Die | Baupillrömungen ‚der Titteratur
des 19. Jahrhunderts. Von (5. Brandes.
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Die Haupltſtrömungen
der
Sitterntur des meunzehnten Jahrhunderks.
Borlefungen, gehalten an der Kopenhagener Univerjität von
G. Brandes.
Ueberjegt und eingeleitet von
Adolf Hfrodfman.
Eriter Band: Die Emigrantenlifferatur.
Einzig autorisierte deutiche Ausgabe.
Fünfte, gänzlich ungearbeitete, vermehrte und mit einem Generalregiſter verjehene Auflage.
Iubiläums-Husgyabe,
RI RD
Leipzig, Verlag von H. Barsdorf. 1897.
Die Emigranfenfifferafur
von
&. 2örandes.
Ueberſetzt und eingeleitet von
Adolf Sfrodfman.
Einzig auforifierfe deuffhe Ausgabe.
Fünfte, gänzlich ungearbeitete und vermehrte Auflage.
Jubiläums-Ausgabe.
Leipzig. Verlag von H Barsdorf. 1897.
„Ein wächſerner Hausgöße, den man aufer Acht gelafjen hatte, jtand neben einem Feuer, worin edle campanijche Gefähe gehärtet wurden und fing an zu Schmelzen.
Er beflagte jich bitterlich bei dent Elemente. Sieh’, ſprach er, wie grauſam Du gegen mich verfährft. Jenen giebjt Du Dauer, nnd mich zerſtörſt Dul
Das Fener aber antwortete: Beflage Dich vielmehr über Deine Natur; denn ich, was mich betrifft, bin überall Feuer.“ *
W. Heinfe.
Paul Heyſe
gewidmet
vom
Berfaffer,
Vorwort Adolph Strodtmanns,
des Herausgebers der erften vier Bände.
Bücher haben ihre Schiefale. Auch das Werf, dejjen erjten Band ich hier dem deutjchen Bublifum vorlege, hat bereits jeine Gejchichte. ES rief in der Heimat feines Verfaſſers einen Sturm leidenjchaftlicher Angriffe hervor, deren Urfache ſich kaum aus dem Ton und Inhalt des Buches jelber erklären läßt. Sie iſt viel- mehr in der eigentümlichen Geijtesrichtung zu juchen, welche die dänische Litteratur während der jüngften Jahrzehnte genommen hat.
E3 mag im Auslande befremden, aber es tjt eine unzweifel- hafte Thatſache: der große geiſtige Befreiungsfampf des vorigen Sahrhunderts, welcher die Litteratuven aller übrigen Völfer Europas mit jo viel neuen Ideen und Idealen bereicherte, hat die ffandinavijchen Länder fajt unberührt gelajjen. Von den Lofungsworten der Nevolution: Aufklärung, Gedanfenfreiheit, Reform der Geſellſchaft zc., drang kaum ein vereinzelter ſchwacher Ton nach Dänemark hinüber. Als aber der reaftionäre Gegen- ichlag kam, der die überſchäumenden Fluten des freien Gedankens in ihre angemefjenen Schranfen zurück dämmte, da machte die däniſche Litteratur fich zum fanatischen Schildfnappen der Reaktion. Nicht an Lejfing, Goethe und Schiller lehnten die Koryphäen der nordiſchen Dichtung fich an, jondern an die untergeordneten Geifter der romantischen Schule, von deren Berirrungen ſelbſt Oehlenſchläger fich Feineswegs vollftändig frei erhielt. So große Fortjehritte die däniſche Litteratur ſeitdem im Einzelnen, befonders in formeller Hinficht gemacht hat, im Wefentlichen ift fie auf dem Standpunfte der Nomantik ftehen geblieben. In der That, was fünnte „vomantijcher“ jein, als die feindjelige Abwendung vom Leben der Gegenwart, die jtete Rückkehr zu den Stoffen
a
IV Borwort des Herausgebers.
einer längſt entjehwundenen Vorzeit, die Luft an allegorifcher Mythen- und Märchendichtung, welche wir beiden hervorragendften Schriftitellern jenes Yandes bis auf den heutigen Tag antreffen? Bezeichnender noch iſt der Umftand, daß ein phantaftijcher Myſtizismus mehr und mehr die poetijche Litteratur des Nordens durchdrungen hat und ihr einen bigoten, theologijierenden Bei— geſchmack verlieh, welcher mehr und mehr in die weltfeindlichite Askeſe auszuarten droht. Die ganze dänifche und norwegijche Poefie der Gegenwart trägt, mit geringen Ausnahmen, einen didaftiich-polemifchen Charakter, deſſen Stachel jich mit äßender Schärfe gegen die humaniſtiſchen Fortichrittsideen des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts fehrt, in denen fie einen Abfall vom chriftlichen Glauben erblicdt, und von deren Sieg fie die Auflöfung aller fittlichen und gejellfchaftlichen Bande befürchtet. Sie arbeitet nicht im Dienſte des geiftigen Fortjchritts, jondern huldigt einem abjtraften Idealismus, welcher den Intereſſen der Gegenwart in träumeriſchem Hinbrüten aus dem Wege geht, fie erörtert nur noch mit byzantinischer Spitfindigfeit theologijche Probleme im Sinne einer wahrhaft mittelalterlichen Orthodorte. Der flache Nationalismus, welcher der großen philofophifchen Bewegung in Deutjchland voranging, wurde freilich zu jeiner Zeit auch in Kopenhagen von einzelnen Univerfitätsprofefloren, wie Dtto Horrebow, vertreten; aber diefe Richtung führte in Däne- mark nicht, wie bet uns, zu einer weiteren Entwicelung und Ber- tiefung der Neligionswilfenichaft. Die bedeutenderen Schrift- jteller der nächjten Generation huldigten zum Zeil, wie Dehlen- ihläger, Hauch und Derjted, einem milden, rationaliftifchen Deismus, fprachen fich aber niemals polemijch gegen die pofitive Form der Religion aus, und ihr aufgeflärter Nationalismus verblaßte mit dem zunehmenden Alter. Der Hegelichen Philo- jophie hat nur Johann Yudwig Heiberg eine ernftliche Beachtung gejchentt; die Forichungen eines Yudwig Feuerbach und David Friedrich Strauß blieben für die nordischen Länder gänzlich verloren. Dagegen gewann die fanatiiche Sefte der Grumdt- vigtaner, welche in hochmütiger Ueberhebung Dänemark als das auserlejene Yand Gottes betrachtete und jich einen eigentümlichen mpftiich-veligtöfen Jargon erjchuf, immer mächtigeren Einfluß
Vorwort des Herausgebers. V
auf die Maſſen, vor Allem auf die Bauernbevölkerung. Die ganze Preſſe des Landes, einfchließlich der alten Oppoſitions— prefje, fteht gegenwärtig im Dienfte der kraſſeſten Orthodoxie und erſtickt jeden Verſuch, dev freien wiljenjchaftlichen Forſchung das Wort zu reden oder die großen Fragen der Zeit, welche anderwärts mit ſo viel Ernſt und Eifer diskutiert worden ſind, zur Debatte zu ſtellen. Faſt die ganze Litteratur des Nordens trägt dieſelbe pietiſtiſche Färbung; ſelbſt Björnſtjerne Björnſon, deſſen chamäleontiſche Natur auf politiſchem wie auf religiöſem Gebiete im Lauf weniger Jahre alle erdenklichen Wandlungen durchgemacht hat, und der vor Zeiten mit hegelianiſchen Grund— ſätzen kokettierte, ſelbſt dieſer in Deutſchland über Gebühr gefeierte Schriftſteller geizt jetzt nach der Ehre, Philoſoph der Grundt— vigianer zu werden, und verlangt in der Schwärmerei ſeiner jüngſten Apoſtrophe an die nordiſche Jugend, daß die Offiziere vor der Front ihrer Soldaten geiſtliche Pſalmen anſtimmen ſollen, wobei dann vermutlich weniger darauf ankommen wird, ob ſie des Militärweſens kundig ſind.
Ein ſolcher Litteraturzuſtand muß auf die Dauer unhalt— bar werden, ev müßte zu einem marasmus senilis, zu einem allmählichen Abjterben aller geiitigen Produktion führen, wenn nicht bei Zeiten ein heilſamer Windjtoß den fünftlich aufgerichteten Slasbau in Trümmer jchlüge und der von Tau und Sonnen: licht abgejperrten ZTreibhauspflanze friiche Luft brächte.
Dieje Erwägung iſt der Grundgedanke des Buches, welches die vorjtehenden Zeilen bei dem deutſchen Publikum einführen jollen.
Dr. Georg Brandes, ein geiltvoller junger Schriftjteller, der jich durch eine Reihe Äjthetijcher und Eunjtphilojophiicher Abhandlungen in feiner Heimat ungewöhnlich raſch einen ge- achteten Namen erwarb, und der allgemein als fünftiger Nach- folger Hauch’S auf dem Lehrjtuhle der Aeſthetik betrachtet ward, eröffnete leisten Winter an der Kopenhagener Univerjität einen Zyklus von Vorlefungen über die Hauptjtrömungen der Litteratur des neunzehnten Jahrhunderts. Diefe Vor: träge erregten ein ganz umerhörtes Aufjehen. Man jtürmte fajt das Lokal, man ftand eine Stunde lang draußen in Regen umd Schnee, um Platz zu erhalten, man ſprach wochenlang jtaunend
VI Vorwort des Herausgebers.
und erregt von nichts Anderem, als von der Neuheit der hier verfündigten Ideen und von der Kühnheit des Mannes, welcher jo offen die Schäden der vergötterten heimatlichen Yitteratur zu enthüllen wagte.
Schon feit mehreren Fahren war Dr. Brandes unermüdlich beftrebt geweſen, durch die Neizmittel einer eben jo jcharfen wie vorurteilsfreien Kritif das in Schlaf verjunfene geiftige Leben des Nordens zu weden. Cr begann feine litterarifche Yaufbahn mit einem erfolgreichen Kampfe gegen die dualiftifche Doktrin des Theologen R. Nielfen, welcher gleichzeitig die Unabhängig- feit der wifjenfchaftlihen Forſchung und die Orthodoxie der pofitiven Neligion hat fichern wollen, indem er die beiden Sphären des Wiſſens und des Glaubens für „abjolut ungleichartig” er- klärte, — einen Sat, den er durch Aufftellung einer konfuſen Metaphyfit zu begründen juchte. Diejer Kampf, an welchen zahlreiche Streitfräfte für und wider fich beteiligten, hatte unter Anderem die erfreuliche Folge, daß der einzige tüchtige Philofoph Dänemarks, Profeffor H. Bröchner, ein Hegelianer der fortgejchrittenften Richtung, dadurch Gelegenheit fand, feine Lehre öffentlich zu entwideln. Brandes war ferner der Erfte, welcher feinen Yandsleuten die Kenntnis der freifinnigen An— fichten des amerikanischen Theologen Theodor Karfer und der wertvollen äfthetifchen Forichungen des franzöfifchen Yitterar- hiftorifers H. Taine vermittelte. Die kritiſche Methode des Letzteren unterwarf er in jener Schrift über „vie franzöfiiche Aeſthetik der Gegenwart“ einer eingehenden Prüfung, welche die Borzüge und Drängel diefer gleichjam naturwiffenschaftlichen Art, die Erzeugniffe der Kunſt und Litteratur zu betrachten, auf das forgfältigfte abwägt. Die jüngfte Arbeit des Dr. Brandes ift abermals ein Verſuch, von außenher frifches, gefundes Blut in die Adern der greifenhaft binfiechenden dänischen Yitteratur ein— zuführen und fie mit den Fortſchrittsideen der Nenzeitzubefruchten.
Durchblättert ein Ausländer, dem die oben gejchilverten (ittevarifchen Berhältmifje in Dänemark unbefannt find, den nach— jtehenden erften Band diefer Vorlefungen, jo wird er, denfen wir, von der geijtvollen Gruppierung des Stoffes und von der eben jo wifjenfchaftlichen wie pifant unterhaltenden Darſtellungs—
Vorwort des Herausgebers. VII
form angenehm übervajcht jein. Er wird mit Danf gegen den Verfaſſer erfennen, welch’ eine Fülle neuer Gejichtspunfte und anregender Gedanfen die vergleichende Litteraturbetrachtung dem achtjamen Forjcher erjchließt; aber nichts wird ihm gewiß ferner liegen, alS der närriſche Einfall, in der Abfaffung eines jolchen Buches eine herojtratiiche That, ein fluchtwürdiges Verbrechen gegen die menjchliche Geſellſchaft zu erblicen.
Dennoch ſtellte faft die gefamte dänische Prefje einſchließlich der Journale, die, wie „Dagbladet“ und „Sädrelandet“, früher an der Spite der politifchen Oppofition ftanden und mit Ditentattion das Banner der Freiheits: und Fortichrittsidee aufpflanzten, das vorliegende Werk dem Bublifum in diefem gehäfligen Lichte dar. Die anfangs vereinzelten Schmährufe und Denunziationen der journaliſtiſchen Meute haben fich feit dem Erjcheinen des Buches zu einem Chorus vereinigt, deſſen heijeres Wirtgebell bis nach Norwegen hinüber jchallt, und von dort in mißtönendem Echo zurüdklingt. Vom Redakteur des Schmutsblattes „Heimdal“ bis zum ehrwürdigen Bischof Monrad ſchwingt alles den Flamberg „Sittlicher Entrüftung“, um „bis auf ven leisten Mann“ die „gejellichaftsauflöfenden Tendenzen‘ des Dr. Brandes zu befämpfen, der die Sache der freien Forihung in der Wiſſenſchaft, der freien Entfaltung der Humani- tät in der Dichtung vertritt. Kein Mittel der Verläumdung und boshaften Verdächtigung iſt niedrig genug, um von feinen Gegnern verfhmäht zu werden. „Der freie Gedanfe bedeutet eigentlich nichts anders, als die freie „Luft“, frächzen die Einen, „und die Wehr dagegen iſt nichtS anders, als die in der Geſell— ſchaft herrjchende Überzeugung, daß es nicht gleichgültig ſei, ob ihre Mitglieder den Geboten der Sittlichfeit gehorchen oder derjelben Hohn fprechen. Der freie Gedanke ijt der freche Gedanke.“ — „Deine Ideen find Petroleufen! Geh zu den Sozialijten, wohin Du gehörft!” fchreien die Andern und malen das blutige Schreefbild der Kommune von Paris an die Wand, um den gebildeten und ungebildeten Pöbel des Nordens gegen einen Schriftiteller zu verheten, der nie die geringſte Sympathie für foztaliftifche Tendenzen geäußert hat. Ebenſo unjinnig ift die perfide Inſinuation, als griffe Brandes das Inſtitut
VIII Vorwort des Herausgebers.
der Ehe an und rede der „freien Liebe“ das Wort, weil er fih im erſten Abfchnitt feines Buches, wie der Stoff es mit ſich brachte, vorherrichend mit Schriften bejchäftigt, in welchen das Verhältnis der Geschlechter zu einander zur Sprache fommt. In diefem Punkte ift man eben in Dänemark jehr prüde, ohne deshalb fittlicher als anderswo in der Welt zu fein. Bor allem aber gebraucht man den befannten Kunftlniff, die patriotijche Gefinnung des VBerfaffers zu verdächtigen, meil derjelbe nicht in das hergebrachte überfchwängliche Lob der nordijchen Yitteratur der Gegenwart mit einftimmt, jondern mit warnender Hand auf ihre Schwächen weist und auf die großen Vorbilder des Auslandes hindeutet. Man will mit einem Male entdeckt haben, daß die ganze litterarifche Thätigfeit des Dr. Brandes eine unpatriotijche, antinationale fei, daß er aus Mangel an Bater- landsliebe jtetS in die Fremde ſchweife und bald das Studium der franzöfifchen, bald das Studium der englijchen und gar der verhaßten deutjchen Litteratur empfehle, wober man gefliffent- (ih überfieht, daß er nicht minder die eingehendften und an— erfennendften Aufſätze über faft alle hervorragenden Schriftiteller Dänemarks und Norwegens gejchrieben hat, und daß er jelbit die Beihäftigung mit den ausländijchen Litteraturen vorzugs— weife für die Fortbildung der heimischen Poefie fruchtbar zu machen fucht, wie vor allem aud; Ton und Haltung des vor— liegenden Werkes jedem umnbefangenen Leſer befunden.
Diefe ganze unvedlihe Art der Polemik gegen die von den edeljten Motiven geleitete ſchriftſtelleriſche Thätigkeit des Dr. Brandes beweift leider far, auf welchem niedrigen Stand- punfte die Kritif in Dänemark ſteht, und wie fehr er recht hatte, zu behaupten, daß man in feiner Heimat heut zu Tage nicht mehr wagen dürfe, irgend ein ernftes und wichtiges Thema öffentlich zur Debatte zu ftellen.- Dabei verjagen nicht allein jämtliche Kopenhagener Journale dem meuchleriich Angegriffenen das Necht der Verteidigung, jondern fie gehen jo weit in ihrem wahnmitigen Hafje, daß jelbit eine warme Erklärung zu Gunſten des Dr. Brandes, welche der edle Dichter C. Hauch auf jeinem Zotbette jchrieb*), erjt nach) monatelanger Verzögerung,
*) Diefelbe lautet, wie folgt: „Von allen jungen Männern, mit
Vorwort des Herausgebers. IX
von allen Hanptblättern dev Nefidenz zurückgewieſen, endlich in einem der le&ten Hefte der „Neuen dänifchen Monatsichrift“ zum Abdruck gelangen fonnte. Dieje Zeitjchrift war zugleich die einzige, welche dem mißhandelten Schriftjteller nicht ihre Spalten verjchloß. Er veröffentlichte dort unlängit ein jatt- riſches Märchen, deſſen Sinn nach dem Boraufgehenden feiner weiteren Erklärung bedarf: , Die Geſchichte von dem kleinen Rotkäppchen.
Es war einmal ein fleiner freier Gedanfe. Da er gewöhn- (ich eine rote Mütze trug, jo nannte man ihn das fleine Rot— füppchen. Eines jchönen Tages, als fein Großvater die Ge- jelljehaft, einige Veränderungen im Haufe vorzunehmen gedachte, jagte er zum fleinen Rotfäppchen: „Geh mein Kind, geb hin und jieh, wie Deine Großmutter, die Freiheit, ich befindet, und bring ihr einen fräftigenden Trank in dieſem Fläſchchen.
Das Fleine Rotkäppchen machte fich ſofort auf den Weg, um jeine Großmutter zu bejuchen. Aber als es durch den dunfeln Wald ging, begegnete ihm die alte Oppoſitionspreſſe und frug: „Wohin geht Du?“ Das arme Kind, welches nicht wußte, daß es gefährlich jet, ſich mit Wölfen einzulafien, antwortete:
„sch gehe hin, um zu ſehen, wie Großmutter jich befindet, und um ihr einen fräftigenten Trank in dieſem Fläfchchen zu überbringen.“
„Gut“, fagte der Wolf, „ich will fie gerade bejuchen.“
Nun Hatte der Wolf jhon vor vielen Jahren die alte Großmutter aufgefrejfen. Er lief daher eiligjt voraus, legte ſich ins Bett und wartete auf das fleine Rotkäppchen, das bald nachher fam, an die Thür Elopfte und eintrat. denen ich zu der Zeit, während ic in Kopenhagen Univerjitätsprofejjor war, in Berührung gekommen bin, wüßte ich feinen, der an äfthetiicher Begabung und an Kenntnifjen in diefem Fade dem Dr. ©. Brandes an die Seite geftellt werden fünnte, weshalb ich ihn unbedingt am meijten dazu berechtigt erachte, den Poſten zu beffeiden, welcher jetst durch meinen Tod erledigt wird.” So mächtig aber war der Einfluß der bösmwilligen Tagespreife, daß bei der Neubeſetzung des Lehrftuhls der Aeſthetik nur ein einziger von allen Univerfitätsprofefjoren den Mut bejaß, dem Dr. Brandes feine Stimme zu geben.
X Vorwort des Herausgebers.
Das kleine Rotkäppchen war ſehr verwundert, zu ſehen, wie ſeine Großmutter ausſah, wenn ſie entkleidet war. Es ſagte zu ihr:
„Großmutter, was für lange Arme haſt Du?“
„Um beſſer die Geſellſchaft vor geſellſchaftsauflöſenden Tendenzen retten zu können, mein Kind.“
„Großmutter, was für lange Beine haſt Du?“
„Um beſſer bis auf den letzten Mann kämpfen zu können, mein Kind.“
„Aber Großmutter, was für lange Ohren haſt Du?“
„Um des Sonntags beſſer die Predigten hören zu können“.
„Aber, Großmutter, ei, was für große Zähne haft Du?“
„Um dich beifer auffreffen zu können.“
Und mit diefen Worten fiel der böjfe Wolf iiber das Fleine Rotkäppchen her, eritidte e8 und fraß es auf. —
Dr. Brandes hat auf die zahlreichen Angriffe, deren Gegen- ſtand er gewefen, außerdem in einer Kleinen Brochüre erwidert, die Zeugniß davon giebt, daß er, troß all diefer ungerechten Berfolgungen und Denunztationen, welche ihn für lange, wenn nicht für immer, die Pforten der Univerfität verſchloſſen haben, den Mut nicht verlor. Er weiß freilih, daß „Der, welcher jih mit Hilfe von Büchern, die nur in einigen Hunderten von Exemplaren verfauft werden, gegen anonyme Heitungsartifel in faſt ſämtlichen Tagesblättern des Yandes wehren foll, die in Tauſenden von Exemplaren zivkulieren, fich ungefähr in der Lage eines Mannes befindet, welcher fich) mit einer Kanone, die nur einmal monatlich abgeſchoſſen werden kann, gegen eine ganze Kompagnie wohlgededter Schüßen verteidigen foll, deren Waffe zehn Schüffe in der Minute abgiebt und zehnmal fo weit reicht, wie die feine.“ Aber er tröjtet fich damit, daß die Lebensanjchauung, welche feinem Buche zu Grunde liegt, mächtige Alliterte in allen Yändern, und in allen Wiffenschaften hat, „wenn man Dänemark und Norwegen unter den Yändern, und die Ajtrologie, Theologie und Alchymie unter den Wiffen: Ihaften ausnimmt.“ „Jedes gute Buch“, jagt er, „das aus Deutjchland, Frankreich, England, Holland und Stalien über die Grenze herüber kommt, bringt fie mit jich, getragen von
Borwort des Herausgebers. XI
allen erjten Namen Europas in der Wiſſenſchaft und Litteratur. Ja, es geht jo weit, daß jedesmal, wenn eines unjerer Jour— nale ein Feuilleton von diefem oder jenem europäifchen Schrift- jteller aufnimmt, das verwünjchte Feuilleton unter dem Striche jih über den guten Flerifalen Ton oben im Blatte luſtig macht. „Dagbladet" felbjt ijt ein Beiſpiel dafür. ES hat Feuilleton von Auerbac gebracht, fein letztes großes Feuilleton war von d'Israeli, fein jegiges ift von Cherbuliez, lauter ſchlimmen Frei- denfern, die ſämtlich unverblümt ihre Anfichten befennen. „Fädrelandet“ druct Sachen von Heine, Saint-Bictor ꝛc. ab, lauter Empörern, die feine theologische Disziplin annehmen wollen. Wenn auch ein ganzes Bataillon Nezenfenten in „Dag- bladet“ und „Fädrelandet“ ſich verſchwören wollte, die Ge— danfenfreiheit zu befehben, jo hätte das nicht mehr Gewicht, als wenn die Herren im die leere Luft jchrieben. Wären die Seen jo böflih, hübſch um Erlaubnis zu bitten, ehe fie die Landesgrenze pafiierten, ja, dann möchte Hoffnung fein. Aber es hilft nichts, einen Kordon zu ziehen oder die Bürgerwehr unters Gewehr zu vufen. Die Bajonette der gefamten Bürger: wehr vermögen nicht einen Gedanken zu ſpießen.“ — „Man jtellt fich hier im Lande“, fant Dr. Brandes an einer anderen Stelfe feiner VBertheidigungsjchrift, „den Freidenker als einen
enſchen vor, welcher einen verzweifelten und verbrecherijchen Kampf wider alles Höchfte im Leben, wider Moral und Re— ligion kämpft. Ich für mein Teil denfe: welche Anfichten man auch im Einzelnen über die Moral hege, jo muß man doch glauben, daß eine der wichtigiten Stützen der Moral die uneigen- nützige Wahrheitstiebe ift, und es jcheint mix klar, daß in einer Geſellſchaft, wo jo viele äußere Güter ſich an das Bekenntnis einer pofitiven Neligton, zumal in einer einzelnen bejtimmten KRonfefjion, fnüpfen, Niemand leicht aus einem anderen runde als aus Wahrheitsliebe, d. h. aus einer vein moralijchen Urſache, Freidenfer,werden wird. Sch glaube ferner : welche Anficht man im Uebrigen auch von der Gottheit hege, jo muß man, wenn man denft, der Meinung fein, daß das Göttliche, d. h. das Höchſte, was ſich im Menfchenleben und in dev Gejchichte offen- bart, der Geiſt darin, der Geift des Fortjchritts iſt. Wenn ji)
XI Vorwort des Herausgebers.
in der Gefchichte eine Gottheit offenbart, fo offenbart fie fich als Geift, der im Kampf wiver äußere Gewalt, Lüge und Vor— urteil, wider veraltete und drückende Ueberlieferungen unhemm— bar ſich ſeinen fortſchreitenden Weg bahnt, und der alles Wurm— ſtichige bei Seite ſchiebt, um Glück und Freiheit zu verbreiten. Es giebt in der Geſchichte keinen höheren, keinen göttlicheren Geiſt, als den Geiſt des Fortſchrittes. Der Freidenker ſteht, — Das weiß und fühlt er — auf ſeiner Seite. Aber thut er das, ſo ſteht er auf der Seite der Gottheit und die Golt— heit iſt mit ihm. Nicht der Freidenker, ſondern ſeine Wider— ſacher und Feinde ſind daher die wahren Gottloſen und die wahren Unmoraliſchen; denn Alles, was Jener unter Gott verfteht: Wahrheit, Freiheit, die höchſte Menfchenliebe, iſt auf feiner Seite und nicht auf der ihren."
Nichts iſt lächerlicher, al3 die Andeutung eines Kopen— hagener Blattes, daß in Dänemark, zum Unterjchiede von allen übrigen Ländern der Welt, eine gewiffe Schambaftigfeit der Seele die Freidenker verhindern follte, ihre innerjte Ueberzeu— gung offen zu befennen. „Schamhaftigfeit!" ruft Brandes mit gerechtfertigtem Hohne aus, „als hätte Schambhaftigfeit es je- mals den Kämpfern der Orthodorie verwehrt, den Befenntnis ihrer innerjten Gefühle die größtmögliche Publizität zu geben, als wären fie nicht in Gemeinden organifiert, als bildeten jie nicht eine Staatskirche und befäßen nicht jtattliche Kirchen aus feitem Steinmaterial, als hielten fie feine Predigten und ließen feine Predigten drucken! Iſt es nicht doc ein wenig ver— dächtig, daß die Schamhaftigfeit einem niemals verbietet, offen jeine Anſchauung zu befennen, wenn diefelbe als gleichbedeutend mit allen bürgerlichen Tugenden gilt, Anfehen, Ehre ja häufig bares Geld einträgt, daß fie dagegen aber verbietet, diejenige Ueberzeugung auszujprechen, welche ihren Befenner an den Pranger jtellt und fich bei jedem Schritte als ein Hindernis auf ſeinem Weg erweiſt?“
Andererſeits bemühen ich die Angreifer des Dr. Brandes faft ohne Ausnahme, den Kampf zwifchen der modernen und der herkömmlichen Weltanfchauung als einen Kampf zwifchen dent Atheismus und dem Glauben an einen perfünlichen Gott
Vorwort des Herausgebers, XII
hinzuftellen. Auch hierauf giebt Brandes die geeignete Ant— wort: „Die Frage ift in Wirklichfeit nicht, ob man einen perjönlichen Gott annimmt oder nicht, Sondern ob man eine Offenbarung, d. h. eine äußere Wahrheit annimmt, ob man mit einem Worte diefe höchfte Wahrheit als ein Gegebenes betrachtet, oder ob man der Anficht ift, daß fie zu ſuchen, und mit Anftrengung der höchften Kräfte des Menjchen, ohne Rücficht auf irgend eine jogenannte hijtorifche Offenbarung, zu fuchen ſei. Im erjten alle iſt man orthodor, im letzten Falle ift man Freidenfer, gleichviel zu welchem Nefultate man gelange, ob unſer Gedanfe Ruhe finde im Glauben an einen perjönlichen Gott, im PBantheismus oder im Atheismus. Hier liegt der Gegenfaßs, die zwei Yager find das der Orthodorie und des freien Gedanfens. Letzteren für gleichbedeutend mit dem Atheismus erklären, heißt fich einer wiffentlichen Fälſchung ſchuldig machen.
„Was unter dem freien Gedanfen zu verjtehen ift, läßt ſich mit zwei Worten jagen: Die Ueberzeugung von dem Nechte der freien Forſchung iſt gleichbedeutend mit der Ueberzeugung, daß es weder in der Natur noch in der Geſchichte Enflaven giebt, welche nicht den Gejeten unterworfen find, die im Uebrigen Natur und Gejchichte beherrfchen. Es ijt die Ueberzeugung, daß ein Teil Wejtafiens nicht in irgend einem Zeitraum der Ge— chichte des Altertums von ganz anderen Natur und Geijtes- gefegen beherrjcht worden ift, als diejenigen find, denen die ganze übrige Welt in Bergangenheit und Gegenwart unterworfen war, und daß er nicht der Schauplat jogenannter übernatür- licher Ereigniffe gewejen ift, während die Erde jonjt vom Nord— pole bis zum Südpole und von den ältejten Zeiten bis auf den heutigen Tag nur der Schauplaß natürlicher Ereigniſſe war. Es ift mit einen Worte die Ueberzeugung von der Einheit der Natur, der Gefchichte und des ganzen Seins, welche die ‘Pfleger der freien Forſchung befennen, und nicht blos befennen, jondern als wahr erweifen. Denn alle Forjchungen, welche jedes neue Jahrhundert zu den Nefultaten früherer Jahrhunderte hinzu— gefügt hat, haben diefe Ueberzeugung als wahr erwiejen, und fie mit unzähligen Stimmen in allen Zungen befräftigt und
XIV Vorwort des Herausgebers.
betätigt. Sie ift es, zu welcher fein Bibelgläubiger ſich be- fennen kann, wie ſehr er fich Freidenfer nennen möge, und fie ift es, welche Niemand, dev fich nicht des Mittels wiljent- licher Unwahrheit bedient, für gleichbedeutend mit Irreligioſität, Unfittlichfeit, freier Luft, Frechheit und dergleichen erflären kann. Wir bedürfen der Freiheit des Gedanfens, um uns da— gegen zu fichern, daß die Wiſſenſchaft nicht römiſch-katholiſch in römijch - katholischen, griechisch = katholisch in griechisch - Katholischen und protejtantijch in proteitantiichen Ländern wird, jüdiſch, wenn eim Jude, buddhiltiich, wenn ein Hindi fie behandelt. Will man nicht zehmerlei verjchtedene Wahrheiten haben, und räumt man ein, daß es eine von Konfefjionen unabhängige Wahrheit giebt, jo muß man den freten Gedanfen gelten laſſen.“
Den ſchärfſten Angriff hat der befannte Biſchof Monrad gegen das Näfonnement des Verfaffers im Kapitel „Kampf gegen die Geſellſchaft“ des a Bandes gerichtet. Er findet die Forderung umerhört, dag das Individuum berechtigt fein jollte, jich, unabhängig von den Einflüffen der Gefelljchaft und des Herfommens 3, jelbit feine Religion und fein Sittengefeß zu bilden. „Alfo, jeder Menſch follte die ungeheuere Arbeit des Menihengefhlehts von vorn beginnen, und was würde man durch dieje Dejtrebungen erreichen, als daß man die geiftige Entwidelung hemmmte, und die Kinder der Menichen in einen Haufen Wilder verwandelte! — „Im erſten Augenblick“, entgegnete Brandes, „jcheint es vielleicht, als wäre die Forde— rung, welche Herr Monrad mich ftellen läßt, unerfüllbar; allein, richtig verftanden, muß fie geftellt und erfüllt werden, wenn das Individuum wahrhaft Menſch fein fol. Denn was heißt denfen anders, als „dieungeheuere Arbeit des Menſchengeſchlechts von vorn beginnen“? — nicht in dem Sinne natürlich, daß das denfende Individuum jo gejtellt würde, als wäre es der erſte Menfch auf Erden, und auch nicht als würde mit einem abjolut vorausjegungslofen Denten begonnen, fondern in folcher Weife, daß das Individuum ohne Rückſicht nach rechts oder nach links, ohne Rückſicht auf offiztelle Autoritäten oder von Staat und K Kirche patentierte Inhaber der fertigen Wahrheit mit feinem eigenen Hirme verfuchen muß, fich feine perfönliche,
Vorwort des Herausgebers. xXV
originale, urjprüngliche und echte, daher allein Wert habende Ueberzeugung zu bilden. Jeder Menjch, der zur Welt geboren wird, muß, wie auch das mienjchliche Gefchlecht zu feiner Zeit jtehe, von vorn damit beginnen, jprechen und gehen zu lernen, und wie mit dem Gange, jo verhält es fich auch mit dem Denken. Es wäre Wahnwit, um dem Individuum „die ungeheuere Arbeit“ des Gehen? zu erjparen, demjelben die Uebung feiner Beine zu erlafjen, bis jie unbrauchbar würden, und ihm dann ein Paar patentierte Krücen unter die Are zu binden. Man fann ſprechen wie die Andern oder den Andern nach dem Mumde reden, aber man fann eben fo wenig mit dem Hirne dev Anderen denfen, wie man von der Kojt jatt werden fann, die Andere jpeijen. Das Wort Denfer war von jeher gleichbedeutend mit Ketzer. Und was vom Denfen gilt, gilt von jeder andern Produftivität; man kann nicht fühlen, wenn man nicht erjter Hand, felb- ſtändig fühlt, man fanı nicht als Künftler Schaffen, wenn man nicht „ganz von vorn beginnt”. Erſt dann kommen Einem die Nejultate der Anderen zu Statten. Wer hier nicht von vorn beginnen will, der it, jo ungern er es hören mag, fein wahrer, fein wirklicher Dienfch. Es iſt das jchöne und große Vorrecht des Menjchen, von vorn zu beginnen. Er überläßt es den Papageien nach dem Munde zu plappern, und den Affen, nach- zuäffen. Es wundert mich, daß ein jo fcharfjinniger Schrift- jteller wie Herr Monvad, nicht begreift, wie diefe Anficht fich beftens mit derjenigen vereinigen läßt, daß das Individuum unter beftändigem Einfluffe der Umgebungen und der Gejellichaft jteht. Der unbegabte Menſch empfängt ohne Weiteres jeine Anjchauungen von der ihn unmittelbar und handgreiflich um— gebenden Gejellichaft. Die Umgebungen des hervoragenden Individuums ſind die geiftige Geſellſchaft, in welcher es lebt. Dieſe Geſellſchaft befteht aus den großen Getjtern, deren Befanntjchaft ihm freifteht. In diefer Geſellſchaft kann der ftrebjame Menjch mit Goethe und Heine, mit Hegel und Feuerbach, mit Comte und Littre, mit Lord Byron und Stuart Mill verfehren. Aber jemehr er in der Gemeinschaft diefer Geifter, in diefen „Uns gebungen“ gelebt hat, dejto ficherer wird er in Kollifion mit der Gejellichaft geraten, die ihn unmittelbar, handgreiflich um—
XVI Vorwort des Herausgebers.
giebt, d. h. wenn er nicht die von einem Kopenhagener Blatte gepriefene „Schamhaftigkeit“ befitst, feine Anfichten für fich zu behalten. Je ftärferen Drang er durch den Verkehr mit jenen großen Geiftern empfindet, fich felbft auf eigene Hand eine Veberzeugung zu bilden, defto ficherer mag ev fein, daß die Geſellſchaft um ihn her ihn wie einen Empörer oder wie einen Feind behandeln wird, bis je jelber allmählich die Ueberzeugungen an- nimmt, welche ev vertritt.
„Und nım noch ein Wort zum Schluffe. Mean behanvelt mich, als wären die Ideen, von welchen ich infpiriert bin, und welche ich ausjpreche, meine Erfindungen. Dieje Ideen jind die Ideen des intelligenten Europas. Iſt man ein Frevler, wenn man diejfelben befitt, jo liegt die Schuld nicht an mir, ſondern an der europäischen Wiffenfchaft. Dder vielmehr: find die Männer dev jüngeren Generation Frevler, wenn fie dieje Überzeugungen heaen, jo fällt die wahre Schuld auf die Männer der älteren Generation. Weshalb erzogt ihr uns nicht befjer? Laffen fich jene Ideen widerlegen, weshalb widerlegtet ihr fie uns nicht? War es möglich, das jett lebende Gefchlecht zu fiegreichem Kampfe wider den freien Gedanken zu waffnen, wes— halb gabt ihr ung nicht die Waffen dazu? Ihr thatet es nicht, weilihr es nicht fonntet, weil diefekdeen unwiderleglich find. hr thatet es nicht, weil viele von euch (die Führer der Preſſe z. DB.) weit entfernt, die Ideen de3 Beitalters zu kennen, gejchweige für diejelben begeiftert zur fein, nichts weiter vermochten, als uns fo lange in Unkenntnis derfelben zu erhalten, bis wir völlig erwachſen waren und uns ſelbſt unſern Weg fuchen mußten. Andererſeits konntet ihr uns nicht Scheuflappen vor die Aurgen binden, noch ung Baunı- wolle in die Ohren ftopfen. Das Gefchlecht, von welchem ihr redet, ijt ein Geſchlecht, das Feuerbach jtudiert und wieder ftudiert hat, das die vergleichende Mythologie entjtehen jah, das der religtonsgefchichtlichen Kritif bei ihrem erjten großen Feld— zuge gefolgt tft und Zeuge ihrer Eroberungen war. Wir haben Strauß und Renan in succum et sanguinem vertiert, während ihr noch kaum ihre Namen zu buchitabieren wißt. Ihr müßt eine andere Sprache zu ung reden, al3 zu dem Gejchlechte, das
Borwort des Herausgebers. XVII
1848 zu euch empor ſah, wir verſtehen euch nicht mehr, ſo wenig wie ihr uns verſteht. Seid ihr nicht im Stande geweſen, gegenüber der Kritik und ihrer großen, ernſten That uns eine Entgegnung und Abfertigung auf die Lippen zu legen, ſo habt ihr kein Recht, euch zu wundern, daß wir als wahr annehmen, was den Stempel der Wahrheit auf ſeinem Antlitz trägt, und was ihr nicht aus der Welt ſchafft, weil ihr euch gebärdet, als ſei es nicht da Und den Ehrabſchneidern unter euch ſage ich: Bringt uns nur in Mißkredit bei dem Volke! Ihr könnt es nicht ewig auf der Geiſtesſtufe feſthalten, auf welcher es heute ſteht, wenn auch die Unwahrheit noch eine Zeitlang die zahl— reichſten Anhänger finden mag. Die Unwiſſenheit war immer die Leibwache der Lüge. Aber die Zeit wird kommen, wo ſelbſt die große Menge Ekel und Widerwillen an den Ueberreſten der Vorurteile vergangener Zeiten empfinden wird, welche ihr ihm jetzt als Koſt darbietet! Die Zeit wird kommen, wo man er— kennt, daß die Epoche, welche ihr vertretet, tot iſt, wenn ihr es auch leugnet, und die Leiche, gleich der Leiche jenes aſſyriſchen Königs, nominell immer noch das Regiment führen laßt.“
So Viel über den Kampf des Dr. Brandes gegen die dänijche Drthodorie. Es erübrigt, ein paar Worte über den wiſſen— ichaftlichen Charakter eines Werkes zu jagen, das in Deutjch- land jicher eine gevechtere Anerkennung, als in der Heimat jeines Verfaſſers finden wird.
&.Brandes liefert in feinen „Hauptſtrömungen der ?itteratur des neunzehnten Jahrhunderts“, zwar nicht in der Form, aber dem Wejen nach, gewiffermaßen eine Fortſetzung und Ergän- zung von H. Hettners Yitteraturgefhichte des achtzehnten Jahr— hunderts. Zum Unterjchiede von diefem, ftellt ev fich allerdings nicht die Aufgabe, ein Gejamtbild der litterariſchen Thätigkeit jedes einzelnen hervorragenden Schriftftelles in der von ihm behandelten Beriode zu entwerfen; jein Thema ift ein begrenzteres,
‚aber darum nicht minder intereffantes. Während Hettner den Kampf für die großen Aufflärungsideen desvorigen Jahrhunderts, fo zu jagen, in epifcher Breite fchildert, verdichtet jich dem dänifchen Schriftiteller der reaftionäre Kampf, welchen die nächſt— folgende Generation gegen diefe Ideale erhob, um wider ihren
xVIll Borwort des Herausgebers.
Willen den endlichen Sieg des geläuterten Humanitätsideals zu fördern, gleichjan zu einem dramatijchen Gemälde. Die jechs Yitteraturgruppen, in welche jein Stoff fi ihm gliedert, entjprechen in der That ziemlid) ungezwungen den ſechs Aften eines großartigen Dramas. Schon dieſe Gruppierung läßt er— fennen, daß er, ähnlich wie Hettner, vor Allen bemüht ift, die Wechjelwirfung der Ideen in den Litteraturen der Hauptkultur- völfer Europas nachzumeifen. Dieſe Abjicht tritt um jo ſchärfer hervor, als er fich vorwiegend auf die Beiprechung derjenigen Werke bejchränft, in welchen die geiftige Entwidelung der Menſch— heit zu einem wejentlich veränderten Standpumft gelangt und durch die Aufftellung neuer Ideale und Probleme, wenn auch oft auf jeltfamen Umwegen, eine höhere Stufe erklimmt. Da diefe Entwicdelung ihrer Natur nach Feine einjeitig nattonale, jondern eine allgemein europätfche ift, jo läßt fie fich, wie der Berfaffer mit Necht betont, nur auf dem Wege vergleichender Litteraturbetrachtung, unter fteter Rückſichtnahme auf die politi- ſchen, veligiöfen und fozialen Zeitverhältnifje verjtehen. In der That bejtrebt er fich mit feltener Unbefangenheit, jedes Vitte- raturproduft ebenso fehr aus der Gefühls: und Anfchauungsweife der Zeit, wie aus den charakteriftiichen Cigentümlichfeiten des Bolfes zu erklären, welchem der betreffende Autor angehört. Diefe Unparteilichfeit, dieſer freie, vorurteilsloſe Blick jichert dem Brandes’shen Werke den Anfpruch der Beahtung auch im Auslande, zumal in Deutjchland, wo die Methode vergleichender Titteraturforfchung feit dem glänzenden Borgange Hettners ſich ein für alle Mal wiffenschaftliches Bürgerrecht erworben hat.
Was endlich die Arbeit des Herausgebers betrifft, jo hat er Sich, obſchon er in einzelnen Punkten von den Anfichten des Verfaſſers abweicht, nicht für befugt erachtet, an dem In— halte des von ihm übertragenen Werkes das Geringite zu än- dern. Dagegen erfchien e3 ihm paffend, die durch den Vor— (efungscharafter bedingten häufigen Anreden an die Zuhörer in einem für die Lektüre beftimmten Buche mit der objeftiveren Form twoiffenjchaftlicher Crörterungen zu vertaufchen.
Adolph Strodtmann.
Einleitung.
Meine Abficht mit dem Werke, welches ich hier beginne, it, durch das Studium gewiffer Hanptgruppen und Haupt- bewegungen in der europäiſchen Literatur den Grundriß zu einer Piychologie der erjten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu geben. Das Jahr 1848, welches ein europäifches Unwetter, einen biftorifchen Wendepunft und infolgedeffen einen vor- läufigen Abjchluß bezeichnet, ift die Grenze, bis zu welcher ich dem Entwidelungsgange zu folgen beabfichtige. Der Zeitraum vom Beginn des Jahrhunderts bis zu feiner Mitte veran- ſchaulicht das Bild vieler zerſtreuter und jcheinbar einander nicht berührender litterariſcher Beſtrebungen und eigenartiger Erfcheinungen. Aber derjenige, welcher den Blick auf die Hauptitrömungen in der Litteratur richtet, entdect, daß fich die Bewegungen aufeinen großen Hauptrhythmus mit feiner Ebbe und Flut zurücführen laffen: auf das gradweife Sinfen und Berihwinden des Gefühls- umd Ideenlebens des vergangenen Sahrhunderts, fowie auf das Zurückkehren der Yortjchritts- ideen in neuen, immer höher fteigenden Wogen.
Der zentrale Gegenftand diefer Schrift ift daher die Reaktion, welche das neunzehnte Jahrhundert in feinen erjten Dezennien gegen die Litteratur des achtzehnten ins Werk jeßte und die Überwindung diefer Reaktion.
Dies hiftorische Ereignis ijt ſeinem Weſen nach europätjch und läßt fih nur mittel3 einer vergleichenden Litteratur- betrachtung verftehen. Eine jolche will ich daher verfuchen, in- dem ich mich beftrebe, gleichzeitig gewiffe Hauptbewegungen in der dentjchen, franzöfiichen und englijchen Pitteratur zu ver— folgen, welche in diefem Zeitraume die wichtigiten find.
Die vergleichende Litteraturbetrachtung hat die doppelte Eigenschaft, uns das Fremde folchergeftalt zu nähern, daß wir
Brandes, Hauptftrömungen. I. Emigrantenlitteratur. 1
2 Einleitung.
es uns aneignen fünnen, und uns von dem Eigenen folcher- geftalt zu entfernen, daß wir e8 zu überfchauen vermögen. Man fieht weder, was dem Auge allzu nahe, noch was demjelben allzu fern liegt. Die wiffenfchaftliche Litteraturbetrachtung giebt uns gleichjam ein Fernglas in die Hand, defjen eine Seite vergrößert, und deſſen andere Seite verkleinert. Es gilt das— jelbe jo zu gebrauchen, daß wir die Illuſion des natürlichen Gefichts dadurch Forrigieren. Bis jett haben die verjchiedenen Völker in Titterarifcher Hinficht einander ziemlich fern geftanden und nur geringe Fähigkeit bewiejen, fich gegenfeitig ihre Er- zeugniffe anzueignen. Will man ein Bild des feitherigen Ver— hältnifjes haben, jo denfe man an die alte Fabel vom Fuchſe und Storche. Der Fuchs, weiß man, lud den Storch zu Gafte, aber er richtete all’ die Yederbiffen, welche er ihm vorſetzte, auf einer flachen Schüffel an, jo daß der Storch mit feinem langen Schnabel faft nichts erreichen fonnte. Man weiß aud), wie der Storch fich rächte. Er tifchte feine flüffigen und feſten Speijen in einem hohen, enghalfigen Gefäße auf, in welches wohl der lange Storchichnabel, nicht aber die fpite Fuchs— ſchnauze hinabtauchen fonnte. Sp haben lange Zeit die ver: jchiedenen Nationen wechfelfeitig Fuchs und Storch mit einander gejpielt. Ein großer Teil der Aufgabe des äſthetiſchen Studiums bejteht und beftand darin, die Mahlzeit des Storches auf dem Eßgeſchirr des Fuchſes, und umgekehrt, anzurichten.
Die Yitteratur eines Volkes ftellt, wenn dieſe Litteratur vollſtändig ift, die ganze Gefchichte feiner Anfchauungen und Gefühle dar. Große Literaturen, wie die englifche und fran- zöfische, enthalten folcherinaßen eine genügende Anzahl Dokumente, um aus denfelben beſtimmen zu fünnen, wie das englische und franzöfifche Volk im jeder gejchichtlichen Periode gedacht und gefühlt hat. Andere Literaturen, wie 3. B. die deutjche in ihrer zweiten Blütenperiode, welche erjt ungefähr um die Mitte des vorigen Jahrhunderts beginnt, find in diefem Sinne wegen ihrer Unvollftändigfeit nicht jo interefjant. Noch mehr gilt das alſo von einer fo jpäten Litteratur, wie die dänische. Das ganze Gefühlsleben des dänischen Volkes mittelS derjelben zu ſtudieren, iſt nicht möglich ; dafür hat fie zu große Lücken. Es
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giebt lange Zeiträume in der dänischen Litteratur, welche fich durch fein poetiſches oder piychologifches Manifeit oder Denkmal von irgendwelcher Bedeutung gekennzeichnet haben. Sit überhaupt in jolden Zeiten gedacht oder gefühlt worden, jo weiß man heit zu Tage nichts davon. Außerdem aber war es das Unglüc des Eleinen und abjeit3 gelegenen Dänemark, daR es nicht erſter Hand irgend eine große europäiſche Geiitesbe- wegung hervorgebracht hat. Wir gaben nicht den Anſtoß zu den großen Veränderungen, wir erlitten fie, wenn wir jie überhaupt erlitten. Wir empfingen z. B. die Ideen der Nefor- mation aus Deutjchland, die Ideen der Revolution aus Frant- reich. Unjere Litteratur gleicht einer kleinen Kapelle in einer großen Kirche, fie hat ihren Altar, aber der Hauptaltar ift nicht zu finden. Nicht genug alfo, daß es Zeiten giebt, von welchen man nicht weiß, wie damals gedacht und gefühlt wurde, es giebt auch Zeiten, wo man gedacht und gefühlt hat, aber auf zweite Hand, ſchwächer und matter alS anderswo. Sp gefchieht es zumeilen, daß eine der großen europäiſchen Bewegungen Dänemark erreicht, eine andere nicht. Ein Loſungs— wort ergreift ung, ein anderes nicht. Ya, zuweilen, wenn wir gar nicht an der Aktion teilgenommen haben, deven breite Wogen unfere ſandigen Ufer erjt flach und Fraftlos erreichen, trifft es fih, daß wir in die Neaftion mit hineingeraten.
Ein folder Fall, glaube ich, hat fich in dieſem Jahr— Hundert ereignet. Das ijt miv aufgefallen, und diefer Eindrud hat mich zu den Unterfuchungen veranlaßt, welche den Gegen- ftand meiner Vorträge bilden.
Jeder Gebildete weiß, welche gewaltige revolutionäre Be— wegung am Ende des achtzehnten Jahrhunderts über die Welt fam, und welche Folgen fie anderwärts in Politif und Litteratur nach fich zog. Nun wohl! diefe Bewegung ift ja in allen wefentlichen Stücfen gar nicht nach Dänemark gelangt. Um ein Beifpiel zu erwähnen: eins der Schlagwörter der Nevolutions- litteratuv war der freie Gedanfe. Aber vdiejer freie Gedanke, der anderwärts in fo fühnen Formen auftrat und fo gigantijche Nefultate herbeiführte, kam zu ung nur in der fläglich abge blaßten Form des theologischen Nationalismus. Hegel hat die
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ihönen Worte gefprochen: „Sp lange die Eonne am Firz mamente jtand, und fo lange tie Planeten fic) um die Sonne drehten, war es nicht erlebt worden, daß der Menſch fich auf den reinen Gedanken gejtellt, man fünnte jagen, fich auf den Kopf geftellt und verfucht hätte, die ganze Wirklichkeit nach jetnem Kopfe umzubilden und aufzubauen. Alle früheren Nevofutionen hatten Iofale Zwecke gehabt, erſt dieſe wollte die Menjchheit umſchaffen.“ Mean kann nicht leugnen, daß wir Dänen das Deforum bewahrten, wir fteliten uns nicht auf den Kopf. Aber als nun diefe gewaltige Aktion, welche aus dem Giegesbewußtjein des Gedanfens, dem Fanatismus des reinen Gedanfens hervorgegangen war, wie jeder große Strom, der aus feinen Ufer tritt, Gegenmaßregeln und eine Reaktion hervorrief, da famen wir mit in die Reaktion. In all’ unjern litterarifchen Bewegungen zu Anfang diejes Jahrhunderts, in Oehlenſchläger's Dichtungen, in Grundtvig's Predigten, in Mynſter's Reden und Ingemann's Gedichten ift ein jtarfes Element der Neaftion wider das achtzehnte Jahrhundert. Daß eine ſolche Reaktion fam, war berechtigt und natürlih. Was ich aber als unberechtigt und naturwidrig nachweiſen möchte, iſt, daß dieſe Reaktion nod) jo lange bei ung fortdauert, nach- dem fie anderwärts längſt aufgehört hat und verſchwunden ijt.
Berftehen wir einander recht. Neaftion als jolche iſt durchaus nicht gleichbedeutend mit Rückſchritt. Weit entfernt davon! Am Gegenteil, eine wahre, ergänzende, korrigierende Reaktion ift Fortſchritt. Aber eine ſolche Reaktion iſt Fräftig, von furzer Dauer und jtagniert nicht. Nachdem fie eine Zeit— lang die Ausschreitungen der vorhergehenden Periode befänpft, nachdem fie ans Licht gezogen hat, was dieje zurüc drängte, nimmt die folgende Periode den Gehalt der vorhergehenden in ſich auf, verjöhnt ſich mit derfelben und fett ihre Bewegung fort. Das ift bei ung nicht gefchehen. Wenn ein Stod nad) einer Seite gebogen worden ift, macht man ihn gerade, indem man ihn nach der anderen biegt — aber man thut das nicht unaufhörlich. Jene Reaktion wider das achtzehnte Jahrhundert jetst jich hier zu Yande fchleppend, verdroffen, mit Unterbrechun— gen fort, aber fie fcheint fein Ende nehmen zu wollen, und
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infolgedejjen it die dänische Litteratur in eine Schläfrigfeit berjunfen, die uns nachgevade ſelbſt Verwunderung ervegt. Des- halb veizte es mich, zu jchildern, wie eine Reaktion, ja diefelbe Reaktion anderwärts ihr Ende gefunden hat.
Was ich darftellen will, iſt eine gejchichtliche Bewegung, welche ganz den Charakter und die Form eines Dramas trägt. Die ſechs verjchiedenen Litteraturgruppen, welche ich vorzuführen gedenfe, entjprechen völlig den jechs Akten eines großen Dramas. In der erſten Gruppe, der franzöfiichen, von Rouffeau infpirierten Emigranten-Litteratur, beginnt die Reaktion, aber hier find die reaftionären Strömungen noch überall mit den revolutionären gemiſcht. In der zweiten Gruppe, der fatholifierenden roman— tiſchen Schule Deutjchlands, ift die Reaktion im Steigen, fie geht weiter, fie hält fich ferner von den Freiheits- und Fort: jhrittsbeftrebungen des Zeitalters. Die dritte Gruppe endlich, welche Schriftiteller wie Joſeph de Meaijtre, wie Lamennais in jeiner orthodoren Periode, wie Yamartine und Victor Hugo zu der Zeit, wo fie während der Reſtauration noch die beiten Stützen der Legitimiften und Klerifalen waren, umfaßt, bezeich- net die heftige, die triumphierende Neaftion. Byron und fein Anhang bilden die vierte Gruppe. Dieſer eine Mann bewirkt ven Umfchlag in dem großen Drama Der griechijche Frei- heitsfrieg bricht aus, ein frischer Hauch weht über Europa hin, Byron fällt in heldenmütiger Aufopferung für die griechijche Sache, und fein Tod macht einen ungeheueren Eindrud auf alle Schriftiteller des Feitlands. Kurz vor der Julirevolution wech- jeln daher alle großen Geijter Frankreichs ihre Richtung, jie bilden die fünfte Gruppe, die vomantiihe Schule Frankreichs, und die neue liberale Bewegung wird durch Namen wie Lamen— nais, Hugo, Ramartine, Muffet, George Sand ꝛc.charakteriſiert. Und da jegt die Bewegung von Frankreich nach Deutjchland hinüber geht, fiegen auch dort die liberalen Ideen, indem die jechite und legte Gruppe von Schriftitellern, welche ich jchildern will, von den Ideen des Freiheitsfrieges und der Julirevolution infpiriert wird, und, wie die franzöfifchen Dichter, in Byron's großem Schatten den Führer der Freiheitsbewegung erblidt. Die Schriftjteller des jungen Deutjchland, von denen die wich-
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tigften, wie Heine, Börne (und jpäter Auerbach), von jüdijcher Abftammung find, bereiten, wie die zeitgenöffischen franzöfifchen Schriftfteller, die Ummälzung von 1848 vor.
Sch glaube, wir Dänen fünnen aus diefem großen Drama eine Lehre für uns felker ziehen. Wir find nämlich diesmal, wie gewöhnlich, zirka vierzig Jahre hinter dem übrigen Europa zurücgeblieben. Seit lange ſchon hat in den Yitteraturen jener großen Hauptländer der Revolutionsftrom feine Nebenflüfje auf- genommen und die Dämme gejprengt, welche ihm den Weg verſperren follten; ev ift in Taufende von Kanälen hinein geleitet worden. Wir arbeiten noch daran, ihn zu hemmen und ihn im Sumpfe der Neaftion feitzuhalten. Aber wir haben nur die Entwidelung unferer Litteratur gehemmt.
Es wird faum Schwierig fein, ein übereinftimmendes Urteil darüber zu erlangen, daß die dänische Litteratur fich niemals in diefem Jahrhundert in einem jo binfiechenden Zuftande be- funden hat, wie in unferen Tagen. Die poetische Produftion it fo gut wie völlig erſtorben, und fein Problem allgemein menjchlicher oder gejellfchaftlicher Art vermag Intereſſe zu er— wecden oder eine andere Disfuffion hervorzurufen, als in der Tagespreife und in der Tageslitteratur. Eine ftarfe Original Produktivität haben wir nie befefjen, jett ift ein faſt abjoluter Mangel an der Aneignung fremden Geifteslebens hinzugetreten, und die geiftige Taubheit hat, wie die Taubheit bei dem Taub— ſtummen, Stummheit zur Folge gehabt.
Daß eine Litteratur in unſeren Tageıı lebt, zeigt fich da- durch, daß fie Probleme zur Debatte bringt. So bringt 3. ©. George Sand das Xerhältnis zu den beiden Gefchlechtern zur Debatte, Byron und Feuerbach die Religion, Proudhon und Stuart Mill das Eigentum, Turgenjew, Spielhagen und Emile Augier die Gejellichaftsverhältniffe.e Daß eine Yitte- ratur nichts zur Debatte bringt, heißt, daß fie im Begriffe jteht, alle Bedeutung zu verlieren. Das Volk, welches fie er- zeugt, mag fich dann noch fo lange einbilden, alles Heil der Welt würde von ihm herfommen, es wird fich in jeiner Er- wartung getäufcht jehen, es ift jo wenig ein Volk, daS die Entwiclung und den Fortjchritt lenkt, wie die Fliege jolches
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that, al3 jie den Wagen vorwärts zu treiben vermeinte, weil fie dann und wann feinen vier Pferden einen unbedeutenden Stih gab.
Eine folche Geſellſchaft kann noch manche Tugenden be- wahren, frtegerifchen Mut zum Beiſpiel, diefe Tugenden können nicht die Litteratur aufrecht erhalten, wenn der intellektuelle Mut gefunfen und entwichen iſt. Jede ſtagnierende Neaktion iſt tyranniſch, und wenn eine Gejellfchaft fich allmählich jo ent- wicelt hat, daß jie unter der Maske der Freiheit die Züge der Tyrannei trägt, wenn das öffentliche Ausfprechen jeder rück— ſichtslos freifinnigen Anſchauung oder Darftellung einen Aus- ſchlußbefehl von der Gejellichaft, von dem geachteten Teil der Prefje, von einer großen Zahl der Staatsämter zur Folge hat, jo werden natürlich weit ungewöhnlichere Bedingungen als fonft erforderlich jein, um die Art von Anlagen und die Art von Charakteren zu bilden, auf denen der Fortichritt eines Gemein— wejens beruht. Wenn eine folche Geſellſchaft nur eine Art von Poefie erzeugt, jo fann man fich nicht allzu jehr darüber wundern, daß ihr mwejentlicher Inhalt darin befteht, ihr Zeitalter zu ver- höhnen und zu ſchmähen. Eine ſolche Poeſie wird den Meenjchen ihres Beitalters immer und immer wieder einen erbärmlichen Wicht nennen, und man wird vielleicht erleben, daß die Werke welche am meiften gerühmt und gefauft werden (Ibſen's „Brand“ 3. B.), diejenigen find, in denen der Lejer zuerit mit einer Art Graufen, jpäter mit einer Art Wolluſt, jo vecht empfindet, wel’ ein Wurm, wie nichtswürdig und mutlos er if. Man wird vielleicht auch erleben, daß das Wort „Wille“ das Stichwort für ein jolches Gefchlecht wird, daß es mit Willens-Dramen und Willens-Philojophieen haufieren gebt. Man verlangt das, was man nicht hat. Man jchreit nach dem, was man am bitterjten entbehrt. Mean bringt das zu Markte, wonach die Nachfrage am größten ift. Aber man würde ji) troß alledem irren, wenn man pejfimiftijch wähnte, bei einem ſolchen Gefchlechte jei weniger Mut, Entjchloffenheit, Begetite- rung und Wille vorhanden, als durchjchnittlich bei jo vielen anderen. Es ift eben fo viel Mut und Freifinn da, aber es wird mehr erfordert. Denn wenn die Reaktion in einer Literatur
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die neuen Gedanken zurüdbrängt, und wenn die Gejellichaft, von welcher fie ausgegangen ijt, wohl zu merfen, nicht, wie die englische z. B. fich täglich) wegen ihrer Heuchelei und Kon- venienz hat müffen anflagen, verhöhnen, ja verwünfchen hören, jondern im Gegenteil von ihrer Freifinnigfeit überzeugt ijt und man ihr täglich um deswillen ein Weihrauchfaß vor der Nafe ihwingt, jo find bei denen, welche fonft vielleicht der Litteratur neues Blut einflößen könnten, bejondere Eigenschaften und be= ſondere Verhältnifje erforderlihd. Ein Soldat bedarf feines un— gewöhnlichen Mutes, um, durch einen Erdwall gededt, auf den Feind zu ſchießen; aber hat man ihn erft fo jchlecht geführt, daß er feine Dedung findet, dann mwundere man fich nicht, wenn der Mut ihm vergeht.
Eine Verknüpfung verfchtedener Urfachen hat bewirkt, daß die dänische Litteratur in geringerem Grade, als die größeren, im Dienſte des FortjchrittS gearbeitet bat. Selbſt Umstände, welche die Entwicelung unferer Boefie begünftigt haben, find ung hier hinderlich gewejen. So will ich einen Zug von Kindlichkeit im dänischen Bolfscharafter hervorheben. Wir verdanfen diefer Eigenfchaft die in ihrer Art fait einzige Naivetät unferer Poeſie. Naivetät iſt eine in eminentem Sinne poetifche Eigenschaft, und man findet fie bei fajt all unfern Dichtern von Dehlenfchläger und Ingemann bis zu Anderien und Hoftrup. Aber Naivetät iſt fein vevolutionärer Hang. Sodann hebe ich den ſtark ab- ſtrakten Idealismus unferer Litteratur hervor. Diejelbe handelt nicht von unferm Leben, fondern von unſerm Träumen. Diefer Idealismus hat, wie der Idealismus und die Scheu vor der Wirklichkeit in allen Litteraturen, feine Urfache darin, daß unfere Poefie fih unter einem politisch jammervollen und gebrochenen Zuſtande als eine Art Troft in der Widerwärtigfeit des realen Lebens, als eine Art geiftiger Eroberung entwidelte, die uns tröften follte über die materiellen Verlufte. Aber fie hat einen traurigen Mangel als Andenten daran bewahrt.
Es begegnet zuweilen dem Dänen tm Auslande, daß ein Fremder nach einigen Gefprächen über Dänemark die Frage an ihn richtet: „Wie kann man fich über die Beftrebungen ihres Landes unterrichten? Hat ihre zeitgenöffifche Litteratur den
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einen oder andern handgreiflichen umd leicht faßlichen Typus entwidelt?" Der Düne wird um die Antwort verlegen fein. Wir wiſſen alle jo ungefähr, welche Art und Kaffe von Typen das achtzehnte Jahrhundert dem neunzehnten hinterließ. Nennen wir ein Baar der Hauptrepräfentanten in einem einzigen Yande, wie Dentjehland. Da iſt Nathan der Weife, das deal der Aufklärungsperiode, das will jagen Toleranz, edle Humanität und durchgebildeter Rationalismus. Man darf fchwerlich be- haupten, daß wir Dänen dies deal feftgehalten oder es meiter gebildet hätten, wie e8 z.B. in Dentjchland durch Schleiermacher und nachmals durch jo viele Andere geſchah. Mynſter war unjer Schleiermacher, aber welcher Abjtand ift zwifchen Schleier- macher's Freifinn und Mynſter's Orthodoxie! Und Schritt für Schritt haben wir uns vom Nationalismus entfernt, ohne ihn aufzunehmen, ohne ihn weiter zu bilden. laufen war eine Zeitlang der Wortführer desjelben, aber er iſt es nicht mehr. Auf Heiberg folgt Martenjen, und Martenjen’s „Spefulative Dogmatif” wird von der „Ehriftlihen Dogmatik“ abgelöjt. In Oehlenſchläger's Dichtungen weht noch ein rationaliftiicher Hauch, aber das Gejchlecht Dehlenjchläger’S und Oerſted's zeugt das Gefchlecht Kierfegaard’S und Paludan-Müller's.
Die deutfche Litteratur des achtzehnten Jahrhunderts über- gab uns noch manche andere poetische Ideale. Da ijt Werther, das deal der Sturm- und Drang Periode, das will jagen, der Kampf der Natur und der Leidenſchaft wider die herfümmlich geordnete Gejellichaft; jodann Fauſt, der infarnierte Geijt der neuen Zeit und ihrer Erfenntnis, welcher, nicht zufrieden mit dem, was die Aufflärungsperiode errungen hat, einen höheren Standpunft, ein höheres Glück und eine taufendfach höhere Macht ahnt, da ift ferner Wilhelm Meijter, der Typus der humanen Bildung, welcher die Schule des Lebens durchläuft und vom Lehrling zum Meifter wird, welcher damit beginnt, vor dem Leben fliehend nach Idealen zu jagen, aber welcher damit endet, das Ideal in der Wirklichkeit zu finden, und welchem die zwei Benennungen in eins verjchmelzen. Da ift Goethes Prometheus, der, Menfchen bildend, die Philojophie Spinoza’S in begeijterten und erhabenen Rhythmen verkündet.
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Da ift endlih Marquis Poja, die echte Verförperung der Nevolution, der Apoftel und Prophet der Freiheit, der Typus jeines Gefchlechtes, das, fich empörend über alle todesreifen Veberlieferungen, den Fortjchritt möglich und die Meenjchheit glücklich machen wollte.
Mit ſolchen Typen Hinter fich beginnt unſere dänische Litteratur. Bildet fie diefelben weiter? Man kann das nicht jagen. Denn worauf würde der Fortjchritt beruhen ? Er beruht auf dem, was feither gefchehen iſt. ES ift nicht in diefer Form gedruckt worden, aber ich will es bier ausfprechen. Eines ſchönen Tages, als Werther, wie gewöhnlich jpazieren ging und ver— zweiflungsvoll für Lotten ſchwärmte, fiel es ihm ein, daß das Band zwischen Albert und ihr doch allzu wenig bedeute, und er eroberte fie von Albert. Eines fchönen Tages ward Marquis Poſa es müde, am Hofe Philipp's II. den tauben Ohren des Tyrannen Freiheit zu predigen, und ex rannte ihm feinen Degen durch den Yeib, — und Prometheus erhob fich von feinem Felſen und jäuberte ven Olymp, und Fauft, dev vor dem Erd- geift aufs Knie gefunfen war, bemächtigte fich feiner Erde und machte fie ji) unterthan mit Hilfe des Dampfes, der Efeftri- zität und dev methodischen Forschung.
Sehen wir, in welcher Geſtalt unfve beginnende poetifche Litteratur fich zum erften Mal ihre Form giebt. Dieſe Geftalt it „Aladdin“. Aladdin ift der Glückliche, wie ihn Schiller in feinem Gedicht „das Glück“ gefchildert hat, und Aladdin bedeutet das Recht der Poefie und der Naivetät, zu exijtieren und zu jiegen. Es ift eine Dichtung über die Dichtung, es it die Poeſie, welche ihr eigenes Necht geltend macht, die Poefie, welche fich felbft im Spiegel beſchaut und verwundert ihre eigene Schönheit evblict, ein Thun, das fie nicht dauernd fortjegen kann, ohne zur Strafe dafür ein jchlaffer und wollüftiger Narziffus zu werden. Und noch ein Zug: Aladdin ift das Genie, und mit der ganzen fublimen Kühnheit des göttlich begabten Geiftes entthront Dehlenjchläger die Fauftgeftalt, macht Fauft zu einem Nureddin, und läßt diefen Fauft wie einen Wagner enden. Ich halte jeden Erguß meiner faſt uneingefchränften Begeifterung für dies Gedicht zurück
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und jege nur meinen Gedanfengang fort. Aladdin iſt das Genie, aber welche Art von Genie? Auf welcherfei geniale Naturen paßt dies Bild? Auf Geifter vielleicht wie Oehlen— ſchläger jelbjt oder tie jein Zeitgenofje Pamartine, aber jicherfich nicht auf Geifter wie Shafefpeare, wie Leonardo, wie Michel Angelo, Beethoven, Goethe und Schiller, Hugo und Byron, am allerwenigiten auf Napoleon, ter vielleicht am unmittel— barjten den Anlaß zu „Aladdin“ gegeben hat. Denn das Genie ift nicht der geniale Müßiggänger, fondern der geniale Arbeiter, und die angeborenen Gaben find nur das Werkzeug, nicht das Werf.
Dann folgen Figuren wie Oehlenſchläger's nordiſche Helden— geftalten, Hafon, Balnatofe, Axel, Hagbarth, Ideale von Kraft und Liebe, die, ohne mit folcher Stärke der Phantafie erfchaffen zu jein, daß fie antif wären, doch unferm Zeitalter allzu fern jtehen, um ein wirkliches Verhältnis zu demſelben zu haben. Bei all ihrer Schönheit find fie zu abjtraft und ideal, um mehr als unvollfommen die Heit abzufpiegeln, in welcher fie ent- jtanden, und ihre praftiiche Wirkung auf die Gemüter iſt ſchon dadurch Stark begrenzt, daß fie ſich ja als Borzeitstdeale an— fündigen. Es iſt nicht mehr der Seeleninhalt der modernen Zeit, der fich in ihnen formen will; mit Bewußtjein wird die Pſychologie zurückgeſchraubt und eine Reinigung von allem ipezififch und unzweideutig Modernen verfucht. Es tit lehr- veich, fie mit den Helden einer gleichzeitigen Schaubühne, mit den Geftalten Victor Hugo's zu vergleichen. Dieſe ftehen viel leicht in poetifcher Hinficht zurück. Aber man fühlt jtärfer das Weben einer neuen Zeit, wenn man Victor Hugo's zorn— ſchnaubende Plebejer über die Bühne fchreiten fieht. Deshalb wurden auch Victor Hugo's erfte Tragödien jümtlich von der bejtehenden Negierung verboten, was nie einen däniſchen Stücke widerfahren ift — eine Eigentümlichfeit, welche man je nad) feinen Sympathieen als ein Zeichen des vein dichterijchen oder als ein Zeichen des rein wirkungsloſen Charakters unſerer Poefie auslegen mag. Noch ganz anders abjtvaft, ja, jo zu jagen blutlos werden die Typen in einer Pittevaturgruppe, die fi) an Dehlenfchläger’s dramatifche Arbeiten anjchließt und
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unfer Mittelalter behandelt, nachdem jene unjere Vorzeit be- handelt haben. Ich meine Ingemann's Nomane. Die Lebens— erfahrung und das Lebensſtudium, worauf diefe Werfe beruhen, ift äußerft gering. Sie behalten einen andern Wert; aber zum eben haben fie fein oder faſt gar fein Verhältnis, obſchon fie zu den Büchern gehören, welche im übrigen die größte praftifche Wirkung geübt haben. Sie gehören dem aus Schott- land eingeführten verfehlten und jest verlaffenen Genre des biftorifchen Nomanes an, das von einem Bollblut-Tory erfunden, aus einem Geiſteszuſtande hervorgegangen war, welcher, wie der unfvige, all feine Ideale der Vergangenheit entnahm.
An einem folchen Geifteszuftande prallen alle großen Er: eigniffe des Jahrhunderts ab. Der griechifche Freiheitskrieg, dejfen Ausbruch anderwärts das Signal zu fo gewaltigen litterariichen Ummwälzungen giebt, der in Frankreich und Deutjch- land ganzen Schulen den Todesſtreich verjegt und neue Schulen erweckt, der eine ganze Schriftjtellerfchar veranlaßt, ihre Ge— finnungsrihtung zu ändern und in den Dienft der Oppofition zu treten, binterläßt in der Poefie Dänemarks faft feine andere Spur, als jene berühmten Zeilen in Heiberg's Vaudeville „König Salomon und der Hutmacher Jürgen": „Was halten der Herr Baron von den griechifchen Angelegenheiten?" Ein Ereignis wie die Sulivevolution von 1830 fett fich bei einem jo fühnen und freifinnigen Geifte wie Paul Möller fein anderes Denkmal, al3 jenes fonft jo Schöne und charakteritiiche Gedicht „Der Künftler unter den Rebellen“, ein Gedicht, welches durch feine Yoyalität, feine äſthetiſche ©fleichgültigfeit wider die Er- eigniffe der Außenwelt, feine grenzenloje Verachtung aller Ge- jelljchaftsbewegungen die ganze Epoche in Dänemark abjchildert. Für Baul Möller perfonifizierten fich die Nevolutionen wirklich in „zwei freifinnigen Jungen und einem lahmen Redakteur“. Byrons das halbe Fahrhundert beherrichende Poeſie, welche durch feinen Heldentod rings über die Welt verpflanzt wird, gelangt auch zu uns, aber nur die Draperie gefällt hier, und man bütet fich wohl, die Gedanken und Typen fich anzueignen. Eine unſerer edeljten und ſchönſten Dichternaturen, der Bijchof3- john Frederif Paludan-Müller, eignet fich) das Bersmaß, den
_ Einteitung. 13
Ahythmus, den Stimmungswechjel, das barode Hin- und Her- ihwanfen zwiſchen Pathos und Ironie in den Byron’schen Heldengedichten an, aber nur um diefe Form als Einfleidung für die ganze herfümmliche Denf- und Gefühlsweife zır benuken. Er gießt den alten Wein in die neuen Schläuche und entwicelt jeine Poeſie nah und nach zu einem begeifterten Platdoyer für asfetifche Moral und die jtarrfte Orthodorie.
Eine der Urſachen für diefe Erjcheinung muß ficherlich in der Beichaffenheit jener Geſellſchaftsklaſſe gefucht werden, welche in dieſem Jahrhundert nicht nur unfere dänifche jchöne, fondern auch zum großen Teil unfere wiſſenſchaftliche Yitteratur erzeugt hat. Während Franfreihs und Englands Litteraturen zumeift von unabhängigen, zum Zeil hochgeftellten Männern mit freiem Blick und weitem Gefichtsfreis entwidelt find, und während die deutſche Litteratur trotz ihres Profefjorengepräges den Charakter geiftiger Unabhängigfeit trägt, welche während der politischen Unfreiheit der Deutjchen das teuerſte Gut der Nation war, ift unſere neuere Litteratur zum überwiegenditen Teile von Ffleinen Beamten, oder doch von Männern mit einer uns freien amtlichen Schulbildung hervorgebracht. Während der franzöfifehe und englifche Adel, die großen Yandedelleute, die großen Politiker, beveutfame Beiträge zur Literatur ihres Landes geliefert haben, während ihre eigentlichen Schriftjtelfer oft abjeitS vom regulären bürgerlichen Leben als Neijende oder Bohemiens lebten, hat unſer Adel, der alte dänijche jowohl, wie der fpätere, feine Rolle in unjerer neueren Litteratur ges ipielt, desgleichen der wohlhabendere Bürgerftand, und ein paar Zigeunerexiftenzen haben kaum irgendwelche Bedeutung gehabt — unfere Litteratur und unfere Kultur ift von der Kopen- hagener Univerfität und den Pfarrhöfen auf dem Lande aus- gegangen. Eine ganz unverhältnismäßig große Anzahl der tonangebenden Männer find Prediger, Predigerfühne oder theo- fogifche Kandidaten gewefen. So jtark ift jogar der theologijche Einfluß gewejen, daß, wenn man fich ein Land von Däne- marks Größe wie eine Art China verwaltet dächte und ſich ein Geſetz vorſtellte, Fraft deſſen in einer bejtimmten Zeit nur theologiſche Kandidaten Stimmrecht in dev Vitteratur und die
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Befugnis haben jollten, die Eindrüce von auswärts zu be- arbeiten, fo möchte es eine interejfante Aufgabe fein, zu unter- fuchen, wodurch ſich wohl eine folche, von Kandidaten des Predigtamtes verfaßte Yitteratur von einer großen Pertode und Gruppe der unfrigen umnterjcheiden wiirde.
Es Scheint, als jollte es ung nicht gelingen, etwas Typifches in einer anderen For, als der abjtraft farikterten, auszudrüden. Auf all’ jene pofitiven Geftalten folgt eine Reihe negativer Bilder. Heiberg ſammelt die Charakterzüge aus all feinen Vaudevilles zu einem Bilde des Kopenhagener Spießbürgers in dem Gedicht „Eine Seele nach dem Tode“*), und Paludan— Müller ſchreibt fein Meifterwerf „Adam Homo", ftreng ges nommen der einzige wirklich typifche und fiir einen Fremden (ehrreiche dänische Numan. Derſelbe verdichtet gleichſam die ganze Schlaffheit und Nichtswitrdigfeit dev europäiſchen Neaktionszeit zu einer Eſſenz. Adam Homo tft der Menſch im Allgemeinen, ja wohl, aber der Menſch aus ver Zeit Chriſtians VIII. Gleichzeitig verliert fich bei uns daheim die importierte philofophifche Bewegung, die auffeimende Hegel— ihe Schule erſtirbt, Heiberg wird durch Kierkegaard, und die Leidenschaft, zu denken, durch die Xeidenfchaft, zu glauben, abgelöft. Die philofophifche Bewegung hört vorläufig auf, ohne ein Buch, gejchweige ein Werk gefchaffen zu haben, und die ethiſch-religiöſe Tendenz, welche jetzt beginnt, erhält ihre Parallele und ihre Fortjegung innerhalb der Poeſie. Eine Anzahl ſchöner, aber kindlicher Bauernnovellen, die Hirten- fzenen unſres Jahrhunderts, folgen dem veligtöfen Strome. Aber höher und Höher fteigt der Enthufiasmus für pofitive Religion und asketiſche Moral. Man überbietet ſich darin, reale aufzutürmen, von deren fihwindelnder Höhe die Wirklich: feit nur noch als ein fern liegender ſchwarzer Punkt erſcheint.
Wohin hat diefe Strömung geführt? Zu Gejtalten wie Paludan-Müller's „Kalanus“, welcher ſich in der Efitafe ſelbſt auf dem Scheiterhaufen verbrennt, und wie Ibſen's „Brand“, deffen Moral, wern man ihr folgte, die Hälfte der Menjchheit veranlafjen würde, aus Liebe zum Ideal zu verhungern.
=) Deutſch von F. A. Leo. Berlin. 1861.
Einleitung, 15
Und damit haben wir geendet. Nirgends in ganz Europa jo exaltierte Ideale, und an wenig Orten ein platteres geijtiges Leben! Denn man müßte doc) äußerſt naiv fein, um zu glauben, daß unjer Leben jenen Typen entſpräche. So jtarf ijt die Strömung gewefen, daß jelbjt eine fo vevolutionär an- gelegte Natur wie Ibſen im diefelbe hineingezogen ward. Sit „Brand“ Revolution oder Reaktion? Ich wüßte es nicht zu jagen, jo viel hat dies Gedicht von dem Einen wie von dem Andern.
Die zwei großen Grundgedanken des vorigen Jahrhunderts waren diefe: im der Wilfenjchaft die freie Forſchung, in der Poefie die freie Entfaltung der Humanität. Was fich nicht mit diefem Strome bewegt, das finft dem Verfall entgegen und nimmt die Richtung nah Byzanz, Denn außerhalb diejer Bewegung jind alle Bewegungen byzantinijch. In der Wifjen- Ihaft byzantinifche Scholaftif, in der Poefie Gejtalten und Geifter, die nicht mehr Geſtalten und Geiſtern ähnlich find, einförmig und abitraft.
Gebt einem Sirius-Bewohner, der nur unjere däntjche Hafjische moderne Poeſie durchgelefen hat, ein paar ausländijche Dramen in die Hand, 3. B., Merandre Dumas’ „Le fils naturel“, Emilie Augier’3 „Le fils de Giboyer“ oder „Les effrontes“, und er wird mit zahllojen Gejellichaftszuftänden und Gejellfchaftsproblemen vertrant werden, die ev nicht fannte, weil fie zwar im umferer Gejellichaft, aber nicht in unjerer Litteratur exiftieren. Denn der moraliichen Wut entjpricht als Gegenfat die moralifche Prüderiee Was haben wir aus jenem erjten Auffchwunge gemacht, da man hier zu Yande, wie überall beim Beginn des Jahrhunderts, zum erjten Mal eine Poeſie hinter den drei Einheiten, eine Gottheit hinter dev Dreteinigfeit, ein Glück der Yiebe hinter der Fonventionellen Che, eine Wahrheit hinter den Dogmen, eine Gleichheit hinter dem Kajten- unterfchiede und der Nangordnung, eine Freiheit hoch über dem Zwange der Konvenienz, der Gejellichaft und der Alltags- moral erjpähte!
Oehlenſchläger emanzipierte die däniſche Poejie von der Moral der Nüslichkeitsperiode. Er fiegte, wiewohl nach hartem
16 Einleitung.
Kampfe, und die Poefie ward frei. Heiberg brachte die Logik eben jo erfolgreich zu Ehren, wie Jener die Poefie, ev emanztpierte die äfthetiiche Kritif von dem Gefühlsräfonnement und eroberte der PBhilofophie ein neues Gebiet. Dann fam das erſte Verlangen nach politifcher Freiheit. Aber die Banner- führer der Litteratur antworteten: Was ruft ihr nach politischer Freiheit? Die wahre Freiheit ift die eigene innere Freiheit des Willens, die zu erringen ift euch ſtets erlaubt, umd die andere ift, wenn ihr jene habt, ohne alle Bedeutung.
Und man fchrieb große metaphyſiſche Abhandlungen über die Freiheit des Willens, über Determinismus und Wahnfinn; man jchrieb neue poltifche über Freiheit und VBerfaffung und bewies, daß ein Land eine Konstitution auch ohne Fonjtitutionelle Negierungsform, wahre Freiheit auch ohne formulierte Freiheiten befige; aber e3 gelang doch nicht, die Gemüter zu beruhigen, und wir erhielten die politische Freiheit. Sollte nicht die Be- dingung eines weiteren Fortſchritts abermals die fein, daß Frei— heit — Geiftesfreiheitt — wieder die Loſung würde, daß der Ruf erflänge: wir wollen den freien Gedanken und die freie Humani— tät? Es wird dann nichts helfen, daß man antwortet: „Was ruft ihr nach Freiheit, ihr habt ja jchon jede, die ihr euch wünfchen könnt”, und man meint die politifche Freiheit. Man wird ſich mit diefer nicht zufrieden erklären. Es find nicht jo ſehr äußere Gefeße, die man zu ändern braucht, obſchon auch dieſe; es iſt viel mehr die ganze Geſellſchaftsanſchauung, welche das jüngere Gefchlecht von Grund aus umbilden und aufpflügen muß, bevor eine neue Litteratur entſprießen kann. Die Haupt- arbeit wird fein, durch eine Menge von Kanälen die Strö- mungen, welche ihren Duell in der Nevolution und den Fort— jchrittsiveen haben, nad) Dänemark zu leiten und der Reaktion auf allen Punkten Einhalt zu thun, wo ihre Aufgabe hijtorijch beendet iit.
Die Emigrantenlitteratur,
Der Uebergang vom 18. zum 19. Jahrhundert geſchah in Frankreich unter wiederholten ſozialen und politiſchen Ausbrüchen von bis dahin niegeſehenem Umfang und Kraft. Die neue Saat, welche die großen Gedanken und Begebenheiten der Revo— lution ausgeſtreut hatten, ſchoß jedoch nicht ſofort in der Litteratur auf. Sie konnte es nicht; denn zweimal in kurzen Zwiſchenräumen ging eine alle individuelle Freiheit zerſtörende Tyrannei wie eine Walze über Frankreich: zuerſt die Diktatur des Konvents dann diejenige des Kaiſerreiches. Die erſte Schreckensherrſchaft ſchreckte, guillotinierte, verbannte Jeden, deſſen politiſche Farbe nicht auf das Genaueſte mit der eben obenaufſchwimmenden des herrſchenden Volksgeiſtes überein— ſtimmte — die Ariſtokratie, das Königshaus, die Geiſtlichkeit, die Girondiſten wurden unter der Walze zermalmt — und man floh lieber in die ſtillen Villen der Schweiz oder in die ein— ſamen Steppen Nordamerikas, um dem Geſchick zu entgehen, welches die nächſten Angehörigen getroffen hatte und einem ſelber drohte. Die zweite Schreckensherrſchaft zerſchmetterte, verjagte, chikanierte, verhaftete, erſchoß, verwies Alles des Landes, was ſich nicht anders zum Schweigen bringen ließ — eine Stille, die nur von Hochrufen auf den Kaiſer unterbrochen werden durfte — und ſo wurden Legitimiſten und Republikaner, Konſtitutionelle und Liberale, Philoſophen und Dichter unter der Alles nivellierenden Walze zermalmt, wenn ſie es nicht vorzogen, zerſtreut und zerſprengt nach allen Richtungen, ſich einen Zufluchtsort außerhalb des Kaiſerreichs zu ſuchen. Und das war nicht leicht, denn es folgte ihnen auf den Ferſen, ſo ſchnell erweiterte es ſich; es verſchlang Italien und Deutſch— land in großen Biſſen und nirgends war man ſicher, nicht von Brandes, Hauptſtrömungen. J. Emigrantenlitteratur. 2*
20 Die Emigrantenlitteratur.
feinen Armeen überrafcht zu werden, es holte die Flüchtigen fogar in Mosfau ein.
Unter diefen beiden großen Zwangsherrſchaften wurde ein- zig und allein nur außerhalb Paris, in einfamen Orten der Provinzen oder auf dem Lande, wo die Bewohner fih dann jo ſtill wie Tote verhielten, häufiger aber noch außerhalb Sranfreihs Grenzen, in der Schweiz, in Nordamerifa, in Deutſchland und England, von Franzofen litterarifch gearbeitet. Denn nur dort Fonnten die jelbftändigen Geifter unter den Franzoſen eriftieren, wie auch nur von folchen eine Pitteratur begründet und gefürdert werden fann. Die erjte franzöfifche Litteraturgruppe in diefem Jahrhundert, welche von fo vielen zerjtrenten Punkten aus begründet wird, hat nım als gemein- famen Grundzug, daß fie oppofitionell ift.
Hiermit joll jedoch nicht gejagt werden, daß die Schrift- jtellev über gewiffe Grundprinzipien einig find — fie find oft im höchſten Grade uneinig unter einander — aber der Haß gegen die Negulierungsbeftrebungen der Schredensherrichaft und Napoleons verbindet fie alle. Was fie auch urfprünglich jind und wozu fie ſich ſpäter unter der Nejtauration entwideln, zu Neformatoren auf litterarifchem Gebiet, zu reaftionären Legitimiften oder zu liberaler Oppofition, jo haben fie doch zur SKahrhundertwende als Gegner der herrichenden und ge- gebenen Zuftände ein ernftes gemeinfames Gepräge. Und hierzu fommt als der nächjte entjcheidvende Zug, ihre gemeinfante ihwierige Stellung als Erben des 18. Jahrhunderts, welches ihnen noch in zwölfter Stunde das Kaiferreich, gegen melches jie proteftierten, vermacht hatte. Einzelne von ihnen wollten am liebjten ganz von dem Erbe mit feiner Schuld abjehen, andere wieder wollen das Erbe, doch ohne die Schuld über- nehmen. Alle fühlen fie es, daß die geijtige Bewegung des neuen Jahrhunderts von anderen Vorausfegungen ausgehen müſſe als von denjenigen, auf welche das alte gebaut hatte. AS fich die Flügelthüren des 19. Jahrhunderts öffnen, jtehen jie alle mit fpähenden Bliden und ftarren herein, fie ahnen die Umriffe des neuen, glauben fie undeutlich zu erbliden, und Ihon formt. fih für fie das Kommende nah ihren Fähig—
Die Emigrantenlitteratur. 21
feiten und Wünfchen, und fein Weſen mird von ihnen aus- gedrüct. So erhalten fie alle daS Gepräge, als ob fie etwas vorbereiteten, einleiteten, al3 ob jie Bringer und Träger eines neuen Zeitgeiſtes wären.
