrzahl verschiedener Grundkräfte anzunehmen. Die Verschiedenheit der psychischen Tätigkeiten kann bei ihm nur auf den wechselnden Beziehungen beruhen, in welche die Seele zu anderen Realen tritt. Daraus aber ergibt sich von vornherein eine einseitige Bestimmtheit seiner psychologischen Ansicht. Die Selbsterhaltung der Seele gegen das Zusammensein mit anderen Realen isf'Vorstellung^ und damit wird für Herbart die '^Vorstellung^ zu der einzigen Grundfunktion der Seele. Alle übrigen psychischen Tätig- keiten bestehen nur in Vorstellungs Verhältnissen. Hierin liegt hauptsächlich Herbarts Verwandtschaft mit der vorkantischen Philosophie. Wie in dieser, so gelten auch bei ihm die Tätig- keiten des W^illens und des Gefühls immer nur als Vorstellungs- verhältnisse, und gegen jene Ansicht von dem Primat des W^illens über das Denken, der Fichte den schärfsten Ausdruck gab, mußte er sich nach jeder Richtung sträuben. Daraus folgte dann wieder, daß er die gesamte Freiheitslehre der deutschen Philosophie ver- warf und zum Leibnizschen Determinismus zircückkehrte.

Daß es nun zwischen den Vorstellungen überhaupt Verhält- nisse gibt und somit alle die Kombinationen eintreten können, deren Erklärung allein den Gegenstand einer wissenschaftlichen Psychologie bildet, das beruht auf der Tatsache, daß die Vor- stellungen, ijnit denen die Seele sich gegen andere Realen selbst erhält;,' )nicht mit dieser Berührung wieder verschwinden, sondern in der Seele als Vorstellun2;skräfte bestehen bleiben und dadurch untereinander in die mannigfaltigsten Verhältnisse geraten. Die Einheitlichkeit des Seelenwesens verlangt, daß diese verschiedenen Formen ihrer Selbsterhaltung sich miteinander vereinigen. Die Folge davon ist, daß, da diese Vereinigung wegen der

410 Herbart.

Verschiedenheit des Inhaltes der Vorstellungen nicht vollständig geschehen kann, sie sich gegenseitig hemmen. Ist im Bewußtsein nur eine Vorstellung, so nimmt sie seine ganze Energie für sich allein in Anspruch ; sind es aber mehrere, so üben die Vorstellungs- kräfte aufeinander eine Hemmung aus, vermöge deren jede an ihrer Intensität um so mehr verlieren muß, je stärker die Inten- sität der Vorstellung ist, von welcher sie gehemmt wird. Hierauf beruht nun die Möghchkeit, den psychologischen Mechanismus der Vorstellimgen einer mathematischen Berechnung zu unter- werfen. Die Hemmungssumme, d. h. die Gesamtintensität, welche die miteinander konkurrierenden Vorstellungen verlieren, verteilt sich unter die einzelnen derartig, daß nach ihrem ursprünglichen Intensitäts Verhältnis jede um so weniger verliert, je stärker sie war. Macht man daher über die Größe dieser Hemmungssumme eine Annahme und Herbart setzt voraus, daß sie der Intensität der schwächeren Vorstellung oder bei mehreren der Summe der schwächeren Vorstellungen gleich sei , so läßt sich mathematisch berechnen, wieviel von jeder nach der gegenseitigen Hemmung übrig bleibt. Sind z. B. zwei Vorstellungen von der Intensität c/ > 6 gegeben, so bleibt nach der Hemmung von der ersten nur

, von der zweiten nur übrig. In dieser Weise

a-{-b a+ 6

will Herbart, was Kant für unmöglich erklärt hatte, die Psycho- logie zur Wissenschaft erheben, indem er den mathematischen Kalkül in sie einführt und auch für sie die Übereinstimmung der metaphysisch-mathematischen Deduktion mit dem empirischen und tatsächlichen Wissen in Anspruch nimmt. Es ist der erste Versuch, aus ihr eine theoretische Naturwissenschaft nach Newton- schen Prinzipien zu machen. Und selbst wenn man die Durch- führbarkeit dieses Gedankens bestreitet, so wird man doch einer- seits die große Konsequenz dieser Behandlungsweise bewundem, anderseits aber ihre hypothetische Anwendbarkeit auf bestimmte einzelne, freilich sehr beschränkte Gebiete, wie z. B. die Emp- _findungslehre, anerkennen dürfen.

Die Voraussetzung aber dieser mathematischen Behandlung der Psychologie bildet die Annahme einer verschiedenen Intensität der Vorstellimgstätigkeit, welche Herbart als selbstverständlich ansieht. Die Verwandtschaft mit Leibniz zeisjt sich dabei vor

Psycholoprie. 411

allern darin, daß er wie dieser als eine Funktion der Vor- stellunj^sintenHität da» Bewußtsein betrachtet. Besitzt die Vorstellun«; eine gewisse Intensität, so wird sie bewußt und ist ein »wirkliches Vorstellen«. Wird sie unter diesen Grad herabgcdrückt, so wird sie unbewußt und ist nur noch ein »Streben vorzustellen«. Den niedrigsten Grad, bei welchem die Vorstellung noch bewußt ist, nennt Herbart die Bewußt- seinsschwelle. In dem Mechanismus der Vorstellungen kommt

es deshalb darauf an, ob die Hemmung, welche die Vorstellungen aufeinander ausüben, derartig ist, daß eine oder die andere davon unter die Bewußtseinsschwelle herabsinken muß : das ganze Seelen- leben erscheint bei Herbart wie ein Kampf, den die Vorstellungen wie in einem engen Räume miteinander führen, und bei dem es darauf ankommt, ob die einen oder die andern je nach ihrer Intensität über die Schwelle in den erleuchteten Teil eintreten können, den das Bewußtsein oder das wirkliche Vorstellen darin bildet. Die Gleichgewichtsverhältnisse, in welche die Vorstellungen dabei miteinander treten, sind die Gefühle, und in dem »Sich- heraufarbeiten« einer Vorstellung gegen die Hemmungen der übrigen sieht Herbart dasjenige, was man Begehren nennt. Die Psychologie ist nichts als eine »Statik und Mechanik des Geistes«, welche die Gesetze dieser Bewegung mathematisch zu deduzieren und empirisch zu bestätigen hat.

Diejenigen Vorstellungen nun, welche gleichzeitig zum wirk- lichen Vorstellen gekommen sind, geraten dadurch in eine Ver- wachsung, vermöge deren sie sich zu Vorstellungsmassen ver- knüpfen, assoziieren und komplizieren, deren einzelne Teile, wenn sie wieder zum Bewußtsein gelangen, die anderen ebenfalls in den lichten Raum emporzuziehen, d. h. zu reproduzieren streben. Vorstellungen, die aus dem Bewußtsein verschwinden, sind nicht überhaupt zugrunde gegangen, sondern existieren vermöge der Hemmung nur noch als »Streben vorzustellen« und werden unter geeigneten Umständen, sei es »frei steigend«, sei es durch die Assoziation, wieder zum wirklichen Vorstellen. Jene Massen aber, welche sich in dem psychologischen Mechanismus zusammen- gefunden haben, üben auf die neu eintretenden Vorstellungen eine Art von Attraktionskraft in der Weise aus, daß sie die verwandten darunter in sich aufzunehmen und mit sich zu

412 Herbart.

verbinden suchen. Diesen Prozeß bezeiclinet Herbart als Apper« zeption und schreibt ihm die Rolle zu, daß dadurch der Besitz- stand, den die Seele sich bereits erworben hat, alle neu hinzu- kommenden Vorstellungen sich assimiliert und so alles Neue in den Zusammenhang des Früheren einfügt.

