ODONTOLOOISCHE STUDIEN II DIE MORPHOGENIE DER PRIMATENZÄHNE EINE WEITERE BEGRÜNDUNG UND AUSARBEITUNG DER DIMERTHEORIE VON PROF. DR. L. BOLK DIREKTOR DES ANATOMISCHEN INSTITUTS DER UNIVERSITÄT AMSTERDAM -w~ \SI4- West Virginia University Libraries VIPIfHIIlRIIIII 3 0802 101932001 4 ffCS - F. ODONTOLOOISCHE STUDIEN II DIE MORPHOGENIE DER PRIMATENZÄHNE EINE WEITERE BEGRÜNDUNG UND AUSARBEITUNG DER DIMERTHEORIE VON PROF. DR. L. BOLK DIREKTOR DES ANATOMISCHEN INSTITUTS DER UNIVERSITÄT AMSTERDAM MIT 61 ABBILDUNGEN IM TEXT UND 3 TAFELN JENA VERLAG VON GUSTAV FISCHER 1914 ^3? wY Alle Rechte vorbehalten. Vorwort. Die zweite meiner odontologischen Studien bildet gewissermaßen eine Fortsetzung der ersten und schließt sich dann auch ihrem Inhalt nach, unmittelbar letzterer an. Dennoch trägt der Inhalt der vor- liegenden einen ganz anderen Charakter. Die erste Studie hat, der Hauptsache nach, zwei Probleme zum Gegenstand. Erstens die Onto- genese des Säugerzahnes und zweitens die Beziehung zwischen dem Gebiß der Eeptilien und der Säuger. Beide Probleme stehen im un- mittelbaren Zusammenhang miteinander. Und in jener Studie habe ich mich bemüht die Ansichten, wozu ich auf Grund mehrjähriger Untersuchung bezüglich der genannten Probleme gelangt war, in knapper Form mitzuteilen. Es wurde dabei hauptsächlich von ontogenetischen Beobachtungen an Primaten- und Reptiliengebissen Ausgang genommen. Als wichtigstes Ergebnis dieser Untersuchungen gelangte ich, was die Entstehung des Säugerzahnes betrifft, zu Ansichten, welche ich kurzhin als die Dimertheorie der Zähne zusammengefaßt habe. Die vorliegende Studie nun hat den Zweck, das Gebiß der Pri- maten von den Prinzipien aus, welche in. dieser Theorie niedergelegt sind, zu beleuchten. Diese Untersuchung wurde jedoch nicht a posteriori angestellt; denn ehe ich zum Niederschreiben meiner theoretischen Ansichten überging, waren die vergleichend anatomischen Unter- suchungen, welche in der vorliegenden Studie mitgeteilt werden, schon zum größten Teile fertig. Und die Konzipierung meiner Theorie stützte sich daher nicht allein auf ontogenetische Beobachtungen, sondern auch auf morphologische Erscheinungen, welche das Gebiß der Pri- maten bot. Für eine Begründung und Darstellung meiner Theorie eigneten sich aber ontogenetische Beobachtungen weit besser als morpho- logische Zustände. Daher war in der ersten Studie nur von jenen die Rede. Diese zweite Studie nun hat die ausgebildeten Zahnformen der Primaten zum Gegenstand. Es wird hierin versucht, diese Formen in ihrer historischen Entwicklung verständlich zu machen mit Hilfe der Dimertheorie. Es stellt somit die vorliegende Studie eine Vervollständigung der ersten dar, insoweit jene sich mit der Genese der Zahnformen be- schäftigt. Über das zweite der dort besprochenen Probleme: die Be- ziehung zwischen Reptilien- und Säugergebiß, wird in der vorliegenden Studio nicht gesprochen. Das bliebe für eine der folgenden Studien vorbehalten, denn die dritte wird, ihrem Inhalt nach, sich wieder enger an die zweite anschließen. Ich beabsichtige darin, die Anomalien in Zahnform und Gebißkonstruktion der Primaten systematisch ab- zuhandeln unter Benutzuno; des im hiesigen Institut sich findenden IV Vorwort. außerordentlich reichhaltigen Materials. Wir werden dabei besonders die Relation zwischen den anomalen Zahnformen und den Prinzipien der Dimertheorie betonen. Es bildet - - wie aus dem Obenstehenden hervorgeht — diese zweite Studie mit der ersten eine Einheit. Ich möchte auf diese Tatsache besonderen Nachdruck legen. Denn es folgt hieraus, daß eine frucht- bare kritische Beurteilung meiner Theorie erst nach Kenntnisnahme des Inhalts beider Studien gegeben werden kann. Zwar bildet auch die nächstfolgende einen integrierenden Bestandteil meiner Arbeit über die Zahnformen, ein Urteil über meinen Standpunkt läßt sich aber schon ganz gut gewinnen aus diesen beiden ersten Heften. Die vorliegende Arbeit zerfällt in zwei Unterteile. Im ersten Teil ist die Entwicklung der Zahnformen der Primaten im allgemeinen verfolgt und dargestellt worden, wie sich allmählich aus der einfachen Zahnform durch Aktivierung der morphogenetischen latenten Potenzen, welche in jedem Zahnkeim seiner dinieren Natur gemäß enthalten sind, die mehr komplizierte Zahnstruktur herausgebildet hat. Der zweite Teil beschäftigt sich mit dem Gebiß der Primaten als Ganzes. Hier ist versucht worden, die phylogenetischen Abänderungen und Speziali- sierungen systematisch zu verfolgen, welchen das Primatengebiß unter- worfen gewesen ist. Hierbei konnten kurze Bemerkungen über stammes- geschichtliche Fragen nicht ganz umgangen werden. Ich habe mich jedoch möglichst bemüht, die auf Beobachtung fußenden Tatsachen auf den ersten Plan zu stellen und niemals Meinung oder Behauptung im Kleide einer Tatsache zu stecken. Amsterdam, Februar 1914. Inhalt. Seite Vorwort III- VIII Allgemeiner Teil. Die Entwicklung' der einzelnen Zahnformen. Einleitende Bemerkungen 1 — 4 Erstes Hauptstück. Die Differenzierung der Oberkieferzähne 5 — 96 A. Die Dreihöcker phase. Der kegelförmige Zahn ist nicht notwendig als der meist primitive zu betrachten (5). Es tritt diese Form nicht selten als Anpassungs- erscheinung auf (6). Es ist wahrscheinlich, daß das Grundelement des Säugerzahnes ein dreispitziges Gebilde war (7). Der dreispitzige Rep- tilienzahn ist nicht durch Verwachsung entstanden (7). Roses Unter- suchung über die Zahnentwicklung von Chamäleon (8). Burckhardts Kritik auf diese Untersuchung (8). Unzulänglichkeit der Röseschen Beobachtungen als Beweis, daß die Trikonodontie durch Verwachsung entstanden ist (8). Die Theorie von Mar eth Tims über die Entstehung der Molaren (9). Harrisons Stellungnahme in der Konkreszenzfrage in Hinsicht auf die Zähne von Hatteria (9). Kükenthals Ansicht über die Entstehung der Trikonodontie und deren Begründung (10). Depen- dorfs Kritik zur Kükenthalschen Meinung (11). Die Bezeichnungs- weise der Höcker und Spitzen (11). Begriff und Anwendung von Kronen- formel (12). Die Wing eschen Kronenformeln (12). Die Bezeichnung der Wurzel (13). Die Formel des primitiven Zahnes (13). Die erste Differenzierung der mesozoischen Säugerzähne ist eine Wurzelverdoppe- lung (13). Osborns Entwicklungsstufen des Trituberculartypus (13). Die Beziehung der Schmelzorgane zur Wurzelbildung und die Ursache der Wurzelverdoppelung(14). Die genetische Bedeutung der Wurzeln(lß). An den Zähnen der ältesten triassischen Säuger ist von einer Dimerie noch nichts zu sehen (17). Diese Tatsache steht nicht in Widerspruch zum Prin- zip meiner Theorie (17). Die Bedeutung des lingualen Cingulum an den Zähnen der Trikonodonten (18). Kommt die primitive trikonodonte Zahnform noch bei den Primaten vor? (18). B. Die Sechs h öcker phase. Die Transgressionshypothese der Trituberculartheorie (19). Die Un- richtigkeit derselben auf Grund embryologischer Tatsachen (19). Os- borns Stellungnahme der ontogenetischen Bedenken gegenüber (20). i p 2 Die erste Höckermanifestation des Deuteromer; Kronenformel — — — (20). Gidleys Nachweis, daß solche Zähne bei jurassischen Säugern vorkommen (20). Widerspruch dieser Tatsache mit der Transgressions- hypothese (21). Auftreten einer lingualen Wurzel (22). Die Entstehung der lingualen Wurzel ist nicht mit der Transgressionshypothese in Über- einstimmung zu bringen (22). Wird dagegen durch die Dimertheorie VI Inhalt. leicht erklärt (22). Über das Vorkommen von dreiwurzeligen Zähnen l P 2 mit der Kronenformel bei den rezenten Primaten (23). Über dessen Vorkommen bei den eocänen Urprimaten (25). Weitere Ent- l P 2 wicklung des Deuteromer; Kronenformel — — -- (25). Beispiele von Zähnen mit dieser Formel (26). Vollständige Ausbildung des Deuteromer; 1 P 2 Kronenformel — — (26). Seltenheit dieser Struktur bei den Primaten 3 J-> 4 (26). Die sechshöckerige Entwicklungsstufe im System Cope-Osborn ist nicht mit der meinigen identisch (27). Die Anlage aller Zähne halten vollständig die gleichen Potenzen inne, die Verschiedenheit der Form ist nur die Folge von Verschieden- heit in der Entwicklung der einzelnen Potenzen (28). Ahrens Stand- punkt in dieser Frage (28). Die Formrelationen von Caninus und In- zisivi zum Sechshöckertypus (28). Die in der Literatur sich findenden Ansichten über den Caninus als modifizierter Prämolar (Rose, Leche, Stehlin) (29). Die Formgleichheit von Caninus und Incisivi (29). Die Heterodontie ist nicht unbedingt von der Dimerie abhängig (30). Der Begriff der Äquipotentie der Zahnanlagen in der Literatur (30). Die bezügliche Ansicht von d'Eternod (30). Jene von Aeby, Zucker- kandl, Dependorf, Adloff (31). Die Meinung Rütimeyers über die Beziehung zwischen Prämolaren und Molaren der Ungulaten (32). Diesbezügliche Äußerungen von Huxley und Topinard (33). Über die morphologische Bedeutung der Eckzähne (33). Primaten- canini mit geringer Beteiligung des Deuteromer (34). Solche mit aus- giebiger Entwicklung der deuteromeren Potenzen (35). Die genetische Bedeutung des Tuberculum dentis oder Basalhöckers von de Terra (36). Die Eckzähne des Menschen und der Anthropomorphen sind in ihrer Zusammensetzung nichthomologe Bildungen (36). Anomalien der Eckzahnform als Folgen seiner dinieren Natur (38). Die zwei ver- schiedenen Formen der Zweiwurzeligkeit des Eckzahnes (38). Die Ver- doppelung des Eckzahnes in Beziehung zu seiner Dimerie (39). Der Eckzahn der Säugetiere entspricht nicht einem Kegelzahn der Rep- tilien (40). Die Incisivi als spezialisierte Formen (41). Bei den Incisivi sind die drei Spitzen des Protomer durchgehend gleichmäßig entwickelt (41). Die primitive Gestalt der Incisivi bei den Carnivoren (42). Mor- phologische Andeutungen der ursprünglichen Trikonodontie bei den Incisiven der Primaten (43). Über die Beteiligung des Deuteromer an der Bildung der Incisivi (44). Die Basalhöcker und Incisorenhöcker von de Terra (44). Ursache der Formdifferenz zwischen oberen und unteren Incisivi (45). Die Manifestation des Deuteromer an den oberen Incisivi des Menschen (45). Formvariationen der Incisivi beim Menschen, und ihre Erklärung (46). Über die Bedeutung und Entstehung über- zähliger Incisivi (47). Schizogene Variationen (49). Unterschied zwischen Halbaffen und Affen in der Kronenstruktur der Prämolarenreihe (51). Die Prämolaren der wahren Affen sind nicht als primitive Formen zu betrachten (51). C. Die Doppelhöckerphase. Über den Wert einer prinzipiellen Gegenstellung zwischen Molaren und, Antemolaren (52). Eine genauere Kenntnis des Marsupialier- gebisses ist notwendig für die Lösung des Molarenproblems (53). Die beschränkte Bedeutung der Trituberculartheorie (53). Der typische Gegensatz in Struktur der Molaren und Antemolaren (54). Die Be- deutung und Entstehungsweise der beiden bukkalen Molarenhöcker (55). Die Verdoppelung des /"-Höcker (56). Die genetische Beziehung der Höcker Pa und Pp zum Mutterhöcker P (57). Die gegebene Erklärung der Entstehung des Molarentypus ist in Übereinstimmung mit den embryologischen Beobachtungen (58). Scotts Ansichten über die Entstehung der molarisierten Prämolarenform (59). Prinzipielle Diffe- renz zwischen dem Standpunkt von Scott und jenem des Autoren (59). Seite Inhalt VII Seite Das „Protopecten", die primitivste Form des Leistensystems (61). Die Begriffe „Schizopecten" und ,,Diplopecten" (61). Übereinstimmen- des und Differentes in der Cope-Osbornschen Theorie und der meinigen (62). Gidleys Bedenken gegen die Trituberculartheorie (63). Die Kronenformel — - — (63). Das Vorkommen der Formel Pa — (64). Die Molaren der Arktopitheken sind reduzierte und nicht primitive Formen (64). Weitere Differenzierung der Molaren: Ent- i Pa Pp 2 stehung der Formel — (65). Graduelle Entstehung verschiedener Kronen mit der vorangehenden Formel (66). Die Stellung der Molaren von Avahis im System (68). Reduktion der vollständigen Molaren- formel durch Verlust von Nebenspitzen (70). Das Studium des Pro- simiergebisses ist notwendig für das Verständnis jenes der Affen (71). Das Leistensystem der Affenmolaren als Leitfaden beim Studium der Differenzierung dieser Zähne (72). Die Grunderscheinung im Ent- wicklungsgang der Affenmolaren (72). Systematische Übersicht über die Differenzierung der Primatenmolaren (73). Über die Zwischen- tuberkel (74). In welcher Beziehung steht das Leistensystem der Cerco- pithecidenmolaren zu jenen der Anthropoiden ? (80). Individuelle Varia- tionen bei Siamangmolaren bringen die Entscheidung dieser Frage (81). Das Leistensystem an den oberen Molaren von Dryopithecus (82). Die primitive Beschaffenheit der menschlichen Molaren (83). Reduk- tionserscheinung an den menschlichen Molaren (84). D. Das Carabellische Höckerchen. Über den Entwicklungsgrad des Tuberkulum(85). Definition (85). Es kommt nicht ausschließlich beim Menschen vor (86). Vorkommen bei Prosimiae (87). Bei Simiae (87). Die Ansicht von de Terra über die Verbreitung des Höckerchens (88). Es kommt auch außerhalb des Pri- matenstammes vor (88). Die Ansichten über die Bedeutung des Höcker- chens in der Literatur (89). Der Wert des Gebisses als Grundlage für Verwandtschaftshypothesen (89). Die Dimertheorie in der bis jetzt gegebenen B'assung ist zu beschränkt für die Erklärung des Höcker- ehens (91). Die genetische Bedeutung des Tuberkulum (91). Cara- belli ist die Manifestation einer dritten Zahngeneration (91). Begründung dieser Ansicht (92). Schlußfolgerungen aus der behaupteten Bedeutung des Höckerchens (93). Zweites Hauptstück. Die Differenzierung der Unterkieferzähne 96 — 114 Der Entwicklungsgang der unteren Zähne war ein anderer als jener der oberen (96). Prinzip der Morphogenese der unteren Zähne (97). Die Differenz in der Ausbildung unterer und oberer Zähne kommt auch in den bestehenden Differenzierungstheorien von Scott und Cope-Osborn schon zum Ausdruck (97). Die Ursache des ungleichen Entwicklungsganges (98). Der Grundtypus des Säugetiergebisses war isognath (99). Die sich einstellende Anisognathie war der erste Anlaß für die verschiedene Differenzierung oberer und unterer Zähne (99). Systematische Übersicht der allmählich sich komplizierenden gegen- seitigen Beziehungen zwischen oberen und unteren Zähnen (100). Über- sicht über die Formentwicklung des unteren Molaren (110). Die ver- schiedene Lagerung des Basalsaumes bei oberen und unteren Zähnen und die Bedeutung dieser Tatsache (111). Fortsetzung der Entstehungs- geschichte der unteren Molarenform (111). Der Entwicklungsgang des Primatengebisses zielt dahin, die Anisomorphie zwischen oberen und unteren Molaren auszugleichen (113). Die Form des Zahnes ist in jeder Ent- wicklungsstufe das Resultat der Einwirkung biomechanischer Einflüsse (113). Von den Wurzeln der unteren Zähne (113). Drittes Hauptstück. Über das Wesen der Zahnkonkreszenz 115 — 127 Einleitendes (115). Der Standpunkt von Depenüori in der Konkreszenzfrage (116). Die Entstehung der Zähne bei den Teleostomen VIII Inhalt. Seite (117). Unterschied der Zahnentwicklung bei Teleostomen und Selachiern (118). Die Differenz in den Ansichten von Owen und Hertwig (119). Über die Entstehungsweise der Ersatzleiste (120). Anschluß an die ältere Vorstellung von Owen und K Olli k er (121). Bei den höheren Verte- braten entstehen die Zähne nicht autochthon, sondern verdanken einer Matrix ihre Entstehung (122). Meine frühere Auffassung über das Wesen der Zahnkonkreszenz habe ich aufgeben müssen (124). Die Dimerie ist nicht die Folge von einer Konkreszenz, sondern von dem Ausbleiben einer räumlichen und zeitlichen Sonderung (125). Es kommt vielleicht schon bei gewisser Theriodontia zur Entstehung dimerer Zähne (125). Spezieller Teil. Das Primatengebiß als Ganzes. Allgemeine Bemerkungen 128—131 Die zusammengesetzten Zähne der Urprimaten sind höckerreicher als die der rezenten Formen (128). Es gibt zwei Phasen im Werdegang des Primatengebisses, eine Evolutionsphase und eine Spezialisierungsphase (128). Merkmale der ersten Phase(129). Die Grunderscheinung der zweiten Phase (129). Viertes Hauptstück. Das Unterkiefergebiß der Primaten 131-163 Das Unterkiefergebiß einiger eocäner Primaten (131). Die Prä- molaren (132). Schlossers Meinung, daß die rezenten Primaten nicht von den bekannten eocänen Formen abstammen können, weil die Zähne der letzteren komplizierter sind, ist nicht aufrecht zu halten (133). Die Molaren der eocänen Primaten (134). Das Unterkiefergebiß der Prosimiae (136). Die Prämolaren (137). Die Molaren (139). Die eigenartige Gestalt des ersten Molaren bei den Indrisinae (140). Vergleichung der Unterkieferzähne heutiger Prosimiae und solcher eocäner Primaten (142). Das Unterkiefer- gebiß der platyrrhinen Affen (143). Die Molarenformel (144). Die Prä- molaren (145). Die Bedeutung der Molarisierung des dritten Prämolaren der platyrrhinen Affen (146). Die Reduktion der Wurzelzahl bei den amerikanischen Affen (147). Die Milchmolaren der Platyrrhinen (149). Die Cope- Osbornsche Theorie und die Milchmolaren (150). Die Wurzeln der Milchmolaren des platyrrhinen Gebisses (152). Das Unter- kiefergebiß der katarrhinen Primaten (153). Die permanenten Molaren (154). Korrelativerscheinungen in der Struktur oberer und unterer Mo- laren (155). Die Höckerzahl der unteren Molaren beim Menschen (155;. Reduktionserscheinungen im Unterkiefergebiß des Menschen (156). Die Prämolaren (157). Die Kronenstruktur der Milchmolaren (158). Ver- gleichung zwischen Milchmolaren und Prämolaren (158). Die Milchmolaren stellen nicht mehr primitive Formen dar (159). Ein Gebiß ist primitiver, je ähnlicher Milchmolaren und Prämolaren einander sind(159). In der Be- ziehung zwischen der Struktur von Milchmolaren und Prämolaren ist das menschliche Gebiß am meisten spezialisiert (161). Fünftes Hauptstück. Das Oberkiefergebiß der Primaten 164 — 18] Das Oberkiefergebiß eocäner Primaten (164). Die Zwischen- tuberkel in den Molaren der eocänen Primaten (166). Der hintere Zwischenhöcker bei rezenten Primaten (167). Die Bedeutung der Zwischenhöcker (168). Das Oberkiefergebiß der Halbaffen (169). Die Prämolaren (170). Die Molaren der Halbaffen (171). Die Molaren vom Geschlecht Lemur sind wahrscheinlich simplifizierte Formen (172). Das Oberkiefergebiß der platyrrhinen Affen (174). Reduktionserscheinungen am Gebiß der Platyrrhinen (175). Die Kronenformel der Prämolaren (175). Die Molaren der Platyrrhinen (176). Die Milchmolaren der ameri- kanischen Affen (178). Die oberen Backzähne der katarrhinen Primaten (179). Die Zähne der Anthropomorphen (180). Schluß (181). Allgemeiner Teil. Die Entwicklung der einzelnen Zahnformen. Einleitende Bemerkungen. Die Basis, auf welche die nachfolgende Geschichte der Morpho- genese der Primatenzähne aufgebaut ist, wird von den Tatsachen ge- liefert, welche in der ersten dieser Studien nachgewiesen sind. Zuerst ist darin festgestellt worden, daß der Säugerzahn durch Vereinigung der Keime zweier Primärzähne entstanden ist, welche einander als eine ältere und eine jüngere Generation verwandt waren. Und wahr- scheinlich ist, daß diese Zähne nicht einfache Kegelzähne waren, wie es wohl meistenfalls behauptet wird, sondern dreispitzige Zähne, wo- bei die Spitzen als eine mittlere Hauptspitze und zwei Nebenspitzen zu deuten sind. Die Hauptspitze ist das Homologon des einfachen Kegelzahnes, die Nebenspitzen sind durch Differenzierung daraus her- vorgegangen. Die dreispitzige oder trikonodonte Urform stellt somit ein einheitliches Gebilde dar. Durch die Verbindung zweier solcher Elemente zu einem einzigen Element, erlangte der Säugerzahn somit den Charakter eines „dinieren" Gebildes, das Homologon der älteren Generation, das man sich an der bukkalen Seite des Zahnes zu denken hat, wurde als das „Protomer" unterschieden, jenes der jüngeren Generation als das „Deuteromer". Diese Grundanschauung über die Natur des Säugerzahnes ist bestim- mend für die Richtung, worin sich eine vergleichende Untersuchung, angestellt mit dem Zweck, die historische Entwicklung der Zahndiffe- renzierung kennen zu lernen, bewegen muß. Denn es konzentriert sich die Untersuchung in die Fragestellung, welcher Teil des Zahnes gehört dem Protomer an und welcher dem Deuteromer, und weiter, auf welche Spitzen der ursprünglich trikonodonten Urelemente sind die Höcker bei jedem Zahn zurückzuführen. Diese Frage ist natürlich nicht sofort für jeden Zahn zu beantworten. Durch eine systematische Untersuchung muß zuerst der allgemeine Entwicklungsgang der Zahndifferenzierung ausfindig gemacht werden. Ich habe das nun, unter Zugrundelegung der beiden oben kurz angedeuteten Entstehungsprinzipien für die Primaten vorgenommen und werde das Resultat dieser Arbeit in zwei Abschnitten zur Darstellung bringen. In dem ersten Abschnitt wird eine theoretische Auseinandersetzung gegeben, von der Weise, in welcher ich mir die all- mähliche Entwicklung der verschiedenen Zahnformen im Gebiß der Primaten denke. Dieser Abschnitt stellt somit den allgemeinen Teil dar. Der zweite Abschnitt trägt einen mehr speziellen Charakter, da Bolk, Die Morphogenie der Primatenzähne. 1 2 Allgemeiner Teil. in demselben die Gebisse der einzelnen Primatengeschlechter syste- matisch im Licht der im ersten Teil dargestellten allgemeinen Gesichts- punkte betrachtet werden sollen. Unter Primaten fasse ich in dieser Arbeit sowohl die Halbaffen als die wahren Affen zusammen. Ob in den Hauptzügen die hier gegebene Darstellung auch auf andere Ordnungen der Säugetiere übertragbar ist, betrachte ich wohl als wahrscheinlich, es sollte jedoch durch besondere Prüfung die allge- meine Gültigkeit festgestellt werden müssen. Vorläufig möchte ich mich vor Verallgemeinerung hüten. Unter Beibehaltung der Grundanschau- ung, daß die Dimertheorie für alle Säugerzähne gilt, ist im folgenden also immer nur von Primatenzähnen die Rede. In jenen Fällen, in den ich jetzt schon der Überzeugung bin, daß diese Erscheinung eine mehr allgemeine Bedeutung für die Geschichte des Säugergebisses hat, werde ich das ausdrücklich hervorheben. Und letzteres kann ich schon am Eingang meiner Darstellung tun bezüglich einer Erscheinung, die wohl die Bedeutung eines die Zahndifferenzierung beherrschenden Gesetzes hat. Dieses Entwicklungsgesetz ist folgenderweise zu formulieren: Bei der Differenzierung des Säugerzahnes hat das Protomer immer eine wichtigere Rolle gespielt, als das Deuteromer; bei progressiver Ent- wicklung ist es immer vorangegangen, bei regressiver Entwicklung erweist es sich als das mehr resistente Element. Eine zweite Gesetz- mäßigkeit ist die folgende: Bei der Differenzierung der Höcker jedes der beiden Bestandteile des Säugerzahnes werden die beiden Haupthöcker, sowohl jener des Protomer als jener des Deuteromer, immer den Cha- rakter vom Hauptbestandteile des Zahnes bewahren; bei progressiver Entwicklung äußert sich der Fortschritt zuerst an ihnen, und erst an zweiter Stelle an den ursprünglichen Nebenspitzen, bei regressiver Entwicklung erweisen sie sich immer resistenter als die Nebenspitzen. In gewissem Sinne verhalten sich somit bei der Differenzierung die Nebenspitzen zu der ihnen zugehörigen Hauptspitze, wie das Deutero- mer sich zum Protomer verhält. Das Hauptelement der Zähne ist und bleibt aber immer der Haupthöcker des Protomer. Bei höchstgradiger Reduktion oder einfachster Entwicklung des Zahnes ist es dieser Höcker, der zuletzt übrig bleibt, oder sich allein entwickelt. Diese Ungleich- wertigkeit der den Säugerzahn zusammensetzenden Teile erleichtert die Erkenntnis des Differenzierungsganges wesentlich. Es fängt das Deuteromer seine Beteiligung an der Bildung des Zahnes an als ein einfaches Akzessorium zum Protomer, und allmählich, nachdem letzteres schon eine höhere Entwicklungsstufe erreicht hat, fängt auch das Deuteromer an sich weiter zu differenzieren und größeren Anteil an der funktionell mehr vollkommenen Gestalt des Zahnes zu nehmen, wie sie uns besonders in den Molaren entgegentritt. Es ist die Ursache dieser Differenz zwischen den beiden Bestandteilen des Zahnes nicht unschwer einzusehen. Denn das Protomer verhält sich zum Deutero- mer als eine ältere Generation einer jüngeren gegenüber. Letztere, die bei den reptilienartigen Stammformen angewiesen war, auch einmal als freier, selbständiger Zahn zu funktionieren, hat bei der Ausbildung des Säugergebisses, unter Verwachsung mit der lingualen Seite des Zahnes der älteren Generation, ihre Selbständigkeit eingebüßt. Und den zeitlichen Vorsprung, den letzterer in der Entwicklung besitzt, behält er bei. Er entfaltet seine morphologischen Entwicklungsten- denzen am ehesten und am vollständigsten. Die zeitliche Auffolge in Die Entwicklung der einzelnen Zahnformen. 3 der Differenzierung, welche den beiden Elementen in der Reihe der Reptilien zukam, bleibt erhalten, wenn beide zu einem einheitlichen Gebilde verlötet sind in beziig auf den Differenzierungsgang. Das Protomer behält die Führung. Und in der ersten Differenzierungsphase werden wir dann auch letztgenanntes immer den Hauptteil des Zahnes bilden sehen, während das Deuteromer anfänglich nur als ganz rudi- mentäres Gebilde sich an der Innenseite des Protomeren findet, um erst allmählich die ihm innewohnenden Entwicklungstendenzen völlig zu entfalten. Zu obenstehendem sei jedoch sofort zugefügt, daß diese Beziehungen bei den oberen Zähnen sich viel schärfer äußern als bei den unteren Zähnen. Als einleitende Bemerkung muß ich an dieser Stelle kurz auf eine Schlußfolgerung eingehen, welche sich in der ersten dieser Studien findet. Bei der Diskussion über die ursprüngliche Form des Säugergebisses habe ich im vierten Hauptstück jener Studie als meine Meinung ausgesprochen, daß die Säugerzähne entstanden sein sollten durch Konkreszenz zweier trikonodonter Zähne. Die Trikono- dontie war ein von den Reptilien vererbtes Merkmal. Als ideale, voll- ständig schematische Ausgangsform mußte somit ein Zahn betrachten werden mit sechs Höckern, drei in einer Linie an der Außen- und drei ebenfalls in einer Linie an der Innenseite. Auf eine Ausarbeitung dieser Idee habe ich damals verzichtet, eben weil ich das als Haupt- gegenstand der vorliegenden Arbeit bestimmt hatte. Nun kann jene Darstellung leicht zu Mißverständnissen Anlaß geben, nämlich dann, wenn man jene ideale Ausgangsform als reelles Beginnstadium der Säugetierzähne auffaßt, was mir niemals im Sinne gelegen hat. Denn das Deuteromer, das seiner Potenz nach ein trikonodonter Zahn ist, ist nicht in solcher ausgebildeten Form zur Konkreszenz gekommen. Die Verschmelzung darf man sich nur denken als eine zwischen Zahn- keimen und nicht eine von ausgebildeten Formen. Und in dieser zu- sammengesetzten Anlage ist zwar die Potenz zur Ausbildung zweier trikonodonter Zähne enthalten, aber in welcher historischen Aufeinander- folge diese Potenzen sich morphologisch manifestierten und in welchem Grade sie sich in jedem besonderen Fall entfaltet haben, das eben muß Gegenstand spezieller Untersuchung sein. Die Hauptsache dabei ist zu- nächst festzustellen, welchen Zahnteil man dem Protomer und welchen man dem Deuteromer zuweisen muß. In keinem Fall ist der Differenzie- rungsgang derart zu denken, daß am Anfang der Entwicklungsreihe sich ein wohlausgebildeter, sechshöckeriger Zahn findet, und die verschie- denen Zahnformen, mit ihrer wechselnden, aber meistenfalls geringeren Höckerzahl durch Reduktion von Höckern davon abzuleiten sind. Dann sollte der Hauptcharakter der Entwicklung eine Anpassung an die Funktion durch Regression bestehender Höcker gewesen sein, was eben nicht der Fall gewesen ist. Im Gegenteil. Bei der phylogenetischen Entwicklung sind die morphologischen Anlagepotenzen, welche in- folge der Verschmelzung zweier Keime von trikonodonten Zähnen in jedem Säugerzahn enthalten sind, in immer vollständiger Weise zur Evolution gekommen, allerdings bei den verschiedenen Zähnen des Gebisses in verschiedenem Maße, wodurch der heterodonte Charakter des Säugergebisses entstand. Diese morphologische Komplizierung ist stufenweise in ganz regelmäßiger, sogar gesetzmäßiger Weise vor sich gegangen. Über das Wesen der Konkreszenz sehe man übrigens den besonderen, diesem Begriff gewidmeten Hanptstück. 4 Allgemeiner Teil. Die oben kurz angedeutete Gedanke ist, meine ich, in meiner ersten Studie nicht genügend zu ihrem Kecht gekommen. Man konnte vielleicht aus jener Arbeit den Eindruck bekommen, daß ich der An- sicht war, die historische Differenzierung des Säugerzahnes trüge der Hauptsache nach den Charakter von Rückbildung bestehender Höcker zu einer geringeren Zahl. Diese Interpretierung möchte ich schon an dieser Stelle, kürzlich als nicht meiner Ansicht entsprechend, zurück- weisen. Nach diesen allgemeinen Vorbemerkungen gehe ich zur Aus- einandersetzung meiner Theorie über die Zahndifferenzierung über. Eine für die Einteilung der Materie wichtige Erscheinung ist die Tat- sache, daß die Differenzierung der Unterkieferzähne nicht ganz mit jener der oberen übereinstimmt; nur in gewissen Beziehungen sind die Differenzierungsgeschichten beider Zahnreihen einander gleich. Be- kanntlich besteht auch bei der Trituberkulartheorie von Cope-Osborn eine Differenz zwischen den Entwicklungsmodi oberer und unterer Molaren, die Transgression der Höcker, welche gewissermaßen den Kernpunkt jener Theorie darstellt, sollte für die oberen und unteren Molaren in verschiedener Weise verlaufen sein. Es ist nun merkwürdig, daß in der von mir zu gebenden Differenzierungsgeschichte obere und untere Zähne ebenfalls einen selbständigen Entwicklungsweg gegangen sind, sei es auch nicht bedingt durch eine verschieden verlaufende Höckertransgression, die meiner Meinung nach nicht stattgefunden hat, sondern in ganz anderer Weise. Diese Tatsache gibt einen Grund ab, um die Morphogenese von Ober- und Unterkieferzähnen gesondert ab- zuhandeln. Nur für die Frontzähne — Incisivi und Canini — war eine solche Trennung nicht geboten, und ich werde dann auch bei den auf diese Zahnarten bezug habenden allgemeinen Bemerkungen obere und untere gemeinschaftlich besprechen. Erstes Hauptstück. Die Differenzierung der Oberkieferzähne. Es sind in der Morphogenese der oberen Zähne drei Phasen zu unterscheiden, welche ich für eine bequeme Übersicht je in einem be- sonderen Abschnitt besprechen werde. Nach der für jede Phase meist typischen Erscheinung unterscheide ich diese drei Phasen wie folgt: A. die Dreihöckerphase, B. die Sechshöckerphase, C. die Doppelhöckerphase. Diese Einteilung hat zwar eine morphologische Grundlage, aber es sei sofort bemerkt, daß auch sie, wie jedwede Einteilung in einem komplizierten Entwicklungsvorgang, etwas artifizielles hat. Ich fange mit der ersterwähnten Phase an. A. Die Dreihöckerphase. Was die Urform des Säugerzahnes betrifft, ist schon in der ersten dieser Studien — S. 95 — hervorgehoben, daß es gar nicht notwendig ist, anzunehmen, ja sogar weniger wahrscheinlich ist, daß die Ursäuger ein rein haplodontes, d. h. aus einfachen Kegelzähnen aufgebautes Gebiß besessen haben. Der Kegelzahn ist wie alle anderen Zahnformen zu betrachten als eine, einer bestimmten Funktion angepaßte Form, und man findet dieselbe nur dort in reiner Gestalt, wo die Beute nur ergriffen zu werden braucht. Dann stellen die spitzen Kegel vorzügliche hakenförmige Organe dar, zwischen welchen die Beute gefaßt wird. Als ein sehr lehrsames Beispiel zum Beweise, daß Kegelzähne nicht die ursprünglichsten Formen darstellen, sondern als spezialisierte Formen auftreten können, kann ich folgende Beobachtung mitteilen. Wenn man das Gebiß eines erwachsenen Scyllium stellare untersucht, dann konstatiert man, daß es im Oberkiefer und Unterkiefer aus einfachen Kegelzähnen besteht, welche mit einer ziemlich breiten Basis in der Schleimhaut befestigt sind. Vergleicht man mit diesem Gebiß jenes eines jungen Tieres, dann erweisen sich die Zähne von so ganz anderer Gestalt, daß man anfänglich — wie es auch mir geschah — der Ansicht sein konnte, es läge ein Irrtum in der Bestimmung vor. Doch ist dem nicht so, wie Kontrolltiere, und besonders Exemplare verschiedenen Alters sofort beweisen. Bei einem Tiere von 12 cm Totallänge ähneln sich die Gebißzähnchen den Hautzähnchen noch sehr. Sie sind stark abgeplattet und besitzen fünf fast gleichgroße Spitzchen . Das unpaarige mittelste ragt nur wenig hervor. Mit zunehmendem Alter stellt sich eine 6 Erstes Hauptstück. Umänderung der Form ein. zunächst an den der Medianlinie am nächsten sich befindenden Zähnchen. Die mittelste Spitze wird größer, dagegen die beiden an den Ecken sich findenden kleiner. Dieser Vorgang geht in progressiver Richtung immer weiter, und bei einem Tier von ungefähr 30 cm kommen die beiden ursprünglich äußersten Spitzen gar nicht mehr zur Entwicklung, während die mittlere einen schon stark hervor- ragenden Stachel darstellt. Die Zähne sind dreispitzig geworden. An den Ecken der Mundöffnung, wo die Zähnchen kleiner bleiben, trifft man noch alle Übergangsstadien von fünfspitzigen Formen an. Auf dem eingeschlagenen Weg schreitet jedoch die Vereinfachung immer weiter fort, und mit zunehmendem Alter treten jetzt, zunächst im vor- deren Teil des Gebisses, große einfache Stachelzähne auf, bis die mehr- spitzigen Formen fast ganz aus dem Gebiß verschwunden sind. Nur an den Mundecken trifft man bei den kleineren Zähnen beim erwachsenen Tier noch vereinzelt solche an, welche neben der Hauptspitze noch zwei rudimentäre Nebenspitzchen aufweisen. Die der Form nach rück- läufige Zahndifferenzierung bei Scyiiium stellare bildet ein Gegenstück zu jener bei Chlamydoselachus anguineus, von dem Kose berichtet, daß die erste Zahngeneration ein- oder zweispitzig ist, dann folgen größere dreispitzige Zähnchen, während beim erwachsenen Tier fünf- spitzige Zähne vorkommen1). Dieser Fall beweist, daß ein Kegelzahn zwar die einfachst denkbare Form des Zahnes ist, aber daß er aus ursprünglich komplizierteren Formen durch Reduktion entstehen kann, wenn die Funktion es erheischt. Zwar ist dieses Beispiel den niedrigsten Wirbeltieren entnommen, aber ein prizipieller Unterschied in der Differenzierungsweise von Haifischzähnen und Reptilienzähnen be- steht nicht. Denn bei beiden Ordnungen stellt der Zahn ein einheit- liches Element dar, die Komplikationen der Schneide sind nicht die Folge von Konkreszenz, sondern Differenzierungserscheinungen. An genannter Stelle habe ich in der ersten Studie weiter darauf hingewiesen, daß die in der Literatur nicht seltene Verweisung nach dem Krokodilen- gebiß als hypothetische haplodonte Ausgangsform des Säugergebisses weniger berechtigt ist, da wahrscheinlich bei diesen Formen die Kegel- gestalt der Zähne auch einen sekundäreren Erwerb darstellt, hervorge- rufen durch die Verlängerung der Kiefer und Ausbildung der Schnauze zu einem ausgezeichneten Greiforgan. Diese Behauptung gewinnt an Wahrscheinlichkeit durch die Tatsache, daß die ersten Zähnchen, welche bei Crocodellus porosus zur Anlage gelangen, und noch frei an der Ober- fläche entstehen, um nachträglich in der Tiefe des Mesenchyms zu senken, wo sie resorbiert werden, nicht kegelförmig, sondern abgeplattet sind. Der mesenchymatöse Kern dieser Zähnchen wird von Rose sogar als eine Doppelpapille beschrieben2). Auch der thekodonte Charakter des Krokodilengebisses darf nicht als eine Vorstufe von diesem zum Säugergebiß gedeutet werden. Denn diese Befestigungsweise am Kiefer kam auch bei anderen Sauropsiden (Sauropterygier) vor, und wird dann auch von Burckhardt als ein primitives Merkmal aufge- faßt3). Der ebenfalls sich besonders in älterer Literatur findende Hin- 1) 0. Rose, Über die Zahnentwicklung von Chlamydoselachus anguineus. Morph. Arb. 1894, Bd. IV. 2) C. Rose, Über die Zahnentwicklung der Krokodile. Morph. Arb., Bd. III, S. 203. 3) R. Burckhardt, Das Gebiß der Sauropsiden. Morph. Arb., Bd. V, S. 267. Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 7 weis auf das Delphinengebiß als Muster einer ursprünglichen Form des Säugegebisses, wird jetzt wohl allgemein als irrtümlich zurückgewiesen. Es ist wohl als feststehend zu betrachten, daß die Meinung, wie dieselbe z. B. durch Schlosser in scharfer Formulierung niederge- schrieben ist: ,,Als die ursprünglichste Form aller Säugetierzähne dürfen wir wohl den Kegelzahn betrachten, eine Zahnform, die sich bei den Delphinen nahezu unverändert erhalten hat"1)- nicht aufrecht gehalten werden kann, da es sich hier zweifelsohne um eine sekundäre Erscheinung handelt, Schon kurz nach dem Erscheinen der zitierten Arbeit von Schlosser schreibt Kükenthal: „Zweifellos ist das Gebiß der Bartenwale als eine Anpassung an das Wasserleben zu betrachten'1'2). Es liegt somit kein zwingender Grund vor, um sich die Urform des Säugerzahnes als einen einspitzigen Kegelzahn zu denken, die andere, bei den Reptilien so häufig vertretene Form, der dreispitzige Zahn, er- scheint in ungezwungener Weise als eine den gestellten Ansprüchen besser angepaßte Form. Denn es war eben ein mit der Entstehung der Säuger aufs innigste^ verbundener Fortschritt, daß die Beute oder die Nahrung in der Mundhöhle einer mechanischen Verkleinerung unterlag. Formen mit einem aus Kegelzähnen zusammengesetzten Gebiß eigneten sich dazu nicht, wohl solche Formen, bei den die seitlich komprimierten Zähne eng aneinanderschlossen und Ober- und Unterkiefergebiß wie eine Schere das Futter zerschneiden konnten. Und wenn man bei den Reptilien die seitlich komprimierten Zähne untersucht, dann findet man sie, wenigstens' die größeren, sehr häufig dreispitzig. Wie gesagt, bin ich der Meinung, daß diese Dreispitzigkeit nicht die Folge ist von Konkreszenz, sondern eine Differenzierungserscheinung. Solche drei- spitzige Zahnformen glaube ich dann auch als Grunclelemente der Säugerzähne ansehen zu müssen. Die Frage nach der Bedeutung der Dreispitzigkeit der Reptilien- zähne werde ich etwas näher ins Auge fassen. Die Möglichkeit, daß diese Mehrspitzigkeit durch Verwachsung mehrerer Einzelzähne entstanden ist, also infolge von Konkreszenz zustande kam, habe ich bei meinen Untersuchungen am Reptiliengebiß besonders berücksichtigt. Es ist mir jedoch bis jetzt noch keine einzige Erscheinung bekannt ge- worden, welche zugunsten dieser Meinung angeführt werden konnte. Es ist von Rose der Versuch gemacht worden, die Mehrspitzigkeit der Reptilienzähne durch Verwachsung von Einzelzähnen in der Längs- richtung zu erklären3). Er wählte dazu als Untersuchungsobjekt das Chamäleon, dessen hintere Zähne bekanntlich in stark ausgesprochener Weise dreispitzig sind. Und der Autor glaubt, daß er auf Grund seiner Beobachtungen zur Behauptung berechtigt ist, daß für die von ihm vertretene Verwachsungstheorie die Zahnentwicklung von Chamäleon geradezu einen schlagenden Beweis bietet (1. c. S. 573). Schwalbe, der sich prinzipiell in diesem Punkte Rose anschloß4), drückt sich jedoch hinsichtlich der Befunde von jenem Autor etwas anders aus, indem 1) M. Schlosser, Die Differenzierung des Säugetiergebisses. Biol. Zentralbl. 1890, Bd. IV. S. 238. 2) W. Kükenthal, Über den Ursprung und die Entwicklung der Säugetier- zähne. Jen. Zeitschr. f. Naturw.. N. F.. Bd. XIX. S. 476. 3) C. Rose, Über die Zahnentwicklung von l'hamaeleon. Anat.Anz.,Bd. XIII. 4) G. Schwalbe, Über eine seltene Anomalie des Milchgebisses des Menschen. Morph. Arb., Bd. III. 8 Erstes Hauptstück. er anführt: „Zweifellos hat Rose nachgewiesen, daß die hinteren drei- spitzigen Zähne durch Verwachsung dreier einzeln angelegter Zahn- scheibchen entstellen." Das ist eine mehr beschränkte Deutung der Rose sehen Befunde, als die von diesem Autor selbst gegebene. Und ganz mit Recht weist Burckhardt1) darauf hin, daß eine separierte Anlage von drei Dentinscherbehen auf die fast gleichgroße Spitze eines dreispitzigen Zahnes für eine eventuelle Konkreszenz gar nicht beweisend ist. Diese Erscheinung stellt einen notwendigen histiogenetischen Diffe- renzierungsgang dar, denn, fragt genannter Autor, wie müßte die Krone des Zahnes denn sonst entstehen? Doch glaube ich, daß dieser Autor etwas zu weit geht, wenn er als Beweis von Konkreszenz fordert, daß die Produkte verschiedener Zahnsäckchen sekundär verschmelzen. Als Beweis einer stattgefundenen Verschmelzung genügt der Hinweis einst- maliger Individualität der die Verwachsung angehenden Elemente. Und dafür genügen als Beweis die von mir in der ersten Studie be- schriebenen Erscheinungen, welche dartun, daß das Schmelzorgan kein einheitliches, sondern ein mehrfaches Gebilde ist. In der genannten Studie habe ich diesen Beweis für die Säugerzähne im allgemeinen und die Primatenzähne auch besonders erbracht2). Bringt nun die Rose sehe Arbeit etwas, das auf eine mehrfache Natur des Schmelzorganes, eine Dreifachheit also in longitudinaler Richtung, hinweist ? In keiner Hinsicht ist das der Fall. Er führt als Beweise seiner Meinung an, daß er bei einer sehr frühen Anlage des letzten Molaren eines 22 cm langen Tieres zwei Papillen dicht neben- einander beobachtet hat. Der Autor bildet dieselben in Fig. 5 ab. Nun sind diese Papillen — wenn man wirklich das Bild in dem Röse- schen Sinne deuten will, in einer frontalen Ebene gelagert, und können deshalb schwerlich als ein Beweis von Verwachsung in sagittaler Rich- tung angeführt werden. Dann gibt der Autor ein paar Bilder sehr schräger Schnitte durch den letzten Molar eines 9 cm langen Tieres. Es standen ihm gar keine Embryonen, sondern nur jugendliche Tiere zur Verfügung. Diese Bilder geben Raum zur Vermutung, daß die Dentinablagerung bei den Zähnen nicht von einer einzigen Stelle aus- geht. Ganz beweisend sind die Bilder auch für diese Frage eben nicht. Denn daß in Fig. 6 zwei isolierte Dentinplatten in einem gemeinschaft- lichen Schmelzorgan eingedrungen erscheinen, kann auch ein durch die sehr unregelmäßig schräg verlaufende Schnittrichtung verursachtes Trugbild sein. Ich kann in der Rose sehen Arbeit über Chamäleon dann auch keinen einzigen Beweis finden, weder für die Berechtigung seiner oben zitierten Schlußfolgerung, noch für die Konkreszenztheorie im Röse- schen Sinne überhaupt. Und wo es sich, wie der Autor meint, um einen schlagenden Beweis handelt für die Richtigkeit einer auch damals schon angefochtenen Theorie, wäre es gewiß erwünscht gewesen, wenn der Autor durch eine mehr vollständige Beschreibung und mehrere 1) R. Burckhardt, Das Gebiß der Sauropsiden. Morph. Art»., Bd. V, S. 377. 2) Notiz bei der Korrektur. Es hat jüngst Ahrens Bedenken geäußert gegen die von mir dem Schmelzseptum zuerkannte Bedeutung. Ahrens: Die Entstehung des Schmelzstranges am Schmelzorgan von Schweineembryonen. Sitzungsber. Gesellsch. f. Morph, u. Phys. in München 1913. Ich werde in einer besonderen Veröffentlichung die Frage der Bedeutung des Schmelzseptum eingehend behandeln. Nur hier sei kurz mitgeteilt, daß die Beobachtungen von Ahrens nicht genügen, um die von mir dem Schmelzseptum zuerkannte Bedeutung zu widerlegen. Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 9 Abbildungen den Leser zu einer mehr vollständigen Beurteilung des Falles instand gesetzt hätte. Auch Marett Tims kommt in seiner sehr eigentümlichen Theorie über die Entstehung der Säugetierzähne1) zur Ansicht, daß nicht nur eine Fusion von Einzelzähnchen in longitudinaler Richtung stattge- funden hat, sondern daß sogar dieser Vorgang der einzige je statt- gefundene Modus von Verwachsung darstellen sollte. Allerdings sollte das nur für die Molaren gelten, bei den Prämolaren hat niemals eine solche Konkreszenz sich vollzogen, diese Zähne sind reine Differen- zierungsprodukte. In welcher Weise die inneren Höcker der Molaren nach der Ansicht des genannten Autors entstehen, ist mir aus seiner Arbeit nicht recht deutlich geworden. Die eigenartige Auffassung des Autors und der Gegensatz zwischen dem Entwicklungsgang von Prämolaren und Molaren wird vielleicht etwas erklärt durch die Tat- sache, daß er die Ansicht über die Evolution der Prämolaren auf Grund von hauptsächlich vergleichend-anatomischen Untersuchungen bei Carnivorengebissen aufgebaut hat, und seine Meinung über die Ent- stehung der Molaren auf embryologische Untersuchungen an Roden- tiergebissen stützt. Daß die Untersuchung solcher fragmentarischer Gebisse nicht gerade förderlich ist für die die Konzeption des Gedankens, daß es etwas Gemeinschaftliches für alle Elemente des Gebisses geltendes gibt, liegt auf der Hand. Was nun die behauptete Konkreszenz in longitudinaler Richtung bei den Molaren betrifft, muß der Autor die Erklärung abgeben: ,,I have not yet seen anyactual fusion of enamelgerms." Er genügt sich mit einer Verweisung nach Roses Befunde an Chamäleon, und führt dazu die Untersuchung Harris ons über die Entstehung des Gebisses bei Hatteria an2). Dieser Hinweis ist sehr merkwürdig, denn Harris on erklärt sich in dem zitierten Aufsatz gerade ein Gegner der Konkre- szenztheorie zu sein. Die Ergebnisse und Schlußfolgerungen dieses Autoren werde ich hier kurz einschalten. Die sogenannten Fusions- erscheinungen in longitudinaler Richtung am Gebiß von Hatteria sind zweierlei Art. Am meisten bekannt sind die Frontzähne. Diese sollten durch Fusion oder Konkreszenz von zwei oder drei Zähnen entstanden sein. Über diese Bildungen äußert sich Harris on, 1. c. S. 148, in folgender Weise: ,,A more recent view that the form of the front-teeth is due to fusion is ea qually erroneous. There is no fusion, and the appea- rances are entirely due to the close relations of the simple sub-coical teeth to the bone, wich grows out some distance beyond the germs and is subject to the grinding action of the opposing jaw after the enamel and dentine are worn away." Diese Bildung bei Hatteria kann somit nicht weiter als Beweis von longitudinaler Verwachsung angeführt werden Die zweite Erscheinung, welche bei Hatteria eine Konkreszenz vorzutäuschen scheint, hat Harris on selbst zum ersten Male beschrieben. Es betrifft die Zähne im Unterkiefer der von diesem Autor sogenannten „alternating Dentition", welche die zweite und dritte Dentition bei Hatteria repräsentieren sollten. Hiervon gibt der Autor folgendes an: 1) Tims H. W. Marett, The evolution of the teeth in the mammalia. Journ. of Anat. and Phys. 1903, Vol. XXXVII. 2) Harrison, H. S.. Hatteria punctata, its Dentition and its Incubation Period. Anat. Anz. 1902, Bd. XX. 10 Erstes Hauptstiick. „All the alternatiiig teeth in the lower jaw (except porhaps the first three) become fused together. The enamelorganes appear to remain to some extend undependent, the pulpcavities of the fully fornier tooth do not communicate directly with one another. We have here a clear case of concrescence with result not in the formation of a true multieusped tooth but rather of a serrated dentonal ridge." Ich erinnere daran, daß ich früher schon auf Lophiurus amboinensis hingewiesen habe, wo ein gleicher Vorgang stattgefunden hat. Der hintere Teil vom Ober- und Unterkiefer wird von einer ununterbrochenen Zahnbeinleiste gedeckt, welche wie der Hornbesatz bei den Kiefern der Testudinaten funktioniert. Die Grenzen der ursprünglichen Zähne sind kaum zu erkennen, da ihre freien Spitzen abgekaut sind. Will man diese Bildung als Zeugnis für longitudinale Konkreszenz anführen, dann kann auch der Hornkiefer der Testudinaten mit gleichem Rechte als solche gelten. Ähnlicher Meinung ist auch Harris on. Denn am Schlüsse seiner Aufsäzte führt er aus : It is of little value to the uphol- ders of the concrescence-theory to show that concrescence may at present occasionally occur, unless evidence is brought forward as to its effi- ciency as an evolutionary process. Concrescence in Hatteria does not pave the way to the formation of tricuspid or multicuspid tooth. The evidence derived from Hatteria is rather adverse than favou- rable to it." Es ist mir ganz unbegreiflich, daß Timms auf diesen Aufsatz von Harris on verweist, als Stütze für seine Meinung, daß ,,an antero- posterior fusion of the tooth of the same dentition in the true molar regions appears to be the only Solution of the difficulty in accounting for the duplex condition of the true molars of the greater number of mammals". \~y Wir konstatieren somit, daß bis jetzt noch kein einziger Beweis erbracht worden ist, daß jemals eine longitudinale Verwachsung von Zähnen zu Individuen einer höheren Ordnung stattgefunden hat. Alles was man darüber bis jetzt in der Literatur findet, ist reine Hypo- these. Kükenthal, der einer der ersten war, um diese Konkreszenz- hypothese in der neueren Literatur wieder in den Vordergrund zu bringen, hat auch keinen einzigen Grund für sie anführen können. In seinem Vortrag über den Ursprung der Säugerzähne1) geht er aus von der Überlegung, daß bei Säugetieren, deren Kiefer sich verlängern, die Backzähne sich in eine Mehrzahl von konisch zugespitzten reptilien- zahnartigen Gebilde teilen, und fragt dann: sind nicht die Backzähne ebenso entstanden durch Zusammentreten einfacher konischer Reptilien- zähne infolge von Kieferkürzung? Darauf gibt der Autor folgende Antwort (1. c. S. 476): ..Die ältesten bekannten Säugetiere, z. B. Trikonodon, zeigen Backzähne von für unsere Hypothese geforderten typischen Bau. je drei gleichartige, hintereinander liegende, konische Kronenteile, die miteinander verschmolzen sind." Hier wird einfach die Verschmelzung postuliert, ohne daß der geringste Beweis dafür erbracht wird. Adloff, der die Kükenthalsehe Theorie verteidigt: Kon- kreszenz bis zum trikonodonten und trituberkularen Typus, und 1) W. Kükenthal, Über den Ursprung und die Entwicklung der Säugetier- zähne. Jen. Zeitschr. f. Naturw., N. F., 1892, Bd. XIX. Die Differenzierung der Oberkieferzähne. \\ dann weitere Ausbildung durch Differenzierung, hat ebensowenig bis jetzt auch nur den geringsten Beweis zur Begründung dieser Meinung anführen können. Das Unzulängliche der von Küken thal und A dl off angeführten sogenannten Beweise für die Konkreszenztheorie ist dann von Depen- dorf in einer eingehenden kritischen Abhandlung dargetan1). In dieser kommt der Autor auf seine ursprüngliche Meinung, daß die Konkreszenz- theorie für eine Erklärung der Entstehung der Säugetierzähne richtig sein sollte, zurück, und betont, daß alle jene Erscheinungen, welche bei der Anlage der Zähne bis jetzt als Verwachsungserscheinungen ge- deutet wurden, gerade in umgekehrtem Sinne aufgefaßt werden müssen. Alle jene Fälle, bei denen bisher von einer Verschmelzung die Rede war, sind also das Gegenteil: Trennungsvorgänge (1. c. S. 552). Im Prinzip bin ich mit dieser Meinung von Dependorf einverstanden, in der Ausarbeitung jedoch, welche er in dem erwähnten Aufsatz gibt, kann ich mich ihm nur zum Teil anschließen. Doch werde ich im Hauptstück „Über das Wesen der Zahnkonkreszenz" besonders auf diesen Punkt eingehen. Auch von Osborn wird der trikonodonte Zahn -- den man bei den mesozoischen Säugetieren so ungemein häufig vertreten findet — als eine primitive Phase in der Entwicklung des Säugerzahnes be- trachtet. Anfänglich hat dieser Zahn nur eine einzige Wurzel. Die drei Spitzen der Krone sind jedoch nicht vollständig gleichwertige Gebilde, ein Umstand, der sofort ins Auge gefaßt zu werden verdient. Jene, welche die Mitte einnimmt, ist genetisch die ältere, und auch meistenfalls die größte. Sie ist das Grundelement des Zahnes und ent- spricht den nicht mit Nebenspitzen versehenen einfachen Kegelzahn. Die beiden andern sind wirkliche Nebenspitzchen, können der mittleren an Größe gleichkommen — wie z. B. bei den drei oberen und unteren Molaren von Trikonodon ferox (Osborn 1907, Fig IIa)2) sind jedoch meistenfalls kleiner. Sie sind keine primären Elemente, sondern Diffe- renzierungen aus der Basis der Hauptkegel hervorgegangen. Bei der Wahl der Nomenklatur der Spitzen habe ich diesem Umstand Rechnung getragen. Die Hauptspitze, sowohl vom Protomer als vom Deuteromer werde ich mit einem lateinischen Buchstaben andeuten und zwar jene des Protomer mit P, jene des Deuteromer mit D. Die Nebenspitz- chen dagegen bezeichne ich mit Ziffern, und zwar jene des Protomer mit i und 2, jene des Deuteromer mit j und 4. Diese Bezeichnungsweise erschien mir am meisten empfehlenswert und bevorzugte ich nicht nur weil sie die meist indifferente ist, sondern auch weil sich mit ihrer Hilfe in bequemster Weise zum Ausdruck bringen läßt, was ich die „Kronen- formel" des Zahnes nennen will. Was ich darunter verstehe und von welchem Nutzen solche Formel für eine vergleichende Untersuchung des Zahnes ist, werde ich gleich auseinandersetzen. Die Hauptaufgabe bei dem Verfolgen der allmählichen Diffe- renzierung der Zähne ist die Homologie der Höcker und, soweit möglich, 1) T. Dependorf, Zur Frage der sogenannten Konkreszenztheorie. Jen. Zeitschr. f. Naturw. 1906, Bd. XLII. 2) Ich werde in dieser Arbeit öfters auf Figuren und Text vom Sammel- werk verweisen, worin durch Gregory die von Cope- Osborn erschienenen Publi- kationen über ihre Differenzierungstheorie zusammengefaßt sind (Evolution of mammalian molar teeth, to and from the triangulär type. New York 1907.) Ich werde das immer in der abgekürzten, hier angewendeten Weise tun. 12 Erstes Hauptstück. auch jene der Wurzel festzustellen. Wenn man nun für die Bezeichnung jedes Höckers statt einen Namen als Symbol einen Buchstaben oder Ziffer wählt, dann kann man leicht in jedem gegebenen Falle die Morpho- logie der Krone durch Nebeneinanderstellung der Symbole, zum Aus- druck bringen. Und wenn man dann einer bestimmten, durch die Natur des Kronenreliefs von selber angewiesenen Methode dabei folgt, kann man in dieser Weise nicht nur das Vorkommen überhaupt der Höcker, sondern auch ihre Lagerung zueinander zur Schau bringen. Die Zusammensetzung des Zahnes aus einem Protomer und Deuteromer bestimmt in natürlicher AVeise die Schreibweise der Formel, indem die Symbole der Höcker beider Teile durch eine horizontale Linie getrennt werden. Oberhalb der Linie finden sich dann die Sym- bolen der Protomerenhöcker, unterhalb der Linie jene des Deuteromer. Es sind oben die Symbole genannt, mit welchen ich die sechs Höcker, welche der Säugerzahn in Anlage enthält, unterscheide, und ich werde jetzt an einigen Beispielen zeigen, wie sich diese zur Aufstellung von Kronenformeln verwenden lassen. Der einfachste Fall ist wohl jener, bei dem die Zahnkrone nur aus dem Haupthöcker des Protomer besteht. Dann wird die Kronenformel aus dem einzelnen Buchstaben P bestehen. Denkt man sich nun einen Zahn, dessen Krone aus den Haupthöckern beider Odontomeren — also des Protomer und des Deuteromer — besteht. P Von diesem Zahn lautet die Kronenformel: -_. Durch diese einfache Schreibweise ist man sofort über die morphologische Zusammen- setzung des bezüglichen Zahnes orientiert. Denkt man sich nun den Fall, daß vom Protomer auch die beiden Nebenspitzchen entwickelt sind, vom Deuteromer jedoch nur die Hauptspitze. Ein solches Kronen- I P 2 relief wird durch die Formel — ^ — zum Ausdruck gebracht. Und nehmen wir als letztes Beispiel den Fall, daß an einem Zahn sämtliche Höcker zur Ausbildung gelangt sind, dann wird dieser Zustand durch I P 2 die Formel n ausgedrückt. Der Vorteil der Anwendung solcher Kronenformeln springt sofort ins Auge. Man umgeht lange Um- schreibungen, und durch Nebeneinanderstellung solcher Formeln ist man imstande, mit einem Blick die morphologischen Beziehungen mehrerer Zähne zueinander zu übersehen. Auch weitere Details in dem Vorkommen der Höcker, oder ihrer Beziehung zueinander, kann man durch einfache Hilfsmittel zum Ausdruck bringen. Sind z. B. die beiden Hauptspitzen des Zahnes nur da, und sind sie miteinander verwachsen, dann kann man das in der Formel folgenderweise aus- drücken \--f\. Es sind somit die Kronenformeln für die einzelnen Zähne ebenso leicht zu hantierende Hilfsmittel bei der vergleichenden Unter- suchung wie die Gebißformel für das ganze Gebiß. Die hier beschriebene Methode ist nicht neu. Es hat schon Winge im Jahre 1882 eine der- artige Methode angedeutet1). Er bezeichnete die Höckerchen mit den Zahlen 1 — 7 und fügt auch diese, in einer tabellarischen Übersicht der 1) H. Winge, Om Pattedyrenes Tandskifte Vidensk. Meddelelser fra d. naturhist. Forening i Kjöbenhavn 1882. Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 13 Entwicklung der Säugerzähne, jedesmal in einer Figur derart zusammen, daß Homologie und Topographie sofort ersichtlich sind. Es muß wundernehmen, daß eine, soweit mir bekannt, vom genannten Verfasser inaugurierte, so äußerst bequeme Methode in der Literatur nicht schon lange eingebürgert ist. Leider kann ich auf die Details der Winge sehen Abhandlung, als in der mir unverständlichen dänischen Sprache ge- schrieben, nicht eingehen. Es ist schon im Voraus bemerkt, daß ich auch der Entwicklung der Wurzel bei meiner theoretischen Auseinandersetzung Rechnung tragen werde. Und es erscheint dabei erwünscht, auch diese in besonderer Weise zu unterscheiden. Nun ist der trikonodonte Zahn, da er nur einem einzigen Element des Gebisses entspricht, ursprünglich wohl ein- wurzelig gewesen. Diese Primärwurzel werde ich in der Folge mit A bezeichnen. Warum ich hier von Primärwurzel spreche, wird bald deutlich werden. Kurz zusammengefaßt ist mithin die primitive Zahn- form als eine einwurzelige mit der Kronenformel i P 2 anzudeuten. Die erste Erscheinung einer höheren Ausbildung glaube ich nicht im Kronenteil, sondern im Wurzelteil des Zahnes suchen zu müssen. Wenn man die verschiedenen Abbildungen trikonodonter Zähne von mesozoischen Säugern — wie sie sich z. B. in Osborn 1907 in über- großer Zahl finden — durchmustert, dann fällt es auf, daß meistenteils diese Zähne zweiwurzelig sind. Das gilt nicht nur von den postkaninen Zähnen, sondern auch der Eckzahn besitzt nicht selten zwei Wurzeln, die wie bei den weiter nach hinten folgenden als eine vordere und hintere gestellt sind. Die amerikanischen Forscher spenden dieser Er- scheinung nur wenig Aufmerksamkeit, was nicht wundern darf, da ihre Theorie sich hauptsächlich mit den weiteren Entwicklungsphasen beschäftigt. Nur vorübergehend hat Osborn in einer Ableitung der Trituberkularform die Wurzel als systematisches Kriterium ver- wendet. In einem Aufsatze von 1888 im ..AmericanNaturalist" erschienen, stellt der Autor folgende Entwicklungsstufe für den Trituberkular- typus auf: a) Haplodonter Typus: Einfacher kegelförmiger Zahn. Wurzel einfach und mehr von der Krone abgesetzt. Dieser Typus ist noch nicht unter den primitiven Mammalien aufgefunden, b) Pro- todonter Subtypus: Die Zahnkrone mit einem Hauptkegel und Nebenspitze, die Wurzel mit Längsfurche. Beispiel: Dromatherium vom amerikanischen Trias, c) Trikonodonter Typus: Die Krone ist verlängert mit einer zentralen und zwei Nebenspitzen und zwei- facher Wurzel. Beispiel: Trikonodon. In der bekannten Weise leiten die amerikanischen Forscher von letzterer Form ihren Trituber- kulartypus ab. Aus obigem geht hervor, daß eine zweifache Wurzel eine bei der Entwicklung der Säugetiere sehr früh auftretende Erscheinung ist. Bekanntlich kann sie auch schon bei Reptilien auftreten. Wir müssen etwas tiefer auf diese Erscheinung eingehen, denn die Beantwortung der Frage, woher die Zweizahl der Wurzel bei den Zähnen der primi- tivsten Säuger stammt, ist von prinzipieller Bedeutung. Im allgemeinen wird der Wurzelteil der Zähne bei der Diskussion über Zahndiffe- renzierungen zu viel außer Acht gelassen. Und doch ist es nicht von der Hand zu weisen, daß die Geschichte des AVurzelteiles und jene des Kronenteiles der Zähne in einer gewissen Abhängigkeit voneinander verlaufen müssen. Denn die Differenzierung des einen Abschnittes 14 Erstes Hauptstück. muß jene des anderen beeinträchtigen. Krone und Wurzel oder Wurzel- komplex bilden eine funktionelle Einheit und daher soll man auch in morphologischem Sinne die beiden Teile nicht in allzu starkem Gegen- satz zueinander bringen, unter Hinweis darauf, daß die Wurzel nur sekundäre Bildungen sind. Denn man behalte im Auge, daß auch die Modellierung des intraalveolaren Teiles der Zähne durch die Aktivität des Schmelzorganes zustande kommt. Es ist dieses Organ das, wie es von Brunn zuerst in überzeugender Weise nachwies1), durch Ein- wucherung in bestimmter Richtung im basalen Teil der Zahnpapille die Zahl und Stellung der Wurzeln bestimmt. Bildung und Um- bildung am Wurzelteil der Zähne kommt somit durch das nämliche Organ zustande, welches dem Kronenteil das Emaille liefert und da- durch auch am Zustandekommen des Kronenreliefs beteiligt ist. Nach von Brunn ist sogar die schmelzbildende Funktion nur als eine akzes- sorische zu betrachten, die Hauptfunktion des Epithelorganes sei ge- rade die formbestimmende (1. c. S. 381). Diese Meinung erhielt bald eine tatsächliche Grundlage durch den von Ballowitz gemachten Befund, daß bei den schmelzlosen Zähnen der Edentaten ein Schmelz- organ zur Entwicklung gelangt mit allen Eigentümlichkeit dieses Organes bei den schmelzführenden Zähnen anderer Säugetiere2). Durch Rose ist dann später das Prinzip auch als gültig erkannt für die placoiden Zähne3). Auch der Umstand, daß, oftmals eine Anomalie in der Aus- bildung der Krone mit einer solchen der Wurzel verknüpft ist, weist auf die enge Beziehung beider Zahnabschnitte hin. Da nun von der Seite der Konkreszenztheoretiker die Zweizahl der Wurzel bei den so primitiv gestalteten Zähnen wie jene von Tri- konodon und dessen Verwandten als ein Beweis angesehen werden kann, daß auch dieser Zahn schon durch Verwachsung von zwei Einzel- zähnen entstanden sein sollte, was meiner Meinung nach bestimmt unrichtig ist, werden wir auf die Genese dieser beiden Wurzeln etwas näher eingehen. Es ist wohl nicht zweifelhaft, daß die beiden Wurzeln, welche als eine vordere und hintere nebeneinander gelagert sind, aus der ursprünglichen Primärwurzel A entstanden sind. Im Anschluß an die Verlängerung der Krone in mesio-distaler Richtung, erlangte auch die Wurzel eine mehr plattenförmige Gestalt. Dann trat in der Mitte eine Längsfurche auf, wie es von Osborn gerade als Kenn- zeichen seines protodonten Subtypus hervorgehoben wird, und indem die Furche tiefer eindrang, zerlegte sie schließlich die ursprüngliche Wurzel in eine vordere und hintere Hälfte. Die beiden Wurzeln sind somit Schwestergebilde, sie stellen keine primären Bildungen dar, es sind Sekundärwurzeln, die in besonderer Weise bezeichnet werden müssen. Ich werde sie, um ihre Beziehung zur Primärwurzel A zum Ausdruck zu bringen, als Ax und A2 unterscheiden. Die vordere bezeichne ich als Ax. Ich bemerke jedoch, daß, wiewohl der zweiwurzelige tri- konodonte Zahn aus dem einwurzeligen hervorging, und die Krone des Zahnes mithin keine morphologisch höhere Ausbildung aufwies, es doch, meiner Ansicht nach, die Verlängerung und Abplattung der 1) A. v. Brunn, Über die Ausdehnung des Schmelzorganes und seine Be- deutung für die Zahnbildung. Arch. f. mikroskop. Anat. 1887, Bd. XXIX. 2) E. Ballowitz, Das Schmelzorgan der Edentaten usw. Arch. f. mikroskop Anat. 1892. 3) C. Rose, Über die Zahnentwicklung der Fische. Anat. Anz. 1894, Bd. IX. Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 15 Krone war, welche den Impuls zur Wurzelverdoppelung abgab. In dieser Beziehung zwischen Kronen- und Wurzelteü des Zahnes, stimme ich mit Leche.1) überein, der zu dem folgenden Schluß kam: „Alle äußeren Einwirkungen greifen in erster Instanz die Zahnkrone an. Die Differenzierung, die Komplikation der Krone ist deshalb das primäre Moment und zieht die Komplikation der Zahnwurzel nach sich" (1. c. S. 536). Es erhebt sich nun die Frage, welches die Ursache gewesen sein kann, daß die Primärwurzel sich spaltete, denn die Abplattung dieser Wurzel war zwar eine Vorbedingung für die Furchen- und Spaltbildung, aber letztere folgte nicht notwendig aus ersterer. Nun ist es leicht einzusehen, daß die Verdoppelung der Wurzel von Nutzen war, da hier- durch eine widerstandskräftigere Befestigung im Kiefer ermöglicht wurde, besonders wenn die beiden Wurzeln mehr oder weniger diver- gieren. Aber diese Tatsache ist immerhin nur als das Resultat der Teilung zu betrachten, und darf nicht als die Veranlassung dazu aufgefaßt werden. Es kommt mir am wahrscheinlichsten vor, daß die Wurzel- spaltung eine Äußerung des nämlichen Prinzipes ist, das bei dem Zu- standekommen der inneren Struktur des Skelettes eine hervorragende Stelle einnimmt, das bekannte Prinzip des größten Widerstandes bei möglichst wenig Substanz. Denn ist die Wurzelspaltung einmal fertig und divergieren dazu die Sekundärwurzeln noch ein wenig, dann stellen sie gleichsam die beiden Pfeiler eines Gewölbes dar, das die Krone trägt. Dem auf letzteres ausgeübte Druck vermögen sie ebenso großen Gegen- druck zu bieten, als wenn der Raum zwischen ihnen mit Substanz ausgefüllt wäre. Das Verschwinden der zwischen den beiden Wurzeln sich ursprünglich findenden Substanz ist somit in gleichem Sinne als eine Inaktivitätsatrophie zu betrachten, als das Verschwinden von Knochensubstanz im Innern der Skeletteile mit Aussparung der Tra- jektorensysteme. So erscheint somit auch die erste höhere Differenzierung im Wurzelteil des Zahnes als die Äußerung einer funktionellen Anpassung. Denn der bei den Säugetieren zur Entwicklung kommende Kauakt setzte die Zähne einem gesteigerten Druck aus. Und auf diese höhere Beanspruchung reagierte die Zahnform durch Umbildung in ein, in mechanischer Hinsicht vollkommeneres Gebilde. Es darf uns dann auch nicht wundern, daß diese höhere Form zuerst bei den hinteren Zähnen auftritt, die vorderen, welche die ursprüngliche Aufgabe des Ergreifens der Beute behielten, bewahrten die ursprüngliche Form. Bekanntlich waren die älteren Anatomen der Ansicht, daß ein zwei- wurzeliger Zahn ein typisches Säugermerkmal sein sollte. So z. B. Owen2): ,,Any organic fossil which exhibits a tooth implanted by two fangs in a double socket must he mammiferous' . Dieser Stand- punkt ist jedoch jetzt verlassen. Es kommen unter den fossilen Sauro- psiden Formen mit zweiwurzeligen Zähnen vor3). Durch den oben entwickelten Gesichtspunkt erlangt die Anatomie auch des Wurzelteiles vom Zahn, die Zahl der Wurzel und ihre Stellung zueinander eine mehr mechanische Bedeutung. Es muß jedoch gegen 1) W. Lee he, Studien über die Entwicklung des Zahnsystems bei den Säugetieren. Morph. Jahrb. 1892, Bd. XIX. 2) R. Owen, Odontographie, Bd. I, S. 25. 3) Zittel, Paläontologie, Bd. I, 3, S. 753. 16 Erstes Hauptstück. eine Verallgemeinerung des vorgetragenen Gesichtspunktes zur Er- klärung aller morphologischer Erscheinungen im Wurzelkomplex der Zähne sofort gewarnt werden. Denn wie bald dargelegt werden soll, ist das Vorkommen von allen Wurzeln nicht in obenstehender Weise zu erklären. Wäre das der Fall, dann sollten sämtliche Wurzeln auf die Primärwurzel ,-1 des trikonodonten Zahnes zurückgeführt werden müssen. Und das ist nicht der Fall. Gleich wie der Kronenteil ist auch der Wurzelteil des Zahnes ein Resultat von Differenzierung und Kon- kreszenz, und es sei gerade Aufgabe besonderer Untersuchung, zu bestimmen, welchen Anteil beide Vorgänge am definitiven Zustande genommen haben. In dieser Hinsicht ist die Dirne rtheorie der Zahn- entwicklung in ihrer methodischen Ausarbeitung sowohl der Trituber- kulartheorie als der geläufigen Konkreszenztheorie überlegen. Denn erstere bringt nur ein System von Homologien der Molarenhöcker und letztere stellt jemand für das Dilemma: entweder muß jedem Höcker ursprünglich eine eigene Wurzel besessen haben, wie z. B.von Gorjanovic-Kramberger behauptet wird, oder die Wurzeln haben gar keine entwicklungsgeschichtliche Bedeutung. Erstere Auffassung steht mit den paläontologischen Befunden in Widerspruch. Und bei der zweiten Ansicht verfällt man in den Fehler, von einer morphologischen und funktionellen Einheit einen Werdegang aufzustellen, welcher nur auf die Erscheinungen eines Abschnittes dieser Gebilde basiert ist. Denn es sei noch einmal wiederholt: Wurzel- und Kronenteil des Zahnes bilden eine Einheit, und eine Untersuchung über die historische Ent- wicklung dieser Elemente muß, um vollständig zu sein, das ganze Ge- bilde zum Gegenstand haben. Nun werde ich auf die interessante Frage, ob zwischen Höcker- bildung und Wurzelzahl eine Beziehung besteht, im Laufe dieser Arbeit nicht weiter eingehen. Nur möchte ich an dieser Stelle durch ein ein- faches Beispiel zeigen, daß die Verhältnisse nicht so einfach sind, und erst infolge einer systematischen Untersuchung eine richtige Deutung erfahren können. Bekanntlich ist der untere Eckzahn des Ersatzgebisses beim Menschen bisweilen zweiwurzelig. Weniger bekannt darf es sein, daß bei gewissen Affen, z. B. Macacus und Siamang der obere Eckzahn des Milchgebisses sogar nicht selten ebenfalls zweiwurzelig ist, besonders beim letztgenannten Affen. Leche hat nämliche Erscheinungen auch bei Galago crassicaudatus und beim permanenten Eckzahn von Lemur varius konstatieren können1). Auch der obere Milchcaninus des Menschen zeigt bisweilen diese Variation. Obgleich man nun in beiden Fällen von zweiwurzeligen Canini sprechen darf, sind demnach die beiden Fälle in ihrem Wresen grundverschieden, was schon daraus hervorgeht, daß beim Milcheckzahn die beiden Wurzeln als eine vordere und hintere und beim permanenten Caninus als eine bukkale und linguale gelagert sind. Die Wurzelverdoppelung beim Milcheckzahn — wie sie auch gelegentlich bei den Milchincisivi niederer Affen vorkommt — ist eine Erscheinung, identisch mit der Spaltung der Primärwurzel A bei den mesozoischen Säugern in den beiden Sekundärwurzeln Ax und A2. Sie wird durch das nämliche, oben namhaft gemachte Moment bedingt. Die Wurzeln dieser Milchzähne sind immer stark seitlich abgeplattet 1) Untersuchung über das Zahnsystem lebender und fossiler Halbaffen. Festschr. f. Gegenbaur, III, S. 139. Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 17 und, wenn es nicht zu einer reellen Spaltung gekommen ist, dann trifft man immerhin eine Furche, welche das breite, abgeplattete Ende der Wurzel zweispitzig gestaltet. Es besteht hier somit, wie auch von Leche angenommen wird, eine progressive Bildung. Beim permanenten Eckzahn jedoch hat die Zweiwurzeligkeit eine ganz andere Bedeutung. Hier ist die Erscheinung der Äußerung der Zusammensetzung des Zahnes aus zwei Primärelementen, einem Protomer und einem Deutero- mer, und es entspricht dann auch jede Wurzel je einem dieser Elemente. Es sind also zwei Primärwurzeln. Ich werde noch Gelegenheit haben, auf diese Unterschiede näher einzugehen. Kehren wir nach diesen allgemeinen Betrachtungen über die Anatomie der Wurzel zum Ausgangspunkt zurück. Der dreispitzige, zweiwurzelige Zahn ist jener, den man, nach den Darstellungen von Cope-Osborn, bei den ältesten Säugetieren im oberen Trias am häufigsten vertreten findet. Diese Tatsache scheint im Widerspruch zu stehen mit dem Grundsatz meiner Theorie, nach welcher der Säugerzahn gerade ein dimeres Gebilde darstellt, aus der Vereinigung von zwei in bukko-lingualer Richtung nebeneinander gelagerter Zahnkeime entstanden. Und nun kommt es heraus, daß bei den ältesten Säugern von dieser Dimerie nichts zu sehen ist. Zu diesem Punkte möchte ich nun folgendes bemerken. Einen Widerspruch zwischen dem Grundprinzip meiner Theorie und den paläontologischen Befunden kann man nur dann erblicken, wenn man der Meinung ist, daß nicht zwei Zahnkeimen die Verschmel- zung angingen, sondern zwei wohlausgebildete dreispitzige Zähnen. Und gegen eine solche Deutung meiner Anschauung habe ich am Ein- gang dieser Studie ausdrücklich Stellung genommen. Es haben sich Zahnanlagen miteinander verbunden, in der Weise, wie ich das in dem Abschnitt ,,Über das Wesen der Konkreszenz" näher auseinandersetzen werde. Der bukkale Komponent des Zahnes entspricht der älteren Generation und ist daher bei dem lingualen immer in Entwicklung vor. Bei den primitivsten Säugern darf es uns dann auch nicht wundern, daß der ganze Zahn fast ausschließlich vom Protomer gebildet wird. Doch ist auch bei den Trikonodonten das Deuteromer nicht ganz ab- wesend. Ich bedauere, daß das Material mir nicht persönlich für eine genaue Untersuchung zur Verfügung steht, und daß ich mich deshalb mit einem Studium der Abbildungen begnügen muß, die Cope-Os- born von den Zähnen der trikonodonten Gruppe der Ursäuger geben. Diese Abbildungen und einige Äußerungen im Text genügen jedoch für unseren Zweck. Wenn man nämlich die Abbildungen, welche Cope-Osborn (0. 