DIE NEUE

FREIHEIT

EIN AUFRUF ZUR BEFREIUNG-DER^

EDLEN KRÄFTE

EINES VOLKES VON

WÖODRÖW

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MÜNCHEN BEI GEORG MULLEIL

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Woodrow Wilson: Die neue Freiheit

Zweite Auflage

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Die neue Freiheit

Ein Aufruf

zur Befreiung der edlen Kräfte

eines Volkes

von

Woodrow Wilson

Mit einer Einleitung von

Hans Winand , ^%'^y^Ä

München 1914 bei Georg Müller

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Alle Rechte vorbehalten.

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INHALTSVERZEICHNIS

Seite

Einleitung 7

Ein Vorwort 37

ERSTES KAPITEL

Das Alte stürzt 39

ZWEITES KAPITEL

Was ist Fortschritt ? 57

DRITTES KAPITEL

Ein freies Volk braucht keine Vormundschaft 72

VIERTES KAPITEL

Vom Boden kommt das Leben 87

FÜNFTES KAPITEL

Das Volksparlament 94

SECHSTES KAPITEL

Laßt Licht herein 108

SIEBENTES KAPITEL

Die Tarif frage 125

ACHTES KAPITEL

Die Trustfrage und der freie Wettbewerb . . 142

NEUNTES KAPITEL

Recht oder Gnade ? 162

ZEHNTES KAPITEL

Die Entthronung des Boß 179

ELFTES KAPITEL

Die Befreiung des Geschäftslebens 201

ZWÖLFTES KAPITEL

Die Befreiung der Volkskräfte 215

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Einleitung

Amerika steht an einem neuen Wendepunkt seines Nationallebens. In kurzer Zeit hat die Union mit einer Kraftentfaltung, die Bewunderung erzwingt, eine Ent- wicklung durchmessen, die das Land vor einen Scheide- weg stellt, der eine tiefergreifende Entscheidung fordert als die schlichte Wahl zwischen rechts und links. Die Zu- spitzung der wirtschaftlichen Verhältnisse mag zuerst das gigantische Fragezeichen, das weitblickendere Geister Ame- rikas schon vor Jahrzehnten heraufdämmern sahen, zu allgemeiner Sichtbarkeit emporgetürmt haben. Heute, da es drohend inmitten der Heerstraße, fast möchte man sagen der Rennbahn amerikanischer Entwicklung steht, wirft es seine Schatten weit über die Grenzen des Wirt- schaftssystemes hinaus. Das ganze Netzwerk ethischer Kräfte, die bewußt und unbewußt den Werdegang Amerikas bestimmten, harrt einer neuen Musterung. Die Frage- stellung hat Dimensionen angenommen, denen die Beant- wortung einzelner politischer und wirtschaftlicher Tages- fragen nicht mehr gerecht werden kann. Der beispiellose wirtschaftliche Aufschwung der letzten Jahrzehnte, der in seinen Ausmaßen die europäische Parallele, den Auf- schwung Deutschlands, in den Schatten stellt, wälzte seine Flut mit stürmischer Macht einem konsequent pluto- kratischen Wirtschaftssystem entgegen. Das geschah mit dem ganzen Ungestüm einer Nation, die an ihrem Dogma der politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungs- losigkeit trotzig festhielt. Diese Etappe mußte von Amerika

nicht weniger durchmessen werden, als ältere Nationen sie mit größerer Bedachtsamkeit zu durchmessen sich an- schicken. Vielleicht war es die klügere Politik, die Tiefe dieser Sackgasse gleich im Sturmschritt zu durcheilen, um durch schnellere Erkenntnis die Kostspieligkeit des Ex- perimentes abzukürzen. Radikalismus war der bessere Dienst. Das in wenigen Jahrzehnten aufgetürmte pluto- kratische System, dessen Krönung die riesenhafte Ent- wicklung und Machtanhäufung der das Land gleich einem Spinnennetz überziehenden Trusts verkörpern, wirkte durch seine Überspannung eines an sich gesunden wirt- schaftlichen Grundsatzes gleichsam wie ein gewaltiges Staubecken, das dem Strome der Gesamtheit Einhalt gebot. An die Stelle einer mannigfaltigen Vielheit frei fließender Kräfte, die, allen Volksschichten entquellend, konzen- trisch dem Ziele der allgemeinen Wohlfahrt zustrebten, entstand eine mächtige Wasserfläche, die den ganzen Druck der aufgehäuften Mengen in einigen schmalen Ka- nälen einfing, deren Schleusen einige wenige Industrie- kapitäne regulieren.

Wenn nur eine Eindämmung wirtschaftlicher Kräfte gefolgt wäre, hätte der unaufhaltsam zunehmende Druck durch sein eigenes Wachstum vielleicht automatisch seine Ventile geschaffen. Auf dem Wege der Gesetzgebung wären die Schleusentore Schritt um Schritt verbreitert und vermehrt worden. Wege hätten sich gefunden, die abflie- ßenden Gewinnmassen auf größere und vor allem brei- tere Gebiete des Volkstums zu verteilen. Daß der Versuch dazu nicht zur rechten Stunde vorbereitet und begonnen wurde, wird die Geschichtsschreibung auf der Sollseite der amerikanischen Industrieführer buchen. Aber dieser stra- tegische Irrtum ist kein zufälliges Versagen des Weit- blickes. Er entwuchs dem Radikalismus des amerikani- schen Temperaments, das in seinen reinsten Formen noch

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immer etwas von der draufgängerischen Ungebrochenheit der ewigen Jugend bewahrt und instinktiv zu Extremen strebt. Die ungewöhnUchen wirtschaftlichen Vorbedin- gungen dieses Landes haben stets, auch auf dem Wege über gewaltige Krisen, zum Erfolge geführt. Wirtschaftliche Schönwetterperioden glichen die Wirbelstürme vergangener Irrtümer mit uneuropäischer Schnelligkeit wieder aus. Das ,, Vorwärts", dieser kategorische Imperativ amerika- nischen Lebens, bannt den Blick des einzelnen auf die Zu- kunft. Errungene Erfolge erscheinen nur als das Vorspiel künftiger Erfolge und dem Auge bleibt keine Zeit, sinnend auf Vergangenheit und Gegenwart zu verweilen. Die Schöp- fer der großen Trusts hätten auch auf die Fragen, die sie zu stellen versäumten, in der Vergangenheit eine Antwort kaum gefunden. Nur aus dem dumpfen Raunen der Ge- genwart tönten ihnen Stimmen entgegen, die Warnungen glichen. Aber sie mußten ungehört verhallen, wo die Ge- genwart nur Schwelle zur Zukunft ist und die letzten Träume der großen Trustarchitekten, die Vertrustung aller Trusts, noch nicht restlos verwirklicht waren. Dazu kam, daß es keine Gewalt gab, die dem Sturmlauf zur Zukunft eine Schranke entgegengetürmt hätte.

Daß dieser Widerstand fehlte, lag in Mängeln, die von der amerikanischen Regierungspraxis während der letzten Generation herausgebildet worden waren. Regie- rungsmethoden, die einer unfertigen und gleichsam noch flüssigen Gesellschaftsmasse gerecht werden konnten, hät- ten nur durch eine zeitgemäße Umformung einer neuen Gesellschaftsordnung angepaßt werden können, die sich immer klarer gliederte und immer schärfer abstufte. Die Anpassung blieb aus. An diesem Punkte, wo die Linien der Regierungspraxis und der Gesellschaftsent- wicklung sich kreuzen, statt die Parallele aufrechtzuer- halten, offenbart sich eine Eigentümlichkeit der spezi-

fischen politischen Begabung Amerikas. Die Geschichte der Union zeigt, daß mit der wachsenden Sicherung der nationalen Selbständigkeit dem pragmatischen Denken Amerikas seine Ziele und Gesetze fast ausschließlich von der unmittelbaren Notwendigkeit diktiert wurden. Immer war es die Gegenv/art, die drohend oder bittend den Staats- männern entgegentrat und ihnen bestimmt umrissene Auf- gaben stellte. Und die Gegenwart stellte ihre Aufgaben ausnahmslos mit einer Wucht, die Vertagungen ausschloß. Man hat bisweilen den Eindruck, daß diese Unmittelbar- keit der Notwendigkeiten sich wie ein Alp auf das staats- männische Denken der Nation legt und im seltsamen Ge- gensatz zum wirtschaftlichen Streben die Blickrichtung zur Zukunft verhindert. Inmitten dieser hastvoll wachsenden vielfältigen Nation sind die Aufgaben des Tages so groß und widerspruchsreich, daß ihre Lösung ganze Kraft for- dert und keinen Überschuß hinterläßt, der sich der fer- neren Zukunft zuwenden könnte. Daß die Union noch stets in entscheidender Stunde die Staatsmänner großen Formats aufbrachte, die ihre Aufgaben anzupacken und zu lösen wußten, ist ein Beweis für die ungewöhnlich reiche Produktion staatsmännischer Talente in der neuen Welt. Sie erklärt sich nur durch die strenge politische Schulung, die Amerika von Anbeginn zuerst seinen Gästen, dann seinen Söhnen auferlegte ; sie erklärt sich zum Teil auch durch das von Anfang an demokratische Verwaltungs- system, das seit dem Tage der Unabhängigkeit und auch früher schon die Angelegenheiten der Regierung zu An- gelegenheiten aller machte und politische Begabung erzog, indem sie jedem die Bahn zur Betätigung freimachte. Aber auf der anderen Seite erklärt gerade dieses System, das mit seiner Kurzfristigkeit der Machterteilung beispiels- weise die Kraft eines Bismarck zu neun Zehnteln zur Un- tätigkeit verdammt hätte, auch die mit dem Lauf der Jahr-

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zehnte zunehmende Beschränkung des poHtischen Han- delns auf die Gegenwart.

Die Lehre, nach der Gesetze nur die Spiegelung und das Ergebnis der Wirklichkeit sind, durchzieht das gesamte staatsmännische Walten der neueren Vereinigten Staaten. Aber im Laufe der Generationen glitt das politische Wirken bei der Verwirklichung dieses Grundsatzes immer stärker einer Auslegung zu, die ohne weiteres die Wirklichkeit mit der Gegenwart identifizierte. Wie die Staatsmänner die Impulse ihres Handelns unter zunehmender Ausschal- tung der Zukunft von der Gegenwart empfingen, gingen auch die Antriebe zur Gesetzgebung aus der Wirklichkeit des gegenwärtigen Tages hervor. Es konnte nicht aus- bleiben, daß die jüngeren Regierungsabschnitte der Union gleichsam retrospektiven Charakter annahmen. Sie wur- den in ihrer inneren Politik weniger durch eigene Ini- tiative als durch die allgemeine Entwicklung vorwärts- gestoßen. Es zeugt für den Idealismus der Nation, daß die Notwendigkeiten, die die Staatsmänner zum Handeln trie- ben, keineswegs nur materieller Natur waren. Die große Krise der amerikanischen Nationalgeschichte, der Skla- venkrieg, begann als ein ethischer Konflikt und wurde zu einem Kampfe um das Ideal der nationalen Einheit. Daß der Süden dabei auch die materielle Zweckmäßigkeit seiner sozialen Gliederung verteidigte, verstärkt nur die wirkende Bedeutung der ethischen Postulate, die den Norden zum Angriff trieben. Für ihn handelte es sich nicht um wirt- schaftliche Notwendigkeiten, er kämpfte für ein unmate- rielles Ideal und besiegelte seinen Glauben auch mit seinem Blute. Aber von diesem letzten blutigen Konflikte und den bereits plutokratisch gefärbten imperialistischen Extra- touren der jüngsten Zeit abgesehen, blieb das neuere staatsmännische Denken Amerikas fast ausschließlich der Beseitigung bereits erwachsener Mißstände zugewandt.

II

Man steht hier vor der logischen Folge jenes alten Ideals, das jene Regierung die beste nannte, die am wenigsten regiere. Die Zeit hat es übernommen, die Unzweckmäßig- keit einer konsequenten Durchführung dieses Gedankens darzutun. Im Angesicht einer neuen wirtschaftlichen und sozialen Gliederung mußte dieses Lieblingskind des alten puritanischen Idealismus allgemach zu einem wesens- armen rhetorischen Schlagwort herabsinken. Die Idee ist der Verwirklichung nicht mehr fähig. Daß immer wieder versucht wurde, mit diesem, unter neuen Verhältnissen lebensunfähig gewordenen Ideal zu liebäugeln, ist eine jener politischen Versäumnisse, die heute das Land vor die Notwendigkeit einer Umkehr stellen.

Seit den Tagen, da in den letzten zwanziger Jahren das berüchtigte Spoilsystem mit seinem Schlachtrufe: ,,Dem Sieger die Beute** nationale Geltung erlangte, ist es trotz aller heilsamen Reaktionen nicht gelungen, diesen Grund- satz völlig aus der amerikanischen Politik zu verbannen. Diese Praxis, die persönlich-egoistische Momente in das politische Walten hineintrug, mußte naturgemäß einen mächtigen Ansporn zum Ausbau der politischen Kampf- organisationen bergen. Aber sie bereitete nicht nur einer strafferen Organisation der politischen Maschinen den Bo- den, sie ebnete auch das Feld, auf dem die Ausbildung des Boßsystems und die selbstsüchtige Mechanisierung des politischen Apparates emporwachsen sollten. Die Kurz- fristigkeit der politischen Machterteilung, die von der Unionsverfassung und noch mehr von den Verfassungen der Einzelstaaten vorgesehen ist, führte zugleich dazu, daß die Vervollkommnung der Parteimaschinen nicht der Regierungsgewalt zugute kam. Immer klarer offenbarte sich im Lauf der Jahrzehnte die merkwürdige Erschei- nung, daß die Wucht der politischen Leidenschaft dazu neigte, ihre fruchtbare Kraft viel mehr auf die Gewinnung

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der Regierung als auf deren Ausübung zu konzentrieren. Der Kampf um politische Überzeugungen sank zu einem Ringen um die Macht herab : und war die Macht errungen, dann ließ das Verlangen nach ihrer schleunigen Aus- nützung und die Sorge um ihre Behauptung die Ideale ver- gessen, unter denen man in den Kampf gezogen war.

Mit den siebziger Jahren, nach der ,, Rekonstruktion" der Union, tritt ein neues Element, das bald lawinenartig anschwellen sollte, in das Leben der Nation. Der Übergang vom Agrarstaat zum Industriestaat bereitet sich vor. Mit ihm beginnt eine Neuorganisation des Geschäftslebens, die von Anfang an dem Großbetrieb zusteuert. Entscheiden- den Einfluß und nationale Breite erlangt diese Strömung nach der großen Wirtschaftskrise von 1893. Sie wird das Signal zum Aufruf aller Kräfte und ihr Ziel ist zunächst der Aufbau einer Industrie, die die Union vom Weltmarkt unabhängig machen sollte. Der Elan, mit dem hinter den Mauern des Hochzolles dieses Industriegebäude mit einer fast magischen Tatkraft aufgerichtet wurde, hat etwas Im- ponierendes, das immer wieder die europäische Einbil- dungskraft in Schwingungen versetzt. Denn hier feierte das Zauberwort modernen Wirtschaftskampfes, das Zau- berwort Organisation seine höchsten Triumphe.

Bald aber sollte sich dabei zeigen, daß die Praxis der Regierung mit diesem Eiltempo der Entwicklung nicht Schritt zu halten vermochte. Zum ersten Male trat es klar zutage, daß das retrospektive Regierungssystem, das Re- gierungssystem, das sein Ziel darin sieht, entstandene Miß- stände zu verringern und prophylaktische Arbeit unbewußt vom Arbeitsprogramme streicht, nicht immer ausreichen kann. Man sah sich der Gefahr des Zuspätkommens, der amerikanische Staatsmänner früher stets zu entgehen ver- standen, gegenüber gestellt. Und zum ersten Male er- wies sich jenes Dogma von der Verteilung der Gewalten,

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das den Schöpfern der amerikanischen Verfassung in ihrer Furcht vor den Gespenstern der Pöbelherrschaft und der Autokratie vorgeschwebt hatte, als ein Hindernis. Die Drei- teilung der Macht unter dem Präsidenten, dem Kongreß und dem Bundesgerichtshof war der in so kurzer Frist gewaltig angewachsenen Macht des plutokratisch organi- sierten Kapitals nicht gewachsen. Das Prinzip der Zen- tralisierung in der Geschäftswelt zeigte sich dem Regie- rungsprinzip der Dezentralisierung überlegen. Die Ab- hängigkeit von einer Parteimaschine, durch die die Exe- kutive den Weg zur Macht gefunden hatte, ward zu einer Fessel, die mit der bisher üblichen politischen Praxis nicht abgestreift werden konnte. Die Arbeit der Parteimaschinen hatte sich immer enger mit dem Boßsystem verknüpft. Und über diese Brücke der reinen Geschäftspolitik führte der Weg in die offenen Arme der mächtigen Industrie- und Handelskombinationen, die heute das wirtschaftliche Leben der ganzen Nation bestimmen. Trotz aller konsti- tutionellen Blitzableiter sah Amerika j enes Gewitter herauf- ziehen, vor dem die Gründer des Staates ihre Nachkommen zu schützen gesucht hatten. Das Gespenst der Autokratie gewann plötzlich ein Leben, das dadurch nicht weniger be- ängstigend wurde, daß aus einer Autokratie eines einzel- nen die Autokratie einer kleinen durch Interessengemein- schaften verbündeten Gruppe geworden war.

Hätte diese Gruppe ihren Einfluß mit staatsmännischer Mäßigung zur Geltung gebracht, wäre der Übergangs- prozeß, vor dem Amerika heute steht, weniger gewaltsam geworden. Aber jede Macht, die zugleich mit dem Bewußt- sein ihrer Stärke der Verantwortung von der Öffent- lichkeit entrückt ist, neigt dazu, die Intensität ihrer Ein- wirkung unausgesetzt zu steigern. Das geschah; und im Vertrauen auf die eigene gute Sache geschah es mit jenem Ungestüm, der schon im ersten Anlauf die Schranken der

Zweckmäßigkeit durchbricht. Den Nachkommen jener Männer, die eine feindselige Wildnis in eine Heimat ver- wandelten, eignet noch heute jener weltenversetzende Optimismus, der eine Überschätzung der eigenen Kraft nicht kennt. Und es war auch vielleicht weniger eine Über- schätzung als eine Übersteigerung der eigenen Kraft, die in dieser hastigen wirtschaftlichen Neuordnung die Organi- sation überorganisierte. Die vollbrachte Arbeitsleistung war so gewaltig, daß ihre Schatten sich über das ganze nationale Leben erstreckten. Die Monopolisierung des Ka- pitals bestimmte die Entwicklungsmöglichkeit des Indi- viduums. In dem Maße, in dem diese Abhängigkeit sich verschärfte, wuchs die Tiefe der Wirkung. Sie griff über eine Monopolisierung der materiellen Daseinsmöglich- keiten hinaus und beschwor den Ansturm jener morali- schen Kräfte herauf, die hinter der Schlachtlinie des wirt- schaftlichen Kampfes die Impulse eines Volkes bestim- men. Die Größe der Gefahr beschleunigte deren Erkennt- nis. Eine Zeitlang konnte der Glanz des wirtschaftlichen Aufschwunges das Auge blenden. Aber als die gepanzerte Faust des überorganisierten Kapitals immer härter in die Lebensbedingungen der Allgemeinheit eingriff, begann man zu erkennen, daß man im Begriffe stand, die demo- kratische Selbstregierung gegen eine Art plutokratischer Oligarchie einzutauschen.

Schon McKinley sah in seinen letzten Lebenszeiten diese Wolke heraufziehen. An der Spitze der Regierung blies später Roosevelt Alarm. Er blieb dem Lande manches schuldig, der winkende Ruhm eines ,, praktischen Poli- tikers" blendete seine sonst so scharf en Augen. Jahre eines nur halb erfolgreichen Ringens mochten sein stürmisches Temperament gebändigt haben: und in einer Stunde, da nur ein „Alles oder Nichts" heilsam werden konnte, ließ er sich Schritt um Schritt zu dem Verlangen treiben, seinen

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Ehrgeiz auf ,, realisierbare" Kompromisse zu richten. ,,But I want to get something through" diese Antwort, die er dem fortschritthchen Senator La Follette immer wieder gab, wenn ihm durchgreifende Maßnahmen (deren Notwendigkeit er mit offenem Sinn würdigte) vorgeschla- gen wurden, blieb für die letzten Präsidenten] ahre des frü- heren Götzenzertrümmerers charakteristisch. Roosevelt erkannte die Tatsache der Gefahr besser als ihre Trag- weite. Ihr Umfang begann sich ihm erst dann zu enthüllen, als er die vereinzelten schüchternen Oppositionsversuche gegen die Trusts wieder aufnahm. Sein Versuch, sie zu einem stürmischen Gewaltangriff zu machen, wurde schnell zum Stehen gebracht. Es zeigte sich, daß der Einfluß der organisierten Plutokratie der Regierungsgewalt über den Kopf gewachsen war. Roosevelts Kampf gegen die Trusts mußte erlahmen. Statt gegen die Wurzeln des Übels hatte er seine Waffen nur gegen deren schlimmsten Auswüchse gerichtet. Und sie mußten versagen, weil Kongreß, Staats- gerichtshof und vor allem die eigene Partei unter der Sug- gestion der großen Organisationen beharrten. Dem fern- stehenden Beobachter erscheint heute die Macht jener Widerstände, die Roosevelt in die seinem Wesen unge- wohnte Welt der Kompromisse trieben, fast wie eine gün- stige Fügung des amerikanischen Schicksals. Theodore Roosevelt ward die Aufgabe, die Allgemeinheit aufzu- rütteln. Er wurde einer der segensreichsten Faktoren in der Erweckung des Volkes aus einer Lethargie, die ge- fährlicher war als freimütige Unzufriedenheit. Die ärm- lichen Erfolge, die er in seinem Kampfe gegen die Aus- wüchse des Trustwesens erntete, wurden indirekt frucht- barer als die volle Verwirklichung seiner Absichten es ge- worden wäre. Die Ohnmacht der Regierung trat offen zu- tage. Das Taftsche Regime tat ein übriges, indem es die wenig beneidenswerte Lage der Exekutive noch unter-

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strich. Die Lage hatte sich so zugespitzt, daß nur ein Appell an die höchsten Mächte der Demokratie Hilfe verheißen konnte. Es war die Hilfe durch das Volk.

Der alte Grundsatz der Souveränität des Volkes, das Allerheiligste amerikanischer Überlieferung, schien be- droht, ja fast schon aufgehoben. Er war schon im Laufe der letzten Jahrzehnte unter dem Drucke einer zum Sche- matismus gewordenen legislativen Praxis einer Art Starr- krampf verfallen. Behutsame Hände hatten dies demo- kratische Heiligenbild aus dem Reiche der lebendigen Wirk- lichkeiten längst in den Schrein der Nationalideale über- führt. Hier wurde es am 4. Juli und bei anderen festlichen Anlässen dem Volke noch gezeigt. Und in Stunden patrio- tischer Weihe bezeugte ihm Amerika freudig und stolz eine Ehrfurcht, deren Widerhall bisweilen, in Augen- blicken nationaler Erbauung, den schlummernden Schutz- patron seinen Kyffhäuserträumen zu entreißen schien. Aber das Mysterium sollte doch Wirklichkeit werden. Um die Inbrunst dieses Vorganges zu verstehen, muß man sich klarmachen, daß in der amerikanischen Union National- gefühl und demokratisches Fühlen identisch sind. Die wirklich zu einer kraftvollen ,, moralischen Energie" aus- gebildete Vaterlandsfreudigkeit Amerikas, die als ein bis- weilen latentes, aber stets tatbereites Imponderabilium die Impulse der Volksseele beherrscht, ließ die Erkenntnis der Lage zu einer tiefgreifenden Aufrüttelung der Masse werden. Das war nicht ein abstraktes Prinzip oder eine blutlose theoretische Formel, die in Gefahr schien: das war das heilige Erbe, für das die Väter ihr Blut verpfändet hatten, das war der Quell, aus dem das Amerikanertum den Stolz und das zur Arbeit und zu Taten stählende Selbst- bewußtsein schöpft. In den Visionen der Patrioten begann das Schreckbild einer ,, Freiheit" aufzutauchen, die von sorgsamen und gewissenhaften Kellermeistern destilliert,

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auf Flaschen gezogen und mit routinierter Fachkenntnis kühl und trocken gelagert wird. Es genügte, um eine Na- tion zu mobilisieren, die gewohnt war, nach eigenem Wil- len den Weg zum Quell zu gehen.