E3 war in Frankreich ein größeres Feld für Litterariiche Ernenerungsverfuche als in irgend einem anderen europäiſchen Hauptland. Denn die Literatur des vorigen Jahrhunderts war daſelbſt in Formweſen ausgemündet.
Die Salon= und die afademifche Bildung im Berein, hatten fie in gewijje, einmal gegebene, jteife und ımagere Formen ge- zwängt Sie war in das Eifenforjet des fogenannten guten Geſchmackes eingejchnürt. Die Franzoſen waren es, welde am Schluſſe des achtzehnten Jahrhunderts die politischen Zuftände und die Sitten vevolutionierten. Die Deutjchen waren es, welche die litterariſchen Ideen reformierten. Frankreich bot von jeher den Gegenſatz eines Landes, das, während es in alfen äußeren Berhältniffen die Veränderung liebt und, wenn es dieſem Hange folgt, jelten Maß oder Schranfe zu halten weiß, zu gleicher Zeit in litterarifcher Hinficht äußert jtabil it, Autoritäten anerfennt, eine Afademie unterhält, Maß und Schranfe über alles ſtellt. Man hatte in Franfreich die Re— gierung umgeftürzt, die mißliebigen Arijtofraten gehängt oder verbannt, die Nepublif errichtet, Krieg mit Europa geführt, das Chriftentum abgejchafft, den Kultus eines höchjten Wejens defretiert, ein Dutzend Fürften ab- und eingejest, ehe man ſichs einfallen ließ, den Alerandrinerverje den Kampf zu er— Hären, ehe man die Autorität Corneille's und Boileau's an- zutaften oder daran zu zweifeln wagte, daß die Beobachtung der drei Einheiten im Drama zur Nettung des guten Gejchmades abfolut notwendig ſei. Voltaire, der vor wenigem zwijchen Himmel und Erde Nejpeft hat, rejpeftiert die Alerandriner. Er ftellt die ganze Tradition auf den Kopf, er verwendet Die Tragödie als Angriffswaffe wider die Mächte, deren bejte Stütze fie vor ihm gewejen waren, die Königsmacht und die Kirche, er ſchließt in mehreren feiner Trauerjpiele die Liebe aus, welche bisher für die Hauptjache in einer rechten Tragödie galt, er ahmt dem von feinen Landsleuten mißachteten Shafejpeare
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nach; aber er wagt nicht, den Vers eines Fußes zu bevauben, das Geringfte an der überlieferten Neimftellung zu ändern oder die Handlung länger als vierundzwanzig Stunden dauern, die Begebenheit in einem und demfelben Stüde an zwei ver- jchteden benannten Orten ſpielen zu lajjen. Es Eoftet ihn feine Überwindung, den Königen das Szepter aus der Haud und den Prieftern die Masfe vom Geficht zu reißen, aber er vefpeftiert den traditionellen Dolch in Melpomenens Hand und die traditionelle Masfe vor ihrem Gefichte.
Es war ein anderes Volk, als das franzöfische, das Bolf, dem Voltaire höhniſch mehr Geift und weniger Konfo- nanten gewünfjcht hatte, welches Litteratur und Poeſie refor- mierte. ES waren die Deutjchen der damaligen Zeit, die gutmütigen Leute, von denen man in Frankreich Faum mehr wußte, als daß fie ihr Bier tranfen, ihre Pfeife vauchten und ihr Sauerkraut in der Ofenecke aßen, daß fie fich friedlic) von einem paar Dutzend ftupider Duodeztyrannen quälen liegen, daß fie ohne die mindejte unvernünftige Gleichheits— ſucht in tieffter Ehrfurcht ihre PVorgefetten „Nat“ und „Graf“ 2c. titulierten, daß fie nur Krieg führten, um Prügel zu befommen, daß fie im übrigen patriarchalifch mit ihren Ehe- hälften lebten, die al3 wahre Brütmafchinen Kinder auf Kinder in beftändiger Anbetung des Erzeugers zur Welt brachten — ſie waren es, die in der Welt der Ideen größere Eroberungen, als die Franzofen auf Erden machten, indem fie der Welt eine neue Metaphyfif jchenften, jo tief und reich, wie man fie nicht jeit den Tagen des Ariftoteles und der Neuplato- nifer gejehen hatte, eine neue Poefie, die ſchönſte ſeit Shafe- ſpeare's Zeit, und fie waren es, die eine neue Behandlung der Gejchichte, der Mythologie und der Dichtfunft begründeten; denn bei ihnen war nichtS anders frei gewefen, als einzig und allein der Gedanke.
Von Deutfchland ift daher die Litteratur ſtark beeinflußt, welche fih an der Grenzjcheide des Jahrhunderts in Frank— reich entwicelte, wie überhaupt die Völker erſt jetst vecht be- ginnen, in ununterbrochenen geijtigen Verfehr mit einander zu treten. Die großen Ummwälzungen, die Kriege der Nepublif
Die Emigrantenlitteratur. 23
und des Kaijerreichs, welche alle Volksſtämme Europas durch— einander rüttelten, lehrten fie gleichzeitig einander fennen. Aber am grümdlichiten von den fremden Umgebungen beeinflußt wurde doch diejenige Menſchenklaſſe, welche durch all’ jene großen Ereignifjfe ſich zu einem feften und langjährigen Aufenthalte außerhalb des Vaterlandes gezwungen ſah. Die Einwirkung eines fremden Geiſtes, welche bei dem Soldaten flüchtig und vorübergehend war, wurde dauernd und bevdeutungsvoll für den Emigranten. Der franzöfifche Emigrant jah fich genötigt, die fremde Sprache auf eine mehr als oberflächliche Art zu erlernen, wenn auch vielleicht nur aus dem Grumde, um Unter— richt in feiner eigenen Sprache erteilen zu fünnen. Dur) intelligente franzöfische Emigranten verbreitete fich jest Kenntnis der Natur und Kultur fremder Länder in Frankreich, und daher fommt es, daß, wenn man eine gemeinjame Benennung für die jeßt auftauchenden Erſcheinungen der franzöfijchen Litteratur ſucht, man kaum eine befjere als die von mir an- gewendete Bezeichnung: Emigrantenlitteratur findet.
Diefer Name darf aber nicht für mehr genommen wer- den als er ift: ein Name; denn es würde widerfinnig ein, einzelne durchaus verwandte Werfe von Schriftitellern nicht hinzuzurechnen, welche außerhalb Paris oder außerhalb Frank— reichs lebten, ohne aber gerade emigriert zu fein. Andererjeits gehören einzelne von Emigranten verfaßte Werke ihrem ganzen Seifte nach nicht zu dieſer ernenernden und befruchtenden fitterarifchen Bewegung, jondern zur reaftionären Nejtauvations- fitteratur. Gleichwol paßt der Name gut für die erjte, das Sahrhundert einführende Gruppe franzöfiicher Bücher.
Der Emigrant ift feinem Wefen nah, wie ſchon an— gedeutet, oppojitionell. Aber jeine Oppofition trägt einen verschiedenen Charakter, je nachdem er gegen die Schredens- herrſchaft oder gegen das abjolute Kaiſerreich opponiert, und je nachdem er der Macht der einen oder des andern entjlohen ift. Sehr häufig entfloh er beiden, und feine Beweggründe zur Oppofition find dann gemifchter Natur; er hegt z. B. Sympathie für die Revolution in ihrer evften Geitalt, welche die Königsmacht befchränfte, oder für die gemäßigte Republik,
24 Die Emigrantenlitteratur.
und einen heftigeren Unwillen gegen das Kaiſerreich, als gegen den Zerrorismus; aber von welcher Natur auch die Miſchung jei, man wird fchon an diefer Stelle die doppelte Strömung in den Erzeugnißen der Emigrantenlitteratur ahnen fünnen. Unmittelbar reagiert fie gegen die Litteratur des achtzehnten Jahrhunderts, gegen ihren trodenen Nationalismus, ihre Nechtung des Traum- und Gefühlslebens, ihren Unverjtand dem Hijtorifchen gegenüber, ihr Ueberjehen der berechtigten Nationaleigentümlichkeiten, ihr farblojes Betrachten der Natur, ihr irrtümliches Betrachten der Religionen als bewußten Be— trug. Aber gleichwol ift in ihren Erzeugniffen ein Unter- from, welcher die Hauptjtrömung des achtzehnten Jahr— hunderts fortjeßt; die Schriftfteller feen alle den Befreiungs- fampf gegen die erjtarrte Meberlieferung fort, einzelne nur auf poetifchen, andere auf allen Gebieten des Geijtes; fie find alte unternehmende Naturen, Entdedergeifter, und das Wort Freiheit hat bis jest noch für feinen von ihnen feinen eleftrifierenden lang verloren. Selbſt Chateaubriand, der po- litiſch und religiös die äußerſte Nechte der Gruppe bildet und mit einem Zeil feiner Schriften der eigentlichen Neaftion an- gehört, bezeichnet bejtändig „Freiheit und Ehre" als feine Devife, er kann deshalb auch politifch oppofitionell enden. Die Doppelftrömung ſpürt man überall: bei ihm, bei Sénancour, bei Conjtant, bei Frau von Stael, bei Barante, Nodier u. ſ. w. und auf dies feine Wechjelverhältnis zwiſchen Neaktion und Fortfchritt werden wir von Anfang an forgfältig zu achten haben.
Wenn man vom Geiſte des achtzehnten Jahrhunderts jpricht, fo ift e8 gewöhnlich Voltaire's Name, der einem auf die Lippen fommt; er ift es, welcher das ganze Zeitalter wie in eimem Brennſpiegel fammelt, vejumiert und rvepräfentiert; in jo fern die Emigranten gegen ihn reagieren, fann man aljo jagen, daß fie die Reaktion wider daS vorhergehende Sahrhundert bezeichnen. Sogar diejenigen unter ihnen, die ihm geiftig nahe verwandt find, reagieren notgezwungen, d. h. vom Beitgeift gezwungen, gegen ihn, wie z. B. Conjtant in jeinem Buche „Ueber die Religion”. Aber e8 giebt ja unter
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den Schriftitellern des achtzehnten Yahrhunderts einen, der Voltaire als Nebenbuhler gegenüberjtand, und der ihm an Größe faſt gleichfommt, defjen Werfe zudem in weit höherem Grade als jene DVoltaives über das Zeitalter, in dem fie erſchienen hinausweiſen. Er ijt es, welcher die Emigranten- litteratur inspiriert und auf welchen fie ſich, troß aller aus- ländischen Einflüffe, auf jedem Punkte zurüdführen läßt, und in jo fern fie von Rouſſeau abjtammt und Rouſſeau fortſetzt, kann man jagen, daß fie daS vorige Jahrhundert und die Revo— lution fortjett. Auf Rouſſeau weifen in der That fast alle großen fitterarifchen Bewegungen am Ende des achtzehnten und am An— fange des neunzehnten Jahrhunderts zurüd. Bon ihm gehen in Deutſchland Herder, Kant, Fichte, Jacobi, Goethe, Jean Paul, Schiller und Tief aus, in Frankreich Saint- Pierre, Nobespierre, Diderot, Chateaubriand, Frau v. Stael und fpäter George Sand; von ihm geht in England einer aus, dejjen Name für Hunderte zählt: Byron. Während Voltaire be- jonders auf die Geiſter im allgemeinen wirkt, iſt Rouſſeau's Einfluß ganz überwiegend auf die hervorbringenden Zalente, auf die Schriftfteller. Abmwechjelnd Haben jene zwei großen Männer nach ihrem Tode die Nachwelt ungefähr bis zu unferer Zeit beherrfcht, wo fie danı beide von Diderot ver- drängt wurden. Boltaire trat beim Schluß des 18. Jahr— hunderts das Szepter an Noufjeau ab, dann Fam nach 1848 eine Periode, wo Voltaire abermals Rouſſeau die Herrichaft über die Gemüter entrang, wenigftens in Frankreich, und bei den hervorragenditen modernen Schriftjtellern dieſes Landes, wie 3. B. bei Erneft Nenan, findet man die doppelte Geiites- richtung endlich verfchmolzen, Rouſſeau's Geiſt multipliziert mit dem Geiſte Voltaive's. Aber in Rouſſeau's Schriften allein haben fait all’ die großen, vom Auslande fommenden Strömungen, welche beim Anfange des Jahrhunderts von Deutjchland und England über Frankreich hereinfluten, ihren Ursprung, und Rouffeau ift e3 zu verdanken, daß die Litteratur, welche von Franzofen im Auslande erzeugt wurde, unter all ihrer Oppofition wider den Geift, aus welchem das abjolute Kaiferreich hervorging, ein Verhältnis zum achtzehnten Jahr—
26 Die Emigrantenlitteratur.
hundert bewahrte umd ſich auf urjprünglich franzöfiihe Vor— ausjegungen jtüten konnte.
Betrachten wir zum Beifpiel eins der Hauptwerfe der reaftionären Litteratur. Was das achtzehnte Jahrhundert hatte von Grund aus zerjtören wollen, war mit einem Worte das Mittelalter. Ihm war das Mittelalter nur ein anderes Wort für Barbarei und Fanatismus; als Beiſpiel des Scredlichen diente ihm ein Autodafé, als Beiſpiel des Fächerlichen ein Kreuzzug. Daher fam es, daß man jekt mit der ganzen Nenegatenbegeifterung der Reaktion das Mittel- alterliche überall wieder einführen wollte, im Staate, in der Kunſt, in der Poefie und Neligion. In demjelben Fahre, in welchen Napoleon das Konfordat mit dem Papſte abjcehloß und den chriftlichen Kultus in Frankreich wieder einführte, veröffentlichte Chateaubriand fein großes Wert „Le genie du christianisme“, eins der erjten und veinften Erzeugniffe der Reaktion, das, im Widerftreite mit der vom Berfaffer früher, in feinem Buch über die Nevolutionen, ausgefprochenen Ueber— zeugung, die Wahrheit des Chriftentums dadurch einleuchtend zu machen ſucht, daß es die Schönheit und mittelft dieſer den Wert desjelben für Kunſt und Poefie nachweilt. Chateaubriand jtellt einen ausführlichen Bergleich zwiſchen den heidniſchen und den hriftlichen Schriftjtellern an, fett Tafjo über Homer und Saint» Pierre über Theofrit, und demonjtriert, wie man jpöttifch gejagt hat, auf überzeugende Weife die Verwendbarkeit der religiöſen Ideen in Balletten ıumd Pantomimen. Er ijt eben jo orthodor und bibelfeft in der Naturlehre wie in der Aeſthetik. Nichtsdejtoweniger brach gerade in diefem Werfe, in jeineu berühmten und glänzenden Epifoden „Atala" und „Rene,“ das Neue hervor.
Chateaubriand, Atala. 27
1 Chateaubriand, Atala.
Das Jahr 1800 brachte das erjte Dichterwerf, welches das poetische Gepräge des neuen Zeitalters trägt. Sein Um- fang war fein, aber feine Bedeutung groß und fein Eindrud ein mächtiger. „Atala“ erregte ein Aufjehen und machte ein Glück, wie es feit „Paul und Virginie“ feiner anderen franzö- jifchen Dichtung beſchieden geweſen war. ES war eine Novelle aus Nordamerifas Steppen und Urmwäldern, mit einem ſtarken, eigentümlichen Aroma des jungfränlichen Bodens, auf welchen die Anregung zu derjelben entjtanden war. Ste bejaß die glühenden Farben einer fremden Natur und eine noch heftigere Glut in den Ausbrüchen der Leidenſchaft. Die Erzählung gab ein Bild des Lebens der wilden Indianer als Hintergrumd für die Schilderung einer zurüdgedrängten, aber gerade da» durch überwältigenden und tötenden Liebesleidenſchaft. Das Ganze wird dur einen Firnis fatholifcher Neligiofität her— vorgehoben.
Dieſe Geſchichte von der Liebe und dem Tode einer jungen hriftlichen Indianerin wurde jo populär, daß jeine Helden bald darauf in folorierten Holzjchnitten die Wände der fran- zöfifchen Wirtshäufer bevdedten, und daß ihre Wachsbilder auf den Parifer Quais verfauft wurden, wie man in fatho- fischen Ländern die Wachsbilder der Madonna und Chriftus verfauft. Auf einem Vorftadttheater trat die Heldin als In— dianerin foftümiert mit Hahnenfedern im Haar auf, das Varicti- theater gab eine Poſſe, in welcher ein Schulfnabe und ein Schulmädchen, welche fortliefen, um jich zu heiraten, nur von Krofodilen, Störchen und vom Urwalde in „Atala's“ Stil ſprachen. Auch eine Parodie erſchien „Ah! la! là!“, in welcher die große und prachtvolle Bejchreibung der Ufer des Miſſiſſippi durch eine ebenſo meitläufig detaillierte Bejchreibung eines Kar— toffelfeldes erjeßt war: fo auffallend war es damals, daß em Schriftſteller einige Seiten mit Naturjehilderungen verſchwendete
28 Die Emigrantenlitteratur.
Während es aber dergejtalt Barodieen, Nedereien, und Karifa- turen auf den Dichter regnete, war er troß deſſen nicht zu beffagen; denn derartige Dinge find die Kennzeichen der Be— rümtheit, und mit einem Schlage war er aus einem Un- befannten eine Größe erften Nanges geworden. Sein Name Hang von allen Lippen und lautete, Francois Rene de Chateaubriand.
Er war als Jüngſter von 10 Kindern in einem altadeligen Hanfe in St. Malo in der Bretagne geboren. Der Bater war jtreng und trocden, ungejellig und ftill, ev bejaß nur eine Leidenschaft, feinen Adelshochmut, Die Mutter war Klein und häßlich, unruhig und mißvergnügt, aber im höchjten Grade devot, eine Kirchgängerin und Briefterbefchügerin. Der Sohn erbte ein Gemiſch beider Naturen.
Hart erzogen in einem Heim, wo nach feinem eigenen Ausdruck der Vater der Schreden des Gefindes und die Mutter deren Geißel war, wuchs er verfchloffen und ſcheu als ein jtörrifcher, melancholifcher und überjpannter Knabe auf, der frühzeitig mit dem Wellenfchlag des Meeres und der Muſik des Windes vertraut wurde, doch nie mit des Haufes Un- frieden und Kälte. Seine vor ihn geborene Schweiter Lırcile, die ſich gleich ihm zurückgefett fühlte, wurde fein einziger Freund, feine einzige Vertrante. Sie war wie er eine kranke, feivenjchaftliche Seele, die von Jahr zu Jahr immer mehr der Rouſſeau'ſchen Manie ergeben war, alles als gegen fich ver- ſchworen zu betrachten und ſich für verfolgt von Allen zu halten; in ihrer Jugend nahm fie zum Bruder, fpäter zur Religion ihre Zuflucht gegen dieſe Gefahren und Bedrängniffe. Arch fie war wie der Bruder zuerſt unſchön und ſcheu, jpäter wurde jie jehr hübſch, bleich mit ſchwarzem Haar, jchön wie der Engel des Todes; einen großen Teil ihres Lebens ver: brachte fie im Klofter; fie war leidenschaftlich in ihrer Schwejter- liebe und leidenfchaftliche Katholikin. Sie hatte poetische An- lagen und jcheint fowohl in der Schücdhternheit wie in der Eraltation das weibliche Seitenftücd des Bruders geweſen zu jein. Eine feiner anderen Schweftern, Julie, welche in ihrer Jugend ausschließlich als Weltdame lebte, endete als Heilige
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in veligiöfer Askeſe, jo daß es jcheint, als habe die fatholifche Richtung dem ganzen Gejchlecht im Blute gelegen.
Der jtarfe Zwang, in dem der junge Chateaubriand ge- halten wurde, erzeugte in ihm einen wilden Drang, frei und jein eigner Herr zu fein; die beftändige Aufficht, uüter der er jeufzte, erzeugte einen alles beherrjchenden Trieb zu menjchen- ſcheuer Einjamfeit. Eilte er allein die Treppen des väter— lichen Schloſſes hernieder, oder ging er, nur von einer Büchſe begleitet, auf die Jagd, jo fühlte er alle Peidenjchaften in feinem Innern unter wilden ntzücen darüber, ungeftört träumen und fich jehnen zu fünnen, kochen und braufen. Un— glücklich, wie er fich in Gefellfchaft Anderer fühlte, bevaufchte er fich allein in Träumen von Glüd, in ehrgeizigen Träumen, in Dichterträumen. In halb geiftigem, Halb ſinnlichem Träumen und Sehnen bildete ev fi) dann das Bild eines überirdiſch ſchönen Weibes, einer jungen Königin, die mit Diamanten und Blumen gejhmüdt war, die er liebte und von der er in NeapelS oder Sizilien duftenden Mondſchein— nächten wiedergeliebt wurde. Und wenn er danı aus diejen Tränmereien erwachte und ſich als den Fleinen, unbedeutenden Bretagner wiederfand, der linkiſch, unberühmt, arm und viel- feicht auch talentlos war, dann verzweifelte er. Das Miß— verhältnis zwifchen dem, was er erjtrebte, und dem, was er war, drüdte ihn zu Boden.
Er war zuerst zum Seeoffizier beftimmt, aber eine un— überwindliche Abneigung vor der Disziplin Fam ihm hierbei in den Weg, dann wurde er für den geijtlichen Stand be— ftimmt, aber infolge feiner Unfähigfeit zu einem Leben der Entjagung kam er auch hiervon zurüd.
In feinem tiefen Mißmut beging er einen Selbſtmord— verfuch. Endlich beendete ein Familienmachtipruch die Un— fchlüffigfeit und ev wurde Unterlieutenant, und hierin fand er fich recht gut. Als Mitglied eines hochangefehenen Geſchlechts wurde er auch bei Hofe eingeführt, Ludwig XVI. vorgeftellt, und fah noch den legten Schimmer der alten Pracht und des Zeremoniels der Königsmacht. Zwei Jahre darauf brad) die Revolution ans umd im Jahre 1790 wurde der Adel ab-
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geichafft. Er nahm feinen Abſchied als Dffizier und da fich für ihn während der neuen Ordnung reſp. Unordnung der Dinge im Baterland feine Aufgaben zeigten, jo bejchloß er, ſich felbjt einen Weg zu bahnen, und faßte den abenteuter- fihen Plan, nach Amerifa zu reifen, um die nordwejtliche Durchfahrt zu entdeden. Es braucht wohl nicht gejagt zu werden, daß er, in diefer Hinſicht ohne alle Kenntniffe, ohne Verbindungen, ohne Geld, gar fchnell genötigt war, dieſen Gedanken fahren zu laffen. Sand er aber auch nicht die nordweitliche Durchfahrt, jo fand er wenigftens eine andere Menſchenraſſe, neue VBerhältniffe und eine neue Natur. Schon frühzeitig hatte ev fih nad der Lektüre Rouſſeau's mit dem Gedanken getragen, das „Epos des Naturmenfchen" zu ichreiben, eine Schilderung der Sitten der Wilden, von denen er nichts kannte. Jetzt ftand ev auf ihrem Grund und Boden. Fand er fie auch nicht jo ganz unberührt von der Zivilifation, wie er es fich ausgemalt hatte, jo ward es ihm doch nicht ſchwierig, fih ihren urſprünglichen Zuſtand mit Hülfe der Phantafie wieder herzuitellen. Der erſte Eindrud, den er empfing, war eigentlich ein bavoder. Als er mit feinem Führer auf dem Wege von Albany zum Niagara zuerit in den Urwald fan, wirrde er von einer Art Freudenrauſch über jeine Unabhängigfeit ergriffen, welcher etwa dem Gefühl feiner frühejten Jugend glich, wenn ev einfam in den Wäldern der Dretagne jagte. Er ging linf3 und rechts von Baum zu Baum amd sprach zur fich jelbjt: hier giebt es feine Wege mehr, feine Städte, Feine Katjerreiche, Feine Nepublif, Feine Menſchen; er bildete fich ein, allein im Walde zu fein, als ev plößlich auf eine Schar halbnadter, tätowierter Wilden mit NRabenfedern in den Haaren ımd Mingen in der Naſe jtieß, welche — o Wunder! — nach einer Violine Quadrille tanzten; dieſelbe wurde von einem fleinen gepuderten und frifierten Franzofen, der Meuffelinmanjchetten an den Händen trug, gejpielt. Es war der ehemalige Küchenjunge eines franzöfiichen Generals, der von den Indianern gegen eine aus Biberfellen und Bärenjchinfen bejtehende Bezahlung als Tanz- fehrer engagiert war. Das war für einen Schüler Rouſſeau's
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eine demütigende Einführung in das Leben der Wilden: Zeuge zu werden zu diefem Tanz der Irokeſen nach der Mufif eines früheren Küchenjungen! Glücklicherweiſe waren die fpäteren Eindrüde reiner und jchöner als diefer. Chateaubriand Faufte von den Indianern Kleider und Waffen umd führte, zum mindeften einige Wochen, dasfelbe Leben wie fie. Ex ließ fich dem Sachem oder Oberhaupt der Onondagen vorftelfen (mie Byron ſpäter Alt Paſcha), ritt zu Pferde durchs Land, wo zu— weilen ein ganz europätjches Landhaus mit Klavier umd Spiegeln gleich in der Nähe einer Syrofefenhütte lag, ſah den Niagarafall und befam in zwei hübſchen Floridamädchen vom Stamme der Musfogulgen die Modelle zu feinen fpäteren, berühmten Geſtalten Atala und Celuta.
In Amerika faßte Chateaubriand den Plan zu feinen beiden bewunderungswürdigen und glänzenden Epifoden „Atala“ und „René“ und zu der ebenfo weitläufigen wie ftillofen Arbeit, zu welcher beide gehören, dem viel fpäter herausgegebenen großen Noman „Les Natchez“*, welcher den Untergang eines Indianer— ftammes im Kampf gegen die Weißen jchildert. „Atala“ wünſchte er zuerjt eine abgerundete Form zur geben. Nach Furzem Aufent- halt in Frankreich, wohin ihn die Nachricht vom Sturz des Königtums und der bedrohten Stellung Ludwigs X VI. zurüd- gerufen hatte, und wo er im Januar des Jahres 1792 anfam, wanderte er wieder aus, fam nach London, entwarf „Atala“ und „René“ unter den Bäumen des Kenfington-Parfes fitsend und ftieß dann zum Gmigrantenheer am Nhein. Sein Torniſter war Schwerer von Manuffripten als von Wäſche. Atala wurde an den Naftorten des Marfches durchgejehen, beim Aufbruch) wieder in den Tornifter gepadt, und feine Kameraden nedien ihn dadurch, daß fie die Blätter, welche oben zwijchen den Deffnungen herausſahen, abriffen. Als ihn eines Tages bei einem Treffen ein Granatjplitter am Schenfel verwundet hatte, zeigte e3 fich, daß „Atala“ ihm das Leben gerettet hatte, denn zwei matte Kugeln hatten fich innerhalb des Tornijters im Manuffript verfangen. Verwundet, fieberfranf, ausgezehtt, kam ev nad) Vernichtung des Emigrantenheeves in Brüfjel an. Inzwischen war fein Bruder, deffen Fran und Schwieger-
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vater auf dem Schaffot in Paris geftorben, feine Mutter und zwei feiner Schwejtern, darunter Lucile, wegen jeiner Emigra- tion einige Zeit ins Gefängnis geworfen. In London gab er 1797 jein Buch „Essai historique sur les Revolutions’” in verhältnismäßig liberalem und unftreitbar freidenkeriſchem Geiſt gefchrieben, Heraus. Aber der Tod feiner Mutter, jagt er, ließ ihn zum Chriftentum zurückehren; ein Umfchlag im HZeitgeift trug vielleicht Das feine dazır bei, feine Stimmung zu ändern, und als er fich im Jahre 1800, nachdem Bona— parte die Revolution beendet hatte, nach Frankreich zurückwandte, da führte er fein großes Werk „Der Genius des Chrijten- tums“ mit fih, in diefem wurde „René“ als Epifode auf- genommen. Die Herausgabe desjelben fiel mit Napoleons Wiedereinführung der chriftlichen Gottesverehrung in Frankreich zufammen. Dies Buch ftimmte nur allzugut mit den Plänen des erſten Konfuls überein, um nicht feinen Verfaſſer beim Herrfcher in Gunſt zu bringen.) Doc trennte ſich Chateau- briand nach dem Yuftizmord des Herzogs von Enghien im Jahre 1804 wieder von feiner Regierung.
Das find die Hauptzüge aus der Yugendgefchichte des Mannes, welcher im Fahre 1800 als Verfaſſer der „Atala“ Dichterruhin gewann. Sein Charakter war noch eigentümlicher als feine Gejchichte. Er war ehrliebend und ehrfüchttg, eitel und jchüchtern, ftetS an feinen Fähigkeiten zweifelnd und doch nicht nur mit dem Selbftgefühl des Genies ausgerüftet, fondern auch mit einem Egoismus, der alles in den Abgrumd der Stleichgültigfeit ftieß, was nicht unmittelbar ihm felbjt diente. Er war zu fpät zur Welt gefommen und unter zu eigentüm- lichen Umftänden erzogen, um Glauben an die Revolution und das Syitem der Ideen des 18. Jahrhunderts, welches ihr die Fafjung gab, hegen zu fünnen. Er war zu früh zur Welt gefommen, um die Wiffenschaftlichfeit des 19. Jahr— hundertS zu erleben und dadurch einen neuen Glauben und einen neuen Anhaltepunft zu gewinnen. So wurde er per- ſönlich ein vollftändiger Nihilift, ein Geift, der, wie er es
*) Bol, Bd. 3: Die Reaktion in Frankreich, 5. Aufl. 1897. Kap. 4
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immer wieder ausſprach, an nichts glaubte; ev fügt wohl ſtets, wenn ev e3 nicht vergißt Hinzu „die Neligion aus- genommen“; aber ein Menjch ift nad feinem Wefen entweder ein Gläubiger oder ein Zweifler, und durch Halbbildung her— vorgerufene Einbildung nur ift es, daß man in dev Religion allein glauben fünne und fonft an Nichts.
Chateaubriands Memoiren find voll von derartigen Aus- brüchen über eines Namens und eines Ruhmes Vergänglich— feit und Nichts, die man fpäter jo häufig bei Byron findet.
Zweifelsohne liegt in diefen Ausbrüchen ein gut Teil Affet-
tation, aber troßdejjen verrät fich auch wirklicher Lebensüber— druß und eine bejtändige Melancholie darin. „Da ich an nichts glaube, ausgenommen in der Religion, jo bin ich gegen alles mißtrauiſch ... Die unbedeutende und lächerliche Seite der Dinge zeigt ji) mir ſtets zuerjt; im Grunde genommen, exi— jtieren für mich weder große Genies noch großartige Gegen- fände... In der Politif hat die Wärme meiner Ueber- zeugung jelten länger gewährt, als meine Rede oder meine Brochüre lang war... Ich kenne in der ganzen Weltge- Ihichte feinen Ruhm, dev mid) veizen könnte; wenn der größte Ruhm der Welt zu meinen Füßen läge und er wäre mein durch Bücken und Aufheben — ich würde mir nicht dieſe geringe Mühe geben. Hätte ich mich jelbjt erjchaffen können, jo hätte ich mich vielleicht aus Yeidenjchaft für Frauen zum Weibe gemacht; oder wenn ich mich zum Manne gemacht hätte, jo würde ich mir zuerſt Schönheit gegeben haben, danı, um mich gegen meinen ärgſten Feind, die Langeweile zu jchügen, hätte ich noch ein großer Künjtler fein mögen, aber ein un- befannter, der fein Talent nur für jich jelbjt verwertet. Führt man das Leben auf feinen wahren Wert zurüd, und macht man e3 von allem Humbug frei, jo findet man nur zwei Dinge von Wert, die Religion im Verein mit der Intelligenz, unt die Liebe im Verein mit der Jugend, das heißt, Zukunft und Gegenwart, an den Neft zu denfen ift nicht dev Mühe wert... Außerhalb der Religion habe ich feinen Glauben. Wenn ic) Hirte oder König geweſen wäre, was hätte ich mit meinem Szepter oder Stab anfangen jollen? Ich wäre der Brandes. Hauptftrömungen. I. Emigrantenlitteratur. 3
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Ehre und des Genies, der Arbeit und der Mühe, des Glückes wie des Unglüces gleich überprüjfig geworden. Alles ermüdet mich: ich fchleppe meine Langeweile mühjam mit mir herum, wie auch die Tage gehen, und fo durchgähne ich mein ganzes Leben (et je vais partout bäillant ma vie.“) Me&moires d’Outre-Tombe. I. pag. 207. 451. II. 129.
Wieviel Leidenſchaft war nicht auf Phantajtereien und poetifche Träume verjchwendet worden, bevor Chateaubriand zu diefer dummen Langeweile gelangt! In „Atala“ fprudelt die Leidenschaft noch als eine warme Quelle, aber deren Tropfen haben einen brennenden, verzehrenden Charakter.
Der alte Indianer Chactas erzählt einem jungen Franzoſen, dem Chateaubriand feinen zweiten Vornamen Nene gegeben hat, die Gefchichte feiner Jugend. Er ift von einem feindlichen Indianerſtamm gefangen und zum Feuertode verurteilt worden; da faßt des Häuptlings Tochter, Atala, Mitleid fir ihn und nähert ſich der Stelle, an welcher er angebunden fteht. Er hält fie zuerjt für „la vierge des dernieres heures“, welche den Kriegsgefangenen vor Vollſtreckung des Todesurteils zu: geführt wird, aber ihre Abficht ift nicht, ihn zu tröften, jondern ihn, wenn möglich, zu befreien. Er wird von Liebe zu ihr ergriffen und fordert jie auf, mit ihm zu fliehen und fein Weib zu werben, aber fie will es nicht und er wird, durch ihren Wideritand aufgehalten, zum zweiten Male gefangen. Schon it er mit Blumen befränzt, blau und rot im Antlitz bemalt und mit Perlen in den Ohren geſchmückt, um verbrannt zu werden, da flüchtet Atala zum zweiten Male mit ihm. Der Hauptinhalt des Buches ift die Beschreibung dieſer Flucht, Chactas Berlangen und Atala's jonderbares Gemisch ‚von Leidenjchaft und Zurüdhaltung, ſodaß fie abwechjelnd lautere Hingabe und lauterer Widerftand iſt. Ihr Weſen wird auf- geklärt, al3 fie Chactas mitteilt, daß ihre Mutter, welche von einem Weißen verführt worden, fie chrijtlich Habe taufen und geloben laſſen, bis zu ihren Tode unverheiratet zu bleiben. In ihrer Verzweiflung über dies Gelübde und in ihrer Angit, es nicht halten zu Können, nimmt Atala heimlich Gift und giebt ihren Geift in den Armen ihres Geliebten auf, unter-
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fügt von emem alten Mifftonar, dev das junge Baar in jeiner Hütte aufgenommen bat.
Man muß jelbjtverftändfich die Erzählung jelbjt leſen, um den vollen Eindruck ihrer brennenden Leidenschaft und ihres lyriſchen Fluges zu erhalten. Cbenjowenig kann man durch Neferate und Citate eine VBorjtellung von der Kraft geben, mit der die ſeltſamen Naturſchilderungen gemalt find. Aber das ijt feicht nachzumeifen, daß Chateaubriand vorzugsmweife und un- willkürlich ein Gemiſch von Erotifchem und Entjeglichem als Wirfungsmittel anwendet. Syn der eigentlichen Liebesſzene geht er nicht nur verſchwenderiſch mit dem Lärm der Rlapperjchlangen, dem Heulen dev Wölfe, dem Brüllen der Bären und Fleinen Tiger al3 Begleitung um, jondern er läßt auch einen Sturm daherbraufen, welcher die Bäume frachen macht, eine undurch- dringliche Finſternis fich hevabjenfen, welche zumetlen von Bligen zerriffen wird, die einen Waldbrand entzünden. Rund um die Liebenden brennen hohe Fichten als Fadeln zu ihrer Hochzeit, Atalas Widerftand ijt im Begriff zu unterliegen, da fährt ein mahnender Blitz zu ihren Füßen nieder. Hiernach gejchieht es, daß fie Gift nimmt, und in ihren letten Worten an Chactas fcheint der Brand der Leidenjchaft den Waldbrand in der Natur fortzufeßen:
„Welch eine Dual, dich ſtets um mich zur erblicen, fern von der Gemeinschaft der Menſchen in der tiefen Einſamkeit der Steppe, und zwijchen uns Beiden eine unüberjteigliche Scheidewand errichtet zu jehen! Mein Leben zu deinen Füßen zu verleben, div als Sklavin zu dienen, in einem unbekannten Winkel der Erde dein Mahl und dein Lager zu bereiten, wäre für mich das höchſte Glück geweſen; dieſes Glück jtand vor mir, umd ich konnte es nicht genießen! Welche Pläne habe ich nicht erfonnen! Welche Träume tauchten nicht auf im Die jem betrübten Herzen! Oft, wenn ich meine Augen auf dic) beftete, gab ich mich ebenſo wahnjinnigen als jündhaften Wünfhen hin; bald wollte ich mit div das einzige lebende Geſchöpf auf Erden fein; bald aber fühlte ich die Gottheit, welche ſich zwifchen dieſe entjeglichen Verzückungen drängte, und num wünſchte ich, dieſe Gottheit möge fich vernichten, wenn
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ih nur, don deinem Arm umfchlungen, mit den Trümmern Gottes und der Welt aus einem Abgrund in den andern hinab- gerolltuwinel 2...
Sp original diefe Ausbrüche rückſichtsloſer Leidenſchaft auch find und jo original die Szenerie auch ift, welche das Relief abgiebt, fo fühlt man doch, jolhe Töne, ſolche Schilde— rungen wären unmöglich gewejen, wenn nicht Nouffeau vor- angegangen wäre und wenn jeine dichterifchen Verſuche nicht von einem anderen größeren Geifte außerhalb Frankreichs fort- gejetst worden wären.
Rouſſeau's „Neue Heloife“.
N) —
2.
Rouſſeau's „Neue Beloife.“
Das bedeutendſte Werk, das Rouſſeau als Dichter er— ſchaffen hat, iſt , Die neue Héloiſe“. Es iſt dies Buch, das übrigens einen entfernten Vorläufex in des Abbe Prevoft treff— fiher Erzählung „Manon Lescaut“und näherliegende Voraus— jegungen in Richardſon's englifchen Romanen hat, deſſen Ideen, wie vom Winde getragene Samenförner, fih nah Deutjch- land verpflanzen und „Werther“ hervorrufen. Die Werther: gejtalt wächſt, erleidet eine Umbildung und wird zu „Fauſt“, und aufs neue ftrömen jene Gedanfen und Gefühle über die Grenze Frankreichs zurüd, und auf franzöſiſchem Boden heißt die Flut „Rene“.
Was war das Neue in Rouſſeau's „Heloife"? Seine Stichwörter waren Natur und Leidenschaft, Natur und Tugend. Darin liegt für uns nichts neues. Der Stoff des Buches it eine Liebesgejchichte, und deren. hatte man in Frankreich ihon viele gefchrieben. Das Neue bejteht zum erſten darin, daß Rouſſeau's „Heloife" der Galanterie, und damit der Auffaffung der Gefühle in der ganzen Elafjifch- oratoriichen Periode, ein Ende macht. Dieſe Auffaffung war, daß alle edlen und-zarten Gefühle, und vor allem die Liebe, Zivilija- ttonsprodufte ſeien. Es liegt auf der Hand, daß eine gewiſſe Kultur erforderlich ift, ehe ein Gefühl wie Liebe entjtehen kann. Ehe es weibliche Gewänder gab, gab es feine Frauen, jondern nur Wefen feminini generis, und ehe es Frauen gab, gab es feine Liebe. Bon diefem am fich vichtigen Gedanken aus- gehend, war jene Zeit, welche man das Zeitalter Ludwigs XIV. nennt, jet zu dem Nefultate gelangt, daß alles, was die nadte Leidenschaft verhülle, fie vecht eigentlich adle und ihr Wert gebe. Je verfchleierter und umjchriebener, je jorglicher vor- bereitet, je feiner angedeutet fie auftrat, dejto Minder erjchien fie brutal. Die Sitten und die Litteratur jener Zeit waren
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ja ein Produft gefellfchaftlicher Bildung, und diefe Bildung erſtreckte fi nur auf die höchſten Kreife.
Die Männer aus der Zeit Ludwigs XII. waren im Eifenharnifh auf gepanzerten NRoffen in Negen und Schnee auf Durchweichten Berg- und Flußpfaden umbergetrabt. Des— halb zogen fie und ihre Söhne, al$ fie ihre alten, abjeits ge- legenen Nitter- und Nänberburgen verließen, um ſich nach Berfailles zu begeben, einen vegelmäßigen Garten dem wilden Walde, eine ausgefuchte Etifette der Sprache des Soldaten- lebens, und in der Tragödie, im Noman und in der Iyrifchen Poefie eine gejchliffene Form und zivilifierte Gefühle der Natur und Leidenfchaft vor. Man erreichte in diefem Beftreben einen in der Gejchichte des Geiftes noch nicht dageweſenen Höhe— punkt. Will man ein Beifpiel, jo lefe man einen Roman wie „Die Prinzeffin von Kleve” Es ift unmöglid einen größeren Zartfinn und ein reineres Gefühl für den Adel der Menjchennatur und die Formen, zu welchen diefer Adel ver: pflichtet, zu finden. Oder man nehme, um einen vollfommeren Gegenſatz zur „Neuen Heloife” zu haben, Marivaur’ Theater. Mährend man bei dem jüngeren Erebillon die geniale und dummdreiſte Zrivolität jener Gefellfchaft ungeniert abgemalt findet, giebt uns Marivaux ihre allerfeinfte Blüte, ihre manierierte Grazie à la Parmegianino, ihre ganze Bildung und ihren ganzen Geift jo vollftändig und typifch, daß man den Charakter fofort wieder erfennt, als Alfred de Muſſet viele Jahre nachher in jeinen Heinen Luſtſpielen die EC childerung wieder aufnimmt. Die Liebenden bei Marivaur find "zwei Weſen von gleicher Erziehung und, wohlgemerkt, von gleichem Stande Wir begegnen bier nicht, wie in den Yuftjpielen und Romanen unjeres Jahrhunderts, jenen Patrizierinnen, die einen Plebejer lieben, oder Gejtalten wie den Lakai Ruy Blas, welcher fich der Gunſt einer Königin erfreut. Verkleiden fich bei Marivaux gelegentlich einmal der Herr als Diener und das Fräufein als Kammerfätschen, jo entvecden fie einander gleich unter der Nerfleidung. Dieje zwei Weſen find ferner halb natürlich, halb künſtlich; fie gleichen, wie Paul de Saint- Tictor, jagt, jenen Blumen, deren Säfte aus dem Schooße
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der Natur emporſteigen, aber deren Kelchblätter die Kunſt des Gärtners durch Kreuzung mit willkürlichen Muſtern verziert hat. Sie tragen keine Perrücke, aber ihr Haar iſt gepudert. Sie tragen Paradedegen, aber ſie verſtehen ſie nicht zu ge— brauchen. Ihr Geſpräch iſt ein beſtändiges Suchen und Fliehen, Avanzieren und Retirieren, lauter Anſpielungen und Halbheiten, tauſend Umwege, maskierte Geſtändniſſe und unter— drückte Seufzer: ein Stil von Silber und Seide. Das Geſtändnis ſchwebt auf den Lippen dieſer jungen Mädchen und Wittwen, aber es wird zurückgehalten im Augenblick, da es entſchlüpfen will. Das Sehnſuchtsverlangen des Liebhabers verliert jih in ein jo tiefes Nejpeftsgefühl, daß er jeden Augenblick jtockt, verlegen wird und jchweigt. Die feine Dame bei Marivaux bedarf auch gar feiner ausgejprochenen Erflärung. Wie fie ſelbſt ich beherrfcht und fich wie eine Schaufpielerin hütet, ihre Leidenschaft preiszugeben, jo verjteht fie ein halbes Wort, ein Zittern der Stimme und wendet fidh von den Superlativen der Leidenschaft, von ihrem Aufjchrei und ihrer Selbjtvergefjenheit ab, Wie von einem widerwärtigen umd blutigen Schaufpiel. Das Stüd rüdt daher halbe und ganze Stunden lang nicht von der Stelle. Dieje Naturen find für uns allzu zart und empfindfam. Sie bedünfen ung munder- ih und abjurd, wir fehen fie als Kurioſitäten an, wie man die Mimojen unter den Pflanzen anfieht; aber die Mimofen jind nicht unnatürlich, nur eigenartig, und jene Perjonen jind zwar manieviert, aber nicht affektiert, denn ihr Weſen iſt ihnen natürlich, und fie würden affeftiert fein, wenn fie blindlings losplatzten. Das franzöfiiche Wort Marivaudage beweiſt, daß die Manier Marivanr’ eine große Originalität befitt. Nicht jeden manterierten Künftler gelingt es, die Sprache mit einem Wort zu bereichern, indem er ihr feinen Namen hinterläßt.
Man Hat vielerlei verjchiedene Anjchuldigungen wider die Kunſt und Poefie jenes Zeitalters gerichtet. Man hat gejagt, jie ſei unvolfstümfich, folglich jet fie unmoralifch; denn in unferen Tagen iſt man geneigt, diefe beiden Begriffe mit ein- ander zu verjchmelzen. Aber man darf nicht vergefjen, daß bisher jede ausgezeichnete Kunſt in der Welt ariftofratijchen
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Urjprungs war, die, welche in Athen entftand, nicht minder als die, welche in Florenz entjtand, während die großen demo— fratifchen Gejellfchaften, wie in Nordamerifa, noch feinerlei Kunft hervorgebracht haben. Man darf nicht in die Pedan— terie verfallen, all’ diejenige Poefie zu mißachten, deren Gegen— faß notwendigerweife den Menfchen unferer Zeit und unferer Gefellichaft gefallen muß. in anderer Einwand gegen die Kunft zur Zeit Ludwigs KV. ift der, daß fie fonventionelt jet. Aber deshalb ift fie nicht gering zu ſchätzen. Alle Kunft in der Welt ift fonventionell; wenn das Konventionelle uns nicht verlegt, Fommt es nur daher, weil es uns allzu nehe jteht, um uns zu verlegen. Das Konventionelle bei Marivaur eritreckt fich über fein ganzes Zeitalter.
Jener Zeitgeift drückt einen ganzen Jahrhundert feinen Stempel auf. Wir treffen ihn bei Mozart in einer Figur wie Herline, die feineswegs eine Bauerndirne in Holzichuhen oder von der Art, wie die Öeftalten unſerer norwegijchen Dorf- geichichten ift, jondern kokett und alferliebft, mit hohen Schuhen und roten Abjäßen, den Schäferhut am Arme und ein leichtes Puderwölfchen um ihr Haupt. Wir treffen ihn nicht minder in Watteau's vorzüglichen Bildern. Der Maler der ländlichen Feſte, wie er genannt wurde, hat mit volfendeter Genialität die tändelmde Erotif jener Zeit verherrlicht und verewigt. Aber fehren wir, nachdem wir Zerlines Duett gehört, nachdem wir em Bild von Watteau betrachtet oder ein Stüd von Marivaux gejehen haben, in unfer Zimmer zurück und ſchlagen „Die neue Héloiſe“ auf, fo werden wir eine Veränderung der Sphäre empfinden.
Für Rouſſeau iſt die Galanterie lächerlich. Wie er in allem den Naturzuſtand vorzieht, ſo auch im Erotiſchen, und Liebe im Naturzuſtande iſt ihm eine unwiderſtehliche, gewalt— ſame Leidenſchaft. Wie weit ſind wir hier von jenen zarten Seelenſtimmungen und zierlichen Geſten Marivaux' entfernt, von jenen Szenen, in welchen der Knieende ſelbſt beim Knie— fall nicht eine untadelige Haltung vergaß, während er die Spitze eines Handſchuhes an ſeine Lippen drückte! Saint— Preur, fo ritterlich und fo ſittſam ev ſich beträgt, iſt dagegen
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eine mit Leidenschaft geladene Efeftrifiermafchine, eine Beute der Paſſion, deflamterend, gewaltjam, ſelbſtvergeſſen, und jener erite Kuß im Bosfette von Clarens ruft ein wahres Delivium hervor, ein Erdbeben, einen Flammenzuſtand, als ſei der Blitz herabgefahren, und wie Julie fi) zu Saint-Preux hinbeugt und ihn füßt, Schwindelt ihr auf der Stelle und fie fällt in eine Ohnmacht, die nicht wie in der Perrückenzeit eine Koketterie it, jondern eine Folge der alfüberwältigenden Macht der Leiden: ichaft bei dem jungen gefunden Naturfinde.
Der zweite neue Zug bei Nouffeau ijt der, daß Saint: Preux und Julie nicht von gleichem Stande find. Sie iſt die Tochter eines vornehmen Mannes, er ein armer Hauslehrer, ein Plebejer. Wie in „Werther’s Leiden“, iſt hier mit der Liebespaſſion der Wille des demofratifchen Plebejers gepaart, ji) empor zu arbeiten. Man fieht, wie viel Recht und Uns recht Napoleon hatte, als ev bei feiner Begegnung mit Goethe ihm einen Borwurf daraus machte, daß er im „Werther“ die Liebesgeſchichte mit dem Groll fombiniert Habe, von der arijto- fratijchen Gefellichaft ausgeftoßen zu fein. Man fühlt den fichern Blick des Taktikers in diefem Tadel, aber man wird aus dem Angeführten erfennen, in wie naher Verbindung gleich bon Anfang an das Auftreten der Paſſion in dev Pitteratur mit dem des demokratischen Elementes geftanden hat. Mit einem Worte, die Pafiion felbjt ift demofratifch, die ariſto— fratifche Erotik entwicelt fich fofort zur Oalanterie.
Der dritte bedeutungsvolle Zug in dieſem Buche ijt der, daß, wie die Leidenfchaft an die Stelle der Galanterie und der Standesunterfchted an die Stelle der ariſtokratiſchen Kajten- gfeichheit tritt, jo auch das moralijche Gefühl, ein aus jitt- licher Ueberzeugung entjprungenes Hochhalten der Ehe an die Stelle jener Ehrbarfeit tritt, deren einzige Urſache ein ariſto— fratifcher Stolz, eine gewiſſe Selbjtachtung war, die in der ariftofratifchen Litteratur die Nolle der Tugend jpielte, wenn dort fonft feine Tugend zu finden war. Dies Wort hatte bisher feinen Kurs gehabt. Es ward eine Lofung für Rouſſeau und feine Schule, eine Loſung, die mit dem anderen Feldrufe „Natur“ durchaus nicht in Widerſpruch fteht, da die Tugend
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eben für Rouſſeau ein Naturzujtand if. Man hat gejagt, in Frankreich jet der Ehebruch unter Yudwig XIII. ein Zeit- vertreib, unter Yudwig XIV. eine Negel gewejen, und unter der Negentjchaft eine Pflicht geworden. Rouſſeau bot aljo dem Heitgeift die Spitze, als er ein Buch zur Berherrlichung der Ehe fehrieb. Freilich iſt er fo fehr vom Geifte feiner Zeit angefteckt, daß die Heldin des Buches zu Falle fommt; im übrigen aber hat das Buch die Achnlichfeit mit „Werther“, daß auch hier der eigentliche Liebhaber des Mädchens verluftig geht, indem die Heldin mit einem „Albert“ verbunden wird, der ebenjo untadelig wie unintereffant ift. Es ift lehrreich, einen Typus wie Wolmar aus der einen Pitteratur in eine andere umgebildet zur jehen, ohne daß er fein Gepräge ver- tiert; nachdem er Albert's Rolle im „Werther“ gefpielt hat, taucht er in der dänischen Litteratur als „Eduard“ im „Tage— buch des Berführers" auf. Das moralifche Element, welches bei Rouſſeau als „die Tugend" hervorgehoben und verherrlicht wird, ift dasjelbe, welches ſpäter bei Chateaubriand unter dem Einfluß der religiöjen Neaftion als das veligiös bindende Ver- ſprechen auftritt.
Und dann nod) ein Zug, der lette. Die Loſung „Natur“ iſt ganz buchjtäblich aufzufaffen. Zum erftenmal tritt auf dem Feltlande das eigentliche Naturgefühl im Romane auf und löſt die Liebhaberei für Salons und Gärten ab. Welcher Abjtand von der Szenerie bei Marivaux und Watteau!
In welche Umgebungen ftellt zur Zeit Yudwigs XV. die Poefie und Malerei ihre Perfonen??) Was man unter Lud— wig XIV. in der Baukunſt erftrebt hatte, war das Impo— nierende. Man opferte jogar jede Nücjicht auf Behagen und Bequemlichkeit der falten Prunkſucht und der fteifen Etifette auf. Wer das Schlafzimmer Ludwigs XIV. in Verſailles ge- jehben hat, wird einräumen, daß ihm felten ein unletdlicher gelegenes Schlafgemach vor Augen kam. Jetzt werden die un— bewohnbaren und majejtätischen Säle von den „petites maisons” abgelöft, wie damals jeder Mann von Welt fie bejaß, und in
*) Bol. H. Hettner’s Litteraturgefhichte des 18. Jahrhunderts.
Rouſſeau's „Neue Heéloiſe“. 43
welchen die tändelnde Konverſation und der üppige Leichtſinn ſich ebenſo gut befanden. Daher verſchwinden in der Ärchi— tektur die großen, einfachen Verhältniſſe, die reinen und klaren Maſſenwirkungen. Die Härte und Schwere des Steines wird verleugnet, die Strenge der Linien gebrochen, alles wird rund und ſchwellend, alle Linien werden ausſchweifend und über— mütig. Der Barodftil erreicht ſowohl in der Baukunſt wie in der Bildhauerfunft feinen Gipfel. Ueberall ftößt man auf un- endlich wiederholte Amoretten und Grazien, ganz wie auf den Rupferjtichen zu Voltaire's „Po6sies fugitives”. In den Gärten umarmt der bodsfüßige Pan fcehlanfe, weiße Nymphen am fünftlihen Wafferfalle. In der Malerkunſt entjtehen jene ländlichen Bilder, deren entferntes Borbild Ruben's Liebes- garten 1ft, die aber jtatt feiner breiten Lebenstuft und ſchweren Figuren gleichfam hingehauchte und feine Gejtalten in fofetten Trachten, und jtatt Ruben's derber Einnlichfeit ein erotisches Spiel, ein Liebeln und Flüjtern aufweifen, einen Hintergrund ichattiger Gänge mit ftilfen VBerfteden, mit üppigen Statuen und ſriſchen Nafenteppichen.
Unter Ludwig XIV. war die ganze Tracht ſteif geweſen; man trug große Ueberfchläge und Kragen, ſelbſt die Rock- und Meftenschöße waren gefteift, Halslragen und Manſchetten ge- jtärkt, fo daß nicht eine Falte fich verändern fonnte; die un— bequeme Allongeperrüde machte eine gravitätiſche Haltung zur Notwendigkeit. Unter der Negentfchaft war alles auf Zwang- (ofigfeit und Yeichtigfeit gerichtet. Das fteife Futter der Schöße verihwand, an die Stelle der großen Allongeperrüde trat das gepuderte Haar, ſteif frifiert, jo daß feine noch jo hajtige Bewegung e3 in Unordnung bringen fonnte; überall in Tracht und Benehmen überließ man fich einer gewiſſen Nachläſſigkeit. Man verweilte in Boudoirs. Wie Thee und Kaffee aus dem Drient eingeführt wurden, jo auch das orientalijche Sopha, welches dem jüngeren Erebilfon den Titel für feine befauntejte und berüchtigite Erzählung giebt. Dev weiche Lehnſeſſel ver- drängt den hohen, unbequemen Armjtuhl mit ſchnurgerader Rückwand. Das Zimmergerät beſteht aus ſchweren Seiden— gardinen, welche wollüſtig das Licht dämpfen, aus großen
44 Die Emigrantenlilteratur.
Spiegeln in Goldrahınen, aus veich verzierten Pendeluhren, aus üppigen Malereien und jchnörfeldaften Möbeln. Das ganze Zimmer duftet von einem wollüftigen Parfüm.
Werfen wir hiernach einen Blick auf die Szenerie in der „Neuen Heloife‘.
Das Standbild Rouſſeau's jteht heut zu Tage auf einer kleinen Inſel im Genferſee, deſſen Südſpitze fich hier in den Kanton Genf hineinbohrt. Dieje Gegend ift eine der ſchönſten in der Welt. Geht man ein wenig jenfeitS der Inſel über eine Brüce, fo ſieht man deutlich den Rhonefluß braufend und fchäumend wie einen Trollhättafall aus dem See heraus: ſtürzen. Einige Schritte weiter, und man fieht jeinen weißen Strom mit dem grauen Schneewaffer der Arve zuſammen— treffen. Beide Flüffe laufen neben eimander hin, jeder feine Farbe bewahrend. Weit entfernt fieht man die weiße Schnee- fuppe des Montblanc zwifchen zwei mächtigen Alpenrücken empor vagen. Gegen Abend werden diefe Bergrüden dunkel, und über ihnen jchimmert der Schnee des Montblanc wie bleiche Nofen. Es ift, als hätte die Natur hier all ihre Gegenſätze vereinigt. Selbſt in der mildeften Jahreszeit jpürt man, wenn man fich den braufenden weißgrauen Bergſtrömen nähert, eine eijige Kälte Auf einem einzigen Spaziergange fühlt man an gejchügter Stelle den heißen Sommer, wenige Schritte weiter dem rauhen Herbjt mit fchneidendem Winde. Man macht fich feine Borftellung von der Falten und Fräftigen Frifhe an diefem Orte. An den Süden erinnert die Sonne und das helle Blinfen der Sterne in der Nacht. Es ſieht aus, als fchwebten fie flirrend in der Luft. Und die Luft jelber erregt das Gefühl als ſei es ein jchwerer, ftarfer Körper, den man eimatınet.
Fahren wir nun den See hinauf nach Vevey! Hinter Bevey die Alpenhänge mit den jirdlich frischen Bäumen und Weingärten. Diesjeit des Sees die dunkelblauen viefigen Fels— wände, welche die Ausficht auch nach den Seeufern verjperren, ernst, drohend, indeß die Sonne mit Licht und Schatten an den Bergkanten hinunter fpielt. Kein See ift jo blau wie der Senferfee. Fährt man am einem fchönen Sommertage über
Rouſſeau's „Neue Heloije“. 45
denjelben hin, jo gleicht ex blauem Atlas, welcher in Gold hangiert. Dies Land iſt ein Feenland, ein Traumland, wo mächtige Berge ihren jchwarzblauen Schatten in ein himmel- blaues Waſſer werfen, von dem funfelnden Glanz einer Sonne
-überftvahlt, welche die Luft mit ihren Farben jättigt. Fahren
wir dann den See weiter hinauf bis Montreux! Das Felſen— nejt Chillen, jener Kerfer, in welchem die barbariiche Grau— jamfeit des Mittelalters all’ ihre Marterwerfzeuge gefammelt, hat, liegt draußen im Wafjer. Tiefer Zeuge wilder, gewalt- jamer, furchtbarer Leidenſchaften liegt in einer Natur, die man eine verzanberte nennen kann. Hier ift der See offen, der Anblik minder eigenartig, das Klima jüdländijcher, als bei Vevey. Man fieht gleichjam ein geheimmisvolles blaues Licht, in welchem dev Himmel, die Alpen und der See zujammen- ichmelzen. Noch ein paar Schritte weiter nach Clarens und wir treten in jenen Raftanienhain, welcher bis auf den heutigen Tag „das Boskett Juliens“ heißt. Er liegt hoch oben auf einen Vorfprunge; von hier aus jehen wir Montreux geſchützt und verſteckt drinnen in der Bucht liegen. Werfen wir einen Blick um uns ber, und wir werden begreifen, daß von diefer Stelle aus das Naturgefühl fich über Europa verbreitete. Denn hier ſtehen wir in Rouſſeau's Geburtsland und auf dem Schauplaß feiner „Neuen Héloiſe“. Es war diefe Szenerie, welche die dev Negentjchaftszeit verdrängte.
Wenn wir jett vejlimieren, jo fünnen wir mit Leichtigfeit verfolgen, wie ſich Chateaubriand’S erſte Dichtung zu Rouſſeaus berühmtejten Roman verhält. Bor allen Dingen erbt Chateau- briand die Liebe zur Natur. Die ftark folorierten Schilverungen der Natur Nordamerikas, wie fie zu Ludwigs XIV. Zeiten waren, haben die Schilderungen der Schweizernatur zu Vor— gängern. Aber der Unterjchied zwijchen Rouſſeau's und Chateaubriand’s Landjchaften ift der, daß dieſe fetten weit fubjeftiver, ganz anders von dev Gemütsjtimmung des Helden und der Heldin abhängig find. Iſt Umwetter in ihren Herzen, fo vaft es auch draußen. Die Perjönlichkeit, der einzelne Menſch verfchmilzt hiev ganz anders als in der Literatur des 18. Jahrhunderts mit der ihn umgebenden Natur zujammen
46 Die Emigrantenlitteratur.
und erfüllt fie mit feiner Leidenschaft und feiner Stimmung. — Was Held und Heldin anbelangt, jo find fie als Wilde noch viel weiter von Galanterie entfernt und noch viel mehr Natur- menfchen als die Verliebten bei Nouffeaun. Kommen da auch oft Wendungen vor, die ein Indianer unmöglich hervorbringen fan, jo haben hinwieder auch viele der erotifchen Neplifen etwas von der Poeſie der Wilden, die im 18. Jahrhundert in Sranfreich abjolut unbefannt war. Man lefe z. B. den Liebesgejfang des Kriegers, der mit den Worten beginnt: „Ich will jo jehr eilen, daß ich, bevor der Tag der Berge Gipfel erreicht, zu meiner weißen Taube zwischen den Eichen des Waldes gelange. Ich habe ein Halsband aus Porzellan um ihren Hals gebunden; deffen drei rote Kugeln fprechen von meiner Liebe, die drei violetten don meiner Furcht, die drei blauen von meiner Hoffnung u. |. w.“
Dem Standesunterſchied zwifchen den Geliebten bei Rouſſeau der jo gut zu jener revolutionären Zeit ftimmt, entjpricht hier der Neltigionsunterfchted, der im neuen Jahr— hundert bei der Neaftion gegen Voltaire eine neue Wichtigfeit erhält und hiermit fteht es, wie ſchon angedeutet, in Ver— bindung, daß hier eim Katholisches Cölibatsgelübde diejelbe Nolfe jpielt wie bei Rouſſeau das rein jittliche Gebot. Hier iſt mithin ein Fortjchritt im Kolorit, in der Entwidelung der Perjönlichfeiten, im Berftehen eines der Zivilifatton fremden Volfsgeiftes und einer Nafjeneigentümlichkeit vorhanden, da— gegen ein vorfätlicher Nückjchritt in der Ablöſung der Moral durch Die katholiſche Klofterreligtofität und eine unnatürliche Asfefe. Die Leidenschaft wird fo zu jagen auf dem Altar des Katholizismus gewetzt, und ruft, indem fie unnatürlich unter- drückt wird, jene unnatürlihe Wildheit und Glut hervor, welche Atala, die fanfte, Fromme Atala, dies anmutsvolle junge, chriftliche Indtanermädchen, das unter jo großen Verfuchungen das Verlangen ihres jtürmifchen, heidniſchen Liebhaber jo lange im Zaume gehalten bat, dahin bringt, mit dem Wunfche der Vernichtung Gottes. und der Welt zu fterben, wenn fie dann nur auf ewig an des Geliebten Bruft gepreft bleiben könne.
Goethes „Werther.“ 47
3. Goethes „Werther.“
„Die neue Heloife“ erjchien 1761. Dreizehn Fahre ipäter jhrieb in einem anderen Lande, unter jehr verjchiedenen Um— gebungen, ein junges Genie, das nur wenig mit Rouffeau gemein hatte, von feinem Noman und feinen Ideen beein- flußt, ein Heines Buch, daß alle Vorzüge der „Neuen Heloije“ neben vielen anderen und feinen jeiner Mängel befaß, ein Buch, das nicht Taufende, jondern Millionen von Gemüter er- regte, ganzen enerationen eine lebendige Begeilterung und eine leivenjchaftliche Sehnjucht nach dem Tode einflößte,- eine nicht geringe Anzahl Menjchen zur Empfindjamfeit, zur Ver- zweiflung, zum träumerifchen Müßiggang und zum Selbjtmorde trieb, und das die Ehre hatte, von der Landesväterlichen dänischen Regierung als ivreligiös verboten zu werden. Dies Buch iſt „Werther“. Saint Preux wechjelte jein Koſtüm und kleidete ſich in die berühmte Werthertracht, den blauen Rock und die gelbe Weſte, und Rouſſeau's „belle ame“ ging als „die ſchöne Seele” in die deutſche Litteratur über.
Was ift Werther? Definitionen erſchöpfen nicht den un— endlichen Neichtum eines dichterifchen Meiſterwerks, aber man fann mit ein paar Worten jagen, daß diefe Gejchichte einer leidenfchaftlichen und unglücklichen Liebe ihre Bedeutung darin hat, daß fie nicht blos die zufällige Yeidenjchaft und das zu— fällige Unglüc eines einzelnen Individuums ausfpricht, jondern jo behandelt ift, daß die Leidenfchaften, Sehnfuchten und Qualen einer ganzen Epoche ihren Ausdrud darin fanden. Der Held der Erzählung it ein junger Mann von bürger- licher Herkunft, welcher zum Maler veranlagt ijt und die Mal- funft aus Neigung betreibt, in feiner äußeren Stellung jedoch Gejandtichaftsjefretär it. Diefen Jüngling hat Göthe unwill— fürlich nad) feinem eigenen Jugendbilde gejtaltet, er Tieht, fühlt und denft mit feiner ganzen reichen und jprudelnden Gentalität wie der junge Goethe, und dadurd, verwandelt ſich
48 Die Emigrantenlitteratur.
Werther in ein großes Sinnbild: er ijt mehr als der Geijt einer neuen Zeit, er ift das Genie einer neuen Zeit. Er ift fat zu reich und groß für fein Gefchie veranlagt. Es exiſtiert vielleicht fogar eine gewifje Nichtübereinjtimmung zwijchen dem erften Teil des Buches, wo ſich Werther's Geiſt in feiner energiichen Gejundheit und Jugendkraft offenbart und dem zweiten, in dem ev unterliegt. In der erjten Hälfte hat Werther mehr von Goethe jelbjt, der ſich ja auch nicht tötete, in der zweiten Hälfte mehr von dem jungen Jeruſalem, deſſen unglüclichev Tod die Veranlafjung zu dem Buche gab. Aber jo wie Werther ift, ift er dennoch ein Typus. Werther ijt nicht nur durch feine Leidenjchaftlichkeit ein Naturwefen, er tft Natur in jenem befonderem Sinne, in dem das Genie eS ift. Indem er jich in dev Natur verliert, fühlt er das ganze un: endliche Leben der Natur in ſich und fich dadurch „vergüttert”. Man leſe 3. DB. Werther’S bewunderungswürdige Tagebud)- Aufzeihnung vom 18. Auguft 1771. Site iſt mächtig und genial wie ein Monolog aus Fauſt. Mean leje diefe Schil- derung, wie fich vor ihm „das innere Leben der Natur” er: öffnet, wie er „alle die unergründlichen Kräfte in den Tiefen der Erde wirken und ſchaffen“ fieht, wie er danach ſchmachtet, „aus dem fchäumenden Becher des Unenplichen jene jchwellende Lebenswonne zu trinfen und nur einen Augenblid in der ein- gefchräntten Kraft feines Bufens, einen Tropfen der Seligfeit des Weſens zu fühlen, das alles in fid) und durch fich her- vorbringt”, dann wird man verftehen, wie er, als er fich wie ein Eingejperrter zu fühlen beginnt, der feinen Ausweg jieht, von einem brennenden, ſozuſagen pantheiftifchen Verlangen ergriffen werden kann, fein Menfchendafein von fi) zu werfen, um „mit dem Sturmwinde die Wolfen zu zerreißen, die Fluten zu faſſen“ — und dann wird man das Berechtigte in dem Ausrufe fühlen, mit dem er ftirbt: „Natur! dein Sohn, dein Freund, dein Geliebter naht fic) feinem Ende.“
Es iſt unumgänglich, daß eine Seele, welche jo großen Plaß heifcht, in der engen Gejellichaft Anſtoß erregen muß, befonders wie fich diefe nach feſten Negeln gegen den Schluß des gefellichaftlichften aller Jahrhunderte geordnet hatte.
Goethes „Werther“. 49
Werther verabjheut die Regel auf allen Gebieten. In jener Zeit, wo die Poefie von Regeln umfpannt war, führt er all diefe Negelm darauf zurüd, „daß man das VBortreffliche erfenne und e3 auszusprechen wage.“ Und Künftler, dev er iſt, hat er ebenjo Feterijche Anfichten von der Malerei wie von der Poefie. Er trifft einen jungen Berufsgenoffen, der eben von der Akademie fommt und „viel Wilfens vor ihm auskramt, von Batteux bis zu Wood, von de Piles zu Winfelmann und Sulzer.“ Diefer Burfche iſt ihm ein Greuel. „Die Natur allein,“ jchreibt er, „bildet den großen Künſtler. Man fann zum Borteil der Kegeln viel jagen, ungefähr was man zum Lobe der bürgerlihen Sejellfhaft jagen kann. Ein Menſch, der fich nach ihnen bildet, wird nie etwas Abgeſchmacktes und Schlechtes hervorbringen, wie einer der Sich durch Geſetze und Wohlitand modeln läßt, nie ein unerträglicher Nachbar, nie ein merfwürdiger Böjewicht werden fann; dagegen wird aber auch alle Negel, man rede, was man wolle, das wahre Gefühl von Natur umd den wahren Aus- druck derjelben zerjtören!” In diefem Hafje Werthers gegen die von außen gegebenen Regeln liegt auch fein Abjcheu für alle Runftausdrücde auf dem Gebiete der Schönheit, wie auf dem fozialen. Deshalb knirſcht Werther vor Exbitterung mit den Zähnen, wenn der Fürft, der wenig Schönheitsſinn beſitzt, im Geſpräche mit ihm über Kunft, nach einer warmen Dar- jtellung Werthers, um es reiht gut zu machen, „mit einem geftempelten KRunftworte drein jtolpert." Deswegen wird ev in den Gejprächen mit Albert über das fertige Negijter von Geſellſchaftsurteilen entrüftet, welches diefem zu Gebote fteht: „Daß ihr Menfchen,“ vuft er aus, „um von einer Sache zu reden, gleich ſprechen müßt: das ift thöricht, das ift flug, das ift gut, das ift bös! Und was will das alles heißen? Habt ihr deswegen die inneren Verhältniſſe einer Handlung erforſcht? wißt ihr mit Beftimmtheit die Urjachen zu entwiceln, warum jie geſchah, warum fie gejchehen mußte? Hättet ihr das, ihr würdet nicht jo eilfertig mit euren Urteilen fein.“ Des» halb empört ihn die Pedanterie des Gefandten, wenn dieſer ihm Depefchen eines veineren Stiles halber zurückgiebt, des— Brandes, Hauptftrömungen. I. Emigrantenlitteratur. 4
50 Die Emigrantenlitteratur.
halb wünjcht er alles Unglück über den theologiichen Blau- ſtrumpf, der die ſchönen Nußbäume im Garten des Pfarr- haufes hat umbauen laffen, deshalb wird er mit einem Worte tiefer al3 es vernünftig iſt, von allen Prätenfionen toten Wifjfens, von allem Leblofen und feierlichen Formweſen, allen Forderungen der Gejellfchaftsrangordnung in Bezug anf Unter: ordnen und Gehorchen verlekt.
Er nimmt dann feine Zuflucht zu den Kindern, welche feinem Herzen auf Erden am nächſten jtehen und zu ven geringeren Leuten, denen wahre Gefühle und wahre Leiden— ichaften eine Schönheit verleihen, die in jeinen Augen durch nichts übertroffen werden fann. Er braucht daher auch nur die Mädchen zu beobachten, welche Waffer vom Brunnen holen, um an die Tage der Patriarchen, an Nebeffa und Eliezer er- innert zu werden, und nur felbjt feine Zuckererbſen zu fochen, um in der Erinnerung an jene homerische Zeit zu leben, da die übermütigen Freier der Penelope jelbft ihre Ochjen und Schweine zerlegten und brieten. Die Natur bezaubert und entzüct ihn. Wenn er fein Chrift ijt, wenn er, wie er ſich ausdrückt, nicht zu denen gehört, welche dem Sohne gegeben find, weil fein Herz ihm fagt, daß der Vater ihn für fich be- halten will, fo beruht dies darauf, daß der Vater für ihn die Natur, und diefe fein Gott ift.
Wohin er ſich wendet, überall jtößt ev in der Gefellfchaft, wie fie durch Falte umd fteife Negeln verjtändig geordnet ift, an. Er wird auf Fränfendfte Weife aus einer vornehmen Ge— jellfchaft gewiejen, nur weil er, der Bürgerliche, ohne ſich et- was dabei zu denken, im Saale bei feinem Vorgeſetzten jtehen geblieben tft, als fich ein Kreis Ariftofraten am Abend ein- findet. Er, der ſelbſt heiß und umglüclich liebt, interefjiert ih für die Nettung eines Unglüclichen, den eine unüber— windliche und nicht unerwiderte erotiiche Yeidenschaft zu einem Notzuchtverfuh und zum Morde eines Nebenbuhlers getrieben hat, und er wird nicht allein von den ftrengen Vertretern der Ordnung abgewiejen, fondern ift fogar nach dem Geſetze ver- pflichtet, gegen denjenigen zu zeugen, den er jo herzlich gern beihüten und retten möchte.
Goethes „Werther“. 51
Und all diefes jind jogar nur Nebenfächlichfeiten. Das Mädchen, welches er Liebt und das er, wenn die gejelfichaftliche Ordnung nicht dazwiſchen ftände, leicht gewinnen fönnte, iſt die Braut eines anderen. In diefem letzten Konflikte bricht jein Herz.
So jhildert dies Buch das Recht und das Unrecht des vollen Herzens gegenüber den trivialen und jtarven Negeln des verftändig georoneten Alltagslebens, feinen Unendlichkeitsdrang, feinen Freiheitsdrang, der das Leben als einen Kerfer und alle Scheidewände der Gejellichaft als Kerfermauern empfindet. Alles, was die Geſellſchaft bietet, ift, wie Werther jagt, die Erlaubnis, fih die Wände, zwifchen denen man gefangen jißt, mit bunten Gejtalten und lichten Ausfichten zu bemalen. Aber die Wände jelbjt werden dadurch nicht zertrümmert. Darum dies Nennen mit der Stirn wider die Wand, dies lange Jammern, dieſe tiefe Verzweiflung, welche nur ein Piſtolenſchuß ins Herz lindern fan. Napoleon warf, als er die befannte Begegnung mit Goethe hatte, diefem vor, daß er die Liebes- gejhichte mit dem Mißverhäftnis zur vornehmen Gejellichaft verbunden babe;*) aber wie man fieht mit Unvecht; denn dieſe beiden Verhältniffe greife ineinander ein und bringen die Idee des Buches zum Ausdrud.
Hier wird nicht, wie in der „Neuen Heloije“, der Sieg, der Tugend und der deijtiichen Religioſität über den Natur- trieb und die Paſſion, jondern der Fatalismus der Leidenjchaft dargejtellt; mit fataliſtiſcher Notwendigkeit geht im dieſer Herzenstragddie die regel- und zügelloje Yeidenjchaft zu Grunde.
Im Jahre 1774 alſo erjchien dies Buch, dejjen Schluß ® blätter nicht von Goethe erfunden find. Sie jind mit dem Rechte, das jeder jchaffende Geiſt bejitt, jein Eigentum zu nehmen, wo er es findet, wörtlich aus einem Manuſkripte ab- gejchrieben, welches das Ende des jungen Jeruſalem behan- delt. Das Manuffript iſt in Keſtner's Buch über Goethe
*) Bgl. Edermann’s Geſpräche m. Goethe. Herausg. v. A. vd. d- Linden. 3. Aufl. Bd. 3 pag. 22. 23. (Leipzig, Verlag dv. 9. Barsdorf, 1896. Preis M. 3.20.)
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und Lotte abgedrucdt. Nur ein einziges Wort hat Goethe als vulgär und übelflingend verändert: Im Manuffripte jteht: „Barbiergejellen trugen ihn.“ Das Buch fchlieft jo: „Handwerfer trugen ihn; fein Geiftlicher hat ihn be- gleitet.” In feiner fehneidenden Kürze fpricht diefer Saß aus, daß ein Leben geendet ift, das im Kampfe mit fich jelbjt und der Geſellſchaft, tötlich verwundet in jeinen Sympatieen und Beitrebungen, unterlag. Handwerker trugen ihn; denn Die bürgerliche Geſellſchaft bielt ſich phariſäiſch zurüd. Kein Geiftlichev begleitete ihn; denn er war ein Selbftmörder und hatte jede Firchliche und religiöſe Verpflichtung gebrochen. Aber er Tiebte den gemeinen Mann und verfehrte mit den Un— gebildeten, darum folgten ihm diefe zum Grabe.
Federmann weiß, welchen Schwall empfindfamer Schriften dies Buch erzeugte, wie viele thränenveiche Romane von dem— jelben abſtammen, wie feine Gefühlsweichheit bald, wie bei Clauren, bei Yafontaine oder dem Dänen Nahbef, zur plumpften Sentimentalität verdict, bald zur ſublimſten pla- tonifchen Schwärmeret verdünnt wurde, wie in Ingemann's früheften Dramen und Nomanen — man vergleiche bejonders die direfte Nachahmung Werther’s in „Warner's Wanderungen“. Allein „Werther“ ſelbſt ift daran unfchuldig; denn die Ver— junfenheit in Gefühlsichwelgerei ift nur die eine Seite des Buches. Aus derfelben, inmitten derjelben jprudelt ein jo ge- jundes Natur- und Lebensgefühl hervor, ein jo Fraftvoller und revolutionärer Zorn über die Gejellfchaftsfonventenz, die ariſto— fratifchen Vorurteile und die Pedanterie des Gejchäftsiebeng, daß der Haupteindrud des Buches der Drang nad Ur— ſprünglichkeit und Poefie ift, den fie fchildert, weckt und be— friedigt.
Welcher Fortfchritt ift hier feit der „Neuen Heloife” ge- macht!
Sm übrigen ift in diefem Buche ein noch veineres, tieferes, genialeres Gefühl für die Naturumgebung und die Landichaft als bei Rouſſeau; der Unterfchied in der Naturauffafjung ift dadurch bedingt, daß ein großes litterarifches Ereignis in die Zwiſchenzeit fällt, die Herausgabe Oſſian's, welche einen jo
Goethe's „Werther“. 53
ungeheueren Eindruck machte. Es iſt bekannt, wie der ſchottiſche Barde ſelbſt das harte Herz Napoleon's ſchmolz, ſo daß der— ſelbe ihn hoch über Homer ſtellte. Damals glaubte man noch an Oſſian's Echtheit, und die Zeit war noch nicht gekommen, wo man fi) von diejen Dichtungen mit demſelben Aerger und MWiderwillen abwandte, den eine Gejellihaft empfindet, wenn fie fih in einem Garten durch die Töne einer Nachtigall zur Schmärmerei verloden ließ und dann plöglich im Strauchwert einen nichtsnutzigen Jungen entdeckt, welcher die Nachtigali jpielte. Es glückte Macpherfon in den Herzen feiner Zeit: genojjen den Homer zu verdrängen. Er beeinflußte auch Goethe. Deshalb wird hier im „Werther“ die gejunde homertjche Naturanſchauung, melche in der erjten Hälfte des Buches bericht, allmählih von den unruhigen oſſianiſchen Nebel— bildern verdrängt, welche der jteigenden Kränklichkeit, der Un- ruhe und Lyrik der Leidenjchaft entjprechen.
Nur unficher wird in Rouſſeau's Noman die weibliche . Hauptfigur gezeichnet. ES fehlt dort, wie fajt überall in der franzöfifchen Poeſie, die Naivetät der Weiblichkeit. Julie iſt eine Elafjische VBorläuferin der Heldinnen in Balzac's Romanen. Wie unendlich jteht fie an wahrer und echter Leidenjchaft ihrer Namensverwandten, der wirklichen Heloije, nah! Wie tief empfunden ift jedes Wort bei diejer, die Liebesergüffe eben jo wohl wie die Ergüffe der Nefigiofität, und wie falt jind Juliens gedrechjelte Perioden! Jeden Augenblick verfällt ſie in Dekla— mationen iiber die Tugend und über das höchſte Wejen, das fie philofophifch den Urquell des Lebens nennt. Sie ergeht fih in Säten, wie folgenden: „In dem Grade jind alle menschlichen Angelegenheiten ein nichts, daß es, mit Ausnahme des Weſens, das durch fich ſelbſt exiftiert, nichts Schönes giebt, außer dem, was nicht iſt“ — jie meint unſere Chimären, Julie väjonniert und deklamiert. Wie naiv und natürlich er— Scheint im Gegenſatze zur ihr die fräftige Charlotte, z. D. in jener erſten Situation, wo fie Brot für ihre fleinen Geſchwiſter ſchneidet! Wenn bei ihr etwas über die Linie des Natürlichen hinausgeht, jo fündigt fie nicht durch jtelzenhafte Deflamation, Sondern durch einen Anflug jentimentafer Schwärmerei, wie in
54 Die Emigrantenlitteratur.
der Szene, wo ihre und Werther's Gedanken fich begegnen, indem fie fehweigend das Wort „Klopſtock“ mit ihrem Finger an die bethaute Fenſterſcheibe jchreibt.
Und von Saint-Preux bis Werther ift der Fortjchritt ebenfo groß. Vielleicht erfennt man bereits, welchen neuen Charafterzug die Hauptfigur dadurch gewonnen bat, daß fie über den Rhein ging. Saint-Preux war noch, wie der Name ſchon andeutet, das vitterliche deal. Goethe der Dichter der modernen Zeit, macht dem ritterlichen deal ein Ende Es jet hier nur darauf hingewieſen, wie in feinen Helden alle Eigenschaften der Nitterzeit, zuerjt und zuvürderft der körper— liche Mut, deſſen Darftellung niemals feine Wirkung auf naive Lefer verfehlt, völlig bei Seite gefchoben find. So im „Werther,“ im „Wilhelm Meifter," im „Zauft”. Werther iſt fein Nitter, fondern ein Grübler, ein Poet, ein Rhantaft. Berweilen wir noch einen Augenblick bei diefer Geftalt. Werther ift ein Kranker; was fehlt ihm denn eigentlih? Er iſt unruhig und fieberhaft, aber verftehen wir's recht, feine Unruhe ift die der Ahnung, der Ungewißheit, der jchlecht be- grenzten und fchranfenlojen Sehnsucht, aber nicht der Ver— zweiflung und Hoffnungslofigfeit. Er gehört einer Zeit an, welche ahnt und verfündigt, nicht einer Zeit, welche vefigniert und verzweifelt. Wir werden ein Gegenftük zu ihm in Chateaubriand's René erbliden. Die Grundguelle von Werther's Unglück ift das Mißverhältnis zwischen der Un- endlichfeit des Herzens und den Schranfen der Gejellichaft. Huerft waren die Helden der Yitteratur Fürften und Könige, ihre Verhältniſſe jtanden in Uebereinſtimmung mit ihrer geiftigen Hoheit Dev Kontrast zwischen Innerem und Aeußerem, zwifchen Verlangen und Macht war unbefannt, Und ſelbſt als die Pitteratur den Kreis ihrer Günftlinge erweiterte, hielt jie jih an diejenigen, welche durch ariftofratiiche Geburt und Neichtum Hoch über die niederen Mühen und Befchwerden des Lebens geftellt waren. Goethe hat im „Wilhelm Meifter“ die Urfache angegeben: „Dreimal glüclih”, jagt ex, „find Diejenigen zu preifen, die ihre Geburt fogleich über die unteren Stufen der Menfchheit Hinaushebt, die durch jene
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Verhältniffe, in welchen ſich manche gute Menjchen die ganze Zeit ihres Lebens abängftigen, nicht durchzugehen, auch nicht einmal als Gäfte darin zu verweilen brauchen. Sie find von Geburt an gleichjam in ein Schiff gejett, um bei der Ueber— fahrt, die wir alle machen müſſen, fich des günftigen Windes zu bedienen und den widrigen abzuwarten, anjtatt daß andere nur für ihre Perſon ſchwimmend jich abarbeiten, vom güniti- gen Winde wenig Vorteil genießen, und im Sturme mit bald erihöpften Kräften untergehen“. Mit beredten Worten wird hier ein einzelner Xebensvorteil, der Neichtum, gepriejen ; Goethe, der oftmals in jeinen Werfen, jo vor allem in „Wilhelm Meiſter“, Lediglich aus Liebe zum Schönen feine Zuflucht zu den höchſten Gejellichaftskreifen nahm, hat mit Schmerz gefühlt, daß das Leben des Plebejers ein Krieg, und der traurigſte von allen, ein Krieg für die Eriftenzmittel ift, daß er auf Gelderwerb jinnen, bejtändig fich der Sparjamfeit befleißigen, und daß feine Frau eine gute Haushälterin fein muß, jelbft wenn fie fonjt eine Mufe iſt. Deshalb fpricht Goethe jo ungezwungen von den Vorteilen des Reichtums. Und was von diefem, von dem vulgärjten der äußerlichen Pebensgüter gilt, das gilt mit noch größerem Gewicht von allen andern äußeren Formen des Glücdes und der Macht.
Setst beim Wechjel des Jahrhunderts ſtoßen wir zum erjten Mal auf diefen Wideripruch: ein Individuum, das in der Welt des Geiftes wie ein Gott und ein König dajteht, das mit Allem ſympathiſch empfindet und durch das Gefühl das ganze Leben des Alls in jich aufnimmt, das nad) dev Wahr- heit verlangt, aber fie nicht erreichen könnte, ohne zugleich Altwiffenheit zu erreichen, in deſſen Herzensforderungen der Anſpruch auf Allmacht liegt, denn allmächtig müßte es jein, um die falte, harte Welt zu einer Welt nach feinem Herzen umbilden zu fünnen, und das zugleich etwa nur wie Werther ein Legations- Sefretär ift mit ein paar hundert Thalern jährlichen Gehaltes, der die Hälfte des Tages im ſeinem Komptoir, d. h. in feiner Heinen Gejelljchaftsrubrif eingeſperrt, ausgefchloffen ſogar von der höheren Geſellſchaft ift, und die ganze Seligkeit feines Lebens in den Beſitz eines Mädchens jegend,
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das ihm dann der erjte, beſte Philifter vor der Nafe weg- fchnappt, und zwar auf folche Art, daß er felbjt im Namen des Nechtes, der Moral, der Vernunft die Berechtigung dieſes Philifters einräumen, ja vieleicht jogar zugeben muß, daß diefer andere ein bejjerer Ehemann werden und Lotte glücklicher machen wird, als er. Was ift doch das? Paßt denn die Liebe nicht für die Ehe, das Individuum nicht für die Ge— ſellſchaft, das Herz nicht zum Kopfe? Herrfcht ein jchredvolles Mißverhältnis in der großen Meafchinerie des Seins, und tft fie im Begriff, aus den Fugen zu gehen? Bald hörte man fie Frachen und berften, als jene Zeit fam, da alle Mauern niedergebrochen und alle Formen zerjprengt wurden, da alles Bejtehende über den Haufen gejtürzt ward, da alle Standes- unterjchiede mit einem Schlage verfchwanden, da die Luft mit Pırlverdampf erfüllt wurde und die erften Töne der Marſeillaiſe erflangen, da die Hundertjährigen Grenzen des Neiches verrüct und abermals verrüdt, da Könige gefüpft und abgejetst, eine taufend Jahre alte Religion abgefchafft, Throne und Altäre zeriplittert wurden, da ein Eorfifanifcher Artillerie Lieutnant fich jelbjt als den Erben der Revolution proflamterte, alle Bahnen dem Talente geöffnet erklärte, und da man den Sohn eines franzöfischen Schankwirtes den Thron Neapels bejteigen und einen ehemaligen Grenadier das Szepter Schwedens er- greifen und fich Norwegens bemächtigen ſah.