1907) von Zähnen aus der Gruppe der Trikono- dontae geben, genau betrachtet, dann fällt es auf, daß mit nur wenigen Ausnahmen diese Zähne an der Lingualseite mit einem mehr oder weniger entwickelten Cingulum ausgestattet sind. Dieses Merkmal ist so konstant, daß Osborn (0. 1907, S. 21) es unter den Typenmerk- malen der Trikonodonten aufnimmt. Er gibt 1. c. für die Trikono- dontidae folgende Typenbeschreibung: „Probably carnivorous pro- marsupials. Molars with three stout crest cusps, the anterior and posterior cusps derived from the crown, and a strong internal cingulum" usw. Und auf S. LI heißt es: „The trikonodont type reappears, with the addition of a cingulum and paired fangs in Amphilestes of the lower Bolk, Die Morphogenie der Primatenzähne. ^ 18 Erstes Hauptstück. Jurassic and persists in Triconodon of the upper Jurassic." Es wären noch mehrere Zitate aus der genannten Arbeit zu entnehmen, die ge- gebenen genügen jedoch zum Beweise, daß bei den primitiven Säugern außer den drei zum Protomer gehörigen Spitzen an der Lingualseite des Zahnes eine Relieferscheinung hinzutritt, in der Form eines die ganze hänge der Zahnkrone einnehmenden Bandes. Welches ist die Bedeutung desselben und woher rührt es? Ich glaube nicht fehl zu gehen, wenn ich dieses Cingulum als die ganz rudimentäre, noch nicht differenzierte Manifestation des Deuteromer ansehe, also zurückführe auf die Tätigkeit des lingualen, in der Bildung des Säugetierzahnes aufgegangenen zweiten Zahnkeimes. Dieses Cingulum enthält somit potentia einen dreispitzigen Zahn, und wir werden sehen, daß es nun gerade das Hauptmerkmal der historischen Entwicklung des Säuger- zahnes ist, daß allmählich dieses morphologische Potenz mehr apert wird, bis als vollkommenste Form das Cingulum sich zu einem drei- spitzigen Kronenteil herausgebildet hat. Auch an solchen Zähnen trifft man bisweilen noch an der Lingualseite der Krone ein mehr oder weniger entwickeltes Cingulum an. Für die Bedeutung dieser Bildung verweise ich nach meiner ersten Studie S. 117. Bei den primitivsten Säugerzähnen ist somit die Differenz zwischen der Ausbildung von Protomer und Deuteromer am ansehnlichsten. Und bei jenen Zähnen höher differenzierter Gebisse, welche funktionell noch am meisten mit den Zähnen in dem Gebiß der Ursäuger überein- stimmen, nämlich bei den Incisiven, hat sich dieser große Unterschied zwischen protomerem und deuteromerem Teil des Zahnes noch be- wahrt. Es ist nun sehr merkwürdig und für die Ungleichwertigkeit beider Teile des Zahnes direkt beweisend, daß, wenn bei den höheren Säugern ein Zahn oder das ganze Gebiß einen regressiven Entwicklungsgang eingeschlagen hat, dieser Unterschied zwischen beiden Zahnabschnitten aufs neue immer stärker hervortritt, so daß schließlich Zähne ent- stehen, welche jenen der Ursäuger vollständig ähnlich sind. So tritt z. B. bei Phoca der zweiwurzelige dreispitzige Zahn wieder in so reiner Form auf, daß er der Form nach mit einem der jurassischen Säuge- tiere verwechselt werden konnte. Ich möchte jetzt die Frage noch kurz berühren, ob auch bei den jetzt lebenden Primaten dieser einfache trikonodonte Zahn noch vorkommt. Wenn man auf die ungeheuere Zeitdauer achtet, welche die jetzt lebenden Formen von jenen trennt, bei dem der zwei- wurzelige trikonodonte Zahn zum ersten Male als eine höhere Stufe der Entwicklung erschien, dann würde man nicht ohne eine gewisse* Zurückhaltung diese Frage zustimmend beantworten. Wenn man jedoch bedenkt, daß die phylogenetische Entwicklung des Gebisses als Ganzes der Hauptsache nach eine fortdauernde Ungleichwertig- machung der einzelnen Elemente ist, wobei die Progression desto stärker sich äußert, je mehr der Zahn rückwärts gelagert ist, dann er- scheint es weniger befremdend, daß im vorderen Teil des Gebisses Elemente sich noch auf dieser niedrigen Stufe der Entwicklung finden. Als Beispiel davon nenne ich an dieser Stelle nur den zweiwurzeligen, mit seitlich komprimierter, dreispitziger Krone ausgestatteten ersten Prämolar von Stenops gracilis und Cheirogaleus Smithii. Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 19 B. Die Sechshöckerphase. In diesem Abschnitt werden wir zunächst systematisch nach- weisen, wie die dimere Natur des Zahnes, die bei dem rein trikonodonten Zahn nur durch die Anwesenheit eines einfachen Cingulum an der Innenseite der Zahnkrone sich verrät, immer deutlicher hervortritt. Anfangend als ein niedriger Höcker an der lingualen Seite (h^ Zahnes, werden wir es bis zur Entstehung eines vollständig dreispitzigen Ge- bildes verfolgen. Im Anschluß daran werden" wir eine Übersicht der Zahnformen geben, welche durch Spezialisierung als abgeleitete Formen von diesen reinen Typen zu betrachten sind. Es wird sich in diesem Abschnitt also zunächst um die morphologische Entfaltung des Deutero- mer handeln, sodann um die besondere Spezialisierungen, welche zum Teil den Charakter von Regression tragen. Durch die höhere Differenzierung des Deuteromer wird der obere Säugerzahn somit der Hauptsache nach in transversaler Richtung mehr und mehr zusammengesetzt. Er bekommt eine wahre Reibefläche. Diese höhere Ausbildung des Zahnes versucht die Trituberkulartheorie bekanntlich durch die Transgressionshypothese zu erklären. Diese Hypothese, welche gleichzeitig den Kernpunkt der ganzen Theorie bildet, ist wohl einer der schwächsten und meist angefochtenen Punkte der von den amerikanischen Paläontologen aufgestellten Trituberkular- theorie. Wie allgemein bekannt ist, sollte die Entstehung des Tri- tuberkulartypus in der Weise vor sich gegangen sein, daß der mittlere Haupthöcker — der Protoconus — des trikonodonten Zahnes am Oberkiefer lingualwärts sich vorschob, und im Unterkiefer bukkalwärts. Dadurch entstand ein Zahn mit dreieckiger Krone, wobei die Basis bei den oberen Molaren (denn die Cope-Osbornsche Theorie hat nur auf die Molaren Bezug) nach außen, bei den unteren nach innen gekehrt war. Jene Spitze, welche mit dem einfachen Kegelzahn der Reptilien homolog ist, würde somit bei den oberen und unteren Molaren keine über- einstimmende Stelle mehr einnehmen, oben liegt sie lingual, unten bukkal. Gegen diese Vorstellung ist sowohl von embryologischer als von palä- ontologischer Seite Widerspruch erhoben wTorden. Wohl alle Forscher, welche sich mit der Ontogenese der Zähne beschäftigt haben, sind einstimmig in ihrem Urteil, daß die Trans- gressionshypothese nicht aufrecht erhalten werden kann, da sie im Streit ist, besonders mit der Reihenfolge, worin die Höcker der Mahl- zähne erscheinen. Wenn die Cope-Osbornsche Ansicht richtig wäre, dann sollte bei den oberen Molaren ein innerer Höcker, und zwar der vordere oder mesiale, ontogenetisch zuerst erscheinen, am frühesten eine Dentinbildung zeigen und der erste sein, der einen Schmelzüberzug erhielt. Das hat sich nun nicht bestätigt. Die Untersuchungen von Taeker bei Ungulaten, von Rose beim Menschen und Marsupialiern, von Woodward bei den Insectivoren und von Lee he bei Marsupialiern stimmen alle darin überein, daß im Oberkiefer zunächst der vordere bukkale Höcker — also der Paraconus von Osborn — sich bildet, und daß der linguale, der Protoconus, erst an zwreiter oder dritter Stelle kommt. Diese Erscheinung — die ich sowohl für platyrrhine als für katarrhine Affen bestätigen kann — ist schwer mit dem von Cope- Osborn aufgestellten Differenzierungsvorgang zu vereinbaren. Denn der ursprüngliche Haupthöcker sollte doch auch ontogenetisch am 2* 20 Erstes Hauptstück. ersten erscheinen, und seine Differenzierung jener der anderen — welche nur Nebenhöcker waren — vorangehen. Für die unteren Molaren be- steht dieser Widerspruch nicht, eben weil nach der Vorstellung der amerikanischen Paläontologen der Protoconus hier nach der Außen- seite des Zahnes rückte. In dem schon mehrfach erwähnten Sammelwerk hebt Osborn öfters diese Übereinstimmung zwischen den embryologischen Befunden und seiner Differenzierungstheorie, was die unteren Molaren betrifft, hervor. In bezug auf die oberen scheint bei 0 s b o r n die Überzeugung der Richtigkeit seiner Theorie ins Schwanken geraten zu sein. Denn am Schluß des Werkes (S. 227) schreibt er: ,,It must not be understood by the reader that the author of this volume is doggedly maintaining a theory of the origin of the upper molars, simply from personal reasons. On the contrary he believes the question to be still sub judice and will be the first to acknowledge his error if error ist proved to be. The author moreover feels the füll force of the very strong evidence arrayed against the Cope- Osborn view. The evolution of the upper molars is certainly not so simple as it at first appeared." Meine Bedenken gegen die Cope-Osbornsche Theorie im all- gemeinen, und gegen die Transgressionshypothese im besonderen, werde ich erst am Schlüsse dieses allgemeinen Teiles auseinandersetzen, und dabei auch die von Gidley auf Grund paläontologischer Unter- suchungen gemachten Beschwerden gegen diese Theorie kennen lernen. Die einfachste Form der Zähne, wobei das Deuteromer einen noch geringen Grad von Differenzierung besitzt, ist jene, wobei die Krone außer den drei dem Protomer zugehörigen Spitzen an der Lin- gualseite einen einfachen Höcker zeigt. Dieser neue Höcker ist nicht durch Verschiebung einer der bereits anwesenden an diese Stelle ge- langt, denn letztere sind noch alle da und stehen in einer geraden Linie wie beim trikonodonten Zahn. Diese höhere Zahnform ist somit charakte- risiert durch drei bukkale Spitzen und einen lingualen Höcker. Letz- teier stellt den Haupthöcker des Deuteromer dar, den ich, wie vorher gesagt, mit D bezeichne. Die Kronenformel dieses Zahnes muß daher i P 2 folgender Weise geschrieben werden - -. Es sei sofort bemerkt, daß diese Form, welche -- wie wir bald zeigen werden, auch unter den jetzt lebenden Primaten gar nicht selten ist — im System von Cope-Osborn fehlt. Gidley1) jedoch hat das Vorkommen solcher Formen bei den Ursäugern schon ausdrücklich betont, und zwar bei den nämlichen Säugern aus der Juraperiode, welche Osborn für die Aufstellung seiner Trituberkulartheorie ver- wendete. Nun standen Gidley vorzüglich erhaltene Spezimina dieser Formen — besonders Dryolestes — zur Verfügung, deren Kronenfläche noch nicht abgenützt waren, und welche Osborn bei seinen Studien nicht zugänglich waren. Dieser Umstand, wie unbedeutend er erscheinen dürfe, genügt, um das Vorkommen der Osbornschen trikonodonten in dieser Phase der Entwicklung anzuzweifeln, und dadurch die Trans- gressionshypothese zu erschüttern. Nach Osborn besitzt der Molar von Dryolestes zwTei Außenhöcker und einen kräftigen Innenhöcker, 1) Evidence bearing on Tooth-Cusp Development. Proc. Washington Acad. Sc. 1906, Vol. VIII. Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 21 und indem der Autor letzteren als den nach innen gerückten Haupt- höcker vom trikonodonten Zahn betrachtet, führt er die Molaren von Dryolestes als Beispiel von einfachen trituberkularen Zähnen an. Die Beobachtungen von Gidley lehren nun, daß diese Deutung unrichtig ist, denn an der Außenseite dieser Molaren finden sich nicht zwei, sondern drei Spitzen. Allerdings haben die Zähne eine dreieckige Kronenfläche, mit der Basis nach außen, aber daß diese nicht durch Verschiebung des mittleren Haupthöckers einer trikonodonten Aus- gangsform entstanden sein kann, wird von Gidley ausdrücklich hervorgehoben. Denn, sagt der Autor: ,,the main external cusp is in the middle of the base of the triangle instead of forming one of its angles." Aus dieser Bemerkung geht hervor, daß bei jenen primitiven Formen der Innenhöcker, der als neuer Erwerb auftritt, nicht von einer der Spitzen der trikonodonten Urformen abgeleitet werden kann, denn letztere finden sich noch an ihrer alten Stelle, wie aus der Beschreibung und Abbildung von Gidley genügend hervorgeht. Im Zusammenhang mit meinen Auffassungen ist dann auch die folgende Betrachtung dieses Paläontologen von nicht geringer Bedeutung: ,,Considering, sagt er, the outer portion of the Dryolestes molar as homologous to the three cones and two fangs of Triconodon, the derivation of this type of tooth is much simplified. the spezialization has apparently been centralized in the development of the high, narrow, heel-like cusp and its supporting fang on the inner siele of the molar." Mit anderen Worten ist auch Gidley der Überzeugung, es handelt sich bei diesen. aus jüngeren Schichten des Mesozoikum stammenden Säugetieren, um trikonodonte Zähne, bei denen ein neues Element, aus einer Spitze und Wurzel bestehend, hinzugekommen ist. Woher es stammt, darüber äußert Gidley sich nicht; er spricht nur von Spezialisation. Es ist wieder zu bemerken, daß diese erste höckerige morphologische Bildungs- stufe, welche das Deuteromer in seiner historischen Entwicklung aufweist, an den Molaren auftritt. Die im Laufe der Entwicklung immer stärker sich akzentuierende Heterodontie des Säugergebisses findet ihren Angriffspunkt im hinteren Teil des Gebisses, hier treten zuerst die weiteren Differenzierungen in die Erscheinung, und von hier aus greifen sie weiter nach vorn über, bis zum Caninus, der sich in ganz besonderer Richtung spezialisiert. Dieser allgemeine Entwicklungs- gang hat zweierlei zur Folge. Zunächst, daß man bei jüngeren Tier- formen im vorderen Abschnitt der posteaninen Gebißreihe Entwick- lungszustände vorfindet, die bei älteren Tierformen als progressive Erscheinungen im hinteren Abschnitt des Gebisses auftraten. Und weiter, daß ein vollständiges, regelmäßiges Gebiß von nicht allzu stark spezialisierter Natur, die morphologische Differenzierung des Zahnes, in auffolgenden Entwicklungsstufen zur Schau zu bringen vermag. Denn jeder weiter nach hinten folgende Zahn stellt gleichsam eine höhere Bildungsphase dar. Wir werden bald einen Halbaffen anführen, bei dem dieses in hohem Maße der Fall ist. Wie gesagt, kann bei der Krone von Dryolestesmolaren der linguale Höcker unmöglich durch Verschiebung von einem der drei Höcker der dreispitzigen Ausgangsform an diese Stelle gekommen sein, er stellt ein neues Element dar; der Keim der jüngeren Zahngeneration, die in der Anlage des Säugerzahnes aufgegangen ist, hat angefangen sich förmlich zu manifestieren, und hat seinen Haupthöcker zur Ent- 22 Erstes Hauptstück. wicklung gebracht, Aber die Aktivierung der Bildungspotenzen hält nicht mit der einfachen Ausbildung eines Höckers inne. Wie Gidley hervorhebt, wird dieser Innenhöcker sofort bei seiner historischen Er- scheinung von einer eigenen Wurzel getragen. Diese Tatsache ist von besonderer Bedeutung, denn sie zeugt ebenso stark gegen die Möglich- keit der Transgressionshypothese, als sie für die Richtigkeit der von mir verfochtenen Anschauung spricht. Es ist früher schon betont worden, daß eine Differenzierungstheorie, um vollständig zu sein, die morpho- logischen Vorgänge am Wurzelabschnitt des Zahnes nicht vernachlässigen darf. Für die Transgressionshypothese würde das Auftreten der inneren Wurzel gewiß große Schwierigkeiten bei der Erklärung geben. Denn wir haben gesehen, daß der dreispitzige Zahn — wovon Cope-Osborn den trituberkularen ableiten — zwei Wurzeln besitzt, eine vordere und eine hintere, welche, wie zwei Pfeiler eines Gewölbes die Krone tragen. Die Achse der mittleren Hauptspitze fällt dabei mit der Hauptachse des Gewölbes zusammen, also zwischen den beiden Wurzeln. Woher stammt nun plötzlich beim dreieckigen Zahn die dritte innere Wurzel, wenn die Transgressionshypothese richtig wäre ? In funktionell-mecha- nischer Hinsicht erscheint gerade der zweiwurzelige trikonodonte Zahn als ein vollkommenes Ganzes; der Hauptkegel bildet den Schlußstein zwischen den beiden Pfeilern des Gewölbes, und nun würde jener an- fangen, nach innen — resp. bei den unteren Molaren nach außen — zu wandern, während die beiden Wurzeln ihre ursprüngliche Stellung bei- behalten und in schwer vorstellbarer Weise von irgendwoher eine dritte Wurzel hinzukäme. Auch die Anatomie des Wurzelabschnittes der Zähne trägt dazu bei, die Transgressionshypothese von Cope-Osborn als unrichtig zurückzuweisen. Das Problem wird dagegen in einfachster und ganz natürlicher Weise durch die Dimertheorie gelöst. Dem Innenhöcker der oberen Molaren — von den unteren wird hier nicht gesprochen — vonDryolestes und verwandten Formen kommt die Dignität eines ursprünglichen Beptilienzahnes zu. Und als solcher besitzt dieses Element eine eigene Wurzel, welche also auch eine Primärwurzel ist. Die Primärwurzel des äußeren Abschnittes vom Säugerzahn — vom Protomer — bezeichnete ich mit A, sie spaltet sich, wie vorher auseinandergesetzt, in die beiden Sekundärwurzeln Ax und A2. Diese beiden Sekundärwurzeln gehören genetisch zum protomeren Abschnitt des Zahnes, und sie bleiben dann auch, ungeachtet der weiteren Differenzierungen, diesen Abschnitt stützen. Die Primärwurzel des Deuteromer unterscheide ich als Wurzel B, und, da sie genetisch zum Deuteromer gehört, teilt sie in allem auch das Schicksal, dem dieser Teil der Zahnkrone während der weiteren Differenzierung unterliegt. Geht der deuteromere Abschnitt der Krone wieder zurück, dann bildet sich die Wurzel B ebenfalls zurück; ent- faltet sich der genannte Kronenteil kräftig, dann konstatiert man Gleiches an der Wurzel. In diesen Wechselbeziehungen äußert sich noch die ursprüngliche Individualität, die das Deuteromer einmal als selbständiger Zahn besaß. Die Wurzel B trägt niemals Derivate vom Protomer, oder umgekehrt kommt niemals ein Teil des Deuteromer auf eine der beiden Wurzeln des Protomer zu stützen, wenigstens nicht bei den Primaten. Wir müssen jetzt die Frage beantworten, ob Zahnformen mit zwei äußeren Wurzeln Ax und A2, einer inneren Wurzel B und einem Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 23 I P 2 Kronenrelief, das der Formel — =— entspricht, auch bei den heute lebenden Tieren noch vorkommt. Ich beschränke mich, dem Zweck dieser Studie entsprechend, dabei auf die Primaten. In seiner Untersuchung über das Milchgebiß lebender und fossiler Halbaffen1) beschreibt Leche den zweiten oberen Milchmolaren von Cheirogaleus Mihi wie folgt: ,,Pd3 besitzt einen Innenhöcker, welcher sich als Leiste bis an die Hauptspitze fortsetzt und von einer besonderen Wurzel getragen wird. P3 hat einen gut ausgebildeten Innenhöcker ohne Leiste und die drei Wurzeln sind verwachsen, die Trennungsspuren aber noch sichtbar. Prf3hat also hier noch den ursprünglichen Zustand bewahrt2). Auch Propithecus zeigt etwas ähnliches, Pd3 hat eine deutliche Innenknospe und drei getrennte Wurzeln."' Die hier von Leche hervorgehobene Tatsache erscheint mir äußerst wichtig. Denn wenn man mit der gegebenen Beschreibung die Abbildung vergleicht, welche der Autor z. B. in Fig. 1 vom Milch- gebiß von Propithecus gibt, dann erfährt man, daß der zweite Milch- molar dieses Halbaffen — und dies ist auch bei Cheirogaleus der Fall — ■ i P 2 vollständig durch die Kronenformel — =—- charakterisiert ist. Denn an der bukkalen Seite findet sich ein stattlich entwickelter, mittlerer Höcker von zwei Nebenspitzen flankiert.. Diese stellen das Protome r dar, das von den zwei Sekundärwurzeln Ax und A.2 getragen wird. Lingual findet sich das noch wenig kräftig entwickelte Deuteromer als eine einfache Spitze, die, wie Leche ausdrücklich betont, eine eigene Wurzel, die Hauptwurzel B, hat. In völliger Übereinstimmung mit meiner Auffassung legt Le c he durch Spationierung des bezüglichen Satzes Nachdruck darauf, daß der zweite Milch molar primitiver gestaltet ist, als dessen Ersatzzahn, da jener noch drei getrennte Wurzeln besitzt, während beim ihm ersetzenden Prämolar die drei Wurzeln miteinander verbunden sind. Es scheint jedoch, daß Leche, was letzteres betrifft, einen Ausnahmefall vor sich gehabt hat. Denn bei einem Cheirogaleus Smithii fand ich den vorletzten Prämolar ebenso wie den diesen voran- gehenden mit drei getrennten Wurzeln ausgestattet. Und Schlosser3) beschreibt beim vorletzten Prämolar von Galago ebenfalls drei Wurzeln, was ich für Hemigalago bestätigen kann. Das ist vorläufig jedoch Neben- sache. Ich gab das Zitat aus Leches Arbeit nur. um herauskommen zu lassen, daß auch dieser Autor in dem Auftreten dreier Wurzeln ein primitives Merkmal erblickt. Der Autor gibt dieser Meinung sogar au anderer Stelle besonderen Ausdruck. So findet sich z. B. 1. c. S. 162 die Bemerkung, daß die doppelte Wurzel an einem Eckzahn „ein Charakter ist. welcher jedenfalls als ein relativ ursprünglicher zu betrachten ist4'. Die gegebenen Beispiele genügen vorläufig zum Beweis, daß der i P 2 Zahn mit drei Wurzeln und der Kronenformel . der bei Dryolestes und verwandten Formen als höhere Entwicklungsstufe in dem hinteren Abschnitt des permanenten Gebisses auftritt, auch bei rezenten Formen 1) Untersuchungen über das Zahnsystem lebender und fossiler Halbaffen. Festschr. f. Gegenbaur, Bd. III. S. 127". 2) Im Original ebenfalls gesperrt. 3) Die Affen, Lemuren usw. des europäischen Tertiärs. Wien 1887. 24 Erstes Hauptstück. Fig. 1. Hapale. w2 Außenseite1). noch im vorderen Gebißteil des Milchgebisses von Halbaffen vorkommt. Doch auch bei den wahren Affen tritt diese Zahnform in reiner Erhaltung gelegentlich noch auf, und sogar noch im permanenten Gebiß. Zunächst gebe ich zum Beweise in Fig. 1 eine Skizze des zweiten oberen Milch- molaren von Hapale. von der Außenseite gesehen. Auch dieser Zahn weist einen bukkalen, stark entwickelten Höcker (P) auf, der von zwei Nebenspitzen (i und 2) begleitet wird. Diese liegen in einer Linie und stellen mit den beiden Sekundärwurzeln A± und A 2 den protomeren Abschnitt des Zahnes dar. Der Innenhöcker ist noch niedrig; mit der ihn entsprechen- den Primärwurzel B bildet er den deuteromeren Teil des Zahnes. Und zum Beweise wie konservativ diese Zahnform sich erhalten kann, wenn der Zahn relativ wenig durch den Kauakt beansprucht wird, sei darauf hingewiesen, daß bei Schimpanse und Gorilla gelegentlich der erste Milchmolar noch ganz nach dem bezüglichen Muster gebaut sein kann. Der Zahn ist dreiwurzelig. Das Kronenrelief besteht aus einem größeren, mittleren Außenhöcker (P), der zwischen zwei kleinen, jedoch deut- lich differenzierten Nebenspitzchen sich erhebt (i und 2), und dazu kommt der noch wenig entwickelte Innenhöcker. Und schließlich findet man diesen ursprünglichen Typus auch noch im Milchgebiß des Menschen, und zwar am ersten Milchmolaren. Aber nicht immer. Der Wangenteil des Zahnes kann drei Höcker tragen, einen Haupt- höcker (P) und einen hinteren und vorderen Neben- höcker (2 und 1). Letzterer kann jedoch fehlen. Die linguale Seite des dreiwurzeligen Zahnes wird durch einen Höcker repräsentiert. Doch, wie gesagt, trifft man auch im per- manenten Gebiß diesen Zahntypus noch in reiner Form an. Das geht z. B. aus Fig. 2 hervor, worin zwei Ansichten des ersten und zweiten oberen Pia molaren von Stenops gracilis gegeben sind. Der erste Prämolar entspricht bis auf Einzelheiten noch einem zweiwurzeligen trikonodonten Zahn, das Deuteromer ist nur durch ein kaum sichtbares Cingulum vertreten, der zweite Prämolar dagegen ist dreiwurzelig, die Krone ist aus dem protomeren Teil mit den drei wohlausgebildeten Spitzen, deren mittlere die größte ist, zusammengesetzt, und lingual davon findet sich der noch einfache Innenhöcker, der das Deuteromer darstellt. Ich möchte hier sofort bemerken, daß das Gebiß von Stenops für eine Ein- sicht in den Differenzierungsgang des Gebisses besonders lehrreich ist, da in demselben die Progression der Form in regelmäßigen Abstufungen vorliegt. Der erste und zweite Prämolar von Nycticebus tardigradus sind jenen von Stenops sehr ähnlich. Ein weiteres Beispiel dieser noch ziemlich primitiven Zahnform wird vom dritten Prämolaren 1) Es wird auch in dieser Arbeit die schon in vorangehenden Abhandlungen benützte Methode befolgt, die Milchzähne mit kleinen, die permanenten Zähne mit großen Buchstaben zu schreiben. Fig. 2. Px und Pt von Stenops gracilis. Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 25 von Lemur gegeben, nur ist der Haupthöcker (P) hier weniger hoch und spitz als bei Stenops und Nycticebus, dagegen mehr in der Länge entwickelt, und sind die Nebenspitzen i und 2 nur spurweise angedeutet. In Fig. 3 ist dieser Zahn, von der mesialen und von der bukkalen Seite gesehen, abgebildet. Ich begnüge mich mit den gegebenen Beispielen, welche genügend 1 P 2 dartun, daß der dreiwurzehge Zahn mit der Kronenformel — br- auch bei den noch heute lebenden Primaten sowohl im Milchgebiß als im permanenten Gebiß auftritt. Allerdings nur im vorderen Abschnitt der posteaninen Reihe. Wenden wir uns jetzt den ausgestorbenen Gliedern dieser Ordnung zu, dann trifft man auch bei den eoeänen Primaten die bezügliche Form an. Beim noch mit einer vollständigen Prämolarenreihe ausge- statteten Hyopsodus entspricht der dritte Prämolar noch ganz diesem Typus. (Vgl. Osborn: American Eocene Primates, Fig. 6.) Gleiches ist noch der Fall bei Notharctos, bei dem der erste Prämolar schon ver- loren gegangen ist (Osborn, 1. c. Fig. 20), sowie beim letzten und vor- letzten Prämolar von Anaptomorphus homunculus (1. c. Fig. 25). In sämtlichen jetzt gegebenen Beispielen war bei vollständiger Entwicklung vom Protomer, das Deuteromer nur durch seinen Haupthöcker vertreten. Wir werden jetzt die nächsthöhere Stufe der Differenzierung kennen lernen. Auch das Deuteromer besitzt potentia den Wert eines dreispitzigen Zahnes, und bei voll- kommener Ausbildung wird der Höcker D von seinen beiden Nebenspitzen 3 und 4 begleitet, wodurch der Zahn die sechs- Fig. 3. p3 von Lemur. höckerige Gestalt erlangt. Es ist nun eine sehr merkwürdige Erscheinung, daß diese Form, wofür die Kronen- 1 P 2 formel — =^— gilt, in der Primatenreihe sehr selten vertreten ist. Die 3 D 4 Ursache davon werden wir an geeigneter Stelle kennen lernen. Nicht ohne Einfluß auf diese Seltenheit ist es gewiß, daß bei der progressiven Entwicklung des Zahnes die beiden Nebenspitzen des Deuteromer nicht gleichzeitig auftreten. Es ist eine für die richtige Deutung der Höcker bei den höheren Zahnformen der Primaten prinzipielle Tatsache, daß die hintere Nebenspitze des Deuteromer eine viel größere Konstanz aufweist, als die vordere. An der Formbildung der höheren differen- zierten Gebißelemente ist diese Spitze immer viel mehr beteiligt als die vordere. Den Grund dieser Erscheinung werden wir zu seiner Zeit kennen lernen. Die erste Erscheinung, welche aus der genannten all- gemeinen Regel folgt ist. daß bei der weiteren Progression des Deutero- mer, zuerst die hintere Nebenspitze 4 auftritt. Dadurch entsteht eine Zahnform, deren Kronenformel wie folgt geschrieben werden muß: 1 P 2 -jz — . Auch diesen Zahntypus findet man wieder in der Prämolaren- reihe der heutigen Halbaffen vertreten. Als Beispiel gebe ich in Fig. 4 die Skizze des dritten Prämolaren von Nycticebus tardigradus, von der Kaufläche gesehen. 26 Erstes Hauptstück. Das Protomer ist mit seinen drei Spitzen anwesend. Vom Deutero- mer ist die Hauptspitze (D) ziemlich in die Länge gezogen und geht nach hinten in die niedrige, doch scharf abgegrenzte Nebenspitze 2 über. Eine Besonderheit, die an der gegebenen Figur sofort ins Auge fällt, möchte ich hier nicht unerwähnt lassen. Die drei Spitzen des Protomer liegen in einer geraden, die bukkale Kante der Kronenfläche einnehmen- den Linie. Wenn nun, wie im vorliegenden Fall, das Deuteromer zweispitzig geworden ist, bildet die Verbindungslinie dieser beiden Spitzen mit jener des Protomer einen nach hinten offenen Winkel, mit anderen Worten, die Nebenspitze 4 springt stärker palatinalwärts vor, als die Hauptspitze. Diese Eigentümlichkeit verdient besondere Erwähnung, da sie bei den Molaren für die richtige Deutung der Höcker nicht ohne Gewicht ist.» Ein weiteres Beispiel eines Zahnes mit obenstehender Kronen- formel bietet der dritte Prämolar von Tarsius. Das Deuteromer springt hier jedoch als Ganzes mehr lingualwärts vor, ist schärfer vom Protomer abgesetzt als bei Nycticebus. Bei den wahren Affen p besitzt z. B. auch der zweite Milchmolar von Chryso- -j £ thrix diesen Entwicklungsgrad. \ ; Eine vollständige Ausbildung des Deuteromer bringt schließlich auch die Nebenspitze 3 zur Ent- wicklung, wodurch der diniere Zahn sämtliche morpho- genetische Potenzen, die in ihm aufgegangen sind, realisiert hat. Die Kronenformel eines solchen Zahnes muß daher folgenderweise geschrieben werden 1 P 2 0 h. — - — . Der bukkale und linguale Abschnitt des 3 D 4 Fig. 4. Nycticebus Zahnes stehen jetzt auf gleicher Differenzierungs- tardigradus. Dritter stufe, wenigstens was den Kronenteil betrifft. Im Prämolar. Wurzelteil bleibt der Unterschied bestehen, da, wenigstens bei den Primaten das Deuteromer normalerweise immer nur von der Primärwurzel B gestützt bleibt, und eine Trennung in zwei Sekundär wurzeln wie beim Protomer, hier unterbleibt. Und weiter sind jetzt die beiden Komponenten des Zahnes zwar in gleichem Maße differenziert, aber dem Volum nach bleibt der Entwicklungsgrad beider Teile immerhin ziemlich ver- schieden. Das Protomer ist, wie es auch bei den einfacheren Entwick- lungsphasen der Fall war, käftiger entwickelt als das Deuteromer. Die an der letztgegebenen Kronenformel beantwortete Zahn- form kommt bei den Primaten besonders selten vor. Er stellt gleich- sam den idealen Primatenzahn dar, denn er entspricht jener Form, welche notwendig entstehen muß, wenn zwei dreispitzige Reptilien- zähne in transversaler Richtung sich zu einem einheitlichen Gebilde verbinden. Daß man diese Form bei den Primaten so wenig antrifft, findet seinen Grund in der Tatsache, daß, wenn das Deuteromer seine höchste morphologische Entwicklungsstufe erreicht, im Protomer sich schon weitere Differenzierungsvorgänge geltend machen, welche die ursprünglichen Verhältnisse in diesem Zahnteil zerstören und den Zahn auf eine höhere Entwicklungsstufe bringen (Doppelhöckerstufe). Die vollständige Differenzierung des Deuteromer an sich ist, wie wir das in dem nächsten Abschnitt zeigen werden, nicht so selten, aber daß sich damit die rein dreispitzige Form des Protomer verbindet, das ist wohl Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 27 als eine Ausnahme zu betrachten. Ob die Koinzidenz bei anderen Säugergruppen häufiger auftritt, bleibt dahingestellt. Den schönsten Fall, den ich bei den Primaten von dieser Zahn- form aufgefunden habe, ist in Fig. 5 abgebildet. Es betrifft den dritten Prämolar von Stenops gracilis, der in der bezüglichen Figur von lingual und etwas von der mesialen Fläche gesehen, abgebildet ist. Das Proto- mer ist am bezüglichen Zahn merklich größer als das Deuteronier und der kegelförmige Haupthöcker P wird von den zwei scharfspitzigen Nebenhöckerchen i und 2 begleitet. Das Deuteromer ähnelt der all- gemeinen Gestalt nach dem Protomer. Es ist jedoch merklich kleiner. Die hintere Nebenspitze ist ein wenig kräftiger entwickelt als die vordere, doch ist dieser Unterschied nicht sehr groß. Es verdient aber diese Tatsache Erwähnung, denn sie zeugt wieder für die Gesetzmäßigkeit, welche die funktionelle Ausbildung des Zahnes unterliegt. Bis zum Auftreten der vollständigen Sechshöckerphase ist der Entwicklungs- grad jedes Höckers, in Übereinstimmung mit der Reihenfolge seines Erscheinens. Erst bei den höheren und mehr spezialisierten Formen, wie sie uns besonders bei den Molaren der Halbaffen und Affen ent- gegentreten, kann dieses Regelmaß gestört werden. Hier tritt Umbildung an die Stelle der Ausbildung. Es ist somit der diniere Säugerzahn in höchster Ausbildung, d. h., soweit er noch vorder Ummodellierung und Spezialisierung auftritt bei den rezenten Primaten nur selten aufzufinden. Bei den Abbildungen der Ge- bisse von Urprimaten, welche Osborn und Schlosser geben, suchte ich sie vergebens. Ich möchte jedoch die Möglichkeit nicht von der Hand weisen, daß sie r bei sehr genauem Zusehen an ganz intakten Gebissen ^grädUs10^ auch hier aufgefunden werden kann. Man beachte Dritter Prä- doch, daß es sich bei den Urprimaten meist um sehr molar, kleine Tierchen handelt. Ich möchte hier gleich die Bemerkung einschalten, daß man bei rezenten Primaten entweder als normale Erscheinung oder als Variation sechshöckerige Molaren antrifft, aber diese sind nicht zu identifizieren mit der Zahnform, worum es sich hier handelt. Denn jene sind, wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden, als Produkte von höherer Spezialisierung zu deuten, und entsprechen nicht dem Zahn, der sechshöckerig ist, infolge der vollkommenen Ausbildung vom protomeren und deuteromeren Abschnitt des Zahnes. Der sechs- höckerige Zahn, wovon an dieser Stelle die Rede ist, besteht aus den beiden Haupthöckern und den vier Nebenspitzen. Bekanntlich kommt auch im von Cope-Osborn entwickelten System eine Stufe vor, worin der Zahn sechshöckerig ist (Protoconus, Metaconus, Paraconus, Hypoconus, Protoconulus, Metaconulus). Es ist in der Theorie der genannten Forscher die höchste Entwicklungs- stufe, welche erreicht werden kann, und wovon die Molaren der höheren Primaten durch Schwund von Höckern abzuleiten sind. Es braucht kaum besonderer Hervorhebung, daß die oben von mir dargestellte Zahnform, mit jener von Cope-Osborn nicht identisch ist, was schon daraus hervorgeht, daß bei den genannten Autoren diese Form ein Endstadium darstellt, in meiner Entwicklungsreihe dagegen eine 28 Erstes Hauptstück. Zwischenstufe. Und der Entwicklungsgang ist auch in beiden Fällen ein prinzipiell verschiedener. Es ist die progressive Differenzierung des Säugerzahnes bei den Primaten jetzt bis zu dem Stadium verfolgt worden, wobei Protomer und Deuteromer ihre morphologischen Potenzen entwickelt haben. Es wäre an der Reihe, jetzt zur Besprechung der dritten vorher schon von mir genannten Phase — die Doppelhöckerphase -- überzugehen. Ich werde das jedoch noch nicht tun, denn es scheint mir empfehlens- wert, zunächst jene Zahnformen zu besprechen, welche sich von den bis jetzt besprochenen ableiten lassen. Es darf doch die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt haben, daß bis jetzt nur von Prämolaren oder Molaren die Rede war, und es möchte den Verdacht erwecken, daß die Incisivi und Canini einen anderen, von jenen Zahnformen verschiedenen Ent- wicklungsgang durchlaufen haben. Und das ist nicht der Fall. Alle Zähne ohne Ausnahme sind in derselben Weise entstanden. Ihrer An- lage und phylogenetischen Entstehungsweise nach, gibt es kein Unter- schied zwischen dem einfach gestalteten Schneidezahn und den zu- sammengesetzten Molaren der Primaten. Nur die spätere Entwick- lung hat die Ungleichheit allmählich herbeigeführt. Und daß bis jetzt als Beispiele von den verschiedenen Entwicklungsstufen nur Molaren und Prämolaren gewählt worden sind, findet seinen Grund darin, daß nur an diesen Zähnen das Material von „reinen" Typen zu entnehmen ist. Gewissermaßen stellen die Canini und Incisivi, der geläufigen Ansicht entgegen, viel stärker spezialisierte Zähne dar als die Prämolaren und Molaren. Denn bei letzteren kommen die Anlagepotenzen förm- lich viel mehr zur Entwicklung als bei den ersteren. Und dennoch, wie groß der Unterschied zwischen einem Schneidezahn und einem Molaren vom Menschen sein mag, immerhin sind beim ersteren, sei es spurweise, alle morphologischen Merkmale wie beim Mahlzahn gelegent- lich aufzufinden. Die einheitliche Natur aller Zähne des Gebisses ist eine notwendige Schlußfolgerung, wozu ich in meiner ersten Studie auf Grund der Ontogenese gelangt bin. Die ersten Entwicklungs- erscheinungen der Inzisivi unterscheiden sieh in nichts von jenen eines Molaren. Bei ihrer Anlage, bei der ersten Ausbildung des Schmelz- organes, in der etwas komplizierten Weise, die ich in der ersten Studie habe kennen gelernt, betragen sich alle Zähne einander vollkommen ähnlich, allen ist somit eine, sei es kurze Periode völliger Gleichwertig- keit gemein. Die Ungleichförmigkeit kommt erst sekundär zustande. In der von Ahrens veröffentlichten Untersuchung über die Entwicklung der menschlichen Zähne1), die kurz nach meiner ersten odontologischen Studie erschien, kommt der Autor zu einer vollständig übereinstimmenden Ansicht. ,,Es fällt", sagt er S. 90, „durch diesen Nachweis auch die letzte Abweichung in der Entwicklung der Schneide- zähne von der der Molaren fort.' Wir werden jetzt versuchen zu beweisen, daß diese Überein- stimmung auch am fertigen Schneidezahn und Eckzahn sich noch nachweisen läßt. Meiner Grundanschauung zufolge sind auch diese Zähne diniere Bildungen, und kommt jedem der beiden Odontomeren der Wert eines dreispitzigen Reptilienzahnes zu. Die starke Speziali- 1) H. Ahrens, Die Entwicklung der menschlichen Zähne. Habilitations- schrift. Wiesbaden 1913. Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 29 sierung dieser Zähne bewirkt, daß dieses Grundprinzip am fertigen Zahn nicht so auffällig ist als bei den postcaninen Zähnen. Der Hauptsache nach äußern sich diese Spezialisierungen in drei Richtungen: a) Starke Progression des Protomer, bei geringer Ent- faltung des Deuteromer; b) starke Progression eines der Höcker bei Reduktion der beiden anderen, und c) Beteiligung an der Bildung des Zahnes durch die drei Spitzen des Protomer in gleichem Maße bei hochgradigem Verlust der Selbständigkeit der Höcker. Der sub a) ge- nannte Vorgang ist meistenteils sowohl den Schneidezähnen als dem Eckzahn eigen, der sub b) genannte bezieht sich mehr besonders auf den Eckzahn, und der sub c) genannte auf die Incisivi. Durch die stärkere Entwicklung eines der Höcker, und zwar des Haupthöckers vom Protomer ähnelt der Eckzhan öfters sehr stark den ihm unmittelbar nachfolgenden Prämolar. Beim Caninus der Primaten ist aber die Beteiligung des Haupthöckers vom Protomer (P) oftmals außerordentlich stark, so daß es den Schein hat, der Zahn bestehe nur aus diesem Höcker, während die beiden Nebenspitzen i und 2 entweder ganz oder bis auf geringe Spuren rückgebildet sind. Es hat die Übereinstimmung, welche der Eckzahn nicht selten mit einem Prämolar bildet, eben öfters in der Literatur Analß gegeben, diesen Zahn als einen rückgebildeten oder modifizierten Prämolar zu betrachten. So sagt Rose z. B. : „Genetisch muß der Eckzahn auf- gefaßt werden als ein rückgebildeter Prämolar"1). Auch von Leche'2), der besonders dabei das gelegentliche Vorkommen zweier Wurzeln am Eckzahn zur Geltung bringt, wird dieser Zahn von einem Prä- molarenstadium abgeleitet. Von den Sui'dae sagt Stehlin3): „Die Zurückführung auf einen zweischneidigen, kompressen, zweiwurzeligen prämolarenartigen Zahn, steht kein Hindernis im Wege." Es würden sich gewiß gleichläufige Äußerungen noch wohl ver- mehren lassen. Doch wie sehr einerseits aus den gegebenen Hinweisen die Tatsache hervorgeht, daß die Formübercinstimmung zwischen Eckzahn und Prämolar die Aufmerksamkeit früherer Forscher schon auf sich gezogen hat, so bin ich doch mit der gegebenen Deutung dieser Relation nicht einverstanden. Die Ähnlichkeit im Äußeren beider Zahnformen ist nicht die Folge einer Reduktion bei der Ent- stehung des Eckzahnes, sondern beruht darauf, daß beide Zähne, Caninus und erster Prämolar, ein Urstadium in der Entwicklung aller Elemente des Gebisses noch am besten bewahrt haben. Besonders in den Fällen, wenn der erte Prämolar sein Deuteromer wenig oder nicht zur Entwicklung gebracht hat. — und das ist besonders bei den rezenten Halbaffen und den eocänen Primaten der Fall, ist die Formgleichheit bisweilen eine sehr frappante. Andererseits ist es bekannt, wie der Eckzahn sich bisweilen in seiner Entwicklung so sehr den Incisivi anschließen kann, daß er dieser Zahnform zum Verwechseln ähnlich wird. Ich erinnere dazu an den 1) C. Rose, Über die Zahnentwicklung des Menschen. Schweiz. Yiertel- jahrsschr. f. Zahnheilk., Bd. II, S. 7. 2) W. Leche, Zur Entwicklungsgeschichte des Zahnsystems der Säugetiere. II. Teil. Die Familie der Erinaceidae. Zoologica 1902. 3) H. G. Stehlin, Über die Geschichte des Sui'den- Gebisses. Abh. d. Schweiz. Paläont, Gesellsch. 1899, Bd. XXVI. 30 Erstes Hauptstüek. Lemuriden unter den Prosimiae. Auch beim Schaf hat der Eckzahn ganz die Form eines Schneidezahnes angenommen, und Charnock Bradley beschreibt es gerade als eine der merkwürdigsten Anomalien, wenn der Eckzahn dieses Tieres statt „incisiform" zu sein „canini- form" ist1). Daß bei Lemur gleichzeitig der erste Prämolar sich der Form nach zu einem eckzahnartigen Zahn ausgebildet hat, zeigt wieder aufs neue, daß prinzipielle Unterschiede zwischen den Zahnformen nicht bestellen. Einen mit jenem bei den Lemuriden vollständig über- einstimmenden Funktionswechsel von Prämolar, Caninus und Incisivus beschreibt Stehlin (1. c. S. 182) bei der primitiven Su'idengruppe der Cebochoeren. Auf der Grundlage einer allen gemeinsamen Grund- form nimmt der Zahn jene Form an, welche ihm durch die von ihm erforderten Funktion vorgeschrieben wird. Und diese Funktion ist vor allem abhängig von dem Platz, welche der Zahn in der Gebiß- reihe einnimmt. Wenn nötig, sollte aus einem Incisivus ein vollständig entwickelter Molar werden können, ohne daß ein einziges neues Element hinzuzukommen brauchte, denn potentia enthält die Anlage eines Incisivus alle Elemente eines Molaren. Und in diesem Abschnitt werden wir noch Incisivi kennen lernen bei Primaten, welche einem Prämolar tauschend ähnlich sind. Die Heterodontie findet sich zwar auch schon bei jenen Rep- tilien, welche den Ursäugern in ihrer Organisation am nächsten stehen, aber das Zustandekommen der Dimerie hat eine Möglichkeit geschaffen, wodurch dieses Merkmal sich in stets progressiver Weise ausbilden konnte. Je höher man in der Reihe der Primaten aufsteigt, desto mehr akzentuiert sich die Verschiedenheit der Zahngruppen im Gebiß. Aber an allen ist die potentielle Grundform, die nur bei einem Teil auch morphologisch realisiert wurde, noch aufzufinden. Und wenn wir das Charakteristische in dem Entwicklungsgang der Zahngruppen kurz andeuten wollten, dann würde diese Charakterisierung folgendermaßen lauten: Die Prä- molaren zeigen die allmähliche morphologische Realisierung der in den Zahnanlagen beschlossenen Potenzen, der Entwicklungsgang trägt bei diesen Zähnen den Stempel von morphologischer Vervoll- kommnung, bei den Molaren von Differenzierung und bei den Incisivi mit dem Caninus von Spezialisierung. Die Idee, daß eine übereinstimmende Grundform allen Zähnen zukommt, die Äquipotenz der Zahnanlagen, ist (wenn wir von der Trituberkulartheorie absehen, die, wiewohl nur für die Molaren auf- gestellt, jedoch auch die übrigen Zähne, auf einen einfachen Reptilienzahn zurückführt), in der von mir gefaßten Weise und strenge Durchführung in der Literatur noch nicht vertreten worden. Jedoch sind verwandte Gedanken schon von mehreren Autoren ausgesprochen. Am meisten nähern sich meine Meinungen und jene von d'Eternod2) einander. Und ich werde das Übereinstimmende und das Differente in den beiden Standpunkten kurz auseinandersetzen. Übereinstimmend in unserer Theorie ist, was ich kurz als die „diniere" Genese des Zahnes andeute. Für die Incisivi, Canini und Prämolaren nimmt auch d'Eter- nod eine Entstehung durch Fusion eines dorsalen (äußeren) und 1) 0. Charnock Bradley, Dental anomalies and their significance Proc. Nation. Veterin. Association 1907. 2) A. C. F. d'Eternod, Toutes les dents humaines sont des bicuspides inodifiees. Verh. d. Anat. Gesellsch. Leipzig 1911, S. 144. Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 31 ventralen (inneren) primären Zahn an. Bis soweit gehen wir einen AVeg. Bezüglich der Entstehung der Molaren jedoch laufen unsere Auffassungen auseinander. Wie ich mir die Entstehung dieser Zahn- formen denke, wird im Laufe dieser Arbeit gezeigt werden. Von d'Eternod wird hier eine nochmalige Fusion, jetzt in longitudinaler Richtung von zwei Bikuspidaten postuliert, wozu gelegentlich noch eine Konkreszenz von einfachen primären Elementen kommen kann, woraus der fünf- resp. sechshöckerige' Molar resultiert. Die Verwachsung in longitudinaler Richtung von Einzelzähnen habe ich früher schon zurückgewiesen, wo von der Entstehung des trikonodonten Zahnes die Rede war. Auch die Entstehung der Molaren in dieser Weise muß ich aufs entschiedenste verwerfen. Die mehr komplizierte Form der Molaren ist die Folge von Diffe- renzierung und nicht von Konkreszenz. Abgesehen davon, daß wir diese Differenzierung methodisch auf vergleichend-anatomischem Wege verfolgen können, spricht auch für diese Ansicht die wichtige von mir festgestellte, und seitdem von Ahrens1) bestätigte Tat- sache, daß die Ontogenese der Molaren in keinem einzigen Punkt von jener der Antemolaren abweicht. — Es ist von d'Eternod die dimere Genese der Zähne zum ersten Male zum Ausdruck gebracht in einer Inaugural-Dissertation eines seiner Schüler im Jahre 1889. In dieser Dissertation2) findet sich die folgende Bemerkung, woraus hervorgeht, daß schon durch Aeby ein ähnlicher Gedanke ausgesprochen worden ist: Feu le professeur Aeby a emis l'idee tres ingenieuse que chez l'homme les dents les plus simples seraient dejä constituees par im redoublement de la forme elementaire primitive. Les incisives et meme les canines que Ton considere generalement comme etant des dents unicuspidees, seraient ainsi, en realite, des bicuspidees dont un des tubercules (le posterieur) serait considerablement atrophie. Es findet sich im Original kein Hinweis, wo sich dieser Satz von Aeby findet, und ich habe es auch nicht herausfinden können, weiß somit auch nicht um welche Zeit derselbe geschrieben ist. So weit meine Literaturkenntnis geht, scheint somit Aeby der erste gewesen zu sein, der die Formbeziehung zwischen den Zähnen richtig erkannt hat. Allerdings beschränkt er sich auf den Antemolaren. Auch von Zuckerkandl ist ein ähnlicher Gedanke, aber in noch mehr beschränkter Fassung ausgesprochen worden. ,, Man könnte", schreibt dieser Autor, „mit einiger Berechtigung behaupten, daß Eck- und Backenzähne Modifikationen einer und derselben Form sind"3). Einer übereinstimmenden Meinung ist Dependorf4). Die Meinung, daß alle Zähne auf eine gemeinschaftliche Grundform zurückzuführen sind, findet man schließlich auch bei Adlof f , er betrachtet als eine solche Grundform den trituberkularen Zahn C o p e s , den er durchVerschmelzung entstanden denkt. „Meines Erachtens sind Schneidezähne, Eckzähne, 1) EL Ahrens, Die Entwicklung der menschlichen Zähne. Habilitationsschr.. München 1913. 2) E. Oltramare, Description methodique de la Dentition chez l'hoinme. These, Geneve 1889. 3) Anatomie der Mundhöhle. Wien 1891, S. 44. 4) T. Dependorf, Zur Frage der überzähligen Zähne im menschlichen Gebiß. Zeitschr. f. Morph, u. Anthrop., Bd. X, S. 192. 32 Erstes Hauptstück. Prämolaren und Molaren auf jeden Fall nur Umwandlungen einer Grundform. Als diese Grundform könnte vielleicht die trituberkuläre angenommen werden"1). Wie jedoch diese Stellungnahme des genannten Autors in Über- einstimmung zu bringen ist, mit der von ihm vielfach wiederholten Überzeugung, daß die Molaren aus dem Material von prälaktealer, laktealer und permanenter Dentition entstanden sind2), ist mir nicht recht deutlich. Die Grundform aller Zähne sollte die durch Kon- kreszenz entstandene trituberkuläre gewesen sein, und dennoch sollten die Molaren eine ganze Dentition absorbiert haben, welche bei den Antemolaren als selbständiges Gebiß auftritt. Wenn hat dann diese Assimilation der Molaren stattgefunden? Vor der Differenzierung zu höheren Säugerzähnen? Dann ist die Grundform nicht mehr die gleiche. Oder sind zwei zu verschiedenen Dentitionen gehörigen trituberkularen Zähne zu einem Gebilde zusammengetreten? Dann müßten Formen entstanden sein, welche nicht verwirklicht sind. Die Lösung dieses Widerspruches scheint mir nur jene zu sein, daß eine der Behauptungen Adloffs verfehlt ist. Die Grundform aller Zähne ist -- allerdings nicht in der Adloff sehen Fassung - die gleiche, aber daraus folgt auch die Konsequenz eines gemeinsamen Differenzierungsganges aller Zähne. Schließlich ist die Formverwandt- schaft sämtlicher Antemolaren noch scharf betont für das Suidengebiß durch Stehlin3). Der Caninus ist hier auf einen zweischneidigen, zweiwurzeligen prämolarenartigen Zahn zurückzuführen, der untere ist jedoch einer Deutung nicht so leicht zugänglich. Die Incisiven lassen sich nach dem Verfasser auf die Form eines einfachen Prä- molaren zurückführen. An den oberen Incisiven blickt, sagt der Autor, die Prämolarenstruktur noch so deutlich durch, daß sie sich am besten direkt als modifizierte Prämolaren beschreiben lassen (1. c. S. 308). Der einheitliche Typus wird somit für den Antemolaren wieder- holt in der Literatur betont. Viel seltener dagegen jener zwischen Prämolaren und Molaren. Hieran hat die Copesche Theorie mit ihrem Dogma eines differenten Entwicklungsganges von beiden Zahngruppen schuld. In der älteren Literatur finden sich jedoch wohl diesbezügliche Äußerungen. So glaubte Rütimeyer seinerzeit die Prämolaren der Ungulaten als reduzierte Molaren deuten zu sollen4). Nun ist auch hier der Ausdruck reduzierte Molaren wieder ein wenig glücklicher. Es sind nicht in bezug auf den Molaren reduzierte Formen, sondern ge- wissermaßen Vorstufen, welche in allmählicher Komplikation die Struk- tur der Molaren vorzubereiten scheinen. Auch Huxley hat die Form- verwandtschaft zwischen Prämolaren und Molaren betont. „In Centetes", sagt dieser Autor, ,,it is easy to trace the successive changes by wich the simple and primitive character of the Mammalian cheek-tooth exhibited by the most anterior praemolar passes into the complex 1) Das Gebiß des Menschen und der Anthropomorphen, S. 139. 2) Vgl. u. a. Zur Frage der Entstehung der heutigen Säugetierzahnformen. Zeitschr. f. Morph, u. Anthrop. 1903, Bd. V. 3) H. G. Stehlin, Über die Geschichte des Suidengebisses. Abh. d. Schweiz. Paläontol. Ges., Bd. XXVI. Zürich 1899. 4) J. Rütimeyer, Versuch einer vergleichenden Odontographie der Huf- tiere. Basel 1863. Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 33 structure of the crowns of the posterior teeth"1). Schließlich sei noch Topinard erwähnt2), der ebenfalls die Prämolaren und Molaren von einem „gemeinsamen Typus" ableitet. Doch differiert der Standpunkt dieses Autoren von jenem von Huxley, indem er die beiden Zahn- gruppen in divergenter Weise aus diesem gemeinsamen Typus entstehen läßt. ,,11 y a donc-', sagt der Autor 1. c. S. 670, unite d'origine des molaires et premolaires superieures et inferieures. Un type commun c'est diffe- rentie dans deux voies qui se sont divisees et ont abouti l'une aux premolaires, l'autre aux molaires." Wir werden jetzt eine kurze, übersichtliche Darstellung geben von der Art der Spezialisierung von Incisivi und Canini. Wir werden uns insbesonders bemühen, nachzuweisen, daß auch an diesen Zähnen die beiden Odontomeren sich auffinden lassen, und daß jedes davon die ihm gebührenden drei Spitzen besitzt. Bisher war immer nur von den Zähnen des Oberkiefers die Rede. In den jetzt folgenden Auseinandersetzungen wird diese Trennung nicht durchgeführt. Denn der Grund, der mich zwang, die Ober- und Unterkieferzähne gesondert zu behandeln, liegt für die Schneide- und Eckzähne nicht vor. Die Divergenz des Entwicklungsganges in beiden Gebißreihen fängt erst hinter dem Caninus an. Beginnen wir mit dem Eckzahn. Als allgemeines Charakteristi- kum dieses Zahnes gilt die bisweilen außerordentliche Entwicklung des Haupthöckers (P) vom Protomer, bei geringer Entfaltung, nicht selten völligem Fehlen der beiden Nebenspitzen i und 2. Wie stark jedoch dieser Zahn in der Gruppe der Primaten den Eindruck macht bei allen Geschlechtern ein homologes Gebilde zu sein, so habe ich doch die Überzeugung gewonnen, daß dem nicht so ist. Wie unwahrschein- lich es auch klinge, so bin ich doch überzeugt, daß z. B. der Caninus des Menschen und jener von Gorilla oder Cynocephalus genetisch nicht vollständig homologe Bildungen sind. Der Unterschied wird herge- stellt durch den sehr verschiedenen Grad, in dem das Deuten» mer am Zustandekommen des Zahnes beteiligt ist. Doch komme ich nachher auf diesen Punkt zurück. Es wurde diese Sache nur kurz erwähnt, um gleich festzulegen, daß die Entwicklung des Deuteromer nicht etwas für den Canini aller Primaten Charakteristisches hat. An den Eck- zähnen der Primaten trifft man die Spuren der Nebenspitzchen i und 2 nur selten an, und sie fehlen durchaus bei den sehr kräftig entwickelten Zähnen des permanenten Gebisses. Dieses Fehlen kann man auch derart deuten, daß die Nebenspitzchen zwar an der Bildung des kegelförmigen Zahnes sich beteiligen, aber daß ihre ursprüngliche Abgrenzung voll- ständig verloren gegangen ist. Und diese Auffassung gewinnt an Wahrscheinlichkeit durch die Tatsache, daß bisweilen die Beteiligung einer der Spitzen an der Bildung der Krone an der lingualen Fläche sehr evident ist, während an der bukkalen Fläche jede Andeutung davon fehlt. Das geht z. B. aus Fig. 6 hervor, wo ein permanenter oberer Eckzahn von Avahis laniger, von der lingualen Seite gesehen, abgebildet ist. Die Zahnkrone des Caninus dieses Halbaffen ist niedrig und ziemlich stark abgeplattet, ragt nur wenig über den ersten Prä- 1) Th. Huxley, Collected Papers, Vol. IV, p. 450. 2) P. Topinard, De l'Kvolution des Molaires et Premolaires chez les Primates et en particulier chez l'homme. L'Anthropologie 1892. Bolk, Die Morphogenie der Primatenzähne. 3 34 Erstes Hauptstück. molar hervor. Die hintere Nebenspitze 2 ist ziemlich kräftig als selb- ständige Hervorragung entwickelt, die vordere Nebenspitze 1 dagegen bildet offenbar einen Teil des Vorderrandes der Krone, verursacht jedoch keine Einkerbung in demselben und ist auch an der bukkalen Seite nicht vom Haupthöcker abgesetzt, was an der lingualen Fläche durch eine seichte Furche wohl der Fall ist. Bei anderen Halbaffen, z. B. Tarsius, bilden die Nebenspitzchen 1 und 2 am Eckzahn zwei kleine scharfe Höckerchen an der Basis des Haupthöckers, bei Stenops lagern sie ungefähr in der Mitte vom Vorder- und Hinterrand des schlanken Hauptkegels, bei Hemigalago, Nyctieebus und Galago ist nur die hintere Nebenspitze angedeutet. Doch auch bei den höheren Primaten trifft man bisweilen die Spuren der beiden Nebenhöckerchen noch an, besonders in jenen Fällen, in denen der Haupthöcker sich nicht so außerordentlich entwickelt hat und die Zahnkrone mehr lanzettförmig ist, z. B. beim oberenEckzahn des Milchgebisses von Chrysothrix und von Hapale. Bisweilen trägt auch der obere permanente Eckzahn des Menschen noch deutlich die Spuren seiner drei- spitzigen Urform an sich, wie aus Fig. 7 ersichtlich. Der Kronenrand wird nicht von zwei regelmäßig verlaufenden zur Spitze konvergie- renden Linien gebildet, sondern ist wellenförmig, der mittlere Teil ragt deutlich hervor und geht in eine vordere und hintere niedrige Er- hebung über. An der lingualen Seite ist die Abgrenzung der drei Spitzen ziemlich scharf ausgeprägt1). Die gegebenen Beispiele dürften hinreichen Fig. 6. Oberer Eckzahn von Avahis Inniger. Fig. 7. Oberer Eckzahn des Menschen mit An- deutung der Drei- spitzigkeit. um die Beziehung des Eckzahnes vom Primatengebiß zum ursprünglichen trikonodonten Typus zu beweisen. Es hat in diesen Fällen das Protomer seine ursprüngliche Gestalt wieder mehr oder minder zur Entwicklung gebracht. Oder sollte es heißen: seine primitive Form noch erhalten? Bei Primaten dagegen, bei denen die Canini sich zu den ge- waltigen Hauern entfaltet haben, ist diese Differenzierung wohl voll- ständig unterdrückt worden. Der Mensch zeigt in der Morphologie seines Caninus größere Verwandtschaft zu den niederen Primaten, besonders Halbaffen mit lanzettförmigen Canini als mit den Anthro- poiden oder sonstigen höheren Primaten. Und dieser Unterschied zwischen Menschen und z. B. Gorilla bezieht sich nicht nur auf die dimensioneilen Verhältnisse, sondern auch auf die anatomische Zu- sammensetzung, eine Folge der differenten Beteiligung des Deuteromer an dem Aufbau des Zahnes. Denn dieser Anteil ist bei den Primaten sehr verschieden, und man kann deutlich in dieser Hinsicht zwei Gruppen 1) Für weitere Besonderheiten solcher Formen beim Menschen verweise ich auf die dritte dieser Studien, welche die Variationen des Gebisses behandeln wird. Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 35 unterscheiden, nämlich eine bei der das Deuteronier sich am Eckzahn nicht oder nur schwach manifestiert, und eine zweite Gruppe, wobei dasselbe an der Bildung der Zahnkrone in ausgiebiger Weise teilnimmt. Betrachten wir zunächst erstgenannte Gruppe. Wir haben aus- einandergesetzt, daß bei den Prämolaren das Deuteronier in seiner einfachsten Form als ein einziger niedriger Höcker erscheint, der sich lingual des Haupthöckers vom Protomer findet. Das Homologon dieses Höckers ist jene Erhebung, die man öfters an der inneren Seite der Frontzähne antrifft und in der Literatur als das Tuberculum dentis unterschieden wird. Besonders evident wird das in jenen Fällen, wenn der Caninus in Abweichung seiner gewöhnlichen Gestalt mehr einem Prämolaren ähnlich aussieht. Solche Fälle sind zwar ziemlich selten, sie kommen jedoch auch bei den Primaten vor, besonders im Milch- gebiß. So sagt z. B. Lee he1) vom oberen Milchcaninus von Adapis magnus: ,,Er ist nicht höher, als die nachfolgenden Backenzähne und eher prämolar- als typisch eckzahnartig/' Unter den jetzt lebenden Primaten besitzt Hapale im Milchgebiß einen unteren Eckzahn, den man, wenn isoliert betrachtet, schwerlich als solchen, sondern zweifels- ohne als einen posteaninen Zahn deuten würde. Er gleicht seinem unmittel- baren Nachfolger — dem ersten Milchmolaren — nicht nur in der Gestalt seiner Krone, sondern, wie aus Fig. 8 zu ersehen, sind die Reliefmerkmale des letzt- genannten beim Eckzahn sogar akzentuiert. Solche Übereinstimmungen sind nur verständlich bei der Annahme, daß sämtlichen Zähnen eine gleiche Urform zugrunde liegt, und daß die Differenz der verschiedenen Zähne auf die ungleiche Entwicklung der morphologischen Unterteile dieser Grundform zurückzuführen ist. Das Tuberculum dentis des Eckzahnes ist nun bei gewissen Pri- maten wohl, bei anderen nicht anwesend, und wenn ersteres der Fall ist, wechselt individuell der Entwicklungsgrad ziemlich stark, und nicht selten ist es — besonders beim Menschen — in zwei kleinere Höckerchen geteilt. Die Affen, bei den das Tuberculum leicht nachweisbar ist, sind überwiegend jene, bei denen der Zahn eine Länge besitzt, welche jene der übrigen Zähne wenig übertrifft, wie beim Menschen. Es ist bekannt, daß hier das Tuberculum in seltenen Fällen zu einem ziemlich kräftigen Höcker heranwachsen kann. Der in Fig. 7 abgebildete Caninus besitzt ein gut ausgebildetes Tuberculum dentis oder Basalhöcker, wie de Terra es nennt2). Einen zweiten Fall gibt die Skizze in Fig. 9. Sie ist nach dem Zahn angefertigt, an dem ich diese Bildung am kräftigsten ™i c Fig. 8. Hapale. Unterer Eckzahn und erster Molar des Milchgebisses. Fig. 9. 1) W. Leche, Untersuchungen über das Zahnsystem lebender und fossiler Halbaffen. Festschr. f. Gegenbaur, III, S. 148. 2) Odontographie der Menschenrassen, S. 235. 3* 36 Erstes Hauptstück. entwickelt fand, und reicht bis zur Mitte des protomeren Haupthöckers. Eine solche starke Entwicklung des Deuteromer habe ich niemals bei einem der anderen höheren Primaten angetroffen. In seiner eben zitierten Arbeit geht auch de Terra auf das Vorkommen und die Bedeutung dieses Basalhöckers ein und hebt einen merkwürdigen Unterschied zwischen Affen- und Menschencaninus hervor. Er sagt 1. c. S. 236: „Der Basalhöcker tritt beim Affen gewöhnlich in der Zweizahl auf und außerdem nimmt eine gegen die Spitze des Zahnes verlaufende Rinne zwischen den Höckern ihren Anfang. Diese Rinne fehlt beim Menschen, auch ist am bleibenden Eckzahn nur ein Höcker zu sehen. " Dieser Unter- schied zwischen Affen- und Menschencaninus verdient scharf betont zu werden, da ihm eine entwicklungsgeschichtliche Bedeutung zu- kommt. Ich muß dazu jedoch zunächst die Angabe von de Terra be- richtigen. Bei den Affen mit mächtig entwickelten Canini (Gorilla, Hylobates, Cynocephalus usw.) verlaufen über der Krone in der Längs- richtung zwei Rinnen oder bisweilen tief einschneidende Furchen, und nicht eine einzige, wie de Terra angibt. Nicht immer sind beide gleich stark entwickelt. Sie fangen an der Basis der Krone an, und strecken sich bis zur Spitze derselben aus. Bisweilen, wie z. B. bei Siamang (vgl. Fig. 10) sind beide Rinnen auf die linguale Fläche gelagert, in anderen Fällen, wenn die Krone weniger abgeplattet, mehr kegel- förmig ist, rückt eine derselben auf die Seitenfläche. Diese beiden Längsfurchen trifft man nicht nur bei den Primaten, sondern auch bei den übrigen Säuge- tieren, bei denen |die Eckzähne zu Hauern sich ent- wickelt haben. Durch dieselben wird die Krone in zwei Felder getrennt, ein größeres bukkales und ein kleineres linguales. Man könnte der Ansicht sein, Fig. 10. Siamanga diese beiden Längsfurchen besitzen keine entwick- syndactylus. Eck- lungsgeschichtliclie, sondern nur eine mechanische zahn- Bedeutung, da sie sich auf der Reibefläche des Zahnes befinden. Dagegen ist die Tatsache anzuführen, daß bei den oberen Canini von Sus babyrusa, welche bekanntlich statt nach unten zu wachsen, gleichsam nach oben umgeklappt sind, wodurch die ursprüngliche linguale Fläche an die Außenseite zu liegen kommt, die beiden Rinnen auf diese Fläche bis zur Zahnspitze sich erstrecken. Diese Rinnen oder Furchen lassen meiner Meinung nach nur eine Deutung zu, nämlich diese, daß sie die Grenzen darstellen zwischen den beiden Odontomeren. Bei den gewaltig entwickelten Canini der Pri- maten besteht die Krone somit nicht, wie bei den gering entfalteten, ausschließlich oder hauptsächlich aus dem Haupthöcker P vom Proto- mer, sondern es hat an der Bildung dieser Krone, wenigstens der Länge nach, der Haupthöcker D vom Deuteromer gleichen Anteil genommen, er dehnt sich bis zur Kronenspitze aus. Man muß sich dabei denken, daß diese Haupthöcker ihre morphologische Individualität preisgegeben haben, und mit ihren, einander zugekehrten Flächen über ihre ganze Länge verwachsen sind. Beim Menschen dagegen, mit seinem mehr primitiv gestalteten Eckzahn, besteht die Krone ausschließlich aus dem Protomer und das Deuteromer erscheint nur in der Form des sogenannten Tuberculum, das bisweilen sich etwas mächtiger entfalten kann als durchschnittlich, dabei jedoch immer seine morphologische Indivi Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 37 dualität behält. Daß ein Tuberculum dentis, wie beim menschlichen Caninus, dann auch meistenfalls den Affen abgeht, ist leicht verständ- lich. Zwar findet man, wie auch de Terra im oben zitierten Passus bemerkt, bei den Affen bisweilen — nicht „gewöhnlich", wie de Terra sagt - - zwei Höckerchen, aber diese entsprechen nicht dem Basal- höcker des menschlichen Caninus, sondern sind die Nebenspitzen 3 und 4 vom Deuteromer. Die verschiedene morphologische Natur des Eckzahnes vom Men- schen und seiner nächsten Verwandten ist nur die Äußerung des Prin- zipes, welches bei der historischen Entwicklung aller Zähne des Gebisses zum Vorschein tritt. Je kräftiger sich nämlich der Zahn entwickelt, desto ausgiebiger werden die morphologischen Potenzen, welche die Zahnanlage enthält, aktiviert; es nimmt das Deuteromer in stets steigendem Maße Anteil an der Zahnbildung. Die gewaltige Entwick- lung der Canini bei den Anthropomorphen z. B. oder bei den Cyno- cephaliden. griff auch im deuteromeren Anteil der Zahnanlage ein, aber der Funktion dieses Zahnes gemäß dürfte sich letzterer nicht als indi- viduelle Spitze entwickeln, sondern entwickelt sich im Zusammen- hang mit dem protomeren Abschnitt der Zahnanlage und bildete mit diesem einen einheitlichen Kegel. Es erhebt sich die Frage, ob die differente morphologische Zu- sammensetzung des Eckzahnes vom Menschen und Anthropoiden (sowie der übrigen höheren Affen), eine Persistenz ursprünglicher Verhält- nisse beim Menschen ist, oder eine von den Hominiden neu erworbene Erscheinung, welche dann in jenem Sinne zu deuten sit, daß bei den Hominiden die Verlötung beider Haupthöcker P und D infolge von immer schwächerer Entwicklung des Zahnes wieder rückgängig ge- worden ist. da das Deuteromer, als von Hause aus das weniger wichtige der beiden Üdontomeren darstellend, bei der Regression die erste Stelle einnahm. Wiewohl die Möglichkeit letzterer Auffassung unbedingt zugegeben werden muß, — da, wie schon öfters betont wTorden ist, Pro- gression und Regression immer den gleichen Weg folgen, nur in entgegengesetzter Richtung, so daß z. B. bei Reduktion des Gorilla- caninus zunächst und am meisten das Deuteromer schwinden würde — , so glaube ich doch nicht im Eckzahn des Menschen eine sekundär vereinfachte Form erblicken zu dürfen. Diese Überzeugung gründet sich auf die Überlegung, daß in der Morphogenese und in der Anatomie des Menschenschädels jede Andeutung fehlt, daß dieser Körperteil jemals ein Stadium mit dem stark verlängerten Gesichtsteil durch- laufen hat, wie wir es bei den Anthropoiden antreffen, eine Ausbildung, welche wohl mit gewaltig entwickelten Canini in engstem Konnex steht. Ich bin geneigt, den Prognathismus der Anthropoiden von weniger prognathen Zuständen abzuleiten, und nicht umgekehrt. Die Relation der Canini von Anthropomorphen und Menschen zueinander möchte ich deuten als Progression der ersteren und nicht Reduktion der letzteren. Doch ist es hier weniger am Platze, auf diese Frage näher einzugehen. Das oben vom Caninus Gesagte fasse ich im folgenden kurz zusammen. Der Primateneckzahn ist ein dimerer Zahn, wobei jedoch die Beteiligung vom Deuteromer eine sehr verschiedene ist. Das Proto- mer trägt bisweilen noch deutlich das Kennzeichen seiner ursprüng- lichen trikonodonten Urform, indem es neben der Hauptspitze auch die beiden Nebenspitzen zur Entwicklung bringt. Ist nur eine derselben 38 Erstes Hauptstück. entwickelt, dann ist es meistenfalls die hintere, also Nebenspitze 2. Das Deuteromer trägt entweder am Aufbau der Krone in der ganzen Länge bei, in welchem Falle zwei zur Zahnspitze sich erstreckende Rinnen oder Furchen die Grenzen zwischen den beiden Odontomeren markieren, oder die Krone wird nur vom Protomer gebildet und das Deuteromer tritt dann gelegentlich als ein selbständiges Höckerchen auf. Ist letzteres nicht der Fall, dann manifestiert sich das Deuteromer als ein Basalsaum, der sich an der Innenfläche der Krone findet, der aber auch, besonders bei schwach entwickelten Eckzähnen, fehlen kann. Die Erkenntnis der dinieren Natur des Eckzahnes erklärt in ganz natürlicher Weise Anomalien oder Strukturbesonderheiten, die bei diesem Zahn beobachtet werden, und deren Besprechung ich, der Voll- ständigkeit wegen und auch zur näheren Begründung des bis jetzt über diesen Zahn gesagten, hier folgen lasse. Die erste Erscheinung betrifft die Spaltung der Wurzel dieses Zahnes, die sogar bis zur Ver- doppelung gehen kann. Ich erinnere daran, daß im Eingang dieser Arbeit schon darauf hingewiesen ist, daß die Spaltung und Verdoppelung der Eck Zahnwurzel nicht immer die gleiche Bedeutung hat. Es gibt zwei Modifikationen derselben. Die erste trifft man im Milchgebiß höherer Primaten oder beim permanenten Eckzahn gewisser Halb- affen an. Dabei ist die Zahnkrone meistens durch die lanzettförmige Gestalt gekennzeichnet, sie ist stark abgeplattet und es sind die Neben- spitzchen 1 und 2 anwesend. Es erinnert diese Form stark an jene der ursprünglichen trikonodonten Zähne. Das Deuteromer ist an der Zu- sammensetzung dieser Zähne nicht oder kaum sichtbar beteiligt. Die beiden Wurzeln nun sind in diesem Falle als eine vordere und hintere gelagert. Diese Wurzelverdoppelung reicht mithin auf jene sehr frühe Phase zurück, in der der trikonodonte Zahn zweiwurzelig geworden ist, und die Wurzeln müssen als A1 und A2 unterschieden werden. Nämliche Erscheinung habe ich auch bei den Incisivi des Milchgebisses von Schimpanse und Macacus angetroffen. Ganz anderer Natur ist die Zweiwurzeligkeit, welche man beim permanenten Eckzahn des Menschen antrifft, und dessen Vorkommen ich auch bei Semnopithecus und Macacus feststellen konnte. Die Ano- malie ist bekanntlich im Unterkiefer des Menschen gar nicht selten, im Oberkiefer muß ich sie als höchst selten verzeichnen. Daß es sich in diesem Falle um eine von der vorangehenden ganz verschiedene Anomalie handelt, geht schon daraus hervor, daß die Wurzelspaltung jetzt nicht in einer transversalen, sondern in einer sagittalen Ebene erfolgt ist, und die beiden Wurzeln daher eine äußere und innere sind. Ohne Ausnahme ist die bukkale Wurzel die kräftigere. Diese Zwei- wurzeligkeit ist jener homolog, welche man bei den vorderen Prä- molaren nicht selten antrifft, die äußere ist die zum Protomer gehörige Wurzel A, und die innere ist die eigene Wurzel vom Deuteromer, ist daher als B zu bezeichnen. Die beiden Arten von Zweiwurzeligkeit beim Eckzahn sind mit- hin besonders charakteristisch, denn sie lehren uns die beiden Arten der Wurzelvermehrung kennen, welche im Laufe der Phylogenese des Säugergebisses stattgefunden haben. Die erstbeschriebene reicht allerdings auf eine frühere Phase der Entwicklung zurück als die letzt- beschriebene. Daraus darf man jedoch nicht den Schluß ziehen, daß nun auch die erstere so viel seltener sein sollte als die zweitgenannte. Die Differenyierung der Oberkieferzähne. 39 Denn Bedingung zu ihrem Auftreten ist nur, daß die Form der Krone wieder jener in den mehr primitiven Gebissen ähnlich wird. Ein Atavis- mus im eigentlichen Sinne liegt somit in dieser Variation nicht vor. Die Variation zeugt vielmehr wieder dafür, daß Kronen- und Wurzel- teil des Zahnes in unmittelbarer Abhängigkeit voneinander stehen; nimmt die Krone eine bestimmte Form an, dann muß der Wurzelteil eine dieser Form entsprechende Gestalt annehmen. Die erstbeschrie- bene Zweiwurzeligkeit ist somit eine Folge von funktioneller Anpassung, die zweitbeschriebene ist die Manifestation des dinieren Charakters vom Eckzahn. Daß diese Variation am oberen Eckzahn so äußerst selten ist, darf als die Folge der Raumverhältnisse angesehen werden. Das sich früh entwickelnde Antrum Highmori ist der Entfaltung von zwei in bukko-lingualer Richtung gelagerten Wurzeln, in Verbindung mit der Stelle, wo der Zahn sich entwickelt, gewiß nicht günstig. Es gibt noch eine zweite Erscheinung, welche durch die Dimerie des Eckzahnes ihre, sonst sehr schmerige, Erklärung findet, nämlich die sogenannte Verdoppelung des Eckzahnes. Daß eine solche Anomalie im menschlichen Gebiß überhaupt vorkommen sollte, wird nicht von allen Autoren zugestanden. Sehr bestimmt äußert sich in dieser Hin- sicht z. B. de Terra1): „Überzählige Eckzähne kommen nach meiner Ansicht nicht vor." Nun möchte ich die Frage, was das menschliche Gebiß betrifft, vorläufig dahingestellt sein lassen; mit de Terra neige ich der Ansicht zu, daß in mehreren der beschriebenen Fälle die Mög- lichkeit einer Persistenz des Milchcaninus nicht von der Hand zu weisen ist. In seinem kritischen und kasuistischen Aufsatz über die über- zähligen Zähne führt Dependorf jedoch ein neues Beispiel von doppeltem Caninus an, und gibt eine dreizahl Möglichkeiten, wodurch diese Ano- malie erklärt werden konnte2). In seiner Generalisierung aber ist der Standpunkt von de Terra gewiß unhaltbar, denn der Fall, den Se- lenka bei Gorilla3) beschreibt und abbildet, beweist wohl aufs unzwei- deutigste, daß wenigstens bei diesem Anthropomorphen eine solche Verdoppelung im Oberkiefer tatsächlich vorkommen kann. Nun bietet das Auftreten von zwei Eckzähnen in ätiologischer Hinsicht große Schwierigkeiten, denn wie sollte eine solche Erscheinung erklärt werden, da es niemals Säugetiere mit doppeltem Eckzahn gegeben hat? Es wird dann auch gerade diese Erscheinung wohl als Beweis gegen die atavistische Natur überzähliger Zähne im Gebiß überhaupt angeführt (Dependorf). Es will mir nun scheinen, daß die Schwierigkeit durch die diniere Natur des Eckzahnes endgültig beseitigt wird. Ein doppelter Eckzahn sei nichts anderes, als ein in seine zwei Odontomeren zerlegter normaler Zahn. Durch irgendwelche Ursache haben sich in einem solchen Fall das Protomer und das Deuteromer zu zwei voneinander vollkommen unabhängigen Zähnen entwickelt. Der Fall Selenkas spricht durch die vorzügliche Ausführung der Abbildung ganz zugunsten der hier gegebenen Erklärung. Denn be- trachtet man den „normalen" Caninus genau, dann wird es sofort deutlich, daß es sich hier gar nicht um einen normal gestalteten Eck- zahn von Gorilla handelt, wie aus einer Vergleichung mit dem ander- 1) de Terra, Beiträge zur Odontographie der Menschenrassen, S. 217. 