Aber auf den ausgefahrenen Geleisen der bisherigen politischen Gepflogenheiten schien das Ziel nicht mehr er- reichbar. Roosevelts fröhliche Fanfare, der so schnell die sanfte Schamade gefolgt war, hatte das schon gezeigt. Die folgenden Zeiten politischer Ohnmacht gaben der Allge- meinheit genug unfreiwillige Muße, um daheim im stillen Inventur zu machen. Man begann zu prüfen, wie die mit- geführten Überzeugungen und ethischen Instinkte, die tief auch dem stillen Reiche des Gefühlslebens emporstei- gen, die scharfe Luft einer neuen Welt vertrügen, die über Nacht wie durch Zaubergewalt umgeschaffen schien und mit der Vergangenheit kaum noch die Schatten einer ent- fernten Familienähnlichkeit aufwies. In solchen Stunden der Einkehr mag das politische Problem des Tages vor vielen seine Maske abgenommen haben. Die Augen des nationalen Geistes Amerikas richteten sich fragend auf sein Volk. Unter diesem Blicke wurde aus dem, was vielen zuvor nur ein verwaltungstechnisches Problem geschienen haben mochte, jenes gewaltige Fragezeichen, vor dem das Land heute steht. Und jenseits der Tagesfragen aktiver politischer Verwaltung ersteht die Aufgabe, im Angesicht einer neuen Lebensordnung den ganzen Umkreis ameri- kanischer Kulturideale einer Revision zu unterziehen.

In der sozialen Geschichte der Union bestimmen zwei Ideale in seltsamer Verknüpfung den Kulturwillen der Nation. Beide entwuchsen dem in der neuen Welt frucht- bar gewordenen Boden des Calvinismus. Von der Gleich- heit aller Seelen vor Gott, die Amerikas erste Versuche einer

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staatsähnlichen sozialen Gliederung von Calvin übernah- men, war nur ein durch die Umstände der Kolonisations- arbeit gebotener Schritt zum religiösen und zum politischen Individualismus. Ihn zwang das republikanische Staatsideal zur Ehe mit den Theorien der Demokratie, die aus den Ver- hältnissen folgerecht emporwuchsen. Überträgt man diese Tendenzen auf eine moderne Gesellschaftsordnung, die im Zeichen der Großorganisation ihre höchste Leistungsfähig- keit sucht, so zeigt sich bald, daß die neue Ordnung das demokratische Ideal zwar aufnimmt, aber dem radikalen Individualismus des älteren Amerika keinen Raum mehr gewähren kann. Dieser alte Individualismus war ein etwas ungewiß umgrenzter Sammelbegriff, aber Grundlage und Nährboden jener Willensimpulse, die in Tagen der Einzel- wirtschaft die Pioniere Amerikas mit jener prachtvollen Energie sättigten, ohne die das heldische Epos der Erschlie- ßung eines neuen Weltteils niemals in den unverlierbaren Besitz der Menschheit übergegangen wäre. Solange dies individualistische Ideal gleichsam ein Nutzwert war, der durch tägliche Anwendung vor der Gefahr bewahrt blieb, theoretisch zu Ende gedacht zu werden, konnte sein Bünd- nis mit der demokratischen Idee ohne Mißklänge bleiben. Der Verflechtung dieser wesensverschiedenen Lebensten- denzen entsprossen in buntem Wechselspiel treibende Kräfte, die auf eine gewisse, nicht kurze Zeitspanne das Tempo des sozialen und politischen Fortschrittes heil- sam fördern konnten. Aber die neuen sozialen Umfor- mungen mußten das demokratische Denken Amerikas zu einer Revision jenes alten Ideals zwingen, das einem Mi- nimum der Regierungsorganisation zustrebte. Die anar- chischen Elemente, die in jedem konsequent zu Ende ver- folgten Individualismus verborgen liegen, mußten dabei zutage treten und ihre praktischen Unzuträglichkeiten enthüllen. Das war auch schon früher geschehen, wenn

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immer radikale Individualisten es versuchten, ihre Ge- dankengänge als Bausteine einer Weltanschauung zu Wort zu bringen. Noch in den dreißiger Jahren mochten beschauliche Gemüter in den wundervollen Betrachtungen Thoreaus Fundamente suchen, auf denen sich eine Lebens- philosophie aufbauen ließ, nach der sich zur Not leben ließ, ohne darum gleich Eremit oder aus Liebe zum All anti- sozial zu werden. ,, Alleinsein ist Weisheit, Alleinsein ist Glück, die Gesellschaft macht uns heutzutage niederge- drückt, hoffnungslos, Alleinsein ist der Himmel" schrieb Emerson noch im Jahre 1835. Allein inmitten des werk- tätigen Lebens der Gegenwart und inmitten eines Wirt- schaftssystems, das auf dem Wege des Zusammenschlus- ses der Arbeitsmöglichkeiten weit fortgeschritten ist,bleibt mit einer folgerichtigen Verwirklichung individualistischer Ideale nicht viel zu erreichen. Sie führen innerhalb der heutigen Wirtschaftsordnung in gerader Linie zur Brach- legung der individuellen Leistungskraft. Mit der Negation der Gesellschaft ist nichts gebessert. Die Genüsse des Al- leinseins sind nur einzelnen philosophischen Gemütern er- reichbar, die der Notwendigkeit des wirtschaftlichen Le- benskampfes entrückt sind. Das ist eine verschwindende Minorität: und die Aufstellung eines Ideals, das notge- drungen nur einer verschwindenden Minorität zugänglich bleiben muß, wäre eine Verneinung demokratischen Den- kens. Einer Vielheit von Menschen, die durch die Bande der Notwendigkeit und des Gefühls zu einer größeren Ge- meinschaft, zu der eines Volkes und einer Nation zusam- mengeführt werden, muß jede Spielart dieser individua- listischen Lehren zur Negation ihres Daseins werden. Ame- rika mußte beginnen, sein altes individualistisches Ideal umzuformen und soziabel zu machen. Unbewußt mochte dieser Prozeß einsetzen, aber darum nicht mit geringerer Entschlossenheit. Erst allmählich nimmt er den Charakter

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bewußten Wollens an. Schon Walt Whitman, um eine all- gemein sichtbare Etappe dieses Weges herauszugreifen, bereichert mit der rhapsodischen Intuition des Sehers das individualistische Ideal Amerikas um das Attribut der Ka- meradschaft. Sein poetisch verklärtes Lebensziel wird es, nahe an der ,, großen Heerstraße** zu wohnen und ,, allen Menschen Freund zu sein". Und als er sagte: ,,Ich will nichts annehmen, was nicht alle zu gleichen Bedingungen erhalten können", gab er nur die neuere Variante jenes demokratischen Stolzes, der einst Lowell auf eine Bemer- kung über die Überlegenheit der weißen Rasse erwidern ließ: ,,Kein Gentleman kann ein Vorrecht annehmen, das anderen unzugänglich bleibt.**

Dem heutigen Amerika fällt die Aufgabe zu, die an- gebahnte Umwandlung seines individualistischen Ideals zu vollenden. Es wird eine Form erhalten müssen, in der es sich den erweiterten demokratischen Gefühlskreisen ein- fügt. Denn die neue Demokratie schickt sich an, ihre alten Vorstellungen vom Wirkungsfeld einer Regierung vom Grund auf zu revidieren. Die Notwendigkeit ist gekommen, das Aufsichtsrecht der Staatsgewalt auf Gebiete auszu- dehnen, die dem älteren Amerika als ein unantastbares Allerheiligstes des Individuums galten. Wo früher Recht der Regierung aufhörte, werden morgen ihre folgenreich- sten Pflichten beginnen. Die Übernahme dieser Pflichten wird in der Praxis unwillkürlich eine Vergrößerung der Machtbefugnisse mit sich bringen. Der neuen Organisation des Wirtschaftslebens muß eine neue Organisation des Staatslebens folgen : und ihr eine Erneuerung der gesam- ten Kulturideale.

Wie schnell es der Nation gelingen wird, über diesen Wendepunkt hinauszukommen, vermag heute niemand vorauszusehen. Harte und geräuschvolle politische Kämpfe werden dem Lande vielleicht nicht erspart bleiben. Und

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ein stilleres, geistigeres Ringen wird hinter der politischen Arena den Waffenlärm begleiten. Die Geschichte Amerikas bietet keine Analogie für diese Duplizität eines kulturellen und politischen Kampfes. Zum erstenmal fällt in der Ent- wicklung des Landes eine schroffe politische Wegbiegung mit einer Neuorientierung des ganzen Kulturgewissens zu- sammen. Eine über Nacht emporgetauchte neueWirtschaf ts- ordnung kreuzt eine in stiller Sammlung sich rüstende ethische Strömung, die ihre letzten Ziele noch nicht klar ab- messen konnte. Und noch ehe ihre Kräfte reifen und sich ordnen konnten, werden sie zu einem Kampfe aufgerufen, den eine jäh emporgetauchte äußere Notwendigkeit ihr auf- zwingt. Aber das Ende dieses Kampfes ist kaum zweifelhaft. Noch immer, wenn in der Heimat Washingtons und Lin- colns ethische Gewalten sich zum Kampfe aufrafften, wuß- ten sie den Weg zum Siege zu finden ; und ihre Schuld war es nie, wenn mit der Stunde, da sie nach vollbrachtem Werke zu stilleren Pflichten in die Heimat zurückkehrten, manche der eroberten köstlichen Schätze wieder vergeu- det und verpraßt wurden. Aber die ferneren Ziele, die nach dem jetzt einsetzenden Ringen das Fühlen des Volkes, die ,, moralische Energie" der Union sich stellen wird, ver- hüllen noch die Nebel einer ungeklärten Zukunft. Für die Politik liegt der Weg vorgezeichnet. Der staatsmännischen Kraft harrt eine Überfülle der Aufgaben, die jeder neue Tag multipliziert. Aber welche Einwirkung die unaus- bleibliche politische Neuordnung auf die Kulturideale des Landes ausüben wird, ist heute noch nicht abzumessen. Einer individualistischen Carlyleschen Heldenverehrung versperrt das auf fester ethischer Grundlage ruhende de- mokratische Fühlen den Weg. Die Gefahren der Demo- kratie, die Neigung zu einer nivellierenden Uniformierung des Denkens und Strebens, wird heute auch in der neuen Welt nicht mehr verkannt. Und man fühlt auch, daß mit

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der erlahmenden Triebkraft des individualistischen Den- kens der Kultur ein heilsames Korrelat der konsequent demokratischen Weltbetrachtung verloren geht. Aber wie diese Lücke gefüllt und wie der Gefahr der Nivellierung be- gegnet werden soll, darauf fehlt einstweilen noch die Ant- wort. Das Schlagwort von einer ,, Vergeistigung der Demo- kratie" ist zwar gefallen, allein der Sinn, der hinter diesem Worte Versteck spielt, hat sich bis heute einer klaren Deut- barkeit entzogen. Und so steht an Stelle eines klaren Ideals noch jener etwas verschwommene, beinahe fata- listisch gefärbte Optimismus, dem einst Walt Whitman Ausdruck lieh, als er sagte : ,, Bringt große Männer hervor, der Rest wird sich finden."

Einige Worte noch über den Mann, den die Union zum Führer im jetzigen Kampfe erwählte. Nicht des Zufalls Fügung brachte ihm, dem ,, Professor", den Ruf ins Weiße Haus. Die biographischen Daten seines Lebens enthüllen dem oberflächlichen Blicke freilich erst spät die Wegwei- ser, die von Woodrow Wilsons virginischer Heimat oder von seinem Auditorium in der Princeton-Universität nach Washington deuten. Nach den Mitteilungen seines Bio- graphen William Bayard Hale wurde Thomas Woodrow Wilson am 28. Dezember 1856 zu Staunton in Virginien geboren. Daß durch seine väterlichen Ahnen schottisches, durch seine Mutter irisches Blut in seinen Adern sich mischten, daß unter seinen Vorfahren der geistliche Beruf mit dem des Publizisten und Redakteurs alternierten und daß sein Vater als einer der bedeutsamsten Kanzelredner und presbyterianischen Geistlichen des Südens hohes An- sehen genoß alles das sind Umstände, die auf Wesen und Charakter Woodrow Wilsons einen Einfluß geübt ha- ben mögen : allein ihre Kenntnis erklärt noch nicht das gei-

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stige Profil des Mannes. Sein Vater v/ar sein erster Lehrer ; als Siebzehnjährigen schickte man den Jungen ins David- son College im Mecklenburg County. Im September 1875 bezieht Woodrow als junger Student die Princeton-Uni- versität, damals noch das , »College of New Jersey": und hier fällt die Entscheidung über seine Lebensrichtung.

In der Bücherei kommt ihm als erstes Buch ein Jahr- gang des bekannten Gentlemans Magazine in die Hände. Es ist der Jahrgang 1874. Wer diesen Band der einst be- rühmten Zeitschrift aufschlägt, wird hier jene parlamen- tarische Berichterstattung wieder aufgenommen finden, die einst das Entzücken des guten alten Dr. Johnson bil- dete. Wilson blätterte: und er stieß auf jene meisterhaften, farbigen, mit überlegenem Geist geschriebenen kleinen Aufsätze, die als klassische Musterbeispiele einer geist- reichen parlamentarischen Berichterstattung zu einer in- ternationalen Fibel der Parlaments Journalistik gemacht werden sollten. Der Schriftsteller, der diese kleinen Meister- stücke der Parlamentsreportage verfaßte und allerdings über Modelle wie Gladstone, Disraeli, John Bright und Granville verfügte zeichnete als ,, member for the Chil- tern hundred". Es war Henry W. Lucy, der spätere Er- finder des ,,Toby, M. P." im Punch: damals aber noch in der Vollkraft seiner journalistischen Begabung. Woo- drow Wilson hat später erklärt, daß diese bunten, leben- sprühenden temperamentvollen kleinen Aufsätze, die wie in einem Mikroskomos die ganze Elektrizität der damalige Unterhauskämpfe spiegelten, ihn mehr als alle anderen Umstände den Entschluß fassen ließen, das Wirken für die Öffentlichkeit zum Ziel und zum Inhalt seines Lebens zu machen.

Die kleine Episode mag angeführt sein, weil sie die außeramerikanische Legende korrigieren kann, nach der in Woodrow Wilson ein weitabgewandter Akademiker un-

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Versehens in das Kampf getöse der Politik geraten sei. Von Anbeginn gilt sein Streben und Wirken dem späteren Ein- tritt in das öffentliche Leben. Noch ehe er die Universität verläßt, hat er seinem Namen Beachtung erobert. Im Som- mer 1879 erscheint in den Spalten der ernstesten und an- gesehensten Monatsschrift des damaligen Amerika, in der International Review, eine Arbeit des zweiundzwanzig- j ährigen Studenten. Sie führt den Titel ,, Kabinettsregie- rung in den Vereinigten Staaten": und hier sind, bereits vor vierunddreißig Jahren, jene politischen Reformforde- rungen aufgestellt, die heute Gemeingut des amerikani- schen Denkens sind. Schon damals legte Wilson die Finger auf Wunden, deren Gefährlichkeit erst spätere Jahre er- weisen sollten und deren Heilung heute im Mittelpunkt des politischen Ringens steht. Es ist das berüchtigte Klau- sursystem des gesetzgeberischen Wirkens, jene Konzen- trierung aller entscheidenden legislativen Einflüsse auf kleine Kommissionen, die hinter verschlossenen Türen walten und in der Unpersönlichkeit ihrer Beschlußfassung sich jeder unmittelbaren Verantwortung vor der Öffent- lichkeit entziehen. Es sind die Gefahrquellen eines Systems, das jede freimütige Diskussion in offener Parlaments- sitzung ausschaltet und damit die politische Teilnahme des Volkes einschläfert ; und entschlossen wendet sich der junge Kritiker gegen jene Atmosphäre der Heimlichkeit, die das legislative Wirken Amerikas erfüllt. Die Summe der Ein- wände, die damals der dreiundzwanzigj ährige Student mit der klaren Sachlichkeit eines erstaunlich reifen Kritikers zieht, gleicht genau der Summe der später zutage treten- den Schäden. Sein erster Angriff richtet sich sofort auf das Zentrum jener Legislaturmethoden, die der Ursprung aller jener lawinenartig anwachsenden Mißstände sind, die heute einen radikalen Eingriff fordern. Er überschaut die Trag- weite der Mängel. Und er beweist sie nicht, wie seine Ju-

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gend das gerechtfertigt hätte, mit der Waffe einer einseitig aggressiven Polemik ; er erörtert mit der ruhigen Sicherheit einer spezifisch staatsmännischen Intelligenz, die allen Konsequenzen der Verhältnisse klar ins Auge sieht. Schon damals empfiehlt er der legislativen Praxis seines Landes eine stärkere Anlehnung an die Parlamentsmethoden Eng- lands, die durch die Herausarbeitung der Parteiverantwort- lichkeit und den engeren Kontakt zwischen Exekutive und Legislative jene Schäden fernhielten, mit denen die Union heute abzurechnen hat.

Die von dem Zweiundzwanzig jährigen in jenem Auf- satz angedeuteten Grundsätze durchziehen fortan Wilsons Wirken. Sie bleiben Grundriß seiner Überzeugungen; sie werden ausgebaut, erweitert, vertieft und durch wachsende Erfahrung und wachsendes Wissen bereichert, aber in ih- rem Wesen bleiben sie unangetastet. Mit dem Ziele einer Regierungsorganisation, deren Konstruktion eine stete und unmittelbare Einwirkung des Volkswillens gewährleisten soll, wächst der Bau seiner Anschauungen organisch em- por. Alle Erfahrungen und Beobachtungen des Lebens und Denkens werden ungezwungen zu Bestätigungen und fü- gen sich als neue Bauglieder organisch dem einst mit jugendlicher Intuition entworfenen System ein.

Neben diesem folgerichtigen Wachstum der Anschau- ungen, die später auch in der Praxis die Feuerprobe beste- hen sollten, sinken die äußeren Etappen von Wilsons Le- bensgang zu bescheidenerem Einfluß herab. Er beendet seine juristischen Studien, und sofort entscheidet er sich für jenen Weg, der ihn nach seinem Glauben am schnell- sten seinem eigentlichen Ziele zuführen würde : dem öffent- lichen Wirken. Es ist der gleiche Weg, auf dem Abraham Lincoln in die Geschichte seines Vaterlandes trat : der Be- ruf des Rechtsanwaltes. In Atlanta läßt sich der junge Jurist nieder. Es sollte sich bald zeigen, daß dieser Weg

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einem jungen Manne, der in der fremden Stadt ohne Be- ziehungen und mit irdischen Schätzen nicht überbürdet war, kaum gangbar sein konnte. Am Fenster eines Zim- mers, im zweiten Stockwerk, in der Marietta Street, ward kunstvoll das Firmenschild befestigt, das die rechtsbedürf- tigen Bürger Atlantas anlocken sollte. Aber das Schild be- wies nicht die magnetischen Gewalten, die der j unge Rechts- anwalt von ihm erhofft hatte. Kein Mensch bekümmerte sich um den tatendurstigen Rechtskundigen. Zur Weiterfüh- rung seiner staatsrechtlichen Studien blieb ihm mehr Zeit als ihm lieb war. Aber um staatsrechtliche Studien zu be- treiben, braucht man nicht in Atlanta hinter einem Firmen- schild zu sitzen. Als nach achtzehn Monaten der erträumte Ansturm der Klienten noch immer nicht beginnen wollte, stellte Woodrow Wilson mit einem entschlossenen Ruck das Steuer seines Lebens auf einen anderen Kurs. Das Schild in der Marietta Street ward eines Morgens abge- schraubt, das Bureau geschlossen, der Koffer gepackt: und als achtundzwanzigj ähriger Mann kehrt Wilson zur Universität zurück, um wieder das Leben eines Studenten zu beginnen. Er geht an die Johns Hopkins-Universität und studiert weiter: Staatswissenschaften und Regierungs- philosophie. Noch als Student erscheint, 1885, Woodrow Wilsons erstes Werk. Es ist sein Buch über ,, Kongreß- Regierung" ; und mit einem Schlage macht es ihn bekannt. Noch ehe er Zeit findet, sich zum Doktorexamen zu rüsten, kommen von den Hochschulen die Berufungen. In dem neu gegründeten Bryn Mawr College für Frauen die Spötter nannten es damals ,, Johanna Hopkins** nahm er den Lehrstuhl für Geschichte und politische Wirtschafts- lehre an. Noch im Sommer des gleichen Jahres führt er seine Braut heim : und das Leben eines erfolgreichen aka- demischen Lehrers beginnt. Bereits fünf Jahre später er- geht an ihn der Ruf der Princeton-Universität, die ihm

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ihren Lehrstuhl für Politik und Rechtskunde einräumt. Und 1902 wird Woodrow Wilson Präsident von Princeton. Als er acht Jahre später dies Amt niederlegt, geschieht es nur, um als Gouverneur an die Spitze des Staates New Jersey zu treten. Die Gelegenheit zur praktischen Ver- wirklichung der Überzeugungen, die ein Leben des Lernens und Lehrens gereift hatten, war gekommen. Als ein eng- lischer Journalist ihm damals erstaunt die Frage vorlegte, welche Gründe ihn nur bewegen könnten, die angesehene Stellung eines im Lande berühmten Akademikers mit der nicht sonderlich hochgeachteten Tätigkeit eines Berufs- politikers zu vertauschen, konnte Woodrow Wilson lä- chelnd erwidern: „Ich habe meine Schüler so lange ge- lehrt, wie es gemacht werden könnte, daß es Zeit wird, ihnen zu zeigen, daß es gemacht werden kann." Das Schicksal hatte ihn zu dem Ziele geführt, das er als Neun- zehnjähriger erwählte, als er die Probleme des Regierens zu seiner Lebensaufgabe erkor.

Daß die Persönlichkeit Wilsons, die bis vor einigen Jah- ren abseits der politischen Praxis verharrt war, so plötzlich in den Vordergrund der öffentlichen Meinung Amerikas trat, erklärt sich nicht allein durch den starken Einfluß, der von seinen Schriften ausging, und auch nicht durch die große Zahl der Männer, die einst als Studenten den Ein- fluß seiner Persönlichkeit empfingen und den Weckruf zu einer politischen Erneuerung, der seine Lehrtätigkeit durchklang, ins Leben hinaustrugen. Es waren zwei einan- der schnell folgende Ereignisse, die plötzlich die Gestalt dieses Mannes in den Brennpunkt des öffentlichen Inter- esses rückten : Woodrow Wilsons Verzicht auf die weitere Präsidentschaft der Princeton-Universität und sein Wir- ken als Staatsoberhaupt von New Jersey.

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Von Wilsons Rücktritt vom Präsidium in Princeton hat Haie eine aktenmäßige Darstellung überliefert. Sein Abschied war die Handlung eines Mannes, der eine Brach- legung seiner Ideale nicht hinnehmen wollte. Was sich in Princeton abspielte, hat manche Berührungspunkte mit dem heutigen Kampfe der Überzeugungen im ganzen Lande. Es war der Kampf um den Sieg eines demo- kratischen Ideals über Mächte der Plutokratie; aber in Princeton nahm das Ringen die reine Form eines Kampfes um ethische Grundsätze an. In den Jahren seiner Präsi- dentschaft hatte Woodrow Wilson die Organisation des Princeton College von Grund auf reformiert; nun blieb der Aufbau der sogenannten Graduate-school einer durch- greifenden Revision zu unterziehen. Princeton wurde seit jeher von der Jugend der reicheren Stände bevorzugt. Der draußen im Leben hervortretende Zug zu einer üppigen Lebenshaltung mußte naturgemäß mit der Zeit auch in der Studentenschaft sein Echo finden. Aristokratische Tenden- zen begannen sich geltend zu machen. Sie drohten einen Keil in die Einheit der Jugend zu treiben. Eine Reihe von Klubs waren erstanden, durch die sich eine Hälfte der Stu- dentenschaft — vorwiegend Söhne vermögender Eltern von den anderen abschlössen. Klassengegensätze began- nen hervorzutreten, wurden bestärkt und gefährdeten das demokratische Ideal einer alle gleichmäßig umfassenden Kameradschaft. Wilsons Reformpläne steuerten einer Ver- stärkung des persönlichen Kontaktes zwischen Lehrer und Schülern und einer Erhöhung des kameradschaftlichen Zu- sammengehörigkeitsgefühls unter den Studenten zu. Der Konfliktsstoff war gegeben. Die einzelnen Phasen dieses Kampfes, der sehr leidenschaftliche und dramatische For- men annahm, können hier nicht nachgezeichnet werden. Ideale der Demokratie und Ideale plutokratischen Aristo- kratentums standen gegeneinander. Die Macht des Geldes

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siegte. In entscheidender Stunde fiel der Universität ein Zwölfmillionenlegat zu ; nach den Bestimmungen des ver- storbenen Stifters sollte die Summe in einer Weise verwandt werden, in der Wilson eine Stärkung und Verschärfung der Klassengegensätze sehen mußte. Die amerikanischen Hochschulen sind in ihrer Erhaltung auf Schenkungen an- gewiesen. Die Schwierigkeiten der Geldbeschaffung sind oft gewaltig ; sie machen es begreiflich, daß der Aufsichtsrat von Princeton, der Wilsons Absichten bis zu diesem Augen- blicke energisch gestützt hatte, zögerte und schließlich vor der Höhe der Summe kapitulierte.