Wie gejagt, Werther wird vom Berlangen der Ahnung und der unflaren Unruhe getrieben. Ungeheuere Ummwälzungen liegen zwijchen ihm umd dem nächjten ınodernen Typus, Nenk. In Rene ift die Poefie der Ahnung von der Poejie der Ent- täufhung abgelöſt. An die Stelle der Unzufriedenheit vor den großen SKataftrophen tritt die Unzufriedenheit nach den- jelben. Nach dem Auffhwunge die Niedergefchlagenheit. AT jene gigantifchen Umwälzungen haben nicht vermocht, das Verlangen des Menjchenherzens und die äußeren Verhältniſſe in Harmonie mit einander zu bringen. A’ jene jchönen Träume der Freiheit und ©leichheit waren in einer Sünd— flut von Blut und Schreden fortgeſchwemmt. Der Kampf für das Menfchenrecht des Individuums hatte zur brutaljten
Goethes „Werther.“ 57
Meltdespotie geführt. So begegnen wir denn wieder dem jungen Mann des Jahrhunderts, aber wie ift ev verändert! Seglihe Frifchheit und SKinpdlichkeit ijt von ihm gewichen. Er iſt bleich, feine Stirn iſt gefurcht, fein Leben iſt müßig, jeine Fauft geballt. Ausgeftoßen aus einer Gejellichaft, die er verwünſcht, weil er in ihr nicht feinen Plat finden kann, jehen wir ihn allein in der neuen Welt, in den Urwäldern unter wilden Indianerſtämmen umherjchweifen. Ein neues Element ift in feine Seele eingezogen, das in der Werther’s nicht zu finden war: die Melancholie Immer wieder fommt Werther gerade darauf zurüd, daß ihm nichts jo verhaßt jei, als Laune und Mißmut; Werther war unglüclich aber nicht melancholifch; Nene dagegen ift verjunfen in müßiger Bein, deren er nicht Herr zu werden vermag, er haft die Menjchen und fich ſelbſt. Er ift Melancholifer und Miſanthrop. Er bildet den Lebergang von Goethes Werther zu Byrons Giaur und Korfar.
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4. Chateaubriand’s „Rene“.
Chateaubriand gehört nicht wie Goethe zu den Männern des Friedens. ES ſtand ein Stern der Vernichtung über jeinev Wiege; es Liegt Fein Jahr zwifchen feiner und „Napo- leon Bonaparte's Geburt, und man vernimmt den finjteren umd graufamen Geift jener Zeit des Schwertes in feinen Schriften, denen er eine eigenartige, wilde Poeſie verlieh.
Aber, fünnte man einwenden, bejitt er denn in der That etwas Gemeinjames mit Rouſſeau und Goethe, hat er wirk- lich etwas von ihnen gelernt? Ich halte es für erwieſen, daß nicht nur er, jondern jein ganzes Zeitalter durch jene Bücher gebildet waren, die wir joeben fritifch betrachtet haben. Es läßt fich biefür eine Art von Beweis führen: an einer Stelle, wo Chateaubriand Byron den Vorwurf macht, nie jeinen Namen erwähnt und verjchwiegen zu haben, was Childe Harold René jchuldet, hebt er hervor, daß ev ſelbſt nicht fo handele und nicht verichweigen wolle, daR Oſſian, Werther, Saint-PBierre auf die Geftaltung feiner Ideen eingewirkt hätten. An einer andern Stelle, wo er Napoleon’3 Zug nad) Egypten jchildert, jagt er: „Die Bibliothek, die er mit fich führte, umfaßte Offtan, Werther, die Neue Heloije und das Alte Teftament, ein genügendes Zeugnis für das Chaos im Kopfe Napoleon’s. Er vermifchte wirklichfeitstreue Ge— danfen und vomantifche Gefühle, Syſteme und Träumereien, ernfte Studien und Ausgeburten der Phantafie, Weisheit und Thorheit mit einander. Aus diejen unzufammenhängenden Produkten des Jahrhunderts formte er das Kaifertum.*) Ich laſſe dieſe Ausſage auf fich beruhen, aber joviel iſt Har, daß ſchwirrten Rouſſeau's Heloife, Goethe's Werther und Oſſian's Gedichte ſo in der Luft umher, daß ein Zeitgenoſſe der Meinung ſein konnte, ſie hätten zum Zuſtandekommen des
*) Mémoires d’Outre Tombe IH. 190. III. 78.
Chateaubriand’S „Rene“, 59
Kaiſerreiches mitgewirkt, jo müßten fie jogar notgedrungen an den epochemachenden Büchern Anteil haben, welche in derſelben Zeit herausfamen.
Bergleiht man Chateaubriand’S Talent mit Bonaparte’s gleichzeitigem Genie, fo fcheint es, als ob das neue Yahr- hundert feine ganze Thatkraft und allen Unternehmungsgeift in Ddiefem großen Feldherrn und Eroberer fonzentriert hätte, ſodaß gleichfam für Diejenigen jungen Männer des gleich- altrigen Gejchlechtes, welche ihm nicht auf jeinen friegerijchen Bahnen folgten, nichts übrig blieb. Der Zug jener Thätigen und Kämpfenden fährt an ihnen vorüber und läßt fie unent- ichloffen und mißvergnügt zurüd.
René ſoll zur Zeit Kudwigs XV. leben, aber, was dort vom damaligen Zeitalter gejagt wird, paßt direft auf Chateau— briand’S Jugend. ES ift, jagt Nend, eine Zeit, in welcher das Volk von der früheren Ehrfurcht vor der Religion und der Sittenftvenge in Gottlofigfeit und Berderbtheit, von den Höhen des Genies zum gewöhnlichen gejchmeidigen Wit herabgefunfen war, und worin fich deshalb ein ernjter und rechtfchaffener Geift unglücklich und vereinfamt fühlte. Aber gerade dies paßt auf den Schluß des 18. Jahrhunderts, wie es von Chateaubriand aufgefaßt wird.
René erzählt Chactas, dem Geliebten „Atalas“, die Gefchichte feines Lebens zum Entgelt, daß dieſer in „Atala“ ihm die feine erzählt hat. Ex jchildert feine Jugend auf dem Gute in der abgelegenen Provinz, erzählt, wie er ſich vor feinem Water ſtets gezwungen und gehemmt und nur in Geſellſchaft feiner Schwefter Amelie zufrieden gefühlt habe. Beide waren melancholifche Naturen, beide poetijch veranlagt, bald elternlos und gezwungen die Heimat zu verlafjen. Rene ſehnt fich zumeiſt nach dem Stillleben des Klofters, aber dies unbeftändige Sehnen jchlägt um und mechjelt fein Mefen, er befchließt zu reifen, findet unter Noms und Griechenlands Auinen Nahrung für feine Melancholie und entdedt unter den Tebenden Völkern dasjelbe Vergeſſen der Geftorbenen, wie auf dem Erdboden dasjenige dev unter:
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gegangenen Nationen. In London wiljen die Arbeiter, die ev auf der Straße fragt, nichts von Karl IL, an deſſen Statue fie ftehen. Was ijt daher Ruhm und Größe wert! Er reift nah Schottland, lebt in der Erinnerung an die Helden Morven’s; aber wo Oſſian fang und Fingal fiegte, weiden jett Viehherden. Er geht wieder nach Italien, ftudiert die Denkmäler der Kunſt, findet jedoch, daß er troß all’ jeinev Mühe noch nichts gelernt hat. Vergangenheit und Gegenwart find zwei unvollitändige Bildfäulen, die eine ward verjtimmelt aus der Erde gegraben, die andere jteht unfertig da und kann erjt von der Zufunft vollendet werden. Und die Natur beruhigt feine kranke Seele fowenig wie die Geſchichte. Einmal bejtieg er den Aetna, ſah auf der einen Seite die Sonne am Horizonte aufgehen, ſah unter fi) ganz Sizilien von dem unendlichen Meere umgeben fich fo winzig ausnehmen, daß die Flüffe geographiichen Pinien auf einer Karte glichen, jah auf der anderen Seite in den Krater des Vulkans hinunter mit jeinem glühenden Innern und feinen Ihwarzen Dämpfen. Er findet dann in feiner Stellung das wahre Bild jeines Charakters und feiner Crijtenz: „So“ jagt ex, „habe ich Zeit meines Lebens eine zugleich ungeheuer mweitgeftredte und unbedeutend kleine Welt vor Augen gehabt, jowie einen Abgrund mir zum Seite.
Selbjtverftändlich ijt dieſe vulkaniſche und anſpruchsvolle Natur überall in feinem DVaterlande überflüffig, Vergeben jucht er feine Aeußerungsformen mit der Geſellſchaft in Ein- Hang zu bringen, über die ihn feiner Meinung nach fein Inneres jo hoch erhebt; er wird überall als „vomantifcher Geijt“ (esprit romanesque) behandelt und bezeichnet, für den man im Xeben feine Verwendung hat. Zum erjtenmal be- gegnet ung hier eine Andeutung jenes Begriffes, welcher jpäter in etwas veränderter Form zum Kunſtausdruck in Frankreich werden follte, als die romantische Schule auffan.
Es Liegt in diefem geheimnisvollen Leiden, welches fühlt, daß es „intereffant“ ift, wirklich etwas, das auf einen Roman— tifev vor der Romantik deutet. Aus all’ jenen halbvergefjenen Erinnerungen an eine Größe, welche entſchwand, jenen Ein-
Chateaubriand’3 „René“. 61
drücden von der Bergänglichfeit eines Namens und eines Ruhmes, jenen evbitterten Stimmungen bei der Kleinlichkeit und Schlechtigfeit der Menschen hat ſich René nämlich eine hartnäcige Ueberzeugung herausdeftilliert, daß es fein Glück giebt, jowie einen tiefen Lebensüberdruß und ein bejtändiges Gefühl von Leere und Langeweile, während er zur jelben Zeit eine überjtrömende Lebenskraft in feinen Adern pulfieren fühlt. Seine Vieblingsworte find: la folie de croire au bonheur — degoüt de la vie — profond sentiment d’ennui u. f. w. In al’ dieſem Jammer nimmt ev in feinen Gedanfen be- jtändig jeine Zuflucht zur Schweiter, als feinem einzigen Trofte, bis er zu feiner Ueberrafchung und feinem. Kummer bemerkt, daß fie ihm ausweicht, fich verjchiedene Male bei jeiner Rück— fehr nad) Frankreich außer Stande erflärt, mit ihm zuſammen— zutreffen, und jeine Zärtlichfeit für fie vergeffen zu haben ſcheint. Nur einmal, als fie ahnt, daß er im Begriffe ſteht, Selbjtmord zu begehen, nähert fie fich ihm für einen Augen- bie aufs neue. Er hat bereits die Kälte diejer feiner ge- liebten Schweſter der Kette feiner bitteren Erfahrungen in- bezug auf die Treuloſigkeit der Menjchen angereiht, als ihn die Nachricht von ihrer Abjicht, fih als Nonne in ein Klofter aufnehmen zu lafjen, nach ihrem Aufenthaltsorte eilen fäßt. Er fommt gerade rechtzeitig genug an, um einen Plat bei der unheimlichen FFeierlichfeit einzunehmen, Amélie's Haar unter der Scheere fallen zu jehen und au ihrer Seite nieder- zufnieen, während fie, wie es das Zeremoniell erfordert, tie eine Leiche auf dem Marmorboden der Kirche ausgeſtreckt liegt — da hört er feine Schweiter eine Bitte um Vergebung für „die verbrecherifche Leidenfchaft, die fie für ihren Bruder ge- hegt hat“, hervormurmeln. Auf einmal begreift ev der Schweſter Verhalten ihm gegenüber und fällt ohnmächtig um. Sobald er fich wieder gefaßt hat, bejchließt ev, Europa zu verlaffen und nach der neuen Welt zu gehen. In der Nacht, in der er Frankreichs Küfte verläßt, bricht ein furchtbares Unwetter log. „Wollte mich der Himmel davon unterrichten,“ jagt er, „daß Unwetter ftetS meine Schritte begleiten würden?“ Soviel ift ficher, daß Chateaubriand diefe Begleitung von
62 Die Emigrantenlitteratur.
Big und Donner weder für Nenes Lebenslauf noch für Atala's Liebe entbehren kann.
Es find, wie man fieht, ungewöhnliche Gefchice, die hier einen ungewöhnlich veranlagten Charakter treffen. Und von diefem Charakter kann man die Melancholie und Menfchen- verachtung im der neueren Literatur ableiten. Dieſe Schwer- mut und diefer Menjchenhaß find von ganz anderer Art, als fie fih je zuvor gezeigt haben. Ich will vergleichSweije einige Geftalten Molièere's und Shakeſpeare's heranziehen. Der Unterfchted zwijchen diefen und denen der modernen Seit wird dann klar werden.
Eine von Moltere’3 interejfanteften Figuren, und, wie ich befenne, derjenige von all’ feinen Charakteren, welcher für mic) perfünlich den größten Neiz befitt, ift Alceft, der Mifanthrop. Der Gegenftand von Alceſt's Unwillen und Bitterkeit iſt jenes ganze Syſtem von Nüdfichten, von Zugejtändnijien, von großen und Fleinen Lügen, worauf der fogenannte gefell- ihaftliche Umgang beruht. Er hat darin gewiß Unrecht. Ohne die Fiktion, welche die konventionelle Höflichkeit erzeugt, würde daS Leben noch unfchöner fein, als es ohnehin ijt. Ein feinfinniger und liebenswürdiger Philofoph hat gejagt: „Da die Schönheit nicht exiltiert, fo erfand man Die Runft, und da die Güte und Herzlichkeit nicht exiftieren, jo erfand man die Höflichkeit." Und giebt es, ernitlich gejprohen, nicht Gründe genug, ein wenig die Masfe zu tragen? Wie Mancher möchte nicht lieber ganz un— gefannt als ganz gefannt fein, und giebt es nicht Viele, welche zu demasfteren ſchon aus äſthetiſchen Urfachen Sind’ und Schande wäre, da ihre Maske jo viel fchöner ift, als ihr wirkliches Gefiht? Aber ich rede jelbjt wie Philint im Stüde, und ich darf nicht die glänzenden und bevedten Antworten vergefien, welche Alceft giebt. Alceſt haft die Menjchen, weil er fie in zwei Klaſſen teilt; die eine bilden die Gemeinen und Boshaften, die andere bejteht aus denjenigen, welche artig und aufmerffam gegen jene Boshaften und Gemeinen find, und.dadurch ihr Treiben ermöglichen. Er jtellt die feige Rück— fihtnahme, die aus der Furcht entfprungene Falſchheit auf
Die Mijanthropie bei Moliöre, 63
gleiche inte mit den fchlimmiten und verrufendſten Laftern. Er iſt jo empört über die Feigheit, die das Verächtliche nicht jehen will, wo es ſich befindet, daß er die zweite große Welt- macht, die Dummheit, welche es wirklich nicht fieht, wo es fich findet, durchaus vergißt. Er ſchäumt vor Wut darüber, den Schurken, mit welchem er in Prozeß liegt, und deſſen Nichts— würdigfeit alle Welt fennt, überall reſpektvoll begrüßt, wohl aufgenommen, ja beſchützt zu ſehen. Er jagt Oront ins Ge- jiht, daß feine Verſe fchlecht find. Um den Charakter ins richtige Nelief zu jtellen, läßt der Dichter num Alceft jterblich verliebt jein in eine junge Kofette von der feinften umd durch) ihre Liebenswürdigkeit gefährlichiten Art. Sie fpielt mit ihm wie mit einem Kinde, foppt ihn und trotzt ihm auf alle Weije, lockt ihn an umd reizt ihn aufs Aeußerſte; jedes Wort von ihr ift ein Dorn, der ihn jticht, und jede ihrer Hand- lungen jchneidet ihm ins Herz. Es iſt jein Fluch, daß er zu— gleich fie lieben und über fie verzweifeln muß. Kann man jich ein jchlimmeres Los für einen Mifanthropen denfen, als das, ein jolches Weib anzırbeten und der Spielball all’ ihrer Launen zu fein! Man follte es meinen; aber fünnte man nicht auch vielleicht die ganze Anſchauung umfehren?
Ein Mann, der fich beifer als irgend ein anderer auf Schaujpiel und Theater verjteht, Herr Edmond Thierry, Direktor des Theatre francais, jagte mir am Tage nad) einer Aufführung des „Misanthrope” in Erwiderung einer Be- merfung, die ich über einen Schaufpieler machte, welcher nad) meiner Anficht die Nolle allzu gejchliffen gejptelt hatte: „Finden Sie, aufrichtig gefprochen, daß Alceſt mijanthropiich it und daß der Name paßt? Ich Für meinen Teil glaube: wenn Celimene nicht fofett wäre, jo würde Alcejt nicht mijan- thropifchev als ich fein.” Das war ein Scherz, aber er verbirgt eine Wahrheit. Es find Umftände und Verhält- niffe, die Stellung inmitten eines verderbten Hofes, ein veizbarevr und ehrliebender Sinn, ein wmahrheitsliebender Charakter, welche im Verein mit zufälligen perſönlichen Un- glüfsfällen Alceſt's Mifanthropie als Reſultat exzeugen. Er ift Mifanthrop durch Räfonnement, nicht von Temperament
64 Die Emigrantenlitteratur.
und er trägt fein Kainszeichen an feiner Stivne. Eben hier- durch ift er ein jo echt franzöfiiches Erzeugnis. Bei einen deutſchen Melancholifer ift die Grundlage Näfonnement, d. h. der analyjierende Verſtand. Alceft iſt ein Produft jener klaſſiſch— oratorifchen Zeit in Frankreich, über welche man erſt am Schluſſe des achtzehnten Jahrhunderts hinaus fam. Hier jehen wir eim Beifpiel der überwältigenden Macht des Zeitgeiſtes und des Bolfsgeijtes über das Individuum. Wenn man vom Zeitalter Boileau's und der Berjtandestragüpie in Frankreich ipricht, fo fünnte es wohl auf den erſten Blick als Widerfpruch jcheinen, daß Meoliere, Boileau's Gegenpol, Nacines Antıpode, derjelben Zeit angehört. Man fünnte wenigitens meinen, daß jeine tiefjten und trefflichiten Geftalten, die naive Agnes in der „Schule der Frauen“ und der melancholifche Alceft im „Mifanthrop", eine Ausnahme bildeten. Aber e8 giebt Geijtes- gejeße, welche eben jo unverbrüchlich wie die Naturgefege jind. Ich habe an einer anderen Stelle*) nachgewiejen, bis zu welchem Grade Agnes’ Naivetät eine vom Dichter durch Näfonnement erflügelte iſt; dasfelbe läßt fi von Alceſt's Melancholie beweifen. Nehmen wir als Gegenfat einen von Shafejpeare’s Mifanthropen, 3. B. Jacques in „Wie e8 euch gefällt.“ Da haben wir den Mifanthropen von Temperament. Jacques ift eine Poetennatur, ſchwermütig und weich. Hören wir, wie er gejchildert wird:
Heut Ihlichen wir, Lord Amiens und ich felbft,
Uns hinter ihn, wie er der Länge nad
Im Schatten einer Eiche lag, Die mit
Den Wurzeln in den Waldbach niederhängt.
An diefe Stelle fam ein heuer Hirsch,
Der von des JFägers Pfeil getroffen worden,
Um zu verenden; und fürwahr, mein Fürft,
Das arme Tier ftieß jolhe Seufzer aus,
Daß fie beinah jein ledern Fell zeriprengten.
Die diden runden Thränen träufelten
Ihm einzeln über das behaarte Maul.
So ftand der arme Narr, genau betrachtet
Bom melanhol’ihen Facques, am Brink des Baches,
Mit Thränen ihn vermehrend. Aber Jacques?
*) Mefthetifche Studien von G. Brandes, ©. 310 ff.
Die Mifanthropie bei Shakeſpeare. 65
Wie 309 er die Moral aus diefem Bild?
In taufend Gleichniſſen. Diemweil der Hirſch
Ins Waſſer überflüjfig meinte, fprad er:
„Du armes Tier, du machit dein Teftament,
Gleich manchem Weltfind, denen Geld erwerbenv, Die ſchon jo viel befiten.” Weil das Wild Berlaffen war von feinen jammtnen Freunden, Nief Jacques: „So ift es recht; das Unglück ſcheucht Ja ftetS die Menge fort.” Dann brach ein Rudel, Friſch von der Weide, ohne Halt und Gruß,
Am franfen Hirich vorbei. „Nur zu!” ſprach Jacques. „Ihr Spießer und Spießbürger, fette, feifte;
Das gleiht wohl eurer Art. Warum auch ſchauen Auf den gefallnen Banfrottierer hier?
Mit folhen Stachelreden traf er Alles,
Das Land, die Stadt, den Hof, auch unſer Leben; Er ſchwor, wir fein Iyrannen, Näuber und
Was Schlimmres no, weil wir das Wild verjagten Aus feinem eignen Sit, und ganz vertilgten
So flagt’ er mit dem fchluchzenden Geichöpf.
Wir jehen ihn zu Thränen gerührt über die Leiden des verwundeten Tieres. Nicht durch Näfonnement, nicht durch eine Berjtandesveflerion, wird er empört über die Schlechtigfeit und grauſame Rohheit der Menjchen, jondern er fühlt un- mittelbar, daß feine Seele von derjelben Natur wie die des Hiriches ſei. Der Hirſch iſt ihm ein Kind derjelben Mutter wie er ſelbſt. Er ift in feinem Gefühle Pantheift. Welcher Abjtand von der Anfchauung jener Haffischen Zeit in Frank— reich, wo jelbit Carteſius das Tier für eine Majchine anfah und jeinen Schmerzensjchrei für eine vein mechanische Wirkung des Schlages hielt, wie die Schreipuppe beim Drude des Fingers quieft!
Im Gegenſatze hiezu anteziptert Jacques die Natur- betrachtung der feinfühligſten modernen Poeten, 3. B. Shelley's. Man erinnert ſich, daß Shelley als Jüngling einen Verein junger Männer ſtiftete, welche, von der Anſicht ausgehend, daß es eine unerlaubte und verbrecheriſche Barbarei der Menſchen ſei, Tiere zu eſſen, ſich verpflichteten, aus— ſchließlich von Pflanzennahrung zu leben.
Nichtsdeſtoweniger iſt Jacques jo wenig wie Aleeſt ein Typus der modernen Melancholie. Jeder von ihnen ver—
Brandes, Hauptſtrömungen. J. Emigrantenlitteratur. 5
66 Die Emigrantenlitteratur.
fürpert nur einen allgemeinen menschlichen Mißmut in der Form, melche ihnen nach ihrer verjchiedenen Nationalität natürlich ift. Die mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts ent- ftehende Art von Melancholie trägt nicht den Chavafter einer rein perfönlichen Krankheit, fie ift auch nicht blos national; es ift eine kosmopolitiſche Epidemie, in ihrem Weſen ver- wandt mit den veligiöjen Krankheitsformen, die fich im Mittel- alter jo oft über Europa verbreiteten, und René iſt nur diejenige Geftalt, welche zuerit und am Fräftigften die Kenn- zeichen der Krankheit bei den begabteften Geijtern darſtellt.
René trägt jenes Kainszeihen; das ich erwähnte; aber dies Merkmal ift zugleich das Herricherfiegel. Unfichtbar für ihn felbft ift dies Siegel des Genies ihm auf die Stirne ge- drücdt worden. Hinter den fchwermütigen Selbjtanklagen, aus denen René's Bekenntniſſe bejtehen, verbirgt fich das jtolze Ueberlegenheitsgefühl, welches des Dichters eigene Brut erfüllte. Wenn man Chateaubriand’S Erinnerungen jorgfältig lieft, jo fann man ſich nicht des Gedanfens erwehren, daß fi fogar hinter dem Verhältnis zu Amelie eine Art Beichte, ein Gejtändnis der Leidenfchaftlichen Liebe verbirgt, welche feine Schwefter Lucile für ihren bewunderten Bruder hegte. Welch großes Bekenntnis enthält daher nicht der übrige Inhalt der Erzählung!
René's Dual find die Geburtswehen des Genies in der Seele der modernen Berfünlichkeit. Nence bezeichnet jenes erjte Stadium, das der Unruhe und Auserwählung. René iſt der Augenblick, in welchen die auserwählte Natur in derfelben Weife, wie der Prophet der jüdischen Vorzeit, zum erjtenmal die Stimme vernimmt, die ihn beruft, und fich angſtvoll zurüczieht, fich verzweiflungsvoll windet umd nach einem Auswege zur Flucht ſpäht, antwortend gleich dem Propheten: „Herr, nimm nicht mich, fondern einen andern, meinen Bruder; ich bin zu gering, ich bin ein Mann, welcher nicht jeine Worte zu feßen weiß.“ Der Auserwählte zögert und hofft, einen andern dem Nufe folgen zu jehen, er fchaut fich um, aber feiner erfteht, und die Stimme fährt fort zu ihm zu veden. Ueberall fieht ev daS fiegen, was er verabfcheut
Chateaubriand’S „René“. 67
und verachtet, und das unterliegen, wofür ev alles opfern möchte, wenn nur ein anderer ihn zum Opfer hinführen wollte: aber mit Staunen und Grauſen fieht ev, daß fein anderer jo wie er empfindet, er jchweift umher, um feinen Meiſter zu finden, denn wie St. Chrijtoph will ev nur dem Stärfjten dienen, aber er findet ihn nicht, und da erfaßt ihn der Gedanke: wenn fein anderer erjtehe, wenn er feine Stüte und feinen Führer finde, jo müſſe er wohl jelber der Mann und geeignet zum Führer umd zur Stüße für andere jchwächere Geiſter fein. Jetzt folgt er dem Rufe, er fieht, daß die Zeit des Träumens und Zweifelns voriiber und die Zeit des Handelns gefommen ift. Hinter ihm Tiegen die langen Stunden des Zweifels und Selbjtmißtrauens, mit einem Schlage ,ift er verwandelt. Der Sonnenftrahl hat ihn ge- troffen, der für immer fein Antlig bräunt, in welchem feine Nöte mehr aufjteigt oder jchwindet. Er überwindet die Krije, nicht wie Werther, durch einen Selbjtmord, jondern durch einen Entihluß und mit einem erhöhten Selbjtgefühl. Er zögert und ſchwankt nicht mehr, er gebietet und er mill. Aber das Genie ift jtetS ebenjojehr ein Fluch, wie ein Segen. Selbjt die größten, die am harmonifchiten, veranlagten Naturen haben in mancher Epoche ihres Lebens den Fluch verjpürt, den es enthält und mit fich führt. In René hat Chateau- briand nur jenen Fluch dargeftellt; feine eigene Organiſation und jein Verhältnis zu den Ideen feiner Zeit bemwirften im Berein, daß die Genialität, wie er fie fannte, ihm nur als Duelle einfamer Dual und wilden egoijtifchen Genußes er- ihien, die ftet3 das Gefühl feiner Leere und Nichtigfeit mit jich führte.
Chateaubriand, welcher die vreligiöfe Neaftion des 19. Jahrhunderts einleitet, befaß feinen Glauben, fein Er- griffenfein, feine Selbjthingabe an eine dee. Die Gedanten des vergangenen Jahrhunderts begannen gerade damals ver- dunkelt zu werden, ſich als Irrtümer zu erweijen, die großen Seen des 19. Zahrhunderts waren noch nicht auf wiljen- ſchaftlichen Wege gewonnen worden, und Chateaubriand ver- mochte, veranlagt und geftellt wie ev war, nicht, fie gleichjan
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durch einen Seherblid vorwegzunehmen. So ward er der Führer der Neaftion, der Nitter des Katholizismus und der Bourbonen. Mit dem der Gentalität innewohnenden Trieb, den hiftorifchen Gedanken des Zeitalters zu erfaffen, aber ohne die firhere Ahnung des Genies von deſſen Weſen und ohne Glauben an deſſen Sieg, erfaßte er die Gedanken, welche der vorläufige Umschlag in Sympathieen und Stimm: ungen zu Tage fürderte, und behauptete fie mit Stetigfeit, mit prächtiger, aber auch oft hohler Beredfamfeit, mit großen Fähigkeiten, aber ohne Wärme und ohne jene Ueberzeugung, welche die Perfünlichfeit durchdringt und fie zum begeifterten und unermüdlichen Organ der Idee macht. Während Voltaire mit al’ feiner Unruhe und al’ jeinen Fehlern den Kampf feines Lebens frifch, ungefhwächt und unüberwindlich bis zu— (et führte, weil er feine Minute im Vertrauen auf die Wahrheit feiner Ideen ſchwankte, wird Chateaubriand von unabläffigem Lebensüberdruß, Unglauben und Menjchen ver achtung verzehrt. Nur auf einem Punkte war er ein Bahn brecher: als Dichter, bejonders als poetijcher Kolorift, und deshalb fühlte er fi auch nur im Ddichterifchen Streben jeinev Jugend zufrieden und innerlich belohnt. Aber als Dichter ift ihm wiederum feine andere Geſtalt fo gelungen, al3 diejenige Nene’s, d. h. als Darjtellung jenes geijtigen Typus, zu dem er ſelbſt gehörte.
Da ein genialer Mensch von der Art Renés trotz jeiner veligiöfen Nedensarten nie in irgend einer höheren Macht aufgeht, jo wird die Melancholie hier in ihrem innerften Wefen nur die unbefriedigte Genußfucht des Egoismus. René weiß als geniale Perfönlichfeit, daß der Gott mit ihm und in ihm ift, und er Tann faum mehr zwifchen fich und dem Gotte unterfcheiden. Ex betet fich jelbft an, indem er den Gott anbetet. Er weiß ja, daß feine Gedanken und feine Nede in- jpiviert find, und wo ift die Grenze zwifchen dem, was von ihm und dem, was nicht von ihm jtammt? Cr liebt jogar mehr die Irrtümer, als die Wahrheiten, welche ev ausfpricht; denn jene gehören ihm felbft eigentümlicher an, und er fühlt ji in höherem Grade als ihren Erzeuger. Der Weihrauch
Chateaubriand’3 „René“. 69
der Menge betäubt feinen Sinn. Seine Feinde find nicht die feinen, jondern die Yeinde der Sache, des Guten, und alfe Mittel find ihnen gegenüber gut umd recht. Für fich ſelbſt fordert er alles, die Gunſt des Volfes, die Liebe der Frauen, alle Xorbeeren und Roſen des Lebens und es Fällt ihm nicht ein, daß er feinerjeitS dafiir etwas zu leijten verpflichtet wäre, Er läßt ſich Lieben, ohne wieder zur lieben. Iſt er nicht eine privifegierte Natur, ein Apoftel, der wie ein Flüchtling durchs Leben eilt, ein aufloderndes Feuer, das erhellt, verzehrt und entſchwindet?
In dieſen Zügen hat der Dichter nur ſein eigenes Spiegel— bild gezeichnet. Chateaubriands Erinnerungen enthalten, und beſonders durch das, was ſie verſchweigen, genügend Zeug— niſſe für jene künſtliche Kälte, mit der er Zärtlichkeit und Bewunderung entgegennahm. Einzelne vertraute Briefe von ihm, welche Sainte-Beuve in Händen gehabt hat, zeigen, mit welchem eiskalten Selbſtgefühl er zuweilen danach ſtrebte, durch Verſprechen einer verzehrenden Leidenſchaft zu bethören. Noch mit 64 Jahren ſchreibt er einer jungen Dame, die er auf— fordert, ihm ein Rendez-vous in der Schweiz zu geben: „Mein Leben iſt nur ein Zufall, nehmen Sie von dieſem Zufall die Leidenſchaft, den Wirbel und das Unglück, ich werde Ihnen an einem Tage mehr davon geben, als andere in langen Jahren.“
So ſprach alſo der erſte René noch, als er vierundſechszig Jahre alt war. Und wohlgemerkt, der Mann, welcher ſo ſpricht, iſt in aller Aufrichtigkeit und ohne Heuchelei derſelbe, der als Ritter des Glaubens und begeiſterter Verteidiger des Chriſtentums auftritt; denn ihm iſt alles erlaubt; er iſt der Auserwählte und wie die pythiſche Prieſterin, halb wahnwitzig im Gefühl ſeines Berufes.
Ihm wohnt zugleich etwas Göttliches und etwas Sata— niſches, eine eigentümliche Zerſtörungsluſt inne*) Die Form, unter welcher er liebt, iſt die, zu verwirren und zu verzehren. Er verführt gleichſam durch übernatürliche, durch geiſtige Mittel,
*) Bgl. Sainte-Beuve, Causeries du lundi über Chateaubriand.
70 Die Emigrantenlitteratur.
ev legt Runen, flößt Baubertränfe ein. Tie berüdende Macht des jungen, offenen Herzens, der jungen, friichen Liebe tft es nicht, womit er bethört. Ren ichreibt Worte, wie dieje an jeine indianiſche Gattin: „Ja, Gehuta, wenn Du mic ver- lierſt, wirft Du als Wittwe leben; denn wer fünnte Dich mit der Flamme umgeben, die ich ausjtrahle, ſelbſt wenn ic) nicht liebe?“ und an einer anderen Stelle: „Diefem Herzen entjtrömen Flammen, welchen es an Nahrung gebricht, welche die Schöpfung verzehren fünnten“. Sch mache Chateaubriand nicht verantwortlih für die Worte, welche er René in den Mund legt, aber man bliee zurüd, und man wird jenen Yır- cifer des vorigen Jahrhunderts, Voltaire, in Vergleich hiermit unſchuldig wie ein Kind finden. Welche rührende Zärtlichkeit bewies ev nicht feinen Geliebten, eine Zärtlichkeit, die fich jelbft in den Fällen, wo er ſchändlich verraten ward, nicht im Mindeften verlor. Man blide vorwärts, und man wird in Tieck's „William Lovell* oder in Kierfegaard’s „Verführer“ nur eine breitere Ausführung defjen finden, was hier im Um— viffe gegeben ift. Füge man nun zu der Zerſtörungsluſt des Egoismus die Gleihgültigfeit wider alles hinzu, was aufer- halb des Helden vorgeht, den tiefen Efel an dem Leben und den unvermeidlihen Efel an dem eigenen Sch, welchen auch die aufrihtigfte Selbftbewunderung nicht fernhalten kann, jo hat man die Grundzüge des Typus. Erfennt ihr das Bild, gleicht es dem Driginal? Oder giebt es jemanden, der nicht einer der unzähligen Kopieen desjelben begegnet wäre? Bei dem einen tritt ein Zug, bei dem anderen ein anderer mehr hervor. Der eine erhebt ſich in übermenfchlihem Stolze, wie jener englifche Lord, welcher der Welt ihr Spiegelbild in „Kain“ und „Manfred“ gab; der andere gewinnt aus jeinen philofophifchen Studien nur das Nefultat, daß er ein Gott ift, wie der deutjche Dichter, welcher das „Buch der Lieder“ ichrieb, fo oftmals geftanden hat. Der Dritte verlegt fi) auf die Rolle, Prophet der Gottheit zu fein, läßt ſich wie ein Papit verehren, und läßt noch als reis junge Frauen zu fi Tommen, um ihm die zitternden Hände zu füffen. Für einen vierten wird die Schwermut das abjolut Beftimmende,
Chateaubriand's „René“. das Pfand ſeines Berufes, der Quell ſeiner Lebensführung und ſeiner ganzen Schriftjtelferthätigfeit. Und dieſe Schwer— mut beraubt ihn jenes praftifchen Blickes in der Beurteilung der Wirklichkeit. Das geringite Ereignis, welches ihm be— gegnet, jchwillt zu etwas Bedeutungsvollem, zu etwas Ent- jcheidendem und gleichjam VBorherbeitimmten an, worauf er immer und immer wieder zurückkommt, während es für eine weniger melancholifche Anſchauung zu einer veinen Bagatelle einjchrumpfen würde Man fennt all’ diefe nahen und ent- fernten, echten und entarteten Brüder und Söhne Renöéö's. Der Typus umfaßt eine furze Spanne von Jahren, und man wolle ihn vor allem nicht mit einem anderen Typus verwechfeln, welcher ihm folgt und welcher uns allen vertraut ift. René perjonifiziert eim efchlecht, das zu fich ſelbſt jagte: Vor meinem fünfundzwanzigften Jahre will ich im Beſitz diefes Mädchens, will ich ein großer Dichter, ein großer Künftler jein oder jterben. Beim nächjten Gejchlecht lautet diefer Sag: Bor meinem fünfundzwanzigjten Jahre will ich ein Amt haben, vor meinem dreißigiten will ich Miniſter fein. Die Sehnjucht nach einem gejicherten Einfommen und einem gejicherten Ein- fluſſe ift an die Stelle all’ jener unbeltimmten und idealen Sehnjucht getreten bei einem ©ejchlechte, in welches das In— dividuum ich ohne Schwärmen und ohne Zweifeln fein be- ihränftes Ziel jett und dasſelbe erreicht. Wenn jene hart und falt erjchienen, jo war das in einem zweiten Stadium, nachdem fie den Zweifler und den Träumer in ihrem Herzen erjtictt hatten; diefe waren es von Geburt an und hatten feine Kriſe überftanden.
Nach all’ dem Geſagten Elingt es ſchier wunderlich, wenn man betont, daß „René“ dem „Geiſt des Chriſtentums“ in rein veaftionärem und fatholifchem Intereſſe eingefügt worden it, um zu beweijen, wie notwendig der Troft der chriltlichen Religion für gewiſſe Leiden und wie nötig es fei, die Nonnen- flöjter wieder zu errichten, da nur das Klojter Nettung und Schuß vor gewiffen Verirrungen biete. René's Hauptunglüd ijt nämlich wie gefagt, das, leidenjchaftlich von feiner Schweiter geliebt zu werden, die um ihre Pajjion zu überwinden, den
12 Die Emigrantenlitteratur.
Schleier nimmt und im Klofter ftirbt. Wie Hübfch Klingt das! Aber fühlt man nicht das Naffinement? So verführerifch, jo ummiderjtehlich ift jener René, daß er ſogar nicht ruht, oder vielmehr, daß der Dichter nicht ruht, bis er Nene’s eigener Schweiter eine unnatürliche Viebe zu ihrem Bruder eingeflößt hat. Wieder zeigt ſich hier, wie reaftionäre Tendenz in den Maalftrom der revolutionären Bewegung hineingewirbelt wird. Denn wenn es etwas giebt, worauf die fogenannte ſataniſche Schule fpäter ein herkömmliches Necht zu haben ihien, fo war es das, nachdem fie die Paffion als Natur verherrlicht hatte, Diejelbe mit Sympathie zu fihildern, auch wo jie der Natur zumiderläuft. Ich will auf ein paar analoge Züge binweifen.
Bei der jungen revolutionären Schule war es ein be- fiebtes Thema, daß der Abſcheu vor der Blutſchande nur auf Vorurteil beruhe. Dies war ein Lieblingsſatz Merimee’s in jeiner Jugendzeit. Man berief fich außerdem auf die Autorität der Bibel, da das Menfchengefchlecht fich nach der biblischen Tradition ja von Anbeginn durch Blutjchande vermehrt habe. Byron’s Kain ift mit feiner Schwefter vermählt. Außerdem war es ja durchaus in der Mode, fich ein wenig als Teufel zu Schildern. Chateaubriand, der fich in Rene felbjt darge- jtellt hat und deſſen Verhältnis zu feiner Schweſter in äußerer Hinficht demjenigen Nene’s entfpricht, wurde in der Wirklichkeit keineswegs von ihr anders denn als Bruder geliebt, und es dürfte mehr als wahrfcheinlich fein, daß bier dev Schlüffel zum Verftändniffe eines der unheimlichiten und peinlichjten fitterarifchen Ereigniffe der jüngften Zeit liegt. Alle erinnern fi) noch der empürenden Anklage, durch welche Mrs. Beecher— Stowe dor einigen Jahren das Andenfen Byron’s beichimpfte. Ein verbrecherijches Verhältnis zwifchen ihm und feiner Stief- ſchweſter follte den Anlaß zu der Scheidung von feiner Frau gegeben haben. Die Wahrheit in diefer Sache zu ermitteln, it unmöglich; Thomas Moore hat ja Byron's Aufzeichnungen verbrannt. Aber jelbft wenn man mit vollfonmener Ruhe Frau Stowe angehört und, was ſchon ein großes Zugeftändnis it, annimmt, daß fowohl fie wie Lady Byron die reine
Chateaubriand’S „Nenc“, 73
Wahrheit veden, was liegt dann vor? Eine Aeußerung von Byron gegen feine Frau, daß ein jolches Verhältnis beftanden habe. Nun war Lady Byron, wie männiglich befannt, eine in höchſtem Grade tugendhafte und einfältige Puritanerin, die ihren Mann alles hat verüben ſehen, was nach ihrer Ansicht das Empörendſte auf Erden war. Sie wußte, daß er tranf und an Bechgelagen teilnahm, daß er ganze Nächte aufer- halb des Hanfes verbrachte, daß er weder Rückſicht auf feinen Namen noch auf feinen Nang nahm, daß er allein hatte ins Parlament gehen müfjen, weil er feinen einzigen feiner Standes- genofjen hatte bewegen fünnen, ihn dort einzuführen, daß er in jeinen Schriften, die eine heilige anglikaniſche Kirche verhöhnten, die Schwärzeften Verbrechen in der jchönften Beleuchtung dar- ftellte; ja, fo arg hatte ihr Gemahl es getrieben, daß acht- mal eine Pfändung bei dem jungen Paare vorgenommen umd fogar ihr eigenes Ehebett mit Beichlag belegt worden war. Was Wunder alfo, daß fie ihren Dann beim Worte nahın, als er eines Tages, vermutlich mehr als gewöhnlich durch ihre Einfalt und ihre Predigten geärgert, fie anjchnauzte: Ja, ich bin der Teufel — puh ! — mein Klumpfuß iſt wirklich ein Pferdefuß und ich lebe im jchändlichiten Verhältnis mit meiner eigenen Schweiter!
Wir jehen, daß Chateaubriand Byron in „Rene“ das Beijpiel gegeben hat. Wir fehen, wie dies Produft der Nevo- futionspoefie aus dem veaftionären Werke entiprießt, in welchem es fich befindet, und wie in diefem beide großen Strömungen vermifcht find. Aber wohl zu merken, der Unterftrom it eher alles andere, al3 chriftlich, eher alles andere, als religiös. Das Grundgefühl ift überall ein feltfamer wilder Egoismus, eine Art Genußfucht der unheimlichiten Art, welche darin be- jteht, den Gedanfen an Tod und Vernichtung, eine gewiſſe ſatan— iſche Wut mit dem fonft jo janften und jo natürlichen Gefühle der Luſt und des Glückes zu verbinden. Nene ſchreibt an Celuta: „Ich habe Did) mitten in dev Eindde an mein Herz gedrückt, ich hätte Dich in jenem Augenblide gern mit einem Dolche durch— bohrt, um das Glück in Deinem Bufen zu befeftigen und mich jelbft dafür zu ftrafen, daß ich Dir ſolches Glück gejchentt.“
74 Die Emigrantenlitteratur.
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2.
Der neue Seelenzuftand.
Wie in der förperlichen Welt zu gewifjen Zeiten bisher unbefannte Krankheiten entjteben, jo auch im geiftigen Leben. Was ich Hier zu Schildern verfuche, iſt der zugleich Fräftige, und ungefunde Geifteszuftand, der eigentümliche Auffhwung und die eigentümliche Gemütsfranfheit, welche den Anfang unſeres Jahrhunderts bezeichnen. Der Grundzug dieſes Seelenzu- jtandes war mit der großen Nevolution des Menjchengeijtes gegeben, Alle Gemütsfrantheiten, welche infolge davon aus— brechen, laſſen ſich als Symptome von zwei großen Ereig- niffen auffaffen: von der Emanzipation des Individuums und von der Befreiung des Gedanfens.
Das Individuum wird emanziptert. Nicht mehr zus frieden damit, auf der Stätte zu bleiben, die ihm angewiefen oder wo er geboren tft, fich nicht mehr bejcheidend, das Feld jeines Baters zu pflügen, vielmehr von jeglicher Yeibeigenfchaft befreit, fühlt der Mann zum erftenmal in der buchjtäblichen Be— deutung des Wortes die Welt offen vor fich liegen. Welcher Fortfchritt im Vergleich mit allen früheren Zeiten! Es jcheint mit einem Male, als jet alles möglich geworden und als habe das Wort Unmöglichfeit jeinen Sinn verloren, als könne z. B. der Trommelitod in der Hand des Soldaten durch eine Neihe Schneller Metamorphofen ſich in einen Mearjchaltftab oder in ein Szepter verwandeln. Aber zur jelben Beit, wo die Möglichkeit folchergeftalt zugenommen hat, iſt die Kraft feineswegs im jelben Maße gewachjen, am allerwenigiten die Kraft der Selbjtbeherrfchung. Bon den Hunderttaufenden, denen die Bahn plößlich geöffnet ward, fann nur einer das erwünfchte Ziel erreichen — und wer fichert dem Individuum, gerade diejer eine zu werden? Daher das unbändige Ver- langen und die unbändige Melancholie. Und zu den großen, vafenden Wettlauf hat ja auch nicht Jeder ohne Ausnahme Zutritt; all’ jene, die fi) aus diefem oder jenem Grunde an
Der neue Seelenzuftand. 75
die ältere Ordnung der Dinge geknüpft fühlen, fowie die feineren, weniger dicfelligen Naturen, die lieber träumen als handeln, fühlen fich ausgejperrt, weichen zur Seite oder wandern aus, und indem fie auf fich ſelbſt zurücgeführt werden, er- wacht mit der Selbjtbetrachtung ein ftärferes Selbjtgefühl und mit diefem eine vermehrte Fähigkeit, zu leiden. Der höchſt entwidelte Organismus leidet ja am meiſten.
Hierzu fommt, daß, indem die alte Gefelljchaft geſprengt wird, der nützliche Drud von dem Individuum weicht, der cs innerhalb gewifjer fozialer Schranfen hielt, und es verhinderte, ji) unbegrenzten Wert und unbegrenzte Bedeutung beizulegen. So wird die Selbjtanbetung überall möglich, wo die Kraft der Selbſtbeherrſchung nicht jo ſtark iſt, wie früher die ordnende Macht der Gejellichaft.
Und zur ſelben Zeit, wo alles möglich geworden ift, jcheint auch alles erlaubt worden zu fein. Alle Macht, deren ih das Individuum früher entäußert, die es freiwillig feinen Göttern und feinen Königen übertragen hatte, nimmt e3 jest zurüd. Wie es nicht mehr den Hut vor dem. vergoldeten Wagen zieht, deſſen Vergoldung es jelbjt bezahlt hat, fo beugt es fich auch vor feinem Verbote mehr, dejjen rein menjch- lichen Urfprung es durchichauen kann. Auf jedes Verbot hat es eine Antwort bereit, eine Antwort, die eine Frage ijt, eine furchtbare Frage, der Anfang aller menfchlichen Kenntnis und aller menjchlichen Freiheit, die Frage: „Warum?“ Und fo find schließlich jelbjt jene Werivrungen der Phantajie, von welchen vorhin die Nede war, das häufige Verweilen bet dem Berbrechen, auch wo es unnatürlich ift, nur ein Zug, nur eine Verirrung jenes jo gewaltigen und jo bedeutungsvollen Ein- tretens des Individuums in fein Necht.
Und der Gedanfe wird befreit. Das emanzipierte Indi— viduum empfindet ſich nicht als Glied oder Teil eines größeren Ganzen, jondern als Mifrofosmus, d.h. als ein Wejen, das, wiewohl einzeln, eine Heine Welt in fich begreift, welche in verjüngtem Maßftabe die ganze große abjpiegelt. So viele Individuen, eben fo viele Spiegel, die das Weltall auffangen. Aber zur jelben Zeit, wo der Gedanke jolchergeftalt den Mut
76 Die Emigrantenlitteratur.
gefaßt hat, nicht ſtückweis, jondern auf eine alles umfaſſende Art zu erkennen, ift das Vermögen nicht mit dem Mute ge- wachjen, und jest wie früher tappt die Menjchheit in umend- lichem Dunfel und begreift nichts von dem Geheimniſſe ihres Dafeins. Wozu werden wir geboren, weshalb leben wir, was it das Biel des Ganzen? Man ijt der Antwort auf diefe alten Fragen nicht näher gerüct, und infofern man fie unter- icheidet, jcheint fie unbefriedigend und niederichlagend, eine pejfimifte Antwort zu fein. Früher wurde der Menfch in einer bejtimmten, unanfechtbaren Konfeffion geboren, die ihm bejtimmte, auf übernatürlichem Wege erworbene, tröftende und verheißende Antwort gab. Im 18. Kahrhundert, als die Konfeffionen aufgegeben waren, wurden die Geiſter in einem faft ebenſo dogmatifchen und in jedem Falle ebenjo begeiftern- ven Glauben an die damals herrjchenden Ideen der Zivilifatton, an die befreiende Macht der Aufklärung geboren, und man febte in den Verheißungen des Glüds und der Harmonie, die ſich über die Erde ausbreiten würden, fobald die Ueber— zeugung der Philofophen durchgedrungen ſei. Jetzt, zu Be— ginn des 19. Jahrhunderts, war auch diejes Vertrauen unter graben; die Lehre der Gejchichte ſchien ihnen die zu fein, daß auch diefer Weg zu nichts führe, und die Verwirrung in den Gemütern war ebenfo groß, wie in einem Heere, welches mitten in einer Schlacht plöglich Kontreordre erhält. Die- jenigen Geiſter, welche die Bewegung in die alte veligiöje Spur hineinleiten, ftehen jelbjt nicht einmal mehr auf dem Stand- punfte der alten Ölaubensgemeinjchaft, fie waren felbjt wenige Fahre zuvor Voltairtaner oder Anhänger von dem Deismus Rouſſequ's; fie alle haben fich die neue Neligtofität erkämpft oder jelbe durch Näfonnement erworben. Darin liegt es, daß die geiftige Bewegung bei denjenigen Schriftitellern, welche das neue Jahrhundert einleiten, jo gehemmt und geftutt auftritt. Nur das Gefühl des Berluftes, nur die Ungeduld über die Dangelhaftigfeit unferes Wilfens ift gewachſen. So fühlt man die Wahrheit eines Bildes, das Alfred de Muſſet ge- braucht: „Die Ewigfeit gleicht einem Adlerhorfte, aus welchem alle Jahrhunderte wie junge Adler herausfliegen, um jedes
Der neue Seelenzuftand. 77
nad) der Reihe das Univerjum zu durcheilen. Jetzt ift das unfrige an den Rand des Neftes gekommen; es blickt hinaus, aber man hat ihm feine Flügel befchnitten, und es erwartet den Tod, hinabjtarrend in den unendlichen Raum, in welchen es jich nicht hinauszufchwingen vermag.“
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6. Senancours „Obermann“.
Im ſchärfſten Oegenjage zu dem jelbjt in der Verzweiflung und dem Efel vor dem Leben jo ftolzen und gebieterifchen Vene fteht die nächjte beachtenswerte Variation des zeitalter- lichen Typus, Obermann.
„Dbermann‘ ein Werk, das im jelben Jahre wie ent gejchrieben ward, iſt, ebenfo wie dieſes Buch, in der Verban- nung, faft während eines Eremitenlebens, von einem feiden- ſchaftlichen Atheijten, einem tief fühlenden Stoifer, Etienne de Sénancour, verfaßt. Etienne Pierre de Stenancour wurde in Paris im Jahre 1770 geboren, wanderte aber in den eriten Tagen der Nevolution nach der Schweiz aus, wo ihn langwierige Krankheit und verjchiedene Verhältniſſe zu bleiben zwangen. In feiner Eigenjchaft als Emigrant wurde er aus Frankreich verbannt, über deſſen Grenzen er fich nur heimlich wagte, um jeine Mutter zu bejuchen. Unter dem Confulat ging er doch ohne Erlaubnis, zurück, und lebte während der erjten drei Jahre ein volljtändiges Eremitenleben in Paris, um nicht die Aufmerkfamfeit der Behörden auf fich zu Tenfen. Später fand er einen mäßigen Erwerb als Mitarbeiter liberaler Zeitungen und als Herausgeber hiſtoriſcher Hand- bücher. Sein Leben war einſam und glanzlos — das Leben eines tiefempfindenden Stoikers.
Sénancours erſte Schrift „Zräumereien über die ur— fprüngliche Natur des Menſchen“, deſſen Titel jchon den Schüler Rouffeaus verrät, erſchien 1799. Im Anfang des Sahres 1804 gab er feinen piychologifchen Roman „Obermann“ heraus, der bei jeinem Erjcheinen fein bejonderes Anfjehen erregte. Nichtsdejtoweniger wurde dies Buch jpäter immer wieder neu aufgelegt; ein folgendes Gefchlecht griff immer wieder auf dasjelbe zurücd, und fein Name wurde in Frankreich lange Zeit im Verein mit denjenigen Oſſians und Werthers genannt. ES wurde frühzeitig von Nodier und Ballanche
Stnancour’3 „Obermann“. 79
ſtudiert. Sainte-Beuve erwählte es zu feinem Lieblingsbuch, wie auch er und George Sand viel dazır beigetragen haben, die allgemeine Aufmerkſamkeit auf dasjelbe hinzulenfen.
Man fünnte „Obermann“ den franzöfischen „Werther“ nennen, er hat, was die Selbjtmordsepidemie betrifft, in Frankreich eine ähnliche Rolle wie „Werther“ in Deutjchland gejptelt; aber der Ausdruck iſt irreleitend, denn „Obermann“ enthält feine Liebesgejchichte. ES war in den Händen des unglüclichen Nabbe, des Freundes Victor Hugos, befannt durch die Biographie und Gedichte desjelben, und förmlich verehrt wurde es in einem Kreife junger Leute, wie Sautelet, Baftide, Ampere, Stapfer, von denen der erjtgenannte felbit feinem Leben ein Ende mahte. War René der Auserwählte, jo ift Obermann der Lebergangene Sein Geijt ijt ebenjo vieffeitig, jein Gemüt eben jo tief wie René's, aber der Engel, welcher diejen berief, ijt an ihm vorbeigegangen. In René erkannte ein Teil der Herrichernaturen des Jahr— hunderts fich felbjt wieder, Obermann aber iſt die Ge— ihichte dev Mehrzahl, d. h. nicht der vulgären, jondern der tiefbewegten und begabten Menge, welche gleichjam den Chor der auserwählten Geijter bildet. Das Buch beginnt mit den Worten: „Man wird in diefen Briefen Aeußerungen eines Geiftes finden, welcher fühlt, nicht eines Geiftes, welcher arbeitet.“ Hierin liegt alles. Warum arbeitet er nicht? Das iſt Shmwer zu erflären. Am fürzeften lautet die Antwort: Weil er unglücklich it. Warum ift er unglüdlih? Weil er allzu empfindlich, für Stimmungen und Eindrüde allzu empfänglich iſt. Er ift lauter Herz, und das Herz arbeitet nicht. Es war die Zeit der Negel, der Manneszucht, des milttäriichen Despo- tismus. Es war jene Epoche, wo unter den Wilfenjchaften die Mathematif, unter den Tugenden die mit der Fähigkeit zu umbedingter Unterwerfung vereinte Thatkraft in höchſtem Anjehen ftanden. Obermann gehört mit feiner einzigen Faſer jeines Herzens zu diefer Zeit; denn er verabfcheut ſowohl die Disziplin wie die Mathematik fo Fräftig, wie es nur ivgend ein fpäterer Nomantifer thun könnte. Er fpottet über die Philiſter, welche täglich denfelben abgemeffenen Spaziergang
s0 Die Emigrantenlitteratur.
und täglich an derjelben Stelle Kehrt zu machen. Er hält nichtS davon, im voraus zu wiffen, wodurch fein Gefühl be- einflußt werden wird. Yaß den Geift, jagt er, danach ftreben, jeinen Erzeugniffen eine gewijje Symmetrie zu geben, das Herz arbeitet nicht und kann nur dann etwas Schaffen, wenn man es mit aller Ausbildung verjchont. Man fühlt dies kultur— feindliche Prinzip in feinen Briefen: fie bilden ein jchwer- fälliges, breites, ernjthaftes, fchlecht gejchriebenes Buch, das ſich wie eine Neihe Improviſationen ausnimmt, denen der Berfaffer im Bewußtſein, daß fie feines Herzens Kinder find, feine gewinnendere oder zufagendere Form hat geben wollen oder fünnen. Ganz gewiß findet man ringsum in dem ge- diegenen Erz des Werkes Goldförner; aber man muß fie mit peinliher Mühe auffuchen.
Der Held des Buches gehört zu jenen Unglüclichen, welche für die Schattenfeite des Lebens gejchaffen zu fein iheinen und nie dazu gelangen, in feinem Sonnenlichte zu wohnen. Das Glück geht an ihnen vorbei, und der ver- geglichen Fama, deren Gedächtnis mit Namen jo überfüllt tft, fällt e8 immer fo jchwer, ihre Namen auszusprechen, daß fie tot Scheinen, während fie noch leben. Meijtens gelangen jte auch gar nicht auf den Schauplag der Deffentlichkeit. Es it, wie Hamlet jagt, neben den vielen vortrefflichen Eigen- ichaften ein eigentümlicher Fehler in der Natur, welcher das Zuſammenſpiel der Teile hemmt. In der jo fein fomplizierten Uhr bricht jett eine Fleine Feder, jett ein fleines Rad und die Mafchinerie jteht für lange Zeit ftill. Obermann hat feine feſte Bejchäftigung, feinen Wirkungskreis, fein Fach und gelangt erſt auf den letten Seiten des Buches zu dem Vor— ja, als Schriftiteller auftreten zu wollen; aber der Yefer glaubt nicht vecht daran, daß ihn auf diefer Bahn das Glück erwartet. Wer ein noch jo fleines Werk zur Welt befördert hat und feine Erinnerungen zurück ſchweifen läßt, der weiß, welch eine faſt unglaubliche Menge günftiger Umftände ein- treten, welche unglaubliche Zahl Feiner und großer Hinder- niſſe er überwinden, wie genau er auf den Zeitpunkt achten, wie eifrig er die Gelegenheit und den Augenblick erfaſſen
Sénancour's „Obermann“. 81
mußte, wie häufig er im Begriffe ftand, das Ganze auf- zugeben, wie viele Anfälle von Hoffnungstofigfeit und Ent- mutigung er befiegt hat, nur um dies geringe Biel zu er- veihen; das kleinſte lebende, ans Licht geborene Werk zeugt von tauſend Triumphen. Und welche Kombination von Um— jtänden iſt erforderlich, damit es dann nicht gleich nach der Geburt jtirbt! Eine eben fo große Zahl wie für einen lebenden Organismus. Das Werf muß gleichjam eine offene Stelle, eine Lücke finden, in welche es hinein paßt, das Intereſſe dafür darf nit von anderen jtärferen Intereſſen durchkreuzt werden, die Strömung darf nicht nach entgegen- gefetster Nichtung gehen, das Talent nicht durch ein größeres überjtrahlt werden. Es darf an nichts Früheres erinnern, e3 darf nicht zufälligerweife einem andern ähnlich fein, und e3 muß doch in der einen oder anderen Art fich an ein ſchon Befanntes anfnüpfen und einem ſchon gebahnten Wege folgen. Es muß endlich in die vechte Beleuchtung fommen. ES giebt Werfe, die, ohne weichlich zu fein, in der Beleuchtung, welche ein gleichzeitiges Ereignis oder ein gleichzeitiges Xitteratur- produft ihnen giebt, weichlich erjcheinen. Es giebt Werke, welche fich altmodisch, welche fich dürftig und gleichjam ver- blaßt ausnehmen.
Man fann jagen, daß das Geheimmis des litterarifchen Erfolges gewiffen Naturen wie ein Zauber eigen ilt.
Man blide z.B. auf zwei gleich begabte Naturen; wahre Silbernaturen fünnte man fie nennen, und jeder von ihnen hat außerdem als Zugabe fein Feines Goldforn. Über der eine verbirgt fein Goldforn als unjcheinbares Pünktchen in der Silberbarre, der andere überzieht die ganze Silberfugel da— mit, denn ein Goldforn reicht dazu aus; es zu benußen ver- jtehen, heißt Talent, und Talent ijt ein anderes Wort für Glüd.
Oder man trifft auf zwei Naturen von fait gleich edlem Metalle. Die eine gehört, fo fcheint es, zur den Auserwählten in den Augen der Welt, die andere zur Menge, und jieht man genauer zu, dann entdedt man jogar mit Verwunderung, daß die reinfte, die edeljte diefer beiden Naturen diejenige iſt, welhe im Schatten ftehen muß und bei Seite gedrängt wird.
Brandes, Hauptftrömungen. I. Emigrantenlitteratur. 6
82 Die Emigrantenlitteratur.
Aber bei näherem Studium begreift man, daß ein bischen un- edles Metall, ein bischen Kupfer oder Erz, weit eutfernt, der reinen Silbermünze zu ſchaden oder ihren Glanz zu jchwächen, ihr Halt und Feitigfeit giebt und ihren Umlauf ermöglicht. Das reine Silber wird eben durch feine Neinheit und Weich- heit unbrauchbar.
Man wird alfo Leicht begreifen, daß die angedenteten Bariationen dev Menjchennatur — bald ein allzu zarter und zufammengefetter Charakter, bald ein allzu einförmiger, bald einer, der fich felbjt zerbricht, bald einer, der von der ihn umgebenden Welt zerbrochen wird — eine Gruppe für fich allein bilden. Bald find es ihre Mängel, bald find es ihre Borzüge, die ihnen verderblich werden. Kann man fich etwas Unfeligeres denfen? Und doch kann man in Wahrheit jagen, daß ſelbſt diefe Hintangejeten ihr Glück haben.
Sie — fort, mit ſich allein, ſie ſelbſt zu ſein, und in dieſer Einſamkeit ihr ganzes Iuteleſſe zu bewahren. Kein Weihrauch ſteigt ihnen betäubend zu Kopfe, kein Ruhm ent— nervt ſie; fehlen ihrer Blütezeit die kräftigen, die glühenden Farben, welche nur der ſchmeichelnde Strahl des Sonnenlichtes hervorruft, ſo behält der Stamm länger ſeine Friſche und ſeine Säfte. Die rauhe Strenge des Lebens ſtärkt ihre Natur. Sie genießen das Glück, unbekannt zu leben. Sie haben die Beruhigung, nie überſchätzt, albern vergöttert und dann gleich nachher, wie es immer zu gehen pflegt, verlaſſen, ja verhöhnt zu werden. Denn ſo rächt ſich das Menſchengeſchlecht an dem, der einen Augenblick der Welt Bewunderung abgenötigt hat. Sie brauchen nie zu den Komplimenten eines Dumm— kopfes zu lächeln, ſich nie von dem Geifer eines Buben be— ſpritzen zu —** wie diejenigen, welche immer als Zielſcheiben der Anerkennung und des Haſſes daſtehen. Es bleibt ſogar das Recht, ſich den Vorgezogenen überlegen zu fühlen, ſich des Mißverhältniſſes zwiſchen ihrem Werte und der An— erkennung, welche ſie ernten, mit Stolz bewußt zu ſein. Ein ſchönes Los iſt ihnen beſchieden, wenn ſie es verſtehen, aus ihrer Lage und ihren Verhältniſſen Nutzen zu ziehen und das, was ſie niederzuſchlagen droht, in einen Anker der Kraft und
Sénancour's „Obermann“. 83
Ermutigung zu verwandeln. Verkennung iſt ein bitterer, aber ſtärkender Trank. Auf der anderen Seite freilich liegt hierin auch der erſte Keim all jener Zerrformen der Verkennung, die uns allen bekannt ſind, — die ganze Kohorte von Jammer— geſellen und Neidern, der große Troß der Narren aus un— befriedigter Eitelkeit, ebenſo unausſtehlich wie die, welche in geſättigter Eitelkeit ſchwimmen.
Aber wer kann, trotz all' dieſer Karikaturen, ohne Rüh— rung jene Schar edler Geiſter betrachten, die abſeits der Welt gelebt und niemals geglänzt haben, liebender Herzen, die nie— mals wieder geliebt wurden, jene Elite, welche von den Göttinnen der Gelegenheit, des Glücks und des Ruhmes nie— mals beſucht ward; Obermann wird als Schriftſteller kaum zu einer anderen Klaſſe von Schriftſtellern gehören, als Stnancourt, zu derjenigen nämlich, für welche das Geheimnis des Erfolges einer Art Zauber gleiht. Seine Briefe ent- halten eine allfeitige Darftellung feines Seelenlebens und jeiner Seelengefchichte. Die letere ijt in diefen Worten zujammen- gedrängt: „Ach, wie groß iſt der Menjch, jo lange er uner- fahren ift, wie veich und fruchtbar würde er jein, wenn nicht der falte Blick des Nächiten und der trodene Wind der Un— gerechtigfeit unfer Herz ausdörrten! Ich bedurfte des Glückes. Ich war geboren, um zu leiden. Wer fennt nicht jene dunklen Tage um die fältefte Jahreszeit, wo felbjt dev Morgen eine Verdichtung der Nebel bringt und nur durch ein paar dunkle Streifen von brennender Farbe auf den zuſammengeballten Wolfen Licht zu verbreiten beginnt? Denft an jenen Nebel- Schleier, an jene orfanartigen Windftöße, jenen bleichen Schimmer, an das Pfeifen in den Bäumen, welche zitternd fi beugen, an jenes ſchrille Geheul, deſſen jchneidender Laut furchtbaren Klagen gleicht; das war meines Lebens Morgen. Zur Mittagszeit Ffältere und anhaltendere Stürme, gegen Abend dichteres Dunkel, und des Menfchen Tag ift zu Ende.“
Fir eine Natur von folder Melancholie ift das ganze geordnete Leben tmerträglich. Ueber jenen ſchwierigſten und peinlichften Zeitpunft, wo der junge Mann feinen Lebens— ftand wählen foll, wird er nie hinweg kommen. Denn die
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Wahl einer Lebensſtellung heißt Berzichtleiftung auf die un- endliche Freiheit, auf die eigentliche Menfchheit, und Ein- pferchung in einen Stall nach Art des Tieres. Das Standes- gepräge iſt eine Befchränftheit, eine Endlichfeit, eine Lächerlich— feit. Dem reifein von jedem Standesgepräge verdanken die Frauen einen Teil ihrer Schönheit und der Poefie ihres Gefchlechtes. Wie follte alfo eine Natur, gleich der Ober- mann’s, einen Stand wählen fünnen! Gleichzeitig zu tief und zu Schwach für die Wirklichfett, haft er nichts mehr, als die Abhängigkeit: „Soviel iſt gewiß, ich will mich nicht von einer Stufe zur andern nach oben fchleppen, eine Stellung in der Geſellſchaft einnehmen, Vorgeſetzte haben, denen ich Ehrerbietung erweifen muß, um zum Entgelt Untergeordnete zu haben, die ich geringfchäten darf. Nichts erjcheint mir jo droffig, als diefe Stufenleiter von Geringſchätzung, welche ſich durch die ganze Geſellſchaft erftredt, vom Fürften an, der, wie er fagt, nur Gott untergeordnet ift, bis zum ärmſten Lumpenſammler, welcher der Perſon Achtung erweifen muß, die ihm eine Strohmatrage für die Nacht vermietet.“ Er wünfcht nicht daS Necht zu befehlen, mit der Pflicht, zu gehorchen, zu erfaufen. Den Inbegriff alles irdiſchen Yeides verkörpert ihm die Uhr. Seine Stimmungen nach dem Glockenſchlage zerreißen zu jollen, wie der Arbeiter, der Geihäftsmann, der Beamte es muß, das heißt, fich des einzigen Gutes, das uns das Leben bei all jeiner Widermwärtigfeit bietet: der Unab- hängigfeit, dev Freiheit, berauben. Er fühlt fich fremd unter jeinen Mitmenschen, fie fühlen nicht wie er, und er glaubt nicht wie fie. Sie erjcheinen ihm fo jehr von Aberglauben, Borurteilen, Heuchelei und ſozialer Unwahrheit angejtect, daß er davor zurückſchaudert, mit ihnen in ein gejellfchaftliches Ver- hältnis zu treten. Das achtzehnte Jahrhundert war nicht in Drthodorie ausgemündet, aber es hatte fich in Frankreich nicht über eine deiftifche Neligiofität in Verbindung mit dem Glauben an die Fortdauer des menschlichen Yebens in einer anderen Welt erhoben. Senancour teilt diefen Glauben nicht, er ift ein ganz moderner Geift; die wiffenschaftliche Welt- anſchauung des neunzehnten Jahrhunderts findet man fehon bei
Senancour’s3 „Obermann.“ 85
ihm. Er iſt ein warmfühliger, überzeugter Humaniſt und glaubt eben jo wenig an eine jpätere, beſſere Exiftenz als an einen perjönlichen Gott.
Das religtöfe Problem wird in feinen Briefen von ver- jchiedenen Seiten erörtert. Man wird hier ſchon das evbitterte Befämpfen der Doftrin, daß der Atheismus aus Bosheit und ichlechten Leidenjchaften entjpringe, finden, welches jpäter in der aufwachjenden Litteratur des Jahrhunderts jo vielfach variiert wird. Er macht mit Nachorue geltend, daß mit demſelben Recht, mit dem die Drthodoren behaupten, daß nur die Leidenschaften daran verhindern, Chriſt zu fein, auch die Atheijten behaupten, dag nur der Böfe Chrijt fer, weil er ſich nur Gaufelbilder vor Augen zu halten brauche, um nicht zu ftehlen, zu lügen oder zu morden, und weil ev nur das Argument befriedigend finden könne, wenn es feine Hölle gäbe, jo wäre es nicht der Mühe wert, ein vechtjchaffener Menjch zu fein. Er verfucht, den Glauben an die Unjterblichkeit des Individuums piychologijch zu erklären. Unruhig und unglücklich wie die meijten Menjchen jind, hoffen fie bejtändig, daß ihnen die nächite Stunde, der folgende Tag, und jchlieglich das zufünftige Leben das Glück und die Seligfeit bringen joll, die jie erjtreben. Aber, wendet er in Gedanfen ein, diefer Glaube ift doch ftets ein Troſt, und antwortet darauf, wenn dies ein Troft für den Unglüclichen it, jo ilt es für mich gerade ein Grund mehr, diefe Wahrheit für höchft verdächtig anzufehen. Die Menjchen glauben jo ger, was fie wünjchen. Wenn ein Sophijt des Altertums einem Menſchen eingebildet hätte, daß er, wenn er 10 Tage jeine Lehre befolge, unverwundbar, ewig jung und dergleichen mehr werden fünne, jo würde dieſer Gedanke auch der Einbildungs- kraft des Betreffenden fchmeicheln, aber deshalb nicht wahrer gewejen fein. Man wendet ein: aber wo bleibt die Bewegung, der Geift, die Seele, welche doch nicht vermodern können? Und er antwortet: wenn das Feuer in deinem Kamin aus- geht, jo verläßt deſſen Licht, dejfen Wärme, deſſen Bewegung dasjelbe und geht in eine andere Welt über, wo es ewig be- (ohnt wird, wenn es deine Füße erwärmt hat, und ewig be> jtraft wird, wenn es deine Pantoffeln verjengt hat.
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Schließlich kommt er zu dem gleichfalls in ſpäterer Zeit ſo oft behandelten Einwand, daß der, welcher nicht an die Dogmen der Religion glaubt, ſchweigen müſſe, um nicht den anderen ihren Halt im Peben zu rauben. Mit Wärme ımd Peidenfchaft antwortet er hierauf, daß, was die gebildeten Klaſſen a die Städte angehe, da feiner mehr gefunden werde, der an Togmen glaube — man beachte, daß er dies 1801 bis 1802 fchreibt, — und was die — Klaſſen anbelangt, ſo reduziert er ſeine Fragen folgendermaßen: ſelbſt wenn es feſtſtehe, daß die große Menge nie aus ihren Irrtümern ge— riſſen werden ſolle oder könne, ſo müſſe doch erſt entſchieden werden, ob die Rückſicht auf die Oeffentlichkeit das Recht gebe, zu täuſchen, und ob es ein Verbrechen ſei, die Wahrheit zu ſagen oder doch ein Uebel, daß ſie geſagt werde. Aber es zeige ſich jetzt gerade umgekehrt, daß das Volk überall damit anfange, die Wirklichkeit kennen lernen zu wollen und daß der Glaube aller Orten untergraben ſei. Es handle ſich alſo darum, den Menſchen ſchleunigſt zu beweiſen, wie unabhängig die Verpflichtung, das — zu thun, vom Glauben an ein zukünftiges Leben ſei, und ihnen zu zeigen, daß die ſittlichen Geſetze überhaupt natürliche und keine übernatürlichen Geſetze ſeien, mithin vom Zuſammenbruch des Glaubens ih! berührt würden.
Er hebt endlich an vielen Stelfen die verderblichen praf- tiichen Wirkungen diefes Schweigfamfeitsiyftems in religiöfen oe ae hervor, indem nur dies es möglich mache,
daß die Erziehung der Frau im alten Geleiſe vor fich gebe,
daß fie fo durchgehends in Unwiſſenheit gehalten werde, wo— a jie zum Feinde aller Entwickelung — werde und ſie ſo häufig in die phyſiſche und moraliſche Gewalt ihres Beichtvaters komme. Ein Vergleich zwifchen der Yiebe als begfücdender Macht und der Nolfe, die fie in der Ehe jpielt, veranlaßt ihn, ſehr Be Meinungen über die auf ge ichlechtlichem Gebiet herrfchende öffentliche Meinung und über die Richtſchnur nen, en, nach welcher das Betragen einer Frau in der ziilifierten Sefeltfchaft gebilligt oder gemiß- bilfigt wird,
Sinancour’3 „Obermann", 87
In diefen Punkten iſt Obermann ganz modern; er folgt hier auf gevadem Wege der gegebenen Gedankenſpur des vorigen Jahrhunderts. In feinem Gefühlsleben dagegen fteht er der modernen Geijtesrichtung ferner, obſchon er auch hier manches Kommende und Neue verkündet; in feinem Gefühls— leben ijt er gang vomantijch. Er bejchäftigt fich jogar mit dem Begriff des Romantiſchen. Ein Abjchnitt des Buches hat die bezeichnende Ueberjchrift: „Ueber den vromantifchen Ausdruck und Über den Kuhreigen der Schweizer“. Er faft diejen Begriff ungefähr jo auf, wie ihn die deutichen Roman— tiker gleichzeitig definierten, objehon er weit davon entfernt ift, jeine bezüglichen Anſchauungen, wie jene, in ein Syſtem zu faffen Das Romantiſche ijt für ihn „das Einzige, was mit den tiefen Seelen, mit der wahren Empfindſamkeit, überein- ſtimmt“. Die Natur fei in allen von der Kultur unberührten Pandjtreden, wie die Schweiz, voll von Nomantif; aber die Romantik werde allerorten verdrängt, wo man Die Menjchen- hand verjpüre. Die romantiſchen Wirkungen glichen los— geriffenen Worten aus der urfprünglichen Sprache des Menjchen, deren fich nicht mehr alle erinnern ufw. Die Natur fer in ihren Lauten und Tönen vomantifcher, als in ihren Schau- jpielen; das Nomantijche wende ſich mehr an den Hörfinn, als an den Sehfinn. Die Stimme des geliebten Weibes wirfe vomantifcher, als ihr Antlis, die Melodieen des Alpen- hornes gäben einen Fräftigeren Eindruck von der Romantik der Alpen, als irgend ein Gemälde; denn man bewundere, was man jehe, empfinde jedoch, was man höre.
Es ift intereffant, zu beobachten, wie Senancour unmill- fürlich mit den deutjchen Nomantifern, die er nie gelefen hat, zufammentrifft. Auch dieſe preifen bejtändig die Mufif als die Kunſt aller Künste. Irgendwo ruft Sénancourt fogar aus, daß ex ebenfoviel von Liedern halte, deren Text ev nicht verftehe, als von denen, wo er ſowohl-den Worten wie der Melodie folgen fünne. Er fagt dies in Bezug auf die deutjchen Lieder, die er in der Schweiz gehört hat und fügt noch hinzu: „außer- dem hat die deutjche Betonung etwas Romantiſcheres“. Es ift erſtaunlich, daß felbſt diefer Zug: die Sprache ausjchlieglic
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als Yautmufif aufzufaffen, ein Zug, der bei der romantijchen Schule in Deutfchland fo hHervortretend ward, fchon bei Sénancour angedeutet ift. Er befitt indeſſen eine allzu ver- feinerte Senfibilität, um bei der Mufif als dem bejten Ver— mittler zwiſchen dem einzelnen Menschen und der unendlichen Natur ftehen zu bleiben. An zwei verjchiedenen Stellen feines Buches hebt er hervor, daß eine Neihe verfchiedenartiger Wohl- gerüche eine ebenfo reiche Melodie enthalte, al3 irgend eine Neihe von Tönen, und wie die Mufif, Bilder von außer: gewöhnlichen Gegenden und Gegenftänden hervorrufen fünne.*) Man muß ficher in der franzöfifchen Romantik zu Baudelaive gehen, bevor man einen fo verfeinerten Geruchsjinn findet. Während aber diefe Verfeinerung bei Baudelaire das Symptom eines verfeinerten Senſualismus ift, ift fie bei Senancour nur das Symptom des rein romantischen Subjeftivismus. Sie iſt ein Element in der Gefühlsihwärmerei; denn durch den Geruchs- wie den Gehörfinn meint Sénancour die ver- borgenen Harmonieen des Dafeins erfafjen zu können; fie be- zeichnet ferner die Wirktichfeitsjcheu und das dieſem entjprechende potenzierte Selbftgefühl; denn dur) Geruhs-Wahrnehmungen wie durch Töne wird nur ein Sublimat der Wirklichkeit, ihr Geiſt und Duft eingeatmet.
Dbermann Fann in feiner Wirklichkeitsjchen nicht einfanı genug leben. Er wohnt allein, ev vermeidet fowohl Stadt wie Dorf. ES lebt in ihm das wunderlichite Gemisch all- gemeiner Menfchenfiebe und vollftändiger Gleichgültigfeit für alle wirklichen Lebensverhältniffe. Er ift jo empfindlich, daß er, dejjen Lieblingsgetränf bezeichnend genug der Thee tit, ſich unendliche Skrupel über feine Neigung zum Theetrinfen als Stimmungsmittel macht. Er hat empfunden, daß der Thee jeinen Mißmut beruhigt (le the est d’un grand secours pour s’ennuyer d’une maniere calme), aber er jchätst jedes äußerliche Neizmittel gering. Er weiß felbjt, daß ev in dieſem Punkte jehr wenig franzöfifch ift; denn die Franzofen würden, jagt er treffend, „wenn fie Neapel befäßen, im Krater des
*) Obermann, Aug. v. 1833. I. ©. 262. I. ©. 9.
Stnancour’3 „Dbermann“. 89
Veſuv einen Ballfaal erbauen." Nur wenn ev ganz allein, ganz unaufgeregt, in nebelverhülften Wäldern, wo er an den in diefer Periode unvermeidlichen Offian denkt, oder im Dunkel der Naht, an einem ſtillen Schweizerjee z. B. ift, lebt er vollfommen. Er fühlt, wie fein Zeitgenofje Novalis, daß das Dunkel, indem es die fichtbare Natur dem Sch verbirgt, das sch in fich ſelbſt zurücktreibt.
Er erzählt von einer Nacht, die er allein in der Natur verbracht hat. „In Ddiefer einen Nacht“, jagt er, „habe ich alles empfunden und durchlebt, was ein jterblih Herz an tiefem Sehnen und tiefer Trauer enthalten fann. Ich habe in derjelben zehn Jahre meines Yebens verzehrt.” Doch noch) tiefer als im Dunkel, wird er fich feiner in den Eisregionen der Alpen bewußt, wo das Leben um ihm herum nicht nur wie bei Nacht verfchleiert, ſondern wo es erftarrt ift umd ſtill zur ſtehen jcheint.
Ganz er jelbjt tft er nur, wenn er von dem Schweizer: thale, in welchem er wohnt, zu den höchjten Bergen in der ödejten Eindde, zu den „Firnen“, allein und ohne Führer emporjteigt und Meenjchen und Zeit vergißt.
Wollen wir ihn im diefer Umgebung fehen? „Der Tag war heiß, der Horizont neblig, die Thäler von Dunft um: raucht. Das Funkeln der Gletſcher erfüllte die niedere Atmoſphäre mit leuchtendem Wiederjchein, aber eine unbekannte Neinheit jchien der Luft eigen, welche ich einatmete. In diefer Höhe ftörte oder unterbrach feine Ausdünjtung von niederen Stätten, fein irdiſcher Lichtpunft die unendliche und dunkle Tiefe des Himmels. Seine anjcheinende Farbe war nicht mehr das blafje und helfe Blau, das fanfte Kuppeldach der Ebene, nein, der Aether geftattete dem Blick, fich in eine Unendlichfeit ohne Grenze zu verlieren und inmitten des Slanzes der Sonne und der Öfetjcher andere Welten und andere Sonnen zu fuchen, wie in der Nacht. Unmerklic jtiegen die Dünſte der Gletſcher auf und bildeten Wolfen zu meinen Füßen. Der Glanz des Schnees blendete nicht mehr meine Augen, und der Himmel ward dunkler und tiefer. Die Schneefuppe des Montblanc erhob ihre unbewegliche Maſſe
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iiber diefem grauen und veglojen Meere, über dieſen zuſammen— geballten Nebeln, in welche der Wind fich hineinbohrte,"und welche er in unförmlichen Wellen empor trug. Ein ſchwarzer Punkt zeigte fich in diefen Abgründen; er ſtieg ſchnell hinan und kam gerade auf mich zu. ES war der mächtige Adler der Alpen. Seine gewaltigen Schwingen waren feucht umd feine Augen wild; er juchte eine Beute, aber beim Anblic eines Menschen entfloh er mit einem unheimlichen Schrei und ftürzte fi in die Wolfen. Diefer Schrei wiederholte ſich zwanzigmal, aber mit trocdenem Laut ohne Nachhall; es Hang wie em eben fo oft wiederholter ijolierter Schrei in der all- gemeinen Stille. Dann verſank wieder alles in abjolutes Schweigen, al3 hätte der Laut felbjt aufgehört zu exiltieren, und als wäre die Eigentümlichfeit der Körper, zu tönen und zu fingen, aus dem Univerfum vertilgt worden. Nie fennt man die Stille in den lärmenden Thälern; nur auf den Falten Höhen herrſcht die Neglofigfeit, jenes andauernde feierliche Schweigen, das feine Zunge auszudrüden, feine Phantafie jich vorzuftellen vermag. Ohne die Erinnerungen, welche der Mensch aus den Ebenen mitbringt, würde er hier oben nicht glauben fünnen, daß es außen um ihn her irgend eine De- wegung in der Natur gäbe; jelbft die Bewegung der Wolfen icheint ihm unerflärlich; jogar die Veränderungen der Dünſte icheinen ihm inmitten der Veränderung felbft ftabil zu fein. Da jeder gegenwärtige Augenblid fich ihm fixiert, hat er nur die Gewißheit, aber durchaus nicht die Empfindung, daß alle Dinge auf einander folgen; Alles jcheint ihm ewig erſtarrt. Ich wünſchte, ich Hätte fichere Spuren meiner finnlichen Wahrnehmungen in jenen ſtummen Re— gionen bewahrt; die Einbildungstraft kann fich im täglichen Leben kaum einen Gedankengang zurückrufen, welchen alle Umgebungen zu verneinen und abzumeifen fcheinen. Aber in ſolchen energifchen Augenbliden ift man nicht im Stande, fich mit der fünftigen Zeit oder mit anderen Menfchen zur be- ihäftigen, und Notizen für jene und für dieſe aufzuzeichnen. Man denkt dann nicht im Hinblie auf eine fünftliche Konvenienz an die Ehre, welche man für feine Gedanfen ernten wird, ja
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nicht einmal im Hinbli auf das allgemeine Wohl. Man ift natürlicher, man denkt nicht einmal daran, den gegenwärtigen Augenblick zu benugen, man fommandiert nicht feine Ideen man verlangt nicht von feinem Geifte, daß er fich in einen Stoff vertiefen, verborgene Dinge enträtfeln, etwas jagen jollte, das bisher nicht gejagt worden tft. Der Gedante iſt nicht mehr aftiv und an Regeln gebunden, ſondern paffiv und frei. Man träumt, man giebt fich hin, man ift tief ohne Witz, groß ohne DBegeifterung, energifch ohne Willen.“
So fitt er, diefer Lehrling von Sean Jacques, dieſer „Energiiche ohne Willen“, denn das Wort paßt auf Ober- mann, einfam in Sean Jacques' Natur. „Rene“ hatte den Kreis der Natureindrüde erweitert. Statt eines Sees in den Schweizeralpen, einiger Bosfetts und Waldblumenfträuße, wo- mit wir in der „Neuen Héloiſe“ begannen, gaben „Rene“ und „Atala“ uns die ungeheneren Urwälder, den Rieſenſtrom Miſſiſſippi und feine Nebenflüffe, die tropifche Natur in ihrer ganzen leuchtenden und grellen Farbenpracht, ihrer ganzen biendenden und duftenden Ueppigfeit. Dieje Natur ſtimmt zu einer Gejtalt wie Nene. In diefer Natur war Chateaubriand als Verbannter umbergeftreift, und ihr Gepräge nahm er mit fih. In der öden Stille der Bergnatur ijt Obermann an jenem Plate.
Außerhalb des Lebens, da, wo das Leben aufhört, fühlt er ſich heimisch. Kann er denn das Xeben ertragen? Oder wird es ihm wie Werther ergehen, daß er es eines Tages von fich wirft?
Er thut das nicht, er ſucht feine Stärke in einem großen Entſchluſſe, ein für alle Mal verzichtet er auf Genuß und Süd. „Laßt uns,” jagt er, alles das als bedeutungslos be- trachten, was verjchwindet und vergeht, laßt uns im großen Spiele der Welt ein befjeres Los fuchen. Bon unfern fräftigen Entjehlüffen allein wird vielleicht die eine oder die andere Wirkung fortdauern.“ Er will aljo leben, aber wenn er be- ichliegt, nicht trogig Hand am fich zu legen, jo gejchieht das nicht aus Demut, ſondern fraft eines noch höheren Troßes.
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„Der Mensch,“ jagt er, „iſt vergänglich, das mag jein, aber laßt uns im Widerftande zu Grunde gehen, und wenn das große Nichts uns vorbehalten ift, dann laßt uns nicht jo handeln, daß dies als eine Gerechtigkeit erjcheinen kann.
Wie lange währt es jedoch, bis Obermann zu Diejer Ruhe gelangt! Wie viele Plaidoyers bringt er zu Gunſten der Berechtigung des Selbjtmordes vor, und man darf ſich da— rüber nicht wundern, denn die Selbjtmordgepivemie in der Pitteratur gehört ebenfalls noch zu den vorhin erwähnten Symptomen der Emanzipation des Individuums Es iſt eine der Formen, die negativfte und radifaljte, für die Befreiung und Losreißung des Individuums von der ganzen Öefelljchafts- ordnung, in welche dasjelbe von Geburt an hingejtellt ift. Wie hätten auch jene Zeiten, in welchen Napoleon feinen Ehrgeize jährlich Hefatomben von Blutopfern ſchlachtete, Achtung vor den Menschenleben erweden können? „isch höre überall,“ jagt Dbermann, „es fer ein Verbrechen, aus dem Leben zu jcheiden; aber diejelben Sophijten, welche mir den Tod verbieten, ſetzen nich demjelben aus oder ſchicken mich hinein. ES ijt eine Ehre, auf das Leben zu verzichten, wenn das Leben jchön tft, es iſt vecht und erlaubt, den zu töten, welcher leben möchte; und denfelben Tod, den zu juchen Pflicht ift, wenn man ihn fürchtet, fich jelbjt zuzufügen, wenn man ihn wünſcht, jollte ein Verbrechen jein! Unter taufend, bald jpisfindigen, bald Lächerlichen Vorwänden fpielt ihr mit meiner Exiſtenz, und ich allein follte fein Necht über mich haben! Wenn ich das Leben liebe, joll ich eS verachten, wenn ich glücklich bin, ſchickt ihr mich in den Tod, und wenn ich fterben will, verbietet ihr es mir und bürdet mir ein Leben auf, das ich verabjcheute.