2) T. Dependorf, Zur Frage der überzähligen Zähne am menschlichen Ge- biß. Zeitschr. f. .Morph, u. Anthrop. 1906, Bd. X. 3) E. Selenka, Menschenaffen. II. Lief., S. 141. 40 Erstes Hauptstück. seitigen ersichtlich. Der ..bukkale" der zwei Eckzähne stellt einen einfachen Kegel dar. dem jedes Relief an der Lingualseite fehlt. Die zwei Rinnen an der Zungenfläche des Caninus bei manchen Primaten, welche ich als die Grenzlinien zwischen den beiden Odontomeren deute, und die bei dem anderseitigen Zahn deutlich entwickelt sind, sind am fraglichen Zahn gar nicht ausgebildet. Es macht ganz den Eindruck, als hätten sich die beiden Rinnen miteinander verbunden und den Zahn in eine größere bukkale und eine kleinere linguale Hälfte zerlegt. Und auch diese innere Hälfte hat sich zu einem vollständig glatten Kegel ausgebildet. In der ungleichen Größe beider kommt das normale Übergewicht vom Protomer bei der Entwicklung des Zahnes zum Aus- druck. Der Fall Selenkas ist somit durch die diniere Natur des Zahnes in ungezwungener Weise zu erklären. Es ist nicht eine Verdoppelung des Eckzahnes, sondern eine Zerlegung desselben in seine beiden Kompo- nente. Und jedes dieser Komponente besitzt den morphologischen Wert eines Einzelzahnes. Ich wünsche es dahingestellt sein zu lassen, ob auch andere Fälle von Zahnverdoppelung in der gegebenen Weise zu erklären sind. Jeder Fall muß für sich beurteilt werden. Daß z. B. das nicht seltene Auftreten von zwei ersten Prämolaren im Oberkiefer des Hundes in dieser Weise erklärt werden muß, bezweifle ich. Es kommt mir als wahrscheinlich vor, daß es sich hier gar nicht um zwei erste Prä- molaren handelt, sondern um den normalen ersten Prämolar des perma- nenten Gebisses und den ersten Milchmolar, der bekanntlich normaliter nicht zum Durchbruch gelangt, in den gegebenen Fällen jedoch erscheint. Daß weiter nicht immer Zahnverdoppelung auf eine Zerlegung des Zahnes in den beiden Odontomeren zurückzuführen ist, werden wir weiter bei der Besprechung der Incisivi erfahren. Wir werden da eine andere Ätiologie dieser Anomalie kennen lernen. Noch einmal möchte ich auf die Bedeutung des Selenkaschen Falles zurückkommen. Denn noch in einer anderen Richtung ist dieser wichtig. Es spricht nämlich für die Richtigkeit meiner Auffassung, daß die beiden Rinnen oder Furchen, die an der Innenseite des Eck- zahnes sich bis zur Spitze erstrecken, in der Tat die Grenzmarken zwischen den beiden Odontomeren sind, und daß somit das Deuteromer bei Gorilla und bei allen Formen, wo sie auftreten, an der Zusammen- setzung des Zahnes über seine ganze Länge beteiligt ist. Beim Menschen fehlen die Furchen. Dagegen findet sich hier als Manifestation vom Deuteromer nur das Tuberculum. Ich wiederhole den aus diesen Er- scheinungen folgenden Schluß, daß der Eckzahn des Menschen seiner Zusammensetzung nach nicht homolog ist mit jenem der meisten Primaten, besonders nicht der Anthropoiden. Die Besprechung des Eckzahnes der Primaten werde ich mit folgender Bemerkung schließen: Nicht selten trifft man in der Literatur die Behauptung, daß der Eckzahn der Säugetiere noch einem Kegelzahn der Reptilien homolog zu stellen sei. Diese Behauptung hat sich als unrichtig erwiesen. Abgesehen davon, daß nicht selten der Zahn seine dreispitzige Urform deutlich zur Schau trägt, ist er auch nicht weniger ein aus zwei Odontomeren aufgebauter ,, Doppelzahn" als die rückwärts von ihm im Gebiß folgenden. Jeder dieser beiden Odontomeren ist einem Reptilienzahn homolog zu stellen. Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 41 Wir gehen jetzt dazu über, die zweite abgeleitete Form der doppelt trikonodonten Grundform der Primatenzähne, welche in den Incisivi zur Verwirklichung kam, zu betrachten. Die Spezialisierung, welche die Incisiven aufweisen, ist jener des Caninus geradezu entgegengestellt. Bei diesen trägt die Spezialisierung den Charakter einer sich immer kräftiger äußernden Differenz in der Entwicklung einer der Höcker, von einem oder von beiden Odontomeren, und meistenfalls bis zum völligen Schwund gehender Reduktion der Nebenhöcker. Bei den Incisiven ist ein gerade entgegengesetzter Weg eingeschlagen worden, zwar nicht immer, sondern in den meisten Fällen. Vorangestellt sei, daß die Beteiligung vom Deuteromer an der Bildung dieser Zähne meistenfalls eine höchst unansehnliche ist, und nicht selten zu fehlen scheint. Als Hauptmerkmal der Incisivi darf nun gelten, daß die drei Höcker vom Protomer nahezu gleichen Anteil an der Bildung des Zahnes nehmen. Das ist aber nicht immer der Fall und nun tritt die merkwürdige und für die Deutung der Variationen in dieser Ab- teilung des Gebisses so überaus wichtige Erscheinung auf, daß, wenn bei den Primaten eine der Spitzen des Protomer den anderen gegenüber reduziert erscheint, es jetzt meistenfalls die mittlere Spitze ist, also der ursprüngliche Haupthöcker P, während die beiden Nebenspitzen den Zahn in solchen Fällen zum größten Teil, ja sogar ganz zusammen- stellen können. In welcher Beziehung diese Tatsache zu den Variationen im Bereich der Incisivi steht, werden wir im Anschluß an die Be- schreibung der normalen Erscheinungen noch kurz auseinandersetzen. Wenden wir uns erst dem normalen Zustand zu. Es ist die gleichmäßige Entwicklung der drei Spitzen bei den prä- caninen Zähnen unschwer als eine funktionelle Anpassung zu erklären, denn es würde hierduch der Zahn mehr meißeiförmig gestaltet und zum Zerschneiden besser geeignet. Auch bei Reptilien trifft man diese Gleichheit der Spitzen bei den Frontzähnen schon an, während bei den weiter nach hinten folgenden, der mittlere Haupthöcker seine Prädomi- nanz allmählich entfaltet. Zum Beispiel verweise ich nach meinem Vor- trag auf der Versammlung der Anatomischen Gesellschaft in München, wo in Fig. 7 die prämaxillaren Zähne von Tupinambus nigropunetatus abgebildet sind. Der Zahnrand gibt hier nur durch zwei Einkerbungen die Grenze zwischen den drei Urspitzen an. Es scheint die Behauptung etwas gewagt, die drei Zacken, welche man an den Frontzähnen der Reptilien gelegentlich antrifft, mit den Zacken am Rande der Schneide- zähne von Säugetieren zu homologisieren. Doch wenn man den drei- spitzigen Zahn als Grundform von den Odontomeren des Säugerzahnes annimmt, und dazu ins Auge faßt, daß die Säugetiere diese Grundform von den Reptilien ererbt haben, dann fällt das Gewagte in der Homo- logisierung weg. Es muß dazu noch auf einen anderen Punkt hingewiesen werden. Es ist bekannt, daß die Zähnelung am Rande der Schneide- zähne nicht immer in gleicher Deutlichkeit auftritt, ja als weitere funktionelle Anpassung nicht selten vollständig verloren geht. Es liegt doch auf der Hand, daß die Schneidezähne desto besser ihre spezielle Funktion erfüllen werden können, je schärfer die Schneide des Zahnes ist, und je mehr dieselbe eine gerade Linie darstellt. Der ursprüngliche anatomische Charakter ist dann auch meistenfalls nur spurweist1 an- gedeutet, und die Einkerbungen gehen bisweilen rasch verloren. Nun ist es in Verbindung damit nicht ohne Bedeutung, daß die Dreispitzig- 42 Erstes Hauptstück. keit der Incisivi gerade dann am schärfsten ausgeprägt erscheint, wenn von diesen Zähnen ein nur ganz untergeordneter oder gar kein Gebrauch gemacht wird. Ersteres ist besonders bei den Carnivoren der Fall, und abgesehen davon, daß die Incisivi bei mehreren Geschlechtern dieser Ordnung mehr oder weniger caniniform sein können, ist die drei- spitzige Grundform hier oftmals besonders scharf ausgeprägt. Ist der Zahn nicht caniniform gestaltet, dann trifft man hier in vergrößertem Maßstabe Zähne an, welche jenen, die ich in der genannten Figur von Tupinambus abgebildet habe, besonders ähnlich sind. Man be- trachte dazu z. B. einen eben durchbrochenen lateralen Milchincisivus von Felis leo. Auch wenn die Zähne gar nicht zur Verwendung kommen, also den Weg der Reduktion schon weit zurückgelegt haben, tritt das primi- tive Merkmal wieder deutlich zutage. So berichtet z. B. Schlosser über die Milchincisivi der Fledermäuse1): Der Zahnwechsel erfolgt stets vor der Geburt, die Milchzähne durchbohren niemals den Kiefer und bleiben ganz unentwickelt2). Sie erscheinen als einwurzelige Stifte mit dreizackiger Krone, gleich den späteren definitiven Incisiven. Daß die anatomischen Merkmale der Grundform bei den Incisiven so wenig deutlich sind, kann völlig durch die Anpassung an ihre Funktion erklärt werden. Diese bewirkte zunächst eine gleichwertige Beteiligung der Spitzen an der Ausbildung der Krone, und kann schließlich auch die ursprünglichen Abgrenzungsspuren zum völligen Schwund bringen. Letzteres ist jedoch beim Menschen und einigen anderen Primaten nicht der Fall. Was den Menschen betrifft, ist es allgemein bekannt, daß besonders die unteren Schneidezähne mit zwei Einkerbungen in der Schneide ausgestattet sind, die kürzere oder längere Zeit erhalten bleiben können. Sie manifestieren das Grundmerkmal der Ausgangs- form vom Säugerzahn. Die zwei seichten Längsfurchen, welche man an der labialen Fläche der oberen wie der unteren Schneidezähne antrifft, weisen in gleicher Richtung darauf hin. Für das Studium dieser Erschei- nungen eignen sich nur frisch durchgebrochene, oder noch besser aus den Alveolaren herauspräparierte, noch nicht durchgebrochene Zähne. Beim Menschen fehlt die typische Zähnelung an solchen Objekten niemals. Daß sie auch z. B. bei Hylobates nicht an solchen Zähnen fehlt, ist bereits von Kirchner betont worden3). Die Bemerkung dieses Autors, daß bei diesem Primaten die Incisivi beim Durchbruch immer mit drei kleinen Höckern versehen sind, kann ich bestätigen. Die Krenulierung des Zahnrandes wird nicht durch Schmelzverdickung hervorgerufen, die drei Höckerchen sind nicht einfache Bildungen des Emailüberzuges wie sich leicht durch einen frontalen Längsschnitt des Zahnes beweisen läßt. Denn auch der obere Rand des Zahnbeines ist dreihöckerig, wie aus Fig. 11, nach einem menschlichen unteren Incisivus angefertigt, 1) Über die Deutung des Milchgebisses der Säugetiere. Verhandl. d. Deutschen Odontol. Gesellsch. 1893, Bd. IV, S. 305. 2) Das ist jedoch nicht bei allen der Fall. Die Milchzähne brechen bei ge- wissen Geschlechtern wohl durch, bilden ein homodontes System, und das Junge hält sich mittels der hakenförmigen Zähnchen an den Zitzen der Mutter fest. Leche hat auf diese Funktion hingewiesen. Für Pteropus habe ich das bestätigen können. 3) G. Kirchner, Der Schädel des Hylobates concolor; sein Variationskreis und Zahnbau. Inaug.-Diss., Erlangen 1895. Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 43 Fig. 11. Frontaler Längsschnitt eines unteren Incisivus vom Menschen. Fig. 12. Inuus nemestrinu8. Unterer lateraler Incisivus. zu ersehen ist. Die Erscheinung muß somit in einer primären Bildungs- tendenz der Zahnpapille wurzeln. Auch bei den übrigen Primaten trifft man die Spuren der triko- nodontcn Natur des Protomeren nicht selten an, doch nicht bei allen Formen mit gleicher Schärfe, und überdies ist auch hier, wie beim Men- schen, individuelle Verschiedenheit stark ausgeprägt. Bei gewissen Affen ist die Gestalt des lateralen Schneidezahnes, besonders im Ober- kiefer, ziemlich stark von jenen des medialen abweichend, ist mehr lanzett- oder kegelförmig und bildet dann eine Übergangsstufe zwischen medialen Incisivus und Caninus. Man vergleiche dazu z. B. die Fig. 13. Es nehmen nun bei den Affen offen- bar die drei Spitzen vom Protomer nicht immer gleichen Anteil an der Bildung des Zahnes. Ich werde davon an dieser Stelle zwei Beispiele anführen. Die Fig. 12 bringt die Umrißzeichnung eines eben durch- gebrochenen linken unteren lateralen Incisivus eines weiblichen Inuus nemestrinus, von der lingualen Fläche gesehen. Es ist ohne weiteres klar, daß die laterale Nebenspitze (2) an der Bildung der Krone weit weni- ger teilnimmt, als die mittlere (P) und die mediale (1). Nur die beiden letztgenannten bilden die eigentlich schneidende Kante, welche mit jener des medialen Incisivus nahezu in einer Flucht liegt. Die angeführte Form tritt bei den Cynopitheken nicht selten auf. Ein zweites Beispiel anderer Art bringt die Fig. 13. lingualen Fläche gesehen sind darin die beiden Incisivi des Ober- kiefers und d(^ Unterkiefers von Se mnopithecus maurus abgebildet. Es sei auf die große Differenz zwischen medialen und lateralen Schneidezähnen beiläufig hin- gewiesen. Nur erstere sind meißei- förmig und ihre Schneide ist zier- lich mit drei Zacken ausgestattet. Bei den oberen sowohl als bei den unteren Zähnen ist die mittlere Zacke, die dem Haupt- höcker P vom trikonodonten Zahn entspricht, am schwächsten entwickelt, und die schneidende Kante wird wesentlich nur von den Nebenspitzen 1 und 2 gebildet. Es ist hier die Entwicklung also gerade an jenen der weiter nach hinten folgenden Zähne, bei den P die Hauptmasse der Krone formt, entgegengesetzt. Auch bei Cebus konstatiert man öfters eine gleiche Reduktion des Höckers P, worauf ich unten noch kurz zurückkomme. Es kann offenbar diese Reduktion des mittleren Kom- Von der J.,5. J.1S. Fig. 13. Semnopithecus maurus. 44 Erstes Hauptstück. ponenten vom Incisivus noch weiter gehen und zum völligen Schwund desselben führen, so daß die Krone nur aus den beiden Spitzen i und 2 aufgebaut ist. Auch diesen Zustand habe ich bei Cebus beobachtet, und als weiteres Heispiel gebe ich in Fig. 14 die Skizze eines medialen oberen Incisivus von Ateles ater. Es findet sich hier nur eine einzige Einkerbung in der Schneide und nur eine einzige Rinne an der lingualen und bukkalen Fläche des Zahnes. Die angeführten Beispiele genügen, um die große Bedeutung der Zähnelung der Incisivischneide ins rechte Licht zu stellen. Denn sie beweisen, daß unter Umständen die ursprünglichen Nebenspitzen an der Bildung eines Zahnes gleichen Anteil nehmen können, wie die Hauptspitze, ja daß letztere sogar gänzlich schwinden und der Zahn nur aus den beiden Nebenspitzen aufgebaut sein kann. Wir werden bald die Beziehung dieser Erscheinung zum Auftreten gewisser Varia- tionen in der Incisivenreihe der Primaten darlegen, und wenden uns zunächst zu einer Betrachtung über den Anteil, den das Deuteromer an der Bildung des Incisivi nimmt. Dieses Odontomer manifestiert sich bei den Schneidezähnen der Primaten in verschiedenem Grade der Entwicklung und auch indi- viduell sehr wechselnd. Wohl immer bleibt aber dessen Entwicklung bei jenen des Protomer zurück, und gerade dadurch kommt die meißel- oder schaufei- förmige Gestalt der Zähne zustande. Nicht selten fehlt, besonders bei den unteren Incisivi, jede Spur dieses Odontomer, und scheint der Zahn nur aus dem protomeren Element zu bestehen. Bei den oberen Incisivi tritt es im Vergleich zu den unteren kräftiger auf, als das in der Literatur sogenannte Tuberculum dentis, wofür de Terra1) die Bezeichnung „Incisiven- Fig. 14. Ateles höcker" an deren Stelle gesetzt haben will, während ater. Medialer er für die homologen Bildungen des Eckzahnes die oberer Incisivus. Bezeichnung „Basalhöcker" reservieren will. Diesem Vorschlag von de Terra muß ich entgegentreten. Es liegt kein einziger triftiger Grund vor, um homologe Bildungen an den verschiedenen Zähnen mit mehreren Namen zu belegen, das bringt nur Verwirrung und gibt der Auffassung Raum, es seien die bezüglichen Bildungen nicht einander homolog. Es erscheint mir empfehlenswert, in der deskriptiven Anatomie den alther- gebrachten Namen Tuberculum dentis zu behalten. Allerdings scheint de Terra der Meinung zu sein, daß ,, Basalhöcker" und ,,In- cisivenhöcker" nicht einander homologe Bildungen an der lingualen Fläche von Eckzähnen und Schneidezähnen sind. Denn von dem Incisivenhöcker führt er aus, ihre Bedeutung sei uns unbekannt und die „Basalhöcker" kennzeichnet er als „pithekoide" Merkmale unseres Gebisses. Nun werden wir durch letztere Bezeichnung über die Natur jenes Höckers am Eckzahn des Menschen doch nicht unterrichtet. Es will offenbar der Autor dadurch seiner Meinung Ausdruck geben, daß der Eckzahnhöcker durch den Menschen von einem mehr affen- ähnlich gestalteten Vorfahr ererbt worden ist. Aber warum solches dann auch nicht mit den „Incisivenhöckern" der Fall gewesen 1) de Terra, Beiträge zur Odontographie der Menschenrassen. Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 45 sein sollte bleibt unerklärt und ist sogar befremdend, da bei ge- wissen Affen das Tuberculum dentis gerade auf den Incisivi un- gleich viel stärker entwickelt sein kanji, als auf den Caninus des näm- lichen Tieres. Besonders ist das mit dem lateralen Incisivus der Fall, der _ z. B. bei den platyrrhinen Affen - - in solchen Fällen mehr prämolarenförmig als incisivenförmig gestaltet ist. Auch im allgemeinen hat die Bezeichnung „pithekoid" keinen Sinn, denn es kommen diese lingualen Höcker an den Frontzähnen von Vertretern der verschie- densten Ordnungen der Säugetiere vor. Sie sind Äußerungen der dimeren Grundform des Säugerzahnes und haben daher gar keine systematisch spezifische Bedeutung. Wie oben betont wurde, ist das Tuberculum dentis, oder das Deuteromer an den oberen Incisivi der Affen — wie des Menschen — meistenteils kräftiger entwickelt als an den unteren. Diese Erscheinung ist wieder ein neuer Beweis, wie im Zahnkeim unter dem Einfluß der Funktion die in ihm schlummernden Bildungstendenzen aktiviert werden können. Denn das Tuberculum findet sich besonders bei jenen Affen stark entwickelt, bei denen ein sogenannter Überbiß stattfindet, d. h. wo die unteren Incisivi mit ihrem oberen Rande innerhalb der oberen Incisivi bei geschlossenem Gebiß zu liegen kommen. Dann wird die linguale Fläche der oberen Schneidezähne zu einer Reibe- fläche für die unteren und sie nimmt durch die stärkere Entwicklung vom Deuteromer eine bisweilen stark ausgehöhlte Oberfläche an, worin der Kronenrand des unteren Incisivus hin- und hergleiten kann. Die verschiedene Stellung der oberen und unteren Incisivi zueinander steht dann auch in direktem Konnex mit dem Entwicklungsgrad vom Deuteromer. Es ist hier nicht die Stelle auf Einzelheiten einzugehen, doch möchte ich einige Allgemeinheiten schildern, da dieselben Licht werfen auf die gelegentlich vorkommenden ekzessiven Entwick- lungen des Deuteromer an menschlichen Schneidezähnen. Am stärksten entwickelt erscheint dieses Odontomer bei den lateralen oberen Incisivi gewisser platyrrhinen Affen. Wenn man z. B. diesen Zahn, wenn eben durchgebrochen, bei einem Cebus und besonders Ateles betrachtet, dann erweist sich die Bezeichnung dieses Zahnes als monokuspidat gar nicht zutreffend. Die Krone ist so stark bikuspidat, daß man den Zahn, wenn isoliert vorhanden, gewiß nicht als einen Incisivus, sondern als einen Prämolar deuten würde. Bei den unteren Incisivi fehlt da- gegen das Deuteromer nicht selten vollständig. Und gleiches gilt natür- lich für die stiftförmigen oberen Incisivi der kleineren Prosimiae. Was die größeren Formen dieser Ordnung betrifft, scheint es mir nicht ganz ausgeschlossen zu sein, daß die erhabene Leiste an der Zungen- fläche der pfriemenförmigen unteren Incisivi, welche sich bis zur Spitze des Zahnes erstreckt, auf das Deuteromer zurückgeführt weiden muß. An den oberen Schneidezähnen dieser Formen finden sich wechselnde Verhältnisse. Bei den wahren Affen begegnet uns eine deutliche Manifestation des Deuteromer an den unteren Incisiven nur selten. Als Beispiel verweise ich nach Fig. 13, woraus zu ersehen, daß bei Semnopithecus maurus dieses Odontomer als ein deutlich hervorragendes Höckerchen am lateralen Incisivus zu sehen ist. Bei den oberen Schneidezähnen der wahren Affen kommt es in sehr verschiedener Gestalt zur Ent- 46 Erstes Hauptstück. wicklung. Ich werde mich hier, um kurz zu fassen, auf das Vorkommen desselben beim Menschen beschränken. Wenn es hier am medialen Schneidezahn seine kräftigste Ent- wicklung erlangt, erscheint es in der Form dreier fast gleich großer Höckerchen, welche sich auf die linguale Fläche vom Protomer, und mit demselben verwachsen, erheben. In den Trennungsfurchen dieser Höckerchen fangen die beiden seichten Rinnen an, welche über das Protomer sich bis zur Schneide' des Zahnes erstrecken, und hier in den Einkerbungen zwischen den drei Schneidezacken enden. In solchen wohlausgebildeten - - immerhin ziemlich seltenen Fällen — tritt die Sechshöckerigkeit der Grundform des dinieren Zahnes in schöner Weise zutage. Vgl. die Fig. lö. Meistenteils jedoch sind nur zwei der deuteromeren Höckerchen entwickelt, es fehlt dann, wie ich in Über- einstimmung mit den Befunden am Protomer behaupten möchte, das mittlere. Am lateralen Incisivus fehlt im allgemeinen die sichtbare Beteili- gung des Deuteromer an der Bildung des Zahnes weit häufiger als am medialen. Und wenn es sich kräftiger manifestiert, dann tritt es meisten- teils nur in der Form eines einzigen Höckerchens kegelförmiger Gestalt auf, das von der Mitte des Basalbandes ausgeht. Dasselbe zeigt mehr als beim medialen Incisivus die Tendenz, eine freie Spitze zu bilden, gleichsam ein Versuch, sich mehr prämolarenähnlich zu gestalten, wie es bei ge- wissen amerikanischen Affen normaliter der Fall ist. , Es ist in obenstehendem in ganz allgemeinen Zügen nur etwas über die morphologische Natur der menschlichen Incisivi mitgeteilt worden. In der folgenden Studie, welche die Variationen und Anomalien des Primatengebisses zum Gegenstand haben wird, werde ich ausführ- lich auch auf diesen Punkt eingehen. Doch möchte ich schon an dieser Stelle kurz auf ein paar Erscheinungen eingehen, welche das oben Gesagte näher begründen. Bekanntlich kann beim Menschen das Deuteromer — besonders des lateralen Incisivus — sich bisweilen außerordentlich entwickeln. Es gibt dabei zwei Modifikationen: entweder bleibt das stark entwickelte Denteromer (Tuberculum dentis) mit der lingualen Fläche vom Proto- mer verbunden, oder es ragt als freier selbständiger Höcker hervor. Im ersteren Falle (Fig. 16 b) erlangt die Schneide des Zahnes eine eigen- tümliche T-förmige Gestalt, und an der Wurzel des Zahnes ist von einer Furchung wenig oder nichts zu sehen. Im zweiten Falle wird die Krone mehr jener eines Prämolaren ähnlich, der „Innenhöcker" bildet einen freien Kegel, und die verstärkte Entwicklung des Denteromer äußert sich überdies durch eine Neigung zur Zweiwurzeligkeit des Zahnes (Fig. 16a). Einen solchen Fall hat Schwalbe1) sehr eingehend be- schrieben und deutet denselben als eine Verwachsung von zwei Zähnen Fig. 15. Fig. 16. 1) Morph. Arb. 1894, Bd. III. Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 47 verschiedener Dentition. Es handelt sich hier jedoch um einen voll- kommen ähnlichen Fall wie bei der Zweiwurzeligkeit des unteren Eck- zahnes, denn auch hier sind die beiden Wurzeln als eine äußere und innere gelagert, der topographischen Beziehung beider Odontomeren gemäß. Ich bin der Überzeugung, daß es gelegentlich auch hier zu einer voll- ständigen Trennung beider Komponenten des Zahnes kommen kann, wodurch eine scheinbare Vermehrung der Incisiven zustande kommt. Auf diese Erscheinung muß ich vorausgreifend auf Erörterungen in der nächstfolgenden Studie etwas näher eingehen. Es ist die Frage nach der Bedeutung überzähliger Zähne in der Literatur besonders häufig diskutiert worden. Und in Übereinstimmung mit den allgemeinen theoretischen Ansichten der Autoren wird die Frage auch wohl unter dem Einfluß der Fälle, welche der Autor gerade zur Beobachtung und Vergleichung bekam, in dieser oder jener Richtung beantwortet. Übereinstimmung scheint auf diesem Gebiete fast un- erreichbar zu sein. Vom reinsten Agnostizismus bis zur Alleinherrschaft der atavistischen Erklärungsformel finden sich alle denkbaren Ab- stufungen. Nun scheinen mir diese extremen Standpunkte beide verfehlt. Gewiß sind nicht alle überzähligen Zähne als Rückschlagserscheinungen zu deuten, und der Standpunkt, daß es sich bei der Zahnvermehrung um ganz regellose Erscheinungen handelt, scheint mir ebenso ver- werflich. Es muß gerade Aufgabe sein, zu unterscheiden, in welchen Fällen es sich um ein Wiedererscheinen eines verloren gegangenen Elements des Gebisses handelt, und in welchen Fällen die Erklärung in anderer Weise gesucht werden muß. Auch der Standpunkt von Bateson1) scheint mir, durch die gänzliche Beseitigung des Einflusses der Erblichkeitsfaktoren, unhaltbar zu sein. Wenn jedoch nicht alle Fälle in atavistischem Sinne zu deuten sind, wie muß man dann jene Zahnvermehrungen deuten, welche nicht unter diesen ätiologischen Gesichtspunkt fallen ? Es ist bei der Besprechung des Caninus und der Incisivi schon eine Ursache ans Licht getreten; es kann namentlich zu einer selb- ständigen Entwicklung beider Odontomeren kommen. Ich werde jetzt jedoch noch kurz eine andere Entstehungsweise anführen, welche ich jedoch vorläufig nur für die Schneidezähne gelten lassen möchte. Wenn es bei einem der Incisivi zu einer individuellen Entwicklung beider Odontomeren kommt, dann liegen die beiden Schwesterzähne als eine äußere und innere zueinander. In der seltsam reichhaltigen Kollektion von Zahn- und Gebißvarietäten, welche sich im hiesigen Institut finden, sind mehrere solcher Fälle vertreten. Häufiger findet man bekanntlich den Fall, daß ein überzähliger Incisivus regelmäßig in der Reihe Stellung genommen hat. Die Ansichten über die Ätiologie dieser Anomalie laufen auseinander. Durch eine Zerlegung eines der Schneidezähne in seine beiden Odontomeren kann eine solche Über- zahl nicht entstanden sein, denn in solchen Fällen liegen beide Zähne hintereinander. Rosenberg2) deutet sie in seiner eingehenden Unter- suchung über diese Anomalie in atavistischem Sinne, und beruft sich dabei auf die bekannte Tatsache, daß Didelphis noch im Besitz von 1) W. Bateson, On numerical Variation in teeth. Proc. Zool. Soc. London 1892. 2) E. Rosenberg, Über Umformungen an den Incisiven der zweiten Zahn- generation des Menschen. Morph. Jahrb., Bd. XXII. 48 Erstes Hauptstück. fünf Schneidezähnen ist. Doch waren die Urprimaten, wie wohl end- gültig festgestellt ist, im Besitze von nur drei Incisiven. Auch aus anderen Gründen, auf welche ich hier nicht näher eingehen kann, kann ich mich der Erklärung von Rosenberg nicht anschließen. Die Erklärung liegt, wie ich meine, in ganz anderer Richtung. Wenn man die Beteiligung der drei Höcker an der Bildung der Incisivi vergleichend-individuell untersucht, dann konstatiert man, daß beim Menschen und einigen anderen Primatengeschlechtern der mittlere Höcker (P) in seiner Entwicklung sehr schwankend ist. Es ist früher schon betont, daß er bei gewissen Affen konstant fehlen kann, so daß der Schneidezahn nur durch die beiden Höcker i und 2 gebildet ist. Denken wir uns nun den Fall, daß die Regression des mittleren Höckers P so weit geht, daß er in seiner Entwicklung ganz unterdrückt wird, dann müssen die beiden Seitenhöcker 1 und 2 mit ihren einander zugekehrten Rändern zur sekundären Verlötung kommen, um eine regelmäßig ge- bildete Krone zu bilden. Nun ist es aber denkbar, daß diese beiden Höcker durch das Ausbleiben der Entwicklung eines schmalen, sie trennenden Teiles der Zahnanlage (jener Teil, woraus der mittlere Höcker hervorgehen sollte), eine gewisse Selbständigkeit erlangen, und dann entsteht ein Incisivus, dessen Krone in der Mitte eingeschnitten erscheint; jede Zacke entspricht einem der beiden Urhöcker 1 und 2, und die Spalte manifestiert die Regression des mittleren Haupthöckers P. Ein solcher Zahn ist in Fig. 17 abgebildet. Sie werden in der Literatur gewöhnlich als Verwachsung von Zähnen angeführt, ein Begriff, dem ich an diesem Teil des Gebisses wenig zustimmen kann. Von solch einem partiell gespaltenen Zahn läßt sich nun leicht die vollständige Spaltung ableiten. Denn wenn die mittlere Partie der Zahnpapille sich gar nicht entwickelt, kommt es hier auch nicht zur Ablagerung von Zahnbein, und die Dentinablagerung wird auf dem medialen Höcker 1 und dem lateralen 2 gesondert vor sich gehen. Wenn die Zahnbeinschärfchen, einander entgegenwuchernd, sich erreichen und verschmelzen, wird noch eine einheitliche, mehr oder weniger eingeschnittene Krone entstehen. Bleibt jedoch diese Verwachsung aus, dann entwickelt jeder Höcker sich als ein selbständiger Zahn und die Zahl der Inci- siven hat sich vermehrt, In dieser Weise läßt sich diese Art von Überzahl der Incisivi in ungeschwungener Weise erklären. Und ich möchte besonders betonen, daß wir in der vergleichenden Anatomie und in der individuellen Variation des Schneidezahnes einen deut- lichen Hinweis in dieser Richtung haben. Denn der mittlere Höcker dieses Zahnes läßt sich leicht auf seinem Wege zur Reduktion ver- folgen. Aus der gegebenen Erklärung folgt sofort, daß in den gegebenen Fällen von einer Verdoppelung eines Incisivus in dem wahren Sinne keine Rede ist. Doch auch eine echte Spaltung liegt nicht vor, denn jeder der Teilungsprodukte entspricht nur einer der drei Urspitzen des Säugerzahnes. In Wirklichkeit beruht in diesen Fällen die Ver- mehrung der Zahnzahl auf einem Reduktionsprozeß. Diese Ver- mehrung der Zahnzahl zeigt Übereinstimmung mit jener, welche durch Kükenthal bei Embryonen vom Barten wale nachgewiesen Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 49 ist1), bei welchen während der Entwicklung aus zusammengesetzten Zähnen durch Auflösung einfache Kegelzähne entstehen. Ich möchte diese Variationen als „schizogene Variationen" bezeichnen. Durch die hier gegebene Erklärung des Entstehens überzähliger Incisiven wird es verständlich, warum bei solchen Zähnen die Kronen nicht immer normal geformt sind und zugespitzt enden. Aus der Literatur führe ich folgen- den Fall an, von Dependorf mit- geteilt: An Stelle des lateralen In- cisivus ein Zwil- lingszahn , ver- schmolzen aus dem zweiten Schneidezahn und einem überzähli- gen Zahn. Beide Zahnkronen zei- gen merkwürdiger- Fig. 18. weise keine ein- fache Schneide, sondern ausgeprägte Ecken, so daß sie schmalen Eck- zahnkronen ähnlich sehen"2). Die Vermehrung der Incisivi kommt entweder bilateral oder einseitig vor. Bei einseitigem Vorkommen trifft man jedoch nicht selten am anderweitigen Zahn den beschriebenen Vorgang in ver- schiedenem Grade von unvollständiger Entwicklung an. Ein schönes Beispiel davon lieferte mir u. a. der Schädel eines Gorilla- männchens, wovon die Incisivi und Canini, von der palatinalen Fläche gesehen, in Fig. 18 zur Abbildung gebracht sind. Es betrifft — wie in der Mehrzahl der Fälle — die late- ralen Incisivi. An der linken Seite ist die Krone dieses Zahnes über- mäßig breit und zeigt auf labialer und bukkaler Fläche eine Furche, die nach dem Rande zu tiefer ein- schneiden, und auf dem Rande eine scharfe Einkerbung verursachen, welche infolge der Abnützung des Zahnes schon zum Teil ausgeglichen ist. An der rechten Seite finden sich zwei vollständig getrennte ,, laterale" Incisivi. An der linken Seite sind daher die Dentinschärfchen, welche auf die Papillen der Spitzen i und 2 zur Ablagerung kamen, schließlich noch miteinander verwachsen, während rechts diese Vereinigung unterblieben ist. Zum Schlüsse gebe ich in Fig. 19 noch ein lehrreiches Beispiel zum Beweise der Reduktion des mittleren Höckers bei den Schneide- 1) W. Küken thal, Vergleichend anatomische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen an Waltieren. Denkschr. d. med.-naturw. Ges. zu Jena 1893, Bd. III. 2) T. Dependorf, Zur Frage der überzähligen Zähne im menschlichen Gebiß. Zeitschr. f. Morph, u. Anthrop., Bd. X, S. 177. Bolk, Die Morphogenie der Primatenzähne. 4 50 Erstes Hauptstück. zahnen gewisser Affengeschlechter. Es sind drei mediale Incisivi des Oberkiefers von Cebus capucinus abgebildet worden. In a ist der Zustand, den man am häufigsten findet, wiedergegeben, die mittlere Zacke ist noch anwesend, jedoch äußerts gering entwickelt, in b ist die Krone nur aus den beiden seitlichen Spitzen zusammengesetzt, die Schneide besitzt nur eine einzige, nahezu in der Mitte gelagerte Kerbe. Tn c ist diese Kerbe tiefer eingedrungen, und von ihr geht eine Furche aus, welche auf die labiale Fläche fast über die ganze Länge der Krone zieht, auf die linguale bis zum stark entwickelten Tuberculum dentis geht. Letzterer Fall ist als die erste Phase der Teilung zu betrachten. Ich gebe diesen Fall auch deshalb, weil er für mich der erste Anlaß war, um über die Ätiologie der Überzahl der Incisivi die Auffassung zu bilden, welche ich oben auseinandergesetzt habe und in der dritten Studie durch weitere Beweisstücke fester begründet werden soll. Die hier beschriebene Erscheinung ist übrigens schon von Regnault1) beobachtet worden. Er beschreibt einen oberen medialen Incisivus vom Gorilla, und einen von Mycetes, bei dem die Krone von der Mitte ab in zwei Teile geteilt ist. Wir haben jetzt die morphologische Bedeutung des Caninus und der Incisivi, in Verband mit den Prinzipien der Dimertheorie kennen gelernt. Es dürfte aus dem Vorangehenden genügend hervorgegangen sein, daß diese Zähne den Prämolaren nicht als primitive, sondern als mehr spezialisiert gegenüberstehen. Wenden wir uns jetzt noch einmal diesen Zähnen zu. Drei typische Entwicklungsstufen haben wir von diesen Zahnformen früher kennen gelernt. Zuerst eine bei dem nur das Protomer sich an der Bildung des Zahnes zu beteiligen scheint und die stark komprimierte Zahnkrone, wesentlich nur vom mittleren Haupthöcker P, bei geringer Teilnahme von den Nebenspitzen i und 2 gebildet war. Als zweite Form würde jene angeführt, an der auch das Deuteromer gut entwickelt war, sei es auch nur durch seinen Haupt- höcker D. Als dritte Form schließlich kam jene ziemlich seltene in Be- tracht, bei der die drei Spitzchen des Deuteromer zur Entwicklung gekommen waren, der mittlere Höcker D von den Nebenspitzchen 3 und 4 begleitet war. Dann ist der Zahn sechshöckerig geworden, mit seinen beiden Haupthöckern und den vier Nebenspitzen ausgestattet. Es ist nun selbstverständlich, daß sich zwischen dem zweiten und dritten Typus Übergangsstufen finden, und wir werden uns jetzt zu- nächst mit solchen beschäftigen müssen, denn die leicht verständliche Natur dieser Zwischenphasen erleichtert die Deutung auch jener Formen, welche als die höchst entwickelten in der Primatenreihe zu betrachten sind und welche ich im nächsten Abschnitt als Doppelhöckertypus beschreiben werde. Wie früher ausdrücklich betont, ist der rein sechshöckerige Zahn — (vgl. Fig. 5) — ■ bei den jetzt lebenden Primaten äußerst selten, denn ist das Deuteromer so weit entwickelt, daß auch dieser Teil des Zahnes dreispitzig geworden ist, dann sind im Protomer Differenzierungen aufgetreten, die mit Verlust der primitiven dreispitzigen Gestalt ver- knüpft sind. Am meisten noch trifft man in der Prämolarenreihe 1) T. Regnault, Des Malformations dentaires chez le singe. Comptes rendus Soc. de Biol., Paris 1893, S. 931. Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 51 der heutigen Primaten solche Formen, bei denen die Differenzierung des Denteromer unvollständig ist. Es besteht jedoch in dieser Hinsicht ein Unterschied zwischen den Prosimiae und den Simiae. Denn im allgemeinen ist bei den ersteren in der Prämolarenreihe eine graduelle Entwicklung vom mehr einfachen zum mehr zusammengesetzten Kronenrelief zu verzeichnen, es ist dasselbe vollkommener entwickelt, je mehr der Zahn eine rück- wärtige Stelle in der Reihe einnimmt. Jeder Zahn bildet hier mehr eine Zwischenstufe zwischen den ihm vorangehenden und den ihm folgenden Element der Gebißreihe. Der letzte Prämolar kann dabei bei gewissen Geschlechtern (Galago, Hapalemur) vollständig wie ein Molar gebaut sein. Diese Verhältnisse, welche als primitive angesehen werden müssen, sind für das Studium der Zahnentwicklung äußersl wichtig, denn eine vollständige Prämolarenreihe demonstriert da- durch, in welcher Weise das Relief der Krone von der „caniniformen" bis zur „molariformen" Gestalt allmählich entsteht. Die Homologi- sierung der Höcker wird dadurch wesentlich erleichtert. Etwas Über- einstimmendes ist auch noch bei den Milchmolaren der wahren Affen zu sehen, sei es auch schon in viel geringerem Grade, aber was ihre Prämolaren betrifft, ist bekanntlich eine scharfe Formdifferenz zu- stande gekommen gegenüber den Molaren. Die Prämolaren der wahren Affen sind nicht nur einander viel ähnlicher gestaltet, sondern sie zeigen im allgemeinen auch mehr vereinfachte Formen als jene der Halb- affen, besonders der kleineren Vertreter dieser Ordnung. Doch muß sofort hinzugefügt werden, daß auch bei den Prosimiae weit auseinander gehende Zustände vorliegen, diese Ordnung ist, was die Differenzierungs- zustände des Gebisses betrifft, viel interessanter und lehrreicher, weil formenreicher, als die Ordnung der wahren Affen. Der Unterschied z. B. zwischen dem Gebiß von Indris oder Avahis und jener von Galago ist viel größer als jener, welcher zwischen zwei ausgewählten Ver- tretern der Affenordnung aufzufinden ist. Die scharfe Abgrenzung zwischen Prämolaren und Molaren in bezug auf die Form ist eine im Laufe der Entwicklung zustande ge- kommene und daher sind die Prämolaren der wahren Affen nicht als primitive Formen zu betrachten, sei es auch, daß ihr Kronenrelief ein ziemlich einfaches ist. Sie stellen vielmehr reduzierte Formen dar. Höcker und Spitze, welche bei den Vorfahren der Affen diese Zähne besessen haben, sind verloren gegangen, treten jedoch als individuelle Variation noch bisweilen auf. Bei dieser Reduktion sind es wieder die ursprünglichen Nebenspitzen, welche zuerst verschwinden, dem all- gemeinen Prinzip gemäß, daß die Haupthöcker einen festeren Bestand des Zahnes bilden. Geht auch einer dieser schließlich verloren, dann ist es wieder jener des Deuteromer. Ich beschränke mich hier zu diesen allgemeinen Bemerkungen, welche in der dritten dieser Studien bei der Besprechung der Form- abweichungen weiter ausgearbeitet werden sollen. C. Die Doppelhöckerphase. Nachdem wir die Evolution des Zahnes verfolgt haben bis zum Auftreten einer sechshöckerigen Form, welche gleichsam ein zweifach trikonodonter Zahn darstellt, mit zwei Haupthöckern und vier Neben- 4* 52 Erstes Hauptstück. spitzen, sind wir an dem schwierigsten Punkt angelangt, den es, meiner Meinung nach, in der Phylogenese des Zahnreliefs gibt, nämlich die Entstehung der höher differenzierten Zähne aus den vorher beschriebenen Formen. Ich könnte hier, der Kürze wegen, statt höher differenzierten Formen von Molaren sprechen, da man bei den hintersten Zähnen des Gebisses diese höheren Formen meistenteils antrifft, Es würde jedoch eine solche Bezeichnung den Tatsachen nicht ganz genau ent- sprechen, denn die Formen, die wir jetzt behandeln wollen, trifft man ge- legentlich, sei es auch selten, ebenfalls schon in der Prämolarenreihe an. Und noch in anderer Hinsicht würde eine solche bequemer scheinende Bezeichnung bedenklich sein. Denn es sollte damit gerade der Grund- gedanke meiner Theorie, daß alle Zähne von einer einzigen Grundform abzuleiten sind und daß es nur einen einzigen Entwicklungsgang gegeben hat für alle Zähne des Gebisses, wie verschieden ihre definitive Gestalt auch sein darf, in Gefahr gebracht. Es gibt keinen Gegensatz zwischen Molaren und Antemolaren, weder der Anlage, noch der phylogenetischen Entwicklung nach. Es ist nicht ganz leicht, ja man darf sagen, es bietet geradezu Mühe, sich dieser Auffassung, welche der geläufigen so entgegengesetzt ist, als richtig anzuerkennen. Denn es hat die Anschauung, daß ein prinzipieller Gegensatz zwischen Molaren und Antemolaren besteht, gewiß vieles für sich. Die Tatsache z. B., daß im Gebiß beim Übergang der einen in die andere Abteilung die Gestalt der Zähne plötzlich eine andere, weit mehr komplizierte wird, scheint für diese Anschauung zu sprechen. Die Charakterisierung eines Zahnes als molariform ruft sofort eine gewisse Formvorstellung wach. Es ist jedoch am Schlüsse des vorangehenden Abschnittes darauf hingewiesen, daß diese Form- differenz zwischen Molaren und Antemolaren erst im Laufe der Ent- wicklung durch Differenzierung des Gebisses als Ganzes zustande kam; bei älteren und ausgestorbenen Geschlechtern geht die Komplizierung des Kronenreliefs so regelmäßig von vorn nach hinten vor sich, daß man bisweilen im Zweifel darüber sein konnte, welcher Zahn der erste Molar sei, wenn nicht die zweite Erscheinung, welche die Trennung in Molaren und Antemolaren zu berechtigen scheint, Auskunft gäbe, nämlich der Zahnwechsel. Dieser Prozeß, der zweifelsohne den vorderen Abschnitt des Gebisses in einen Gegensatz zum hinteren stellt, trägt gewiß viele Schuld daran, daß man nun auch einen Unterschied in der Herkunft von Molaren und Antemolaren annahm. Am Schlüsse meiner ersten Studie habe ich darauf hingewiesen, daß in jener Publikation über das Ausbleiben eines Zahnwechsels im hinteren Teil des Gebisses und über die eventuelle Bedeutung dieser Erscheinung geschwiegen worden ist. Die Erklärung der Zusammensetzung des Gebisses aus Molaren und Antemolaren - - zwischen welchen Zähnen ich also nur eine einzige Differenz anerkenne, nämlich jene durch den Zahnwechsel dargestellt -- erscheint mir eine der schwierigsten der vergleichenden Anatomie überhaupt, und zweifelsohne die schwierigste der vergleichen- den Anatomie des Gebisses insbesondere. Soweit ich jetzt das Gebiet dieser Frage überschauen kann, mangelt es uns zurzeit noch an den notwendigen paläontologischen Urkunden, besonders der Marsupialier, um eine zusammenhängende Vorstellung über den Verlauf der Ent- stehung dieses Prozesses zu bilden. Die ontogenetischen Untersuchungen von der Gebißanlage der Reptilien weist auf eine bestimmte Richtung Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 53 hin, wo die Lösung des Problems gesucht werden muß. Und dieser Hinweis stellt, wie mir klar geworden ist, uns vor die Aufgabe der Beantwortung einer präalabelen Frage, nämlich jene der Deutung des Marsupialiergebisses. Wenn man die richtige Antwort gefunden hat auf die Frage, warum bei den Beutlern ein Zahnwechsel unterbleibt, oder nur in den bekannten, äußerst beschränkten Maße vorkommt, dann ist gleichzeitig das Problem vom Vorkommen der Molaren im Gebiß der Placentalier gelöst. Ich bin wohl schon eine Strecke auf dem Wege der Erklärung dieser Frage vorgedrungen, aber der dunklen Punkte gibt es noch mehrere. So viel ist mir jedoch wohl deutlich ge- worden, daß man über die Natur des Beutlergebisses eine etwas andere Vorstellung sich bilden muß als die geläufige, die Frage der Homologie dieses Gebisses ist nicht ein reines Dilemma zwischen Milchgebiß oder permanentem Gebiß der Placentalier. Ich hoffe, nach weiteren Unter- suchungen eine dieser Studien dem Marsupialiergebiß zu widmen und darin auch das Vorkommen von Molaren überhaupt eingehend zu besprechen. Ich dachte es jedoch nicht unerwünscht, an dieser Stelle die obenstehenden Bemerkungen einzuschalten, da in ihr die Erklärung liegt, warum ich auch jetzt noch nicht auf die Frage der Molaren eingehen kann. Selbstverständlich hat das nur Bezug auf das Fehlen eines Zahnwechsels, über die Genese der Form wird unten gehandelt. Nun werden bekanntlich die Molaren bald der Milchgebißreihe zugehörig betrachtet, bald der Reihe der permanenten Zähne und schließ- lich auch gedeutet als entstanden aus den verschmolzenen Keimen beider Reihen. Man vergleiche darüber Schwalbes Referat, worin eine vollständige Übersicht über die verschiedenen Theorien bis zum Jahre 1894 gegeben ist1). Und bei solchen Auffassungen muß natür- lich auch die Form der Molaren etwas Eigenes, nicht mit jenen der übrigen Zähne des Gebisses Vergleichbares erlangen2). Am schärfsten kommt wohl der Gegensatz zwischen Molaren und Antemolaren in der Differenzierungstheorie von Cope-Osborn zum Ausdruck. Es hat bekanntlich diese Theorie nur auf die Molaren Bezug, ausdrücklich — ich habe das schon früher hervorgehoben -- betonen die Begründer dieser Theorie, daß sie für die Antemolaren keine Gel- tung hat und daß die mehrhöckerigen Formen letzterer in ganz anderer Weise entstanden sind. Und wenn ein Prämolar vollständig einem Molar ähnlich ist, was das Relief der Krone betrifft, dann wird von den Autoren diese Erscheinung als „Mimicry" gedeutet. Die trituberkulare, besser trigonodonte Form von Cope-Os- born wird uns in diesem Abschnitt ebenfalls begegnen, und ich werde dann Gelegenheit haben, meine Auffssung über dieselbe mit jener der genannten Autoren zu vergleichen. Wie ist nun jene Zahnform, welche man meistenfalls bei den Molaren, bisweilen auch schon bei den Prämolaren antrifft, entstanden? Die Entstehungsweise dieser Form trägt einen etwas anderen Charakter, als jene der bis jetzt besprochenen. Denn als Hauptmerkmal des bis jetzt verfolgten Entwicklungsganges muß gelten, daß eine höher aus- gebildete Form des Zahnes zustande kam durch Aktivierung von An- 1) G. Schwalbe, Über Theorien der Dentition. Verh. d. Anat. Gesellsch., 8. Versammlung, 1894. 2) Man vergleiche weiter meinen Aufsatz: „Welcher Gebißreihe gehören die Molaren zu. Zeitschr. f. Morph, u. Anthrop., Bd. XVII. 54 Erstes Hauptstück. lagen, welche im Zahnkeim durch ihre Entstehung aus zwei trikono- donten Zähnen in nuce enthalten waren. Es ist deutlich, daß, wenn nun einmal der Zahn eine sechshöckerige Gestalt bekommen hat, eine weitere Ausbildung nicht mehr durch Zufügung neuer primärer Spitzen zustande kommen kann. Höhere Formen können von jetzt nur entstehen durch Differenzierung vom bestehenden Höcker. (Man vergleiche jedoch bezüglich des Carabellischen Höckerchen den Inhalt des folgenden Hauptstückes.) Wenn man nun bei den niederen rezenten Primaten oder bei den eocänen Urprimaten die Zähne des Oberkiefers der Reihe nach ver- folgt, dann fällt die Tatsache auf, daß bisweilen schon der letzte Prä- molar, aber meistenteils der erste Molar eine typische Reliefdifferenz zeigt dem unmittelbar vorangehenden Zahn gegenüber, und zwar in jenem Sinne, daß der bukkale Rand statt eines einzigen größeren - von zwei kleineren Nebenspitzen meistens begleiteten Höckers deren zwei aufweist, welche meistenteils einander an Größe gleich sind. Wir haben es hier somit mit einer Abänderung im protomeren Teil des Zahnes zu tun. Das zweite Odonto- mer unterliegt dabei gewöhnlich keiner Umänderung, nur erscheint es infolge der Zunahme der Länge des Zahnes etwas kräftiger ent- wickelt. Ich möchte nachdrücklich be- tonen, daß diese Er- scheinungen nicht zuerst studiert wer- den müssen am per- manenten Gebiß der höheren Affen, auch nicht bei jenen Prosimiergeschlechtern, bei denen die Zahl der Prä- molaren auf zwei reduziert ist, Als Untersuchungsobjekte für die historische Entwicklung des Gebisses wähle man nur die eocänen Formen oder die Gebisse der rezenten Prosimiae mit noch drei Prä- molaren. Auch das Milchgebiß der Platyrrhinen bietet in gewissen Hinsichten ein wertvolles Material. Die Gebisse der höheren Affen sind nur verständlich nach einer systematischen Vergleichung von mehr primitiven Formen. Für eine direkte Untersuchung sind diese Formen in ihrer postcaninen Gebißabteilung zu stark modifiziert. Die oben angedeutete Abänderung in der Form des Zahnes ist in Fig. 20 und 21 durch ein Paar einfache Skizzen illustriert. Die Fig. 20 gibt den letzten (dritten) Prämolar und ersten Molar von Tarsius wieder, und die Fig. 21 den zweiten und dritten Milchmolar von Hapale jacchus. Ich wählte diese Fälle, da sie auf leicht zugängliches Material Bezug haben, und weiter, da in diesen beiden Fällen das Deuteromer auf einer sehr niedrigen Entwicklungsstufe sich findet; denn es ist nur dessen Haupthöcker D zur Entwicklung gekommen. Es ist noch eine dritte Fig. 20. Tarsius spectrum. P3 und Mx des Ober- kiefers. Fig. 21. Hapale jacchus. Zweiter und dritter Milch- molar. Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 55 Überlegung, welche mich zur Wahl dieser Zähne bestimmte, nämlich die, daß die Molaren der trituberkularen Form von Cope-Osborn entsprechen, so daß sofort die Differenz in unseren Auffassungen be- züglich der Entstehung dieses Typus zutage treten wird. Wie aus einer Vergleichung beider Figuren ersichtlich, sind beide Zahnpaare, eines einem permanenten Gebiß und eines einem Milch- gebiß entnommen, einander außerordentlich ähnlich. Der dritte Prä- molar von Tarsius und der zweite Milchmolar von Hapale zeigen den Haupthöcker P und die beiden Nebenspitzen i und 2 recht deutlich, wäh- rend bei beiden das Deuteromer nur durch dessen gering entwickelten Haupthöcker D vertreten ist. Den Unterschied zwischen beiden Zähnen bildet die Leiste, welche bei Tarsius D und P miteinander verbindet, bei Hapale dagegen fehlt. Was sieht man nun beim unmittelbar folgenden Zahn? Die Dimensionen sind sämtlich größer, das Deuteromer ist kräftiger ent- wickelt, aber das Protomer besitzt statt eines einzigen Höckers zwei von gleicher Größe. In Wirklichkeit ist der hintere bei Hapale um ein weniges kleiner. Diese Komplizierung im Kronenrelief hat keinen Ein- fluß auf den Wurzelteil des Zahnes gehabt, denn sämtliche abgebildeten Zähnchen besitzen die von früher schon bekannte Dreizahl der Wurzeln, die zwei Sekundärwurzeln A1 und A2 für das Protomer und die Primäi- wurzel B für das Deuteromer. Welche ist nun die morphologische Bedeutung der beiden bukkalen Höcker, welche so scheinbar unvermittelt auftreten ? Diese Frage hat mich längere Zeit in Anspruch genommen, und es hat lange gedauert, the ich die mich befriedigende Lösung gefunden habe. Gewissermaßen Etand ich in diesem Punkte meiner Untersuchung über die Differen- zierung des Kronenreliefs vor der übereinstimmenden Schwierigkeit, wie Cope-Osborn bei ihrer Ableitung der Trituberkularform. Für diese Autoren lautete die Frage: Wie ist aus dem trikonodonten Zahn, dessen drei Höcker in einer Linie liegen, der Zahn mit einer trigonoclonten Zahnkrone entstanden, bei dem die Höcker an den Ecken eines Dreiecks sich finden: Und zur Erklärung mußten sie ihre Transgressionshypothese einführen. Für mich gestaltete sich die Frage folgenderweise: Wie kommt das Protomer, das dreispitzig war, eine größere mittlere Spitze und zwei kleinere randständige Spitzen besaß, plötzlich an zwei mittlere Spitzen, welche beide gleich groß sind und nahezu von der gleichen Dimen- sion als die ursprüngliche einfache Hauptspitze? Anfänglich neigte ich der Meinung zu, daß eine derselben durch Vergrößerung von einer der Nebenspitzen 1 oder 2 entstanden wäre. Und für diese Auffassung sind wohl Gründe anzuführen, da der in Fig. 20 und 21 wiedergegebene Zustand nicht einer ist, der konstant auftritt. Denn in den beiden zur Abbildung gelangten Fällen sind auch die beiden Zacken 1 und 2 des Protomer da, und dieses trifft nicht immer zu. Nicht selten - - wir werden davon besonders bei den höheren Primaten später mehrere Fälle kennen lernen — sind die Nebenspitzen, entweder beide oder eine von beiden, nicht anwesend. Solche Fälle lassen Raum für die Ver- mutung, daß eine derselben sich kräftiger entwickelt hat und dem ursprünglichen Haupthöcker P an Größe gleichgekommen sei. Und so lange ich nicht die Überzeugung bekommen hätte, daß das Fehlen einer oder der beiden Nebenzacken vom Protomer die Folge von Reduktion ist, schien mir die obenstehende Vermutung als Erklärung der Molaren- 56 Erstes Hauptstück. form nicht unwahrscheinlich zu sein. Die Möglichkeit eines solchen Entwicklungsganges wurde noch verstärkt durch den Umstand, daß im Deuteromer ein derartiger Vorgang sich tatsächlich abgespielt hat, wie wir bald zeigen werden. Jedoch das Studium einer größeren Zahl von niedrigen Primaten und der Abbildungen der Gebisse von Ur- primaten überzeugte mich schließlich, daß diese Erklärungsweise nicht die richtige sein konnte. Und es machte sich je länger desto mehr die Überzeugung bei mir Bahn, daß die zwei gleich großen Höcker an der bukkalen Seite der Molaren und gelegentlich des letzten Prämolaren durch Spaltung vom primären Haupthöcker P entstanden sein müssen. Allmählich gelangte ich zur Überzeugung, daß diese Auffassung die richtige sein muß. Diese Überzeugung gründet sich auf mehrere Tat- sachen. Erstens, daß die Variationen im Kronenrelief der Molaren von den Primaten sich durch diese Auffassung in ganz ungezwungener, natürlicher Weise erklären lassen. Auf diese Tatsache gehe ich in dieser Schrift nicht ein. Nicht weniger Stütze fand die gegebene Erklärung durch die Tatsache, daß durch sie eine vollkommene Übereinstimmung erlangt wurde zwischen der phylogenetischen und ontogenetischen Differenzierung der zusammengesetzten Molarenkrone der Primaten. Nicht am wenigsten schließlich überzeugte mich die direkte Be- obachtung von Übergangsformen von der Richtigkeit meiner Deutung. Die Lösung der Frage also, vor welche ich gestellt wurde: welches ist die morphologische Bedeutung der beiden Höcker am bukkalen Rande der Molaren? ist somit kurz die folgende: Der Haupthöcker P des Protomer hat sich in zwei hintereinander folgende, gleich große Höcker differenziert, die Anlage dieses Zahnteiles ließ einen Doppel- höcker aus sich hervorgehen. Daher bezeichnete ich diese, für die höheren Zahnformen charakteristische Bildung als die „Doppelhöckerphase". Die beiden Höcker zusammen stellen das Homologon des ursprünglichen Haupthöckers P dar gleichwie die beiden Sekundärwurzeln Ax und A2 des Protomer aus dessen Primärwurzel A hervorgegangen sind. Und ich werde, um jene Beziehung hervortreten zu lassen, den vorderen Höcker als Pa und den hinteren als Pp unterscheiden. Es liegt mir jetzt zunächst ob, zu beweisen, daß diese Auffassung nicht nur eine Hypothese ist, welche in mehr oder wenig glücklicher Weise die Erklärung der Primatenmolaren bringt, sondern einem wirk- lich stattgefunden Vorgang entspricht. Ein solcher Beweis kann nur geliefert werden durch den Nachweis von Tatsachen, welche diese Ver- doppelung des Höckers P in den zwei Bildungsprodukten Pa und Pp tatsächlich dartun. Es kommen nun unter den rezenten Prosimiae- geschlechtern solche vor, bei denen an einem der Zähne diese Verdoppelung in Entstehung begriffen ist, wobei zu gleicher Zeit Details ans Licht kommen, deren Kenntnis für das Verständnis der später zu beschrei- benden Zustände unentbehrlich ist. Das Geschlecht, bei dem man die Entstehungsweise beider Höcker am besten beobachten kann, ist zweifelsohne Galago mit der Gebißformel 2 — 1 — 3 — 3. Wie ich früher schon Gelegenheit hatte zu bemerken, kennzeichnet sich das Gebiß dieses Geschlechts dadurch, daß der dritte Prämolar als ein Molar gebildet ist , nur die Größe ist etwas geringer; der Zahn ist, um einen Ausdruck von Stehlin anzuwenden, „molarisiert". Gleiches ist unter den Lemuriden auch noch beim Geschlecht Hapalemur der Fall. Die Angabe von Hux- Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 57 ley1), daß auch Indris nämliches aufweisen sollte, beruht wohl auf dem Irrtum, daß dieser Autor den dritten postcaninen Zahn als einen Prä- molar deutete, statt als einen wahren Molar. Das Deuteromer ist bei Galago stärker entwickelt als bei Tarsius, nähert sich mehr jenem von Stenops. Und in der Tat würde der dritte Prämolar von Stenops und Galago einander sehr ähnlich aussehen, wenn nicht das Protomer desselben bei Stenops einen einfachen, bei Galago einen doppelten Haupthöcker besäße. Betrachtet man nun den zweiten Prämolar vom letztgenannten Geschlecht, dann konstatiert man hieran den Anfang einer Verdoppelung von P. Zum Beweise gebe ich in Fig. 22 eine Skizze der drei Prämolaren und des ersten Molaren von Galago senegalensis, von der Außenseite gesehen. Der erste Prämolar, der durch ein Diastem vom Caninus sowie vom zweiten Prämolar getrennt ist, stellt einen einfach gebauten, zweiwurzeligen, dreispitzigen Zahn dar, mit starkem Überwiegen des Haupthöckers P und fast ohne Andeutung des Deuteromer. Von den beiden Nebenspitzen ist die hintere (2) etwas kräftiger als die vordere (1). Der Hinterrand des Haupthöckers ist länger als der Vorderrand. Diese ungleiche Länge bildet gewisser- maßen das Anfangsstadium der Eigentümlichkeit, die der zweite / / Prämolar zeigt. TJas Deuteromer / / ,-,,, .'; »*• r\ ,-t ist an diesem Zahn stärker ent- / / /;'.'• | » J • / •;' .' ; ', / j wickelt: vom Protomer ist die hintere Nebenspitze (2) wieder kräftiger als 1. Der Haupt- höcker ist etwas länger als jener vom ersten Prämolaren, und sehr evident zeigt nun dieser Höcker die Neigung, aus seinem Hinterrand einen zweiten F'g- 22- Galago senegalensis. Eckzahn. Höcker hervorgehen zu lassen. Prämolaren »»d erstei" MoIar des Oberkiefers. Denn dieser Rand verläuft nicht, wie der Vorderrand, in einer regelmäßig gebogenen Linie vom erhabensten Punkt der Spitze P bis zur Basis, sondern hat einen wellenförmigen Verlauf. Der Hinterrand des Höckers P ist somit mit einer Erhabenheit ausgestattet. Und wenn man jetzt den zweiten mit dem dritten Prämolaren vergleicht, dann wird es deutlich, daß diese Erhabenheit, die beim erstgenannten Zahn nur in Anlage da ist, beim zweitgenannten sich zu einer wahren Spitze ausgebildet hat, von nahezu gleicher Größe als die einfache Spitze im ersten Prämolaren. Daß dieser neue Höcker eine wirkliche, durch Differenzierung entstandene Neubildung ist und nicht eine Umbildung der primären Nebenspitze 2, geht überzeugend aus der Tatsache hervor, daß diese Nebenspitze auf dem dritten Prämolaren noch gleich kräftig an- wesend ist als auf dem zweiten. Das Protomer vom dritten Prämolaren hat nun statt eines ein- fachen Haupthöckers einen zweispitzigen bekommen. Es ist das Tal 1) F. H. Huxlev, On Arctocebus calabarensis. Proc. Zool. Soc, London 1864, p. 327. 58 Erstes Hauptstück. zwischen den beiden Spitzen Pa und Pp noch ziemlich untief, aber bei dem nächstfolgenden Zahn, dem ersten Molaren, der länger ist als der letzte Prämolar, schneidet die Incisure tiefer ein, wodurch Pa und Pp eine größere Individualität bekommen. Die ursprünglichen Nebenspitzen vom Protomer, i und 2, sind auch bei diesem Molaren, ebenso wie bei den zwei noch folgenden, scharf differenziert. Die hier bei Galago senegalensis beschriebene Erscheinung habe ich bei anderen Arten dieses Geschlechtes ebenfalls konstatieren können (G. Demidoffi. elegantulus, Alleni). Unter den übrigen Prosimiae fand ich eine geringe Andeutung der beginnenden Zweispitzigkeit des Höckers P auch noch an den Prämolaren von Lemur. Es bleibt hier aber bei einer äußerst geringen Erhabenheit, welche jedoch mit einer seichten Einsenkung auf die bukkale Fläche der hinteren Hälfte vom Höcker P korrespondiert. Der beschriebene Fall ist sehr lehrsam, da wir dadurch Einsicht erlangen in die genetische Beziehung der Höcker Pa und Pp zum Mutter- höcker P. Denn eine wahre Spaltung, eine Halbierung des ursprüng- lichen Höckers findet nicht statt. Im Gegenteil, der neue Höcker Pp entwickelt sich aus dem Hinterrande des primären Höckers, wodurch die Spitze von P zur Spitze von Pa wird. Gewissermaßen bleibt somit der Urhöcker P bestehen, und ist der Höcker Pp als eine progressive Bildung des Hinterrandes jenes Höckers zu betrachten. Diese gene- tische Beziehung zwischen Pa und Pp darf man nicht aus dem Auge verlieren, denn durch sie wird z. B. erklärt, warum bei Reduktion der Molaren der Höcker Pp allmählich wieder verloren geht, während Pa bestehen bleibt. Wäre die Doppelspitzigkeit von P durch Spaltung entstanden, dann würden bei Reduktion die beiden Höcker wieder zusammenfließen, in Übereinstimmung mit der schon öfters genannten Regel, daß bei Regression des Zahnes der historisch zurückgelegte Ent- wicklungsweg in umgekehrter Richtung wieder gefolgt wird. Wir sehen somit, daß die gegebene Vorstellung von der Ent- stehung zweier gleich großer Höcker im Protomer der Molaren und gelegentlich der Prämolaren durch tatsächlich Beobachtetes gestützt wird. Und ich bin der Überzeugung, daß bei anderen Ordnungen der Säugetiere (z. B. Artiodactylen, Carnivoren) dieser Differenzierungs- prozeß vergleichend-anatomisch deutlicher und vollständiger sich ver- folgen läßt als bei den Primaten. Wie schon bemerkt wurde, ist der vorgetragene phylogenetische Entwicklungsgang in vollkommener Übereinstimmung mit den Ergeb- nissen der embryologischen Untersuchungen der Zahnentwicklung. Es ist bekannt, daß die Untersucher, welche die Richtigkeit der Tri- tuberculartheorie an den ontogenetischen Erscheinungen geprüft haben, einstimmig zum Schluß gelangt sind, daß diese Theorie mit den embryo- logischen Tatsachen in Streit kommt. Denn nach dem Inhalt jener Theorie sollte man erwarten, daß der Protoconus, der bei den Molaren des Oberkiefers auf die linguale Seite des Zahnes gerückt sein soll, da er das Hauptelement, den primitiven Haupthöcker des Zahnes (homolog mit meiner Spitze P) darstellt, nun auch am frühesten eine Dentinkappe bekäme. Solches ist nun. wie die Untersuchungen von Täcker, Woodword, Rose u. a, ans Licht gebracht haben, nicht der Fall. Ohne Ausnahme ist es der bukkale vordere Höcker, der bei der ontogenetischen Entwicklung allen anderen in der histogenetischen Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 59 Differenzierung voraneilt und am frühesten zur Dentinbildimg über- geht und einen Emailbelag bekommt: dann folgt der bukkale hintere, der vordere linguale und schließlich der hintere linguale. Ich komme auf diese ontogenetischen Erscheinungen noch zurück, wenn wir die weitere Differenzierung der Molaren vollständig kennen gelernt haben. Vor- läufig genügt es, darauf hingewiesen zu haben, daß der ontogenetische Entwicklungsgang der Molaren parallel geht mit der von mir verfoch- tenen Vorstellung über die phylogenetische Differenzierung. Denn das Protomer stellt, als Vertreter der älteren Generation im dinieren Säugerzahn, ein mehr prinzipielles Element dar, als das einer jüngeren Generation entsprechende Deuteromer. Und im Protomer der Molaren ist es wieder der Höcker Pa. der mehr als eine direkte Fortsetzung des primären Haupthöckers P auftritt, als der Höcker Pp, der gleichsam nur ein Differenzierungsprodukt desselben darstellt. Die Nebenspitzen i und 2 spielen bei den Molaren der höheren Primaten keine Rolle mehr, sie gehen meistenteils vollständig verloren, treten nur als Variationen bisweilen noch auf. Dagegen weiden wir sehen, daß eine der Neben- spitzen des Deuteromer bei den höheren Affen zu einem wichtigen Be- standteil des Molaren sich ausbilden wird. Die Idee, daß der Höcker Pp der Molaren eine Neuerwerbung ist, habe ich in einem Aufsatz von Huxley schon aus dem Jahre 1864 zurückgefunden1/! An der in der Fußnote bezeichneten Stelle sagt doch der Autor: ,,Of the two outer cusps of the molars, the anterior represents the principal cusp of the premolars; the posterior is an additional growth from the outer side of the heel." Die Vorstellung der Genese von Pp stimmt wohl nicht ganz mit der meinigen überein, sondern in unserer Auffassung über die Natur von Pa sind wir ein- stimmig. In einem Aufsatze über die historische Entwicklung der Prä- molaren2) gibt W. B. Scott eine Darstellung dieser Entstehungs weise auf Grund von Untersuchungen an paläontologischem Material, welche in den Hauptlinien mit der von mir gegebenen ziemlich übereinstimmend ist. Der Autor stellt sich jedoch auf den von Cope inaugurierten Stand- punkt, daß die Evolution der Molaren in anderer Weise erfolgte als jene der Prämolaren. Ohne Vorbehalt akzeptiert der Autor für die ersteren die Transgressionshypothese von Cope-Osborn. und da die Entwick- lung der Prämolaren diese Hypothese nicht zu stützen imstande ist, muß er für letztere wohl auf einen anderen Entwicklungsgang schließen. Die Folge davon ist, daß er in jenen Fällen, worin der letzte Prämolar vollkommen als der unmittelbar folgende Molar gestaltet ist, dennoch einen vollständig verschiedenen Entwicklungsgang verteidigen muß. „Even when the premolars have become completely molariform, the elements which correspond in functiön and position to these of the molars are not homologous with them, the key to these homologies being given by the position of the protocone." Zur Erläuterung sei darauf hin- gewiesen, daß Scott bei den oberen Molaren als „Protoconus" den lingualen vorderen Höcker bezeichnet, während bei dem gleichförmigen letzten Prämolaren der bukkale vordere Höcker den Protoconus dar- 1) F. H. Huxley, On Arctolebus calabarensis. Proc. Zool. Soc, p. 322.- — London 1864. — 2) W. B. Scott, The evolution of the premolar teeth in mammals. Proc. Acad. of nat. Sc. of Philadelphia 1892. 60 Erstes Hauptstück. stellen würde. Diese Meinung wird von Osborn geteilt. Wir werden zum Vergleich mit dem von uns gefolgten Gedankengang eine kurze Übersieht von der Scottschen Darstellung geben. Der Autor geht von einem einfachen Kegelzahn mit einer einzigen Wurzel aus. Als erste höhere Ausbildung erlangt dieser primäre Kegel (Protoconus) an der lingualen Seite einen neuen Höcker, vom Autor als Deuteroconus unterschieden, so daß ein bikuspidaler Zahn entsteht. Dieser Bicuspidat bildet die Ausgangsform aller höherer Formen von Prämolaren bei den Säugetieren. Das nächstfolgende Stadium entsteht, wenn an der Außenseite hinter dem ersten Höcker ein zweiter ent- steht, von Scott als Tritoconus bezeichnet. Die Krone ist jetzt also dreihöckerig geworden und stimmt mit dem trituberkularen Molar von Cope-Osborn überein. Dennoch besteht, wie Scott sich äußert, keine Homologie, denn der trituberkulare Molar ist durch Transgression aus einer trikonodonten Form entstanden. Wie stark eine aprioristische Überzeugung der Richtigkeit einer Hypothese jemand für die richtige Erkenntnis von Formbeziehungen blind machen kann, geht wohl stark hervor aus Scotts weiteren Bemerkungen über die Details. Denn, sagt er, bei diesen trigonodonten Prämolaren kommen sehr oft „conules" zur Entwicklung — (das sind die Homologa meiner Neben- spitzen) — und in ihrer Lagerung stimmen diese „conules" mit den kleinen Zacken, die durch Osborn als proto- und metaconule unterschieden sind überein und dennoch sind sie mit diesen nach der Meinung von Scott nicht homolog. Über die Entstehungsweise des zweiten bukkalen Höckers (der Tritocone ist identisch mit dem Pp-Wöcker in meinem System) führt Scott an: How gradually this addition of the tritocone may be effected, is beautifully shown in the series formed by placing together the different varieties and species of Protogonia and Phena- codus. Here the tritocone may be seen in all stages, from a very minute and scarcely visible cusp, and gradually enlarging until it reaches the size of the protocone." Ich habe oben gezeigt, daß für eine Einsicht in die Entstehungs weise dieses Höckers unter den rezenten Primaten im Geschlecht Galago noch ausgezeichnetes Material gegeben ist. Als Schlußphase, welche den höchst entwickelten Prämolarenform entspricht, betrachtet Scott jene, worin hinter dem lingualen Höcker ein vierter erscheint, den er als Tetarconus bezeichnet. Dieses Entwicklungsschema der Prämolaren bezeichnet Scott als konstant, und stimmt, wie leicht ersichtlich, in seinen Hauptzügen mit dem Entwicklungsgang des Zahnes im allgemeinen überein, wie ich denselben vorgestellt habe. Trotzdem stehe ich auf einem Stand- punkt, der prinzipiell von dem von Scott eingenommenen abweicht. Scott nämlich hat den Nebenspitzen keine Aufmerksamkeit gewidmet, weder jenen des Protomer noch jenen des Deuteromer. Der Autor hat nur auf das Auftreten der größeren Höcker geachtet, sein Proto- conus ist identisch mit dem Haupthöcker Pa in meinem System, sein Deuteroconus mit dem Haupthöcker Z), sein Tritoconus mit Pp. Und bezüglich der chronologischen Entwicklung dieser drei Höcker sind wir einig. Auch hinsichtlich jener des Scottschen Tetarconus, der auch meiner Meinung nach am spätesten seine wichtige Stelle im Kronen- relief erlangt. Aber über die Herkunft dieses Höckers und seine genetische Beziehung zu schon vorhandenen Elementen äußert Scott sich nicht. Wir werden später dartun, daß dieser ,, Tetarconus" nichts Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 61 anderes ist, als die kräftig entwickelte Nebenspitze 4 vom Deuteromer. Der wichtigste Unterschied zwischen Scott und mir wird dargestellt durch meine Überzeugung, daß es für sämltiche Zähne des Gebisses nur einen einzigen Entwicklungsgang gibt, und daß die Transgressions- hypothese verfehlt ist, und daher der Trituberkulartypus von Cope- Üsborn keiner reellen Ausgangsform entspricht. Die Ansicht, daß die allmähliche Komplizierung der Prämolaren den Schlüssel für das Verständnis der Molarenform bildet, ist bereits 1880 von Huxley formuliert worden laut folgenden Satzes: ,,In Centetes, it is easy to trace the successive changes by which the simple and primitive character of the Mammalian cheek-tooth exhibited by the most anterior praemolar passes into the complex structure of the crowns of the posterior teeth"1). Daß gleiche Erscheinung auch noch bei rezenten Halbaffen zu konstatieren ist, habe ich oben dargelegt. Kehren wir jetzt zu unserer eigenen Theorie zurück und betrachten noch einmal die Fig. 20 und 21. Es ist in diesen Figuren außer der Progression des Höckers P zu den beiden Höckern Pa und Pp noch eine zweite Relieferscheinung ersichtlich, welche für die Deutung des Reliefs der Molaren von großer Wichtigkeit ist. Der dritte Prämolar von Tarsius stimmt in seinem Vorkommen sehr stark mit dem zweiten Milch molaren von Hapale überein. Die Kronenformel für beide Zähne 1 P 2 lautet — =r— . Gleiches gilt für den ersten Molar von Tarsius und den dritten Milchmolar von Hapale, für welche Zähne die Kronenformel 1 Pa Pp 2 Y~ — geschrieben werden muß. Es gibt aber eine Differenz. Denn der dritte Prämolar von Tarsius besitzt eine Leiste, welche von D aus- geht, bukkalwärts verläuft und in P übergeht. Diese Leiste fehlt bei Hapale. Bei der weiter folgenden Besprechung werden wir nicht umhin können, auch diese Leiste in den Kreis unserer Untersuchung zu ziehen. Ich werde sie als das „Protopecten" des Zahnes weiter anführen, und einen Zahn, der mit einer solchen Leiste ausgestattet ist, als „proto- pectinisch" bezeichnen. Es wird darunter somit ein Zahn begriffen, der nur eine einzige von D bis P verlaufende Leiste besitzt. Wie verhält sich nun das Protopecten, wenn der Haupthöcker des Protomer zweispitzig geworden ist ? Die Fig. 20 gibt eine deutliche Antwort auf diese Frage. Vom Haupthöcker D gehen jetzt statt eines einzigen, zwei Leisten aus, welche divergierend bukkalwärts ziehen und sich mit Pa und Pp verbinden. Es macht ganz den Eindruck, als hätte sich das Protopecten der Länge nach gespalten, wobei an der lingualen Seite die beiden Hälften mit dem Haupthöcker D in Verbindung blieben, an der bukkalen Seite jede Hälfte mit einem der beiden Höcker sich verband. Diese Form des Leistensystems werde ich als „Schizo- pecten" unterscheiden und einen damit ausgestatteten Zahn als schizo- pectinisch bezeichnen. Ich verstehe darunter somit einen Zahn mit einem V-förmigen Leistensystem, wobei die Leisten die beiden Höcker Pa und Pp mit D verbinden. Wir werden später eine dritte Form kennen lernen, welche als höhere Differenzierungserscheinung aus der schizopectinischen entstanden ist, und die als ,,diplopectinisch" be- zeichnet werden soll. 1) F. H. Huxley, Collected Papers, Vol. IV, p. 450. 62 Erstes Hauptstück. Es ist wohl die richtige Stelle, um in einer kurzen Vergleichung zu treten zwischen dem trituberkularen Zahn von Cope-Osborn und jener Zahnform, die uns in Fig. 20 und 21 in dem dritten Milch- molaren von Hapale und dem ersten Molar von Tarsius entegegentritt. Denn diese Zähne entsprechen dem Anschein nach dem trituberkularen Typus von den amerikanischen Paläontologen1). Es braucht jedoch nicht noch einmal in Details dargetan zu werden, daß unsere Auffassungen über die Entstehung und daher auch die Bedeutung dieser Form grund- verschieden sind. Und jedoch ist unser Ausgangspunkt ein überein- stimmender. Wir beide gehen von einem trikonodonten Zahn aus, bei dem die drei Spitzen in einer geraden Linie gelegen sind. Aber damit ist auch alles Gemeinschaftliche in unserer Darstellungsweise gegeben. Denn von diesem Zahn leiten Cope-Osborn ihre trituber- kulare, besser trigonodonte Form ab, mittels einer Verschiebung des mittleren Höckers nach innen. Es will mir scheinen, daß die Autoren zu dieser Hypothese gekommen sind infolge einer Vernachlässigung der Nebenspitzen. Es gibt, wie schon früher betont ist, unter den meso- zoischen Säugern Formen, bei denen an den hinteren Molaren die drei Spitzen des trikonodonten Zahnes von gleicher Größe geworden sind und bei denen somit der Form nach eine Unterscheidung in einen Haupthöcker und zwei Nebenspitzen nicht berechtigt erscheint. Ich verweise z. B. nach der Abbildung, die in C. 0. 