Aus der gesetzmäßigen Bewegung der ursprünglichen Vor- stellungen, welche sich auf diese Grundformen zurückführen läßt, sucht nun Herbart alle die komplizierten Gebilde sowohl des theo- retischen als auch des praktischen Verhaltens zu erklären, wie sie in der inneren Erfahrung vorkommen. Von ursachlosen Funktionen kann bei dieser Auffassung nicht die Rede sein, und auch die höchsten und wertvollsten Tätigkeiten müssen als Produkte des psychischen Mechanismus aufgefaßt werden. Darum griff Herbart hauptsächhch die Kantische Idee der intelligiblen Freiheit an, obwohl er mit seiner Lehre von der metaphysischen Urqualität des einfachen Seelen- wesens, welche den Grund für alle »Selbsterhaltungen« in der Er- scheinung bilde, vielleicht mehr als andere sich diese Lehre hätte zu eigen machen können. Aber abgesehen davon, daß Herbart jene Urqualität für völlig unerkennbar hielt, konnte er auch der religionsphilosophischen Verwendung, die Kant von dem Begriffe machte, nicht beitreten ; denn danach sollte in der »Wiedergeburt « der intelligible Charakter sich in völlig unbegreiflicher Weise ver- ändern, was mit Herbarts metaphysischen Prinzipien unvereinbar war. Lifolgedessen blieb in seiner Lehre nur ein Determinismus übrig, der in allen wesentlichen Zügen mit demjenigen von Leibniz übereinstimmte. Aber auch alles dasjenige, was von 'eingeborenen Begriffen oder eingeborenen Formen im menschlichen Geiste be- hauptet worden war, mußte bei Herbart in dieser Weise als Er- zeugnis der psychischen Entwicklung angesehen werden, und er benutzte dann namentlich seine Theorie der »reihenweis abgestuften Verschmelzung«, um im Gegensatz zur transzendentalen Ästhetik ^aum und Zeit aus der Empfindungstätigkeit abzuleiten. Besonders wichtig aber ist es, daß sich derselben Behandlung auch der Be- griff des Ich unterwerfen muß. Herbart weist scharfsinnig nach, daß das Fichtesche »reine Selbstbewußtsein« den Widerspruch einer doppelten unendlichen Reihe involviere. Wenn es als das sich selbst Vorstellende definiert wird, so ist dabei das, was vorstellt, und das, was vorgestellt wird, immer wieder nur das sich vor-

l*ädap;ogik und Ethik. 413

stellende Ich, und so fort bis ins Unendliche. J5ei dieser formalen Bestimmung kommt niemals ein Inhalt heraus, an welchem die Vorstelhingstäti<J5keit Halt machen könnte. Insofern hat Fichte lecht gehabt, daß das Ich nie zustande kommt, sondern nur im unendlichen Streben sich zu realisieren sucht. Aber dieses wider- spruchsvolle reine Ich ist auch gar nicht gegeben, sondern nur eine formelle Abstraktion Fichtes; das gegebene, das allein begreiflich zu machen ist, ist das empirische Selbstbewußtsein, und dies ist stets inhaltUch bestimmt. Das Ich weiß sich jedesmal in einem bestimmten Zustande, es wird also immer durch bestimmte Apper- zeptionsmassen gebildet, welche, mehr oder minder wechselnd, aber doch schließlich an einem konstanteren Kerne haftend, die neu ein- tretenden Vorstellungen assimilieren. Das Ich ist also gewisser- maßen der Schneidepunkt aller derjenigen Vorstellungsreihen, welche in der Entwicklung des Individuums durch den Mechanismus der Vorstellimgen entstanden sind. Dieser Schneidepunkt wandert mit gewissen Grenzen in dem Inhalte des wirklichen Vorstellens, imd seine Identität liegt nur einerseits in der Gleichheit der Apper- zeptionsprozesse, anderseits in der Kontinuierlichkeit der Vor- stellungsentwicklung. Fichtes imd Herbarts Behandlungen dieses schwierigsten aller Probleme stehen sich diametral und einander er- gänzend gegenüber: jener richtet seine Untersuchung auf die iden- tische Einheit des Ich und vermag daraus keinen individuellen Inhalt des empirischen Ich abzuleiten; dieser betont den indivi- duellen Inhalt derartig, daß die formale Einheit und Identität ver- loren zu gehen droht.

Jedenfalls aber betrachtete Herbart das Leben der Seele als einen naturnotwendigen Bewegungsprozeß und nicht wie Fichte als die Äußerung einer unbegreifüclien Freiheit. Für den letzteren Standpunkt war es eigentlich durchaus irrationell, von einer Er- ziehung zu sprechen, da die »Freiheit« des Ich doch keiner natur- notwendigen Beeinflussung imterliegt und deshalb keinen Ein- wirkungen zugänglich ist, die sich voraussehen und planvoll her- vorrufen Heßen. Umgekehrt forderte Herbarts Theorie der psy- chischen Entwicklung geradezu auf, zu untersuchen, wie der nach äußeren Anregimgen naturnotwendig verlaufende Mechanismus des Seelenlebens in solche Bahnen gelenkt werden kann, daß er zu beabsichtigten Erziehungszwecken sicher führen muß. Deshalb

414 Herbart.

begründete niclit nur Herbart selbst von seiner Psychologie aus eine sehr glücklich angelegte und durchgeführte Pädagogik, sondern dies ist auch das Spezialfach, worin seine Lehre die tiefsten und nachhaltigsten Einflüsse ausgeübt hat. In der Tat darf Herbart als Begründer der wissenschaftlichen Pädagogik angesehen werden. An die Stelle sachkundiger Reflexionen und praktischer Vorschläge, zwischen denen sich bis dahin die Literatur dieser Disziplin im günstigsten Falle bewegt hatte, setzte er zum erstenmal eine streng begriffliche Untersuchung: und indem er der Ethik das Ziel und der Psychologie das Wissen von den Mitteln der Erziehung ent- nahm, bestimmte er der Pädagogik ihre Stelle im Systeme der von der Philosophie abhängigen Wissenschaften. Das ist, gegenüber den einzelnen, dem Wechsel des wirklichen Erziehungslebens unter- worfenen Theorien, die bleibende Bedeutung seiner Pädagogik.