Wenn ich mich nicht des Lebens berauben darf, jo darf ih mich auch nicht einen wahrjcheinlichen Tode ausjegen, und al’ eure Helden find dann nur Verbrecher. Der Befehl, den ihr ihnen erteilt, vechtfertigt fie nicht. Ihr habt fein echt, jie in den Tod zu fenden, wenn fie fein Necht gehabt haben, ihre Einwilligung dazu zu geben. Habe ich diejes echt zum Tode nicht über mich felbjt, wer hat es denn der Gejelljchaft verliehen? Welches wahnwitige Gejellichaftsprinzip habt ihr
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erfunden, laut deſſen ich zu meiner Unterdrückung ein Recht abgetreten habe, daß ich nicht beſaß, um mich der Unter— drückung zu entziehen?“
Ich habe vor Jahren in einer Abhandlung über das tragiſche Schickſal dem Mörder ähnliche Worte in den Mund gelegt: „Der, welcher unter den Laſten des Daſeins ſeufzt, kann ſich anklagend wider ſein Schickſal erheben und ſagen: warum ward ich geboren, mit welchem Rechte, warum werde ich nicht gefragt? Wäre ich gefragt worden, und hätte ich ge— wußt, was es ſei, zu leben, ſo hätte ich nie meine Ein— willigung dazu gegeben. Wir ſind alle wie Männer, die wider ihren Willen zu Matroſen gepreßt werden; aber der Matroſe, welcher gepreßt und ohne ſeine Einwilligung auf das Schiff geſchleppt worden iſt, hält ſich nicht für verpflichtet, auf dem— ſelben zu bleiben; wenn er die Gelegenheit wahrnehmen kann, wird er deſertieren. Wendet man ein, daß ich das Gute des Lebens genoſſen hätte, und deshalb jetzt das Schlimme er— tragen müſſe, ſo antworte ich: die Güter des Lebens, das Kindheitsglück z. B. welche ich genoß, und durch deren An— nahme ich meine Zuſtimmung dazu gegeben haben ſoll, zu leben, dieſe Güter empfing ich, ohne die leiſeſte Ahnung davon zu haben, daß ſie ein Handgeld wären, darum bindet dies Handgeld mich nicht. Ich will die Mannszucht des Schiffes nicht verletzen, meine Kameraden nicht ermorden oder dergleichen, ich will nur das Eine, worauf ich Recht habe, die Freiheit, da ich mich nie verpflichtet habe, zu bleiben.“
Man wird begreifen, daß ich nicht die Abſicht habe, mich hier auf die Realität der Frage einzulaſſen. Obſchon ich nicht glaube, daß man Anderes gegen die Berechtigung zum Selbſt— morde anführen kann, als die Pflichten gegen andere Menſchen, jo bezweifle ich für meinen Teil durchaus nicht, daß dies Argument völlig hinreichend und befriedigend iſt. Im übrigen überlaffe ich ganz den Moraliften die Beantwortung Ddiejer Frage. Ich ſchildere hier nur rein Hiftorifch und naturwiſſen— ichaftlich einen Seelenzuftand, der fich gejchichtlich gezeigt und in der Litteratur feine Dofumente niedergelegt hat. Denn „Obermann“ und „Werther find nicht die einzigen Bücher
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aus jener Zeit, in welchen der Selbitmord gerechtfertigt wird. Atala tötet fich ſelbſt. Auch René, der nur von feiner Schweſter Amelie, welche Berdacht fchöpft, davon abgehalten wird, jchreibt an feine Gattin: „Celuta, es giebt Berjuchungen, die jo hart find, daß fie die Vorſehung anzuflagen und uns von der Manie, exiftieren zu wollen, heilen zu müffen fcheinen. “ Sainte-Beuve bemerkt hierzu: „Mean achte darauf, daß dieſer unglaubliche Ausdrud: „die Manie, leben zu wollen,“ ges braucht wird, um die Liebe bis ing tiefjte Herz zu beleidigen. Das jo inftinftmäßige und umiverfelle Gefühl, welches be- wirkt, daß für jeden Sterhlichen, felbjt wenn er unglücklich ift, das Leben lieb und wert genannt werden darf, nn jedes Weſen das einmal geboren ift, dazu veranlaßt, „das füße Licht des Tages" zu lieben und fich nach demfelben zu iehnen, dies Gefühl nennt er eine Manie.“ — in dieſelbe Art erklärte ſpäter Arthur Schopenhauer es für die höchſte Tugend, zu überwinden, was er „den Willen zum Leben nennt.“
Der Verfaſſer des „Obermann“ bildete ſeinen Typus nach fich jelbjt und jeinem Talente, fein Held endete mit dem Entſchluſſe, Schriftitellee werden zu wollen. „Welche Ausjicht auf Erfolg werde ich haben?” jagt er. „Wenn es nicht genug ift, etwas Wahres auszufprechen und bemüht zu jein, dasfelbe auf eine überzeugende Art auszufprechen, jo werde ich feinen Erfolg haben, daß it gewiß.“ „Geht nur erſt,“ ruft er aus, „ihr, die ihr den Ruhm des Augenblides, den Ruhm des Gefellichaftsjaales verlangt, gebt erſt, ihr Alle, die ihr reich an Ideen feid, welche einen Tag lang dauern, an Büchern, welche einer Partei dienen, an Kunjtgriffen und Mitteln, welche Effeft machen. Geht exit, ihr verführerifchen und verführten Menſchen, denn es kümmert mich nichts, ihr eilt jchnell vorüber, und es it gut, daß ihr eure Zeit habt. Ich für meinen Teil glaube nicht, daß es notwendig ift, bei Lebzeiten anerkannt zu werden.“
Sénancour hat mit diefen Worten fein eigenes littera- riſches Glaubensbekenntniß abgelegt und fein eignes Geſchick prophezeit. Er blieb volljtändig von feinen Zeitgenojjen über-
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jehen und wurde zu jeinen Lebenszeiten nicht gewürdigt, obwohl er zu jeinem Unglüd einzig und allein von feiner Feder zu leben gezwungen war. Als aber die romantische Schule in Frankreich auftrat, fam er zu Ehren. Seine ein- fachen Feldblunen wurden ‚von der romantiſchen Kritik zu— jammen mit Chateaubriand’S und Frau von Staels Paſſions— blumen und Nofen in einen Strauß gebunden. Und er verdiente die Aufmerfjamfeit, die er jett erregte. Denn er ift einer der eigentümlichjten Geiſter der Cmigrantenlittevatur, ein Naturverehrer als echter Schüler Rouſſeau's, ein Melan- cholifer al3 echter Bewunderer Oſſian's, voller Yebensüberdruß als echter Zeitgenofje Chateaubriand’s. Er ift ganz modern in all feinen theoretischen Anfchauungen von Neligion, Wtoral, Erziehung und der gejelljchaftlichen Stellung der Frau, er tft ganz deutſch-romantiſch in feiner Gefühlsichwelgerei, jeiner Unthätigfeit und in ſeiner unbejchreiblichen Scheu, mit der Wirklichkeit in Berührung zu kommen, als müſſe er ſich daran verbrennen. Er ijt endlich franzöſiſch-romantiſch durch dasselbe Gemifch von Freifinn und Senfibilität, von Schwärmerer und verfeinertem Senfualisinus, welches man zwanzig Jahre jpäter in der franzöfifchen Litteratur bei Saint-Beuve unter dem Pſeudonym Joſeph Delorme wiederfindet. Er iſt nach jeinem ganzen Wejen ein Vorgänger oder Vorläufer der langen Schar größerer Geifter, welche in demfelben Augenblid, als er auftritt, ihren Zug durch das Jahrhundert beginnen, die er mit feiner fchwachen Stimme anfindigt, und denen er ven Weg bahnt.
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Genau zur ſelben Zeit wie „Obermann,“ erſchien auf dem franzöſiſchen Büchermarkte ein kleiner Roman, der ſeinen Urſprung in einer Sénancour verwandten Geiſtesrichtung hat und deſſen Verfaffer gleichfalls em Vorgänger bedeutenderer Geiſter al3 er ſelbſt, ift, der aber ein veiches und im höchſten Grade gejchmeidiges Talent bejaß, eine in der franzöfifchen Poefie höchſt ungewöhnliche Veranlagung fir das Phantaftische und einen Mut, neue Bahnen einzufchlagen, der ihn auch zugleich zum Bahnbrecher macht. Dieſer Schriftfteller war Charles Nodier, der Name des kleinen Buches: „Der Maler von Salzburg.“
Charles Nodier, der nur mit einem paar feiner Sugendfchriften zur Emigrantenlitteratur gehört, im übrigen jeinen Plaß in der romantischen Schule in Frankreich (Kap. 4) hat, wurde zu Befancon im Jahre 1780 geboren. Der Vater war ein begabter und ehrenhafter Mann, ftreng als obrigfeit- fiche Berfünlichfeit, Liebevoll in feinem Haufe, ein erflärter An— hänger der Philofophie des achtzehnten Jahrhunderts, der feinen Sohn nad den Prinzipien in Rouſſeau's „Emile“ erzog. Diefer zeigte frühzeitig eine evjtaunliche Gelehrigfeit und vielfältige, außerordentliche Fähigkeiten. Erſt fiebzehn Jahre alt, war er ihon ein jo tüchtiger Philologe, daß er ein „Lexikon über die franzöſiſchen onomatopdetifhen Worte“ fchrieb, welches vom Unterrihtsminifterium für würdig befunden wurde, um es den Schulbibliothefen einzuverleiben, und mit achtzehn Jahren war er ein fo tüchtiger Naturforfcher, daß er jein Werf über die Fühlhörner und Hörorgane der Inſekten zur jelben Zeit er- ſcheinen ließ, alS er feinen erften Noman in Drud gab.
Seine Kindheit und erjte Jugend waren äußerſt bewegt. Mit dreizehn Jahren erlebte er die Schredensperiode und ſah die Gräuel in nächfter Nähe, denn fein Vater war Präfident des Nevolutionsgerichtes in DBefancon. Im Jahre 1793
Veodier. 97
rettete dev Kleine warmblütige und energijche Knabe ein Frauen— (eben. Eine Dame in der Stadt hatte fich der Geldunter- ſtützung eines Verwandten, eines Emigranten bei dev Nhein- armee, ſchuldig gemacht. Ihre Schuld lag Kar, der Spruch des Geſetzes war unzweideutig, feine Nettung jehien möglich. Da aber ein Freund der Familie und der Dame dem jungen Charles Nodier die Angelegenheit erflärt und er vergebeus jeinen Bater um das Leben der Angeklagten angefleht Hatte, jo ergriff er den Ausweg, dem Bater damit zu drohen, daß er jich jelbjt töten wiirde, wenn ein Todesurteil gefällt werde. Er legte jolchen Ernft in feine Drohung und zeigte einen jo feſten Entſchluß, daß der Bater im entjcheidenden Moment nachgab und aus Furcht, feinen Sohn zu verlieren, feine Nömertugend bejchwichtigte und die Schuldige frei fprach. Im ſelben Fahre, als diefes gejchah, wurde er, da der Unterricht in Beſançon für ihn nicht ausreichend war, nad) Straßburg gejandt, und der Zufall wollte, daß er im Harfe des befannten und berüchtigten Eulogius Schneider, dem henfer- artigen Negenten des Elſaß, der bald darauf auf dem Schafott in Paris jtarb, untergebracht wurde. Die Szenen, welche ev in Straßburg erlebte, waren allerdings geeignet, um die Ein- bildungsfraft des zufünftigen Nomanfchreibers zu befruchten. AS Jüngling wurde er dann bald in Paris Zeuge der Leicht: fertigfeit und Vergnügungsfucht unter den Direktorium, und als er 1798 nach Bejancon zurüdfehrte, interefiierte er ſich vor allem für die StaatSgefangenen und die Berdächtigen im der Stadt. Er mwırde als gejellfchaftsgefährlich angeklagt; eines Nachts wurde feine Thür erbrochen und jeine Papiere unter— jucht; man fand nur feine Arbeiten über Wortitämme und Fühl- hörner. Aber das Aufreizende der Situation erweckte feine poetische Abenteuerluft, ev liebte es noch, Krieg mit den Ge— walthabern zu führen, fich Gefahren auszujeten, jich verfolgt zu wiffen. Er hatte und befan auch fpäter feine politiiche Ueberzeugung aber er fchwärmte für die Freiheit, und unter allen wechjelnden Regierungen in Frankreich gehörte er be— ftändig der Oppofition an, war religiös unter dev Nepublit, freifinnig unter dem Kaiferreih u. f. w. Der Despotismus Brandes, Hauptftrömungen. I. Emigrantenlitteratur. 7
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des erjten Konjuls empörte ihn, und zwanzig Sabre alt, ichleuderte er feine Dde „La Napol&eone“ gegen diefen. ALS man infolgedefjen Verſchiedene aufs Gerathewohl verhaftete, darunter auch den Buchdruder, gab Nodier fich felbit als Berfaffer an und wurde darauf einige Monate in Paris ge- fangen gehalten, fpäter nach feiner Vaterſtadt zurücgefandt, wo er unter Polizetaufjicht geftellt wurde.
Bon diefem Augenblid an begann für Nodier eine lange Reihe Verfolgungen und Pladereien von Seiten der Negierung, die dem jungen Poeten ficherlich oft genug im höchiten Grade peinlich waren, ficherlich aber auch oft von feiner lebendigen und ſtets thätigen Phantafie übertrieben wurden. Sicher iſt es in jedem Fall, daß er, um den Verfolgungen zu entgehen, von einem Verſteck im Jura nach dem andern flüchtete, in unbejuchten und einfamen Dörfern lebte und fchrieb, und nie lange genug an einem Orte blieb, um das dort begonnene Manuskript zu vollenden. So erfährt er in fehr jugendlichen Alter außer allen früheren Eindrücen, die er vom Yeitalter empfangen hatte, voll und ganz die Gefühle und Stimmungen des Berbannten und Emigranten. Und diefe Gefühle und Stimmungen find es, welche den Hintergrund feines erſten dichterifchen Verfuches bilden. „Der Maler von Salzburg“ wurde in den Bergen bei ſtetem Wechjel des Aufenthaltes ge- jchrieben.
„Le peintre de Saltzbourg, journal des emotions d’un coeur souffrant, suivi des Meditations du eloitre‘ it der Titel der erjten Ausgabe, Paris 1803. Die Kloftergedanfen, welche hier die Zugabe zum Roman bilden, haben infofern Intereſſe, als fie der bei dem jungen Geschlecht herrichenden Stimmung Ausdruck geben. Ste haben denfelben Zwed, wie bei René, ein Fräftiges Wort zum Beſten der Wiederaufrichtung dev Klöfter einzulegen. Das Ganze tjt ein Monolog, den ein nach feiner eigenen Meinung höchſt Unglüclicher, dev darüber jammert, fein Kloſter zu finden, wo— hin er Zuflucht nehmen könne, hält, und der ſich nun alS zu— fünftiger Trappiſt legitimieren zu wollen jcheint.
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Ich, der ih noch jo jung umd bereits jo unglüclich bin, ich, der ich mit einer allzu frühen Erfahrung das Leben und die Geſellſchaft durchſchaut Habe und den Menjchen fremd bin, die mein Herz verwundet haben; ich, der ich jeder Hoffnung beraubt bin, welche zuvor mich getäufcht Hat — ich habe in meinem Elend einen Zufluchtsort gejucht und feinen gefunden." Hierauf folgt eine fange Xobrede über Mönche und Nonnen, diefe „Engel des Friedens,“ welche nur beteten, teöjteten, ev- zogen und Kranfe pflegten, milde Gaben brachten, den zum Tode Berurteilten zum Sckhafott folgten und die Wunden der Helden verbanden. Wodurch haben ſich doch dieſe Männer und Frauen Gottes folche raſende in der Gefchichte des Fanatismus einzig daftehenden Berfolgungen zuziehen fünnen ? Wie iſt es möglich, daß die Geſetzgeber des achtzehnten Jahr— hunderts das menjchliche Herz fo schlecht fannten, daß fie weder einen einzigen jener Fälle verftanden noch geahnt haben, für welche die Religion die Klöſter erfunden hat!
„Hier jteht eine ganze Generation, welcher die politischen Begebenheiten die Erziehung eines Achilles zu Teil werden ließen. Sie ijt mit Löwenmark und Löwenblut genährt worden ; und jebt, da eine Regierung, die nichts dem Zufall überlajjen will und jogar die Zukunft feſtſetzt (d. h. Napoleons Regierung, gegen welche ſchon diefe Ausdrüde fühn waren), Schranfen für die gefährliche Entwicelung der Jugend gejett, und der- jelben zugerufen hat: Bis hier und nicht weiter! — iſt man fich jest Kar darüber, welche traurigen Begebenheiten jo viel unbenutzte Leidenjchaft und unterdrücte Energie hervorrufen fann, oder wie viele Verſuchungen zur Sünde ein ſturm— erfülltes Herz, in dem Sorge und Lebensüberdruß herrſchen, birgt? Ich erkläre mit Bitterfeit und Entjegen: Werthers Biftole und des Henker's Beil haben uns bereits dezimiert. Diefe Generation erhebt fih und verlangt Klöjter von Euch!“
Ganz gewiß ein demütiges und fentimentales Verlangen von einem Gejchlecht, welches mit Löwenmark aufgezogen jein will! aber man fühlt den Troß hinter diefer demütigen, doch nicht buchſtäblich gemeinten Forderung. Die ungeduldige
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Melancholie greift aufs Geratewohl nach) einem jchmerz- ſtillenden Mittel.
In einer Vorrede, die Nopdier 1840 einer neuen Auflage des Buches beifügte, jpricht er fi) über die Zeitumftände aus, die es hervorgerufen: Die Negierung des Direftoriums, jagt er, war alles andere, als fentimental. Die Sprace der Träumerei und Leidenschaft, welcher Nouffeau dreißig Jahre - zuvor eine worübergehende Gunft verfchafft hatte, wurde am Schluß des Jahrhunderts als Tächerlich betrachtet. Anders war es in Deutjchland „diefem wunderbaren Deutjchland, dem letzten Vaterlande der europäischen Dichtung, der zu— fünftigen Wiege einer fommenden fräftigen Gefellichaft, wenn überhaupt noch) in Europa eine Gejellichaft erjchaffen werden fann, und Deutſchlands Einfluß begann damals fich bei ung geltend zu machen. ... Wir lafen Werther, Goetz von Berlichingen und Karl Moor!“
Der Held in Nodiers Bud) ift nad) dem Wertherſyſtem ge- formt, er ift zwanzig Jahre alt, ift Maler, Poet und vor allent ein Deutſcher. Allerdings fteht dieſe matte, halbverwifchte Nach- bildung unendlich hinter dem Original zurüd. Charles — er trägt Nodiers eignen Namen — iſt Emigrant; aus politifcher Urfache aus Bayern verwiefen und geächtet; zwei Jahre lang bat er Europa als ruheloſer Flüchtling durchirrt, zwei Jahre lang bat er Nodiers eigenes Leben gelebt. Nur ein Gefühl bat ihn aufrecht erhalten, die Yiebe zu einem Mädchen, welches den poetifchen Namen Eulalia trägt; ev fehrt zurück und — hört es, ihr Himmtlischen! — Eulalia iſt untreu, Eulalia hat einen anderen geheiratet.
Der verratene Liebhaber fann feinem Hange, ihren Wohn— ort zu umkreiſen, nicht widerftehen. Eines Tages begegnet er ihr und — 0 Geſchick! — Eulalia, die in all der Zeit nichts von ihm gehört und die faljche Nachricht feines Todes empfangen hat, hat nur unter Thränen, nur aus Gehorſam gegen den Willen ihrer Mutter und endlich auch in Folge einer Schwachen Aehnlichkeit des jungen Freies mit Charles, jenen, einen Herrn Sprond geheiratet, der, wie es fich zeigt, einer der edeljten Menfchen ift. Hierüber Werther- Klagen, Werther-
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Stimmungen ufw.; dies alles aber im Vergleich zu Werther in eimer ſehr abgejchwächten Tonart. Charles giebt fich weh- mütigen Erinnerungen hin: Hier ſah er fie zum erjtenmaf, hier fühlte ev die erften dunklen Ahnungen über die Zukunft, bier vergaß er in feinem Entzüden, ſie zu erbliden, fein Papier, jeine Bfleiftifte, feinen Oſſian; hier, wo die Bäume jeßt umgehauen find, hatte ev einſtmals beſchloſſen, feinen leben Werther begraben zu lajfen und jet verjpürt er Luft, hier fein eigenes Grab zu graben, Werther war nämlich Charles Freund, und man fieht, daß er ihn zum Mufter genommen hat. Nur in einem Punkte iſt Charles Fräftiger und männlicher als Werther und zwar in feinen Zornansbrüchen über die Hinder- niffe, die fich zwifchen ihn und die Geliebte ftelfen:
„Weshalb wagte ich es nicht, fie in meine Arme zu Schließen, fie al8 meine Beute zu ergreifen, fie weit fort von den Menfchen zu führen und fie im Angefichte des Himmels als meine Gattin zu erklären! Dder, wenn felbjt dies Verlangen ein Berbrechen ift, weshalb ijt es dann jo innig mit dem Empfinden meines Dafeins verknüpft, daß ich es nicht auf- geben kann ohne zu fterben? Ein Verbrechen, jagte ih! In den Zeiten der Barbarei, den Tagen der Unwiſſenheit und der Knechtichaft ijt es diefem oder jenem Menjchen aus dem großen Haufen eingefallen, jeine Vorurteile niederzufchreiben und hat dann gejagt: „Da habt ihr Geſetze.“ Welche Verblendung der Menjchheit! Welch verächtliches Schaufpiel, jo viele Gejchlechter von den Vorurteilen und Launen eines längjt verjtorbenen Gejchlechts gelenkt zu jehen!“
Höchſt komisch nimmt fich unmittelbar hiernach eine feier- fiche Verherrlihung von Klopftods Meſſias aus, die augen- icheinlich durch andere, aber jehr ungleichartige Reminiscenzen aus Werther veranlaßt if. „O göttlicher Klopſtock!“ bricht Charles aus, „mit welcher Pracht führft du uns nicht alle Wunder der Poefie vor Augen, indem du ung entweder in die Verſammlung des Höchiten einführft, wo die Erjtgeborenen unter den Engeln die Myſterien des Himmels lobſingen oder wo die Cherubim in Heiliger Andacht ihr Antlig mit ihren goldenen Flügeln bededen.” Diefer Sprung fcheint groß
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zu fein; aber gerade dies Gemisch von revolutionären In— jtinften und romantischen Anlauf, welches in jedem anderen Zeitalter toll erfcheinen würde, ift in der Emigrantenlitteratur weit davon entfernt, zu überrafchen, es findet fich bei allen Schriftjtellern wieder. Ber Chateaubriand tritt es als ſataniſcher Katholizismus auf, bei Séenancour als jentimentaler und ro— mantijcher Atheismus, hier als Empörung gegen die gejell- ichaftlihe Ordnung, und wird mit dev Meifiasjchwärmerei vereint; die Befchaffenheit der Mifchung ift verjchieden, aber der Grundzug iſt überall derjelbe. ES zeigt fich jegt im Noman, daß Eulalia's Gatte nicht glücklicher ift, als ihr unglüclicher Yiebhaber. Er hat feine Jugendgeliebte durch) den Tod ver- loren und fann diefen Verluſt nie vergeffen, jelbjt nicht an Eulalia's Eeite; ex ift Zeuge der Yiebe Eulalia's und Charles’, und um ihnen nicht im Wege zur jtehen, nimmt ev Gift und jtirbt, nachdem er die Liebenden um Verzeihung für die Wider- twärtigfeiten gebeten hat, die er ihnen unfreiwillig „durch fein unfeliges Yeben“ bereitet hat. Es ift unmöglich, ſich einen gefügigeren Ehemann vorzuftellen. Die Yiebenden zeigen fich jedoch nicht weniger edel als er; Eulalia befonders iſt zu hoch: herzig, um fich diefen fo traurigen Todesfall zu Nutze zu machen. Sie geht ins Klojter und Charles ertränft ſich in der Donau. Zwei Selbſtmorde und eine Selbſteinſperrung im Nonnenflofter — das war zu jener Zeit Dev gewöhnliche Abſchluß.
So wenig bedeutend dieſer Roman auch als Geiſtes— produkt iſt, fo intereſſant iſt er aber als hiſtoriſches Dokument. Es währte nur kurze Zeit, und Nodier erhob ſich über dieſe Anfangsentwickelungsſtufe und wir werden ihm, wie ſchon an— gedeutet, in einem höheren Entwickelungsſtadium der franzö— ſiſchen Litteratur wiederbegegnen. Keiner hat ſich mehr ge— häutet als er, und der Schmetterling iſt ſchöner als die Puppe.*)
*) Bol. Bd. 5. Die romantiſche Schule in Frankreich: Nodier.
Conſtant's „Adolphe“. 103
8. Conſtant's „Adolphe“.
Wer in der Litteraturgefchichte den Typus eines be- ſtimmten Zeitraums von einer Variation zur anderen begleitet, verfährt wie dev Naturforfcher, welcher die Umbildung einer und derjelben Grundform, z. B. des Armes zum Beine, zur Pfote, zum Flügel, zur Floſſe, durch verjchtedene Arten im Tierreiche hindurch) verfolgt. Die nächjte Variation des Grundtypus, auf welche ich aufmerfjan machen will, ift Benjamin Conſtant's „Adolphe", der Held in dem einzigen poetischen Werfe des berühmten politifchen Autors. Adolphe ift weniger glänzend als René, weniger refigniert als Obermann, aber er fchildert dasjelbe umentjchlofjene Gejchlecht. Auch er ijt ein Sproß der Werther-Familie, aber er ijt ein Kind des Zeitalters der Ent- täufchung, wie René.
„Adolphe“ erſchien erſt nach dem Fall des Kaiferreiches, es ward jedoch ſchon in den allererjten Jahren des Jahr— hunderts gefchrieben, oder zum mindejten angelegt. Es ſteht, wie all’ dieſe Bücher, welche der Gefühlsrichtung nach in Rouſſeau's Spuren gehen, im ſchärfſten Gegenjfage zu dem Negimente in Frankreich. Was in Paris herrjcht, ift die Zahl und der Säbel, in der Litteratur der klaſſiſche Ddenjtil und die exakte Wiffenfchaftlichfeit. Hier dagegen Gefühle und Ne- flexionen über ein Gefühlsteben.
Benjamin Conjtant de Rebecque wurde 1767 zu Lauſanne von protejtantijchen Eltern geboren. Seine Geburt koſtete der Mutter das Leben; fein Bater war ein falter und weltfluger Mann von derfelben Art wie der Vater in „Adolphe”. Er war bon Kindheit an ganz ungewöhnlich begabt. Wenn man in „Adolphe“ vielleiht die außerordentliche Anziehungskraft, welche der Held ausübt, nicht ganz verjteht, jo kommt es daher, weil Conftant, der die Erinnerungen feines eigenen Lebens zur Abfaffung des Buches benutzte, durch eine gewiſſe Scham abgehalten ward, Adolphe’s fejjelnde Eigenjchaften allzu
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jtark hervorzuheben. Aber Adolphe iſt in ſolchem Grade Con- ſtant jelbjt, daß man die Entjtehung diefes Typus eigentlich erjt vecht begreift, wenn man die Kugendgefchichte des Ver— faſſers jtudiert. ES geht mit Adolphe wie mit René, zu defjen Berjtändnis Chateaubriand’S eigene Außerungen über fich jelbit uns den Schlüffel geben.
Er befaß. Grazie und Feinheit, eine frühreife, jchlagende Selbitivonie, fowie eine jtürmifch pulfierende Empfänglichkeit für Cindrüde, was um jo merfwürdiger war, als fie mit einer beginnenden Blafiertheit vereint war. Ein Drang zu jtarfen Gemütsbewegungen vereinigte ſich bei ihm mit der Gabe, fich über dieſelben Hinwegzufegen. Er entwickelte be- reits als Jüngling die Fähigkeit, ſich zu teilen, zu verdoppeln umd zu verfpotten. Er fonnte ausrufen: „Ich amüſiere mich über all’ diefe Verlegenheiten in denen ich mich befinde, als wären es die eines Andern,“ und wenn er zornig ward, äußerte er LieblingSphrafen wie: „Ich bin wütend, ich ver- fiere den Berjtand vor Wut, aber im Grunde ift mir das Ganze höchit gleichgültig.“
Es wurde feine Mühe gefcheut, dem geiftreichen und aufgewecten Jüngling eine Erziehung zu geben, welche feinen Anlagen entſprach. Er wurde zuerjt auf die Edinburgher Univerfität gefandt, wo er Freundichaftsverbindungen mit einem Kreiſe junger vornehmer Engländer und Schotten an- fnüpfte, welche jpäter faſt ſämtlich berühmte oder befannte Männer wurden. Von dort kam er auf die ftille und friedliche Univerfität Erlangen, wo er den Grund zu feiner Kenntnis deutjcher Verhältniffe und deutſcher Litteratur legte und wo jeine Eaffische Bildung vollendet ward. Die Staatsverhält- nijfe der alten griechifchen Republiken interefjierten ihn bier wie in Edinburgh noch mehr als ihre Boefie.
Die bejte Duelle zur Kenntnis feiner Entwicelungs- tufen ımd Stimmungen in der erjten Jugend findet fi in jenen Briefen an Frau von Charriere, eine freigeiftige, fein- begabte jchweizerifche Schriftjtellerin von holländiſcher Geburt, aber volljtändig franzöfiert, die über vierzig Jahre alt war,
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als Conſtant in feinem zwanzigiten Jahre in ein Berhäftnis zu ihr trat.
In ihrem Haufe begann er, an demfelben Tische fitend, an welchem fie fchrieb, fein großes Werf über die Religion, welches den religiöfen Geiſt wieder in Frankreich einführen ſollte. Er bejchäftigte fich fajt fein ganzes Yeben hindurch mit demfelben, indem er es unaufhörlich, je nachdem feine Anſchauungen wechjelten und bejtimmtere Form annahmen, umarbeitete. Dreißig Jahre jpäter beendigte er es in der Zeit, welche die Nednerbühne in der Kammer und die Spiel- häujer in Paris ihm für Arbeiten anderer Art übrig liegen. Aber jett ward es bei Frau von Charriere begonnen. Und ſymboliſch und charakterijtiich genug: den erſten Abichnitt jchrieb er auf die Nückjeite eines Kartenſpiels, und fo oft er eine Karte vollgefchrieben hatte, jchob er fie feiner Ratgeberin hin.
In Driefen an diefe zuverläſſige und ergebene Freundin jpricht ſich Conſtant als Jüngling mit vollfommener Dffen- beit aus und man fann bier fein Gefühls- und Gedanfenleben _ in deſſen uriprünglicher Form und mit deſſen früheſtem Ge- präge erfajlen. Dieſes Gepräge iſt dasjenige des achtzehnten Sahrhunderts, nur daß deffen Begeilterung für gewiſſe getitige Erzeugniffe fehlt und ein gut Teil Sfepfis hinzugekommen ift. Er jchreibt:
„sch fühle mehr, alS jemals, die Nichtigfeit aller Dinge, wie alles verjpricht und nichts hält, ich fühle, wie jehr unjre Kräfte über unfern Vehältniſſen jtehen, und wie unglücklich dies Mißverhältnis uns machen muß. Sollte nicht Gott, der Urheber unferer ſelbſt und unfrer Umgebungen, gejtorben fein, ehe er jein Werk beendet hat, jo daß die Welt eigentlich ein opus posthumum iſt? Er hatte die jchönften und größten MWeltprojefte und die größten Mittel, fie auszuführen. Er hatte jchon mehrere diefer Mittel in Bewegung gejeßt, wie man Gerüfte errichtet, um zu bauen, und mitten im diejer Arbeit iſt er geftorben. Jetzt ift folchermaßen alleg mit Nüd- fiht auf einen Zwed aufgeführt, der nicht mehr exiſtiert, und wir inSbefondere, wir fühlen ung zu etwas bejtinmt, wovon wir uns feine Idee machen können. Wir find wie Uhren,
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denen das Zifferblatt oder der Zeiger fehlt, und deren Räder, denen es nicht an Intelligenz gebricht, fich drehen, bis jie abgenutst find, ohne zu wiffen weshalb, und ſtets murmelnd: „Ich drehe mich, alfo habe ich einen Zweck.“ — Leben Sie wohl, liebes und geiftreiches Nad, welches das Unglück hat, io hoch über dem Uhrwerk zu jtehen, von dem Sie ein Zeil find, und das Sie türen! Ohne Eigenlob: Das tft aud) mein Fall."
An einer anderen Stelle jagt er: „O wie die Fürjten edelmütig und hochherzig find: Da haben fie num wieder eine Amneſtie erlaſſen, von welcher niemand ausgeſchloſſen iſt, als alle die, welche fich des Aufruhrs ſchuldig gemacht haben. Das erinnert mic an einen Pſalm, welcher die Thaten des jüdiſchen Gottes verherrlicht. Er hat Die und Die erjchlagen, denn feine Güte währet ewiglich; ev hat Pharao und fein ganzes Heer erfäuft, denn feine Güte währet ewiglich; ev hat alle Exftgeburt der Aegypter mit dem Tode gejtraft, denn feine Güte u. f. mw, u. f. mw.“
„Sie ſcheinen mir nicht demokratisch zu fein. Ich glaube, wie Sie, daß auf dem Grunde der Seele der Nevolutiong- männer Arglift und Raſerei lauert. Aber ich liebe mehr die Arglift und Naferer, welche Feftungen fchleift und Titel und andere dergleichen Dummheiten abjchafft, und welche all’ die veligtöfen Träumereien auf gleichen Fuß mit einander ftelft, als die Arglift und Naferei, welche jene elende Mißgeburt der barbarifchen Stupidität der Juden, die auf die barbarijche Unwiſſenheit der Bandalen gepfropft tft, erhalten und kanoni— jieven will."
„Je mehr man darüber nachdenft, dejto mehr giebt man es auf, ein „eui bono?* in diefer Dummheit, welche man die Welt nennt, zu begreifen. Ich verjtehe weder den Zweck, noch den Architekten, noch den Maler, noch die Figuren in diejer laterna magica, von welcher ich einen Zeil zu bilden die Ehre habe. Werde ich’S beffer verftehen, wenn ich won dieſer engen und finfteren Kugel verfchwunden bin, auf der, ic) weiß nicht, welche unfichtbare Macht ſich den Spaß macht, mich mit oder gegen meinen Willen tanzen zu lajjen? Das
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weiß ich nicht. Aber ich fürchte, es verhält ſich mit diefem Geheimnifjfe wie mit dem der Freimaurerei, das nur in den Augen der Uneingeweihten einen Wert hat.“
Man wird fih, nachdem man diefe Bruchitüce geleien hat, nicht darüber wundern, daß jenes Buch „Ueber die Religion“, welches zur Sahrhundertwende begonnen und be- ſtimmt war, von proteftantiichem Standpunfte diejelbe That auszuführen, die Chateaubriand gleichzeitig von katholiſchen ins Werk feste: nämlich den veligiöfen Geift wieder in Frank reich einzuführen, in feinem urjprünglichen Entwurfe ein ganz anderes Gepräge trug, als es fpäter erhielt. Deſſen erite Abjchnitte, die ganz im Geiſte des achtzehnten Jahrhunderts gejchrieben waren, würden, wenn fie gedrudt vorlägen, in Conſtant's Leben genau diefelbe Entwicelungsitufe bezeichnen, welche da8 Buch über die Kevolutionen im Leben Chateaubriand’S fennzeichnet. So, wie das Werk in jeiner endgültigen Geſtalt der franzöfijchen Litteratur angehört, zeich- net es fich durch einen ruhigen, leidenjchaftsiofen Stil, vor- urteilsfreien Blick, ſowie eine für jene Zeit ungewöhnliche Gelehrfamfeit aus. Hingegen leidet e8 unter einem volljtän- digen Mangel an Wärme und einer durchgreifenden Halbheit in feinem Prinzip.
Sein Örundgedanfe ift folgender: Alle früheren Auf- faffungen vom Weſen der Neligion find unvollfommen ge- weſen. Eine Schule von Schriftjtellern, welche die Neligion für den Menſchen auf dem Wege der Vernunft als unzugäng- (ich und als ein für alle Mal durch göttliche Offenbarung mitgeteilt betrachtet, ſucht nur die Religion auf ihre uriprüng- liche Form zurücdzuführen. Eine andere Schule, die fich mit Necht über die Uebel entjegte, welche Unduldjamfeit und Slaubenseifer hervorbringen, hat in der Religion nur einen Irrtum gejehen und danach) geftrebt, die Moval auf einer vein irdischen Grundlage zu begründen. Eine dritte glaubte, einen Mittelweg durch Annahme einer fogenannten natürlichen oder Vernunftreligion einhalten zu fünnen, welche nur aus den veinften Dogmen und einfachjten Grundbegriffen bejtände. Aber auch diefe Schule hat, wie die vorerwähnten, geglaubt,
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daß der Mensch die unbedingte Wahrheit erlangen könne, und daß es folglich nur eine und zwar unveränderliche Wahrheit gäbe; wer weniger glaubte als fie, den ftempelte fie als athetjtifch, wer mehr glaubte, als orthodor und abergläubifch. Conſtant will im Gegenfaß zu diefen drei Schulen die Neligion als fortichreitend betrachten, indem er davon ausgeht, daß das religtöfe Gefühl eine der menfchlichen Seele zu Grunde liegende Thatſache bilde, daß nur deren Formen verjchieden und für immer größere Bollfommenheit empfänglich feien. Man merkt, daß er Leſſing's „Erziehung des Menfchengefchlechtes" gelefen hat; doch noch inniger alS mit Lejfing fühlt er fich mit feinen Zeitgenoſſen Kreuzer und Görres verwandt. Er verjteht oder würdigt augenfcheinlich Leſſing's feine und Doch fo tiefe Ironie nicht, während ihn hingegen die romantisch -proteftantifchen Neftauvationsverjuche mit der ganzen Macht der Gleichzeitigkeit gefangen nehmen und er fich davon alles aneignet, was er als Tiberaler franzöfifcher Politiker und befehrter Voltairianer gebrauchen kann. Er will abjolut nichts von der Unduldſamkeit und Berfolgungsfucht wiffen, welche fo gewaltfam bei Lamennais (im „Essai sur lVindifference) hervorbrechen, ev will ferner nichts von einer weltlichen Bapftmacht, noch von irgendwelcher Bereinigung geiftlicher und weltlicher Autorität (wie de Maiſtre oder Chateaubriand) wiffen, aber er bildet fich ein, in „ven religiöfen Gefühl" eine Art feelifches Grundelement gefunden zu haben, das fi) nicht auf’S neue auflöjen läßt, er meint, daß es umveränderlich und umiverjell, d. h. un, über die ganze Erde verbreitet, als auch über alle Verwandlung in Ewigfeit erhaben ſei — eine Anſchauung, die fich mit feinem tieferen Seelenftudium vereinigen läßt — und auf diefem Gefühl gründet er daher fein ganzes erhaltendes Syſtem. Den fitzlichen Fragen geht er, foweit ihm dies möglich
I, aus dem Wege; er will z. B. nicht entjcheiden, ob die Menſchheit mit einem wilden oder einem paradiefisch voll- fommenen Zuftande begonnen habe und behauptet ausdrücklich, daß, wenn er mit Schilderung des niedrigiten Fetiſchdienſtes angefangen habe, dies nur der Ordnung halber gejchehen jei und er dadurch nicht leugnen wolle, daß dies unvollfommene
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Stadium die Folge eines Falles gewejen fein fünne Sm Öegenteil, diefe Annahme komme ihm wahrjcheinlich vor. — Wenige Bücher find fchneller veraltet, als dieſe Schrift, und fie beſitzt jeßt nur noch ein hiftorifches Intereſſe durch die für die Periode ihres Entſtehens typifche Unficherheit und Halbheit.
In den erſten Jahren der franzöſiſchen Revolution ward Conſtant in Braunſchweig als Kammerjunker der regierenden Herzogin angeſtellt. Hier hörte er von der Revolution mit jenem Gemiſch von Schrecken und Abſcheu ſprechen, wie ſie z. B. in Goethe's mißglücktem Luſtſpiel „Der Bürgergeneral“ zum Ausdruck gelangen; es war ihm jedoch nicht ſchwer, ſich eine ſelbſtändige und vorurteilsfreie Anſchauung von der Be— deutung der Revolution zu bilden. Im übrigen ſcheint ſeine Zeit hier, wie ſpäter, ſtark von wechſelnden Liebesverhältniſſen in Anſpruch genommen geweſen zu ſein. Er erhielt von den Damen den Namen „L'inconſtant“ und hat ſelbſt im Scherz „Sola inconstantia constans“ als jeinen Wahlipruch be- zeichnet. Er verheiratete ſich — wie es fcheint, zumeijt aus Langeweile — bier in Braunfchweig, und ließ ſich nach den Slitterwochen ſcheiden. Darauf verliebte er jich in eine Dame, die mit ihrem Manne in Scheidung lag und fehrte ihrethalben ſpäter nach Braunſchweig zurück. Ihr Mädchenname war Charlotte von Hardenberg und ſie wurde viele Jahre ſpäter Conſtant's zweite Gattin. In Briefen an Frau von Charriere aus diefer Zeit zeigt er ſich ebenjo ziellos und lebensmiüde, wie ſcharfſinnig und geiftreih. Er macht fich über jeine dumme und Fleinliche Umgebung, über fich jelbit lujtig, eine Zeit lang ſogar über jein Gefühl für die Dame jeines Herzens, bis er ihr eines fchönen Tages mitteilt, daß ev mit Spöttereien darüber aufhören wolle, da er einen derartigen Spott nicht für erlaubt halte. Einen Halte und Mittelpunkt hatte jein Yeben noch nicht gefunden.
Da trat Ende des Jahres 1794 eine enticheidende Wendung in Conftant’S Leben ein. Er lernte Frau von Stael fennen, und es ftellte ſich heraus, daß feiner diejer beiden Geiſter imftande war, das Höchſte ohne des andern
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Befruchtung hevvorzubringen. Benjamin Conjtant war da- mals ſiebenundzwanzig, Frau von Stael ahtundzwanzig Jahre alt. Er war eben in Paris angekommen, wohin ihn fein Ehrgeiz längit gerufen hatte, das er aber jeßt zum eritenmal ſah und wo er im verjchiedene der erjten Kreiſe, bei Frau Tallien, rau Beauharnais und Frau von Stack eingeführt wurde. Er wurde jowohl feiner Schönheit wie feiner über— legenen Fähigkeiten halber fehr bemerkt. Meit feiner Frijchen Hautfarbe und feinem langen blonden Haar glich er einem jungen Nordländer, fein Berjtand war jedoch flar und ganz franzöfifh und feine Bildung Fosmopolitiih. Er machte auf die damals begabtejte Frau Frankreichs einen Eindrud, der Sich niemals verwijchte, ſelbſt als die Lebensverhältniffe fie zumeift von einander trennten, und bald war es fein Ge— heimmis mehr, daß ih Frau von Stael's Bewunderung in leidenſchaftliche Liebe verwandelt Hatte. Sie übertrug dem jungen zufünftigen Staatsmanne ihr Vertrauen auf Die politische Freiheit, ihre Begeijterung für die Nechte des Indi— viduums umd eine diefe ſichernde Verfaſſung, und durch einen Flammenhauch ihrer Feuerſeele ward er von ihrem Unter— nehmungsgeiſte und ihrem Glauben an die Macht des Wortes und der Handlung beſeelt, um allen Schickſalstheorieen zum Trotz in die Wirklichkeit einzugreifen und ſie umzugeſtalten. Zum Entgelt ſcheint das Verhältnis zu ihm, indem es ſie mit der Geſellſchaft überwarf, ſie mit der Hauptſumme jener leidenſchaftlichen Gefühle und ſtreitbaren Gedanken bereichert zu haben, welche den Kern in ihren dichteriſchen Schöpfungen bilden.
In Frau von Staels Haus traf Conſtant eine Heer— ſchar fremder Diplomaten, mißvergnügter Journaliſten und intriganter Damen, die ihn im erſten Augenblick gegen den Konvent einnahmen. Bald bildete er ſich indeſſen ſeine Ueber— zeugung, widerlegte ſelbſt ſeine erſten Zeitungsartikel und ſchloß ſich, radikaler als die Freundin, der Partei der „Patrioten“ gegen die ſogenannten Gemäßigten an, bei denen er jegliches Maßhalten vermißte. Das Jahr 1795 verbrachte er, einer Einladung der Frau von Staëkl Folge leiſtend, auf
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ihrem Schloſſe Coppet in der Schweiz; ein Jahr danach trennte ſie ſich von ihrem Manne.
Als Bonaparte im Jahre 1799 als erſter Konſul Frankreich eine Verfaſſung gab, in welcher eine ſchwache Scheinfreiheit die Alleinherrſchaft verdecken ſollte, ernannte er Conſtant, der früher zu ſeinen wärmſten Bewunderern ge— hört hatte, zum Mitglied des Tribunats. In dieſer Eigenfchaft führte Conftant mit einigen wenigen Gefinnungsgenojfen jenen ehrenvollen Kampf gegen Bonapartes abſolutiſtiſche Pläne, welcher die Augen von ganz Europa auf ihn binlenfte und die heftigſte Erbitterung beim erſten Konful erweckte. Im Jahre 1802 fagte diefer von Conjtant und feinen Freunden die befannten Worte von den fünf oder jehs Metaphyſikern im Tribunat, welche ins Waffer geworfen zu werden ver- dienten, und furz darauf ließ er ſie durch eine jervile Majoritätsabjtimmung entfernen. Da Frau von Stael zur jelben Zeit Bonapartes Streben nach der Alleinherrichaft zu befämpfen begann und ihr Vater, der berühmte Neder jcharf vor jeiner Politif warnte, Tieß ev fie aus Franfreich aus— weifen. Als ihr Conſtant nach Coppet folgte, verbot er auch) dieſem die Rückkehr.
Sm Mai 1802 war Frau von Stael Wittwe geworden. Gemeinſam mit Conſtant bereiſte ſie in den Jahren 1803 und 1804 Deutſchland und es ſcheint, als ob ſie in ihrer ſchwärmeriſchen Liebe erwartet hat, daß Conſtant ſie heiraten würde. Er hat jedoch augenſcheinlich ihre Gefühle nicht ge— teilt, er täuſchte ſie aus Mitleid und Schwäche und verbarg ihr, daß er in beſtändigem Briefwechſel mit Charlotte von Hardenberg ſtand. Wahrſcheinlich hat er ſie unter irgend einem Vorwande verlaſſen, um nach Weimar zu reiſen, wo er im Jahre 1804 Schillers Wallenſtein ins Franzöſiſche übertrug. Es war nicht Conſtant, ſondern A. W. Schlegel, der (als Hauslehrer ihrer Kinder) Frau von Stael nad) Italien, auf diefer durch „Corinna“ berühmten Neije begleitete, die fie im Jahre 1805 dorthin unternahm Im Sommer 1808 ließ ſich Conftant heimlich mit feiner Charlotte trauen, und fo wenig rvefigniert war Frau von Stael damals nod),
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daß es zu den heftigjten Szenen fam, als fie das neuvermählte Paar umvermutet in Interlaken traf. Sie machte ihrer Eiferfucht mit folcher Rückſichtsloſigkeit Luft, daß Charlotte in ihrer Verzweiflung einen — glüclicherweife mißlungenen — Vergiftungsverſuch ausführte.
Jetzt folgen einige Sgahre, wo Konftant in jtiller Zurück— gezogenheit mit neuen Borftudien zur jenem Werfe über den Urjprung und die Entwicdelungsgejchichte der Neligion in Göttingen lebt. Dann brachten ihn Napoleon’S Niederlagen im Jahre 1813 dazu, aufs neue im Verein mit Frau bon Stael in den politichen Gedanfenftreit und, durch die Verbin- dungen feiner Freundin am vuffiichen, preußiichen und ſchwe— dischen Hofe, zugleich in das Vorgehen gegen den befiegten Alfeinherrfcher mit einzugreifen. In Bernadotte’s Gefolge zog ev in Paris ein, und obſchon Fürſprecher dev Wiederaufrichtung des Königtums, war er eifrig bemüht, zu retten, was nod) von verfaffungsmäßtgen Freiheiten zu vetten war. Er ließ jeine meijterhaften Brofchüren über Preßfreiheit, Minifter- verantwortlichfeit ı. j. w. erjcheinen und wurde zum Volks— repräjentanten gewählt. Es ijt befannt, wie ihn gleich darauf jeine blinde Berliebtheit in Frau von Necamier dazu brachte, mit einer Heftigfeit gegen Napoleon nach feiner Niückfehr von Elba aufzutreten, die feiner Ernennung zum Staatsrat während der 100 Zage und feinen Anſchluß an den legten Verſuch des Raifers, Franfreih eine Art Selbitregierung zu geben, das Gepräge eines Verrates gab. Dennoch darf man Conftant als PBolitifer nicht nach diefer unſchönen Epifode verurteilen, Unter der Herrichaft der Bourbonen, ja fogar noch während der erſten Jahre des Julikönigtums war er, wie nicht minder befannt, der hartnäcige und im höchiten Grade beredte Führer der freifinnigen parlamentarifchen Dppofition. Er zeichnete fich nie durch Charafterreinheit aus, doch befaß er hochherzigen Aufſchwung. AS er im Jahre 1830 einen Brief von einem jeiner Freunde erhielt, in welchem jtand: „Hier jpielt man ein fürchterliches Spiel, unjere Köpfe find in Gefahr, fommen Ste umd bringen Sie uns den Ihren!“ ſchwankte er feinen Augen- blick, jondern fam und nahm unerjfchroden die Partei der
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Julirevolution. Wenige Monate danach empfing er dann, obſchon Führer der Oppoſition — um feine Spielſchulden zu decken — 100000 Franks von Louis Philippe. Conjtant war ein großer Dialeftifer; feine Wahrheit, pflegte ev zu jagen, it vollfommen, jo lange man nicht ihren Gegenſatz darin auf- nimmt. Es glücdte ihm, manche Wahrheit zu vervollitändigen. Er verlor nie das Gepräge, welches das Zeitalter, in das jeine frühe Jugend fiel, ihm aufdrückte. Diefelbe Doppelheit, die fich bei diefer ganzen Generation findet, bei den anderen jedoch nur eine Nebeneigenjchaft ausmacht, hat feinem Wefen defjen Ddurchgreifenden und eigenartigen, aber zwiejpältigen Grundzug gegeben.
Die bedeutendſte Jugendarbeit dieſes Mannes verdient eingehend betrachtet zu werden. In „Adolphe“ findet man folgendes entwidelt:
„Was mich überrajcht, iſt nicht, daß der Menſch einer Neligion bedarf; was mich wundert, ijt, daß er fich jemals ſtark genug, binlänglich gejhüst vor dem Unglüd fühlt, um den Mut zu haben, irgend eine zu verwerfen: ev müßte, dünft mich, in jener Schwäche geneigt jein, die Hilfe aller anzurufen; denn giebt es im der dichten Finſternis, welche uns umhüllt, einen Lichtſchimmer, den wir fünnten zurüditoßen wollen? Giebt es inmitten des Wirbels, der uns mit fich fortreißt, einen At, an den uns fejt zu Kammern wir wagen jollten uns zu weigern?“
Man fühlt, der Verfaſſer tft ficherer davon überzeugt, daß der Wirbel, als daß der Aſt vorhanden tft. Die Form, in welcher die Neligion bier empfohlen wird, ift eine folche, unter welcher man die Neligionslofigfeit hervorſchimmern fieht und hinter ihr einen Abgrumd von Schwermut.
Die Erklärung liegt nahe. Nach der Voltaire'ſchen Ver— jtandesperiode war eine notwendige Neaftion vorzunehmen, diejenige, welche Rouſſeau in ihrem Prinzip angegeben hatte, die Neaftion des zurücgedrängten, des nie befragten und ftet3 überhörten Gefühle. Es galt, das harmonifche Gleichgewicht zwijchen den verschiedenen Vermögen und Kräften dev Menjchen-
Brandes, Hauptftrömungen. I. Emigrantenlitteratur. 8
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jeele wieder herzustellen, welches durch Die abfolute Allein- herrſchaft des kritiſchen DVerftandes geſtört worden war und dieje halb unbewufte Tendenz, ſpürt man fogar als innere Triebfeder bei denjenigen Naturen, welche ihrer ganzen Ver— anlagung nach veine Abkömmlinge Voltaives waren, und die, wenn fie dreißig Jahre früher zur Welt gefommen wären, jeine unbedingteften Gefinnungs- und Arbeitsgenofjen geworden wären. Voltaire war ja nicht blos kritiſch gewefen, ſondern war, durch die Ungunft der Zeiten und feinen unbeherrſch— baren Wiß genötigt, polemifch geworden. Es galt für ihn, mit allen Waffen, jelbft mit vergifteten, die vein äußere, vein brutale Autorität zu vernichten, welche zu feiner Zeit den geiftigen und materiellen Fortſchritt hinderte, ja unmöglich machte. Jetzt waren all jene Autoritäten gejtürzt und das Geſchlecht jehnte fich nach einer Autorität. ES giebt innere Autoritäten. Das Wahre, das Nechte, das Gute find folche Autoritäten. Aber die begeifterten Verjuche, derlei freie äußere Inſtitutionen einzuführen und zu befejtigen, welche ohne Ber rufung auf eine der Vernunft nicht fichtbare Macht nur dieſe Ideale verwirklichen wollten, waren ja in die Brutalitäten der Anarchie ausgemündet. Kein Wunder daher, daß nicht nur manch’ Einzelner aus der Menge umbertappend nach einer Planfe des Wrades der einſt jo fräftigen politiichen und veligiöjen Syiteme griff, jondern daß auch die Begabteften der Mehrzahl nach dahin gelangten, als Vorkämpfer für teil3 geiftliche, teil3 weltliche Autoritäten aufzutreten, welche ſie ſelbſt nur des Prinzips halber unterjtüßten, aber mit halbem oder gar feinem Glauben und mit ſtets ſchwankender Zuverſicht.
Schwankend war die Zuverſicht, aus dem einfachen Grunde, weil es für ſie als echte und wirklich hervorragende Söhne des jungen neunzehnten Jahrhunderts unmöglich war, ſich mit aufrichtigem Glauben an einen Stamm zu ſtützen, den ihre Väter zerſägt hatten. Daher kommt es, daß Chateau— briand's Glaube an die Legitimität eben ſo locker iſt, wie Conſtant's Glaube an die Religion im Allgemeinen. Man fühlte ſich unbehaglich zu Mute. Das alte Haus war ab—
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gebrannt. Man hatte noch nicht begonnen, das neue zu er- richten. Der Fehler war, daß man, ſtatt dies fühn zu ver- ſuchen, ſich in die Ruinen des alten Gebäudes flüchtete und dejjen jchlechtes, halb verbranntes Material zufammen zu flıden und wieder aufzumauern begann. Bei diefem Unter- nehmen fühlte man jic num unaufhörlich zu Einfällen ver- lodt, die ganz außerhalb des Planes lagen; denn bald wurde man verlodt, zu völlig neuem Material zu greifen, das man mit dem alten vermengte, um dem Bau Feitigfeit zu geben, bald jtand man im Begriffe die undanfbare Arbeit, welche man vorhatte, gänzlich aufzugeben, und verjegte dann in der Verzweiflung den wieder errichteten zerbrechlichen Mauern einen Stoß, daß die Steine durch einander polterten. Keine Gruppe fonjervativer Schriftiteller hat wohl jemals eine leidenjchaft- fichere Polemik wider die Gefellfchaft geführt, wie fie auf Grund der Meberlieferung geordnet war, als eben die Schriftiteller- gruppe der Cmigrantenlitteratur. Ein Kampf, eine Anklage gegen die Geſellſchaft iſt denn auch das eigentliche Yebensprinzip in Benjamin Conjtant’S Roman „Abdolphe“.
„Adolphe“ iſt eine Liebesgejchichte, welche durch ihre Schilderung des Verhältniſſes zwijchen der Gejellichaft umd dem Individuum ein vollitändiges Gegenſtück zu „Werther“ bildet. In „Werther“ tellen jich äußere und dadurch auch innere Hemmniſſe der Bereinigung eines zujammengehörenden Paares entgegen. In „Adolphe" zwingen äußere und dadurd auch innere Hindernijje zwei Wefen, die vereint find, ausein- ander. „Werther“ zeigt, wie die Macht der Geſellſchaft und bereit3 eingegangener foztaler Berpflichtungen eine evotijche Bereinigung verhindern. „Adolphe“ jchildert, wie die Macht der Gejellihaft und der öffentlichen Meinung perjönliche Ver— pflichtungen auflöft und ein lange bejtehendes Liebesverhältnis trennt. Beide Bücher im Verein geben ein doppeljeitiges Bild von der päpftlichen Macht der Gefellfchaft, zu binden und zu föjer. Aber während „Werther" für jenes vorrevolutionäre, fräftig vorwärtsſtürmende Gefchlecht typijch it, dem ſein Dichter angehörte, entjpricht „Adolphe“ genau der eriten franz zöfischen Generation des neuen Jahrhunderts.
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„Adolphe“ zeichnet nicht, wie frühere Liebesgefchichten, die Liebe nur in ihrem erften Erwachen im Morgenrote der Illuſionen, fondern er giebt, jo zu jagen, ihre ganze Bio— graphie, er jcehildert ihr Wachstum, ihr Hinwelfen, ihren Tod, ja, ex verfolgt fie bis jenſeits des Grabes und zeigt, in welcherlei Gefühle fie ſich verwandelt.
So ift „Adolphe“, mehr noch als „René“, die Gejchichte der Enttäufchungen und des Selbjtbetrugs des Individuums. Es ift die Blüte des Lebens jelbft, welche hier ihrer Blätter, eines nach dem andern, bevanbt und auf das Sorgfältigſte botanijiert wird. In dieſer Hinficht bildet das Buch den ihärfiten Kontraft zu „Werther“. Im Vergleih mit dem— jelben exjcheint „Werther“ durchaus naiv. Die Blume, deren Duft für Werther ein tötliches Gift wird, zupft Adolphe Talt- blütig auseinander.
Das Koſtüm iſt noch einmal gewechjelt; der blaue Mod und die gelbe Weſte verichwinden vor unjerer trübfeligen, farblofen ſchwarzen Tracht und ihrem Yeichenbitterausiehen.
Aber der Enthuftiasmus, welcher hier den Mann verläßt, bleibt bei der Zrau. „Adolphe“ ift der „Werther“ der Frauen. Die Krankheit des Jahrhunderts, die Melancholie, hat hier einen neuen Echritt gemacht. Sie hat fi) vom Manne auf die Frau ausgebreitet. In „Werther“ war der Mann der: jenige, welcher liebt, fühlt, entrüftet wird und verzweifelt. Aber fie, Charlotte, ſteht gefund, fejt und unangefochten da, andererjeitS freilich ein bischen kalt und unbedeutend. Jetzt ijt die Reihe an fie gekommen, jett iſt fie es, welche liebt und verzweifelt.
Das Geflecht junger Männer ift erftanden, welches den Wahlſpruch im Munde führt: „Laßt die reife lieben! Wir Jungen, wir, die auf den Galeeren des Ehrgeizes rudern, haben feine Zeit, feine Luft, feine Gemütsruhe dazu.“ Der— jelbe Kampf, den Werther im Namen feiner Liebe gegen die Sejellfehaft führt, wird hier in „Adolphe“ von Eleonore ge— fümpft. Und das Reſultat iſt ebenjo tragiſch.
Sp fanıı man diefen Roman ohne Uebertreibung als das erjte Vorbild für eine ganze nachfolgende Litteratur, für die
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pſychologiſchen Studien, bezeichnen. Neu iſt bier die Be— handlungsart des Erotifchen. Weit in der Ferne liegt die Zeit, da Amor, wie in Voltaire’s Dichtungen, in Geftalt des liebensmwürdigen Kindes dargejtellt wurde, das wir alle aus Thorwaldſen's Basrelief3 fennen. Für Voltaire war Amor der Gott de3 Vergnügens, „les ris, les jeux et les plaisirs“ waren jeine Begleiter. Für Nouffeau war er der Gott der Leidenschaft. Bei Goethe wird er noch viel minder als ein wohlthitender Dämon gejchildert; man verfteht, wenn man Goethe lieſt, recht gut, was Schopenhauer meinte, als er jchrieb, dag Amor, überall feinem eigenen Willen folgend, feine Rück— jiht auf das Unglüd des Individuums nimmt In „Fauſt“, dem hervorragenditen Gedichte der neuen Zeit, iſt Amor aus einem ſchalkhaften Rinde in einen großen Berbrecher verwandelt. Fauſt und Margarethe lieben einander, das will jagen: Fauſt verführt Margarethe und verläßt fie, und Gretchens Yiebes- affäre bringt ihrer Mutter, ihrem Bruder, ihrem Kinde und ihr jelber den Tod. Denn ſie, das jchuldlofe und liebens— würdige Mädchen, tötet ihre Mutter durch den Schlaftrunf, den fie ihr eingiebt, damit Fauſt fie nachts beſuchen kann; Fauft und Mephiftopheles im Verein jtoßen ihren Bruder nieder, als er die Ehre der Schweiter rächen will. Aus Furcht vor der Schande tötet Gretchen ihr neugeborenes Kind, dann wird fie ins Gefängnis geworfen und hingerichtet.
Goethe's Leidenfchaft für das Wahre hat ihn hier dahin geführt, ein anderes Bild von Amor zu geben, al$ das, auf welchem man ihn als Knaben im Rofenfranze der Grazien erblickt. Und nicht blos in ihren Folgen, fondern in ihrem Weſen it die Liebe bei Goethe unheilfhwanger und ſchickſal— bejtimmt. In den „Wahlverwandtjchaften“ hat er die ge- heimnisvollen und unwiderſtehlichen Sympathien und Anti- pathien jtudiert, von welchen die gegenfeitige Anziehung der Seelen bejtimmt wird, wie die der Stoffe in der Chemie. Dies Buch enthält eine Art naturphilojophiicher Betrachtung der Leidenschaft; Goethe weiſt ihr Entftehen, ihre magijche Gewalt al3 dunkle Naturkraft, ihren Grund in den unbewußten Tiefen unjerer Seele nad).
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Goethe hatte alfo den Verſuch gemacht, die Sympathie als Liebe zu verftehen, indem diefelbe mit der Sympathie, wie wir fie außerhalb dev Menfchenwelt vorfinden, parallelifiert wurde; aber es war noch ein Schritt zu thun. Man hatte die Liebe in eime große Synthefe eingejchlofjen; der nächte Schritt war, daß man fich daran machte, fie jelbjt zu analyfieren. Dieſe Aufgabe fiel jenem vefleftierenden, unruhigen, nach allen Seiten umberjpähenden Gefchlechte zu. Wie verichieden man auch bisher die Yiebe, ihre Urjachen und ihre Folgen auf- gefaßt hatte, in einem war man einig gewejen, nämlich darin, die Tiebe al8 etwas Gegebenes, etwas, das man fannte, d. h. als etwas Einfaches anzuſehen. Erſt jett begann man, fie als etwas Zuſammengeſetztes zu betrachten und den Berfuch zu machen, jie in ihre Elemente aufzulöfen.
In „Adolphe“ umd in der ganzen Litteratur, welche fich an dies Buch anschließt, wird genau darauf gemerkt, wie viele Teile, wie viel Gran Freundichaft, Hingebung, Eitelkeit, Ehr- geiz, Bewunderung, Achtung, finnlicher Anziehung, Illuſion, Einbildung, Täuſchung, Haß, Ueberdruß, Enthufiasmus, ver- tändiger Berechnung u. ſ. w. bei jedem der beiden Betreffenden in dem mixtum compositum, das fie ihre Liebe nennen, ent- halten find. Durch eine folche Analyfe verlor fie ihren über— natürlichen Charakter und hörte auf, vergüttert zur werden.
Statt ihrer Poefie erhielt man ihre Piychologie. Es ging, wie, weni man das Fernrohr auf einen Stern richtet, jeine Strahlen verjchwinden, man fieht nur den aftronomischen Körper; aber wo man früher im Mondenlichte nur eine helfe und glänzende Scheibe mit ſtets unveränderter Fläche jah, dort gewahrt man jett eine Mannigfaltigfeit von Bergen und Thälern. In dem Momente, wo man wirklich das Gefühl erfennen wollte, richtete ji) die Aufmerkſamkeit notwendiger Weiſe viel minder auf fein erſtes Erwachen, das alle Dichter der Erde von Alters her befungen und verherrlicht hatten, als auf das, was fpäter geſchah, feine Dauer, jein Aufhören. In den Tragödien, welche bei den verjchiedenen Völkern gleichjam die Hymnen dieſer Völfer auf die Liebe find, folgt der Tod der Liebenden raſch auf das erjte Erblühen der Yiebe.
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Romeo erblidt Julien, fie beten einander an, und nachdem fie einige Tage und Nächte im fiebenten Himmel verbracht haben, liegen fie beide alS Leichen da. Die Frage der Treue für die Dauer bleibt noch ganz aus dem Spiele. In der dänischen Liebes-Tragödie „Arel und Walburg“ fcheint freilich von nicht3 anderem als Treue die Nede zur fein. Das Stüd hat ja die lange Verlobung der Liebenden zur Vorausſetzung, und iſt eben dadurch fo national, Aber Dehlenfchläger's „Urel und Walburg“ behandelt die Treue während der Trennung, nicht die Treue im Beifammenleben. Die Treue ift hier die äußere, das Fefthalten des Liebenden Herzens an jeinem &egenftande, und nach der inneren, nach dem Feſt— halten des Herzens an feiner Liebe, wird gar nicht gefragt. Die erſte ift dem Herzen natürlich, ja notwendig, die andere vermag das Herz nicht durch einen Beſchluß zu bewahren; jie wird unfreiwillig bewahrt und aufgegeben. In „Axel und Walburg“ ift die Treue als Tugend verherrlicht, nicht als Produft erklärt; denn das Drama tft ein Iyriiches Trauer- iptel, feine pſychologiſche Unterjuchung.
Es ift das Problem von den Bedingungen der Treue, das in „Adolphe“ behandelt ijt, die Frage, unter welchen Bedingungen die Leidenschaft von Dauer iſt und unter welchen nicht. Und hier ift die Antwort wie eine Anflage gegen die Sejellfchaft formuliert, indem fie darauf ausgeht, daß Die Geſellſchaft, welche die öffentliche Meinung bildet, den von ihr gebildeten Zuftand behauptet, zugleich durch die chlechtejten Mittel daran arbeitet, die Bedingungen der Treue in jeder von ihr nicht janftionierten Verbindung zu zevjtören, jelbit wenn dieſe vollkommen jo edel, vollfommen jo uneigennüßig und von ganz ebenfo adligen Naturen getragen it, welche die Geſellſchaft auf jede Weife umfriedet und ſtützt.
Conftant hat diefe Antwort durch einen Roman gegeben, der nicht anfpruchslofer fein könnte. Er hat nur zwei Berfonen, nicht den geringften Aufwand an Szenerie und feine einzige Zufälligfeit im Gange der Handlung. Altes vollzieht fi nach inneren Gefegen, und der Lejer beobachtet den Ver— lauf der doppelten Seelengefchichte bis zu ihrem Ende auf
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diejelbe Art, wie der Zujchauer bei einem naturwiſſenſchaftlichen Experimente die Gährung der im Gefäß eingefchloffenen Stoffe und die Reſultate dieſer Gährung wahrnimmt.
Wer find nun dieje beiden Perſonen?
Zuerſt und zuvörderft, wer tft er? Er tft noch ſehr jung, in den erjten Sünglingsjahren, er ward (wie der Autor des Nomans), nachdem er feine Studien auf einer Heinen deutjchen Univerſität beendet hat, an einem fleinen deutschen Hofe an- geſtellt. Er hat eine Reihe von Zerſtreuungen durchlebt und einen Kurſus angejtrengter und ernſter geijtiger Arbeit durch— gemacht. Das Berhältnis zu feinem Vater, einem in feinem äußeren Wejen Falten und ironiſchen Manne, welcher die Bildung des achtzehnten Jahrhunderts repräfentiert, hat in jener Seele die Vorliebe der Jugend für jtarfe, leidenjchaft- liche Eindrüce, forwie deren Neigung, das Ungewöhnliche und Außerordentliche zu firchen, gefördert. Der Zwang, in dem er von feinem Vater gehalten wird, hat ihm ein ungeduldiges Sehnen nach Befreiung von den drückenden Banden, jowie eine große Scheu, fich neue Feſſeln aufzuerlegen, verliehen.
Sp entwidelt, wird er an einem Hofe eingeführt, wo alles Einförmigfeit und Zwangsregeln atmet. Cr leidet unter all’ jenen Plattheiten, die er mit anhören muß, er, der feit jeiner früheften Jugend einen unüberwindlichen Abjcheu gegen alle dogmatifchen Säte und Formeln gehegt hat:
„Wenn ich die Meittelmäßigfeit jelbitgefällig von ganz unzweifelhaften, unerjchütterlichen Grundſätzen auf den Ge— bieten der Moral, des Herfommeng oder der Religion fich ver- breiten hörte, jo fühlte ich mich zum Widerjpruch getrieben, nicht fo fehr, weil ich entgegengejegter Meinung war, fondern weil ich die Geduld darüber verlor, eine jo majfive und plumpe Weisheit mit anhören zu müffen. Unwillkürlich war ich dieſen allgemeinen Regeln gegenüber auf meinem Pojten, welche ohne die geringfte Beichränfung, ohne die geringfte Anpaſſung gelten jollten. Die Dummföpfe fneteten ihre Moral zu einer fejten, unteilbaren Maffe, jo daß fie ganz außer Stande ift, ihre Handlungen zu durchdringen und fie in jedem befonderen Yalle frei Stellt.“
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Er rächt fi) für die Langeweile, die er empfindet, indem er fich über jeine Umgebungen und deren Lebensregeln Luftig macht und kommt dadurch fchnell in den Nuf eines Leicht- fertigen und boshaften Spötters. Der Erzähler billigt diefe jeine Spottfuft und feinen Troß felbft nicht. „Aber,“ jagt er, „ich kann zu meiner Entjhuldigung anführen, daß man Zeit gebraucht, um ſich an die Menfchen wie fie find, jowie an das, was Eigennuß, Geziertheit, Eitelfeit und Feigheit aus ihnen gemacht haben, zu gewöhnen. Die Verwunderung, die man in der erſten Jugend über eine jo fünftlich und will- fürlich eingerichtete Geſellſchaft empfindet, verrät eher eine natürliche Gefinnung, als eine verderbte Geiftesrichtung. Dieſe Gejellichaft Hat zudem nichts von uns zu befürchten: fie laſtet in dem Maße auf uns, ihr dumpfer Einfluß ift dermaßen mächtig, daß es nicht langer Zeit bedarf, um uns nad dem allgemeinen Mufter umzubilden. Wir wundern uns dann nur über unſere erjte Berwunderung, glei wie man jchließlich in einem menschengefüllten Raume frei atmet, deſſen Luft einem zuerjt faum atembar erjchien.
Diefe Scharmütel mit einer bejchränften Umgebung fönnen jedoch die Zeit des begabten jungen Mannes nicht ausfüllen.
Es laſtet auf ihm eine Unzufriedenheit, die er wie eine Kugel am Beine nachjchleppt. Wie René und Obermann ge- hört er zu der Generation von Söhnen, denen ihre Väter feine That zu vollbringen binterlaffen haben. Obſchon er niemal3 geiftig gefättigt worden, iſt er doch nicht hungrig; obſchon er nichts erlebt hat, iſt er über alles hinaus. Das Zufünftige hat fein Intereſſe für ihn, denn er hat in jeinev Phantafie allem vorgegriffen, und das Vergangene hat ihn alt gemacht, denn er hat in feinen Gedanfen mehrere Jahrhunderte gelebt. Er hat alles mögliche begehrt, aber er hat nichts ernftlich gewollt; je ohnmächtiger er fich fühlt, dejto größere Dimenfionen nimmt feine Eitelfeit an; denn Eitelfeit ift überall das Material, womit die Kraft» umd Willenslofen vergebens die Lücken ihres Willens oder ihres Talents auszufüllen juchen. Er wünſcht zu lieben und geliebt zu werden, denn er will die Liebe als einen Stärkungstrant
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für fein Selbftgefühl benugen. Cr will eine fräftigere Empfindung feines Wertes evzielen. Er will jteigen im jeinen eigenen und im den Augen der anderen. Er erjivebt nicht ein verborgenes oder umfriedetes Glück; ev jehnt fich, eine Eroberung zu machen, der Glückliche genannt zu werden, Aufjehen und Neid zu erregen durch eimen in die Augen fallenden Triumph und Skandal. So erhält er zum erften- male Berwendung für feine Sträfte, und dag Glück der Liebe wird fir ihn das Glück, endlich einmal feinen Willen zu fühlen, indem ev einen anderen Willen unter den jeinigen beugt. Er ift von Natur nicht treulofer als andere Männer. Er wird nur zärtlicher lieben, aufopfernder als mancher andere handeln fünnen. Um aber jett mit Treue lieben zu fünnen, müßten viele Bedingungen anders fein. Er ift zu jung, um nicht einem Weibe gegenüber mehr Neugierde und Abentener- luſt als Liebe zu empfinden, er ift zu Schwach und unmännlic, um ſelbſt, wenn er tief liebte, dies Gefühl unbejchädigt be— wahren zu fönnen, falls dasjelbe von der Umgebung ein- ſtimmig gemißbilligt wird, und vor allem ijt er ftroß jeiner Berschiedenheit von feinem Bater zu jehr fen Sohn, um ohne Selbjtverdoppelung oder Selbjtironie fein ganzes Weſen auf eine Karte zu fegen. Er ift dem Vater unähnlic und ähnlich, wie das beginnende neunzehnte Jahrhundert Gegner und Kind des achtzehnten war.
Und wer ift nun fie? Sie ift vom Dichter mit Fleiß jo gezeichnet, daß Adolphe's Liebe zu ihr, wie ftarf jie auch ift, einmal den Berhältniffen und der Gefellichaft weichen muß. Erſtens iſt Adolphe nicht der erjte Mann, den fie geliebt hat, und das Urteil der Welt hat jie bereit3 gefenn- zeichnet, bevor fie ihn fennen lernte; fie iſt ihm in gejellfchaft- licher Stellung nicht ebenbürtig, wenn auch Hinfichtlich Des Standes. Zweitens tft fie bedeutend älter als er, aljo auch nicht an Jahren gleich. Drittens bejitt fie einen leidenjchaft- lichen, energifch liebenden Charakter, der fich mit dem feinen nur verjchmelzen könnte, wenn die Gejellichaft zu diefer Ver- ihmelzung mitwirfte, der aber ihn wie fie unglüclich machen muß, wenn die Gefellichaft ihn gegen fie verhärtet.
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Eleonore ijt in dem Augenblid, da Adolphe jie fennen fernt, fein junges und unerfahrenes Mädchen, das von einer erjten Liebe ergriffen wird. Sie iſt ein Weib, bei dem jedes auffeimende Gefühl ſich auf einem Hintergrunde der Erfahrung, ernfter und jchmerzlicher Erfahrung, abzeichnet, welche nach allen Richtungen die Seele durchpflügt hat. Diejer Fond von Erfahrung ift der erjte neue Zug in ihrer Perfüntichkeit; denn Erfahrung fett Geiltesentwidelung und Berftand voraus. Es gehört mehr dazu, etwas erfahren zur haben, als jchlichthin etwas erlebt zu haben. Eleonore hat auf alle Güter umd Freuden des umfriedeten und gejchütten Lebens Verzicht ge- leiftet. Bon vornehmer Herkunft und im Neichtum geboren, hat fie Familie und Heimat verlaffen, um dem, welchem jie den Vorzug gab, als feine Geliebte zu folgen. Sie hat zwifchen der ganzen Welt und ihm gewählt. Sie hat ihre Aufführung dadurch geadelt, daß fie fich völlig ijoliert, um fich unbedingt für ihn opfern zu fünnen, und fie hat damit begonnen, ihm durch Nettung feines ganzen Vermögens die größten Dienfte zu erweifen. Sie hat bald alle Welt auf fich hindeuten jehen als auf einen Gegenftand des Hohnes und der Verachtung, bei jedem Schritte, den fie that, hat jie ſich von beleidigenden, unverſchämten Blicken verletzt gejehen, die eine Frau hat fie der anderen mit dem Finger gewieſen. Seder, ſelbſt der Nichtswürdigfte, hat ſich berechtigt gefühlt, mit einem Blick oder Wort das Brandmal der Schande auf ihre Stirn zu prägen. Das eine Haus nad) dem andern bat ſich an dem fremden Orte, den fie bewohnt, vor ihr ver ihlojien; bald hat fie fich faſt ausjchlieglich auf den Umgang mit Männern, Freunden ihres Geliebten, beſchränkt gejehen, und der Ton diefer ift ihr gegenüber, wiewohl ehverbietig, bisweilen zweifelhaft gewejen. Aber fie, welche ein für alle mal ihr Leben auf eine einzige Karte gejest, hat vom erjten Tage an alle Kraft ihrer Seele zum Widerftande gejammelt; fie hat zu fich jelbjt gejagt: „Habe ich gefehlt dadurd), daß ich mich an diefen Mann gebunden, fo will ich mich erheben und den Fehler durch die jtrengfte Treue büßen. Sollte eine glühende Begeifterung, eine Hingabe, deren Aufopferung feine
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Grenze kennt, nicht genug am fich felbft Haben und den auf- recht erhalten Fünnen, welcher unter der Mißbilligung und Verachtung der Welt zufammenbrechen zu müſſen jcheint? Mögen fie höhnen und auf mich hinweifen, daß die Nöte mir ins Geficht fteigt, ich will meinen Nacken nicht beugen und meine Augen nicht niederjchlagen. Möge ich alles entbehren, ihre Öaftlichfeit und ihre Fefte, ihre Achtung und die gegen- jeitige Schmeichelei, mit Hilfe deren die Gefellfchaft fich zu- jammenfittet, mein Leben hat in einem einzigen Gefühl einen größeren Neichtum, als das ihre in all’ feinem exlogenen Glanze.“ Dies Element des Willens ift der zweite neue Zug.
Auf diefem Punkte Hat fie fich jahrelang unerſchütterlich gehalten, fo feſt hat fie an die Liebe und an ihn geglaubt. Da erfaßt fie der erſte Zweifel an feiner Beftändigfeit, und ihr ganzes Gebäude ftürzt zujammen. Würdigt er immer noch fo viel Hingabe, verjteht er, was fie leidet, und wird er jie dafür ſchadlos halten? liebt er fie oder handelt er nur wie ein Mann von Ehre? ift er treu oder ift er nur zu ftolg und mohlerzogen, um ſich undanfbar und gleichgültig zu bezeigen ?
Nicht ohne Thränen ftellt fie fich diefe Fragen, nicht ohne das tiefite Weh giebt fie fich felbft die Antwort. Bon jet an ift es aus mit ihr, fie iſt zermalmt und vernichtet; denn der Glaube an die Liebe, der ihre einzige Stüte war, ijt in alle Winde verweht, und die Treue, in welche fie ihre Ehre jebte, ift ein inhaltlofes Wort geworden. Wenn fie nicht, derweil fie noch jung ift, gealtert und verwelft in das Grab finfen fol, muß fie das Leben zurücgewinnen, indem jie ihren Glauben an die Allmacht der Liebe zurücgewinnt, auf daß nicht die allgemeine Weltflugheit und die ſchmutzige Selbjtjucht, die fich als Tugend und Religion hevausitaffieren, die jtärkjten jeien und echt behalten. In diefem Augenblic begegnet ihr Adolphe. Er nähert fich ihr mit einem Ver— langen, in welchem der ganze Durſt nach dem Leben und jeinem Inhalte Fonzentriert ift, ev wird zu ihr hingezogen ala zu einem Weſen, in dem, wie er geheimnisvoll fühlt, Schäte
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von Leidenjchaft, von Zärtlichkeit und DBegeifterung auf- gejpeichert und gleichjam begraben jind.
Und feine Sehnjucht und ihr Bedürfnis, feine Eitelfeit und ihre Verzweiflung, jeine Jugend und ihre Enttäuschungen greifen in einander ein, wie zwei Räder in einem und dem- jelben Uhrwerf.
Wir ahnen leicht den Enthufiasmus, mit welchem die Leidenschaft im erjten Augenblicke emporlodern, den vollen und mächtigen Afford, der erklingen, die jubelnde Symphonie, welche erjchallen wird, al3 ſei Rettung und Sieg auf immer für Beide gewonnen. Analyjieren wir Eleonorens Gefühl, jo finden wir in demfelben eine neue und ganz eigentümliche Miſchung, eine Begeifterung, die faft fanatifch ift, denn fie muß in jedem Augenblick die ſtets von Neuem hevvorbrechende, rüchvärts jchauende Eiferfucht Adolphe’s töten fünnen, — einen Glauben, der fajt frampfhaft ift, weil ev nicht auf dem gefunden natürlichen Vertrauen, ſondern auf dem Willen bajiert, glauben zu wollen, troß allem, troß dem Bemwußtfein, ihon einmal betrogen worden zu fein, — eine Treue endlich), die unter der Notwendigfeit ächzt, bejtändig ihr Vorhandenfein beweifen zu müfjen, weil fie aus der Untreue gegen eine Bergangenheit hervorgegangen tft. Dieſe ganze potenzierte Leivenfchaftlichfeit ift der dritte hervortretende Charafterzug Eleonoren's. „Man betrachtete jie,“ jagt Adolphe, „mit dem- jelben Intereſſe und derjelben Bewunderung wie ein jchönes Gewitter.“
Mit diefen neuen Zügen tritt hier aber in der Litteratur ein ganz neuer weiblicher Typus auf, ein Typus, den der große Romanſchriftſteller Balzac fpäter fich aneignet und mit einem folchen Bewußtjein von dem typiichen Charakter des— jelben und mit jolcher Gentalität variiert, daß er als jein Schöpfer gelten kann, — ein Typus, der von ihm in die dramatische Poeſie übergeht und das ganze moderne franzöjijche Theater beherrjcht, der aber am beften mit dem Namen be- nannt wird, den er bei Balzac empfangen hat: die Frau von dreißig Jahren.
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Gleichzeitig mit ihm prägt auch George Sand diejen Typus aus und tdealifiert ihn im einer ganzen Neihe ihrer Romane. Unter ihrer beider Behandlung erweiſt er fich als eine bis dahin unbekannte Welt, in der alle Gefühle, Leiden— Schaften und Gedanken einen fräftigeren Charakter hatten, als in dem ganz jungen Herzen. Er geht aus dem Roman in die dramatische Poeſie über und beherrfcht lange das franzöfijche Theater — es iſt ein Typus, in welchem kurz gejagt, die beginnende Litteratur des Jahrhunderts ihre Königin fand, wie fie in René ihren König gefunden hat.
Sch pflege bei jedem Typus zugleich feine Karikatur zu ſchildern. Ich erwähnte die Zerrform der Selbitvergätterung bei „Rene“, die der Empfindelei bei „Werther”, die der Ber- fennung bei „Obermann“. Die Karikatur der Frau von dreißig Jahren bei Balzac ift die Frau von vierzig Jahren bei feinen Nachahınern. — Es fam ein Tag, wo die Kritik fich bitter darüber beflagte, Jugend und Schönheit in der poetischen Litteratur entthront zu fehen. Jules SYanin formulierte in feiner leichten Art diefe Klage in Geftalt einer Anklage wider Balzac, den er bejchuldigt, die Urjache all’ jener Liebjchaften zu fein, auf welche die Frauen nach ihrem dreißigſten Jahre verfallen. Er nennt ihn den Chriftoph Columbus der vierzig- jährigen Frau. „Die Frau von dreißig bis vierzig Jahren“, jagt er, „war früher ein Territorium, das al3 verloren für die Paſſion, d. h. für den Noman und das Drama, galt; aber heut zu Tage, Dank der Entdeckung jener lachenden Gefilde, herrſcht die vierzigjährige Jrau allein in Drama und Noman. Diesmal hat die neue Welt ganz die alte Welt unterdrüct, umd die Frau von vierzig Jahren bejiegt das junge Mädchen von jechszehn.
„Wer Flopft? ruft das Drama mit feiner tiefen Stimme. Wer ift da? fchreit der Roman mit feiner hohen Fiitel ch bin es, anttvortet zitternd das fechszehnte Jahr mit feinen Berlenzähnen, feinem Bufen von Schnee, mit feinen weichen Linien, feinem frifchen Lächeln, feinem fanften Blick. Ich bin es. Ich stehe in dem Alter wie Julie bei Nacine, Despde- mona bei Shafejpeare, Agnes bei Moliere, Zaire bei Voltaire,
Conſtant's „Adolphe“.
Manon Lescaut beim Abbé Prevoft, Virginie bei Saint-Pierre. Ich bin es, ich habe dasjelbe liebliche, flüchtige, bezaubernde Alter, wie alle jungen Mädchen bei Ariojt, bei Leſage, bei Dyron und Walter Scott. Ich bin es, ich bin die Jugend, welche hofft, welche unjchuldig ift, welche ohne Furcht einen Blick, Schön wie der Himmel, in die Zukunft wirft. Ich habe das Alter aller keuſchen Neigungen, aller edlen Inſtinkte, das Alter des Stolzes und der Unſchuld. Weift mir meinen Pla an, lieber Herr! So fpriht das Tiebliche Alter von jechSzehn Jahren zu den Nomanfchriftitelleen und Dramen- dichtern: Wir find mit deiner Mutter bejchäftigt, Kind; komm nach zwanzig Jahren wieder, und wir wollen fehen, ob wir etwas aus dir machen fünnen.
„Es giebt jetzt in Drama und Roman nichts anderes, als die Frau von dreißig Jahren, welche morgen vierzig Jahre alt werden wird. Sie allein kann Lieben, fie allein kann leiden. Ste tft um jo dramatiſcher, als fie feine Zeit mehr hat, zu warten. Was follten wir mit einem feinen Mädchen anfangen, das nichts als weinen, Iteben, jenfzen, lächeln, hoffen und beben fann? Die Fran von dreißig Jahren weint nicht, jie Schluchzt, fie jeufzt wicht, fie wimmert, fie liebt nicht, fie verzehrt, fie Lächelt nicht, jie kreiſcht, fie träumt nicht, fie handelt! Das iſt das Drama, das tft der Roman, das ilt das Leben. So jprechen, handeln und antworten unjere großen Dramatifer und unſere berühmten Novelliften.“
Eine der begabtejten und geiftvolljten Frauen der Neu: zeit, Madame Emile de Girardin, verteidigte Balzac und jagte jehr richtig: „Sit es Balzac's Schuld, daß das Alter von dreißig Jahren heutzutage das Alter der Liebe iſt? Balzac ijt genötigt, die Yeidenjchaft zur malen, wo er jie findet, und heutzutage findet man fie nicht in einem jechzehnjährigen Herzen." —
Das kraftvolle prometheifche Gejchlecht, dem Goethe an gehörte, Hatte feinen fFräftigen Typus in „Fauſt“ hevvor- gebracht, dem entwickelten Manne, dem hochbegabten Geifte, der, nachdem er alle Studien erjchöpft, alle Wiſſenſchaften durchforiht hat, auf der Höhe des Mannesalters eine Yeere
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in jeinem Herzen, einen Durft nach Jugend, Friſche und Naivetät empfindet, fich in's Leben hinausſtürzt und ſich in ein Kind verliebt. ES it ihre Einfalt und Unfchuld, die ihn befiegt und beraufcht, und die ev an fi) reißen will.