1897 auf S. 25 in Fig. IIa von dem Gebiß von Triconodon ferox gegeben ist. Es liegt hier jedoch nur eine Spezialisierung des Zahnes vor, wie aus einem Vergleich mit den vorangehenden Zähnen deutlich wird, und ihrer Natur nach sind vordere und hintere Spitze auch dieser Zähne mit den Nebenspitzen des trikonodonten Zahnes in seiner meist auftretenden Gestalt homolog. Diese Tatsache ist nun, wie ich meine, von den Autoren übersehen, und zwar deshalb, weil sie von vornherein die Prämolaren aus dem Gebiet ihrer Vergleichung ausschalteten. Wenn ich nun noch einmal jene drei Höcker in meiner Weise als i P und 2 bezeichne, dann denken sich die amerikanischen Forscher, daß im Oberkiefer der Höcker P lingual- wärts verschoben ist. Nach ihrer Meinung sollte somit die Kronen- formel des trituberkularen (oder trigonodonten) Zahnes geschrieben 12 I Pü Pi> 2 werden müssen: -=j-, während sie von mir geschrieben wird: - . Die Nebeneinanderstellung beider Formeln läßt scharf den großen Unterschied in der Wertschätzung dieses Zahnes hervortreten, denn für keinen einzigen Höcker sind wir in der Homologisierung einstimmig. Mein Hauptbedenken, das sofort aus einer Vergleichung der For- meln hervorgeht, ist, daß der von Cope-Osborn aufgestellte trituber- kulare Zahn nicht vorkommt, wenigstens nicht als eine vollständig intakte Form. Ich möchte damit nicht die Tatsache bestreiten, daß es Molaren gibt und bei ausgestorbenen Formen gegeben hat, welche in der Tat nur drei Höcker aufweisen, zwei an der bukkalen und einen an der lingualen Seite. Unter den heutigen Lemuriden fand ich solche Zähne u. a. im Oberkiefergebiß von Tarsius (zweiter und dritter Molar) Aber diese Dreihöckerigkeit kommt zustande durch Verlust der Neben- spitzchen i und 2, und die Kronenformel wird dadurch auf folgende 1) „The tritubercular pattern is still the prevailing one among the Lemu- roidea." C. 0. 1907, p. 157. Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 63 Pa Pf reduziert — =— -. Aber diese Krone ist eine durch Regression ent- standene und hat auch weiter in der Homologisierung der Höcker nichts mit jener der amerikanischen Forscher gemein. Bei den meisten Zähnen, welche von den amerikanischen Forschern als trituberkular oder ihrem trituberkularen Typus entsprechend an- gegeben werden, trifft man an der vorderen und hinteren Ecke des bukkalen Kronenrandes die kleinen Nebenspitzchen / und 2 an. Auf diese Tatsache ist schon von einem anderen amerikanischen Palä- ontologen, Gidley, hingewiesen1). Dieser hatte die Gelegenheit, besser erhaltene Zähne von Dryolestes zu untersuchen, und unter Hin- weis auf die von Osborn von diesem Tier gegebenen Figuren (C. 0. 1907, Fig. 206) sagt der Autor: ,,But there are two important cusps not noted bei Osborn, one an external cusp placed anterior tho themain external cusp, the other a small but well-defined intermediate cusp appearing on the posterior transverse ridge, thus there are fivc1) distinct cusps instead of three, as stated by Osborn." Ich bin der Meinung, daß, wenn man gut erhaltene, nicht abgeschliffene Molaren der meso- zoischen Säugetiere auf das Vorkommen der Höckerchen 1 und 2 unter- sucht, man diese wohl meistenteils antreffen wird. Diese Überzeugung gründet sich auf meine Erfahrung, daß bei den heutigen Prosimiae die meisten Molaren diese Spitzen noch besitzen, im Gegensatz zu den Affen, wo sie an den Molaren weit seltener sind. Und ist einmal jener Nachweis erbracht, wie es im Prinzip schon von Gidley geschehen ist, dann müssen die Anhänger der Trituberkulartheorie annehmlich machen, woher diese beiden Spitzen stammen und besonders beweisen, daß sie nicht der vorderen und hinteren Nebenspitze des trikonodonten Zahnes homolog sind. Wir verfolgen jetzt unsere Auseinandersetzung der Differen- zierung der Molaren. Der Entwicklungsgang der einfachsten bei den 1 Pa Pf> 2 Primaten vorkommenden Form mit der Kronenformel : r haben wir jetzt kennen gelernt. Es wurde überdies schon darauf hin- gewiesen, daß diese Krone sich vereinfachen kann durch Verlust der beiden Nebenspitzen 1 und 2 oder von einer derselben. Es ist wohl als eine allgemeine Regel zu betrachten, daß wenn einer der zwei ver- loren gehe, es die hintere ist, erst an zweiter Stelle folgt die vordere. Nach Verlust beider Spitzen bekommt der Molar somit eine Krone, Pa Pf deren Relief durch die Formel — =~- zum Audsruck gebracht wird; 1 Pa Pf ist die vordere Nebenspitze noch da, dann lautet die Formel =r — — . Beide Formeln sind bei den rezenten Primaten ziemlich selten, da bei dieser Tiergruppe das Deuteromer der Molaren meistenfalls kompli- zierter gestaltet ist und nicht einfach durch seinen Haupthöcker ver- 1 Pa Pf treten. Eine Kronenformel =- — - findet man z. B. am ersten und 1) J. W. Gidley, Evedence bearing on Tooth-Cusp Development. Proc. Washington. Acad. Sc. 1906, Vol. VIII. 1) Ich kursiviere. 64 Erstes Hauptstück. zweiten Molaren von Lepidolemur und am dritten Molar von Nycti- Pa Pp cebus tardigradus. Für die Kronenformel — =— - — bieten der zweite und dritte Molar von Tarsius, sowie der dritte von Cheirogaleus und Lemur gute Beispiele. Der Umstand, daß solche einfache Formeln meist im hinteren Teil des Gebisses lokalisiert sind, gibt einen starken Grund ab für die Vermutung, daß es sich hierbei um reduzierte Formen handelt. Es kann nun diese Reduktion noch weiter gehen. Und übereinstimmend mit der schon öfters erwähnten Regel sieht man dann, daß die zuletzt entstandene Spitze am ersten wieder verloren geht. In diesem Fall findet sich dann der Höcker Pp, und nach dessen Verlust wird die Pa Kronenformel auf -=r vereinfacht. Diese weitgehende Reduktion kommt nur beim letzten Molaren vor. Sie wurde für Halbaffen das erste Mal durch Huxley festgestellt und abgebildet1): „In Perodicticus Potto the third upper molar has a transversely elliptical crown wich has only two cusps, the posterior external and the posterior internal having disappeared" (1. c, S. 324). Bei Lepidolemur ist nach Leches Abbil- dung der Höcker Pp am dritten Molar merklich geringer entwickelt als Pa. - - Bei Affen, besonders jenen der Neuen Welt, ist die Formel Pa -jr- am dritten oberen Molar gar nicht selten. i Pa Pp 2 Bei den wahren Affen kommt die Kronenformel r — sehr selten vor, da hier, wie schon erwähnt, als Regel das Deuteromer voll- ständiger entwickelt ist. Im Milchgebiß der Arctopitheken treffen wir im zweiten Molaren ein dieser Formel entsprechendes Beispiel an. Merkwürdig ist es nun, daß die Molaren dieser niedrigsten Vertreter der wahren Affen eine mehr reduzierte Form haben. Denn beim ersten permanenten Molaren sind die beiden Nebenspitzen verloren gegangen, Pa Pp wodurch die Kronenformel dieses Zahnes die folgende wird: — =p*-, beim zweiten Molaren ist die Reduktion sogar noch weiter gegangen. Nicht nur ist dieser Zahn der kleinste aller postcaninen Zähne, sondern der Höcker Pp kann individuell ganz fehlen oder ist nur eben ange- Pa deutet. Im ersteren Fall wird die Kronenformel somit wieder -=-. Es ist wohl nicht zweifelhaft, daß das Gebiß der Arctopitheken nicht nur als ein in Molarenzahl, sondern auch als ein in Zahngestalt stark reduziertes zu betrachten ist. Ich kann dann auch die Meinung Webers2), daß hier noch primitive Zahnformen bestehen sollten, nicht teilen. Ich glaube, es stellt gerade das Gebiß der Arctopitheken die Richtig- keit ins Licht jener, schon von mehreren Odontologen geäußerten Be- hauptung, daß übereinstimmende Zahnformen eine verschiedene Ent- wicklungsgeschichte haben können. Dieser Meinung gibt z. B. Forsyth May or Ausdruck im folgenden Satz: „It is reasonable to conclude that 1) F. H. Huxley, On the Arcticebus Calabarensis. Proc. Zool. Soc. London 1864. 2) M. Weber, Die Säugetiere. Jena 1904. Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 65 the tritubercular condition of molars is the result of similar evolution, and by no means a primitive condition1)." Nicht weniger scharf gibt auch Schlosser dieser Meinung Ausdruck, wenn er behauptet: „Eine bestimmte Beschaffenheit des Gebisses ist nicht an eine gewisse Gruppe gebunden, sondern kann innerhalb beliebiger Formenkreise wieder- kehren. Es gibt dies einen deutlichen Fingerzeig dafür, daß die Ver- wandtschaft zweier oder mehrerer Formen noch lange nicht durch eine gleichartige Ausbildung der einzelnen Zähne ausgedrückt wird, es kommt vielmehr darauf an, zu berücksichtigen, wodurch dieser momentane Zustand veranlaßt wird2)." Und die Fragestellung, ob ein Zahn eine primitive oder eine reduzierte Form besitzt, drängt sich schärfer auf durch den im Laufe dieser Arbeit schon einige Male gebrachten Nach- weis, daß bei Reduktion der einst durchlaufene normale Entwicklungs- weg wieder in umgekehrter Richtung zurückgelegt wird, wodurch notwendigerweise frühere, primitive Formen wieder von neuem ent- stehen müssen. Ich glaube, daß auch Hapale wieder einen sehr guten Beweis davon ablegt. Für eine Entscheidung, ob ein Zahn wirklich primitiv oder infolge von Reduktion pseudoprimitiv ist, hat, wie ich meine, vor allem das geologische Alter des Tieres eine ausschlaggebende Bedeutung. Es ist schon- mehrfach erwähnt worden, daß bei den Primaten- molaren so einfach entwickelte Deuteromeren wie in den zuletzt gegebenen Beispielen nur selten sind, weshalb man auch die dreieckige Krone im Gebiß dieser Tiere so selten antrifft. Wohl bei den meisten Affen — mit Ausnahme dann der Arctopitheken — und bei den meisten Halbaffen ist dieses Odontomer in den Molaren mehrhöckerig, ent- weder sind dessen beide Nebenspitzen entwickelt oder nur eine von beiden. Bezüglich des Entwicklungsgrades dieses Odontomer unter- scheiden sich zweifelsohne die beiden Gruppen der Primaten augen- fällig voneinander. Denn bei den Affen ist das Deuteromer bei keinem der rezenten Formen dreispitzig. Regelmäßig fehlt hier die vordere Nebenspitze, um als sehr bedeutungsvolle und willkommene indivi- duelle Variation bisweilen wieder zu erscheinen. Bei den Halbaffen dagegen ist jenes Odontomer öfters dreispitzig, und verbindet man mit dieser Tatsache jene, daß auch die Nebenspitzen im Protomer besonders bei den altweltlichen Affen regelmäßig fehlen, dann erscheinen die Molaren der Prosimiae jenen der Simiae gegenüber durchschnittlich spitzenreicher. Die Molaren der höheren Affen bringen nur als Rück- schlagserscheinungen Spitzen zur Entwicklung, welche bei den Prosi- miae regelmäßig vorkommende Bestandteile dieser Zähne sind. Wenn das Deuteromer seine beiden Nebenspitzen entwickelt hat und das Protomer seine vollständige Entfaltung noch aufweist, i Pa Pf> 2 tritt ein Zahn auf mit der Kronenformel - — _, r . Ein solches Kronen- 3D4 relief trifft man im permanenten Gebiß des Oberkiefers bei den Affen niemals an, bei Halbaffen ist es nicht ganz selten. 1) Forsyth Mayor, On Megaladapis madagascariensis, an extinct gigantic Lemuroid from Madagascar. Phil. Transact. Roy. Soc. London 1894, Vol, CV, p. 22. 2) M. Schlosser, Die Affen, Lemuren usw. des europäischen Tertiärs, Bd. I, S. 53. Wien 1887. Bolk, Die Morphogenie der Primatenzähne. 5 66 Erstes Hauptstück. In der Prämolarenreihe weist der dritte Prämolar von Galago und Hemigalago dieses Relief auf, das man auch beim ersten Molaren von Avahis, Galago, Stenops, Hemigalago, Propithecus und weiter am zweiten Molaren von Avahis, Stenops und Hemigalago konstatieren kann. Der dritte Molar ist stets einfacher gestaltet. Aus den voranstehenden Angaben geht schon hervor, daß ein Zahn mit dem bezüglichen Kronen- relief im Gebiß gewissermaßen lokalisiert ist. Es findet sich der Typus am häufigsten beim ersten Molaren. Man darf hierin den Ausdruck einer Beziehung zwischen Form und Funktion sehen. Denn ein Zahn i Pa Pf> 2 mit der Kronenformel - _. — ist der meist spitzenreiche, der über- 3D4 1 haupt bei den Primaten vorkommt, und er erscheint gerade an jener Stelle des Gebisses, die der Druckwirkung am meisten ausgesetzt ist. Von diesem Punkt nimmt sowohl nach vorn als rückwärts die Kompli- ziertheit regelmäßig ab. Was — in Verbindung wohl mit der Nahrung - bei den Prosimiae durch stetig zunehmende Komplikation erreicht wird, kommt bei den Simiae viel mehr durch Größenzunahme zustande. Und diese Vergrößerung ist mit einer gewissen Selektion verknüpft, wobei bestimmte Höcker bevorzugt wurden und andere ausgeschaltet. Das Gebiß der Prosimiae bietet uns daher für das Studium der Zahn- entwicklung mehr wertvolle Dokumente als jenes der Affen, und ein richtiger Einblick in die Natur der Affenzähne und eine richtige Homo- logisierung der Höcker kann nur erworben werden auf Grund von bei den Halbaffen gewonnenen Resultaten. Die Molaren der Affen sind mehr als Endphasen einer Entwicklungsreihe zu betrachten. Und in der großen Übereinstimmung, welche die Molaren sämtlicher Affen jenen der Halbaffen gegenüber aufweisen, bekundet sich das Einheitliche jener Gruppe. Die Halbaffen dagegen geben in ihren verschiedenen Geschlechtern deutliche Hinweise auf zwei divergierende Entwicklungsrichtungen. Eine Linie trägt einen bestimmt progressiven Charakter und bereitet gradatim jene Formen vor, von denen die Affenmolaren als die direkte Fortsetzung sich vortun, eine zweite Linie trägt mehr einen regressiven Charakter und findet bei den Affen keine Fortsetzung. Drei Phasen der erstgenannten Entwicklungslinie, welche als ebenso viele Vorstufen der Affen- und Menschenmolaren zu betrachten sind, sind in den Fig. 23, 24 und 25 wiedergegeben. Die Zähne besitzen 1 Pa Pf> 2 noch alle die Kronenformel - — - . Die Fig. 23 stellt den dritten 3D4 Prämolar von Galago senegalensis dar, Fig. 24 den ersten Molar von Stenops gracilis und Fig. 25 den ersten Molar von Avahis laniger. Sie sind von der lingualen Seite gesehen abgebildet, während auch eine Skizze der Kronenfläche gegeben ist. Vergleichen wir zunächst den Entwicklungsgrad der Odontomeren miteinander. Bei der Besprechung des Entwicklungsganges vom Deuteromer, welcher hauptsächlich bei den Prämolaren verfolgt wurde, bildete das Deuteromer wohl immer den kleineren Abschnitt des Zahnes, den sogenannten Talon der Autoren. Das ist auch noch der Fall bei den auf niedrigster Stufe der Entwicklung stehenden Zähnen, welche bereits ins Doppelhöckerstadium getreten sind. Aber allmählich kommt jetzt eine Volumzunahme des Deuteromer zustande, wovon die drei gewählten Beispiele Zeugnis ablegen. Beim letzten Prämolar von Galago ist das Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 67 Deuteromer zwar vollständig dreihöckerig geworden, aber noch auf- fallend kleiner als das Protomer, bei Stenops sind die Unterschiede schon geringer und bei Avabis steht das Deuteromer im Volum jenem des anderen Odontomer nur wenig nach. Dadurch wird somit der Zu- stand, den man bei Affen findet, eingeleitet, denn durch die Volum- zunahme des Deuteromer wird die Form der Krone wesentlich ver- ändert. Das Wesen dieser Umänderung läßt sich aber erst scharf be- tonen, nachdem wir die speziellen Spitzendifferenzierungen in jedem der beiden Odontomeren bei den drei abgebildeten Formen näher betrachtet haben. Fig. 23. Galago senegalensis. Dritter Prämolar. Fig. 24. Stenops gracilis. Erster Molar. Bei Galago und Stenops ist das Vorkommen der Spitzen im Proto mer wenig verschieden, nur sind beim letztgenannten die beiden Spitzen Pa und Pp etwas niedriger. Bei beiden Tieren liegen die Nebenspitzen i und 2 noch in einer Linie mit dem Doppelhöcker. Das hat sich nun bei Avabis wesentlich geändert. Denn die Linie, welche die Nebenspitzen hier verbindet, zieht bukkal von der Längsachse des Doppelhöckers. Die beiden Nebenspitzen springen deutlich bukkalwärts vor. Und als eine Erscheinung, die uns bis jetzt noch nicht begegnete, muß das Auftreten eines mittleren Höckerchens auf die bukkale Fläche des Zahnes genannt werden. Auf diese Bildung, die gelegent- lich auch bei anderen Primaten auftritt, werde ich hier nicht eingehen, ich schalte sie vorläufig aus der Darstellung des Differenzierungsganges, für den sie auch bedeutungslos ist, aus. Hauptsache ist es, zunächst festgestellt zu haben, daß der Doppelhöcker P in bezug auf die Nebenspitze lingualwärts ver- schoben erscheint und weiter, daß jede Hälfte des Doppelhöckers bei Avahis ansehnlich niedriger und dazu breiter geworden ist. Intensiver sind die graduellen Umgestaltungen, die an den Spitzen des Deuteromer zu konstatieren sind. Im vorangehenden Abschnitt ist schon die Aufmerksamkeit auf den Umstand gelenkt worden, daß die Richtung der Spitzchen dieses Odontomer, wenn sie in der Dreizahl entwickelt sind, mit jenen des Protomer einen nach hinten offenen Winkel bilden. Die Kronenfläche des Zahnes wird dadurch mehr oder weniger dreieckig, es sind eine bukkale, eine hintere und eine medio- Fig. 25. Avahis laniger. Erster Molar. 68 Erstes Hauptstück. linguale Seite ziemlich scharf voneinander abgegrenzt. Dazu kommt noch, daß die hintere Nebenspitze 4 mehr oder weniger selbständig hervorragt, wodurch der hintere Rand der Krone konkav wird. Auch wenn der Haupthöcker P des Protomer sich zum Doppelhöcker ent- wickelt hat, bleiben diese Verhältnisse bei den primitivsten dieser Formen bestehen, wie aus Fig. 23 ersichtlich ist. Aber es tritt hierin allmählich Veränderung auf, an der sich jedoch nicht alle Teile des Deuteromer gleich stark beteiligen. Denn während die vordere Neben- spitze (3), die auch, wie man sich erinnern wird, zuletzt erscheint, keine weitere Entwicklung zeigt, nimmt die hintere Nebenspitze (4) an Größe zu. Davon liefert der erste Molar von Stenops (Fig. 24) ein gutes Bei- spiel. Diese Vergrößerung läßt jedoch die Spuren der Selbständigkeit dieser Spitze nicht verloren gehen. Im Gegenteil. Zwar springt die Spitze 4 bei Stenops weniger frei an der inneren Ecke des Hinterrandes der Krone hervor als bei Galago, aber es entsteht eine ziemlich scharfe Rinne zwischen dieser Spitze und dem Haupthöcker Z), besonders an der lingualen Fläche der Krone. Im ganzen ist die Kronenfläche weniger regel- mäßig dreieckig als bei der vorangehenden Form, denn die mesiolinguale Seite bildet sich schon deutlicher in ein mehr mesiales und ein linguales Stück aus, die vorläufig noch stumpfwinkelig ineinander übergehen. Sämtliche Punkte nun, wodurch der erste Molar von Stenops sich vom dritten Prämolar (und auch erstem Molar) von Galago unterscheidet, sind nun beim ersten Molar von Avahis in progressiverem Maße ent- wickelt. Die Nebenspitze 3 ist klein geblieben und lagert als eine un- bedeutende Erhabenheit in der Mitte des vorderen Randes vom Zahn. Sie kommt überhaupt nur beim ersten Molaren dieses Halbaffen vor, beim zweiten ist sie vollständig reduziert. Dagegen ist die hintere Nebenspitze 4 von gleicher Größe geworden als der Haupthöcker D des Deuteromer. Die Folge davon ist, daß die Krone eine viereckige Gestalt bekommen hat, aber noch nicht regelmäßig. Denn deutlich geht der vordere oder mesiale Rand noch unter stumpfem Winkel in den lingualen über, während der Hinterrand einen nahezu geraden Winkel mit dem lingualen bildet. Als meist essentieller Punkt bei dieser progressiven Entwicklung ist aber zweifelsohne die mächtige Ausbildung der Nebenspitze 4 zu betrachten. Diese Vergrößerung ging mit einem Ausgleich der Größen- differenz beider Odontomeren gepaart, wodurch ein Zahn entstand, der dem Kauakt weit besser funktionell angepaßt war, als jener mit stark ausgesprochener Differenz zwischen Proto- und Deuteromer. Diese Entfaltung der Spitze 4 ist in mehreren Hinsichten merkwürdig. Denn dadurch ist die linguale Hälfte des Zahnes der bukkalen sehr ähnlich geworden; bestehen dach von jetzt an beide aus zwei gleich- großen Höckern. Aber wie verschieden ist die Natur der Höcker, welche dieses Relief darstellen! Die bukkale Hälfte besteht aus einem Doppelhöcker, aus dem Haupthöcker der primitiven trikonoclonten Ur- form hervorgegangen. Und in der lingualen Hälfte ist der vordere Höcker wirklich ein primitiver Haupthöcker, der hintere dagegen ist aus einer Nebenspitze hervorgegangen. Bei genauem Zusehen jedoch findet man bei Vergleichung der bukkalen und lingualen Hälfte beim vorliegenden Zahn noch deutlich Anzeigen der differenten Natur der vier Spitzen, sei es dann auch, daß sie in Größe einander wenig nachstehen. Denn von der Verwandtschaft der beiden bukkalen Höcker zueinander legt Die Differenzierung der Oberkieferzähne. (39 die schmale erhabene Leiste, welche beide verbindet und ein wenig nach außen geknickt erscheint, noch deutlich Zeugnis ab, während an der lingualen Seite die ursprüngliche Selbständigkeit der beiden Höcker, durch die Rinne welche beide trennt, bewiesen wird. Daß übrigens der hintere linguale Höcker noch nicht in allen Hin- sichten mit dem vorderen gleichwertig geworden ist, geht aus der Anatomie des Leistensystems hervor. Ich erinnere daran, daß ich auf Grund der Ausbildung dieses Systems bis jetzt zwei Formen unter- schieden habe, nämlich protopektinische, bei denen eine einfache trans- versale Leiste die Haupthöcker beider Odontomeren verbindet, und schizopektinische, bei denen vom Haupthöcker D aus in divergierender Richtung zwei Leisten zum Doppelhöcker P, also zu Pa und Pp ver- laufen. Bei Stenops ist nun dieser zweite Typus, wie aus Fig. 24 er- sichtlich, noch rein erhalten. Aber auch bei Avahis ist noch gleiches der Fall, auch diese Molaren sind somit noch schizopektinisch, im Gegen- satz zu jenen der meisten Affen, bei denen die Gleichwertigkeit zwischen dem Haupthöcker D und der ursprünglichen Nebenspitze 4 noch voll- kommener geworden ist. Die menschlichen Molaren stehen als schizo- pektinisch noch auf der mehr niedrigen Stufe der Prosimiae. Unten wird hierüber ausführlich gehandelt. Das Kronenrelief, wie wir es jetzt bei Avahis kennen gelernt haben, ist das meist vollständige, das man überhaupt bei den Primaten antrifft. Es stellt eine Zwischenstufe dar zwischen den mehr einfachen — weil primitiver — Formen anderer Prosimiae und den vereinfachten Formen, welche wir bei den wahrenAffen kennen lernen werden. Es ist ein Mixtum compositum von Primitivem und Progressivem. Das Primitive wird hergestellt durch die Anwesenheit der drei gering ent- wickelten Nebenspitzen 1, 2 und 3, das Progressive durch die Vierzahl fast gleich großer Höcker, die mit nur wenigen Ausnahmen bei allen Affenmolaren wiederkehren. Die merkwürdige Ausbildung der Nebenspitze 4 der oberen Primatenmolaren zu einem Höcker von gleicher Größe als der ursprüng- liche Haupthöcker ist eine Erscheinung, die nicht einzig dasteht. Denn bei dem Unterkiefergebiß werden wir einen übereinstimmenden Vor- gang kennen lernen. Und ich bin überzeugt, daß man bei anderen Säugerordnungen mehrere Beispiele eines solchen Entwicklungsganges aufzufinden imstande ist. Doch werde ich auf diesen Punkt nicht eingehen. Nachdem wir die Molarengestalt mit dem vollständigsten Relief in ihrer Entwicklung verfolgt haben und die Bedeutung jedes der dieses Relief zusammensetzenden Elemente kennen gelernt, können wir dazu übergehen, zu untersuchen, welche Varianten auf diese Form bei den Primaten aufzufinden sind. Beschränken wir uns zunächst auf die Prosimiae. Propithecus und Indris gehören, was den allgemeinen Typus ihrer Molaren betrifft, mit Avahis zusammen und stehen dadurch in Gegensatz zu den übrigen Halbaffen. Es ist oben schon bemerkt 1 Pa Pf> 2 worden, daß die Kronenformel ^ nur für den ersten Molaren 3D4 von Avahis gilt. Denn beim zweiten Molaren ist von der Nebenspitze 3 1 Pa Pp 2 nichts mehr zu sehen und es hat dieser Zahn somit eine Formel ^ — — . D4 70 Erstes Hauptstück. Am dritten Molaren sind nur die Höcker Pa und D kräftig entwickelt, 3 fehlt ebenso wie 2, während Pp und 4 schwach am Hinterrand zu erkennen sind. Es stimmen Propithecus und Indris darin mit Avahis überein, daß auch hier die Spitze 3 nur am ersten Molaren vorkommt, bei Indris stärker, bei Propithecus weniger stark als bei Avahis. Daß ich dennoch eine Skizze von Avahis und nicht von Indris gab und aus- führlicher beschrieb, findet seinen Grund darin, daß bei Indris die hintere bukkale Nebenspitze (2) fehlt oder kaum angedeutet ist, so daß 1 Pa Pp die Kronenformel dieses Zahnes ist: = — — . In dieser Hinsicht folgt 3D4 8 Indris wieder der schon öfters hervorgehobenen Regel: wenn eine der beiden Nebenspitzen des Protomer verloren geht, ist es die hintere. Bei dem zweiten Molaren sowohl von Indris als von Propithecus fehlt, wie schon erwähnt, die Nebenspitze 3 vom Deuteromer völlig, 1 Pa Pp wodurch die Kronenformel sich folgenderweise vereinfacht: — - — -. D 4 Es nähert sich durch die Reduktion einer Nebenspitze in je der beiden Odontomeren, bei der sonst schon sehr affenähnlichen Gestalt der Molaren, der zweite Mahlzahn von Indris stark jenem der wahren Affen. Es braucht nur noch die Nebenspitze 1 — die überdies als Variation nicht selten bei Affen wieder erscheint — verloren zu gehen und der typische Affenmolar ist da. Bei Propithecus geht wohl 3 verloren, aber im Proto- mer bleiben beide Nebenspitzen im zweiten Molar bestehen. Sowohl Indris als Propithecus besitzen einen stark reduzierten dritten Molaren infolge sehr geringer Entwicklung von Pp und 4. Bei Prosimiae mit einer mehr dreieckigen Gestalt der Krone, wie in den Fig. 23 und 24 abgebildet, ist die typische vollständige Kronen- 1 Pa Pp 2 formel — „ — nicht sehr häufig vertreten. Am zahlreichsten kommt 3D4 diese Form noch vor bei Galago und Hemigalago, bei denen außer dem dritten Prämolaren auch der erste und zweite Molar die erwähnte Formel besitzen. Bei Stenops ist sie schon auf den ersten Molaren be- schränkt. Bei anderen Formen findet Reduktion der Nebenhöcker in verschiedenem Grade und an verschiedener Stelle statt. Bei Nycti- cebus, der an keinem Zahn die Nebenspitze 3 zur Ausbildung gebracht hat, ist die Kronenformel des ersten Molaren deshalb die folgende: 1 Pa Pp 2 — =^— - — , beim zweiten Molaren dieses Halbaffen geht 2, beim dritten D 4 auch 4 verloren. Bei Cheirogaleus und Microcebus sind an sämtlichen Molaren die Nebenspitzen des Protomer verloren gegangen, und da im Deuteromer auch 3 fehlt, vereinfacht sich hier die Kronenformel auf Pa Pp ~ eine Formel also, die bei den Molaren der Affen besonders D4 häufig ist, Doch weicht durch das starke Hervorragen der Spitze 4 nach lingual und hinten die Gestalt der Krone dieses Prosimiers be- trächtlich von jener der wahren Affen ab. Eine andere Variation weist wieder das Geschlecht Hapalemur auf, bei dem am ersten Molar die beiden Nebenspitzen des Protomer verloren gingen, das Deuteromer jedoch dreispitzig geblieben ist, woraus Pa Pp folgende Kronenformel resultiert: : — ~— . Doch besitzt dieser Zahn 3D4 Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 7 1 eine Besonderheit, die man auch beim Geschlecht Lemur, mit seinem auf den Haupthöcker D reduzierten Deuteromer, antrifft und auf welche ich im nächsten Abschnitt besonders eingehen werde. Man trifft nämlich an diesem Zahn ein Carabellisch.es Höckerchen an. Die angeführten Beispiele sind hinreichend für einen Eindruck der ausgiebigen Varietäten, welche das Kronenrelief innerhalb der Reihe der Halbaffen aufweist. Und eben dadurch ist das Studium dv^ Gebisses dieser Säugerordnung ein so lohnendes. Denn nicht allein ist fast der ganze historische Differenzierungsgang an diesen Gebissen abzulesen, sondern auch die Modifikationen, welche sich um jede höhere Entwicklungsstufe gruppieren, geben eine Idee von der großen Plasti- zität der Zahnkrone. Und einen schärferen Gegensatz in dieser Hinsicht als zwischen den Gebissen der Halbaffen und der wahren Affen läßt sich kaum vorstellen. Die Mannigfaltigkeit der Krone bei den ersteren hat bei den letzteren einer augenfälligen Einförmigkeit Platz gemacht. Die hier in fast ungestörter Regelmäßigkeit auftretende vierhöckerige Kronen- form sahen wir bei den Prosimiae angebahnt in den Geschlechtern Avahis, Propithecus und Indris, die sich auch durch die Reduktion der Prämolarenzahl auf zwei in der Zusammensetzung ihres Gebisses den altweltlichen Affen nähern. Doch würde man irren, wenn man der Ansicht war, daß es bei den wahren xAffen keine primitiveren Zahnformen gibt, als bei den drei genannten Halbaffen. Die Evolution ist bei diesen Prosimiae weitergegangen als bei gewissen Affengeschlechtern. Es würde gewiß nicht möglich sein, auf Grund nur von einem Studium der Zähne, ausschließlich der wahren Affen, zu einer richtigen Auffassung über die Entstehungsweise dieser Zähne zu kommen. Denn sie stellen zum Teil Endglieder dar, und ihr gleichartiger Bau, auf welchen schon Giebel hinweist1), ist wenig günstig, um eine Perspektive über den langen Differenzierungsgang, welchen sie hinter sich haben, zu eröffnen. Doch treten wohl einige Merkmale auf, die, betrachtet im Licht der Differenzierungsgeschichte, welche das Studium des Prosimiergebisses enthüllt hat, von Bedeutung sind. Es sind als solche das Auftreten überzähliger Höckerchen, aber besonders die verschie- dene Gestalt des Leistensystems namhaft zu machen. Nun werde ich in der vorliegenden Abhandlung nicht auf die ersterwähnten Erschei- nungen eingehen, da ich in der dritten dieser Studien, wie schon erwähnt worden ist, die Variationen des Primatengebisses zusammenfassend zu bearbeiten gedenke. Selbstverständlich kommen dabei die über- zähligen Höckerchen an den Zähnen zur Sprache und werde ich die Bedeutung davon besonders im Lichte der in der vorliegenden Ab- handlung ausgearbeiteten Differenzierungstheorie betrachten. Ich muß somit für diesen interessanten Phänomenenkomplex auf die folgende Studie verweisen. Nur ganz allgemein sei erwähnt, daß durch- gehends bei den wahren Affen, die Nebenspitzen i, 2 und 3 entweder vollständig oder teilweise fehlen, um als sogenannte überzählige Höcker- chen hin und wieder aufzutreten. An dem konstanten vierhöckerigen Typus der Affenmolaren ist es jedoch nach systematischer Vergleichung nicht unschwer, einen Entwicklungsgang aufzudecken, der sich an die Ausbildung der Leiste 1) C. G. Giebel, Ondontographie. Leipzig 1855. 72 Erstes Hauptstück. oder Kamme knüpft, und die Ausbildung des Leistensystems wird wieder bedingt durch die Beziehung des Höckers 4 (des hinteren lingualen) zum übrigen Teil des Kronenreliefs. Es ist daher erwünscht, diese Beziehungen zunächst systematisch zu verfolgen. Wir werden dabei sehen, daß das Charakteristische der Evolution dieser Zähne kurzhin im folgenden Satz zum Ausdruck gebracht werden kann: In der Keihe der Affen macht sich die Tendenz geltend, um bei den Molaren den Höcker 4 -- eine ursprüngliche Nebenspitze — immer mehr den drei anderen Höckern gleichwertig zu machen, zu assimilieren; als niedrigster Entwicklungsgrad dieser Molaren ist jener zu betrachten, bei dem der Höcker 4 nur als ein ganz unbedeutendes Element der Zahnkrone vorkommt; als höchste Form des Affenmahlzahnes muß jener betrachtet werden, bei dem die Spitze 4 den anderen drei {Pa, Pp und D) vollkommen gleichwertig geworden ist. Dieser Entwicklungs- gang ist eigentlich nur die direkte Fortsetzung von jenem, welchen wir bei den Halbaffen kennen gelernt haben, was wir jetzt näher ausein- andersetzen wollen. Die Spitze 4, das ist die hintere Nebenspitze vom Deuteromer, ist im Laufe der Entwicklung erst nach dem Erscheinen des Haupt- höckers D aufgetreten und ist am letzten Prämolaren und an den Molaren der Prosimiae nicht selten. Doch fehlt sie bisweilen noch bei den Molaren dieser Gruppe. In diesem Falle hat die Zahnkrone die bekannte regelmäßige dreieckige Form, an der bukkalen Seite die beiden Höcker Pa und Pp und als einzigen lingualen Höcker den Haupthöcker D des Deuteromer. Derartige Molaren trifft man unter den Halbaffen bei Tarsius1) und Microcebus an, unter den wahren Affen sind nur die Arctopitheken im Besitze eines solchen Molaren- typus. Ich verweise dazu auf die Fig. 1, 2, 3 und 4 von Tafel 1. Auf dieser Tafel ist von den meisten Primatengeschlechtern der erste obere Molar der linken Seite skizziert, die bukkale Seite des Zahnes findet sich immer oben, die distale Seite rechts. Die hier zuerst abgebildeten Molaren zeichnen sich alle durch vollständiges Fehlen der Nebenspitze 4 aus, und weiter dadurch, daß vom Höcker D eine Leiste nach je der beiden bukkalen Höckern zieht, Ich habe früher darauf schon aufmerksam gemacht, daß das Auftreten dieser beiden Leisten an die Verdoppelung des protomeren Haupthöckers gebunden ist, Ist dieser Höcker noch einfach, dann zieht eine einzige mehr oder weniger kräftig entwickelte Leiste vom protomeren zum deuteromeren Haupthöcker; bei Verdoppelung des protomeren Haupthöckers scheint es, als würde die Leiste der Länge nach gespalten, und es entsteht die V-förmige Struktur, die man an den in Fig. 1 — 4 abgebildeten Molaren antrifft, Zwischen den beiden Leisten findet sich eine Ver- tiefung, die als die Zentraldepression zu bezeichnen ist und worin die Furche, welche die beiden bukkalen Höcker voneinander trennen kann, einmündet, Wenn nun als Äußerung höherer Differenzierung die Neben- spitze erscheint, dann liegt dieselbe anfänglich als ein Akzessorium 1) Schlosser bemerkt (Die Affen, Leniuren usw., p. 39), daß bei Tarsius die Molaren noch einen schwachen zweiten Innentuberkel tragen. Es scheinen somit mit dem phylogenetischen Entwicklungsgang parallel gehende individuelle Varia- tionen vorzukommen. Für Hapale erwähnt auch Schlosser das Fehlen des zweiten Innentuberkels (1. c. p. 11). Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 73 der lingualen Hälfte des distalen Kronenrandes an. Es ist der so- genannte Talon der Autoren. Unter den Halbaffen kann man das am schönsten wahrnehmen bei Stenops (Tafel I, Fig. 5). Die Hauptmasse der Krone besteht aus den im bekannten Dreieck angeordneten Höcker Pa, Pp und D, es kommen dazu die Nebenspitzchen i, 2 und 3, die uns hier nicht weiter interessieren. Die Nebenspitze 4 dagegen liegt als ein mehr selbständiger Unterteil der Krone außerhalb dieses Drei- ecks, wodurch der Hinterrand eine bedeutende Konkavität erlangt. Es interessiert uns dabei am meisten, daß die Nebenspitze 4 durch eine Furche vom übrigen Kronenteil abgegrenzt ist. Diese Furche ist für die Vergleichung der Affenmolaren von der größten Bedeutung, da sie gerade den Leitfaden bei dieser Vergleichung bildet. Ich werde sie als „hintere Schrägfurche'''' andeuten. Auch die Bezeichnung von Topinard: ,,Sillon postcretal" ist zutreffend, denn sie verläuft hinter der Leiste, die von D nach Pp zieht. Gerade durch diese Leiste, welche die vordere Begrenzung der Furche bildet, erscheint letztere nicht selten sehr tief. Es darf verwundern, daß diese Furche für vergleichend-anato- mische Zwecke bis jetzt so wenig benutzt worden ist. Auch nicht von Schlosser, der doch auch auf den Entwicklungsgrad von 4 ein so großes Gewicht legt. Die hintere Schrägfurche trennt bei Stenops die Spitze 4 vollständig vom übrigen Kronenteil ab, fängt am etwas abgerundeten lingualen Rand des Zahnes an und endet in der Mitte des distalen Randes (Taf. I, Fig. 5). Da die Nebenspitze 4 überdies bei Stenops noch niedriger ist als die drei übrigen Höcker, erscheint sie als ein der Krone fremdes, derselben angewachsenes Element. Gleiches ist noch der Fall bei Nyeticebus (Fig. 6) und Hemi- galago (Fig. 7). Doch ist hier die Krone als ganzes mehr viereckig geworden. Die Schrägfurche ist jedoch noch komplett, Trigon und Talon der Autoren bilden noch zwei wohlgetrennte Komponenten der Krone. Was das Leistensystem betrifft, besteht auch hier noch die V-förmige Gestalt, nur läuft die vordere Leiste nicht direkt zum vorderen bukkalen Höcker Pa, sondern verbindet sich mit der vorderen Nebenspitze 3. Bei Hemigalago treffen wir im Verlaufe der hinteren Leiste eine Bildung an, die bei den jetzt lebenden Primaten selten ist, bei den eoeänen Formen jedoch ungemein häufig war. In der Mitte nämlich besitzt diese Leiste eine höckerförmige Anschwellung, die eine intermediäre Spitze bildet. Dieselbe ist auf keine der Grundspitzen des Zahnes zurückzuführen, sie ist lediglich ein Produkt der hinteren Leiste. Diese intermediäre Spitze fand ich auch als Varietät bei Ateles, Cebus und Mycetes wieder (Fig. 96). Ich muß hier kurz einige Bemerkungen über diese intermediäre Spitze einschalten, da sie nur ausnahmsweise bei den heutigen Pri- maten in rudimentärer Form vorkommend, bei den eoeänen Primaten dagegen ein ziemlich konstantes Merkmal der Molaren bildete. Von Schlosser wird sie als Zwischentuberkel bezeichnet, und Osborn führt sie als Metaconulus an. Es wird jedoch sowohl von Schlosser als von Osborn zu den intermediären Höckerchen eins gerechnet, welches meiner Meinung nach nicht dazu gehört. So schreibt z. B. Schlosser 1. c. S. 21 von den oberen Molaren von Hyopsodus: Im Oberkiefer tragen die Molaren außer den beiden Außenhöckern und dem ursprünglichen Innenhöcker noch einen zweiten Innentuberkel und 74 Erstes Hauptstück. außerdem noch zwei1) Zwischentuberkel im Zentrum und am Vorder- rande des Zahnes gelegen." Und auch bei Osborn heißt es: „The trigon was supplementing its bunodont equipment by the addition of the little intermediate cusps „protoconule" and „metaconule"2)." Es sind die beiden Zwischentuberkel von Schlosser identisch mit jenen von Osborn, der „protoconule" ist jener am Vorderrande, der „meta- conule" jener im Zentrum. Scott3) spricht ebenfalls von zwei „inter- mediate conules, an anterior and posterior" bei den Prämolaren, und schließt sich ganz an Osborn an, wenn er sagt: In position these conules correspond to the proto-and metaconules of the molars, but are obviously not homologous with them" (1. c. S. 413). Nun muß ich mich bezüglich der Dignität beider Spitzen gegen die Deutung der genannten Autoren erklären, denn ihrem Ursprung nach sind sie ein- ander nicht gleichwertig. Das „Zwischenhöckerchen am Vorderrande" von Schlosser, identisch mit dem „Protoconule" von Osborn, ist in Wirklichkeit die primäre vordere Nebenspitze j des Deuteromer, und dasselbe kommt auch bei den heutigen Halbaffen nicht so ganz selten vor. Aber der „Zwischentuberkel im Zentrum" von Schlosser, das ist der Metaconule von Osborn, läßt sich nicht auf eine primäre Spitze oder einen solchen Höcker zurückführen, er hat sich aus dem hinteren Bein des V-förmigen Leistensystems differenziert, er ist somit eine „Leistenbildung", wie wir solche auch an anderer Stelle des Mahl- zahnes bei anderen Af f enges chlechtern antreffen werden. Beide Bil- dungen sind aber nur scheinbar, besonders durch die harmonische Lagerung, welche sie im Reliefbild der Krone öfters einnehmen, gleich- wertig. Mit der vorderen, dem „protoconule" von Osborn werden wir uns an dieser Stelle nicht weiter beschäftigen und uns auf das hintere der „metaconule" beschränken. Ich führe es weiter einfach als i an. Unter den eocänen Primaten scheint es, nach den Abbildungen von Osborn (1. c. S. 159), sich schon bei den so einfach gebauten trigono- donten Zähnen von Anaptomorphus differenziert zu haben. Weiter kommt es unter den amerikanischen eocänen Primaten noch vor bei Pelycodus, Notharctos und bei noch einem Geschlecht, das von Osborn ebenfalls als Notharctos (sp?) angeführt wird, aber mir unrichtig bestimmt zu sein scheint4). Besonders kräftig ist es weiter beim Geschlecht Hyopsodus entwickelt. Nicht weniger ausgebildet erscheint es bei dem europäischen eocänen Geschlecht Microchaerus. In der ausführlichen Beschreibung der Zähne dieser Form, welche wir Schlosser und Leehe verdanken, wird auch von einem Vorkommen zweier Zwischentuberkel gesprochen. „Bei Microchaerus erinaceus, heißt es bei Leehe 1. c, S. 156, haben Mi und M2, zwei Außen- zwei 1) Spatiinierung von mir. 2) C. 0. 1907, S. 82. 3) W. B. Scott, The evolution of the premolar teeth in mammals. Proc. Acad. nat. Sc. Philadelphia 1892. 4) Es kommt die Abbildung der Zähne dieses Geschlechts vor in C. 0. 1907, p. 160 und in Bull. Am. Mus. Nat. Hist. 1902, p. 191. In diesen — identischen - Figuren gibt der Autor die Abbildung der Prämolaren und Molaren von: A Peli- codus frugivorus, B Notharctos nunienus und C Notharctos sp. indet. Nun kann das sub C angeführte Gebiß keinem Notharctos entstammen, denn es zeigt der hintere Prämolar desselben zwei Außenhöcker (Pa und Pp), während dieser Zahn bei Notharctos nur einen einzigen Außenhöcker besitzt. Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 75 Zwischen- und zwei Innenhöcker"1). Auch Schlosser spricht, 1. c. S. 32, von zwei Zwischenhöckern. Ich hebe noch einmal hervor, daß eine solche Andeutung als Charakterisierung des Reliefs vollauf gerecht- fertigt ist, aber daß man dabei nicht aus dem Auge lassen darf, daß der sogenannte vordere Zwischenhöcker eine primäre Spitze darstellt, während der hintere nur eine gewissermaßen auf einen Höcker konzen- trierte Leiste ist. Nach den Angaben von Schlosser, Leehe und Os- born fehlt die intermediäre Spitze bei Adapis, doch ist die hintere von D bis Pp ziehende Leiste noch deutlich entwickelt2), während auch die Spitze 4, sei es ziemlich klein, anwesend ist. In beiden Hin- sichten weicht Megaladapis von Adapis ab. Denn von diesen oberen Molaren sagt Forsyth Major: „The superior molars are of a simple tritubercular type, there being two external and one internal cusp, but from its anterior side a crest extends towards the outer part of the anterior external cusp.3)". Rekapitulieren wir also die oben gegebenen Tatsachen, dann gibt es unter den bisher bekannten eocänen Primaten nur die Geschlechter Adapis und Megaladapis, bei denen das inter- mediäre Höckerchen i fehlt, alle anderen weisen es in bisweilen sehr kräftiger Entwicklung auf. Dadurch unterscheiden sich die ausgestor- benen Halbaffen wohl stark von den rezenten, denn hier bildet es gerade eine Ausnahme, ich traf es bei Hemigalago und Galago in schwacher Andeutung an. Über die Herkunft dieses Höckerchens und über die genetische Beziehung zu den übrigen, äußern die Autoren sich nicht. Schlosser vermeldet einfach ihr Auftreten „bei manchen Prosimiern4"). Nur Osborn spricht als seine Meinung aus, daß „the additional secundary cusps (protoconule [Spitze 3 mihi] and metaconule [Spitze i mihi] evidently have no homology with each other5"). Dieser Meinung schließe ich mich an, aber auf Grund davon, daß eines dieser Höckerchen nicht, wie Osborn es auffaßt, ein sekundäres ist, sondern ein primäres. Nur das andere (metaconule) ist als eine wirkliche Sekundärbildung zu betrachten. In der weiteren Entwicklung des Primatenstammes hat dieses intermediäre Höckerchen keine Rolle mehr gespielt, entweder stammen die heutigen Primaten von solchen Formen ab, bei denen es nicht vorkam, oder es hat sich im Laufe der Zeit wieder ausgeglichen und die von D bis Pp ziehende Leiste ist wieder zu seiner primitiven Gestalt zurückgekehrt. Der Umstand, daß ich es als Variation auch bei Mycetes, Cebus und Ateles noch angetroffen habe (s. Tafel I, Fig. 96), kann in zweierlei Weise gedeutet werden, entweder als Atavismus oder als Äußerung eines der Zahnentwicklung allgemein innewohnenden Vermögens, die hintere Leiste zu einem Tuberkel zu konzentrieren6). In anderen Säugetierordnungen (z. B. Ungulaten) spielt jedoch dieses intermediäre Höckerchen, wie auch die bei den Primatenzähnen eine 1) W. Leche, Untersuchungen über das Zahnsystem lebender und fossiler Halbaffen. Festschr. f. Gegenbaur, III. 2) Vgl. C. 0. 1907, S. 158, Fig. 128. 3) Forsyth Mayor, On Megaladopis madagascarensis. Trans. Roy. Soc, London 1894, Vol. CV. 4) M. Schlosser, Die Differenzierung des Säugetiergebisses. Biol. Centralbl. 1890, Bd. IV. 5) 1. c. S. 41. ß) Bei der Besprechung der oberen Gebißreihe der Platyrrhinen werde ich noch einmal auf das intermediäre Höckerchen zurückkommen. 76 Erstes Hauptstück. unbedeutende Stelle einnehmende vordere Nebenspitze des Deutero- mer j, eine große Rolle. Doch gehe ich auf diese Frage nicht ein. Kehren wir nach diesem Exkurs wieder zum Studium des Leistensystems der Primatenmolaren zurück. Unter den wahren Affen, wenn wir die Arktopitheken weiter außer acht lassen, weisen die Molaren von Chrysothrix noch die meist primi- tive Gestalt auf. Denn auch bei diesen platyrrhinen Affen trifft man zunächst das Hauptmerkmal an; eine vollständige hintere Schrägfurche, wodurch die Spitze 4 noch immer von dem auf dem Trigon sich findenden Leistensystem abgetrennt bleibt, während sie weiter, infolge ihrer ge- ringen Größe, noch mehr als ein Akzessorium zur Krone erscheint. Das Leistensystem ist noch V-förmig, das vordere Bein nimmt den Vorderrand der Krone ein. Ein weiterer Fortschritt findet sich bei Ateles (Fig. 9a). Die Nebenspitze 4 ist hier nämlich von ungefähr gleicher Größe geworden wie die drei übrigen Höcker und demzufolge ist die Form der Molaren eine viereckige geworden. Als primitives Merkmal findet man aber an diesem Zahn noch in den meisten Fällen eine fast vollständige hintere Schrägfurche, wodurch die Spitze 4 von einer Beziehung zum Leisten- system auf dem Trigon abgetrennt bleibt1). Es ist allerdings das vordere Bein desselben sehr schwach, läuft im Vorderrand des Zahnes aus, wodurch dessen zentrale Depression bis zum Vorderrand reicht und hier nur einen schwach angedeuteten Abschluß findet. Die zentrale Depression erscheint dadurch im ganzen mehr auf den vorderen Teil des Zahnes verlegt, ein Merkmal, das allen anderen Platyrrhinen eben- falls eigen ist. Wenn bei Ateles die intermediäre Spitze entwickelt ist, welche ich oben bei Hemigalago beschrieb, dann ist, wie aus Fig. 96 ersichtlich, die hintere Schrägfurche in der Mitte unterbrochen. Da solches aber kein normales Vorkommen ist, kann dieser Zustand weiter außeracht gelassen werden. Vom Geschlecht Callithrix besitze ich keinen Schädel, was ich bedaure, da Schlosser von den oberen Molaren dieses Geschlechtes schreibt, daß „auch noch die Zwischenhöcker vorhanden sind" (1. c. S. 12). Findet sich dann auch hier als Norm, was ich bei Ateles als individuelle Variation auffand? Der Molar von Ateles zeigt, wie gesagt, als progressive Erscheinung die Volum- zunahme von 4, was schon ein wesentlicher Schritt auf dem Wege der Assimilierung dieses Höckers an den drei übrigen bedeutet. Dazu kommt noch die Tatsache, daß die hintere Schrägfurche zwar der Höcker 4 von den übrigen trennt, aber die Furche erreicht den distalen Rand des Zahnes nicht mehr, sie endet in kurzer Entfernung von ihm. Die Abgrenzung des hinteren lingualen Tuberkels vom übrigen Teil der Krone ist somit nicht mehr eine absolut vollständige. Jedoch eine Beziehung zum Leistensystem ist noch nicht zustande gekommen. Wenn ich nun die Progression in der Entwicklung der Krone systematisch verfolge, dann ist jetzt die Gruppe der Anthropoiden, Gibbon und der Mensch an der Reihe. Die bezüglichen Molaren sind in den Fig. 10 — 14 auf Tafel I abgebildet. Das Kennzeichnende in der Struktur dieser Zähne ist folgendes : Die Spitze 4 ist nahezu von gleicher Größe als die drei übrigen, eine Beziehung zum primitiven Leisten- 1) Ich mache bei diesen Auseinandersetzungen von dem Begriff „Trigon" nur der Bequemlichkeit der Beschreibung wegen Gebrauch. Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 77 system hat sie jedoch noch nicht erlangt, denn durch die hintere Schräg- furche wird sie vollständig vom hinteren Bein des Leistensystems abgeschlossen. Das ist ein Merkmal der Molaren der höchsten Pri- matengruppe, das bestimmt als ein primitives betrachtet werden muß. Nun ist bei den verschiedenen Geschlechtern dieser Gruppe die Aus- bildung dieser Furche eine etwas differente. Als Regel darf gelten, daß die Furche tiefer und vollständiger ist, je mächtiger das hintere Bein des Leistensystems — die Crista obliqua der Autoren - - ist. Doch schneidet die Furche bei normal gebauten Zähnen nicht mehr im distalen Rand des Zahnes ein, sondern endet in geringer Entfernung von diesem, nicht selten unter Bildung eines kurzen transversalen Furchenstückes. Beim Menschen — und besonders an seinem zweiten Molaren — kann im Anschluß an die sehr variable Entwicklung des Höckers 4 die Schrägfurche wieder vollständig werden, und bekannt- lich kann bei diesem Molaren der linguale hintere Höcker vollständig fehlen. Es ist schon von vielen Autoren darauf hingewiesen, daß so etwas jedoch nur beim Menschen vorkommt. Die Tafelfig. 10 — 14 geben einen Eindruck von dem Entwicklungsgrad der Schrägfurche. Am stärksten fand ich sie beim Gorilla, wo sie meistenteils mit dem kurzen transversalen Endstück abschließt. Dann folgt Siamang, von dem ich unten eine höchst interessante Variation beschreiben werde. Beim Schimpansen ist die Furche weniger tief, zieht sich vom Hinterrande des Zahnes weiter zurück, wodurch der Höcker 4 schon mehr dem übrigen Kronenteil dem hinteren Zahnrande entlang inkorporiert wird. Am schwächsten schließlich ist die Furche beim Orang entwickelt. Aber es muß ausdrücklich betont werden, daß diese Regression der Furche beim Orang, zum Teil auch beim Schimpansen, nicht die Folge ist einer Verbindung, welche die Spitze 4 mit dem Leistensystem be- kommt, sondern lediglich eine Begleiterscheinung ist der geringeren Reliefentwicklung des Orangmolaren überhaupt. Bekanntlich wird hier die weniger kräftige Höckerentwicklung durch die reichhaltigen Faltungen der Emaillbekleidung kompensiert. Was den Menschen anbelangt, besitzt dieser am ersten Molaren wohl immer eine gut aus- gebildete Schrägfurche, die im Verhältnis zur Größe des Zahnes nicht weniger tief ist als jene beim Gorilla oderSiamang. Fast aus- nahmslos schließt sie mit einem transversalen Endstück ab in kurzer Entfernung des Hinterrandes. Das Leistensystem zeigt bei der genannten Primatengruppe große Übereinstimmung. In seiner Beschreibung vom Gebiß des Menschen und der Anthropoiden beschreibt Adloff1) das Leisten- system nur beim Schimpansen (1. c. S. 681) und beim Gorilla (S. 78). Es fehlt auch bei Orang und Siamang nicht. Als allen gemeinsames und die Entwicklungsstufe dieser Molaren kennzeichnendes Merkmal muß die Tatsache gelten, daß der Höcker 4 noch nicht ins Leistensystem ein- bezogen ist. Die vordere Leiste ist aber immer weniger kräftig entwickelt, fehlt sogar beim Menschen meistens und erscheint nicht selten in zwei Stücke aufgelöst; das linguale zieht vom Höcker D zum Vorder- rand, das zweite geht vom Höcker Pa aus, zieht dem Vorderrand parallel und begrenzt die Fovea anterior des Zahnes. 1) P. Adloff, Das Gebiß des Menschen und der Anthropornorphen. Berlin 1908. 78 Erstes Hauptstück. Eine höhere Entwicklungsstufe der Kronenstruktur wird erreicht, wenn der Höcker 4 Verbindung mit dem Leistensystem erlangt, wodurch eine typische Umbildung desselben eingeleitet wird. Offenbar ist diese Progression mehrere Male im Laufe der Entwicklung zustande ge- kommen, denn sie findet sich bei Halbaffen und Platyrrhinen und muß auch einmal bei den Katarrhinen stattgefunden haben. Die Weise, in der die Verbindung in je dieser Gruppen zustande kommt, dringt zur Annahme einer mehrfach selbständigen Entwicklung, wie aus dem folgenden hervorgehen wird. Unter den Halbaffen trifft man diese höhere Form der Molaren- struktur bei den Geschlechtern Avahis (Fig. 15), Propithecus (Fig. 16) und Indris (Fig. 17), welche in der genannten Reihefolgen den Diffe- renzierungsgang zur Schau bringen, an. Bei Avahis ist die Schrägfurche nicht mehr komplett, ihr Anfang findet sich noch an der lingualen Seite des Zahnes, aber auf der Kaufläche fehlt sie. Es hat nämlich die Spitze 4, welche, wie die Spitze D, mondsichelförmig geworden ist, mit seinem vorderen Ende sich verbunden mit der hinteren Leiste, die von der Spitze D ausgeht, Dadurch ist die hintere Schrägfurche unterbrochen, und erscheint auf die linguale Fläche des Zahnes zu- rückgedrängt. Durch diese Verbindung ist die Spitze 4 den übrigen drei schon mehr gleichwertig geworden, nur eine geringere Größe verrät noch ihren ursprünglich untergeordneten Rang. Bei Propithecus und Indris geht jedoch auch dieses Merkmal verloren, und es wird die Äquivalenz noch mehr erreicht durch das Verschwinden der hinteren Leiste, welche bei Indris am vollständigsten ist. Aber die Verbindung, welche bei Avahis durch Vermittlung jener Leiste zwischen den Höckern!) und 4 zustande gekommen war, bleibt bestehen, und bei Indris haben die beiden jetzt gleichgroßen Höcker die Form von Halbmonden, welche mit ihren zugespitzten Enden ineinander übergehen. Beim letzt- genannten Halbaffen hat somit das Kronenrelief ein einheitliches Gepräge bekommen, die Spitze 4 hat ganz ihren Charakter von Akzessorium verloren, die hintere Schrägfurche ist als solche nicht mehr zu er- kennen, nur an der lingualen Fläche des Zahnes findet sich ein letztes Rudiment derselben. Wir haben es bei Indris mit einer Zahnform zu tun, die einige Verwandtschaft zu den selenodonten zeigt. Denn auch vom ursprünglichen Leistensystem ist noch kaum eine geringe Andeutung übrig. In seiner sehr genauen Beschreibung vom Gebiß einiger Halbaffen, welche, wohl des wTenig charakteristischen Titels wegen, in der Literatur fast gar keine Berücksichtigung gefunden hat, sagt Huxley von den Molaren von Indris: Each pair of cusps is united by a transverse ridge, and there is no oblique ridge"1). Der Autor, der in diesem Aufsatz auch dem Leistensystem der Molaren seine Auf- merksamkeit widmet, hat offenbar von Indris ein Exemplar mit mehr weniger abgekauten Zähnen benützt. Denn von den zwei transversalen Leisten ist am mir vorliegenden Schädel, an dem das Dauergebiß noch inkomplett ist (Caninus und dritter Molar stehen im Begriff durch- zubrechen), nichts zu sehen. Bemerkenswert ist, daß auch Huxley auf das Fehlen der hinteren schrägen Leiste bei Indris hinweist. 1) T. H. Huxley, On the Arctocebus calabarensis. Proc. Zool. Soc, p. 314. London 1864. Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 79 Einen von dem bei den Indrisinae etwas divergenten Entwicklungs- gang weisen die Platyrrhinen auf, wie aus den Fig. 1 (18) (Mycetes), 19 (Nyctipithecus) und 20 (Cebus) auf Tafel I und Pithecia (Tafel I, Fig. 2) ersichtlich. Das Hauptgewicht liegt auch hier wieder auf dem Verhalten der hinteren Schrägfurche und der Spitze 4 zum Leistensystem. Bei Mycetes durchquert das vordere Ende von 4 die Schrägfurche und ver- bindet sich mit der von D nach Pp verlaufenden Leiste. Auf die hintere Hälfte des Zahnes trifft man bei diesem Affen (man vgl. auch Tafel I, Fig. 5 und 6) nicht selten das abgetrennte Stück der Schrägfurche noch an. Ich vermißte dasselbe bei Nyctipithecus. Es stand mir aber von diesem Geschlecht nur ein einziger, für diese Untersuchung brauch- barer Schädel zur Verfügung. Wie bei Mycetes können auch bei diesem Geschlecht individuelle Variationen bestehen. Auffallend ist es jedoch, daß die hintere Leiste bei Nyctipithecus sehr deutlich die Neigung hat, sich hinterwärts zu verschieben. Während sie bei Mycetes noch deut- lich vom Höcker D ausgeht und schräg nach hinten und bukkalwärts zum Höcker Pp zieht, scheint sie bei Nyctipithecus von letzterem aus- zugehen, verläuft mehr transversal, und spaltet sich am lingualen Ende gabelförmig, ein Ast verbindet sich mit D, der zweite mit 4. Diese Struktur bildet die Vorstufe zu jener, welche man beim Geschlecht Cebus und Pithecia antrifft. Hier ist die Äquivalenz der Spitze 4, welche bei Mycetes und Nyctipithecus angebahnt wurde, eine voll- kommene geworden, aber in anderer Weise als bei Indris. Denn es bleibt die hintere Leiste bestehen, löst jedoch ihre Verbindung mit dem Höcker D vollständig, und bringt jene mit 4 dagegen zur höheren Ausbildung, so daß sie in rein transversalem Verlauf von Pp zu 4 zieht. Das haben die Geschlechter Cebus und Pithecia gemeinsam. Des weiteren sind jedoch die Molaren beider Geschlechter auffallend verschieden. Bei Cebus ist die hintere Schrägfurche jetzt als solche von der Kaufläche ganz verschwunden, der Abschnitt der sich auf der lingualen Fläche fand, hat eine transversale Richtung angenommen, und strebt der Furche zu, welche von der bukkalen Seite in die zentrale Depression ausmündet. Mit der abgeänderten Beziehung der hinteren Leiste zu den Kronenhügeln hat der Molar von Cebus ein ganz anderes Gepräge bekommen als jener von Mycetes oder Ateles. So lange die hintere Leiste, von D bis Pp ziehend, einen schrägen Verlauf hat, behält der Molar noch immer etwas in seinem Äußeren von der ursprünglichen Drei- eckform der Mahlzähne, und haftet der Spitze 4 noch immer etwas an von ihrer ursprünglichen Bedeutung als Nebenspitze. Sobald jedoch die Leiste ihr linguales Ende von D auf 4 verlegt hat, ist sozusagen das Endziel des Differenzierungsganges der Mahlzähne bei den Primaten erreicht, und 4 ist als ein den anderen Höckern gleichwertiges Element in der Struktur des Kronenreliefs aufgenommen. Alle Spuren seiner primitiven Natur sind verwischt. Am meisten spezialisiert sind wohl die Molaren von Pithecia. Da von diesem Geschlecht gute Abbildungen in der Literatur, soweit ich sehe, nicht vorliegen, gebe ich auf Tafel 1. Fig. 2, 3 und 4 drei Figuren derselben in vergrößertem Maßstabe. Sie sind nach einem Schädel von Pithecia nocturna angefertigt, der sich im Zahnwechsel befand. In Fig. 2 sind die Oberkieferzähne in dreifacher Vergrößerung gezeichnet, in Fig. 3 jene des Unterkiefers und in Fig. 4 der erste untere Molar bei sechsfacher Vergrößerung. Sowohl im Ober- als im Unterkiefer waren die Milchmolaren noch nicht gewechselt, die beiden 80 Erstes Hauptstück. vordersten permanenten Molaren sind oben und unten schon da, die oberen Incisivi sind gewechselt, der untere mediale ebenfalls, der laterale steht im Begriff durchzubrechen. Für die Kenntnis der Kronenstruktur also ein sehr wertvolles Objekt. Die bekannten Runzelungen des Emails, welche diesen Zähnen Ähnlichkeit mit jenen des Orang verleiht, sind besonders an den permanenten Molaren sehr schön zu sehen. Doch ist die Übereinstimmung auf dieses Merkmal beschränkt, denn das übrige Relief ist bei Pithecia und Orang grundverschieden. Die Hügel sind an den Zähnen des amerikanischen Affen äußerst schwach entwickelt. Die Kaufläche wird gleichsam durch einen erhabenen bukkalen und lingualen Rand abgegrenzt. Die hintere Schrägfurche fehlt vollständig, dagegen ist wie bei Cebus die hintere transversale Leiste deutlich zu erkennen. Sie war wohl auch am dritten Milchmolaren da, aber ist hier, ebenso wie die Emailrunzelungen abgekaut. — Von den Geschlechtern Callithrix und Lagothrix besitze ich keinen Schädel. In fast noch vollkommenerer Weise als bei dem Geschlecht Cebus unter den Platyrrhinen ist die Assimilierung von 4 bei der Familie der Cercopithecidae zustande gekommen, wie aus den Fig. 21 (Semno- pithecus und Colobus), 22 (Cercopithecus) und 23 (Cynocephalus, Inuus, Macacus) auf Tafel I zu ersehen ist. Alle diese Molaren stimmen darin überein, daß die Krone in vier gleichförmig gebaute Quadranten zer- legt werden kann; die vier Höcker Pa, Pp, D und 4 nehmen ungefähr die Mitte eines jeden Quadranten ein. Bei Semnopithecus und Colobus sind überdies zwei Leisten anwesend, welche die beiden vorderen respektive die beiden hinteren Höcker miteinander verbinden. Zwischen beiden Leisten bildet sich ein Tal aus, an dessen Boden eine von der bukkalen und lingualen Seite kommende Furche ausläuft. Bei Cerco- pithecus ist diese Furche stärker ausgeprägt, die vordere und hintere Querleiste sind in der Mitte vertieft und verschmälert, die Verbindung der Höcker wird dadurch weniger evident, und bei den Cynocephaliden ist dieser Prozeß noch weiter fortgeschritten, denn es ist zur Entstehung einer kreuzförmigen Furche gekommen, welche die Felder der vier fast immer gleichgroßen Höcker scharf voneinander trennt. Die Molaren aller katarrhinen Primatengeschlechter mit Ausnahme der Anthropoiden und der Hominiden haben somit das Endziel des Entwicklungsganges: vollständige Äquivalierung der Spitze 4 an den drei übrigen und Verlust jeder Andeutung des ursprünglichen Charakters von 4 als Nebenspitze erreicht. Sie sind gleichsam als Endformen zu betrachten. Nun erhebt sich die Frage, in welcher Beziehung das symmetrische Leistensystem von Semnopithecus zu dem V-förmigen der primitiver gestalteten Zähne steht. Daß die Leiste, welche von D nach Pa verläuft, also die vordere, homolog ist der gleichverlaufenden bei den mehr primitiven Zahnformen, ist wohl nicht zu bezweifeln. Aber die hintere Leiste, welche die Spitze 4 mit Pp verbindet? Wir stehen hier vor einer Frage, welche für eine Einsicht in die verwandtschaftlichen Be- ziehungen der Primatengeschlechter sehr bedeutungsvoll ist, denn das Vorkommen des Leistenkomplexes auf den Molaren zeigt einen unverkennbaren Entwicklungsgang: die schon mehrfach betonte Ten- denz der Assimilation von 4. Je weiter dieser Vorgang fortgeschritten ist, desto höhere Stufe nimmt das Gebiß ein. Aus diesem Grunde sind Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 81 die Zähne der Anthropoiden und des Menschen gewiß primitiver als jene aller anderen katarrhinen Primaten. Nun findet man unter den rezenten Geschlechtern dieser Primaten- gruppe keine Form, welche eine Zwischenstufe zwischen den Anthro- poiden und der Familie der Cercopithecidae einnimmt. Kein einziges Geschlecht gibt durch sein normales Kronenrelief eine Auskunft über die Entstehungs weise von der hinteren Querleiste der Semnopitheciden. Es konnte somit möglich sein, daß diese hintere Querleiste zwischen Pp und 4 abzuleiten ist von der primitiven hinteren Schrägleiste zwischen Pp und D, wie das bei den Platyrrhinen (Cebus) zweifelsohne der Fall ist, Eine zweite Möglichkeit ist diese, die hintere Querleiste sei eine Neubildung, welche ganz unabhängig von der hinteren Schräg- leiste, wTelche reduziert worden ist, sich entwickelt hat. Nun ist letzteres in der Tat der Fall. Ich basiere die Aussage auf interessante Varia- tionen, welche bei den ersten Molaren von Siamang zu Beobachtung kamen und weiter auf die Kronenstruktur von Dryopithecus, welche wir aus der genauen Beschreibung von Branco kennen. Die bezüglichen Variationen sind in Fig. 26 abgebildet. In Fig. a ist das normal vorkommende Kronenrelief von Siamang wiedergegeben. Der Höcker D steht durch eine vordere Leiste mit Pa, und durch die Fig. 26. Siamanga syndaetylus. Drei erste Molaren mit verschiedenem Kronen- relief, a Normal, b Zwischenstufe, c Semnopithecus-Typus. hintere Schrägleiste mit Pp in Verbindung. Die Schrägfurche trennt die Spitze 4 fast vollständig vom übrigen Teil der Krone. Einige Male traf ich aber den in Fig. 26 b wiedergegebenen Zustand. Die hintere Schrägleiste ist noch entwickelt, in ihrer Mitte aber erniedrigt. Dagegen geht von dem Höcker Pp eine kurze Leiste aus in der Richtung des Höckers 4, welcher ebenfalls eine Leiste aussendet in der Richtung von Pp. Aber es ist noch nicht zu einer Zusammenfließung beider Leist- chen oder Kämmchen gekommen. Nur ist in ihrer Verbindungslinie die hintere Schrägfurche unterbrochen. Das hintere, bukkale Ende ist zu einer selbständigen, dem Hinterrand des Zahnes dicht genäherten. überwiegend transversal verlaufenden Furche geworden. Unter 40 gut erhaltenen ersten oberen Molaren kam diese Variation achtmal vor, und weiter zweimal ein Zahn mit dem in Fig. 26c skizzierten Relief. Die beiden von Pp und 4 ausgehenden Leistchen haben sich miteinander verbunden und setzen eine hintere Querleiste zusammen, ganz wie wir sie bei den Semnopitheciden kennen gelernt haben; die ursprüngliche hintere Schrägleiste dagegen ist fast ganz verschwunden. Die hintere Schrägfurche ist noch in einer kurzen transversalen Furche vor dein Hinterrande zu erkennen, und das linguale Stück derselben ist aus seiner ursprünglichen Bahn in eine mehr transversale abgelenkt worden, um sich ungefähr im Zentrum der Krone mit der von der bukkalen Bolk, Die Morphogenie der Primatenzähne. . 6 82 Erstes Hauptstück. Seite herkommenden, die Hocker Pa und Pfi trennenden Furche zu verbinden. In diesen Fällen hat der Molar von Siamanga die typischen Merkmale eines Semnopithecuszahnes angenommen, und wenn isoliert aufgefunden, würde er gewiß nicht als ein Gibbonzahn diagnosti- ziert werden, aber zweifelsohne einem Vertreter des Geschlechtes Semnopithecus zugewiesen. Sehr bemerkenswert ist weiter die folgende Beobachtung. Einer der beiden Schädel, an dem die letztbeschriebene Variation aufgefunden wurde, stammte von einem jungen Tier, das noch im Besitze seines Milchgebisses war. Und nun stellte es sich heraus, daß der zweite Milchmolar ebensoweit in der Richtung des Semnopithecusmolaren fortgeschritten war, als der erste Dauermolar. Solche Tatsachen weisen wohl darauf hin, daß die Persistenz primitiver Merkmale im Milchgebiß doch nicht so stark ist als es in der Literatur öfters vorgestellt wird. Wir haben es hier mit einer bestimmt gerichteten Variation von unzweifelhaft progressiver Natur zu tun, und sie äußert sich gleichzeitig im Milch- und Dauergebiß. Das ist wohl als ein Beweis zu betrachten, daß die Verschiedenheiten zwischen Milch- und Dauer- molaren, wenn sie vorkommen, nicht im Sinne von Progression oder Konservatismus ursprünglicher Zustände zu deuten sind. Die Beispiele, welche dafür angeführt werden (Cheiromys u. a.) müssen meines Er- achtens von einem anderen Gesichtspunkt aus be- trachtet werden. Ich werde wohl noch Gelegenheit haben, einmal auf diesen Punkt zurückzukommen. Die Variationen von Siamang werfen Licht auf die Beziehung der hinteren Querleiste der Cerco- pithecidae zu der hinteren Schrägleiste der Anthro- poiden. Bei den Platyrrhinen (Cebus) ist die die Fi". 27. Dryo- Höcker Pp und 4 verbindende Leiste keine Neu- pithecus. Ober- bildung, es ist die hintere Schrägleiste, welche seine kiefermolar. linguale Endstätte von D auf 4 verlegt hat. Aber (Nach Branco.) j3ej ^en Katarrhinen ist die scheinbar identische Leiste eine Neubildung, die entstanden ist unter gleichzeitigem Verlust der primitiven hinteren Schrägieiste. In dieser einfachen Relief- erscheinung haben wir es somit wieder mit einem prägnanten Beispiel von Konvergenz zu tun. Die Variationen bei Siamang weisen uns somit den Entwicklungsweg, welchen die Molaren der Semnopitheciden zurückgelegt haben. Sehr interessant sind nun in Verbindung mit dem Obenstehenden die Abbildungen und die Beschreibung, welche Branco1) von den Ober- kiefermolaren von Dryopithecus gibt (1. c. S. 35, Tafel I, Fig. 1 und 2). Ich gebe in Fig. 27 eine vereinfachte Reproduktion der Branco sehen Fig. 1. Denn an diesen Zähnen kommt sowohl die hintere schräge Leiste als die hintere Querleiste vor. Durch die Anwesenheit der letzteren fehlt die hintere Schrägfurche. Besonders an einem nicht abgeschliffenen Exemplar (Branco, 1. c. Tafel I, Fig. 1) sind beide Kämme deutlich ent- wickelt, doch auch am zweiten etwas abgekanteten, sind sie in der von Branco gegebenen Abbildung beide noch zu erkennen. Und auf S. 36 erwähnt der Autor dann auch „den schrägen Kamm, welcher von dem hinteren Außen- zum vorderen Innenhöcker verläuft, und den Quer- 1) W. Branco, Die menschenähnlichen Zähne aus dem Bohnerz der Schwä- bischen Alb. Stuttgart 1896. Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 83 kämm, welcher vom hinteren Außen- zum hinteren Innenhöcker hin- übergeht". Der Autor beschreibt somit ausdrücklich die beiden Leisten. Die Koinzidenz beider Kämme auf die Molaren von Dryopithecus stellt ein für diesen Genus so spezielles Merkmal dar, daß ich mich der Aussage Schlossers: es stellen die Dryopithecuszähne die menschen- ähnlichsten unter allen Affenzähnen dar (1. c. S. 9) nicht völlig an- schließen kann. Nach der Beschreibung, welche Dubois1) von den Zähnen vom Palaeopithecus sivalensis gibt, sollten sich dessen Molaren doch näher jenen des Menschen anschließen. Es darf somit wohl als festgestellt betrachtet werden, daß der hintere Querkamm bei den Cercopithecidae nicht wie bei den Cebidae vom primitiven hinteren Schrägkamme abgeleitet werden darf, sondern als eine Neubildung zu betrachten ist. Diese Tatsache scheint mir für die Frage der verwandtschaftlichen Beziehungen beider Primatengruppen äußerst wichtig. In dem Obenstehenden ist die morphologische Entwicklung der Primatenmolaren systematisch verfolgt worden. Ich hoffe, es ist mir gelungen, die Überzeugung zu festigen, daß an dem Entwicklungs- gang der Molaren ein leicht zu erkennendes Prinzip zur Basis liegt, nämlich die Umwandlung der ursprünglichen dreieckigen Form in eine mehr regelmäßig viereckige. Diese Ansicht ist nicht neu, sie bildet auch den Kernpunkt der Cope-Os bornsehen Theorie. Aber in der Weise, in der sich unsere weiteren Ansichten um diesen Punkt gruppieren, besteht kein Anknüpfungspunkt zwischen den amerikanischen For- schern und mir, weil unsere Auffassungen über die Entstehungs weise der primitiven dreieckigen Zahnform grundverschieden sind. Während meiner Ansicht nach die höhere Ausbildung der Molaren die unmittel- bare Fortsetzung des Vorganges ist, welche die dreieckige Zahn- form schuf, ist bei der Cope-Osbornschen Theorie der Entwicklungs- prozeß in zwei Fragmente zerlegt. In jeder derselben herrschen ver- schiedene Entwicklungsprinzipien vor. Was die höhere Entwicklung der oberen Molaren der Primaten anbelangt, kommt in derselben unbedingt dem Höcker 4 die Haupt- bedeutung zu. Dieser Höcker, seiner Natur nach einst eine Nebenspitze von untergeordnetem Wert, erhebt sich allmählich zu einer den drei Grundhöckern der Molaren gleichwertigen Bildung. Und in diesem Emporstreben sind deutlich zwei Phasen zu unterscheiden. Während der ersten wächst der 4-Höcker bis zur Größe der Haupthöcker aus, bleibt jedoch noch immer durch eine Furche vom übrigen Teil der Krone getrennt und verrät dadurch noch seine untergeordnete Stelle. In der zweiten Phase verschwindet diese Trennungsfurche und es bekommt der 4-Höcker Beziehung zum Leistensystem. Und einmal in dieses System einbezogen, liegt der Weg zur vollständigen Äqui- valierung des ^-Höckers an den drei Grundhöckern des Molaren offen. Ich mache absichtlich noch einmal auf diese Hauptlinie in dem Entwicklungsgang der Primatenmolaren aufmerksam. Denn jener Zahn muß als am meisten progressiv betrachtet werden, der dem End- ziel dieses Entwicklungsganges am nächsten kommt. Und wenn wir an diesem Maßstabe das Gebiß der Anthropoiden und des Menschen 1) E. Dubois, Über drei ausgestorbene Menschenaffen. Neues Jahrbuch für Mineralogie, Geologie und Paläontologie 1897, Bd. I, S. 86. 6* 84 Erstes Hauptstück. prüfen, dann erscheint die Konsequenz unabweisbar, daß von allen katarrhinen Primaten das Gebiß gerade dieser Primatengruppe am meisten primitiv sich erhalten hat. Von einer Entstehung des Anthro- poiden- und Hominidengebisses aus einer Form, welche jener der jetzt lebenden Cercopithecidae entspricht, kann daher meiner Meinung nach keine Rede sein. Ich kann mir den Annäherungspunkt dieser beiden Linien der altweltlichen Affen nicht anders denken, als am spätesten an der Basis der katarrhinen Primatengruppen überhaupt. Vielleicht liegt es jedoch noch weiter hinterwärts und fällt in den Lemuridenkreis. Jedenfalls ist, was das Gebiß betrifft, Progression der Molarenform nicht das Merkmal des Gebisses von Anthropoiden und Hominiden gewesen. Ich werde jedoch an dieser Stelle auf die systematische Anreihung der uns bekannten ausgestorbenen und der jetzt lebenden Primat n nicht weiter eingehen. Schon die Tatsache, daß ich bis jetzt nur über die oberen Mo aren handelte, genügt, um mich davon abzuhalten. Es ist in der oben gegebenen Darstellung der Entwicklung von den oberen Molaren mehr als es bis jetzt in der Literatur üblich war, das Leistensystem der Krone gewürdigt worden. Es war deshalb eben für mich ein Führer, der mich den dargestellten Entwicklungsweg zu tracieren half und wodurch die Stellung des hinteren Innenhöckers (des ^-Höckers) meiner Meinung nach im rechten Licht erschien. Ich kann mich dann auch nicht der Auffassung jener Autoren anschließen, welche sich vorstellen, als sollte dieser Höcker bei den höheren Primaten ein reduziertes Element in der Kronenstruktur darstellen. Der Molar der Anthropoiden und Hominiden ist ein primitives Gebilde. Nichts weist uns darauf hin, daß es einmal die höhere Entwicklungsstufe ein- genommen hat, welche die Molaren der Cercopithecidae einnehmen. Ich kann mich dann auch nicht der Ansicht Gaudrys anschließen, wenn er sagt1): ,,Sur les quatre denticules dont se compose une arriere- molaire superieure, il y en a im qui s'est successivement attenue: le second denticule interne. Tres grand chez l'Oreopithecus devient moindre chez le Dryopithecus et l'Orang-outan; il est saillant mais rapetisse chez le Gorille et le Gibbon; et diminue encore chez le Chim- panze, im peu plus chez 1' Australien, et comme l'a annonce le premier le professeur Cope, c'est chez rhomme blanc qu'il est le plus reduit." Die verschiedenen Entwicklungsgrade des ^-Höckers bei den Anthro- poiden dürfen wir nicht zu einem Stückchen Entwicklungsgeschichte derart anreihen, daß hieraus eine Reduktion des hinteren inneren Höckers in systematischer Weise folgen würde. Es sind nur die bei den verschiedenen Gattungen auftretenden Varianten auf dem Grundtypus, Äußerungen des spezifischen Charakters des Gebisses als Ganzes. Nur darin möchte ich Gaudry beistimmen, daß beim Menschen der ^-Höcker Neigung besitzt, wenigstens im zweiten und dritten Molaren wieder ausgeschaltet zu werden. Doch glaube ich, daß man es hier mit einer Erscheinung zu tun hat, welche nicht als die Fortsetzung eines schon bei den Anthropoiden wirksamen Vorganges zu deuten ist, s ondern mit einer, welche bei unserem Geschlecht ihren Anfang genommen hat. Näheres darüber werde ich in der folgenden Studie bringen. 