Allein die ungewöhnlichen Umstände, unter denen die- ser Kampf der Überzeugungen geführt und entschieden wurde, hatten die Aufmerksamkeit des Landes auf das sonst so stille Princeton gelenkt. Der leidenschaftliche Frei- mut, mit dem Princetons Präsident die Sache eines de- mokratischen, amerikanischen Erziehungsideals geführt hatte, fand im Lande sein Echo. Die Antwort war die Wahl Woodrow Wilsons zum Gouverneur des Staates.

Wilsons Tätigkeit als Gouverneur New Yerseys bleibt eines der interessantesten Kapitel amerikanischer Ver- waltungsgeschichte. In kurzer Frist war eine neue Ge- setzgebung eingeführt, die dem seit Jahrzehnten von den Trusts beherrschten Staate die Selbstverwaltung zurück- gab. Und die neue gesetzliche Regelung der Verhältnisse bewährte sich nicht nur in der Praxis, sondern erbrachte auch den Beweis, daß die heute im großen für die ganze Union angestrebte Reform ohne wirtschaftliche Schädi- gungen verwirklicht werden kann. Allein das war nicht das Überraschende der Vorgänge. Das lag in der Sicherheit, mit der hier ein einzelner Mann ein seinen fortschrittlichen I^länen widerstrebendes Parlament dazu brachte, die ein- gebrachten Gesetzentwürfe zu ratifizieren. Der neue Gou- verneur begann seine Amtsführung mit einem Bruch mit

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der alten Tradition, die eine engere Zusammenarbeit der Exekutive mit der Legislative verhinderte. Allem Brauche zuwider erschien der Gouverneur im Parlament, um seine Gesetze in offener Diskussion Punkt um Punkt zu ver- teidigen. Um zu ermessen, was dieses Vorgehen in Ame- rika bedeutete, muß man sich vergegenwärtigen, daß das Prinzip der Teilung der Gewalten im Laufe der Genera- tionen zu einem unangefochtenen Dogma erstarrt war, das dem Präsidenten und dem Gouverneur verbot, mit dem Parlament anders als schriftlich zu verkehren. Gegen die Opposition einer Mehrheit von Volksvertretern wandte Wilson ein schlichtes Allheilmittel an : den unmittelbaren Appell an die Wählermassen. Am Rednerpulte und in den Spalten der Zeitungen kämpfte er für das Programm, zu dessen Durchführung er gewählt worden war. Die öffent- liche Meinung wurde in das Vertrauen des Gouverneurs gezogen. Es gab für die Parlamentarier kein Ausweichen mehr. Die Hoffnung, die den Sonderinteressenten uner- wünschten Gesetzentwürfe unauffällig in den Kommis- sionen beerdigen zu können, war vernichtet. Es mußte Farbe bekannt werden. Im Plenum gegen die Reformen zu stimmen, ward eine mißliche Sache. Die Gesetze erzielten im Parlament Mehrheiten, die den Kennern der Verhält- nisse wie ein Wunder erscheinen mußten. Und dem Gou- verneur blieb es erspart, das Mittel wohlmeinender Nach- hilfe anzuwenden, auf das er bei Beginn des Kampfes offen hingewiesen hatte. Das Mittel, dessen Erwähnung eine so große Zauberwirkung hatte, war beschämend unkompli- ziert. Nur in einem Lande, in dem die Methode der heim- lichen Abmachungen und das Walten hinter verschlosse- nen Türen das Verantwortlichkeitsgefühl der Legislatoren eingeschläfert hatten, konnte diese mild drohende Mah- nung Früchte reifen. Sie lautete einfach: die Namen der Abgeordneten und Senatoren, die die Reformgesetze zu

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Fall zu bringen suchen, werden der Wählerschaft und dem Volk bekannt gegeben.

Wie Woodrow Wilson als Präsident der Union die grö- ßeren Widerstände, die seiner im Senate harren, zu über- winden suchen wird, wird die Zukunft lehren müssen. In diesem größeren und schwereren Kampfe steht er nicht mehr allein. Der Weg zum Erfolg mag mit manchen Teil- niederlagen gepflastert sein. Nur Kurzsicht wird erwarten, daß die kurze Amtszeit eines Präsidenten eine politische Umwandlung vollendet, die nur dann lebensfähig sein kann, wenn sie nicht ruckweise erzwungen wird, sondern allmählich aus der heute noch ungefestigten neuen poli- tischen und wirtschaftlichen Konstellation emporwächst. Die tiefere Bedeutung von Woodrow Wilsons Einzug ins weiße Haus greift über künftige Erfolge und Mißerfolge seiner Amtsführung hinaus. Seine Präsidentschaft bezeugt, daß der Wille zu einer politischen und ethischen Rekon- struktion des nationalen Lebens genügend erstarkt ist, um fortan richtunggebend die Gegenwart auf ihrem ewigen Marsche zur Zukunft zu beeinflussen. Wie oft und wie wirksam machtvolle Widerstände diesen Willen noch hem- men werden, bleibt eine Angelegenheit des flüchtigen po- litischen Alltags. Rückschläge mögen wie weit ihre wirtschaftlichen Folgen im Augenblick auch greifen wer- den — das Tempo verlangsamen : in die alten Bahnen wer- den sie den Lauf der Dinge nie mehr ganz und nie mehr dauernd zurückdrängen.

Das Buch, das hier den deutschen Lesern vorgelegt wird, will als Ausdruck des heutigen politischen Kampfes in den Vereinigten Staaten betrachtet werden. Es sucht keine literarische Bewertung : nicht am Schreibtisch ist es entstanden, es erwuchs aus freier Rede in stürmischen

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Wahlversammlungen. Ihm könnten als Leitwort die Worte voranstehen, die einst Lincoln zu Beginn seines großen Redekampfes mit Douglas sprach: „Ich kümmere mich nicht um die Ausflüchte spitzer Wortspiele. Ich weiß, was ich will, und ich will die Menge darüber nicht im Zweifel lassen."

Wer Woodrow Wilson, den staatsmännischen Denker, den Historiker und den Meister schriftstellerischer Dar- stellungskunst sucht, wird sich mit diesem Buche nicht bescheiden. Er wird in Wilsons Büchern Werke finden, die höchsten geistigen und literarischen Maßstäben gerecht werden. Sein ,, Congressional Government** bietet die mei- sterhafte Kritik des amerikanischen Regierungssystems; den staatsmännischen Forscher wird man in seinem um- fassenden Buche ,,The state'* finden, das jetzt auch, in einer Übertragung von Günther Thomas, deutsch vorliegt ; und in Wilsons großer ,, Geschichte des amerikanischen Volkes'*, wie auch in seiner Washingtonbiographie wird der Leser dem Meister geschichtlicher Darstellungskunst begegnen. Den Schriftsteller und Menschen findet man in der kleinen Sammlung kürzerer Aufsätze, die unter dem Titel ,,Nur Literatur" im gleichen Verlage wie das vorliegende Buch in deutscher Sprache erschienen ist. In der ,, Neuen Frei- heit" aber spricht das neue Amerika von seinem neuen Wollen; und es spricht durch den Mann, den es in auf- gabenreicher Zeit zum Führer bestellte. Die Persönlich- keit dieses Mannes spiegelt sich in der freimütigen, un- theoretischen Form, in der er durch das Volk zum Volke spricht.

Charlottenburg, Juni 1913.

Hans Winand

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Woodrow Wilson: Die neue Freiheit

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Ein Vorwort

Seit dem Wahlfeldzuge habe ich kein Buch geschrieben. Dieses Buch habe ich überhaupt nicht geschrieben. Es ist die Frucht der redaktionellen Geschicklichkeit des Herrn William Bayard Hale, der hier eine Reihe von Ab- schnitten aus meinen Wahlreden zusammengestellt hat.

Und trotzdem ist dieser Band keine Sammlung von Wahlreden. Er erörtert eine Anzahl sehr wichtiger Fragen in der zwanglosen Form der extemporierten Rede. Ich habe den Sätzen und Bemerkungen die Form gelassen, in denen der stenographische Bericht sie aufgezeichnet hat. Ich ver- mied den Versuch, die lässige und oft zur schlichten Um- gangssprache werdende Ausdrucksweise, in der die Worte vom Rednerpult aus fielen, zu verändern, wobei ich hoffte, daß diese Ausführungen vielleicht gerade durch die feh- lende Ausarbeitung und Ausschmückung frischer und un- mittelbarer erscheinen könnten. Sie durften ihren unvor- herbedachten Lauf beibehalten, ungeachtet selbst derWie- derholungen und der Weitschweifigkeiten, denen der ex- temporierende Redner anscheinend unvermeidlich an- heimfällt.

Das Buch ist keine Erörterung programmatischer Maßnahmen. Es ist ein Versuch, dem neuen Geiste un- serer Politik Ausdruck zu leihen und in großen Zügen, die vielleicht in der Einbildungskraft haften bleiben mögen, einen Umriß dessen zu geben, was vollbracht werden muß, wenn wir unserer Politik ihre ganze geistige Kraft und unserem Nationalleben ob nun im Handel, in der In-

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dustrie oder im häuslichen Leben des einzelnen seine Reinheit, seine Selbstachtung und seine ursprüngliche Stärke und Freiheit wiedergeben wollen. Es ist ein Ruf an den Patrioten und an alle, die frei sein wollen. Die neue Freiheit ist nur die wiedererwachte, in die unüberwind- liche Kraft des modernen Amerikas gehüllte alte Freiheit.

Woodrow Wilson.

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Erstes Kapitel Das Alte stürzt

Eine einzige fundamentale Tatsache liegt allen Fragen, die gegenwärtig die innere Politik Amerikas bewegen, zugrunde ; es ist die Tatsache, daß in unserm Lande heute nichts mehr so geschieht wie vor zwanzig Jahren.

Wir sehen eine Neuordnung der Gesellschaft herauf- kommen. Amerika ist nicht mehr, was es vor zwanzig Jahren, ja nicht einmal, was es vor zehn Jahren war. Von Grund auf haben sich unsere wirtschaftlichen Verhältnisse geändert und mit ihnen die Organisation unseres ganzen Lebens. Die alten politischen Formeln stimmen nicht mehr zu unsern heutigen Aufgaben, sie lesen sich wie Doku- mente aus verschollenen Zeiten. Die alten Parteiprogram- me klingen, als gehörten sie einem Jahrhundert an, das die Menschen fast schon vergessen haben. Dinge, die man noch vor einem Jahrzehnt in die Parteiprogramme auf- nahm, würden heute veraltet klingen. Unserer harrt die Notwendigkeit, eine neue soziale Ordnung mit dem Glück und Gedeihen der gesamten großen Bürgermassen in Ein- klang zu bringen; denn wir sind uns bewußt geworden, daß die jetzige Ordnung der Gesellschaft der Wohlfahrt des Durchschnittsbürgers nicht dient. Unendlich vielfältig ist das Leben der Nation geworden. Es konzentriert sich heute nicht mehr auf die Frage nach diesem oder jenem Regierungssystem oder auf die Verteilung von Regierungs- gewalten. Es konzentriert sich auf etwas, wofür eine Re- gierung nur das Werkzeug ist: auf Aufbau und Wirken

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der Gesellschaft selbst. Unsere Entwicklung hat sich so schnell vollzogen und so weit von jenen Grenzlinien ent- fernt, die die alten Auslegungen der Verfassung ihr zo- gen, sie hat diese Grenzen so mannigfach gekreuzt und überschritten, hat so neue Formen der Unternehmung aufgestellt, hat Trusts und mächtige Handelsverbände aufgetürmt und innerhalb dieser Linien ein so mannig- faltiges Leben herausgebildet, das von Kräften erfüllt ist, die über Grenzen unseres Landes hinausgreifen und die Augen der ganzen Welt auf sich ziehen, daß eine neue Nation entstanden zu sein scheint, für die die alten For- meln nicht mehr passen oder eine lebensfähige Auslegung nicht mehr zulassen.

Wir sind in ein Zeitalter getreten, das sich von jedem voraufgehenden sehr unterscheidet. Wir betreiben unsere Arbeit und unsere Geschäfte nicht mehr in der Weise, wie wir das früher zu tun pflegten Handel und Wan- del, die Arbeit in den Fabriken und in den Kontoren, die Formen des Transports und des Verkehrs haben sich ver- wandelt. Es gibt einen Sinn, in dem der einzelne heute verschwindet. In fast allen Teilen unseres Landes arbeiten die Menschen nicht für sich selbst, arbeiten nicht mehr im alten Sinne als Teilhaber, sondern mehr oder minder als Angestellte großer Verbände. Es gab eine Zeit, da Korpo- rationen in unserm geschäftlichen Leben eine sehr unter- geordnete Rolle spielten ; heute spielen sie die Hauptrolle und die meisten Menschen sind ihre Angestellten gewor- den. Man kennt die Umstände, unter denen man als Ange- stellter einer Gesellschaft arbeitet. Niemals hat man Zu- tritt zu jenen, die das Walten der Gesellschaft wirklich be- stimmen. Wenn die Gesellschaft Dinge tut, die sie nicht tun dürfte, hat man keine Stimme, die man dagegen in die Wagschale werfen könnte, man muß gehorchen ; und oft muß man mit tiefem Verdruß an Dingen mitarbeiten, von

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denen man weiß, daß sie den Interessen der Allgemeinheit zuwiderlaufen. Die eigene Individualität wird von der In- dividualität und dem Zweck einer großen Organisation verschlungen.

Während die meisten Menschen so in der Organisation untertauchen, werden allerdings einige wenige zu einer Macht erhoben, die sie als einzelne nicht erlangt haben würden. Diese wenigen kommen durch die großen Orga- nisationen und Verbände, deren Leiter sie sind, in die Lage, in der Beherrschung des Geschäftslebens und in der Bestimmung über das Wohl und Wehe der großen Volks- massen eine bisher nie dagewesene Rolle zu spielen. Sonst und von jeher seit Beginn der Geschichte standen die Menschen als Individuen zueinander in Beziehung. Es gab zwar Familie, Kirche und Staat, Einrichtungen, welche die Menschen zu bestimmten größeren Gemeinschaften zu- sammenschlössen. Allein in ihren gewöhnlichen Daseins- pflichten, in der täglichen Arbeit, im Kreislauf des Alltags, da verkehrten die Menschen frei und unmittelbar mit- einander. Heute weisen die alltäglichen Beziehungen des Menschen in großem Maßstabe auf gewaltige unpersön- liche Geschäftsgruppen und Organisationen und nicht auf andere individuelle Menschen. Das ist nichts anderes als ein neues soziales Zeitalter, eine neue Ära der menschlichen Beziehungen, ein neuer Aufzug im Drama des Lebens.

In diesem neuen Zeitalter gewahren wir, um ein Bei- spiel zu nennen, daß unsere Gesetze über die Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer in vielen Rich- tungen durchaus veraltet und unmöglich sind. Sie waren für eine andere Zeit aufgestellt, deren sich keiner der heute Lebenden noch erinnert; denn sie ist unserm Leben so fern und fremd, daß es vielen von uns schwer würde, sie zu verstehen, wenn man uns von ihr erzählte. Der Arbeit- geber ist heute in der Regel ein Verband oder eine große

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Gesellschaft irgendeiner Art ; der Angestellte ist einer von Hunderten oder Tausenden, die nicht durch einzelne Mei- ster, die sie kennen und zu denen sie persönliche Bezie- hungen haben, sondern durch irgendwelche Agenturen zu- sammengeführt wurden. Die Arbeiter werden massenweise unter gemeinsamer Disziplin einer Fülle spezieller Auf- gaben gegenübergestellt. Sie bedienen gewöhnlich gefähr- liche und mächtige Maschinen, auf deren Reparatur und Erneuerung sie keinen Einfluß haben. Neue Gesetze zu ihrem Schutze, neue Bestimmungen über die Verpflich- tungen ihrer Arbeitgeber und die Unterstützung Arbeits- unfähiger müssen geschaffen werden.

Es ist etwas Neues, Großes und sehr Vielfältiges um diese neuen Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit. Eine neue wirtschaftliche Gemeinschaft ist emporgestie- gen und unser harrt die Aufgabe, diese Fülle neuer Kräfte einander anzupassen. Wir dürfen nicht die Macht der Schwachheit gegenüberstellen. Der Arbeitgeber von heute ist, wie gesagt, gewöhnlich kein einzelnes Individuum, son- dern eine mächtige unpersönliche Vielheit ; in seinen Be- ziehungen zu seinen Arbeitgebern aber ist der Arbeiter nach unsern bestehenden Gesetzen noch immer Individuum. Ar- beiter und Arbeitgeber sind nicht mehr wie in vergangenen Zeiten enge Verbündete. Die meisten unserer Gesetze wur- den in Zeiten ersonnen, da Arbeitgeber und Arbeitnehmer einander noch persönlich kannten, gegenseitig mit ihrem Charakter vertraut waren und als Mensch zu Mensch mit- einander verhandelten. Das ist nicht mehr. Der Arbeiter tritt nicht nur mit jenen, die die höchste Leitung der großen Verbände führen, nicht in Berührung, sondern diese Mög- lichkeit kommt für ihn überhaupt nicht mehr in Frage. Unsere modernen Korporationen beschäftigen Tausende, ja oft Hunderttausende von Leuten. Die einzigen Personen, die man zu sehen bekommt oder mit denen man in Be-

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rührung tritt, sind Direktoren der einzelnen Betriebe oder lokale Vertreter der großen Gesellschaft. Solche Verhält- nisse waren dem Arbeiter jener Zeit, in der unsere Ge- setze entstanden, unbekannt. Ein kleiner Kreis von Ar- beitern, die ihre Arbeitgeber täglich sehen und mit ihnen persönlich verhandeln, ist etwas ganz anderes als eine moderne Arbeitermasse, die im Dienste eines riesenhaften, sich über das ganze Land erstreckenden Unternehmens steht, von dessen Leitern sie sich keine persönliche Vor- stellung mehr machen kann. Und der Unterschied ist sehr tiefgreifend. Einen ,, Verband" kann man ebensowenig sehen, wie man etwa eine Regierung sehen kann. Man- cher Arbeiter hat heute niemals die Männer gesehen, die die Industrie beherrschen, in der er arbeitet. Und ebenso- wenig haben diese den Arbeiter gesehen. Was sie von ihm wissen, steht im Hauptbuch, in Büchern und Briefen, in der Geschäftskorrespondenz und in den Berichten der ver- schiedenen Fabrikdirektoren.

Wir erörtern nicht Mißstände, die einzelne absichtlich schaffen ich glaube nicht, daß es viele Menschen gibt, die das täten , sondern die Mißstände eines Systems. Ich möchte mich ausdrücklich gegen jede Diskussion verwah- ren, die den Anschein erwecken könnte, als gäbe es Grup- pen von Mitbürgern, die es sich zum Ziel setzen, uns zu bedrücken und uns unrecht zu tun. Es mag auch solche Menschen geben. Ich weiß nicht, wie sie ruhig schlafen können. Gott sei Dank, daß sie nicht zahlreich sind. In Wahrheit sind wir alle in ein großes Wirtschaftssystem ver- strickt, das herzlos ist. Der moderne Verband betreibt nicht als Individuum Geschäfte. Wenn wir mit ihm in Berüh- rung kommen, begegnen wir einem unpersönlichen Ele- ment, einem körperlosen Teil der Gesellschaft. Ein mo- derner Verband ist ein Mittel zum Zusammenwirken bei der Leitung eines Unternehmens, das so groß ist, daß kein

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einzelner allein es leiten kann, und das zu finanzieren die Mittel eines einzelnen niemals ausreichen würden. Eine Gesellschaft wird gegründet, diese Gesellschaft gibt einen Prospekt aus, die Gründer wollen eine bestimmte Summe als Aktienkapital aufbringen. Wie erreichen sie das? Sie erheben es von dem großen Publikum, von dem einige Aktien übernehmen. Mit dem Augenblick, da dies ge- schieht, ist die Aktiengesellschaft gegründet. Leute schießen ihr Vermögen ein, kleine Summen oder große Summen. Eine gewisse Anzahl von Leuten wird von den Aktionären zu Direktoren gewählt und die Direktoren wählen einen Vorsitzenden. Dieser Präsident ist das Haupt des Unter- nehmens und die Direktoren sind seine Geschäftsführer. Können nun die von der Aktiengesellschaft beschäftig- ten Arbeiter mit dem Präsidenten und den Direktoren in Verbindung treten? Kann das Publikum mit diesem Präsidenten und dem Ausschuß der Direktoren verhan- deln? Nein. Kann irgend jemand sie zur Rechenschaft ziehen ? Auch das ist so gut wie unmöglich. Wenn man es versuchen wollte, so wäre die Folge ein Verst^ckspielen, bei dem das Gesuchte bald hinter den einzelnen Persön- lichkeiten, bald hinter der Unverantwortlichkeit der Kor- poration Zuflucht suchen würde.

Berücksichtigen unsere Gesetze diesen sonderbaren Stand der Dinge ? Versuchen sie wenigstens, zwischen den Handlungen eines Menschen als Gesellschaftsdirektor und als Persönlichkeit zu unterscheiden ? Nein. Unsere Gesetze behandeln uns noch auf der Grundlage des alten Systems. Das Gesetz weilt noch in einer toten Vergangenheit, die wir längst überholt haben. Das tritt z. B. deutlich in der Haftpflicht der Arbeitgeber bei Arbeitsunfällen zutage. Nehmen wir an, ein Fabrikdirektor verlange von einem Arbeiter die Handhabung einer bestimmten Maschine, und der Arbeiter wird durch jene Maschine verletzt. Un-

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sere Gerichtshöfe nahmen in solchen Fällen an, der Fa- brikdirektor sei ein Arbeitsgefährte oder, wie das Gesetz es ausdrückt, ein „Mitangestellter", und deshalb kann der verletzte Arbeiter keinen Schadenersatz von ihm erlangen. Denn der Fabrikdirektor, der wahrscheinlich den Arbeiter einstellte, ist nicht sein Arbeitgeber. Wer ist sein Arbeit- geber? Und wessen Fahrlässigkeit könnte hier juristisch greifbar in Frage kommen? Der Direktorenausschuß hat dem Angestellten nicht befohlen die Maschine zu bedie- nen, der Präsident ebenfalls nicht : und so fort. Es ist klar, daß auf diese Weise ein Mann niemals von seinem Arbeit- geber eine Entschädigung erlangen kann. Wenn man hört, daß Richter noch heute nach Beziehungen urteilen, wie sie zwischen Arbeitgeber und Arbeiter vor einem Menschen- alter bestanden, muß man sich wundern, daß die Gerichte kein offeneres Auge für das moderne Leben haben. Wir können erwarten, daß Richter ihre Augen selbst dort offen halten, wo das Gesetz, das sie auslegen, noch nicht zur Gegenwart erwacht ist. Das ist nur ein einzelnes klei- nes lehrreiches Beispiel für die Schwierigkeiten, mit denen wir zu rechnen haben, weil wir unsere Gesetze den Tat- sachen der neuen Verhältnisse noch nicht angepaßt haben.

Seitdem ich mich mit Politik befasse, haben mir die Leute ihre Ansichten fast immer nur im geheimen mit- geteilt. Selbst bedeutende Männer der Handelswelt und der Industrie fürchten irgend etwas. Sie wissen, daß irgendwo eine Macht waltet, die so gut organisiert, so feinfühlig, so wachsam, so weit verzweigt, so vollkommen und so weit- reichend ist, daß es besser bleibt, nur zu flüstern und ab- fällige Urteile nicht laut werden zu lassen.

Amerika ist heute nicht mehr das Land, in dem, wie man einst zu sagen pflegte, ein jeder seinen eigenen Beruf selbst erwählen und nach Maßgabe seiner Fähigkeiten un- gehindert ausüben kann. Wer sich heute auf bestimmte

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Gebiete begibt, stößt auf Organisationen, die Mittel genug anwenden werden, um zu verhindern, daß er ein Unter- nehmen aufbaue, das ihnen im Wege ist. Die Korpora- tionen sorgen dafür, daß ihm der Boden unter den Füßen fortgezogen wird und die Absatzgebiete sich vor ihm ver- schließen. Denn wenn er beginnt, gewissen Kleinhändlern seine Ware zu verkaufen, weigert sich das Monopol, diesen Kleinhändlern weiter zu liefern und die eingeschüchterten kleinen Abnehmer werden die Waren des neuen Mannes nicht mehr beziehen. Und das geschieht in dem Lande, das der Welt das Ideal der vollkommen freien Möglichkeiten verkündete; das geschieht in dem Lande, von dem man annimmt, daß in ihm kein Mensch anderer Beschränkung als der seines Charakters und seiner Intelligenz unterwor- fen ist, wo es keine Klassen und keine Blutsunterschiede geben soll und keine Unterschiede der sozialen Stellung, sondern jeder gewinnt und verliert nach seinem Ver- dienste.