Das unglücliche Gejchlecht von Verivrten und Berbannten, von Heimatslojen und Emigranten, dem Conſtant angehört, verförpert jeine ideale Perfünlichkeit in einem Typus wie Adolphe, welcher, alt von der Wiege an, falten und trodenen Herzens, bei al’ jeinem Mißmute begehrlich und ehrgeizig, aber ein reines Kind an Alter und Erfahrung, in der Liebe ſtarke ſinnliche Aufregungen und erjchütternde Eindrücke, Kenntnis des Lebens, der Leidenschaften und des weiblichen Herzens, Kämpfe und Gefahren, kurz Ueberlegenheit beim Weibe fucht. Eine ſolche Ueberlegenheit findet man nicht bei dem ganz jungen Mädchen, das unter den Augen ihrer Mutter in einem bürgerlichen Haufe herangewachſen ift. Der Triumph, fie zu bejiegen, gewährt feine Befriedigung. Aber it diefer Weberlegenheit des Weibes an Alter und Erfahrung ändert fich der Charakter des ganzen Gefühls und des ganzen Berhältniffes; denn die herfömmliche Schilderung feste ja immer voraus, daß die Frau einige Jahre jünger als der Mann war. Die kindliche und unfchuldige Auffaffung war die, daß die Liebe zwei Wejen vereinte, welche im Voraus fo für einander bejtimmt waren, daß er nur Liebe empfand, wenn er fie erblicdte, und fie nur, wenn fie ihn erblidte. Erjchien dieſer Augenblick, dann liebten fie einander glücklich umd ungejtört für das ganze Yeben. Und es verjtand fich von jelbjt, daß die Vorſehung, welche fie für einander aus— ichlieglich gejchaffen und dafür geforgt hatte, daß fie einander zur rechten Stunde begegneten, auc dafür jorgte, daß all’ die verjchönernden Fleinen Nebenumftände äfthetifch in Ordnung waren, wie z. B. daß das Altersverhältnis gut und harmonisch, die Braut ein paar Jahre jünger als der Bräutigam, kurz alles ganz nach der Vorfchrift war. Bon dem Augenblick an, wo einer der Haupttypen in der Pitteratur eine Yiebhaberin wird, die um mehrere Jahre älter als ihr Liebhaber ift, tritt in der Auffaffung des Gefühls eine Nevolution ein. Wir
Conſtant's „Adolphe“. 129
Wir finden den großen Abjtand überall wieder: in Balzac’z Romanen, 3. B. in „La femme de trente ans“, in „La femme abandonnee“, in „Le message“, bei George Sand in fo verjchiedenartigen Werfen wie „Francois le Champi“ und „Lucretia Floriani“, und das Altersverhältnis war von derjelben Art bei dem berühmteften Schriftitellerpaar in der neueren franzöfichen Litteratur, bei George Sand und Alfred de Mufjet. Der Unterfchted des Alters ſtürzt die Auffafjung der Liebe als Geſellſchaftsmacht um. Die Leidenschaft fcheint, indem fie zwei einander jo ungleiche Weſen verknüpft, etwas minder Geordnetes, minder Negelvechtes und minder Glück liches, aber fchneller Vorübergehendes zu fein, als es die Liebe ſonſt als Geſellſchaftsmacht zu fein pflegt. Sie läßt jich nicht mehr mit dem Vorfpiel zu einer bürgerlichen Hochzeit verwechjeln. Site ſcheint unter gewifjen Bedingungen zu ent- jtehen, wenn die Bahnen zweier Wejen von einer gewiſſen Beſchaffenheit einander freuzen oder ſchneiden, und fie jcheint fein Bild einer großen Harmonie des Seins zu gewähren. Da jedoch von jest an die Frau im Kampfe mit der be- jtehenden Geſellſchaft gefchilvert zu werden beginnt, und da fie diefen Kampf nicht in ganz jungen Jahren führen fann, fo wird, wie gejagt, das junge Mädchen als Heldin von der ent- wicelten Frau abgelöft. Mit vollem Ernte bemächtigt fich die Litteratur dieſes weiblichen Typus freilich erſt bei Balzac. Es mußten drei große Ereigniffe-vorhergehen: der Saint-Simonis- mus mit feinen emanzipatorischen und humaniſtiſchen Tendenzen, die Julirevolution, welche eine gewiſſe Etifette in der Yage und Stellung der Frauen nachhaltig erjchütterte, und George Sand's Auftreten; denn die gejchichtliche Rolle George Sand's bejteht darin, daß fie auf eigene Hand denfelben Freiheits— fampf für die Frau zu führen bejtrebt war, zu welchem die Revolution von 1789 für den Mann allein den Anftoß ge- geben hatte. Die Revolution führte zu einem Geſetzbuche, deſſen erjter Paragraph lautet: „Alle Franzoſen find gleich vor dem Geſetze“, aber diefer Paragraph vergißt ganz Die Franzöſinnen. Die Sache der Frauen fam im dev Litteratur zur Sprache. Wenn aber diejer Frauentypus und mit ihm Brandes, Hauptftrömungen. I. Cmigrantenlitteratur. 9
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der Kampf der Frau gegen die gefellfchaftlihe Meinung bier in der Litteratur jo lange vor George Sand auftaucht, fo liegt dies daran, daß Eleonore nach der bedeutendsten Frauen— gejtalt jener Zeit, ja nach einer Frau geformt ift, die es jo- gar wagte, einem Napoleon als Gegnerin gegenüberzutreten.
Diefer neue Frauentypus fteht in ſcharfem Gegenſatz zu den Frauengejtalten, im welchen die deutjche Poefie unter Goethe ihre höchſte Vollendung erreicht und in denen ſich gleichzeitig das eigentümlich germaniiche Gemütsleben am reinften ausgeprägt hat. Denken wir einen Augenblid an Gretchen und Klärchen. ES find zwei Gegenſätze, die eine eine fanftere und frömmere Natur, die andere eine fecfere und enthufiaftifchere. Aber das Grundgepräge ihrer Seele tft das— jelbe. Es find zwei Rinder. Sie gehen beide in einen ein- zigen Gefühl auf, ihr Wejen tjt ohne jede Zuſammenſetzung, völlig einfach, ſchlicht, naiv. Sie lieben beide zum erjtenmale und nur dies einemal. Sie geben fich beide, und außerhalb der Ehe, mit vollftändigem Bertrauen, ohne jede Widerjtandg- fraft, ja ohne den geringjten Willen zum Widerjtande dem Geliebten hin, die eine aus tiefer weiblicher Anhänglichkeit, die andere aus hoher weiblicher Begeifterung. Sie faffen nicht, daß fie etwas Unvechtes thun, fie denfen nicht. Ihr ganzes Weſen, ihr Wille und ihre Gedanken entjtrömen ihnen unwill— fürlich, fie wiffen jelber nicht, wie. Ihre Herzen nehmen weich wie Wachs einen Eindrud an, aber, einmal aufgenommen, wird derſelbe nicht wieder ausgelöfcht und bleibt wie in Gold geprägt ftehen. Nichts Fommt der Unjchuld, Reinheit und Nedlichfeit ihrer Seelen gleich. Sie find treu aus Inſtinkt, fie begreifen nicht, daß man anders jein fünnte. Sie haben feine Moralität, aber fie haben alle Tugenden; denn man tft moraliſch mit Bewußtfein, aber gut von Natur. Sie betrachten fih nicht als des Geliebten Gleichen. Ste bliden zu ihm empor; für fie ift es, als fei die alte Sage Wirklichkeit ge- worden, daß die Söhne der Götter zu den Töchtern der Menjchen herabitiegen.
Man denfe daran, wie erjtaunt und verwirrt Gretchen über al’ das tiefe Wiffen Fauſt's it, man evinnere fich
Goethe's Frauengeitalten. 131
Klärhens, die wie ein Kind vor Egmont fniet, als er in feiner vollen Pracht erjheint! Sie verlieren fich ganz in dem Ge— liebten, gehen in ihn auf und verfchwinden in ihm. Es find nicht zwei ebenbürtige Perjönlichkeiten, welche einander die Hand geben und ſich einander verpflichten, e3 iſt eim verwirrtes umd bewunderndes Kind, das fich an einen Mann klammert. Er it ihr Leben, aber in feinem Leben ijt fie nur eine Epifode. Sein Blick umſpannt und überjchaut ihr ganzes Weſen; aber jie vermag ihn im feiner Nichtung zu überjchauen, alfo noch minder ihn zu durchſchauen und zu beurteilen. Sie vermag weder jeine Schranfen noch jeine Mängel zu erbliden. Wo— hin fie Schaut, fieht fie ihn als etwas Koloffales und Gigan- tiiches, das ihr von allen Seiten entgegen rüdt. Daher in diejer Liebe Feine Kritif, feine Befreiung für den Geiſt, fein Gebrauch des Berjtandes. Er iſt der Große, der Herrliche im allgemeinen, wie Fauſt, der von allem zu veden weiß und eine Antwort auf alle Fragen hat, wie Egmont, deijen Name als Held und Befreier auf aller Lippen ijt, umd den Die ganze Stadt fennt. Hier iſt, jage ich, feine Befreiung für den Geijt; denn dies junge Mädchen hat feinen Geijt in der Bedeutung von Beritand, fie iſt lauter Seele. Wenn jie Handlungen volldringt, die eine Willenskraft oder eine gewiſſe männliche Entjchloffenheit verlangen, wenn 3. B. Klärchen — erftaunt und entrüjtet darüber, daß die Brüffeler Bürger fo falt und feig ihren eigenen Helden Egmont ins Gefängnis und vielleicht zum Tode jchleppen jehen — wenn jte auf den Marktplatz tritt und dieſe trägen Seelen vergebens mit Flammenworten aufzureizen ſucht, ſo bildet den Dan diefer Handlung der naive Glaube des jungen Mädchens, das Leben ihres Geliebten müſſe für die anderen eben jo wichtig wie für fie ſelber jein; da fie nur ihn im der Welt erblict, begreift jie faum, daß die andern an anderes denfen können. Diefe jungen Mädchen treten als echte Produfte ihrer Race in diefelbe große Familie, zu welcher Ophelia und Desdemona gehören.
In entfchiedenem Gegenſatz zu ihnen jteht nun das neue, franzöfifche Frauengefchlecht. Hier war der Kern des Wejens 9*
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Sunigfeit, Gemüt, Natur. Bei dem anderen Franentypus it alles Bewußtfein, Geiſt, Yeidenfchaft und Wille, aftiver Charakter. ES war ja auch die geiftvolljte und bedeutendſte Frau der Zeit, welche lieber Verzicht auf Vaterland, Ruhe und Wohlſein geleiftet hatte, als fich den Quälereien zu unter- werfen, die Bonapartes brutaler Despotismus gegen die Wider- jtvebenden anmwandte, welche Conftant den neuen Frauen— typus gab.
Das Auftreten der Frau in der Litteratur als Getft, als Bewußtſein, ift deshalb auch nur der erjte Schritt zu ihrem Auftreten als Genie Schon fieht man den Turban der Frau von Stael am Horizonte jehimmern. Dieſelbe Frau, welche zuerjt der Peidenjchaften und Kämpfe des Mannes teil- haftig wird, wird bald feines Genius und feiner Ehre teilhaftig. Eine furze Weile noch, und dem Kampfe folgt der Triumph, und jenes jelbe Weib, das als Eleonore unterliegt, wird als Corinna auf dem Kapitol gekrönt.
Es erübrigt nur noch, Nechenfchaft von der Feinheit der pſychologiſchen Analyſe in „Adolphe“ zu geben und zu zeigen, zu welchem Reſultate ſie führt. Adolphe beginnt, wie jchon angedeutet mit dem Eindrude von Eleonore: Dies ift eine Eroberung, die meiner würdig ift, und- er bildet fich ein, als falter Beobachter Eleonorens Charakter ftudieren zu fünnen, um jeinen Schlachtplan danach einzurichten; aber bald gerät er, deſſen Senfibilität faft eben fo groß wie fein Egoismus it, unter einen Zauber, der ihn ganz gefangen nimmt, und der feine natürliche Schüichternheit in folchen Grade erhöht, daß es ihm unmöglich ift, Mut zur Liebeserklärung zu finden, die feine Eitelfeit jo ſchnell und übereilt hatte machen wollen. Er jchreibt an fie, aber Eleonore weift ihn ab und
flieht ihn. Diefer Widerftand und diefe Kälte von ihrer Seite rufen bei ihm eine Unterwerfung und eine Empfindjan- feit hervor, welche bald in eine Art Kultus übergehen. So war Eleonore niemals geliebt worden, denn jo viel wahre Ergebenheit ihr Bejchüger ihr auch erwiejen hatte, jo war doch eine Schwache Nüance von Ueberlegenheit in feinem Wefen ihr gegenüber bemerflih. Er hätte eine ehrenvollere Verbindung,
Conſtant's „Adolphe”. 133
als diefe fchließen können. Er jagt das zwar nicht, aber was nicht gejagt wird, exiftiert darum nicht minder, Deshalb iit es die Ehrfurcht Adolphe’s, welche von Anfang an Eleonoren bezaubert. Sie ergiebt ſich ihm, und er wird wie trumfen vor Entzüden und Glück. Die erſte Störung des Entzückens wird dadurch verurſacht, daß Eleonore, al3 der Graf die Stadt auf einige Zeit verlafjen hat, die Gejellichaft Adolphe's nicht mehr, jelbjt nicht für einige Stunden, entbehren kann. Will ev fie verlaffen, jo ſucht fie ihn zurückzuhalten; gebt ev, jo fragt fie, warn er wieder fomme. Zuerft fühlt ex jich geſchmeichelt und glücklich durch eine jo jchranfenlofe Hingabe, allein bald iſt feine Zeit fo gänzlich durch fie in Anfpruch ge- nommen, daß er über feine Stunde mehr verfügen fann. Er muß jede gejelljchaftliche Einladung ausjchlagen, die an ihn ergeht, ev muß all’ feine Bekanntſchaften abbrechen. Er ‚empfindet daS zwar nicht als einen Verluft, aber ev würde e3 doch vorgezogen haben, ſich mit dem Glockenſchlage ein- jtellen zu müffen, und nach Zeit und Luft fommen zu können. Sie, welche früher ein Ziel war, tft jet eine Feſſel geworden.
Wo ſeid ihr hin, all ihr jchönen Nomane, in denen der Liebhaber nie etwas anderes zu thun hatte, als zu lieben, in denen er liebte vom Morgen bis zum Abend, Morgens auf: ftand um zu lieben, den ganzen Tag über liebte, und eine Ichlaflofe Nacht vor Liebe verbrachte! ES ijt ein Fräftiger und reafiftifcher Zug in „Adolphe”, daß der Liebhaber den Verluſt feiner Zeit als Berluft empfindet.
Und es nützt nichts, daß er fich feine Zeit zurück erobert, wenn ev doch feine Gemütsruhe durch das Meitgefühl verliert; denn bleibt er einmal aus, jo raubt der Gedanfe an ihren Schmerz darüber ihm alle Zeit, die er gewonnen, während es ihn zugleich unklar verjtimmt, in folhem Grade der Herrichaft eines anderen Menjchen unterworfen zu fein. Kommt er dann zu ihr, gequält durch das Bewußtſein, viel jchneller zurüd- gefehrt zu fein, als die Rückſicht auf ihren Ruf und auf jeine Beichäftigungen es vernünftig evjcheinen ließ, jo findet er jie unglücklich darüber, daß ev jo lange fortgeblieben iſt. Er bat zwei Stunden lang unter der VBorftellung von ihrer Ungeduld
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gelitten, jett muß er zwei fernere Stunden leiden, bevor er jie zu beruhigen vermag. Gleichwohl fühlt er fich glücklich, jagt ich felbft, daß es ſüß jet, fo geliebt zu werden, tröjtet fich aber doch im Grunde unbewußt durch das Gefühl, daß die Ungfeichartigfeit in ihrem Wefen früher oder jpäter dem Berhältniffe ein Ende machen müſſe.
Zuerſt erleidet er jett den Schmerz, nicht ehrlich jein zu fünnen; denn der Graf fehrt zurüd, und er ift genötigt, ihn zu betrügen. Dann erleidet er den Schmerz, Eleonoren alles um jeinetwillen opfern und gleichzeitig ihre jeitherige Heimat und ihr Bermögen aufgeben zu jehen. Und diefer Schmerz ift doppelt, teils egoiftifch, denn verzweiflungspoll fieht ev jeine Freiheit durch das Opfer gelähmt, das fie ihm mit tiefftev Freude bringt, teils ſympathiſch, denn er fieht Die Gefellfchaft mit hyänenartiger Wut ihren Auf zerfleijchen. Alles, was fie durch ein jahrelanges untadelhaftes Betragen- gewonnen hat, verliert fie an einem einzigen Tage. Ihr Stolz windet und quält fich, und jeine Hingabe wird zur Pflicht. Bon jett an exiftiert zwifchen ihnen ein geheimes Weh, das jie einander nicht zu verraten wagen. Adolphe's Charakter be- ginnt verdorben zu werden. Zu gleicher Zeit, wo ev fich mit jemand duelliert, der jchlecht von Eleonore gejprochen hat, ichadet er felbft und freiwillig ihren Rufe; denn ev jucht eine Art Troft für die Abhängigkeit, in welcher er lebt, dadurch, daß er überall über die Frauen und über diejenigen jpottet, welche fich ihrer Despotie unterwerfen, und diefe Aeußerungen werden übel gedeutet. Er, welcher einer Thräne nicht zu widerfiehen vermag, fett eine Ehre darin, überall mit Härte und Berachtung vom Weibe zu reden.
Andere haben das Unglüc erlitten, zu lieben, ohne Gegen— liebe zu finden; ev erleidet das entgegengejegte, geliebt zu werden, ohne länger zu lieben. Wie fehr er fich auch bemüht, recht froh zu erjcheinen, fo oft er Eleonoren erblict, durch— haut. fie ihn doch, und es fommt zu einer jener fürchterlichen Szenen, deren Frau von Stael Conjtant jo viele bereitete, wo Eleonorens ftürmifche Seele fih mit einer an Haß jtreifenden Bitterfeit Luft macht. Die Außenwelt jtrebt jedoch,
Conſtant's „Adolphe”. 135
Efenoren von ihm zu entfernen. Adolphe's Vater will nicht, daß jein Sohn feine Jugend an dies Verhältnis vergeuden ſoll, und ein einfaches Nitterlichfeitsgefühl veranlaft Adolphe daher, mit ihr zur entfliehen. Sie verleben einige Zeit in einem freundlichen Gemütszuftande, der faſt wie Liebe aus- jteht. Eleonore bringt neue Opfer, welche anzunehmen für Adolphe eine Pein ift. Bald leidet fie darunter, daß fie nicht geliebt wird, wie Adolphe darunter leidet, daß er nicht liebt, bald beranjcht fie ſich jo in ihrer Liebe, daß fie diefelbe doppelt jieht umd ihr eigenes Gefühl für das beider hält. Sie zehren beide gleichjam von der Erinnerung an ihr einjtiges Glück, welche jtarf genug tft, ihnen die Trennung als jchmerz- ih, ja undenkbar erjcheinen zu laſſen, aber zu jchwach, ihnen das Beifammenleben zu einer Freude zu gejtalten. Die zärt- fichen, aber doch matten Worte, mit denen Adolphe jet Eleonoren jeine Liebe bezeugt, gleichen dürren, farblofen Blättern, die noch bis in den Winter hinein an dem einen oder anderen längjt entlaubten Zweige hängen geblieben jind.
Sp macht er nicht einmal diejenige glücklich, welche ihn jo unglüdlih macht. So oft fie neue Nechte errungen zu haben glaubt, fühlt er jich im neue Feſſeln geſchmiedet. Ihre Leidenfchaftlichfeit macht ihr Zuſammenleben zu einem be- jtändigen Gewitter. Ich erinnere mich folgender Worte in einer Biographie Conftant’3: „In dieſem „Jahre hatte Conjtant es gut, Frau von Stael wer in Rußland.“
Eleonore beerbt ihren Vater und bedarf nicht mehr des Schutes von Adolphe. Die Welt verdenft es ihm jett jogar, daß er Vorteile aus ihrer Freundſchaft zieht, und man haft ihn, weil er ihren Ruf dadurch ruiniert, daß er bejtändig in ihrer Nähe ift, während er ſelbſtverſtändlich nicht erklären kann, daß fie es ift, welche nicht ohne ihn zu leben vermag.
Sein Yeben rinnt ihm unter den Fingern hinweg, ev erfüllt feine der Verheißungen, welche feine Jugend gegeben bat; denn wie ihm von allen Seiten gejagt wird, zwijchen ihm und einer Zufunft in irgend welcher Richtung iſt eine unüberfteigliche Schranke, und die Schranfe iſt Eleonore. Er bejchließt endlich, mit ihr zu brechen; aber jelbjt dieſer Ent-
136 Die Emigrantenlitteratur.
ſchluß ſchlägt ihm zum Unheile aus; denn von diefem Augen- blide au, da er das Zodesurteil über fie gefällt Hat, deſſen Bollftrelung er in feiner Schwäche doch wieder verzögert, ſchwindet alle Bitterfeit aus feiner Seele, und er hegt ihr gegenüber jo zärtliche Gefühle, daß fie ihn mißverjteht und ſich gerettet wähnt.
Mit einer legten Kraftanſtrengung jucht fie ihn zu ge- winnen, indem fie jeine Eiferfucht erweckt, aber alles iſt jetzt vergebens, von allen Seiten drängen die Umgebungen auf Adolphe ein und ftellen ihm den Bruch als die natürlichite Sache von der Welt, als eine Pflicht gegen feinen Bater, gegen feine Zukunft, ja gegen das unglücliche Wejen vor, an das er gefettet ift, und das er aufreib. Man fpielt Eleonoren einen Brief in die Hände, durch welchen fie Adolphe's Abdichten erfährt. Sie verfällt in ein hitziges Fieber und jticbt, aber fie bewahrt ihre Liebe zu Adolphe bis zu ihrem letzten Atemzuge.
Von dem Augenblick an, wo er ſeine Freiheit hat, em— pfindet er ſie als eitel Leere, er weiß nicht mehr, was er mit derſelben anfangen ſoll, er ſehnt ſich nach all' ſeinen Feſſeln zurück.
Conſtant hat die Moral des Buches in folgender Weiſe ausgeſprochen: „Das leidenſchaftliche Gefühl vermag nicht wider die Ordnung der Dinge zu kämpfen; die Geſellſchaft iſt allzu ſtark. Sie macht die Liebe, welche ſie nicht gebilligt und geheiligt hat, allzu bitter. Wehe daher dem Weibe, das ſeine Stütze in einem Gefühle ſucht, das zu vergiften alles ſich verbündet, und gegen das die Geſellſchaft, wenn ſie es nicht als legitim zu achten braucht, ſich mit allem wappnet, was am ſchlechteſten im Menſchenherzen iſt, um alles Gute zu Boden zu ſchlagen.“
Fran von Stacl. 127
9. Frau von Stael.
Byron ſchreibt über „Adolphe“ im einem jeiner Briefe: „Anbei jende ich Ihnen „Adolphe“, er enthält finjtere Wahr- heiten, aber nach meiner Anficht ijt er ein gar zu trübjinniges Werk, als daß er jemals populär werden fünnte. Sch las ihn zum erjtenmale in der Schweiz auf die Aufforderung der Frau von Stael." Sie felbjt bemerft irgendwo über dies Buch: „Ich glaube nicht daran, daß alle Männer wie Adolphe find, fondern nur die eitlen Männer.“ So einfach dieje Aeußerung iſt, jo fühlt man doch in derjelben die Notwehr einer Frau; denn „Adolphe” hatte die Tochter Necker's per— jönlich getroffen, ihre tiefite Herzenswunde entblößt.
AnneMarie Germaine Neder wurde im Jahre 1796 zu Paris geboren. Ihr Vater, der große Genfer Finanzmann, wurde befanntlich kurz vor Ausbruch der Revolution Frank- reichs erſter Minifter und fein Name war damals das Symbol des freifinnigen Frankreich. Ihre Mutter war eine jehr be- gabte Frau, ein Muſter von Pflichterfüllung, aber jteif und gezwungen, für welche die Erziehung alles und die Natur wenig bedeutete; auf Slleinigfeiten legte fie ein pedantijches Gewicht, da es nach ihrer Auffafjung in moraliicher Hinsicht nichts Unbedeutendes gab. Selbſtverſtändlich war ihr daher Rouſſeau's Erzieyungsmethode in höchftem Grade zumider, und infolgedefjen wurde Rouſſeau mit feinem Glauben an die Natur und die angeborenen Tugenden das Ideal ihrer jungen Tochter. Site wuchs als munteres, freimütiges Kind auf, welches fich bald zu einer lebhaften, geijtvollen Brünette ent- wicelte, deren jchwarze Augen von Wig und Herzensgüte feuchteten. Während die Mutter die Vernunft und Selbjt- betrachtung pries, kam die Tochter, welche unter der bejtän- digen häuslichen Aufſicht und der Eiferfucht dev Mutter auf ihre reichen Fähigkeiten litt, immer mehr dahin, all jene Eigenschaften und Tugenden zu lieben, welche ohne künſtliche
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Pflege von jelbjt einer gefunden, veichen und ſchönen Natur entipringen. Schon als Kind war fie im elterlichen Haufe von den berühmteften Männern jener Zeit umvingt, welche von ihren jchnellen Antworten umd überrafchenden Einfällen ergött und angezogen wurden.
Das feelenvolle und feurige Wunderfind wurde des Vaters Stolz, und fie vergalt feine Härtlichfeit mit einer Liebe und Bewunderung ohne Grenzen, die fie fich ihr ganzes Leben hin— durch erhielt, und die man auch in fat all’ ihren Werfen jpürt.
Dit fünfzehn Fahren begann fie Abhandlungen, Novellen, Tragddien, darunter eine mit dem Titel „Montmorency“ zu ihreiben, welche durch die Wahl des Stoffes den Zeitpunkt verrät, an dem fie sch zu dem jungen Bicomte Mathieu de Montimorency, der mit Ehren im nordamerifanijchen Fretheits- friege gekämpft hatte, hingezogen fühlte, auf dejfen Hand fie jedoch Verzicht leiften mußte, da ihre Eltern einer Heivat mit einem Katholifen entgegen waren. Statt defjfen vereinte jie eine treue Freundſchaft fürs Leben. Auf Wunſch der Mutter wurde Germaine Neder in Jahre 1756 mit dem fchwedischen Gejandten in Paris, Baron Erif Magnus Stael-Holſtein, einem Günſtling Guſtavs III. vermählt, dem der König, um ihn zu einer jo angejehenen und reichen Partie zu verhelfen, den Gejandtjchaftspojten in Paris auf eine lange Reihe von Jahren zuficherte, während er ſelbſt feinen Schwiegereltern das Beriprechen gab, jeine Gattin nie gegen ihren Willen nad) Schweden führen zu wollen. Er fcheint einer jener damaligen nordiichen Durchſchnittsmenſchen gewejen zu fein, ein Edel— mann mit guten Manieren, mit Halbbildung, verſchwenderiſch und dem Spiele fröhnend; er war noch einmal jo alt wie jeine Braut.
Unmittelbar vor Ausbruch der Revolution gab Frau von Stael ihr erjtes Wert „Briefe über Rouſſeau's Schriften“ heraus, es iſt eine Lobrede und eine warmherzige V Verteidigung. Am Ende des dritten Briefes ſucht ſie Rouſſeau's Ehren mit denen ihres Vaters zu verflechten, der gerade damals an die Spitze Frankreichs berufen worden war, am Ende des vierten Briefes begrüßt ſie mit begeiſterten Worten die Einberufung
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der Stände und jpricht mit jugendlicher Beredfamfeit die Hoff- nung aus, daß es der großen franzöfifchen Nation glücfen werde, auf dem Wege ruhiger Aufklärung, auf dem Wege der Vernunft und des Friedens jene Güter zu erlangen, welche andere Völfer nur durh Ströme von Blut erworben hätten. Sie fleht das Volk an, feine Ehre darein zu jeken, das Ziel nicht zu überfchreiten, welches zu erreichen alfe einig wären, und fie jchließt, unter Hinlenfung auf Rouffeau, inden fie beflagt, daß er daS bevorftehende, ehrfurdhtgebietende Schauſpiel nicht mehr erleben fünne, daß er nicht lange ge- nug gelebt habe, um Neder, „der es verdiente, einen Be— urteiler, einen Bewunderer, einen Mitbürger wie ihn zu haben“ mit Rat und That aufzumuntern.
Die Revolution brad aus, jie ließ ji) weder auf dem Wege von Frau von Stael3 Hoffnungen und Wünjchen, einer Conjtitution nah englifhem Mufter, halten noch be- grenzen. Schnell war Neder verjagt, während jeine Tochter, dur ihres Mannes einflußreiche Stellung bejchütt, unter der Schredensherrichaft in Paris verblieb und mehr als ein un— ihuldiges Opfer errettete. Mit Hülfe des fühnen Deutjchen Juſtus Erich Bollmann rettete fie ihren damaligen Geliebten, der in Lebensgefahr war. Es war Narbonne, der frühere Kriegsminifter, den Bollmann im September 1792 unverfehrt nad) Yondon bracdıte.*) Sie entwarf jogar einen Plan zur Flucht der föniglichen Familie. Nun wandte fi) der Haß der Herrjchenden gegen fi. Mit Mühe und Not entfam fie im September des Jahres 1792 der rahjüchtigen Menge. Bon ihrem Freund Montmorency begleitet, der als Arijtofrat verfolgt wurde umd ich als ihr Yafai verffeidet hatte, flüchtete jie nach) Coppet. Darauf reifte fie nad) England, wo fie ihre Berteidigungsichrift für Marie-Antoinette herausgab, die jie zwar nicht perjönlich fannte, deren Geſchick fie jedoch tief rührte. Kurz darauf erjchien ihre durch die Zeitverhältniffe hervor- gerufene Schrift „Vom Einfluß der Yeidenjchaften auf das Glück der Individuen und Bölfer.“
*) Friedrich Kapp: Juſtus Erih Bollmann.
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Da Schweden nach Nobespierres Sturz die franzöfifche Republik anerkannt hatte, kam fie nach Paris zurück und ent- faltete unter dem Diveftorium eine hervorragende politifche Thätigfeit, deren Ziel eine parlamentarifche Verfafjung und Frieden mit Europa war. Nur durch ihren Einfluß wurde Talleyrand Minijter des Aeußeren. Ihr Salon bildete den Mittelpunkt für die „gemäßigte” Partei, war aber außerdem auch ein politifher Sammelpunft erjten Nanges, und bier war es, wo Benjamin Conftant jchnell die Hauptperjon in den politiſchen Intriguen, aber auch in der Gunſt der Herrin des Hauſes wurde.
Im Jahre 1800 gab fie ihre erfte größere Arbeit: „Die Litteratur in ihrem Berhältnis zur Geſellſchaftsordnung betrad)- tet“, heraus, ein Werk, welches der Hauptmafje feines Inhalts nach zu der großen Gruppe von Schriften gezählt werden muß, welche in alfen Hauptländern Europas feit den Zeiten der Nenaiffance die Frage behandelten, ob die antife over moderne Litteratur am höchſten jtände. Es iſt dasjelbe Problem, welches jebr furz darauf in Chateaubriand’S Buch „Le genie du Christianisme“*) auftaucht. Frau von Stacl erklärt ſich, wie ſpäter Chateaubriand, für die modernen Litteraturen. Aber der Grund tft verjchteden: er leitet deren Vorzüge vor dev antifen von dem Umftande ab, daß fie Hriftliche Stoffe behandeln, von denen die Schriftjteller des Altertums nichts wußten; fie jtüßt die Ueberlegenheit der neueren Yitteraturen auf die fortichreitende Zivilifatton. Sie glaubt an die Ver— edelung der Menfchheit, auf die langſame Vervollkommnung der gefellichaftlichen Einrichtungen, und fie baut bier auf die Ueberzeugung, daß die Litteraturen einen immer größeren Schatz von Erfahrung und Einficht enthalten werden. Don einer gründlichen und planmäßigen Litteraturpfychologte iſt auf diefer ihrer Entwidelungsftufe noch feine Rede; fie nimmt 3. B. ohne weiteres die Einbildungsfraft von denjenigen Fähigfeiten aus, welche veredelt werden fünnen, weil fie trotz al’ ihrer Schwärmerei für Offtan nicht leugnen will, daß
*) Die Reaktion in Franfreih, 5. Aufl. 1897 pag. 88 ff.
Frau von Stael. 141
Homer eine weit reichere Poeſie enthalte als jener. Aber das Verdienſt des Buches beruht auch nicht darauf, was es beweiſt, ſondern auf dem, wofür es kämpft und was es prophezeit: die Notwendigkeit einer neuen Poeſie, einer neuen Philoſophie und einer neuen Religion. Sie lenkt die Aufmerkſamkeit auf die nordiſchen Litteraturen, die engliſche, die deutſche, die isländiſchen Sagen und die altſkandinaviſchen Heldengedichte hin. Oſſian iſt ihr jedoch der Haupttypus für das poetiſch Großartige in der nordiſchen Dichtung. Sie liebt ſeinen Ernft und Schwermut; denn, ſagt ſie, „die melancholiſche Poeſie iſt diejenige, welche am meiſten zur Philoſophie paßt.““) Was befonders die Deutjchen betrifft, jo jchreibt fie: „Das be- deutendjte Buch, welches die Deutjchen bejigen, und das einzige, das fie gegen die Meijterwerfe anderer Sprachen aufzuftellen haben, ijt „Werther”. Da man dasjelbe einen Roman nennt, jo wiffen viele Menfchen nicht, daß es ein ganzes Werk ift. Man hat dem Autor des „Werther“ den Vorwurf machen wollen, daß er den Helden andere Qualen, als jene, die aus feiner Liebe entfpringen, daß er ihn einen jo lebhaften Schmerz über eine Demütigung uud einen jo tiefen Unwillen über die Standesungleichheit, welche dieſe Demütigung ver- urſacht, empfinden ließ; dies ijt jedoch meiner Anficht nad) einer der gentaljten Züge dieſes Werkes.“
„Die Litteratur, in ihrem Verhältniſſe zur Geſellſchaft betrachtet“, hat zum Grundgedanken, daß die joziale Freiheit notwendiger Weife zu einer litterarifchen Reform führen müſſe, und daß es eine Abjurdität fein würde, wenn die Gejellichaft, in welcher die politifche Freiheit erobert worden, eine von Negeln gefefjelte Litteratur bejiten folltee „Möchten wir,“ ruft fie im glühenden Eifer ihrer Jugend aus, „ein philo- jophifches Syftem, eine Begeifterung für das Gute, eine fräftige und vedliche Gejetgebung finden, die für uns fein fünnte, was die chriftliche Religion für die Vergangenheit war!“
Eiferfüchtig auf ihren beginnenden Ruhm, aufmerkſam als Nitter des Glaubens, war Chateaubriand ſofort auf jeinem
*) De la littörature. Paris 1820. pag. 257.
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Poften, und zeigte ihr Buch an. Die anderen Kritifer hatten ihre Melancholie verfpottet und unter anderm fie mit den Griechen zu jchlagen verfucht, die ja nicht melancholifch ge- weſen. Chateaubriand benutte die Gelegenheit, eine Schlacht für die pofitive Neligion zu fchlagen. „Frau von Stael,“ fagt er, „schreibt der Philoſophie zu, was ich der Religion zufchreibe." Und jich am fie jelbjt wendend, fährt er fort: „Ihr Talent iſt nur halb entwidelt, die Philoſophie erſtickt dasjelbe. Sie fcheinen nicht glücklich zu fein; aber wie follte die Philofophie die Schwermut ihrer Seele zu heilen im Stande fein? Kann man eine Wülte fruchtbar machen mit einer anderen Wüſte?“ Und er erfchöpft fich in ähnlichen albernen Flosfeln, welche früh genug jene Furcht, durch Frau von Stael überftrahlt zu werden, verraten, die ihn mit gutem Grunde niemals verlief.
In dieſen Zeitpunkt fällt der Beginn ihrer Oppoſition gegen Bonaparte, der jie zum zweitenmale aus Frankreich, und zwar für länger als zehn Jahre verbannen follte. Site hatte nach dem italienischen Feldzug in ihm einen Bejchüßer der Freiheit zu jehen vermeint, hatte ihm begeiiterte Briefe gejchrieben und ihn bewogen, den Namen ihres Vaters von der Emigrantenliſte zur jtveihen. Al er aber eriter Konjul wurde, jah fie in ihm nur „einen Nobespierre zu Pferde”, und mit Necht klagt Bonaparte darüber, daß fie die Geijter gegen ihn in Auf— regung verjette. Alle fremden Diplomaten verbrachten nad) ihren eigenen Worten „ihr Leben bei ihr”, fie Sprach täglich mit einer großen Anzahl einflußreicher Perfonen; denn Gejpräche bildeten den größten Genuß, den fie fannte, und Bonaparte joll gejagt haben: Jeder, der mit ihr gefprochen, halte weniger von ihn. Er ließ jie fragen, was fie eigentlich wolle, ob fie zufrieden wäre, wenn er ihr die zwei Millionen auslieferte, welche Neder in der Staatsfaffe deponiert hatte, die man zu Unrecht zurüchielt. Sie antwortete nur, es käme wenig da— rauf an, was fie wollte, als was fie dächte. Bon dem Augen- blif an, da Benjamin Conftant zum erjtenmal im Tribunat gegen einen Vorſchlag Bonaparte's gefprochen hatte, wurde ihr Haus in Paris leer, und alle Einladungen mit Abjagen
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beantwortet. Schließlich wurde fie, nachdem ihr Water fein Bub „Les dernieres vües de politique et de finances* herausgegeben hatte, auf ausdrüclichen Befehl Bonaparte’s aus Paris ausgewiejen.
Kein Schlag hätte ſie härter treffen fünnen! Sie ver- gleicht ihn mit einem Todesurteil; fie, die nur in der Haupt- itadt gelebt, die fo jchlecht ihre Freunde, geiſtvolle und bildende Gejprähe, Teilnahme an großen Begebenheiten entbehren fonnte, litt ganz bejonders unter der unfreiwilligen Trennung von Baterlande und der Heimſtätte. „eder Schritt, den die Pojtpferde vorwärts machten, jchmerzte mich, und wenn mich die Pojtillone frugen, ob jie nicht ſchnell gefahren jeien, konnte ih nicht umhin, über die traurigen Dienfte zu feufzen, die fie mir geleiftet hatten.“ (Dix annees d’exil. 1320. pag. 84.)
Benjamin Conitant begleitete jie auf diejer Fahrt; als fie aber von der Krankheit ihres Mannes hörte, reiſte fie zu ihm und pflegte ihn bis zu feinem Tode.
Ein Jahr darauf, 1803, erjchien „Delphine“, ein Roman in 5 Zeilen und in DBriefform nach dem Mufter der „neuen Héloiſe.“ Es laſſen fih ohne Schwierigfeit der Eindrud umd die Erinnerungen aus ihrem eigenen Leben nachweiſen, welche diefem Noman zu Grunde liegen. Das Buch behandelt das pflichttreue VBerzichtleiften einer Frau auf eine glücliche Ehe — die Erinnerung an den Verzicht, den die Autorin in ihrer Jugend auf Montmorencys Hand geleijtet, gab hier den realen Hintergrund ab. Aber den eigentlichen Inhalt bildet doch der Kampf des Liebenden Weibes um jein Glüc gegen die Ge- jellfchaft und die brutale Vernichtung des Friedens des Indi— viduums durch Das Urteil der Geſellſchaft — und bier lagen die friſchen Eindrüde aus der Berfafjerin lesten Yebensjahren, ihr Verhältnis zu ihrem Manne und zu Benjamin Conftant, augenfällig zu Grunde. Die Scheidung von Baron Stall- Holftein hatte ihrem Anfehen nicht minder als ihr Verhältnis zu Benjamin Conftant gejchadet, welch” letzterer unzweifelhaft der Bater ihrer 1797 geborenen Tochter Albertine, der jpäteren Herzogin von Broglie war. Frau von Stael zweifelte, als fie „Delphine“ fehrieb, ficher feinen Augenblid daran, daß
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Conſtant diefe Tochter durch eine baldige Ehe legitimieren würde, aber wie reich und hochgeftellt fie auch war, und wie viel Rückſicht die öffentliche Meinung auch auf Neichtum und joziale Unabhängigkeit zu nehmen pflegt, jo fühlte fie doch bitter die jchleichende Verfolgung der Verleumder und die wohl- überlegten Attentate der Phariſäer auf ihren Auf. „Delphine“ trägt das mutlofe und vefignierte Motto, das jeine Berfafferin, Frau von Stael's Mutter, verrät: „Ein Mann muß der üffentlihen Meinung zu troßen ver- jtehen, ein Weib, fich ihr unterzuordnen“, — ein Motto, welchem der Inhalt des Buches entjpricht, zu welchem aber der Geiſt und jelbit die Veröffentlichung desfelben in Wider- ſpruch ſteht. Denn es ift eine Eingabe für die Berechtigung der Eheſcheidung und erjchien in demjelben Jahre, in welchen Napoleon mit dem Papſte das Konkordat abſchloß; es greift die Unauflösfichfeit der Che und die Firchlichen Gelübde in demſelben Augenblicke an, wo die Ehegejeße verjchärft wurden und die Kirche ihre alte Macht größtenteils Wiedergewann. Das Buch entfpricht jenem Motto, fofern es durch das Schickſal feiner Heldin lehrt, daß die Frau, welche ſelbſt nach einem jo edelmütigen und noc jo langwierigen Aufopfern ihres eigenen Wohles, und gefchähe es auch nur, um dem Unter: gang ihres Geliebten zu verhindern, in Oppofition zur Gejell- ſchaft tritt, vettungslos zu Grunde gehen muß. Es widerſpricht jenem Motto, fofern die jchreiende Ungerechtigkeit diefes Schic- jals ftärfer, als irgend eine Deflamation wider das Beſtehende, die Schlechtigfeit der Gefeflfchaft und die Unvernunft der Macht, zu unterdrüden und unglüclich zu machen, befundet, welche die Kurzfichtigfeit und Feigheit der Menfchen veralteten In— jitutionen verlieh, unter deren Druck Delphine zermalmt wird. Sie wird gleich von Anfang an als ein höheres Wefen ge- ihildert, rein, voll Herzensgüte und Leben, und durch ihre Neinheit felbft erhaben über die pharifätiche Moral der Geſell— haft. Keine Szene malt fchöner Delphinens Charakter, als die, wo fie, als die unglücliche, fchlecht beleumundete Frau v. R. in den QTuilerien-Saal tritt, und als alle Damen fich augenblicklich von ihren Seffeln erheben und auf die andere
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Seite hinüber gehen, jo daß ein großer offener Raum fich um die ſchnöd' Beſchimpfte bildet, alfein über den Eſtrich fehreitet und neben derjenigen Pla nimmt, auf welche alle anderen Frauen wetteiferten, den erſten Stein zu werfen.
Durch eine Reihe faft teuflifcher Erfindungen und In— triguen gelingt es einer der Hauptperjonen des Buches, einem weiblichen Talleyrand, Delphine von ihrem Geliebten zu ent- jernen und ihn mit einem Delphine antipodifchen Wefen, der falten und frömmelnden Mathilde, zu verbinden, welche von der Berratenen obendrein, ohne daß es jemand ahnt, die enorme Mitgift erhält, mit deren Hülfe die Ehe zu Stande kommt. Als der Betrug entdeckt wird und alle Intriguen far zu Tage liegen, find Mathilde und Leonce fchon vereinigt, und zu dem unnatürlichjten Paare verbunden, das Wirklichkeit und Roman jemals aufweijen fan. Um dies Baar gruppieren fich einige andere eben jo abjcheuliche Ehen und eben jo unglücliche Liebesgejchichten, um dem Hauptgedanken das rechte Neltef zu geben: Henri von Xebensei, deſſen Geſtalt ein idealifiertes Porträt von Conftant ijt, kann mit feiner Geliebten nicht vor ihrer Scheidung von einem Manne vereinigt werden, mit dem fie nad) ihren eigenen Worten nicht zufammenleben könnte, ohne allem Guten und Edlen in ihrer Seele Balet zu jagen, und Herr von Serbellane jteht in einem eben jo hofinungs- (ofen Berhältnifje zu Thereſe d' Ervins, wie Delphine zum Gemahl Mathilden’s
Als ein jo veines und aufopferndes Weſen iſt Delphine gefchildert, daß fie den Gedanfen an die Möglichfeit einer Ver— bindung mit Zeonce, welche notwendiger Weife eine Schädigung des Glückes feiner Gattin involvieren würde, mit einer Energie zurückweiſt, die nicht einmal dulden will, daß er je nur bei diefem Gedanfen verweile. Im Gegenteil, ſie bejchwichtigt ihn, fie verweiſt ihn an eine tiefere Moral und Religion, als diejenige, in welcher er als ein Kind des kürzlich abgelaufenen achtzehnten Jahrhunderts lebt: „Leonce! ich glaubte nicht, bei Ihnen eine folche Gteichgültigfeit für die religiöſen Ideen zu finden; ich wage Ihnen Vorwürfe darüber zur machen. Ihre Brandes, Hauptftröimungen. I. Gmigrantenlitteratur. 10
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Moral tft nur auf der Ehre begründet; Sie würden viel glücklicher gewejen fein, wenn fie die einfachen und wahren Prinzipien angenommen hätten, welche unjere Handlungen unſerm Gewiſſen unterwerfen und uns von jedem anderen Joche befreien. Sie wiſſen es, die Erziehung welche ich ge- nofjen, hat, weit entfernt davon, meinen Geift zu fnechten, ihn eher allzu unabhängig gemacht. Es ijt möglich), daß jogar abergläubijche Borjtellungen beſſer mit der Beſtimmung des Weibes überein jtimmen, als Geiftesfveiheit; die ſchwachen und Schwanfenden Gejchöpfe bedürfen nad allen Richtungen der Stützen und die Yiebe iſt eine Art Leichtgläubigfeit, welche vielleicht geneigt it, fich mit allen anderen Arten von Yeicht- gläubigfeit und Aberglauben zu verbinden; aber der edle Be- ihüßer meiner Jugend hatte Achtung genug vor meinem Charakter, um meine Vernunft entwideln zu wollen, und nie hat er von mir verlangt, daß ich eine Anficht annehmen jolle, ohne von derjelben durchdrungen zu fein, oder fie miv mit meiner Vernunft zu eigen gemacht zu haben. Ich kann alfo über die Religion, welche ich liebe, mit Ihnen wie iiber jeden anderen Gegenjtand reden, den mein Herz und mein Verſtand frei geprüft haben, und Sie fünnen das, was ich Ihnen jagen will, nicht aufgedrungenen Gewohnheiten oder den unvefleftierten Einflüffen der Kindheit zufchreiben ... Verftoden Sie fich da- vum nicht, Yeonce, dem Trofte, welchen die natürliche Religion ung gewährt.“ Hören mir nicht den Nachklang Rouffeau’s, die Neaftion gegen Boltaire in diefen Worten, welche die Tochter Necker's ihrem anderen Ich in den Mund legt? Aber die Handlung entwidelt fih, und bald läßt die naturwidrige Verbindung fich nicht mehr aufrecht erhalten, das naturwidrige Unglück fich nicht mehr ertragen. Henri von Lebensei jcreibt jenen, die Scheidung anvatenden Brief, welcher dem Romane fo unbeilvoll ward, und welcher wie eine Drandfadel mitten ins klerikale Lager fiel. Er fpricht zu Delphine: „Der, welchen Sie lieben, ift Ihrer immer noch würdig, Madame; allein weder fein noch Ihr Gefühl vermag etwas wider die Lage, in welche ein umjeliges Schidjal Sie Beide verjett hat. Es bleibt nur ein Mittel übrig, um Ihren
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Auf wieder herzuftellen und das Glück wieder zur gewinnen, Sammeln Sie all’ ihre Kräfte, um mich anzuhören. Leonce iſt nicht unwiderruflih an Mathilden geknüpft. Yeonce kann noch ihr Gatte werden; die Ehefcheidung wird innerhalb eines Monat3 von der fonjtituivenden Berfammlung zum Geſetz erhoben werden.“ Man erinnere fi, daß der Noman zu einer Zeit erſchien, als die katholiſche Ehe in Frankreich) wieder eingeführt wurde. Ich führe noch einige Stellen feines Briefes an: „Die, welche die Scheidung verdammen, behaupten, ihre Anjchauungsweije jei am jittlichiten; wäre dem fo, dann müßten die wahren Bhilofophen fie annehmen; denn der erſte Zweck des Gedankens ijt, uns unfere Pflichten in ihrem ganzen Umfang erfennen zu lehren; aber ich will gemeinschaftlich mit ihnen unterjuchen, ob die Grundſätze, welche mich dahin führen, dev Scheidung beizupflichten, nicht mehr der Natur des Menfchen und mit den menjchenfrenndlichen Abfichten, die wir der Gottheit zujchreiben müſſen, übereinjtimmen. Die Unauflöslichfeit disharmoniicher Ehen macht das Xeben zu einer Neihe hoffnungslojer Leiden. Mean jagt freilich, es gelte hier nur jugendlihe Friſche Neigungen nieder zu kämpfen; aber man vergißt, daß die niedergefämpften Neigungen der Jugend der ewige Kummer des Alters werden. Ich leugne nicht all’ die Mißhelligfeiten, welche mit einer Scheidung ver- bunden find, oder vielmehr al’ die Unvollfommenheiten der menschlichen Natur, welche die Scheidung notwendig machen; aber inmitten einer zivilifierten Gejellichaft, welche nichts gegen Konvenienz-Ehen oder gegen Ehen einmwendet, die in einen Alter gejchloffen werden, wo man unmöglich die Zufunft vor- ausjehen fann, — einer Gejellichaft, deren Geſetze weder die Eltern jtrafen fünnen, die ihre Autorität mißbrauchen, noch die Gatten, die ich jchlecht gegen einander betragen, — in einer ſolchen Geſellſchaft ift daS Gejeg, indem es die Scheidung unterfagt, nur hart gegen die Opfer, deren Feſſeln es feiter fhnürt, ohne doh auf die Umftände eimwirfen zu können, welche diejelben Leicht oder ſchwer erträglich machen. Es ſcheint zu jagen: Ich kann euer Glück nicht fichern, aber ich will wenigitens die Dauer eures Unglüds garantieren.“ 10*
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In jo unbeholfenen Sätzen und beredten Ausdrücen formuliert diefer Noman, was man damals und in fpäterer Zeit Frau von Stael’3 Angriff auf die Che genannt hat. In Wirklichkeit ift ev, wie man fehen wird, nur ein Angriff auf die bindende und zermalmende Macht, welche die Gefell- ichaft, die ja feit Anbeginn von der Geiftlichfeit zu einer Zeit ztoilifiert wide, als alle geiftige Macht Kirchenmacht war, den erjten Gefühlseindrüden der Jugend in den Fatholischen ändern durch die Gefeßgebung, in den protejtantischen Yändern durch die öffentliche Meinung gegeben hat, deren jtrenge Juſtiz hier diejelbe Rolle Spielt, wie dort die Ehegefete. Der Proteft geht davon aus, daß die Ehe nur danı, wofür man fie aus- giebt, ein fittliches deal ift, wenn die zwei Menfchen, welche in einem beftimmten Augenblide ihres Lebens einander Treue und unumnterbrochenes Zufammenleben für den Neft ihrer Tage geloben, wirklich einander fennen und lieben, und ev nimmt Nücjicht auf die ungeheure Schwierigkeit, die e8 dem Menſchen verurjacht, fich felbft und einen anderen Menfchen von Grund aus fennen zu lernen. Wenn eine Ehe das gegenfeitige Ver: ſtändnis zur Grundlage haben muß, jo exiftiert fie ja im Wirklichkeit nicht, wenn dieſes fehlt. Soll nicht jedes Ver— hältnis ein Sinnbild für ein Xebendiges fein, nicht ein Grab- jtein über einem Toten? Läßt ſich ein ganzes Leben bald auf einem Naufche, bald auf einem durch die Angſt erpreßten Ya erbauen? In allen Fällen, wo die Ehe feine beffere Grund- (age hat, iſt ihre Heiligfeit chimärifch und bevuht darauf, daß man ein Ideal für eine Wirflichfeit ausgiebt.
Delphine läßt ſich indeß nicht überreden; der Loſung des Buches getreu, daß ein Weib fich der öffentlichen Meinung unterwerfen müſſe, bejchließt jie jogar, ein, abgejehen von Leonce's Ehe, entjcheidendes Hindernis zwifchen ſich und ihn zu legen. Als feine Frau jtirbt, hat fie den Schleier ge- nommen. Derjelbe Kampf wider ein als heilig betrachtetes Gelübde fehrt alfo jetzt abermals wieder, nur in einer anderen Seftalt. Wieder iſt es diesmal Henri, welcher der Oppofition das Wort redet, aber jett zu Leonce: „Sind Sie imjtande, einen mutigen, heilſamen, emergifchen Nat zu hören, einen
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Nat, welcher Sie aus dem Abgrunde des Elends vetten farın ? Vermöchten Sie einen Entſchluß zu faffen, der zweifelsohne alles verlegt, was Sie bis jett in Ihrem Leben gejchont haben, die öffentliche Meinung und das Herfommen, dev aber mit Sittlichfeit, Vernunft und Menfchlichfeit übereinjtimmt ? Ich bin geborener Proteftant, ich bin, — das räume ich ein — nicht in Ehrfurcht vor den wahnwigigen und barbarischen Snftitutionen erzogen worden, die von jo vielen jchuflolojen Gejchöpfen die Aufopferung aller natürlichen Neigungen fordern; aber muß man weniger Vertrauen zu meinem Urteile haben, weil feine Boreingenommenheit dasjelbe beeinflußt? Der jtolze, der edle Mann darf nur der univerjellen Moral gehorchen. Was bedeuten diefe Pflichten, welche ihren Urjprung in zu— fälligen Umftänden haben, welche von den Launen der Gejeße oder von dem Willen der Priejter abhängen, und welche das Gewiſſen eines Menfchen dem Urteile anderer Menjchen, die ihon lange unter dem Joche gemeinfamer Vorurteile umd namentlich gemeinfamer Intereſſen einhergegangen find? Frank— reichs Gejege löäſen Delphine von dem Gelübde, das unfelige Umstände ihr abgedrungen haben; Fommen Ste und leben Sie mit ihr auf. der väterlichen Erde! Was trennt Euch? Ein. Gelübde, das fie Gott geleiltet? Glauben Sie mir, das _ höchite Wefen fennt zu gut unſere Natur, um jemals unwider- rufliche Verpflichtungen annehmen zu wollen. Vielleicht iſt etwas in Ihrem Herzen, das fich dagegen jträubt, die franz zöfifchen Gejeße zu benußen, Gejege, die aus einer Revolution hervorgegangen find, welche Sie nicht lieben? Mein Freund, dieje Nevolution, welche leider manche Gewaltthat beflecte, wird von der. Nachwelt wegen dev. Freiheit gejchägt werden, die fie Frankreich gejchenft hat; wenn auf diefelbe nur ver- ichtedene Formen der Knechtſchaft folgen follten, jo würde die Herrſchaftszeit diefer Formen die ſchmachvollſte Periode der Welt- gefchichte . bilden; aber wenn Freiheit aus derjelben hervor— geht, dann find Glück, Ehre, Tugend, alles, was edel iſt im Menjchengefchlechte, jo innig mit dev Freiheit verfnüpft, daß die fünftigen Jahrhunderte die Ereigniffe, welche zum neuen Zeit— alter der Freiheit hinführten, ohne Strenge beurteilen werden.“
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So weit kämpft das Buch wider bejtimmte Inſtilutionen. Auf jeder Seite fämpft es außerdem wider das ganze weit- verzweigte Gewebe herfümmlicher und fefter Meinungen, Vor— urteile, mit denen die meiften Menschen vom Kopf bis zu den Füßen gepanzert find, Anſchauungen, die nicht angetaftet werden dürfen, weil fie innerhalb des Umfanges von jo und jo vielen Quadratmeilen für heilig gelten. In diefem Punkte ift, wie man offen befennen muß, dies Buch bedeutend umd lebensfräftig wie wenige Produfte der Emigrantenlitteratur. Denn dazu befitt ein Volk eine Litteratur, daß es feinen Horizont erweitert und feine Lebensanſchauung mit dem Leben fonfrontiert. In feiner früheften Jugend findet in der modernen Geſellſchaft jeder einzelne gleichfam ein höchit fompfliziertes Kojtim von Vorurteilen vor, das er anlegen ſoll. „Wie?“ fragt er, „ift es nötig, daß ich diefen zerlöcherten Mantel umhänge? kann ich mir nicht das alte Lumpengewand erfparen? ift es umvermeidlih, daß ich mir das Geficht ihwärzen oder diefe fromme Schafsmasfe tragen foll? — Muß ich mich verpflichten, zu glauben, daß Polichinell feinen Buckel hat, muß ich Pierrot für hochehrwürdig und Harlefin für einen ernften Mann halten? Darf ich abjolut feinem von ihnen in's Geficht blicken und in feine Hand fchreiben: „Ich fenne Dich, ſchöne Maske!“? Giebt es gar feine Gnade? Es giebt feine Gnade, wenn Du nicht von Polichinell ge- prügelt, von Pierrot mit Fußtritten regaliert werden und Harlekin's Pritſche fühlen willft. Aber die Fitteratur tft, oder jollte die Stätte fein, wo al’ das offizielle Wefen aufhört, die Konvenienz abgeschafft ift, die Masten abgeriffen werden und das Unerhörte — Empörende: die Wahrheit gejagt wird.
Die Oppofition, welche „Delphine“ erregte, war jtarf. Der befanntefte Kritifer der Zeit ſchrieb: „Nichts iſt gefähr- licher und unmoralifcher, als die Grundfäße, welche in dieſem Werfe entwicelt werden. Die Anſchauungen, in welchen fie erzogen ward, und die protefiantifche Lehre ihrer Familie vergeffend, verachtet Necker's Tochter die Offenbarung und bat in dieſem ſehr fchlechten Buche, das mit viel Geift und Talent abgefaßt ift, eine lange Verteidigung der Ehefcheidung
Der Kampf mit der Gejellichaft. 151
geſchrieben. Delphine jpricht von der Liebe wie eine Backhantin, von Gott wie ein Quäfer, von dem Tode wie ein Grenadier, und von der Moral wie ein Sophift.“ — Groß flingende Worte, aber diefelben groß Fingenden Worte, welche die Zu- funft bejtändig von der zahnlofen Vergangenheit hören muß, deren jchweres Gejchüß jtets bis zur Mündung mit dem nafjen Pulver der Orthodorte und den Papierfugeln der Borniertheit geladen ift! Sie töten nicht das Werf, können aber leicht dem Berfaffer den Garans machen.
Während die Zeitgenofjen die Form des Buches und die Ddichterifche Begabung der DVerfafferin in hohen Tönen priefen, um dejto beffer die Lebensanjchauung und den idealen Zweck der Schrift herabjegen zu fünnen, hat ein moderner Kritiker nur wenig Gutes über die loſe und breite Kunftform zu jagen, welche. das Buch mit den meijten in Briefform ge- jchriebenen Nomanen gemeinfam hat. Hingegen halten jeine Seen auch heutzutage noch Stich, ja find ſogar noch nicht einmal in allen europäifchen Yändern voll dDurchgedrungen, ob— ihon das Jahrhundert bemüht war, fie in immer größerem Umfange zu verwirklichen.
Der Bruch zwifchen dem Individuum und der Gejell- ſchaft, ift, wie er in „Delphine“ dargeftellt wird, ganz im Geiſte der Emigrantenlitteratur. Sowohl der fühne Aufſchwung, wie die Entjagung, mit welcher der Kampf des Individuums als fruchtlos gefchildert wird, findet fich überall in diefer Gruppe von Schriften. Der Aufihwung ift in diefem Falle ein be- geijterter und verzmweifelter Verſuch, eine der Eroberungen der Revolution in dem Augenblice fejtzuhalten, in welchen jie der neuen Zeit von der Reaftion entwunden wird. Die Entjagung folgt, weil alle Seelen mit Wehmut fühlen, daß fein Einſpruch etwas nüten fann, und daß die beginnende reaftionäre Be— wegung ihr Ziel und Uebermaß erreichen muß, bevor ein beſſerer Zuftand der Dinge erwartet werden fan. Was ver- mochte der Roman einer Frau gegen den Pakt eines Allein- herrſchers mit einem Papſte!
Der „Kampf gegen die Gejelljchaft“, den ſie ſchildert, ift jedoch weit weniger ein Kampf gegen die beitehende Staats:
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oder Nechtsordnung als gegen die Vermifchung von Gebräuchen und Anſchauungen, alten und neuen, veralteten und natürlichen, unfinnigen und vernünftigen, ſchädlichen und nützlichen durch— einander, welche zu eimer zufammenhängenden und fcheinbar gleichartigen Maſſe verſchmolzen, den Stoff bilden, aus dem die öffentliche Meinung bejteht. Wie der fogenannte „gefunde Menſchenverſtand“, der ſich gern gegen jede neue Philojophie erhebt, zu jeder Zeit zum größten Teil nur ein erftarrter Reſt der Philoſophie früherer Zeiten ift, jo ift die Gejellichafts- regel und das ihr entjprechende Urteil der Gefellichaft, denen in jedem Zeitalter neue Anſchauungen feindlich begegnen, zum größten Teil auf Anfichten bafiert, die in früheren Zeiten mühjam troß- des damals herrichenden Widerjtandes der öffentlichen Meinung behauptet wurden. Was zuerft eine jelbjterworbene, lebendige Annahme war, eritand allmählich) zu einer Gedanfenleiche.
Die Gejellichaftsregel ift allgemein, d. h. eine und die— jelbe für alle; fordert aber wie alles Allgemeine unzählige Opfer. Die Negel ift ein Profiuftesbett, auf welchem‘ das Individuum jo lange geredt und geſtreckt, zugeſtutzt und bejchnitten wird, bis es paßt. So ift 3. DB. die Sprache etwas Allgemeines. Wir bedienen uns alle einer und der— jelben. Daraus folgt, daß jeder, welcher fich in der Sprache ausdrüden will und irgendwie Originalität befitt, zu be— jtändigen Opfern genötigt it. Da er nicht felbft feinen Aus- druck erjchaffen Fan, fondern ihn vorfindet, fieht er fich ge- zwungen, bald abzufchwächen, bald zu übertreiben, bald neben- her zu greifen. Nicht in einem unter taujend Fällen. befitst die Sprache einen Ausdrud für die Nüance des Gefühls, den befonderen Trieb, die ganz eigentümlicdhe Stimmung, welche er ausjprechen will. Unfere ganze Rede iſt eine Annäherung an das, was wir meinen, ungenau, matt und fchal. Daher die Neigung fo vieler großen Schriftteller, durch Fünftliche Wortbildungen, durch bizarre Wendungen oder Gleichniſſe ihrer Sprache einen minder allgemeinen Charakter zu gebeır.
In der Gefellfchaft wird diefe Herrichaft des Allgemeinen zur Tyrannei. Wie eigentümlic) auc) das Individuum be-
Der Kampf mit der Gejellichaft. 153
ſchaffen ſei, es wird wie alle anderen behandelt. Das geniale
Individuum nimmt die Stellung eines Primus in einer fclechten Schulflafjfe ein. Der Aermſte muß immer wieder die alte Leltion anhören, fie immer und immer wiederholen hören; es iſt nötig um des Fuchſes willen, der fie noch nicht — hat und ſie noch weniger entbehren fann.
Das Geſellſchaftsurteil ift ferner unverantwortlich: während das Urteil des Einzelnen als folches jtetS bis zu einem ge- wiſſen Grade ein Naturproduft fein muß, ift das Geſellſchafts— urteil in vielen Fällen ein Fabrikat, ein Mafjenfabrifat, von jenen geliefert, deren Fach es ijt, öffentliche Meinung zu machen, und der Einzelne empfindet feine Verantwortung, in- dem er darin einjtimmt.
Während das Natürliche fein würde, daß das Individuum jih jelbjt jeine Anſchauungen und feine Grundjäte betreffs der höchften Dinge bildete, fich ſelbſt Geſetze für fein Be— tragen gäbe und nah Vermögen die Wahrheit mit feinen eigenen Hirn fuchte, findet das Individuum bet feiner Geburt zuerjt eine fertige Religion vor, in jedem Land eine ver- ichiedene, die feiner Eltern, welche ihm, lange bevor es jelbjt religiös fühlt oder denkt, eingepfropft wird: jo wird alle veli- giöſe Produktivität im Keime erjtickt, oder wenn fie nicht er- jtieft wird, dann wehe dem Individuum! es hat der Gejell- ſchaft den Fehdehandſchuh Hingeworfen. Sodann findet das Individuum eine fertige Öffentl (iche Moral vor, und diefe Moral wird von einer fertigen Sfentlichen Meinung unterjtüst. Das Geſellſchaftsurteil, welches ein Ergebnis all’ dieſer unjelbjtändig frommen, fittlihen und gefellfchaftlichen Eindrücke iſt, wird notwendigerweife höchft unvollfommen, oft höchit bejchräntt, häufig. grauſam.
Frau von Stael mußte mehr als andere Schriftſteller den Vorurteilen auf ihrem Wege begegnen und auf ſie auf: merfjam werden: jie war Protejtantin in einem katholiſchen Lande; ſie hegte Sympathieen für die Katholiken, obſchon ſie im Schoße einer proteſtantiſchen Familie erzogen war; ſie war in Frank— reich die Tochter eines Schweizer Bürgers und fühlte ſich in der Schweiz als Bariferin; fie war als jeelenvolle und leiden-
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ichaftlihe Frau dem Zufammenftoßen mit dem Urteil der Geſellſchaft ausgefett, als mweibliches Genie ſchon im voraus in Berteidigungs- und Angriffsftellung gegen eine Gejellfchafts- ordnung, welche das Weib zum Privatleben hinweilt. Daß jte aber mehr als irgend ein anderer zeitgenöffiicher Schrift- jteller die Vorurteile durchbliden fonnte, von denen fie umgeben war, das beruht vorzugsmeife darauf, daß fie alS politifcher Flühtling gezwungen war, ein fremdes Land nach dem andern zu Ddurchreifen, eine Notwendigkeit, aus der fie mit ihrem wachjamen und lernbegierigen Geijte Beranlaffung nahm, die verjchiedenen Volfsgeifter und ihre verfchiedenen Vorbilder mit einander zu vergleichen.
Als der Befehl, durch welchen Napoleon fie zum erſten— male aus Paris auswies, ihr Überbracht worden war, ließ fie ihn durch Joſeph Bonaparte, der zu ihren Freunden ge— hörte, fragen, ob fie einen Paß nach Preußen erhalten fünnte, oder ob man von dort ihre Auslieferung verlangen würde. Nach langem Warten bewilligte man ihr den Paß, und fie unternahm jet zuerjt eine Neife nach Weimar. Sie lernte dort die herzogliche Familie fennen, hatte längere Gefpräche mit Schiller über das Berhältnis zwifchen deutjcher und fran— zöjischer Litteratur, plagte Goethe mit Fragen über das Leben und den Tod, Gott und die Welt — Sich lebhaft über un— beantwortbare Fragen zu unterhalten, das war, jagt er, ihre eigentliche Leidenſchaft —; am meiften fette fie jedoch ihn wie die anderen deutjchen Größen dadurch in Verminderung, daß fie von ihmen nicht nur gefannt fein, jondern wirfen wollte und ſtets Sprach, als jollte jet fofort eingegriffen und augenblicklich gehandelt werden. Sie fam nach Berlin, lernte Prinz Louis Ferdinand kennen, wurde in Fichte's, Jacobi's, Henriette Hertz's Streifen empfangen und entführte A. W. Schlegel als Erzieher ihrer Kinder.
Im nächſten Jahre reijte fie nach Stalien, jtudierte die Denkmäler des Altertums, die Kunft, die ſüdländiſchen Sitten des Volkes, jog mit allen Poren die Eindrüde von Italiens Natur ein und entwarf darauf in Eoppet „Corinne oüı !’Italie.“
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Aber die Sehnſucht nad) Frankreich ließ ihr feine Ruhe. Sie näherte fi) Paris bis zur einem Abjtande von vierzig Meilen, den fie laut Vorjchrift innehalten mußte. Sie wohnte in Heinen Städten, zuerjt in Auxerre, dann in Nouen, deſſen Präfeft abgefetst wurde, weil er ihr Wohlwollen gezeigt hatte; dann befam fie vom Poltzeiminifter die Erlaubnis, die Heraus- gabe von „Corinna“ in einem zwölf Meilen von Paris ge: legenen Landhaufe zu beforgen. Aber faum war „Corinna“ erschienen, als eine neue Negierungsordre fie aus Frankreich verbannte.e „Corinna“ hatte einen ganz außerordentlichen Erfolg erzielt, und Napoleon duldete feinen Ruhm, an dem er feinen Anteil hatte. Sie fehrte darauf nach Coppet zurücd und erweiterte, wie der Kaifer, unaufhörlich ihr Neich durch eine jtetS zunehmende Mannigfaltigfeit hoher Ideen, gejunder und tiefer Gefühle und beneidenswerter Freundichaftsver- bindungen.
In Coppet hielt fie fürmlih Hof. Von allen Ländern her verfammelte ſich eine Schar auserlejener Geijter um fie. Dort fonnte man, wenn man Glück hatte, zu gleicher Zeit Conſtant treffen, den fie in ihrer DVerliebtheit „le premier esprit du monde“ nennt, A. W. Schlegel, den berühmten Stifter der romantiſchen Schule in Deutjchland, den befannten Geſchichtſchreiber Sismondi, deſſen jchriftitelleriiche Thätigkeit von denſelben Ideen getragen iſt, für welche die romantiſche Schule in Frankreich ſpäter kämpfte, den deutſchen Dichter Zacharias Werner, den däniſchen Dichter Oehlenſchläger, preußiſche Prinzen, polniſche Fürſten und Fürſtinnen, mit einem Worte, die Elite der europäiſchen Geburts- und Geiſtes— ariſtokratie.
Seit ihrem Aufenthalte in Deutſchland hatte ſie nicht aufgehört, deutſche Sprache und Litteratur zu ſtudieren, aber ſie drängte nach einem neuen Aufenthalt in dieſem Lande, um ihren Landsleuten ein allſeitiges Bild der neuen Welt ent— rollen zu können, die ſich ihr eröffnet hatte. Sie kannte be— reits Norddeutſchland, jetzt verbrachte ſie ein Jahr in Wien und nach ihrer Rückkehr in die Schweiz machte ſie ſich an die Ausarbeitung ihres großen dreibändigen Werkes über Deutſch—
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land. Dies war im Jahre 1810 vollendet. Aber num hieß es, dasjelbe in Paris gedruckt zu befommen. Es war in Frankreich ein Dekret betveffs der Preßfreiheit erichienen, welches beftimmte, daß fein Werk gedruckt werden dürfte, ohne von der Zenſur geprüft zu fein; aber hierauf folgte mit befonderer Rück— jiht auf Frau von Stael ein zweites Defret, welches verfügte, daß, wenn die Zenforen die Veröffentlichung eines Werkes ge- ſtattet hätten, der Polizeiminifter dasjelbe ganz und gar unter- drücken könne, falls er ſolches für gut befinde, ein Geſetz, das ge- radezu alles Geſetz aufhebt. Als jetst das Buch „Ueber Deutjch- land" gedruckt werden jollte, erhielt Fran von Stael wiederum Erlaubnis, ſich Paris in einem Umkreiſe von vierzig Meilen zu nähern, um die Herausgabe zu überwachen. Sie veifte nad Blois, wohnte zuerft im Schloſſe Chaumont-fur-Loire, dann auf dem Gute Foffe, jowie noch auf einigen anderen Gütern bei Feunden in der Nähe von Blois. Sie flatterte um ihr geliebtes Paris in der vorgefchriebenen Entfernung herum, wie eine Motte um das Licht flattert. Einmal wagte fie fich mit Yebensgefahr fogar hinein. Inzwiſchen durchlafen die Zenforen das Werk, forrigierten und ftrichen, und erteilten dem verſtümmelten Buche ihr Imprimatur, Zehntauſend Exemplare wurden gedruct. Allein in dem Augenblicke, als das Werf erjicheinen follte, jandte der Polizeiminifter feine Gendarmen in das Bukhhändlermagazin, nachdem er Schild- wachen an jeden Ausgang pojtiert hatte, und vollbrachte auf Napoleon's Befehl die Helventhat, die zehntauſend Exemplare zerhaden zu lafjen, worauf man. die Maffe zu einem Zeig einjtampfte und dem Buchhändler zwanzig Louisd'or als Ent- jhädiaung gab. Gleichzeitig erhielt Frau von Stael die Weiſung, ihr Manuffript, d. h. die Studien und Hoffnungen von ſechs vollen Jahren, auszuliefern und Frankreich binnen vierundzwanzig Stunden zu verlaffen. In dem Briefe, welchen ihr der Polizeiminifter bei diefem Anlaſſe überſandte, heißt es: „Sie dürfen die Urſache des Befehls, den ich Ihnen mit— geteilt, nicht in dem Schweigen fuchen, das Sie hinfichtlich des Kaijers in Ihrem letten Werfe beobachtet haben, das würde ein Irrtum fein; er fonnte feinen Pla darin finden,
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der feiner würdig wäre. Allein Ihre Verbannung ift eine natürliche Folge der Richtung, welche Sie beftändig in den legten Jahren eingejchlagen haben. Es hat mich bedünkt, als gefiele Ihnen nicht die Luft dieſes Landes, und wir find, gottlob! noch nicht darauf reduziert, unfere Vorbilder bei den Völferftämmen juchen zu müffen, welche Sie bewundern. hr letztes Werk iſt nicht franzöſiſch.“
Da haben wir das Wort das ihr zum Verderben wird, „nicht franzöſiſch“. Es iſt dies Werk, das Buch „Ueber Deutſchland“, von welchen die ganze neue Epoche der fran- zöfifchen Literatur datiert werden fann, dies Werk, das zum erjtenmale grundſätzlich und nicht blos gelegentlich mit der veralteten Tradition in der franzöfiichen Yitteratur bricht und an jedem Punkte nee Lebensquellen erjchließt, dies Werk ift es, das der geijtige Polizeidiener des Landes „nicht franzöſiſch“ zu nennen fich evdreijtet. Und num diejer ironiſche Verſuch der Grauſamkeit, galante Töne anzufchlagen! „Die Luft dieſes Landes jcheint Ihnen nicht zu behagen“, belieben Sie daher zu reifen. Es ijt, als höre man die bevaufchte franzöſiſche NWationaleitelfeit jelbft veden: Weil Du gewagt haft, die Freiheit zu lieben, jelbjt wenn wir andern unter der Despotie eines MWeltherrichers glücklich find; weil Du, während wir uns im MWiderfchein von Napoleons Ruhm fonnen, Dich erfvecht haft, die jouveräne Unabhängigfeit des Genies in „Corinna“ zu ichildern, und, aus Paris verbannt, Dein deal auf dem Kapitol frönen Tießeft, weil Du endlih, Du, ein jchwaches Geſchöpf, ein Weib, den tollfühnen Wut bejejjen halt, zu einer Zeit, wo Frankreichs Name die ganze Welt erfüllt, wo feine Adler im Glorienjchein von taujend Siegen ſchimmern und die Nationen gefejjelt zu feinen Füßen liegen, uns ins Geficht zu erklären, daß unfer geijtiges Leben verdorrt, daß unfere Poefie Schlecht und unjere Philojophie welk it, weil Du aus glühender Liebe zu Deinen Vaterlande, aus brennendem Eifer, e8 aus feiner geiftigen Erniedrigung zu erheben, ihm das tief verachtete Deutjchland als ein Land zeigit, deſſen Poeſie jeine eigene weit überftrahlt, daS verhaßte England, Napoleon’s „trenlofes Albion“, al3 ein Land, das eine ganz anders ge
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junde und echte Liebe zur Freiheit als Frankreich befitt, und das fterbende Italien, die unterworfene franzöfiiche Provinz, als ein Land, deſſen Natürlichkeit in den Sitten und deſſen gewaltige Ueberfegenheit in der Kunſt Mufter find, welche der Entwicdelung neuere und edlere Ziele jtellen, als die, welche eine alberne Selbjtvergütterung und geiftige Trägheit fich ſtellt — deshalb jollit Du als umnational gejteınpelt, die Rofarde Deines Vaterlandes joll Div von der Stirn geriffen, Deine Bücher jollen vernichtet, Deine Manuffripte jogar ver- brannt und Du felbjt mit einer Meute von Angebern und Spionen auf Deinen Ferjen wie ein wildes Tier über die Grenze gejagt werden und binnen vierundzwanzig Stunden uns aus den Augen fein.“
Der Präfeft des Departements kam zu ihr, und forderte die Auslieferung des Manuffriptes. ES gelang, dasfelbe zu vetten, indem man ihm ein jchlechtes Konzept gab. Aber ihre Sorge um das Werf war in Diefem Augenblid noch das Geringfte. ES war Frau von Staëels Hoffnung gewefen, ſich nah England einjchiffen zu fünnen; aber in einer Nachſchrift im Briefe des Polizeiminifters wurden ihr, um gevade dies zu verhindern, alle nordfranzöfiichen Häfen verboten. Eine Zeit lang bejchäftigte fie fich mit dem Gedanken, an Bord eines nad) Amerika ſegelnden jranzöfiihen Schiffes zu gehen, da dann die Möglichkeit exijtierte, daß es unterwegs von den Engländern gefapert werden fonnte. Aber Ddiejer Plan war doch zu abenteuerlih, und überwältigt und jorgenvoll nahm fie von neuem ihre Zuflucht zu Coppet.
Hier erwarteten fie neue VBerfolgungen der verjchiedenjten Art. Kraft des erjten Befehls, den der Präfeft von Genf empfing, bedeutete er ihren beiden Söhnen, daß es auch ihnen verboten ſei, jemals wieder nach Frankreich zurüdzufehren, und dies nur aus dem Grunde, weil fie einen fruchtlofen Verſuch gemacht hatten, zum Beſten der Mutter eine Audienz bei Napoleon zu erlangen. Wenige Tage danach erhielt Frau von Stael einen Brief von dem Präfelten, in welchem ihr diefer im Namen des Polizeiminifters die Korrefturbogen des Werkes „Ueber Deutfchland“ abforderte, da man durch Spione
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erfahren hatte, daß eine Korrektur in ihrem Beſitze geblieben, und man nicht gewillt war, fich mit der halben Mafregel zu begnügen, das ſchon Gedrucdte zu vernichten; man wollte viel- mehr die Arbeit jpurlos verfchwinden Laffen, um jeden Neu- drud unmöglich zu machen. Die Verfafferin antwurtete, daß jene Korreftur bereits ins Ausland geſchickt ſei, aber daß ſie ſich gern verpflichten wolle, nichtS mehr auf dem europäifchen Feſtlande drucken zu laffen. „Ich hatte“, bemerkt fie in ihrem Bude „Dix annees d’ exile*, „fein großes Verdienſt bei diefem Verſprechen, da jelbjtverftändlich Feine feitländiiche Ne- gierung ein Werf in ihrem Lande erjcheinen lafjen würde, das vom Kaiſer verboten war.” Kurz danad) wurde der Genfer Präfeft, Barante, der Vater des befannten Litterarhiftorifers, abgejegt, weil man fand, daß er gegen Frau von Stael zu Ihonend vorgegangen fei. Ihr Sohn wurde frank und jie begleitete ihn auf den Nat des Arztes in das Bad Air in Savoyen, welches etwa zwanzig Meilen von Coppet entfernt (tegt. Kaum dort angekommen, wurde jie von einem Eil- boten des Präfeften im Departement Mont: Blanc eingeholt, der ihr nicht nur verbot, unter ivgend einem Vorwande die Nachbarländer zu bejuchen, jondern ſogar jelbjt in der Schweiz zu veifen und fich überhaupt nie mehr als zwei Meilen von Eoppet zu entfernen. Und nicht genug damit, daß man ihren Aufenthalt auf ihrem Schloffe in eine Haft ummandelte, jorgte man auch dafür, daß fie nicht num umter dem Verluſt der Freiheit, jondern auch unter der Dual des Gefängnis- lebens: der Einfamfeit litt, welche für eine jo äußerſt gejellige Natur doppelt peinlih war. Schlegel, der acht Jahre in ihrem Haufe als Erzieher ihrer Kinder gelebt hatte, erhielt unter dem lächerlichen Vorwande den Befehl, Coppet zu ver- laffen, daß er fie gegen Frankreich einnähme, und auf die Frage in wie fern? lautete die Antwort, daß er einen Vergleich zwifchen der „Phädra“ des Euripides und derjenigen Nacines verfaßt und die erjtere vorgezogen habe. Montmorench wurde verbannt, weil er einige Tage in Coppet verbracht hatte: Frau Necamier, welche Frau von Stael nicht rechtzeitig von der Strafe unterrichten konnte, die jelbjt auf den kürzeſten
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Beſuch bei der BVerfafjerin der „Corinna“ gejegt war, ward es verboten, nach Frankreich zurüdzufehren, weil fie bei ihrer Durchreife durch die Schweiz die Freundin durch ein Gefpräch hatte aufmuntern wollen; ja, felbjt ein achtundfiebzigjähriger Greis, St. Prieft, ihres Baters früherer Minifterfollege, wurde verbannt, weil er einen einzelnen Höflichfeitsbejuch in Coppet abgeitattet hatte.
Die Berlafjenheit, welche fich im Gefolge derer einftellt, welche Gegner einer übermächtigen Gewalt find, war ihr nicht neu. Schon lange hatte es fein Mann von Nang und Ruh, feine politifche Größe, die mit der Negierung auf gutem Fuße zu jtehen wünſchte, gewagt, fie in Coppet zu beſuchen. Jeder war verhindert, bald durch Gefchäfte, bald durch Krankheit. „Ach“, fagte fie damals, „wie müde bin ich doch all’ diefer Feigheit, die fich als Bruſtkrankheit vermummt“. Aber jetzt war zu der Trauer, fich von fo vielen ehemaligen Freunden verraten zu fehen, auch noch die Qual gefommen, jeden ihrer wirklichen Freunde für die geringite Aeuferung des Wohl- wollens mit Verbannung bejtraft, und jo gleich einem Oreſt des Eriles, wie fie ſich nennt, Unglüd wie eine anſteckende Seuche um fich verbreitet zu fehen.
Es ſtand in ihrer eigenen Macht, ſich ſelbſt jest nach jo langen Jahren der Verfolgung, der Gefangenfchaft und DVer- bannung Freiheit und Erlaubnis zu fchreiben und zu druden zu erwerben; dienftwillige Geifter gaben ihr zu verjtehen, daß eine noch jo geringe Wandlung ihrer Anfichten oder ihrer Ueberzeugung ihr die Erlaubnis zur Rückkehr nach Franfreich erwirfen würde; fie wollte fich jedoch ihre Freiheit um folchen Preis nicht erfaufen, und als man ihr einmal in bejtimmterer Form riet: „Schreiben Sie nur, fprechen Sie nur ein paar Worte über den König von Rom, und alle Hauptjtädte werden ſich Ihnen öffnen,“ da antwortete fie: „Sch wünſche ihm eine gute Amme.“
Iſoliert und eingejperrt, befchloß fie alles daran zu jeten, um don Coppet zu entfliehen. Sie wollte nach Amerifa reifen, das war aber ohne Paß eine Unmöglichkeit und wie jollte fie zu einem folchen gelangen? Zudem fürchtete fie, auf dem
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Wege zum Hafen unter dem Vorwande, daß fie nach England zu reifen beabfichtige, worauf Gefängnißftrafe ftand, verhaftet zu werden. Und fie war fich vecht wohl bewußt, daß, wenn der erite Skandal hierüber verflogen wäre, die Negierung fie ruhig im Gefängnis fchmachten laſſen könnte, fie würde ſchnell vollitändig vergefjen worden fein. Sie malte ſich die Möglich- feit aus, durch Rußland nach Schweden gehen zu fünnen, da ganz Norddeutichland in der Gewalt der Franzofen war. Sie hoffte durch Tirol flüchten zu fünnen, ohne von Dejterreich ausgeliefert zu werden. Aber ein Paß für Nufland mußte aus St. Petersburg beſchafft werden; fehrieb fie von Coppet darum, jo mußte fie befürchten, dem franzöfiichen Gejandten in Rußland denunziert zu werden; jie mußte deshalb vor allem nach Wien zu entkommen ſuchen und jich von dort aus einen Paß erwirfen.
Ein halbes Jahr lang jaß fie über die Karte von Europa gebeugt und jtudierte diejelbe, um einen Fluchtweg zu finden, mit derjelben Leidenschaft, mit der auch Napoleon fie betrachtete, um zu unterjuchen, auf welchem Wege fich das Weltfaijer- reich erobern und errichten ließe, Als ein lettes Anfuchen um einen Baß nach Amerifa nach Verlauf eines Monates abjichlägig bejchieden ward, objchon das Gejuch das Berjprechen enthielt, daß Frau von Stael, wenn e3 bewilligt wide, ſich verpflichten wolle, nirgends das Geringfte druden zu lafjen, da beichloß das ſchwache aber mutige Weib einen entjcheiden- den Fluchtverfuch zu wagen. Eines Tages im Jahre 1812 fuhr fie mit ihrer Tochter ohne einen einzigen Koffer oder Gepäd, mit einem Fächer in der Hand auf einem Wagen aus Coppet fort, fam glücklich nach Wien und fchrieb nad) St. Petersburg um einen ruſſiſchen Paß. So ängjtlich jcheute jedoch die öfterreichifche Regierung fich franzöſiſchen Ungelegen- heiten auszufegen, daß man fie auf der galizischen Grenze anhielt, und fie durch ganz öfterreichiich Polen von Spionen verfolgen ließ; als fie auf der Reiſe einen Tag Halt machte, um die fürjtlich Lubomirskiſche Familie zu bejuchen, folgte ihr ſogar ein öfterreichifcher Polizeiagent in folcher Nähe, daß der Fürft fi) gezwungen ſah, ihm an feinem Tiſche einen
Brandes, Hauptftrömungen. I. Gmigrantenlitteratur. 11
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Plab einzuräumen, und Frau von Stael’3 Sohn fonnte ihn nur durch Drohungen verhindern, jein Nachtquartier in ihrem Schlafgemach aufzufchlagen. Erft als fie die ruffische Grenze überschritten hatte, atmete jie freier auf. Doc) dies Freiheits- gefühl follte nur von kurzer Dauer fein. Kaum hatte fie Moskau erreicht, als fie das Gerücht von der Annäherung des franzöfifchen Heeres aufs neue zur Flucht zwang und in St. Petersburg erjt Fonnte fie ſich als außer Gefahr betrachten.
Ein Jahr vor ihrer Abreife aus Coppet war fie eine heim- liche Ehe eingegangen; bereits fünfundvierzig Jahre alt hatte jie einen jungen franzöfijchen Offizier, Albert de Rocca, geheiratet, der als jchwerverwurndeter und durch Blutverluft erichöpfter In— valide nach der Schweiz gefommen war. Frau von Stael’3 Mitgefühl erwecte im Herzen des jungen Kranfen eine heftige Liebe und dieſe führte zur heimlichen Vereinigung. Mit Nocca war Frau von Stael an der ruffischen Grenze zu— jammengetroffen. Sie hegte den Plan, nach Konjtantinopel und Griechenland zu gehen, um die vechten Lofalfarben zu einem Gedicht „Richard Löwenherz“ zu ftudieren, das ihr vorjchwebte und zu welchen ihr Lord Byron's Auftreten die Idee gegeben zu haben fcheint; es follte, jagte fie, ein „Lara“ werden, im welchem derjenige Byron's nicht wiederzuerfennen jein würde.
Aber die Furcht, daß ihre junge Tochter und Nocca die Strapazen der Neife nicht aushalten könnten, bewog fie, ihre Zuflucht nah Stodholm zu nehmen. Site erneuerte dort ihre Freundfchaft mit Bernadotte, traf daſelbſt Schlegel, den Berna— dotte geadelt und zu feinem Wrivatjefretär gemacht hatte. Durh Schlegel machte Carl Johann auch onftant’S Be— fanntichaft, juchte — übrigens ohne Glück — ihn für feine ehrgeizigen, auf den franzöſiſchen Thron gerichteten Pläne zu gewinnen und ernannte ihn vorläufig zum Nitter des Nord— jterns. Frau von Stael war Bernadotte’S Charakter gegen— über weniger jfeptifch als Conjtant; fie jpricht von ihm ſtets mit Wärme; ihr gemeinjamer Haß gegen Napoleon war hierbei wohl daS vereinende Element. Diefer Haß verſtummte jedoch bei ihr von dem Augenblid an, als die verbündeten
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Heere gegen Frankreich zogen; fie flagt darüber, Napoleon Glück wünſchen zu müffen, aber fie fann feine Sade nicht mehr von der Frankreichs trennen. Chavafterfeiter als Conftant wies fie die Annäherungsverjuche, welche Napoleon in den 100 Zagen ihr gegenüber machte, von jih. Sie erlebte jeinen endlihen Sturz und jah mit Trauer die Bourbonen zurüd- fehren, welche ſchlimmere Freiheitsfeinde waren al3 der Despot, auf den fie folgten. Noch einmal trifft fie Conftant im Jahre 1816 in Paris und jtirbt dann ein Jahr fpäter.
Dieſe furze Ueberficht über das Leben und den Lebens- fampf diejer bedeutenden Frau in ihrer reiferen Periode bietet eine genügende Leberjicht, um die Vorftellung von ihrem Wejen als Menſch und Schriftjtellerin zu vervolljtändigen, Angebovene Herzlichfeit und Mutterwit bejaß jie als urjprüng- liche Gaben: eine Herzlichfeit, die ich in umfafjenditer Menjchen- liebe erhob, und ein Wit, der fich zu genialer Empfänglichkeit und Darjtellungsfähigfeit entwicelte.