1) A. Gaudry, Sur la similitude des dents de rhomme et de quelques ani- maux. L' Anthropologie 1901, T. XII, p. 514. Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 85 Ehe wir jetzt zum Studium der unteren Zähne übergehen, er- übrigt es sich, noch die Bedeutung einer Erscheinung an den oberen Molaren zu untersuchen, von der wir bis jetzt geschwiegen haben, näm- lich des Carabellischen Höckerchens. D. Das Carabel tische Höckerchen. Wir können die Besprechung der oberen Molaren nicht abschließen, ohne auf das Vorkommen und die Bedeutung jener Bildung einge- gangen zu sein, die zuerst an den oberen Molaren des Menschen von Carabelli beschrieben worden ist1) und allgemein unter dem Namen dieses Autors bekannt ist. Diese Bezeichnungsweise verdient den Vorzug vor jener, die vom Autor selbst davon gegeben ist: „anomales Höckerchen", denn einstweilen gibt es gelegentlich der anomalen Spitzen und Höcker an den oberen Molaren mehrere, und weiter ist die Bildung, sei es in verschiedenem Entwicklungsgrad, beim Menschen so häufig, daß sie kaum als etwas Abnormales zu betrachten ist. Über die Häufigkeit des Auftretens und die verschiedenen Modifikationen, worin es erscheint, worüber uns Batujeff2) schon ausführlich unter- richtet hat, werde ich in der folgenden Studie näheres auf Grund von eigenen Beobachtungen mitteilen. Nur sei hier kurz mitgeteilt, daß ich in dem strittigen Punkt, ob das Höckerchen je das Niveau der Kau- fläche erreicht, mich Batujeff und Zuckerkandl3) anschließe, die eine solche starke Ausbildung verneinen. Anderer Meinung ist Ad- loff4). Es kommt bei Entscheidung dieser Frage natürlich zunächst darauf an, daß man vollständig intakte Kauflächen in genügender Zahl zu untersuchen Gelegenheit hat. Ich habe das an Tausenden von Molaren tun können und, wie gesagt, fand ich, daß bei unversehrter Kronenfläche Carabelli bei kräftigster Entwicklung niemals bis zum Niveau der Spitze des lingualen Vorderhöckers reichte. Damit soll natürlich nicht gesagt sein, daß es an dem Kauakt sich nicht beteiligt. Eher trifft das Gegenteil zu. Je nachdem es mehr oder weniger kräftig entwickelt ist, beteiligt es sich mehr oder weniger bald nach Abschlei- fung des vorderen Innenhöckers an diesem Akt, aber unmittelbar nach dem Durchbruch des Zahnes erreicht es die Reibungsebene nicht. Die ganze Frage scheint mir jedoch von untergeordnetem Wert zu sein. Ich werde mich im folgenden auf das Auftreten dieses Höcker- chens im allgemeinen und auf eine Besprechung der Bedeutung desselben beschränken. Daß Carabelli nicht ausschließlich beim Menschen auf- tritt, wie es von de Terra5) behauptet wird (1. c. S. 161), ist schon von Batujeff gezeigt worden. Machen wir uns dazu zunächst klar, was man als Carabellisches Höckerchen zu verstehen hat. Die vom Autor selbst gegebene Definition ist die folgende: „ein Höcker, welcher an der inneren Seite der Krone der oberen Mahlzähne, in der Regel derjenigen 1) Systematisches Handbuch der Zahnheilkunde, Bd. II, S. 107. "Wien 1842. 2) N. Batujeff, Carabellis Höckerchen usw. Bull, de l'Acad. Imp. de St. Petersburg 1896, T. Y. 3) E. Zuckerkandl, Makroskopische Anatomie der Mundhöhle, in: Scheff. Handb. d. Zahnheilkunde. 4) P. Adloff , Das Gebiß des Menschen und der Anthropomorphen, S. 14, 126. 5) P. de Terra, Beiträge zu einer Odontographie der Menschenrassen. Inaug.-Diss. Zürich 1905. 86 Erstes Hauptstück. des ersten, angetroffen wird und der mit seiner Basis nahe am Halse des Zahnes entspringt und mit seiner Spitze etwas entfernt von der Krone frei in der Mundhöhle steht." Carabelli beschreibt hier offen- bar den höchsten Entwicklungsgrad der Bildung, und Mühlreiter1) hat schon nachgewiesen, daß in der Mehrzahl der Fälle nur eine Neigung zur Bildung eines solchen ., fünften" Höckers besteht, welche durch ein verschiedenartig entwickeltes Grübchen- und Furchensystem sich äußert. Eine vollständige Beschreibung des Höckerchens in seinen verschiedenen Abstufungen hat dann Batujeff gegeben. Bei sonstigen Primaten ist das Höckerchen, nachdem letzt- genannter Autor auf dessen Vorkommen bei Cynocephalus hingewiesen hat, von A dl off bei einem Hylobates lar beobachtet (1. c. S. 127). Vorher hat schon Cope darauf hingewiesen, daß es bei den Lemuren eine konstante Erscheinung bildet: „The accessory anterior internal tubercle is characteristic of the genus Lemur and some of its extinct allies2)." Eine übereinstimmende Meinung haben auch Windle und Humphreys ausgesprochen3). Daß die bezüglichen Bildungen an den Molaren von Lemur wirklich mit dem Carabelli der menschlichen Mo- laren homolog sind, ist auch meine Ansicht. Man könnte aber diese Homologie auf Grund der dreieckigen Gestalt der Lemurmolaren und dadurch das Vorkommen dieser Bildung überhaupt bei den Prosimiae anzweifeln. Man hat sich jedoch nur die Frage vorzulegen: Stimmt die linguale Formation an den Lemurmolaren mit der von Carabelli gegebenen Definition überein? Und auf diese Frage muß unbedingt eine zustimmende Antwort folgen, denn der innere Höcker der Lemur- molaren ist zweifelsohne die Spitze D und an diese Spitze ist Carabelli gebunden. Daß bei den Lemuren die hintere linguale Spitze außer- ordentlich schwach entwickelt ist, sogar ganz fehlen kann, ändert an der Hauptsache nichts. Daß jedoch unter den Prosimiae das bezügliche Höckerchen auch bei solchen Geschlechtern auftreten kann, welche durch eine kräftige Entwicklung des hinteren lingualen Höckers der menschlichen Molarenform näher kommen, geht aus Fig. 28 hervor, worin der erste Molar von Hapalemur, von der Innenseite gesehen, wieder- gegeben ist. Auch Topinard meldet das Auftreten desselben bei diesem Halbaffen4). Dieser Fall ist auch wichtig aus dem Grunde, daß an diesem Zahn das Deuteromer dreihöckerig ist, welcher Umstand die Möglichkeit beseitigt, Carabellis Höckerchen mit einer der Spitzen des Deuteromer, die aus ihrer gewöhnlichen Stellung gerückt sein sollte, zu identifizieren. Besonders in betreff auf die Molaren von Lemur, welche vielleicht zu einer solchen Auffassung führen konnten, ist es von Bedeutung, die Unabhängigkeit von Deuteromer und Carabellis Höckerchen unzweideutig bei Hapalemur feststellen zu können. Zwar ist das Tuberculum bei diesem Halbaffen — bei dem es auch am dritten Milchmolaren vorkommt - - nicht so stark entwickelt, als es beim Menschen der Fall sein kann, aber vielleicht spielt auch hier 1) Anatomie des menschlichen Gebisses, S. 68. Leipzig 1891. 2) E. D. Cope, On the tritubercular Molar in human Dentition. Journ. of Morph. 1889, Bd. II. 3) B. C. A. Windle and J. Humphreys, Extra cusps on the human Teeth. Anat. Anz., Bd. II. 4) P. Topinard, De l'Evolution des Molaires et Premolaires chez les Pri- mates. L' Anthropologie 1892. p. 691. Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 87 die individuelle Variation eine Rolle. Denn die individuellen Schwan- kungen in der Ausbildung, welche es beim Menschen aufweist, kommen nicht weniger auch bei anderen Primaten vor. Nur beim Geschlecht Lemur ist es in seiner relativ beträchtlichen Entwicklung ziemlich konstant. Bei anderen Affengeschlechtern nicht. Das geht z. B. aus Fig. 29 hervor, worin der erste obere Molar eines Cebus fatuellus (junges V- Fig. 28. Erster oberer Molar von Hapalemur. Fig. 29. Erster oberer Molar vom Cebus fatuellus mit Carabelli. Tier) abgebildet ist. Während bei Cebus das Höckerchen als Ausnahme zu betrachten ist, war es am bezüglichen Exemplar kräftig entwickelt, wie besonders die rechtsseitige Figur, welche die Kronenfläche von oben gesehen darstellt, sehen läßt. Auch am dritten Milchmolaren dieses Tieres war es kräftig entwickelt. Die größte Verbreitung des Höckerchens findet sich unter den wahren Affen am Gebiß von Chryso- "Ji ™2 m3 ^i ^ thrix, wo es ein konstant vorkom- mendes Relief an der lingualen Fläche mehrerer Zähne bil- det. Das ist aus Fig. 30 zu ersehen, worin das ganze post- canine Oberkiefer- gebiß dieses Tier- chens dargestellt ist. In der oberen Reihe sind Milchmolaren und Dauer molaren abgebildet, in der unteren Reihe die Prämolaren. Wie diese Figuren sehen läßt, ist Carabellis 'Höckerchen am zweiten und dritten Milchmolaren und am ersten und zweiten permanenten Molaren entwickelt. Seine Stelle ist die nämliche wie beim Menschen, es liegt an der Innenseite des Höckers D, das ist die Hauptspitze des Deuteromer. Kur am zweiten Milchmolaren Fig. 30. Fläche. Chrysothrix sciurea. Oberkieferzähne, linguale Obere Reihe: Milchmolaren und permanente Molaren; untere Reihe: Prämolaren. erscheint es etwas weiter nach hinten gerückt. Das genannte Affchen 88 Erstes Hauptstück. ist weiter interessant durch das Auftreten von Carabelli auch am zweiten und dritten Prämolaren. Zwar wechselt das Maß ihrer Entwicklung an diesen Zähnen sehr, aber die Tatsache, daß es überhaupt an diesen Elementen des Gebisses auftritt, beweist, daß in dieser Hinsicht kein prinzipieller Unterschied zwischen Milchmolaren und deren Ersatz- zähnen besteht. Auch bei einem Nyctipithecus trivirgatus konnte ich außer am ersten und zweiten Molaren das Vorkommen des Höcker- chens am dritten Prä molaren feststellen. Der Standpunkt, den de Terra bezüglich dieser Bildung ver- tritt, kommt mir nicht motiviert vor. Der Autor behauptet, den Car ab ellischen Höcker treffe man nur beim Menschen an; was man bei niederen Affen als solchen beschreibe, sei eine andere Bildung, die de Terra als „Approximalhöcker" bezeichnet. Wenn man jedoch bemerkt, daß der Autor S. 162 und 285 als Beispiele solcher „Approxi- malhöcker" Bildungen an der bukkalen Seite der Unterkiefermolaren abbildet und beschreibt, dann ist es deutlich, daß hier eine Verwirrung von Reliefbildungen vorliegt. Die oben von mir beschriebenen Bildungen liegen alle bei vierhöckerigen Molaren an der vorderen lingualen Seite des Zahnes dem Höcker D an. Und letzteres ist, wie ich meine, das Kriterium, welches auch von de Terra selber gestellt wird, wenn er von diesem Höcker sagt: „Der Carabellische Höcker zeigt sich als schwache Verdickung des medialen Zungenhöckers nahe dem Niveau der Kaufläche"' (1. c. S. 161). Die Zurückweisung der Copeschen Deutung des lingualen Höckers bei Lemur als Carabellis Höcker ist dann auch nicht stichhaltig. (Ich lasse hierbei natürlich die Be- trachtungen, welche Cope an das Vorkommen dieses Höckers bei Lemur knüpft, ruhen.) Als erstes Argument gegen die Homologisierung führt de Terra (1. c. S. 163) an, daß er die ganze linguale Fläche des Zahnes einnimmt. Diese Beobachtung ist richtig, aber lediglich die Folge davon, daß bei Lemur diese ganze Fläche des Zahnes vom Höcker D gebildet wird, da der hintere linguale fehlt. Dieser Umstand erklärt und widerlegt gleichzeitig das zweite Bedenken von de Terra, daß der Höcker nicht mediolingual, sondern direkt in der Mitte der Lingual - fläche liegt. Das Tuberculum kommt nicht ausschließlich bei Primaten vor. Das geht schon aus einer Bemerkung Osborns hervor1): ,,0n the anterior side of the protocone in the upper molars we have observed in many of the lower mammals especially in the Periptychidae (1. c. Fig. 137) that a special cusp is developed, to wich we have given the name protostyle. From a recent paper by Adloff we learn that this was originally designated by Carabelli, and named by him Tuber- culum anomale." Das Auftreten außerhalb des Primatenstammes ist zuerst von Windle and Humphreys betont worden: „In Canis familiaris and vulpes, sagen diese Autoren, it is large and in Meles taxus it reaches its maximum." Ich bin überzeugt, daß bei anderen Säugern die homo- loge Bildung ebenfalls auftritt (ich verweise besonders auf die Ursidae) und in hohem Maße an der Komplizierung der Zahnkrone sich beteiligen kann (Ailurus). Doch liegt es außerhalb des Rahmens der vorliegenden Abhandlung, auf diesen Punkt näher einzugehen. Überdies muß zu- 1) C. 0. 1907, S. 158. Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 89 nächst die genetische Bedeutung dieser Bildung festgestellt sein, denn diese hat selbstverständlich großen Einfluß auf die Diagnostizierung derselben bei den verschiedenen Säugetiergruppen. Nun gehen über diesen Punkt die Meinungen weit auseinander. Batujeff, der sich bezüglich der Entstehung der Säugerzähne der Konkreszenztheorie in Rose scher Fassung anschließt, betrachtet das Höckerchen als einen selbständigen, den Zähnen als progressive Bildung zugefügten konischen Zahnkeim, dabei auf die Tatsache hinweisend, daß es am ersten Molaren — das ist am Zahn, der der größten Druck- wirkung unterliegt — am häufigsten auftritt. Der progressive Charakter der Bildung würde weiter auch noch aus der von Batujeff gestellten Behauptung hervorgehen, daß das Höckerchen bei niederen Rassen weniger häufig sein sollte als bei den Europäern. Adloff hat sich an- fänglich dieser Meinung angeschlossen, ist jedoch später von ihr zurück- gekommen, weil ihm das Unzutreffende der Aussage von Batujeff deutlich geworden war. Es schließt sich jener Autor jetzt der zuerst von Cope ausgesprochenen Meinung an, daß das Carabellische Höckerchen einen primitiven Bestandteil der Primatenzähne darstellt, der bereits bei Lemuren vorhanden ist. „Alle Tatsachen sprechen dafür, daß wir es nicht mit einer gelegentlich auftretenden Variation oder mit einer progressiven Bildung zu tun haben, sondern daß der „fünfte" Höcker ein ursprünglich normaler Bestandteil der menschlichen Molaren ist, der im Laufe der Stammesgeschichte der Reduktion anheimgefallen, dessen Rückbildung jedoch noch nicht völlig beendet ist." (Das Gebiß des Menschen, S. 127.) Dieser Satz gibt in etwas anderen Worten die Meinung Copes wieder, der sich (1. c. S. 18) folgendermaßen geäußert hat: ,,This Charakter is decidedly lemurine. It may be regarded as a survival or as a character wich has persisted from the „proanthropos", wich was itself immediately derived from lemurine ancestors." Es begegnen uns hier also zwei kontroverse Meinungen: dem einen Autoren ist Carabellis Höckerchen eine progressive Bildung, dem anderen eine primitive Erscheinung. Ich kann mich weder der einen noch der anderen Deutung anschließen. Man hat in diesen beiden Erklärungskontroversen, wie ich meine, ein sehr lehrreiches Beispiel, wie verfehlt es ist, die vergleichend-anatomischen Einzelerscheinungen des Gebisses den stammesentwicklungsgeschichtlichen Doktrinen dienst- bar machen zu wollen, besonders wenn man dabei aus dem Auge verliert, daß vollständig homologe Bildungen an den Zähnen ganz unabhängig voneinander entstehen können bei Tieren, welche in ihrer historischen Entwicklung einander nur sehr entfernt und kollateral verwandt sind. Ich möchte sogar der Meinung Ausdruck geben, daß es kein System gibt, bei dem man so vorsichtig sein muß, um auf Grund von Einzelerscheinungen auf Verwandtschaftsbeziehungen zu schließen, als gerade die Zähne. Und die Ursache davon liegt nicht weit, sie gründet in der Entstehungsweise des Säugerzahnes im allgemeinen. Alle Zähne der Mammalier enthalten in nuce die gleichen morphologischen Po- tenzen. Und die Entfaltung dieser Potenzen ist nicht einmal, sondern gewiß mehrere Male im Laufe der Entwicklung zustande gekommen. Eine gemeinschaftliche Stammform, aus welcher die Säugerzähne in ihre verschiedenen Modifikationen als ebensoviele divergierende Ent- wicklungslinien ausstrahlen, gibt es nicht. Es gibt einen gemeinschaft- lichen Grundplan mit für alle Säugetierordnungen gleichen morpho- 90 Erstes Hauptstück. genetischen Potenzen. Und wenn diese Potenzen aktiviert werden und sich in Formausbildung realisieren, da kann es nicht wundern, daß Formübereinstimmungen entstehen. Das Gemeinsame, das in dem Zahnkeim verhüllt lag, wird apert. Das deutet nicht auf eine organisatorische Verwandtschaft hin, sondern auf eine organogenetische Äquivalentie. In seiner grundlegenden Untersuchung rügt, und meines Erachtens ganz zu Recht, Schlosser1) die bekannte Bezeichnung Filhols der eocänen Primaten als Paehylemuren, wodurch dieser Autor eine nähere Verwandtschaft zwischen jenen Primaten und Pachydermen zum Aus- druck bringen wollte. Unbedingt schließe ich mich Schlosser an, wenn er 1. c. S. 20 sagt: „Die Anklänge im Zahnbau jedoch, welchen Filhol so viel Gewicht beigelegt hat, erweisen sich einfach als gleichartige Modifikationen, hervorgerufen durch die gleichen Umstände, dürfen aber doch wahrhaftig nicht als Beweis für die Existenz einer näheren Verwandtschaft betrachtet werden." Ich möchte dieses Prinzip, wie aus dem oben Gesagten hervorgeht, jedoch weiter durchführen als Schlosser, und, ebensowenig wie eine Formübereinstimmung des Zahnes als Ganzes als Kriterium für verwandtschaftliche Beziehungen zwischen Säugerordnungen zu verwerten ist, ebensowenig innerhalb einer Ordnung das Auftreten oder das Fehlen einer einzigen Relief- erscheinung als solche gelten lassen. Wir müssen dazu zunächst — wie es auch Schlosser getan hat — das Gebiß als Ganzes betrachten in seiner Zusammenstellung und der Totalität seiner Merkmale. Und wenn ich nach dieser allgemeinen Stellungnahme wieder zum Carabelli-Höcker zurückkehre, dann deute ich denselben für ein Verwandtschaftskriterium ebenso wertlos als z. B. der sogenannte unpaarige hintere Höcker am unteren dritten Molaren. Oder sollte man eine Spezies vom Geschlecht Semnopithecus, bei dem dieser Höcker fehlt, näher verwandt denken mit Cercopithecus als mit den übrigen Semnopithecus-Arten ? Und der Umstand, daß bei Lemur ein kräftig entwickeltes Carabelli vorkommt, als regelmäßige Erscheinung und beim Menschen ein relativ kleines, und dazu noch nicht immer, darf doch keinen Grund abgeben für die Behauptung, daß beim Menschen diese Bildung auf dem Wege der Reduktion sich findet. Die zweite Möglichkeit, daß es beim Menschen von neuem wieder erscheint, als Manifestierung einer in der Zahnanlage schlummernde Potenz hat wenigstens ebenso viele Berechtigung. Jedoch, mit diesen allgemeinen Bemerkungen darf ich nicht abschließen. Denn wie ist das Auftreten des Carabellischen Höckerchen mit der von mir verfochtenen Dimertheorie der Zähne in Überein- stimmung zu bringen? Ein Produkt des Protomer kann es selbstver- ständlich nicht sein. Doch auch zum Deuteromer kann es nicht ge- hören. Das wird durch die Fig. 28 bewiesen, welche ich mit Absicht gegeben habe, um jene Unmöglichkeit darzutun. Denn abgesehen davon, daß die konstante Lagerung an der lingualen Fläche des Haupthöckers vom Deuteromer schwer mit einer solchen Herkunft in Übereinstimmung zu bringen ist, gibt die Fig. 28 einen Zahn wieder, dessen Deuteromer 1) M. Schlosser. Die Affen, Lemuren, Chiropteren usw. des europäischen Tertiärs. I. Teil. Wien 1887. Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 91 vollständig ist, also dreihöckerig, und gleichzeitig ist Carabellis Höcker- chen anwesend. Es scheint somit das Auftreten dieses Höckerchen mit meiner Theorie im Streit zu sein, und dieser Umstand war für mich die Anregung, etwas ausführlicher auf diese Bildung einzugehen. Ich werde nun zeigen, daß dieser Widerspruch nicht besteht, ja daß sogar das Auftreten dieser Bildung eine sehr willkommene Bestätigung ist für der Richtig- keit meiner Grundanschauung über die Entstehung des Säugerzahnes. Zur Begründung hierfür muß ich zurückgreifen auf eine Frage, welche ich in der ersten dieser Studien schon gestellt und in all- gemeinem beantwortet habe. Wenn es richtig ist, daß der Säuger- zahn zwei Generationen von Reptilienzähnen entspricht, dann muß die Bildungsstätte von neuen Zahngenerationen, welche bei den Rep- tilien bisweilen so energisch funktioniert, in einen Zustand von Inaktivi- tät. von Latenz geraten sein. Ich habe nun in der genannten Studie S. 119 die Frage gestellt, ob bei den Säugern die so energische Aktivi- tät, welche der Zahnleistenrand bei den Vorfahren besaß, völlig er- löscht ist? Wörtlich habe ich dort auf diese Fragestellung folgendes geantwortet: „Ich möchte diese Frage nicht unbedingt bejahend beantworten. Es scheint mir doch nicht ganz ausgeschlossen, daß das Cingulum, das bisweilen so kräftig entwickelt an der lingualen Seite des Zahnes erscheint, die letzte schwache Äußerung sei für die fast gänz- lich latente Potenz des Zahnleistenrandes zur Bildung weiterer Zahn- generationen. Ich bin geneigt, in diesem Cingulum die zu einem band- artigen Emaillestreifen konzentrierte Anlage aller folgenden Zahngene- rationen zu erblicken. Allerdings nicht in der Weise, daß das Cingulum als eine rudimentäre Zahngeneration gedeutet werden soll, es ist die nicht weiter differenzierte Manifestation der fast unbeschränkten Zahnbildungspotenz, welche dem freien Ende der Zahnleiste ehemals zukam. Ganz indifferente Bildungen sind diese Erscheinungen nicht, ich möchte dieselben als Ausdruck einer teilweisen Reaktivierung, als Abortivanlage einer jüngeren Generation auffassen." Als ich diesen Passus niederschrieb, schwebte mir. neben Bildungen an den Molaren anderer Säugetiere, auch das Tuberculum Caral)elli der Primaten- molaren im Geiste vor. Und nach eingehender Prüfung dieser Ansicht bin ich in der Überzeugung gestärkt worden, daß in dieser Weise die Erklärung des genannten Höckerchens gegeben werden muß. Der Zahnleistenrand enthält als eine Matrix eine ganze Familie von auf- einanderfolgenden Generationen von einfachen Zähnen in sich ver- einigt. Aber es kommen davon nur zwei, in Verbindung mitein- ander zur Entwicklung. Eine eventuelle dritte Generation mußte sich natürlich bei völliger Ausbildung an der lingualen Seite des Deuteromer finden. Sollte eine solche Entwicklung wirklich stattfinden, dann war der Zahn nicht länger ein dimeres, sondern ein trimeres Gebilde, und das neu hinzugekommene Odontomer würde neben dem Proto- und Deuteromer als ,,Tritonier" Stelle einnehmen. Ich glaube nun, daß das Carabelli- Höckerchen in der Tat die Manifestation dieses Tritomer ist. Und wie ansprechend diese Erklärung erscheinen möge im Verband mit dem ganzen Charakter meiner Theorie vom Säuger- gebiß, werde ich doch einige spezielle Gründe entwickeln, welche die gegebene Deutung zu stützen imstande sind. 92 Erstes Hauptstück. Als ersten Grund führe ich die Lagerung des Höckerchens an. ( U) stark entwickelt oder nur schwach angedeutet, es behält unverändert seine Lagerung an der lingualen Seite des sogenannten vorderen Innen- höckers. Nun wolle man sich erinnern, daß dieser Höcker den Haupt- höcker des Deuteromer darstellt. Und wenn man dazu bemerkt, daß letzterer wieder dem Haupthöcker P des Protomer gegenüber liegt, mit diesem oft durch eine Leiste verbunden ist, so finden sich bei kräftiger Ausbildung des Carabellischen Höckerchen, die Hauptbestand- teile dreier Zahngenerationen in einer geraden Linie, wie es mit den ursprünglichen topographischen Verhältnissen bei den polyphyodonten Vertebraten übereinstimmt. Ich identifiziere dann auch das Höckerchen Carabellis mit dem Haupthöcker einer dritten Zahngeneration, der bei Aktivierung der Anlage dieser Generation zuerst auftritt, wie auch vom Deuteromer der Haupthöcker vor die beiden Nebenspitzen er- scheint. Die Übereinstimmung geht jedoch noch weiter. Wir haben gesehen, daß vom Deuteromer, nach der Entwicklung des Haupthöckers, zuerst die hintere Nebenspitze 4 erscheint und erst an dritter Stelle die vordere Nebenspitze 3. Ich habe nun einige Male zwei Tubercula an der lingualen Seite des Zahnes angetroffen und .das zweite tritt dann als das kleinere hinter dem normalen Carabellischen Höcker auf. Eine weitere Erscheinung, welche für die Richtigkeit meiner Auf- fassung spricht, ist die folgende. Wenn man Gelegenheit hat, eine große Zahl vollständiger wohl erhaltener Gebisse des Oberkiefers zu unter- suchen -- im hiesigen Institut finden sich mehrere Hundert solcher Gebisse von Holländern, an denen kein einziger Zahn fehlt — , dann fällt es auf, daß an jenen Gebissen, an denen das Carabelli-Höckerchen kräftig entwickelt ist, in sehr vielen Fällen das Deuteromer der weiter nach vorn liegenden Zähne ebenfalls eine stärkere Ausbildung als normal aufweist. Von dieser Koinzidenz findet sich in der Literatur schon eine sehr überzeugende Abbildung. In dem Aufsatz von Windle und Hum- phreys1) sind in Fig. 3 u. 4 zwei Oberkiefergebisse des Menschen ge- zeichnet, mit dem Zweck, das stark entwickelte Carabelli-Höckerchen zu zeigen. Gleichzeitig jedoch ist — und die Autoren machen darauf aufmerksam - - am Caninus und an den Incisivi das Tuberculum dentis -- das wir früher als die Manifestation des Deuteromer dieser Zähne erkannt haben - - ebenfalls außerordentlich entwickelt, beim Caninus bildet es eine kegelförmige Spitze. Auch von mir ist diese Koinzidenz gesehen, und ich glaube sie ist einer sehr einfachen Er- klärung zugänglich. In gewissem Sinne verhält sich bei den Front- zähnen das Deuteromer wie ein eventuelles Tritomer bei den Molaren. Die morphologischen Potenzen des Deuteromer — der zweiten Gene- ration -- bleiben bei den Frontzähnen des Menschen während der Entwicklung meistenteils latent, wie jene des Tritomer — der dritten Generation -- am ersten Molaren. Ist jedoch bei einem Individuum die Neigung, diese latenten Potenzen zu reaktivieren, stark, dann wird sich dieselbe an den Frontzähnen durch eine kräftige Entwicklung des Deuteromer und am ersten Molaren durch eine solche des Tritomer äußern. Das Carabellische Höckerchen wird dadurch selbstverständlich 1) Extra cusps on the human Teeth. Anat. Anz., Bd. II. Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 93 dem Tuberculum dentis der Frontzähne nicht homolog, ihre gleichzeitige starke Entwicklung hat jedoch eine gemeinschaftliche Ursache. Dazu kommt noch eines. In der folgenden Studie werde ich die Varietäten auch des ersten Molaren eingehend besprechen und mit den erwünschten Abbildungen versehen. Ich weise an dieser Stelle jedoch schon auf folgende Gesetzmäßigkeit hin. Es ist bekanntlich der obere erste Molar des Menschen quadrituberkular, das Kronenrelief wird Pa Pp durch die Formel — -= — — ausgedrückt. Wenn nun ein Carabelli-Höcker- chen, das ich der Einfachheit wegen als T bezeichnen werde (als ersten Buchstaben von Tritomer und in Übereinstimmung mit P (Protomer) und D (Denteromer) entwickelt is, dann wird die Kronenformel also Pa Pp D 4 . Nun ist es sehr merkwürdig, daß bei besonders starker Ent- wicklung von T ein weiterer Ausdruck der entwicklungskräftigen Anlage des Zahnes auftritt, indem nun auch die vordere Nebenspitze vom Denteromer j erscheint, und die Kronenformel dadurch die Pa Pp folgende wird 3 D 4 . Es kann sogar noch weiter gehen, indem auch die Nebenspitzen am Protomer wieder erscheinen. Auch von solchen Zähnen besitze ich einige Beispiele. Die angeführten Erscheinungen werfen nun, wie ich meine, das rechte Licht auf die Natur von Carabelli-Höckerchen. Aus den in dem Zahnkeim schlummernden Potenzen für die nicht mehr zur Ent- wicklung gelangenden Zahngenerationen wird die Anlage der zuerst folgenden ■ — dritten - - wieder teilweise aktiviert, eine Erscheinung also, die im Prinzip übereinstimmt mit jener, welche zur Entstehung des Elefantenmolaren Anlaß gegeben hat (vgl. Odont. Stud. 1, S. 119). Schließlich muß ich auf eine Tatsache aus der Ontogenie der Molaren hinweisen, welche die Richtigkeit der gegebenen Erklärung zwar nicht unmittelbar beweist — eine absolute Beweisführung ist, wie bei allen solchen Fragen, wohl von vornherein ausgeschlossen - aber immerhin ihr den höchsten Grad von Wahrscheinlichkeit verleiht. Es betrifft eine Tatsache, welche durch Ahrens in seiner Veröffentlichung über die Entwicklung der menschlichen Zähne beschrieben worden ist1). Im zweiten Hauptstück meiner ersten Odontologischen Studie habe ich eine Bildung kennen gelernt, welche während der Differenzierung der Schmelzpulpa im Schmelzorgan erscheint, und als Schmelzseptum beschrieben. Die Bedeutung desselben ist dann im vierten Hauptstück auseinandergesetzt worden. Und indem ich für die Details und Beweis- führung auf die verzeichnete Schrift verweise, sei hier nur kurz hervor- gehoben, daß das Schmelzseptum die Abgrenzung im Schmelzorgan zwischen den beiden, dem Protomer und Denteromer zugehörigen Schmelzorganabschnitten darstellt. Und der Entstehung des Säuger- zahnes zufolge, zieht das Schmelzseptum in frühen Entwicklungs- stadien in nahezu sagittaler Richtung durch das Organ und trennt 1) H. Ahrens, Die Entwicklung der menschlichen Zähne. Habilitationsschr. München 1913. (Erschienen Wiesbaden 1913.) 94 Erstes Hauptstück. dasselbe in eine bukkale - - dem Protomer - - und eine linguale - dem Deuteromer ■ — tributäre Hälfte. Ganz unabhängig von meiner Untersuchung hat nun Ahrens die nämliche Bildung beim Menschen beobachtet und legt ihr den Namen „Schmelzstrang" bei (1. c. S. 32). Der Verfasser gibt eine von vorzüg- lichen Abbildungen begleitete Beschreibung, welche sich mit der meinigen in allen Hauptsachen deckt, und weist auch auf das Auftreten der von mir als Schmelznabel beschriebenen Einsenkung hin, an der Stelle, wo das Septum ins äußere Epithel übergeht. Nun hat Ahrens noch eine Erscheinung im Schmelzorgan be- schrieben, welche mir bei meinen Untersuchungen nicht aufgefallen war. Ich werde den diesbezüglichen Passus wörtlich wiedergeben: „Außer diesem zentralen Schmelzstrang ist nun, wie aus den Fig. 14, 16', 19 zu ersehen ist, noch eine zweite Verdichtung vorhanden, die die linguale Seite des Schmelzorgans einnimmt, Diese wandständige Zellver- dichtung ist bei bleibenden und Milchmolaren in gleicher Ausbildung vorhanden, und verschwindet nach der Auflösung des Schmelzstranges ebenfalls, wenigstens zum größten Teil." Ich habe nach Kenntnisnahme dieser Mitteilung von Ahrens meine menschlichen Präparate darauf nachgesehen und kann den Befund dieses Autors bestätigen ; doch ist die individuelle Entwicklung ziemlich schwankend. In bezug auf die Frage der Zahnentwicklung im allgemeinen und der Bedeutung des Tuberculum Carabelli im be- sonderen scheint mir der Befund von Ahrens von größter Wichtig- keit, Denn es darf wohl vorausgesetzt werden, daß die Bedeutung dieser mehr lingual gelagerten epithelialen Bildung, die jedoch, wie auch aus den Abbildungen von Ahrens hervorgeht, nicht jene Selbständigkeit erlangt, als das eigentliche Septum. ihrem Wesen nach keine andere sein kann als jene von letzterem. Wenn dieses die Grenzmarke im Schmelzorgan darstellt zwischen der protomeren und der deuteromeren Zahngeneration, welche im Säugerzahn aufgegangen sind, dann muß die linguale epitheliale Bildung die mediale Grenze im Schmelzorgan der letzteren Generation darstellen, und ist die von Ahrens beschriebene Bildung nicht anders zu deuten als in dem Sinne, daß bei den Molaren das Schmelzorgan nicht etwa zu gleichen Hälften zum Proto- und Deu- teromer gehört, sondern daß ein kleiner medialer Abschnitt davon zu der auf dem Deuteromer folgenden Generation, also zum Tritomer, gehört. In den histologischen Differenzierungserscheinungen an der lingualen Seite des Schmelzorgans manifestiert sich gleichsam die im Zahnkeim des Menschen enthaltene Anlage aller Zahngenerationen deren sukzessiven Ausbildung beim Entstehen des Säugerzahnes unterdrückt wrorden ist, zugunsten der zwei, welche als die ersten in der Reihe zur kräftigen Entwicklung gelangten. Aus den verschiedenen angeführten Gründen geht hervor, daß die Deutung des Tuberculum Carabelli als die rudimentär entwickelte dritte Zahngeneration als stichhaltig erscheint, Mit dieser Erkenntnis ist aber gleichzeitig ein Urteil ausgesprochen über den Wert dieses Gebildes für stammesentwicklungsgeschichtliche Spekulationen. Jeder Zahn von jedem Säugetier enthält in nuce das Vermögen, eine dem Carabelli-Höckerchen der Primaten entsprechende Bildung aus sich hervorgehen zu lassen, denn in jedem Zahnkeim ist eine ganze Zahn- Die Differenzierung der Oberkieferzähne. 95 familie vom Reptiliengebiß versteckt (für den Begriff Zahnfamilie verweise ich nach Odontologische Studie I, S. 121). Und ebenso wie beim Elefanten die sukzessive Ausbildung der Generationen dieser Familien in unbeschränkter Zahl wieder von neuem in Gang gesetzt ist, so kann unter dem Einfluß bestimmter Umstände bei anderen Säugern auch die dritte Generation sich wieder morphologisch demon- strieren. Eine solche Reaktivierung kann bei verschiedenen Tieren, ob einander noch verwandt oder im System sehr weit voneinander entfernt auftreten, wenn der Zahnkeim den diesbezüglichen Impuls dazu empfindet. Es ist dann auch, wie ich schon hervorhob, ein Irrtum, wenn man das Carabellische Höckerchen als eine primitive Bildung deutet, aus dem Grunde, daß es auch bei Lemur entwickelt ist, wie es von Cope und Adloff geschieht, oder wenn man das Fehlen desselben bei den Anthropoiden und das häufige Auftreten beim Menschen als ein wichtiges Moment erklärt, das Menschen und Menschen- affen scharf scheidet, oder als Beweis anführt, „daß ihre Trennung zum mindesten sehr weit zurückreicht", wie es Adloff tut. Man braucht für das Erscheinen ebensowenig als für den Verlust eines Höckerchens gar nicht Zeiträume sich zu denken, die nicht lange genug angenommen werden können1). Doch auch als progressive Bildung in dem Sinne, welche daran gewöhnlich in der phylogenetischen Literatur gegeben wird, kann das Höckerchen nicht gelten. Nur in bezug auf die Form des Zahnes und dessen Funktionsfähigkeit darf man es als progressiv bezeichnen, denn es ist die Äußerung einer mehr kräftigen Entwicklung und trägt gewiß zur Vergrößerung der Kaufläche beim Menschen und bei Lemuren bei. Ob gerade hierin die Ursache des Auftretens gesucht werden darf, möge dahingestellt sein. Daß, wie Batujeff will, die stärkere Entwicklung beim Menschen eine Art Kompensation darstellt für den Verlust des dritten Molaren, kann ich nicht zustimmen. Die Tatsache, daß auch beim menschlichen zweiten Milchmolaren die Bil- dung sehr häufig ist, ist an sich schon wenig günstig für eine solche korrelative Beziehung. Und aus zu diesem Zweck angestellten Unter- suchungen habe ich die Überzeugung erlangt, daß eine solche Be- ziehung nicht besteht. Darüber werde ich in der dritten Studie ausführlich berichten. 1) P. Adloff, Das Gebiß des Menschen und der Anthropomorphen, S. 128. Zweites Hauptstück. Die Differenzierung der Unterkieferzähne. Es wird in diesem Kapitel nur von den Prämolaren und Molaren gehandelt werden, da von Schneide- und Eckzähnen schon vorher die Rede war. Ein Versuch in den Entwicklungsgang der Unterkieferzähne einzudringen, stößt auf nicht geringe Schwierigkeiten. Im Vergleich mit der relativen Leichtigkeit, womit es gelingt, die verschiedenen Entwicklungsphasen der oberen Zähne in einer logischen Reihe anzu- ordnen und besonders in Übereinstimmung mit dem Prinzip der Dimerie des Säugerzahnes zu bringen, erheben sich bei den unteren Zähnen Hindernisse, die wohl geeignet sind, Zweifel zu erwecken, ob überhaupt jenes Prinzip auch für die Unterkieferzähne gültig sei. Die Tatsache aber, daß ontogenetisch die Dimerie bei den unteren Zähnen mit gleich großer Bestimmtheit festgestellt werden konnte als bei den oberen, beseitigt wohl sofort diese Zweifel und bildet gleichzeitig eine nicht erlöschende Anregung, um die Lösung des Problems von der Morpho- genese der unteren Zähne versuchen zu wollen. Mehrere Male hatte ich ein System der Höckerhomologien auf Grundlage des allgemeinen Prinzips, daß auch der Unterkieferzahn in nuce ein zweifach trikono- donter Zahn war, entworfen, bisweilen die Zahnformen einer größeren Zahl von Primaten mit diesem System in Einklang gebracht, um beim Heranziehen weiterer Formen auf Widersprüche zu stoßen, welche den bisher gefolgten Weg als einen Irrweg kennzeichneten. Im Laufe der Zeit haben sich dann auch meine Ansichten über die Morpho- genese der unteren Zähne mehrere Male gewechselt. Daß der Entwicklungsgang der unteren Zähne ein etwas anderer gewesen sein muß als jener der oberen, leuchtet sofort aus einer ein- fachen Vergleichung beider Gebißreihen ein. Wenn man dann auch nur die allmähliche Komplizierung als Erscheinung an sich zur Darstellung bringen wollte, dann würde man bald die Überzeugung erlangen, daß etwas Übereinstimmendes in der Formgenese von oberen und unteren Zähnen kaum zu konstatieren sei. In der festen Überzeugung jedoch, daß der Grundtypus aller Zähne der gleiche ist, wurzelt die Aufgabe die Formerscheinungen an beiden Reihen aus diesem Grundtypus abzuleiten oder darauf zurückzuführen. Nur in dieser Weise kann eine richtige Homologisierung der Kronenhöcker beider Zahnreihen erreicht werden. Wie aus dem vorangehenden Abschnitt zu ersehen war, gelang es ohne große Schwierigkeit, die oberen Zähne in ihrer sukzessiven Die Differenzierung der Unterkieferzähne. 97 Differenzierung als immer vollkommenere Manifestationen des Grund- typus kennen zu lernen. Das wurde dadurch erleichtert, daß in der Beteiligung beider Odontomeren am Aufbau des Zahnes das Protomer dem Deuteromer gegenüber immer bevorzugt war, und überdies in jedem Odontomer das Hauptelement, es sei P oder D, wieder den Nebenspitzen gegenüber im Vorrang war. Der Differenzierungsgang der oberen Molaren geschah mit einer leicht zu erkennenden Regel- mäßigkeit; die Vervollkommnung der Krone kam durch ein sukzessives Hinzufügen neuer Höcker zustande. Dabei schritt die Komplizierung in der ersten Entwicklungsphase in bukko-lingualer Richtung fort, das ist in der Richtung, in der die beiden Odontomeren hinsichtlich einander gelagert sind. Daher war es leicht möglich, sich von der stufenweise zustandekommenden Vervollkommnung jedes der Odonto- meren zu überzeugen. Die unteren Zähne zeigen dagegen einen ganz anderen Entwick- lungsgang. Denn hier findet die Differenzierung zunächst in sagittaler Richtung statt, und an zweiter Stelle kommt jene in transversaler Richtung hinzu. Mit anderen Worten: in den ersten Entwicklungs- phasen tritt bei den oberen Zähnen die Breitenentwicklung in den Vorder- grund, bei den unteren dagegen die Längsentwicklung. Und da erstere der „genetischen Längsachse" des Zahnes gleichgerichtet ist, wird hier notwendigerweise infolge der graduellen Verschiedenheit in der Diffe- renzierungsstufe beider Odontomeren die Einsicht in den dinieren Cha- rakter des Zahnes in erfreulicher Weise erleichtert. Nicht aber jedoch bei den unteren Molaren. Hier findet zuerst Vergrößerung in Längs- richtung statt. Das bringt mit sich, daß beide Odontomeren in gleicher Intensität dem Differenzierungsreiz ausgesetzt sind, so daß eine zeit- lich höhere Differenzierung vom Protomer dem Deuteromer gegen- über unterbleibt. Die Folge davon ist, daß die morphologische Mani- festation der in dem Zahnkeim sich findenden Höckeranlagen bei den unteren Zähnen in ganz anderer Weise verlaufen muß, als bei den oberen. Im Oberkiefer trägt die Entwicklung der Krone den Charakter einer systematischen Addition von bestimmten Höckerchen, im Unterkiefer wird am bestehenden Kronenteil ein hinterer Abschnitt zugefügt, der anfänglich indifferent ist und erst im Laufe der weiteren Entwicklung eine bestimmte Höckerdifferenzierung zu zeigen beginnt. Die ganz verschiedene Natur des Differenzierungsganges der oberen und unteren Zähne findet in der odontologischen Literatur Widerklang in der Unbestimmtheit, womit eine Differenzierungstheorie, welche für die unteren Molaren aufgestellt wurde, auch auf die oberen angewendet wird, oder umgekehrt, wenn die Theorie auf die Erschei- nungen der oberen Zähne basiert wurde. So ist von Scott eine Theorie über die Morphogenese der Prämolaren aufgestellt worden, vornehm- lich auf Grund von an der oberen Gebißreihe beobachteten Erschei- nungen. Auch bei dieser Theorie bildet das ganz regelmäßig sukzessive Auftreten bestimmter Höckerchen — vom Autor als Protocone, Deutero- cone, Tritocone und Tetracone bezeichnet — an den oberen Prämolaren die Grundlage der Theorie. Die Besprechung der unteren Prämolareu wird durch den Autor mit der Bemerkung eingeleitet: „The develop- ment of the inferior premolars appears to be somewhat less regulär than that of the superior" (1. c. S. 414). Und wie abweichend von jener der oberen Prämolaren der Autor jene der unteren sich denkt, geht Bolk, Die Morphogenie der Primatenzähne. 7 98 Zweites Hauptstück. aus dem Schlußsatz der Vergleichung hervor: „The inferior premolars contains three elements wich are homologous with molar cusp, the upper premolars contain but one cusp wich can be homologous with a molar cusp." Aus dieser Schlußfolgerung geht zur Genüge hervor, wie schwierig es auch diesem Autor war, die Homologie zwischen den Tuberkeln der oberen und unteren Prämolaren aufzufinden. Ein zweites Beispiel aus der Literatur liefert die Cope-Osborn- : che Theorie. Diese Theorie unterscheidet bekanntlich am Säuger- molar zwei Teile: das ältere Trigon resp. Trigonid und das hinzu- gekommene jüngere Talon resp. Talonid. Schon in bezug auf das Trigon müssen die Autoren einen scharfen Unterschied zwischen oberen und unteren Zähnen aufstellen, gleich am Anfang der Differenzierung divergieren die Entwicklungsgänge beider Zahnreihen, da die Ver- schiebung des Protoconus im Oberkiefer nach innen, im Unterkiefer nach außen sich vollzogen haben soll. Und beim jüngeren Zahnteil - dem Talon(id) — werden die Differenzen noch ausgiebiger. Offen- bar ist die Theorie — im Gegensatz zu jener von Scott — - vom Stu- dium der unteren Zähne ausgegangen, und hier berechtigt die Kon- figuration der Zähne gewiß die Unterscheidung eines Trigonid und Talonid. Auf die Oberkieferzähne, auf welche der Form nach die ge- nannte Einteilung gar nicht motiviert erscheint, wird dieselbe in sehr gezwungener Weise angewendet. Ich komme auf diesen Punkt noch zurück. Die Unbestimmtheit, mit der Scott, Ausgang nehmend von den oberen Zähnen, seine Gesichtspunkte auf die unteren Zähne über- trägt, die Gezwungenheit, mit der Cope-Osborn, von den unteren Zähnen Ausgang nehmend, die oberen Zähne in ihrer Theorie einzu- passen sich bemühen, beweisen schon genügend, daß die Frage, ob der Differenzierungsgang beider Zahnreihen eine identische gewesen ist, völlig berechtigt ist. Und dennoch ist bisher von keinem der Autoren dieser Unterschied scharf betont. Das Wesentliche in der Differenz des Entwicklungsganges beider Zahnreihen habe ich oben schon kurz gestreift und ich werde jetzt näher darauf eingehen und zunächst die Frage zu beantworten versuchen, auf welche Ursache jene Differenz beruht. Erst nachdem wir Einsicht darin bekommen haben, wird es möglich sein, die Homologien der Höcker festzustellen und dieselben mit jenen der oberen Zähne zu vergleichen. Für die Beantwortung der gestellten Frage ist es notwendig, vom Gebiß als Ganzes auszugehen und die gegenseitigen Beziehungen der beiden Zahnreihen näher zu studieren. Wenn man sich die Stammform der Primaten mit einem Gebiß ausgerüstet vorstellen darf, wie jenes der Mehrzahl der rezenten Rep- tilien, dann war dasselbe nach der von Ryder inaugurierten Bezeich- nungsweise, ein isognathes1). Die beiden Zahnreihen waren gleich weit und beim Schließen der Kiefer griffen die Zähne zwischen ein- ander. In dem Alternieren ist schon eine Beziehung zwischen oberen und unteren Zähnen verwirklicht, welche für die ganze weitere Diffe- 1) J. A. Ryder, On the mechanical genesis of toothforms. Proc. Acad. Nat. Sc. Philadelphia 1878. -- Further notes on mechanical genesis of toothforms. Ibid. 1879. Die Differenzierung der Unterkieferzähne. 99 renzierung bestimmend ist. Dieser Gebißtypus, der auch von Hensel1) als der Grundtypus des Gebisses erkannt wurde, ist bei der Mehrzahl der Säuger persistent geblieben. Bei einfacher Form der Zähne ist diese Beziehung zwischen den Elementen beider Zahnreihen vorzüglich dazu geeignet, die Funktion der Kiefer als Greiforgane durch Einklem- mung der Beute zu stützen. Eine höhere mechanische Bedeutung kommt einem solchen Gebiß nur in sehr beschränktem Maße zu, und für eine höhere funktionelle Gestaltung der Zähne kann ein solches haplodontes, isognathes Gebiß kaum Veranlassung geben. Ganz anders gestaltet sich aber die Sache, wenn das isognathe Gebiß einem anisognathen die Stelle räumt, wenn die Zahnreihen ungleich weit werden und die Unterkieferzähne bei geschlossenem Munde durch die obere Reihe umfaßt wird. Dadurch werden die mechanischen Beziehungen zwischen beiden Reihen wesentlich geändert. Ich bin der Ansicht, daß in diesen neuen Beziehungen zwischen Ober- und Unter- kiefergebiß der Schlüssel liegt für die weitere Komplikation der Zähne nicht allein, sondern auch für die Divergenz des Entwicklungsganges beider Zahnreihen. Wie ich aus Weber2) ersehe, hat auch Winge schon auf die Bedeutung des erwähnten Umstandes für die weitere Zahndifferenzierung hingewiesen. Die dänische Sprache, worin die bezügliche Veröffentlichung gestellt ist, macht sie leider für mich unzugänglich. Die Anisognathie des Gebisses bringt dasselbe auf eine funk- tionell höhere Stufe. Genügt für das Ergreifen und Festklemmen der Beute die ,, Zahnradwirkung" des isognathen Gebisses, bei dem aniso- gnathen wird die mechanische Bedeutung eine mehr ausgiebige, denn es gesellt sich an der erstgenannten Wirkung jene der Zahnreihen als Ganzes hinzu. Die obere Reihe bietet in ihrer lingualen Fläche der unteren eine Reibungsfläche, und es funktionieren beide wie eine Schere. In bezug auf die Verkleinerung der Beute bedeutet diese „Scheren- wirkung" gewiß einen großen Fortschritt. In welcher Weise kann nun die Anisognathie zur Vervollkomm- nung der einzelnen Zähne beigetragen haben ? Ich möchte dazu folgende Gesichtspunkte anführen. Bei der Scherenwirkung der Gebißreihen stellen die lingualen Flächen der oberen Zähne und die bukkalen der unteren die beiden Reibungsflächen dar. Beide Flächen sind einander aber in genetischer Hinsicht nicht homolog. Denn die linguale Seite der oberen Zähne ist die deuteromere, das ist jene, welche im Zahnkeim die Lagerung der latenten Anlagen weiterer Zahngenerationen ent- spricht. Nun erhebt sich die Frage, ob von dieser Reibung der Reiz ausgegangen ist, wodurch die latente Anlage aktiviert wurde, und das Deuteromer zur morphologischen Manifestation gelang, anfänglich als eine unansehnliche Verdickung an der lingualen Fläche der Zahn- krone, welche dann später zu einem wirklichen Höcker — der Haupt- höcker D des Deuteromer — sich gestaltete. Eine derartige Reaktion konnte sich selbstverständlich an der unteren Gebißreihe nicht einstellen, denn hier war es die äußere Zahnfläche — die protomere — welche als Reibungsfläche funktionierte. An dieser Seite finden sich keine latenten Potenzen. 1) R. Hensel, Über Homologie und Variation in den Zahnformeln einiger Säugetiere. Morph. Jahrb., Bd. V. 2) M. Weber, Die Säugetiere, S. 172. 100 Zweites Hauptstück. PtD B C D mata in Fig. Von dem gegebenen Gesichtspunkt aus betrachtet, erscheint es ganz rationell, daß die Anisognathie des Gebisses die Veranlassung war, daß das Deuteromer sich an der Konfiguration der Krone der oberen Zähne zu be- teiligen begann und <::-f-:-K.v- ---::f:-v-:;--- -''-■----- . an der Innenseite <3=> ^ des trikonodonten Zahnes ein neuer Höcker, der Haupt- höcker D vom Deu- teromer, sich ent- wickelte. Einmal entwickelt lag in diesem Zusatz zu den oberen Zähnen der Ausgangspunkt für eine Differenzierung der unteren. Ich werde das klar zu machen versuchen mit Hilfe der Sche- 31. In Schema a ist der einfachste Zu- stand eines anisogna- then Gebisses darge- stellt; von den bei- den Zahnreihen alter- nieren die Elemente, welche noch einfache, seitlich zusammenge- drückte Zähne sind. Die untere Keihe (durchgezogene Um- risse) stellt die Unter- kieferelemente dar. Die Hauptspitze P ist durch einen größeren Punkt, angegeben. In diesem einfachen Zustand bestehen noch die Spatiainter- dentalia als Remini- szenzen an der pri- mitiven isognathen Vorstufe. Wie gesagt, be- trachte ich die Rei- bung der unteren Zähne über die linguale Fläche der oberen als den Impuls für die morphologische Differenzierung des Haupthöckers D vom Deuteromer. Diese höhere F Fig. 31. Schemata zur Veranschaulichung der Wechsel- beziehungen zwischen oberen und unteren Zähnen in den verschiedenen Entwicklungsstadien. Die Differenzierung der Unterkieferzähne. 101 Bildungsstufe ist in dem Schema b veranschaulicht. Infolge des Alter- nierens der Zähne von Ober- und Unterkiefer wird bei geschlossenen Kiefern der Höcker D in ein Spatium zwischen zwei Unterkieferzähnen aufgenommen. Dieser ganz einfache Zustand ist in der Tat noch ver- wirklicht — und nicht selten -- im vorderen Abschnitt des Gebisses mancher Primaten. Ich verweise zum Beweise davon z. B. auf die Fig. 32 und 33. In beiden Figuren sind die Kauflächen der oberen und unteren Zähne übereinander gezeichnet, so wie sie in der Ruhelage sich decken. Die Fig. 32 hat auf Lemur und die Fig. 33 auf Propithecus bezug. Die Kaufläche der oberen Zähne ist punktiert angegeben und es sind die darauf vorkommenden Höcker in ihrer Umgrenzung ein- gezeichnet; die Kaufläche der unteren Zähne ist durchgezogen skizziert $. -Pl p 1 «2 t "l ri n Fig. 32. Überdeckung der Kaufläche Fig. 33. Überdeckung der Kaufläche beider Zahnreihen bei Lemur. beider Zahnreihen bei Propithecus. und die Höcker sind durch Punkte angegeben. Es sei nun im Anschluß an das Schema b in Fig. 31 auf den vorderen Gebißabschnitt sowohl von Lemur mit drei, als von Propithecus mit nur zwei Prämolaren hingewiesen. Bei beiden Tieren sind die unteren dieser Zähne nur mit einem einzigen Haupthöcker ausgestattet, und beim Schließen der Kiefer lagern sie ganz innerhalb der oberen Zahnreihe. Die topographischen Beziehungen zwischen den beiden vorderen Prämolaren von Lemur, dem ersten Prämolar von Propithecus und den Gegenzähnen im Oberkiefer ent- sprechen noch vollständig dem primitivsten Zustand des anisognathen Gebisses, welches im Schema a von Fig. 31 dargestellt ist. Der zweite obere Prämolar von Lemur und Propithecus besitzt schon einen deut- lichen /)-Höcker und dieser wird im Spatium interdentale der unteren Prämolaren gefaßt, Am dritten oberen Prämolar von Lemur ist der 102 Zweites Hauptstück. Z)-Höcker besonders kräftig entwickelt und dringt zwischen den Hinter- land des dritten Prämolaren und den Vorderrand des ersten Molaren vom Unterkiefer ein und wird größtenteils von diesen beiden Rändern um- rahmt. Das Geschlecht Lemur bietet durch die kräftige Entwicklung des D-Höckers von P3 in Verbindung mit dem ziemlich einfachen Bau der Molaren Verhältnisse, welche viel mehr dazu beitragen, die Entwick- lung der unteren Zähne zu begreifen, als jene bei Propithecus. Der plötzliche Übergang des einfach gebauten letzten Prämolaren bei diesem Tiere in den stark differenzierten ersten Molaren bietet gar keinen An- griffspunkt für ein Verständnis der genannten Vorgänge. Aus den gegebenen Figuren ist zu schließen, daß den Zähnen des Oberkiefers durch die Ausbildung des D-Höckers bei der Differenzierung die Führung zukommt. Diesen Vorrang der oberen Zähne findet man weiter bei allen Primaten noch bestätigt durch die Konfiguration der Incisivi. Denn bei diesen Zähnen ist die primitive Scherenwirkung der Gebißreihen in den meisten Fällen noch erhalten, und im Anschluß daran sieht man dann auch, daß die oberen Incisiven den D-Höcker in oftmals sehr kräftiger Entwicklung besitzen, während an den unteren fast jede Spur davon vermißt wird. Das Alternieren der Zähne in Verbindung mit der Anisognathie ist also als die Grundursache zu betrachten, daß zwischen oberen und unteren Zähnen eine Anisomorphie zustande kam, indem die, in den oberen Zahnkeimen schlummernden Potenzen aktiviert wurden, während jene der unteren Keime vorläufig latent blieben. Als nächste Entwicklungsstufe ist jene zu bezeichnen, worin eine Reaktion der unteren Zähne auf die Entwicklung des D- Höckers an den oberen auftritt. Diese Reaktion besteht darin, daß die unteren Zähne anfangen, sich an ihrem distalen Ende zu verlängern und einen napfförmig ausgehöhlten neuen Abschnitt bilden, in dem bei ge- schlossenen Kiefern der D-Höcker der oberen Zähne aufgenommen wird. Dieser Zahnteil ist seit Copes Differenzierungstheorie als das Talonid bekannt, und ich werde es auch unter diesem Namen anführen. Denn eine spezielle Bezeichnung dieses Zusatzes an den unteren Zähnen ist nicht nur aus Bequemlichkeitsgründen erwünscht, sondern auch auf Grund der genetischen Bedeutung dieses Zahnteiles notwendig. Bei seinem ersten Auftreten läßt sich doch das Talonid mit einem be- stimmten Höcker nicht homologisieren. Die Entstehung des Talonid ist eine Korrelativerscheinung, dieser Zahnteil eine Reaktivbildung der unteren Zähne als Anpassung an die Entwicklung des D-Höckers der oberen. Beide Bildungen sind dann auch durch die ganze Reihe der Primaten aneinander gebunden. Wie stark die Zähne sich später noch weiter differenzieren dürfen, immer wird das Talonid mit dem D-Höcker artikulieren; es bietet diesem Höcker in seiner Konkavität eine Druckfläche. Fragt man, warum die unteren Zähne jene Neubildung aus sich herausgehen ließen, dann ist auch hier wieder die funktionelle Wechsel- beziehung zwischen beiden Zahnreihen ausschlaggebend. Denn durch die Entwicklung des Talonid wird dem D-Höcker der oberen Zähne, der infolge des Alternierens der Zähne einem unteren Spatium inter- dentale entsprach, eine Reibungs- und Druckfläche geboten. Das Ge- biß wird dadurch arbeitskräftiger, in mechanischer Hinsicht erreicht es eine höhere Bildungsstufe; denn zu der Scherenwirkung gesellt sich Die Differenzierung der Unterkieferzähne. 103 jetzt die Preßwirkung. Die erstgenannte Funktion wird sich vorläufig noch in dem primitiven Teil der Zähne vollziehen, die letztgenannte wird in dem jüngeren Teil der Zähne — dem Z)-Höcker der oberen und dem Talonid der unteren — lokalisiert. Für die Erreichung dieses Zieles standen zwei Möglichkeiten offen: es hat nämlich der untere Zahn ein Talonid aus seinem vorderen Rande entwickeln können, welches in funktionelle Beziehung zu dem Z)-Höcker des anstoßenden vorderen oberen Zahnes tritt, oder es konnte das Talonid sich am di- stalen Ende des Zahnes entwickeln und in Relation zum hinteren oberen anstoßenden Zahn treten. Letztere Möglichkeit hat sich nun verwirk- licht, Immer wird der D-Höcker eines Oberzahnes im Talonid jenes Zahnes aufgenommen, der ursprünglich in seinen vor ihm gelagerten Zwischenraum eingriff. Aus welchen Gründen sich gerade dieser Fall verwirklicht hat, ist mir nicht recht klar geworden, es werden auch hier wohl mechanische Bedingungen bestimmend gewesen sein, aber welche diese waren, entgeht mir. Nur darauf möchte ich hinweisen, daß auch bei den oberen Zähnen, wenn sie sich im Laufe der Entwicklung in sagittaler Richtung verlängerten, diese Verlängerung durch Zuwachs am distalen Ende zustande kam. Denn wir haben früher nachgewiesen, daß bei der Entstehung der Doppelhöckerphase der neue Höcker Pp aus dem Hinterrand vom Haupthöcker P entsteht. Durch die Entstehung des Talonid war die Anisomorphie der oberen und unteren Zähne wesentlich gesteigert. Es haben Cope- Osborn in ihrer Theorie auch an den oberen Zähnen einen dem Talonid der unteren entsprechenden Abschnitt — das Talon — unterschieden. In dieser Hinsicht laufen unsere Ansichten vollständig auseinander. Eine dem Talonid der unteren Zähne homologe Bildung fehlt an den oberen. Bei diesen Zähnen hat immer ein sukzessiver Höckerzusatz am schon bestehenden stattgefunden, während das Talonid eine ganz eigentümliche Bildung ist, welche, wie schon gesagt, nicht mit einem einzigen Höcker identifiziert werden darf. Es stellt einen, vom dinieren Zahnkeim als Ganzes ausgehenden, nicht differenzierten distalen Zusatz am Zahn dar, welcher zwar potentia die Anlage bestimmter Höcker enthält, dieselbe aber erst a posteriori zur morphologischen Differen- zierung bringt. In seiner einfachsten Form und geringsten Ausbildung wie es uns z. B. in den Prämolaren der niederen Primaten entgegen- tritt, besteht das Talonid dann auch aus einem etwas verbreiterten Zahnteil mit konkaver, etwas länglicher Kronenfläche, lingual und bukkal von einem ein wenig erhabenen Rande umgrenzt, am distalen Rande fehlt nicht selten der Abschluß. Daß dieses Talonid nicht aus- schließlich von einem der beiden Odontomeren gebildet wird, sondern daß sowohl Protomer als Deuteromer sich am Aufbau beteiligen, läßt sich mit Hilfe der Schemata in Fig. 31 unschwer zeigen. Die Kompli- kation der oberen Zähne kam unter dem Reibungsreiz der unteren an der lingualen Seite zustande, es wurde die Bildungsmasse des Deuteromer aktiviert, und der Zuwachs an diesen Zähnen war daher rein deutoro- merer Ursprung. Als Reaktion auf diese Verlängerung fangen die unteren Zähne an sich nach hinten zu verlängern, und wie aus dem Schemata in Fig. 31 ersichtlich, mußten sich an diesem Vorgang sowohl der proto- mere als der deutoromere Abschnitt des Zahnes beteiligen. Es läßt sich am besten vorstellen als eine gleich große Verlängerung beider Abschnitte nach hinten. Der neue Zuwachs kann somit keinem be- 104 Zweites Hauptstück. stimmten Höcker entsprechen. Erst infolge der weiteren Differenzie- rung entstehen solche aus dem Rande des Talonid. Bis hierher ist die mechanische Grundlage der Entstehung der Zahnform in Verbindung mit der dimeren Natur der Zähne nicht schwer zu hegreifen. Die erste Aktion geht von dem mobilen Unterkiefer aus: Reibung der unteren Zähne an der Innenfläche der oberen; als Reaktion darauf kommt an den oberen Zähnen der D-Höcker zur Entwicklung, und als Anpassung daran entsteht auf den unteren Zähnen das Talonid. Der Zusammenhang dieser progressiven Phasen ist ganz rationell. In den Prämolarenabschnitt des Gebisses mancher Primaten sind Zustände verwirklicht, welche dem Schema in Fig. 31c vollkommen entsprechen. Die oberen Zähne besitzen einen größeren Außenhöcker (eventuell von Nebenspitzen flankiert) und einen kleineren Innenhöcker; die unteren eine kegelförmige vordere Hälfte, die mit den bukkalen Spitzen der oberen alterniert und eine hintere etwas breitere Hälfte, welche mit dem lingualen Höcker der Oberzähne artikuliert. Solche Zähne bilden eine vorzügliche Kombination von Scheren- und Druck- werkzeugen. — Verfolgen wir aber die Komplizierung der gegenseitigen Beziehungen. Gleich wie das Talonid als Anpassung an den D-Höcker der oberen Zähne entstanden ist, bildet nun auch ersteres seinerseits wieder ein Moment für weitere morphologische Differenzierung der Oberkiefer- zähne. Um das verständlich zu machen, muß ich die vorher ausführlich begründete Tatsache in Erinnerung bringen, daß der P-Höcker (Haupt- höcker vom Protomer) der oberen Zähne als Äußerung höherer Diffe- renzierung sich in zwei, meistenteils gleich große Höcker — Pa und Pp - auflöst. Der mechanische Impuls zu dieser Verdoppelung — welcher ein konstantes Merkmal aller Molaren und dazu des letzten Prämolaren einiger Prosimiae und der eocänen Primaten ist — ging vom Talonid aus. Für die Entstehung dieser höheren Bildungsstufe möchte ich folgende Gesichtspunkte entwickeln. Der D-Höcker der oberen Zähne und das mit diesem artikulierende Talonid der unteren Zähne sind anfänglich niedriger als der übrige Zahnabschnitt (von Cope- Osborn als Trigon resp. Trigonid bezeichnet). Bei der vertikalen Bewegung des Unterkiefers - - die wohl als die primitive anzusehen ist - - kommt somit der lingualen Fläche des P-Höekers die Bedeutung von Reibungsfläche für den Außenrand des Talonid zu. Und nun ist es als nicht unwahrscheinlich zu betrachten, daß — da eine Verlängerung dieser Reibungsfläche den funktionellen Wert des Gebisses steigert — unter dem Einfluß davon der P-Höcker sich in distaler Richtung verlängerte, was in der Tat, wie seinerzeit gezeigt wurde, bei gewissen Gebissen sehr schön zu beobachten ist. Diese Verlängerung des Haupthöckers gestaltete sich dann zu dem besonderen Höcker Pp. Der große Vorteil war dadurch erreicht, daß die äußere Seite des Talonid zwischen zwei Höcker — Pa und Pp - der oberen Zähne jgefaßt wurde. (Vgl. Fig. 31, Schema d.) Es ist vorher öfters betont, daß das Talonid eine Komplex- bildung ist, eine Verlängerung des Zahnes, an der beide Odontomeren beteiligt sind. Die erste Differenzierung dieses Zahnabschnittes kam nun unter dem Einfluß der soeben erklärten Entstehung des Pp- Höckers an den Oberzähnen zustande. Es wird an der Innenfläche des mehr hervorragenden protomeren Abschnittes der Oberzähne durch Die Differenzierung der Unterkieferzähne. 105 die Entstehung jenes Höckers ein Tal zwischen denselben und dem Pa-Höcker gebildet. In diesem Tal gleitet die Außenwand des Talonid bei der vertikalen Bewegung des Kiefers auf und nieder. Und als eine bessere Anpassung an dieses Relief des Oberzahnes differenzierte sich aus dem Außenrand des Talonid ein Hügel, der somit vollständig eine Bildung des bukkalen Odontomeren oder vom Protomer war. Dieser Höcker ist mit dem Pp-Wöcker der Oberzähne homolog zu stellen, eine Homologisierung, welche erst später näher gegründet werden kann. Die jetzt erreichte Entwicklungsstufe ist in Fig. 31, Schema e dargestellt. Indem nun im hinteren Abschnitt der unteren Zähne sich der beschriebene Vorgang vollzog, spielte sich auch im vorderen Teil eine progressive Entwicklung ab. Dieser Teil bleibt anfänglich, wenn sich das Talonid ausbildet, aus einem einzigen Höcker bestehen, der seit- lich zusammengedrückt an seinem vorderen Ende nicht selten mit einer unansehnlichen Nebenspitze ausgestattet ist. Aus dem Verlauf der weiteren Entwicklung muß ich schließen, daß der bisweilen sehr kräftig entwickelte Höcker nicht ausschließlich zum protomeren Teil des Zahnes gehört, sondern daß dessen lingualer Abhang potentia Material des Deuteromer enthält. Denn es läßt sich bei Vergleichung mehrerer Affendentitionen leicht feststellen, daß aus diesem Abhang eine zweite Spitze sich entfaltet, ja es macht sogar nicht selten den Eindruck, daß der Höcker der Länge nach in zwei Hälften: eine bukkale und eine linguale zerlegt wird, welche beide gleich groß sind. Sehr schön läßt sich dieser Spaltungsvorgang in seinen progressiven Ab- stufungen als individuelle Variationen an den vordersten Prämolaren der Primaten verfolgen. Ein sehr günstiges Objekt für diese Wahrneh- mungen bietet der erste Prämolar von Siamang und nicht weniger der leichter zu verschaffende erste Milchmolar des Menschen. Es wird davon später noch besonders gesprochen werden, vorläufig begnüge ich mich mit der Verweisung nach Fig. 34, worin der dritte untere Prämolar von drei Individuen von Nycticebus tardigradus, von der mesialen Fläche gesehen, abegebildet ist. Die rechte Seite jeder Skizze entspricht der bukkalen Kante des Zahnes. Das niedrige Talonid ist durch die kegel- förmige Vorderhälfte fast ganz verdeckt. Beim Individuum a war der die Vorderhälfte einnehmende Höcker einfach, beim Individuum b war dessen Gipfel durch eine kurze Furche zerklüftet und in eine etwas größere bukkale und eine kleinere linguale Spitze zerlegt, bei c schließlich konnte man in der Tat von zwei Höckern sprechen, von denen der äußere der stärkere ist. Wie gerade bemerkt wurde, ist dieser Verdoppelungs Vorgang in der vorderen Hälfte der unteren Zähne beim ersten Milchmolaren des Menschen in seinen verschiedenen Phasen als individuelle Variationen leicht zu verfolgen. Eine sehr lehrreiche Serie liefert gleichfalls der erste Milchmolar der Anthropoiden und des Menschen. Es ist in Tafel- f igur 9 eine solche Serie abgebildet worden. Die Fig. a gibt den erwähnten Zahn von Gorilla wieder, Fig. b von Orang, Fig. c von Schimpanse. Fig. d von Hylobates und Fig. e vom Menschen. Man überzeugt sich, wie allmählich die einfache Spitze, welche den Zahn bei Gorilla kenn- zeichnet, in eine äußere und innere sich spaltet, indem der Höhenunter- schied zwischen vorderer und hinterer Hälfte sich gleichzeitig aus- gleicht, Das ist die Fotee davon, daß mit der Differenzieruno; der vorderen 106 Zweites Hauptstück. b Zahnhälfte jene des Talonid gleichen Schritt hält. Die Entfaltung der morphologischen Potenzen geht bei den Unterkieferzähnen nicht sukzessive, sondern es hat mehr die diniere Zahnanlage als Ganzes zum Gegenstand. Die Frage, warum bei Gorilla der erste Milchmolar eine mehr undifferenzierte Form besitzt als beim Menschen, können wir hier beiseite lassen; daß es sich bei den Anthropoiden im allge- meinen und bei Gorilla im besonderen um eine Kückbildung von einer vorher mehr differenzierten Form handeln sollte, kommt mir nicht wahrscheinlich vor. Der Vollständigkeit wegen sei noch bemerkt, daß bei Orang bisweilen zwei deutlich ge- sonderte Höckerchen vor dem Talonid sich finden und bei Schimpanse bisweilen auch wohl, im Gegensatz zu dem abgebildeten Zahn, ein einziger. Die individuellen Variationen kommen hier nicht weniger als beim Men- schen vor. Welchen Wert haben nun diese beiden prätaloniden Höcker, wie ich sie vorläufig kurzhin nennen will? Zur Entscheidung dieser Frage muß man von der Tatsache Ausgang nehmen, daß am Unterzahn die vordere und hintere Hälfte ungleich alt sind, wie an den Oberzähnen die bukkale und linguale Hälfte. Das Talonid ist ein jüngerer Zuwachs, eine distale Apposition am älteren, vorderen Teil. Diese vordere Hälfte repräsentiert — man vergleiche die Schemata in Fig. 31 — der ursprüngliche Zahn, der hier wie bei den einfachst gebauten aniso- gnathen Gebissen mit den ebenfalls mehr einfach kegel- förmigen Zähnen des Oberkiefers alterniert. Man kann sich somit die beiden Höcker der Vorderhälfte des Unter- zahnes als eine bukkale und linguale Spitze an jenem einfachen Zahn denken. Und diese Überlegung macht die Homologisierung beider Spitzen ziemlich leicht. Denn sie können nur die Haupthöcker beider Odontomeren darstellen und zwar der bukkale den P-Höcker des Protomer und der linguale den D-Höcker des Deutero- mer. Ist diese Homologisierung richtig — und es scheint mir keine andere möglich zu sein — dann begegnet uns hier ein Vorgang, in dem der Unterschied zwischen der Differenzierung der oberen und unteren Zähne sich klar und unzweideutig äußert. Man vergleiche dazu nur die Weise, in welcher der D- Höcker bei den oberen Zähnen entstand, mit jener bei den unteren. Im ersteren Fall erscheint der D-Höcker zuerst als eine niedrige Er- habenheit, eine linguale Vorwölbung am kräftigen Haupt- höcker P des Protomeren. Gleich bei ihrer Entstehung zeigt diese Bildung also schon eine gewisse Selbständigkeit; sie ist morphologisch vom protomeren Haupthöcker gesondert, und je kräftiger sich der .D-Höcker ausbildet, desto schärfer tritt diese Selbständigkeit hervor, bis er schließlich dem P-Höcker an Größe gleich kommt. Bei den unteren Zähnen dagegen besteht die vordere Hälfte anfänglich nur aus einer einzigen kegelförmigen Spitze, die größer wird, bis sie schließlich in zwei Hälften, eine äußere und eine innere, zerfällt. Hieraus muß man schließen, daß jener einfache prätalonide Kegel potentia den C Fig. 34. Nyc- tycebus tardi- gradus. Unte- rer dritter Prä- molar von drei Exemplaren. Die Differenzierung der Unterkieferzähne. 107 P-Höcker vom Protomer und den .D-Höcker des Deuteromer ent- hält. In dieser Weise ist er dann auch in Schema a von Fig. 31 bezeichnet worden. Die morphologische Manifestation der Dimerie des Zahn- keimes entfaltet sich daher bei den oberen und unteren Zähnen in etwas differenter Weise. Bei den unteren nehmen beide Odontomeren sofort einen gleichen Anteil an der Bildung des Zahnes, ohne daß es vorläufig zu einer morphologischen Abgrenzung zwischen den Anteilen beider Odontomeren kommt. Erst nachdem der Zahn einen bestimmten Ent- wicklungsgrad erreicht hat, tritt eine Trennungsfurche zwischen den Bezirken beider Odontomeren auf. Beim oberen Zahn dagegen bildet zuerst das Protomer die Hauptmasse des Zahnes und das Deuteromer erscheint anfänglich als eine Nebenknospe, ein Akzessorium, an dessen lingualer Seite, das allmählich zur Größe des protomeren Höckers emporwächst. Es spielt sich somit im prätaloniden Teil der unteren Zähne ein Vorgang ab, identisch mit jenem, der im Talonid konstatiert werden konnte. Denn das Talonid stellt anfänglich eine Verlängerung des Zahnes dar, an deren Bildung ebenfalls sowohl Protomer als Deutero- mer sich beteiligen, ohne daß eine Trennungsmarke die Gebiete beider Odontomeren abgrenzt. Erst später tritt in dem Talonid eine morpho- logische Differenzierung auf, es läßt bestimmte Höcker aus sich ent- stehen, von denen wir den zuerst erscheinenden, aus dessen bukkalem Rand auftretenden, bereits keimen gelernt haben. Der Unterschied in der Differenzierungsgeschichte unterer und oberer Zähne kommt somit darauf zurück, daß die letztgenannten sich komplizieren infolge eines sukzessiven Zuwachses von Tuberkeln, die latenten Potenzen der Höcker werden nacheinander aktiviert; bei den unteren Zähnen dagegen wächst der Zahnkeim als Ganzes zunächst bis zu einem ge- wissen Grade unter Beteiligung sämtlicher Höckerpotenzen aus und es erfolgt die morphologische Differenzierung erst nachher. Dieser differente Entwicklungsgang wird durch die verschiedene Lagerung beider Zahnreihen zueinander und die daraus resultierende not- wendige Anisomorphie der Elemente beider Reihen bedingt. Diese Ungleichförmigkeit haben wir wenigstens zum Teil schon aus den funktionellen Beziehungen zwischen oberen und unteren Zähnen ab- geleitet. Daß der Haupthöcker vom Protomer und jener vom Deuteromer miteinander verbunden eine kräftige Spitze bilden, wie im prätaloniden Teil der unteren Zähne, ist keine isoliert dastehende Erscheinung. Ähnliches haben wir schon einmal nachgewiesen. Ich erinnere dazu an das vorher über die morphologische Natur der zu kräftigen Hauern entwickelten Eckzähne gewisser Affen Gesagte. Auch diese Canini sind nicht wie jene des Menschen ausschließlich aus dem Haupthöcker des Protomer aufgebaut, sondern es beteiligen sich die Haupthöcker beider Odontomeren an deren Zusammensetzung. Nachdem wir über die essentielle Differenz in der Entwicklung oberer und unterer Zähne orientiert sind, wobei gleichzeitig gezeigt ist, daß die Manifestation der dinieren Natur des Säugerzahnes in beiden Zahnreihen eine andere ist, ist es nicht schwer, die jetzt folgenden weiteren Entwicklungsstufen zu verfolgen und in Verbindung mit den Entwicklungserscheinungen der oberen Zähne zu bringen. Denn auf dem eingeschlagenen Wege gehen in wechselseitiger Beziehung beide Zahnreihen weiter, die oberen Zähne entfalten neue deuteromere 108 Zweites Hauptstück. Höcker, die unteren lassen als Reaktion darauf auf dem Talonid die Höcker zur morphologischen Differenzierung kommen. Die Entstehung der Zahnform in Fig. 31/ ist uns jetzt verständ- lich geworden, und auch die funktionelle Beziehung zwischen oberen und unteren Zähnen in diesem Entwicklungsstadium. Es ist dieses Schema keine rein theoretische Konstruktion. Denn bei Lemuren z. B. ist, wie aus Fig. 32 ersichtlich, der erste Molar ganz wie im Schema/ von Fig. 31 gebaut. Der prätalonide Teil des Zahnes besitzt eine äußere und innere Spitze, wozu am Vorderrande noch eine Nebenspitze hinzu- kommt, welche in dem Schema nicht angedeutet ist. Das Talonid ist breit, aber nur der bukkale Randteil trägt einen Höcker, der gleich groß ist, wie der bukkale des prätaloniden xibschnittes. Es ist in den vorangehenden Auseinandersetzungen dargestellt, daß der bukkale Talonidhöcker — den ich mit Pft der oberen Zähne identifiziere — erscheinen sollte, ehe im prätaloniden Teil die Höcker Pa und D sich voneinander emanzipiert haben. Diese Reihefolge in der Darstellung der Phänomenen ist eine etwas willkürliche, es kommt nicht selten vor, daß Pa und D selbständig geworden sind, während am Talonid noch keine deutliche Höckerbildung zustande gekommen ist. Über die weiteren Differenzierungserscheinungen können wir uns kurz fassen. Gehen wir dazu wieder von dem leichter verständlichen oberen Zahn aus. Nach der Entwicklung des Haupthöckers D tritt, wie wir früher gezeigt haben, im Deuteromer die hintere Nebenspitze 4 auf, welche bei nicht wenigen Primaten eine Größe, wie der zugehörige Haupthöcker D erreicht. Diese Spitze nimmt die hintere linguale Ecke der Krone ein. (Vgl. Fig. 31, Schema g. ) Für die Vergrößerung dieser Spitze des überzahltes ist eine Auseinanderschiebung der Höcker Pa und D des Unterzahnes eine votwendige Vorbedingung, denn es wird der hintere Abhang dieser Spitze 4 eingefaßt zwischen den vorderen Abhängen der beiden genannten Höcker des Unterzahnes. Darin äußert sich wieder eine AVechselbeziehung in der Formentwicklung oberer und unterer Zähne. Denn so lange die Höcker P und D desünter- zahnes noch zu einem einfachen Kegel verbunden sind, ist der prä- talonide Abschnitt dieser Zähne schmaler als der talonide Abschnitt. Der Zahn hat dann die eigentümliche von Topinard als ,, knöpf loch- form" bezeichnete Gestalt1). Die Entwicklung der Spitze 4 im Ober- zahn steht nun in korrelativer Beziehung zur Auflösung im Unter- zahn des vorderen Kronenkegels in seinen beiden Komponenten Pa und D, wodurch die vordere Hälfte sich verbreitert, eine gleiche trans- versale Dimension erhält wie die hintere Hälfte, wodurch die ursprüng- liche knopflochartige Gestalt des Unterzahnes verloren geht und derselbe mehr regelmäßig viereckig wird. Es ist leicht einzusehen, daß durch diese Differenzierung der funktionelle Wert des Zahnes wieder gesteigert wird, denn war anfäng- lich die Preßwirkung beschränkt auf den Talonid des Unterzahnes und den Z)-Höcker des Oberzahnes, da hat die Verbreiterung des prä- taloniden Zahnabschnittes und die sich einstellende mechanische Be- ziehung desselben zum Höcker 4 des Oberzahnes zur Folge, daß jetzt 1) P. Topinard, De Involution des Molaires et Premolaires chez les Pri- mates. L' Anthropologie 1902. Die Differenzierung der Unterkieferzähne. 