Angesichts jener psychologischen Überzeugungen mußte auch Herbarts Behandlung der Ethik in seiner »Allgemeinen praktischen Philosophie« (1808) anders als bei Kant und bei Fichte ausfallen. Sie konnte weder auf ein Freiheitsgesetz des SoUens noch auf den Begriff des Ich begründet werden. Vielmehr schlägt Herbart einen neuen Weg ein, um die Kantische Forderung einer vollkommenen Selbständigkeit der Moralphilosophie und ihrer gänzlichen Unab- hängigkeit sowohl von der Psychologie als auch von der Meta- physik mehr als irgend ein anderer zu verwirklichen. Er geht dabei von der Tatsache aus, daß es neben den theoretischen Ur- teilen Beurteilungen gibt, in denen sich Billigung oder Nicht- billigung eines erkannten Gegenstandes ohne jede Rücksicht auf die Art, wie dieser zustande gekommen ist, ausspricht. Solche Be- urteilungen beziehen sich immer auf Verhältnisse des Vorstellungs- inhaltes, und je komplizierter diese sind, um so weniger ursprüng- lich kann die Beurteilung sein. Es muß deshalb eine Anzahl ein- facher Verhältnisse geben, welche den Gegenstand eines ursprüng- lichen Wohlgefallens oder Mißfallens bilden, und aus deren Kom- plikation die abgeleitete Beurteilung verwickelterer Verhältnisse erklärt sein will. Die Wissenschaft von diesen einfachen Ver- hältnissen, welche die BilHgung oder Mißbilligung bei sich führen, nennt Herbart Ästhetik und stellt sie, der Logik und der Meta- physik gegenüber, als den dritten selbständigen Teil der Philo- sophie auf. Denjenigen Teil der Ästhetik, den man gewöhnlich

Pädagogik und KtliiU. 415

mit dioscni Namen bezeichnet, und der durch die Beurteilungs- priidikatc der Schönlicit und der Häßlichkeit charakterisiert ist, haben erst Ilerbarts Schüler bearbeitet: er selbst hat sich auf die Ethik als auf denjenigen Teil der all^'cmeinen Ästhetik be- schränkt, welcher es mit den einfachen Verhältnissen der sitt- lichen Beurteilung zu tun hat. Diese müssen nach Herljarts Methode durch begriffliche Bearbeitung der moralischen Billigungen und Mißbilligungen gewonnen werden, die in der Erfahrung tat- sächlich ausgeübt werden. Auch hier also sträubt sich Herbart gegen die monistische Tendenz eines obersten Moralprinzips: für alle Probleme ist er davon überzeugt, daß das menschliche Denken auf einer Anzahl ursprünglicher, nicht mehr auseinander ableit- barer Inhaltsbestimmungen beruhe, die es nur in ihrer Reinheit festzustellen und miteinander in »Beziehung« zu setzen gelte. Die einfachen Willensverhältnisse, welche den Gegenstand des ur- sprünglichen moralischen Beifalls bilden, nennt Herbart die sitt- Hchen Ideen, und er stellt deren fünf auf: die Idee der »inneren Freiheit« als der Übereinstimmung des Willens mit dem eigenen Urteil, die Idee der »Vollkommenheit« als der richtigen Größe der Willensbestrebungen, die Idee des »Wohlwollens« als des Willens, welcher das fremde Wohl zu seinem Gegenstande macht, die Idee des »Rechts« als die Regel der Willensübereinstimmung verschiedener Individuen und das Mißfallen am Streite, endlich die Idee der »Billigkeit« als der Vergeltung der guten und der bösen Handlungen. An diese fünf ursprünglichen schließen sich sodann fünf abgeleitete Ideen als diejenigen der sittüchen Institutionen, worin jene ersten zur Verwirklichung kommen: sie machen deshalb den Inbegriff der sittlichen »Güter« aus. Herbart entwickelt sie (in umgekehrter Reihenfolge) als das Lohnsystem, die Rechtsgesellschaft, das Ver- waltungssystem und das Kultursystem, welche vier in der be- lebten Gesellschaft zu einer organischen Einheit verbunden sind. So geht die Ethik in Sozialphilosophie über, und Herbart betrachtet den Staat als den Lebensprozeß der Menschheit, worin alle diese Güter zur Entwicklung kommen. Allein er sieht nun wieder im Staate wesentlich einen sozialen Mechanismus; auch ihm ist der Staat »der Mensch im großen«. Die Elemente, aus denen er be- steht, sind die wollenden Menschen, und die Staatslehre soll mehr eine Statik und Mechanik der sozialen Kräfte, als eine rechts-

416 Herbart.

philosophische Konstruktion, die Staatskimst eine Berechnung der psychologisch -sozialen Notwendigkeiten sein. Denn das Gleich- gewicht der sozialen Kräfte, worin das Wesen des Staates besteht, wird, wie Herbart namentlich dem doktrinären Liberalismus ent- gegenhielt, nicht durch die Kechtsformen herbeigeführt, die viel- mehr selbst erst das Produkt des sozialen Mechanismus sind, sondern nur durch die psychologische Bewegung der den Staat kon- stituierenden Individuen. Sitte, Wohlwollen und Bildung sind deshalb ungleich festere und wertvollere Säulen der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung als abstrakte Rechtsbestimmungen, und der Sinn der äußeren Lebensformen der Menschheit liegt in der psychologischen Bewegung, aus der sie hervorgegangen sind.

§ 7L Der Psychologismiis.

Pries und Beneke.

So scharf der Gegensatz ist, worin sich Herbart zu der Iden- titätsphilosophie sowohl in ihrer rationalen als auch in ihrer ir- rationalen Form befindet, so ist er mit allen ihren Trägern doch darin einig, daß er die umbildende Entwicklung der Kantischen Philosophie in der metaphysischen Richtung sucht. Freilich bringt seine Bekämpfung des Axioms der Identität von Denken und Sein es mit sich, daß er mehr als alle anderen Nachfolger des gToßen Königsbergers auf die erkenntnistheoretische Basis zurück- geht, und alle seine metaphysischen Lehren beruhen auf dem echt kritischen Bestreben, »die Erfahrung begreiflich zu machen«: die Lösung dieser Aufgabe sucht jedoch auch er auf dem Wege einer Metaphysik, die zwar die Dinge an sich'mid das "wirkliche Ge- schehen für unerkennbar erklärt, aber doch über ihr Verhältnis zur Erscheinungswelt eine weit umfangreichere theoretische Er- kenntnis behauptet, als es Kant zugestanden haben könnte. Allein neben allen diesen metaphysischen Bestrebungen der nachkantischen Philosophie, in denen zweifellos der schöpferische Fortschritt des philosophischen Geistes enthalten ist, laufen nun eine Reihe anderer Versuche einher, welche das kritische Prinzip der Selbsterkenntnis der menschlichen Vernunft in die Sprache der empirischen Psychologie zu übersetzen und die grundlegenden Untersuchungen der Erkenntnistheorie mit vollem methodischen Bewußtsein in die