Sie bejaß in jehr hohem Grade einige der Eigentümlich- feiten des 18. Jahrhunderts: den ausgeprägten Yang zur Gejelligfeit, die überwiegende Neigung und Fähigkeit zur Konverfation. Während George Sand, die große Schrift- jtelferin des 19. Jahrhunderts, in Gefellichaft mit anderen verichlojfen und ftumm blieb und die Quellen ihrer Perjün- lichfeit nur öffnete, wenn fie jchrieb, war Frau von Stael eine lebhafte Improviſatrice. Ihre Fähigkeit bejtand darin, zu eleftrifieren; ihre Worte fluteten gleich Lichtitrömen über den Gegenjtand, von dem fie ſprach. Alle diejenigen, welche fie gefannt haben, haben immer erklärt: „Ihre Schriften find nichts, Sie hätten fie veden hören ſollen.“ Einer ihrer Kritiker endet eine Anfündigung mit den Worten: Wenn man fie hört, ift es unmöglich, ihr nicht Beizupflichten: hätte fie dies gejagt und nicht gefchrieben, jo hätte ich fie nie fritijieren können“, umd eine große Dame, Frau von Teffe, jagt im Scherz von ihr: „Wenn ich Königin wäre, würde ich Frau von Stael befehlen, immer zu mir zu veden.*)
*) Sainte-Beuve, Madame de Sta&l.
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Die zahllofen mündlichen Ueberlieferungen, die von ihr erhalten find, geben troß des toten Schwarz auf Weiß eine Borftellung von dem Naiven und Ueberrajchenden in ihrer Art zu Sprechen. Eines Tages, als fie ſich über das Un: natürliche dev von den Eltern gejtifteten Ehen im Gegenſatz zu dem Rechte, das junge Mädchen frei wählen zu Lafjen, verbreitete, vief fie lachend aus: „Ich würde meine Tochter zwingen, fich aus Liebe zu verheiraten.“ — Als ihr ein anderımal einer der dienjtwilligen Geifter Napoleons mitteilte, daß ihr der Kaifer die zwei Millionen ausbezahlen würde, welche ihr Vater in der franzöfiichen Bank deponiert habe, falls er verfichert fein Fünne, daß fie ihm gut fei, antwortete fie: „Sch wußte wohl, daß man ein Yebensattejt gebrauche, um jein Geld zu erheben, jedoch nicht, daß hierzu eine Yiebes- erklärung vonnöten jet.“
Aber hinter Geiftesgegenwart und dieſer Fähigfeit, die Gedanken leicht zu geftalten und zw äußern, die ein gejelliges HBeitalter entwicelt, lag viel von jenem Innigen und Seelen- vollen, welches das 19. Jahrhundert jhätt. Die bemunderte Burgfrau von Coppet, die gefeierte und gewinnende Weltdame mar eine Natur. Das Mißverhältnis zur Mutter hatte, wie ihon berührt, frühzeitig den Glauben an die Menjchennatur und Liebe zu derjelben in ihrem Herzen erzeugt. Cine Pflicht, welche die Natur nicht gebot, vielmehr befämpfte, war ihr ein Greuel. Schon in ihrer Schrift „Über den Einfluß der Leidenjihaften” ftellt fie die Leidenschaften nicht zu dem Be— griff Vflicht, fondern zu dem Begriff Glück in Beziehung und unterfucht den höheren oder geringeren Grad, in welchen fie in unſer Glüd eingreifen. Sie läßt „Corinna“ jagen: „Nichts iſt leichter, als eine hohe moralifche Miene anzunehmen, wäh- vend man alles Edle und Große verurteilt. Die Pflicht: idee . . . fann zu einer Angriffswaffe benutzt werden, welche die in ihrer Mittelmäßigfeit und Bejchränftheit jelbitzufriedenen fleinen Geiſter benußen, um dem Talente Schweigen zu ge= bieten umd fich von der DBegeifterung, dem Genie, kurz, allen ihren Feinden zu trennen.“
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Der Naturgrund in ihr ſelbſt, auf den fie baute, war ein echt weiblicher. Das deal, welches diejer bis zu einem gewiſſen Grade ehrgeizigen Frau vorjchwebte, war ein rein perjönliches, vein idylliſches: das Glück in der Liebe; um diejes drehen jich ihre beiden großen Dichtungen „Delphine“ umd „Corinna“.
Die Unmwahrjcheintichkeit, dasſelbe in der Ehe zu finden, wie die moderne Geſellſchaft fie geordnet hat, die Unmöglichkeit, es außerhalb der Ehe zu finden, find die feſten Grundgedanken, und der Kampf zwijchen dem häuslichen Glücke und dem edlen Ehrgeize oder der freien Leidenschaft, den die Schriftitellerin uns bejtändig vor Augen führt, ijt eigentlich nur der Ausdrud einer langen Klage: weder das Genie noch die Leidenschaft laffen jich mit dem häuslichen Glücke vereinen, welches das ewige Verlangen ihres Herzens ift. Und was das Genie umd ſeinen Begleiter, den Ruhm, betrifft, jo iſt feine Bahn nur ein Notanfer, den das Weib ergreift, wenn fie in all’ ihren Hoffnungen und all ihren Träumen zu Tode verlett worden it. Für Frau von Stael iſt das Herz alles, fogar der Ruhm ijt ihre nur ein Mittel, Herzen zu erobern. Corinna jagt: „Indem ich den Ruhm ſuchte, habe ich ftetS gehofft, ev würde die Leute veranlafjen, mich zu lieben.” An einer anderen Stelle jagt fie jelbjt: „Laßt uns umferen ungerechten Feinden und umjeren undanfbaren Freunden nicht den Triumph gönnen, unfere geijtigen Kräfte gebrochen zu haben. Sie reduzieren den, welcher ſich jo gern mit den Gefühlen begnügt hätte, darauf, den Ruhm zu fuchen.“
Es ift dies Herzliche, man könnte jagen Mütterliche, in ihrer Geiftesrichtung, welches der allgemeinen Melancholte des BZeitalters, die fich auch bei ihr wiederfindet, ein eigentümliches Gepräge verleiht. Dieſe Melancholie iſt nämlich nicht blos die allgemein menfchliche, die, welche darauf beruht, das zwei Menschen, welche einander lieben, immer mit voller Bejtimmt- heit zu einander fagen Fünnen: „Entweder werde ich den Tag erleben, wo Du als Leiche daliegjt oder Du den Tag, wo ich als Leiche daliege.“ Es ift noch weniger diejelbe egoiſtiſche Melancholie, welche wir als Charaktermerkmale der Zeit er—
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fannt haben; es iſt eine ſympathiſche, welche ihren Grund in den Gleichheitsideen und Freiheitsvorſätzen der Nevolutionszeit hat, es iſt die Trauer der reformatorischen Begeifterung.
Cie war von ihrer Jugend an eine jo fehwärmerifche Anhängerin der Gleichheit, daß fie auch Hinfichtlich der Be— gabung die Menschen im Wefentlichen für gleich hielt und nur an einen äußerſt geringen Unterfchted zwifchen dem Genie und dem gewöhnlichen Menfchen glaubte. Sie hatte von der Zeit an, da fie auf den Knieen ihres Vaters ſaß, den feiteften Glauben an die Macht der Freiheit, die Menſchen zu beglücen und das Beſte bet ihnen hervorzurufen, gehegt. Diejen Glauben bielt fie jelbft dann feit, als fie während der Septembertage vor der Echredensherrfchaft, zu der fich die Gleichheit ver- wandelt hatte, fliehen mußte, und als fie unter dem Konſulate von jener Diktatur verbannt wurde, in welche die Freiheit ausgemündet war. ES tft jedoch fein Wunder, daß fich ein aus Wehmut und Melancholie gewebter Schleier frühzeitig über ihren lebhaften Geift verbreitete.
Talleyrand, dejjen Name in den Tagen ihrer Macht durch ihre Fürſprache von der Lifte der Emigranten getilgt worden war, bewies fich zu undanfbar, als daß er einen Finger hätte rühren mögen, um ihr zu einer Zeit, wo fie vor Heimweh ganz in Berzweiflung war, die Erlaubnis zur Rückkehr nach Paris zu erwirfen. Sie hafte ihn nicht, jie hafte niemand, jie verzieh allen, aber fie hat ein wahres und treffendes Bild von ihm geliefert, indem fie feinen Charakter als den der Frau von Vernon in „Delphine“ jchilderte. Ihre tiefe Melancholie macht fich Luft am Echlufie eines ihrer Briefe an ihn: „Yeben Sie wohl! Sind Sie glücklich? Dringen Sie mit einem jo überlegenen Geifte nicht zuweilen bis zum Grunde von allem, d. h. zum Unglüd hinab?“
„Bon allen Fähigkeiten, die ich von der Natur empfing“, läßt fie Corinna jagen, „ijt die Fähigkeit zu leiden, die einzige, von welcher ich vollen Gebrauch gemacht habe.“
Sie gelangte jedoch, geiftig und gefund wie fie war, im Laufe der Jahre zu einer lichteren Lebensanſchauung. Eine ihrer weiblichen Verwandten, die fie genau gefannt hat, fchreibt
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hierüber: „Vielleicht gab es eine Zeit, wo das Leben, der Tod, die Melancholie, die leidenſchaftliche Selbſtaufopferung eine allzu große Rolle in ihren Geſprächen ſpielten. Als ſich dieſe Ausdrücke jedoch wie eine Anſteckung in ihrem ganzen Kreiſe verbreiteten, ja ſogar nahe daran waren, von den Dienſt— boten angewendet zu werden, wurden ſie ihr völlig zum Ent— ſetzen.) Sie vermochte ſich aus jenem geiſtigen Stadium herauszuarbeiten, in welchem jo viele ihrer franzöfijchen Zeit- genofjen ftehen blieben.
Und dies war überhaupt ein Grundzug bei ihr; fie ent- wicelte ſich kritiſch im Geifte und der Nichtung des neun- zehnten Jahrhunderts. Sie war von Anfang an ein echtes Parifer Kind ohne irgendwelchen lebendigen Sinn für Natur- jchönheiten. Als man ihr nach ihrer erjten Flucht aus Paris zuerit den Genferjee zeigte, vief fie in ihrem Heimweh aus: „OD, wie viel jchöner war nicht der Ninnjtein in der Rue du Bac! Und nicht viele Fahre darnach jchilderte fie in „Corinna“ Staliens Natur mit den glühendjten Zarben. Sie war an- fänglih ganz in Paris verliebt gewejen, welches in ihren Augen Franfreich bedeutete, und diejes vepräjentierte ihr wiederum die Zivilifation. Und fie ward diejenige, welche vor jedem anderen den Franzofen die Eigentümlichfeiten und Vorzüge der anderen europätichen Völker offenbarte. Denn ſie bejaß jene eigentliche Fritifche Begabung, die unausgejegt ihren Geift erweitert, ihre Empfänglichfeit vergrößert, ihre Vorurteile im Keime erftickt und fich dergeftalt immer zum Verſtehen be- reit hält.
Darin lag die Anziehungskraft, die fie ausübte, darauf beruhte es, daß fie, objchon verfolgt und verbannt, in Coppet wie eine Königin herrſchte und wirkte,
Dehlenfchläger befchreibt in feiner Selbjtbiographie jeinen Beſuch bei Frau von Stael im Jahre 1808. Obſchon Dehlenschläger Feine rechte Vorftellung von der eigentlichen Seelengröße diefer Frau gehabt zu haben jcheint, deren Gaſt
*) Mme. Necker de Saussure: Notice sur le caractere et les ecrits de Mme, de Sta@l, p. 358.
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er war, ſchildert er doch jehr hübjch feinen Aufenthalt und die Perjon feiner Wirtin. „Wie lebendig, geiftreich, witig und liebenswürdig die Frau von Stael war,“ jchreibt er, „ijt der Welt befannt. Ich wüßte fein Weib, das fo viel Genie ver- raten hätte. Darum hatte fie auch etwas Männliches in ihrem Wefen, war ſtark unterfeßt und hatte ein markiertes Gefiht. Schön war fie nicht, aber ihr brillantes braunes Auge hatte doch jo viel Anziehendes, und das weibliche Talent, Männer zu gewinnen und durch Anmut und Feinheit die ver- ſchiedenartigſten Charaktere zu beherrſchen und gejellig zu ver- einen, befaß fie in hohem Grade. hr Genie und ihr Geficht, jelbjt beinahe ihre Stimme, waren männlich; ihre Seele aber war in hohem Grade weiblich, das hat fie in „Delphine“ und „Corinna“ bewiejen. Rouſſeau hat nicht feuriger die Liebe geschildert. Wo fie fich zeigte, zog fie, troß der Anweſenheit ihöner und junger Damen, alle Männer von Kopf und Herz in ihren Kreis. Nimmt man nun hinzu, daß jie jehr veich, jehr gaftfrei war und alle Tage prächtige Diners gab, fo wundert man ſich nicht darüber, daß jie wie eine Königin, wie eine Art von Fee in ihrem Zauberichloffe die Männer an fi) zog und beherrſchte. Man follte faſt glauben, daß fie, um diefe Herrichaft anzudeuten, bet Tiſche immer den fleinen Blätterzweig in der Hand hielt, mit dem fie während des Gejpräches unaufhörlich fpielte, und den der Diener täglich neben ihr Kouvert legen mußte, weil er ihr eben fo unent- behrlich wie Löffel, Mejjer und Gabel war.“
Jeder wallfahrtete nach Coppet, wie man ein halbes Jahrhundert vorher nah dem benachbarten Ferney ge- wallfahrtet war. Denn hier hatte ja Voltaire, ebenfo wie Frau von Stael verbannt, außerhalb der franzöfiihen Grenze, aber jo nahe diefer Grenze wie möglich wohnhaft, in jeiner legten Yebensperiode ganz Europa um fi) verfammelt.
Es hat etwas Berlodendes für die Phantafie, die Wirkfamfeit, welche von dem Patriarchen in Ferney aus— jtrahlte, mit derjenigen zu vergleichen, welche ſich von Coppet’s junger und geiftwoller Herrſcherin über Frankreich und die übrige Welt ergoß. Die Zeit in Ferney war in jeder Be—
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ziehung die glänzendite Periode in Voltaire's Leben, von Ferney aus verbrachte er als Apojtel und Fürfprecher der Freiheit, Gerechtigfeit und Toleranz fo große Thaten, wie jie noch nie zuvor ein Privatmann vollbracht hatte, dejien einzige Waffe die Feder war.
Hier verwendete er drei jahre feines Lebens auf den Prozeß zur Ehrenrettung des Jean alas eines achtundjechzig Jahre alten Kaufmannes aus Toulouſe, dejjen jüngfter Sohn zum Katholizismus übergetveten und dadurch feiner Familie entfremdet war, während der ältefte Sohn, ein leichtjinniger und ausjchweifender Menjch, ich) das Leben nahm. Augen— blicklich verbreitete die katholiſche Geiftlichfeit unter dem Pöbel die Anficht, daß der Vater aus Haß gegen die fatholifche Neligion, zu welcher der Sohn, wie fie jagte, hatte übertreten wollen, diejen erdrofjelt habe. Die ganze Familie wurde in Ketten gelegt, die Leiche des Erhängten ausgeitellt, die ein Wunder nach dem andern that. Gleichzeitig beging man die zweihundertjährige Wiederkehr der Bartholomäus- nacht in Touloufe In fanatifcher Aufregung verurteilten dreizehn Richter troß aller Beweife gegen die Wahrheit der Anklage und ohne den Schatten eines Beweifes für die Schuld, den alten Mann dazu, bei lebendigen Leibe gerädert zu werden. Dies wurde vollzogen, aber noch auf dem Made ver- jicherte er feine Unschuld. Die Kinder wurden unter dem Schein der Begnadigung in ein Klojter gejperrt und zur Ans nahme des fatholifhen Glaubens gezwungen. Da jchrieb Boltaire in Ferney feine berühmte Schrift über die Toleranz und feste Himmel und Erde in Bewegung, bis er Die Nevifion des Prozeſſes erzwang. Er wendete ji an die öffentliche Meinung von ganz Europa, er zwang den Staats: rat in Paris, die Aftenjtüde vom Parlament in Toulouſe einzufordern. Mean verweigerte dies, man zog die Sache in die Länge. Endlich, nad) dreijährigen unermüdlichen Kämpfen, erzwang e3 Voltaire. Das Touloufer Urteil wurde für faljch erflärt, die Ehre des Hingerichteten wieder hergejtellt und der Familie ein Schadenerfat zugejprochen. Wenn man Voltaire Gerechtigfeit erweifen will, jo muß man daran erinnern, daß
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in diefer Periode die Worte „Ecrasez linfame“ die ftehende Formel unter all feinen Briefen werden.
In Ferney nahm Voltaire ferner die Familie Sirven auf. Der Bater war Calvinift die Tochter war gewaltfam in ein Klofter geführt worden. Da fie irrfinnig wurde, ließ man fie frei, worauf fie fich in einem Brunnen in der Nähe ihres väterlichen Hauſes ertränfte. Die wird darauf dem Bater, der Mutter und den Töchtern als Mord an der ver- itorbenen Nonne ausgelegt. Sie werden alle zum Tode ver- urteilt. Dieſe ganze unglüdliche Familie weiß in Europa feine andere Freiſtatt als Voltaires Haus. Sie flüchten zu ihm; die Mutter ftirbt unterwegs vor Kummer. Auch diesmal zwingt ev, objchon verbannt, durch die Macht feiner feurigen Beredjamfeit, die franzöfichen Gerichte, die Sache von neuem aufzunehmen, und die ganze Familie ward freigefprochen.
Drei Jahre fpäter nimmt ex in Ferney den jungen Etalonde auf. Zwei junge Menfchen, de la Barre und Eta- londe, wurden im Jahre 1765 angeklagt, an einer Prozejjion vorübergegangen zu fein, ohne den Hut abgenommen zu haben, und diefer Teil der Anklage war wahr, ſowie ein Kruzifir ins Waffer geworfen zu haben, eine Bejchuldigung, die jedoch) faljch war. Beide wurden zuerjt unter Martern verhört, dann ward de la Barre gerädert. Mutig beitieg er das Schafott und jagte nur: „Ich habe nicht geglaubt, daß man einen jungen Menjchen wegen folcher Bagatelle töten würde.“ Eta— londe, den man zum Berlufte der rechten Hand und der Zunge verurteilte, flüchtete nach Ferney und bei Voltaire wagte nie- mand Hand an ihn zu legen.
Noch einmal glückt es Voltaire von Ferney aus, ein Menschenleben zur retten. Infolge falfcher Anklage war ein junges Ehepaar, Meontbailli, zum Scheiterhaufen verurteilt worden. Der Mann wurde zuevjt gerädert, dann verbrannt; die Berbrennung der Frau ward aufgefchoben, da fie ſchwanger war. In der Zwifchenzeit erfährt Voltaire die Angelegenheit, durch- ſchaut mit jeinem Feuerblic deren Schändlichkeit, richtet einen Apell an das franzöfiiche Minifterium, beweilt, daß der Mann uns ihuldig hingerichtet ift und vettet die Zrau vom Scheiterhaufen.
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Und wie er ſich jo aufopferungsvol( des Lebens unſchuldig Angeflagter annahm, jo auch der Ehre der Toten. Eine der legten Nachrichten, die Voltaire auf feinem Totbette empfing, war, daß der durch feine Veranlaſſung wieder aufgenommene Brozeh in Sachen des Yuftizmordes des Generals Lally*) gewonnen und der Gemordete von der Schuld freigejprochen jet. Und in diefer Periode fand Voltaire noch Zeit, von Ferney aus leidenjchaftlich für die Aufhebung der Yeibeigen- ihaft in Frankreich zu wirken, fand Zeit, die elternloje Nichte Corneille's, welche er zu fich ins Haus nahm, zu erziehen und ihr ein reiches Heiratsgut zu verschaffen, Zeit, Feruey aus einem elenden Fleden in eine thätige und wohlhabende Stadt zu verwandeln, welcher das Wohlmwollen der fremden Monarchen auf feine Empfehlung zu ungeahnter Blüte verhalf, und Zeit, jeine Abhandlung über den Geift und die Sitten der Bölfer, feinen Bibel-Kommentar, feine Geſchichte der Ein- führung des Chriftentums, fein philoſophiſches Wörterbuch und all’ jene Hauptwerfe zu ſchreiben, in welchen er das eine Biel verfolgte, die chrijtlihe Dogmatif zu untergraben, die ihm als Wurzel alles Aberglaubens, aller Macht der Geift- lichkeit und aller Nichtswürdigfeit erſchien, welche diejelbe im Gefolge hatte. Dabei vernachläffigte er nicht daS Geſellſchafts— leben. Er ließ in Ferney ein Haustheater aufführen und ließ die eriten Schaufpieler zu fi) fommen. Alles, was Europa an Geift und Tüchtigkeit bejaß, drängte ſich zu ihm nad Ferney.
So ruhmvoll glänzt der Name Ferney in der Geſchichte! Der Ruf welcher von Coppet ausgeht, kann ſich freilich da— mit nicht meſſen, hat aber doch nicht minder ſeine Größe und ſeinen Wert. Auch diesmal war es Durſt nach Gerechtigkeit, eine Wahrheits- und Freiheitsliebe der edeljten Art, welche vom Erile herfamen. Während diefes ganzen Jahrhunderts hat ja aud) jedes der drei großen Hauptländer feinen größten Scriftfteller in die Verbannung geſchickt. Schweifte nicht
Bal. ss Hettner’s Litteraturgefhichte des achtzehnten Yahr- —— B. II, ©. 157 fi.
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Byron heimatlos in Europa umher? Starb nicht Heinrich Heine in Paris? Verbrachte Victor Hugo nicht zwanzig Jahre auf Jerſey? Denn es wächſt die Macht des Genius unter der Berfolgung!
Aber mit dem Beginn diefes Jahrhunderts war die Zeit vorbei, wo die Schriftiteller eine Großmacht bildeten. Selbit ein Genie vom Nange Voltaire's würde faum in dieſem Jahrhundert einen äußerlich nachweisbaren Einfluß ausgeübt haben, und Frau von Stael war jedenfall$ weit davon entfernt, mit ihm auf gleicher Stufe der Genialität zu ftehen. Ihre Aufgabe war zudem von ganz anderer Art. Die äußere Macht der Kirche war vorläufig gebrochen, und ihre Geiftes- richtung war allzır religiös, um Boltaive’S verlaffene Bahnen einzufchlagen. Der politifche Abfolutismus war jo mächtig, daß es als eine Demonftration betrachtet und als folche bejtraft ward, den Namen des franzöfifchen Kaiſers in einem Buche über Deutjchland nicht zu nennen. Aber es gab eine Arbeit, welche nicht durch die äußeren Ummälzungen der Re— volution gethan und auch nicht durch die Verordnungen des Kaiferreiches verboten werden fonnte — die Berge von religiöfen,- fittlichen, gejellfchaftlichen, nationalen, fünftleriichen Vorurteilen zu untergraben, welche auf Europa mit noch) jchwererem Drude lafteten, als Napoleons Weltmonarchie und nur dur dieſe überhaupt erjtanden waren. In manchen diefer Vorurteile, bejonders den künſtleriſchen und nationalen, war jogar Boltaire befangen gewejen. Gegen all’ dieſe eröffnete Zran von Stael von Coppet aus den Krieg. Im Vebrigen verſäumte auch fie, wie Voltaire, deshalb nicht das gejellichaftlihe Leben, hatte gleichfall8 ihr eigenes Theater, ſchrieb Stüde für dasjelbe und fpielte fie ſelbſt. Gewiß darf aljo die Burgfrau von Coppet eben fo edel in ihrer Thätigfeit genannt werden, wie der Philofoph von Ferney; fie war minder glücklich und mächtig in ihren Beftrebungen, aber durch ihr Geſchlecht und ihre Leiden fat noch intereffanter. Er vermochte mehr für andere auszurichten, fie hatte ihre liebe Not, fich felbjt zu wehren.
Die italienische Poeſie. 17
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10: Die italtenijche Poeſie und Srau von Stael’s Poetif. „Lorinna“.
Frau von Stael begann wie gejagt, ihre Schriftiteller- thätigfeit mit einer Neihe enthufiatifcher Briefe über Jean Jacques, die mit demſelben Gefühl einer Teidenschaftlichen findlichen Yiebe für Rouſſeau gejchrieben waren, das fie ihr Leben lang für ihren Vater hegte. Site jelbjt führt bier ihre geijtige Abjtammung auf denjelben großen Mann zurüc, deſſen Einfluß auf jo viele bedeutende Geifter wir nachgefpürt haben. Bald darauf entwidelt fie in ihrem „Essay sur les fietions“ ihre Poetik. Dieje Boetif hat folgendes Programm: Keine Mythologie, feine Allegorie, feine phantaftiiche oder über- natürliche Feenwelt; was in der Poeſie herrſchen joll, ijt die reine Natur. Sie jcheint hier noch nicht recht im Klaren zu jein über den großen Gegenſatz zwijchen der Poeſie als Piychologie und der Poeſie als Phantaſie, ſowie über die ver- ichiedenartige Auffafjung der Poeſie bei den verjchiedenen Bölferftämmen, — ein Unterjchted, welcher ihr jpäter jo ein- leuchtend ward, daß man das Verſtändnis desjelben als einen der wichtigjten Gedanken ihrer Schriftjtellevei bezeichnen kann; denn er trug ganz bejonders dazu bei, die nationale Poetif der Franzojen für dies Volk relativ zu machen. Die Fran— zojen find nämlich gewohnt, das Wejen der Poeſie in die auf Beobachtung gegründete tiefe Kenntnis des Menjchenherzens zu jeßen, welche fich in Werfen wie Molieère's „Miſanthrop“ und „Zartüffe” offenbart. Und wie die Franzojen die Poeſie auf die Beobachtung bafieren, jo baſieren die Deutjchen ſie auf die Innigkeit des Gefühls, und die Engländer auf eine unvegelmäßige, jprunghafte, zwifchen Schreden und fittlichen Idealen umbherjchweifende Phantafie, welche nicht mehr Vor— (iebe für die Natur, als für das Uebernatürliche hat, aber welche letzteres ſtets nur als tiefjinniges Symbol gebraucht.
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Eine Poefie, wie die, welche von der Natur und dem Volke Italiens ausjtrahlt, Fällt ganz außerhalb diefer Auf- fafjungen. In Corinna, der Improviſatrice, will Frau von Stael die eigentlich poetifche Poefie im Gegenſatze zur piycholo- gischen infarnieren, d. h. die Poefie, wie Arioft fie verjteht, tm Gegenjate zu der Shafejpeare’s, Moliere’s und Goethe's. Unfreiwillig gelangt fie mittlerweile dazu, Corinna trotzdem halb noxdisch zu machen. Wer nicht den mühevollen Kampf gefämpft hat, fich die Anſchauungsweiſe einer durchaus fremden Kaffe zum Berftändniffe zu bringen, der weiß nicht, wie ſchwer es iſt, fih in diefem Pırnfte von den angeborenen Stammes: vorurteilen loszureißen. Es ift dazu nötig, Ddiefelbe Yuft ein- zuatmen, eine zeitlang im denjelben Naturumgebungen wie die fremde Raſſe zu leben. Ohne die Neifen, zu welchen Frau von Stael durd) ihre Verbannung gezwungen ward, würde es ihr unmöglich geworden fein, ihre Intelligenz zu erweitern.
Ich glaube in aller Befcheidenheit, aus Erfahrung dar— über mitjprechen zu fönnen. Ich darf jagen, daß es mir erjt auf einfamen Spaziergängen in der Umgegend von Sorrent gelang, Shafejpeare foweit von mir zu entfernen, daß ich ihn überfchauen und ihn, und dadurch auch feinen Gegenſatz, ver- jtehen fonnte. Ich erinnere mich eines bejtimmten, in Ddiejer Hinficht für mich bedeutungsvollen Tages. Ich hatte drei Tage in Pompeji verbracht. Von den Tempeln dafelbjt interejjierte mich der Iſistempel am meijten. Hier, dachte ich, jtand das Götterhaupt, das jest nach dem Museo nationale gejchafft worden iſt, dejfen Lippen geöffnet find, und in dejjen Naden fich ein Loch befindet. Ich ging in den unterivdiichen Gang hinter dem Altar hinab, von wo die Priefter durch ein nach dem Haupte führendes Rohr die Göttin Orakelſprüche erteilen ließen. Es drängte fi) mir die Bemerkung auf, daß es troß all’ ihrer Lift und troß des Aberglaubens der Menge jehr jhwierig geweſen jein müfje, dem Tempel in diefem Klima einen myſtiſchen Charakter zu verleihen. Denn der Tempel it ein feiner hübſcher Bau, der in hellem Sonnenlichte glänzt; nirgends Abgründe, Finfternis, Grauen. Selbit zur
Die italieniſche Poeſie 175
Nachtzeit jtand der Tempel hell im Monden- oder Sternen- jhein. Die Landihaft im Verein mit dem nüchternen Ver— tande der Römer hat das Aufkommen jeder Myſtik und Romantik verhindert. Ich Fam nach Sorrent; der Weg führt, in die Bergwand gehauen, am Meere hin; bald jchlängelt ex ſich bis in’3 Meer hinaus, bald wieder zurück, und dann bildet die Bucht drunten eine mächtige Schlucht, mit Del- bäumen bewachſen. Die Gegend ijt zugleich groß und lächelnd, wild und friedlih. Die fahlen Felswände verlieren ihre Strenge in der Beleuchtung eines jo grelfen Sonnenlichtes, und in allen Schluchten fchimmert bald das glänzendgrüne Laub der Drangenbäume, bald das feine, jammtgrüne Laub der Dliven um weiße Häufer, Villen und Städtchen.
Auf. der anderen Seite liegen dann die weißen Städte wie mit einem Yucerlöffel über die waldbewachjenen Berg- abhänge bis zum oberjten Rande hinauf verjtreut. Das Meer war indigoblau, an einigen Stellen jtahlblau, und fein Wölfchen am Himmel. Und gegenüber im Meere lag die entzücend jchöne Seljeninjel Capri. Nirgends erblickt man ein jolches Zuſammen— jpiel von Linien und Farben. Anderswo kann man jelbjt am Schönjten etwas auszujegen haben; die Linien des Veſuvs 3. B. jteigen ein wenig zu weich, eim wenig zu eingejunfen empor. Aber Capri! Welche rhythmiſche Mufif Liegt nicht in den Kontouren des zackigen Felſens! Welches Gleichmaß in al’ diefen Linien! Wie ift alles zugleich ftolz und zart, kühn und anmutig! Das ijt die griechiihe Schönheit. Nichts Gigantifches, nichts dem großen Haufen Imponierendes, aber die vollendete Harmonie in dem jcharf Begrenzten. Bon Capri aus erblidt man die Inſeln der Sirenen, an welchen Odyſſeus vorüberfuhr. So jah Homer’s Ithaka aus, nur war es vielleicht minder ſchön; denn das von Griechen be> völferte Neapel ift das einzige lebende Zeugnis vom Klima des alten Griechenlands. Griechenlands eigene Natur it jest nur die Leiche dejjen, was es einjtmals war.
E3 begann zu dunfeln, Benus leuchtete hell, und die jteilen Bergwände und Schluchten nahmen allmählich den phantaftifchen Charakter an, welchen das Dunfel zu verleihen
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pflegt. Aber der Charakter wurde nicht, was wir Nordländer romantijch nennen. Durch das feine Dlivenlaub blinfte noch das Meer, von Blättern und Neften durchteilt, mit feiner fräftigen blauen Farbe. Da fühlte ich, daß hier eine Welt fei, die, welche der Golf Neapel’S repräjentiert, welche Shafejpeare nicht fennt, weil fie groß ohne Schreden und ſchön ohne romantische Nebel und ohne Elfenſpuk ift. Ich verftand jet erjt recht Maler wie Claude Lorrain und Pouſſin, verjtand, daß ihre klaſſiſche Kunft einer klaſſiſchen Natur entjpricht, und veritand, durch den Gegenſatz noch tiefer ein Werft wie Rem— brandt’S Nadierung „Die drei Bäume“, welche wie befeelte Weſen, wie nordische Perfönlichfeiten im niederflatichenden Negen auf dem jumpfigen Felde jtehen. Ich verjtand, wie natinlich es ift, daß ein Land tie dies nicht einen Shafe- jpeare erzeugt noch eines Shafejpeare bedurft hat, weil die Natur felber hier die Aufgabe übernommen hat, welche die Dichter im Norden erfüllen mußten. Poeſie von der tiefen, piychologifchen Art, ift, wie fünftlihe Wärme, ein Lebensbedürf— nis, wo die Natur unfreundlich und rauh ift. Hier im Süden hat die Poefie von Homer bis Arioft fih damit begnügen fünnen, ein klarer, nichts verdoppelnder Spiegel der klaren Natur zu fein. Sie hat fich nicht bemüht, in die Abgründe des Menjchenherzens hinab zu dringen. Sie war nicht bejtrebt, in Tiefen und Höhlen die Edelfteine zu finden, welche Aladdin juchte, welche Shafejpeare zu Tage fürderte, aber welche der Sonnengott hier mit vollen Händen über die Dberfläche der Erde ausftreut. —
„Corinna, oder Italien“ ift Frau von Staël's vorzüg— lichjtes poetifches Werk. In Diefer paradiefiichen Natur wurde ihr Auge für die Natur erichloffen. Sie zog ihren Rinnſtein in Paris nicht mehr dem Nemifee vor. Und bier im dieſem Lande, wo an fo mancher Stelle, 3. B. auf dem Forum, eine Duadratelle eine größere Gefchichte hat als das ganze ruſſiſche eich, hier ward ihr moderner, revolutionärer und melancho- liſcher Sinn für die Gefchichte, für die Antife mit ihrer ein- fachen und jtrengen Ruhe erjchloffen. Hier endlich in Nom, das gleichjam Europas Karavanſerei ift, gingen ihr die Eigen-
„Corinna.“ BT
tümlichfeiten und infeitigfeiten der verjchiedenen Nationen volljtändig auf. Durch fie wurde ihre Nation ſich zum erften Male ihrer Befonderheit und ihrer Begrenzung bewußt. Denn in ihrem Buche begegnen ſich England, Frankreich und Stalien und veritehen einander — nicht mwechfelfeitig, aber in der Ver— faſſerin und in ihrer Heldin Corinna, welche halb Engländerin und halb Italienerin ift. Corinna erfcheint in der Welt der Dichtkunſt gleichjam wie ein Vorbild deſſen, was Elifabeth Browning in der wirklichen Welt geworden ift. Als ich eines Tages in Florenz vor einem Haufe ftehen blieb, das in ita- lieniſcher Sprache die Inſchrift trägt: „Hier wohnte Elifabeth Barrett-Browning, die mit ihren Gedichten ein goldenes Band zwiſchen England und Italien fnüpfte”, da rief die Berfafferin von „Aurora Leigh‘ den Gedanken an Corinna in mir wach. Die Handlung des Buches ift folgende: Ein junger Engländer, Dswald Lord Nelvil, der eben feinen Water ver- foren hat, den er über alles auf der Welt geliebt und dejfen Tod ihn um jo tiefer trifft, als er ſich vorwirft, dem Bater in den lebten Jahren Sorge bereitet zu haben, reift nach Stalien, um fich zu zerſtreuen. Er fommt in Nom an, als eben die Dichterin Corinna im Triumph zum Kapitol ge- feitet wird, und obſchon öffentliches Auftreten und öffentliche Triumphe jeinem deal von Weiblichkeit nicht entjprechen, wird er fchnell von der ebenjo ungezwungen natürlichen, wie geiſtvollen Corinna gefejfelt und allmählich leidenſchaftlich in fie verliebt. Aber während das Zufammenleben mit ihr feine Augen für al’ ihre ſchönen und feltenen Eigenjchaften öffnet, erhält fich dennoch feine Furcht, daß fie fich nicht zur Gattin eines vornehmen Engländer eigne. Er findet in Corinna nicht das schwache, furchtjame Weib, das, ausgenommen feine Pflichten und Gefühle, feine Meinung vor irgend etwas hat, wie er e3 in England, wo die häuslichen Tugenden der Frauen Ruhm und Glüc bilden, von feiner Braut gewünſcht hatte. Er macht ſich bejonders hinfichtlich der Frage krankhafte Sfrupel, ob ſeinem verjtorbenen Vater eine Schwiegertochter wie Corinna erwünſcht geweſen wäre, eine Frage, die er, je länger er jie behandelt, immer entfchiedener mit Nein beantworten muß. Brandes, Hauptftrömungen. I. Emigrantenlitteratur. 12
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Corinna, deſſen Liebe weit tiefer und reicher als die feine it, die durch jein Schwanfen geängjtigt wird umd fürchtet, daß er einmal plötzlich Italien verlaffen fünnte, ift bejtrebt, ihn dadurch zurüdzubalten, daß fie fein Intereſſe für die Denfmäler des Landes, deſſen Kunjt, Poeſie und Mufif er- wedt. Oswald iſt befonders über das Nätjelhafte in Corinnas Leben beunruhigt; niemand kennt ihren eigentlichen Namen oder ihre Herkunft; fie jpricht alle Sprachen; fie hat feine Verwandten; er befürchtet, daß irgendwelche Schuld fie allein ins Leben hinausgeftoßen habe. Corinna iſt in Wirklichkeit die Tochter eines Engländers und einer Römerin, und da fich ihr Vater in England in zweiter Ehe vermählte, hat fie ihre Sugend unter den Augen ihrer Stiefmutter in einer Kleinen jpießbürgerlichen englischen Provinzftadt verbradt. Von all’ diefer Kleinlichkeit und dem Zwange gemartert, die ihren Geijt volfjtändig unterdrücten, hat fie nach dem Tode ihres Vaters England verlaffen und in Italien als Dichterin ein unab- hängiges, doch vollkommen tadellojfes Leben geführt. Sie weiß, daß fih ihre und Oswald's Familien gefannt haben, daß Oswald's Bater fie als Schwiegertochter verichmäht und eine Verbindung Oswald's mit ihrer eigenen Schweſter Yucile ge: wünjcht hat. So oft Oswald daher in fie dringt, ihm ihre Lebensgeschichte zu erzählen, jucht fie die Erklärung hinauszu— jcehteben, und hierzu findet fie fein bejferes Mittel, als Oswald's Gedanken dadurch auf andere Gegenſtände zu lenfen, daß fie jeine Führerin durch Nuinen, Galerien und Kirchen wird und ihm Italiens herrlichjte Gegenden zeigt. Wie eine andere Scheherejade jtrebt fie danach, ihr Yeben zu verlängern und die drohende Gefahr abzuwenden, indem fie ihm täglich neue Herrlichfeiten zeigt, vor denen diejenigen aus Tauſend und eine Nacht verblaffen, und fie mit feinen und tiefjinnigen Erflärungen begleitet.
So bietet ſich die Beichreibung Roms, die Schilderung von Neapels Natur, das Bild von Venedigs tragijcher Schönheit wie von jelbjt dar. In Rom entjtand Corinna’s große Leidenjchaft, und Nom ward auch der erſte Rahmen für dieſe Liebesgeschichte; Noms großer Ernſt und weiter
„Corinna.“ 179
Geſichtskreis entſprechen dieſen tiefen Gefühlen und großen Gedanken. In Neapel erreicht Corinna's Liebe ihren höchften lyriſchen Ausbruch. Der Vulkan und des Golfes berückende Pracht bilden hier den Hintergrund zu ihrer Geſtalt, und der Geſang auf dem Meere begleitet ihre wehmütig leidenſchaftliche Improviſation über Frauenliebe und Frauenſchickſal. In Venedig endlich, wo der Eindruck von dem Verfalle und der Vernichtung des Schönen einem von allen Seiten entgegen— tritt, verläßt Oswald Corinna für immer.
Die Nachricht, daß ſein Regiment nach Indien kommandiert ſei, ruft ihn plötzlich nach England zurück. Er betrachtet ſich als verlobt mit Corinna und eilt zu deren Stiefmutter, um die Wiedereinjeßung der Geflohenen in ihre Familienrechte zu erreichen. Aber bei Yady Edgermond trifft er Corinna's Halbſchweſter Lucile und allmählich verdrängt deren einfach weiblihe Schönheit die Erinnerung an die ältere Schweiter, deren glänzende Begabung ihm in der Ferne gejehen nicht jo verlodend erjcheint und deren felbjtändiges, fühnes Auf- treten im vollen Sonnenlichte des Lebens ihm fein eheliches Glück in einem Yande verjpricht, wo das Halblicht der Heimat, mit dem Lucile's gedämpftes Weſen harmoniert, das einzige ist, in welchem ſich das Weib vorteilhaft zeigen fann. Die Ehe mit Corinna würde die ganze Gejellichaft wider ihn hegen; ſie erjcheint ihm gewijfermaßen als Trotz gegen den Schatten jeines Vaters. Die Ehe mit Lucile dagegen würde den einjtimmigen Beifall der Gejelljchaft haben. In Corinna würde er daS Fremde, Ferne heiraten, das fich auf die Dauer nicht mit der Heimat vereinigen ließe; im Lucile hingegen heiratet er gewilfermaßen England jelbjt. Corinna, die ihm in tötlicher Angjt heimlich nach England gefolgt iſt, erfährt feinen veränderten Gemütszujtand und ſchickt ihın feinen Ring zurüd. Dswald betrachtet fih von ihr verlajien, verheiratet fih mit Lucile, erfährt das Unrecht, daS er begangen, und der Roman endet tragiſch mit Oswalds Neue und Co— rinna's Tod.
Ganz zwanglos lajfen fih die den Hauptzügen der Dihtung zu Grunde liegenden erlebten Begebenheiten und
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Verhältniſſe nachweifen. Die frische Trauer über Necker's Tod jcheint in dem fchwermütigen Brüten Oswalds über das Andenfen feines Waters durch, injofern ift in Oswalds Charafter ein Teil vom eigenen Wefen der Verfafferin nieder- gelegt. E3 erklärt ſich dadurch auch feine rein weibliche Furcht davor, eine Handlung auszuführen, gegen welche fein Gewiſſen nur das eine einzumwenden hat, daß fie feines verstorbenen Vaters Beifall nicht gehabt haben würde. Selbſt fein Kummer darüber, daß er dem Bater in den Teßten Jahren Sorge bereitet habe, hat vielleicht in der eigenen Seelengejchichte der Berfafferin feinen Anfnüpfungspunft. Im übrigen ift Oswalds Weſen augenscheinlich eine freie Umpichtung von Benjamin Conſtants Perjönlichkeit. Einzelne Kleine Züge verraten fchon, wie bejtimmt fie an ihn gedacht hat: Dswald ftammt aus Edinburgh, wo Conſtant feine Jugend verlebt hatte, und er it ausdrücklich achtzehn Monate jünger als Corinna (Frau von Stael ward am 22. April 1766 geboren, Conjtant am 25. Oftober 1767); weit gewichtigere Zeugniffe liegen jedoch in dem ganzen Guffe der Perfon vor, in jenem Gemiſch von vitterlichen Mut der Außenwelt gegenüber und jener unritter- lichen Schwäche gegen das Liebende und lange bewunderte Weib, das er, um fich ihrer Ueberlegenheit zur entziehen, ver- läßt. Nur daß Frau von Stael einen typifchen Engländer aus diefen und anderen hinzugedichteten Elementen gejtaltet hat.
In Corinna jelbjt hat die Verfafferin ihr eigenes Ideal gezeichnet, von ihrer wirklichen Perſönlichkeit hat fie die Grund- eigenschaften der Heldin entnommen: Corinna ift nicht wie Delphine das im. Privatleben ftehende Weib, fondern die aus ihrem angewiejenen Kreiſe herausgetvetene Frau, die Dichterin, deren Name auf Aller Lippen ift. Site hat ihr daS eigene Aeußere verliehen, fie verfchönt, ja fogar ihr eigenes Koſtüm, die maleriihe Tracht und den als Turban um das Haupt ge- Ihlungenen indischen Shawl gegeben. Sie hat ihr den eigenen, Haven und thatfräftigen Geift eingehaucht, und es geht Corinna wie ihr felbjt, indem ihr von dem Augenblide an, wo die Leidenſchaft fie mit ihrer Geierfralle erfaßt, ihre Talente nichts mehr nüßen, und fie die wehrlofe Beute diejer Leidenschaft
„Corinna.“ 181
wird. Sie hat ferner Corinna die eigenen VBerbannungs- gedanken und Sorgen mitgeteilt. In Italien iſt Corinna ja von ihrer Geburtsjtätte losgeriffen, in England von dem Baterlande ihres Herzens und feiner Sonne verbannt. Des- halb befingt Corinna Dante, verweilt mit Feuer bei feiner Verbannung und fpricht den Gedanken aus, daß die eigent- liche Höfe für ihn die Verbannung gemwejen ſei. Deshalb jagt Corinna in ihren Lebensaufzeichnungen, die fie Oswald gtebt, daß das Exil für geift- und gefühlvolle Menſchen eine ihlimmere Strafe als der Tod jei, da der Aufenthalt im Baterlande taufend Freuden jchenfe, die man erjt würdige, wenn man ihrer verluftig gegangen ſei. Sie hebt die viel- fachen Intereſſen hervor, die man mit feinen Zandsleuten ge- meinjam habe, die aber von feinem Fremden verjtanden würden, und betont, wie diejen gegenüber die Notwendigfeit, erſt alles erklären zu müfjen, an Stelle der leichten und jchnellen Mit- teilung trete, die mit einem halben Worte eine lange Ent- wicdelung verjtändlih mache. Ja, Corinna hofft jogar, wie ihre Dichterin, infolge ihres mit der Zeit durch ihre Poejieen errungenen Nuhmes in die Heimat zurücgerufen und in ihre Nechte wieder eingefet zu werden. Frau von Stael hat Corinna endlich die eigene Bildung verliehen. Es wird aus— drüclich gejagt, daß es das Studium der freinden Litteraturen, das Eindringen in das Weſen des fremden Volksgeiſtes fei, welches Corinna einen jo hohen Nang in der Litteratur ihres Landes ermöglicht habe. Das Anziehende ihrer Dichtung be- jtehe in der Bereinigung der Farben des Südens mit der Beobachtungsgabe des Nordens. Aus all’ diefen und manchen frei erfundenen Zügen hat die VBerfafferin einen Frauentypus des italienischen Geiſtes geformt.
Die ſchriftſtelleriſche Thätigkeit Frau von Stael’s läßt jich beftändig von zwei Seiten betrachten. Sie zerfällt gleichjam in zwei Teile, eine männliche und eine weibliche Thätigkeit, die philofophifche und die dichteriſche, die Ideen und die Ge— fühle. Auch in „Corinna“ verjpürt man diefe Doppelbeit. Das Buch hat ficher größeren Wert als Geifteswerf im All- gemeinen, wie als ein Werk der dichterifchen Phantafie. Cine
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eigentümliche Innigkeit in der Behandlung des Gefühls ver- rät überall, daß der Berfaffer eine Frau if. Wenn einmal der Augenblid fommt, wo man die Viychoflogte des Weibes zu fchreiben unternimmt, und wenn man verjuchen wird, die Eigentümlichfeit der weiblichen Phantafie und des weiblichen Geiftes im Unterfchied von dem männlichen zu beftimmen — denn joweit ift die Piychologie zurück, daß man hiezu noch faum einen Verſuch gemacht hat —, dann werden die Schriften der Frau von Stael eine der mertvolliten Quellen abgeben. Das Weibliche verrät fich vielleicht zuerſt durch die Weife, auf welche die männliche Hauptfigur gezeichnet ift. Bei jeder von Oswald's hervortretenden Eigenschaften führt die Ver— fafferin deren Urſache an; fein edler Charakter wird durch jeine Erziehung, durch feine ariftofratifche Herkunft und feinen Stolz erklärt, feine Schwermut durch den „Spleen“ der Eng- länder und durch fein unglücliches Verhältnis zur einem Vater, den er anbetet, wie Frau von Stael den ihrigen anbetete, und zu defien Schatten er in demfelben Abhängigfeits- verhältniffe jtehbt, in welchem Sören Kierfegaard zu dent Schatten feines verftorbenen Vaters ftand: nur eins läßt die Berfafferin bei einer Perfon, deren moralifcher Mut jo äußert gering ift, ganz unerflärt, und das iſt jein phyſiſcher Mut. Sein Leben aufs Spiel zu ſetzen, iſt ihm jo leicht und elementar, wie ums anderen, orthographiich zu fchreiben. Es ijt ein kurioſer und durchgehender Zug, daß weibliche Nomanfchriftiteller faft unabänderlich ihre Helden mit dem ver- wegenften Mute ausrüften, einem Meute, der niemals erfämpft ift, jondern gleichjam abſtrakt außerhalb der Perfünlichkeit jteht, zu gleicher Zeit, wo es eine von zahlreichen großen Schriftſtellern bemerkte Thatfache ift, daß es in der modernen Gejellichaft vor allem die Frauen find, welche die Männer an fühnen Wagniffen verhindern, und wo die Frauen eben jo durchgehends den feigften üffentlihen Perſönlichkeiten (dem Prieftern, die ihr Leben bei Epidemien jalvieren, den Kriegs beiden, welche den Feind auf dem Papiere angreifen) die größte, oftmals Hofterischefte Bewunderung und Huldigung erweifen. Die Erklärung feheint die zu fein, daß der Mannes-
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mut die Eigenſchaft ift, welche als die höchſte Potenz des Männlichen eine Art Fdeal für das Weib wird, aber ein Ideal, das fie nicht verſteht, das fie in dev Wirklichkeit nicht wieder erfennt, und das fie deshalb am Liebjten und jchlechtejten ſchildert.
Was ich hier geſagt habe, gilt von Oswald's helden— mütigem Benehmen bei dem Brande von Ancona, wo er unter den ſchreckvollſten Umſtänden zum Retter der ganzen Stadt wird. Er allein verſucht mit ſeinen Engländern kaltblütig denſelben zu löſchen, und es gelingt ihm. Er befreit die im Ghetto eingeſperrten Juden, welche die Bevölkerung in ihrem Fanatismus als Sühnopfer verbrennen laſſen will. Er wagt ſich in das brennende Irrenhaus, in das Zimmer, wo die tobſüchtigſten Gefangenen ſich befinden, er beherrſcht und be— freit die von Flammen umloderten Wahnſinnigen, löſt ihre Bande und läßt keinen einzigen der Widerſtrebenden zurück. Die ganze Szene wird mit einer wahrhaft grandioſen Phantafie erzählt. Aber, wie gejagt, in dem Piychologijchen verjpürt man einige Schwäche. Als es jedoch gilt, den Ein- druck diefer Handlung auf Corinna's weibliches Gemüt zu ihildern, hält Frau von Stael uns volljtändig jchadlos. Dswald hat fich durch eine Abreife über Hals und Kopf jeder Danfjagung entzogen, aber als er auf dem Rückwege mit Corinna wieder nach Ancona fommt, wird er iieder- erfannt, und Corinna wird Morgens durch die Rufe: „Es lebe Lord Nelvil, es lebe unjer Wohlthäter!” gewedt. Sie tritt auf den Platz hinaus, und fie, die Dichterin, deren Name in ganz Italien berühmt ift, wird jchnell erfannt und von der verfammelten Menge mit Entzücen begrüßt. Die Menge bittet fie jtürmijch, ihr Wortführer zu fein und Oswald ihr Danfgefühl zu verdolmetjchen. Wie erjtaunt iſt ev, als er auf den Platz hinaus tritt und Corinna an dev Spite des Volkshaufens erblidt! „Site danfte Lord Nelvil im Namen des Volkes und entzücte alle Einwohner Ancona's durch die edle Anmut, mit der fie es that.” „Und, fügte die Berfafjerin mit weiblicher Feinheit Hinzu, „ſich mit den Bürgern iden- tifizierend, jagte fie „Wir“. „Sie haben uns gerettet, wir
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ichulden ihnen das Leben.“ Dies „wir“ ift um fo treffender, als die Berfafjerin früher bei dem Augenblick verweilte, da Corinna und Oswald dies Wort zum erſten Mal gebrauchen und jich durch die darin enthaltene jchüchterne Liebeserklärung beglüct fühlen, nämlich als fie zum erjten Mal in Nom einen Spaziergang verabredeten. Jetzt löſt Corinna dies „wir“ auf, um fich auf die Seite derer zu ftellen, die Oswald alles verdanken. „Und,“ heißt es weiter, „als fie vortrat, um Lord Nelvil einen für ihn geflochtenen Kranz aus Lorbeer und Eichenlaub zu überreichen, wurde fie von unbejchreiblicher Bewegung ergriffen; in dieſem Augenblid empfand fie tiefe Scheu vor Oswald, und als das in Italien ſo leicht bewegliche und enthufiaftische Volk ſich jett vor ihm nieder warf, da beugte auch fie ummillfiiclich das Knie und veichte ihm in diefer Stellung den Kranz." In der Schilderung der weib- lichen Gefühle hat Frau von Stael ihre Stärke, der Gefühle eines weiblichen Genies, welches das ganze Märtyrertum des Genies erleidet.
Bon allem vührt das häusliche Glück und die weibliche Neinheit ihr am tiefjten das Herz. Wie fehr fühlt fie, die Sibylle, fich ergriffen, als fie auf dem Sarkophage einer römischen Gattin die Inſchrift lieſt: „Kein Makel hat mein Leben von der Hochzeit bis zum Scheiterhaufen befledt, ich lebte vein zwiſchen der Hochzeitsfadel und der Tadel des Scheiterhaufens.“ Aber dies Glück Hymen's war ihr nicht vergönnt, Corinnen jo wenig wie Mignon, diefen zwei Kindern der Sehnfucht, welche, jede für fich, in der franzöfijchen und deutjchen Litteratur Italien perjonifizieren. Corinna iſt der fette Abkömmling jener edlen und einfamen Sibyllen Staltens, von welchen die Tradition fo viel erzählt. Sie ward ge- ihaffen, um zu leiden, jie, welche jelbjt jagt, daß unfere arıne menschliche Natur das Unendliche nur mittel3 des Yeidens fennt. Allein ehe fie als das letzte Opfer auf der antifen Arena untergeht, wird fie als Opfer geſchmückt und im Triumph einhergeführt.
As wir ihre Bekanntſchaft machen, treffen wir fie auf dem Feitzuge zum Kapitol, einfach aber maleriſch gekleidet, mit
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antiken Kameen im Haare, den feinen voten Shawl turban- ähnlich ums Haupt gewunden, wie auf Gerard's befanntem, Ihönen Porträt der Frau von Stael. Dies ift das Koſtüm, welche für Corinna paßt; fie, das Kind der farbenveichen Gegenden, hat noch nicht den Farbenfinn verloren, hat ſelbſt in dem jteifen, vegelvechten England frische Sinne und die Liebe zu jener Dreieinigfeit fchöner Dinge: Gold, Purpur und Marmor, bewahrt.
Und wie alfe andern großen Typen des Zeitalters wollen wir fie in die Umgebungen verjegen, welche ihr entiprechen und in welchen fie zu Haufe ift, wie Nene in den Urwäldern, Dbermann in den Hodhalpen und Saint-Preur am Genferjee. Corinna's Gejtalt ijt dev Nachwelt in dem befannten Bilde aufbewahrt, von welchem man Kupferftiche in allen Kunſtläden jieht: Corinna als Improviſatrice auf dem Kap Mifene.
Ihre vulfanifche und ftrahlende Natur ift in diejer jtrahlenden und vulfanifchen Gegend zu Haufe. Der Golf von Neapel jcheint ein großer, verfunfener Krater zu fein, von lachenden Städten und waldbefleiveten Bergen umringt. Sein Meer umſchließend, das noch viel blauer als der Himmel ijt, gleicht er einem jmaragdgrünen Becher, mit ſchäumendem Wein gefüllt, und am Nande und auf den Seiten mit Wein- laub und Ranfen geſchmückt. Zunächit dem Yande blinft das Meer in tiefſtem Azurblau, weiter hinaus ijt es weinfarben, wie jhon Homer es genannt hat, und darüber leuchtet ein Himmel, der nicht, wie man zu glauben pflegt, blauer, jondern eher bläffer als der unſrige ift, nur daß ſein Dlau gleichjam auf einem Grunde von hellem Feuer ruht, das in weißlicher und bläuliher Glut ſchimmert. In diefe Gegend verjetten die Alten ihre Hölle Su der Grotte des Avernusjees war der Hinabgang zu derjelben. Das nannten fie Hölle, dies Paradies! Sie meinten, der vulfanifche Urjprung und Die Umgebung zeigten an, daß der Tartaros nahe ſei. Ueberall die vulfanischen Formen. in großer Berg jieht aus, als wäre die eine Seite mit einem Meſſer abgejchnitten. Der halbe Berg ift bei einem Erdbeben herabgejtürzt. Kap Mifene, die äußerſte Landfpige, welche auf der einen Seite den Golf
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abjchließt, während vor ihr die fleine Halbinjel Nifiva, hinter ihr Procida und Ischia Tiegen, bejtand vormals nicht, wie jetst, aus zwei getrennten Anhöhen, fondern war ein Ganzes. Die beiden Krater des Veſuv entjtanden bei dem Ausbruche, welcher Pompejt verfchlang. Ueberall Fruchtbarkeit und Feuer. Wenige Schritte von Solfatara’s Schwefeldämpfen, die zwifchen dem Yavageröll auffteigen, liegen Felder, welche ganz aus leuchtenden voten Mohnblüten bejtehen, andere mit großen blauen Blumen, ftarf duftenden, vauhharigen Minzen und Kräutern, die einem bis an den Leib heraufgehen, ein Reichtum, eine Fruchtbarkeit und Ueppigfeit, als könnte die jtroßende Fülle in einer einzigen Nacht wieder emporjchießen, wenn man das Ganze abmähte. Und dazu fommt der betäubende Wohlgeruch: ein würziger Hauch, den man im Norden niemals fennt, eine ungeheure Eymphonie von den Düften Millionen verjchiedener Pflanzen.
Gegen Abend zieht Corinna's Gejellichaft nad) dem Kap Mifene hinaus. Man fchaut von dort nad) der großen Stadt hinüber, man hört gleichfam in dem dumpfen Lärm ihr Herze flopfen. Ueberall funfeln einem nach Sonnenuntergang Lichter vor Angen, auf den Spuren aller Wege liegen fie; quer über den Weg die Berghänge hinan hüpfen und fliegen die helfen Flammen in der Luft, manche größer als ein Thaler: oder Yweithalerftüc; die, welche höher oben umher fliegen, jehen ganz wie losgeriffene und bewegliche Sterne aus. AL diefe Flammen, welche in langen Sprüngen hin und ber ſchießen und eine Sekunde nach jedem Sprunge erlöjchen, find die Teuchtenden Inſekten des Südens. In der Dunkelheit verjegen diefe taufende von Flammen einen in die Märchen- welt von „Zaufend und eine Nacht”. Jenſeits leuchtet, vom Kap Mifene aus erblidt, der hochrote Yavaftrom an der dunklen Wand des Veſuvs hinab.
Hier bringt man Corinna ihre Leier, und fie bejingt zuerft die Pracht diefer Natur, die Größe der Erinnerungen, welche fih an diefelbe nüpfen, an Cumä, wo die Sibylle wohnte, an Gaeta, das dahinter liegt, wo Cicero unter dem Dolche des Tyrannen feine Seele aushauchte, an Capri umd
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Bajä, welche das Andenfen von Nero's Schredensthaten be- wahren, an Nifida, wo Brutus und Portia einander das fette 2ebewohl fagten, an Sorrent, wo Taſſo, dem Irren— hauſe entfchlüpft, elend, verfolgt, mit wüſtem Bart und zerriffenen Kleidern an die Thür feiner Schwejter klopfte, die ihn nicht fogleich wiedererfannte, und dann vor Thränen nicht reden fonnte. Hier endet fie mit eimer elegijchen Klage über alles Leid und alles Glück des Erdenlebens.
Und wollen wir hören, wie Corinna, wenn fie injpirtert ift, inmitten diefer Natur vedet, wo die Schönheit auf dem Berderben gebaut ift, wo das Glück ſich als eine fliegende, schnell erlofchene Flamme offenbart, und wo der Vulkan be— jtändig die Fruchtbarkeit bedroht?
Sie jagt: „Ehriftus erlaubte einem ſchwachen und viel leicht reuevollen Weibe, feine Füße mit den koſtbarſten Wohl— gerüchen zu falben; und denen, die für diefelben eine bejjere Verwendung anrieten, verwies er das: „Laßt fie gewähren“, fagte er, „denn ihr habt mich nicht allezeit bei euch“. Ach, alles was gut und erhaben ift auf diejer Erde, bleibt ung nur furze Zeit. Alter, Gebrechlichfeit und der Tod werden bald den Thautropfen verzehren, der vom Himmel fällt und nur auf Blumen haftet. Teurer Oswald, lafjen wir alles in einander jtrömen: Liebe, Neligion und Geift, Sonne und Blütenduft, Mufif und Poefie! ES giebt feinen anderen Atheismus, als die Kälte des Gefühls, als Selbitjucht und Niedrigfeit. Chriftus fagt: „Wo Zwei oder Drei in meinem Namen verfammelt find, da bin ich mitten unter ihnen." Und was, o mein Gott, heißt in Deinem Namen verfammelt fein denn anders, als die erhabene Güte Deiner Schönen Natur genießen, Dich dafür preifen, Div für das Leben danfen und vor allem danfen, wenn ein von Dir erjchaffenes Herz ganz und voll dem umfern entgegenjchlägt!”
So fpricht fie unter ihrer doppelten Inſpiration auf der Höhe ihres Lebens, indem fie das Glück des Genies und der Liebe in eins zu verweben fucht, wie die Miyrte und der Yor« beerzweig in dem Kranze verpflochten waren, der ihr auf dem Kapitol gereicht ward. Aber nur einen Augenblic gelingt es
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ihr, beide mit einander zu verflechten, fie ſchnellen zurüc, veißen jich von einander los und Corinna wird aus der begeijterten Sibylle in noch eines mehr der vielen verzweifelnden und ge- brochenen Herzen verwandelt, durch welche der Genius des Jahrhunderts wider eine Gefelfichaft protejtiert, die, wie jene anfcheinend fo ficheren Städte von vulfanischen Flammen unter: höhlt ift, Flammen, die niemals bejchwichtigt werden, fondern ji) unfer ganzes unruhiges und unglücliches Jahrhundert hindurch in einer Nevolution oder Eruption nach der anderen Luft machen.
Kampf gegen Nationalvorurteile, 189
Ir Kampf gegen nationale und proteftantifche Dorurteile,
Man könnte „Corinna“ ein Gedicht über Nationalvor- urteile nennen. Oswald repräfentiert alle diejenigen Englands, der Graf D’Erfeuil alle diejenigen Frankreichs, und gegen die Borurteile diefer beiden, zu jener Zeit jtärfjten und jelbit- bewußteften Nationen Europas fümpft Corinna mit ihrer ganzen Seele und mit aller Begeifterung ihres poetifchen Ge- mütes. Diefer Kampf ift ein faltblütiger, denn Corinnas ganzes Glück hängt davon ab, inwiefern es ihr gelingen wird, Dswald zum Aufgeben feiner angeborenen Vorurteile jo weit zu veranlaffen, daß er mit einem Weibe gleich ihr glücklich werden kann, deren Leben nach jeder Richtung mit dem in Fehde fteht, was man in England als das einzig Schieffiche für eine Frau betrachtet. Aber indem Corinna folchermaßen den Blid Oswald's zu erweitern und jeinen jtarren, bejtändig in die gewohnten Fugen zurüdipringenden Geift gejchmeidig zu machen jucht, bewerfitelligt fie zugleich die Erziehung des Leſers. Auf dem Gebiet der Gefühle fett fie diefelbe Arbeit fort, welche wir fie auf dem Gebiet der Ideen vollbringen fahen. Sie ffizziert den erjten Grundriß zu einer Raſſen— piychologie, fogar in Betreff der intimjten Gefühle Ihre Landsleute verjuchten damals, in der eitlen Ueberzeugung, daß fie allein die Zivilifation vepräfentierten, die Nationalfarbe alfer anderen Länder zu verwifchen. Es iſt ihr daher tiefit innerlich daran gelegen, ihnen zu zeigen, daß ihre Art umd Weiſe der Gefühlsauffaffung nur eine unter vielen gleichberechtig- ten umd zumeilen mehrberechtigten jet.
Wenn man fich erinnert, wie mächtig das Vorurteil iſt, welches in allen Ländern ohne Ausnahme es dem Individuum zum Verbrechen macht, feiner Nation den Inbegriff von Tugenden abzufprechen, den fie, wie jo und fo viele Fanonifierte Bolichinelle ihr tagtäglich zu eigenem Nuten vorjchwaten, be— fiten foll, jo wird man begreifen, welche Kühnheit Frau von
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Staël an den Tag legte, indem fie zu ſolchem Zeitpunkte den Kampf gegen die franzöfiche Nationaleitelfeit aufnahın.
Es giebt eine einzige große Idee, die am gefährlichiten von allen für die despotifche Macht ift, welche die feit- gewurzelten Anfchauungen und Gebräuche jeder einzelnen Ge— jellihaft ausüben. Es ift nicht die dee des Logifchen. Denn obſchon man glauben follte, daß die Logif, wenn man jie in das ganze Magazin von Vorurteilen herein ließe, die zu einer bejtimmten Zeit ein bejtimmtes Land regieren, unter ihnen eine eben jo große Berwültung anrichten müßte, wie ein Stier in einem Ölaswarenladen, jo wirft die abjolute Yogif doch ganz und gar nicht auf die Mehrzahl der Menſchen. Nein, mehr als alles andere weckt und verblüfft es die Menge, wenn man im Stande ift, dasjenige, was ihr abjolut fehten, velativ für fie zu machen, d. h. ihr nachzuweiſen, daß das Ideal, welches fie von allen anerfannt wähnt, nur von fo und jo vielen gleichgeitimmten Gemütern als deal betrachtet wird, während andere Völker oder Bolfsjtämme einen ganz ver: jchtedenen Begriff von dem Schielichen und Schönen haben. So erfährt die Menge zum erjten Mal, daß die Kunſt und Poefie, welche ihr mißfällt, bei ganzen Raſſen für die vor- züglichjte gilt, während ihre eigene, welche fie für die erſte der Welt hält, von allen anderen Volksſtämmen fehr niedrig ge— jtellt wird, und daß es endlich nichtS frommt, zu wähnen, daß alle anderen Bölfer in ihrem Urteil irrten, da eben alle anderen WVölfer, jedes für fi), wähnen, daß alle übrigen in ihrem Urteil irren. Sollte id) daher daS Verdienſt der Frau von Stael um die franzöfische Geſellſchaft, um ihre und da— mit zugleih um Europas Kultur und Litteratur, mit einem einzigen Worte bezeichnen, jo würde ich mich jo ausdrüden: fie machte, zumal in ihren beiden Hauptwerfen „Corinna“ und „Ueber Deutſchland“, Frankreichs, Englands, Deutjch- lands und Italiens humane und litterarifche Anfchauungen und Auffaffungsweifen relativ für die Bewohner der ver— Ichiedenen Länder.
Graf d'Erfeuil iſt ein meijterlich ausgeführter Typus alfer franzöfifchen Tugenden im Verein mit der ganzen natio=
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nalen Leichtfertigfeit und Hohlheit. Man verfteht eine jolche Gejtalt nicht früher zu würdigen, bis man wiederholt bedacht bat, welcher Mut erforderlich war, in einen Kreis von Aus— länder alS einzigen und entſchiedenen Nepräjentanten des franzöfifchen Volfes einen Charakter zu jtellen, deſſen Be— ichränftheit fo groß wie diejenige d'Erfeuil's ijt. Erfeuil it ein junger franzöfijcher Emigrant, der im Kriege mit glänzender Zapferfeit gefämpft, der die Einziehung feines Vermögens durh den Staat nicht nur mit Gemütsruhe, jondern mit leichtem und beiterem Sinne ertragen und mit jeltener Auf- opferung feinen Erzieher, einen alten Onfel gepflegt und er- nährt hat, der wie er emigriert und ohne ihu hilflos fein würde — der, mit einem Worte, einen Fond von NRitterlichkeit und die Fähigkeit zur Selbjtaufopferung bejist. Wenn man ihn jieht, will man jedoch faum glauben, daß er joviel erlebt und ausgejtanden hat, denn er jcheint fürmlich alles frühere Ungemach vergeffen zu haben, wie er auch mit bewunderungs- würdigem Leichtjinn von dem widerfahrenen Mißgejchie Spricht, mit ebenjfo großen, jedoch weniger bewunderungsmwürdigem Leihtfinn auch über alle anderen Gegenjtände.
Dswald trifft ihn in Deutjchland, wo er fich bald zu Tode langweilt; ev hat dort mehrere Jahre gelebt, doch iſt es ihm nie eingefallen, ein Wort Deutſch zu lernen. Er beabjichtigt nach Italien zu reifen, macht jich jedoch gar feine Erwartungen von dem Vergnügen, das ihm Ddiejes Yand bieten könne; er weiß, daß jede franzöfiiche Provinzialjtadt ein angenehmeres Geſellſchaftsleben und ein bejjeres Theater als Nom hat. „Iſt es nicht ihre Abſicht, Italieniſch zu lernen? fragt ihn Dswald. „Nein,“ antwortet er, „das liegt nicht in meinem Studienplan, und jeine Miene ift dabei jo ernjt, als jet diejer Beihluß ein Ergebnis der allergewichtigiten Beweggründe. Er wiirdigt dann auch fpäter die italienische Natur feines Blides. Weder um Gegenjtände noch um Gefühle dreht ji jein Geſpräch. Es jchwebt zwijchen Grübelet und Anſchauung wie zwifchen zwei Polen, die es nicht berührt, und nur die gejellfchaftlihen Berhältniffe, der Stadtklatſch, liefern deſſen Stoffe. Erfeuil's fonderbares Gemiſch von Oberflächlichkeit
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und Mut jest Oswald in Verwunderung. Defjen Gering- ihätung des Unglüds und der Gefahren, würde ihm groß erjchienen fein, wenn fie jenem mehr Anftvengung gefoftet hätte, und heldenmütig, wenn fie nicht denjelben Eigenjchaften ent- ſprungen wäre, die jenen außer Stande jeten, irgend ein tiefes Gefühl zu hegen. Jetzt ermüdet fie ihn nur.
Als Erfeuil zum erjten Mal die Petersfirche in der Ferne erblict, vergleicht er jie mit dem Invaliden-Dom in Paris — ein unftreitig mehr patriotifcher als treffender Ver: gleich; als er Corinna auf dem Kapitol erblict, fühlt er Luft, fie fennen zu lernen, doch feine Ehrerbietung. Er wundert fich nicht über die Jungfräulichkeit ihres Herzens in einem Lande, wo er die Männer ohne fittlichen Wert findet, er fann aber nicht umterlafjen, fi mit der Hoffnung zu ichmeicheln, daß fie der Galanterie eines jungen feinen Franzoſen nicht würde widerftehen fünnen. Als fie in feiner Gegenwart mit anderen Italieniſch umd Englisch fpricht, fo daß er von dem Geſpräch fein Wort verfteht, nähert er fich ihr mit den Worten: „Sprechen Sie doch Franzöfiih, Ste können es ja und Sie find würdig, diefe Sprache zu ſprechen.“
Er merkt, daß Corinna Dswald Tiebt und nimmt ihr dies nicht übel, obſchon feine Eitelfeit etwas verlett ift und er ihre Leidenſchaft thöricht findet, da fie ihr faum Glück bringen wird. Aber zugleich vatet er Oswald auf das Bejtimmtefte davon ab, eine Verbindung fürs Leben mit einer unrepräſen— tabelen Frau wie Corinna zu fchließen. Trotz all’ feiner Kühn- heit fennt er feinen höheren Nichter als die Konvenienz. „Wenn Sie," jagt er zu Oswald, Thorbeiten begehen wollen, jo begehen Sie wenigftens feine umwiderruflichen, und zu diefen rechnet er eine Che mit Corinna. Diejer ſozialen An— ſchauungsweiſe entjpricht feine Kitterarifche. In Corinnas Haus fällt das Gefpräh oft auf italienische und englifche Poefie. Da er der Meinung tft, daß die franzöfischen Schriftitelfer aus der Zeit Ludwigs XV. unbedingte Mufter find, fo tft er natur— gemäß äußerſt ftreng gegen alle ausfändifchen Erzeugniſſe. Für ihn find die Deutjchen Barbaren, die Italiener Stil- verderber und nur „der Geſchmack und die Eleganz des fran-
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zöſiſchen Stils“ find in der Litteratur maßgebend. „Unſer Theater“, jagt er, „ijt entjchteden das erjte in Europa, und ich bin überzeugt, ſelbſt die Engländer denfen nicht daran, Shafejpeare gegen uns aufzuftellen“. In einem Seife von „stalienern bejchränft er die italieniſchen Schaufpiele, zwar nicht ohne Wit, doch ohne Feingefühl, auf Ballette, tragijche Ge- ihmacdlofigfeiten und wenig komiſche Harlefinaden; das griechijche Theater findet er unfein, Shafespeare ungeheuerlich. „Unjer Theater", jagt er, „it ein Vorbild des Geſchmackes und der Formſchönheit; ausländiiche Anfchauungen bei uns einführen zu wollen, heißt joviel, als ung in Barbarei ftürzen“.
Erfeuil findet dann auch, daß von Roms Ruinen ein ganz übertriebener Ruhm ausgegangen jei. Er will fich dem Srohndienjte nicht unterziehen, all’ diefe alten Trümmer zu befichtigen. Er reift nordwärts, langmeilt fich in der Alpen- natur, wie er fich in Nom gelangweilt hat und fommt jchließlich nad England, wo er Corinna’s Beijtand im Unglüd wird; e8 war ja ſtets mehr Ernjt in feinen Handlungen als in jeinen Worten. Und doch vermag er, alS er fieht wie elend ihre Liebe zu Oswald fie gemacht hat, feiner Eitelfeit die Be— friedigung nicht verjagen, fein „Was jagte ich!" bejtändig zu variieren, da er es gewifjermaßen als eine Pflicht gegen ſich jelbjt betrachtet, die Gelegenheit, fich als Oswald's Nachfolger anzubieten, nicht worbeigehen zu laſſen. Und dennoch erweiſt er Corinna eine wahre und aufopfernde Hingabe, und fie quält fich jelbjt damit, ihm dafür feine rechte Dankbarkeit zeigen zu fünnen; aber es liegt in jeinem Blick ſolche Zer— jtreutheit, daß Corinna unaufhörlich zum Vergeſſen feiner edlen Handlungen verführt wird, wie auch er fie vergißt. „Es iſt,“ jagt die Verfafferin bei diefer Beranlafjung, „ohne Zweifel vecht ſchön, nur geringen Wert auf feine eigenen guten Handlungen zu legen; aber es fann doch gejchehen, daß die Sfeichgültigfeit, welche gewiſſe Menjchen gegen das Gute, das fie gethan haben, empfinden, nichtsdejtoweniger von ihrer Oberflächlichkeit herrührt.“ Mit ſolch' rückſichtsloſer Energie leitet ſie einige der glänzendſten Eigenſchaften ihrer Landsleute aus Schwächen in ihrer Natur ab.
Brandes, Hauptſtrömungen. I. Emigrantenlitteratur. 13
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Durch den typifchen Charakter d'Erfeuil's weist fie nach, wie alle guten Gefühle in Frankreich von einer franfhaften Schwäche infiziert werden, von der aus Eitelfeit entiprungenen Furcht vor dem Urteile der Gefellichaft. Alle Gefühle und das ganze Leben werden vom Wite, von der Luft, ſich aus— zuzeichnen, und von der Furcht vegiert, welche jich durch die Trage Ffennzeichnen läßt: „Was wird man dazu jagen?“ In diefem Punkte ftimmt Frau von Stael vollitändig mit einem ihr bald nachfolgenden Schriftiteller, dem ſcharfſinnigen und originellen Henri Beyle, überein, welcher die Franzoſen als die Pebhaft-Eitlen (les vainvifs) zu bezeichnen pflegt, und welcher behauptet, all’ ihre Handlungen würden durch die Erwägung des „Qu’en dira-t-on?“, d. h. durch die Furcht vor der Lächerlichkeit, beſtimmt.
Das franzöſiſche Volk war nämlich damals, wie das däniſche noch jetzt, gewohnt, ſehr ſtolz auf ſeinen ausgebil deten Sinn für das Komische zu fein, jo jtolz, daß namentlich Fraft dejjen die Franzoſen fich bejcheidentlich ſelbſt als das geiit- reichte Volk der Welt bezeichnen. Corinna behauptet, es fei diefer Sinn, und die entjprechende Zurcht vor der Yächerlichkeit, was in Frankreich alle Originalität in Sitten, Trachten und Sprade ertöte, was die Phantafie jeder Freiheit und das Gefühl jeder natürlichen Kundgebung bevanbe Alles an— geborene Gefühl, aller angeborene Geift verwandle fich in Epigramme, ftatt in Poefie, in den Ländern, wo die Furcht, ein Gegenjtand des Wites oder Spottes zu werden, jeden veranlaffe, jeldjt zuerit nach diefer Waffe zu greifen. „Soll man,” wendet fie d'Erfeuil gegenüber ein, „venn bejtändig für das leben, was die Gefellichaft über einen fagt? Soll das, was man denft, und das, was man fühlt, einem denn nie der Leitjtern fein? Wäre es fo, follten wir immer und ewig einander gegenjeitig nachahmen, weshalb ift denn jedem eine Seele und ein Geift zu Teil geworden? Die Vorſehung hätte jich dann diefen Luxus eriparen fönnen.“
Und wie num Erfenil als ein Inbegriff der nationalen Borurteile Frankreichs da fteht, jo Oswald als ein Typus all jener Vorurteile, welche Jahrhunderte hindurch Englands
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Stärke und Schwäche ausgemacht haben. Starfe Nationen find immer ungerecht, und diefe Ungerechtigkeit ift zugleich ein Element der Stärfe und deren Begrenzung; aber Fran von Stael faßte es als ihre Aufgabe auf, diefe Umgerechtigfeit in das hellſte Licht zu ſtellen.
Da das Grumdthema des Buches der VBerfuch einer Frau it, fich durch die Liebe eines Mannes einen geficherten Platz in der englischen Gefellfchaft zu erfämpfen, nachdem fie durch jelbjtändiges, öffentliches Auftreten dieſen Plat verjcherzt hat, muß der Schwerpunkt in der Schilderung des englischen Geiſtes nach Auffaffung der Berfafferin in dem befchränften englijchen Srauentdeal beruhen. Mit diefem deal ift Oswald jedoch aufgewachfen, und, um fich davon zu befreien, macht er aufrichtige, aber fruchtlofe Anftvengungen.
Nichts gleicht feiner erjten Verdutztheit, als er Corinna, ohne die geringite Rückſicht auf ihr Geſchlecht oder ihre rätjel- bafte Vergangenheit, in Italien als Genie geliebt und be— wundert werden fieht. Dieje Art öffentlicher Exiſtenz erſcheint ihm für eine Frau im böchiten Grade anjtößig (shocking). Er ift gewohnt, das Weib wie eine Art höheres Haustier zu betradhten, und vermag fich anfangs gar nicht mit dem Ge— danfen zu verjühnen, daß man einer Frau das DBerbrechen, Genie zu bejiten, verzeihen könnte. Er fühlt ſich dadurch) gleichfam gedemütigt und verleßt, fein Hochmut begreift, dal man die eigentliche abjolute Anbetung des Mannes, welche für eimen rechten Engländer als höchſte Tugend der Gattin gilt, und welche die eheliche Sorglofigfeit jichert, von einen jo freien Geifte jchwerlich erwarten kann. Und als jie ihn dennoch liebt und mit einer Leidenschaft Liebt, im Vergleich zu welcher alles erblaßt, was er jemals gejehen und gehört bat, und welche jo uneigennütig tft, daß diejelbe fie alles um jeinet- willen aufs Spiel fegen läßt, ohne das Mindeſte zu fordern, da vergißt er fie, ihr Genie, ihren Seelenadel und ihre getitige Größe, fo bald er wieder auf englifhem Boden jteht, von Neuem englische Nebel und Vorurteile einatinet und ein junges unjchuldiges Kind von fechzehn Jahren trifft, das wie zu einer Gattin nach englischen Rezepte gejchaffen iſt, zugeknöpft, un—
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wiſſend, unfchuldig, ſchweigſam, die infarnierte Familienpflicht mit blauen Augen und blondem Haar.
Die Berfafferin jtudiert das Vorurteil, welches Oswald's Handlungsweife zu Grunde liegt, bis zu dejjen Quelle und führt fie auf die englische Auffafjung des Hauſes zurüd. Oswald's hauptfächlichites Bedenken Corinna gegenüber ift in dem, im Nomane angeführten engliſchen Sate ausgedrüdt: Was follte man mit jolch einer in einem Haufe beginnen! „Das Haus iſt bei uns alles — wenigſtens für die Frauen,“ jagt ein Engländer zu Oswald. Und an einer anderen Stelle jagt die Berfafferin: „ES ijt vergebens, daß ſich ein Engländer einen Augenblick bemüht, Gefallen an fremden Sitten zu finden; jein Herz fehrt ſtets zu jeinen Kindheitseindrücken zurück. Wenn man Engländer, die man auf einem Schiffe in irgend einem fernen Meere trifft, fragt, wo fie hinreifen, jo ant— worten fie, wenn fie überhaupt auf dem Rückwege jind: nad Haufe (home)*). Und fie leitet nun den Aberglauben, daß die häuslichen Tugenden durch die felbftändige geiftige Ent— wicelung der Frau unmöglich) gemacht würden, ſowie die ganze Abgötterei mit diefen Tugenden von jener englijchen Yiebe zum Heim ab. Sie hat ficherlich hierin recht.
Das Ideal von Wohlbefinden, das an den Begriff „Heimſtätte“ gebunden ijt, iſt eim echt nordiſch-germaniſcher Begriff, und urjprünglich den romanischen Völkern jo fremd, daß die englifche Benennung „home“ als Bezeichnungswort in die romanischen Sprachen übergegangen ift, weiche jelbjt fein entjprechendes Wort dafür bejigen. Der Heimftätte ent— ipricht der Begriff „Behaglichkeit“, eim in den vomanijchen Sprachen unüberjebares Wort, das jeinen Urfprung in der Freude darüber hat, geſchützt und traulich innerhalb feiner vier Wände fißen zu fünnen. Der Entjtehungsgrund diejes “deals ijt leicht genug zu entdeden: der Nordeuropäer, welcher unter rauhen klimatiſchen Verhältniſſen in einer falten und ſtürmiſchen Natur lebt, findet diefelbe Freude daran, warn am Herde zu jigen, während Regen und Schnee an die wohlgefchloffenen
*) „Corinna“. 1807. -I. pag. 291. IL pag. 21.
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Fenſterſcheiben jchlagen, welche ein Neapolitaner an dem Ge- danfen findet, unter offenem Himmel, d. h. unter dem hehren und prächtigen Sternenhimmel zu fchlafen und die fühle Nacht unter Tanz, Spiel und Gefang im Freien zu verbringen.
Aber jest tritt die intereffante Erjcheinung hervor, daß eine Nation ſich nicht damit begniügt, folchergeitalt ihr deal von menjchlichem Dafein, Wohlbefinden und Glück als ein rein lofales zu bilden, jondern hieraus einen ganzen großen Inbegriff von Pflichten und Tugenden ableitet, welche fie als allgemeingültig betrachtet, fie hält fich ſelbſt fiir die erjte Nation, weil fie diefe Pflichten erfüllt und diefe Tugenden be- jigt — was natürlich genug ift, da fie von ihren befonderen Eigentümtlichfeiten abgeleitet find, — und fie tadelt außerdem alle Nationen, bet welchen fie fehlen. „Wie“, fragt Oswald Corinna, al3 er von England fpricht, „wie haben Sie jenes Heiligtum der Keufchheit und Sittlichfeit verlaffen und dies gejunfene Land zu Ihrem Adoptivvaterlande machen können ?“ Corinna anmortet: „In diefem Lande find wir bejcheiden, weder jtolz auf uns jelbjt wie die Engländer, noch jelbjtver- gnügt wie die Franzoſen“. Sie freut fich aljo, den nordijchen Puritanerhochmut ſowohl, wie die franzöfische Eitelfeit und Lächerlichfeitsfurcht durch die ungejchminfte Natürlichkeit zur be= ihämen, welche das italienische Volk jelbft in feiner Erniedrigung bewahrt hat. Sie zeichnet mit feinen und wahren Zügen die rührende Naivetät, mit welcher das Gefühl fich in Italien fund giebt: feine fteife Zurückhaltung wie in England, feine Kofetterie wie in Frankreich. Das Weib will hier nur dem, welchen fie Tiebt, gefallen und macht fich nichts daraus, ob die ganze Welt e8 erfährt. Einer der Freunde Corinnas fehrt nach längerer Abwejenheit nach Rom zurück und läßt fich bei einer vornehmen Dame melden. Der Diener fommt heraus mit der Erwiderung: „Die Fürftin kann Sie jett nicht empfangen, fie iſt bei fchlechter Yaune, fie ijt inamorata“, zu Deutſch: „Nie ijt verliebt.“ Korinna zeigt, wie ſchonend, wie edel das Weib in Italien beurteilt wird, und wie es jelbjt in der Galanterie eine gewiffe Unfchuld bewahrt. Ein armes Mädchen diftiert auf öffentlicher Straße einen Brief an ihren Geliebten,
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und der Schreiber fehreibt ihn mit dem größten Ernſie, jedoch nie ohne aus eigenem Antrieb all’ jene offiziellen Flosfeln hinzuzufügen, deren Kenntnis jein Beruf mit jich bringt. Der arme Soldat oder Arbeiter empfängt jolchermaßen einen Brief, in welchem viele zärtliche Yiebesbeteuerungen von Ausdrücken wie „Hochgeehrter Seitgenpije: und Achtungsvoll Ihre ehr- erbietige” ꝛc. umrahmt find. Corinna's Schilderung ijt hier vollfommen wahr. Ich habe zufällig ſelbſt derartige Briefe gejehen. Und auf der anderen Geite ift Gelehrjamfeit bei den italienischen Frauen nichts Ungewöhnliches. Ein Franzose, der eine fenntnisreiche Frau eine Pedantin nennt, erhalt in dem Buche die Antwort: „Was ift Böſes dabei, daß eine Fran Griechiſch verſteht?“
Es fehlt denn auch Corinna nicht der Blick dafür, daß das offizielle Hervorheben von Pflicht und Moral im Norden hinſichtlich aller Fälle, wo das Geſellſchaftsgeſetz einmal durch— brochen iſt, auf der größten Rohheit baſiert. Sie weiſt nach, wie der Mann in England kein Verſprechen und kein Ver— hältnis achtet, das nicht als ſtaatsrechtlich zu Protokoll ge— nommen iſt, und wie in dem ſittenſtrengen England mit der Heiligfeitt der Ehe, mit dem untadelhaften Leben in der Häuslichkeit die ſchamloſeſte und viehiſchſte Proſtitution Hand in Hand geht, gleichwie der perſönliche Teufel dem perſönlichen Gott entſpricht. Im Gegenſatze hiezu bemerkt fie mit weib— licher Behutſamkeit und Schamhaftigkeit: „Die häuslichen Tugenden machen in England den Ruhm und das Glück der Frauen aus; aber wenn es Länder giebt, in welchen man Liebe außerhalb der heiligen Bande der Ehe antrifft, ſo ge— hört zu dieſen Ländern das, wo man am meiſten Rückſicht auf das Glück des Weibes nimmt: Italien. Die Männer haben ſich dort eine Art Moral für die Verhältniſſe gebildet, welche eigentlich außerhalb der Moral fallen, ein Tribunal des Herzens.“ Es iſt jenes Tribunal, welches durch die Liebeshöfe des Mittelalters Rechtskraft erhielt, es iſt dasſelbe, welches Byron ſo ſehr frappiert, als er in Italien ein dem engliſchen durchaus entgegengeſetztes, im übrigen aber voll— ſtändig ausgebildetes Moralſyſtem findet. Und, wie immer
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jucht fie auch hier dieſe milderen Sitten auf die milden flima- tiſchen DBerhältniffe des Landes zurück zu führen. Sie wagt zu jagen: „Die Verivrungen des Herzens flößen hiev mehr, als anderswo, ein nachjichtiges Mitgefühl ein. Sprach Jeſus nicht zu Magdalena: „Ihr wird viel vergeben werden, denn fie hat viel geliebt"? Diefe Worte wurden einft unter einem ebenfo jchönen Himmel wie dem unfern gejprochen, demfelben Himmel, der uns, wie damals, das göttliche Erbarmen verheißt!“
Selbſt Proteſtantin, lehrt Frau von Stael alſo ihre Glaubensgenoſſen den italieniſchen Katholizismus verſtehen: „Da der Katholizismus hier keine andere Religion zu be— kämpfen hatte, hat er einen Charakter der Sanftmut und Nachſicht wie nirgendwo anders erhalten, während dagegen der Protejtantismus in England, um den Katholizismus dort zu vernichten, ſich mit der größten Strenge in Grundſätzen und Moral hat wappnen müfjen. Unfere Religion vermag, gleich der antiken, die Künftler zu befeelen, die Dichter zu injpivieren, und bildet, fo zu jagen einen Teil al’ unſrer Lebensgenüffe, während die eurige, indem fie fich einem Lande einordnete, wo der Verſtand eine viel größere Nolle als die Einbildungskraft fpielt, einen Charakter moralifcher Strenge angenommen hat, den fie jtetS behalten wird. Die unſre Ipricht im Namen der Liebe, die eure im Namen der Pflicht. Obſchon unfere Dogmen abjolut find, find unfere Grundſätze (tberal, und unſere abjoluten Dogmen paffen ſich den Um- jtänden des Lebens an, während eure religiöfe Freiheit ohne irgend eine Ausnahme ihren Geſetzen Achtung erzwingt.“ Sie zeigt, wie man daher in den proteftantijchen Ländern eine be— jtändige Furcht vor dem Genie, vor der Ueberlegenheit des Geiftes hegt. „Man thut das mit Unrecht”, bemerkt fie, „denn dieſe Heberlegenheit ijt ihrem Wefen nach äußerſt fittlich. Alles zu verftehen, macht jehr nachjichtsvoll, und aus tiefer Empfin- dungskraft geht große Güte hervor.”