109 auch eine Preßwirkung zwischen diesen Teilen der oberen und unteren Zähne hinzutritt. Allerdings geschieht das unter Verlust der Scheren- wirkung, welche anfänglich Aufgabe der bezüglichen Zahnteile war. Der Gebißmechanismus änderte sich also nicht unwesentlich durch diese höhere Ausbildung der Zähne. Unter dem nämlichen Gesichts- punkt fällt die gleichzeitig stattfindende weitere Formentfaltung am taloniden Abschnitt des Unterzahnes. Es differenziert sich am lingualen Rande desselben ein Höcker, der seiner Bildungsstätte entsprechend ein Produkt vom deuteromeren Abschnitt des Zahnes sein muß, und kein anderer sein kann als die hintere Nebenspitze 4 dieses Zahnes. Durch die Entstehung dieser hinteren lingualen Spitze am Unterzahn wird erreicht, daß beim Schließen der Kiefer jeder der beiden lingualen Höcker des Oberzahnes zwischen vier Tuberkeln von Unterzähnen gefaßt wird, sie werden in dem von vier unteren Höckern umschlossenen Tal aufgenommen und beim Druck beider Gebißteile aufeinander in dasselbe eingesperrt. Es vollziehen sich gelegentlich wohl noch weitere Differenzierungen an den unteren Zähnen, dieselben sind aber von untergeordneter Natur, betreffen weniger den Entwicklungsgang dieser Zähne im all- gemeinen und tragen mehr einen speziellen Charakter. Von den- selben verdient das bekanntlich nicht seltene Auftreten eines fünften Höckers erwähnt zu werden. Am häufigsten bildet sich dieser Höcker am bukkalen Rande des Zahnes, wie z. B. bei den Anthropoiden oder er erscheint mehr nach hinten verschoben, wie an dem letzten Molaren der Semnopithecidae und Cynopithecidae. Dieser dem Talonidrande entsprossene Höcker läßt nur eine Deutung zu, Es ist die hintere Neben- spitze 2. des Protomer, die bei den oberen Zähnen niemals eine etwas hervorragende Bedeutung erreicht. Das Auftreten dieses Tuberkels ist bekanntlich sehr stark wechselnd, bald entsteht er nur am dritten Molaren (Cercopithecidae), bald an allen (Anthropomorphen) oder es fehlt am mittleren (Mensch). In dieser Unbeständigkeit äußert sich die ursprüngliche Natur des Höckers als Nebenspitze. Bei den Semno- pitheken, Cynopitheken und Makaken erreicht dieser Höcker nicht selten eine ansehnliche Größe, und wird daher wohl als dritter Lobus dieses Zahnes angedeutet. Das Vorkommen dieses Höckers an allen Molaren der Anthropoiden und gelegentlich auch des Menschen ist wieder als eine primitive Erscheinung zu betrachten, eine Persistenz eines primitiven Verhältnisses, wodurch sich aufs neue das Gebiß des Anthropoiden und des Menschen weniger spezialisiert erweist als jenes der meisten Affen. Eine zweite Stelle, welche den Sitz akzessorischer Höcker sein kann, ist der Vorderrand. Hier trifft man nicht selten ein — oder in seltenen Fällen zwei Höckerchen an, welche die vordere Nebenspitze von Protomer und Deuteromer entsprechen, also als Spitze 1 und 3 bezeichnet werden müssen. Es ist im obenstehenden der Entwicklungsgang der unteren Zähne verfolgt worden, besonders im Verband mit der Korrelation zwischen diesen Zähnen und jenen des Oberkiefers. Der mechanische Faktor tritt dabei in den Vordergrund, und wie ich meine, ist hier zum ersten Male in der Literatur der Versuch angestellt worden, die Morphogenese oberer und unterer Zähne auf Grund gegenseitiger Be- ziehungen zur Darstellung zu bringen. Allerdings war es notwendig, 110 Zweites Hauptstück. dabei das Prinzip in den Vordergrund zu stellen, daß obere und untere Backzähne verschiedenen Entwicklungsgängen gefolgt sind. Die Formübereinstimmung, welche schließlich bisweilen erzielt wird, gründet sich nicht auf einen gleichen Entwicklungsgang, sondern darauf, daß die morphogenetischen Potenzen in den Zähnen beider Reihen die gleichen waren. Fig. 35. Schemata zur Erläuterung der Entwicklung der unteren Zähne. Wir werden jetzt noch kurz diesen Entwicklungsgang schildern unter Beseitigung der mechanischen Einflüsse, welche formbildend wirkten, und mehr im Verband mit der dinieren Anlage des Zahnes. Die Fig. 35 wird uns dabei als Leitfaden dienen. Das Schema a dieser Figur stellt die Krone des Unterzahnes in ihrer einfachsten Gestalt dar, aufgebaut aus einem Kegel mit einem vorderen zugespitzten und einem distalen mehr abgerundeten Band, nicht selten mit einem Basalsaum ausgestattet. Diese seitlich kom- promierte kegelförmige Zahnkrone entspricht nicht einem einzigen Höcker des später völlig entwickelten Zahnes, sondern enthält die Haupthöcker der beiden Odontomeren. Im Gegensatz zu den Oberzähnen beteiligen sich sofort die beiden Odontomeren in gleichem Maße am Aufbau des Zahnes. Der hintere Basalsaum, der an derart gestalteten Zähnen sehr häufig ist, und z. B. in Fig. 36 — den unteren zweiten Milchmolar von Nyeticebus tardigradus in oberer und hinterer Ansicht darstellend — zu ersehen ist, hat dann auch genetisch eine andere Bedeutung als der Basalsaum an den oberen Zähnen. Hier stellt er das Deuteromer in seiner einfachsten Manifestation dar, beim Unterzahn dagegen ist es die Grundmasse, aus der sich bald das Talonid entwickeln wird. An diesem Basalsaum müssen beide Odontomeren sich beteiligen. Fig. 36. Nyeti- cebus tardigradus. Zweiter unterer Milchmolar, avon distal, b von oben. Die Differenzierung der Unterkieferzähne. Hl Der Gegensatz in der Bildlingsstelle des Basalbandes bei oberen und unteren Zähnen hat schon die Aufmerksamkeit mehrerer Forscher auf sich gezogen. Schon bei den niedrigsten mesozoischen Säugern tritt es an dieser Stelle auf, wie folgender Satz von Osborn beweist: „The premalors of Dromatherium have no trace of a cingulum. In Microconodon they show a faint posterior cingulum"1). Gleichfalls sagt Schlosser in seinem Aufsatz über die Differenzierung des Säuge- tiergebisses2): „Der hinterste — obere — Pr. treibt auf seiner Innen- seite eine Knospe, die sich allmählich zu einem größeren oder bleibenden Iuuenhöcker auswächst. Gleich wie am oberen Prämolar, so entsteht auch am unteren Prämolar ein Auswuchs, aber nicht auf der Innen- seite, sondern am Hinterrande. Von derartigen Zähnen, wie die eben geschilderten, lassen sich die Prämolaren aller Fleischfresser inkl. Insektivoren sowie jene der Affen, Huftiere und wohl auch aller übrigen Säuger ableiten." Man sieht, daß die differente Lagerung des Basalsaumes an den Zähnen beider Gebißreihen von Schlosser deut- lich erkannt ist und scharf betont wird. Die in Fig. 35a skizzierte Zahnform ist bei den Prosimiae außer- ordentlich häufig im vorderen Teil des Gebisses vertreten. Als Bei- spiele nenne ich den ersten Prämolar von Propithecus, Indris, Lemur, Tarsius; den zweiten Prämolar von Indris, Lemur, Tarsius. Bei den Affen ist dieselbe z. B. durch den ersten Milchmolar von Hapale ver- treten. Das nächste Entwicklungsstadium des Unterzahnes — in Fig. 356 schematisiert — kennzeichnet sich durch die Entwicklung des Basal- saumes zu einem wahren Talonid, wovon eine Zusammensetzung des Zahnes aus zwei scharf von einander abgesetzten Hälften die Folge ist. Die vordere Hälfte hat eine hohe kegelförmige Gestalt, die hintere ist niedriger, breiter, mit konkaver Oberfläche. Das Talonid ist ebenso wie der prätalonide Teil eine Bildung beider Odontomeren (Fig. 35, Pd). Ich bevorzuge es von einem prätaloniden Abschnitt zu sprechen und nicht von einem Trigonid. Denn die Bezeichnung Talonid habe ich nur der Bequemlichkeit wegen aus der Cope-Osbornschen Nomen- klatur entnommen, weil sie sich eingebürgert hat, und auch weil der von mir geschilderte Differenzierungsgang dieses Zahnabschnittes in mancher Hinsicht mit jenem von Osborn übereinstimmt. Aber für ein dem Osbornschen Begriff Trigonid entsprechenden Zahnteil ist in meiner Theorie kein Platz. Für diesen Begriff, ebensowenig wie für das Trigon oder Talon, bestehen zwischen unseren Theorien keine Be- rührungspunkte. Die erste Höckers pezialisierung kann nun entweder im Talonid oder im prätaloniden Teil des Zahnes auftreten. Ich wähle für diese Übersicht den letzteren Fall. Die hier auftretende Spezialisierung be- steht darin, daß der kegelförmige Höcker sich in zwei Spitzen teilt (Fig. 35 c), eine bukkale und eine linguale. Erstererist der Haupthöcker P vom Protomer, letzterer jener vom Deuteromer (D). Infolge dieser Sonderling ist der prätalonide Abschnitt des Zahnes breiter geworden. 1) H. F. Osborn, The upper triassic mammals. Proc. Amer. Philos. Soc. 1887. 2) M. Schlosser, Die Differenzierung des Säugetiergebisses. Biol. Centralbl. 1890/91, Bd. IV, S. 238. 112 Zweites Hauptstück. Dann folgt eine Entstehung von Höckern auf dem Rande des Talonid. Meistenteils erscheint zuerst ein bukkaler Höcker (Fig. 3öd). DieHomologisierung desselben bietet, wenn der weitere Differenzierungs- gang des Zahnes unbekannt ist. Schwierigkeit. Denn man könnte ge- neigt sein, in denselben die hintere Nebenspitze vom Protomer zu erblicken. Die weitere Differenzierung läßt aber eine andere Homologi- sierung als die einzig richtige erkennen. Er kann nur dem Pp-Röcker des Oberzahnes homolog sein, denn die hintere Nebenspitze vom Pro- tomer tritt gelegentlich später, als der sogenannte dritte bukkale Höcker auf. Man muß sich somit denken, daß auch im Unterzahn die Bildungsmasse des protomeren Haupthöckers zwei Höcker aus sich hervorgehen läßt, die wie im Oberzahn als ein vorderer und hinterer nebeneinander gelagert sind. Daß die eben gegebene Homologisierung die richtige ist, geht, wie gesagt, aus dem weiteren Differenzierungsvorgang am Talonid hervor. Denn es kommt hier zur Sonderung von noch zwei Tuberkeln, einer an der lingualen Seite, und einer an der Stelle, wo der bukkale Rand sich im Hinterrande umbiegt (Fig. 3be und /). Der letzterwähnte kann völlig auf den Hinterrand rücken. Von diesen beiden Differenzie- rungsprodukten des Talonid ist der linguale der meist konstante, der dritte bukkale, auch wohl als unpariger hinterer Höcker angedeutet, ist in seinem Auftreten weit mehr schwankend. Der linguale kann nur die hintere Nebenspitze 4 vom Deuteromer dar- stellen, der dritte bukkale die hintere Nebenspitze 2 vom Protomer. Schließlich können am Vorderrande des Zahnes . zwei Höckerchen erscheinen (Fig. 35g), welche auch unterer Molar6 des wo^ zu e*nem einzigen zusammengekommen sein Menschen. Ideale können, und dann einen etwas aufgeworfenen Vorder- Form. rand am Zahn bilden, nach hinten durch eine trans- versale Furche — die Fovea anterior oder vordere transversale Furche der Autoren - - begrenzt. Diese beiden Höcker- chen stellen die vorderen Nebenspitzen vom Proto- und Deuteromer dar und müssen daher als 1 resp. 2 bezeichnet werden. Das in Fig. 35g gegebene Schema stellt den meist vollständigen Unter- kieferzahn vor, der überhaupt bei den Primaten denkbar ist. Daß dieses Schema jedoch nicht eine abstrakte Form wiedergibt, sondern eine gelegentlich auftretende wirkliche Form, geht aus Fig. 37 her- vor. Diese Figur stellt einen unteren zweiten Molaren vom Menschen dar. In seiner geradezu idealen Gestalt mit noch fast ganz intakter Kaufläche, ist dieser Zahn der schönste Menschenmolar, den ich je gesehen habe. Wie man sich leicht überzeugen kann, sind an diesem Objekt sämtliche Höcker und zu Höckerchen ausgebildete Nebenspitzen entwickelt. Nach dieser kurzen Zusammenfassung des Entwicklungsganges der unteren Zähne werden wir noch einmal einen Blick auf die Differenz im Werdegang der oberen und unteren Zähne werfen. Wenn man bei den rezenten Primaten die Gestalt der oberen und unteren Zähne miteinander vergleicht, dann fällt es auf, daß es, was die Anordnung der Höcker und deren Zahl betrifft, Geschlechter gibt bei denen obere und untere Zähne einander sehr ähnlich sind, und Die Differenzierung der Unterkieferzähne. 113 daneben solche, bei denen ein wesentlicher, bisweilen sogar sehr großer Gegensatz zwischen beiden Gruppen besteht. Selbstverständlich treten diese Unterschiede und Übereinstimmungen am meisten bei den Molaren hervor. Zieht man in der Vergleichung auch die Gebisse der Urpri- niaten heran, dann ist es leicht festzustellen, daß die Differenzen zwischen den Zähnen beider Reihen auch hier nicht gering sind. Diese Tatsache weist auf eine bestimmte Entwicklungstendenz hin, die für die Frage nach der verwandtschaftlichen Beziehung der Primaten untereinander nicht ohne Bedeutung ist. Denn wenn die oberen und unteren Molaren der Urprimaten sich durch ihre Anisomorphie kenn- zeichnen, und bei den heutigen Primaten solche Geschlechter vorkommen, bei welchen die Zähne einander sehr ähnlich geworden sind, dann darf daraus der Schluß gezogen werden, daß der Entwicklungsgang dahin- zielt, die Anisomorphie der oberen und unteren Molaren auszugleichen. Es folgt hieraus, daß solche Gebisse als primitiver zu betrachten sind, bei denen obere und untere Zähne ungleichförmiger sind. Dieses Prinzip wird später Verwendung finden. Bei der oben gegebenen Darstellung der Entstehung der Zahn- formen war ich daraufhin bestrebt, diese Formen verstehen zu lernen, aus den mechanischen Einflüssen, welche die obere und untere Reihe gegenseitig aufeinander ausüben in Verbindung mit dem Grund- prinzip meiner Dimertheorie des Säugerzahnes. Die sukzessive Ent- faltung der höher differenzierten Zähne ist nicht lediglich eine Folge von Mechanik, sondern das Resultat der Einwirkung mechanischer Faktoren auf Elemente mit bestimmten morphologischen Potenzen. Biologisches und Mechanisches wirkten bei der Entstehung des Gebisses zusammen. Diese Zusammenwirkung hat in Verbindung mit der un- gleichen Lage beider Zahnreihen eine Verschiedenheit im Entwicklungs- gang zur Folge, welche oben ausführlich geschildert worden ist. Bis jetzt war von den Wurzeln der unteren Zähne noch nicht die Rede. Eine ähnliche Erscheinung ist hierbei zu konstatieren, wie am Kronenteil, wenn mit den oberen Zähnen verglichen. Denn auch die Wurzeln der unteren Zähne weichen in ihrer Differenzierungsweise von jenen der oberen Zähne ab. Doch bleiben auch bei diesen die näm- lichen mechanischen Faktoren als formbestimmend bestehen als bei jenen. Es seien die Hauptpunkte der Differenzierung der Wurzeln im Oberkiefer dazu kurz in Erinnerung gebracht. Im Anfang war der trikonodonte Zahn einwurzelig, diese Wurzel gehört zum Protomer. Sodann spaltet sich diese Protomerwurzel in einer vorderen und einer hinteren, die ein Gewölbe mit vorderem und hinterem Pfeiler darstellen, das dem auf die Krone ausgeübten Druck Widerstand leistet. Wenn im Laufe der weiteren Kronenentwicklung das Deuteromer sich aus- bildet, entwickelt sich gleichzeitig die zu diesem Odontomer zugehörige Wurzel, die linguale. Eine weitere Differenzierung kommt bei den Pri- maten nicht vor. Als Varietät kommt es bisweilen beim Menschen zu einer Spaltung der lingualen Wurzel. Bei den Unterzähnen verläuft die Wurzelentwicklung in etwas abgeänderter Weise. Auch hier fängt der Zahn als ein einwurzeliges Gebilde an. Diese Wurzel trägt die kegelförmige Krone, welche, wie vorher auseinandergesetzt, ein Bildungsprodukt vom Proto- und Deuteromer ist. Daher kann auch diese Wurzel strictiori sensu nicht als vollständig homolog mit der protomeren WTurzel der oberen Zähne ßolk, Die Morphogenie der Primatenzähne. o 114 Zweites Hauptstück. betrachtet werden. Wenn später im Unterkiefer die Zähne ein Talonid zur Entwicklung bringen, wird letzteres gleich von Anfang an durch eine besondere Wurzel --die Talonidwurzel — getragen. Und auch diese ist niclil ausschließlich auf einen der beiden Odontomeren zurück- zuführen, denn, wie vorher dargetan wurde, ist das Talonid eine Bildung beider Odontomeren. Wenn die Talonidwurzel der unteren Zähne entwickelt ist, dann ist hier der Form nach ein gleiches Stadium erreicht, wie beim zwei- wurzeligen trikonodonten Zahn des Oberkiefers. Denn dann finden sich in beiden Kiefern Zähne, deren Krone sich auf eine vordere und hintere Wurzel stützt, wie der Schlußstein eines Gewölbes. Bei den Unter- kiefern bleibt bekanntlich dieser Zustand bestehen. Bisweilen spaltet sich die vordere Wurzel, eine Erscheinung, die vielleicht zu deuten ist als eine Auflösung dieser Wurzel in seinem proto- und deuteromeren Komponent. Wir schließen hiermit die Besprechung der Morphogenese der unteren Zähne. Es war mein Zweck, in diesem Hauptstück nur die allgemeinen Gesichtspunkte festzulegen, wozu ich durch das Studium der Unterkieferzähne gelangt bin. eine Theorie der Morphogenese dieses Unterteiles des Gebisses zu geben. Für die Anwendung dieser Gesichtspunkte und gleichzeitig die weitere Begründung der Theorie muß ich auf das Hauptstück venveisen, worin das Primatengebiß als Ganzes besprochen wird. Ehe ich dazu übergehe, wünsche ich in einem besonderen Kapitel auf den Begriff der Zahnkonkreszenz im allgemeinen näher einzugehen, denn die von mir verfochtene Uimertheorie, wie sie in dem vorangehen- den Hauptstücke auf das Gebiß der Primaten Anwendung fand, ist in ihrem Wesen eine bio-mechanische Theorie. Sie lehrt die Zahnformen kennen als Resultanten von mechanischen Faktoren. Und diese Seite der Theorie ist besonders in diesem Hauptstück in den Vordergrund gebracht. Andererseits jedoch darf nicht übersehen werden, daß diese mechanischen Faktoren nur die auslösenden Momente darstellen. Sie agierten auf eine Masse, welcher bestimmte prospektive Potenzen innewohnten, welche durch die mechanischen Impulse in bestimmter Reihenfolge aktiviert wurden. Die Art dieser prospektiven Potenzen wurden jedoch durch ein vorangegangenes physiologisches Geschehen — die Vereinigung der Anlagen von primitiven Zähnen — bestimmt. Und ich#werde jetzt auf diesen physiologischen Prozeß ausführlich ein- gehen, auch weil darüber im Laufe der letzten Zeit meine Ansichten ein wyenig geändert sind, und meine Vorstellung vom Prozeß sich, wie ich glaube, geklärt hat. Drittes Hauptstück. Über das Wesen der Zahnkonkreszenz. In der ersten dieser Studien ist auf S. 111 vorübergehend die Frage gestellt worden, welches die Ursache gewesen sein kann, daß bei der Umbildung des Reptiliengebisses zum Säugergebiß zwei Genera- tionen einer Zahnfamilie miteinander verwachsen sind und dadurch ein Produkt von höherem funktionellem Wert bildeten. An jener Stelle äußerte ich mich darüber folgenderweise: „Ob die Kieferverkürzung auch für diesen Vorgang ein ätiologisches Moment war, darüber bin ich im unsichern. Es sind mir die Gründe, warum diese Verwachsung zustande kam, nicht deutlich. Denn bessere Anpassung an ihre Funktion könnte solche Formen fixiert haben, sie kann dieselbe nicht ge- schaffen haben." Und auf S. 116 findet sich weiter der folgende dies- bezügliche Passus: „Wir können anläßlich der Konkreszenzprobleme wohl Betrachtungen a posteriori anstellen und darauf hinweisen, daß das Produkt der Verwachsung ein funktionell mehr vollkommenes Organ war, aber diese Wahrheit entledigt uns nicht der Aufgabe, das Kausalmoment zu erforschen, welches zwei ursprünglich getrennte Organe zwang, sich zu einem einzigen zu verbinden." In den folgenden Seiten wünsche ich nun diese Frage näher ins Auge zu fassen. Nicht weil es mir gelungen sein sollte, die Grundursache dieses ontogenetischen Prozesses zu erforschen, sondern weil ich über die mechanische Seite der Erscheinung zu einer mehr vollständigen und mehr richtigen Vor- stellung gekommen zu sein glaube, als zur Zeit, wo ich die zitierten Sätze schrieb. Vieles haben dazu beigetragen Untersuchungen über die Entwicklung der Zähne und der Zahnleiste bei den Selachiern, welche ich seitdem angestellt habe, aber auch nicht wenig eine mehr eingehende Kenntnisnahme der Abhandlung von Dependorf über die Konkres- zenztheorie1). Der Inhalt dieser Abhandlung war mir, als ich meine erste Studie schrieb, nur oberflächlich bekannt, sonst würden die vom Autor darin gemachten Bemerkungen und Auffassungen sich wohl an gewissen Stellen meiner Studie reflektiert haben. Denn mit den in jener Abhandlung ausgesprochenen Prinzipien kann ich mich sehr gut vereinigen. Fangen wir somit an, die Bemerkungen von Dependorf über die Konkreszenz von Zähnen kurz auszuführen. Es will mir scheinen, daß die Bedenken. welche man gegen den Konkreszenzprozeß ins Feld führen kann, von Dependorf sehr richtig 1) T. Dependorf, Zur Frage der sogenannten Konkreszenztheorie. Jen. Zeitschr. f. Naturw. 1906, Bd. XLII. s* Hß Drittes Hauptstück. in dem folgenden Satze zur Äußerung gebracht sind: „Wirerschweren uns ganz offenbar den genannten Vorgang in der Entwicklung des Säuger- zahnes durch den Ausdruck „Verschmelzung". Man stellt sich darunter einen äußerlich sichtbaren und in seiner Entwicklung nachweisbaren aktuellen Prozeß vor, der aber in Wirklichkeit gar nicht vorhanden sein kann" (1. c. S. 543). Diese Bedenken von Dependorf sind richtig, besonders wenn man den Elementen, welche die Konkreszenz eingehen, schon einen gewissen Grad von Selbständigkeit verleiht. Auch dagegen warnte der Autor schon, wenn er gegen die Konkreszenztheorie anführte, daß die Zahnanlagen, welche miteinander verschmelzen sollen, doch sämtlich nahezu die gleiche Entwicklungsstufe einnehmen müssen, denn wenn verkalkte und unverkaufte Anlagen miteinander ver- schmolzen, dürften sie kaum ein brauchbares Gebilde abgeben. Es ist nicht zu leugnen, daß meine Vorstellung über die Kon- kreszenz zweier Reptilienzähne zum einheitlichen Säugerzahn wirklieh jenen mechanischen Charakter besaß, die von Dependorf zurück- gewiesen wird. Denn auf S. 116 meiner ersten Studie spreche ich von einer Verbindung „zweier ursprünglich getrennter Organe". Diese Ver- bindung dachte ich mir allerdings zustande gekommen in einem sehr frühen ontogenetischen Entwicklungsstadium. Der an zweiter Stelle genannten Einwurf von Dependorf, daß die Zähne, welche die Ver- wachsung eingingen, nahezu in der gleichen Entwücklungsphase sich be- finden müßten, war auch von mir empfunden worden. Daher behauptete ich 1. c. S. 117: „daß eine Verwachsung der Anlagen zweier Generationen nur denkbar ist, wenn beide in unmittelbarer Nähe voneinander liegen und nahezu gleichweit in der Entwicklung fortgeschritten sind". Wie man sieht, war mir die mechanistische Vorstellung, wogegen Depen- dorf das Wort ergriff, nicht fremd. Ich war der Ansicht, daß wirklich zwei selbständige, in sich abgeschlossene Organe beim phylogenetischen Entstehen des Säugergebisses zu einem einzigen Gebilde zusammenge- getreten waren, sei es dann auch, daß diese Verwachsung schon in einer sehr frühen ontogenetischen Phase zustande kam, daß nicht Zähne, sondern Zahnkeime zusammentraten. Daß ich dieser Ansicht war, findet wohl hauptsächlich seinen Grund in der Vorstellung, die man im allgemeinen aus der Literatur über die Natur der Zahnleiste oder, wie diese Bildung auf den Vorschlag Hertwigs auch genannt wird, Ersatzleiste erhält. Letztere Bezeich- nung ist dem Inhalt des Wortes nach, wie ich meine, leicht irreführend und ist vielleicht von Hcrtwig damals gewählt, um den Gegensatz scharf hervortreten zu lassen zwischen seiner Ansicht über die Ent- wicklung der Selaehierzähne und deren Ersatz und jene von Owen, die auch von Leydig und Kölliker geteilt wurde. Aber durch die Bezeichnung Ersatzleiste kommt die mitogenetische Beziehung, welche zwischen den verschiedenen Generationen einer Zahnfamilie besteht, nicht genügend zu ihrem Rechte. Um die Genese der Dimerie des Säugerzahnes im rechten Licht erscheinen zu lassen, bin ich genötigt, auf die Entwicklung der Zahn- leiste und die Ersatzweise der Zähne, wie sie bei den Vertebraten sich vortut, einzugehen und beschränke mich dabei natürlich auf das Kiefergebiß. Die einfachste Form der Zahnanlage und der Entstehung neuer Zähne trifft man bekanntlich bei den Teleostomen. Es betragen sich Über das Wesen der Zahnkonkreszenz. 117 aber nicht alle Knochenfische gleich, und wie aus den Untersuchungen von Friedmann1) über die Zahnentwicklung besonders des Hechtes hervorgeht, können zwei Modifikationen, eine mehr primitive und eine mehr progressive, bei einem Tier vorkommen. Das ist z. B. beim eben genannten Fisch der Fall. Den einfachsten Entwicklungsmodus trifft man hier im Überkiefer, und dieser zeigt große Übereinstimmung mit jenem von Rose2) bei Salmo salar beschriebenen. Wenn wir den Teil der Kieferschleimhaut, der Zähne aus sich entstehen läßt als das „Zahnfeld" bezeichnen, dann trifft man in den erwähnten Fällen den Zustand, daß auf diesem Feld die Zähne in ganz unregelmäßiger Weise entstehen. Hieraus geht hervor, daß die zahnbildende Potenz noch diffus in diesem Zahnfeld verbreitet ist. Jeder Unterteil desselben kann zur Entstehung eines Zahnes Anlaß geben in der besonders von Rose, Carlson3) und Friedmann geschilderten AVeise. Und diese Entstehungsweise trägt noch ein sehr primitives Gepräge, denn der Zahn wird noch — ungefähr in der Weise der Placoidschuppen der Plagiostomen — in der Mundschleimhaut gebildet, Weiter kommt der primitive Charakter sehr stark in dem Mechanismus der Zahnerneuerung zum Ausdruck. Rose hebt (1. c. S. 661) ausdrücklich folgendes hervor: ,,Die ersten Ersatzzähne entstehen ebenfalls unmittelbar aus dem Kiefer- epithel, und zwar meistens ohne nähere Beziehung zur Epithelscheide ihres Vorgängers. Es ist sehr wahrscheinlich, daß die Ersatzzähne der meisten Knochenfische nach dieser Grundregel angelegt werden." Aus dieser Beobachtung Roses folgt, daß jeder Zahn eine vom Zahn- feldepithel ausgehende selbständige Bildung darstellt, es besteht keine histogenetische Beziehung zwischen einem Zahn und einem später entstehenden, wie auch aus der von Rose gegebenen Abbildung zu sehen ist. Man kann dann auch schwerlich bei dieser Form der Gebiß- bildung von Zahngenerationen sprechen, denn es besteht keine verwandt- schaftliche Beziehung zwischen den Zähnen. Das Zahnfeld ist noch als Ganzes eine zahnbildende Matrix und daher kommt es mir auch weniger richtig vor, bei dieser Form der Bezahnung und der Zahnerneuerung von Ersatzzähnen zu sprechen. Denn bei Anwendung dieses Ausdruckes denkt man sich eine Aufeinanderfolge von Zahngenerationen, wobei eine jüngere Generation bestimmt ist, eine ältere, die mit dieser Anlage in zellulärer Beziehung war, zu ersetzen. Ich möchte diese Art von Zahnbildung und Zahnneubildung als „freie Zahnbildung" bezeichnen. Jeder Zahn geht aus der allgemeinen Matrix, der Schleimhaut des Zahn- feldes, hervor, eine Lokalisierung der zahnbildenden Potenzen hat noch nicht stattgefunden. Ein Zahn ist hier weder Nachfolger eines früheren noch Vorläufer eines zukünftigen. Die Gebißformation im Unterkiefer des Hechtes steht auf einer wesentlich höheren Stufe. Mit jenem des Oberkiefers hat sie als primi- tives Merkmal gemein, daß die Zahnanlagen noch nicht in einer be- stimmten Weise angeordnet sind, es sind im Zahnfeld die Zähne noch unregelmäßig mehrreihig angeordnet. Aber was die Zahnerneuerung betrifft, ist eine höhere Stufe erreicht, denn hier kann man von einem 1) Friedmann, Beiträge zur Zahnentwicklung der Knochenfische. Morph. Arb. 1897, Bd. VII. 2) C. Rose, Über die Zahnentwicklung der Fische. Anat. Anz. 1894, Bd. IX. 3) A. Carlson, Über die Zahnentwicklung bei einigen Knochenfischen. Zool. Jahrb., Abt. f. Anat, u. Gut. 1894, Bd. VIII. 118 Drittes Hauptstück. echten Zahnersatz reden. Es senkt sieh nämlich die Anlage der ersten Zähnchen in die Tiefe, der epitheliale Teil bleibt mittels eines Zellstranges mit der Sehleimhaut verbunden. Der zuerst angelegte Zahn entwickelt sieh weiter, und aus der lingualen Seite des Epithelstranggrundes geht die Anlage eines zweiten Zahnes hervor, der bei der weiteren Ent- wieklung den ersten ersetzen soll, wenn dieser abgestoßen ist. Es ist somit ein Fortschritt in zwei Richtungen zustande gekommen. Im Zahnfeld ist die zahnbildende Potenz nicht mehr diffus verbreitet. Zwar sind die Anlagen der ersten Zähne noch unregelmäßig über das ganze Zahnfeld zerstreut, aber mit der ersten histologischen Differen- zierung dieser Zahnkeime werden gleichsam gleichviel zahnbildende Bezirke geschaffen. Jeder Bezirk senkt sich mit der Anlage des ersten Zähnehens in die Tiefe, und das an der Überfläche sich erstreckende Epithel ist an der weiteren Zahnbildung nicht mehr beteiligt. Diese Schleim- haut stellt nicht mehr eine Matrix dar, in welcher die zahnbildende Potenz diffus verbreitet ist, es hat eine Konzentration dieser Eigenschaft an einer iVnzahl bestimmter Stellen stattgefunden. Dieser Fortschritt in physio- logischem Sinne hat noch einen wichtigen von morphologischer Art zur Folge. Denn es ist in der Aufeinanderfolge der Zähne eine Gruppierung aufgetreten. Es gibt gleich viel Gruppen, als es ursprünglich Zahnanlagen gibt. Von jeder Gruppe funktioniert gleichzeitig nur ein einziger Zahn; wird dieser abgestoßen, dann wird er ersetzt durch den Zahn, der aus seiner eigenen Bildungsstätte, unmittelbar nach ihm, entstanden ist. Beide Zähne und alle im Laufe der Zeit noch folgenden haben eine gemeinschaftliche Matrix, sie findet sich am Grunde des in die Tiefe gesenkten Epithelstranges. Diese Matrix bleibt fortwährend junge Zähne produzieren, welche somit einander verwandt sind. Sie stellen in ihrer Gesamtheit eine, aus einer unbestimmten Zahl von Generationen zusammengesetzte ,, Zahnfamilie" dar. Diese Generationen entstehen aus der am Ende des Zellstranges gelegenen Zellgruppe, an die die zahnbildende Potenz gebunden ist, in ähnlicher Weise wie die zellulären Elemente des Epidermis aus der Schicht der Basalzellen. Diese Lokalisation des Vermögens, Zähne zu bilden im untersten Ende der Epithelstränge bei den Teleostomen, muß man, um die Er- scheinungen bei den höheren Vertebraten zu verstehen, nicht aus dem Auge verlieren. Denn bei den Plagiostomen tritt durch die Entstehung der sogenannten Ersatzleiste ein Gebilde auf, worin die Lokalisierung jener Potenz nicht so weit durchgeführt erscheint. Wir werden jedoch zeigen, daß ein Unterschied wesentlich nicht besteht. In welcher Hinsicht weicht Gebißentwicklung und Zahnersatz der Selachier nun von jenen der Knochenfische ab ? Eine erste Differenz wird gebildet durch den Umstand, daß das Zahnfeld bei der ersten ontogonetischen Differenzierung nicht mehr unregelmäßig angeordnete Zähne bildet, sondern sämtliche Zahnanlagen sind konzentriert, in den meisten Fällen in zwei Reihen, deren Elemente regelmäßig alter- nieren, oder alle sind in einer einzigen Reihe angeordnet. Scheinbar komme ich mit dieser Ansicht in Widerspruch mit den Befunden von Hertwig1) und Laaser2) bezüglich der Ontogenese der Selachierzähne, 1) R. Hertwig, Über Bau und Entwicklung der Placoidschuppen und der Zähne der Selachier. Jen. Zeitschr. f. Naturw. 1874, Bd. VIII. 2) L. Laaser, Die Zahnleiste und die erste Zahnanlage der Selachier. Inaug.- Diss. 1903. Über das Wesen der Zahnkonkreszenz. U9 tatsächlich gilt hier jedoch nur eine andere Interpretation der Er- scheinungen. Hertwig scheint mir bei seinen Auseinandersetzungen zu großes Gewicht auf die epitheliale Bildung gelegt zu haben, die er zuerst als Ersatzleiste bezeichnete, und dadurch die histogenetische Beziehung der Zahngenerationen zueinander weniger zu ihrem Rechte kommen ließ. Da die Hertwigsche Untersuchung der Ausgangspunkt aller weiteren Untersuchungen auf diesem Gebiet gewesen ist und in jenem Aufsatz zuerst der Begriff „Ersatzleiste" in der Literatur eingeführt worden ist, will ich kurz auf diese Untersuchung eingehen. Zur Zeit als Hertwig seine Untersuchung veröffentlichte, war die allgemeine Ansicht über die Entwicklung der Selachierzähne die auch von Kölliker und Leydig geteilte, zuerst von Owen ausführ- licher dargestellte1). Nach diesem Autor entstehen die Zähne der Plagiostomen in einer Furche der Kieferränder auf freien Papillen, ohne in Zahnsäckchen eingeschlossen zu werden. Der linguale Wall dieser Rinne hat die Bedeutung einer Deckmembran (thecal lamina) und das Epithel dieser Deckmembran geht im Grunde der Rinne in das zahnbildende Epithel des äußeren Walles über: „The anterior lamina of this fold, wich from its office may be termed „thecal" is continuous with the mucous membrane at the base of the rows of teeth" (1. c. p. 35). Nun sagt zwar Hertwig, daß er zu ganz abweichenden Er- gebnissen gelangt ist (1. c. S. 378), aber so im Grunde verschieden sind die Ergebnisse dieses Autoren von den Owen sehen doch nicht. Denn in Wirklichkeit ist die Zahn- oder Ersatzleiste Hertwigs bei den Se- lachiern eine echte, einwärts gerichtete epitheliale Falte, wie sie es auch bei allen höheren Vertebraten ist. Nur ist der Raum zwischen den beiden Blättern der Falte beim Embryo mit Zellen ausgefüllt. Daß diese Zellen oder deren Abkömmlinge bei den Sauropsiden schon und in noch höherem Maße bei den Mammalia als die Elemente der Schmelzpulpa eine wichtige Rolle spielen, kann nur dazu beitragen, um den Charakter einer Falte schließlich, wie es in weiter vorgerückten Entwicklungsstadien bei den Säugetieren der Fall ist, zu verdecken. Die ursprüngliche Natur der Bildung bleibt jedoch besonders in jungen Stadien auch hier unverkennbar. Nicht immer bleiben bei den Plagiostomen die zwischen den beiden Blättern der Falte sich findenden Zellen anwesend, und es kommt vor, daß dieses Ausfüllungsmaterial in älteren Stadien und beim erwachsene!) Tier verloren geht, wodurch die Zahnleiste eine wirkliche Rinne im Sinne Owens wird. Hertwig äußert sich darüber folgendermaßen: ,,Die gegebene Beschreibung weicht von den mitgeteilten Untersuchungen von Owen, Leydig und Kölliker ab, welche an Stelle der von uns betrachteten Epithelleiste an der Innenseite des Kieferknorpels eine tiefe Furche und eine hohe Schleimhautfalte als Deckmembran auf den jüngsten Zahnanlagen beschrieben haben. Die genannten Schriftsteller haben ein Kunstprodukt bei der Untersuchung geschaffen und be- schrieben, indem sie die Epithelleiste in zwei Hälften zerrissen haben, wahrscheinlich um die jüngsten Zähnchen zu erblicken." Letzteres trifft nun gewiß nicht immer zu, und zweifellos ist die Rinne im Sinne von Owen und in der von diesem Autor gegebenen Bedeutung das 1) R. Owen, Odnntography, T. I, p. 35. 120 Drittes Hauptstück. Primäre, der mehr kompakte leistenartige Charakter ist ein sekundärer Erwerb, dadurch entstanden, daß die beiden Furchenwände mitein- ander verklebt sind. Diese Verklebung bleibt bisweilen, z. B. bei Formen mit kleinen plattenförmigen Zähnchen, aus. Daß ich auf diesen Punkt eingehe, findet seine Ursache darin, daß er maßgebend ist für die Bedeutung, welche meiner Meinung nach der Zahn- oder Ersatzleiste zukommt, worüber ich mich in der ersten Studie schon geäußert habe. Wie müssen wir uns die Beziehung zwischen den Zuständen bei Knochenfischen und Knorpelfischen denken ? Man denke sich, daß die Zahnanlagen, statt ungeordnet in das Zahnfeld zerstreut zu sein, in einer einzigen oder in zwei Reihen angeordnet sind. In letzterem Falle alternieren die Anlagen beider Reihen miteinander. Diese Anlagen senken sich nicht, wie z. B. im Unterkiefer von Esox, in die Tiefe, sondern bleiben an der Oberfläche. Nun geht bei der ersten Generation jedoch nicht alles Zellmaterial dieser Anlage in der Bildung des ersten Zahnes auf, sondern ein Teil davon bleibt indifferent, und wenn der zuerst gebildete Zahn einen bestimmten Entwicklungsgrad erreicht hat, geht aus jener Zellmasse ein zweiter Zahn hervor, der von einem dritten gefolgt wird usw. Es bleibt somit an der Stelle, wo die erste Zahnanlage sich ausbildete, immer eine Zellmasse zurück, worin die zahnbildende Potenz lokalisiert ist. Allmählich rücken die Zähne nach ihrer Anlage immer weiter von ihrer Bildungsstätte ab, werden gleichsam durch die nachfolgenden Generationen vorwärts gedrängt, indem sie wachsen und schließlich ihre definitive Form annehmen. Jeder primäre Zahnkeim stellt somit auch hier, wie in gewissen Fällen bei den Teleostiern eine Matrix dar, welche eine unbegrenzte Zahl von Zähnen zu bilden imstande ist. Die Gesamtzahl der aus einer Matrix hervorgehenden Zähne stellt eine Zahnfamilie dar, jedes Einzelglied davon eine Generation. Doch darf man diesen Ausdruck nicht in dem Sinne deuten, daß ein jüngerer Zahn aus seinem Vorgänger entstanden sein sollte, die verwandtschaftliche Beziehung ist strictiori sensu jene von aus einer gemeinschaftlichen Mutter hervorgegangenen Geschwistern. Waren die primären Zahnmatrices in einer einzigen Reihe gelagert, dann alternieren die Zähne nicht, waren sie dagegen in zwei Reihen gelagert, die miteinander alternieren, dann alternieren die Produkte derselben natürlich auch. Beide Gebißformen kommen bei den Se- lachiern vor. Bis hierher über die Anlage des Zahnes selbst und die Ursache ihrer so streng geometrischen Anordnung im Gebiß. Dasselbe entsteht aus gleich viel zahnbildenden Matrices, als es Zahnfamilien in ihm gibt, Für jede Familie — das sind die senkrecht auf dem Kieferrand stehenden Zahnreihen - - gibt es also eine einzige wohlumschriebene Bildungsstätte. Die Zahnbildungsfunktion ist somit nicht diffus ver- breitet, weder in der sogenannten Ersatzleiste, noch im sogenannten freien Rande derselben. Denn in diesem Rande liegen die Entwicklungs- herde voneinander scharf abgegrenzt. Diese Lokalisierung der Bildungs- funktion muß man für die Interpretierung der Erscheinungen bei den höheren Vertebraten wohl im Auge behalten. Wie ist nun diese Ersatzleiste entstanden zu denken? Die Zu- stände, welche man bei gewissen Selachiern unmittelbar beobachten kann, sind imstande, eine Antwort auf diese Frage zu geben. Über dem Über das Wesen der Zahnkonkreszenz. 121 streifenartigen Feld, worin die Bildungsstätten der Zähne sich finden, hat sich eine schützende Schleimhautfalte entwickelt und ist nicht nur über die Keimzentren der Zahnfamilien hervorgewachsen, sondern überdeckt bei vielen Knorpelfischen auch die Zähnchen während ihrer Jugendperiode. In gleichem Sinne äußert sich Burckhardt in seiner Darstellung der Gebißentwicklung im Hertwigschen Handbuch. Auch dieser Autor spricht von einem Entstehen des Gebisses bei den Selachiern unter einer „gemeinsamen Schleimhautfalte"1). Ich habe in meiner ersten Studie diesen Vorgang als die „Operkulisierung" des Zahnfeldes beschrieben. Als eine höhere Entwicklungsphase ist dann, wie schon vorher betont, jener Zustand zu betrachten, wobei das untere Blatt dieser Schleimhautfalte mit dem Epithel der Spatia interdentalia verklebt, wodurch, immerhin sekundär, die Hertwigsche „Ersatz- leiste" entsteht. Aber aus dem vorangehenden geht deutlich hervor, daß ich die Deutung des Wortes nach dieser Bezeichnung weniger zu- treffend erachte. Denn diese Leiste als solche ist nur die Trägerin, nicht die Bildnerin der zum Ersatz dienenden Zähne. In Wirklichkeit ist die Leiste ein Teil der Mundschleimhaut, welche durch eine über- wuchernde Schleimhautfalte von der Oberfläche abgeschlossen ist. Der biologische Vorgang des Ersatzprozesses ist lokalisiert im meist nach innen gelagerten Streifen dieses Schleimhautfeldes, und auch in diesem Streifen ist die Zahnbildungspotenz wieder in einer Anzahl bestimmter Zellkonglomeraten lokalisiert. Ontogenetisch macht sich bei den Formen, die bis jetzt daraufhin untersucht worden sind, diese Operkulisierung nicht mehr erkennbar. Es macht, wie es aus den Unter- suchungen von Hertwig und L aas er hervorgeht, den Eindruck, als senkte sich das Epithel als eine Lamelle in der Tiefe des Bindegewebes ein, was wohl als ein abgekürzter Entwicklungsgang zu betrachten ist. Es kommt mir nicht unwahrscheinlich vor, daß man bei fortgesetzten Untersuchungen an anderem Material Erscheinungen zu konstatieren imstande sein wird, welche die Zahnleiste als die Folge eines Über- wTucherungsprozesses erscheinen lassen. Dabei ist es erwünscht, auch die genetische Beziehung zwischen jenen Zähnchen, welche nach den Untersuchungen Laasers außerhalb der „Zahnleiste" gebildet werden und den aus der Leiste hervorgehenden festzustellen. Stellen diese aus dem von Laaser als „äußeres Zahnepithel" bezeichneten Schleim- hautfeld entstehenden Zähnchen die ersten Generationen der Zahn- familien dar? Oder sind es Zwischenformen zwischen den eigentlichen Zähnen und den Placoidschuppen, welche später durch die heran- rückenden wirklichen Zähne verdrängt werden? Über das Wesen der Zahnleiste bei den Selachiern und ihre Ent- stehungweise schließe ich mich somit näher der alten Vorstellung von Owen, Kölliker und Leydig an, als jener von Hertwig. Sie ist meiner Meinung nach nicht eine Leiste, welche, von der Oberfläche ausgehend, in die Tiefe wucherte als eine Anpassung an den stärkeren Ersatz der Zähne, denn dieser greift bei den Knochenfischen ebenso Platz, obgleich es hier nicht zur Entstehung einer Ersatzleiste gekommen ist. Und so gelange ich von selber zur Beantwortung der Frage : In welcher Beziehung stehen bezüglich ihrer Zahnbildung und Zahnersatz die 1) R. Burckhardt, Die Verknöcherungen des Integuments und der Mund- höhle. Hertwigs Handb. d. Entw.-Gesch., Bd. II, Teil I. 122 Drittes Hauptbtück. Teleostomen und Plagiostomen zueinander? Bildet der Zustand bei der ersten (huppe eine Vorstufe zu jenem der zweiten? Ich muß eine solche Beziehung unbedingt von der Hand weisen. Man kann die Gebißentwicklung der Selachier nicht von jener der Knochenfische ableiten oder umgekehrt, wiewohl es a priori nicht unwahrscheinlich ist, daß es bei den Teleostomen Formen gibt, welche eine Mittelstellung einnehmen. Es sind bis jetzt noch wenig Formen aus dieser Gruppe untersucht worden, und schon die makroskopische Anatomie des Ge- bisses läßt vermuten, daß hier noch manche interessante Details ans Licht zu bringen sind. Aber im allgemeinen betrachtet ist ein Zurück- führen der Gebißentwicklung der Selachier auf jene der Knochenfische nicht möglich, da ein prinzipieller Unterschied in den Formen der An- lage und des Ersatzes besteht. Denn wenn man die Gebißanlage bei den Selachiern mit Berücksichtigung des oben über die Operkulisierung des Zahnfeldes Gesagten betrachtet, dann ist es klar, daß diese Zähne noch an der Oberfläche der Schleimhaut zur Anlage kommen. Man hat sich doch dazu nur das Operculum zurückgeschlagen zu denken, dann sieht man sofort ein, daß die jungen Zähne in dem jetzt entblößten Feld vollständig wie die Placoidschuppen des Tieres angelegt werden. Bei den Knochenfischen dagegen ist der Vorgang ein ganz anderer. Hier senkt sich, wie im Unterkiefer des Hechtes, die Anlage jedes Zahnes oder jeder Zahnfamilie in die Tiefe, und es gibt gleich viel Verbindungs- stränge mit dem oberflächlichen Epithel als es Zähne gibt. Hier hat sich jede Zahnmatrix für sich durch aktive Einsenkung eine geschützte Lage erworben, während bei den Selachiern die an der Oberfläche verbleibenden Zahnmatrices durch eine gemeinschaftliche, über sie hervorwachsende Schleimhautfalte gegen äußere Insulte geschützt werden. Die Schutzvorrichtung für die zahnbildenden Matrices und für die jungen Zähne ist : omit bei beiden Gruppen von Fischen in ganz verschiedener Weise zustande gekommen. Aber, wie gesagt, ist es denk- bar, daß bei den Knochenfischen eine Kombination beider Erscheinungen auftreten kann. Wenn ich den Unterschied zwischen beiden Arten von Gebißentwicklung durch ein ebenfalls an Hautgebilden entnommenes Beispiel verdeutlichen wollte, dann konnte ich das vielleicht am besten tun, indem ich Entstehung und Ersatz der Zähne bei den Knochen- fischen mit jener der Haare, die bei den Knorpelfischen mit jener der Nägel gleichstellte. Die oben für die Selachier angeführten Gesichtspunkte sind maß- gebend für die Beurteilung der Erscheinungen bei den höheren Formen. Der dabei am meisten in den Vordergrund sich stellende Punkt ist die Tatsache, daß die Zähne nicht autochthon entstehen, sondern in- folge der Produktivität einer Matrix. Einen sehr instruktiven Beweis dafür liefert weiter folgende Erscheinung. Im Gebisse der Selachier trifft man bisweilen zwischen den normal gestalteten Zähnen solche an, welche eine abweichende Form besitzen. Es ist nun sehr bemerkens- wert, daß solche Varietäten nicht an vereinzelten Zähnchen auftreten, sondern daß immer eine ganze Zahnfamilie in allen ihren Gliedern die identische Abweichung aufweist. Ich habe davon mehrere Fälle be- obachtet und führe in den Fig. 38 und 39 zwei Beispiele davon an. Die Fig. 38 stellt einen Fall dar, im Unterkiefer eines noch jungen Spinax niger beobachtet. Es ist ein Teil der Glieder von vier Zahnfamilien gezeichnet worden. Beim jungen Spinax niger sind im Unterkiefer Über das Wesen der Zahnkonkreszenz. 123 die Zähnehen dreispitzig, eine stark entwickelte Hauptspitze wird an ihrer Basis von zwei kleinen Nebenspitzen flankiert. Im gegebenen Fall nun kam zwischen den nor- mal gebauten Zähnen eine Zahn- familie vor, von der alle Glieder eine Verdoppelung der Haupt- spitze besaßen. Das zweite Bei- spiel ist dem Gebiß eines großen (erwachsenen ?) Exemplar von Cephalopterus giorna entnommen. Die Zähnchen sind hier klein, niedrig, mit unregelmäßig, meist fünfspitzig gestaltetem Rand, der mittelste der Zacken ist nicht selten etwas größer als die übrigen. Die Zähnchen stehen ziemlich weit auseinander. Zwischen den normal gebildeten Elementen dieses Gebisses traf ich nun eine Zahnfamilie an, wovon alle Glieder die doppelte Breite und einen reichlich gezackten Rand hatten. Solche Fälle beweisen wohl aufs unzweideutigste, daß alle Gene- rationen einer Zahnfamilie einer gemeinschaftlichen Muttermasse ihre Entstehung verdanken. Ist Fig. 38. eine der Matrices durch irgend welchen Umstand in ihrem Bildungs vermögen alteriert, dann tragen alle von ihr produzierten Zähne das gleiche vom normalen abweichende Merkmal. Nach dieser sehr langen Abschweifung können wir zurückkehren zu unserem Aus- gangspunkt, der Natur der soge- nannten Konkres- zenz der Zähne. Wir waren jedoch wohl gezwungen, die vorangehenden Gesichtspunkte zu betonen, denn es findet sich darin die Basis, auf die sich die Ansichten über diese Konkreszenz gründen. Ich brauche wohl nicht weiter darauf ein- zugehen, daß bei den höheren Verte braten die Bedeu tung der Zahnleiste Uyyv-\_^>^/ '.. '\V-A/Vv. wvVV^viv: r"7 Fig. 39. 124 Drittes Hauptstück. und die Beziehung der Zahnkeime zu derselben die gleiche ist wie bei den Selachiern. Ich erinnere daran, daß eine Konkreszenz der Zähne in longi- tudinaler Richtung bei der Entstehung des Säugergebisses aus dem Reptiliengebiß nicht stattgefunden hat, dagegen wohl eine solche in transversaler Richtung, indem zwei aufeinanderfolgende Glieder einer Zahnfamilie zusammenschmolzen. Wie ich nun im Eingang dieses Hauptstückes auseinandersetzte, war ich der Meinung, daß es sich hierbei in der Tat einmal um eine aktive Vereinigung zweier ursprüng- lich selbständiger Gebilde gehandelt hat, wobei notwendig, da die die Verbindung eingehenden Elemente nicht zu viel in der Entwicklung ver- schieden sein dürften, der Vorgang sich abgespielt haben muß bei Formen mit einem sehr intensiven Zahnwechsel. Diesen Standpunkt habe ich jetzt, nach näherem Eindringen in diese Seite des Gebißproblems, verlassen. Die Erkenntnis, daß die Zähne keine autochthonen, aus einem freien Keim entstandene Gebilde sind, sondern Produkte einer wohl abgegrenzten Matrix, bringt die sogenannte Konkreszenz zu einer leichter verständlichen Form zurück. Und wie schon gesagt, bin ich jetzt überzeugt, daß Dependorf in dem zitierten Aufsatz das Richtige getroffen hat, wenn er darin S. 543 sagt: „Wir erschweren uns ganz offenbar den gesamten Vorgang in der Entwicklung des Säugerzahnes durch den Ausdruck „Verschmelzung". Man stellt sich darunter einen äußerlich sichtbaren und in seiner Entwicklung nachweisbaren Prozeß vor, der aber in Wirklichkeit gar nicht vorhanden sein kann." Diese Bemerkung kann ich völlig unterschreiben; bei der Entstehung des Säugerzahnes aus dem Reptilienzahn ist von einer Konkreszenz in dem geläufigen Sinne des Wortes keine Rede gewesen. Wie hat man sich dann diesen Vorgang zu denken ? Stellen wir uns dazu wieder die Zahnleiste mit den am unteren Ende derselben gebundenen, vonein- ander funktionell unabhängigen Matrices der Zahnfamilien vor. Es gibt gleich viel solcher Keimstätten als die Summe der Zähne aus dem Milchgebiß (Exostichos) und permanentem Gebiß (Endostichos). Daß die Zahnleiste als solche für die Entwicklung der Zähne bedeutungs- los ist und bei den höheren Vertebraten einzig dazu dient, die Matrices der Zahnfamilien in eine geschützten Lage zu bringen, also hier sekundär eine Rolle spielt, welche mit der Zahnentwicklung bei den Teleostiern Verwandtschaft zeigt, geht daraus hervor, daß, kurz nachdem die Entwicklung der Zähne angefangen hat, die Leiste bei den Säugetieren verschwindet und auch die Zahnkeime für das perma- nente Gebiß voneinander isoliert werden. Die Zahnleiste hat nur die Aufgabe, bestimmte Zellgruppen, an denen eine wohlumschriebene Funktion haftet, in die Tiefe zu bringen. Ihre wahre phylogenetische Entwicklungsweise, wie dieselbe uns bei den Selachiern deutlich wird und auch bei Reptilien noch zu erkennen ist, kann man bei Säugern nicht mehr nachweisen. Dagegen tritt es hier deutlicher hervor, daß die Zahnleiste als Ganzes ein Apparat ist, dem als Trägerin einer Anzahl Keimzentren nur eine mechanische Bedeutung zukommt. Sind die Keimzentren an ihre erwünschte Stelle gelangt, dann geht der Apparat zugrunde und jede Keimstätte stellt ein jetzt auch räumlich gesondertes Zellkonglomerat dar. Dieses Konglomerat, diese Matrix lieferte nun bei den Reptilien in gewissen zeitlichen Intervallen einen Zahn. Und die Produktion eines neuen Zahnes fing erst an, nachdem Über das Wesen der Zahnkonkreszenz. 125 der vorangehende eine schon beträchtliche Größe erreicht, ja bis- weilen schon kürzere oder längere Zeit funktioniert hatte. Die Inter- valle zwischen der Produktion zweier Zähne sind bekanntlich bei den Reptilien sehr verschieden lang und die Zahl der aus jeder Matrix entstehenden Generationen verschieden zahlreich. Immerhin kommt es jedoch bei den Reptilien nicht zur Anlage einer folgenden Generation, solange nicht die zuletzt entstandene einen gewissen Entwicklungs- grad erreicht hat und der Zahn schon zu einem selbständigen Organ herangewachsen ist. Man hat sich nun zu denken, daß bei der Ent- stehung des Säugerzahnes die Matrix fast gleichzeitig zwei Zahn- generationen aus sich hervorgehen läßt, und zwar in einem solchen kurzen Intervall, daß sie faktisch gleichzeitig zur Anlage gelangen. Nach dieser ist die Produktivität der Matrix normaliter erschöpft, oder richtiger vielleicht, dieselbe wird unterdrückt, kann jedoch unter Umständen, wie wir das in einem vorangehenden Kapitel gezeigt haben, noch eine dritte Generation (das Tritomer, Cara- bellis Höcker) entstehen lassen. (Vgl. übrigens das in der ersten Studie über die Elefantenmolaren und die Zähne der Multituberku- laten Gesagte.) Wenn man die Entstehungweise der Säugerzähne in dieser Weise auffaßt, dann wird der Begriff Zahnkonkreszenz hinfällig. Die zwei Generationen sind nicht miteinander verwachsen, sondern sie haben sich räumlich nicht voneinander getrennt. Auch von einer Verschmel- zung von Zahnkeimen ist bei dieser Vorstellung nicht die Rede, denn Zahnkeime, als isolierte, selbständige, kraft eigener Bildungsenergie entstehende Gebilde, gibt es nicht, es gibt, an die Zahnleiste gebunden, eine Anzahl Matrices für Zahnfamilien. Und diese Matrices pro- duzieren bei den Säugern ohne merkbares zeitliches Intervall zwei Zahngenerationen, die also notwendig miteinander verbunden sein müssen. Diese beiden Zahngenerationen haben ihre ursprüngliche topo- graphische Beziehung zueinander jedoch bewahrt, die der Reihe nach ältere nimmt die bukkale, die jüngere die linguale Hälfte des zusammengesetzten Gebildes ein. Und in den vorangehenden Haupt- stücken ist es deutlich geworden, daß, wiewohl die beiden Genera- tionen räumlich nicht voneinander getrennt sind, primitive Ver- hältnisse noch darin zum Ausdruck kommen, daß die ältere Genera- tion, das Protomer, der bukkale Komponent des Zahnes, durchweg den am kräftigsten und vollständigst entwickelten Teil des Zahnes darstellt: die zweite Generation, das Deuteromer, kann zu einem ganz unansehnlichen, kaum angedeuteten Höcker reduziert sein, sogar schein- bar ganz fehlen. Es verdient die Frage gestellt zu werden, ob der beschriebene Vorgang auch nicht schon bei Reptilien sich abspielen kann? Die Möglichkeit scheint mir nicht ausgeschlossen, und ich möchte dazu auf die merkwürdige Form von Incisivi hinweisen, welche Seele y bei gewissen Theriodontia beschreibt und abbildet1). Der Autor gibt 1) H. G. Seeley, On the nature and limits of reptilian Charakter in niani- malian Teeth. Proc. Roy. Soc. London 1888, Vol. XLIV. 126 Drittes Hauptstück. z. B. die Skizze eines Incisivus von Deuterosaurus von der Seite gesehen, welche der Form nach z. B. mit einem lateralen Incisivus von Cebus oder Ateles mit ihrem so stark entwickelten Innenhöcker (Deuteromer) große Ähnlichkeit zeigt und weist auf diese Eigentümlichkeit besonders hin: „the crown of the incisivi (of Theriodontia) often has a sharp chisel-like externa I cusp, and a small internal cusp, wich gives the tooth a mammalian aspect. This character is well seen in the Russian genus Deuterosaurus. A similar condition but with the inner cusp less conspi- cuous is seen in an new genus from South-Afrika allied to Deuterosaurus. wich may be named Glaridodon" (1. c, p. 135). Die oben gegebene Vorstellung der Entstehung des Säugerzahnes beseitigt die Schwierigkeiten, welche mit dem Begriff Konkreszenz der Zähne verbunden sind und auf welche Dependorf hingewiesen hat. Es hat niemals ein Zusammentreten von zwei ursprünglich ge- trennten primären Elementen gegeben; die Dimerie des Säugerzahnes' b t nicht die Folge von Verwachsung, sondern von einem Ausbleiben einer Sonderung. Eine wirkliche Verwachsung sollte stattgefunden haben, wenn es jemals eine Konkreszenz von Zähnen in longitudinaler Richtung gegeben hätte. Nach dem oben ausgearbeiteten Gedanken- gang sollte ein solcher Vorgang jedoch prinzipiell verschieden gewesen sein von der sogenannten Konkreszenz in transversaler Richtung. Denn in jenem Falle sollten wirklich zwei oder mehr gebildete Organe oder deren Bildungszentren miteinander Verwachsungen ein- gegangen haben. Ein solcher Vorgang würde eine wirkliche Vereinigung von mehreren Elementen zu einem einzigen gewesen sein; die sogenannte Konkreszenz in transversaler Richtung ist dagegen das Unterbleiben einer Sonderung, es ist ein „Konzentriert bleiben". Dieser Vorgang ist somit keine Konkreszenz und darf also auch nicht als Stütze einer behaupteten Verwachsung von Zähnen in longitudinaler Richtung an- geführt werden. Ich wiederhole, daß ein solcher Vorgang meiner Mei- nung nach niemals im Laufe der Phylogenese als ein allgemeines nor- males Geschehen stattgefunden hat, wenigstens nicht beim Entstehen der Säugerzähne. Es soll damit nicht gesagt sein, daß nicht als abnormale Erscheinung eine Verschmelzung von hintereinanderfolgenden Zähnen vorkommen kann. Wenn als Äußerung pathologischer Entwicklung die nebeneinanderliegenden Matrices zweier Zahngenerationen in zellu- lärem Znsammenhang bleiben oder kommen, muß notwendig auch das daraus resultierende Bildungsprodukt in seiner Gestalt diesen Vorgang verraten. Es muß sich mehr oder weniger deutlich als aus zwei Zähnen zusammengesetzt erweisen. Ich wiederhole jedoch, daß ein solches Geschehen meiner Ansicht nach niemals ein Entwicklungsfaktor im normalen Werdegang der Zähne ge- wesen ist. Von dem oben entwickelten Standpunkt aus kommen jetzt auch die Erscheinungen, welche ich in der ersten Studie bei der Ontogenese der Primatenzähne beschrieben habe, in ein helleres Licht und werden leicht verständlich. Ich erinnere daran, daß ich dort die Bildung der lateralen Schmelzleiste im Anschluß an die Entstehung der Schmelz- nische ausführlich beschrieben habe und weiter jene des Schmelz- septums mit dem Schmelznabel. Für die Details muß auf jene Arbeit verwiesen werden. Diese Erscheinungen nun, welche ich dort als Be- Über das Wesen der Zahnkonkreszenz. 127 weise einer ehemaligen Konkreszenz anführte, betrachte ich jetzt als unvollständige Trennungsvorgänge zwischen den beiden Zahngene- rationen. Meiner Meinung nach hat dann auch Dependorf in dieser Materie das richtige Wort schon gesprochen, wenn er 1. c. S. 552 sagt: Alle jene Fälle, bei denen bisher von einer Verschmelzung die Rede war, sind also das Gegenteil: „Trennungs Vorgänge". Mit diesem Zitat möchte ich dieses Hauptstück abschließen. Ich hoffe, daß es mir ge- lungen sei, die Schwierigkeiten, welche dem Begriff der Zahn- konkreszenz anhafteten, zu beseitigen und zur Klärung der wahren Natur dieses Vorganges beigetragen zu haben. Besonderer Teil. Das Primatengebiß als Ganzes. Allgemeine Bemerkungen. Nachdem wir in besonderen Abschnitten die Evolution der oberen und unteren zusammengesetzten Zähne der Primaten kennen gelernt haben, werden wir in einem besonderen Abschnitt die Zähne als Kompo- nenten der beiden Gebißreihen näher betrachten. Denn daß homologe Zähne in dem Gebiß verschiedener Primaten stark voneinander ab- weichende Struktur aufweisen können, ist eine allgemein bekannte Tatsache. Das gilt jedoch wesentlich nur von den postcaninen Zähnen, die Incisivi und Canini besitzen zwar bei den verschiedenen Geschlechtern spezifische Kennzeichen; dieselben besitzen jedoch für die Lehre der Entwicklung der Zahnformen nur eine sehr untergeordnete Bedeutung. Ich werde mich darum auch im folgenden auf die postcaninen Zähne beschränken. Und was die Frontzähne betrifft, verweise ich übrigens auf die dritte dieser Studien, wo mit den Variationen derselben gleichzeitig das Hauptsächliche über deren normale Form zur Dar- stellung kommt. Für eine leichtere Orientierung werde ich in Kürze einen allgemeinen Gesichtspunkt angeben, der sich bei der Vergleichung der Primaten- gebisse bemerklich macht. Eine oberflächliche Vergleichung der Zahnstruktur von eocänen und rezenten Primaten führt bald zur Einsicht, daß die Zähne der eocänen Primaten im allgemeinen höckerreicher sind als jene der re- zenten Formen, besonders der höheren Vertreter der Gruppe. Dieser größere Höckerreichtum trägt jedoch ein ganz bestimmtes Gepräge, denn er wird der Hauptsache nach bedingt durch die Anwesenheit jener Höcker, welche ich in den vorangehenden Hauptstücken als Neben- spitzen kennen gelernt habe. Diese sind an den Molaren und Prämolaren der heutigen Affen im allgemeinen geringer entwickelt, als sie es an den Zähnen der eocänen Vorgänger waren. Eine erste allgemeine Ver- gleichung der Zahnstruktur der Urprimaten und der rezenten Formen führt somit zum Schluß, daß letztere sich während der Entwicklung der höheren Formen in der ersten Hälfte des Tertiär vereinfacht hat. Diese Erscheinung gibt Anlaß, in dem ganzen Werdegang des Pri- matengebisses zwei Phasen zu unterscheiden. Die erste, älteste Phase kennzeichnet sich durch eine sukzessive Kompliziertheit der Gebiß- elemente. Sie fängt bei den primitivsten Stammformen der Primaten an, wenn diese sich vielleicht noch nicht einmal als besondere Gruppe von den übrigen Säugern differenziert hatten, um ihren Höhepunkt Das Primatengebiß als Ganzes. 129 bei den eocänen Formen zu erreichen. Für diese Phase können wir den durchlaufenen Entwicklungsgang nur deduzieren aus den verschie- denen Entwicklungszuständen, welche der vordere Teil des Gebisses, die Prämolarenreihe, uns zeigt. Wir setzen dabei voraus, daß die Ent- wicklungsstufen, welche wir in diesem Gebißteil antreffen und zu einer vollständigen Entwicklungsreihe anzuordnen vermögen, auch einmal von den Molaren durchlaufen sind. Diese Voraussetzung ist schon berechtigt durch den Umstand, daß bisweilen der letzte Prämolar vollkommen einem Molar ähnlich werden kann. Während dieser ersten Phase sind allmählich die morphogenetischen Potenzen, welche der diniere Zahnkeim in sich faßte, in einer Weise und Reihenfolge akti- viert, die wir in den vorangehenden Hauptstücken geschildert haben. In dieser Phase muß sich auch jener merkwürdige Vorgang abgespielt haben, infolge dessen der hintere Abschnitt des Gebisses nur durch eine einzige Dentition vertreten wurde. Diese Tatsache ist für die Mo- laren als spezifisches Merkmal gewiß kennzeichnender als ihre Form, denn diese kann, wie gleich hervorgehoben, auch von den Prämolaren gelegentlich erreicht werden. Der Ausfall des hinteren Abschnittes einer der beiden Zahnreihen, und zwar der äußeren, wie man aus den Variationen im Molarengebiet schließen darf1), hat wohl wesentlich dazu beigetragen, daß die Zahnkeime der hinteren Elemente der anderen Zahnreihe ihre morphogenetischen Potenzen zu einer mehr vollständigen Entwicklung brachten. Eine weitere Eigentümlichkeit der ersten Entwicklungsphase des Primatengebisses war die immer stärker hervortretende Ungleich- förmigkeit zwischen den Zähnen beider Kiefer, worüber näheres in dem vorangehenden Abschnitt, der über die Unterkieferzähne handelt, auseinandergesetzt ist. Selbstverständlich nimmt diese Ungleichheit mit dem Differenzierungsgrad der Zähne zu. Je näher der Zahn dem Eckzahn gelegen ist. desto primitiver ist er gestaltet und desto größer ist die Gleichförmigkeit zwischen oberem und unterem Zahn. Kurz zusammengefaßt kennzeichnet sich somit die erste Phase des Entwicklungsganges vom Primatengebiß durch Komplizierung der Zahnformen, durch sich einstellende Ungleichförmigkeit der Zähne des oberen und unteren Gebisses und durch Aufsall einer Anzahl (viel- leicht drei) von Zähnen am hinteren Ende einer der beiden Dentitionen, wodurch der Gegensatz zwischen Molaren und Antemolaren zustande kommt. Das alles ist bei den eocänen Primaten erreicht. Die meist in den Vordergrund tretende Erscheinung in der zweiten Phase der Entwicklungsgeschichte des Primatengebisses ist neben der Verringerung der Prämolarenzahl, das Bestreben, die Ungleich- förmigkeit zwischen oberen und unteren Zähnen auszugleichen. Und man kann konstatieren, daß bei den höheren Primaten dieses Ziel schon ziemlich weit genähert werden kann, sowohl bei altweltlichen wie bei neuweltlichen Affen. Es wurde diese größere Übereinstimmung in der Kronengestalt zwischen oberen und unteren Zähnen zum Teil durch Vereinfachung der Kronenstruktur infolge von Verlust bestimmter Höcker erreicht. Und wie oben schon hervorgehoben, war es durch die Ausschaltung besonders der ursprünglichen Nebenspitzen, daß die 1) Vgl. dazu meinen Aufsatz: Welcher Dentition gehören die Molaren an? in Zeitschr. f. Morph, u. Anthrop., Bd. XVII. Bolk, Die Morphogenie der Primatenzähne. 9 I 30 Besonderer Teil. Vereinfachung zustande kam. Die Haupthöcker P (resp. Pa und Pp) und D. vergegenwärtigen die zwei Elemente des Reptiliengebisses, die im Säugerzahn zusammengehalten sind. Die Nebenspitzen j, 2, 3 und 4 sind den beiden Nebenzacken homolog, welche diese zwei Grund- elemente des Säugerzahnes als eine vordere und hintere ausstatteten. Sie verdanken nicht selbständigen Zahnkeimen ihre Entstehung, sondern es waren Differenzierungsbildungen der Zahnschneide, wie wir das bei den Reptilien so überaus häufig antreffen. Und daß es nun bei der Vereinfachung des Primatenzahnes eben diese Elemente sind, welche wieder verschwinden, braucht uns nicht zu wundern. Es spielt sich hier bei den Säugern ein nämlicher Vorgang ab, der auch bei Reptilien konstatiert werden kann. Als höhere morphologische Diffe- renzierung hat der Zahn Nebenzacken aus seiner Kante hervorgehen lassen; wenn nun der Zahn sich wieder einfacher gestaltet, dann ist es selbstverständlich, daß zuerst die Entwicklung der Nebenzacken unterbleibt. Es gibt aber eine Nebenspitze, welche, statt rudimentär zu werden und zu schwinden, in progressiver Entwicklung bei den höheren Pri- maten begriffen ist, es ist die hintere Nebenspitze des Deuteromer. Eben durch diese Progression wurde die Gleichförmigkeit der oberen und unteren Molaren erzielt. Ich glaube, daß der hier in einer kurzen Skizze zusammengefaßte Hauptvorgang in der Geschichte des Primatengebisses nicht ausschließ- lich auf diese Säugergruppe Bezug hat, doch daß Übereinstimmen- des auch bei anderen zu verzeichnen ist. Auf diesen Punkt werde ich jedoch nicht eingehen und gehe jetzt zu der speziellen Besprechung über, wobei ich die obere und untere Reihe gesondert behandle. Ich fange mit dem Unterkiefergebiß an. Viertes Hauptstück. Das Unterkiefergebiß der Primaten. Der Vollständigkeit wegen fange ich diese Besprechung mit der Betrachtung einiger Gebisse von eocänen Primaten an. Ich wähle dazu einige der am besten bekannten Glieder der von Osborn als Meso- donten aufgestellte Gruppe, von denen ich in den Fig. 40, 41 und 42 das Unterkiefergebiß einiger Geschichter wiedergebe. Diese Figuren sind angefertigt nach jenen, welche sich finden in der Abhandlung von Osborn: „American eocene Primates"1)- Die Bezeichnung der Höcker ist von mir in Übereinstimmung mit der in den vorangehenden Haupt- stücken gegebene Differenzierungstheorie angebracht worden. Als Ausgangspunkt der Besprechung wird uns untenstehende Tabelle dienen, welche die Kronenformel der verschiedenen postcaninen Zähne in übersichtlicher Weise zur Schau bringt. Kronenformel einiger eocänen Primaten. L^j p« ^s P, Ms M^ M3 Hyopsodus Lemoinianus (1) $> €)r I P T D PaPp 2 ~D~4~~ Pa Pp 2 D4 PaPp 2 Hyopsodus miticulus © &Y i p i PaPp PaPp2 3D4 PaPp 2 D4 PaPp 2 D4 Notharctos spec. V Q © tfr i PaPp 1 PaPp 3D4 Pa Pp 3D4 PaPp 2 D4 Pelycodus nuniensis © ® ifr P — T D l PaPp 2 ~3~V4~ PaPp 2 3D4 PaPp 2 D4 Zur Erläuterung dieser Kronenformel erinnere ich noch kurz daran, daß die Haupthöcker wie folgt angedeutet sind: Jener des Protomer mit P und wenn dieser Höcker sich zum Doppelhöcker diffe- renziert hat, wird der vordere mit Pa, der hintere mit Pp angedeutet, der deuteromere Haupthöcker ist als D bezeichnet. Die Nebenspitzen sind folgenderweise unterschieden: die vordere dv^ Protomer als 1. die hintere als 2, die vordere des Deuteromer als 3 und die hintere als 4. Die Höcker des Protomer (dem bukkalen Abschnitt des Zahnes ent- 1) Bulletin of the American Museum of Natural History 19Ö2, Vol. XVI. 9* 132 Viertes Hauptstück. sprechend) sind oberhalb, jene des Deuteromer unterhalb des hori- zontalen Striches geschrieben. Wenn die Haupthöcker beider Odonto- meren zu einem einzigen Kegel verbunden sind, an dem noch keine Trennungsfurche zwischen beiden Komponenten sichtbar ist, werden die Symbole dieser Höcker zwischen Klammern gestellt. Ein Talon an dem noch keine weitere Höckerdifferenzierung sichtbar ist, wird mit T angedeutet. Nach einiger Übung lassen sich diese Kronen- formeln mit gleicher Leichtigkeit lesen als die Gebißformeln, und orientieren sie sofort über den Entwicklungsgrad der verschiedenen Komponenten des Gebisses. So besagt uns die Tabelle z. B., wenn wir zuerst die vier Prämolaren etwas näher betrachten, daß bei je dieser vier Formen die Prämolaren sich in hinterwärtiger Richtung allmählich komplizieren aber nicht alle)[in Fig. 40 Hyopsodus lemoi- nianus. Unterkiefergebiß. Nach Osborn 1. c. Fig. 1 a. Fig. 41. Notharctos spec. ? Unterkiefergebiß. Nach Osliorn. Fig. 42. Pelycodus nuni- ensis. Unterkiefergebiß. Nach Osborn. gleichem Grade. Bei allen besitzt der erste Prämolar eine einfache kegelförmige Krone. Für Hyopsodus (Fig. 40) geht das unmittelbar aus der reproduzierten Osbornschen Figur hervor, für Pelycodus und Notharctos muß man dazu wohl schließen , da auch der von Osborn abgebildete dritte Prämolar noch eine gleiche einfache Ge- stalt besitzt (vgl. Fig. 41 und 42). Auch Schlosser bezeichnet die bezüglichen Zähne noch als einfache Kegel. In dem vorangehenden Hauptstück sind die Gründe entwickelt, warum ich diesen Kronenkegel als aus den beiden Haupthöckern der zwei Odontomeren zusammen- gesetzt betrachte. Für Notharctos und Pelycodus gilt gleiches auch noch für den zweiten Prämolar, vielleicht besteht hier schon eine Andeutung eines Talon, aber dann muß er doch sehr gering entwickelt gewesen sein, Das Unterkiefergebiß der Primaten. 