Der PHycbologisinuB. 417

anthropologische Erfalirung zu verlegen Buchen. Je wichtij^er für Kants gesamte Kritik der apriorischen Erkenntnis die bei ihm niemals ausdrücklich herausgehobenen psychologischen Voraus- setzungen waren, um so mehr konnte man glauben, seinen Absichten zu entsprechen, wenn man in der empirischen Selbst- erkenntnis des menschlichen Geistes die Grundlage aller philo- sojphischen Untersuchungen sah: und je mehr die großen meta- physischen Systeme, die sich aus seiner Lehre entwickelten, im geheimen mit einer bestimmten psychologischen Grundansicht operierten, um so näher lag die Möglichkeit, daß man ihre Lehren ausdrücklich auf die anthropologische Erkenntnis zu stützen unter- nahm. So ist der Psychologismus eine konstante Neben- erscheinung der metaphysischen Systeme: er besteht an jedem Punkte in einer Verarbeitung der metaphysischen Lehren unter dem Gesichtspunkte der empirisch-psychologischen Begründung, und seine Vertreter gehen sämtlich von der Ansicht aus, das »subjektive Prinzip« der modernen Philosophie lauf 3 darauf hinaus, daß in der empirischen Psychologie als der Selbsterkenntnis des erkennenden Geistes die Grundlage der gesamten Philosophie ge- sucht werden müsse. Dieser Psychologismus hatte den Stand- punkt der Aufklärungsphilosophie gebildet: er erschien jetzt wieder als die nächstliegende Form des »metaphysischen Empirismus«, auf den das Scheitern der rationahstischen Deduktion von allen Seiten hinwies. Die Überzeugungen der ihn vertretenden Männer sind daher ähnlich, wenn auch in mehr positiver Weise, als ee bei den Irrationalisten der Fall war, durch die metaphysischen Systeme bestimmt, für welche sie in anthropologischen »Selbst- beobachtungen« die empirische Basis zu gewinnen trachten. Wesentliche oder prinzipielle Neuerungen sind daher nicht von ihnen ausgegangen: ihr Kampf gegen die großen Systeme wird stets mit den Gedanken geführt, die diesen selbst ent- nommen sind.

Einer der bedeutendsten dieser Psychologisten ist gleich der erste, derjenige nämlich, welcher sich in dieser Weise der em- pirisch-psychologischen Begründung zu dem Kantischen Systeme selbst verhält. Jakob Friedrich JFries (1773 geboren, unter dem Einfluß der Herrnhutischen Brüdergemeinde zu Barby und

Windel band, Gesch. d. n. Philos. U. 27

418 Fries.

Niesky erzogen, auf den Universitäten Leipzig und Jena gebildet, 1801 in Jena habilitiert, 1805 als Professor der Philosophie nach Heidelberg, 1816 nach Jena berufen, nach seiner Beteihgiing am Wartburgfeste suspendiert, 1824 als Professor der Physik reha- bilitiert und 1843 zu Jena gestorben) hat in seinem Hauptwerke »Neue Kritik der Vernunft« (1807) die Kantische Lehre auf eine psychologische Ansicht zu stützen gesucht, die in dem »Handbuch der psychischen Anthropologie« (1820) sachlich und terminologisch genauer fixiert und in seinen zahlreichen übrigen, auf alle Teile der Philosophie sich erstreckenden Schriften weiter ausgeführt ist. Er geht von der Überzeugung aus, (die in gewisser, freilich viel mehr einzuschränkender Beziehung unangreifbar und z. B. auch von Her- bart anerkannt worden istMaß die Untersuchung über die apriorische Erkenntnis, welche die Vernunftkritik ausgeführt hat und ausführen soll, selbst aposteriorischen Charakters ist, indem alle »transzenden- talen Bedingungen « der Erkenntnis in der tatsächlichen, empirisch gegebenen Natur der menschlichen Denktätigkeit aufgesucht werden. Nur durch die Erfahrung selbst werden wir uns jener »reinen Formen« bewußt, die als immanente Gesetze unserer Vorstellungs- tätigkeit diC/ allgemeinen und notwerxdigen , d. h. apriorischen Be- stimmungen alles Erfahrungsinhaltes bilden. Kants gesamte Unter- suchung ist somit nach Fries psychologischen Charakters, und man soll sich nicht scheuen, dies offen auszusprechen. Darin war richtig, daß der Leitfaden von Kants Kritik überall eine psychologische Voraussetzung und das Kriterium ihrer Entscheidungen immer eine psychologische Einsicht oder Ansicht ist; aber es darf nicht ver- gessen werden, daß den Grund, den Kant für die Apriorität der Ver- nunftformen suchte, niemals ihre empirische Funktion bildete. Fries seinerseits behauptet, die ganze Aufgabe der Kritik bestehe in der Reflexion auf die von dem menschlichen Geiste unmittelbar aus- geübte Erkenntnistätigkeit. Dabei zeigt sich nun, daß alles Wissen des Verstandes in seiner demonstrierbaren Gewißheit auf Voraus- setzungen beruht, welche das reflektierende Denken nicht erzeugt, sondern übernimmt. Das Denken ist genau so hatte der von Fries so lebhaft bekämpfte Fichte gesprochen immer nur sekun- dären Charakters: es hat stets nur mittelbare Gewißheit und ist nur eine Reflexion auf die unmittelbare Gewißheit, die ihm vorher- geht, und der es seinen Inhalt entnimmt. In dieser Entgegensetzung

Unmittclbures und mittelbures Wissen. 419

ist Fries vollkommen von .Tacobi abhängig und stimmt ihm auch darin bei, daß die unmittelbare Gewißheit nicht im reflektierenden Denken, sondern im Gefühl enthalten ist. Wenn er deshall> in gewissem Sinne ebenfalls ein \'ertreter dei- (jJefiihlsphilosophie ist, so unterscheidet er sich von Jacobi eben darin, daß er verlangt, die unmittelbare, dunkle Gefiihlserkenntnis solle durch die Reflexion in das klare imd sichere Bewußtsein erhoben werden, und deshalb ist seine Lehre ungleich viel wissenschaftlicher und objektiver ge- worden, als diejenige Jacobis, die sich mit dem Pathos des unklaren, subjektiven Gefühls begnügte. Andei-seits aber verfolgt nun auch Fries den Gedanken, daß die unmittelbare Gewißheit, indem sie in das reflektierende Bewußtsein aufgenommen wird, dessen lediglich subjektive Formen und damit den Charakter der bloßen Erscheinung^ annehmen muß. Unser Denken ist die Reflexion auf unser un- mittelbares Gefühl; aber es ist notwendig in seine ihm eigentümlichen Formen gebannt und erkennt daher lediglich die Erscheinung der Wahrheit. Alles Wissen bewegt sich in den Refleyionsformen der Subjektivität, welche wir durch die Selbstbeobachtung unserer Er- kenntnistätigkeit uns zum Bewußtsein zu bringen vermögen. Die »Neue Kritik« gibt in der Analyse dieser Formen des reflektierenden Bewußtseins sehr viel feine und geistreiche Untersuchungen ; nament- lich die Kategorienlehre ist von Fries durchaus selbständig und ori- ginell behandelt und auf die Kategorien der Relation zugespitzt worden. Allein das demonstrierende Wissen ist deshalb für ihn gänzlich auf die Anwendung dieser Formen beschränkt: es verliert allen Boden unter den Füßen, sobald es diese Grenze über- schreiten will. Für die'^wissenschaftliche Erkenntnis gut Kants Be- schränkung auf die Erfahrung und Erscheinung. Von der äußer^ Natur wissen wir nur so viel, als sich mathematisch und mechanisch berechnen läßt. Die Prinzipien der Natuierkenntnis sind lediglich mathematisch und mechanistisch : auch die Organismen wollen in dieser Weise begriffen sein, und es ist ein Fehler Kants, auf sie die teleologische Betrachtung auch nur für wissenschaftlich anwendbar erklärt zu haben, y In der Erkenntnis der inneren, psychischen Natur dagegen verläßt uns trotz Herbart die mathematische Er- kenntnis; hier sind wir ledighch auf deskriptive Analysis ange- wiesen, — eine Behauptung, die bei Fries um so schwerer wiegt, als er auf diese Erfahr ungs Wissenschaft die ganze Philosophie gründen