Mir liegt als Mann der Öffentlichkeit die Frage schwer auf dem Gewissen, ob wir noch länger an den Pforten un- seres Landes die Neuankommenden mit solchen Worten willkommen heißen dürfen. Amerikanische Industrie ist nicht wie einst frei, amerikanische Unternehmung ist nicht frei ; dem Mann mit kleinerem Kapital wird es immer schwerer, Zutritt zum Kampfplatz zu erlangen, und mehr und mehr unmöglich, mit den Großen in Wettbewerb zu treten. Warum ? Weil unsere Gesetze es nicht verhindern, daß der Starke den Schwachen zugrunde richtet. Und da die Starken die Schwachen erdrückt haben, beherrschen die Starken die Industrie und das wirtschaftliche Leben unseres Landes. Es kann keiner leugnen, daß sich die Schranken für den Unternehmungsgeist immer mehr ver- engt haben ; jeder, der etwas von der Entwicklung unserer Industrie weiß, muß wahrgenommen haben, daß größere

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Kredite immer schwerer zu erlangen sind, es sei denn, man vereinte sein Streben mit jenem, das schon die In- dustrie beherrscht. Ein jeder, der in irgendeinem Industrie- zweig, der unter der Herrschaft der großen Kapitalver- bände steht, einen Versuch zum Wettbewerb macht, wird sich schnell ausgesogen oder zum Verkauf gezwungen oder vor der Notwendigkeit sehen, sich aufsaugen zu las- sen.

Vieles in den Vereinigten Staaten bedarf der Erneue- rung. Ich möchte die Meinungen der Geschäftsleute dar- über hören die Meinung der großen Masse aller Ge- schäftsleute — , ob sie die amerikanischen Geschäftsver- hältnisse oder, besser gesagt, die amerikanische Handels- organisation als befriedigend ansehen oder nicht. Ich weiß, was sie sagen würden, wenn sie das wagen dürften. Wenn sie geheim abstimmen könnten, würden sie in überwälti- gender Mehrheit aussagen, daß die jetzige Organisation des Handels für die großen, aber nicht für die kleinen Ge- schäftsleute bestimmt ist. Die ganze Organisation ist für die zugeschnitten, die an der Spitze stehen, ist dazu ent- worfen, Anfänger auszuschließen, neuen Zuzug zu verhin- dern und Konkurrenzunternehmen, die den von den gro- ßen Trusts errichteten Monopolen in den Weg treten könn- ten, nicht aufkommen zu lassen. Nötiger als anderes braucht unser Land eine Reihe von Gesetzen, die sich jener annehmen, die geschäftlich im Werden sind, und nicht jener, die bereits ,, gemacht" sind. Denn die Leute, die schon ,, gemacht" sind, werden nicht ewig leben, und sie sind nicht immer so freundlich. Söhne zu hinterlassen, die ebenso tüchtig und ehrlich sind wie sie selbst.

Der produktive Teil Amerikas, der Teil, der neue Un- ternehmungen ins Leben ruft, der Teil, in dem ein ehr- geiziger und begabter Arbeiter seinen Weg machen kann, die Klasse, die spart, Pläne macht, organisiert und ihre

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Unternehmen rastlos ausdehnt, bis sie ein nationales Ziel und nationalen Charakter gewinnen dieser Mittelstand wird mehr und mehr durch den Prozeß ausgesogen, den wir Fortschritt zum Wohlstand nennen sollen. Die daran teilhaben, nehmen sicherlich am Wohlstand teil ; aber was mich besorgt macht, ist der Umstand, daß sie keinenWohl- stand für alle schaffen. Kein Land kann es sich leisten, seinen Wohlstand von einer kleinen herrschenden Klasse ausgehen zu lassen. Amerikas Schatzkammer liegt nicht in den Gehirnen jener kleinen Gruppe von Menschen, die jene großen Unternehmungen beherrschen, die unter der Leitung einer ganz kleinen Zahl von Männern zusammen- geschlossen wurden. Amerikas Reichtum liegt in jenem Ehrgeiz und in jener Tatkraft, die nicht auf eine gewisse bevorzugte Klasse beschränkt werden können. Amerikas Reichtum ist abhängig von den Erfindungen unbekannter Menschen, von den Schöpfungen unbekannter Menschen und von dem Ehrgeiz unbekannter Menschen. Jedes Land erneuert sich aus den Reihen der Unbekannten und nicht aus den Reihen der schon Berühmten und Mächtigen.

Über Amerika sind ganz unamerikanische Zustände gekommen, die eine kleine Anzahl von Männern, welche die Regierung beherrschen, in den Stand setzen, Vergün- stigungen von der Regierung zu erlangen ; durch diese Ver- günstigungen schließen sie ihre Mitbürger von den gleichen Geschäftsmöglichkeiten aus und üben einen Zwang, der bald jede Industrie beherrschen wird. Damit sinkt jene Zeit in Vergessenheit, da Amerika noch in jedem Dörfchen in jedem schönen Tal zu finden war, da Amerika seine ge- waltigen Kräfte auf den weiten Prairien entfaltete und das Feuer seines Unternehmungsgeistes über die Höhen der Berge und hinab in die Tiefen des Erdreichs leuchten ließ. Eifrige Männer waren damals noch überall Führer der Industrie, nicht Angestellte. Sie blickten nicht nach

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einer fernen Großstadt, um ausfindig zu machen, was sie tun sollten, sondern sahen sich nach ihren Nachbarn um, fanden Kredit je nach ihrer Persönlichkeit und nicht nach ihren Verbindungen, fanden Kredit auf Grund dessen, was man von ihnen wußte und was in ihnen steckte, und nicht nach Maßgabe der Sicherheiten, die sie anzubieten haben und die an Stellen begutachtet werden, an denen der Be- sitzer nicht bekannt ist. Um heute ein Unternehmen zu begründen, mußt du auf völlig unpersönlichem Wege da- zu ermächtigt sein : nicht nach Maßgabe der eigenen Per- son, sondern allein auf Grund der Tatsache, daß irgend- ein anderer deine Absicht genehmigt. Man kann ein Unter- nehmen nicht mehr so beginnen wie die Männer, die Ame- rika gemacht haben, solange man nicht auf diesem Wege dazu ermächtigt wird, solange man nicht das Wohlwollen verbündeter Großkapitalisten erlangt hat. Ist das Freiheit ? Das ist Abhängigkeit, aber keine Freiheit.

In der guten alten Zeit, als das Leben noch recht ein- fach war, nahmen wir an, die Regierung brauche nichts weiter zu tun, als eine Polizeiuniform anzulegen und zu erklären: ,, Jetzt darf keiner dem andern etwas tun." Wir pflegten zu sagen, das Ideal einer Regierung sei für einen jeden, in Ruhe gelassen und nicht gestört zu werden, aus- genommen, man störte einen anderen ; und als die beste Regierung galt jene, die so wenig als möglich regierte. Das war die Vorstellung, die zu Jeffersons Zeit waltete. Jetzt beginnen wir zu erkennen, daß wir es nicht mehr mit den alten Verhältnissen zu tun haben und daß das Leben so kompliziert geworden ist, daß das Gesetz ein- greifen und neue Verhältnisse schaffen muß, die uns das Leben erträglich machen.

Ich will meine Meinung veranschaulichen. Früher be- saß jede Familie in unsern Städten gewöhnlich ein eigenes Häuschen ; jede Familie hatte ihr eigenes kleines Grund-

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stück und jede Familie lebte so von jeder anderen Familie getrennt. Das ist in den modernen großen Städten nicht mehr. Die Familien leben in den verschiedenartigsten Mietswohnungen, sind in den großen Mietskasernen unse- rer übervölkertem Distrikte schichtweise übereinander- gehäuft, und nicht nur schichtweise übereinander, Zim- mer an Zimmer wohnen sie, so daß in unseren überfüllten Bezirken bisweilen auf jeden Raum eine Familie entfällt.

Im Auslande ist man teilweise in dieser Beziehung schon viel weiter als wir. In Glasgow z. B. Glasgow ist eine der vorbildlichsten Städte der Welt hat man sich entschlossen, die Eingänge und Treppenfluren der großen Mietshäuser für öffentliche Straßen zu erklären. Der Schutzmann betritt daher auch die Treppenhäuser und bewacht die Gänge. Die städtische Beleuchtung sorgt da- für, daß diese Gänge reichlich beleuchtet sind; die Stadt verkennt nicht, daß ein derartiges großes Gebäude eine Einheit bildet, von welcher die Polizei und die städtischen Behörden fernzuhalten wären, aber sie sagt sich : ,,Hier sind öffentliche Verkehrswege, sie müssen beleuchtet werden, die städtischen Behörden sollen sie überwachen."

Ich vergleiche damit unsere großen modernen in- dustriellen Unternehmen. Eine Korporation ähnelt einem großen Mietshaus ; sie ist auch nicht Eigentum einer ein- zelnen handelstreibenden Familie ; sie ist genau so als öffentliche Angelegenheit anzusehen wie jenes Mietshaus als ein Netz öffentlicher Verkehrswege. Wenn man die Ak- tien einer großen Gesellschaft jemandem anbietet, der sie zu kaufen wünscht, so muß man ihm Einblick in die Ver- hältnisse der Gesellschaft gewähren. Es muß um im Bilde des Mietshauses zu bleiben Licht auf den Korri- doren sein, die Schutzmannschaft muß die Eingänge über- wachen und überall dort, wo man über Verhältnisse ge- täuscht werden könnte, muß eine Aufsicht walten. Wenn

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wir Täuschungen oder Gefahren für möglich halten, müs- sen wir in der Lage sein zu entscheiden, ob unser Verdacht begründet ist oder nicht. Ebenso ist die Behandlung der Arbeit durch die großen Verbände nicht mehr, was sie zu Jeffersons Zeiten war. Sobald Gruppen von Menschen andere Gruppen von Menschen beschäftigen, handelt es sich nicht mehr um ein privates Verhältnis. So daß die Richter, die entscheiden, ein Arbeiter dürfe einem anderen nicht friedlich von der Arbeit abraten und ihr Urteil auf die Analogie mit dem Haushaltungspersonal stützen, damit nur zeigen, daß ihre Urteilskraft und ihr Verständnis in einem Zeitalter daheim sind, das dahingegangen ist. Das Verhältnis großer Körperschaften zu anderen Körperschaf- ten gehört unter öffentliche Aufsicht und sollte Gegenstand staatlicher Regelung sein.

Zu Jeffersons Zeit brauchte das Gesetz sich nicht dar- um zu kümmern, wie ich meinen Haushalt führte. Aber als mein Haus, mein sogenanntes Privatbesitztum, ein großes Bergwerk wurde, in dem Menschen im dunklen Gängen alle möglichen Gefahren durchqueren mußten, um in den Tiefen der Erde nach einem Stoffe zu graben, dessen die Industrie einer ganzen Nation bedarf, und als dann diese Bergwerke nicht mehr einem einzelnen gehörten, sondern Eigentum großer Aktiengesellschaften wurden, da brachen die alten Anschauungen zusammen: und es wurde das Recht der Regierung, in diese Bergwerke hinabzusteigen, um sich zu vergewissern, ob in ihnen menschliche Vi^esen angemessen behandelt wurden oder nicht; ob sichere Schutzmaßregeln gegen Unfälle getrof- fen wären; ob die Verwendung der unermeßlichen Reich- tümer aus dem Schöße der Erde nach modernen wirt- schaftlichen Methoden geschähe oder nicht. Wenn je- mand auf einem Gebäude einen Ladebaum anbringt, der schlecht befestigt ist oder die Straße überragt, dann hat

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die Stadtverwaltung das Recht, dafür zu sorgen, daß der Ladebaum so befestigt werde, daß wir unter ihm einher- gehen können, ohne befürchten zu müssen, daß der Him- mel auf uns einstürzt. Und in jenen großen Bienenkörben, da in jedem Gange Menschen von Fleisch und Blut schwär- men, wird es nicht anders Vorrecht der Regierung ent- weder des Einzelstaates oder der Vereinigten Staaten , dafür zu sorgen, daß das Leben der Menschen geschützt werde und daß menschliche Lungen Luft zum Atmen haben. Das sind nur illustrierende Vergleiche. Wir leben in einer neuen Welt und ringen unter alten Gesetzen. Wenn wir unser heutiges Leben betrachten und den neuen Schau- platz der komplizierten wirtschaftlichen Verhältnisse über- blicken, so werden wir noch manches mehr finden, das nicht in der Ordnung ist.

Eines der beunruhigendsten Zeichen der Zeit oder besser gesagt, es würde beunruhigend sein, wenn die Na- tion nicht erwacht und entschlossen wäre, seiner Herr zu werden , eines der charakteristischsten Zeichen der neuen sozialen Ära ist der Umfang und die Art der Beziehungen zwischen Regierung und Geschäftswelt. Ich spreche hier von dem Zwang, der vom Großhandel auf die Regierung ausgeübt wird. Hinter der Frage waltet natürlich die Tat- sache, daß in der neuen Ordnung Regierung und Handel eng verbündet sein müssen. Aber die Art dieser Verbin- dung ist augenblicklich durchaus unstatthaft; die Rang- ordnung ist falsch, das Unterste zu oberst gekehrt. Seit den letzten Jahren steht unsere Regierung unter der Herr- schaft der Leiter der großen vereinigten Korporationen, die besondere Interessen verkörpern. Diese Interessen hat die Regierung nicht überwacht noch ihnen einen an- gemessenen Platz in dem ganzen Wirtschaftssystem zu- gewiesen; sie hat sich ihrer Herrschaft unterworfen. Als Folge davon sind verderbliche Bräuche und ein System der

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Begünstigungen durch die Regierung emporgewachsen (für die der maßlose Tarif eines der offenkundigsten Bei- spiele ist), deren Wirkungen sich auf die ganze Lebens- gestaltung erstrecken, die mit ihren Schädigungen jeden Einwohner des Landes treffen, dem Wettbewerb unbillige und unmögliche Benachteiligungen aufzwingen, in jeder Richtung Besteuerungen auferlegen und das freie Streben amerikanischen Unternehmungsgeistes ersticken.

Das entwickelte sich mit Naturnotwendigkeit. Es hat keinen Sinn, irgendwen oder irgendetwas anzuklagen, es sei denn die menschliche Natur. Aber es ist ein uner- träglicher Zustand, daß die Regierung der Republik den Händen des Volkes so weit entgleiten und von Interessen gefangengenommen werden konnte, die Sonderinteressen und nicht die Interessen der Allgemeinheit sind. Im Gefolge dieser Abhängigkeit kam jene Fülle von Skandalen, Un- gerechtigkeiten und Unsauberkeiten, die unsere Politik er- füllen. Es gibt in Amerika Städte, deren Verwaltung wir uns schämen. In allen Teilen des Landes gibt es Städte, von denen wir fühlen, daß in ihnen nicht den Interessen der Allgemeinheit, sondern den Sonderinteressen selbst- süchtiger Leute gedient wird und wo heimliche Abma- chungen vor den öffentlichen Interessen den Vorrang ha- ben ; und das ist nicht nur in den großen Städten der Fall. Wer hätte nicht das Anwachsen der sozialistischen Nei- gungen in den kleineren Städten wahrgenommen. Vor einigen Monaten hatte ich in einer kleinen Stadt Aufent- halt, und während ich auf die Abfahrt meines Zuges war- tete, sprach ich auf dem Bahnsteig mit einem einnehmen- den jungen Menschen, der sich mir als Bürgermeister der Stadt vorstellte und hinzufügte, er sei Sozialist. ,,Was soll das heißen,** fragte ich, ,,etwa, daß die Stadt sozialistisch ist?" ,,Nein," sagte er, ,,ich habe mich keiner Täuschung hingegeben, die Wählerschaft, die mich wählte, ist zu

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etwa 20 % sozialistisch und zu 80 % ,Protest'." Das war der Protest gegen den Verrat, den die Führer der beiden anderen Parteien der Stadt am Volke begangen hatten.

Überall in den Vereinigten Staaten beginnt man zu spüren, daß man auf den Gang der Ereignisse keinen Ein- fluß hat. Ich lebte in einem der größten Staaten der Union, der einst geknechtet war. Bis vor zwei Jahren mußten wir in New Jersey mit wachsender Besorgnis wahrnehmen, wie der Geist einer fast zynischen Verzweiflung empor- wuchs. Die Leute sagten: ,,Wir wählen; man präsentiert uns das Wahlprogramm, das wir verlangen. Wir wählen den Mann, der dieses Programm vertritt : und wir erreichen absolut nichts." So begann man zu fragen: ,,Was hat das Wählen für einen Zweck ? Wir wissen, daß die Maschinen beider Parteien von denselben Leuten gespeist werden, und deshalb ist es zwecklos, sich für eine oder die andere der beiden Richtungen zu entscheiden." Und das beschränkt sich nicht auf einige Staatsregierungen oder einige große und kleine Städte. Wir wissen, daß irgend etwas sich zwi- schen das Volk der Vereinigten Staaten und die Führung seiner Angelegenheiten geschoben hat. Nicht das Volk war es, das in letzter Zeit dort herrschte. Warum stehen wir an der Schwelle einer Umwälzung? Weil wir aufs tiefste über die Einflüsse beunruhigt sind, die wir in der Leitung unseres öffentlichen Lebens und der Politik herrschen sehen. Es gab eine Zeit, da Amerika mit Selbstvertrauen gesegnet war. Es rühmte sich, allein die Formen einer Volksregie- rung zu besitzen ; heute sieht es seinen Himmel verdunkelt und es erkennt, daß Kräfte am Werke sind, von denen es sich in seiner hoffnungsreichen Jugend nichts träumen ließ.

Die alte Ordnung wankt, sie wandelt sich vor unseren Augen, und diese Wandlung vollzieht sich nicht ruhig und nicht gleichmäßig, sondern hastig, unter Lärm und Feuer, und mit dem Tumult des Wiederaufbauens. Man pflegt

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mit dem Gestus einer überlegenen Kenntnis der Er- eignisse und der menschlichen Schwäche zu sagen, jede Zeit sei eine Zeit des Überganges und keine Zeit sei mehr als eine andere dem Wechsel unterworfen. Allein in we- nigen Abschnitten der Weltgeschichte kann der Kampf für eine Umwandlung so weitgreifend, so entschlossen und in so großem Maßstabe vor sich gegangen sein wie dieses Ringen, an dem wir gegenwärtig teilnehmen.

Der Übergang, dessen Zeugen wir sind, ist nicht der gleichmäßige Übergang des Wachstums und nicht nor- male Umwandlung ; es ist nicht die stille, unbewußte Ent- faltung eines Zeitalters aus dem voraufgehenden und nicht der gelassene Erbschaftsantritt eines Nachfolgers. Die Ge- sellschaft mustert sich vom Kopfe bis zum Fuße und unter- nimmt eine neue und kritische Analyse ihrer Elemente. Sie zweifelt ihre ältesten Gewohnheiten so freimütig an wie ihre jüngsten und untersucht alle Übereinkünfte und Ursachen ihrer Daseinsformen. Sie ist bereit, nichts Ge- ringeres als eine radikale Selbsterneuerung zu unter- nehmen, die nur durch freimütige und ehrliche Berat- schlagung und die Macht weitherziger Zusammenarbeit daran verhindert wird, zur Revolution zu entarten. Wir sind gesonnen, die wirtschaftliche Gesellschaft so zu er- neuern, wie wir einst gesonnen waren, die politische Ge- sellschaft zu rekonstruieren, und dabei mögen auch die politischen Verhältnisse einen Umwandlungsprozeß er- leben. Ich glaube nicht, daß je eine Zeit sich ihrer Aufgabe tiefer bewußt war und einmütiger nach einer gründlichen und umfassenden Veränderung ihrer wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse verlangte. Einer Revolution stehen wir gegenüber ; nicht einer blutigen Revolution, denn Ame- rika ist nicht zu Blutvergießen geschaffen, aber einer stillen Revolution, bei der Amerika darauf beharren wird, die Ide- ale, zu denen es sich von jeher bekannte, zu verwirklichen.

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Wir stehen am Vorabend einer großen Erneuerung. Die Zeit verlangt nach schöpferischen Staatsmännern wie keine Zeit seit jenen großen Tagen, da jene Regierung ein- gesetzt ward, unter der wir stehen und die von der ganzen Welt bewundert wurde, bis sie es zuließ, daß unter ihr Un- gerechtigkeiten emporsprossen, die viele unserer Mitbür- ger dazu brachten, die Freiheit unserer Institutionen an- zuzweifeln und die Auflehnung gegen sie zu predigen. Ich fürchte keine Revolution. Ich habe das unerschütterliche Vertrauen zu der Fähigkeit Amerikas, seine Selbstbeherr- schung zu bewahren. Die Revolution wird in friedfertiger Gestalt kommen wie damals, da wir die unvollkommene Regierungsform der Bünde abschafften und jenen großen Bundesstaat schufen, der Menschen und nicht Staaten re- giert und der 130 Jahre lang ein Werkzeug des Fortschritts war. Manche durchgreifende Änderung unserer Gesetze und ihrer Handhabung müssen wir durchführen ; manche Erneuerungen, die eine neue Zeit und neue Verhältnisse uns auferlegen, müssen vollzogen werden. Aber das alles vermögen wir wie Staatsmänner und gute Patrioten in Ruhe und Besonnenheit zu vollbringen.

Von diesen Dingen aber spreche ich ohne Besorgnis, denn sie liegen frei und offen aller Welt vor Augen. Dies ist keine Zeit, in der große Mächte sich heimlich verbünden. Das ganze gewaltige Programm der Reform soll öffentlich entworfen und erörtert werden. Guter Wille, die Weisheit besonnener Ratgeber, die Tatkraft überlegter und un- eigennütziger Männer, die Gewöhnung an Zusammen- arbeit und an Kompromisse, zu der uns lange Jahre einer freien Regierung erzogen, unter der dank dem Segen frei- er allgemeiner Aussprache Vernunft die Leidenschaft über- wog — das wird uns instand setzen, ohne Gewaltsamkeit ein neues großes Zeitalter zu erringen.

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Zweites Kapitel Was ist Fortschritt?

In der weisen und wahrhaften Chronik von „Alice durch den Spiegel" wird erzählt, wie bei einer bemerkenswerten Gelegenheit die kleine Heldin von der roten Schachkönigin gefaßt wird, die mit ihr in entsetzlicher Geschwindigkeit davonläuft ; sie rennen alle zwei, bis sie beide außer Atem sind ; dann halten sie inne, Alice blickt umher und sagt : ,,Ach, wir sind ja genau so weit wie am Anfang unseres Laufes." ,,0 ja," sagt die rote Königin, ,, du mußt doppelt so schnell laufen, um irgendwo anders hinzukommen." Das ist ein Gleichnis vom Fortschritt. Die Gesetze Amerikas haben mit der Umwandlung der wirtschaftlichen Verhältnisse Amerikas nicht Schritt gehalten; sie haben mit der Umwandlung der politischen Verhältnisse nicht Schritt gehalten: und darum sind wir nicht einmal dort, wo wir ausgingen. Wir werden laufen müssen, nicht bis wir außer Atem sind, aber bis wir unsere eigenen Verhält- nisse eingeholt haben; erst dann werden wir dort sein, wo unser Lauf begann ; wo wir jenen großen Versuch be- gannen, der die Hoffnung und der Leitstern der Welt war. Und zweimal so schnell als irgendein vernünftiges Pro- gramm werden wir laufen müssen, um wo anders hinzu- kommen. Darum bin ich gezwungen, Fortschrittler zu sein, und sei es auch nur aus dem Grunde, daß wir weder auf dem wirtschaftlichen noch auf dem politischen Gebiete mit den Umwandlungen der Verhältnisse Schritt gehalten ha- ben. Wir haben nicht so Schritt gehalten wie andere Na-

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tionen. Wir haben unsere Mittel nicht den Tatsachen an- gepaßt, und solange wir das nicht tun, werden die Tat- sachen stets die besseren Gründe für sich in Anspruch nehmen. Denn wenn wir unsere Gesetze nicht der Wirk- lichkeit anpassen, um so schlimmer für die Gesetze, nicht aber für die Wirklichkeit, denn Gesetze folgen der Wirk- lichkeit immer nach. Ungesund ist nur das Gesetz, das der Wirklichkeit vorauseilt, ihr zuwinkt und sie zwingt, dem Wünschen oder dem Willen imaginärer Absichten zu folgen.

Das wirtschaftliche Leben Amerikas befindet sich heute in einer Lage, in der es sich noch nie befunden hat. Unsere Gesetze sind noch auf ein Geschäftsleben zuge- schnitten, in dem alle Tätigkeit von Individuen ausgeübt wird ; noch sind sie nicht einem Geschäftsleben angepaßt, das große Verbände beherrschen. Und wir müssen versu- chen diese Aufgabe zu lösen. Ich sage nicht : Wir können das tun oder wir können das unterlassen. Wir müssen; und uns bleibt keine Wahl. Eine Gesetzgebung, die der Wirklichkeit nicht gerecht wird, schädigt nicht die Wirk- lichkeit, sondern das Gesetz. Denn das Gesetz ist wenn mein Lernen nicht vergebens war der Ausdruck gesetz- lich geordneter Wirklichkeit. Nie haben Gesetze die Tat- sachen verändert; immer haben sie naturnotwendig die Tatsachen gespiegelt; sie passen die Interessen in dem Maße, als sie erwachsen, einander an und tauschen sie gegeneinander aus.