133 da jener sich an dem dritten Prämolar dieser beiden Gattungen zwar findet aber noch sehr schwach entwickelt ist. Beim Geschlecht Hyopsodus da- gegen ist der Talon am zweiten Prämolar schon ziemlich kräftig. Man ver- gleiche dazu z. B. die Osbornsche Fig. la von H. lemoinianus (hier reproduziert in Fig. 40) und Fig. 6 von Hyopsodus miticulus. Dieser Vor- sprung in der Differenzierung, welcher Hyopsodus im zweiten Prämolar aufweist, bestätigt sich beim dritten in stärkerem Maße. Es hat sich nämlich bei H. lemoinianus die Nebenspitze / entwickelt, während bei H. miticulus überdies der Kronenkegel sich schon in seinen beiden Komponenten gelöst hat, und der protomere und deuteromere Haupt- höcker selbständig geworden sind (vgl. Osborn, 1. c, Fig. 6). Daß solches bei einer Art dieser Gattung der Fall ist, bei einer anderen noch nicht, hat nichts Befremdendes. Ich habe früher darauf hingewiesen, daß sogar als individuelle Variation, bei zwei Individuen derselben Art, die kegelförmige Krön11 eines Prämolaren das eine Mal einfach sein kann, das andere Mal durch eine deutliche Trennungsfurche in seinem bukkalen und lingualen Komponent gelöst. Die Anthropomorphen geben gute Beispiele davon. Der P 4 zeigt, der allgemeinen Kegel gemäß, bei den drei genannten Gattungen weitere Fortschritte. Auch hier geht das Geschlecht Hyopsodus an der Spitze, und zwar besonders H. mi- ticulus, dessen vierter Prämolar vollständig „molarisiert" ist. Denn hier finden sich im protomeren Teil die zwei bukkalen Haupthöcker Pa und Pp, indem dazu im deuteromeren Teil die Nebenspitze 4 sich differenziert hat. In der Molarisierung kommt Hyopsodus miticulus jedoch Notharctos gleich, denn auch hier sind Pa und Pp diffe- renziert, dagegen ist das Deuteromer nur durch seinen Haupthöcker vertreten. Auf die Tatsache, daß der letzte Prämolar bei den eocänen Pri- maten bisweilen vollständig „molarisiert" sein kann, weist auch Schlosser (Affen, Leniuren usw., S. 19) hin. Der Autor hebt hervor, daß solches bei keinem der echten Affen der Fall ist, und zieht daraus den Schluß, daß „die Pseudolemuridae in dieser Beziehung weiter fort- geschritten sind und deshalb unmöglich als die direkten Stammeltern der Affen angesehen werden können, denn bei keinem von diesen letzteren hat der letzte Pr die Zusammensetzung eines M. erreicht." Nun möchte ich über die genetische Beziehung zwischen den echten Affen und den Pseudolemuridae keine Meinung aussprechen, aber der Grund, auf welchen Schlosser sein abweisendes Urteil stützt, scheint mir doch anfechtbar. Denn die Möglichkeit, daß im Laufe der weiteren Entwicklung die Zahnformen sich vereinfacht haben, wird dabei von vornherein beseitigt. Die konsequente Anwendung des von Schlosser hier befolgten Prinzipes, muß dazu führen, unter allen Umständen die Vereinfachung der Zahnkrone, als entwicklungs- geschichtlicher Vorgang, der Zahnformen geologisch jüngerer Formen entstehen läßt, von der Hand zu weisen. Das würde zu unüberwindlichen Schwierigkeiten führen. Denn dann sollten z. B. die zwrei so einfach gebauten Prämolaren von Indris oder Propithecus als primitive Formen gedeutet werden müssen, und nicht als sekundär vereinfachte Formen. Ich kann diesen Standpunkt nicht teilen. Die Struktur dc> (iebisses als Ganzes hat zweifelsohne großen Einfluß auf die Gestalt der einzelnen Zähne im Verband mit der Funktion der verschiedenen Gebiß- abschnitte. Festgreifen, Zerreißen und Kauen sind die drei Tätig- 134 Viertes Hauptstück. keiten des Gebisses, welche je in einem besonderen Abschnitt lokali- siert sind, und in je derselben ist die Gestalt der Zähne in Übereinstim- mung mit der Funktion. Die erstgenannte ist an den Frontzähnen gebunden, die zweite an den Prämolaren, die dritte an den Molaren. Wenn nun die Prämolaren noch vier an der Zahl sind und der hinterste mithin ziemlich weit von der Mundöffnung entfernt ist, dann läßt es sich unschwer einsehen, daß derselbe mehr in den Dienst der Mahlbewegung treten kann, da das Zerreißen der Nahrung in den drei vorangehenden genügend gesichert ist. Wenn sich dagegen die Prämolarenzahl ver- ringert, z. B. auf zwei, wie bei gewissen Prosimiae und bei den altwelt- lichen Affen, wird die Aufgabe, die Nahrung zu zerreißen, in nur zwei Elementen des Gebisses lokalisiert, welche sich dieser Funktion so gut wie möglich anpassen. Man betrachte z. B. die zwei stark seitlich kom- primierten Prämolaren von Indris, Propithecus usw. Die Folge davon ist, daß diese Zähne ihre frühere mehr komplizierte Gestalt, welche sie bei den noch im Besitze von vier Prämolaren stehenden Stammformen besaßen, preisgeben und sich vereinfachen. Aber gerade dadurch wird der Unterschied zwischen Molaren und Prämolaren immer schärfer ausgeprägt. In dieser Weise erkläre ich, die Erscheinung, daß mit Verringerung der Prämolarenzahl die Unterschiede in Form zwischen Prämolaren und Molaren akzentuiert werden, nicht ausschließlich infolge von höher funktioneller Ausbildung der Molaren, sondern zum guten Teil durch Vereinfachung der Prämolaren. Nun ist selbstverständ- lich die Gestalt der Zähne eines der Primaten, z. B. des Menschen, nicht ausschließlich durch diesen einzigen Gesichtspunkt zu erklären, es sind mehrere Umstände, welche dafür in Betracht genommen werden müssen. Doch ist das hier Hervorgehobene nicht jenes von der geringsten Bedeutung. Aus dem oben gegebenen Grunde kann ich mich dann auch der Ansicht Schlossers: es können die Pseudolemuriden nicht die Stammeltern der wahren Affen gewesen sein, weil ihr hinterster Prä- molar „molarisiert" sein kann, nicht anschließen. Ob sie es wirklich gewesen sind, darüber habe ich kein Urteil, aber das Schloss ersehe Argument gegen eine solche Verwandtschaft, ist meiner Meinung nach für einen so weittragenden Schluß zu schwach und anfechtbar. Die Molaren zeigen bei den drei Geschlechtern in ihrer Diffe- renzierung weitgehende Übereinstimmung. Sie besitzen alle eine wohl markierte Trennung der proto- und deuteromeren Elemente und allen Pa Pf> ist der Besitz der typischen Molarenhöcker — =: — - gemein. Die Unter- Jr D 4 ° schiede werden nur durch eine etwaige Entwicklung von Nebenspitzen hergestellt und durch das Auftreten von Kämmen, welche die Höcker unter sich verbinden. Am meisten interessiert uns die Nebenspitze 2, die hintere des Protomer. Denn diese Spitze, der sogenannte hintere unpaarige Höcker der Odontologen, tritt bei den eoeänen Primaten offen- bar ziemlich häufig an den drei Molaren auf, während er bekanntlich bei den rezenten Formen, wenn überhaupt anwesend, meistenteils (nicht immer; [Anthropoiden, Hominiden]) auf den dritten Molar beschränkt ist. Beim Geschlecht Hyopsodus scheint er regelmäßig an den drei Molaren vorzukommen, denn außer den zwei in der Tabelle nahmhaft gemachten Arten besitzt auch, nach der Osbornschen Abbildung, Hyopsodus vicarius diesen 2- Höcker auf den drei Molaren. Auch bei Das Unterkiefergebiß der Primaten. 135 Pelycodus ist solches der Fall, bei Notharctos dagegen ist er auf den letzten Molaren beschränkt. Das Fehlen dieses Höckers darf somit als eine progressive Erscheinung gedeutet werden, das Vorkommen des- selben bei rezenten Formen als ein primitives Merkmal. Bezüglich des Vorkommens vom 2-Höcker auf den Unterkiefer- molaren von Hyopsodus besteht ein Widerspruch in den Angaben von Cope und den Abbildungen von Osborn. Wie oben hervorgehoben, bildet der letztgenannte Autor einen hinteren unparigen Höcker an sämtlichen Molaren ab bei: H. miticulus (1. c. Fig. 6), H. lemoinianus (1. c. Fig. 7a), H. powelianus (1. c. Fig. 9), H. vicarius (1. c. Fig. 12). Cope dagegen (American Naturalist. L885, S. 400) stellt das Geschlecht Hyopsodus in einer Tabelle der eocänen Primaten in der Gruppe mit vier Prämolaren und vierzackigen Unterkiefermolaren. Die Beschrei- bung Schlossers (1. c. S. 21) stimmt mit den Abbildungen Osborns überein. In dem Kapitel, welches über die Morphogenese der Oberkiefer- zähne handelt, ist ausführlich die große Bedeutung des Leistensystems auf die Molaren für vergleichend anatomische Zwecke erörternd worden. Aus diesem Grunde werde ich dann auch an dieser Stelle kurz das Leisten- system, das man an den unteren Zähnen der drei vorliegenden eocänen Primatengeschlechter antrifft, berücksichtigen. Das einfachste System findet sich am hintersten Prämolaren als ein Querkamm, welcher die Haupthöcker P und D miteinander verbindet. Er tritt bei den drei Geschlechtern auf. Es verhalten sich in diesem Punkt die unteren Zähne identisch mit den oberen. Denn wie an betreffender Stelle auseinandergesetzt wurde, erscheint auch dort die einfachste Andeutung des Leistensystemes als eine die Haupthöcker beider Odontomeren verbindende Leiste. Auch die weitere Ausbildung verläuft mit jener der oberen Zähne parallel, findet sich am vollständigsten bei Hyop- sodus entwickelt. Denn wenn in dem Oberkiefer der Haupthöcker des Protomer P, in den Zwillingshöckern Pa und Pp sich gelöst hat, ist an Stelle des einfachen Querkammes eine V-förmige Leiste entstanden. Der Höcker D steht dann durch eine Leiste mit jedem der beiden Komponenten des protomeren Haupthöckers in Verbindung, es zieht eine kürzere vordere in querer Richtung nach Pa und eine hintere längere in schräger Richtung nach Pp. In der Ausbildung dieses Systemes zeigen aber die drei Geschlechter Unterschiede. Am vollstän- digsten ist es bei Hyopsodus entwickelt, da sämtliche Molaren hier mit einem solchen V-förmigen Leistensystem ausgestattet sind. Bei Pelycodus findet es sich nur auf dem ersten Molar, bei Notharctos fehlt die hintere Schrägleiste an allen Molaren, nur die vordere Quer- leiste ist da, Daß letztere für Homologisierung der Höcker gute Dienste leisten kann, wird z. B. durch jene Fälle bewiesen, in denen sich vor den Höckern Pa und D noch zwei Höcker entwickelt haben (i und 3). Hier könnten bei etwas kräftiger Entwicklung dieser Nebenspitzen Schwierigkeiten in der Bestimmung der Höcker sich ergeben, die Querleiste jedoch stellt sofort die Identität der Höcker Pa und I) fest. Da es mir nicht im Sinne liegt, eine vollständige Morphologie der Primatenzähne zu geben, und ich nur bezwecke, dieselben im Licht meiner Theorie zu betrachten, beschränke ich mich, was die eocänen Primaten betrifft, auf die drei besprochenen amerikanischen Ge- 136 Viertes Hauptstück. schlechter und gehe jetzt zu den Unterkieferzähnen der Halbaffen über. — Ich werde der Besprechung dieser Formen wieder eine Tabelle der Kronenformel zugrunde legen. Kronenformel der unteren Zähne vom Halbaffen. P, ^3 P* Mx Mt M3 Tarsius spectrum . . . © O f©3" J PaPp Z>4 1 Pa Pp D 4 1 PaPp 2 T>4 Stenops gracilis . . . © ©* (I)2 Pa Pp D 4 PaPp ~D~4~ Pa Pp 2 D4 Nycticebus tardigradus © 4 Avalm laniger .... ©* Pa Pp ~D~~ 1 Pa Pp D(Dl)4 Pa Pp D(D')4 Pa Pp 2 D(DX)4 Propithecus diadema . (i)r ©' 1 Pa Pp D4 Pa Pp Pa Pp 2 D4 ©T g)' 1 Pa Pp D 4 PaPp ~B~4~ Pa Pp 2 T>4 © Or 1 Pa Pp D4 Pa Pp P>4 Pa Pp (2) D4 Wir werden zuerst die in obenstehender Tabelle enthaltenen Formen miteinander vergleichen, und sodann mit den vorher be- sprochenen Urprimaten. Wenn man die Variationen der Kronengestalt in der gegebenen Tabelle betrachtet, dann erweist sich dieselbe bei den verschiedenen Komponenten des Gebisses verschieden groß. Man könnte vielleicht a priori geneigt sein, die größte Variabilität zu erwarten bei den Zähnen mit mehr zusammengesetzter Struktur. Doch ist dem nicht so. Der zweite Molar z. B. kennzeichnet sich bei den Halbaffen durch seine Pa Pp sehr stabile Struktur, es kehrt die Formel — -^ — — mit großer Konstanz D 4 für die Krone dieses Zahnes wieder, nur bei Tarsius tritt noch die vordere protomere Nebenspitze hinzu, und bei Avahis ein Höckerchen — in der Formel mit D1 bezeichnet — worüber unten weiteres erfolgt. Daß bei dieser Übereinstimmung in der Höckerbildung die Form des Zahnes noch recht verschieden sein kann — und auch wirklich ist — braucht kaum hervorgehoben zu werden. Das Unterkiefergebiß der Primaten. 137 Die Übereinstimmung ist eine vollständige für den vordersten der Prämolaren bei jenen Geschlechtern, bei denen davon drei anwesend sind (P2), beim zweiten Prämolaren (Pj) machen sich schon Verschieden- heiten bemerkbar, die größte Differenz herrscht in der Kronenstruktur des hintersten Prämolaren (P4). Der P2 besitzt immer nur eine ein- fache, bisweilen stark komprimierte kegelförmige Krone, an der Basis der inneren hinteren Seite kann ein Cingulum vorkommen, aber einen wirklichen Talon vermißt man hier noch. Letzterer tritt — ■ aber dann auch konstant — erst an dem zweiten Prämolaren (P3) auf, sei es in wechselnder Stärke. Doch hat die Krone auch hier noch die Form eines einspitzigen Kegels behalten, nur bei Lemur traf ich einen mehr progressiven Zustand, da P3 hier deutlich eine größere bukkale -- protomere Spitze trägt (P), und eine etwas nach hinten gerichtete kleinere, innere - deuteromere Spitze (D). Die Trennung des zusammengesetzten Kronenkegels in seinen zwei Komponenten ist hier somit schon erfolgt. In dieser Hinsicht trägt Lemur ein Merkmal im Gebiß, wodurch dieses Geschlecht sich bestimmt von allen anderen Halbaffen unterscheidet, um sich den wahren Affen zu nähern. Diese Übereinstimmung ist jedoch nicht so groß, wie sie aus der Beschreibung von Giebel1) hervorgehen würde. Denn daß die Lückenzähne von Lemur, wie der genannte Autor schreibt, in Form sich ganz an Hapale und Cebus anschließen, entspricht doch wohl nicht der Wirklichkeit. AVie verschieden übrigens die Deutung eines Kronenreliefs bei verschiedenen Autoren sein kann, geht z. B. daraus hervor, daß Schlosser2) von den bezüglichen Zähnen sagte: „Die Pr haben einfachen Bau." Natürlich sind individuelle Variationen nicht ausgeschlossen. Differenzierungen des Talon weist der P3 noch bei keinem Halbaffen auf. Wie gesagt, kennzeichnet sich P4 durch die größte Verschiedenheit in der Differenzierung seiner Krone. Es sind nämlich alle Ubergangs- stufen in der oben gegebenen Tabelle vertreten, von einem hintersten Prämolar, der nur durch eine etwas kräftigere Entwicklung des Talon sich vorn vorangehenden unterscheidet, also mit einer Kronenformel 1-ryj T bis zu einem Zahn, der vollkommen „molarisiert" ist, mit einer Pa Pj) Kronenformel — =r — — . Den einfachsten Bau trifft man sowohl bei D 4 einem Halbaffen mit drei Prämolaren (Cheirogaleus) als bei zwei der Prosimiae mit nur zwei Prämolaren (Propithecus, Indris). Bei Tarsius / \ P~ kommt dann die vordere bukkale Nebenspitze hinzu [1 D p) (Fig. 43). Als nächst höhere Differenzierungsstufe ist jene zu verzeichnen, bei der beide Elemente des Kronenkegels P und D durch je eine besondere P Spitze repräsentiert sind: -=- T. was bei Stenops gracilis der Fall ist (Fig. 44). Gelegentlich kann an einem solchen hintersten Prämolaren als primitives Merkmal die protomere vordere Nebenspitze noch an- 1) C. G. Giebel, Odontographie, S. 6. 2) Die Affen, Lemuren usw., 8. 41. 138 Viertes Hauptstück. wesend sein, wodurch die Kronenformel i — T wird, wie bei Nycti- cebus und Lemur. Hieran schließt s'ch Avahis, dessen hinterster ( — von den zwei anwesenden) Prämolar schon den Weg zur Molari- sierung eingeschlagen hat, indem die bukkale Seite die Zwillingshöcker Pa, Pp trägt. Im deuteromeren Abschnitt jedoch ist es noch nicht zu einer weiteren Differenzierung gekommen. Die Kronenformel lautet Pa Pp daher D Es nehmen aber die drei Spitzen dieses Zahnes eine sehr Fig. 43. Untere Zähne von Tarsius. Innenseite. Fig. 44. Untere Zähne vom Stenops gracilis. Innenseite. eigentümliche Stellung hinsichtlich einander ein, worüber unten noch näheres folgt. Den am vollständigsten entwickelten dritten Prämolar weisen die Geschlechter Galago und Hemigalago auf. Hier ist, wie auch aus Fig. 45 ersichtlich, der Zahn vollständig molarisiert, nur ist er um ein Geringes kleiner als der erste Molar. Auch Schlosser (1. c. S. 40) sagt von dem Ge- schlecht Galago: „der hinterste Pr. hat in beiden Kiefern nahezu die Zusammensetzung eines M. erlangt.'1 Der Autor deutet diese Er- scheinung als eine Fortschrittserschei- nung. Wenn man je- doch in Betracht zieht, daß eine ähnliche Mo- larisierung auch bei eoeänen Formen, z. B. Hyopsodus, Notharc- tos auftritt, dann ist doch immerhin die Frage gestattet, ob Galago und Hemi- galago durch diese Molarisierung der hintersten P sich den übrigen Halb- affen gegenüber als progressiv oder gerade entgegengesetzt als primitiv er- weisen ? Für die Stellungsnahme dieser Frage gegenüber scheint mir die Tatsache von Bedeutung, daß, wie oben auseinandergesetzt, die histo- rische Entwicklung während des Tertiärs auf eine Konsolidierung der Zahnformen, mit Verringerung der Zahnspitzen zustrebt. Und es finden sich geradein der erwähnten Schi os s ersehen Arbeit mehrere Deutungen, welche als Stütze für diese Behauptung herbeizuführen sind. So weist der Autor an mehreren Stellen darauf hin. daß Verlust oder Reduktion des „Vorderzackens'' an den unteren Zähnen (meine Spitze i) ein pro- gressives Merkmal darstellt, die Persistenz davon bei den Lemuriden ein primitiver. So z. B. auf Seite 39: „Tarsius hat noch folgende alte Merkmale an sich: unpaarer Vorderzacken an allen M." Weiter be- trachtet der Autor die Anwesenheit eines Hinterzackens — meine Spitze 2 — an allen Molaren als ein primitives, der Verlust derselben als ein progressives Merkmal. Ich stimme in beiden Deutungen mit Fig. 45. Untere Zähne von Galago. Innenseite. Das Unterkiefergebiß der Primaten. 139 dem Autor überein, es sind Äußerungen des Prinzipes, daß Verringerung der Zacken ein Merkmal der Zahnentwicklung der Primaten während des Tertiärs ist. Aber warum der Autor nun auch nicht in konsequenter Weise, dieses Prinzip für den hintersten Prämolaren gelten läßt, ist mir nicht deutlich. Vielleicht ist seine der Cope-Os bornsehen Theorie entnommene Ansicht, daß Molaren und Prämolaren einem verschiedenen Entwicklungsgang gefolgt sind, darauf nicht ohne Einfluß gewesen. Nun möchte ich durch Obenstehendes gar nicht behauptet haben wollen, daß von sämtlichen Stammformen der Primaten der hinterste Prämolar einmal molariform gewesen ist. Es scheint mir die Sache etwas dunkel. Aus welchem Grunde dieser Zahn das einemal diesen hohen morphologischen Differenzierungsgrad erreicht, das anderemal sich in einer äußerst einfachen Form präsentiert, ist, wie ich glaube, in jedem Falle nur vom allgemeinen Standpunkte des Gebißmechanis- mus in Verbindung mit der Natur der Nahrung zu erklären. Wir werden in Verbindung damit bald einen Pendant zu dem obigen Falle kennen lernen, wobei der erste Molar deutlich eine Prämolarenfunktion erfüllt. Man hat früher, wie ich aus Weber1) ersehe, den Galaginae die Chiro- galei angereiht, Nebst den von dem genannten Autor namhaft gemachten Unterschieden zwischen beiden Familien darf die so verschiedene Be- schaffenheit des hintersten Prämolaren gewiß als ein Hauptdifferenz- merkmal genannt werden. Wir wenden uns jetzt den Molaren zu. Die ganze Gruppe der Halbaffen zeigt in der Höckerdifferenzierung der unteren Molaren eine auffallende Konstanz. Man darf kurzhin behaupten, daß die Molaren in allen Geschlechtern vierhöckerig sind, sie besitzen den protomeren Zwillingshöcker Pa, Pp und im deuteromeren Teil hat sich neben dem Haupthöcker D aus dem Talonrand die Nebenspitze 4 entwickelt. Soweit mir bekannt, wird diese vierhöckerige Krone nur in zweierlei Weise kompliziert, erstens durch die Anwesenheit der vorderen proto- meren Nebenspitze 1 und zweitens durch jene der hinteren protomeren Nebenspitze 2. Eine dritte, etwas fremdartige Komplikation, welche nur bei Avahis gefunden wird, verdient eine besondere Besprechung. Die Nebenspitze 2 — der sogenannte dritte bukkale Höcker der Autoren — findet sich bei den Halbaffen nur am hintersten Molaren, und an diesem Zahn nicht einmal bei allen Geschlechtern stark entwickelt. Beim Geschlecht Lemur kann er als individuelle Variation sogar ganz fehlen. Dieser Zustand ist in der Tabelle dadurch zum Ausdruck ge- bracht, daß das Symbol in der Formel zwischen Klammern gestellt worden ist. Gleiches ist der Fall bei Nycticebus. Hierauf ist auch durch Huxley hingewiesen worden. „In the lower jaw the fifth cusp of the third molar was very small or obsolete in three"2). Sehr klein ist er ebenfalls bei den Indrisinae und ist hier sogar als eine kleine runde Erhabenheit so stark lingualwärts verschoben, daß er die hintere Ecke des inneren Kronenrandes bildet. Nur bei Avahis nimmt er mehr die Mitte des hinteren Randes ein. Die starke Reduktion der Zacke bei den mir vorliegenden Exemplaren von Indrisinaeschädel läßt ver- 1) M. Weber, Die Säugetiere, S. 760. 2) T. H. Huxlev, On the Arctocebus calabarensis. Proc. Zool. Soc, p. 323. London 1864. 140 Viertes Hauptstück. muten, daß sie gelegentlich bei Gliedern dieser Familie fehlen kann. In erster Linie kommt dafür das Geschlecht Indris in Betracht. Die Nebenspitze / - vordere bukkale Nebenspitze — (vordere Zacke von Schlosser) kommt nur bei einem einzigen Halbaffen an allen Molaren zur Entwicklung, nämlich bei Tarsius: eine Eigentüm- lichkeit dieser Form, auf die auch von Schlosser schon aufmerksam gemacht worden ist, und von diesem Autor, wie ich meine, richtig als ein primitives Merkmal bezeichnet. Sonst erscheint diese Spitze bei den Prosimiae nur am ersten Molaren, und fehlt sogar auch an diesem Zahn noch bei der Mehrzahl der Geschlechter. Bei Nyeticebus tritt sie nur als individuelle Variation auf, auch bei Lemur ist der Entwick- lungsgrad sehr wechselnd, ein vollständiges Fehlen beobachtete ich jedoch nicht. Nur in der Familie der Indrisinae scheint sie konstant zu sein. Das hängt wohl mit der etwas eigentümlichen Gestalt vom ersten Molaren dieser Prosimiae zusammen, die für diese Familie etwas Typisches zu sein scheint. Im allgemeinen sind bei den Halbaffen die Zackenpaare der unteren Molaren einander opponiert, bei Nyeticebus, ist das innere Paar hinsichtlich des äußeren vielleicht um ein wenig nach hinten verschoben, aber von einem Alternieren darf man auch hier noch nicht sprechen. Eine gleiche Lagerung nehmen die Zacken am zweiten und dritten Molaren auch bei Indris ein, wogegen der vorderste Molar eine ganz andere Gestalt angenommen hat. Eine sehr gute Beschreibung der Unterkieferzähne vonlndrisinae liefertHuxley1); er deutet jedoch den ersten Molar irrtümlicherweise als einen dritten Prämolar. „There is", sagt der Autor, ,, in both jaws a muchgreater diffe- rence between the second grinder and the third, them between the third and the f ourth, so that one might suspect the third tooth to be a true molar." Nun besitzen die Indrisinae bekanntlich in Wirklichkeit nur zwei Prämolaren und der dritte posteanine Zahn ist nicht nur dem An- schein nach, sondern in Wirklichkeit ein Molar. Diesen Zahn nun beschreibt Huxley wie folgt: „In the lower jaw the first and second grinders are unicuspidate, the third has four cusps connected in pairs by ridges, wich are disposed obliquely from within outwards and for- wards. The anterior external cusp is united by a curved ridge with the margin of the large anterior basal process of the tooth, and the posterior external cusp is connected by an oblique curved ridge with the anterior-internal. Thus the tooth acquires a doubly crescentic, Rhinocerotic pattern." In Fig. 46 ist Mx und M2 von Indris, von oben und von medial ge- sehen, skizziert. Der zweite Molar bietet nichts besonderes, die bukkalen Zacken Pa und Pp stehen den beiden lingualen D und 4 opponiert. Nun tritt am ersten Molaren eigentümlicherweise letztere Disposition auch bei den beiden hinteren Höckern auf, der bukkale Pp liegt dem etwas kleineren lingualen 4 gerade gegenüber. Die vordere Hälfte des Zahnes jedoch erscheint an der bukkalen Fläche wie abgeschnürt von der hinteren, und indem nun der vordere bukkale Höcker Pa die Mitte dieser Hälfte einnimmt, ist die vordere linguale stark nach hinten verschoben und liegt der bukkalen Einschnürungsstelle gerade gegenüber. Die beiden vorderen Höcker alternieren daher miteinander und der Zahn erscheint 1) T. H. Huxley, On the Arctocebus calabarensis. Proc. Zool. Soc, p. 314. London 1864. Das Unterkiefergebiß der Primaten. 141 ^z^r^ wie nach vorn ausgezogen und zugespitzt. Die vordere Spitze wird vom Nebenhöckerchen i gebildet. Bei Avahis und Propitheeus weist der Mx nur unwesentliche Unterschiede mit dem von Indris beschrie- benen auf, auch was die kammartige Verbindung der beiden bukkalen Höcker mit dem vorderen lingualen betrifft, welches aus Fig. 46 für Indris ersichtlich ist. Es erhebt sich die Frage, warum der erste Molar der Indrisinae im Unterkiefer sich in so charakteristischer Weise umgestaltet hat. Es will mir scheinen, daß die Antwort unschwer zu geben ist. Das wesentliche in dieser Form muß in dem Gegensatz erblickt werden, der zwischen vorderer und hinterer Hälfte des Zahnes sich ausgebildet hat. Die hintere Hälfte für sich betrachtet, ist nach dem Typus eines echten Molaren gebaut. Aber die vordere Hälfte nicht, Diese Hälfte entspricht, wenn isoliert betrachtet, in ihrer Gestalt vollständig einem l'rämolar, der Höcker Pa ist ein seitlich komprimierter, scharfkantiger Kegel. Es vereint somit der erste Molar der Indrisinae die Merkmale eines Molaren und eines Prämolaren in sich, der Zahn erscheint „prä- molarisiert", nicht durch Reduktion der Höckerzahl, sondern durch eine bestimmte Disposition der Höcker. Ist diese Tatsache einmal festgestellt, wird es nicht schwer, die Korrelation dieser Umgestaltung mit dem Bau des Gebisses als Ganzes einzusehen. Die Indrisinae besitzen bekanntlich nur zwei Prä- molaren. Nun macht es den Ein- druck, als wäre dadurch die Prä- molarenfunktion — Zerreißung des Futters — nicht genügend gesichert, zumal wenn man in Berücksich- tigung zieht, daß der Caninus, der vollkommen die Form eines Incisivus erworben hat, an diese Funktion, auch infolge seiner sehr horizontalen Richtung, sich nicht beteiligen kann. Es wird dieses Defizit an Prämolarenfunktion in vorzüglicher Weise kompensiert durch die Umbildung der vorderen Hälfte des ersten Molaren zu einem Prämolaren. Wir haben in dieser Differenzierung ein äußerst lehrsames Beispiel der funktio- nellen Anpassung der Gebißelemente, wobei es jedoch immerhin eine offene Frage bleibt, ob sich der erste Molar derart gestaltete, weil durch Reduktion der Prämolarenzahl die richtige Funktion des Gebisses beeinträchtigt wurde, oder ob ein Prämolar verloren ging, weil der erste Molar einen Teil der Prämolarenfunktion übernahm. Was in diesem Falle Ursache und was Folge war, seheint mir nicht leicht zu ent- scheiden zu sein. Es muß an dieser Stelle noch einer Besonderheit in der Diffe- renzierung der Molaren von Avahis gedacht werden. Der erste Molar diesem Geschlecht besitzt die spezielle Gestalt, die oben für die für der das vom D-Höcker — sich erhebt. Am ersten Molaren ist es am «roßten, am Fig. 46. Indris brevicaudatus. Erster und zweiter Molar des Unterkiefers. von Familie der Indrisinae beschrieben worden ist. Als ein offenbar das genannte Geschlecht typisches Merkmal findet sich nun an lingualen Seite jedes Molaren ein scharf begrenztes Höckerchen, vom hinteren Rande des vorderen lingualen Höckers - also 142 Viertes Hauptstück. dritten hat es den geringsten Umfang (Fig. 47). Es unterliegt keinem Zweifel, daß es regional zum D-Höcker gehört. In der Tabelle habe ich diese Spitze als Dl eingetragen. Wie ist nun diese Zacke, die zwischen dem deuteromeren Haupt- höcker D und der hinteren Nebenspitze 4 dieses Odontomer erscheint, zu deuten. Daß es kein primärer Hocker sein kann ist deutlich, denn zwischen dem D-Höcker und dem ^-Höcker ist ein solcher nicht denk- bar. Es scheint mir jedoch die Sache nicht schwierig zu erklären zu sein. Wir haben gesehen, daß im Protomer aus dem Hinterrand des Haupthöckers P ein sekundärer Höcker Pp sich bilden kann, der bei den Molaren meistenfalls dem Urhöcker P an Größe gleichkommt. Ich bin nun der Meinung, daß das akzessorische Höckerchen bei Avahis, das deuteromere Homologon ist vom protomeren Pp-Höcker, mit anderen Worten, daß ebenso wie der Haupthöcker vom Protomer normal aus seinem Hinterrand eine zweite Zacke entstehen läßt, so auch bei Avahis der Haupthöcker vom Deuteromer. Es ist von Bedeu- tung, daß diese Differenzierung im lingualen Odontomer der Molaren bei einem der Halbaffen vorkommt. Denn diese Tatsache beweist, daß im Prinzip die Haupthöckgr beider Odontomeren sich übereinstimmend betragen können. Inwieweit bei anderen Säugetieren diese bei Pri- maten ausnahmsweise auftretende Erschei- nung regelmäßiger vorkommt, ist eine Frage, auf welche ich nicht eingehe. Es genügt an dieser Stelle auf die Möglichkeit hingewiesen \ J r^l~^\ zu haben, damit man bei der Deutung % ?\ Fig. 47. Avahis laniger. Linguale Seite der Unterkieferzähne. Fig. 48. Unterer Mx von Siamang mit dem Höcker Dl. der Kronenstruktur bei anderen Säugern — ich denke hier in erster Linie an die Carnivoren — diese Möglichkeit berücksichtige. Aber noch in anderer Richtung ist das Auftreten dieser Zacke bei Avabis interessant. Denn sie tritt auch noch bei einer anderen Primatengruppe auf, und zwrar bei den Anthropoiden. Ich beschränke mich an dieser Stelle auf den Hinweis, daß die D'-Zacke besonders bei Gorilla sehr häufig ist. Auch bei Siamang tritt dieselbe nicht selten auf In Fig. 48 ist in vergrößertem Maßstabe ein solcher Molar von der lingualen und oberen Fläche zur Darstellung gebracht. Vergleicht man die Differenzierung der Unterzähne von jetzt lebenden Halbaffen mit jener der eocänen Formen -- was durch die gegebenen Kronenformeltabellen wesentlich erleichtert wird — dann ist das Resultat der Vergleichung kurzhin in dem Schluß niedergelegt: die Struktur der Zähne heutiger Halbaffen ist einfacher als jene der eocänen Primaten. Diese Vereinfachung befällt weniger die Prämolaren, ist dagegen an den Molaren sehr evident. Die Reduktion äußert sich besonders an zwei Spitzen, nämlich der vorderen Nebenspitze vom Deuteromer (Spitze 5) und der hinteren vom Protomer (Spitze 2). Die erstere, welche bei den älteren Formen am ersten und zweiten Molaren srar nicht selten zu sein scheint, vermißte ich bei den von mir Das Unterkiefergebiß der Primaten. 143 untersuchton rezenten Halbaffen vollständig. Die zweitgenannte (die hintere unpaarige Zacke der Autoren) findet sich bei den eocänen Formen nicht selten an allen Molaren. Dies ist somit als ein primitives Merkmal zu betrachten. Bei den Halbaffen dagegen kommt sie fast ausnahmslos nur am dritten Molaren vor1) und kann auch hier schon bei gewissen Gattungen (Nycticebus, Lemur) fehlen. Wir müssen uns sofort von diesem Reduktionsvorgang an den Molaren als eine histo- rische progressive Erscheinung wohl bewußt sein, denn dadurch er- scheinen die Molaren der Anthropoiden und des Menschen, an dem bekanntlich der 2-Höekcr an sämtlichen Molaren noch vorkommt, im rechten Licht. An geeigneter Stelle wird auf diese Sache zurückge- kommen werden. Wir gehen jetzt zur Betrachtung der unteren Zähne von den amerikanischen Affen über. Ich fange wieder mit einer Kronenformeltabelle jener Formen an, welche mir zugänglich waren. Es standen mir von den Halbaffen keine Schädel mit Milchgebiß zur Verfügung, so daß ich von diesem Gebiß bisher keine auf eigener Beobachtung basierte Angaben machen konnte. Von den Platyrrhinen aber hatte ich dazu wohl auf Grund von im hiesigen Museum sich findenden Objekten Gelegenheit, Und um nach dieser Seite hin meine Untersuchung zu vervollständigen, habe ich in der untenstehenden Tabelle die Kronenformel der Milch- molaren mit eingetragen. Sie sind zur leichteren Unterscheidung mit kleinen Buchstaben wiedergegeben. Die Beziehung zwischen der Kronen- struktur der Milchmolaren und jener der Ersatzzähne wird später noch zur Sprache gebracht werden, wenn auch die übrigen Affen besprochen sind. Ich verweise dazu aber jetzt schon nach Tafelfigur 10, wo man in einfachen Skizzen die Struktur der Prämolaren und der Milchmolaren der meisten Affengattungen in übersichtlicher Weise nebeneinander gestellt findet. Diese Skizzen vervollständigen somit die Daten, welche in der untenstehenden Kronenformeltabelle niedergelegt sind. Kronenformel der unteren Zähne von Plat vrrhinen. F., in., >»3 p ' 4 III Mt -»/, M .vi 3 C'\ P Pa Pp Pa Pp Pa Pp Hapale \ D D4 pa pp d4 D4 D4 Chrysothrix . . (p\ p oder \DI D P D t, d Pa D~4 pa pp d 4 Pa Pp ~D4~ Pa Pp D4 Pa Pp I>4 1) An einem infantilen, Schädel von Hapalemur griseus, fand ich aber den 2-Höcker auch am ersten Molaren. 144 Viertes Hanptstück. P., P* M, M„ Af, Cebus Mycetes Ateles Pithecia . Nyctipithecus . P i — D P i — d P D P d P D P_ d P D P_ d P V D d D t, d P T D P_ d P T D P_ d P D Pa B~4 papp (3) d4 Pa D4 papp 2 d 4 P -T D pa pp ~~dlT p T D pa pp Pa D~4 Pa Pp £>4 Pa Pp Pa Pp Pa Pp Pa Pp Pa Pp ~15~4~ Pa Pp D4 Pa Pp D4 Pa Pp D4 Pa Pp D4 Pa Pp ~D4~ Pa Pp Pa Pp D4 Pa Pp ~D~4~ Pa Pp ~D~4~ Ein Blick auf obenstehende Tabelle überzeugt sofort von der sehr großen Übereinstimmung, welche die Differenzierung der Krone bei den Platyrrhinen aufweist. Wenn wir zunächst die Molaren ins Auge fassen, dann trifft man das typische vierhöckerige Relief bei allen in der Tabelle aufgenommenen Formen an. Die Vereinfachung, welche wir schon bei den Halbaffen infolge des Verlustes der Nebenzacken haben konstatieren können, hat bei den amerikanischen Affen weitere Fortschritte gemacht, denn bei keinem derselben findet sich wenigstens an den Dauermolaren eine Nebenspitze — mit Ausnahme natürlich des ^-Höckers. Und eigentümlicherweise scheint bei dem Fortschritt, welchen der Reduktionsprozeß bei den Platyrrhinen aufweist, auch dieser Höcker bisweilen schon in Mitleidenschaft gezogen zu sein. Denn nicht nur ist er wohl immer der am geringsten entwickelte Höcker der Molaren, sondern bisweilen ist er schon als wohl differenzierter Höcker kaum zu erkennen. Das ist z. B. der Fall bei Ateles, wo nur ein etwas erhabener Rand an der hinteren Hälfte der lingualen Seite des Molaren an die Stelle der hinteren lingualen Zacke tritt. Auch bei Pithecia, bei dem die Höckerentwicklung infolge des Auftretens zahl- reicher Rauhigkeiten im allgemeinen wenig kräftig ausgeprägt ist (vgl. Tafelfigur 3 und 4), ist solches der Fall. Die mir vorliegenden Schädel vom Geschlecht Ateles (A. ater, A. paniscus und A. Bartletti) stimmen in ihrem Gebiß nicht überein mit der Charakteristik, die durch Schlosser (1. c. S. 13) davon gegeben wird. Nach diesem Autor zeichnet sich Ateles durch die Spitze der Höcker seiner Molaren aus, und sollte die hintere Das Unterkiefergebiß der Primaten. 145 Hälfte der unteren Molaren noch einen wohl erhaltenen dritten Höcker wie bei Hyopsodus besitzen. An meinen Exemplaren ist weder von einer kräftigen Entwicklung der Höcker, noch von einem hinteren unpaarigen Höcker etwas zu seilen, auch nichts von einer Differenzierung im Sinne der Selenodonten. So sagt auch Giebel (Odontographie S. 5) von den unteren Molaren von Ateles: die Höcker sind nur im Rande der Krone stark ausgebildet. Bestehen hier so starke Art unterschiede oder liegt vielleicht eine Verwechslung mit einem der kleinen Mycetes- Arten vor? Durch das Fehlen von Nebenspitzen wird ein typischer Gegen- salz gebildet zwischen den Molaren der Halbaffen und den breitnasigen Affen, besonders hinsichtlich des dritten Molaren. Denn mit nur wenigen Ausnahmen (und dann noch als individuelle Variation) ist der dritte Molar der Halbaffen mit einem mehr oder weniger kräftig entwickelten 2-Höcker ausgestattet. Die Vereinfachung der Molaren- struktur läßt sich besonders schön durch diesen Höcker zeigen. Bei den eocänen Primaten tritt er an allen Molaren auf, bei den Halbaffen ist er auf den dritten beschränkt und bei (\v\\ platyrrhinen Affen fehlt er auch diesem. Daß es sich hierin um ein althergebrachtes Merkmal der Neuwelt-Affen handelt, ist neuerdings durch die Untersuchungen von Blüntschli1) festgestellt. Der von diesem Autor gebrachte Nach- weis, daß Homunculus nicht, wie es von Ameghino angegeben worden war, fünfhöckerige Molaren besitzt, sondern typisch vierhöckerige wie die rezenten Platyrrhinen, beweist, daß die Vereinfachung der Zahngestalt schon in der eocänen Periode sich vollzogen haben muß. Der Verlust dieses Höckers auf dem unteren dritten Molar steht un- zweifelhaft in Beziehung zu dem reduzierten Zustand, den der dritte obere Molar dieser Primatengruppe aufweist. Nur ein einziges Mal traf ich den 2-Höcker bei einem platyrrhinen Affen an, und zwar am dritten Milchmolaren von Mycetes, dem Affen, bei welchem auch übrigens der Hinterrand der permanenten Molaren ebenfalls die geringsten Zeichen von Reduktion aufweist. Nach Schlosser2) besitzt das Geschlecht Callithrix noch den 2-Höcker an sämtlichen unteren Molaren. Mir stand kein Schädel dieser Gattung zur Verfügung. Von den Prämolaren geben der erste und zweite zu keinen be- sonderen Bemerkungen Anlaß. Die allgemeine Gestalt darf bei den verschiedenen Gattungen eine etwas wechselnde sein, die Höcker- differenzierung zeigt große Übereinstimmung. Der erste Prämolar hat meistenfalls eine einfache kegelförmige Krone, bisweilen sind die ersten Andeutungen einer Trennung vom P-Höcker und /^-Höcker da, wie bei Cebus oder individuell bei Chrysothrix. Ein wirklicher Talon als be- sonderer Zahnabschnitt wird vermißt. Davon ist erst beim zweiten Prämolaren die Rede, doch ist er auch hier wohl immer sehr gering entwickelt und ist nicht niedriger als die vordere Hälfte des Zahnes. Der dritte Prämolar der Platyrrhinen ist in einer Weise diffe- renziert, welche für diese Gruppe der Primaten fast diagnostisch ist. Denn eigentümlicherweise hat sich der Innenrand dieses Zahnes — also der deuteromere Abschnitt — mehr differenziert als der Außenrand. Daher tritt bei Chrysothrix, Cebus. Mycetes und Nycticebus dieser 1) H. Blüntschli, Die fossilen Affen Patagoniens und der Ursprung der platyrrhinen Affen. Verh. d. Anat. Gesellsch. 1913. 2) Die Affen, Lemuren usw., S. 12. Bolk, Die Morphogenie der Primatenzähne. 10 146 Viertes Hauptstück. P Zahn mit der seltsamen Kronenformel ^ — auf, d. h. an dem bukkalen D ■* Rand besteht nur ein einziger wohl ausgebildeter Höcker, an dem lingu- alen dessen zwei. Eine solche Kronenformel ist uns bis jetzt noch nicht begegnet. Schlosser nennt es eine sehr wesentliche Komplikation. Ateles, der von allen in der Tabelle aufgenommenen Formen, die am meisten vereinfachte Zahnkronen besitzt, unterscheidet sich von den übrigen auch durch die einfache Kronenformel des dritten Prämolaren. Dagegen ist der hinterste Lückenzahn bei Hapale vollständig vier- höckerig geworden, und gleicht in seiner Zusammensetzung daher ganz dem nachfolgenden Molaren, unterscheidet sich von demselben nur durch seine Größe. Die ,. Molarisierung" des letzten Prämolaren im Unterkiefer eines Platyrrhinen verdient wohl besondere Beachtung, denn man steht hier wieder vor der Frage, wie ist diese Erscheinung zu deuten, als eine regressive oder eine progressive ? Es kommen bei den eocänen Primaten Formen vor, bei denen der hinterste Prämolar die vollständige Zu- sammensetzung eines Molaren erhalten hat. Das ist z. B. der Fall bei Hyopsodus, dessen letzter Lückenzahn im Unterkiefer die Kronenformel i Pa P-p — - besitzt. (Auch bei rezenten Halbaffen kommt solches noch D 4 vor.) Nun ist es denkbar, daß die Kronenformel des homologen Zahnes Pa bei den Platyrrhinen — — durch Verlust des P/>-Höckers aus dem obigen hervorgegangen ist, und dann würde dieser Zahn bei den amerikanischen Affen, ungeachtet seiner teilweisen Molarisierung, nichtsdestoweniger eine reduzierte Form darstellen. Oder aber man kann sich denken, daß das Auftreten des P/>-Höckers und des ^-Höckers bei Hapale und allein des letztgenannten bei mehreren anderen platyrrhinen Ge- schlechtern, ganz unabhängig von dem identischen Prozeß bei den eocänen Primaten1 vor sich gegangen ist, und dann ist die Erscheinung progressiver Natur. Man muß sich immer wohl bewußt davon sein, daß für die Entscheidung in diesem so überaus häufig in der Odonto- logie auftretenden Dilemma, eine feste Richtschnur fehlt, Es geht nicht an, ein für allemal zu sagen, das einfachst Gebaute ist das Ursprüng- lichste, das kompliziertest Zusammengesetzte das am jüngsten im Laufe der Entwicklung aufgetretene. Denn wenn in einer jüngeren geolo- gischen Periode ein Zahn sich progressiver zu entwickeln anfängt, muß er dabei notwendig ähnliche Formstufen durchlaufen, welche in früheren Perioden andere Gruppen der Primaten schon durchlaufen haben. Man muß für eine Beurteilung sämtliche allgemeinen Er- scheinungen in Betracht ziehen. Auch dann bleibt immerhin die Sache oft sehr zweifelhaft. Ich werde das an den Zähnen der Platyrrhinen leicht zeigen können. Daß sich am hintersten Prämolaren mehrerer dieser Affenge- schlechter der innere linguale Höcker ausgebildet hat, kann man als eine progressive Erscheinung auf Grund folgender Überlegung deuten. Bekanntlich ist der dritte Molar dieser Affen in den meisten Fällen sehr klein und man kann sich leicht überzeugen, daß er an der Funktion des Gebisses sich wenig beteiligt. Es verliert somit die Zahnreihe an seinem hinteren Ende eine nützliche Reibungsfläche. Es liegt der Gedanke nun Das Unterkiefergebiß der Primaten. 147 ziemlich nahe, daß die Entwicklung des inneren lingualen Höckers am letzten Prämolaren eine Kompensation darstellen kann, für die Reduktion der Kaufläche am hinteren Ende der Reihe. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, ist das Auftreten dieses Höckers als eine funktionelle Anpassung, als eine kompensatorische Einrichtung des Gebisses und als ein lehrsames Beispiel für dessen Plastizität zu be- trachten. Zugleich ist dann der hinterste Prämolar in dieser Affen- gruppe als ein progressives Element dvs (Irbisses gekennzeichnet. Zu- gunsten dieser Ansicht läßt sich anführen, daß bei Hapale, wo die Reduktion am Hinterende der Gebißreihe bis zum völligen Verlust des dritten Molaren fortgeschritten ist, die Molarisierung des hintersten Prämolaren am vollständigsten ist. Derart dargestellt liefert das Gebiß der Platyrrhinen ein Gegenstück zu jenem der Indrisinae. Ich habe an geeigneter Stelle auf die eigentümliche Gestalt des ersten Molaren dieser Halbaffengruppe hingewiesen, der in seiner vorderen Hälfte „prämolarisiert" ist und darin eine Kompensation für die Einschrän- kung der Prämolarenfunktion auf nur zwei Prämolaren erblickt. So sehen wir bei den Platyrrhinen bei Einschränkung der Molarenfläche eine „Molarisierung" der anstoßenden Prämolaren. Das scheint also ein ziemlich logischer Gedankengang zu sein. Aber es gibt eine andere Erscheinung am Platyrrhinengebiß, welche diese oben gegebene Betrachtung nicht so einwandfrei er- scheinen läßt. Wenn man von den Prämolaren dieser Gruppe nicht nur die Krone, sondern auch die Wurzelteile betrachtet, dann ist es unverkennbar, daß wenigstens dieser Teil einen regressiven Charakter trägt. Diese Reduktion äußert sich besonders darin, daß die Zahl der Wurzeln bedeutend verringert ist. Das wird durch die Fig. 49, 50, 51 und 52, welche die Gebisse einiger platyrrhinen Affen, von der Außenseite gesehen, zur Darstellung bringen, und aus unten- stehender Tabelle, worin die Wurzelzahl an den permanenten Zähnen für einige Gattungen mitgeteilt ist, bewiesen. Steht die Ziffer zwischen Klammern, dann will damit gesagt sein, daß die Wurzeln zum Teil verwachsen sind, ihre Spitze aber noch frei ist. Wurzelzahl der Zähne einiger platyrrhiner Affen. p. p. -'/, M. •!/, Hapale Chrysothi Cebus . Mycetes Ateles . Pithecia •{ oben unten oben unten oben unten oben unten oben unten oben unten I I I (2) I I I (2) I (2) (2) (3) I I I 2 (2) (2) 2 3 I I I 2 I I (2) 3 I I I 2 I I I (3) I I I (2) I I I i I I I 2 I I (2) (2) (2) + 1 2 (3) (2) I I (2) + I (2) (3) I I I I 10* Fig. öl Fig. 49 Fig. 50 Fi« 52 148 Viertes Hauptstück. Ans dieser Tabelle leuchtet sofort die starke Reduktion des Wurzel- teiles der Zähne von den Platyrrhinen ein. Am weitesten ist dieselbe wohl bei Pitbecia fortgeschritten, bei dem es eigentlich nur einen einzigen Zahn im ganzen Gebiß mit mehr als einer Wurzel gibt. Es ist diese Reduktion nur eine Teilerscheinung der im allgemeinen wenig kräftigen Entwicklung der Gebisse von den platyrrhinen Affen, welche wohl durch die Art der Nahrung — weiche Früchte, Eier u. dgl. — bedingt ist. Und jetzt erhebt sich die Frage, wenn wir die wenig kräftige Entwicklung der Zähne als Ganzes bei den Platyrrhinen in Betracht ziehen, dazu die Reduk- tionserscheinungen, wel- che zweifelsohne die Wurzelabschnitte auf- weisen, ist es dann wohl statthaft, die teilweise oder vollständige Molari- sierung der Krone vom letzten Prämolaren noch als eine progressive Er- scheinung zu deuten. Zwar erscheint die ge- gebene Erklärung: Kom- pensation für den Ver- lust an Kaufläche am Hinterende , sehr an- sprechend, aber wie ist sie mit dem allgemeinen Charakter des Gebisses in Einklang zu bringen ? Es tritt in diesem Falle das Dilemma in scharf umgrenzter Gestalt uns entgegen, und ich muß offenherzig gestehen, daß ich zögere, eine Ent- scheidung zu geben. Der Mangel an einer festen Regel, um eine reduzierte Kronenkonstruktur von einer progressiven zu unterscheiden, macht sich immer stärker fühlbar, je mehr man in die Details der Zahnentwicklung einzudringen ver- sucht. Auch von Leche ist die Schwierigkeit gefühlt worden1) und er führt einen Gesichtspunkt an, der gewiß unter Umständen eine Bedeu- tung haben kann. Im ersten Stadium der progressiven Entwicklung Fig. 49. Gebiß von Mycetes seniculus. P'iff. 50. Gebiß von Ateles ater. 1) W. Leche, Studien über die Entwicklung des Zahnsystems bei den Säuge- tieren. Morph. Jahrb. 1892. Bd. XIX. Das Unterkiefergebiß der Primaten. 149 wird die Krone vergrößert, während die Wurzel zunächst die ein- fachere, schwächere Form beibehält, Und umgekehrt, ist ein Zahn überflüssig geworden und fällt der regressiven Entwicklung anheim, dann äußert sich dies in erster Linie durch Verkleinerung der Krone, während die Wurzel länger eine relativ größere Komplikation bewahrt. Wie gesagt glaube ich wohl, daß in besonderen Fällen diese Über- legung für eine Entscheidung fördernd sein kann, aber daß sie in anderen Fällen versagt, davon legen die Platyrrhinenzähne sofort Zeugnis ab. Denn der hinterste Prämolar dieses Gebisses, über dessen Natur wir im Unsicheren sind, ob progressiv oder regressiv, besitzt bei allen unter- suchten Geschlechtern nur eine einzige Wurzel. Liegt hier der primitive Zustand vor oder bereits ein Produkt von Verschmelzung ursprünglich getrennter Wurzeln? Letzteres ist wohl höchst wahrscheinlich, um nicht zu sagen sicher. Denn der ganze Wurzelapparat des platyrrhinen Gebisses zeichnet sich durch weitgehende Vereinfachung aus. Also der WurzelteD dv^ letzten Prämolaren trägt ein reduziertes Gepräge Fig. 51. Gebiß von Cebus fatuellus. Fig. 52. Gebiß von Pithecia nocturna. und dennoch ist die Krone, wie z. B. bei Hapale, vollständig niolari- form. Hier muß somit die Reduktion des Wurzelabschnittes jener der Krone vorangegangen sein. Es geht aus diesem Beispiel hervor, daß die Entscheidung der gestellten Frage nicht so einfach ist. Und doch hat sie gerade großen Wert für die stammesgeschichtlichen Probleme. Im allgemeinen habe ich stark den Eindruck bekommen, daß die Ober- kieferzähne in diesen Problemen mehr zuverlässige Führer sind als jene des Unterkiefers, gerade weil die Evolution da eine mehr gleichmäßig graduelle ist. Betrachten wir jetzt die Kronenformation der Milchmolaren, dann läßt sich zunächst die bekannte Tatsache konstatieren, daß in dieser Zahnreihe der Molar sich komplizierter gestaltet, je weiter er nach hinten gelegen ist. Es stimmen darin die Milchmolaren mit den Prämolaren überein. Weiter ist es besonders bei den Platyrrhinen überraschend, wie sehr die Milchmolaren nicht nur in bezug auf ihr»1 Höckerdifferenzierung, sondern auch hinsichtlich ihrer allgemeinen 150 Viertes Hauptstück. Gestalt ihren Nachfolgern ähnlich sind. Ersteres geht aus der Tabelle, und letzteres aus den Skizzen auf Tafel II hervor. Nur der dritte Milehinolar hat immer den Charakter eines Molaren vollständig angenommen. Es gibt die Differenzierung dieser Zähne zu wenig Bemerkungen Anlaß, eine zusammenfassende Vergleichung mit der Prämolarendifferenzierung, welche wohl interessante Verhältnisse zu- tage fördert, werde ich erst geben, wenn auch die übrigen Affen- gruppen besprochen worden sind. Nur folgendes sei an dieser Stelle bemerkt. Bei der Besprechung der Molaren ist darauf hingewiesen, daß der hintere linguale Höcker bei Ateles äußerst schwach entwickelt ist, kaum den Charakter einer wirklichen Zacke besitzt. Es ist nun zu ver- zeichnen, das gleiches für den letzten Milchmolaren gilt. Wir haben schon einmal Gelegenheit gefunden, ins Licht zu stellen, daß spezielle Merkmale der permanenten Molaren auch am Milchmolaren ausgeprägt sein können. Das als individuelle Variation etwas von der Norm ab- weichende Leistensystem auf dem permanenten Molaren eines Siamanga wurde auch auf den in dem Schädel noch vorhandenen zweiten Milch- molaren angetroffen. Diese Tatsache hat Bedeutung als Beleg für die Einheitlichkeit in dem Differenzierungsgang von permanenten und Milchmolaren, woran ich, auf Grund der Prinzipien der von mir ausge- arbeiteten Differenzierungstheorie wohl nicht zweifelte, worauf ich aber, in bezug auf die Cope-Osbornsche Differenzierungstheorie besonders Nachdruck zu legen wünsche. Soweit mir bekannt, sind die genannten Autoren niemals auf die Stellung, welche die Milchmolaren in ihrem System einnehmen, eingegangen. Hat ihre Differenzierungs- theorie, welche bekanntlich nur für die Molaren gilt, auch auf die Milchmolaren bezug oder sollte für diese ein spezieller Entwicklungs- modus gelten, wie ein solcher z. B. von Scott für die Prämolaren auf- gestellt ist ? Wie gesagt, man bleibt hinsichtlich dieser Frage im Dunkeln. Das ist einer der schwachen Punkte in der Theorie der amerikanischen Forscher. Nimmt man an, diese Autoren seien der Meinung, daß der Entwicklungsgang der Milchmolaren identisch sei mit jenem der per- manenten Molaren, so widerspricht eine solche Annahme dem tat- sächlich wahrnehmbaren Differenzierungsmodus der Höcker in der Reihe der Milchmolaren, und dann muß man in konsequenter Weise annehmen, daß z. B. der dritte Milchmolar von Hapale, welcher fast vollständig wie der Ersatzzahn gebaut ist, auf ganz anderem Wege diese Zusammensetzung erlangt hat, als der an seine Stelle tretende Nachfolger. Da beide Zähne den gleichen mechanischen Einflüssen unterlagen, ist eine solche Annahme wenig wahrscheinlich. Oder denkt man sich (immer auf den Cope-Osbornschen Standpunkt sich stellend), daß die Prämolaren einen von den Molaren wesentlich verschiedenen Entwicklungsgang durchlaufen haben, und die Milchmolaren einen gleichen Differenzierungsmodus wie die Prämolaren durchliefen, dann erscheint es als eine schwierig zu lösende Frage, woher es kommt, daß individuelle Besonderheiten an den permanenten Molaren sich an den Milchmolaren des nämlichen Individuums wiederholen. Nur die von mir als Grundprinzip der Gebißentwicklung verteidigte Ansicht, daß für alle Zähne des Gebisses ein einziger Entwicklungsgang besteht, beseitigt die Schwierigkeiten, welche bei Anwendung der Cope- Osbornschen Theorie auf dem Milchgebiß bestehen. Das Unterkiefergebiß der Primaten. 151 Es ist oben der reduzierte Zustund zur Sprache gebracht worden, in dem sich der Wurzelapparat des permanenten Gebisses der Platyr- Fig. 53. Dentitionspräparat von Hapale. Fig. 55. Dentitionspräparat von Cebus. rhinen befindet. Wie steht es nun mit jenem des laktealen Gebisses. Darüber geben die Fig. 53—58 Aufschluß. Ich habe dazu von den mir zur Verfügung stehenden Schädeln amerikanischer Affen mit Milch- Fig. 54. Dentitionspräparat von Chrysotrix. Fig. 56. Dentitionspräparat von Mycetes. gebiß Dentitionspräparate angefertigt. Nach diesen Präparaten sind die Fig. 53 — 57 hergestellt. Sie geben die Milchzähne mit dem Milch- caninus und die Zahnkeime der Ersatzzähne wieder, wie sie sich in situ 152 Viertes Hauptstück. fanden. Nur von Ateles sind die Zähne nach ans dein Schädel extrahierten Objekten dargestellt. Ich erinnere daran, daß sämtliche unteren Prämolaren bei den Platyrrhinen, soweit von mir untersucht, einwurzelig sind. Man überzeugt sich leicht an diesen Figuren, daß der Wurzel- apparat der Milchmolaren bei den Platyrrhinen eine seltene Über- einstimmung zeigt. Kegelmäßig ist der erste und zweite Milchmolar einwurzelig und der dritte zweiwurzelig. Nur bei Cebus ist der vorderste der drei mit einer bis zur Mitte gespaltenen Wurzel versehen. Spuren von Verwachsung in der Form einer seichten Furche auf der Außen- fläche bemerkt man bei Pithecia und Cebus. Beiläufig sei darauf hin- gewiesen, daß der Keim des ersten Prämolaren der Überfläche immer am nächsten gerückt ist. Bei normaler Dentition erscheint dann auch dieser Prämolar zuerst, Der dritte, dessen Keim zwischen den beiden Wurzeln des dritten Milchmolaren gefaßt ist, kommt zuletzt zum Vor- schein. Es wird dieser Zahn erst gewechselt, nachdem der dritte perma- nente Molar durchgebrochen ist. Fig. 57. Dentitionspräparat von Pithecia. Fig. 58. Milchzähne von Ateles ater. Wir können jetzt unsere Betrachtungen über die Kronendiffe- renzierung fortsetzen mit den Gebissen der katarrhinen Primaten. Es ist auch von diesen wieder die Kronenformel der Milchmolaren in der Tabelle aufgenommen. Nur von Colobus mußte ich auf eine solche Angabe verzichten, es stand mir kein Material zur Verfügung. Es um- faßt die untenstehende Tabelle Kepräsentanten der meisten Geschlechter der katarrhinen Primatengruppen, also einschließlich des Menschen. Ich möchte jedoch schon im voraus betonen, daß individuelle Varia- tionen, besonders bei den Anthropoiden und Hominiden und Artvaria- tionen bei den übrigen altweltlichen Affen, welche weiterhin kurzweg nach dem Web ersehen System als Cercopithecidae angedeutet wrerden sollen, ziemlich häufig sind. Die Tabelle bringt mithin jene Formeln, welche der Norm an dem mir vorliegenden Material zu entsprechen scheinen. Besonderheiten über Variationen folgen unten. Es sind in der untenstehenden Tabelle die auf den Milchmolaren bezug habenden Kronenformeln wieder mit kleinen Buchstaben ge- schrieben worden. Das Unterkiefergebiß der Primaten. 153 Kronenformel der unteren Zähne bei katarrhinen Primaten. P m P m M M M (B i papp Pa — T D pa pp Pa Pp D4 Pa Pp Pa Pp 2 Macacus cynomolgus . . . D4 D4 d 4 d 4 C'\ PaPp Pa Pp Pa Pp Pa Pp 2 Inuus nemestrinus .... W pa pp <>4 D4 pa pp d 4 D4 D 4 1>4 i''\ PaPp Pa Pp Pa Pp Pa Pp 2 Cynocephalus porcarius . W pa pp d4 D pa pp d 4 D4 D 4 D4 Cercopithecus mona . . . (-3 pa pp d 4 Pa T D pa pp d 4 Pa Pp D4 Pa Pp D4 PaPp 1>4 Colobus ferrugineus . . . ü P T D Pa Pp D4 Pa Pp D4 Pa Pp 2 D4 Semnopitbecus maurus . (l) ipapp d4 Pa i>4 pa pp ^4 Pa Pp r>4 Pa Pp Pa Pp 2 r>4 Siamanga syndactylus . . Q d P -T D papp 2 d 4 Pa Pp 2 D4 Pa Pp 2 D 4 Pa Pp 2 D4 P D pa pp d 4 P -T D papp 2 d4 Pa Pp 2 D.4 Pa Pp 2 D4 Pa Pp D4 P Pa Pp Pa Pp 2 Pa Pp 2 Pa Pp (2) Troglodytes niger .... D pa pp d D4 pa pp 2 d4 D4 D4 D4 ip\ Pa Pp Pa Pp 2 Pa Pp 2 Pa Pp 2 D4 pa pp2 D4 1>4 D4 W d 4 P P Pa Pp 2 Pa Pp Pa Pp 2 D papp 2 (I 4 D pa pp2 d4 r>4 D4 1>4 154 Viertes Hauptstück. Wenn wir zuerst einen Blick auf die Kronenformel der permanenten Molaren werfen, dann tritt sofort die altbekannte Tatsache hervor, daß zwischen den Cercopithecidae zur einen Seite und den Anthro- pomorphen (wozu ich im weiteren auch Siamang rechne) mit dem .Menschen zur anderen Seite eine typische Differenz besteht, Bei der erstgenannten Gruppe ist der 2-Höcker nur am dritten Molaren bewahrt geblieben, und noch nicht einmal bei allen Gattungen. Denn bei Cerco- pithecus fehlt er immer und bei gewissen Arten von Semnopithecus (S. mitratus z. B.) kann er jedoch als seltene Ausnahme gleichfalls abwesend sein1). Daß es sich dabei um eine progressive Erscheinung handelt, wird durch jeneT besonders bei Cynocephalus und Inuus auftretenden Formen bewiesen, bei denen auch der Hinterrand des zweiten Molaren noch einen deutlichen Höcker besitzt. Ist der Verlust des 2-Höckers als eine progressive Erscheinung zu deuten, dann folgt daraus, daß das Gebiß der Anthropomorphen und des Menschen auch in dieser Hinsicht primitiver gestaltet ist als jenes der übrigen katarrhinen Primaten und gleichfalls als jenes der Platyrrhinen, bei denen der 2-Höcker sogar am dritten Molaren regelmäßig fehlt. Denn wie allgemein bekannt, und auch aus der Tabelle ersichtlich, kommt der bezügliche Höcker als Regel an allen permanenten Molaren der Anthropomorphen vor. Aus welchen Gründen die unteren Molaren dieser Primatengruppe fünfhöckerig geblieben sind, ist nicht schwer zu erforschen. Wir brauchen dazu nur die Okklusionsverhältnisse am Gebisse eines Gorilla mit z. B. solchen an einem Semnopithecusgebiß zu vergleichen. Man überzeugt sich dann leicht, daß die Entwicklung des Leistensystems an den oberen Molaren, wie es in einem voran- gehenden Hauptstück geschildert worden ist, mit dem Verlust des fünften Höckers in unmittelbarem Zusammenhang steht. Ich erinnere dazu daran, daß das Leistensystem bei den Anthropomorphen wie bei den Hominiden an den oberen Molaren noch ein sehr primitives Ge- präge besitzt, weil der hintere linguale Höcker (der ^-Höcker) noch nicht im System einbezogen worden und durch die hintere Schräg- furche vom übrigen Teil der Krone getrennt ist. Vor dieser Furche zieht ein Kamm schräg vom Z)-Höcker zum P/>-Höeker, und vom ersteren geht noch ein zweiter Kamm aus, der zum Pa-Höcker zieht, oder wie bei Gorilla, etwas mehr nach vorn abbiegt und sich abflachend in der Mitte des mesialen Zahnrandes endet. Fragt man nun, wie verhält sich bei der Okklusion das Eelief der unteren Molaren zu jenem der oberen, dann läßt sich diese Frage am leichtesten beim Gorilla mit seinen zapfenförmigen Höckern nach- prüfen. Ich verweise dazu nach Fig. 59a, wrelche die Superposition der Okklusionsfläche eines oberen und unteren Molaren vom Gorilla bringt. Der obere Molar ist punktiert, der untere in durchgezogenem Umriß angegeben. An diesem Superpositiousbild ist leicht zu zeigen, daß das Relief der unteren Molaren gleichsam einen Ausguß von jenem der oberen darstellt, Die größte Selbständigkeit kommt dem Pp-Höcker des unteren Molaren zu, denn dieser kann mit keinem anderen durch eine Leiste verbunden sein. Distalwärts behindert ihn darin der hintere Schrägkamm des oberen Molaren und mesialwärts die vordere vom Z)-Höcker des oberen Mahlzahnes ausgehende Leiste. Der P/>-Höcker 1) H. 0. Forbes, A Hand-Book to the Primates, Vol. II, p. 138. London 1892. Das Unterkiefergebiß der Primaten. 155 des unteren Molaren wird gleichsam in der zentralen Delle des oberen Molaren eingeschlossen. Der hintere Schrägkamin des oberen Zahnes wird nach hinten durch die bei Gorilla sehr tiefe hintere Schrägfurche begrenzt. Dieser Furche entspricht am unteren Zahn eine niedrige aber dennoch gut entwickelte Leiste, welche bukkalwärts in dem 2-Höcker, lingualwärts in dem ^-Höcker endet. Es ist nun früher ausführlich dargetan, daß die höhere Speziali- sierung der oberen Molaren in der Weise zustande kommt, daß die hintere Schrägfurche verschwindet und ein Querkamm sich ausbildet, welcher vom P/>-Höcker zum ^-Höcker zieht. Denkt man sich nun in Fig. 59a diese Leiste eingetragen, dann wird es deutlich, daß dieselbe die Berührungsfläche des 2-Höckers vom unteren Zahn durchqueren muß. Mit anderen Worten, es bildete sich am oberen Zahn eine Leiste an einer Stelle, welche ursprünglich eine Einsenkung darstellte, worin ein Höcker des unteren Zahnes gefaßt wurde. Selbstverständlich er- forderte das Zustandekommen derselben den Verlust des Höckers am unteren Zahn. Und in der Weise entstanden die neuen Okklusions- verhältnisse, welche das Gebiß der Cercopithecidae kennzeichnen, wie das in schematischer Weise in Fig. 59& zur Schau gebracht ist. So sehen wir, daß der Verlust des 2-Höckers an den unteren Molaren der Cercopithecidae „------ „---—> die notwendige Vorbedingung >' '\ ? -7\v%- für die Umgestaltung des Leistensystems der oberen Molaren war. Der Mensch nimmt be- kanntlich bezüglich des Vor- kommens eines fünf ten Höckers an den unteren Molaren eine Sonderstellung ein. Am ersten Fig. 59. Molaren ist er als ziemlich konstant zu betrachten, am zweiten muß — wenigstens bei Europäern — das Fehlen desselbenals Regel betrachtet werden, und der dritte entbehrt den Höcker in etwas mehr als der Hälfte der Fälle. Es sind in der Literatur schon manche statistischen Angaben über diese Erscheinung mitgeteilt worden, welche von de Terra1) in übersichtlicher Weise eine Dar- stellung erfahren haben und mit persönlichen Beobachtungen vermehrt sind. In der dritten dieser Studien werde ich ausführlich auf diesen Punkt eingehen, möchte jedoch schon an dieser Stelle kurz einige Er- gebnisse eigener Untersuchungen einschalten. Es wurden diese Unter- suchungen angestellt an vollständigen Gebissen rezenter Amsterdamer Schädel, also an einem sehr einheitlichen Material. Es standen mir dazu 219 Unterkiefer mit kaum usurierten Kauflächen zur Verfügung. Jede Hälfte wurde gesondert notiert. Die Häufigkeit einiger Kombi- nationen der Höckerzahl an den drei Molaren war die folgende: 5.5.5 in 4 Fällen oder 0,9% 5.4.5 „ 112 5> 55 25,5% 5.4.4 „ 104 )J ?? •r>v\, 4.4.4 ,. 61 JJ 75 13,9% 4.4.5 „ 23 5? 55 5,2% 1) Odontographie der Menschemassen, S. 139. 156 Viertes Hauptstück. Im ganzen fand ich in dieser Sammlung neun zweite Molaren mit fünf Höckern, das ist somit ungefähr 2%. Da es sieh um ausge- wählte, ausgezeichnet konservierte Gebisse handelt, und dazu alle von der rezenten Bevölkerung von Amsterdam (die Beobachtungen wurden gemacht an Crania von zwischen 1865 und 1890 verstorbenen Leuten) ist den eben gegebenen Ziffern und prozentualen Verhältnissen et was mehrWert beizumessen als sonstigen in der Literatur vorkommenden statistischen Daten, welche an einem sehr gemischten Material festge- stellt worden sind. Wenn ich meine Resultate mit jenen anderer Autoren vergleiche, wie sie von de Terra mitgeteilt sind, dann scheint ein fünf- höckeriger zweiter Molar an meinem Material viel seltener zu sein als an anderen europäischen Schädeln. So fanden sich z. B. am Zucker- kandischen Material 11,5% dieser Molaren mit fünf Höckern. Weiter ist ein vierhöckeriger erster Molar an den Amsterdamer Schädeln auf- fallend häufig. Ich gehe nicht auf weitere Details ein, da ich das für die folgende Studie vorbehalte, doch möchte hier schon darauf hin- gewiesen werden, daß der Umstand, daß mein Untersuchungsmaterial rein städtischer Herkunft war. bei der Deutung der Erscheinungen in Betracht gezogen werden kann. Die Tatsache, daß beim Menschen der zweite untere Molar, wir können kurzhin sagen vierhöckerig ist, während der dritte Molar in ungefähr der Hälfte der Fälle noch fünfhöckerig erscheint, verleiht der unteren Gebißreihe des Menschen ein etwas unregelmäßiges Ge- präge. Ich glaube die Erscheinung folgenderweise beleuchten zu dürfen. Das Gebiß des Menschen findet sich in Reduktion. Nun äußert sich dieselbe in zweierlei Richtung, erstens in einer Verkürzung der Gebiß- reihe und zweitens durch Vereinfachung der Kronenstruktur. Denken wir uns zunächst, daß nur der letztgenannte Einfluß tätig war, also eine Vereinfachung der Kronenstruktur ohne gleichzeitige Verkürzung der Gebißreihe, dann würde schließlich eine Gebißform entstehen, wie man bei Cynopithecus, Semnopithecus, Colobus, Macacus usw. findet, nämlich der erste und zweite Molar vier-, der letzte Molar fünf- höckerig. Denn der fünfte Höcker oder der sogenannte dritte Lobus des hintersten unteren Molaren hat eine solche mechanische Bedeutung, daß er nicht bei Anwesenheit eines gut entwickelten vierhöckerigen oberen dritten Molaren zugrunde gehen kann. Denn es ist gerade dieser Höcker, der den Gegendruck liefert, wodurch der letzte obere Molar verhindert wird, sich unter dem Einfluß der auf ihn einwirkenden Kräfte beim Verschluß des Gebisses nach hinten zu verschieben. Es hat für den Mechanismus des Gebisses beim Ineinandergreifen der Zähne der fünfte Höcker des dritten Molaren eine große Bedeutung, und die Vereinfachung der Kronenstruktur, wie dieselbe einmal bei den oben genannten Gattungen zustande gekommen sein muß, hat gewiß vom zweiten unteren Molaren Ausgang genommen. Eine ähnliche Vereinfachung ist nun bei den Hominiden bereits im Gange, und hat der zweite Molar sich schon bei den kultivierten Rassen in ein vierhöckeriges Gebilde umgestaltet, während auch der erste Molar schon dem Einfluß dieses Vorganges unterliegt. Nun hat sich aber beim Menschen die Reduktion des Gebisses noch in einer zweiten Richtung zu äußern angefangen, und zwar durch eine Ver- kürzung der Gebißreihe. Diese Verkürzung findet ihren Sitz am distalen Ende und übt ihren Einfluß auf den dritten Molaren aus. Ich möchte Das Unterkiefergebiß der Primaten. 157 diese Reduktion als einen von der vorherbeschriebenen unabhängigen Vorgang betrachten, mit einem etwas oüfferenten Charakter. Es handelt sich hier nicht um eine in bestimmter Richtung verlaufende Verein- fachung der Kronenfläche, sondern um eine Ausmerzung eines fünf- höckerigen Elementes als ganzes. Die Resistenz des fünften Höckers dieses Molaren gegen die Kronenvereinfachung, welche man bei den meisten Gattungen der Cercopithecidae zu konstatieren vermag, lebt auch diesem Höcker beim .Menschen noch inne. Und so kann es vor- kommen, daß man in der einen Kieferhälfte einen wohlentwickelten fünfhöckerigen dritten Molar findet, während an der anderen Seite der Zahn vollständig fehlt. Der etwas unregelmäßige Charakter der gesamten Kronenstruktur der unteren Zahnreihe beim Menschen wird somit begreiflich, wenn man sich vorstellt, daß der Reduktionsprozeß in zweierlei Weise mit etwas verschiedener Tendenz angreift, nämlich Vereinfachung der Kronen- struktur und Verkürzung des Gebisses. Auch am Oberkiefer ist ähnliches zu konstatieren. Gehen wir jetzt zur Betrachtung der Kronenformeln der Prä- molaren über. Es wird bei dieser Übersicht von gelegentlich auftre- tenden akzessorischen Hügeln nicht die Rede sein; ich werde mich an die in der Tabelle niedergelegten Daten halten. Es muß aber bezüglich der Prämolaren der Anthropomorphen eine erläuternde Bemerkung gemacht werden. Denn die Ausbildung der Krone dieser Zähne ist in dieser Gruppe sehr variabel, je nachdem der Zahn kräftiger oder weniger kräftig entwickelt ist. Diese Variabilität zeigt einen bestimmten Charakter. Die Haupthöcker der beiden Odontomeren können nämlich zu einer einfachen kegelförmigen Krone verbunden sein, oder sie können als getrennte Spitzen auftreten. Diese Variabilität gilt besonders für die ersten Prämolaren und sie ist gelegentlich bei allen Genera dieser Gruppe zu konstatieren. Falls diese Krone zweispitzig ist. erscheint der deuteromere Höcker immer als der kleinere und scheint aus der lingualen Hälfte der Kronenfläche sich zu erheben. Man muß es sich daher so vorstellen, daß die bukkale Hälfte, welche sich zu der kräftigen pyramidalen Spitze entwickelt, nur dem protomeren Abschnitt des Zahnes entspricht, während der deuteromere Teil in dem lingualen, mehr abgeflachten talonartigen Teil versteckt ist. In dieser Weise be- trachtet, lassen sich die individuellen Variationen mit Recht als eine verschieden starke Entwicklung des deuteromeren Höckers kennzeichnen. Auch am zweiten Prämolaren ist die Konfiguration bei allen Genera der Anthropomorphen wechselnd. Hier sind aber die Variationen in der hinteren Hälfte der Krone lokalisiert, da die vordere wohl immer zweispitzig ist. Die hintere Hälfte kann nun als eine einfache talonartige Verlängerung der Krone erscheinen, oder — wie es häufig der Fall ist zeigt sie die Anlage zweier hinterer Tuberkel, welche jedoch immer in einem mehr niedrigen Niveau als die vorderen Spitzen verbleiben. Bei Schimpanse und besonders bei Gorilla fand ich diese beiden hinteren Tuberkel so häufig, als wohl differenzierte Bildungen anwesend, da Li man diese Zähne als quadrikuspidate zu bezeichnen berechtigt ist. Bei den übrigen Katarrhinen weisen die Prämolaren eine mehr konstante Kronenstruktur auf, und auch die Unterschiede zwischen den Genera sind mehr solche der allgemeinen Form als der Kronenstruktur. Wohl bei allen ist der erste Prämolar mit einer einspitzigen Krone aus- 158 Viertes Hauptstück. gestattet. Am bukkalen Rande des Zahnes ragt dieser Höcker stark hervor. Die linguale Fläche fällt mehr oder weniger steil ab und ist von einer bisweilen ziemlich scharfen und hohen Leiste in ein vorderes und hinteres Feld getrennt. Bei Cercopithecus fehlt diese Leiste nahezu und erscheint der Zahn stark abgeplattet. Die Emaillierung der Krone setzt sich an der bukkalen Fläche bekanntlich eine Strecke wreit auf der Außenseite der vorderen Wurzel fort. Bei Semnopithecus findet sich sehr häufig auf der hinteren Hälfte der lingualen Fläche ein Höckerchen, das jedoch nicht aus dem lingualen Rande sich emporhebt, sondern mehr transversal gestellt und dem Hinterrande genähert ist. Ich möchte es als die erste Anlage vom ./-Höcker deuten. Der Grund dazu wird durch die Kronenstriktur des zweiten Prämolaren dieses Genus geliefert, an dem eigenartigerweise von den beiden hinteren Höckern, welche bei den Geschlechtern Macacus, Inuus und Cynocephalus entwickelt sind, nur der linguale vorkommt. Diese geringe Differenzierung der hinteren Kronenhälfte von P2 bei Semnopithecus bildet eine Übergangsstufe zu jener von Colobus, bei dem, an den mir vorliegenden drei Schädeln (C. ferrugineus, ursinus und guereza) der P2 nur die zwei vorderen Höcker besitzt, welche nach hinten in einer sehr gering entwickelten, nicht weiter differenzierte Talon sich fortsetzen. Auch bei Cercopithecus ist solches der Fall, doch sind hier Andeutungen vom Pp und vom 4- Höcker bisweilen anwesend. Über die Kronenstruktur der Milchmolaren können wir uns kurz fassen. - - Von Colobus stand mir kein Schädel mit Milchgebiß zur Verfügung. Von den Cercopithecidae gehören die beiden Milch- molaren dem vierhöckerigen Typus an. Der Vorderrand des ersten kann sich, wie es bei Semnopithecus und Macacus der Fall ist, nach vorn zu- spitzen. Besonders beim letztgenannten Affen ist dann die vorderste Spitze deutlich mit einem Höckerchen ausgestattet, bei Semnopithecus ist dasselbe weniger deutlich. Wenn man bei den Cercopithecidae die individuellen Variationen des ersten Milchmolaren und des ersten Prä molaren vergleicht, dann tritt ein merkwürdiger Gegensatz zutage, welchen man übrigens auch bei den Anthropomorphen und beim Menschen zu konstatieren imstande ist. Der erste Milchmolar steht nicht bei allen Individuen einer Art auf einer gleichen Stufe der Entwicklung. Die zwei hinteren Höcker fehlen wohl niemals, aber die vordere Hälfte des Zahnes ist in der Aus- bildung der Höcker schwankend. In den meisten Fällen ist der Pa- Höcker und der Z)-Höcker entwickelt, aber es können dieselben ein- ander so nahe gerückt sein, daß es bisweilen den Eindruck macht, als wäre nur ein einziger Höcker da, und es trägt die vordere Hälfte deshalb einen mehr reduzierten Charakter. Die Schwankungen in der individuellen Entwicklung sind also beim ersten Milchmolaren der ge- nannten Affen in der vorderen Hälfte des Zahnes lokalisiert. Beim ersten und in höherem Maße beim zweiten Prämolaren trifft man einen geraden entgegengesetzten Zustand. Denn hier ist die vordere Hälfte die am wenigsten variable, und es äußert sich die Variabilität gerade in der hinteren Hälfte, die das eine Mal zwei deutlich entwickelte Höcker aufweist, ein anderes Mal dagegen nur mit einem regelmäßigen, etwas erhabenen Rand ohne Höckerbildung ausgestattet ist. Bei den Prä- Das Unterkiefergebiß der Primaten. 