27*

420 Fries.

wollte. Wälirend aber so die wissenschaftliche Erkenntnis auf die naturnotwendige Erscheinung angewiesen ist, enthält das unmittel- bare Gefühl den Glauben an die Welt dei^inge an sich : die Kantischen Ideen von Gott, von der intelligiblen Freiheit und dem übersinnlich- unsterblichen Wesen des Menschen erscheinen hier als Objekte des unmittelbar selbstgewissen Gefühls, und zwischen jenem Wissen der Erscheinungen und diesem Glauben der Dinge an sich wird von Fries ganz der schroffe Dualismus angenommen, der Kant und Jacobi gemeinsam war. Dennoch gibt es für Fries eine Vermittlung zwischen beiden , und seine Wertschätzung der Kritik der Urteils- kraft, (die er für Kants größtes Werk erklärte ,^zeigt sich auch darin, daß das Gefühl wieder zuletzt zwischen der theoretischen und der praktischen Vernunft vermitteln soll. Als ästhetisches Gefühl zeigt es uns in unmittelbarer Anschauung die übersinnliche Idee in die sinnliche Erscheinung verwachsen, als rejigiöses Gefühl läßt es uns in der Zweckmäßigkeit der Natur die Weisheit des göttlichen Schöpfers verehren. Wenn wir so die Erscheinungen in ihrer mathematischen Notwendigkeit erkennen und wissen, wenn wir an die Dinge an sich als die sittlichen Werte glauben, so »ahnen« wir in dem ästhetischen und dem religiösen Gefühl, daß in^en Erscheinungen eben jenes wahre, sittliche Wesen der Dinge erscheint. Die rein naturalistische Beschränkung der Erfahrungs- erkenntnis, der moralische Glaube an eine Welt der Werte und an die Würde der menschlichen Bestimmung, die Parallelisierung des ästhetischen und des religiösen Gefühls in der gemeinsamen Bedeutung, daß in beiden das Verhältnis der Erscheinung zur Idee, des Bedingten zum Unbedingten geahnt wird, das alles sind Theorien, die, in Kant angelegt, bei seinen verschiedenen Nachfolgern in besonderen Formen entwickelt worden sind : bei Fries erscheinen sie auf der gemeinsamen Basis einer anthropo- logischen Untersuchung, die aus der Selbsterkenntnis des empi- rischen Bewußtseins methodisch das Allgemeingültige erforschen will, um sich seiner apriorischen Berechtigung zu versichern. Gerade eine solche Ableitung der Grundlehren der Kantischen Philosophie aus der empirischen Psychologie hatte etwas Eindring- liches und unmittelbar Einleuchtendes an sich, was des großen Erfolges in weiteren Kreisen sicher war. Ähnlich sprachen sich Fr. van Calker in seiner » Urgesetzlehre des Wahren, Guten und

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Krug. 421

Schonen« (1820) und Chr. Weiß in zahlreichen Schriften aus, unter denen namentlich die »Untersuchungen über das Wesen und Wirken der menschlichen Seele« (1811) hervorzuheben sind, und später schloß sich an Fries eine umfangreiche Schule an, die sich namentlich auch auf theologischem Gebiet Ausbreitung und Gel- tung verschaffte.

Wie Fries zu Kant und Jacobi, so verhielten sich geringere Geister zu Kant und Fichte. Zunächst ist in dieser Hinsicht l Wilhelm Traugott Krug (1770 1842) zu nennen, welcher die ; 7 Kantisch -Fichteschen Eehren auf »Tatsachen des Bewußtseinß« zurückzuführen suchte. Aus seiner überaus fruchtbaren Schrift- stellertätigkeit ist das »Handbuch der Philosophie« (1820) am meisten verbreitet gewesen ; das Präziseste ist wohl der » Entwurf eines neuen Organon der Philosophie« (1801) und die » Fimdamental- philosophie« (1803). Von der Mendelssohnschen Art des Philoso- phierens ausgegangen, sah er auch in der neuen philosophischen Bewegung nichts als eine Analyse des Bewußtseins, die den Inhalt des gesunden Menschenverstandes kritisch festzustellen habe. Die letzte Tatsache, worauf dabei das sich selbst beobachtende Bewußt- sein stoße, der absolute Inhalt des Selbstbewußtseins, sei die Ver- knüpfung des Denkens mit dem Sein. Deshalb sei sowohl der Realismus, der nur die Ursprünglichkeit des Seins, als auch der Idealismus, der nur diejenige des Denkens anerkennen wolle, von vornherein verfehlt; der einzig wahre Standpunkt sei der tran- szendentale Synthetismus, der in dem empirischen Selbst- bewußtsein diese Tatsache der gegenseitigen Beziehung von Denken und Sein konstatiere und sie zum Ausgangspunkt aller philoso- phischen Gewißheit mache. Denn diese sei nichts als der Glaube an_ die Tatsachen des Bewußtseins. Enthält diese Lehre eine psychologische Umstempelung der Fichteschen Theorie vom Ich, so ist sie anderseits ein Synkretismus Reinholdischer und Jacobischer Gedanken auf der Basis der empirischen Psychologie. //5^ //>

Bedeutender ist der Versuch, den Friedrich Bouterwek (1766 1828), ein als empiristischer Ästhetiker und Literatur- historiker sehr geschätzter Mann, in seiner »Idee einer Apodiktik« (1799) gemacht hat, um eine psychologische »Selbstverständigung« des Kritizismus zu gewinnen. Er führt zunächst aus, daß die logischen Formen des Denkens niemals zu einer anderen als

422 Bouterwek, Troxler.

formalen und hypothetischen Erkenntnis führen; er entwickelt so- dann, daß die Transzendentalphilosophie den Spinozis tischen Begriff eines absoluten Seins neu und sicher begründe, aber um den Preis, daß sie alle Individualität imd Verschiedenheit, alles Geschehen imd Tun lediglich für Erscheinung erklären müsse, und er zeigt sich in dieser Spinozistischen Konsequenz, die er aus Kant ableitet, schon hier durchaus von Jacobi abhängig, dem er später immer mehr anheimgefallen ist. Er fügt endlich hinzu, daß uns nur unser eigenes empirisches Selbstbewußtsein uns selbst als handelnde Individualitäten erkennen lasse, und daß diese Selbstbeobachtung die einzige Möglichkeit sei, uns auch die äußere Welt zu erklären. Indem unser Wille, der das absolut Gewisse unserer Selbserkennt- nis ist, bei seinem Handeln auf Widerstand stößt, erkennen wir die Welt, welche in der Transzendentalphilosophie nur als einheit- liches und unbestinmates Sein erschien, als eine unendliche Viel- heit lebendiger Kräfte. Die Selbsterkenntnis, in der wir uns als wollende Wesen erfassen, enthüllt uns das Geheimnis der Dinge: wir müssen sie ebenso wie uns selbst als lebendige Kräfte ansehen. Deshalb bezeichnet sich dies System als absoluten Virtualis- mus. Fichtes Selbstanschauung der Intelligenz als Wille ist also hier in eine Selbstbeobachtung der empirischen Psychologie ver- wandelt, und was später Schopenhauer als seine geniale Deutung der Erfahrung bezeichnete, erscheint hier ausdrücklich als eine auf die innere Erfahrung gestützte Analogie: wobei nicht zu ver- gessen ist, daß Bouterwek in Göttingen lehrte, wo Schopenhauer seine ersten Studien gemacht hat.