Amerikanische Politik ist ein Gegenstand, der gründ- liche Aufmerksamkeit fordert. Das durch unsere Gesetze und Bräuche aufgerichtete System funktioniert nicht oder bietet zumindest keinen Verlaß; nur durch einen höchst unvernünftigen Aufwand an Arbeit und Mühe kann es zur Wirksamkeit gebracht werden. Die Regierung, die dem Volke zugedacht war, ist in die Hände von Bosses und deren Arbeitgeber, der Sonderinteressen, geraten. Eine

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unsichtbare Herrschaft ward über den Formen der Demo- kratie aufgetürmt. Ernste Dinge sind zu vollbringen. Ist an der großen Unzufriedenheit des Landes zu zweifeln ? Kann jemand daran zweifeln, daß Gründe und Berechtigung zur Unzufriedenheit vorhanden sind? Wagen wir es, stehen zu bleiben ? Während der letzten Monate erlebten wir auf der einen Seite (zugleich mit seltsamen politischen Vor- gängen, die ein beredtes Zeugnis für die Beunruhigung der Öffentlichkeit sind) eine Verdoppelung der sozialisti- schen Stimmen; und wir sahen andererseits ringsum im Lande Mauern und Bauzäune mit gewissen sehr verlok- kenden und amüsanten Zetteln beklebt, auf denen den Bürgern verkündet wurde, es sei ,, besser in Sicherheit, als bekümmert" zu sein. Es scheint, daß viele Bürger daran zweifelten, ob die Situation, die sie nach jenen Ratschlä- gen ,,sich selbst überlassen" sollten, dazu gut genug sei; sie zogen es vor ,, bekümmert" zu sein. Mir erscheinen diese Ratschläge zum ,,Nur-Nichts-Tun", diese Aufforde- rungen, die Hände in den Schoß zu legen, aus Angst, es könne etwas geschehen, als die wunderlichsten Argu- mente unwissender Einfalt, die ich je vernahm. Und diese an ein zukunftsfreudiges tatkräftiges Volk gerichteten Rat- schläge teilten demselben Volke mit, daß es nicht erfahren genug sei, um seine eigenen Angelegenheiten in die Hand zu nehmen, ohne sie zu schädigen. Noch sind die Ameri- kaner nicht kleinmütig geworden. Gewiß ward ihr Selbst- vertrauen durch Jahre der Unterdrückung untergraben. Man hat sich lange der Lehre fügen müssen, Fortkommen sei etwas, das wohlwollende Magnaten mit Hilfe der Re- gierung dem Bürger verschaffen. Das Selbstvertrauen ward dadurch geschwächt, aber zerstört wurde es nicht. Das Wort Fortschritt bezaubert amerikanische Ohren und bringt amerikanische Herzen in Wallung.

Natürlich gibt es auch Amerikaner, die noch nichts

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davon hörten, daß irgend etwas vor sich geht. Der Zirkus kann durch die Stadt ziehen, Vorstellung geben und wieder verschwinden, ohne daß sie die Kamele sehen und die Klänge des Dudelsackes oder der Jahrmarktstrommel ver- nehmen. Das sind Leute, sogar Amerikaner, die nie ihre Nase aus ihren vier Wänden stecken und nichts davon er- fahren, daß andere ihre Wände verlassen. Ein Freund von mir hatte vom ,, Florida-Cracker" gehört; man hat diesen Namen dort unten jenem Teil der Bevölkerung beigelegt, der nie gut tut. Als mein Freund in seinem Zuge durch den Staat fuhr, bat er jemand, ihm doch einen „Cracker" zu zeigen. Und der Mann, den er fragte, antwortete nur: ,, Gehen Sie nur hinaus in den Wald, und wenn Sie drau- ßen etwas sehen, das braun wie ein Baumstumpf aussieht, dann wissen Sie gleich, ob es ein Stumpf ist oder ein , Cracker*: bewegt es sich, so ist es ein Stumpf."

Bewegung trägt seine Tugend nicht in sich selbst. Eine Umwandlung wird nicht um der Umwandlung willen wert- voll. Ich zähle nicht zu jenen, die die Abwechslung um ihrer selbst willen lieben. Wenn etwas heute seinen Zweck erfüllt, so würde ich es auch gern bis morgen bestehen lassen. Die meisten unserer Berechnungen im Leben hän- gen von Dingen ab, die sich nicht verändern. Wenn Sie etwa heute morgen, als Sie aufstanden, vergessen hätten, wie man sich ankleidet, wenn Sie all jene kleinen Hand- griffe vergessen hätten, die man fast automatisch vollzieht und beinahe im Halbschlaf ausführen kann, dann wären Sie darauf angewiesen herauszubekommen, was Sie ge- stern taten. Die Psychologen berichten, daß ich heute nicht wüßte, wer ich bin, wenn ich mich nicht entsinnen könnte, wer ich gestern war; und so wird sogar meine Identität von der Möglichkeit abhängig, das Heute mit Gestern verbinden zu können. Stimmen beide nicht über- ein, so bin ich verwirrt ; ich weiß nicht, wer ich bin, muß

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umhergehen und irgendwen fragen, auf daß er mir meinen Namen sage und mir verrate, woher ich komme. Ich zähle nicht zu jenen, die die Beziehung mit der Vergangenheit abbrechen möchten, und ich wünsche keine Umwandlung um der Abwechslung willen. Die Menschen, die das tun, sind Leute, die irgend etwas vergessen wollen, Menschen, die gestern von irgend etwas erfüllt waren, dessen sie sich heute nicht mehr erinnern möchten, Leute, die umher- gehen und Zerstreuung suchen ; sie fahnden nach einem Mittel, die Erinnerung auszulöschen und möchten etwas in sich aufnehmen, das alle Ei;innerungen beseitigt. Verän- derung ist zwecklos, wenn sie keine Verbesserung bedeutet. Will ich ausziehen, weil mir meine Wohnung nicht gefällt, dann muß ich mir, um den Wechsel zu rechtfertigen, erst eine bessere Wohnung suchen oder ein besseres Haus bauen.

Bei dem alten Unterschied zwischen Umwandlung und Verbesserung zu verweilen könnte wie Zeitvergeu- dung erscheinen ; allein es gibt eine Sorte von Leuten, die geneigt sind, beide miteinander zu verwechseln. Wir haben politische Führer gehabt, zu deren Vorstellung von Größe es gehörte, immerwährend ungestüm etwas zu vollbrin- gen, — einerlei was; das waren ruhelose stimmbegabte Männer, denen das Verständnis für die Kraft der Konzen- tration fehlte und die nur die Energie der Aufeinanderfolge kannten. Aber das Leben besteht nicht darin, unausgesetzt ein Feuer im Gang zu halten. Irgendwohin zu gehen bleibt zwecklos, solange du nicht dadurch, daß du dort bist, etwas gewinnst. Und dabei ist die Richtung so wich- tig wie die Treibkraft der Bewegung.

Aller Fortschritt ist davon abhängig, wie schnell du gehst und wohin du gehst, aber ich fürchte, man hat mehr darauf geachtet, wie schnell wir gingen, statt zu fragen, wohin der Weg führte. Nach meiner Überzeugung voll- bringen wir das meiste unseres Fortschrittes nach dem

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Muster eines Gerätes, das wir zu meiner Kinderzeit ,, Tret- mühle" nannten; das war eine bewegliche Plattform mit Klampen, auf die ein unglückseliger Maulesel unausge- setzt treten mußte, ohne daß er dabei weiter kam. Ele- fanten*) und auch andere Tiere haben solche Tretmühlen getreten, verursachten Lärm und brachten gewisse Räder in Drehung ; sie lieferten dabei vermutlich auch für irgend- wen irgendwelche Erzeugnisse, aber viel Fortschritt kam dabei nicht heraus. Um den Elefanten wirklich fortzu- bewegen, versuchten es seine Freunde kürzlich auch mit Dynamit ; und er bewegte sich auch, wenn auch in höchst vereinzelten und zerschmetterten Teilen ; aber immerhin : er bewegte sich.

Ein boshafter aber witziger Engländer meinte kürzlich in einem Buche, es sei ein Irrtum, daß ein offenkundig wohlhabender, in seinem Beruf erfahrener und erfolg- reicher Mann nicht bestochen werden könne. Denn solche Männer, meinte der Verfasser, seien schon bestochen wenn auch nicht im landläufigen verwerflichen Sinne des Wortes. Aber da sie ihre großen Erfolge mit Hilfe der be- stehenden Ordnung der Dinge erreichten, fühlten sie sich auch verpflichtet, darüber zu wachen, daß diese bestehen- de Ordnung der Dinge nicht verändert werde ; sie sind be- stochen, den Status quo aufrechtzuerhalten. Und in die- sem Sinne pflegte ich auch als ich noch mit der Ver- waltung einer Erziehungsanstalt zu tun hatte den Wunsch zu äußern, die jungen Männer der kommenden Generation ihren Vätern so unähnlich als möglich werden zu lassen. Nicht daß es den Vätern an Charakter, Intelli- genz, Wissen oder Vaterlandsliebe fehlte. Aber jene Väter haben infolge ihres fortschreitenden Alters und ihrer ge- festigten Stellung innerhalb der Gesellschaft die Fühlung

*) Der Elefant ist das Wappentier der republikanischen Partei, wie der Maulesel das der Demokraten. Anm. d. Ü.

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mit den Vorgängen des Lebens verloren; sie haben ver- gessen, was es hieß : anzufangen ; sie haben vergessen, was es hieß : emporzukommen ; sie haben vergessen, was es hieß : auf dem Wege von der Tiefe zur Höhe durch Lebens- umstände beherrscht zu werden. Und damit, so behauptete ich, verlören sie auch das Verständnis für die schöpferi- schen, formgebenden und fortschrittlichen Kräfte der Ge- sellschaft.

Fortschritt! Das Wort ist fast ein neues Wort. Kein Wort kommt öfter und unwillkürlicher über die Lippen des modernen Menschen ; es ist, als sei sein Sinn fast ein Synonym für das Leben selbst ; und doch hat die Mensch- heit durch viele Jahrtausende niemals von Fortschritt ge- sprochen und an Fortschritt gedacht. Ihr Denken hatte eine andere Richtung. Ihre Schilderungen von Helden- taten und Ruhm waren Geschichten von der Vergangen- heit. Der Ahne trug die schwerere Rüstung und den grö- ßeren Speer. ,,In jenen Tagen gab es Riesen." Heute ist das anders. Nicht der Vergangenheit, sondern der Zukunft ge- denken wir als jener herrlicheren Zeit, an der gemessen die Gegenwart nichts bedeutet. Fortschritt, Entwicklung es sind moderne Worte. Das moderne Denken verläßt das Vergangene und drängt dem Neuen entgegen.

Was wird der Fortschritt mit der Vergangenheit und mit der Gegenwart beginnen ? Wie wird er sie behandeln ? Mit Verachtung oder mit Respekt? Wird er mit ihnen ganz brechen oder aus ihnen emporwachsen und tief in älteren Zeiten seine Wurzeln verankern ? Wie werden fort- schrittliche Männer sich zu der bestehenden Ordnung, zu den Institutionen des Konservativismus, zu der Verfas- sung, den Gesetzen und den Gerichten stellen? Sind die Befürchtungen jener bedachtsamen Männer berechtigt, die da wähnen, wir wollten die alten Grundlagen unserer Einrichtungen erschüttern ? Wenn sie recht haben, müß-

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ten wir sehr langsam an den Prozeß der Umwandlung her- antreten. Wenn es wahr ist, daß wir der so sorgsam und unverdrossen aufgebauten Einrichtungen müde geworden sind, dann müßten wir an die gefahrvolle Aufgabe ihrer Umwandlung sehr langsam und sehr vorsichtig herantreten. Darum müssen wir uns vor allem die Frage vorlegen, ob das Denken unseres Landes dazu neigt etwas zu tun, durch das wir den zurückgelegten Weg zurückgehen oder die ganze Richtung unserer Entwicklung ändern. Ich glaube, daß man eine alte Wurzel nicht ausreißen und den Baum der Freiheit nicht in einen neuen Boden verpflanzen kann, aus dem er nicht erwachsen ist. Ich glaube, daß die alten Traditionen eines Volkes sein Ballast sind; man kann keine tabula rasa zimmern, um auf ihr ein politisches Pro- gramm niederzuschreiben. Du kannst nicht einen unbe- schriebenen Bogen Papier nehmen und darauf bestimmen, wie morgen dein Leben beschaffen sein soll. Du mußt das Alte in das Neue verflechten. In ein altes Gewand lassen sich keine neuen Flicken einsetzen, ohne es zu ruinieren ; nicht irgendein Lappen kann es sein, sondern ein Stoff, der in der alten Fabrik gewoben wird, ein Stoff gleichen Musters, gleichen Gewebes und gleicher Bestimmung. Wenn Fortschritt nicht die Absicht in sich schlösse, die Grundlagen unserer Institutionen zu bewahren, könnte ich nicht fortschrittlich sein.

Einer der Hauptvorteile, die ich als Universitätspräsi- dent genoß, war das Vergnügen, mich mit nachdenklichen Männern aus aller Herren Ländern unterhalten zu dürfen. Ich kann kaum sagen, wieviel ich durch die Berührung mit ihnen gewonnen habe. In meinem Sinne suchte ich nach irgend etwas, durch das ich die verschiedenen Teile meines politischen Denkens zusammenfassen könnte, als mir ein glücklicher Zufall Gelegenheit gab, in meinem Hause als Gast einen sehr interessanten Schotten bewirten

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zu dürfen, der sich dem Studium des philosophischen Den- kens im 17. Jahrhundert gewidmet hat. Sein Gespräch war ebenso fesselnd wie geistreich, es war eine Freude, ihn über alle Dinge sprechen zu hören; und plötzlich trat aus einem Winkel seines Gedankenreiches das Ding hervor, auf das ich so lange gewartet hatte. Er lenkte meine Auf- merksamkeit auf die Tatsache, daß in jeder Generation alle Formen der Spekulation und des Denkens dazu neigen, sich jener allgemeinen Formel des Denkens unterzuordnen, die das Zeitalter beherrscht. Nachdem beispielsweise die Newtonsche Theorie vom Weltall entwickelt war, neigten alle Gedanken dazu, sich in Analogien zur Newtonschen Theorie auszudrücken ; und seitdem die Darwinsche Theo- rie unter uns herrschte, neigt ein jeder dazu, all seine Wünsche in die Begriffe der Entwicklung und der An- passung an die Umgebung zu kleiden.

Während jener geistreiche Mann mit mir sprach, fiel mir ein, daß die Verfassung der Vereinigten Staaten unter der Herrschaft der Newtonschen Theorie entworfen wurde. Man braucht nur die Seiten des ,, Föderalisten" nachzu- lesen, um diese Tatsache auf jeder Seite ausgeprägt zu fin- den. Man spricht von den ,, Hemmnissen und Gleichge- wichten" der Verfassung, und um seine Gedanken auszu- drücken, bedient man sich unbewußt derselben Ausdrücke wie bei der Deutung der Organisation des Weltalls und insbesondere des Sonnensystems ; man spricht davon, wie durch die Anziehungskraft der Gravitation die verschiede- nen Teile in ihren Bahnen gehalten werden; und dann geht man dazu über, den Kongreß, den Richterstand und den Präsidenten als eine Art Nachahmung des Sonnen- systems darzustellen. Dabei folgte man nur den englischen Whigs, die Großbritannien seine moderne Verfassung ga- ben. Jene Engländer analysierten die Frage nicht und ent- wickelten auch keine Theorie ; Engländer haben für Theo-

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rien wenig Sinn. Ein Franzose war es, Montesquieu, der ihnen zeigte, wie getreulich sie die Newtonsche Beschrei- bung von dem Mechanismus des Himmels kopiert hatten.

Die Schöpfer unserer amerikanischen Bundesverfas- sung lasen Montesquieu mit ehrlicher, wissenschaftlicher Begeisterung. Jene Väter der Nation waren auf ihre Weise gelehrt. Jefferson schrieb über ,,die Gesetze der Natur** und dann, mit einer Art Hintergedanken, ,,und über den Gott der Natur". Und sie konstruierten eine Regie- rung, wie sie etwa ein Planetarium konstruiert hätten, um die Gesetze der Natur darzutun. Politik war in ihrem Denken eine Abart der Mechanik. Die Verfassung wurde auf das Gesetz der Schwerkraft gegründet. Die Regierung sollte bestehen und wirken auf Grund der Wirksamkeit von ,, Hemmungen und Gleichgewichten**.

Die Schwierigkeit dieser Theorie ist der Umstand, daß eine Regierung nicht eine Maschine ist, sondern ein le- bendes Wesen. Sie untersteht nicht der Theorie vom Welt- all, sondern der Theorie des organischen Lebens. Sie wird durch Darwin erklärt und nicht durch Newton. Sie wird durch ihre Umgebung umgeformt, durch ihre Zwecke be- stimmt und durch den Zwang des Lebens ihren Zielen an- gepaßt. Kein lebendes Wesen kann seine Organe als Hemm- nisse gegeneinanderstellen und fortleben. Sein Leben hängt vielmehr von der schnellen Zusammenarbeit der Organe ab, von ihrem raschen Gehorsam gegen die Gebote des In- stinktes oder der Intelligenz, und von ihrer harmonischen Gemeinsamkeit des Zweckes. Eine Regierung ist kein Kör- per blinder Gewalten, sie ist eine Körperschaft von Män- nern, deren Funktionen in unserer Zeit der Spezialisierung gewiß sehr verschiedenartig sind, aber doch gemeinsamen Zwecken und Zielen zustreben. Das Zusammenwirken . dieser Männer ist Bedingung, ihre gegenseitige Gegner- schaft Verderben. Ohne dies umfassende, unwillkür-

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liehe Zusammenwirken aller Organe des Lebens und des Handelns gibt es kein erfolgreiches Regieren. Das ist keine Theorie, sondern Wirklichkeit, das entfaltet seine Kraft als Tatsache, wie viele Theorien seinem Laufe auch entgegengestellt werden. Lebendige politische Verfassun- gen müssen in ihrem Bau und in ihrer Handhabung dar- winistisch sein. Die Gesellschaft ist ein lebender Organis- mus und muß den Gesetzen des Lebens, nicht denen der Mechanik gehorchen : sie muß sich entwickeln. Alles, was die Fortschrittlichen verlangen oder wünschen, ist die Er- laubnis — inmitten eines Zeitalters, in dem ,, Entwicklung" und ,, Evolution" die Worte der Wissenschaft sind die Verfassung im Einklang mit den von Darwin ergründeten Naturgesetzen interpretieren zu können ; alles, was sie ver- langen ist die Anerkennung der Tatsache, daß eine Nation ein lebendiges Wesen ist und keine Maschine.

Manche Bürger Amerikas sind niemals über die Un- abhängigkeitserklärung vom Jahre 1776 hinausgekommen. Ihr Herz ist Georg HL feindlich gesinnt : aber des Freiheits- kampfes, der sich heute vollzieht, werden sie sich nicht be- wußt. Die Unabhängigkeitserklärung erstreckte sich nicht auf die Probleme unserer Gegenwart und wird wirkungs- los, wenn wir ihre allgemeinen Bestimmungen nicht auf Beispiele unserer Gegenwart übertragen können. Sie war ein durchaus praktisches Dokument und zur Handhabung durch praktische Menschen bestimmt; sie war keine Re- gierungstheorie, sondern ein Aktionsprogramm. Solange wir den Sinn dieser Verfassung nicht auf die Fragen un- serer Zeit übertragen können, so lange sind wir unwürdige Söhne jener Männer, die nach ihren Vorschriften handelten.

Welche Form hat heute der Kampf zwischen Ty- rannei und Freiheit? Welche Form der Tyrannei ist es, die wir heute bekämpfen? Auf welche Weise gefährdet sie die Rechte des Volkes und was wollen wir tun, um

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unsern Kampf wirksam zu machen ? Was soll der Inhalt unsrer neuen Unabhängigkeitserklärung sein?

Die Tyrannei, gegen die wir heute kämpfen, ist die Be- herrschung der Gesetze, der Gesetzgebung und der Recht- sprechung durch Gruppierungen, die nicht das Volk ver- treten und deren Ziele selbstsüchtig sind. Wir kämpfen gegen eine Führung unserer Angelegenheiten und gegen eine Art der Gesetzgebung, die den Interessen besonderer Kapitalsverbände Untertan sind, und wir richten uns gegen die zu diesem Zweck erfolgte Verbündung des politischen Apparates mit selbstsüchtigen Zwecken. Wir kämpfen gegen die Ausbeutung des Volkes durch die Werkzeuge der Politik und der Gesetzgebung. Denn wir haben es schon oft erlebt, daß unsere Regierung unter dem Druck dieser Einflüsse aufhörte, eine repräsentative Regierung zu sein ; sie hörte auf, eine Regierung zu sein, die das Volk vertrat, und wurde zu einer Regierung, die Sonderinteressen ver- trat und durch besondere politische Organisationen be- herrscht war, auf die das Volk ohne Einfluß blieb.

Wenn ich das Wachstum unseres Wirtschaftssystems überblicke, will es mir manchmal scheinen, als hätten wir als wir unsere Gesetze dort beharren ließen, wo sie waren ehe irgendeine aller jener modernen Erfindungen und Ent- wicklungen eintrat unsere Wohnstätte einfach aufs Ge- ratewohl vergrößert; hier fügten wir unserem Heime ein Kontor an und dort eine Werkstatt und eine Reihe von Schlafräumen ; auf die alten Fundamente türmten wir ein Stockwerk, gliederten noch einen Anbau an eine Seite; bis wir schließlich ein Gebäude vor uns haben, das über- haupt keinen Charakter hat. Nun ist es unsere Aufgabe, in diesem Hause weiter zu leben und es doch umzu- wandeln.

Nun, wir sind moderne Baumeister und unsere Archi- tekten sind auch Ingenieure. Wir brauchen den Eisen-

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bahnbetrieb nicht mehr einzustellen, weil ein neues Bahn- hofsgebäude gebaut wird. Wir brauchen keine Lebens- funktion zum Stehen zu bringen, weil wir das Haus um- bauen, in dem diese Funktionen vor sich gehen. Unsere Aufgabe ist es, die Fundamente dieses Hauses in ein System zu bringen, dann werden wir alle die alten Teile des Bauwerkes mit einem modernen Stahlgerüst umspan- nen und festigen, werden auf Grund unserer modernen Kenntnisse von der Stärke und Elastizität eines Baukör- pers das Werk durchführen, langsam die Teile verändern, Wände niederlegen, durch neue Öffnungen Licht herein- lassen und die Ventilation verbessern, bis schließlich, nach einer oder zwei Generationen, das Gerüst abgenommen wird : und die Familie in einem großen Gebäude von edler Architektur wohnt. Dann werden wir alle in diesem Hause zusammenarbeiten können gleich einem wohlorganisier- ten Bienenkorb ; Stürme der Natur und auch keine künst- lichen Stürme sind zu fürchten, denn alle wissen, daß die Fundamente im festen Fels der Grundsätze verankert sind. Und sie wissen zugleich, daß sie den Plan ihres Hauses, wenn immer sie es wünschen, verändern und den ver- wandelten Notwendigkeiten des Daseins anpassen können. Aber es gibt deren viele, denen dieser Gedanke nicht gefällt. Auf Grund der Tatsache, daß die Mehrzahl unserer amerikanischen Architekten in einer gewissen Pariser Hochschule herangebildet wurden, meinte kürzlich ein Witzbold, alle amerikanische Architektur der letzten Jahre sei entweder bizarr oder ,, Beaux Arts". Ich halte unsere wirtschaftliche Architektur für ausgesprochen bizarr ; und ich fürchte, daß wir noch auf vielen anderen Gebieten als auf dem der Baukunst mancherlei an der gleichen Quelle lernen können, an der unsere Architekten so viel Nütz- liches lernten. Ich meine nicht die Pariser Hochschule der schönen Künste, aber ich denke an die Erfahrungen Frank-

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reichs ; denn heute können die Menschen auf der anderen Seite des Ozeans gegen uns den Vorwurf erheben, daß wir nicht in gleichem Maße wie sie unser Leben den modernen Verhältnissen angepaßt haben. Mich haben lebhaft man- che jener Gründe interessiert, die unsere Freunde jenseits der kanadischen Grenze geltend machten, um ihre große Zurückhaltung in der Frage eines Gegenseitigkeitsvertra- ges zu erklären. Sie sagten: ,,Wir wissen nicht, wohin ein solches Abkommen führen kann, und wir möchten uns nicht zu eng mit den wirtschaftlichen Verhältnissen der Vereinigten Staaten verbinden, solange diese Verhältnisse nicht so modern sind wie die unseren." Und wenn mich das verstimmte und ich nach Einzelheiten fragte, dann mußte ich in vielen Dingen die Debatte aufgeben. Denn ich sah, daß sie die Regulierung ihrer wirtschaftlichen Ent- wicklung den Verhältnissen angepaßt hatten, denen wir in den Vereinigten Staaten noch nicht gerecht zu werden wußten.