159 molaren ist der vordere Teil also immer der am stärksten entwickelte, bei den Milchmolaren der hintere Teil. Die Milchmolaren der Anthropoiden haben in der Literatur mehrfach ausführliche Beschreibung erfahren (Selenka, Adloff). Das Hauptsächlichste in ihrer Struktur wird unten hervorgehoben werden, gleichzeitig mit einer kurzen Vergleichung zwischen der Gestalt der Milchmolaren und derer der Ersatzzähne bei den Primaten. Für diese Vergleichung sei auf die auf Tafel II vorkommenden Umriß- zeichnungen der Prämolaren und ersteren Molar mit den Milchmolaren bei verschiedenen Affen verwiesen. Es ist eine allbekannte Tatsache, daß die Milchmolaren oftmals in ihrer Kronenstruktur stark differieren mit ihren Ersatzzähnen. Diese Differenzen sind nun bei den verschiedenen Gruppen der Affen auffallend wechselnd; das eine Mal ähneln sich Prämolaren und Milch- molaren sehr stark, das andere Mal besteht zwischen beiden ein sehr bedeutender Unterschied. In dieser Hinsicht stellen sich die platyr- rhinen Affen in starkem Gegensatz zu den katarrhinen, und besonders zum menschlichen Gebiß. Die beiden Extremen werden durch die Geschlechter Hapale und Homo gebildet. Beim erstgenannten sehen die Zahnkronen von den Milchmolaren und den Prämolaren einander so ähnlich aus, daß es gewiß Mühe kostet, z. B. den dritten Milchmolar vom dritten Prämolar, wenn isoliert betrachtet, zu unterscheiden. Beim Menschen dagegen ist der Unterschied zwischen dem fünfhöcke- rigen zweiten Milchmolar und dem zweispitzigen zweiten Prämolar größer als bei irgendwelchen anderen Primaten. Eine die ganze Pri- matenreihe in bestimmter Richtung durchziehende Entwicklungstendenz besteht hierbei jedoch nicht, nur kann man den oben hervorgehobenen Gegensatz zwischen altweltlichen und neuweltlichen Affen konstatieren. Diese Tatsache ruft die Gedanken wach, ob vielleicht in der Verringe- rung der Prämolaren- und Milchmolarenzahl nicht eine Ursache ge- geben ist für die ungleiche Entwicklung von Milchzähnen und ihrer Ersatzzähne. Als zweites Moment, das bei der Beurteilung jenes Phä- nomen in Betracht gezogen werden muß, gilt gewiß der überhaupt mehr einfache Bau der Molaren der amerikanischen Affen. Man trifft öfters in der Literatur die Behauptung, daß die Molarzähne eine ältere Dentition des bleibenden Gebisses repräsen- tieren sollten, und daß folglich, wenn der Zahn der ersten und der zweiten Dentition einander unähnlich sind, der Milchzahn die mehr primitive Gestalt erkennen lehrt, der bleibende die mehr abge- änderte. Als klassisches Beispiel wird dann das Gebiß von Chiromys angeführt. Die erste Dentition dieses Halbaffen ist noch, wie Leche nachgewiesen hat, insektivorös, während das bleibende Gebiß jenem eines Nagetieres stark ähnelt, Wiewohl ich die große Bedeutung dieser und übereinstimmender Tatsachen völlig anerkenne, glaube ich doch dagegen warnen zu müssen, um an diesen konkreten Fällen ein zur Interpretierung sämlticher Erscheinungen geltendes Prinzip zu ent- nehmen. Zunächst möchte ich mein Bedenken äußern gegen den Standpunkt, die beiden Dentitionen als eine ältere und jüngere einander gegenüber zu stellen. Beide Dentitionen sind gleich alt, da sie bei den Reptilien nicht sukzessive, sondern isochron funk- tionierten. Allerdings hat dieses Argument nur Gültigkeit für den, 1 60 Viertes Hauptstück. der sich meiner Theorie über die Beziehung zwischen .Reptilien- und Säugergebiß anschließt. Von diesem Gesichtspunkt ausgehend scheint mir der Schluß berechtigt, daß bei den primitiven Säugern die Ele- mente beider Gebißreihen einander sehr ähnlich gewesen sein müssen, und daß in beiden Gebißreihen eine sukzessive Vervollkommnung der Zahngestalt in distaler Richtung sich ausgebildet hat. Diese regelmäßige Komplizierung trifft man nun in der Tat beim bleibenden Gebiß der eocänen Primaten und — sei es auch weniger — ebenfalls bei einigen rezenten Halbaffen an. Leider ist uns das Milchgebiß der Urprimaten nicht bekannt, aber aus den Untersuchungen von Leche geht wohl hervor, daß wenigstens bei den Halbaffen, auch an der ersten Dentition, eine graduelle Komplizierung der Milchmolaren, welche mit jener der Prämolaren parallel geht, in weit höherem Grade vorkommt als bei den Affen. Man muß dabei natürlich eine spezialisierte Form als Chiromys nicht als Muster wählen. Jenen Zustand sehe ich daher als den ursprünglichsten an, bei dem der erste Milchzahn und der erste Prämolar am einfachsten ge- staltet sind, an denen nicht mehr zur Ausbildung gelangt ist als der Haupthöcker des Protomer mit eventuellem Zutritt einer der Neben- spitzen oder beide. Die weiter nach hinten folgenden Zähne sind dann vollständiger entwickelt, je mehr sie nach hinten gelegen sind. Die Komplizierung folgt dabei in der Reihenfolge, welche wir im allgemeinen Teil kennen gelernt haben. Also Milchgebiß und Dauergebiß zeigen in der Gestalt ihrer Komponenten noch keinen Unterschied, wie sehrauch die Zähne einer Gebißreihe unter sich differieren dürfen. Das ist meiner Meinung nach die primitive Gebißform. Dieser Zustand findet sich, wie gesagt, noch am vollständigsten verwirklicht bei gewissen Halbaffen, besonders bei jenen, bei denen der dritte Prämolar die Struktur eines Molaren besitzt (Galago, Hemi- galago). Diese parallele Gestaltung beider Gebißreihen ist nun bei den Äffen verwischt worden, und zwar infolge zweierlei Abänderungen: die Milchmolaren haben sich immer mehr kompliziert und die Prä- molaren sind einander ähnlicher geworden, die stufenweise Vervoll- kommnung hat einer größeren Ähnlichkeit die Stelle geräumt. Die Folge davon war, daß im bleibenden Gebiß der Gegensatz zwischen Prämolaren und Molaren akzentuiert worden ist. und daß die Prämolaren und Milchmolaren einander je länger desto stärker unähnlich geworden sind. Jenes Gebiß muß in dieser Hinsicht als ein am meisten speziali- siertes betrachtet werden, an dem diese beiden Vorgänge ihren höchsten Entwicklungsgrad erreicht haben. Und von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet erscheint das menschliche Gebiß als am weitesten von der Urform entfernt, läßt auch jenes der Anthropomorphen mehr oder weniger weit hinter sich. Wenn man nun von dem entwickelten Gesichtspunkt aus die Gebisse der Affen vergleicht, dann stellen jene der platyrrhinen Formen unzweifelhaft mehr primitive Formen dar als jene der katarrhinen Primaten. Denn wie vorher schon bemerkt und wie aus den fünf Gebiß- zeichnungen der obersten Reihe auf Tafel II leicht ersichtlich, besteht eine auffallende Übereinstimmung in dem Kronenrelief der Milch- molaren und ihrer Ersatzzähne. Nur der dritte Milchmolar ist durch- schnittlich etwas höckerreicher als sein Ersatzzahn. Das Unterkiefergebiß der Primaten. 1(3 1 Es ist schon früher öfters betont worden, daß es nicht möglich ist, die Gebisse der katarrhinen Affen von solchen Formen abzuleiten, wie sie bei den heutigen amerikanischen Affen auftreten. Diese Be- hauptung war auf eine Vergleichung der Kronenstruktur bei beiden Primatengruppen gegründet. Auch die Formrelationen zwischen den Zähnen der ersten und zweiten Dentition bei beiden Gruppen weisen in gleicher Richtung hin. Im allgemeinen tragen die bezüglichen Zähne des Milchgebisses bei den Platyrrhinen einen mehr einfachen Hau. und es hat sich zwischen den Tuberkeln ein ähnliches Leistensystem ent- wickelt als auf die Ersatzzähne. Dieses Leistensystem trägl einen ähnlichen Charakter als jenes auf die Molaren der neuweltlichen Affen. Und gerade auf Grund des Vohandenseins dieses Systemes gründete ich meine oben memorierte Aussage. Wie gesagt, geht der Mensch bezüglich der oben erwähnten Eigentümlichkeiten des Gebisses der höheren Primaten: starke Diffe- renzierung der Milchmolaren und Gleichförmigkeit der Prämolaren, an der Spitze aller Primaten. Bei keinem anderen sind die beiden Prä- molaren (wir beschränken uns weiter auf die katarrhinen Primaten) als Bicuspidaten einander so ähnlich. Zwar trifft man auch bei den Anthroponiorphen bisweilen auf dem ersten Prämolar die Andeutung eines inneren Höckers an, aber im ganzen erscheint der Zahn auch bei dieser Gruppe als mit einer kräftig entwickelten kegelförmigen Krone ausgestattet. Es manifestiert sich jedoch die Sonderstellung des Menschen in keinem Punkt so stark als in der hohen morphologischen Ausbildung seines ersten Milchmolaren. Obgleich individuelle Verschiedenheiten in deren Ausbildungsgrad nicht selten sind, ist jedoch gewöhnlich dieser Zahn fünfhöckerig und stimmt die Kronenformel mithin mit jener der bleibenden Molaren überein. Wenn eine Vereinfachung besteht, dann tritt dieselbe nur an der vorderen Hälfte auf, wo die beiden Tuberkel zu einem einzigen zusammentreten können. Der hohe Grad von morphologischer Entwicklung, wozu es der erste Milchmolar beim Menschen gebracht hat, hat den Unterschied, der zwischen dem homoigen Zahn und dem zweiten Milchmolar bei den Anthropoiden besteht, verwischt. Bei dieser Primatengruppe ist mü- der letztgenannte Zahn fünfhöckerig und es ähnelt der erste Milch- molar durch seine keglförmige Krone mehr seinem Nachfolger. Es hat nun, wie ich meine, der hervorgehobene Unterschied zwischen dem ersten menschlichen Milchmolar und dem überein- stimmenden Zahn der Anthropoiden einige Bedeutung, wenn man auf die Ursache achtet, welche vermutlich diesen Unterschied bewirkt hat. Die Kronenstruktur eines Zahnes ist die Folge der an den Zahn gestellten Ansprüche. Und von diesem Gesichtspunkte aus darf man sagen, daß es beim ersten Milchzahn des Menschen die essentielle Molaren- funktion, d. i. der Kauakt, war. der die latenten morphogenetischen Potenzen bei diesem Zahn aktivierte und in sukzessiver Aufeinander- folgerung die bekannten Höcker des Proto- und Deuteromer zur Ent- faltung brachte. In stetig progressiver Entwicklung nahm der ursprüng- lich gewiß einhöckerige Zahn allmählich die vollständige Gestalt eines Mahlzahnes an. Warum ist das nur beim Menschen und nicht ebenso bei den Anthropomorphen geschehen? Jedes Gebiß wird so viel Kau- Bolk, Die Morphogenie der Primatenzäline. , 11 1(32 Viertes Hanptstück. fläche zur Entwicklung bringen, als für die richtige Verkleinerung des Futters notwendig ist. Und wenn somit beim Menschen eine relativ größere Kaufläche im Milchgebiß zur Entwicklung gelangte als bei den Anthropomorphen, dann darf daraus der Schluß gezogen werden, daß beim Geschlecht Homo das Individuum höhere Ansprüche an seinen Milchmolaren stellt als bei den Anthropoiden. Das darf eine rein physiologische Ursache haben, z. B. eine mehr vollkommene Verkleinerung der Nahrung und vollständigere Durchtränkung mit Speichel, aber es kann auch noch eine ganz andere Ursache daran zu- grunde liegen, nämlich der ziemlich lange Zeitraum, während welcher die Milchmolaren beim Menschen als einzige Mahlzähne vorhanden sind. Wenn bei den Anthropoiden der erste bleibende Molar kurz nach dem zweiten Milchmolar durchbricht, besteht bald eine hinlängliche Mahl- fläche im Munde und es fällt die Ursache hinweg, welche den ersten Milchmolar zu einer mehr vollkommenen Ausbildung reizte. Denn dann üben der zweite Milch molar und der erste bleibende Molar die Funktion aus, welche beim Menschen während längerer Zeit den beiden Müchmolaren zuerkannt war. Es ist nun über die Frist, die zwischen dem Durchbruch des zweiten Milchmolaren und des ersten Dauermolaren bei den Anthropomorphen verläuft, leider nichts genaues bekannt. Auch Selenka schweigt in seinen bekannten Arbeiten über diesen Punkt. Nur auf S. 86 seiner Studien über Entwicklung und Schädelbau der Menschenaffen hebt der Autor hervor, daß bei Orang Utan — und gleiches soll von den übrigen Anthropomorphen gelten - - der zweite Dauermolar zeitiger, der vordere Prämolar später erscheint als beim Menschen. Die Kau- flächen vergrößern sich also, sagt der Autor, rascher. Diese Tatsache nun läßt vermuten, daß relativ auch der erste Molar früher erscheint und verhältnismäßig schneller an dem Kauakt sich beteiligt als beim Menschen. Das mir vorliegende Material von Anthropomorphen- schädeln, gestattet nicht diese Frage auf Grund statistischer Unter- suchungen zu entscheiden, und auch Radiogramme von Unterkiefern jüngerer Menschenaffen, wovon ich in Tafel III, Fig. 11 (Orang), 12 (Schimpanse) und 13 (Hylobates) einige reproduziere, haben mir der Entscheidung nicht näher gebracht. Aber von einem der ge- schwänzten altweltlichen Affen habe ich früher den Beweis erbracht, daß der erste Dauermolar fast unmittelbar nach dem zweiten Milch- molar durchbricht. Man findet den für Macacus cynomolgus er- brachten Beweis dafür in meiner Untersuchung über den Verschluß der Schädelnähte bei den Primaten1). Es ist sehr erwünscht, daß in dieser Richtung ausgiebige Untersuchungen angestellt werden. Die Verzögerung des Durchbruches des ersten Molaren beim Menschen ist, wie ich glaube, als die Ursache anzusehen, weshalb sein erster Milchmolar sich kompensatorisch vollständiger entwickelte. Die Ur- sache, warum der erste Dauermolar erst mehrere Jahre nach dem zweiten Milchmolaren beim Menschen durchbricht, ist vielleicht nur eine Teil- erscheinung der generellen Verzögerung der körperlichen Entwicklung des Menschen im Vergleich zu den Anthropomorphen. Daß man schließ- lich die Struktur des ersten Milchmolaren beim Menschen nicht als die primitive annehmen darf und jene der Anthropomorphen als die 1) Zeitschr. f. Morph, u. Anthrop., Bd. XV, S. 58. Das Unterkiefergebiß der Primaten. Iß3 vereinfachte, leuchtet schon aus der Überlegung ein, daß jene Struktur uns den ersten Milchmolaren kennen lernt als einen wirklich an dem Kauakt sich beteiligenden Zahn, es ist eine wesentliche Kaufläche zur Entwicklung gekommen. Und das kann nur sekundär erfolgt sein unter dem Einfluß spezifischer Momente, welche die erbliche Form- eigenschaften des Zahnes zur völligen Entfaltung brachten. Hiermit möchte ich meine Übersicht über das Unterkiefergebiß der Primaten abschließen, um zu jener des Oberkiefers überzugehen. Die allgemeinen Betrachtungen, welche sich hier und da in diesem Hauptstück finden, sind selbstverständlich auch geltend für das Gebiß des Oberkiefers. Ich brauche dieselben daher nicht zu wieder holen. 11" Fünftes Hauptstück. Das Oberkiefergebiß der Primaten. Wir fangen gleich mit der Besprechung der morphologischen Er- scheinungen an der oberen Zahnreihe der Urprimaten an. Es scheint mir am zweckmäßigsten, dabei Ausgang zu nehmen von einer Form, deren Oberkiefergebiß zu den bestbekanntesten gehört, nämlich Hyop- sodus. Die Besonderheiten, welche die oberen Zähne der eocänen Primaten in Verbindung mit dem Inhalt der Dimertheorie darbieten, werden dann von selbst zur Sprache gebracht werden können. Für die Aufstellung der nachfolgenden Kronenformel dieses Genus habe ich die ausgezeichneten Abbildungen benutzt, welche sich in dem Artikel von Ösborn: American eocene Primates and the supposed rodent family Mixodectidae1) finden. Das Gebiß der Hyop- sodidae besitzt bekanntlich vier Prämolaren und die Kronenformel gestaltet sich folgendermaßen: Pr P2 P. '• Mx M2 M3 P I P 2 1 P 2 / P 2 1 Pa Pp 3 D 4{ I Pa Pp 3 D 4i Pa Pp D4 3 D i Die obenstehende Kronenformel kehrt mit unwesentlichen Unter- schieden auch bei den Geschlechtern Pelycodus und Notharctos wieder, wie aus den von Osborn gegebenen Figuren ersichtlich. Nur die beiden protomeren Nebenspitzen i und 2 wechseln in ihrem Entwicklungs- grad bei den verschiedenen Geschlechtern, gleichwie der dritte Molar. Das beeinflußt jedoch den Charakter der Formel nicht. Es sagt uns die oben gegebene Kronenformel, daß Hyopsodus im Oberkiefer ein Gebiß besitzt, dessen Prämolaren in distaler Richtung immer komplizierter werden. Und die Komplizierung ist derart, daß man fast die ganze Entwicklungsgeschichte der Ober- kieferzähne an diesem einzigen Geschlecht abzulesen imstande ist, denn jeder weiter nach hinten liegende Zahn stellt eine höhere Aus- bildungsstufe des Zahnes dar. Der erste Prämolar besteht nur aus einem einfachen seitlich komprimierten Kegel, der dem Haupthöcker des Protomer entspricht. Beim zweiten Prämolar ist an der Basis die vordere und hintere Kante dieses Kegels mit einer niedrigen Neben- spitze ausgestattet, es sind die beiden protomeren Nebenhöckerchen. 1) Bulletin of the American Museum of Natural History 1902, Vol. XVI. Das Oberkiefergebiß der Primaten. 165 Der dritte Prämolar ist in transversaler Richtung verbreitert, und es hat sich an der lingualen Seite deutlich eine neue Spitze ausgebildet, die nur den Haupthöcker des Deuteromer darstellen kann. Und beim vierten Prämolar ist eine deuteromere Nebenspitze hinzugekommen, und zwar die hintere. Es ist im allgemeinen Teil ausdrücklich darauf hingewiesen worden, daß diese Reihenfolge im Erscheinen der Spitzen bei der morphologischen Entwicklung des deuteromeren Zahnteiles Regel bildet, zuerst tritt der Haupthöcker auf, sodann die hintere Nebenspitze und schließlich die vordere Nebenspitze. Letztere ist nun bei den Prämolaren von Hyopsodus nicht zur Ausbildung gelangt, und in dieser Hinsicht werden wir bei den rezenten Halbaffen Formen kennen lernen, bei den die Prämolaren eine mehr vollkommene Aus- bildungsstufe erreicht haben. Abgesehen somit vom Fehlen der vorderen deuteromeren Neben- spitze bietet uns die Prämolaren reihe von Hyopsodus ein vollständiges Bild von der sukzessiven Entstehung des Kronenreliefs der Überkiefer- zähne. Die oben für Hyopsodus geschilderte, sehr systematische Ver- vollkommnung der Prämolarenkrone scheint bei den eoeänen Primaten ziemlich selten zu sein. Gewöhnlich sind die Unterschiede zwischen zwei aufeinanderfolgenden Zähnen etwas größer, was zum Teil auf die Verringerung der Prämolarenzahl zurückzuführen ist, zum Teil auch darauf, daß der letzte Prämolar eine noch höhere Ausbildung erlangen kann als bei Hyopsodus, wenn nämlich im protomeren Teil der Haupt- höcker sich verdoppelt und der Zahn deshalb mobilisiert erscheint. Letzteres ist z. B. nach den Angaben von Schlosser bei Adapis der Fall. Von diesem Genus sagt der genannte Autor: „J)er Pr1 (das ist der hinterste Prämolar in der früheren Bezeichnungsweise von Schlosser) besitzt außerdem noch einen zweiten Außenhöcker"1). Diese Molari- sierung des hintersten Prämolaren — die auch, wie wir sehen werden, bei einem rezenten Halbaffen vorkommt — findet man auch bei ameri- kanischen eoeänen Primaten, und zwar bei einer Form, die Osborn, 1. c. S. 19 in Figur 20C abbildet, und als zum Geschlecht Notharctos zugehörig bezeichnet. Ich habe früher schon Gelegenheit gehabt auf das nicht richtige dieser Bestimmung hinzuweisen. Ein Tier, dessen hinterster Prämolar zwei Außenhöcker in gleichgroßer Entwicklung zeigt, darf nicht in einem Geschlecht untergebracht werden, in dem der genannte Zahn nur einen einzigen Außenhöcker besitzt. Abgesehen jedoch von dieser unrichtigen Bestimmung verdient die Tatsache er- wähnt zu werden, daß auch bei neuweltlichen eoeänen Primaten eine Molariesierung des hintersten Prämolaren zu beobachten ist. Denn hieraus geht hervor, wie wenig dieses Merkmal sich eignet als Argu- ment für eine behauptete genealogische Beziehung zwischen älteren und jüngeren Formen. Wenn man nun weiter die Kronenstruktur der oberen Molaren bei den eoeänen Primaten betrachtet, dann zeigt dieselbe eine Eigen- tümlichkeit, wodurch dieselbe sich sofort von jenen der rezenten Pri- maten unterscheidet, und welche mehr als eine andere Erscheinung eine Kluft zwischen beiden Gruppen bilden würde, wenn nicht gelegent- lich die bezügliche Eigenartigkeit auch bei heutigen Primaten, sei es 1) Affen, Lemuren, Chiropteren usw. des europäischen Tertiärs, S. 24. 166 Fünftes Hauptstück. ausnahmsweise, zur Entwicklung gekommen wäre. Wenn man die Beschreibung der oberen Miliaren von eocänen Primaten in der Literatur verfolgt, dann wird der bezüglichen Strukturerscheinung immer Er- wähnung getan. So sagt z. B. Schlosser, 1. c. S. 21 vom Gebiß von Hyopsodus: Im Oberkiefer tragen die Molaren außer den beiden Außenhöckern (Pa und Pp. mihi) und dem ursprunglichen Innen- höcker (D. mihi) noch einen zweiten Innentuberkel, der bereits eine ziemliehe Stärke erreicht hat (4 mihi) und außerdem noch zwei Zwischen- tuberkel, im Zentrum und am Vorderrande des Zahnes gelegen1). Es er- scheinen dann auch die Molaren sechshöckerig und bei einer starken Ausbildung der Höcker hegen diese sechs Höcker zu drei Paaren regel- mäßig nebeneinander. „The upper molars", sagt Osborn (1. c. S. 181) „progress from a triangulär, tritubercular condition, to a quadrate sexitubercular condition." Durch die Entwicklung dieser Zwischen- tuberkel erhalten die Zähne der eocänen Primaten eine gewisse Über- einstimmung mit Ungulaten-Molaren, und es ist somit von Bedeutung, daß wir die genetischen Werte derselben feststellen, denn hierin liegt, glaube ich, der Schlüssel für die Homologisierung der Höcker der mehr zusammengesetzten Ungulaten-Molaren. Eine wirkliche Hilfe leistet dabei der Umstand, daß bisweilen auch bei rezenten Primaten die homologen Bildungen noch auftreten. Der vordere und hintere Zwischenhöcker trägt im Cope-Osborn- schen System den Namen Protoconule resp. Metaconule, und Osborn erwähnt ausdrücklich, daß sie schon an den Molaren der jurassischen Säugetiere gelegentlich beobachtet wurden2). Über die systematische Stellung des vorderen Zwischenhöckers ist nur eine Deutung möglich, es kann nämlich nur die vordere Neben- spitze des Deuteromer, also die j-Spitze in meiner Nomenklatur dar- stellen. Diese Aussage gründet sich auf die Lagerung dieser Spitze an den Prämolaren der Halbaffen, welche vollständig übereinstimmt mit dem sogenannten vorderen Zwischenhöcker der Urprimaten. Ich bringe dazu in Erinnerung, daß im Hauptstück über die Ent- wicklung der oberen Zähne mehrfach ausdrücklich hervorgehoben ist, daß die vordere deuteromere Nebenspitze, wenn sie bei den rezenten Halbaffen in Erscheinung tritt, nicht nur vor, sondern auch immer etwas bukkal vom deuteromeren Haupthöcker gelagert ist. Man vergleiche dazu z. B. die Textfig. 23 und 24, sowie die Tafelfiguren 5, 6 und 7. Im allgemeinen ist bei den Prämolaren der Halbaffen diese Spitze mehr am Vorderrande des Zahnes gelagert und nimmt auch an den Molaren, wenn auch nur annähernd, die gleiche Lagerung ein. Bei den eocänen Formen dagegen ist die Spitze etwas mehr nach dem Zentrum des Zahnes gerückt, liegt mehr in der Verbindungslinie zwischen den Höckern D und Pa und ist bei den Molaren zu einem ziemlich konstanten Element des Zahnreliefs geworden. Über die Deutung dieser Spitze braucht, wie ich glaube, kein Zweifel zu bestehen. Und sie ist dann auch in der oben gegebenen Kronenformel von Hyopsodus nach der oben gegebenen Deutung bezeichnet worden. Ganz anderer Natur dagegen ist, wie ich meine, der hintere Zwischenhöcker, der in seiner Entwicklung so ganz dem vorderen 1) Ich cursiviere. 2) Evolution of mammalian Molar Teeth, p. 82, Fußnote. Das Oberkieferggbiß der Primaten. 167 ähneln kann und mit diesem in so symmetrischer Beziehung an der Zusammensetzung der Kronenstruktur beteiligt sein kann, daß man eine übereinstimmende genetische Herkunft hier anzuerkennen geneigt sein könnte. Und dennoch ist dieses nicht der Fall. Der vordere Zwischenhöcker ist eine Primärbildung, ist eine Spitze, deren Anlage als solche in jedem Zahnkeim vorhanden ist. der hintere Zwischen- höcker dagegen ist, was ich als eine Pseudospitze bezeichnen möchte, hervorgegangen aus der Schmelzleiste, welche vom deuteromeren Haupthöcker (D) zum protomeren Höcker Pp zieht. Es sind früher einige kurze Bemerkungen eingeschaltet winden über das ursprüngliche Leistensystem der Oberkieferzähne, und ich hebe daraus noch einmal folgendes hervor: Das einfachste Leisten- system trifft man bisweilen bei solchen Prämolaren, an denen nur die Haupthöcker der beiden Odontomeren entwickelt sind. Dann zieht die Leiste („Protopecten" habe ich sie genannt) in transversaler Rich- tung vom Höcker P bis D. Wenn sich nun der Haupthöcker P zu dem Zwillingshöcker Pa, Pp differenziert hat, erscheint die einfache Leiste wie V-förmig gespalten, vom Höcker D ziehen in divergierender Richtung Schmelzkamme zu den Höckern Pp und Pa hin. Es ist nun der hintere Zwischenhöcker an den Molaren der eoeänen Primaten nichts anderes als eine lokale Verdickung im hinteren Bein dieses V-förmigen Leistensystems. Diese Spitze darf somit in genetischer Beziehung mit den übrigen nicht als gleichwertig betrachtet werden, denn sie entspricht nicht einer erblichen Anlagepotenz im Säugerzahnkeim1). Die oben gegebene Deutung des hinteren Zwischenhöckers gründet sich hauptsächlich auf Beobachtungen am Gebiß heutiger Primaten. Denn, wie schon erwähnt, tritt dann und wann an den Molaren bestimmter Halbaffen und Affen der hintere Zwischenhöcker noch auf an der Stelle der Schmelzleiste, die bei verwandten Spezies oder sogar bei anderen Individuen der nämlichen Art vom deuteromeren Haupthöcker D zum protomeren Höcker Pp zieht. Laut einer Angabe von Schlosser sollten beim Geschlecht Callithrix Zwischenhöcker an den oberen Molaren zu beobachten sein. Von diesem amerikanischen Affen ist mir das Gebiß aus eigener Wahrnehmung nicht bekannt, aber beim Geschlecht Ateles zeigt bisweilen die hintere Schmelzleiste der oberen Molaren in seiner Mitte eine deutliche Anschwellung, welche ich dann auch an der betreffenden Figur auf Tafel I zum Ausdruck gebracht habe. Einen sehr schönen Fall der Entwicklung eines hinteren Zwischen- höckers traf ich am Gebiß eines jungen Cebus hypoleucos, der sich noch im Zahnwechsel befand. Auf Tafel III, Fig. 14 gebe ich von diesem Gebiß eine photographische Aufnahme. Der Zwischenhöcker erscheint statt der Leiste, welche an dem Molaren anderer Cebusindividuen sich vorfindet, gleichsam als das etwas erhabene Mittelstück von letzterer. Es kommt nur an dem ersten Molaren vor und ist an der linken Seite kräftiger entwickelt als an der rechten. Häufiger ist dieser intermediäre Höcker am Gebiß von Mycetes aufzufinden. In Fig. 15, auf Tafel III ist ein Gebiß von Mycetes seniculus wieder- gegeben, an dem dieser Höcker beiderseitig sehr schön entwickelt war am ersten und zweiten Molaren. Unter den Halbaffen traf ich 1) In der Kronenformel von Hyopsodus ist dieser Zwischenhöcker mit / bezeichnet worden. 168 Fünftes Hauptstück. den hinteren Zwischenhöcker an beim ersten und zweiten Molaren eines Hemigalago Demidoffi (man vgl. die diesbezügliche Figur auf Tafel 1) und weiter an den beiden vordersten Molaren eines Hapalemtir. Doch in allen diesen Kälten handelt es sich offenbar entweder um eine individuelle Variation oder um eine stark regressive Bildung. Es sind aber diese Fälle für die richtige Interprätation des bei den eocänen Primaten so häufig auftretenden Höckers von der höchsten Bedeutung. Denn es ist nicht zu leugnen, daß durch die ziemlich regelmäßige Ent- wicklung desselben das Gebiß der letztgenannten Affen ein charakte- ristisches Gepräge erlangt. Denn der eocäne Molar besitzt dadurch einen mehr komplizierten Charakter als jener der jüngeren Formen. Diese Besonderheit ist jedoch nicht so befremdend, wenn man sich erinnert, daß gleiches auch für die unteren Molaren gilt. Auch von diesen konnte nachgewiesen werden, daß Vereinfachung der Struktur gerade das Hauptmerkmal der späteren Entwicklung war. Und daß die homologen Vorgänge im Ober- und Unterkiefer miteinander in korrelativer Beziehungstehen, ist wohl nicht zu bezweifeln. In seinen mehrfach zitierten Arbeiten über die Affen usw. des europäischen Tertiärs erwähnt auch Schlosser an mehreren Stellen die Zwischenhöcker der bekanntlich von ihm so genannten Pseudo- lemuriden, und 1. c. S. 50 spricht der Autor die Vermutung aus, daß bei den Affen ,, diese Zwischenhöcker von den Innenhöckern absorbiert worden sind, doch ist bis jetzt noch keine Form bekannt, an welcher dieser Prozeß direkt zu sehen wäre". Aus dem Oben- stehenden geht hervor, daß diese Vermutung von Schlosser nicht richtig ist, der vordere Zwischenhöcker ist die vordere deuteromere Nebenspitze und tritt, wie wir bald näher zeigen werden, auch an den Molaren gewisser Halbaffen noch auf, ja kann sogar als individuelle Variation auch am ersten Molar des Menschen noch zur Entwicklung gelangen. Der hintere Zwischenhöcker ist nicht vom hinteren lingualen Höcker absorbiert worden, sondern hat sich bei den rezenten Primaten abgeflacht und liegt potentia in der Crista obliqua — die von D bis Pp ziehende Kamme — versteckt. Der Verlust der beiden intermediär gestellten Höcker der eocänen Primaten hat sich — wenn wir von dem gelegentlichen Auftreten bei rezenten Formen absehen - - offenbar bei allen Nachfolgern dieser Stammformen vollzogen. Wir vermissen dieselben fast ausnahmslos bei den rezenten Primaten, sogar bei jenem Geschlecht, dessen Ver- wandtschaft zu einem der eocänen Geschlechter noch am meisten ge- sichert ist. Ich meine Tarsius. Es wird wohl allgemein eine nähere Beziehung zwischen diesem Geschlecht und dem eocänen Anaptomorphus angenommen, nachdem Cope zuerst für diese Verwandtschaft einge- treten ist. Und zweifellos weist der Habitus des Gebisses als Ganzes und die große Übereinstimmung zwischen den einzelnen Zähnen bestimmt in dieser Richtung hin. Nun ist es merkwürdig, daß, wenn man das Gebiß beider Formen vergleicht, nur ein einziges wesentliches Unter- scheidungsmerkmal besteht; Anaptomorphus besitzt nämlich noch am ersten und zweiten Molaren die Zwischenhöcker und bei Tarsius ist keine Spur davon mehr anzutreffen. Sie sind vollständig geschwunden. Ich stelle zum Beweise davon in Fig. 60 die Abbildungen beider Gebisse nebeneinander. Jene von Anaptomorphus entlehne ich der Osbor ti- schen Abhandlung: American eocene Primates, wo das Gebiß jenes Das Oberkiefergebiß der Primaten. 169 berühmten Tierchens in Fig. 25 vollständig in vergrößertem Maßstabe abgebildet ist. Mit dieser Nebeneinanderstellnng beider Gebisse bezwecke ich gar nicht Einspruch gegen die behauptete Verwandtschaft beider Formen zu erheben, vielmehr möchte ich, unter Hinweis auf diese Verwandtschaft, ins Licht treten lassen, welcher geringe Wert den beiden „Zwischenhöckern" für genealogische Be- stimmungen zukommt, eben weil der vordere nur die Dignität einer primitiven Nebenzacke hat und der hintere nicht einmal ein wahrer Höcker ist, sondern als Bild imgsprodukt einer Schmelzleiste einen Pseudo- höcker darstellt. Daß diese „Zwischenhöcker'1 bei anderen Säugergruppen einer progressiven Entwick- lung unterliegen, ist mit ihrer genetischen Bedeutung nicht unvereinbar, sehen wir doch z. B., daß bei den Primaten ebenfalls eine ursprüngliche Neben- spitze — die hintere deuteromere - als hinterer lingualer Höcker den ursprünglichen Haupthöckern schließlich an Umfang gleichkommt. Hiermit breche ich die Besprechung der eoeänen Primaten ab und wende mich zu den rezenten Halbaffen. Die untenstehende Tabelle bringt die Kronenformel der näm- lichen Prosimiae, von denen früher die Formeln der Unterkieferzähne Kronenformel der oberen Zähne bei Halbaffen. Fig. 60. .a Anapto- morphus bonunculus, b Tarsius spectrum. /, *\ P* Afx M, Mz Stenops graeihs Nycticebus tardigradus . . Cheirogaleus Smithii . . . Galago senegalensis . . . Hemigalago Demidoffi . . Avahis laniger Propithecus diadema . . Indris brevic : Lemur catta I P 2 I P 2 I P2 I P 2 I P 2 I P 2 I P 2 I P 2 I P 2 1 Pa Pp 2 Pa Pp D 1 Pa Pp 3 Pa Pp D I P 2 D I P 2 D 1 Pa Pp 2 D 1 Pa Pp D4 I P2 3D 4 I P 2 3V4 1 PaPp 2 3D4 1 Pa Pp D4 1 Pa Pp D I P 2 I P 2 D I P 2 D4 I P 2 D4 PaPp D4 1 Pa Pp 2 D4 Pa Pp D4 1 Pa Pp 2 D PaPp D i Pa Pp 2 D 1 Pa Pp 3^4 1 Pa Pp 2 3D4 1 Pa Pp 2 3D4 1 Pa Pp2 T>4 1 Pa Pp D I P 2 I P 2 I P 2 I P 2 3D4 1 P 2 1 P 2 3D4 I Pa Pp 2 3D4 1 Pa Pp2 3D4 PaPp 3D4 1 Pa Pp 2 3D4 1 Pa Pp2 D Pa Pp D 1 P 2 3D4 1 PaPp D4 1 Pa Pp D Pa Pp D 1 P 2 3^4 1 Pa Pp D4 1 Pa Pp D4 Pa Pp D D D D D 170 Fünftes Hauptstück. gegeben sind. Der erste Prämolar erweist sich bei allen als eine rein protomere Bildung, denn bei keinem der untersuchten Schädel fand ich ;m diesem Zahne die geringste Spur eines lingualen Höckerchens- Ich mache an dieser Stelle noch einmal auf den Unterschied aufmerksam zwischen der Formel des ersten Prämolaren am Ober- und Unterkiefer. Auch am Unterkiefer besitzt der Zahn nur eine einfache komprimierte kegelförmige Kronenspitze. Aber diese muß ein Bildungsprodukt beider Odontomeren sein, denn bei Komplizierung spaltet sich diese Spitze in eine bukkale und linguale Hälfte, welche sich dann weiter zu dem P-Höcker resp. D-Höcker ausbilden. Im Oberkiefergebiß dagegen tritt der D-Höcker, wenn er erscheint, sofort als ein zwar unansehn- liches, aber dennoch selbständiges Höckerchen auf, ganz unabhängig vom bestehenden Höcker, der also nur der Haupthöcker des Protomer vergegenwärtigen kann. Daher der Unterschied in den Kronenformeln beider ersten Prämolaren. Fast immer sind auch, sei es in sehr wechselnder Entwicklung, die beiden protomeren Nebenspitzchen an- wesend. Es bietet daher der bezügliche Zahn keine wesentliche Diffe- renzen bei den Halbaffen. Nur die Relation zwischen Länge und Höhe der kegelförmigen Spitze wechselt. Man bekommt den Eindruck, daß es sich hier um einen Zahn handelt, der noch allgemein die ursprüng- liche Form, welche er schon bei den eoeänen Primaten besitzt, be- wahrt hat. Gleiches gilt noch bei der Mehrzahl der Halbaffen für den zweiten Prämolaren, obgleich hier schon Differenzen zwischen den verschiedenen Gruppen zu konstatieren sind. Die vornehmste davon wird bedingt durch die Verminderung der Prämolaren bei den Indrisinae. Der P3 hat infolgedessen die einfache Struktur des P2 bei den übrigen Halb- affen angenommen. Indem man somit bei den meisten Prosimiae eine höhere morphologische Ausbildung von P3 konstatiert, durch das Auftreten des deuteromeren Haupthöckers verursacht, besitzt der übereinstimmende Zahn bei den Indrisinae eine Kronenstruktur wie der P2 bei den übrigen Halbaffen. Haben wir es hier mit einer Verein- fachung zu tun, einer Anpassung der Form an eine Funktion, welche nur infolge von Reduktion des einst vorhanden gewesenen lingualen Höckers zustande kommen konnte ? Wenn man ins Auge faßt, daß die übergroße Mehrzahl der Prosimiae einen P3 mit einem lingualen Höcker (D) besitzen und dazu in Betracht zieht, daß die Indrisinae gewiß nicht auf die niedrigste Entwicklungsstufe in der Reihe der Prosimiae stehen, dann möchte man wohl geneigt sein, den P3 dieser Gruppe für eine simplifizierte Form anzusehen. Und dann bietet dieser Fall einen neuen Beleg für die schon öfters gestellte Behauptung, daß bei Vereinfachung die Kronenstruktur zu einer phylogenetisch früher durchlaufenen Formstufe zurückkehrt. Eine einfache Struktur ist daher nicht notwendig der Ausdruck der Persistenz einer primitiven Entwicklungsstufe. Der P4 ist fast immer durch eine mehr vollständige Kronen- entwicklung gekennzeichnet als der vorangehende. Diese höhere Aus- bildung wird aber durch das Hinzukommen verschiedener Höcker erreicht. War an P3 der ^-Höcker schon angelegt, dann kommt bei P4 die vordere deuteromere Nebenspitze hinzu, war an P3 im Deute- romer noch kein Höcker entwickelt, dann erscheint an P4 der Haupt- höcker dieses Odontomer usw. Die höhere Entwicklung, welche P4 Das Oberkiefergebiß der Primaten. 171 dem P3 gegenüber zeigt, folgt somit der Reihenfolge in dem Auftreten der Höcker, welche wir im allgemeinen Teil kennen gelernt haben. Eine ganz besondere Stelle nimmt bezüglich der Differenzierung seiner Prämolarenreihe das Geschlecht Galago und Hemigalago ein. Denn wie aus der Kronenformel in der Taljelle ersichtlich, ist bei diesen Halbaffen der hintere Prämolar vollständig molarisiert. Sie zeigen die höchste Entwicklung, welche die Primatenzähne überhaupt erreichen können, wenn man das Auftreten eines Carabellischen Höckerchens außer acht läßt. Vom Deuteromer sind sowohl der Haupthöcker als auch die beiden Nebenspitzen anwesend, während im protomeren Teil des Zahnes der Haupthöcker in der Zwillingsform anwesend ist; der Zahn besitzt, wie es in der Literatur heißt, zwei bukkale Tuberkel. Diese Eigentümlichkeit im Galagogebiß ist schon durch Mivart be- schrieben worden1). ,,The third upper premolar, has two large and pretty equally developed external cusps as have also the molars" (1. c. S. 619). Eine Tatsache, die offenbar Huxley, der ebenfalls eine Beschreibung des Gebisses der Galaginae gibt2), entgangen zu sein scheint, wenigstens der Autor erwähnt dieselbe nicht. Auch von späteren Autoren ist diese Struktur des hinteren Prämolaren von Galago über- sehen worden, denn bekanntlich beruft z. B. Schlosser sich auf die Tatsache, daß bei den eocänen Primaten der hinterste Prämolar molari- siert sein kann, während es bei den rezenten Halbaffen niemals der Fall sein sollte, um seine Ansicht zu begründen, daß die eocänen Primaten nicht als die Stammformen der heutigen Halbaffen angesehen werden dürfen. Durch Leche ist unter Hinweis auf Galago das Unrichtige dieser Argumentierung schon betont worden. Ich schließe mich in dieser Hinsicht dem letztgenannten Autoren völlig an. Zwischen dem < »berkiefergebiß der eocänen Primaten und jenem der heutigen Halbaffen ist das hauptsächlichste Differenzmerkmal, das Auftreten des hinteren Zwischenhöckers, welches bei den erstgenannten Formen so überaus häufig ist. Aber, wie früher schon betont, auch bei den rezenten Prosimiae tritt diese eigentümliche Bildung bisweilen auf, so daß eigentlich zwischen den Gebissen beider Gruppen nur graduelle Verschiedenheit in der Entwicklung der Spitzen zu verzeichnen ist, und kein einziges prinzipielles Differenzmerkmal zwischen ihnen aus- findig zu machen ist. Gegen eine Ableitung der heutigen Lemuren von den bekannten eocänen Primaten kann man somit am Gebiß kein Argument entnehmen. Die Molaren der Halbaffen lassen sich im allgemeinen ihrer Ge- stalt nach in zwei Gruppen einteilen, es gibt eine trianguläre Form und eine mehr viereckige. Erstgenannte Form ist ziemlich selten, findet sich in ausgesprochener Weise nur bei Tarsius und beim Geschlecht Lemur. Das Zustandekommen dieser Form ist an der geringen Entfaltung des deuteromeren Abschnittes des Zahnes ge- knüpft, der nur durch den Haupthöcker vertreten ist. Ob man es hier mit primitiven Formen zu tun hat, scheint mir nicht so leicht zu ent- scheiden zu sein. Ich meine, es empfiehlt sich, die Geschlechter, bei denen diese einfache Molarenstruktur anwesend ist, zu trennen und 1) St. George Mivart, Note on the Crania and Dentition of the Lemuridae. Proc. Zool. Soc. London 1864. 2) T. H. Huxley, On the Arctoeebus calabarensis. Proc. Zool. Soc, p. 314. London 1864. 172 Fünftes Hauptstück. Tarsius auf diese Frage gesondert vom Geschlecht Lomir zu unter- suchen. Es scheint mir auf Grund der großen Übereinstimmung, vermutlich wohl der Verwandtschaft, zwischen Tarsius und Anapto- morphus, dn ebenfalls im Besitze dreieckiger Molaren war, nicht un- annchmlich. daß der Zustand bei Tarsius ein primitiver ist. Aber, wie ich früher schon ausführlich auseinandergesetzt habe, es fehlt ein zuverlässiges Mitlei. um zu entscheiden, ob ein Zahn, an dem nur die Pa Pi> drei Haupthöcker entwickelt sind, also mit der Kronenformel — j~- einen sehr ursprünglichen Zustand beibehalten hat oder auf dem Wege der Vereinfachung sich findet und daher eine alte Gestalt aufs Neue angenommen hat. Das gilt besonders für die Molaren vom Geschlecht Lemur, von denen ich am meisten geneigt bin, letzteres anzunehmen. Wir haben hier zu tun mit Formen mit stark verlängerter Schnauze, auch der Unterkiefer ist infolgedessen sehr lang geworden, zwischen den Prämolaren haben sich daher Diastemata entwickelt und die unteren Molaren sind ziemlich in die Länge gezogen und schmal geworden. Die Verlängerung d#r Schnauze, welche auch, nach den Untersuchungen von Forsyth Mayor, die Verschiebung des Canalis laerymalis aus der Orbita auf den fazialen Teil des Schädels zur Folge hat, macht ihren Einfluß also auch auf die Unterkieferzähne geltend. Und wenn man die Okklusions weise der beiden Gebißreihen näher untersucht, dann scheint es, als hätten sich die oberen Molaren, durch Verlust des hinteren lingualen Höckers und starker Ausbildung des Cingulum inklusive Cara- bellisches Höckerchen, der Verlängerung der unteren Molaren angepaßt. Es scheint mir also, was das Gebiß von Lemur betrifft, am annehm- lichsten, die dreieckige Form als eine Reduktionserscheinung zu deuten, wie es z. B. zweifelsohne der Fall ist beim zweiten oberen Molar des Menschen, der bekanntlich nicht selten zum Dreihöckertypus redu- ziert ist. Die Molaren der übrigen Halbaffen sind mehr oder weniger vier- eckig, da die hintere Nebenspitze vom Dcuteromer anwesend ist und bei gewissen Geschlechtern (Indrisinae) dem Haupthöcker D sogar schon an Umfang gleichkommen kann. Der dritte Molar zeigt nicht selten eine deutliche Reduktion. Fast immer ist er kleiner als die vorangehenden, verrät dazu durch iU'n Verlust von Höckern seine geringere Beteiligung an der Gebiß- aktion. Und es braucht kaum noch einmal besonders betont zu werden, daß es die hintere deuteromere Nebenspitze ist, welche an diesem Molar verloren geht. Immer wieder tritt von neuem die morphogene- tische Ungleichwertigkeit dieser Nebenspitze mit den Haupthöckern zutage. Die Reduktion des dritten Molaren kann sogar noch weiter gehen, so daß nur die beiden primitiven Haupthöcker übrig bleiben. Einen solchen Fall habe ich nicht beobachtet, aber Huxley (1. c, S. 324) schreibt von Perodicticus potto: the third upper molar has a transversaly elliptical crown which has only two cusps, the posterior external and the posterior internal having disappeared". Die beiden protomeren Nebenspitzen sind in ihrer Entwicklung sehr variabel und die Entscheidung, ob sie da sind, wird oftmals von persönlicher Auffassung abhängig sein. Es ist wohl merkwürdig, daß die beiden protomeren Nebenspitzen in der ganzen Entwicklungs- geschichte des Zahnes eine so untergeordnete Rolle spielen. Zur Charak- Das Oberkiefergebiß der Primaten. 173 teristik, wenigstens der Molaren, tragen sie niemals bei. und das darf wohl als der Grund angesehen werden, daß ihnen bis jetzt in den Ent- wicklungstheorien der Zahnform keine Beachtung zuteil geworden ist. Es scheint als hätte das Protomer mit der Ausbildung der Zwillings- höcker Pa Pp bei den Primaten das höchst Erreichbare geleistet. Bei anderen Säugern, z. B. Carnivoren, spielen die protomeren Neben- spitzen eine ungleich wichtigere Rolle im Zustandekommen der Zahn- form. Größere Verschiedenheit bieten dagegen die beiden deutero- meren Nebenspitzen. Von dem Betragen des hinteren - - dem 4- Höcker — sind wir bei den Prosimiae schon unterrichtet. Der vordere -- der 3-Höcker — ist in seinem Entwicklungsgrad ziemlich schwankend, bald fehlt er, wie bei Lemur, Tarsius, Nycticebus, Cheirogaleus, bald ist er sogar kräftig entwickelt und verleiht dann dem Molar ein charakteristisches Gepräge. So z. B. an dem ersten Molar der Indrisinae, besonders von Indris (bei Avahis ist er auch noch am zweiten Molar da), an dem er sich in der Mitte des Vorderrandes erhebt. Unmittelbar fällt dann die Ähnlichkeit auf dieses Tuberkel mit dem sogenannten vorderen Zwischenhöcker der eocänen Primaten, die, wie an geeigneter Stelle erwähnt, in der Tat als die vordere deutero- mere Nebenspitze betrachtet werden muß, Von dem hinteren Zwischenhöcker an den Molaren der eocänen Primaten habe ich bei der Besprechung dieser Gruppe meine Ansicht schon ausgesprochen. Ich glaube, es ist ein Pseudotuberkel, ein Bil- dungsprodukt, gleichsam eine Konzentrierung der hinteren schrägen Schmelzkamme, welche vom Höcker D zum Höcker Pp zieht. An dieser Stelle möchte ich noch kurz darauf zurückkommen, da, wie schon mehrfach erwähnt, diese Bildung auch bei Halbaffen auftritt. Bei Hemigalago zeigt die bezügliche Leiste in der Mitte eine geringe Anschwellung. Diese Molaren sind jedoch so klein, daß sie kaum als ein einspruchfreies Material zu verwerten sind. Glücklicherweise besitzen wir jedoch in Hapalemur eine Form, die das Auftreten des hinteren Zwischenhöckers der eocänen Primaten, auch bei re- zenten Halbaffen, unumstößlich nachweist. Es sind von Hapa- lemur zwei Spezies bekannt: Hapalemur griseus und Hapalemur simus. Von Beddard sind die Schädel beider Arten einer eingehenden Vergleichung unterzogen worden1). Es wurde dabei auch besonders auf das Gebiß geachtet, und in vergrößertem Maßstabe bildet der Autor einen Molar von Hapalemur simus ab, an dem der hintere Zwischen- höcker in kräftiger Ausbildung zu sehen ist. Merkwürdig ist, daß dieser Zwischenhöcker nach der Beschreibung und Abbildung von Beddard nur bei Hapalemur simus vorkommen sollte, bei Hapalemur griseus aber fehlt. Mir liegt ein junger Schädel vor, der, laut der Angabe, von einem Hapalemur griseus herstammen soll2). Die Milchmolaren sind noch nicht gewechselt, der erste permanente Molar ist schon völlig entwickelt, hat sich aber offenbar an dem Kauakt noch wenig beteiligt. Über- einstimmend mit der Abbildung von Beddard findet sich nun zwischen dem Z)-Höcker und dem P/>-Höcker ein intermediäres Tuberkel, das 1) F. E. Beddard, Notes on the Broad-nosed Lemur (Hapalemur simus). Proc. Zool. Soc, p. 121. London 1901. 2) Es sind an diesem Schädel nicht zwei, sondern zu jeder Seite drei Incisivi anwesend. Es macht den Eindruck, als sei ein permanenter Incisivus zwischen den beiden Milchincisivi durchgebrochen. 174 Fünftes Hauptstück. die Crista obliqua vertritt. Ich möchte es dahingestellt sein lassen, ob es sich hier um eine individuelle Variation innerhalb der Spezies Hapa- lemur griseus handelt, oder ob der Schädel nicht von einem Hapa- lemur griseus, sondern von einem Hapalemur simus stammt. Der Schädel ist noch zu jung, um mit Hilfe der Beddardschen Beschreibung eine Entscheidung zu treffen. Im Vorübergehen sei darauf aufmerksam gemacht, daß Beddard eine nicht richtige Interprätation des Zwischen- höckers gibt, den er als das hintere linguale Tuberkel bezeichnet. Es kommt jetzt die Besprechung des Oberkiefergebisses der platyr- rhinen Affen an die Keihe. Für die Bemerkungen mehr allgemeiner Art, wozu diese Gebisse Anlaß geben, verweise ich auf die Besprechung des Unterkiefergebisses. In der untenstehenden Tabelle trifft man wieder, wie in jener der unteren Zahnreihe, die Angaben an sowohl für das permanente Gebiß als für die lakteale Dentition. Die Formeln des ersteren sind mit großen, jene des letzteren mit kleinen Buchstaben geschrieben worden. Kronenformel der oberen Zähne von Platy rrhinen. P, P P J/, A/s M 3 I P 2 D i pj I P 2 I P 2 I P 2 ~ D i pa pp 2 d I P 2 D i pa pp 2 d 4 I P 2 Pa Pp D Pa Pp D 4 I Pa Pp 2 Pa (Pp) llapale { D I p 2 d I P 2 D Pa Pp D4 i Pa Pp 2 Pa Chrysothrix ' D I p 2 d I P 2 I p 2 d P D I p 2 d P D P d P D D I p 2 D d 4 I P 2 Pa Mycetes • D I p 2 D4 i pa pp 2 D 4 (i) i Pa Pp 2 D 4 (i) Pa Pp D4 Pa Pp D4 Pa Pp r>4 D d P J) I p 2 d P D P_ d P d 4 P D pa pp 2 Pa(Pp) Cebus \ D4 Pa Pp D4(i) Pa Pp D 4 D d4 P Pa D(4) papp d(4) I P 2 D Pa D D(4) Vergleicht man die Kronenstruktur der oberen Zähne amerikani- scher Affen mit jenen von Halbaffen oder eoeänen Primaten, dann trifft uns wieder die nämliche Erscheinung wie bei den unteren Zähnen: Das Oberkiefergebiß der Primaten. 175 die Krone hat im allgemeinen eine Vereinfachung erfahren. Dieselbe tritt, den allgemeinen Regeln folgend, am stärksten im deuteromeren Teil des Zahnes zutage und äußert sich z. B. darin, daß die vordere Nebenspitze des Deuteromer (die Spitze 3) in keinem einzigen Zahn des platyrrhinen Gebi^e^ mehr als normale Bildung vertreten ist. Nur als Variation habe ich dieselbe am zweiten und dritten Milchmolar von Cebus bisweilen beobachtet. Was die Gebißreihe als ganzes betrifft, so ist ebenfalls eine Reduk- tion zu konstatieren, nämlich die des dritten Molaren. Die beigefügte Tabelle gibt die bekannte und, wie Bluntschli gezeigt hat, für die Kenntnis der Beziehung der Gebißformation von Platyrrhinen und Katarrhinen so überaus wichtige Tatsache kund, daß dieser Molar bei den amerikanischen Affen durchgehends bis auf zwei Höcker reduziert ist, der vordere Komponent des protomeren Zwillingshöcker und der Haupthöcker vom Deuteromer. In individuell sehr variabler Ge- staltung kann dann noch einer der beiden Distalhöcker — es sei jener des Protomer oder jener des Deuteromer — spurweise anwesend sein. Bemerkenswert ist es, daß bei den Arctopitheken, deren Molarenzahl schon auf zwei verringert ist, ebenfalls die hintere dieser beiden eine weitgebende Reduktion zeigt, der Zahn ist nicht nur auffallend Fig. 61. Hapale jacchus. kleiner als der erste Molor, sondern auch der hintere Komponent des protomeren Zwillingshöckers kann bis auf winzige Spuren ver- schwunden sein. Es erscheint uns als eine nützliche Einrichtung des Gebisses, daß der Zahnwechsel bei diesen Formen erst seinen An- fang nimmt nachdem die permanenten Molaren schon durchgebrochen sind. Das zeigt z. B. die Fig. 61, welche nach dem Schädelchen eines Hapale jacchus angefertigt worden ist. Die beiden permanenten Mo- laren sind schon da, während vom Milchgebiß noch kein einziger Zahn ersetzt worden ist. Solche Verhältnisse, welche gleichsam einen retar- dierten Zahnwechsel darstellen, und welche man im allgemeinen bei den Platyrrhinen antrifft, dürfen als fördernd betrachtet werden für das Zustandekommen einer endgültigen Permanenz des dritten Milch- molaren, d. h. der Entstehung einer katarrhinen Gebißformel. Wenn wir uns jetzt zunächst der Betrachtung der Kronenform der permanenten Zähne zuwenden, dann konstatieren wir, wie beim Unter- kiefergebiß, die große Einförmigkeit in der Struktur sowohl der Prä- molaren als der Molaren. Die Prämolaren bestehen fast ausschließlich nur aus den Haupthöckern der beiden Odontomeren, wozu sich bisweilen noch die protomeren Nebenspitzen gesellen können. Eine graduelle höhere Entfaltung in distaler Richtung, wie eine solche noch bei den Halb- affen zur Beobachtung kam, findet man bei den Platvrrhinen nicht 170 Fünftes Hauptstück. mehr. Nur der dritte Prämolar von Mycetes hat -- obgleich nicht immer - die hintere deuteromere Nebenspitze zur Entwicklung ge- bracht. Sonst sind die Komponenten der Prämolarenreihe — abgesehen von der etwas kräftigen Entfaltung, die der erste Prämolar bei einigen Geschlechtern, z. B. Chrysothrix, zeigt — einander sehr ähnlich. Und wie früher bekannt geworden ist, trifft das nicht nur für den Kronenteil der Zähne zu, sondern gleichfalls für den Wurzelteil. Aber obgleich in der Differenzierung der Kronenhöcker bei den Prämolaren der amerikanischen Affen große Übereinstimmung besteht, ist jedoch die Gestalt dieser Zähne bei den verschiedenen Geschlechtern recht verschieden. So zeichnen sich z. B. die Arctopitheken und unter den Cebidae das Geschlecht Chrysothrix durch eine mehr dreieckige Gestalt der Krone scharf von der mehr viereckigen in transversaler Richtung ausgezogenen Gestalt der meisten übrigen Geschlechter, aus. Dazu kommt, daß bisweilen ein ziemlich stark entwickeltes Cingulum an der lingualen Seite des Zahnes demselben ein typisches Gepräge verleihen kann. Wie im allgemeinen Teil schon erwähnt, begegnet uns ein solcher z. B. an den Prämolaren von Chrysothrix. Die Molaren sämtlicher Platyrrhinen, mit Ausnahme der Arcto- pitheken, stimmen durch den Besitz von vier Höckern miteinander überein. Diese Übereinstimmung in der Höckerzahl besagt jedoch nicht eine solche auch in der Kronengestalt. Denn, wie früher schon ausführlich auseinandergesetzt worden ist, kann man gerade bei den platyrrhinen Primaten einen bestimmt gerichteten Entwicklungs- gang in der Kronenstruktur stufenweise verfolgen, welcher von der mehr dreieckigen, in bukko-lingualer Richtung etwas verlängerten Krone von Chrysothrix mit V-förmigem Leistenkomplex allmählich zu den mehr regelmäßig viereckigen Kronen von Cebus überführt. Mycetes und Ateles bilden zwei typische Zwischenstufen in diesem Entwick- lungsgang, bei dem wir, abgesehen von der Umbildung des Leisten- systems, die alternierende Stellung der Höcker, welche bei Chrysothrix noch besteht, für eine opponierte Platz machen sehen. Solche Um- bildungen in der Kronenstruktur lassen sich sehr schwierig in der Kronenformel zum Ausdruck bringen. Wäre' das vielleicht noch mög- lich mit Bezug auf die alternierende und opponierte Stellung der Höcker, indem man in der Formel die Symbole der Höcker in gleicher Stellung zueinander schrieb als die Höcker in der Krone einnehmen, für die übrigen Details verzichtet diese Methode. Es geben die Formeln der Mahlzähne, wie sie in obenstehender Tabelle mitgeteilt sind, zu keinen besonderen Bemerkungen Anlaß, nur ein paar Besonderheiten, welche als individuelle Variationen zu gelten haben, verdienen eine spezielle Erwähnung. Zuerst sei auf die Formel der Molaren bei Ateles und Mycetes aufmerksam gemacht. Im ersten Molar des erstgenannten und in den beiden vorderen Molaren des letztgenannten Geschlechts traf ich als individuelle Variation in sehr deutlicher Entwicklung den hinteren intermediären Zwischen- höcker an. Früher habe ich schon mitgeteilt, daß ich diese Spitze auch bei Cebus angetroffen habe und dieser Fall ist auf Tafel III, Fig. 14 zur Abbildung gebracht, Ich konnte die Anwesenheit dieser Spitze jedoch nur einmal unter mehr als hundert Schädeln von Cebus feststellen, so daß es sich dabei offenbar um eine sehr große Seltenheit handelt. Weiter war selbst in diesem Fall die Zwischenspitze nur wenig Das Oberkiefergebiß der Primaten. 177 kräftig entwickelt. Bei Mycetes traf ich dagegen den bezüglichen Höcker ein paarmal in schöner Ausprägung nicht nur am ersten, sondern auch am zweiten Molaren an, bei einem ziemlich beschränkten Material (ungefähr 20 Schädel). Die Bildung scheint hier somit häufiger zu sein. Einen meiner Fälle habe ich auf Tafel III, Fig. 15 reproduzieren lassen. AVie man sieht, vertritt der Zwischenhöcker hier die Stelle, welche bei anderen Individuen durch die Schrägleiste eingenommen wird, welche vom Höcker D zum Höcker Pp zieht; darin ist ein weiterer Beleg für die Richtigkeit meiner Behauptung zu erblicken, daß die bei den eocänen Primaten ziemlich regelmäßig auftretenden hinteren Zwischenhöcker nichts anderes ist als ein Bildlingsprodukt ik-^ Schmelzes von gleichem Wert als die hintere Schrägleiste. Dem übrigen Höckersystem stellt sich deshalb die intermediäre Spitze als ein Pseudo- höcker gegenüber. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß der hintere intermediäre Höcker bei den Platyrrhinen häufiger angelegt wird, als man es auf Grund der Beobachtungszahl vermuten sollte. Denn ver- folgt man die Zahnusur bei älteren und jüngeren Schädeln, dann scheint gerade die hintere Schrägleiste am ehesten und am meisten bei Mycetes abgeschliffen zu werden. Eine richtige Einsicht über die Häufigkeit des Auftretens wird man somit erst bekommen können durch Unter- suchung jüngerer Schädel. Das gleiche trifft auch für Ateles zu. An den Schädeln etwas älterer Individuen vermißte ich den Zwischen- höcker, aber wenn ich an einem jungen Schädel von Ateles ater die noch ganz im Alveolus versteckte Krone des ersten Molaren auspräpa- rierte, erhielt ich ein Produkt mit einem prachtvoll entwickelten, scharf begrenzten Zwischenhöcker. Ich habe schon mehrere Male die Bedeutung hervorgehoben, welche das Auftreten des Zwischenhöckers in den Molaren der pla- tyrrhinen Affen hat. Bei den eocänen Primaten gerade ein fast kon- stantes Element der Mahlzähne bildend, war er bei den rezenten Pri- maten bis jetzt unbekannt. Und das würde man geneigt sein können, als ein Motiv anzuführen für eine trennende Kluft zwischen den eocänen Primaten und den Platyrrhinen. Der Nachweis des gelegentlichen Auf- tretens des Zwischenhöckers als individuelle Variation, welcher jetzt bei drei Geschlechtern der platyrrhinen Affen gelungen ist, ist nun gerade als ein wertvolles Argument für die entgegengestellte Behauptung zu benützen. Mit vollem Recht darf man solche individuelle Variationen als wichtige Zeugnisse für eine Verwandtschaft zwischen beiden Pri- niatengruppen ins Feld führen. Daß die Zwischenhöcker im Laufe der Zeit im Primatengebiß allmählich geschwunden sind, ist wohl als eine Teilerscheinung jenes mehr allgemeinen Vorganges zu deuten. auf welche wiederholt die Aufmerksamkeit gelenkt ist, daß nämlich der Hauptcharakter des Entwicklungsganges des Primatengebisses während der tertiären Periode besteht in einer Vereinfachung des Kronenreliefs, verknüpft mit der Tendenz der hinteren deutomeren Nebenspitze, den Haupthöckern in der Entwicklung gleichzukommen. Eine zweite Besonderheit am Gebiß der Platyrrhinen ist die Entwicklung des Carabellischen Höckerchens, welches man z. B. an den Molaren von Chrysothrix konstant, an solchen von Cebus als individuelle Variation zu konstatieren vermag. Auf diese Tatsache habe ich in dem besonderen Abschnitt, worin von dieser Bildung die Rede ist, schon ausdrücklich hingewiesen. Sie wird hier nur der Voll- Bolk, Die Morphogenie der Primatenzähne. 12 178 Fünftes Hauptstück. ständigkeit wegen erwähnt. Für die Bedeutung derselben sei auf den bezüglichen Abschnitt hingewiesen. Es erübrigt sich, jetzt noch die Kronenformel der Milchzähne einer kurzen Betrachtung zu unterwerfen. Aus einer Vergleichung der Kronenformel der Milchmolaren und deren Ersatzzähne im Unter- kiefer war die große Übereinstimmung hervorgegangen in der Kronen- struktur dieser Elemente aus den zwei Gebißreihen. Gleiches gilt für die übereinstimmenden Zähne des Unterkiefers. Nur der dritte Milchmolar weicht durch eine etwas komplizierte Struktur von seinem Ersatzzahn wesentlich ab. Was die beiden ersten Milchmolaren da- gegen anbetrifft, besitzen diese, wie die beiden ersten Prämolaren, fast ausnahmslos die Haupthöcker P und D der beiden Odontomeren. Es ist der Z)-Höeker am ersten Milchmolaren geringer entwickelt als am zweiten, und auch wohl als am ersten Prämolaren, aber er ist immerhin als wohl differenzierter Höcker zu unterscheiden. Am meisten ähneln sich der zweite Milchmolar und der zweite Prämolar. Ersterer hat eine etwas mehr dreieckige Krone. Wesentliche Differenzmerkmale bietet aber der Wurzelteil der Zähne, wie aus den Fig. 53 — 57 ersichtlich. Bei der Besprechung des Unterkiefergebisses ist der Erscheinung Erwähnung getan, daß die Wurzelzahl der Zähne bei den Platyrrhinen eine allgemeine Tendenz zur Verminderung zeigt. Es ist natürlich nicht zu sagen, ob nicht einmal alle obere Milchmolaren bei den Stammeltern der heutigen Platyrrhinen im Besitze von drei Wurzeln waren, wie es heute tat- sächlich beim Geschlecht Cebus noch der Fall ist, wie aus der Textfig. 55 erhellt. Aber soviel ist sicher, daß wenigstens der zweite und dritte Milchmolar der rezenten Formen im Besitze von drei Wurzeln sind, wodurch speziell dem zweiten Milchmolar ein wichtiges Differenz- merkmal mit dem sonst so ähnlich aussehenden zweiten Prämolar gegeben ist. Bei Mycetes (Fig. 56) und stärker noch bei Chrysothrix (Figr. 54) zeigen die beiden bukkalen Wurzeln unverkennbar die Neigung sich zu verbinden. Der dritte Milchmolar ist bei allen Platyrrhinen ein wesentlich molariformer Zahn, d. h. der protomere Haupthöcker hat sich als Zwillingshöcker differenziert. Und als weitere progressive Differenzierung kann auch die hintere Nebenspitze des Deuteromer noch hinzukommen, wie bei Chrysothrix oder Cebus. Schließlich werden wir die Kronenformel der oberen Zähne der altweltlichen Affen, sowie des Menschen einer kurzen Besprechung widmen. In untenstehender Tabelle finden sich die wichtigsten Daten niedergelegt. Es sind darin die Form ein der Milchzähne wieder mit kleinen Buchstaben geschrieben worden. Es sind in dieser Tabelle die Daten für die verschiedenen Geschlechter der Cercopithecidae nicht gesondert vermeldet worden, weil solches nur zu Widerholungen Anlaß geben würde. Die ganze Gruppe der Cercopithecidae zeigt in der Kronen- struktur der oberen Zähne eine so große Übereinstimmung, daß es nur die Form der Höcker, die Ausbildung der Kämme und die Maß- verhältnisse der Krone sind, welche die Gestalt der Krone inner- halb dieser Gruppe verschieden macht. Es ist deshalb in der Tabelle die Gruppe als Ganzes angeführt worden. Zwar sind hin und wieder Differenzen untergeordneter Art zu verzeichnen, welche sich jedoch meistenfalls als individuelle Variationen erweisen. So z. B. ist nicht Das Oberkiefergebiß der Primaten. 179 selten der erste Milchmolar am mesialen Ende des bukkalen Randes mit einer niedrigen Spitze ausgestattet, welche als die vordere proto- mere Nebenspitze gedeutet werden muß. Weiter findet man nicht selten auch bei den Molaren der Hundskopfartigen, am Vorderrande die Andeutung dieser Nebenspitze, ja es ist sogar die vordere deuteromere Nebenspitze bisweilen zu geringer Entfaltung gelangt. Doch sind Kronenformel der oberen Zähne katarrhiner Primaten. A p, Mx M, M, P p Pa Pp Pa Pp Pa Pp Cercopitbecidae . . . D pa pp d 4 D pa pp d 4 D 4 D 4 D 4 P P Pa Pp Pa Pp Pa Pp D P d D pa pp d 4 D 4 D 4 D 4 P P Pa Pp Pa Pp Pa Pp Orang D P d D pa pp d 4 D 4 D 4 D 4 P P Pa Pp Pa Pp Pa Pp Schimpanse .... D I P 2 D pa pp d 4 D 4 D 4 D 4 d P P Pa Pp Pa Pp Pa Pp Gorilla D I P 2 D pa pp d 4 D 4 D 4 D 4 d P P Pa Pp Pa Pp Pa Pp D i pa pp D pa pp d 4 D 4 D 4 D 4 diese Erscheinungen so wechselnder Natur, daß sie schwierig als Diffe- renzmerkmale zwischen den verschiedenen Geschlechtern dieser Gruppe zu verwerten sind. Es besteht zwischen den oberen Molaren der Cercopithecidae und Anthropoidae eine größere Übereinstimmung als zwischen den unteren Mahlzähnen beider Gruppen. Denn im allgemeinen zeichnet sich der untere Molar der Anthropomorphen inklusive Hylobates be- kanntlich durch den Besitz von fünf Höckern aus. während bei den Cercopithecidae diese Zähne nur mit vier Höckern ausgestattet sind und nur der dritte Molar bisweilen einen fünften Höcker trägt. Die 12* 180 Fünftes Hauptstück. oberen Molaren dagegen sind sowohl bei Cercopithecidae als Anthro- poidae vierhöckerig, und nur die Stellung der Höcker hinsichtlich einander ist verschieden, bei der letztgenannten Gruppe stehen sie alternierend, bei der erstgenannten in opponierter Stellung. Daß letzterer Zustand der mehr spezialisierte oder mehr progressive ist, habe ich schon vorher bei der Behandlung der Unterkiefermolaren zu begründen versucht und auch auf die Beziehung hingewiesen, welche zwischen der Spezialisierung im Ober- und Unterkiefergebiet besteht. Ein weiteres Beispiel dieser Korrelation in dem Entwicklungs- gang oberer und unterer Zähne glaube ich in dem Verhältnis erblicken zu dürfen, welches beim Menschen der zweite obere Molar uns bietet. Ich muß dazu anfangen, auf die Variabilität hinzuweisen, welche der zweite untere Molar des Menschen zeigt. Im Gegensatz zu den Anthro- pomorphen ist beim Menschen der genannte Zahn in überaus den meisten Fällen nur vierhöckerig. Für die Details verweise ich auf den bezüglichen Abschnitt, in dem von dieser Erscheinung ausführlich die Rede war. Es ist nun gewiß bemerkenswert, daß bekanntlich auch der zweite obere Molar unverkennbar Neigung zeigt zur Reduktion, da er in ungefähr der Hälfte der Fälle, statt vierhöckerig zu sein nur drei Höcker besitzt. Seinerzeit hat Cope die Ansicht vertreten, daß solche Zähne den primitiven Typus repräsentieren und mit der Molarenform der Lemuren in Zusammenhang gebracht werden sollten. Gegen diese Ansicht ist jedoch schon mehrfach Widerspruch erhoben. Ich schließe mich in dieser Frage der Meinung u. a. Adloffs an1), daß dreihöckerige obere Mahlzähne des Menschen sicherlich auf Reduktion beruhen. Diese Reduktion verläuft in ganz regelmäßiger und dem Entwicklungs- gang der Krone entsprechender Weise. Denn es ist wieder die hintere linguale Spitze, die ursprünglich distale Nebenspitze vom Deuteromer, welche verschwindet. Nun trifft man bei Untersuchung an einem größeren Material bisweilen den Fall, daß der zweite Molar stärker reduziert ist als der dritte, eine Erscheinung, der man am Unterkiefer ungemein viel häufiger begegnet. Daß im Oberkiefer solche Fälle vorkommen, ist an sich jedoch schon ein hinreichender Beweis, daß auch an dieser Gebißreihe zwei Reduktionsvorgänge im Gebiete der Molaren tätig sind: Verkürzung der Gebißreihe und Vereinfachung der Kronenstruktur. Und nun erhebt sich die Frage, ob die Verein- fachung, welche am zweiten oberen Molar zu konstatieren ist. nicht mit jener am zweiten unteren in korrelativer Beziehung steht. Ich be- schränke mich an dieser Stelle auf die Fragestellung, hoffe im nächst- folgenden Heft näher auf diese Frage einzugehen. Was die Kronenformel der Prämolaren der Anthropomorphen betrifft, möchte ich noch einmal wiederholen, daß dieselben, wie sie sich in der Tabelle finden, nur den meist vorkommenden Zustand wiedergeben. Nicht selten trifft man im Oberkiefer dieser Affen Prä- molaren, welche deutlich die Anlage und teilweise Ausbildung noch zweier Höcker sehen lassen, wodurch sie sich der Molarenfonn etwas nähern. Besonders bei Gorilla ist solches der Fall. Was die Milchmolaren betrifft, sei nur kurz die bekannte Tat- sache hervorgehoben, daß beim Menschen dieser Zahn eine höhere 1) Das Gebiß des Menschen und der Anthropomorphen, S. 95. Das Oberkiefergebiß der Primaten. 131 Entwicklungsstufe aufweist als bei den Anthropomorphen. Für die Bedeutung dieser Tatsache verweise ich auf das beim Unterkiefer- gebiß Gesagte. Ich wünsche hiermit diese zweite Studie zu beendigen. Ich gebe mich der Hoffnung hin, daß die Richtigkeit der Prinzipien, welche meiner Auffassung über die Entstehung und Differenzierung der Pri- matenzähne zugrunde liegen, durch diese systematische Bearbeitung des Primatengebisses wesentlich fester begründet worden ist. J);is Gebiß der Primaten hat sich gerade durch seine ganz regelmäßige Anordnung, die sukzessive Aufeinanderfolge einer immer mehr kom- plizierten Kronengestalt in den Gebißreihen als ein besonders be- quemes Untersuchungsobjekt erwiesen, um die Entwicklung der kom- pliziert gebauten Zähne zu verfolgen. Und es scheint mir dabei nicht ohne Bedeutung für die Richtigkeit meiner Anschauungen zu sein, daß ich für die Erklärung der besonderen Zahnformen keine Hilfshypothesen anzuwenden genötigt war. Ein einziger Gesichtspunkt genügt, um die Entstehung der so verschiedenen Varianten begreiflich zu machen: alle Zähne entstammen einem vollständig gleichwertigen Keim, und dieser Keim enthält potentia die Anlage zweier dreispitziger Zähne. Dieses Prinzip, wozu ich ebenfalls in der ersten Studie gekommen war. hat sich in der vorliegenden als eine fest begründete Basis der Dimertheorie des Säugergebisses erwiesen, und als ein sicherer Weg- weiser auf das an Frage erregenden Erscheinungen so fruchtbare Gebiet des Primatengebisses. Und ich bin überzeugt, daß das näm- liche Prinzip mit nicht weniger gutem Erfolg als Anleitung bei dem systematischen Studium der Gebisse auch anderer Säugergruppen zu verwenden sein soll. Druck von Anton Kämpfe in Jena. Bolk, Die Morphogenie der Primatenzäh) 9(7. Ateles. 9£. Ateles. 1. Tarsius. 2. Microcebus. 3. Lemur. 6. Nycticebus. 7. Hemigalago. 12. Gorilla. 13. Schimpanse. 14. Orani 4. Hapale. 20. Cebus. 21. Semnopithecus. 22. Mac; I Pd P, P X 10. Siamang. 11. Homo. 15. Avahis. 16. Propithecus. 17. Indris. 18. Mycetes. 19. Nyctipitheci icacus. 23. Cynocephalus Fig. 1 (1-24). Verlas von G Tafel I. Fig. 4. Erster unterer Molar von Pithecia. Vergr. 6 fach. 2. Pithecia. Milchgebiß. Vergr. 3 fach. Fig. 5. Mycetes. Fig. 3. Pithecia. Milchgebiß. Vergr. 3 fach. Fi". 6. Mycetes. Milchgebiß. eher in Jena. Bolk, Die Morphogenie ■>■ Primatenzähne. Fig. 8. Mycetes. Milchgebiß. Fig. 7. Mycetes. Fig. 9. Verlag von Tafel IL Ateles. \n) '"■> JA Mycetes n (Vliiis. Chrysothrix. Hapale. j\ ü %% &% Bnnopithecus. Inuus. Schimpanse. Gorilla. 'X „ h. Orans Siamang. Homo. V u\ IN/ lo. fo-a\ /oo\ Fig. 10. f(l(]\ ^1 [0 Q) CUiJ eher in Jena. Bolk, Die Morphogenie der Primatenzähne. Fig. 11. 0 ran s:. Fig. 12. Schimpanse. Tafel III. Fig. 13. Siamang. Fig. 14. Cebus. Fig. 15. Mycetes. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Vergleichende Anatomie des menschlichen Gebisses und der Zähne der Vertebraten. Von Dr. Paul de Terra, vorm. Zahnarzt in Zürich. Mit 200 Abbildungen im Text. 1911. Preis: broschiert 12 Mark, gebunden 13 Mark. Inhaltsverzeichnis: Einleitung: Terminologie. — Allgemeine Entwicklungs- geschichte. — Zoologische Einteilung der Vertebraten. — Bedeutung des Tier- systems. — Zeitliche Verbreitung der Tiere. — I. Abschnitt: Kopf- und Mund- höhle. Schädel der Vertebraten. — Schädel der Säugetiere. — Kieferapparat der Vertebraten. — Anatomie des Kauapparates. — - Entwicklung der Mundhöhle. — Wachstum der Kieferknochen. — Verknöcherung und Verkalkung. — II. Ab- schnitt: Die Zähne im allgemeinen. Bedeutung der Zähne. — Vorkommen der Zähne. — Anordnung der Zähne. — Zahl der Zähne. — Form der Zähne. — Ursprung der Zahnformen. — Entwicklung der Zahnformen. — Übergang der Zahnformen. — Homologie der Zähne. — Makroskopischer Bau der Zähne. — Mikroskopischer Bau der Zähne. — Entwicklung der Zähne: Zahnentwicklung der Säugetiere. — Zahnentwicklung der niederen Vertebraten. — Zahnentwicklung der Fische. — Zahnentwicklung der Amphibien. — Zahnentwicklung der Reptilien. — Dentition: Dentition der Vertebraten. — Mechanismus des Durchbruches. — Erste Dentition beim Menschen. — Zweite Dentition beim Menschen. — Dritte Dentition. — Reduktion des Gebisses. — Höcker der Molaren. — Überzahl der Zähne. — Heredität. — Chemische Zusammensetzung der Zähne. — Nerven und Gefäße der Zähne. — Befestigung der Zähne. — Die Zahnformel. — III. Abschnitt: Die Zähne nach den Klassen des Tierreiches. 1. Klasse: Die Fische. — 2. Klasse: Die Amphibien. — 3. Klasse: Die Reptilien. — 4. Klasse: Die Vögel. — 5. Klasse: Die Säugetiere. — Das Gebiß der Affen im Vergleiche zum mensch- lichen. — Die Bezahnung des Menschen. — Literaturverzeichnis (mit ca. 3000 Titeln). — Register. Zoologisches Zentralblatt, 18. Jahrg., Nr. 16/17 v. 10. Nov. 1911: . . . Das Buch stellt ein gutes Nachschlagewerk für odontologische Fragen dar, zumal durch die klare und reiche Gliederung und das ausführliche Register seine Handlich- keit wesentlich erhöht wird. M. Hilzheimer (Stuttgart). Roux' Archiv f. Entwicklungsmechanik: . . . ein im Verhältnis zu seinem Umfange ganz ungewöhnlich reichhaltiges und brauchbares Nachschlagewerk, dessen Wert noch durch ein etwa 3000 Nummern ent- haltendes Literaturverzeichnis gesteigert wird, das auch den Anfänger rasch in den Stand setzen dürfte, sich über den Rahmen des Buches hinaus über speziellere Fragen zu unterrichten. F. A. M. W. Gebhardt. Österreich. -ungar. Vierteljahrsschrift für Zahnheilkunde, Januar 1912: . . . eine Lektüre, welche nicht bloß an sich reichlichen Genuß bringt, sondern auch durch die allgemein bildende Erweiterung des Gesichtskreises die Berufsfreude hebt und der mühseligen Einzelarbeit neue Beziehungen eröffnet, die nicht zuletzt für das praktische Handeln selbst befruchtend und richtunggebend sind. Es sei daher das gewissenhaft und umsichtig abgefaßte, vom Anfang bis zum Ende durchaus anregend geschriebene und gediegen ausgestattete Buch nicht bloß dem Wissenschaftler, in dessen Bibliothek es selbstverständlich gehört, sondern insbesondere auch dem Praktike: wärmstens empfohlen. B. Mavrhofer. Verlag von Gustav Fischer in Jena. 7nnlnnicrhoc Wnrtprhimh Erklärung der zoologischen Fachausdrücke. Z.UUIUyibWlbb WUrierUUUI. Zum Gebrauch beim Studium zoologischer, anatomischer, entwicklungsgeschichtlicher und naturphilosophischer Werke. Verfaßt von Prof. Dr. E. Bresslau in Straßburg i. E. und Prof. Dr. H. E. Ziegler in Stuttgart, unter Mitwirkung von Prof. J. Eichler in Stuttgart, Prof. Dr. E. Fraas in Stuttgart, Prof. Dr. K. Lampert in Stuttgart, Dr. Heinrich Schmidt in Jena und Dr. J. Wilhelmi in Berlin, revidiert und heraus- gegeben von Prof. Dr. H. E. Ziegler in Stuttgart. Zweite vermehrte und verbesserte Auflage. Mit 595 Abbildungen im Text. (XXI, 737 S. gr. 8°.) 1912. Preis: 18 Mark, geb. 19 Mark. Die erste Auflage des „Zoologischen Wörterbuches" erschien 1907 — 1910. Wenige Monate nach der Vollendung war das Werk im Buchhandel schon ver- griffen. Diese Tatsache beweist die Brauchbarkeit und Nützlichkeit des Buches. Die zweite Auflage enthält über 5500 Artikel. Neue Weltanschauung, 1913, Heft 2. Die gemeinsame Arbeit dieser Herren hat unter der Leitung von Prof. Ziegler e i n Werk geschaffen, das des höchsten Lobes würdig ist und das berufen er- scheint, der Wissenschaft große Dienste zu leisten. Es erleichtert das Studium selbst schwieriger Fachwerke und macht sie weiteren Kreisen überhaupt erst zugänglich. Möge es auch in seiner neuen Gestalt viele Freunde finden und fleißig benutzt werden. Ans der Heimat, 1908, 5. Heft. Wer sich eingehender mit zoologischen Studien abgegeben, ja, wer auch nur eines der vielen narurphilosophischen Werke der Neuzeit mit Nutzen lesen will, braucht ein solches Wörterbuch unbedingt. Lehrbuch der vergleichenden mikroskopischen Anatomie der Wirholfioro 1° Verbindung mit Prof. Dr. Aman n- München, Prof. Ball owitz- ",ruemere' Münster i. W., Prof. Dr. Disselhorst-Halle a. S., Prof. Dr. v. Eggeling-Jena, Dr. V. Franz-Leipzig, Prof. Dr. Hoyer-Krakau, Prof. Dr. R. Krause-Berlin, Prof. Dr. Boll-Berlin, Prof. Dr. Reinke- Rostock, Dr. P. Röthig-Charlottenburg, Prof. Dr. Schaffer-Graz, Dr. Stud nicka- Brunn, Prof. Dr. Szymonowicz-Lemberg, Prof. Dr. Tand ler- Wien, Prof. Dr. Ziehen- Wiesbaden, Prof. Dr. Zimmermann-Bern. Herausgegeben von Prof. Dr. med. Albert Oppel in Halle a. S. 1. Teil: Der Magen. Von Prof. Dr. A. Oppel, Mit 275 Abbildungen im Text und 5 lithogr. Tafeln. 1896. Preis: 14 Mark. 2. Teil: Schlund und Darm. Von Prof. Dr. A. Oppel. Mit 443 Ab- bildungen im Text und 4 lithogr. Tafeln. 1897. Preis: 20 Mark. 3. Teil: Mundhöhle, Bauchspeicheldrüse und Leber. Von Prof. Dr. A. Oppel. Mit 679 Abbildungen im Text und 10 lithogr. Tafeln. 1900. Preis: 36 Mark. 4. Teil: Ausführapparat und Anhangdrüsen der männlichen Geschlechts- organe. Von Dr. Rudolf Disselhorst, Prof. der Universität Halle a. S. Mit 435 Abbildungen im Text und 7 lithogr. Tafeln. 1904. Preis: 20 Mark. 5. Teil: Die Parietalorgane. Von Dr. F. K. Studnicka, Brunn. Mit 134 Abbildungen im Text und 1 lithogr. Tafel. 1905. Preis: 8 Mark. 6. Teil: Atmungsapparat. Von Prof. Dr. med. Albert Oppel. Mit 364 Abbildungen im Text und 4 lithogr. Tafeln. 1905. Preis: 24 Mark. 7. Teil: Sehorgan. Von Prof. Dr. phil. V. Franz, Leipzig-Marienhöhe. Mit 431 Abbildungen im Text. 1913. Preis: 18 Mark. 8. Teil: Die Hypophysis Cerebri. Von Dr, phil. Walter Stendell, Frankfurt a. M. Mit 92 Abb. im Text. (VIII, 168 S. gr. 8°.) 1914. Preis: 8 Mark. Vergleichung des Entwicklungsgrades der Organe SCh"edenen Entwicklungszeiten bei Wirbeltieren. Von Prof. Dr. Albert Oppel. (IV, 181 S. gr. 8°.) 1891. Preis: 7 Mark.