Zeigt Bouterwek in seiner Auffassung der Transzendentalphilo- sophie eine entschiedene Verwandtschaft mit Schellings Neospino- zismus, so hat auch dessen Schule ihren Psychologisten in Ignaz %ij/) Paul Troxler (1780 1866) aufzweisen. Dieser war anfangs ein unbedingter Anhänger der Naturphilosophie und des Identitäts- systems gewesen; aber er nahm schon durch seine »Blicke in das Leben des Menschen« (1812) und später in seiner »Naturlehre des menschlichen Erkennens oder Metaphysik« (1828) und in der »Logik« (1830) eine relativ selbständige Stellung ein. Das Wesent- liche daran ist, daß er die Identität von Denken und Sein dahin deutete, die Gesetze des menschlichen >> Gemüts << seien diejenigen des Universums ; der Mensch sei Mikrokosmos, und alle seine Welt-

Bonoke. 423

erkcnntnis bestehe in seiner Selbsterkenntnis. Alle Philosophie ist Anthroposophie, und diese beruht nur auf dem Wissen der Selbstbcobachtun«^'. Tn der Ausführuni^ dieses Gedankens legt Troxler an die empirische Untersuchung in einer äußerst unfrucht- baren Weise das tetradische System der Kreuzung von Gegensätzen, das Wagner (vgl. ij 00) aufgestellt hatte. Eine Unterscheidung von Geist und Seele, Leib und Körper bildet die Grundlage, auf der sich eine Schema tische Entwicklung der gesamten Welterkennt- nis aufbauen soll. ^^

Der konsequenteste und radikalste Vertreter des Psychologis-6^J/' mus ist derjenige, welcher in dem oben bezeichneten Verhältnis /^. zu Herbart steht: Friedrich Eduard Beneke. 1798 in Berlin // geboren, in Halle und Berhn gebildet und an der letzteren Uni- ^^ versität habilitiert, wurde er 1822 von der akademischen Tätigkeit i p ^ suspendiert, dozierte einige Jahre in Göttingen und kehrte dann nach Berlin zurück, wo er 1832 eine außerordentliche Professur erhielt und 1854 gestorben ist. Seine sehr zahlreichen Schriften enthalten die ausgesprochenste Form des Psychologismus, welche in dieser Epoche der deutschen Philosophie aufgetreten ist. Er meint nicht nur wie Fries, daß die Erkenntnistheorie und von da aus alle übrigen philosophischen Disziplinen von der empirischen Psychologie ausgehen müssen, sondern seine Anschauung ist die, daß deren Aufgabe nicht die Aufsuchung einer apriorischen Er- kenntnis, die es gar nicht gebe, sondern die Entwicklungsgeschichte des empirischen Bewußtseins sei. Er fühlte sich infolgedessen am meisten mit den enghschen Assoziationspsychologen und der schottischen Schule verwandt, deren Vertreter er eifrig studiert hatte und mit seiner »Neuen Psychologie << (1845) in Deutschland bekannt zu machen suchte. Die Grundzüge seiner Lehre hatte er bereits 1820 in der »Erfahnmgsseelenlehre als Grundlage alles Wissens« dargestellt; als er darauf Herbarts Schriften genau kennen lernte, wurde dessen verwandte Theorie für die Ausbildung seiner Ansichten von entscheidendem Einfluß. So gestaltet erscheinen sie in seinem Hauptwerke, dem »Lehrbuch der Psychologie als Naturwissenschaf t <( (1833) und teilweise schon in den »Psycho- logischen Skizzen« (1825 und 1827).

Beneke teilt mit Herbart die Grundvoraussetzung, daß alles psychische Leben auf der Bewegung einfacher Elemente beruhe,

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424 Beneke.

deren Gesetze oder »Grundprozesse« es festzustellen gilt. Aber die psychologische Untersuchung soll nach ihm weder auf Mathe- matik noch auf Metaphysik, sondern lediglich auf Erfahrung ge- gründet werden, und diese Erfahrung ist im Gegensatz zu der äußeren die innere Erfahrung. Die Psychologie steht deshalb völlig ebenbürtig der Naturwissenschaft gegenüber, sie ist wie diese eine Erfahrungswissenschaft ; aber sie gewinnt ihre Erfahrung nicht durch den äußeren, sondern nur durch den inneren Sinn. Sie ist die Naturwissenschaft des inneren Sinnes. Ihre metho- dischen Mittel sind die Selbstbeobachtung der psychischen Tat- sachen und die Induktion, welche aus der Analyse der inneren Wahrnehmungen die Einsicht in die Grundprozesse gewinnt, nach denen sich die komplizierten Erscheinungen zusammengesetzt haben. Die ganze Absicht der Benekeschen Lehre ist also darauf gerichtet, die Gesetze der Entwicklung zu erkennen, durch welche das seelische Leben den Inhalt und die Formen gewinnt, die unsere Erfahrung darin vorfindet. Denn darin hat der Begründer der Lehre vom inneren Sinn, Locke, recht gehabt, daß nichts Fertiges von Vorstellungen cder Willensrichtungen der Seele an- geboren ist, sondern alles von ihr durch die Erfahrung erworben wird. Aber anderseits ist es ein Mißverständnis, diese »tabula rasa« zum reinen Nichts zu machen, aus dem nie etwas werden könnte. Die Seele muß vielmehr aus einer Anzahl von Anlagen bestehen, welche die Möglichkeit in sich tragen, daß sie auf Grund äußerer Anregungen sich zu der ganzen Fülle ihres späteren Lebens entwickelt. Hier macht nun freilich dieser Empirismus, wie es jedem geht, unversehens eine metaphysische Annahme: die Seele gilt bei Beneke nicht als eine einheitliche, qualitativ fest be- stimmte Substanz, sondern vielmehr als eine Summe von Anlagen, die ihrer Verwirklichung entgegenstreben: sie besteht aus einer Anzahl von Kraftgruppen. Diese Anlagen nennt Beneke die >> Vermögen« der Seele. Er versteht darunter nicht jene hypo- stasierten Klassifikationsbegriffe der älteren Psychologie, deren Beseitigung er für Herbarts größtes Verdienst erklärt, sondern die spezifischen Formen der Reaktionsfähigkeit auf äußere Reize, z. B. die Fähigkeit rot zu empfinden. Dieser Vermögen sind also von vornherein sehr viele, und sie ordnen sich je nach ihrer Ver- wandtschaft zu bestimmten Gruppen an. Zu einem wirklichen