Aber wir haben auf jeden Fall begonnen. Die Prozes- sion ist unterwegs. Der ,, Stand-patter" weiß nicht, daß es eine Prozession gibt. Er schläft im Hinterzimmer seines Hauses. Er weiß nicht, daß die Straßen widerhallen vom Tritte der Männer, die zur Front eilen. Und wenn er auf- wacht, wird das Land leer sein. Er wird einsam sein und sich verwundert fragen, was geschehen sei. Nichts ist ge- schehen. Die Welt ist fortgeschritten. Die Welt hat die Gewohnheit fortzuschreiten. Die Welt hat die Gewohnheit, jene, die nicht mit ihr Schritt halten wollen, zurückzu- lassen. Die Welt hat sich niemals um Ofenhocker ge- kümmert. Und darum erweckt der Ofenhocker nicht meine Empörung; er erweckt mein Mitgefühl. Unverse- hens wird er vereinsamt sein. Und wir halten gute Kame- radschaft, sind eine fröhliche Gesellschaft. Warum kommt er nicht mit uns ? Wir werden ihm kein Leid zufügen. Wir

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werden ihm schöne Tage bereiten. Auf der staubigen Land- straße steigen wir hinan, bis wir ein Hochland erreichen, wo die Luft frischer ist, wo die Menschen einander ins Angesicht sehen und entdecken, daß es nichts zu ver- bergen gibt, daß sie alle von allem offen und rückhaltslos miteinander sprechen können. Bis wir, auf den zurück- gelegten Weg zurückblickend, endlich sehen, daß wir unser Versprechen an die Menschheit eingelöst haben. Der ganzen Welt hatten wir verkündet: ,, Amerika wurde ge- schaffen, um jede Art von Bevorzugung aufzuheben, um die Menschen zu befreien und sie auf den Boden einer Gleichheit zu stellen, auf dem sie unbehindert ihre Fähig- keiten und ihre Kräfte betätigen können." Dann werden wir bewiesen haben, daß es uns mit dem Ziele Ernst ist.

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Drittes Kapitel

Ein freies Volk braucht keine Vormund- schaft

Seitdem es eine Regierung gab, standen sich stets zwei Regierungstheorien gegenüber. Eine dieser Theorien ist in Amerika mit dem Namen eines sehr großen Mannes verknüpft: mit Alexander Hamilton. Er war eine große Persönlichkeit, aber nach meiner Meinung doch kein gro- ßer Amerikaner. Sein Denken erwuchs nicht aus den Be- dingungen amerikanischen Lebens. Hamilton glaubte, die einzigen, die das Wesen des Regierens verstehen könnten und damit die einzigen, die zur Führung der Regierung berufen wären, seien jene Männer, die am Handel und an der Industrie des Landes finanziell am stärksten beteiligt seien. Nach dieser Theorie, die offen zu verkünden nur wenige den Mut haben, ist in der letzten Zeit die Regie- rung unseres Landes geführt worden. Es ist erstaunlich, wie zäh diese Anschauung ist. Es ist verblüffend, wie schnell die politische Partei, deren erster Führer Lincoln war Lincoln, der diese aristokratische Theorie nicht nur bestritt, sondern auch durch seine eigene Persönlich- keit widerlegte, es ist verblüffend, wie schnell diese auf das Vertrauen des Volkes gegründete Partei die Grund- sätze Lincolns vergaß und der Täuschung erlag, die ,, Mas- sen" bedürften der Vormundschaft durch die ,, Geschäfts- leute".

Denn wenn man darüber nachdenkt gibt es in der Tat keine stärkere Abkehr vom ursprünglichen Ameri-

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kanismus und von dem Vertrauen zu den Fähigkeiten eines selbstbewußten, mittelreichen und unabhängigen Volkes als die entmutigende Theorie, daß irgendwer zur Sorge um die Wohlfahrt der anderen berufen sei. Und doch ist das die Lehre, nach der in den letzten Jahren die Regie- rung der Vereinigten Staaten geführt wurde. Wer wurde befragt, wenn wichtige Regierungsmaßnahmen, Zolltarife, Währungsgesetze und Eisenbahngesetze erwogen wurden ? Das Volk, das von den Tarifen getroffen wird, für die die Währung bestehen soll, das die Steuern bezahlt und auf den Eisenbahnen fährt? O nein! Was versteht das Volk von solchen Angelegenheiten ! Die Männer, deren Ansich- ten erbeten wurden, waren die großen Fabrikanten, die Bankiers und die Leiter der großen Eisenbahntrusts. Die Herren der Regierung der Vereinigten Staaten sind die ver- bündeten Kapitalisten und Fabrikanten der Vereinigten Staaten. Auf jeder Seite der Kongreßberichte steht das zu lesen, wie ein roter Faden zieht es durch die Geschichte der Beratungen im Weißen Hause: alle Anregungen zu unserer Wirtschaftspolitik kamen aus einer Quelle und nicht aus vielen. Die wohlwollenden Wächter und gut- herzigen Kuratoren, die uns die Mühe des Regierens ab- nahmen, sind so bekannt geworden, daß heute fast jeder die Liste ihrer Namen aufstellen kann. Sie sind so bekannt, daß ihre Namen fast auf jedem politischen Programm er- scheinen. Die Leute, die sich der interessanten Arbeit un- terzogen haben, für uns zu sorgen, zwingen uns nicht, unseren Dank an anonyme Adressen zu richten. Wir kennen sie mit Namen.

Gehe nach Washington, versuche deine Regierung zu erreichen. Stets wirst du finden, daß man dich höflich an- hört: allein die Leute, die wirklich befragt werden, sind die Männer mit den größten Kapitalseinlagen die gro- ßen Bankiers, die großen Fabrikanten, die großen Handels-

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Herren, die Führer der Eisenbahngesellschaften und der Dampferkompagnien. Ich habe nichts dagegen einzuwen- den, daß diese Männer befragt werden, denn auch sie sind, wenn sie selbst das auch nicht zuzugeben scheinen, ein Teil des Volkes der Vereinigten Staaten. Aber ich habe sehr viel dagegen einzuwenden, daß diese Männer haupt- sächlich befragt werden, und ganz besonders dagegen, daß nur sie allein befragt werden. Wenn die Regierung der Vereinigten Staaten das Rechte für das Volk der Vereinig- ten Staaten tun will, muß sie das unmittelbar tun und nicht durch Vermittlung jener Leute. Allein wenn immer eine bedeutsame Frage auftauchte, dann wurden die For- derungen jener Männer so behandelt, als wäre die Erfül- lung eine Selbstverständlichkeit.

Die Regierung der Vereinigten Staaten ist gegenwärtig das Mündel der Sonderinteressen. Es wird ihr nicht ge- stattet, einen eigenen Willen zu haben. Ihr wird bei jedem Beginnen gesagt: ,,Tu das nicht, du wirst unsere Wohl- fahrt vernichten." Und wenn wir fragen : „Wo ruht unsere Wohlfahrt?" antwortet eine gewisse Gruppe von Leuten: ,,Bei uns." Die Regierung der Vereinigten Staaten ist in den letzten Jahren nicht durch das Volk der Vereinigten Staaten verwaltet worden. Das ist keine Anklage gegen irgendwen; das ist nur eine Feststellung bekannter Tat- sachen : das Volk stand draußen, blickte auf seine eigene Regierung, und das einzige, wobei es mitzubestimmen hatte, war die Frage, welcher Gruppe es dabei zusehen wollte ; es konnte entscheiden, ob es zusehen wollte, wie diese kleine Gruppe oder wie jene kleine Gruppe es an- stellte, um die Herrschaft über die öffentlichen Angelegen- heiten in ihre Hände zu bringen. Wer hat je von irgend- einer Sitzung irgendeiner wichtigen Kongreßkommission vernommen, bei der das amerikanische Volk als Ganzes vertreten war, und sei es auch nur durch Mitglieder des

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Kongresses ? Die Männer, die bei solchen Zusammenkünf- ten erscheinen, um für oder gegen eine Bestimmung des Tarifs zu sprechen, um für oder gegen eine Maßnahme zu stimmen, sind die Vertreter bestimmter Interessen. Sie mögen diese Interessen sehr ehrlich vertreten, sie mögen nicht die Absicht haben, ihre Mitbürger zu schädigen : aber sie betrachten die Dinge von dem Gesichtspunkt eines klei- nes Bruchteiles der Bevölkerung. Ich habe mich bisweilen gewundert, daß Männer, besonders wohlhabende Männer, die für ihren Lebensunterhalt nicht zu arbeiten brauchen, sich nicht zu Anwälten des Volkes aufwerfen und immer, wenn eine Kongreßkommission tagt, hingehen und sagen : ,, Meine Herren, berücksichtigen Sie bei der Betrachtung dieser Angelegenheit auch das ganze Land ? Berücksich- tigen Sie die Bürger der Vereinigten Staaten?**

Es ist nicht mein Ziel, eine kleine Gruppe von Fach- kundigen in Washington hinter verschlossenen Türen sit- zen und für mich die Vorsehung spielen zu sehen. Es gibt eine Vorsehung, der ich mich bereitwilligst unterordne. Aber daß andere Männer sich zur Vorsehung über mich aufwerfen, erweckt ernstlichen Widerspruch. Ich habe die- sem Braten besondere politische Schmackhaftigkeit nie abgewinnen können und erwarte das auch nicht, einge- denk der lustigen Verse des Gillet Burgess:

Nie sah ich eine rote Kuh

Und Sehnsucht flößt sie mir nicht ein.

Doch lieber noch, das geb ich zu,

Will ich sie sehn, als eine sein. Lieber würde ich den Vereinigten Staaten einen Retter erstehen sehen, ehe ich mich dazu aufwerfe, selbst einer sein zu wollen, denn ich fand, ich fand wirklich I daß Männer, die ich befragte, mehr wissen, als ich weiß, besonders wenn ich viele von ihnen befrage. Noch nie habe ich eine Kommissionssitzung oder eine Beratung ver-

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lassen, ohne von den zur Erörterung stehenden Fragen mehr zu wissen als ich vorher wußte. Und das ist für mich ein Abbild einer Regierung. Ich bin nicht gewillt, mich unter das Patronat der Trusts zu begeben, wie vorsorglich das Tempo, in dem die Trusts die Herrschaft über mein Leben erringen sollen, auch von der Regierung abgewogen werde. Ich zähle zu jenen, die in diesem Zusammenhang die Theorie der Kuratel und die Lehre von der Vormundschaft unbedingt ablehnen. Mir ist nie ein Mann begegnet, der es verstanden hätte, für mich zu sorgen, und auf diese Er- fahrung gestützt vermute ich auch, daß es keinen einzel- nen Mann gibt, der für das ganze Volk der Vereinigten Staaten zu sorgen verstünde. Ich glaube, das Volk der Ver- einigten Staaten kennt seine eigenen Interessen besser als irgendeine Gruppe im Bereiche unseres Landes. Die Men- schen, die ihre Kraft und ihr Blut opfern, um in der Welt der Arbeit und des Strebens Fuß zu fassen, kennen die Ge- schäftsverhältnisse in den Vereinigten Staaten viel besser als jene, die ihr Ziel bereits erreicht haben und auf dem Gipfel stehen. Die noch unten stehen wissen, wie die Schwie- rigkeiten beschaffen sind, gegen die sie ankämpfen. Sie wissen, wie schwer es ist, ein neues Unternehmen einzu- führen. Sie wissen, wie schwer es ist, den Kredit zu er- langen, der sie auf gleichen Fuß mit jenen Männern stellt, die im Lande eine Industrie bereits aufgebaut haben. Sie wissen, daß irgendwo durch irgendwen die Entwicklung der Industrie beherrscht und bestimmt wird.

Wenn ich das ausspreche, so geschieht es ohne die ge- ringste Absicht, ein Vorurteil gegen die Wohlhabenden zu wecken ; ich würde mich meiner selbst schämen, wenn ich Klassengefühle, welcher Art sie auch sein mögen, zu ent- fesseln suchte. Aber ich will darauf hinweisen, daß der Reichtum des Landes in den letzten Jahren aus besonderen Quellen geflossen ist. Er floß aus jenen Quellen, die das

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Monopolsystem schufen. Der Gesichtspunkt dieser Männer ist ein besonderer Gesichtspunkt. Sie wollen nicht, daß das Volk seine eigenen Angelegenheiten führe, weil sie nicht glauben, daß das Urteil des Volkes gesund und vernünftig sei. Sie möchten damit beauftragt werden, für die Ver- einigten Staaten und für das Volk der Vereinigten Staaten zu sorgen, weil sie glauben, daß sie besser als irgendwer die Interessen der Vereinigten Staaten beurteilen können. Ich bekämpfe nicht den Charakter dieser Männer, ich be- kämpfe ihren Gesichtspunkt. Wir können es uns nicht leisten, so regiert zu werden, wie wir in der letzten Gene- ration regiert wurden: durch Männer von einem einsei- tigen und damit vorurteilsvollen Gesichtspunkt.

Die Regierung der Vereinigten Staaten kann^nicht irgend einer besonderen Klasse anvertraut werden. Die Politik einer großen Nation kann nicht mit einer Sonder- gruppe von Interessen verknüpft sein. Immer wieder möch- te ich es sagen : meine Einwendungen erstrecken sich nicht auf den Charakter der Männer, denen ich entgegentrete. Ich glaube, daß die sehr reichen Männer, die ihr Vermögen durch gewisse Arten von korporationsartigen Unterneh- men erwarben, ihren Horizont eingeschränkt haben; sie überblicken nicht die ganze Masse des Volkes und können sie auch nicht verstehen. Darum suche ich jene kleine Gruppe zu sprengen, die bestimmt hat, was die Regierung der Nation tun solle. Die Männer, die die Geschicke New Jer- seys zu bestimmen pflegten, zählten kaum ein halbes Dut- zend und blieben stets dieselben. Manche von ihnen sind freimütig genug, zuzugeben, daß New Jersey heute mehr Tatkraft entfaltet, weil mehr Leute zu Rat gezogen werden und weil das ganze Gebiet der Tätigkeit erweitert und frei gemacht worden ist. Die Regierung muß von der Herr- schaft besonderer Klassen befreit werden : nicht etwa,"weil diese Klassen naturnotwendig schlecht wären, sondern

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weil keine Sonderklasse die Interessen einer großen Ge- meinschaft zu beurteilen vermag.

Ich glaube an die Durchschnittsehrlichkeit und an die Durchschnittsintelligenz des amerikanischen Volkes und ich glaube nicht, daß die Intelligenz Amerikas sich auf irgendwen konzentrieren kann. Und darum glaube ich auch nicht, daß es irgendeine Gruppe von Leuten gibt, der wir eine solche Art Vormundschaft einräumen können. Solange ich es verhindern kann, will ich unter keiner Vor- mundschaft leben. Keine bestimmte Gruppe von Männern hat das Recht, mir zu sagen, wie ich in Amerika leben soll. Der Majorität werde ich mich fügen, weil ich dazu er- zogen bin wiewohl ich auch über die Majorität bisweilen meine eigene Meinung habe.

Wenn irgendein Teil des amerikanischen Volkes Mün- del sein will, wenn er der Vormundschaft zu bedürfen glaubt, wenn er danach verlangt, daß jemand für ihn sorgt und wenn er eine Schar von der Regierung beschützter Kinder werden will, so wäre das zu beklagen, weil es der Mannhaftigkeit Amerikas Abbruch tut. Aber ich glaube nicht, daß ein solcher Wunsch besteht. Ich glaube, daß das Volk auf der festen Grundlage der Gesetze und des Rechtes für sich selbst sorgen will. Ich für meine Person möchte keiner Nation angehören und gehöre wohl auch keiner an, die danach verlangt, durch Vormünder be- schützt zu werden. Ich möchte einer Nation angehören und ich bin stolz, einer Nation anzugehören, die für sich selbst zu sorgen weiß. Wenn ich glaubte, das amerika- nische Volk sei zügellos, unwissend und rachsüchtig, dann würde ich davor zurückschrecken, die Regierung in seine Hand zu legen. Aber es ist die Schönheit der Demokratie, daß sie, wenn sie achtlos wird, ihre eigenen Lebensbedin- gungen zerstört ; wenn sie rachgierig wird, macht sie sich selbst zum Opfer der Rachgier. Das Wesen einer demokra-

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tischen Gemeinschaft beruht auf der Tatsache, daß jedes Interesse jedermanns Interesse ist.

Die Theorie, nach der die Leiter der größten Unter- nehmungen und Beherrscher des weitesten Wirkungs- feldes auch geeignete Ratgeber einer Regierung seien, will ich als eine recht plausible Theorie gelten lassen. Wenn meine Geschäfte sich nicht allein über die Vereinigten Staaten, sondern über die ganze Welt erstrecken, wird man anitfehmen dürfen, daß in meiner Geschäftsbetrachtung große Gesichtspunkte und weite Ziele walten. Aber der Fehler ist, daß ich nur mein eigenes Unternehmen über- blicke und nicht die Unternehmen der Leute, die jenseits jener Ziele und Pläne stehen, die ich für besondere mir nahestehende Untersuchungen gefaßt habe und verfolge. Eine wie große Zahl von Leuten, die ihr eigenes Geschäft verstehen, man auch zusammenbringt, und wie groß deren Geschäfte auch sein mögen : damit wird man noch nicht eine Körperschaft von Männern gefunden haben, die die Geschäfte der Nation von ihren eigenen Interessen tren- nen kann.

In einer vergangenen Generation, vor einem halben Jahrhundert, war mit der Regierung eine stattliche Reihe von Männern verknüpft, deren Patriotismus wir weder leugnen noch anzweifeln können; es waren Männer, die dem Volke dienen wollten, aber so stark von dem Ge- sichtspunkt einer herrschenden Klasse abhängig gewor- den waren, daß sie Amerika nicht mehr so ansehen konn- ten, wie das Volk Amerikas es tat. Damals erstand die unsterbliche Gestalt des großen Lincoln, erhob sich und erklärte, die Politiker, die Männer, die unser Land regiert hatten, vermöchten die Dinge nicht vom Gesichtspunkte des Volkes aus zu betrachten. Wenn ich jener erhabenen Gestalt gedenke, die in Illinois emporstieg, dann sehe ich das Abbild eines freien Mannes, der von den das Land be-

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herrschenden Einflüssen unberührt und unabhängig blieb ; er war bereit, die Dinge mit offenen Augen zu sehen, sie stets zu sehen, sie ganz zu sehen, und sie auch so zu sehen, wie die Männer sie sahen, mit denen er sie Schulter an Schulter betrachtete und die mit ihm verbündet waren. Was das Land im Jahre i860 brauchte, war ein Führer, der das Denken des ganzen Volkes verstand und ver- körperte, im Gegensatz zu jener Sonderklasse, die sich als Vormund für die Wohlfahrt des Landes ansah. Inmitten unserer heutigen politischen Verhältnisse bedürfen wir wieder eines Mannes, der nicht mit den herrschenden Klassen und mit den herrschenden Einflüssen verknüpft ist und der aufsteht und für uns spricht. Wir wollen eine Stimme hören, die das amerikanische Volk dazu aufruft, seine Rechte und Prärogativen bei der Ausübung seiner eigenen Regierung geltend zu machen.

Ich bringe Herrn Taft und Herrn Roosevelt die vollkom- menste Hochachtung entgegen, aber beide waren mit den Mächten, die fast eine Generation hindurch die Politik unserer Regierung bestimmten, so eng verbunden, daß sie die Angelegenheiten des Landes nicht mit den Augen eines neuen Zeitalters und nicht von dem Gesichtspunkt der ver- änderten Umstände aus betrachten können. Sie sympathi- sieren mit dem Volke ; unzweifelhaft schlagen ihre Herzen für die großen Massen unbekannter Menschen in unserem Lande; aber ihre Gedanken sind eng und gewohnheits- mäßig mit jenen Männern verknüpft, die während unserer Lebenszeit stets die Politik unseres Landes bestimmten. Das sind die Männer, die den Schutzzolltarif entwarfen, die Trusts entwickelten und die großen wirtschaftlichen Gewalten unseres Landes so koordinierten und ordneten, daß heute nur eine von außen hereinbrechende Gewalt ihre Vorherrschaft brechen kann. Im Bewußtsein dieser Umstände wird das Volk jenen Herren sagen dürfen: „Wir

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bestreiten eure Ehrenhaftigkeit nicht, wir zweifeln nicht an der Reinheit eurer Vorsätze ; aber das Denken des Vol- kes der Vereinigten Staaten ist noch nicht in euer Bewußt- sein gedrungen. Ihr seid bereit, für das Volk zu handeln. Und darum wollen wir für uns selbst handeln."

Manchmal denke ich, daß die Männer, die uns jetzt regieren, die Ketten spüren, in denen sie gehalten werden. Ich glaube nicht, daß sie uns bewußt in das Schlepptau der Sonderinteressen eingeschirrt haben. Die Sonderinter- essen sind herangewachsen. Sie erwuchsen durch Vor- gänge, die wir endlich glücklicherweise zu verstehen beginnen. Und nachdem sie herangewachsen waren, nach- dem sie sich vorteilhaft nahe am Ohre jener, die die Re- gierung leiten, eingenistet hatten, nachdem sie das zu den Wahlen notwendige Geld beigesteuert und damit nach den Wahlen einen gewissen Anspruch auf freundliche Behand- lung erlangt hatten, schloß sich rings um die Regierung der Vereinigten Staaten ein Ring ; er ist gebildet aus einer sehr interessanten, sehr fähigen und sehr tatkräftigen Ko- terie von Männern, die in ihren Anschauungen und in ihren Wünschen sehr entschieden und sehr zielbewußt sind. Sie brauchen uns nicht über das zu befragen, was sie wünschen. Sie brauchen niemand zu befragen. Sie kennen ihre Ab- sichten und wissen daher, was ihnen frommt. Es mag sein, daß sie wirklich dachten, was sie gedacht zu haben behaup- teten ; es mag sein, daß sie von der Geschichte der wirt- schaftlichen Entwicklung und von den Interessen der Ver- einigten Staaten so wenig wissen, daß sie glauben, ihre Führung sei für unser Wohlergehen und für unsere Fort- entwicklung unentbehrlich. Daß sie das glauben, brauche ich nicht erst zu beweisen; denn sie selbst geben es zu. Mehr als einmal habe ich sie das zugeben hören.

Offen möchte ich es aussprechen, daß ich ihnen das nicht verarge. Mancher der Leute, die diesen Einfluß aus-

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geübt haben, sind prächtige Menschen ; sie glauben wirk- lich, die Wohlfahrt des Landes hänge von ihnen ab. Sie glauben wirklich, wir wären nicht imstande, unsere Auf- gabe zu bewältigen, wenn sie die Führung der wirtschaft- lichen Entwicklung unseres Landes aus der Hand gäben. Sie halten die Macht der Vereinigten Staaten nicht nur in ihrer Hand sondern auch in ihrer Phantasie. Sie sind ehr- liche Leute und haben nicht weniger Recht, ihre Mei- nungen zu äußern wie ich zur Darlegung der meinen, aber die Zeit ist gekommen, in der wir unsere Anschauungen selbst nachprüfen und ihre Gültigkeit bestimmen müssen. In Wirklichkeit vermögen jene Männer die Vorgänge in- nerhalb ihrer eigenen Unternehmen nicht ganz zu über- blicken. Als Universitätspräsident habe ich erfahren müs- sen, daß die Leute, die über unsere Fabrikationsmethoden bestimmen, ohne die Hilfe der Fachleute, die ihnen von den Universitäten zur Verfügung gestellt werden, ihren Ge- schäftsbetrieb keine vierundzwanzig Stunden aufrechter- halten könnten. Die moderne Industrie ist von techni- schen Kenntnissen abhängig ; die Leistung jener Fabrik- herren mußte sich auf die äußere Geschäftsführung und auf die Finanzoperationen beschränken, die mit der ge- nauen Fachkenntnis, mit denen die Unternehmungen be- trieben werden, sehr wenig zu tun haben. Ich kenne Män- ner, deren Namen nirgends gedruckt werden, deren Na- men in öffentlichen Erörterungen nie fallen und die doch Mark und Bein der amerikanischen Industrie sind.