„Weshalb ift das Genie ein Unglüd? Weshalb hat es mich verhindert, geliebt zu werden? Wird Oswald bei einer anderen mehr Geift, mehr VBerftändnis, mehr Zärtlichkeit finden,
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als bei wir? Mein, er wird weniger finden und zufrieden jein, denn er wird fich in Uebereinftimmung mit der Gejell- ihaft wiſſen. Welche lügneriſche Freuden, welche eingebilvete Leiden fie uns giebt! Im Angefichte der Sonne und des Sternenhimmels empfindet man nur den Drang, zu lieben und fich einander wert zu fühlen. Aber die Gejellichaft, die Geſellſchaft! Wie fie das Herz verhärtet und den Geijt leicht- fertig macht! Wie fie nur auf das hinleben läßt, was man uns nachreden fünnte! Wie rein und leicht fünnten wir atmen, wenn die Meenjchen fich eines Tages begegneten, jeder von dem Drude befreit, den alle auf den einzelnen üben! Mie viel’ wahre Gefühle würden ihnen dann erfrifchend zu— ſtrömen! — „Empfange denn meinen letten Gruß, o mein Baterland!* ruft Corinna in ihrem Schwanengefange zu Nom’s Ehren aus, und man fühlt die Bitterfeit und das Selbſt— gefühl der DVerbannten Napoleon gegenüber in folgenden Worten: „Du freigebiges Volf, das mir den Ruhm vergünnte, aus dejien Tempeln Du die Frauen nicht verbannt, das die unfterbliche Begabung nicht einer vorübergehenden Eiferjucht opfert, das dem Aufſchwunge des Genius jtetS jeinen Beifall ichenft, des Genius, der ein Sieger ift ohne Ueberwundene, ein Eroberer ohne Beute, der aus der Ewigkeit jchöpft, um das Zeitliche zur bereichern!“
Auf der Bafis diefes Grundriffes von Gegenfägen zwifchen dem Fatholifchen und dem proteftantifchen Gefühls- leben erhebt fich der Gegenſatz zwijchen einer zwiefachen Kunft- anſchauung. Und auf diefem Punkte ift die Bedeutung des Buches die, einen energijchen Streich) wider den ganzen proteſtantiſchen Hohmut und den künſtleriſchen Unverſtand zu führen, welche Oswald repräfentiert, bei dem jeder Bluts- tropfen von englifcher Nationalbornirtheit durchdrungen ilt.
Inmitten diefes plaftischen und mufifalifchen Volkes, das jo gutmütig, fo kindlich unbefümmert um feine Würde und jo unmoralifch tim englischen Sinne des Wortes ift, fühlt er, der jo gewohnt ift, die Bedeutung des Lebens in die Er- füllung eines gewiffen Inſelbegriffs von Pflichten umd Schicklichkeitsregeln zu ſetzen, fich völlig deplaziert. Ihm fehlt
Artiftiiche Betrachtung der Kunſt. 201
jeder artiſtiſche Sinn; er legt bald einen litterariſchen, bald einen fittlichen, bald einen religiöfen Maßitab an die Kunſt, fühlt fich überall abgejtoßen, und fann nichts verftehen. Er bemerkt einige Basreliefs an den Thüren der Peterskirche. Was gleicht feiner Verwunderung, als er jieht, daß fie Szenen aus Ovid's Metamorphojen darftellen! Das iſt ja das veine Heidentum! Corinna führt ihn in das Roloffeum, und fein einziger Eindrud iſt, wie der Dehlenjchläger’s, das Gefühl, auf einer ungeheuren Richtitätte zur ftehen, umd die fittliche Entrüftung über die Unthaten, welche hier gegen die erſten Chrijten verübt wurden. Er tritt im die ſixtiniſche Kapelfe, und, durchaus unerfahren in der Gejchichte der Kunſt, ift er im höchſten Grade empört, zu jehen, daß Michel Angelo fich erdreijtet hat, Gott Vater in eigner Perſon mit einem bejtimmt begrenzten menfchlichen Körper zu malen, als wäre es ein Jupiter oder ein Zeus. Er nimmt gleichfalls Aergernis daran, daß er in Michel Angelo’S Propheten und Sibyllen nichts von dem demütigen chriitlichen Geiſte findet, den er in einer hrijtlichen Kapelle zu finden erwartet.
Jeder diefer verjchtedenen Züge ift dem Leben abgelaujcht. Stalien iſt, wie die jüdlichen Yänder Europas überhaupt, eine Stätte, welche eine artiftiiche oder, wie man in Dänemark zu jagen pflegt, eine äjthetifche Dispofition bei dem Beſucher vorausſetzt. Man pflegt das menjchliche Leben in drei ver- ichiedene Sphären einzuteilen, in die praftijche, die theoretijche und die äfthetiihe. Die praftiihe Betrachtung des Waldes ijt die, ob die Gegend gejund jei, oder die forſtmäßige, welche den Wert an Brennholz tariert; die theoretifche iſt Die des Botanifers, welche den Charakter der Vegetation wifjenichaftlich jtudiert, die äſthetiſche oder artiftiiche endlich iſt die, welche nur ein Auge dafür hat, wie der Wald ſich ausnimmt. Diejer fette Sinn geht Oswald gänzli ab. Er hat feine Augen, jein Verſtand und feine Moral haben feine Sinne aller Friſche beraubt. Deshalb vermag er nicht den Inhalt über der Form zu vergejjen, deshalb erwect die Arena des Koloſſeums ihm feinen anderen Gedanfen, als die praftiich-moraliiche Erinnerung an all das Blut, das hier unvechtmäßig vergojjen
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ward. In Corinna’S Hervorheben der entgegengejetten Be— trachtungsart jpüren wir den Einfluß Deutjchlands, befonders die Einwirfung A. W. Schlegel’, den erjten Hauch des erwachenden romantiſchen Geiſtes in Deutjchland. Denn was die Romantik, wie verjchiedenartig jie auch in den ver- ichiedenen Ländern aufgefaßt wurde, volljtändig betont, iſt der Sab, daß das Schöne nur jich felbjt zum Ziele habe oder, wie man in Deutjchland ſagte, „Selbſtzweck“ fei, ein Gedanke, den man aus Kant's „Kritif der Urteilsfraft entnimmt, eine Beſtimmung der Schönheit welche jet als Aufgabe der Kunft erfaßt wird. Im Franzöſiſchen wird dies durch die Formel „lart pour Yart“ ausgedrückt, und im Dänifchen jehen wir diefe Anſchauung zum erſten Mal in Oehlenſchläger's Gedichten hevvortreten, 3. B. in „Die Poeſie verteidigt fi” oder in dem Gedichte „Morgenwanderung“ in der Reiſe auf Lange— land.“
Aber nicht die Kunft allein, ſondern auch die Bevölferung und das Leben in Stalien muß man, um fie zu verftehen, und nach ihrem richtigen Werte zu jchägen, mit artiſtiſchem Auge betrachten. Nichts ift gewöhnlicher, als im Süden Eng— länder, Deutjche oder Franzofen zu treffen, welche von ihrem nationalen Gefichtspunfte aus alles tadeln. Die Deutjchen finden, daß den Frauen die jchambafte Schüchternheit, das Sungfränliche fehle, das fie gewohnt find, als Schönheitsideal zu betrachten. Die Engländer fühlen ſich durch den Mangel an Neinlichfeitt und Ordnung zurücgeftoßen, die Franzofen durch die Dürftigfeit der Konverfatton und durd die fchlechte Proſa.
Corinna weiſt darauf hin, daß die weibliche Schönheit, welche in Italien nicht von einer moraliſchen, ſondern von einer plaſtiſchen und maleriſchen Art iſt, ein Auge erfordere, das für Farbe und Form empfänglich und nicht durch Bücher— lektüre geſchwächt ſei. Sie ſtellt die italieniſche Improviſation in Gegenſatz zu der franzöſiſchen Konverſation und findet in derjelben ein Aequivalent.
Ein verjtändiges Volk, wie die Engländer, fultiviert das Gejchäftsleben und das praftiiche Leben, eine gefühlvolle
Artiſtiſche Betrachtung der Kunft. 203
Nation, wie die deutjche, pflegt die Mufik, ein geijtvoller Volks— ſtamm, wie der franzöfiiche, konverſiert, d. h. befommt feine Einfälle durch Unterhaltung und gejelliges Leben mit andern, ein phantafievolles Volk, wie die Italiener endlich, improvifiert, d.h. jteigert naturgemäß die gewöhnlichen Gefühle zur Boefie. Corinna jagt: „Ich fühle mich als Dichterin, jo bald mein Geijt ſich erhebt, jo bald er in noch höherem Grade, als jonft, Eigenliebe und Niedrigfeit verachtet, furz, jo bald ich empfinde, daß eine jchöne Handlung mir jett leicht fein würde ; dann geraten meine Verſe am beiten. Ich bin Dichterin, wenn ich bewundere, wenn ich verachte, wenn ich haſſe, nicht aus perjünlichen Urfachen, jondern um der ganzen Menſchheit willen.“ Und ſie begnügt fich nicht damit, den leichten Nachtigallengejang in Schuß zu nehmen, welcher das aus: macht, was die Italiener unter Iyrifcher Dichtung verjtehen. Sie erklärt das übertriebene Gewicht, welches die italienijche Proja auf die Form und auf den ganzen vhetorijchen Prunf legt. Einmal liebe man überhaupt die Form im Süden, jo- danı ſei e8 natürlich, da man unter eimem geijtlichen Regi— ment jchreibe, welches jede ernjte Behandlung irgend eines Stoffes verbiete, da man aljo gewiß jet, durch jeine Schriften feinen Einfluß auf den Gang der Dinge üben zu fünnen, daß man — um ſeine Gewohnheit als Schriftſteller an den Tag zu legen, um mit ſeinen ſchönen Perioden zu glänzen, und daß der Weg ſchon das Ziel werde.
Der zweite Umſtand, durch welchen ſich Oswald verletzt fühlte, war Michel Angelo's Darſtellung der Gottheit und der Propheten in der ſixtiniſchen Kapelle
Er findet nicht in Jehovah's kraftvoller Männergeftalt die unfihtbare, vein geiftige Macht, zu welcher der nordiſche Proteftantismus den leidenjchaftlichen Nationalgott der alten Aſiaten umgewandelt hat; und wo findet man wohl in all diefen ftolzen Männer und Frauengeftalten, mit denen Michel Angelo in jeiner prometheifchen Luft, „Menfchen zu formen“, die Dede bevölkert hat, wo findet man im diejen ea begeifterten, verzweifelten und kämpfenden Gejtalten die Demut, die Sanftmut, welche er anzutreffen erwartete! Corinna erteilt
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hier ihren Landsleuten eine Lektion, die nach fo vielen Jahren auch außerhalb Frankreichs, ganz befonders außerhalb Frank— reichs, not thun fann, zumal in Ländern wie den mordijchen, wo fo viel Eindifches Geſchwätz über chrijtliche Kunſt und chriftliche Aefthetif zu Markte gebracht worden ift.
Der Leidenschaftliche und gewaltfame Angriff, den Sören Kierfegaard in feiner legten Periode wider die jogenannte chrift- liche Runft richtete, war für einen Mann, dem, wie Kierfegaard, jede Fünftlerifche Bildung abging, natürlich; er fchiebt beitändig den Malern der Renaiſſancezeit feine protejtantijche, ja jeine individuelle Neligionsauffaffung unter, und nimmt dann An— jtoß daran, daß fie, mit diejer Auffaffung im Hintergrunde ihres Bemwußtjeins, jo malen fönnen, wie fie es thun. Er weiß, wie Oswald, nicht, daß die Maler der Nenatfjfancezeit in einem andern Verhältnis zu ihren Stoffen jtehen, als die heutigen, daß, während der Maler unjerer Zeit in jeinen Gegenftand einzudringen und ihn als Archäolog, als Piycholog oder als Ethnograph zu ftudieren ſucht, dev Maler ver Nenaiffancezeit feinen Stoff hinnahm, wie ev ihm vorlag, und daraus machte, was er Luſt hatte, daraus zu machen, d. h. was mit feiner felbjtändigen und originellen Individualität übereinftimmte. Hierin liegt die Erklärung deſſen, was bei den alten Meiftern den nordifchen Beſchauer jo ſtark ver- wundert und verlegt. Denn gerade wie eine geringe Zahl von Stoffen, die aus der Ilias und der Odyſſee entnommen waren, die ganze griechiiche Bildhauerfunft, Malerei und dramatische Kunſt mit Vorwürfen verfah (es iſt immer diejelbe Gejhichte von Helena und Paris, von Atrens und Thyeſtes oder don Iphigenia und Dreft), jo fette auch ein Dutzend von Sujet8 aus dem alten und dem neuen Tejtamente (dev Siündenfall, Loth und feine Töchter, Chrifti Geburt, die Flucht nach Aegypten, die Bafjionsgejchichte) Dreihundert Jahre hin- durch alle Meißel und Pinfel taliens in Bewegung. Nur diefe Gegenftände werden bejtellt, nur im ihnen iſt in der eigentlich ftrengen Zeit das Studium des Nackten geftattet.
Und während nun die Entwicdelung fortichreitet, bleiben die Stoffe diefelben. Der fromme und naive Glaube der
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alten Zeit wird von dem begeijterten Humanismus und dem freudig aufblühenden Heidentume der Nenaifjancezeit abgelöft; aber noch immer malt man Madonnen und Magdalenen, nur mit dem Unterjchtede, daß die jteife Himmelsfönigin des byzantiniichen Zeitalters in ein tdealifiertes Bauernfind von Albano, oder daß Andrea del Verrocchio's jchredhaft abgezehrte, fumpenbehangene, jchluchzende und fpindeldürre Magdalena in Correggio's üppiges und gejundes, lächelndes und ver- führerifches Mädchen verwandelt wird, deſſen vorgebliche Neue noch) als SKofetterie exjcheint, oder endlich, daß all’ jene ge- freuzigten und gejteinigten Märtyrer und Apojtel, die ausjehen, al3 feien jie lebendig begraben gewejen oder in Del gekocht worden, fich in Figuren wie San Sebaftian bei Tiztan oder Guido Reni verwandeln, in den ſchönen, von Gejundheit und Schönheit jtrahlenden Pagen oder Eicisbeo, dejjen blendende Hautfarbe noch mehr dur ein Paar Blutstropfen hervor— gehoben wird, die von einer zierlich zwifchen den Rippen an— gebrachten Pfeilſpitze herabtriefen.
Dswald muß alfo von Corinna lernen, daß jener ganze Chor junger Heroen, die Meichel Angelo’S große Deden- gemälde umgeben — (einer, welcher dem griechijchen Achilles mit über die Knie gefalteten Händen gleicht, einer der ſich büct, wie um einem Schlag zu entgehen, einer, der feinen Arm mie zur Abwehr eines Streiches erhebt, einer, der mit Macht an der durch den Bronzejchild geführten Schärpe zerrt, mehrere, die mit Anſtrengung all’ ihrer Kräfte Hände und Füße wider ihren Rahmen jtemmen, ſich winden und gegen die Architeftur der Dede jtrampeln), — er muß lernen, daß al’ dieſe Figuren, welche, ſchön wie die homeriſchen Helden, mit der Schönheit eine wildere Energie und einen noch mannhafteren Willen vereinen, gleichjam Michel Angelo's menjchgewordene Gedanken jind. Denn Michel Angelo dekoriert nicht mit Ornamenten oder mit Blumen, fondern mit Menſchen— leibern, und jeder feiner Gedanfen nimmt die Geſtalt eines leidenden Heros an, wie die Gedanken dev antiken Künjtler die Geſtalt eines glücklichen Gottes. Ein leidender Heros gilt wohl eben jo viel wie ein jeliger Gott. Oswald muß
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jene Liberafität des italienischen Katholizismus bewundern (fernen, welche unter der Nenaiffance jedem Künſtlergeiſte ge- ftattete, jich mit volliter Freiheit, mit ungehemmteiter Origi— nalität zu entfalten, jelbjt wenn der Künstler in jenen Werfen ein ganz individuelles Menjchentveal darjtellte oder die chrijt- fihen und jüdischen Sujets als Formen, als Vorwände ge- brauchte, um jeine eigene, feine vein perfönliche Religion dar- zustellen. Für die Künftler jener Zeit war die Kunſt Religion, und Pinten und Farben waren die Formen, unter denen fie anbeteten.
Und fo gelangen wir denn zu dem dritten Umitande, welcher Dswald ein Aergerniß gab, als er Ovid's Metamorphofen, die Basreliefs Antonio Filarete’s, an den Thüren der Petersfirche abgebildet jah, das Aergernis der Vermischung von Chriſt— lichem und Hetdnifchem in der fatholiichen Kirche. Diejer Zug findet fich überall wieder; überall wurde das heidniſche Material benutt und beibehalten. All’ die alten Bafilifen und Kirchen iind aus lauter antifen Tempelſäulen erbaut, ein einfaches Kreuz wandelt oberflächlich die Obelisfen, das Koloſſeum und das Pantheon zu chriltlihen Bauwerken um. Einer alten, schlechten Statue des Jupiter Stator giebt man ein paar Schlüffel in die Hand, tauft fie zu Sankt Peter um und küßt ihr die Zehen ab; die aufgefundenen Statuen des Menander und Poſidippos werden das ganze Mittelalter hindurch als Heilige angebetet. Corinna zeigt Oswald, daß dieſem bisweilen naiven, aber ſtets lieberalen Berhalten zum Heidnifchen und zum Humanen der Katholizismus den künſtleriſchen Glanz ver- dankt, mit welchen er ewig in der Weltgejchichte ftrahlen wird, ein Glanz, den die künstlerischen Yetftungen des Proteſtantismus nicht verdunfeln werden. Der Proteftantismus fegt all’ die ihönen Albanerinnen welche ein lächelndes Kind an die Bruft prückten, von feinen Altären herab unter dem Vorwande, daß es Madonnen ſeien, überfalft all’ die bunten Bilder, und fetert den Triumph ‚der Falfbeftrichenen Wände Das Italien der Nenatffancezeit entkleivet das Chriftentum feiner Askeſe, jeiner Schreden, feines ganzen jüdifch-aftatischen Wejens, und jchafft es um zu einer blumengejchmücten, myrrhenduftenden Mytho—
Artiftiihe Betrachtung der Kunſt. 207
logie. Der italienische Katholizismus alftierte ſich mit dem Bürgerftande in den Städten und, als die Kunſt wiedergeboren wurde, mit allen ſchönen Künften. Seine Intereſſen werden deshalb ebenjo häufig aus patriotifchem wie religiöſem Beweg— qrumde gefordert: Toskana iſt der Ausgangspunkt der Re— naiſſance.
In Toskana wurde der Menſch nach ſeinem Sündenfalle, der Naturverleugnung, wiedergeboren. Hier bildeten ſich die erſten italieniſchen Republiken. Hier erſtarkte der Menſch aufs neue zur Willenskraft, und die Häuſer ſchoben ſich zuſammen und bildeten einen kleinen, ſtolzen, unbezwinglich freiſinnigen Staat, eine Stadt und deren Umgegend. Dann ſtiegen die Türme und Turmſpitzen empor, ſchlank wie die Haltung eines freien Mannes, die Paläſte wurden begonnen und befeſtigt, die Kirchen wurden vollendet, und die Kirche war ein National— ſchatz, ein Zeuge von Reichtum, Ausdauer und Kunſtſinn, eine enorme Wertſache in dem Wettkampfe um den Vorzug zwiſchen Staat und Staat, zwiſchen der Stadt Siena und der Stadt Florenz, weit mehr noch als eine Wohnſtätte für „unſere allerheiligſte Frau“. Man that unendlich viel mehr zur Ehre Siena’s als zur Ehre des lieben Gottes.
Eine Kirche in Tosfana ift mit ihren Mojaifen auf Gold- grund, wie die zu Orvieto, oder mit ihrer Faſſade von weißem, durchbrochenem Marmor, welche dem Spitengewande einer jungen Schönheit gleicht, wie die Kirche zu Siena, mit ihrer attijchen und eleganten, zierlichen und zarten Form und ihrem Reichtum von Kunſtſchätzen im Inneren, noch weit mehr ein Juwelenſchrein, als eine Kirche.
Dder man denfe an die Marfusfirche in Venedig. Wenn man fie zum erften Male erblickt, fo ftutt man draußen einen Augenblik über ihre orientalifche Faſſade, ihre blinfenden Kuppeln, ihre mwunderlichen Bogen, die auf furzen, über: einander aufgetürmten Säulenbündeln von votem und grünem Marmor ruhen. Man wirft von der Piazza aus einen Blick auf die Außenwände und die buntfarbigen Mofaifen auf Gold- grumd und tritt dann ein. Der erjte Eindrud iſt: „Was in aller Welt iſt doch das? Das ift ja lauter Gold, Goldfuppeln
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und goldene Wände!" Die feinften Goldmoſaikſtifte, aus welchen der Hintergrund aller Bilder befteht, bilden eine einzige Goldfläche. Fällt ein Sonnenftrahl herab, jo erzeugt er helle, jchimmernde Goloflefe auf dem dunfleren Goldgrunde, und die ganze Kirche funfelt und Flammt. Der vom Alter wellen- fürmig gewordene Eftrich ift aus Mofaif von rotem, grünem, weißem und fjchwarzem Marmor zufammengefügt. Die röt- lichen Marmorfäulen haben Kapitäler von vergoldeter Bronze. Die Heinen Bogenfenfter haben weißes, nicht buntfarbiges Glas; denn buntes Glas würde zu diefer Pracht nicht jtimmen; es ift gut für ärmliche Kirchen. Die Säulen werden durch ungeheuere, vieredfige, wohl jechs Ellen dicke Pfeiler von grün- lichem Marmor unterbrochen, welche vergoldete Halbbogen tragen, und jede Kuppel ruht auf vier folcher goldenen Halb- bogen. Die kleineren Säulen, welche die Altäre, Chöre u. ſ. w. tragen, find von grünem und votgeflecktem Marmor, zumeilen von Alabafter, und dann durchfichtig. Aller niedrig liegende Marmor ift größtenteils hochrot, z. B. alle Site oder Bänfe, die rumd um die Pfeiler und an den Seiten entlang gehen. Die ganze Kirche hat, was natürlich in diefer Stadt ift, deren Malerichule die Form fo ganz der Farbe unterwirft, einen vein malerifchen, feinen architeftonifchen Charakter. Wie fie dafteht mit ihren vergoldeten Ornamenten, ihren zierlich ein- gelegten Stühlen, ihren vollendet fchönen Bronzen, ihren goldenen Statuetten, Kandelabern und Kapitälern, gleicht San Marco einer anmutigen, auf ihr Lager hingeftredten Harems— ſchönheit, ſchwer beladen mit Gold, Perlen und blitenden Diamanten und mit dem veichjten Brofat, der ihr mauriſches Ruhebett überdedt.
Ursprünglich war eine folche Kirche ficherlich ein Ausdruck für religiöfe Schwärmerei. Aber unter der Hochrenatfjance wich dies veligiöfe Gefühl im Verhältnis, wie die Kirche immer veicher ausgefchmückt ward, ganz der Kunſtfreude. Sehr bezeichnend ift in diefer Hinficht eine Inſchrift, die einzige der Kirche, die ſich gerade über dem Haupteingang befindet; fie ift in lateinifcher Sprache, und lautet, wie folgt: „Ubi diligenter inspexeris artemque ac laborem Franeisci et
Sympathie für den Katholizismus. 209
Valerii Zucati Venetorum fratrum agnoveris, tum tandem judicato.“ Zu Deutfch: „Wenn Du all’ die Kunft und Arbeit, die wir zwei venetianifchen Brüder, Francisfus und Valerius Zucatus, hier ausgeführt, aufmerkſam betrachtet und geprüft haft, dann erft beurteile ung.“
Was bejagt das? Es ijt eine Warnung der Mojaik- arbeiter vor übereilter Kritik.
Die Brüder Zucatus waren Meifter in der Mofaikkunft und führten im fechzehnten Jahrhundert einen großen Zeil der Moſaiken diefer Kirche zumeift nach Zeichnungen Tizians aus. Man denfe fih einen Augenblick folche Inſchrift an einer protejtantifchen Kirche und ziehe dann den Vergleich. So ganz, fo vollftändig ift eine Kirche hier als Kunjtwerf aufgefaßt, daß die Inſchrift über ihrem Hauptportale, ftatt eine Aufforderung an den Betenden, ein Gruß an den Gläubigen, ein Segensjpruc oder eine Bibeljtelle zu fein, eine Bitte an den Beſchauer iſt, mit würdigen, mit geweihten Blicken die heilige, von der Neligion gebeiligte Kunft zu betrachten,
Wenn daher, wie eS heutzutage in Italien gefchieht, der katholiſche Glaube aus der fathotifchen Kirche entfchwindet, wenn Inquiſition und Fanatismus zur Sage werden, wenn das häfliche Tier im Schnedenhaufe ftirbt, jo bleibt noch die Schale, jhön gewunden, zurüd. Es bleiben doch prachtvole Kirchen, Statuen, Gemälde zu Hunderttaufenden übrig; es bleiben doch immer Michel Angelo’S Kapelle und Rafael's firtiniihe Madonna und Kirchen wie die Vetersfirche oder wie die Dome in Mailand und Pija. Aber wenn wir — bei aller Achtung vor dem, was der Proteitantismus als Ueber— gangsglied in der Gejchichte des Menfchengeiftes für das ganze innere und fittliche Leben geleijtet hat, und mit Ehrfurcht vor vielen feiner Monumente, die nicht für das äußere Auge find — wenn wir, fei es auch nur per impossibile, die Möglich— feit feßen, daß dem Protejtantismus einft dasjelbe Schidjal widerführe, das jet dem Katholizismus in Stalien zu Teil wird, welche deforative oder architeftoni che Sehenswürdtafeiten bleiben dann übrig? Die merfwürdigfte wird ein Zintenfled auf der Wartburg fein, die abjchredendfte Sehenswürdigkeit Brandes, Hauptftrömungen. I. GEmigrantenlitteratur. 14
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Kirchen, jo häßlich wie die Johanniskirche an der Norderbrüde in Kopenhagen, welche dann vielleicht durch das ehrwürdige Moos des Alters verjchönert fein twird.
Der Proteftantismus hat fich als machtlos erwiefen, eine veligiöfe Architektur zu erzeugen und hat, felbjt nachdem die Zeit der Bilderjtürmerei vergeffen ift, einzig und allein in Rembrandt's Genie die Fähigfeit an den Tag gelegt, feinem religiöſen Bewußtfein malerische Form zu geben. Daher fommt e8, daß Corinna, die funftliebende Dichterin, dem Proteftanten Dswald gegenüber ftet3 die Partei des Katholizismus nimmt, und es war notwendig, bei diefem Thema etwas zu verweilen, weil wir bier bei dem zweiten Hauptpunfte ftehen, in welchen die Einwirkung ihres deutfchen Umgangsfreifes auf Frau von Stael fich geltend macht, und wo wir abermals, aber diesmal jtürker, das Wehen des hevannahenden vomantifhen Geijtes, mit feinem Widerwillen gegen den Proteftantismus als phantafielos und kunſtlos, als falt und nüchtern, und mit feiner jtetS zunehmenden Vorliebe für den Katholizismus verjpüren, deſſen Schönheitsidee und dejjen ver- traufiches Verhältnis zum Bhantafieleben und zur Kunſt zu Beginn dieſes Jahrhunderts nach der Verftandesproja der Auf- Härungszeit ihm einen nicht erwarteten Aufſchwung gab. Man wendet hier in augenfälligiter Weile den Stachel gegen das Frankreich des achtzehnten Jahrhunderts, das nit Voltaire an der Spite den Katholizismus verfolgt und verhöhnt hatte, und das ohne irgendwelche Liebe zum proteſtantiſchen Kirchen— glauben doch jtetS eine deutliche Borliebe für den Proteftan- tismus mit feiner Unabhängigkeit von der Bapftmacht, feinen verheirateten Prieftern und feiner Abneigung gegen die wirkliche oder vorgeblihe Enthaltfamfeit des Mönchslebens geäußert hatte.
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12. Neue Betrachtung der Antike.
Es giebt noch einen Punkt, in welchem dies Buch über Stalten eine tief germanifche Einwirkung verrät und wo man den Uebergang jener fruchtbaren Stimmung, aus welcher „Corinna“ entitand, bis zu jener, welche das Buch „Ueber Deutſchland“ ſchuf, verfpürt: nämlich die fFünftleriiche Auf- fafjung der Antife und des Berhältniffes der modernen Kunſt zu ihr. Die Betrachtungen über diefen Gegenftand boten fich von jelbjt, da Corinna als Dswald’s Führer durch Nom auftrat.
Nom ift der einzige Ort auf dem Erdballe, wo die Welt- geihichte gleichſam fichtbar hervor tritt, indem die auf ein- ander folgenden Epochen ihre Denkmale jchichtweife über ein- ander abgejett haben. Man fieht zumeilen ein einzelnes Ge- bäude, zum DBeifpiel eins der Häufer in der Nähe des Veſta— tempels, wo das Fundament und die verjchtedenen Stockwerke vier verjchtedenen Yeitaltern angehören, der altrömiſchen Ur- zeit, der römischen Kaiſerzeit, der Renaiſſance und unferer eigenen Zeit. Das eigentliche antife Zeitalter iſt dasjenige, in welches Corinna ihren Freund zuerjt einführt; nur molle man bemerfen, daß jie auf die Ruinen, er aber auf fie blick. Auf diefem Punkte jedoch hat das Buch die Bedeutung, eine neue Betrachtung der Antike in die franzöfiiche Litteratur einzuführen.
Bon den zwei Haffiichen Hauptvölkern waren eigentlich nur die Nömer in Frankreich verjtanden worden. Es fließt römisches Blut in den Adern der Franzoſen. Es geht ein wahrhaft römifcher Hauch durch Corneille's Tragddien. Es war alfo fein Wunder, daß die große Nevolution römiſche Gewohnheiten, Benennungen und Koftüme annahm. Madame Roland bildete ihren Geift an der Lektüre des Tacitus. Worte, welche Corneilfe einem feiner Helden in den Mund gelegt bat, waren die leßten, welche Charlotte Corday jchrieb. Die
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Schlußzeilen ihres letten Briefes an ihren Bater, der im Archive zu Paris ausliegt, lauten, wie folgt: „Vergieb mir, lieber Vater, daß ich ohne Deine Erlaubnis über mein Schid- ſal verfügt habe. Ich habe manches unfchuldige Opfer ge- rächt. Denke an den Vers von Corneille:
Le erime fait la honte, et non pas l’echafaud.
Morgen um acht Uhr wird der Urteilsipruch an mir volljtredt.“ Und was die Kunft betrifft, jo rief der große Maler der Re— volutionszeit, David, in feinen Bildern das alte Non wieder hervor: Brutus, Manlius find feine Helven.
Aber am rechten Berftändniffe der Griechen hatte es ſtets gefehlt; die Franzofen ſelbſt jchwebten zwar noch in dem Wahne, daß ihre Haffiiche Litteratur die griechiiche fortjette und überträfe; fett jedoch Lejfing feine „Hamburgifhe Drama- turgie“ fchrieb, war es für das übrige Europa fein Geheim- nis mehr, daß Racine's Griechen mit nichts Nehnlichfeit hatten als mit Franzofen, daß Racine's galanter und ritterlicher Achill, welcher Iphigenien Madame tituliert und ſich über die Wunden beflagt, die ihre Schönen Augen gejchlagen, weit näher mit dem jungen Prinzen von Conde als mit feinem hellenijchen Namensvetter verwandt war: man hatte jchließlich in der ewigen Familie jenes Agamemnon eine Menge verkleideter Marquis und Marquiſen entdeckt, und es half nichts, daß man im Theätre francais das Koſtüm wechjelte und feit Talma's Zeit die Griechen in antifen Trachten, ftatt mit Perüce, Puder und Galanteriedegen auftreten ließ; von dem Augenblide an, wo die Kritif in Deutjchland erwachte, ward die franzöſiſche Auffaffung der Antife ein Gegenjtand des Spottes für Europa.
Frau von Stael hat die Ehre, in ihrem Buche „Ueber Deutjchland“ Franfreih von dem fühnen Cpötter Leſſing er- zählt zu haben, welcher gewagt hatte, ſelbſt an dem großen Spottvogel Voltaire, feinem eigenen Lehrer und Meiſter, feinen Wit zu verfuchen, einen Wit, dejjen Stachel eine perjönliche Kränfung, wie man aus der Schrift von Strauß über Voltaire erjehen kann, noch jchärfer als gewöhnlich machte. In „Sorinna” bahnt fie den Weg dazu, indem fie, noch ohne
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alle Polemik, den Franzoſen die Nejultate mitteilt, welche das neue Studium der Antife und die Theorieen des „Laofoon“ über das Verhältnis zwijchen Poefie und bildender Kunft in Deutjchland herbeigeführt hatte.
Auch in diefem Lande hatte eine rein franzöfiiche Auf- fafjung fich geltend gemacht, die Anfhauung des Hellenismus, welche in Wieland’3 feinen und leichtfertigen Romanen „Aga- thon“ und „Ariftipp“, jowie in den von Frau von Stael in ihrem Buche „Ueber Deutjchland“ getadelten Gedichten „Endymion“, „Mufarion“ ufw. zu Tage tritt. Aber die neue Zeit erfchien. Es war ein armer deutjcher Schulfehrer, Windelmann, der, ausschließlich von der reinften und originalften Begeijterung gelenkt, nach zahllofen Mühen und Widerwärtigfeiten fich bis nad) Rom binarbeitete, um die Antike ftudieren zu fünnen, der jodann gegen feine Ueberzeugung und trot des Unmillens jeiner Freunde die katholiſche Neligion annahm, um dort bleiben zu können, und der endlich feiner Kumftliebe zum Opfer fiel, indem er auf jcheußliche Art von einem Schurken er- mordet ward, welcher fich feiner Sammlung fojtbarer Medaillen und edler Steine bemächtigen wollte, — er war e8, der in einer langen Reihe von Schriften, von feinem Sendjchreiben an den deutjchen Adel bis zu feiner großen Kunftgejchichte, jeinen Yandslenten die Augen für die griechiiche Harmonie öffnete. Seine ganze Schriftitellerthätigfeit ift ein großer Hymnus auf die wiedergefundene, wiederentdecte Antike, Bei feinen mannigfachen Irrtümern will ich nicht verweilen, wer jeine Schriften Fennt, der weiß, daß der Apoll von Belvedere und die mediceische Venus im Verein mit der Yaofoonsgruppe ihm notwendiger Weije als der Rulminationspunft der griechifchen Kunſt erjcheinen mußten, da zu jener Zeit noch fein Kunſt— werk des großen Stiles entdeckt war. Die ganze germanijche antififierende Kunft fällt ja nämlich in die Zeit vor der Ent- defung der Benus von Milo. Selbſt Thorwaldjen jah die- jelbe erft, al8 ex fchon alt war. Allein trot dieſes Mangels und zahlreicher Hiftorifcher Ungenauigkeiten jteht Windelmann als derjenige da, von welchem der große Hauch ausging, dev Leſſing, Goethe und Schiller befeelte. Leſſing folgt ihm mit
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feiner Kritik. Ausgerüftet mit einem fritifchen Sinne, der jeines Gleichen jucht, entwirft diefer bewundernswerte Mann die erjten Grundzüge einer Wiffenjchaft der Kunjt und Poeſie auf der Bafis der Windelmann’schen Kunſtanſchauung.
Feder, der mit Goethe's Leben vertraut tft, weiß, welchen gewaltigen Einfluß dieſe beiden Zwillingsgeijter, Windelmann und Lejfing, auf feine fünftleriiche Erziehung übten. Man erinnere ſich der unbejchreiblichen Begeijterung, welche jein Herz und die Herzen feiner Altersgenofjen durchſtürmte, als Leſſing's „Laokoon“ erjchien. Mean gedenfe des Ausrufs: „Wir hielten uns aller Uebel erlöſt“, und zum erjien Male bricht die neue Auffaffung der Antife mit großartiger Geniali— tät in Goethe's kleinem, von Geift ſprudelndem Meiſterwerke „Götter, Helden und Wieland“ hervor. Sch zitiere beijpiels- weije einige Neplifen; Wieland's Schatten jteht in der Nacht- mütze da umd iſt eben im Gejpräch mit Admet und Alcefte windelweich gejchlagen worden, als Herkules auftritt.
Herfules Wo ijt Wieland?
Adnet. Da fteht er.
Herkules. Der? Nun der ift Klein genug. Hab’ ich mir ihn doc jo vorgeftellt. Seid ihr der Mann, der den Herkules immer im Munde führt?
Wieland (mrücweichend). Ich habe nichts mit Euch zu ſchaffen, Koloß.
Herkules. Nun, wie dann? Bleibt nur!
Wieland. Ich vermutete einen jtattlichen Mann mitt— (ever Größe.
Herfules. Mittlerer Größe? Ich?
Wieland Wenn hr Herkules feid, jo jerd ihr's nicht gemeint.
Herfules. Es ift mein Name, und auf den bin id) ſtolz. Ich weiß wohl, wenn eine Fratze feinen Schilöhalter unter den Bären, Greifen und Schweinen finden kann, jo nimmt ev einen Herkules dazu. Denn meine Gottheit ijt Dir niemals im Traum erſchienen.
Wieland. Sch geftehe, das iſt der erjte Traum, den ich jo habe.
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Herkules. So geh’ in Did, und bitte den Göttern ab Deine Noten übern Homer, wo wir Div zu groß find. Das glaub’ ich, zu groß.
Wieland Wahrhaftig, hr ſeid ungeheuer. Ich hab’ Euch mir niemals jo imaginiert.
Herkules. Was kann ich dafür, daß Er eine ſo eng— brüſtige Imagination hat? Wer iſt denn Sein Herkules, auf den Er ſich ſo viel zu Gute thut? Und was will Er? Für die Tugend? Was heißt die Deviſe? Haſt Du die Tugend geſehen, Wieland? Ich bin doch auch in der Welt herum— gekommen, und iſt mir nichts ſo begegnet.
Wieland. Die Tugend, für die mein Herkules alles thut, alles wagt, Ihr kennt ſie nicht?
Herkules. Tugend? Ich hab' das Wort erſt hier unten von ein paar albernen Kerls gehört, die keine Rechen⸗ ſchaft davon zu geben wußten.
Wieland. Ich bins ebenſo wenig imſtande. Doch laßt uns darüber keine Worte verderben. Ich wollte, Ihr hättet meine Gedichte geleſen, und Ihr würdet finden, daß ich ſelbſt die Tugend wenig achte. Sie iſt ein zweideutiges Ding.
Herkules. Ein Unding iſt fie, wie alle Phantaſie, die mit dem Gang der Welt nicht beſtehen kann. Eure Tugend kommt mir vor wie ein Centaur; ſo lange der vor Eurer Imagination herumtvabt, wie herrlich, wie kräftig! Und wenn der Bildhauer ihn Euch hinſtellt, welch” übermenjchliche Form! — Nnatomiert ihn und findet vier Yungen, zwei Herzen, zwei Mägen. Er fiirbt in dem Augenblicke der Ge- burt, wie ein anderes Mißgeſchöpf, oder ijt nie außer Eurem Kopf gezeugt worden.
Wieland. Tugend muß doch was jein, jie muß wo jein.
Herfules. Bei meines Vaters ewigem Bart! Wer hat daran gezmweifelt? Und mich dünft, bei uns wohnte jie in Halbgöttern und Helden. Meinſt Du, wir lebten wie das Vieh, weil Eure Bürger fie) vor den Fauftrechtszeiten Freuzigen? Wir hatten die bravſten Kerls unter uns.
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Wieland Was nennt Ihr brave Sterls?
Herfules. Einen, der mitteilt, wa$ er hat. Und der Neichjte ift der Bravſte. Hatte einer Ueberfiuß an Kräften, jo prügelt ev den andern aus. Und verjteht ſich, ein echter Mann giebt fich nie mit geringern ab, nur mit feines gleichen, auch größern wohl. Hatte einer Ueberfluß an Säften, machte er den Weibern fo viel’ Kinder, als fie begehrten, wie ich denn felbjt in einer Nacht funfzig Buben ausgearbeitet habe. Fehlt! es einem denn an beiden und der Himmel hatte ihm, oder auch wohl dazu, Erb’ und Hab’ vor Taufenden gegeben, eröffnete er feine Thüren und hieß Taufend willfonmen, mit ihm zu genießen. Und da fteht Adınet, der wohl der Bravſte in diefem Stüd genannt werden fanı.
Wieland. Das Meifte davon wird zu unjern Zeiten für Laſter gerechnet.
Herfules. Laſter? Das ijt wieder ein ſchönes Wort. Dadurch wird eben alles jo halb bei Euch, daß Ihr Euch Tugend und Laſter als zwei Extreme vorftellt, zwifchen denen Ihr ſchwankt, anjtatt Euren M ttelitand al3 den pofitiven an- zufehen und den beiten, wie's Eure Bauern und Knechte und Mägde noch thun.
Wieland Wenn hr diefe Gefinnungen in meinem Sahrhunderte merken Ließet, man würde Euch fteinigen. Haben fie nich wegen meiner feinen Angriffe an Tugend und Reli— gion fo entſetzlich verfegert.
Herkules. Was ijt da viel anzugreifen? Die Pferde, Menfchenfreffer und Drachen, mit denen hab’ ich’S auf- genommen, mit Wolfen niemals, fie wollten eine Gejtalt haben, wie jie mochten Die überläßt ein gejcheiter Mann dem Winde, der fie zufammen geführt hat, wieder zu vermehen.
Wieland hr feid ein Unmenſch, ein Gottesläſterer.
Herfules. Will Div das nicht in den Kopf? Aber des Prodifus- Herkules, das iſt Dein Mann, Euer Herkules Srandifon eines Schulmeijters Herkules. Ein unbärtiger Sylvio am Scheidewege. Wären mir die Weiber begegnet,
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ſiehſt Du, eine unter den Arın, eine unter den, und alfe beide hätten mit fortgemußt.”)
Da haben wir aus Goethe’s eriter Kraftperiode die neue Auffaffung der Antife, als Gegenfat zu der franzöjierten Wieland’S Hingejtellt, und wir haben gleichzeitig daS poettjche SlaubensbefenntnisS deſſen, der von feinen Zeitgenoſſen der große Heide genannt wurde. Es iſt die Philojophie Spinoza’s als kühner Scherz vorgetragen. Man fann jedoch keineswegs jagen, daß Goethe bei diejer derb naturaliftiichen Auffafjung der Antife ſtehen blieb. Nachdem er erjt feine jugendliche Leidenſchaft in „Werther”, in „Götz“ und in feiner begeifterten Abhandlung über die gothijche Baukunſt hatte austoben lafjen, wandte er jogar mit einer heftigen Neaftion der Gotif und der Leidenschaftlichfeit den Rüden, und indem er jet zu den Griechen zurücfehrt, find es ihre Ruhe und ihre Klarheit, die jchlichte und gefunde Vernunft Griechenlands, welche ihn begeiftern. Was bei den Griechen jelbjt leidenschaftlich, farben— veich oder rvealijtijch war, wurde von ihm bei Seite gejchoben und nicht mitgenommen. Wa$ bei ihnen volfstümlich, burlesk, effeftvol war, wurde gleichfalls entfernt. Was bei den Griechen endlich wild bacchantifch oder nächtlich myſtiſch war, dafür hatte er fein Auge.
Mit einem jteigenden Unmute wider das Chriftentum, der fich bejonders im den venettanijchen Cpigrammen Luft macht, verbindet fich ein jo ins Extrem gehender Unmut wider die Gotif und die ganze chriftliche Kunſt, daß Goethe z. D. an einem Drte wie Ajfiji, der jo reih an den jchönjten und chriftlichen Denfmälern iſt, nicht zum Beſuch einer einzigen Kirche oder eines einzigen Kloſters zu bewegen war, jondern ausschließlich fich in das Anfchauen der wenigen und
*) Man vergleiche hiemit Schiller’s Epigramm: Meine Antipathie. Herzlich iſt mir das Lafter zuwider, und doppelt zuwider Iſt mir’s, weil es jo viel ſchwatzen von Tugend gemacht | „Die, Du Haffeft die Tugend ?” — Ich mollte, wir übten fie alle; Und fo ſpräche, will's Gott, ferner fein Menſch mehr davon.
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unbedeutenden antifen Ueberrefte vertiefte. Syn diejem Gemüts- zuftande ſchrieb er feine „Iphigenie“, das Werk, welches man als den Typus der ganzen Reproduktion der Antite bei dem germanijch - gotifchen Stamme betrachten fan. In dieſem Werke, das eine jo gewaltige Rolle in der Kunjtanjchauung unferes Jahrhunderts jpielt, daß es jomohl der deutſchen Aeſthetik unter Hegel, wie der franzöfiihen Aejthetif unter Taine als eine Art Mufterwerk gilt, welchem Hegel nur die „Antigone” des Sophotles gleichitelit, in dieſem Werfe be- gegnet uns verjelbe Geift, wie in allen hellenifierenden Ge— dichten Schiller's: „Die Götter Giechenlands“, „Die Künſtler“, „Die Ideale“, „Das Ideal und das Leben“. Denken wir nur an die Zeile:
„Auch ich war in Arkadien geboren“,
und an folgender Schilderung des Lebens der Götter: „Ewig klar und ſpiegelrein und eben Fließt das zephyrleichte Leben Im Olymp den Seligen dahin.“
Es iſt dieſe ganz einſeitige Auffaſſung der Antike, welche ſich aus der in „Götter, Helden und Wieland“ angedeuteten entwickelt und Goethe zu homeriſchen Poeſien wie „Achilleis“ führte. Es iſt endlich dieſer Geiſt, den wir bei Thorwaldſen wiederfinden. Denn dieſer Gruppe von Geiſtern und Ideen iſt Thorwaldſen anzureihen. In einigen ſeiner älteſten Bas— reliefs, = „Achilles und Brifjeis“ 3. B, bericht ein ähnliches derberes Verhältnis zur Antife, wie das, mit welchen Goethe begann. Aber in all’ feinen jpäteren Darjtellungen griechijcher Stoffe findet man auch jenes jelbe Ideal friedlicher und ge- dämpfter Harmonie, weiches die fräftige Tendenz ablöjte.
Sch möchte mich indes erfühnen, bier zum erjten Male die Anficht auszujprechen, daß Windelmann’s, Goethes und Thorwaldſen's Griechenland faſt eben jo ungriechijch ift wie das Griechenland, welches Nacine und Barthelemy in jeinem „sungen Anaharfis“ uns fehildern. Denn während der Stil Racine's zu fein, in jalonmäßig und höfiſch ift, um griechijch zu fein, ijt der Stil Goethes und Thorwaldſen's, welcher mit
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der Kunſtanſchauung Windelmann’S zujammenfällt, troß der ihr ganzes Zeitalter überjtrahlenden Genialität diejer beiden großen Männer,! zu geläutert, zu wafjerhell und zu falt, um griechisch zu fein. Ich glaube, die Zeit wird fonımen, wo man Goethe's Iphigenie nicht ſehr viel griechifcher als Nacine’s Iphigenie finden, wo man entdecden wird, daß die fittliche Würde der deutjchen Iphigenie eben jo vdeutjch wie die an— mutige Feinheit der franzöſiſchen Iphigenie franzöſiſch tft. Und dann bleibt nur noch die Frage zurüd, ob man griechiſcher it, wenn man deutjch oder wenn man franzöfiich it. Ich weiß wohl, daß ich mit der Stirn gegen eine Wand von ger- manischen und gotijchen Vorurteilen venne, ich fenne die feit- jtehende Ueberzeugung, daß von den zwei enropätjchen Kultur- jtrömungen die eine lateinisch, franzöfijch, jpanijch, die andere griechiſch, deutſch, nordifch ift, und ich weiß, wie man fich durch die Anficht beitechen läßt, daß die deutfche Poefie, mit Goethe an der Spike, antififierend und zum Teil griechifch ſei, daß die Deutjchen Windelmann gehabt, der die Antike entdeckt habe, und daß die deutjchen Philologen uns Griechenland erklärt hätten, während Frankreich dagegen Nacine gehabt, der die griechiichen Helden zu Hofmännern machte, und Voltaire, der Ariftophanes für nicht viel Beſſeres als einen Poffenreißer anjah.
Aber dennoch habe ich, wenn ich mir in Betreff der beiden Iphigenien die Frage jtellte: Wer iſt den Griechen ähnlicher, Franzoſen oder Deutjche? — dennoch habe ich mir geantwortet: die Franzoſen.
Man ähnelt einem Volke, nicht wenn man dasjelbe nach- ahmt, jondern wenn man fich wie dasſelbe gebahrt. Ich räume die Schwierigkeit ein, Analogien zwijchen modernen und antifen Bölferftämmen aufzuftellen. Aber doch jcheint mir das DVer- hältnis zwijchen den modernen Engländern und Franzojen in Etwas an das Verhältnis zwijchen den alten Egyptern und Griechen zu erinnern. England und Egypten haben diejelbe Art ftarren und ruhigen Fortjchritts, denn es iſt durchaus thöricht zu glauben, wie jo oft behauptet wird, Egypten habe jtill gejtanden; die Leichte Beweglichkeit der Franzojen dagegen,
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ja fogar ihre inneren haßentbrannten und aufreibenden Kämpfe erinnern an die Griechen, welche ftetS in wechjeljeitiger Fehde mit einander lagen. Und vergleichen wir die Franzoſen mit den Deutfchen, jo finden wir, daß Frankreich einen Volksgeiſt hat, welcher wie der der Griechen niemals jchwerfällig (lourd) ift, wir finden eine ausgeprägte Vorliebe für Form umd Farbe, und auf der einen Seite für Yeichtigfeit und Eleganz, auf der anderen für Paſſion und Yeidenjchaft. Ich bin meit davon entfernt, die Franzofen den Griechen an Rang gleich- stellen zu wollen. Der Abjtand ift fo groß, daß ich für mein Teil fat geneigt bin, ihn als unermeßlich zu bezeichnen. Ich erfenne nur den Franzofen einen Ehrenplag in der Nähe der Griechen zu, wenn man behaupten will, daß die Deutjchen ihnen näher ftünden.
Der Kreis von Perfönlichfeiten, unter deſſen Einfluß Frau von Stael ftand, die Häupter der romantijchen Schule, nährten eine lebhafte Ueberzeugung von der Unfruchtbarkeit litterariſcher und künſtleriſcher Verſuche, die Antife wieder herzuſtellen. U W. Schlegel hatte Leſſings Kampf gegen die jogenannte klaſſiſche Dichtkunft Frankreichs fortgejegt und auf deren Koften die Troubadourpoefie hervorgezogen, die feine Stüße in griechi- jcher oder lateinifcher Yitteratur bedurfte. Er ftellte jich auch zu Goethe's hellenifierenden Dichtungen fühler, als zu jener, welche mehr heimatliche und bunte Sujets behandelte. Des— halb heißt es in „Corinna“ (1. pag. 321), daß, da die reli- gtöfen Gefühle der Griechen und Nömer wie auch ihre geiftigen Anlagen in jeder Beziehung nicht diejelben, wie die unfrigen fein fönnten, fo jei es auch uns unmöglich, etwas in ihrem Geiſt hervorzubringen oder gewiſſermaßen etwas neues auf ihrem Boden zu erfinden. Man hätte nicht der Hinweiſung auf eine Abhandlung Fr. Schlegels in der „Europa“ bedurft, die in einer Anmerkung gegeben ift, um zu merfen, welcher Eingebung die Verfafferin bier gefolgt it. Und man glaubt faft, einen vomantifchen Kritiker zu lejen, wenn man in ihrem Werke „Ueber Deutjchland“ auf folgende Entwidelung desjelben Themas ftößt: „Wenn in ımferer Zeit die ſchönen Künfte zur Einfachheit der Alten beſchränkt würden, jo würden wir
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doch nicht die urjprüngliche Kraft erreichen, welche jene aus- zeichnet, und wir würden des innerlichen und zufammengejetten Gefühlstebens verluftig gehen, welches nur bei uns angetroffen wird. Die Einfachheit in der Kunſt würde bei den Modernen leicht zur Kälte und DVerallgemeinerung werden, während fie bei den Alten voller Yeben war.
Ich glaube, Laß dieſe Aeußerung das Rechte trifft. Wie die deutsche Neproduftion der Antife deutſch ift, jo iſt die dänische Wiedergeburt der Antife dänisch und nicht griechifch, — zu däntich, um wahrhaft griechijch zu fein, und zu griechiſch, um echt däniſch und wirklich modern zu jein. Man fühlt das niemals jtärfer, als wenn man eine Arbeit Thorwaldſen's neben einen antifen Basrelief hängen fieht, wenn man z. B. im Figurenfaale auf Charlottenborg die Medaillons vom Ehrijtiansborger Schloffe mit den Parthenons-Metopen ver- gleicht oder wenn man im Muſeum von Neapel ein Bas— relief aus der früheſten griechijchen Zeit neben dem ſchönſten Basrelief Thorwaldjen’s, feiner „Nacht“ " angebracht jieht.
Stellt man fih dann vor diefe „Nacht“ und bemüht jich einen Augenblid, wie ich es gethan habe, die fünfzehn Jahre lang gehegte begeijterte, aber auch fat blinde Schwärmeret für Thorwaldſen zu vergefjen, jo wird es vielleicht dem einen und anderen wie mir ergehen, er wird ich jelbjt befennen müjjen, daß dieſe weibliche Figur, deren fanfter Liebreiz jo anjprechend . it, feineswegs ganz ihrem Namen entipriht. Der Stil, in welchem fie gehalten ijt, ift das Produft einer Abneigung des Künftlers, er ſelbſt, d. h. modern zu fein, und jeines Be— jtrebens, etwas unmögliches, nämlich antik zu fein, und das Nefultat ijt eine Art verfeinerten und jchmächtigeren Atticismus geworden, durch welchen der Nationalcharafter des Künftlers ſchwach und unbewußt hindurch Teuchtet. Thorwaldjen’s „Nacht“ ift nur die Nacht, in welcher man fchläft; fie müßte der Schlaf, nicht die Nacht, die nächtliche Stille, nicht die Nacht heißen. Denn die Nacht, wie ein Grieche jie jich denten würde, die Nacht, in welcher man liebt, und die Nacht, in welcher man mordet, die Nacht, welche alle Wonnen und alle Berbrehen unter ihrem Mantel birgt, dieſe Nacht ijt es nicht.
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Es ijt die Nacht, die milde Sommernacht, auf dent Yande, Und dieſer idylliſche Hauch, die fanfte und friedliche Stimmung iſt es, welche in dieſem Produkte der gemeinfan- germanischen Nenaifjance der Antife zumeiſt das eigentümlich Däntiche aus— macht. Die eigenartige ländliche Schönheit, welche iiber diefer Figur liegt, ift eben jo däniſch, wie die ftrenge Würde umd Sittlichfeit bei Goethes Iphigenie deutſch ift.
Thorwaldſen's Neproduftion der Antike it überhaupt wie diejenige Goethes der Ausdrud einer Reaktion gegen den franzöfifch-ttaltenischen Barockſtil, aber einer troß all’ ihrer Berechtigung einfeitigen und nicht fruchtbaren Reaktion. Denn jelbft wo der Nofofo-Stil am abgejchmadteften it, hat er doc) den Vorzug, daß er vor allem nicht das Alte, das Antike wiederholen, nicht das einmal Gejchaffene wieder um- ſchaffen, fondern daß er, oft häßlich und verzerrt, aber jtets heftig, »perfönlich, voll Feuer, etwas neues erſinnen, felbit etwas erfinnen, etwas Driginales hervorbringen will. Des halb ift Bernini troß all’ feiner Sünden gegen Wahrheit und Schönheit, doch in jeinen beiten Werfen, wie „vie heilige Thereſe“ in Santa Maria della Vittoria in Nom und wie „San Benedetto” in Subiaco, jo groß, daß man die De- geifterung begreift, welche er erwedte, und daß er manchen modernen antikifierenden Bildhauer weit überftrahlt, der nie etwas Verzerrtes, aber auch nie etwas Driginales erichaffen hat.
Thorwaldjen ſchnitt duch die gewaltjame Rückkehr zur Antike die ganze Entwicelung der Kunſt feit dev Griechenzeit ab. Es ift unmöglih, aus feiner Kunſt zu erſehen, daß es je einen Bildhauer Namens Michel Angelo gab. Das aber, welchem Thorwaldſen ſich in der Antife verwandt fühlte, war dasjelbe, was den älteren Goethe in der griechischen Kunſtform anzog: ihre janfte Ruhe und ſtille Hoheit.
Dan fann daher Frau von Staël's und der Noman- tifer Anficht teilen, daß der antikifierende Stil in moderner Kunft (dies Erzeugnis einer Abgeneigtheit, er felbit, d. h. modern zu fein, und eines DBejtrebens, das Unmögliche, d. h. antik zu jein) an und für fich eine Mißgeburt iſt — ganz wie es der ven Romantikern eigene mittelalteriich-hieratiihe Stil war —
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ohne daß man fich deshalb in ivgend einen Widerfpruch zu verwideln nötig hat, wenn man fich, wie die vdeutjchen Romantiker und nach deren Beifpiel fie, den Theorieen zum Troß, mit Wärme über Goethes Iphigenie und Thorwald- jen’3 vorzüglichite Werfe ausfpricht. Frau von Stael über: jieht, daß überall, wo das den klaſſiſchen Studien entiprungene Werk einen bleibenden Wert erlangt hat, dies darauf beruht, dag der Nationalcharafter und die perjünliche Eigenart des Künſtlers oder Dichters ſich eine Bahn durch den verfeinerten Ihmächtigeren Atticismus gebrochen hat, der ein Ergebnis der ſtiliſtiſchen Beſtrebung iſt.
Was in „Corinna“ und in „Ueber Deutſchland“ gegen die unechte Klaſſizität geſagt wird, iſt zwar zunächſt aus der Reaktion gegen den Geiſt des achtzehnten Jahrhunderts hervor— gegangen; griff aber, ſoweit Frankreich in Betracht kommt, weiter zurück und traf zugleich die berühmten Namen des ſieb— zehnten Jahrhunderts, des klaſſiſchen Zeitalters Ludwigs XIV., welches U. MW. Schlegel nach Leſſing's Beiſpiel fi zur Ziel— jcheibe ‚jeiner Kritif gemacht hatte. In diefem Punkte ftand Frau von Stael in Gefahr, den Nationalftolz der Franzoſen zu verlegen, deshalb drückt fie ſich hier num Bericht erjtattend aus, braucht alle mögliche Borficht und Vorbehalte. Ste macht mit Recht geltend, daß der Geiſt dieſer Kritif fein unfrangöfiicher genannt werden fünne; denn es ſei verjelbe, der in Rouſſeau's Briefen gegen die franzöfiihe Muſik herrſche: dieſelbe Be— ihuldigung, den natürlihen Ausorud des Gefühls durch eine gewiſſe prunfende Affeitation zur erjegeit.
Wenn aber die Deutjchen zu jener Zeit dte franzöfifche Auffaſſung der Antike verfinnbildlichen wollten, jo wiejen jie auf jene Gemälde hin, auf denen Yudwig XIV. bald als Supiter, bald als Herkules, nadt oder mit einem Löwenfell über den Schultern, jedoch mit feiner großen Allongeperitce auf dem Kopfe abgebildet war. Wenn aber Frau von Stael wie jene den antiken Stil der Deutfchen auf Koſten des fran- zöſiſchen hervorhebt, jo thut fie ihren Landsleuten doch etwas Unredt. Denn ſchon die Kunft David’S hatte bewiejen, daß die Franzojen imftande waren, ohne fremde Aufforderung jene
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Perücke abzumerfen; fie überjchäste die germaniſche Re— produftion der Antife. Es unterliegt ficherlich keinem Zweifel, daß die Deutjchen, deren Litteratur jo kritiſch ift, ja, deren neuere Pitteratur aus Kritik und Aefthetif entjprungen ift, die Griechen weit beſſer verftanden haben, als die Franzoſen, und fie Kraft dieſes Verjtändnifjes nachgebildet haben. Aber man gleicht nie weniger einer originalen Yitteratur, al$ wenn man diejelbe nachahmt. Die Deutichen lieben Maß und Be— grenzung in allen praftiichen Dingen, dagegen lieben jie es weder, den Gedanfen, noch die Phantafie zu begrenzen. Des— halb triumphieren fie, wo die plaftifche Form verjchwindet, in der Metaphyſik, in der lyriſchen Poeſie und in der Mufik, aber deshalb haben jie auch Hypothefen in der Wiſſenſchaft, Formloſigkeit in der Kunſt, deshalb ift das Kolorit die schwache Seite ihrer Malerei und das Drama die fhwache Seite ihrer Dichtkunſt. ES fehlen ihnen mit anderen Worten gerade die plaftischen Eigenschaften, welche die Griechen im höchjten Grade bejaßen. Iſt daher Frankreich weit davon entfernt, ein Hellas der Kunſt zu fein, jo ift Deutjchland noch weiter davon ent- fernt; von allen griechiſchen Gottheiten hat es jich nur eine anzueignen vermocht, Ballas Athene, und diefer hat es Brillen auf die Naſe geſetzt. Frau von Stael hätte A. W. Schlegel gegenüber bemerken fönnen, daß ſich eine Athene mit Brillen juft nicht fonderlich jchöner ausnähme, als ein Jupiter mit Perücke.
Frau von Stael’3 „Ueber Deutjchland“. 225
15. Srau von Stael’s „Ueber Deutjchland“.
Das jo lange unterdrücte und gewaltfam verfolgte Buch „Weber Deutjchland“ ijt als das geveiftefte Werk von Frau von Stael’S Bildung und Intelligenz anzujehen. Es iſt die erite ihrer größeren Schriften, in welcher fie ſich jo vollitändig in den Gegenjtand vertieft, daß fie ihre eigene Perjönlichkeit vergejjen zur haben jcheint. Sie jchildert in dieſem Werfe nicht mehr fich jelbit, fie tritt nur infofern hervor, als jie von ihren Neifen in Deutjchland fpricht und ihre Gejpräche mit den beveutenditen Menjchen dieſes Landes wiedergiebt — ftatt einer Selbjtverteidigung oder einer Apotheoje ihres perjünlichen deals gab fie hier ihren Landsleuten einen Ueberblic über eine diejen ganz neue Welt. Das Letzte, was die Franzoſen von Deutjchlands Geijtesleben erfahren hatten, war, daß in Berlin ein König lebe, der täglich mit franzöfiichen Philo- jophen und Dichtern zu Tijche ſaß, daß er feine mittelmäßigen franzöfifhen Verſe an Voltaire jandte, der jie ihm verbejjert zurücjchiete und welcher das Vorhandenſein irgendwelcher deutjchen Litteratur nicht anerfannte. Nicht viele Jahre darauf erfuhren fie num, daß in dieſem Lande, welches jich ihre fieg- reichen Heere gerade unterwarfen, ſeit jener Zeit wie durch ein Zauberwort im Laufe nur einer einzigen Generation eine ungeheuer große und äußerſt lehrreiche Litteratur aufgejchofjen jet, welche man fogar ihrer eigenen an die Seite, wenn nicht über diejelbe, zu ftellen wagte. Und das Buch gab ein voll- jtändiges, alljeitiges Bild dieſes fremden Geijteslebens und diefer fremden Litteratur. ES begann mit einer Schilderung der Äußeren Phyfiognomie des Landes und der Städte, es jfizzierte den Gegenſatz zwijchen dem Charakter Nord- und Süddeutſchlands, zwifchen dem Ton und den Sitten in Wien und Berlin; es ließ ich jogar auf eine Darftellung der deutjchen Univerfitätsbildung wie des neuen Lebens ein, welches das Auftreten Peſtalozzis der Erziehung mitgeteilt hatte,
Brandes, Hauptftrömungen, I. Cmigrantenlitteratur. 15
226 Die Emigrantenlitteratur.
Ferner brachte es eine Uleberjicht über die damalige deutjche Dichtung, welche für die Franzoſen um fo anfchaulicher wurde, als ſie viele Gedichte und dramatische Bruchftüce über— jegt hatte. Um ihr Werf zu frönen, weicht die Berfafferin ichliegfich auch nicht davor zurüd, eine Reſumé über die Ent- wickelung der deutſchen Philoſophie von Kant bis Schelling zu geben.
Die Borftellungen von der Naivetät, der Gutmütigfeit und Geradheit der Deutjchen, welche bis zum Jahre 1870 die herrſchenden in Frankreich waren, find Frau von Stael au — Sie lernte das Volk, das während des des Großen — vom Widerhall feines Waffengetöjes hatte erdröhnen laſſen, zur Zeit feiner tiefjten Erntedrigung fennen und jchloß daraus auf den jcheinbar friedlichen und idylliſchen Charakter desjelben. Die Kachelofenwärme, das Bier und der Tabak fchienen ihr eine eigene jchwere und dumpfe At- moſphäre um Dies Volk zu verbreiten, und fie ſuchte deſſen ausschließliche Stärfe im feinem moralifchen Ernſt und in feiner intelleftuellen Unabhängigfeit.
Sie wurde nicht müde, die Nechtichaffenheit und Auf- vichtigfeit der deutjchen Männer zu preifen und nur hin und wieder giebt fie einen Winf über ihren häufigen Mangel an Seinheit und Takt. Man merkt, daß ihre Unterhaltung fie oft ermüdet hat, aber fie giebt dem Zuſtande des gejellichaft- lichen Lebens und der Sprache die Schuld: es ſei unmöglich, fi bündig in einer Sprache auszudrüden, wo der Sinn oft- mals erſt am Schlufje des Satzes deutlich werde, wo deshalb die Unterbrechungen, welcher einer Unterhaltung Leben ver- feihen, fajt unmöglich würden, und wo fich überdies die Pointe oftmals nicht bis zum letten Worte des Sates behalten lafje. Es ſei natürlich, meint fie, dag manche Unterhaltung den Fremden in emer Gefelljchaft langweile, wo die Zuhörer fo geduldig und jo anjpruchslos wären; feiner hege hier ivgend- eine Bejorgnis zu langweilen, welche Weitläufigkeit und Wieder- holungen verhindern würde. Selbſt die Gewohnheit, immter wieder einen noch jo unbedeutenden umd noch jo langen Titel
Frau von Stael’3 „Ueber Deutjchland". 227
zu wiederholen, mache jchlieglich von jelbjt jede Unterhaltung ichleppend und jteif.
Die deutjchen Frauen fchildert fie mit Wärme, doch nicht ohne Yaune folgendermaßen:
„Sie befiten einen ganz eigentümlichen Neiz, einen rüh— renden Klang in der Stimme, blonde Haar, eine blendend weiße Hautfarbe; jie find bejcheiven, aber nicht jo jchüchtern wie die Engländerinnen; man fieht es ihnen an, daß fie minder häufig Männer getroffen haben, die ihnen überlegen waren. Sie juhen durch ihr Gemüt zu gefallen, durch ihre Einbil- dungskraft zu fejjeln, te find vertraut mit der Sprache der Poejie und der ſchönen Künſte. Sie fofettieren mit ihrer Be— geijterung, wie die franzöfiichen rauen mit ihrem Wit und ihrem Geifte. Die vollfommene Nechtlichfeit, welche ven Charakter der Deutschen ausmacht, macht die Liebe weniger gefährlich für das Glück der Frauen, und vielleicht geben fie fich dieſem Gefühl mit größerem Zutrauen hin, weil man es ihnen mit romantischen Farben umhüllt hat, und weil Geringjchätung und Untreue dort weniger alS anderwärts zur befürchten jind. Die Liebe iſt eine Religion in Deutjchland, aber eine poetijche Neligion, die nur allzugern alles gejtattet, was das Herz zu entjcehuldigen vermag.“
„Dan kann fih mit Grund über die Yächerlichfeiten einiger deutjchen Frauen luſtig machen, da fie fich unaufhörlich bis zur Affeftation erhiten und exaltieren, jo daß ihre ſüßlichen Aeußerungen alles verwijchen, was ein Charakter an Pikantem und jcharf Ausgeprägtenm haben kann. Sie find nicht frei- mütig wie die franzöfifhen Frauen, aber fie find darum nicht falſch, nur vermögen fie weder etwas richtig zu jehen noch zu beurteilen, es fehlt ihnen an jedem Sinn für die Wirklichkeit, und die wirflichen Ereigniffe jchwirren an ihren Augen wie eine Phantasmagorie vorüber. Wenn fie einmal leichtfertig find, fo bewahren fie noch einen Schimmer jener Sentimentali- tät, welche in diefem Lande bejfonders in Ehren gehalten wird. Eine deutſche Dame jagte mir mit melancholiihem Ausdrud: „Ich weiß nicht, woher es fommt, aber die Abwejenden ent- ihwinden mir gleichfam aus der Erinnerung.” Ein franzöfiiches
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228 Die Emigrantenlitteratur.
Mädchen hätte denjelben Gedanken munterer ausgedrücdt, aber der Sinn wäre derjelbe gewejen.
„Ihre forgfältige Erziehung und ihre natürliche Seelen- reinheit machen die Herrichaft, welche fie ausüben, leicht und ſanft. Nichtsdeftoweniger trifft man nicht felten bei deutichen Frauen die geijtige Gewandtheit, welche ein Geſpräch befeelt und das Spiel der Ideen in Bewegung fett.“
Der Eindruck, welchen das deutſche Geiftesleben auf Frau von Stael machte, mußte naturgemäß ein mächtiger jein. In ihrem Vaterlande war alles in Negeln und her— gebrachten Formen erjtarıt; dort vang eine ausgelebte Poefie und Philojophie mit dem Tode, während hier alles in Gährung und neuer Bewegung, lebens- und hoffnungsvoll war.
Der erjte Kontraft zum franzöfischen Geift und Wejen, den fie verfpürte, war diefer: In Frankreich war die Herr- ichaft, welche die Gejellichaft ausübte, eine abjolute; das franzöfifhe Volt war von Natur jo gefellig, daß fich ein jeder zu jeder Zeit verpflichtet fühlte, wie die anderen zu handeln, zu denken, zu jchreiben, wie die anderen und für diefelben zu dichten. ES war im Jahre 1789 in Frankreich möglich gewejen, die Revolution von Diſtrikt zu Dijtrift nur dadurch zu verpflanzen, daß man eine Stafette mit der Nach— vicht fandte, das nächjte Dorf habe zu den Waffen gegriffen. In Deutjchland Hingegen gab es feine Gefellfchaft; es gab dort feine allgemein beobachteten Negeln bezüglich des Ber nehmens, feine Neigung, dem Nächjten nachzuahmen, feine tyrannifchen Gejete für die Behandlung der Sprache oder für den Zufchnitt der Dichtfunft. Jeder jchrieb wie es ihm gefiel, feiner eigenen Befriedigung halber und dachte nur wenig - an jene Leſerwelt, um vie fich alle Gedanfen des franzöfischen Schriftitellers drehten; in Deutjchland ſchuf fi) der Schrift: jtellev jein Publifum, während das franzöfische Publikum die Schriftiteller nach dem herrjchenden Geſchmack bildete. Die Herrichaft, welche in ihrem Baterland die öffentliche Meinung in der Geſellſchaft ausübte, vermochte hier der Geiſt des ein- zelnen zu gewinnen; denn während ein Philoſoph in Frank
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Frau von Stael’S „Ueber Deutjchland“, 229
reich ein in der Gejelljchaft lebender Dann war, der befonderes Gewicht auf die gefellichaftlichen Umgangsformen legte, hatte man es in Deutjchland erlebt, daß ein einfamer Denfer, welcher volljtändig außerhalb des Kulturlebens oben in Königsberg lebte, mit ein paar dien Büchern, die in einer faſt unver- ftändlichen, metaphyſiſchen Ausdrucsweife gejchrieben waren, die ganze Bildung jeiner Zeit umgejtaltete. Eine rau, welche ihr ganzes Leben hindurch unter dem Druck eines bejchränften Geſellſchaftsgeiſtes gejeufzt hatte, mußte bei ſolchem Schauspiel naturgemäß hohe Begeifterung fühlen.
Der zweite Kontrajt zum franzöfischen Geiſtesleben, den Frau von Stael beim Studium der aufblühenden deutichen Pitteratur verjpürte, war der vorherrſchende Idealismus. Die Bhilofophie, welche in der letten Hälfte des achtzehnten Jahr— hunderts die alleinherrfchende in Frankreich gewejen war, leitete alle menfchlichen Vorftellungen und Gedanten von Sinnesein- drücken ab, fie jtellte alfo den menjchlichen Geiſt als abhängig und bedingt von der jie umgebenden Welt dar. Das Wejen und die Tragweite diefer Yehre zu beurteilen, vermochte Frau von Stael allerdings nicht; doch als echtes Kind des neuen Sahrhunderts verabjcheute fie diefelbe. Sie beurteilte jie als Frau mehr mit dem Herzen als mit dem Berjtande, und leitete daraus al’ jenen Materialismus ab, den fie in den Sitten, und all’ jene Unterwerfung unter die Macht, welche fie bei den Individuen in Frankreich gefunden Hatte. Sie vereinte Condillacs Senfualismus mit Helvetius' Intereſſen— moral und meinte, daß feine Xehre fähiger jet, den begeiiterten Aufſchwung der Seele zu lähmen, als eben dieje Theorie, welche das Gute auf das mohlverjtandene Intereſſe gründe. Mit welchen Entzücden fah fie nicht eine entgegengefette Yehre allgemein in Deutjchland anerkannt! Kants und Fichte's Pflichtlehre, Sowie Schiller’3 idealiſtiſches Pathos verkündeten ja gerade jene Souveränetät des Geiſtes, an die fie ihr ganzes Leben hindurch geglaubt hatte. Diefe großen Denfer bewiejen fie ja, dieſer begeifterte Dichter offenbarte ja in jedem jeiner Gedichte die Unabhängigkeit des Geiftes von der Sinnenwelt, deffen Fähigkeit, ſich über diejelbe zu erheben, fie zu beherrſchen,
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fie umzuformen. Wie fehr fprachen ihr diefe Männer nicht aus dem Herzen! Und aus diefem Enthuſiasmus heraus ichrieb fie, ganz wie Tacitus feiner Zeit feine „Germania“ gejchrieben hatte, ihv Buch „De YAllemagne*, um dadurch) ihren Landsleuten an einem großen Beiſpiel jittliche Reinheit und geiftige Friſche zu zeigen.
Sie hatte die Begeiſterung ſtets als die ervettende Macht betrachtet. Sie hatte in „Corinna“ gejagt, daß fie nur zwei wirklich verichtedene Menſchenklaſſen kenne, diejenige, welche für etwas zu ſchwärmen vermöge und jene, welche die Schwärmerei geringjchäte. Das damalige Deutjchland jcheint ihr gleichjam das Baterland der Schwärmerei, dasjenige Yand gewejen zu jein, wo fie Neligion war, und wo fie vor allen anderen Stätten auf der Erde in Ehren gehalten ward. Deshalb ichließt fie ihr Werf auch mit einem Abfchnitt über den Enthufiasmus. Aber diefer Glaube an die Begetiterung, an die Einbildungsfraft, an die vein geiftige Thätigkeit des Geiſtes verleitete jie auch zu manchen übereilten und bejchränften Urteilen. In ihrer Freude über ven philofophiichen Idealis— mus in Deutjchland behandelt fie die empirische Naturwiſſen— ſchaft mit naiveſter Ueberlegenheit: diejelbe führe, meint fie, zu nichts anderem, als au einem mechanischen Anhäufen von Thatſachen. Die Naturphilofophie dagegen, welche die Ent- deckung gemacht hat, daß der Mienfchengeift alle Wiljenjchaften aus fich jelbjt durch Vernunftgründe herleiten kann, Die, mit anderen Worten, das All’ als nach dem Borbilde des menjch- lichen Geiſtes gejchaffen betrachtet, erſcheint ihr als ſalomo— niſche Weisheit. „ES iſt eine fchöne Anſchauung“, jagt fie, „welche die Gleichheit zwijchen den Geſetzen des menschlichen Geiſtes und der Natur zu entdeden beſtrebt ijt und die fürper- liche Welt als Bild der geiftigen betrachtet.” In ihrer Freude über die Schönheit diefer Lehre hat ihr der Blick dafür ge fehlt, wie unwahr diefelbe war und wie unfruchtbar jte ſich bald erweifen würde. Sie lobt Franz Baader und Steffens auf Koſten der großen englifchen Phyſiker. Sie hat nach dem Borbilde ihrer romantischen Freunde ein freundliches Wort übrig für vifionäre Zuftände und Sterndeutung, mit einen
Frau von Stael’3 „Ueber Deutjchland“. 231
Worte, für jede Erjheinung, welche zu Gunften der Lehre vom Spiritualismus jpricht.
Bereits viele Jahre zuvor hatte eine gegen fie gerichtete franzöfifche Zlugjchrift den Zitel „L’Antiromantique* gehabt. Jetzt war der romantiihe Hang in ihr immer ftärfer aus: geprägt worden. Der Spiritualismus als folcher erſchien ihr als das Gute, Wahre und Echöne in der Kunſt wie in der Philofophie. Hierin liegt es, daß fie ſowohl allzır nachfichtig gegen die Mißgeburten der hevvorftrebenden vomantijchen Schule ijt, befonders gegen die Dramen ihres perfönlichen Freundes Zacharias Werner, und Goethe gegenüber allzu jehr irrend, dejjen Größe fie eher beunruhigt als entzückt, und den fie bald entjchuldigt, bald mit dem Zuſatze anführt, daß fie den Geiſt jeiner Schriften nicht verteidigen wolle. Sie leitet ihre Projaüberjesung der „Braut von Corinth“ mit den Worten ein: „ch will feineswegs weder den Zweck diejes Gedichtes noch das Gedicht jelbft verteidigen, aber es. jcheint mir, daß man nicht anders, als ſich durch dejfen phantajtiiche Kraft getroffen fühlen kann“, und fie ſchließt ihren übrigens mwohlgelungenen Bericht des erjten Teiles von „Fauft“ mit den Worten: „Das Drama Fauft ijt jicherlich fein Muiter. Db man es al3 Produft einer poetifchen Raſerei oder eines bewußten Yebensüberdrußes betrachtet, [jo muß man dod wünjden, daß fih folde Erzeugnijfe nidt wiederholen“, und fie fügt alS Gegengewicht nur eine Bemerkung über Goethe's Genie und den Gedanfenreichtum des Gedichtes hinzu. So unwiderfiehlich ward jelbjt ein Geift wie der ihre von der Zeitſtrömung ihres Baterlandes und dem religiöſen Rückſchlag geleitet, den felbe mit jich führte. Nur für das Ideelle im deutjchen Geiftesleben hatte fie Blid und Berjtändnis, den deutjchen Bantheismus empfand fie weder, noch verjtand fie ihn; er ängitigte fie, und der fühne Ent- dedergeijt, ver den Sprung in fo manche Tiefe gewagt hatte, 309 ſich bäumend und ſcheu vor demjelben zurüd.
Und doch lag hier der Schlüffel zu der ganzen neueren Entwidelung in Deutjchland. Die Bhilojophie Spinozas hatte, ohne daß das Zeitalter es verjtand, hinter Leſſing's
232 Die Emigrantenlitteratur.
ganzer glänzender Fehde gegen die Orthodoxie gelegen, und als er geftorben war und fich aus dem Streite zwiſchen Mendelsſohn und Jacobi die ſchreckliche Thatſache ergeben hatte, daß Leſſing als Spinoziſt gelebt hatte und geſtorben war, jteht der deutfchen Lejewelt gleichzeitig die Ueberrafchung bevor, daß felbjt Jacobi der Anficht war, jede konſequent durchgearbeitete Philofophie müſſe mit Notwendigkeit zum Spinozismus und Pantheismus führen. Er fuchte fich felbft davor zu vetten, indem er der Erfenntnis einen anderen Weg al3 die Demonftration anmwies, nämfich die unmittelbare Gewißheit durch das Gefühl. Aber der Pantheismus lag von jeßt an in der Luft, und von dem Augenblice an, wo Goethe nach jeiner erſten Lektüre Spinoza's überwältigt und hin- gerifjen, fic) Spinozift nennt, um jein langes Leben hindurch nie mehr Spinoza untreu zu werden, von dieſem Augenblice an iſt der Geift der neuen Zeit in der deutschen Yitteratur auf den Thron gejegt, und unter einem Chore der jchönften Poeſien, unter einer Beleuchtung pbilojophiicher Gedanken, wie man fie in dev neueren Zeit nie zuvor fo reich und jo glänzend gejehen hatte, feiert jeßt dieſer Geijt der neuen Zeit jeine Vermählung mit der aufs neue ing Leben gerufenen Schönheit der Antike, gleich wie Fauft in der berühmteften Dichtung des HBeitalters feine Hochzeit mit Helena begeht, welche in dem Gedichte als das Symbol des griechiſchen Altertums hin— geſtellt ift.
Die große heidniſche Nenatjjance, welche in Italien von Geiſtern wie Leonardo und Giordano Bruno, in England von Geijtern wie Shakespeare und Bacon angefündigt worden war, kommt jett nach Deutjchland, und die neue Getjtesrichtung findet in der von Windelmann und Leſſing hervorgerufenen Begeijterung für das griechiich-hetonische Altertum Nahrung. Schiller fchreibt „Die Götter Griechenlands“, Goethe, Die Diana der Epheſer“ und „Die Braut von Corinth“. ALS das alte Öriechenland zu Grunde gegangen war, hörte jener Schiffer, der nachts an der griechischen Küſte entlang fegelte, den Ruf aus den Uferwäldern erichallen: „Der alte Pan it tot!“ Aber nein, der alte Ban war nicht tot, er jchlummerte nur.
Pantheismus und Nomantifer. 233
Und er erwachte in Stalien zur Nenatfjfancezeit, ev wurde an- erfannt und man huldigte ihm als dem lebendigen Gotte in Schelling’s, in Goethe's, in Hegel's Deutjchland.
Ja, der neue deutſche Geiſt zeigt fich noch pantheiftifcher, als der antike. Wenn der alte Grieche an einem herrlichen Wafjerfalle jtand, wie 3. B. an dem von Tibur unweit Noms, jo gab er dem Geſehenen perjönliche Geitalt. Sein Auge er- blickte die Umrifje jchöner, nacter Weiber, der Nymphen des Drtes, im fallenden Strom der Kasfade, der Schaum war ihr flatterndes Haar, er vernahm ihr mutwilliges Plätjchern und Lachen im Wafjergeriejel und im Aufipriten des Schaumes gegen die Feljenwand.
Mit anderen Worten, der antife Beichauer verlieh der unperjönlichen Natur Perfünlichfeit. Der antife Dichter ver- jtand nicht die Natur, feine eigene Perjönlichkeit jtand ihm überall zu ſtark im Wege, fie jpiegelte fich überall vor feinem Auge ab. Er jah nichts anderes vor jih, als Perjonen.
Juſt umgefehrt ein großer moderner Dichter, wie Goethe oder Tied, bei denen das ganze Gefühlsleben pantheiſtiſch iſt. Er entfleidet jein eigenes Ich der Perjönlichkeit, um die Natur zu verjtehen. Dem Wafjerfall gegenüber zerjprengt ev fein eigenes Selbſt. Er fühlt fich gleiten, fallen, umberwirbeln mit diejen jhäumenden Waffern. Sein Wejen entjtrömt aus den engen Schranfen oder dem gejchlojjenen Kreiſe des Ich und fließt dahin mit diefem Strome. Sein elajtijches Be— wußtjein erweitert jich), ev nimmt die unbewußte Natur in fein Wejen auf, er vergißt fich jelbft über dem, was er jieht, wie der, welcher eine Symphonie gehört, in dem Gehörten aufgeht und verichwindet. Und fo überall. Wie fein Wefen mit den Wellen dahin fließt, jo fliegt und flagt ev mit dem Winde, ſchwebt mit dem Monde durch den Himmelsraum, fühlt jih al eins mit dem formloſen Altleben.
„Je mehr er die Natur betrachtet“, jagt Taine in feiner Gejchichte der englijchen Litteratur, „deſto göttlicher findet er fie, göttlih bis zu ihren Felfen und Pflanzen herab. Im Walde, der leblos jcheint, atmet jedes Blatt und die Säfte jteigen unmerflic durch die jtämmigen Aeſte bis zu den
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feinften Zweigen hinauf. Ste erfüllen die Luft mit Dünften und Wohlgeruch, und dieſe leuchtende Luft, dieje grünen Kuppeln, dieje lange Kolonnade von Stämmen, diejer jtille Boden ar- beiten und bilden fih um, vwollbringen ein Werf, und das Herz des Dichters braucht nur zu laufchen, um die Stimme ihrer dunklen Inſtinkte zu hören. Sie fprechen zu feinem Herzen, ja noch mehr, fie fingen, und die anderen Wefen machen es eben jo, jedes mit feiner eigenen kurzen over langen, zu— jammengejegten oder einfachen Melodie, welche die innere Struftur des Körpers offenbart, der diejen Klang erzeugt. Dieje Melodie rejpeftiert dev Dichter. Er hütet fich, fie zu ver— fälfchen, indem er ſeine Ideen oder ſeine Betonung in fie ein- miſcht. Al’ jeine Sorge tft darauf gerichtet, fie unangetajtet und vein zu bewahren. So entjteht jein Werk als ein Echo der univerjellen Natur, ein gigantifcher Chor, in welchem Götter und Menſchen; die Borzeit, die Zufunft und alle Epochen der Weltgefchichte, alle Stufen des Lebens, alle Töne in der Ton- leiter des Lebens ohne Verwirrung einen Afford, eine Sym- phonie bilden, in welcher der ſchmiegſame Geift des Muſikers ſich perjönlich auf feine andere Weife offenbart, als dadurch, daß er hinter diefer gewaltigen Harmonie die Gruppe idealer Geſetze hervorſchimmern läßt, welche dieſelbe erzeugen, und die innere Allvernunft, welche die ganze Gefchichte zufammenhält.“ Es ijt diefer Bantheismus, den Goethe in dem beißenden
Epigramme vertrat:
Was foll mir euer Hohn
Ueber das All und Eine?
Der Profeffor ift eine Perſon,
Gott ift feine, Es iſt diefer Pantheismus, den er in „Fauſt“ entwicelt, und der fo tief in der deutſchen Natur liegt, daß jelbjt die voman- tiſche Schule, welche der Wiedergeburt der Antife entgegen- wirft, troß all ihrer katholiſchen Tendenzen ebenjo pantheiftiich wie Hölderlin und Goethe ift. Der Bantheismus ift hier der Unterftrom, der ſich unhemmbar feine Bahn durch alle veaf- tionären Deiche, allen Schlamm und alle Steine bricht, die man auf jeinem Wege emporgetürmt hat.
Romantische Reaktion wider die Nenaiffance der Antike. 235
Frau von Stael hatte hierfür feinen Blick. Sie war von ihrem Umgangskreiſe mit in die Bewegung hineingeriffen, die auf der Oberfläche vor fich ging, jah und fühlte nur diefe. Und diefe Bewegung war die romantische Neaftion.
Das jo äußerliche und in Wirklichkeit fiir einen modernen Germanen jo wenig natürliche Streben, antif und klaſſiſch zu jein, vief eine heftige Reaktion hervor.