^

NaturwisseiiHchaft des inneren Sinnes. 425

Beelischon »Gebilde« aber werden sie erst in der Verbindun«^ mit den ihnen adäquaten »Heizen«, (lie sie aus der Potentiaiität in die Aktualität überführen. Ohne den Reiz sind also die^yerraögen eigentlich nur^Kräfte oder Triebe zur Vorstellung." Die Seele besteht aus einer Fülle solcher Triebe, welche nur auf den Reiz warten, um zu wirklichen Vorstellungen zu werden. Von hier aus erhellt am besten Benekes Verhältnis zu Fichte. Beiden besteht die Seele aus Trieben: aber für Fichte ist sie ein System von Trieben, die so zusammengehören, daß einer nicht ohne den andern sein kann; für Beneke ist sie nur sozusagen ein Bündel von Trieben, welche zufällig zusammen sind, und von denen jeder für sich allein besteht oder bestehen kann: bei Fichte ist die Seele das einheitliche System, das sich notwendig in die be- sonderen Triebe gliedert, bei Beneke ist sie nicht einmal eine ein- fache Substanz, die Triebe besäße (wie bei Herbart), sondern eine Verwebung zufäUig zusammengekommener Vermögen.

Für die Entwicklung des Seelenlebens nimmt nun Beneke vier Grundprozesse an. Die Aneignung der entsprechenden Reize durch die Vermögen ergibt die ursprünglichen Empfindungen. Dazu kommt zweitens, daß die Seele im Laufe ihrer Entwicklung immer neue Urvermögen erwirbt. Das ist durch die Tatsache bewiesen, daß sie später auf Reize reagiert, denen sie sich früher verschlossen zeigte. Wie aber diese Erwerbung zu denken sei, wie die vor- handenen Vermögen durch die Kumulation der Reize zur Erzeugung neuer Vermögen veranlaßt werden, darüber hat Beneke nur äußerst künstliche und ungenügende Hypothesen und Erklärungen auf- stellen können. Reiz und Vermögen sind aber in dem Gebilde der wirklichen Vorstellung beweglich miteinander verbunden, so daß die bewußte Vorstellung wieder in die beiden Faktoren auseinander und diese in andere Vermögen hinüber fließen können. Dadurch verwandelt sich das Gebilde in eine »Spur« oder »Angelegtheit«, welche bei neuer Reizung wieder zum Gebilde werden kann und dann ein stärkerer Trieb als zuvor geworden ist. Endlich besitzen die Vorstellungen die Fähigkeit, nach dem Maße der Gleichheit ihres Inhaltes sich anzuziehen und eine engere Verbindung mit- einander anzustreben. Aus diesen vier Vorgängen, der Entstehung von Vorstellungen durch Reize, der Erwerbung neuer Ver- mögen, der Reproduktion und der Assoziation muß der gesamte

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426 Beneke.

Vorstellungsverlauf bis in alle seine Verzweigungen hinein er- klärt werden.

Auch darin ist nun Beneke mit Herbart einig, daßjdie Vor- stellung in ihrer Bedingtheit durch Eeiz und Vermögen das Grundgebilde des psychischen Lebens ausmacht, und daß alle übrigen »Bildungsformen« der Seele nur auf die verschiedenen Verhältnisse der Vorstellungen zurückgeführt werden sollen, Ist der Keiz dem Triebe gegenüber zu schwach, so entsteht das mit dem Unlustgefühl verknüpfte Begehren nach voller Erfüllung des Triebes. Genügt er dem Reize, und geht er zugleich ganz darin auf, so entsteht das deutliche Wahrnehmen, die interesselose, reine Vorstellung. Besitzt der Reiz einen Überschuß über das vom Ver- mögen Verlangte, so entsteht das Lustgefühl. Steigert er sich je- doch bis zum Übermaß, so entsteht das Gefühl der Abstumpfung und des Überdrusses. Und tritt endlich ein solches Übermaß plötzlich ein, so entsteht das Schmerzgefühl.

Die zahlreichen sorgfältigen Beobachtungen und feinsinnigen Analysen, die in diese Theorien eingeflochten sind, gehören mehr der empirischen Psychologie als der allgemeinen Philosophie an. Das prinzipielle Interesse an der Sache liegt darin, daß Beneke den Versuch macht, auf empirischem Wege eine Entwicklungs- geschichte des Seelenlebens zu geben, welche dessen ganze Aus- breitung aus den Urvermögen und deren mannigfaltiger Reaktion auf die äußeren Reize nach dem Prinzip der Naturgesetzlichkeit ableitet. In diesem Grundcharakter der Benekeschen Lehre ist es begründet, daß sie sich in hohem Grade und fast noch mehr als die Herbartsche zur Grundlage für die Pädagogik eignete, die denn auch schon Beneke selbst in seiner »Erziehungs- und Unter- richtslehre« (1835 und 1836) und nach ihm hauptsächlich sein Schüler Dreßler ausgebaut hat. Schon Beneke kam immer wieder darauf zurück, daß das dem Menschen Angeborene, die Urvermögen seiner individuellen Seele, verhältnismäßig der späteren Lebensfülle gegenüber nur von sehr geringer Ausdehnung und bei den ver- schiedenen Menschen von nur unbedeutender Verschiedenheit sei (er beschränkt die individuelle Anlage wesentlich auf die in der Intensität der Urvermögen bestehenden Temperamentsverhältnisse), daß dagegen alles, was man populär Anlage^, Talent, Genie usw. nenne, durch die Einwirkungder Reize auf die Vermögen erworben

Entwickluupf des Seolonlübens. 427

sei, lind der Grundgedanke seiner Pädagogik ist daher der, la der Erziehung diese Reizwirkungen derartig zu regeln, daß sie zu einer dem Zweck der Erziehung entsprechenden Entwicklung, Bereicherung und Befestigung der Urverraögen führen.

Auf diese psychologische Grundansicht stützt nun Beneke nicht nur seine Logik (1842), deren Problem er in der Entstehung der Begriffe diu:ch den^ Verschmelzungsprozeß der Vorstellungen ^findet, sondern auch sein »Natürliches System der praktischen Philo- sophie« (1837 und 1840), das sich aus der Wertschätzung der Reize wegen der durch sie bewirkten Steigerung oder Herab- setzung der Vermögen entwickelt. Ahnlich wie die englischen Utilisten versucht hier der Philosoph allgemeine Normen für die Abmessung des Wertes zu finden, den die Reize im egoistischen und altruistischen Sinne besitzen, und dabei erscheint als das mo- rahsch Wertvolle das, was zu einer Steigerung der menschlichen Natur allgemein geeignet ist. Die richtige Schätzung solcher Werte ist das sittliche Gewissen, das im Gegensatz zu den niederen Strebungen die Form des PfUchtgefühls annimmt.