Sprechen die Herren unserer Industrie im Geiste und im Interesse jener Männer, die sie beschäftigen? Fragt man mich, wie ich über die Arbeiterfrage und die Arbeiter denke, dann fühle ich, daß man mich nach dem fragt, was ich von der überwiegenden Mehrheit des Volkes weiß. Dann habe ich das Empfinden, als forderte man von mir, ich möge mich von mir selbst als dem Angehörigen einer besonderen

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Klasse und von jenem großen Teil meiner Mitbürger, die die Unternehmungen dieses Landes stützen und leiten, los- lösen. Solange wir diesen Gesichtspunkt nicht opfern, wird es unmöglich, eine freie Regierung zu haben. Ich habe sehr ehrlichen und gewandten Rednern gelauscht, deren Gefühle dadurch bemerkenswert waren, daß sie nicht an sich selbst dachten, wenn sie von dem Volke sprachen ; sie dachten an irgendwen, für den sie zu sorgen beauf- tragt seien. Sie wollten stets alles für das amerikanische Volk tun und ich sah sie erschauern, wenn ihnen vorge- schlagen wurde, man möge die Dinge so einrichten, daß das Volk etwas für sich selbst tun könne. Sie meinten : ,,Was versteht das Volk davon?** Und ich möchte ihnen immer antworten: ,,V^as verstehen Sie davon? Sie ken- nen Ihre Interessen, aber wer hat Sie über unsere Inter- essen unterrichtet und über das, was für sie geschehen muß?" Denn es ist die Pflicht jedes Leiters einer Regie- rung, auf das zu hören, was die Nation sagt, und das zu wissen, was die Nation durchmacht. Es ist nicht seine Aufgabe, für die Nation zu urteilen, sondern er soll als Erwählter und als Stimme des Volkes durch die Nation sprechen. Und ich glaube nicht, daß dieses Land eine Fort- setzung der Politik jener Männer dulden kann, die die Dinge in anderem Lichte sahen.

Die Hypothese, unter der wir regiert wurden, ist die einer Regierung durch eine Körperschaft von Kuratoren, durch eine ausgewählte Anzahl großer Geschäftsleute, die eine Menge Dinge wissen und die es als erwiesen ansehen, daß unsere Unkenntnis die Wohlfahrt des Landes zer- stören würde. Die Präsidenten, die wir in der letzten Zeit hatten, lebten in der Vorstellung, sie seien die Präsidenten jenes nationalen Vormundschaftsrates. Das ist nicht meine Anschauung. Ich bin Präsident eines Kuratoriums ge- wesen und ich möchte dieses Amt nicht ein zweites Mal

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versehen. Ich möchte Präsident des Volkes der Vereinigten Staaten sein. Als ich Präsident des Kuratoriums der Uni- versität war, kam es oft vor, daß die jüngeren Studenten mehr wußten als die Mitglieder des Kuratoriums; und immer wieder überfällt mich seitdem der Gedanke, daß ich viel schneller zum Ziele gekommen wäre, wenn ich statt mit einem Kuratorium direkt mit den Leuten zu tun ge- habt hätte, die die Princeton Universität bildeten.

Ich bitte zu beachten, daß ich nicht sage, jene Führer wußten, daß sie uns schadeten, oder hatten die Absicht, Schaden zu stiften. Ich fürchte jenen Mann, der etwas Schlimmes tut und nicht weiß, wie schlimm es ist, viel mehr als jenen Mann, der etwas Schlimmes tut und es auch weiß ; in öffentlichen Angelegenheiten halte ich Beschränkt- heit für gefährlicher als Schlechtigkeit, denn sie ist schwe- rer zu bekämpfen und zu beseitigen. Wenn ein Mann nicht die Folgen seines Handelns für das ganze Land abzuschät- zen vermag, kann er das Land nicht mit Nutzen leiten. Jene Männer aber haben, was immer auch ihre Absicht gewesen sein mag, die Regierung mit den Männern ver- kettet, die den Kapitalsmarkt beherrschten. Ob sie das in aller Unschuld oder mit den Hilfsmitteln der Korruption getan haben, berührt meine Argumente nicht. Sie selbst können sich von jenem Bündnis nicht frei machen.

Man nehme beispielsweise die alte Frage der Wahlfonds : wenn ich loo ooo Dollar von einer Gruppe von Männern annehme, die besondere Interessen vertreten und beson- deres Gewicht auf eine bestimmte Position im Zolltarif legen müssen, dann nehme ich das Geld mit dem Bewußt- sein, daß jene Herren von mir erwarten, ihre Interessen würden nicht übersehen werden. Und sie werden es als eine Ehrensache ansehen, daß ich dafür sorge, daß sie durch Änderungen des Zolltarifes nicht zu sehr geschädigt werden. Wenn ich also ihr Geld nehme, bin ich ihnen durch

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eine schweigende Ehrenverpflichtung verpflichtet. Gegen diese Situation wäre vielleicht nichts einzuwenden, so- lange man das Wesen der Regierung so auffaßt, daß es Aufgabe der Regierenden sei, für die Kuratoren der Wohl- fahrt zu sorgen, die sich ihrerseits wieder um das Volk kümmern ; aber jede andere Theorie würde die Entgegen- nahme von Beiträgen zum Wahlfonds stets und unter allen Umständen ausschließen müssen, es seien denn die Bei- träge der Millionen von Bürgern, die damit ihre Überzeu- gungen bekräftigen und jene Männer unterstützen wollen, die sie als ihr Schallrohr anerkennen.

Die Leute, die mich angehen, sind jene, deren Stim- men unter den bisherigen Verhältnissen nie gehört wur- den ; es sind die Leute, die nie eine Zeile in die Zeitung setzten, nie in einem Parteiprogramm erwähnt wurden und niemals bei Gouverneuren oder Präsidenten oder ir- gendeinem verantwortlichen Führer der Regierung Ge- hör finden konnten, die aber still und geduldig Tag um Tag an ihr Werk gehen und die Bürde der Arbeit nicht von ihren Schultern lassen. Wie sollen diese Männer von den Herren der Finanz verstanden werden, wenn nur die Her- ren der Finanz zu Worte kommen?

Das ist es, was ich meine, wenn ich sage: ,,Gebt dem Volke die Regierung zurück." Ich meine damit nichts De- magogisches ; ich möchte nicht so sprechen, als sei es un- ser Wunsch, daß eine große Menschenmasse herbeistürmt und irgend etwas zerstört. Das ist nicht die Absicht. Ich möchte, daß das Volk komme und seine eigenen Geschäft£- räume in Besitz nehme ; denn die Regierung gehört dem Volke und das Volk hat Anspruch auf freien Zutritt zu jener Macht, die jede Wandlung und jeden Schritt der Po- litik bestimmt.

Amerika wird sich niemals einer Vormundschaft fügen. Amerika wird niemals an Stelle der Freiheit die Leibeigen-

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Schaft erwählen. Seht, was es zu entscheiden gilt! Das ist die Frage des Zolltarifs. Kann diese Frage zugunsten des Volkes entschieden werden, wenn in Washington die Par- teigänger der Monopole die Hauptratgeber sind ? Da ist die Währungsfrage. Werden wir diese Frage lösen, solange die Regierung nur auf den Rat jener hört, die das Bank- wesen beherrschen?

Dann aber besteht die Frage der Erhaltung innerer Er- rungenschaften. Die Hände, die sich ausstrecken, um un- sere Wälder mit Beschlag zu belegen, die die Ausnutzung unserer großen kraftspendenden Flüsse verhindern oder für sich reservieren, die Hände, die sich zum Herzen der Erde ausstrecken, um jene gewaltigen Reichtümer zu packen, die in Alaska oder in anderen Gebieten unserer unvergleichlichen Staaten verborgen liegen, es ist über- all die Faust des Monopols. Sollen diese Männer auch fürderhin an der Schulter der Regierung stehen und uns raten, wie wir uns schützen sollen vor ihnen schützen ?

Der Regierung der Vereinigten Staaten harren Auf- gaben, die nur gelöst werden können, wenn jeder Puls- schlag der Regierung im gleichen Takte mit den Nöten und Wünschen des ganzen amerikanischen Volkskörpers geht.

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Viertes Kapitel Vom Boden kommt das Leben

Blicke ich auf den Gang der Geschichte und den Werde- gang Amerikas zurück, dann finde ich es auf jeder Seite geschrieben : vom Boden aus werden Nationen erneuert und nicht von der Spitze ; der Genius, der aus der Masse der Namenlosen hervorgeht, erneuert Jugend und Tatkraft des Volkes. Was ich von Geschichte kenne, jede kleinste Erfahrung und Beobachtung, die mein Denken beeinfluß- ten, bestätigten mir die Überzeugung: die wirkliche Le- bensweisheit ersteht aus den Erfahrungen einfacher Men- schen. Die Nutzbarkeit, die Lebenskraft und die Früchte des Daseins gehen nicht von der Höhe zur Tiefe ; sie stre- ben gleich dem Wachstum eines Baumes vom Boden em- por und ziehen durch Stamm und Zweige in Laub, Blüten und Früchte. Die großen, mit dem Leben ringenden unbe- kannten Massen sind die Grundlage aller Geschehnisse ; sie sind die dynamische Gewalt, die das Niveau menschlicher Gesellschaft emportreibt. Eine Nation ist so groß und nur so groß wie die Summe ihrer Gesamtheit.

Darum ist es heute die erste und größte Auf gäbe unserer Nation, in die Gemeinschaft der Regierenden die großen Scharen jener namenlosen Menschen aufzunehmen, aus denen unsere künftigen Führer hervorgehen und durch die die Tatkraft der Nation erneuert wird. Ich weiß, was ich sage, wenn ich das ausspreche und meinen Glauben an den einfachen Mann bekenne. Der Mensch, der gegen den Strom schwimmt, kennt die Stärke der Strömung. Der

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Mann, der im Handgemenge steht, weiß wie Hiebe fallen und wie Blut vergossen wird. Der Mann, der noch im Kampfe um den Aufbau seiner Existenz steht, ist der Rich- ter der amerikanischen Gegenwart, nicht der Mann, der sein Ziel erreicht hat ; nicht jener, der aus dem allgemeinen Strom emporgetaucht ist ; nicht jener, der auf der Bank sitzt und dem Volksgetriebe zuschaut : sondern der Mensch, der um sein Dasein und um das seiner Lieben ringt. Das ist der Mensch, der die Wirklichkeit kennt und dessen Mei- nung ich suche und von dessen Urteil ich geführt werden möchte.

Wir haben die falschen Richter gehabt ; die falsche Grup- pe — nein, ich will nicht sagen die falsche Gruppe, aber eine kleine Gruppe hat die Politik der Vereinigten Staaten beherrscht. Der gewöhnliche Mann, der Durchschnitts- bürger wurde nicht befragt, und sein Mut begann zu sin- ken, weil er befürchten mußte, daß er nie wieder befragt werden würde. Deshalb wird es unsere Aufgabe, eine Re- gierung zu organisieren, deren Sinn dem amerikanischen Volke als einem Ganzen offen ist, eine Regierung, die, ehe sie handelt, einen so großen Teil des amerikanischen Vol- kes als nur möglich zu Rate zieht. Denn das große Pro- blem des Regierens beruht auf der Kenntnis dessen, was der Durchschnittsmensch erfährt und wie er seine Erfah- rungen beurteilt. Die meisten von uns sind Durchschnitts- menschen ; nur sehr wenige erheben sich über das allge- meine Niveau der uns umgebenden Menschen, es sei denn durch glückliche Zufälle ; Amerika wird am besten von jenem Menschen verstanden, der allgemeine Erfahrungen durchlebte und allgemeine Gedanken dachte. Ist das nicht auch der Grund, warum wir auf Lebensgeschichten wie die Abraham Lincolns stolz sind ? Sie zeigt uns einen Men- schen, der aus der großen Menge emporstieg und Amerika besser verstand als es je von jemand verstanden wurde,

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der aus den begünstigten Gesellschaftsschichten oder der gebildeten Klasse hervorging.

Die Hoffnung der Vereinigten Staaten bleibt für die Gegenwart und die Zukunft die gleiche wie immer : es ist die Hoffnung und das Vertrauen, daß aus unbekannten Hütten und Häusern Männer kommen werden, die sich zu Führern unserer Industrie und unseres öffentlichen Lebens emporschwingen. Die durchschnittliche Hoffnungs- freudigkeit, die durchschnittliche Wohlfahrt, der durch- schnittliche Unternehmungsgeist und die durchschnitt- liche Initiative des amerikanischen Volkes sind die einzi- gen Dinge, die das Land reich machen. Wir sind nicht reich, weil einige wenige Männer unsere Industrie leiten; wir sind reich durch unsere eigene Intelligenz und unseren eigenen Fleiß. Amerika besteht nicht aus Leuten, deren Namen in den Zeitungen genannt werden ; das politische Amerika besteht nicht aus Männern, die sich zu politi- schen Führern aufwerfen ; es besteht nicht aus den Leuten, die am meisten reden denn sie sind nur in dem Grade von Bedeutung, als sie im Namen und für die große stimm- lose Menschenmasse sprechen, die die Gesamtheit und den Kraftvorrat der Nation bilden. Keiner, der nicht das all- gemeine Denken ausdrücken kann und der nicht durch all- gemeine Impulse bestimmt wird, kann für Amerika und seine Zukunftsziele sprechen. Nur jener ist zum Wort be- rufen, der das Denken der großen Menge der Bürger kennt, jener Männer, die Tag für Tag ihrem Geschäft nachgehen, die vom Morgen bis zum Abend sich plagen, des Abends müde heimkehren, aber all das vollbringen, worauf wir so stolz sind.

Wir Amerikaner fühlen unser Blut schneller kreisen, wenn wir daran denken, wie alle Nationen der Erde ver- folgen, was Amerika mit seiner Kraft, seiner physischen Kraft, seinen gewaltigen Hilfsquellen und seinem gewal-

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tigen Reichtum beginnen wird. Die Völker halten ihren Atem an, um zu sehen, was dieses junge Land mit seiner jungen ungebrochenen Kraft anfangen wird ; und wir kön- nen nicht anders als stolz darauf sein, daß wir stark sind. Aber was hat uns so stark gemacht ? Die Mühsal von Mil- lionen von Menschen, die Arbeit von Männern, die sich nicht brüsten, die nicht eitel sind und von Tag für Tag schlicht ihrem Lebenspfade folgen. Die große Masse dieser Geplagten verkörpert die Macht unseres Landes. Es ist ein Ruhmestitel unserer Nation, daß niemand voraussagen kann, welcher Familie, welchem Landesteil und selbst wel- cher Rasse die Führer des Landes entstammen werden. Die großen Führer sind bei uns nicht sehr oft aus den an- erkannten ,, erfolgreichen** Familien hervorgegangen.

Ich entsinne mich noch, wie ich vor nicht langer Zeit in einer Hochschule, deren Studenten fast ausnahmslos Söhne reicher Eltern waren, voll Mitleid sagte: ,,Die mei- sten von euch jungen Männern sind zur Tatenlosigkeit ver- dammt. Ihr werdet nichts vollbringen. Ihr werdet es nicht versuchen. Und angesichts all der großen unvollbrachten Aufgaben unserer Nation werdet ihr wahrscheinlich jene sein, die sich weigern werden, sie zu vollbringen. Irgend- ein Mann, der sich ,, auflehnt**, irgendeiner, der aus der Masse stammt und die Peitsche der Notwendigkeit an sei- nem Nacken fühlt, wird aus der Menge hervortreten, wird zeigen, daß er zugleich die Nöte der Menge und das Inter- esse der Nation versteht : beides zusammen und nicht eines allein. Der wird auf stehen und uns führen." Wenn ich von meinen persönlichen Erfahrungen sprechen darf : ich habe wahrgenommen, daß Zuhörerschaften, die sich aus ,, ge- wöhnlichen Leuten** zusammensetzten, den Kern einer Sache, ein Argument oder eine Tendenz schneller erfaßten als manche College- Klasse, der ich Vorlesungen gehalten habe. Und das nicht etwa, weil den Studenten die Intelli-

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genz fehlte, sondern weil sie nicht Tag für Tag mit den Wirklichkeiten des Lebens in Berührung stehen, dieweil die ,, gewöhnlichen" Bürger Tag um Tag Fühlung mit den Tatsachen des Daseins haben ; ihnen braucht man nicht zu erklären, was sie so lebendig verspüren.

Für den Wert einer vom Boden empordrängenden ste- ten Erneuerung der Gesellschaft gibt es ein Beispiel, das mich stets aufs tiefste interessiert hat. Der einzige Grund dafür, daß die Regierungen unter dem vorwiegend aristo- kratischen System des Mittelalters nicht an Wurzelver- trocknung litten, ist der Umstand, daß so viele ihrer her- vorragenden Männer aus der Kirche hervorgingen : aus jener großen religiösen Körperschaft, die damals die ein- zige Kirche war und die wir heute von anderen als die rö- misch-katholische Kirche unterscheiden. Die katholische Kirche war in jener Zeit wie auch heute noch eine große Demokratie. Es gab keinen Bauern, von wie bescheidener Herkunft er auch sein mochte, der nicht Geistlicher wer- den konnte ; und kein Priester war zu unbekannt, um nicht dereinst vielleicht Oberhaupt des Christentums werden zu können. Und jede Kanzlei, jeder Hof Europas stand unter dem Einfluß dieser gelehrten, erfahrenen und geschickten Männer der Priesterschaft der großen und herrschen- den Kirche. Was die Regierungen des Mittelalters lebendig erhielt, war jenes stete Emporströmen der Säfte aus dem Boden : durch die offenen Kanäle der Geistlichkeit stiegen unausgesetzt Männer aus den Reihen des Volkes zur herr- schenden Kaste empor. Das erscheint mir immer wieder als eine der interessantesten und überzeugendsten Illustra- tionen für die Anschauung, die ich vertrete.

Der einzige Weg, eine Regierung rein und tatkräftig zu erhalten, ist das Freihalten dieser Kanäle, so daß keiner sich für zu gering halten kann, um Mitglied des politischen Organismus zu werden. Dann wird den Adern der Regie-

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rung und der Politik unaufhörlich neues Blut zuströmen. Kein Mann wird zu unbedeutend sein, um nicht die Kruste seiner Klasse zu durchbrechen, emporzustreben und den Führern des Staates zugezählt zu werden. Alles was de- primiert und hinabdrückt, alles was die Organisation stär- ker macht als den Menschen, alles was den einfachen Mann hemmt und entmutigt, widerspricht den Gesetzen des Fort- schrittes.

Wenn ich beobachte, wie heute Bündnisse geschlossen werden, wie die erfolgreichen Geschäftsleute sich mit den erfolgreichen politischen Organisationen verbünden, dann weiß ich, daß etwas geschehen ist, das die Lebenskraft und den Fortschritt der Gesellschaft hemmt. Ein solches Bünd- nis, das auf den Gipfeln geschlossen wird, ist ein Bündnis, das dazu strebt, die Niederungen in den Tiefen zu halten ; sie sollen, wenn nicht noch tiefer sinken, dort bleiben, wo sie sind ; und darum ist es die immerwährende Pflicht ei- ner guten Politik, solche Bündnisse zu lösen oder zu sprengen, und den Kontakt zwischen der großen Masse des Volkes und den Regierungsämtern wiederherzustellen und zu erneuern.

Heute, da unsere Regierung in die Hände der Sonder- interessen geraten ist, heute, da offen jene Theorie ver- kündet wird, nach der nur die auserwählten Klassen das Rüstzeug oder die Fähigkeit zum Regieren besitzen, heute, da so viel gewissenhafte Bürger, von dem Schauspiel so- zialen Unrechts und Leidens überwältigt, Opfer des Irr- tums geworden sind, daß von gutherzigen Aufsichtsräten des Fortschrittes und Hütern der Wohlfahrt pflichtgetreuer Angestellter eine dem Volke segensreiche und wohltätige Regierung ausgehen kann, heute wird sich die Nation mehr als je darauf besinnen müssen, daß ein Volk allein durch jene Kräfte sichergestellt wird, die tief im Herzen des Volkes walten. Hoffnungsfreude, Bewußtsein, Ge-

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wissen und Kraft einer Nation sollen durch jene Wasser erneuert werden, die tief aus den ursprünglichen Quellen ihres Wesens und ihrer Gesamtheit kommen. Nicht von oben, nicht durch die Gönnerschaft seiner Aristokraten. Die Blume trägt nicht die Wurzel, aber die Wurzel die Blume. Alles, was im freien Himmel zur Schönheit erblüht, empfängt seine Schönheit und seine Kraft von seinen Wurzeln. Nichts Lebendiges kann zur Fruchtbarkeit er- blühen, wenn nicht durch die nährenden Fasern, die tief im gewöhnlichen Erdboden verankert sind. Die Rose ist nur ein Zeichen für die Lebenskraft der Wurzel ; und die wahre Quelle ihrer Herrlichkeit, die leuchtende herrliche Blume auf schlankem Stiel, entstammt jenen stillen Lebenskräf- ten, die in der chemischen Beschaffenheit des Bodens be- schlossen liegen.

Aus jenem Boden, von jener stillen Brust der Erde steigen die Ströme des Lebens und der Tatkraft empor. Und empor aus dem gewöhnlichen Boden, aus dem schweig- samen Herzen des Volkes steigen auch freudig jene Ströme der Hoffnung und der Entschlossenheit, die bestimmt sind, das Angesicht der Erde herrlich zu verjüngen. Der sogenannte Radikalismus unserer Zeit ist nichts als das Streben der Natur, die hochstrebende Tatkraft des Volkes zu befreien. Das große amerikanische Volk ist in seinen Tiefen gerecht, tugendhaft und hoffnungsfreudig; seine Wurzeln sind dort, wo Reinheit und die Kräfte zu guter Ernte verborgen liegen ; und die Forderung der Stunde ist just jener Radikalismus, der den Weg zur Verwirklichung des Ehrgeizes einer standhaften Rasse frei macht.

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Fünftes Kapitel Das Volksparlament

Lange Zeit hat Amerika eine der Institutionen entbehrt, die freie Menschen stets und überall als grundlegend ansahen. Lange Zeit fehlte dem Volke die Gelegenheit, mit- einander Rates zu pflegen ; es gab keine Stätte und keine Methode der Aussprache, keinen Austausch von Meinun- gen und keine Beratung. Die Gemeinschaften sind über den Umfang einer Volksversammlung und eines Stadt- rates hinausgewachsen. Dem Geiste dieses Landes gemäß, der Taten verlangt und bei Worten ungeduldig wird, wurde der Kongreß zu einer Institution, die ihre Arbeit in der Ab- geschlossenheit der Kommissionszimmer statt im Sitzungs- saal des Hauses erledigte. Der Kongreß ward zu einer Kör- perschaft, die Gesetze macht, zu einer gesetzmachenden Vereinigung, nicht aber zu einer Versammlung, die de- battiert und berät : nicht zu einem Parlament. Die Ver- sammlungen der Parteien gewähren wenig oder keine Ge- legenheit zu Diskussionen ; Programme wurden unter der Hand aufgestellt und im Nu angenommen. Daß jene un- seligen Bündnisse zwischen dem Großhandel und den po- litischen Bosses imstande waren, unsere Regierung zu be- herrschen, ist zum Teil darauf zurückzuführen, daß die Bürger davon abließen, miteinander zu beratschlagen. Ich halte es für eine der Notwendigkeiten des Tages, das Ver- fahren gemeinsamer Beratschlagung wiederherzustellen und durch sie jenen Modus der heimlichen Verständigungen zu ersetzen, die gegenwärtig die Politik der Städte, Staaten

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und der Nation bestimmen. Wir freien Männer müssen es lernen, gleich unseren Vorvätern irgendwie und irgendwo zum Rate zusammenzutreten. Und es muß zur Diskussion und zur Debatte kommen, an denen alle teilnehmen. Es muß eine unbekümmerte Debatte sein und ihr ehrliches Ziel muß die Klärung von Fragen und die Ergründung der Wahrheit sein. Eine zu sehr politisierende Diskussion führt zu keinem ehrlichen Ende, sondern nur zur Verwirrung eines Gegners. Wenn eine politische Debatte hitzig wird und wir zu hoffen beginnen, daß die Wahrheit sich nun ihren Weg zur Einsicht der Gegner bahnen wird, dann muß ich oft an eine Debatte in Virginia zurückdenken, die einem eigenartigen Ende zuzustreben schien.

Als ich als junger Mann in Charlottesville studierte, gab es im Staat Virginien in der demokratischen Partei zwei Gruppen, die einander sehr hitzig bekämpften. In einer der Grafschaften hatte die eine dieser Gruppen so gut wie gar keine Anhänger. Ein Mann namens Massey, ein gefürch- teter Diskussionsredner, wenn auch nur eine kleine, schlanke, unscheinbar aussehende Persönlichkeit, sandte einen Boten in diese Grafschaft und forderte die Opposition zu einer Debatte mit ihm heraus. Der Gedanke war ihr nicht angenehm, aber man war zu stolz, um die Heraus- forderung abzulehnen, und so sandte man denn zu diesem rednerischen Zweikampf den besten Diskussionsredner, den man besaß, einen dicken, gutmütigen Mann, den jeder mit dem Vornamen kannte. Es wurde vereinbart, daß Mas- sey die erste Stunde sprechen sollte, und daß dann Tom Soundso während der folgenden Stunde das Wort haben würde. Der große Tag kam, und mit seiner eigentümlichen Gewandtheit und Schlauheit kroch Massey sozusagen un- ter die Haut der Versammlung; er hatte noch nicht die Hälfte seiner Rede gesprochen, als es schon offenkundig war, daß er die ihm ursprünglich feindliche Menge mit sich

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fortriß ; worauf einer von Toms Anhängern, der die Wen- dung der Dinge erkannte, aus dem Hintergrunde rief: ,,Tom, heiße ihn einen Lügner und fordere ihn zum Box- kampf."