Sa, joweit gehen jowohl Goethe wie Schiller in ihrem bejtändig erhöhten und ftrengeren Fejthalten an dem antiken Kunftiveale, daß beide damit enden, aus Liebe zır der ftrengen, regelmäßigen Kunſtform einen Schritt in der Richtung jener Schule zu thun, gegen welche fie früher jtarf opponiert hatten, nämlich gegen die klaſſiſche Tragödie Frankreichs. Goethe über- jest Voltaire's „Mahomed“, Schiller überjegt Nacine’s „Phädra“, und fo begegnet ſich in den Beſtrebungen diejer zwei größten deutſchen Dichter die Auffaſſung des Klaſſiſchen in Frankreich) und in Deutfchland. Aber diefer Bund mußte notwendigerweiie das Signal zum Widerjtand geben. Die Antife war jo ftreng, man fehnte fich nad) etwas Farbigem und Buntem! die Antife war jo plaſtiſch, man jehnte ſich nach etwas Innerlichem und Muſikaliſchem. Die Antife war jo griehifh, jo Falt, jo fremd, wer hielt es aus, Goethe's „Achilleis“ oder Schillers „Braut von Meſſina“ mit ihren feierlich gemejjenen, antifen "Chören zu leſen! Hatte man denn nicht jelber eine Vorzeit? Man fehnte fich nach etwas Heimatlichem, nad) etwas Deutſchem. Die Antife war jo arijtofratifh, und man hatte feine Schwärmerei für das Klaffiihe jo weit getrieben, daß man von neuem die alte Hofpoefie aus Ludwig's XIV. Zeit zu Ehren gebracht hatte; aber ſollte die Kunft nicht für alle Klaſſen fein, jollte fie nicht Hohe und Geringe mit einander verjchmelzen? Mean mollte etwas Einfältiges, etwas Bolfstümliches. — Das flajfiiche Streben war endlich jo nüchtern. Leſſing's helle Vernunft- religion war in den Händen des Buchhändlers Nicolai zu demjelben platten Verjtandesrationalismus geworden, der am Ende des vorigen Jahrhunderts auch hier in Dänemark jo gut anjchlug, Goethes Bantheismus vermochte nicht das Herz
236 Die Emigrantenlitteratur.
zu erwärmen, Schiller’s Aufjat über „die Sendung Moſis“ mußte jedem Gläubigen ein Aergernis fein, und „poetifch“ war ja doch fchließlich, wenn man es vecht erwog, nicht gleich- bedeutend mit „nüchtern“. Dean wollte ſchwärmen, man wollte ſich bevaufchen und begeijtern, man wollte wieder glauben wie ein Kind, die Schwärmerei eines Nitters und die Ekſtaſe eines Mönches empfinden, man wollte poetifch raſen, melodifch träumen, man wollte ſich in Mondſchein baden und myſtiſch das Schweben der Geilter in dev Milchjtvaße vernehmen, Man wollte das Gras wachjen hören und die Bogelfprache verftehen. Tief in die Mondſcheinnacht, in welche Tief mit der Be— ſchwörungsformel:
Mondbeglänzte Zaubernacht,
Die den Sinn gefangen hält,
Wundervolle Märchenwelt,
Steig auf in der alten Pracht! —
tief in die Waldeinſamkeit, in die ev mit den Koſeworten: Waldeinſamkeit, Die mich erfreut,
So morgen wie heut, In ewiger Zeit! —
hineinführt, wollte man gehen.
Man wollte etwas Einfältiges haben; man war der Kultur des Altertums müde und vertiefte ſich in die reiche, ſo lange vernachläſſigte ſeltſame Welt des Mittelalters. Ein lebendiger Hang zum Phantaſtiſchen und Wunderbaren bemächtigte ſich der Seelen, und Mythus und Märchen werden von jetzt an die vorgeſchriebenen Kunſtarten. Alle alten Volksſagen und Legenden werden geſammelt, neu aufgefriſcht und oft ſo vor— trefflich nachgedichtet, wie von dem erſten Dichter der Schule, Ludwig Tieck, in „Der blonde Eckbert“ oder in „Die Geſchichte der ſchönen Magelone und des Grafen Peter von Provence“; aber auch oft mit einer Findijchen Vergötterung des vermeint- lichen poetischen Inhaltes in abergläubifchen Vorjtellungen, die nur als entjtellte Ueberrefte von Vorzeitsmythen einen vein wiſſenſchaftlichen Wert hatten.
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Romantiſche Reaktion wider die Nenaiffance der Antike, 237
Man wollte, jagte ich, etwas Einfältiges. Man erinnere fic) des ſchönen Gedichtes „Poeſie“ von Novalis:
Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren Sind Schlüſſel aller Kreaturen,
Wenn die, jo fingen oder füfjen,
Mehr als die Tiefgelehrten willen, Wenn ih die Welt ins freie Leben Und in die Welt wird zurüc begeben, Wenn dann fich wieder Licht und Schatten Zu echter Klarheit werden gatten,
Und man in Märchen und in Gedichten Erkennt die ew’gen Weltgeſchichten: Dann fliegt vor einem geheimen Wort Das ganze verfehrte Wefen fort.
„Das ganze verfehrte Wefen“, d. h. alles das, was die franzöfiiche Revolution mit ihren tollfühnen Gedanken durch gigantische und blutige Umwälzungen und Kriege hatte ab» ihaffen wollen, daS alles wird wie im Traume, wie im Märchen entjchwinden, jo bald ein geheimes Wort ertönt, fo bald wir wieder zu Kindern werden, jo bald unjere Weisheit wieder einfältig und unjchuldig wird, jtett Falt und hart zu jein. — Iſt daS aber auch ganz gewiß? Nütt es etwas, ung die Kleider zu reichen, die wir trugen, als wir ſechs Jahre alt waren? Können wir fie anziehen? werden jie nicht im Rücken, in den Aermellöchern, in allen Nähten platzen? Wird uns geholfen fein, wenn wir ftatt all’ jener Ideen, die nad) Blut und Pulver riechen, Ideen erhalten, die den Geruch der Ammenftube an fi) tragen? Oder hat Heine recht, wenn er in feinem Buche über die romantische Schule diejelbe mit der alten Kammerjungfer vergleicht, von welcher das Märchen erzählt, fie habe ich eines Tages in der Abwejenheit ihrer Herrin des Elixirs bemächtigt, das fie diefe als Verjüngungs— mittel hatte benuten jehen, und fei, da fie, ſtatt, wie dieſe, nur einige Tropfen zu nehmen, einen großen, langen Schlud gethan, nicht blos wieder jung, jondern zur einem ganz Heinen Kinde geworden?
Man wollte, fagte ich ferner, etwas Volkstümliches. Und wir fehen hier leicht im Keime den Urjprung des ganzen
238 Die Emigrantenlitteratur.
volfstümlichen Strebens in diefem Jahrhundert, daS bei ung in Dänemark 3. B. von Grundtvig ausgeht, nachdem er wie jo viele andere einen ftarfen Eindruck von der jugendlichen Wärme empfangen hatte, mit welcher die Nomantif hier oben durch ihren nordiſchen Apoftel, Henrik Steffens, verkündet wurde und womit fie die Jugend zu einer Zeit hinriß, als es in Dänemark noch eine Jugend gab. Mit Necht empfand man Trauer über die tiefe Kluft, welche das allzu vajche Vor- wärtsjchreiten der Avantgarde und das Ausfchließen der mindeſt— begünjtigten Klaſſen von jeder höheren Bildung zwijchen den Gebildeten und Ungebilveten aller Yänder aufgerifien hat, und was ijt natürlicher und bejjer, als daß der Mann der Wiffen- ihaft und der Künftler fich aus allen Kräften bemühen, jede fahmäßige Vornehmheit abzuthun, und, fo weit es möglich ift, ihre Gefühle und ihre Gedanken in die einfachite, allgemein verjtändlichite Form zu kleiden. Aber die Bewegung geriet ichnell auf Abwege, da man fi) auf das unfinntge Unter- nehmen einließ, die Avantgarde, um die Nachzügler nicht an- zuftvengen, zurückrufen oder fie gar nievermegeln zu wollen, danıit das ganze Heer hübjch beifammen bleibe.
Da man die Triebfeder der Handlung, den Glauben an den Fortſchritt aufgab, entjtanden im Drama die Schicjals- tragödien mit ihren fataliftiichen Geſchmackloſigkeiten und albernem Aberglauben. In Werner’S Tragddie „Der 24. Fe— bruar“ erinnert alles die Heldin an Fluch und früher ver- übte Frevelthat, wenn es nur an dem unglüdjeligen 24. Fe— bruar geichieht. ES geht jo weit, daß fie, als an dieſem Tage ein Huhn gefchlachtet wird, ausvuft:
Entgegen kriſch es mir, das Huhn,
Wie Fluch, wie Water, als er röchelnd nun
Im Sterben lag! — und dieſes Stück lobt die jonft jo geſchmackvolle Autorin des Buches „Ueber Deutſchland“. Die dramatijchen Satiren nehmen durchgehends den Ton des Marionettenjpieles an (in Dänemark bezeichnet jogar Heiberg feine erjten Stücke aus- drücklich als Mearionettenfpiele). Man wird inmmer findlicher: aus Furcht vor dem Salon und Gejellfchaftsjaale, der im
A
Nomantifche Reaktion wider die Renaiſſance der Antife. 239
achtzehnten Jahrhundert die Litteratur beherrjchte, flüchtet man fi in die Kinder» und Ammenftube.
Die Führer der Schule waren geborene Proteftanten; aber ihre Nichtung zum Mittelalter und ihre fromme Naivetät führten notwendigerweife eine Bewegung zum Katholizismus mit fih. In dem Bergleich zwifchen antififierender und volks— tümlicher Kunjt, den Friedrich Schlegel in der Zeitjchrift „Europa“ angeftellt hatte, und auf welden fich Frau von Stael fowohl in „Corinna“ wie in „Ueber Deutjchland“ jtütt, heißt es nach dem Nachweis, daß der Genius feine ganze Schwungkraft unmöglich bei einer Arbeit zu bewahren ver- möchte, wo er von Gedächtniswujt und Gelehrjfamfeit belajtet werde: „Sp iſt es nicht bei den Stoffen, die unſerer eigenen Religion angehören. Die Künjtler haben diejen Vorwürfen gegenüber eine perjönliche Inſpiration, fie fühlen, was jie malen, und fie malen, was jie gejeben haben. Das Leben jelbft dient ihnen hier al3 Modell, wenn fie das Yeben dar- jtellen wollen, während fie bei dem Verſuch, ſich in die alte Zeit zu verfeßen, ihre Werfe nicht nach dem Xeben, das fie um ſich her erbliden, jondern nach Büchern und Statuten er- zeugen müſſen.“
Das klingt freilich wieder jehr ſchön und tft big zu einem gewiffen Grade treffend richtig, aber der Sophismus birgt ſich in den Worten: „unfere eigene Neligton“: denn welche tit unjere eigene Religion? Der Protejtantismus hatte fich zu einer idealiftiichen Philoſophie entwicelt, die längſt gemein- jame Sache mit der Revolution gemacht hatte. Im Jahre 1795 waren zwei junge Menjchen, deren Namen jpäter welt- berühmt werden jollten, auf ein einjames Feld hinausgegangen und hatten in naiver Begeifterung über die Revolution einen Sreiheitsbaum gepflanzt. Es waren Scelling und Hegel.
Man ging alfo zum Katholizismus zurüd. Aber der italienische Katholizismus war noch zu klaſſiſch, allzu antik be— jeelt. Eine große, helle Kirche wie St. Peter war nicht myftiih genug, war, wie Larmatine in der Einleitung zu „Sraziella” jagt, allzu jehr dazu geeignet, wenn einmal alle pojitive Neligion von der Erde verjchwunden ift, immer noch
240 Die Emigrantenlitteratur.
ein Tempel dev Menjchheit zu fein. In Italien fühlte man fih nur mit der präraphaelijchen Malerei verwandt; in Spanien fand man einen verwandten Dichter in Calderon, gegen deſſen myſtiſche Andacht der Freifinn und Nealismus des zuerjt auspofaunten Shafespeare nicht mehr auffommen fonnte. Selbjt Heiberg jest Calderon über Shafespeare. Im übrigen verehrte man überall und in allen Künften die Gotik. ES verſteht ſich von jelbjt, daß Dürer mit feiner volfstümlichen und naiven Treuherzigkeit, bejonders jedoch wegen feiner Myſtik, feiner Hirjche mit Kreuzen zwijchen dem Geweih und all’ jeines ſymboliſchen Krimsframs, gründlich von den deutjchen Nomantifern fanonijiert wurde. Aus einem Briefe jener Zeit, wenn ich nicht irre, an Mynſter, erjieht man, daß Dehlenfchläger und jeine Schweiter viel mehr in Albrecht Dürer zu finden behaupteten, als andere Menſchen in feinen Werfen finden fonnten. Die Anftedung war jo. ftarf, daß felbft der Dichter von Gulnare, von Ali und Gulhyndi fich eimbilvete, für die Myſtik zu jchwärmen.
Bei dem leidenjchaftlichen Streben, ſich von dem griechijch- römischen Altertum zu entfernen, war indeſſen Friedrich Schlegel dahin gelangt, feine einzige wahre, aber diesmal auch große, wiffenjchaftlihe That zu vollbringen: er begründete das Sanskrititudium und eröffnete dadurch der europäischen Kultur eine ganz neue Bahn. Er legte den Grund erjtlich zu einer ganz neuen Philologte, welche fich parallel mit der klaſſiſchen als indijch - orientaliiche entwicelte, jodann zu einer zweiten ganz neuen Philologie, welche die klaſſiſche mit umfaßte: zu der vergleichenden Sprachwiſſenſchaft, der Philologie als Naturwiffenjchaft.
Aber vorläufig war es jett der indische Müßiggang, welcher zum Ideal wurde: das bejchauliche, vein vegetative Leben. Es ift in Wirklichkeit dies deal, welches in Schlegel’3 „Lucinde“ verherrlicht wird. Es iſt dies jelbe deal, welches fpäter die romantische Schule in Frankreich fich aneignet, und welches Theophile Gautier in Romanen wie „Fortunio“ ver- berrlicht. ES iſt dies Ideal, welches in Deblenjchläger’3 genialem Müßiggänger Aladdin durchblicdt, und welches be=
Scelling’s Pantheismus. 241
ſtändig dem Aejthetifer in „Entweder — Oder“ vorjchmwebt, diefem echten Produkt der romantifchen Schule, das, wie Kierfegaard jelbit, an der Lektüre von Deutfchlands romantischen Dichtern groß gefäugt ijt, umd in welchem es heißt: Meine Zeit teile ich folgendermaßen ein: die Hälfte derjelben ver- ihlafe ich, die andere Hälfte verträume ih. Wenn ich jchlafe, träume ich niemals, denn zu jchlafen ift die höchſte Genialität.
Goethe hatte jih als Greis aus dem Lärm feiner Zeit in das Morgenland geflüchtet und feinen „Weftöftlichen Divan“ gejchrieben. Die Romantifer folgten nur feiner Spur. Aber bald erhielt ihre Lehre eine eigentliche philoſophiſche Grund- lage durch Schelling, welchen der Eindruck der veligiöfen und politischen Ausjchreitungen der Franzoſen erſchreckt und be- fehrt hatte.
Wie Goethe fich in den: fernen Drient flüchtete, jo flüchtete Scelling fi) aus der ftörenden Außenwelt in die fernfte Vor— zeit und fand dort die Quellen der Wahrheit und des Lebens. Im Gegenſatze zu der Anficht der Aufflärungsperiode, daß die Menjchheit fi) langjam von der Barbarei zur Kultur, vom Inſtinkte zur Vernunft vorwärts und hinan gearbeitet habe, erklärt er die Menjchheit für gejunfen, d. h. von einem höheren Bildungszuftande herabgejunfen, in welchem fie eine Erziehung genoß, die von höheren Wefen, von einem Geijter- gejchlechte geleitet ward. Dann erfolgte ein Sündenfall, und in der Periode der Gefunfenheit zeigten fich nur wenige jolcher Lehrer, höheren Weſen, Propheten, Genies, wie Schelling ſelbſt, die an der Wiederaufrichtung jenes vollfommenen Lebens ar- beiteten. Wir alle wiſſen, daß die Wiffenichaft den Männern der Revolution Recht und Schelling Unrecht gegeben hat, und daß wir, die wir im Zeitalter Charles Darwin’S leben, nicht mehr die Möglichkeit eines urjprünglich paradiefiichen Zu— jtandes und eines Sündenfalls annehmen fünnen. Darwin’s Lehre wird zweifellos die orthodore Moral zu Boden jchlagen, gerade wie Copernicus’ Lehre die orthodore Dogmatif zu Boden ſchlug. Das Syſtem des Copernicus nahm dem orthodoren Himmelreich feine phyfiihe Stelle, und jo wird
Brandes, Hauptitrömungen. I. Cmigrantenlitteratur. 16
242 Die Emigrantenlitteratur.
dereinſt Darwin’s Lehre dem orthodoren Paradiefe die feinige nehmen.
Aber zu dieſer Erfenntnis war man damals noch nicht gelangt, und Scelling wies in eine Urwelt zurüd, wo die Sagen von Göttern und Halbgöttern ihm hiſtoriſche That- jachen dünkten, und fo gelangte er dahin, die Mythologie als das größte alter Kunſtwerke zu preifen, das einer unendlichen Deutung fähig war, und eine umendliche Deutung heißt eine willfürliche. Wir jehen hier im Keime die ganze Grundtvig'ſche Mythenauslegung mit ihrer unwiſſenſchaftlichen und unzuver— läffigen Behandlung der nordischen Götterſagen.
Aber Die Abwendung von den Gefellichaftsintereffen findet einen noch beftimmteren Ausdrud in Scelling’S Vertiefung in die Natur, eine Bewegung, die Schon Goethe gemacht, aber die freilich ihn dahin geführt hatte, eine Neihe großartiger Entdeckungen zu machen, deren Gleichen Schelling nie gemacht hat. Wie nach der Borftellung der Myſtiker Gottes Imagi— nation denkend die Welt erihuf, jo follte nad) Schelling’s Ansicht allein Die entjprechende Kraft im Menfchen imftande jein, den geiſtigen Schöpfungen des Menschen ideale Wirklich- feit zu geben.
Es iſt alſo dieſe wejentlich äſthetiſche Kraft, die foge- nannte intelleftuelle Anfıhauung, daS heißt etwa die nad Bernunftgefegen thätige vollftändige PBhantafie, von welcher Schelling, der bier augenscheinlich unter dem Einfluffe der äfthetifchen Kritik feiner Zeit ſteht, behauptet, fie allein bahne den Weg zur Vhilofophie, zur Einficht in die Identität des Ideellen und des Nealen. Ja, dieſe intelleftuelle Anſchauung war jogar nicht blos der Weg, fie war das Ziel. Und dies Berwechjeln von Werkzeug und Werf bezeichnet den Eintritt einer gänzlichen, allgemeinen Verwirrung in der romantifchen Poefie und Wifjenfchaft, indem die Wiffenfchaft bald mit den Mitteln der Kunſt betrieben wird, fo daß man in Hypotheſen phantafiert, ftatt zu forjchen, bald umgekehrt Poeſie und Kunft mit den Mitteln der Philoſophie und Neligion betrieben wer- ven, jo daß die Dichterwerfe fich zu einer gereimten Spekula— tion gejtalten, deren Helden gejtiefelte Ideen find, und die
Schelling's Pantheisinus. 243
Werfe der Kunft den Mangel an leiblicher Gejtalt vergebens mit dem Mantel Fatholifcher Andacht und Yiebe zu deden juhen. Man bildete fich ein, diefe neue Natırrphilofophie werde für immer jedes Crfahrungsjtudium der Natur überflüffi machen; aber wir, die in einem Heitalter leben, wo die em— piriihe Naturforſchung das Ausjehen der Erde verwandelt und das Menjchenleben durch Entdedungen und Erfindungen jonder Gleichen bereichert hat, wir, die längft die unendliche Ohnmacht der Naturphilofophie erkannt haben, wir wiſſen, daß die veaf- ttonären Tendenzen auch hier jchlieglich eine Niederlage erlitten, und daß das Leben felbjt den Irrtum widerlegte. Was aber in diefer Theorie für uns ganz befonders Wichtigkeit und Intereſſe hat, ift das kräftige Betonen der göttlichen Phantaſie als Urquell der Schöpfung und der menjchlichen Phantafie als Urquell alles fünftlerifchen Schaffens; denn bier jtehen wir bei dem Gedanken, aus deſſen Schoße „Aladdin“ hervor ging, bier fühlen wir mit dev Hand den Herzichlag, welcher das Blut bis in jenes äußerſte Glied des großen germanijchen Körpers trieb, das im Jahre 1803 mit dem Namen Kopen- bagen bezeichnet ward.
Sn welchem Grade all’ die neuen Anjchanungen Dehlen- Schläger blisartig durchzuden mußten, begreift jich leicht.
Die Romantifer priefen die Phantafie über alles in der Welt, fie war die höchſte, die eigentlich göttliche Gabe. Wen fonnte diefe Lehre fo tief ergreifen, wie ihn, dem gerade die veiche, jprudelnde Phantafie verliehen war, welche Baggejen’s und des achtzehnten Jahrhunderts Konverjationstalent ablöfte. Die Romantifer priefen die Mythenwelt als die höchite, Die echte. Da verfügte nun gerade er über eine ganz neue Mythenwelt, die nordiſche, wie über einen Schak, der nur ge- hoben zu werden brauchte. Fr. Schlegel und Novalis viefen: „Wir müfjen eine neue Mythologie finden, die für ung das— jelbe fein fan, was die antike für die Griechen und Römer war.“ Aber fie fuchten vergebens, oder fanden nur die alten Mythen des Katholizismus. Er allein brauchte nicht zu juchen, er allein befaß jhon den Schatz, ihm fiel die Apfelfine in feinen Turban herab, er fand die helfe Lampe ohne Meühe,
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244 Die Emigrantenlitteratur.
während die andern fich die Köpfe zerbrachen, um ein ftetiges Licht zu erzeugen, indem fie einen Schwefelfaden nach dem anderen abbrannten. Die Nomantifer glaubten an einen höheren VBorzeitszuftand, von welchem die Menjchheit herab gefunfen ſei, und vor feinen Augen jtand gerade ein Bolt, dejfen Vorzeit bei meitem jeine Gegenwart überftrahlte, das diefe dunkle Gegenwart zu vergefjen wünjchte, und das eine (ebhafte Sehnſucht empfand, durch) die Verherriichung feiner Kindheitsträume und der Heldenthaten feiner Jugendzeit ſich jelbjt verherrlicht zu ſehen.
Sp gefchah es, daß die Doftrinen der Nomantif in ihn, dem Nichtdentichen, eine frifchere, eine reichere und inhalts- vollere Poeſie erwecten, als bei irgend einem poetijch begabten Geifte in Deutfchland felbft, und jo erklärt ſich's, wie es nur eines Wortes von Steffen’s bedurfte, um zu feiner und aller anderen Ueberrajchung den Zauber zu löſen, der ihm die Zunge band.
Eine gefunde, verdienftliche Nichtung in den Beftrebungen der Romantik war die, welche darauf ausging, den engen Kreis der Vorwürfe zu erweitern, die in den antifen Stoffen enthalten waren, und den Blid ſowohl für das Eigentümliche bei den fremden modernen Nationen wie für das Charafteriftiiche bei der eigenen Nation zu erjchliegen. So wurde die Schule patriotifch, und zwar patriotiih in allen Ländern. Im übrigen freilich entjtand ſchon jest in Deutjchland Diejelbe Liebhaberei für Erfurfionen in fremde Länder, welche jpäter die franzöfiihe Nomantik unter Victor Hugo ergriff. Der Vorgänger diefer Richtung war Herder mit feinem bewunderns— werten Sinne für die Erzeugniffe des DVolfsgeiftes in den verichiedenften Ländern. Für ihn war die Weltpoefie eine große Harfe, auf welcher jedes Volk feine Saite hatte. A W. Schlegel's kritiſche und Ueberſetzer-Thätigkeit folgte. Seine berühmten Vorleſungen über die dramatiſche Litteratur, welche unmittelbar vor dem Einmarſche der Alliirten in Paris erſchienen, erklären nach Leſſing's Muſter die antike Poeſie und Shakeſpeare's Dramen, enthalten aber zugleich nach Leſſing's Beiſpiel die bitterſten und gewaltſamſten Angriffe
ET ERLERNT WR
Aneignung fremder Literaturen. 245
auf den franzöſiſchen Geſchmack und das franzöjiiche Theater. Es ift interefjant, dies Werk mit feinem zeitgenöffischen Gegen- ftücke, mit Frau von Staël's Buch „Ueber Deutſchland“, zu vergleichen. Schlegel zeigt jich Frankreich gegenüber eben fo voll Mißverftändnis und Gehäfjigfeit, wie Frau von Stael fich Deutjchland gegenüber verjtändnisvoll und ſympathiſch er- weilt. Er hat nicht genug Worte des Hohnes für Corneilfe und Nacine, und er behandelt den unjterblichen Dichter des „Zartuffe“ mit einer Geringſchätzung, die allzu thöricht iſt, um nicht auf den zurüc zu fallen, welcher fie äußert. Da- gegen erflärte er feinen Yandsleuten mit feinfühlender Sym- pathie ſowohl Shakeſpeare's wie namentlich Calderon's bisher gänzlich unbekannte Poefie. Seine Auffaffung diefer Dichter hat indeß, neben einem großen Vorzuge, einen großen Fehler.
Der Borzug iſt, daß alles, jede geringite Eigentümlich- feit, zu feinen Nechte gelangt. Als er jpäter jeine metjter- haften, nie genug zu bewundernden Ueberjesungen Shakeſpeare's und einiger Dramen Calderon's ausführt, wird es Har, welchen Fortjchritt das Verſtändnis moderner Poejie gemacht hat, ſeit Schiller in feiner Ueberjegung „Macbeth's, Dies Stück nach antikifievrenden Borurteilen zujtußte und alles Realiſtiſche und Kühne ausfchied.
Der Fehler dagegen iſt bei Schlegel derjelbe wie bei der ganzen romantischen Schule, derjelbe, welcher bei uns in Dänemark ſich von diefer Schule her über die ganze Folge— zeit erjtreeft, nämlich der, daß die Auffafjung der Poeſie be— jtändig das Gepräge der germanijchen Einjeitigfeit trägt, d. h. bis zu dem Grade äfthetifch-metaphyjiich iſt, daß die empirijch- hiſtoriſche Auffaffung gänzlich verdrängt wird und nicht zu ihrem Rechte gelangen kann.
Man bat das eine abjolute Mufter nach dem andern. Wie die Griechen und Ariftoteles in Frankreich unter Ludwig XIV. al3 die abjoluten Muſter betrachtet wurden, jo ward jeßt 3. B. Shafefpeare das abjolute Mufter in der Poejie, oder (wie in Sierfegaard’s „Entweder — Oder“) Mozart das abjolute Mufter in dev Muſik. Die hiftorijch - zuverläfjige Auffaffung, die in ihrer empiriſchen Nüchternheit feine abjo-
246 Die Emigrantenlitteratur.
luten Mufter fennt, wird gänzlich bei Seite geſchoben. Jedes vorzügliche Werk wird Typus, Typus emer Dicehtungsart, eine eingefleifchte Kategorie. So iſt z. B. in Dänemark für Heiberg Oehlenſchläger's „Sankt Johannisabendſpiel“ „vie vollfommenfte Realiſation des unmittelbaren Dramas in (yrifcher Form“. Man wähnt, die Dichtungsarten und Dichterwerfe entwüchfen aus einander wie die Zweige. auf einem Baume, jtatt fie in ihrem Zufammenhange mit der Kultur, mit dem ganzen Leben zu ftudieren. Man glaubt 3. B., die Tragödie babe eine ununterbrochen zujammenhängende Gejchichte, d. h. die griechiiche Tragödie ftehe in einer Art diveftem Berwandt- ſchaftsverhältniſſe zu der englifchen, jtatt zur begreifen, daß die Tragödie nicht von den Tragödien anderer Volksſtämme er: zeugt wird, jondern aus den Umgebungen, aus der Kultur und der ganzen piychologischen Sphäre hervorgeht, inmitten welcher fie entiteht.
Indeſſen: alle Schlagbäume wurden gefällt, die ganze Welt lag offen vor den Augen des Dichters, er hatte die Er- laubnis, jeine Stoffe zu wählen, wo es ihm beliebte. Wir haben dies begeifterte Glaubensbefenntnis in unſerer dänischen Litteratur in Oehlenſchläger's ſchönem Gedichte „Des Dichters Heimat“:
Ihr Freunde, wünscht ihr zu erfahren
Des Dichters Heimat, jein Gebiet ?
Dann will ih fühn es offenbaren:
Es ftredt fi hin von Norden bis nad Süd. Es reiht von Spitsbergs faltem Eife,
Da, wo der Urwelt große Mumie ruht,
Bis wo die letzte Inſel leiſe,
Unmerklich fih verliert in Südens Flut. Gen DOften glänzt es an den lichten Morgen, An Edens jugendlihe Pracht;
Gen Weften, wo das Licht verborgen Unmerflich fi) getaucht in Meeresnadt. Dort klares Eis, hier blaue Wellen wieder; Und rund um das erhabne Baterland Schlingt fih die Sonne Mittags wieder
Als diamantnes Drdensband.
Der Ffurzgefaßte, zufammengedrängte Ueberblid, den ich hiev über die Beftrebungen der romantischen Schule gegeben
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Frau von Stael „Ueber Deutjchland“. 247
habe, Angeficht deren das Werk „Ueber Deutjchland“ entjtand, wird dem Leſer bereit angedeutet haben, in welchen PBunften fih Frau von Stael in Uebereinftimmung mit der Schuie fühlte, wie und wieweit man jagen fann, daß fie die Ver- längerungslinien ihrer litterarifchen Bahnen zog. Der aus- dauernde Kampf der Nomantifer gegen die Philoſophie des achtzehnten Jahrhunderts jagte ihrem Herzen zu. Schelling nannte ja jelbjt jein ganzes Syſtem Reaktion gegen die Auf- Härung und Abklärung des Verjtandeszeitalters. Der Roman- tifer tiefe Achtung vor poetischen Feuergeiſte, ihr kritiſcher Freiſinn jtimmte mit Frau von Stael's eigenen Neigungen und Borurteilen überein. Die romantijche Lehre vom Werte und der Bedeutung der Phantafie wecten ihren Beifall, während die Auffafjung der Schule vom Weſen der Bhantafie ihr unverjtändlich war. Die Nomantifer gingen von der An- jiht aus, daß allem zu Grunde eine unausgejeßt erzeugende, gleichfam gaufelnde Einbildungskraft liege, die bejtändig mit göttlicher Ironie ihre eigenen Erzeugniffe vernichte, wie das Meer jeine eigenen Wogen verjchlinge. Sie meinten, daß der Dichter, diefer Schöpfer im Kleinen, auf ähnliche Weiſe feinen Phantafiegebilden und feinem ganzen Werke ironiſch gegemüber- jtehen und mit Fleiß deren Illuſion zerftören müjje Frau von Stael’S Berjtand war allzu praftiich, um auf dieje jpit- findige Lehre eingehen zu fünnen, über welche jie manchen Wortjtreit mit ihren romantijchen Freunden ausfocht. Dahin- gegen näherte fie fich der Schule in einem entjcheidenden Punkte:
Wie der ganze erjte Teil der in die Neaftion gegen das achtzehnte Jahrhundert vermwicelten Schriftjteller, ward jie mit den Jahren immer mehr pofitiv religiös. Die philojophijchen Eindrüde aus der Nevolutionszeit verwifchten ſich allmählich und an deren Stelle traten ſtets ernjtlichere Verſuche, jich die auftauchenden religiöſen Ideen des Zeitalters anzueignen. Sie, die in ihrer Jugend Chateaubriands Behauptung von der Ueberlegenheit der chriſtlichen Stoffe in der Kunit jtreitbar gegenübergeftanden hatte, jchließt fich jett ganz feiner äſthetiſchen Grundanjhauung an. Ohne Vorbehalt acceptiert fie die Lehre der Nomantifer, daß ſich die moderne Poefie und Kunſt
248 Die Emigrantenlitteratur.
auf dem Khrijtentume gründen muß, ähnlich wie fich die an— tife auf die griechifch-römische Götterfage geftütt hatte. Indem fie jich immer mehr in die Ueberzeugung hineinlebt, hineinhorcht und hineimfpricht, daß das achtzehnte Jahrhundert vollitändig auf dem Irrwege geweſen ſei, und indem fie überall Geifter trifft, weldye zu den religiöjen Gefühlen der Vorzeit zurüd- gefehrt find, glaubt fie, daß der Idealismus in der Meta— phyſik, der für jie als Frau das gute Prinzip ijt, jomwie die Inſpiration in der Poeſie, die für fie als Dichterin das vom Regelzwange erlöfende Prinzip darjtellt, notwendigerweife die
Herrichaft der pofitiven Neligion erneuern müffe, weil der .
Senfualismus, deſſen Grundſätze in der Dent- und Kunſtlehre ihr zuwider jind, die Religion als Feind befämpft hat. Und jo landet fie in ihrem Werfe über Deutjchland in jener leiden- ihaftlichen und umgevechten, oft peinlich beſchränkten Neaftion gegen daS geijtige Freiheitsitveben des achtzehnten SKahrhunderts, welches gleichzeitig jenjeitS des Nheines zum Ausbruch ge— fommen war und auf Frankreichs eigenem Grund und Boden jeine höchſte Wirkſamkeit erreichen follte.
Barante. 249
14. Barante,
Frau von Stael’3 „Ueber Deutſchland“ gab einen Blick in die Zufunft hinein und über Frankreichs Grenzen hinaus; e3 prophegeite in mancher Beziehung den Charakter der auf- wacjenden Yitteratur des neunzehnten Jahrhunderts. Aber die Gruppe von Geijtern, zu welcher feine Verfafferin gehört, hätte ihren Auftrag nicht vollendet, wenn fie ihre Zukunfts— prophezeiungen nicht mit einem umfafjenden Rückblick über das geijtige Leben des achtzehnten Syahrhunderts ergänzt hätte,
Diejer Rückblick wurde ganz gleichzeitig (1809) von Barante in jeinem merfwürdigen Buche „Ueber die franzöfijche Yitteratur im achtzehnten Jahrhundert“ gegeben.
Prosper de Barante, im Jahre 1782 in der Auvergne als Sprögling einer alten und vornehmen Beamtenfamilie geboren, iſt der einzige Schriftiteller diefer Gruppe, dev nicht als Emigrant bezeichnet werden kann; denn er hatte in der Bendce ein faiferliches Amt als Präfett angenommen.
Sein Buch jedoch hat vollitändig das allgemeine Gepräge der Emigrantenlitteratur, und das iſt fein Wunder. Er lebte außerhalb Paris, er verfehrte viel mit den Verbannten, be— jonders mit Frau von Stael, und die Negierung vermerfte jeine häufigen Bejuche in Coppet übel genug. Er teilte auch ihre, unter dem Kaiſerreich für feßerifch angejehenen Sym- pathieen für fremde, bejonders deutjche Yitteratur umd über- ſetzte ſpäter Schiller's ſämtliche Iheaterjtücde. Während der Reſtauration bekam er als Mitglied der gemäßigt-liberalen Partei politiſchen Einfluß.
Sein Werk über Frankreich im achtzehnten Jahrhundert, mit dem er, ſiebenundzwanzig Jahre alt, in der Litteratur auftrat, verrät eine Reife und ein Maßhalten, die bei einem ſo jungen Schriftſteller überraſchen, die ſich jedoch teils aus einem ge— wiſſen Mangel an feurigem Charakter, teils durch ſein würde— volles Auftreten als obrigkeitliche Perſönlichkeit erklären. In
250 Die Emigrantenlitteratur.
allen Büchern, die wir Revue pajfieren ließen, lag eingejchloffen ein Urteil über das achtzehnte Jahrhundert, in dieſem Werke jedoch tritt uns die erſte zujammenhängende Weberficht und Wertihätung desselben entgegen. Die Ueberficht ijt furzgefaßt, aber ausgezeichnet, die Auffafjung philofophijch begründet, die Darftellung Kar und leidenſchaftslos, die Schätung ſelbſt jedoch it höchit mangelhaft, überall eine bedingte, und durch jene Grenzen bejchränft, welche die Emigrantenlitteratur nun einmal nicht zu überjchreiten vermochte. Diejfe Abrechnung mit dem vergangenen Jahrhundert, in welcher fich die neue Generation endgültig von der alten losjagt, iſt an fich feine definitive, und durchaus nicht jo unparteiisch als fie leiden- ichaftlos if. Wohl hat Barante den vedlihen Willen, un- parteitfch zu urteilen, aber feine Fähigkeiten find nicht jo uns befangen als fein Wille: feine ganze Entwidlung wird, ihm jelbjt unbewußt, von der Neaftion an das Jahrhundert, deffen Weſen er als Zuſchauer und Denfer erklären will, ge- tragen.
Barante's eigentlicher Gefichtspunft iſt ein fruchtbarer und war damals originell. Er hört rund um ſich herum Behaupt- ungen, welche darauf ausgehen, die Schriftiteller des achtzehnten Jahrhunderts für die Ummälzungen verantwortlich zu machen, welche Frankreich am Schluß des Jahrhunderts in jeinen Grund: pfeilern erjchüttert hatten, und findet diefe Behauptungen grundlos; fie thun, ſcheint ihm, jenen Schriftjtellern großes Unrecht, weil fie denfelben eine zu große Bedentung beilegen. Wäre das Gebäude nicht baufällig gewejen, jo hätte ein Hauch der Litteratur es nicht umftürzen können. Gleichzeitig mit Nodier und Frau von Stael jtellt er folgenden Sat auf und erklärt ihn: Die Litteratur iſt ein Ausdrud für den Zu— ſtand der Geſellſchaft — und nicht deſſen Urſprung. Der jtebenjährige Krieg hat nach feiner a einen ganz anderen Einfluß auf die Schwächung der Autorität in Frank— reich ausgeübt, als die Encyflopädie, und die Irreligioſität, welche zur jelben Zeit am Hofe des alternden vierzehnten Ludwig berichte, als der König in graufamer Weiſe Proteftanten und Janſeniſten verfolgen ließ, hat auf weit jchlimmere Weife den
Vi.
Barante. 251
Reſpekt vor der Religion untergraben, als der Angriff und die Spöttereien der Philojophen. Er will der Litteratur des vergangenen Jahrhunderts durchaus feine befonderen Verdienfte zujchreiben, er betrachtet fie nur „als Symptom der allge meinen Krankheit“. Mit philofophiichem Scharfblid forſcht er nach den eriten Gründen des Zufammenbruches der Monarchie. Er findet fie bereits im Nachipiele der Kämpfe der Fronde gegen Mazarin. Gebändigt von Nichelien’s Eijenfauft, hatten ji die Fürſten, der Adel, die Beamten, alle Großen, mwechjel- weije um Hilfe an die große Bevölferung gewandt und da— durch almählih alle an Wert und Anjehen verloren. Die Autorität des Königs allein blieb unberührt ſtehen. Gleich— wohl gingen die Wogen der Oppofition bis zu den Füßen des Thrones, dort aber verliefen fie, und während der erjten Hälfte von Ludwig's XIV. Negierungszeit wurde der Thron in noch größerer einjamer Majejtät über das gewöhnliche Niveau erhoben; Richelieu's Werk war vollbracht: jede Auto- rität im Lande, mit Ausnahme der Krone, mar vernichtet. Es brauchte jest nur die allein zurücgebliebene Autorität gejtürzt zu werden, um alle gejellfchaftlichen Obrigfeiten des Reſpektes zu berauben, der ihre Stärfe ausmachte, und dies gejchah zur Genüge unter dem jämmerlichen, alternden vierzehnten Yudwig, unter dem frechen und frivol ftupiden Negiment der Negent- ihaft und Ludwigs XV.
Die Philofophie des achtzehnten Jahrhunderts war da— ber nach Barante's Auffaffung nicht das willfürliche Werf des Einzelnen, jondern einer univerjfellen Getjtesrichtung im Bolfe; fie wurde jozujagen nad) dem Diftate des Volkes nieder- gejchrieben. Aber dadurch war fie nicht mehr wert geworden; für Barante fteht es feit, daß ihre Arbeit nur darin bejtand, eine frivole und ungerechte Geſellſchaftsordnung auf frivole und ungerechte Weije zu jtürzen. Was aber auf diefe Art geſchah, war unumgänglich notwendig gewejen. Ein überaus fefter Glaube an hiſtoriſche Gejeze ift der Kern in Barante's Bud. „Der menfchlihe Geift,“ jagt er, „Icheint unwider— ruflich dazu bejtimmt zu jein, wie die Sterne, eine vorge: ichriebene Bahn zu durchlaufen.“ Er weiß, daß zu allen
252 Die Emigrantenlitteratur.
Zeiten eine Verbindung zwiſchen Yitteratur und dem ejell- ihaftszuftande notwendig iſt; während dies Verhältnis aber zu Zeiten dunkel iſt, mit Scharfjinn aufgefpürt und mit Um- jicht nachgewiejen werden muß, damit e8 anjchaulid und Flar werde, ſcheint ihm dies Verhältnis in jenem Zeitalter ein jo direftes und ummittelbares zu jein, daß es gar feiner feinen Beobachtung bedürfe, um das zu unterjcheiden.
Den Grund hierfür findet er zuerjt im Verhältnis der Schriftjteller zu ihrem Publikum: in früheren Zeiten war ihre Anzahl nur Kein gewejen; dünn zerjtreut über ganz Europa, hatten fie in einer toten Sprache gejchrieben; eine Gejellichaft gab es damals nicht und die Konverfation war feine Macht; fie arbeiteten für feine Geſellſchaft, ſondern für einander und zum Entgelt hierfür wurden fie von der Gefellfchaft als ab- ſchreckende Pedanten angeſehen. Nach und nach verbreiteten ſich Bildung und Aufklärung bei den höchſten Klaſſen und die Schriftſteller traten mit denſelben in Verbindung; ſie ſchrieben für Fürſten, Hofleute, Vornehme, für jenen kleinen Kreis, der nicht zu arbeiten nötig hatte. Zu Ludwig's XIV. Zeit ſuchten die Schriftſteller dieſem Kreiſe zu gefallen und fühlten ſich durch ſeinen Beifall geſchmeichelt. Allmählich ſchritt dann die Ziviliſation ſoweit vorwärts, daß ſich ein wirkliches Publikum für die Litteratur bildete, ein Publikum, welches die Schriftſteller von den Mächtigen unabhängig machte. Friedrich der Große, welcher Voltaire an feinen Hof berufen hatte, um Preußens Glanz zu erhöhen, behandelte ihn keines— wegs mit jener Uberlegenheit, mit welcher ſich Ludwig XIV. Moliere gegenübergeftellt hatte; er ſchien ihn ſich an die Seite gejtellt zu haben; die höchſte politiiche Macht und die größte geiftige Uberlegenheit jener Zeit jtanden einen Augenblid auf gleichem Niveau, und Feiner fühlte die Zeit nahen, wo ſich diefe beiden Mächte den Krieg erflären jollten. Auch in der legten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts ftanden die Schrift- ftellev in fortlaufenden Wechjelverhältnis zur ganzen weitaus- gedehnten Gejellichaft.
Im Altertum war ein Philoſoph ein ftrenger und ſyſte— matischev Denfer geweſen, der, für den ihm gezoflten Beifall
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gleichgültig, eine zufammenhängende Lehre entwicdelte; jest hatte das Wort feine Bedeutung gewechjelt. Der Bhilofoph war fein einfamer Denfer mehr, jondern ein Weltmann, der noch viel mehr ſprach als er jchrieb und lehrte, der beſtändig feiner Umgebung zu gefallen und ihren Beifall zu gewinnen jtrebte, und dies nur erreichen fonnte, wenn er fich zu ihrem Sprecher machte.
Wie mächtig dev Zeitgeift die einzelnen Schriftjteller be- herrichte, fieht Barante durch den Umstand erwiejen, daß die Autoren, die, wie der Abbe de Mably den lebhafteften Wider: willen gegen die Philofophen der herrichenden Schule hegten, doch denen glichen, die fie befänpfen wollten und auf anderen Wegen zu denjelben Nejultaten gelangten. Und die Erklärung dafür, daß, das Publifum vor den Schriftitellern jegliche hiſtoriſche Uberlieferung, alle nationalen Erinnerungen ver- achten fonnte, um ausgeflügelten Idealen nachzuftreben, findet er in der unnationalen, Kajfischen Erziehung der höheren Ge— jellichaftsklaffen. Su der Schule habe das Kind die Namen Epaminondas und Leonidas weit früher jtammeln lernen, als e3 diejenigen Bayards oder Duguesclins gehört; es jtände dem Knaben frei, den trojanijchen Krieg zu bewundern, die Kreuzzüge jedoch zu bewundern — daS jet unerhört. Das römische Necht und alle deſſen von einer abjoluten Macht ftammenden Grundjäte hätten allmählich die einem freien Volke entiprungenen germanifchen Nechtsregeln verdrängt. Was Wunder aljo, daß die Schriftteller, wenn fie ihre Stoffe aus dem Altertume holten und für Hellas und Rom jchwärmten, willige Ohren in der franzöfischen Gefellichaft fünden! Was Wunder, daß auch in der Litteratur die nationale Ueberlieferung verachtet und unterbrochen würde!
Nachdem Barante dergeftalt die ganze Geſellſchaft für die Fehlariffe der Literatur im achtzehnten Jahrhundert ver- antwortlih gemacht hatte — und ihre Thaten ſcheinen ihm durchgängig Fehlgriffe zu fein — bereitet ev jich eine jichere Grundlage zur leidenſchaftsloſen Würdigung der einzelnen hervorragenden Schriftjteller. Seine Urteile jammeln die in der Emigrantenlitteratur zerjtreuten Anfichten wie in einem Brennpunfte.
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Boltaire, um deſſen Nuhm nach feinem Tode ein eben- jo bigiger Kampf wie um Patroklus' Yeiche geführt wurde, charafterifiert er falt, doch ohne Haß und Zorn. Er bewundert Boltaives Naturbegabung, das leichtbewegliche, ftürmifche Ge— fühlsleben, welches fein Pathos erzeugte, jenes unmiderftehlich Hinreißende in feiner Beredjamfeit und jeinen Wit, feine stetige Anmut, welche feiner unbejchreiblichen Gewandtheit, alles zu geftalten und künſtleriſch auszudrücken, entjpringt. Die Art und Weife aber, wie Voltaire fein Talent nach) der Zeit— ſtrömung, nach dem Drange, zu gefallen, jteuerte, beffagt er ebenjo jehr, als deſſen Hang zu zynifchem Spott, der ihm jogar noch als Greis treu blieb. Und damit fchließt er. Für das Große, das Berechtigte in Voltaire’3 Lebenskampf hat er weder Bid noch Worte. Er will Voltaire kritiſch erflären und läßt die Entrüftung, diefen feinen Lebensnerv, aus feiner Seele verfchwinden; er fchildert die gegen ihn angewandten Berfolgungen als Dummheiten, aber er jtempelt fie nicht als’ ihhlechte Handlungen; ev entfchuldigt endlich — nicht die Flecken an Boltaive's Größe, aber gewiſſermaßen diefe Größe jelbft, und er glaubt wirklich, unparteiiſch zu jein, weil er entjchuldigt.
Montesquieu allein, lockt Barante von den Größen des vorigen Jahrhunderts eine warme und lebendige An— erfennung ab. Und das iſt natürlich, denn er fand im Weſen desjelben etwas von feinem eigenen. Meontesquien war fein gewöhnticher Skribent, der jchreiben fonnte, was ihm gerade in die Feder fam, er war wie Barante Beamter, fogar ein hochgeftellter, ein bedeutender Nechtsgelehrter, der feines Standes Würde und das Beifpiel, daS er gab, bedenfen mußte „Der Präfivent von Montesquien“, jagt Barante, „bejaß nicht jene Unabhänigfeit, welche die Schriftiteller jo hoch fchäßen, die vielleicht ihrem Talent wie ihrem Charakter Abbruch thut.“ Man fühlt in diefem gutgefagten Paradoron den vorfichtigen Verſuch einer Selbjtverteidigung des Faiferlichen und doch Napoleon feindlichen Beamten. Mit Recht jedoch jtellt Barante Montesquieu fehr hoch. Wohl Hatten andere Schriftiteller jener Zeit mehr Geift; aber Montesquieu's genaue Kenntnis de3 praktischen Lebens, der Verwaltung und Regierung, gaben
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ihm eine Einficht, welche den anderen mangelte, ein Maßhalten, welches gerade zu Anfang des neuen Jahrhunderts von größtem Werte war. Bei Montesquien zollt Barante daher auch Manchem Beifall, was er bei anderen empfindlich tadelt, Er fordert feine Lefer auf, Montesquieu's Werk über den Geiit der Geſetze mit einer älteren Schrift Domat's über dasjelbe Thema zu vergleichen, um daran die Fortſchritte der Wiſſen— Schaft zu erfennen, indem er, ohne den Reſpekt vor der Religion bei Seite zu ſchieben, es verjteht, dieſelbe als untergeordnete Urſache zur betrachten.*)
Diderot ijt derjenige der großen Schriftiteller, dem Barante am befangenjten gegenüberjteht; jein Urteil über ihn it ein durchaus bejchränftes. Das Uebereilte und Gewalt- jame in dieſem Geiſt, verbirgt feinem Blick deſſen Gentalität. Ein Genie, deſſen Rücdfichtslofigfeit zuweilen an diejenigen einer Naturkraft erinnert, fonnte von Barante jo wenig ge- würdigt werden, als von dem ganzen evjchredten und ge- täufchten Gejchlecht, zu dem er gehört. Diderot war mehr dazu veranlagt, den litterarifch vorurteilsfreien Deutſchen zu gefallen, als feinen damals jo fcheinfittiamen Yandgleuten. Sogar Goethe überjette dejjen „Nameaus Neffe" und Hegel behandelte denfelben ausführlich in feiner „Phänomenologie des Geiſtes“; aber Barante, der DiderotS unaufhörliche, alle Grenzen überjchreitenden Angriffe auf die Weligion leiden— ichaftlich tadelt, bringt ſeine Charafteriitif in folgende Worte: „Er hatte ein feuriges und umordentliches Innere. Aber fein Geiſt war ein Feuer ohne Nahrung, und fein Talent, von dem er einige Strahlen gezeigt, hat feine allgemeine Anwendung gefunden.“
E35 war nur folgerichtig, daß der am meijten natura— liſtiſche Schriftfteller des achtzehnten Jahrhunderts am jchechtejten von dem jeßt heranmwachjenden Stabe der Idealiſten gewürdigt wurde.
*) Alors en pourra distinguer, comment la religion, respectee par Montesquieu, etait pourtant jugee par lui, tandis que Domat l’avait seulement adoree, et en avait fait tout decouler, au lieu de la considerer comme accessoire.
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Rouſſeau, der lettauftretende jener vor die Schranfen des neunzehnten Jahrhunderts zitierten Geifter, hatte etwas in feinem Weſen, daS Barante notwendigerweife zufagen mußte. Er allein unter ihnen war jentimental, und das neue Jahr— hundert hatte gleichfalls jentimental begonnen. Er war endlich der einfamfte umter ihnen, und das neue Jahrhundert hätte ſolch' einſame Perjünlichkeiten. Er hatte der Gefell- ichaft der Philoſophen wie der Encyelopädiiten fern geftanden. Ein unglücliches und einfames Yeben hatte feinen Charakter geformt, er ftand in feinem Verhältnis zur Geſellſchaft oder zur öffentlichen Meinung. Ohne Familie, ohne Freunde, ohne Stand, ohne Vaterland, war er in der Welt herum- geitreift, und als er als Schriftjteller auftrat, verurteilte er die Geſellſchaft, Itatt ihr zu fchmeicheln. Sein Streben ging nicht dahin, der herrfchenden gefellfchaftlichen Stimmung zu gefallen, jondern eine neue hervorzurufen; das glüdte ihm, und während die Anderen nur gefielen, begeifterte ev. All’ dies mußte Barante günftig ftimmen. Und doch braucht man nur feine Ausſprüche über Rouſſeau mit dem, von feiner Freundin, Frau von Stael, zwanzig Jahre früher heraus— gegebenen Buche über Rouſſeau's Schrifttellerthätigfeit zu vergleichen, um zu jehen, wie manchen Schritt vorwärts die Reaktion gegen den Geiſt des vorigen Jahrhunderts gethan hatte. Daß es weitläufig bei dem Unreinen in Rouſſeau's Leben und bei den jchlechten Seiten jeines Charakters vermeilt, it an und für fich ganz berechtigt, und feine Schilderung bildet in dieſer Hinficht nur das natürliche Seitenftüd zu Frau von Staël's warmer Verteidigung. Sein ftrenges Urteil über Rouſſeau's politifche Theorien find ſogar ganz anders fritifch durchdacht und reif, als Frau von Stael’3 weiblich- bejchränfter Verſuch, dieſe Theorien gut zu heißen. Dei der Würdigung von Rouſſeau's veligionsreformatorifcher Wirkjam- feit jteht ex jedoch weit hinter ihr zurüd. Gegen Rouſſeau's berühmtes Glaubensbefenntnis, gegen jeine Darftellung der jogenannten Naturreligton ift fein Haupteinwand der, daß es eine Neligion ohne Kultus fei, und, fagt er, daß fie dies war, kann bei Rouſſeau nicht überrajchen, denn einer derartigen
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Moral ohne Praxis muß naturgemäß eine Neligion ohne Kultus entſprechen. Dergejtalt führt eine Fonjervative Folgerungs- jucht den im veligiöfer Hinſicht liberalen Kritiker dazu, ſogar den beftehenden kirchlichen Ritus gegen Rouſſeau zu verteidigen.
Der Grund zu al’ diefem Bejchränften und Ungerechten bei Barante ijt derjelbe, der jpäter unter der Reſtauration und dem Julikönigtum jo viel Unwahres und Schiefes bei anderen liberalen Schriftjtellern erzeugt: die fpivitualiftifche Philoſophie, welche jett Einlaß in Frankreich erhält, und nach manchen Kämpfen zur herrichenden Lehre, unter Coufin und feiner Schule jogar zur Staatsphilofophie erhoben wird. Hätte fich dieſe Philojophte damit begnügt, ihre Prinzipien und Anfichten jo far und beweisfräftig als möglich zu entwiceln, jo würde es eine Philojophie wie jede andere geweſen jein, und nur Wider- ipruch, aber nie Widerwillen oder Abjcheu erregt haben. Es zeigten jich jedoch in dieſer Philoſophie und zwar faft in allen Landen, wo fie auffam, von Anfang an Tendenzen unwiſſen— ihaftlihen und unbeilverfündenden Charakters. Sie war weniger eifrig, ihre Behauptungen zu beweijen, als ihr mora- liſches und religiöjes Wefen zu befunden. Sie war weit weniger darauf verjeffen, ihre Gegner zu widerlegen, als darauf, ihnen Sinn für das Edle, Aufihwung zum Höchiten, Pflichtgefühl und Begetjterung abzufprechen.
Dei Frau von Stael ijt die Furcht vor dem Senfualis- mus eine abgeleitete. Dieſe hochherzige Frau, welche mit all’ ihrer Wahrheitsliebe jtetS nur Dilettantin in der Philojophie bleiben wird, befürchtet naiv genug, daß die ſenſualiſtiſche Pſychologie die Seelen zu paffiver Unterwerfung unter Napo- leon’S Despotie bringen möchte, und aus Yiebe zur Freiheit ſucht fie nad) Waffen dagegen. Barante kann als Mann dieje Entjhuldigung nicht zugejtanden werden. Auch für ihn find Descartes und Leibniz nicht nur große Denker, jondern Ber: treter des guten Prinzips in der Metaphyfif, gerade als ob moralifche Begriffe auf eine Metaphyſik Anwendung finden könnten. „Mlöglicherweife”, jagt er, „verloren fie ſich unter: dejfen in dunkle Regionen, aber fie folgten wenigſtens einer erhabenen Nichtung, deren Lehre mit den Gedanken über- Brandes, Hauptitrömungen. I. Emigrantenlitteratur. 17
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einftimmen, die uns bewegen, wenn wir tief über uns felbft nachdenfen, und diefe Bahnen führten naturgemäß zu den edeljten Wifjenfchaften, zur Neligion und Moral." Und nun erzählt er, wie man müde wurde, denſelben zu folgen, wie man fich jest in die Bahnen Lockes und Humes begab, und er ftellt dies nicht als eine entgegengejetste, gleichberechtigte Ein- jeitigfeit dar, jondern als eine Erniedrigung des Menjchentumsg, al3 eine Herabwürdigung der Wiffenjchaft. Er findet es natürlich, Spinoza zu befämpfen (den ev mit Hobbes zufammen- jtellt), und nicht nur mit Gründen, jondern mit Entrüftung. (Barante, de la littörature francaise pag. 213).
Gegen die Empirijten ftellt ev Kants befannte Lehre von den Beritandesformen, als mit der Konftruftion unferes Geijtes gegeben, auf, und entwicelt, daß ſich ein Inbegriff von reli- giöjen Anlagen gleichfalls zu allen Zeiten und bei allen Bölfern angeboren vorfinde. Aller Orten meint er, findet man jtets den Glauben an ein Leben nach dem Tode, Ehrfurcht vor den Gejtorbenen und die Beſtattung derjelben in der Ueberzeugung, daß das Leben für diefelben nicht zu Ende fei, endlich auch einen Glauben, daß die Natur einmal erjchaffen jet und einmal auch zu Grunde gehen müffe Dies find für ihn, wie für Benjamin Conftant, die ungefähren piychologijchen Elemente, welche die feite Grundlage aller Neligionen aus— machen. Daß dieje fich auf noch einfachere Elemente, die jich auch außerhalb der Neligiofität vorfinden, zurückführen laſſen, dafür hat er fein DVerftändnis. Denn er fennt die freie Forſchung nicht und nennt es eine Ehre, „das ruhmvolle Erbe der erhabenen Philoſophie“ (le glorieux heritage de la haute philosophie) zu übernehmen. Und auf ganz ähnliche Weife eifert er gegen die Verfuche einer empirischen Begründung der Moral. Er jagt: „Statt von dem Gefühl der Gerechtigkeit und Sympathie auszugehen, welches im Herzen aller Menſchen (ebt, juchte man die Moral auf den Trieb der Selbiterhaltung und des Wohlbefindens zu gründen.” Er hat augenfcheinlich ven tief philofophifchen Trieb, welcher die Denker der entgegen gejegten Schule veranlaßt hat, die Gerechtigfeitsidee in ihre Grundelemente aufzulöjen, und zu zeigen, wie fie entjteht und
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gebildet wird, gar nicht verjtanden. Er eifert nur darüber, daß man auf diefem Wege zu feiner offenbarten Religion ge- langen könne: „die göttlichen Beweiſe dafür hatte ja der Aber- glaube verworfen.“ *)
Derjelbe Denker, der Montesquiens „Perjiiche Briefe“ (obt und es billigt, daß dieſer Schriftiteller die Nteligion als Nebenjache behandelt, erjchrict, in der Halbheit des Zeitalters befangen, über die Verſuche der empirischen Philofophen, die Srumdelemente zu finden, welche zur Bildung der Gerechtigkeits- idee zuſammenwirken. Daher fieht man bei Barante, wie be- reits angedeutet, ſchon das umverjtändige Spielen mit dem Doppeliinnigen ım Worte Senfualismus, welches das ganze Sahrhundert hindurch eine Waffe in Händen der Heuchelet und Niederträchtigfeit bleiben jollte, indem Senfualismus ab- wechjelnd als Name der bejtimmten Erfenntnislehre, auf welche es angewendet zu werden pflegt, bald als Bezeichnung für Sinnlichkeit, finnliche Lüfte oder als Lehre, daß finnliche Luft Ziel des Lebens fei, gebraucht wird. Mean findet bereitS bei Barante, wie jpäter bejtändig bei Coufin jenen oberflächlichen und unmwifjenjchaftlichen Spiritualismus, der ſich in Frankreich in den erjten Jahrzehnten des Jahrhunderts entwicelt, als die zur Tugend und zu guten Sitten ermunternde Vhilojophie betont.
Frau von Stael jchrieb für eine damalige Zeitung, den Mercure de France, eine Rezenfion über Barantes Werf, welche von der Zenfur zu druden verboten wurde, fpäter je- doch in umveränderter Form abgedrudt ward. ES find nur drei Blätter, aber ein Kritifer würde fein weiteres Zeugnis benötigen, um zu erfennen, daß die Berfafferin ein Genie war. Zuerſt hebt fie in warmen Ausdrüden die frühzeitige Neife und jeltene Mäßigung Barantes hervor, und beflagt nur, daß er jich nicht öfters jeinen Eindrücden ganz hingiebt, und er- innert ihn daran, daß Zurückhaltung nicht immer Stärfe verät.
*) On arriva bientöt à tout nier; deja l’ineredulite avait rejete les preuves divines de la revelation et avait abjure les devoirs et les souvenirs chretiens.
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Sp jieht fie gleichjfam durch eine Intuition das geiltige Ge— präge des werdenden Jahrhunderts hinter den zufälligen und individuellen Vorzügen und Mängeln feines Buches. In Folge diefer Schrift jcheint fie mit plöglicher Intenſität gefühlt zu haben, wie tief jie jelbft mit ihrem jchaffensfrohen, reforma— torifchen Geift im vorigen, vom Fortichrittsglauben getragenen Sahrhundert wurzelte, erſt mit diefem Buch jcheint ihr die Uebergangszeit zum neuen Jahrhundert beendet zu fein und fie erftaunt über die Nefignation in daS Gegebene, über den Fatalismus, den Reſpekt vor jedem „fait accompli“, die ihr aus diefer Schrift entgegen treten. Sie ahnt, daß Ergebung in den durch die Umftände hervorgerufenen Drud ein charaf- teriftiiches Merkmal des neuen Zeitalter fein wird, fie fühlt im voraus, daß deſſen Philofophie zum großen Teil in dem Nachweis wird beftehen müſſen, daß das Wirkliche ver- nünftig fei, fie fcheint mit der Clairvoyance des Genies zu jehen, welche Zweidentigfeit dies Wort „das Wirkliche“ ent- halten, und für melchen ideenlojen Konjervativismus jener Sat die Loſung abgeben wird. Sie fehließt ihre Anfündig- ung mit folgenden, den Stempel prophetifcher Weisheit tragen den Worten:
„Das achtzehnte Jahrhundert verfündete die Prinzipien auf eine allzu unbedingte Weije; vielleicht wird das neun- zehnte Jahrhundert die Thatjachen mit allzugroßer Unterthänig- fett erflären. Das erſte glaubte an eine Natur der Dinge, das andere wird nur an die Umftände glauben. Das erite wollte über die Zukunft gebieten, daS andere bejchränft fich darauf, die Menjchen feinen zu lernen. Der Verfafjer des Buches, von dem ich jpreche, tft vielleicht der erjte, der auf augenfällige Weife die Färbung des neuen Jahrhunderts an- genommen hat.“
Diefe Aeußerung ift ebenjo treffend gemacht als jie inhaltsſchwer iſt. Keiner der übrigen Geifter, welche diefer bedeutenden Frau nahejtanden, hatte ſich jo entjchieden von dem vorhergehenden Jahrhundert entfernt, als der zulett auf- tretende Barante. Einer nach dem andern waren die Uebrigen
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vom Wrad des ſinkenden achtzehnten Jahrhunderts an Bord des Schiffes „Das neunzehnte Jahrhundert“ gejtiegen, und hatten es allmählich mit den Stoffen und Saaten, welche es führen jollte, beladen. Noch aber lag es, fejt vertaut, Bord an Bord mit dem Wrack. Barante war es, der das Schiffs- tau durchhieb und das Fahrzeug hinaus in ven weiten Dean führte.
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Schluß.
Die ganze Yitteraturgruppe, deren Entfaltung und Aus— bildung wir verfolgt haben, jteht für uns als ein zufammen- gewobenes Ganzes da. Eine Mannigfaltigfeit von einander freuzender Fäden erſtreckt ji) von einem Werk zum andern, und die Darjtellung hat nur den inneren Zufammenhang deut- ih und Kar gemacht; fie ift es nicht, welche die Einzelheiten willfürlich zufammengewoben hat. Nur muß man beachten, daß diefe Sammlung von Schriften, diejer Kreis von Schrift- jtellevn nur eine Gruppe, feine Schule ausmacht. Denn eine Gruppe enjteht durch die natürliche, unfreiwillige Verbindung von Geiftern und Werfen, die eine gemeinjame Nichtung haben; während ſich eine Schule bildet, wenn ſich die Schriftfteller bewußt unter der Leitung irgend einer mehr oder weniger bejtimmt geformten Ueberzeugung vereinen.
Die Cmigrantenlitteratur entwicdelt ſich, obſchon ſie franzöfifch tft, außerhalb Frankreichs. Zu ihrem Verftändniffe ijt es nötig, fich jtetS den furzen und gewaltſam durchichütterten Zeitraum vor Augen zu halten, in welchem die alte Staats- ordnung aufgelöft, die Legitimität in die Luft gejprengt, die herrichenden Stände zu Boden gejchlagen und die poſitive Neligion von Männern bei Seite geräumt wurde, Die öfter durch eine polemijche Philoſophie als durch eine vein wiſſen— ihaftlihe Bildung fich von ihrem Joche befreit und deshalb durch einen rückſichtsloſen und nicht immer ehrlichen Angriffs- frieg alle diejenigen gereizt hatten, welche klarer oder dunkler eine Ungerechtigkeit in al’ den Anfchuldigungen empfanden, die wider den alten Zuftand erhoben wurden, und Deren geiftiges und fittliches Bedürfnis, deren ganzes Gefühlsteben feine Befriedigung in dem neuen Zuſtande fand. Je abſtrakter und unpraftifcher die Humanitäts- und Fortſchrittsidee ſich gezeigt hatte, defto näher mußte ein Umſchlag dev Sympathien und Stimmungen liegen. Der Umſchlag fam, die Neaftion begann. Sch habe gejchildert, wie die Reaktion in ihrer erjten
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Geſtalt nur eine bedingte war, wie revolutionäre Ideen un- aufhörlich mit den Gedanken gemifcht jind, die ſich een gegen Voltaire wenden und wir haben gejehen, wie alle leiten- den Schriftjteller ihren geijtigen Ausgangspunkt im acht» zehnten Jahrhundert haben und Erinnerungen wie Nückfällen ausgejett jind. Sie gehen fozujagen alle von Rouſſeau aus. Der erjte Zug ijt nur der, daß man Rouſſeau's Waffen er- greift und fie wider feinen Gegner Voltaire richtet. Nur Barante, der jüngjte von allen, kann fih in Wahrheit von jedem Berwandtichaftsverhältnis mit Rouffeau losſagen.
Auf dieſe Schriftiteller folgt in Frankreich ein neues Gejchlecht Fonfervativer Schriftfteller, welche gleichfalls zum größten Zeil Emigranten find und die unbedingte, die prinzipielle Neaftion verfechten. Die Werfe diefer Männer bilden im Verein mit einzelnen Schriften von bereits auf- getretenen, künſtleriſch vorgejchrittenen, aber in Staat und Kicche der Neaftion Huldigenden Schriftjtelleen wie Chateau- briand, ſowie mit einigen veaftionären yugendarbeiten von jpäter freifinnigen oder doch radifalen Autoren, wie Yamartine und Hugo eine Gruppe, die unbedingt am Alten fejthält und deren herrichender Gedanfe das Autoritätsprinzip it. In ihrer Mitte ftehen Männer wie Joſeph de Maiftre, Bonald und Yamennais.
Unter der Bezeichnung Emigrantenlitteratur habe ich da— gegen hier die gejumderen litterariichen Erzeugnifje hervor: gehoben und gejammelt, in welchen die Reaktion noch nicht eine blinde Unterwerfung unter Autoritäten, jondern das natürliche und berechtigte Sichgeltendmachen von Gefühl, Seele, Leidenjchaft und Poefie im Gegenfage zur Berftandesfälte, exakter Berechnung und einer von Negeln und toten Ueber- lieferungen umfchnürten Litteratur tft, wie diejenige war, Die unter dem Kaifertume ihr mattes und blutlojes Yeben auf Frankreichs eigenem Boden führte. Die folgende Gruppe hat mit ihrem fejteren Zuſammenſchluß um ein einzelnes gebteteri- ſches Prinzip notwendigerweife ein jchärferes und jtrengeres Profil. Sm diefer Gruppe tft hingegen mehr Leben, mehr Stimmung, mehr wogende Kraft.
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Die Schriftiteller und Werke der Emigrantenlitteratur jtehen gleichſam in einem flacernden Lichte. Dieſe Perfünlich- feiten jtehen im Morgengrauen des Jahrhunderts. Die eriten Strahlen der Morgenjonne des neunzehnten Kahrhunderts fallen auf fie und zerreißen langſam den Schleier Oſſianſcher Nebel und Wertheriicher Schwermut, der fie umhüllt. Man fühlt, daß fie eine Nacht mit häßlichen, blutigen Szenen hinter fih haben; fie jehen bleich und ernft aus. Aber ihre Wemut ift poetiich, ihre Melancholie erweckt Mitgefühl, und man ver- jpürt gährende Kräfte in den leidenjchaftlichen Ausbrüchen, welche ihre Trauer darüber verraten, ihr Tagewerk nicht als Fortſetzung des voranfgegangenen Tages beginnen zu fönnen, vielmehr der Grundlage jfeptifch gegenüberjtehen zu müffen, die am Tage zuvor gelegt ward, und mühſam zujfammen- juchen zu müſſen, was die Zerſtörungen der Nacht verichont haben.
Die Cmigrantenlitteratur iſt daher eine tiefbemegte Litteratur.
Chateaubriand ift der erjte, der mit der bewegten Leidenjchaftlichfeit und den kräftigen, farbenreichen Natur- malereien feiner Epifoden den Formalismus durchbricht. Alles glüht und leuchtet hier von fatholifchem Entzücken und jatanischer Erotif; aber mitten im euer bleibt die moderne Persönlichkeit, das egoiftisch-einfame Genie, Nene, wie eine Statue aus Stein jtehen.
Stnancour bringt ein Werk hervor, das in befonders jeelenvoller Weiſe modernen Freifinn mit vomantifchem Sehnen, germanijche Sentimentalität und Wirklichkeitsſcheu mit romaniſch verfeinerten finnlichen Neigungen, den aufrüherifchen Hang, jede Frage mit den Selbftmordstränmereien der Selbjtaufgabe zu erörtern, verjchmilgt.
Nodier mijcht feine Stimme in diefen Chor. Fein, gejchmeidig, phantaftiich, voller Widerſpruchsluſt, greift er Napoleon und die gefellichaftlide Ordnung an, verherrlicht Klopftod und das Klofterleben; naiv wie ein Kind und doch gelehrt wie ein Greis jucht er das Märtyrertum auf, um das
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Vergnügen zu genießen, ſich verfolgt zu wiſſen und ungeſtört in der Einſamkeit ſtudieren zu können. Beſtändig fortſchreitend, macht er den Glauben an den Fortſchritt zum Gegenſtand ſeiner unaufhörlichen Spöttereien.
Conſtant tritt als Politiker und als ſchriftſtellernder Dilettant auf, der ſeine Meiſter beſchämt. Sein Geiſt ſchwingt wie ein Pendel zwiſchen dem Geiſtesleben zweier Zeitalter; von Naturanlage iſt er das Kind des achtzehnten Jahrhunderts, mit ſeiner Bildung und ſeinen Abſichten gehört er dem Zeit— alter der Verfaſſungen und Begriffsverbindungen an. Er giebt in ſeiner einzigen poetiſchen Leiſtung ſeinem Zeitalter ein Muſter pſychologiſcher Schilderung und einen Wink, wie viele tüchtige Gefühle und Kräfte auf dem Altare der modernen Geſellſchaft geopfert werden.
So recht aber wird die franzöſiſche Emigrantenlitteratur ſich ihrer Beſtrebungen und ihres tüchtigen Geiſtes doch erſt durch Frau von Stael bewußt. Die Geſtalt dieſer Frau beherrſcht die ganze Gruppe. In ihren Schriften iſt alles geſammelt, was in der Produktion der Emigranten berechtigt und edel war: die reaktionären und revolutionären Tendenzen, welche bei den übrigen Mitgliedern der Gruppe die ver— ſchiedenartige Thätigkeit und die ſchriftſtelleriſchen Leiſtungen derſelben zerſplittern, vereinigen ſich bei ihr zu einem Beſtreben, das weder reaktionär, noch revolutionär, ſondern veforma- torisch ift. Wie die andern nimmt auch fie Rouſſeau zum Ausgangspunkt; wie die andern, trauert auch fie über die Ausschreitungen der Revolution, doch höher als irgend einer der anderen liebt fie die perjönliche und politifche Freiheit. Sie befämpft die abjolute Macht im Staate und die Schein- heiligfeit in der Gefellichaft, den nationalen Hochmut und die religiöfen Vorurteile, fie überführt nach Frankreich die Kennt- nis des Volksgeiſtes der Nachbarländer und ihrer Yitteratur, und reißt mit ihren Händen jene Mauer von Selbjtzufrieden- heit nieder, mit welcher das fiegreiche Frankreich fich umgeben hatte. Barante fett mit feiner entfernenden Schilderung Frank— reichs im achtzehnten Jahrhundert nur ihr Werk fort und ichließt es ab.
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Die Litteratur, an welche fi) Frau von Stael in der fetten Periode ihrer Wirkfamfeit lehnt, deren Gedanfen man auch bei Barante verfpürt, diejenige, deren Entwidelungs- geschichte fich natürlich dev Emigrantenlitteratur anfchließt, iſt die romantische Litteratur in Deutfchland. Die ganze Gruppe von Schriften, welcher ich die gemeinjame Benennung „mis grantenlitteratur" gab, kann als eine Art Nomantif vor der Nomantik bezeichnet werden, d. h. vor der romantiſchen Schule in Frankreich, welche fie anfündigt. Aber fie fteht gleichzeitig, oft durch unwillfürliche Lebereinftimmung, zumwetlen durch direkte Beeinflußung, in vielfacher Berührung mit dem germanijchen Geifte und der Romantik desjelben, und daher fommt es, daß Frau von Stael in ihrem Buche „Ueber Deutjchland” Rouſſeau, Bernardin de Saint-Pierre und Chateaubriand „Deutjche, ohne es zu wiſſen“ nennt und deshalb trifft man, wie wir gejehen haben, bei den Schriftftellern der Emigrantenlitteratur an hundert verfchtedenen Punkten auf Anläufe zum Nomantifchen und auf Befchäftigung mit diefem Wort und Begriff.
Sie prophezeien aber nicht nur die großen Geiſter, welche nach ihnen auf dem Schauplag des Kahrhunderts auftreten jollen, ſondern fie ftellen diefelben auf eine höchſt merfwürdige Weiſe auch dar. Chateaubriand entfpricht als romantischer Koloriſt Hugo, als Tebensinüder Melancholifevr Byron. Sénancour fchlägt, lange bevor die romantische Schule auf- tritt, jene Saiten an, welche ſpäter von Sainte-Beuve ges jpielt werden. Nodier ift mit feiner philojophijchen und archäo— logiſchen Gelehrfamfeit, feiner ftvengen und reinen Sprade, jeinen phantaftischen und umngeheuerlichen Stoffen ein Vor— läufer Mérimées. Konftant zeichnet Balzac's Heldin, lange bevor Frankreich feine große Nomanlitteratuv erhält; als Polititer hat ex, objchon liberal und antiflerifal, einige Aehn— (ichfeit mit dem ausgeprägt romantischen Bolitifer Fr. v. Gent. Barante bereitet mit feiner fpivitualiftifchen und doch fataliftt- ihen Litteraturphilofophie die Kritik und Xejthetif vor, welche mit Bictor Coufin ihren Hocfis einnahm. Frau von Stael endlich jcheint die größte Schriftitellerin des Jahrhunderts
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vorherzuverfünden, die weniger hochgeſtellte, aber weit genialere und fruchtbarere Dichterin und Denferin George Sand.
Die Litteraturgefchichte eines ganzen Weltteils während eines halben Jahrhunderts beginnt jelbtverjtändlich nicht an einem vereinzelten Bunfte. Der Ausgangspunkt, den der Dar- jteller erfaßt, kann ſtets als ein zufälliger und willfürticher bezeichnet werden; ev muß fich auf feinen Inſtinkt und kritiſchen Blick verlafjen, jonjt fommt er nie dazu, zu beginnen. Die Emigrantenlitteratur erſchien mir der natürliche, der von der Geſchichte felbjt gegebene Ausgangspunft. Diefe Gruppe leitet, von einer Seite betrachtet, die jpätere veligiöfe und politijche Neaktion in der franzöfischen Pitteratur ein, von der anderen Seite hingegen bahnt fie der romantischen Schule in Franf- reih den Weg. Auf jedem Punkte aber bereitet fie zum Studium und Verjtändnis der romantischen Schule in Deutfch- land vor; ja jie hat jogar einzelne Berührungspunfte mit jo fernen Erjcheinungen wie Byron und Balzac.
Die Emigrantenlitteratuv bildet mit einem Worte die Duverture zum großen litterarifchen Schaufpiel des Jahr— hunderts.
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Inhalt.
Vorwort Adolph Strodtmann’s Einleitung .
Die Emigrantenlitteratur.
Allgemeiner Charakter der Emigrantenlitteratur .
I:
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10.
Da nn
Chateaubriand's „Atala“
Rouſſeau's „Neue Heloije“
Goethes „Werther“ . TE Chateaubriand’S „Rene“. Die Melancholie und Mijanthropie bei Moliere und Shafejpeare
Der neue Seelenzuftand
Senancour’s „DObermann“ .
Nodier EEE Conſtant's „Ueber die Neligion“. „Adolphe“ Conjtant und Frau von Stael. Benj. Conftant’3 Charakter. Goethes Frauengeftalten und Con— ſtant's „Eleonore“ — „Adolphe“.
Frau von Stael's „Delphine“. Der Kampf mit der Gefellichaft. Verbannung in Coppet. Frau von Stael und Voltaire
Die italienische Poefie und Sean von Staels Poetik. „Corinna“ . i
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„Corinna“. Kampf gegen nationale und protejtan- tische Vorurteile. Artiftiiche Betrachtung der Kunſt. Sympathie für den Katholizismus Neue Betrachtung der Antife . = — Frau von Stael’8 „Ueber Deutſchland“. Antife Renaiſſance. Romantiſche Reaktion gegen die Renaiſſance der Antife. Gotiſche Sympathien und Tendenzen. Der Müßiggang als deal. Vor» liebe für Mythus und Märchen. Uebertritt zum Katholizismus. Deutſchland und Hinduftan. Der Pantheismus der NRomantiferr. Die Schidjals- Dramen. Metaphyfiiche Aeſthetik. Dehlenjchläger Barante.
Schluß .
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Im Berlage von H. Barsdorf in Leipzig ericheint: Die Hauptſtrömungen der Sitterafur des 19. Sahrhunderts.
Von Georg Brandes, Jubiläums-Ausgabe 1897.
6 Bünde, 5. gänzlid umgearbeitete u. bedeutend vermehrte Auflage.
Elegant brochirt ME. 25.—. Ju 6 eleg. Original:Xeinwand: banden ME. 30.—. In 6 eleg. Halbfranzbanden ME. 34.—.
— Zeder Band if einzelu käuflich.
I. Emigrantenlitteratur. (Chateaubriand, Rouſſeau, Goethe, Senancour, Nodier, Conftant, Frau v. Stael, Barante 2c.) XVI. u. 257 Seiten. Eleg. brod Mf.4.50.
LI. Bomantifcye Schule in Deutfchland. (Tied, Sean Paul, Hölderlin, U. W. Schlegel, Friedr. Schlegel Lucinde, Wadenroder, E. T. U. Hoffmann, Chamifjo, Eihendorf, Arnim u. Brentano, Fichte, Arndt, Jahn, Fouque, Kleiſt, Zadar. Werner, Görres, de Maiftre 20.) 349 Seiten. Eleg. brod. ME. 4.50.
III. Beaktion in Frankreich. (Die Revolution, das Konfordat, dag Autoritäts- princip. Bonald. Die Trapdition in Religion, Staat und Familie. Chateau- briand, Frau v. Krüdener, die heilige Allianz, Lamartine, Lyrik und Erotif in der Keftaurationzzeit. Victor Hugos Jugendgedichte. U. de Vigny, Lamennais 2c.) 308 Eeiten. GEleg. brodirt. ME. 4.50.
IV. Naturalismus in England. Byron u. d. Seeſchule. (Gemeinfame Züge d. Volfscharafters u. d. Heitalters, der politiihe Hintergrund, Wordsworth, Coleridge, Der Freiheitsbegrijf der Seefhule, Southey, Scott, Keats, Th. Moore, Erotifche Lyrik, Th. Campbell, W. S. Landor. Radikaler Naturalismus. Shelly, Byron, die individuelle Leidenſchaft, der revolutionäre Geift 2c.) 400 Seiten. Elegant brochirt. ME 5—.
V. Bomantifce Schule in Srankreidy. (Der politiihe Hintergrund, d. Ges ſchlecht v. 1830, Nodier, fremde, heimiſche Einflüffe, de Bigny, Hugo, George Sand, A. d. Mufjet, Balzac, Beyle, Merimee, Gautier, Sainte-Beuve, Ponfard, vie focialpolitiihe Bewegung und die Prefje, die Ueberfehenen und Bergefjenen.) 363 Seiten. Elegant brodirt. ME. 5.50.
Das junge Deutſchland. (Der politifhe Hintergrund, Wiſſenſchaft und
Reaktion, DOppofitionelle Grundftiimmung, Einfluß der Sulirevolution. Beein-
fluffjung durch Byron, Wert der neuen Litteratur, Börne, Börne und Menzel,
Heine, Heine und Goethe, Heine und Rembrandt, Heine und Ariftophanes, Partei-
nahme in der Poeſie, Immermann, das junge Deutfhland und Menzel, Wienbarg,
Gutzkow, Laube, Mundt, Rahel, Bettina, Charlotte Stieglig, der Thronwechſel in
Preußen. Friedrih Wilhelm IV., die neutrale Litteratur (Tied, Rückert, Scheren-
berg, Pückler-Muskau), Politifhe Lyrik, philofophiihe Revolution (Anaft. Grün,
Herwegh, »ingelfteot, Ludw. Feuerbad), die revolutionäre Poeſie (Freiligrath,
Prus, Hartmann, Sallet, Bed, Meißner, die Revolution). 430 Seiten. Clegant
brodirt. ME. 6.—.
Elegant in Leinwand gebunden Eoftet jeder Band 1 Mark mehr, In Halbfranz Marf 1.50 mehr.
Brandes vergleichende Litteraturgeihichte des 19. Jahrhunderts fteht einzig in ihrer Art da. Freiheit des Individuums, Freiheit in Kunſt, Wiflenihaft, Politik und Leben, mit einem Worte, Freiheit anf jedem Gebiete, das ift der Grundton, auf welchen die „Hauptftrömungen*“ abgeftimmt find, der ihr im Verein mit der geiftvollen Eritiiden Behandlung der Stoffe ihren Weltruhm geſchaffen hat. Hodintereffant find die Wechjelbeziehungen von Politik, Religion 2c. zu den Dichtern und ihren Schöpfungen in jeder Periode geſchildert. Kein Gebildeter kann Heutzutage Brandes’ Hauptftrömungen der Litteratur des 19 Jahrhunderts ungelefen laffen.
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Im Verlage von 9. Barsdorf in Leipzig erichien:
Ferdinand Laſſalle.
Ein fitterarifhes Charakterbild. Bon Georg Brandes. Gr. 8°. Dritte Auflage. Mit Porträt. leg. broch. Alk. 2.50. Eleg. geb. Alk. 3.50.
_ Georg Brandes’ Darftellung des berühmten Bolfsmannes ift von allen Parteien als die beite bezeichnet worden. Wie er den Vorzügen Lafjalles gerecht wird, jo weiſt er auch feine Fehler und Schwächen auf. In genialer Weiſe beurteilt er die Schriften Laſſalles, der unftreitig zu den deutichen Klaffifern gezählt werden muß, deſſen Schriften vor allem erziehend und inftruftiv find. Der Standpunkt, daß Laſſalle ein wüſter Agitator gemejen, iſt längit verlaffen. Brandes fchildert ihn, fein Wollen und Können treffiih — feine Laffalle-Biographie gehört zu dem Geiftvolliten, was er überhaupt gejchrieben hat.
Die Wiedergeburt des Menſchen.
Abhandlung itber die 7 Testen Paragraphen von Leffings Erziehung des Menſchengeſchlechts. Von Guſtab Haufe.
2. Ausgabe. 1897. 300 Seiten. Eleg. broch. Alk. 3.
Diefes durch die Jury des Allgem. Deutihen Schriftiteller-
Verbandes in Leipzig preisgefrönte Werk fei alljeitiger Beachtung empfohlen.
35 zumeift farbige Bildtafeln aus Slögels Geſchichte des Grotesk-Komifden.
In eleganter Mappe ME. 3.—. Diefe für den Sammler, für Kulturhiftorifer, wie für jeden Ge- bildeten hochintereſſanten, oft derb draftifchen Abbildungen find nur nod) in wenigen Eremplaren vorhanden. Ludwig Barne und Heinrich Heine. Zwei litterariſche Charafterbilder. Von Georg Brandes. Ueberſetzt von A. v. d. Linden. 10 Bogen. Gr. 80. Vornehm ausgeftattet. Eleg. brod. Mk. 2.50. leg. geb. Mk. 3.50.
Rahel, Bettina, Charlotte Stieglis.
Drei litterarifche Frauenbilder aus der Zeit des „Jungen Deutjchland.“ Bon Georg Brandes. Ueberſetzt von A. v. d. Finden. Gr. 5°. Vornehm ausgeftattt Mark —.60. (Beides Separatausgaben aus den „Hauptjtrömungen“.)
Im Berlage von H. Barsporf in Leipzig erjchien ſo— eben die dritte Auflage von
Nannhart. V., Zauberglauhen und Geheimwiſſen im Spiegel der Jahrhunderke.
Mit 44 teils farbigen Abbildungen. Gr. 8°. 284 Geiten. 1897. Elegant in zweifarb. Umjchlage.
Brochiert ME. 4.—. Clegant gebunden Mf. 5.—.
Das vorstehende Werk verfucht einen Ueberblick über die erften Anfänge und allmählihe Weiterentwidelung und Verpflanzung von Magie und Zauberkunft zu geben. Es zeigt, wie der Menſch zu allen Zeiten bemüht war, zwiſchen ſich und der Geifterwelt eine reale Ver— bindung berzuftellen und vor allem die lettere fih zu feinen Zwecken dienftbar zu mahen Hierbei jpielt die Schakgraberei mit dem ver- ichtedenartigen Geifter: und Hpllenzwang eine große Nolle. Es find hierzu eine große Anzahl intereffanter, myſtiſcher Abbildungen zur Erläuterung beigefügt. Wir jehen dann, wie eng mit dem Aberglauben ftet8 der Teufelsglaube und die Herenprozefje verbunden waren, welche Wichtigkeit man der Aftrologie, dem Nativitätsftellen, der Ne— kromantie, den betäubenden Näucherungen beimaß, und wie bis in die neuefte Zeit Geifter- und Spuferfcheinungen an der Tagesordnung waren und find.
Dies interefjante Werk wird gerade jebt, wo Decultismus, Spi— ritismus, Theojophie, wieder in jo beveutendem Umfange die Geifter beichäftigen, umfjomehr Anklang finden, als es in gemeinfaßlicher Weiſe einen gewifjfermaßen hiſtoriſchen Nundblid in all’ dieſe Gebiete geftattet.
Ein Weltblatt wie die Kölniſche Zeitung bezeichnete es in einer langeren Befprehung als ein zeitgemäßes und ein zu em: pfehlendes Werk, „da es gegenüber manchen heutigen Beftrebungen, alten Aberglauben in neuen Geftalten wieder in Umlauf zu ſetzen, mit Nachdruck darauf verweife, was die Meenfchheit der Au flarung, der Freiheit der wifjenfchaftlichen Forfchung zu ver danfen habe.‘
Laſſalle, Ferd. Die Philoſophie Herafleitos des Dunklen von Epheſus.
2 Bände Sex, 80. Elegant brochiert Mk. 20.—.
Laſſalles Arbeit über den „dunklen Ephefier” ift ein Monu— mentalwerk deutfchen Fleißes und ſteht noch heute unerreicht da.
Drud von Ernft Heitmann, Leipzig.
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