Das psychologische Fundament trägt endlich bei Beneke auch eine »Metaphysik und Religionsphilosophie« (1840). Dieser Auf- bau ist aber nur durch das Prinzip der analogen Deutung mög- lich, welche die Ergebnisse der Selbsterkenntnis auf die äußere Welt überträgt. Eine ursprüngliche und absolute Gewißheit gibt eben nach Beneke nur die innere Erfahrung; es ist Kants Grund- fehler, auch auf sie die Phänomenalität ausgedehnt zu haben, die der äußeren Erfahrung gegenüber das Richtige ist. Wollen wir die anderen Dinge erkennen, so bleibt uns nur übrige von ihnen vorauszusetzen, daß sie sich analog verhalten, wie wir die Vorgänge in uns selbst erkannt haben. Die Formulierung der Begriffe von Substantialität und Kausalität gestaltet sich danach bei Beneke nach der Ansicht, die er vom Wesen und Tun der Seele hat: die Substanz ist ein Aggregat von Vermögen, und ihre Tätigkeiten sind die Verwirklichungen dieser Vermögen durch Reaktion auf die von anderen Substanzen ausgehenden Reize. Weiterhin führte dieses Prinzip zu der Ansicht, die Beneke als seinen Dpiritualismus bezeichnete, daß nämlich in allen, auch den körperlichen Dingen etwas der Seele Analoges gedacht werden müsse, - eine ]Mona- dologie ohne prästabiüerte Harmonie. Schließlich, da unsere Keimtnis

428 Beneke.

der Außenwelt überall Lücken zeigt, müssen wir im Begriffe der Gottheit die Idee der Welteinheit bilden, deren Kealität wir mehr glauben und ahnen dürfen als erkennen können.

Mit dieser Übertragung der psychischen Erfahrung auf die Metaphysik spricht der Psychologismus in Beneke das Greheimnis aus, welches, wie sich zeigte, zuletzt auch den großen meta- physischen Systemen zugrunde lag: die Umdeutung der mensch- lichen^Selbßterkenntnis in "Welterkenntnis. Und so ent- hüllt die ganze »Dialektik« der nachkantischen Philosophie nur die tiefe Weisheit, welche in dem Prinzip Kants Hegt, daß alle philosophische Erkenntnis nur die Einsicht in die ^ Organisation der menschlichen Vernünftelst.

Mit dieser Nachlese endet der Versuch, die reifen Garben zu binden, in welche die Kantische Saat aufgeschossen ist. Nach jener großen Zeit sind über die deutsche Philosophie Herbst und Winter hereingebrochen. Die schöpferische Überkraft, aus der System auf System quoll, war versiegt, und auf den Eausch der Spekulation folgte die Ernüchterung. Es kam hinzu, daß die Nebel der Bestaurationszeit über Europa und am dichtesten über Deutschland lagerten. Und als dann diese trübe Atmosphäre sich zu lichten begann, als es wieder frischer und reger wurde, da war wenige Träger der großen Tradition ausgenommen die Verbindung des philosophischen Gedankens mit der universali- stischen Bildung verloren gegangen, die das Geheimnis jener Blüte- zeit ausmachte. Die Zeiten haben sich schnell geändert. Zweifellos ist dem Gesamtwissen jener Zeit das der Gegenwart weit über- legen: aber dafür zersphttert es sich jetzt in die einzelnen Köpfe und Tätigkeiten, und das Individuum, unfähig seine Bildung aus dem Ganzen herauszuarbeiten, muß sich für die Einseitigkeit seiner Berufsarbeit meist durch einen eitlen Dilettantismus entschädigen, der von allem kostet, um sich von nichts zu nähren. Zweifellos sind wir politisch reifer und den Aufgaben der äußeren Existenz weit gewachsener geworden: aber in der Not des Kampfes fehlt uns der Friede, uns seiner Früchte zu freuen, und mit Neid müssen wir auf jene Zeit zurückschauen, der es vergönnt war,

Schluß. 429

mitten aus einer gewaltij];ei\ Schöpfertäligkeit lieraus ihren gcintigen Gehalt in schöner Harmonie zu genießen. In der Hast des mfxlernen Lebens ist keine Zeit für die »interesseloHC Betrachtung«, und in dem Geschiebe uaseres sozialen Median ismus ist kein Raum für den »Spieltrieb«. Wem das Leben nicht in die Jagd nach der Lust, wie immer er sie nenne, aufgeht, dem ist es zu ernster Arbeit geworden, und nur an dem fernen Horizonte der Erinnerung und der Sehnsucht erscheint das Bild jener goldenen Tage, in denen auch bei uns, wie einst in Hellas, die Wahrheit mit dem Lichte der Schönheit strahlte.

Kegister.

Abicht 197. Aenesidemus- Schulze

203 ff. Ahrens 299. Ammon 198. Ast 296.

Baader 367. Bardili 318. Beck 220. Beneke 423 ff. Berger 319. Born 197. Bouterwek 421. Burdach 262.

Calker 420. Carus 260 f.

Dreßler 426.

Eberhard 193. Eschenmayer 365.

Feder 191. 193. Feuerbach, Ans. 197. , Ludw. 389 ff. Fichte,J.G.210ff.301ff. Flatt 193. 204. Forberg 212. 242. Fries 417 ff.

Garve 191. Gesenius 198. Goethe 249.

Halbkantianer 198. Hamann 194. Hardenberg 259. 278. Hartenstein 397. Hegel 320 ff. Herbart 396 ff.

Herder 194. 297. Hermes 198. Hoffmann, Fr. 368. Hölderlin 287. Hufeland 193. Hülsen 287. Humboldt, AVilhelm v. 274 f.

Jacob 197. Jacobi 195 f. 358 ff.

Kant 1—182. Kantianer 197 f. Kielmeyer 250. Klein 296. Knapp 393. Knutzen 5 f. Koppen 364. Kraus 192. Krause 298 ff. Krug 421.

Maaß 193. Maimon 206 ff. Meiners 193. Memel 242. Mendelssohn 190.

Nicolai 190. Niethammer 212. 242. Novalis, 8. Hardenberg.

Oken 261. 290. Ouvrier 193.

Paulus 198. Pölitz 197.

Rehberg 191. Reinhold, K. L. 192. 199 ff.

Röhr 198. Rotteck 197.

Salat 364.

Schad 242.

Schaumann 242.

Schelling 242 ff. 284 ff. 364 ff 384 ff.

Schiller 264 ff.

Schlegel, Fr. 279 ff. 326.

Schleiermacher 305 ff.

Schlosser 197.

Schmalz 197.

Schmid, Ehrh. 192.

Schopenhauer 371 ff.

Schubert 262.

Schulze, G. E., s. Aene- sidemus.

, Joh. 191.

Schütz 191.

Schwab 193. 204.

Schweizer, AI. 312.

Seile 193.

Solger 297.

Steffens 260. 316.

Stutzmann 296.

Süskind 198.

Tiedemann 203. Tieftrunk 198. Tittel 193. Troxler 422.

Wagner 298. Weishaupt 193. Weiß, Chr. 421. Wizenmann 368. Wolff, K. Fr. 249.

Zachariae 197.

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