Diese Art von Debatten, dieser Geist der Diskussion er- greift jetzt von uns Besitz. Unsere nationalen Angelegen- heiten sind zu ernst und mit dem Wohlergehen jedes ein- zelnen von uns zu eng verknüpft, als daß wir über sie an- ders als im Ernste sprechen könnten : mit Aufrichtigkeit und Bereitwilligkeit. Es ist eine unglückliche Folge des Parteisystems, daß die Parteileidenschaften, die in der Hitze des Kampfes so wild aufflammen, eine ehrliche Dis- kussion erschweren. Und doch glaube ich zu bemerken und alle Bürger müssen dasselbe wahrnehmen, daß sich im Volkstemperamente in dieser Beziehung eine fast erstaun- liche Umwandlung vollzieht. Der jetzt zum Abschluß ge- brachte Wahlkampf unterschied sich auffällig von den vorhergehenden durch die Art und Weise, in der Partei- rücksichten angesichts der Wichtigkeit der Dinge, die wir als gemeinsame Bürger eines Landes zu beraten hatten, vergessen wurden.

Es ist irgend etwas in der Luft des heutigen Amerikas, das ich nie vorher sah und nie vorher fühlte. Ich habe wäh- rend meines Lebens regelmäßig politische Versammlungen besucht, wenn ich auch nicht immer eine unbescheiden hervorragende Rolle in ihnen spielte; aber in unseren jetzigen politischen Versammlungen waltet ein Geist, der mir neu ist. Es ist beispielsweise nicht viele Jahre her, seit- dem Frauen politische Versammlungen zu besuchen be- gannen. Und die Frauen kommen heute in politische Ver- sammlungen nicht nur darum, weil es in der Politik eine Frauenfrage gibt ; sie kommen, weil die moderne politische Versammlung in Amerika anders ist als politische Ver- sammlungen vor fünf oder zehn Jahren es waren. Damals

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waren es nur Zustimmungsparaden. Damals war eine Ver- sammlung nur eine Gelegenheit, irgend jemand mit Zu- rufen zu beehren. Es war nur eine Gelegenheit, bei der die eine Partei unvernünftig verleumdet und die andere un- vernünftig gelobt wurde. Keine Partei verdiente je alle die Vorwürfe, die abwechselnd jede Partei hinnehmen mußte, und keine von beiden verdienten den Ruhm, den jede von ihnen nacheinander erntete. Die alte politische Versamm- lung war ein völlig sinnloses Schauspiel ; ihr Zweck war es, Dinge so darzustellen, wie sie nicht waren und von denen die Zuhörer wußten, daß sie anders waren ; sie schie- nen nur ein Mittel zur Erweckung von Beifallsstürmen. Aber ich muß das Wesen meiner Landsleute sehr schlecht kennen, wenn die Versammlungen, die ich in den letzten zwei Jahren miterlebte, noch eine Ähnlichkeit mit jenen älteren Versammlungen aufwiesen. Heute versammeln sich die Amerikaner, um Dinge voller Tragweite erörtern zu hören. Man findet in einer demokratischen Versammlung fast ebensoviele Republikaner als Demokraten in einer republikanischen Versammlung: und in beiden lebt der Wille zu einer ehrlichen Aussprache und zur gemeinsamen Arbeit. Es wäre für das Land von großem Vorteile, wenn dieses so allgemeine ehrliche Interesse für die öffentlichen Angelegenheiten nicht mit den Wahltagen sein Ende fände ! Es macht sich eine Strömung bemerkbar, die mich, wie viele Männer und Frauen, die ihr Vaterland lieben, aufs höchste interessiert hat. Eine Strömung, die dahin geht, daß die Schulhäuser den Erwachsenen geöffnet werden, damit sie in ihnen die Angelegenheiten des Kreises wie des Staates besprechen können. Überall im Lande gibt es Schulgebäude, die während der Sommermonate leer stehen, und überall gibt es Schulgebäude, die im Winter während der Abendstunden für Schulzwecke nicht benötigt werden. Diese Gebäude gehören der Öffentlichkeit. Warum soll

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man nicht dahin wirken, als sie als Beratungstätten be- nutzt werden, gleich jenen alten Stadtversammlungen, zu denen jedermann ging, auf denen jeder öffentliche Be- amte freimütig Rechenschaft ablegte und die strengste Kritik über sich ergehen lassen mußte? Das Schulhaus, das uns allen gehört, ist die gegebene Stätte, um uns zur Beratung unserer gemeinsamen Angelegenheiten zu ver- sammeln.

Eine Beobachtung eines unserer Landsleute, der auf der anderen Seite des Ozeans geboren wurde, hat mich sehr interessiert. Er erzählte, wie er zu einer jener Versamm- lungen ins Schulhaus der Nachbarschaft gegangen war und inmitten der Leute verweilte, die über Angelegen- heiten diskutierten, die sie alle angingen. Und als er aus dem Schulhause kam, sagte er mir: ,,Ich lebe jetzt zehn Jahre in Amerika, aber heute sah ich zum erstenmal Ame- rika wie ich es mir vorgestellt hatte. Diese Vereinigung von Menschen aller Arten und aller Stände, die auf dem Boden vollkommener Gleichheit freimütig miteinander dis- kutieren, was sie alle angeht das war mein Traum von Amerika." Das ließ mich nachdenklich werden. Erst an jenem Abend hatte er das Amerika gesehen, das zu fin- den er gekommen war. Hatte er sich bisher nicht als Nachbar gefühlt? Hatten Männer nicht mit ihm berat- schlagt? Er hatte sich als Außenseiter gefühlt. Hatte es keine kleinen Kreise gegeben, in denen man öffentliche An- gelegenheiten erörterte ?

Der große Schmelztiegel Amerikas, die Stätte, in der alle zu Amerikanern gemacht werden, ist die öffentliche Schule. In sie schicken Menschen jeder Rasse, jeder Herkunft und jeder Lebensstelle ihre Kinder oder sollten ihre Kinder schicken ; und hier werden alle miteinander vermischt, werden mit dem amerikanischen Geiste durchtränkt und zum amerikanischen Manne oder zur amerikanischen Frau

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entwickelt. Wir sollten aber nicht nur unsere Kinder zu be- zahlten Lehrern in diese Schule schicken, sondern wir soll- ten selbst in dem gleichen Schulhause miteinander zur Schule gehen, um lebendiger und stärker zu spüren, was amerikanisches Leben ist. Und im Vertrauen möchte ich sagen : wo immer man einen Schulrat findet, der vielleicht gegen die Öffnung der Schule zu öffentlichen Versamm- lungen jeder Art Einwendungen erhebt, dort muß man nach dem Politiker suchen, der sich dagegen auflehnt; denn das Heilmittel gegen schlechte Politik ist das Gespräch mit dem Nachbar. Der Ideenaustausch zwischen Nachbarn bringt die verhüllten Dinge unseres politischen Lebens ans Licht; und wenn es uns gelingt, die Nachbarn zu ver- einen, auf daß sie alles, was sie wissen, freimütig ausspre- chen, dann wird unsere Politik, unsere kommunale Po- litik, unsere Staatspolitik so offenbar werden, als sie es sein sollten. Denn der größte Nachteil unserer Politik ist es, daß sie innen nicht so aussieht wie außen. Nichts aber klärt die Luft so sehr als eine freie Aussprache. Eine der wertvollsten Lehren meines Lebens verdanke ich dem Um- stand, durch den ich in verhältnismäßig frühem Alter den Vorzug hatte, als öffentlicher Redner in der New Yorker Cooper Union zu sprechen. Die Zuhörerschaft setzt sich dort aus allen Arten von Männern und Frauen zusammen, von dem armen Teufel an, der nur kommt, um sich zu wär- men, bis hinauf zu dem Manne, der sich einfindet, um voll Ernst an der Diskussion des Abends teilzunehmen. Unter den Fragen, die hier nach dem Vortrag gestellt werden, wurden mir die tiefsten und eindringlichsten Fragen, die mir je zu Ohren gekommen, von einigen Männern gestellt, die inmitten der Versammlung die am wenigsten gut ge- kleideten waren ; diese Fragen kamen von einfachen Leu- ten, von Männern, deren Muskeln sich täglich im Kampfe mit dem Leben spannten. Sie stellten Fragen, die den Kern

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der Dinge trafen und die richtig zu beantworten mir oft nicht wenig Mühe bereitete. Aber ich fühlte jene Fragen wie die Stimme des Lebens selbst, die Stimme eines Le- bens, das die harte Schule der praktischen Erfahrung durch- laufen hatte. An der Absicht, das Schulhaus zu einem Zentrum gemeinsamen Lebens zu machen, besticht mich am meisten der Gedanke, daß hier dann die Stätte sein wird, wo der gewöhnliche Mann zu seinem Rechte kommt, wo er seine Fragen stellt, seine Meinungen äußert und jene überzeugt, die nicht jene Kraft Amerikas spüren, die im Blute jedes wahren Amerikaners kreist. Die einzige Stätte, wo man den wahren Amerikaner findet, ist diese Börse der absolut demokratischen Meinungsfreiheit.

Kein einzelner Mann versteht die Vereinigten Staaten. Ich traf manche Herren, die das angeblich taten. Ich habe manche Geschäftsleute getroffen, die glaubten, sie ganz allein besäßen das Verständnis für die Angelegenheiten der Vereinigten Staaten ; aber ich weiß genug, um zu wissen, daß sie das nicht besitzen. Bildung und Wissen hat not- wendigerweise die nützliche Wirkung, die Kreise des eige- nen Egoismus zu verengern. Kein Student beherrscht seinen Stoff. Er weiß bestenfalls, wo er die Dinge erfahren und ausfindig machen kann, die seine Materie angehen und die er nicht kennt. Das ist auch die Lage des Staatsmannes. Kein Staatsmann versteht das ganze Land. Und er sollte es sich zur Aufgabe machen, herauszufinden, wo er die notwendigsten Aufschlüsse erlangt, um wenigstens einen Teil des Landes zu verstehen, wenn er komplizierte Ge- schäfte erledigen will. Wir bedürfen einer allgemeinen Wiedererweckung der gemeinsamen Beratung.

Ich habe manchmal über das Fehlen einer öffentlichen Meinung in unseren Städten nachgegrübelt und habe ein- mal die Gewohnheiten eines Großstädters mit denen eines Landbewohners in einer Weise verglichen, die mir viel

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Vorwürfe eintrug. Ich schilderte, was ein Städter gewöhn- lich tut, wenn er in einen Eisenbahnwagen oder in einen Straßenbahnwagen kommt oder sich in einem öffentlichen Lokal niederläßt. Er spricht mit keinem Menschen, aber er versenkt seinen Kopf in eine Zeitung und spürt alsbald eine Reaktion, die er seine Meinung nennt, die aber durchaus keine Meinung ist, sondern nur der Eindruck, die eine Nachricht oder ein Leitartikel auf ihn gemacht hat. Man kann von ihm nicht sagen, daß er an der öffentlichen Mei- nung überhaupt teilhat, solange er nicht seine Anschau- ung an der des Nachbarn gemessen und mit ihm die Zwi- schenfälle des Tages und die Strömungen der Zeit erörtert hat. In Ungelegenheiten aber geriet ich, als ich einen Ver- gleich wagte. Ich sagte, die öffentliche Meinung drücke sich nicht in den Straßen einer emsigen Stadt aus, sondern man fände sie am Kamin des Dorfladens, wo Männer bei- sammensitzen, wahrscheinlich Tabak kauen und in eine sandgefüllte Kiste spucken und erst dann einenEntschluß fassen, wenn sie herausgebracht haben, was die Nachbar- schaft über Menschen und Ereignisse denkt ; und dann fügte ich unvermittelt die philosophische Betrachtung hin- zu, daß, was immer man auch gegen das Tabakkauen her- -vorbringen möge, zumindest eines dafür gesagt werden könne: es gäbe einem Menschen Zeit, zwischen seinen Sätzen nachzudenken. Seitdem werde ich stets, ganz be- sonders in den Annoncen von Tabakgeschäften, als ein Vorkämpfer des Kautabakes gepriesen. Der Grund, daß manche Städter in ihren Gedanken nicht vorurteilsfreier sind, liegt darin, daß sie nicht an der Meinung des Landes teilnehmen ; und der Grund dafür, daß manche Leute vom Lande verbauern, liegt darin, daß sie nicht die Meinung der Stadt kennen ; beide werden durch ihre Beschrän- kung beeinträchtigt. Ich hörte kürzlich von einer Frau, die ihr ganzes Leben in einer Großstadt und zwar in

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einem Hotel verlebt hatte. Im vergangenen Sommer ging sie zum erstenmal aufs Land und verbrachte eine Woche in einem Bauernhaus. Als man sie später fragte, was sie an ihrem Landaufenthalte am meisten interessiert habe, antwortete sie, daß es sie am meisten gefesselt habe, den Bauer ,, seine Kühe bedienen" zu sehen. Das ist eine sehr höfliche Betrachtung eines im ländlichen Leben alltäg- lichen Vorganges, und doch zeigt ihre Ausdrucksweise die scharfe und unelastische Begrenzung ihres Denkens. Sie war höchst provinziell ; sie dachte noch enger als in der Sprache einer Stadt: sie dachte in der Ausdrucksweise des Hotels. In dem Maße, in dem wir in die Wände eines Hotels oder einer Stadt oder eines Staates eingeschlossen sind, sind wir provinziell. Für die Wohlfahrt unseres Lan- des können wir nichts Besseres tun, als die verschiedenen Gemeinden zu veranlassen, zu den Beratungen der Nation Stellung zu nehmen. Die wirklichen Schwierigkeiten unse- res nationalen Lebens haben darin ihren Ursprung, daß zu wenige wahrnahmen, daß die Angelegenheiten, die wir er- örterten, öffentliche Angelegenheiten der Allgemeinheit waren. Wir redeten, als müßten wir heute diesem und mor- gen jenem Teile des Landes gerecht werden ; als gelte es heute diesem Interesse und morgen jenem. Und man schien dabei zu vergessen, daß diese Interessen alle miteinander verknüpft sind und miteinander in Beziehung stehen.

Wenn du erfahren willst, was den Strom auf seinem Wege zum Meere so groß werden ließ, so mußt du den Strom hinauffahren. Du mußt zu den Hügeln hinaufwan- dern und in die Wälder zurück, um die kleinen Bäche, die kleinen Flüsse zu erspähen, die sich an verborgenen Stät- ten vereinigen, um sich als gewaltiger Strom ein Bett zu graben. Und so ist es mit dem Werden der öffentlichen Meinung : drinnen im Lande, auf den Bauernhöfen, in den Läden, in den Dörfern, in den Wohnungen der Großstadt,

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in den Schulhäusern, überall, wo Menschen zusammen- treffen und gegeneinander freimütig und wahr sind, dort ist es, wo die Bäche und Flüsse ihrem Urquell entspringen, um einst die mächtige Kraft jenes Strome^ zu bilden, der alle menschlichen Unternehmungen auf seinem Zuge zu dem großen gemeinsamen Meere der Menschheit trägt und treibt.

Wie lebendig spürt man die Anteilnahme und das Stre- ben des gewöhnlichen Mannes. In jeder Versammlung könnte ich sofort auf jene Leute zeigen, die die Sorglosig- keit des Glückes kennen : sie kommen, um sich den Redner anzusehen. Aber in jeder Menge gibt es auch Männer, die das nicht tun ; das sind Menschen, die erwartungsvoll lau- schen, als harrten sie, ob irgendein Mund aussprechen wird, was ihr eigenes Herz und ihren Sinn bewegt. Es tut einem weh zu denken, daß man vielleicht nicht imstande sein wird, diese Hoffnungen zu erfüllen ; und man fragt sich voll Sorge, ob diese Menschen vielleicht etwas erseh- nen, von dem man nichts weiß und das man nicht mitemp- finden kann. Und man bittet Gott, daß er einen durch ir- gend etwas ahnen und mitfühlen lassen möge, was diese stillen Männer bewegt, damit das ganze Volk endlich frei von dieser dumpfen, bangen Erwartung werde und emp- finde, daß keine unsichtbaren Gewalten es von einem Ziele zurückdrängen. Damit alle fühlen, daß es eine Hoffnung und ein Vertrauen gibt und daß Schulter an Schulter der Weg von all jenen beschritten werden kann, die Brüder sind, die keine Klassenunterschiede und keinen selbstsüch- tigen Ehrgeiz kennen und sich zu einem gemeinsamen Streben verbündet haben.

Die Sorge, die auf dem Herzen jedes gewissenhaften Politikers oder Beamten lastet, ist der Gedanke, daß er vielleicht die Wünsche und Notwendigkeiten des nationa- len Lebens nicht tief genug erfaßt hat. Denn es ist eine Tat-

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Sache, daß kein einzelner Mensch sie in ihrer Gesamtheit begreift. Der ganze Zweck der Demokratie ist, daß wir mit- einander beraten, daß wir nicht von dem Verständnis eines einzelnen Mannes abhängen, sondern vom Rat aller. Denn nur wenn viele Menschen gehört werden und ihre Bedürf- nisse und Interessen darlegen dürfen, nur dann können die vielfältigen Interessen eines großen Volkes zu einer Politik zusammengeschweißt werden, die allen gerecht wird.

In steter Berührung mit erzieherischen Aufgaben habe ich immer wahrgenommen, daß der Hauptzweck der Bil- dung darin beruht, das Verständnis zu erweitern, um so viele Dinge als möglich zu umfassen. Dabei handelt es sich nicht um das, was ein Mensch weiß denn kein Mensch weiß sehr viel , sondern um das, was ein Mensch aus seiner Fähigkeit des Verstehens herausholen kann ; es ist seine Fähigkeit, Dinge zu begreifen, es ist sein Zusammen- hang mit der großen Masse der Menschen, die ihn dazu ge- eignet macht, für andere zu sprechen und nur das. Ich habe einige der Herren kennen gelernt, die mit Sonder- interessen unseres Landes verknüpft sind (und viele dieser Männer sind ausgezeichnete Menschen), aber zu meinem Glück kam ich auch mit einer großen Anzahl anderer Leute in Berührung; ich habe meine Bekanntschaft nicht auf jene interessanten Gruppen beschränkt, und so kann ich jenen Herren manches sagen, was herauszufinden sie keine Zeit hatten. Es war mein großes Glück, daß mein Kopf nicht in besonderen Unternehmungen beerdigt wurde, und darum habe ich auch gelegentlich einen Blick auf den Hori- zont werfen können. Auch entdeckte ich schon vor langer Zeit, schon in den Tagen, da ich noch ein Junge war, daß die Vereinigten Staaten nicht nur auG jenem Teile bestehen, in dem ich lebte. Es gab eine Zeit, in der ich ein recht eng- herziger Provinziale war, aber glücklicherweise fügten es die Umstände meines Lebens, daß ich nach einem sehr

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entfernten Teil des Landes übersiedeln mußte ; so wurde ich früh gewahr, wie beschränkt meine Kenntnis der Ver- einigten Staaten war. Und ich entdeckte, daß der einzige Weg, auf dem ich Gefühl und Verständnis für die Ange- legenheit der Vereinigten Staaten erlangen konnte, nur der sein durfte, der mich so viel Teile der Vereinigten Staa- ten als möglich kennen lernen ließ.

Die Männer, die Amerika regiert haben, müssen sich dazu bequemen, die Mehrheit mitwirken zu lassen. Wir können unverbessert kein System fortbestehen lassen, das sich auf private Verständigungen und auf die Aussage we- niger Fachleute stützt; wir können die einzelnen nicht länger über die Politik dieses Landes bestimmen lassen. Es handelt sich um offenen Zutritt zu unserer Regierung. Es gibt unter uns nur sehr wenige, denen die Regierung der Vereinigten Staaten wirklich zugänglich war. Die Re- gierung aber soll eine Angelegenheit gemeinsamen Urteils sein, eine Angelegenheit gegenseitigen Rates, eine An- gelegenheit gegenseitigen Verstehens.

Und darum muß die Luft durch stete Erörterungen klar erhalten werden. Jedem öffentlichen Angestellten muß das Bewußtsein gegeben werden, daß er öffentlich handelt und daß jeder ihm zusieht ; vor allem aber sollten alle Bürger jene großen grundlegenden Lebensfragen, von denen po- litische Programme handeln, immer wieder aufgreifen, durchleuchten und durch Diskussion klären und immer wieder nachprüfen. Dann werden wir eine reine Atmo- sphäre haben, in der wir den Weg zu jeder Art sozialer Ver- besserung klar erkennen können. Wenn wir unsere Regie- rung befreit haben, wenn wir dem Unternehmungsgeist wieder Bahn schaffen, und wenn wir die Teilhaberschaft von Geld und Macht, die uns jetzt bei jedem Schritte ent- gegentritt, gebrochen haben, dann werden wir den Weg vor uns liegen sehen, auf dem all jene schönen Dinge erfüllt

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werden können, die jetzt nur in Programmen verkündet werden.

Ich fürchte mich nicht davor, daß das amerikanische Volk sich erhebt und etwas vollbringt ; ich fürchte nur, daß das nicht geschieht. Und wenn ich höre, daß eine allge- meine Abstimmung das Regime des Pöbels genannt wird, so fühle ich nur, daß der Mann, der so zu sprechen wagt, nicht das Recht hat, sich Amerikaner zu nennen. Aus der Masse eines nüchternen Volkes, das in einem freien Lande seinen Lebensunterhalt verdient, kann man nicht eine sinn- lose, leidenschaftliche Gewalt machen. Man vergegenwär- tige sich das Volk dieses großen Landes, wie es von der Meeresküste bis zu den Abhängen der Berge ruhig Mann um Mann zur Wahlurne geht, um sein Urteil über öffent- liche Angelegenheiten abzugeben: ist das ein Abbild des ,, Pöbels" ? Was ist ein Pöbel ? Ein Pöbel ist eine Masse von Menschen, die in hitziger Berührung miteinander stehen und die durch unbeherrschte Leidenschaften dazu getrie- ben werden, unüberlegt etwas zu tun, was sie am nächsten Tage bedauern werden. Wo gewahrt man eine Ähnlichkeit mit dem Pöbel in jener zur Abstimmung schreitenden ländlichen Bevölkerung, in jenen Männern, die über Berge ziehen, oder in jenen Leuten, die sich im Dorfe im Laden treffen, oder in jenen bewegten kleinen Gruppen an der Ecke des Gemüsekrämers, in all jenen Menschen, die ihre Stimme und ihre Meinung abgeben ? Ist das ein Abbild des Pöbels oder ist das ein Abbild eines freien, sich selbst re- gierenden Volkes ? Ich fürchte mich vor den Urteilen, die auf diesem Wege zustande kommen, nicht, ich fürchte keine Urteile, bei denen den Menschen Zeit zur Überlegung gelassen wurde und bei der sie sich eine klare Vorstellung der Angelegenheit bildeten, über die sie abstimmen sollten. Denn es ist die tiefste Überzeugung und der leidenschaft- liche Glaube meines Herzens, daß dem einfachen Volke,

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mit dem ich uns alle meine, unbedingt vertraut werden kann.

Und so ist es denn bei Beginn des neuen Zeitalters, in diesen Tagen der Unruhe und der Unzufriedenheit, unsere Aufgabe, die Luft zu klären und alle zu gemeinsamer Be- ratschlagung zusammenzurufen. Es ist unsere Aufgabe, das Parlament des Volkes aufzurichten und zu beweisen, daß wir keine Menschen bekämpfen, daß wir versuchen, alle Menschen dazu zu bringen, einander gegenseitig zu verstehen. Wir sollen zeigen, daß wir nicht die Freunde irgendeiner Klasse, nicht die Feinde irgendeiner anderen Klasse sind, sondern daß es unsere Pflicht ist, zur Verstän- digung aller Klassen beizutragen. Unter dem Banner der Gemeinsamkeit müssen wir uns zusammenfinden. Gemein- sames und gegenseitiges Verstehen, Gerechtigkeit für alle führen die Menschen, die Hoffnungen nähren und in die Zukunft blicken, unter diesem Banner zusammen. All jene, die die Überzeugungen Amerikas im Herzen tragen, daß für die Freiheit, die wir lieben, ein neuer Tag der Er- füllung heraufdämmert.

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Sechstes Kapitel Laßt Licht herein

Es ist die Sorge patriotischer Männer, unsere Regie- rung dadurch wieder auf ihre richtige Grundlage zu stellen, daß sie das System der Vormundschaft durch den Willen des Volkes und die Methode der heimlichen Ab- machungen durch die gemeinsamer Beratschlagung er- setzen. Um das zu ermöglichen, müssen zuvörderst alle Tore weit geöffnet und zu allen jenen Angelegenheiten, von de- nen unterrichtet zu sein das Volk ein Recht hat, Licht her- eingelassen werden.

In erster Linie ist es notwendig, alle politischen Vor- gänge der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Sie wa- ren allzu geheim, zu kompliziert und zu umständlich ; sie bestanden zu sehr aus persönlichen Besprechungen und heimlichen Abmachungen ; sie waren zu sehr dem Einfluß von Männern zugänglich, die der Legislatur nicht ange- hören, aber vor ihren Pforten standen, ihr diktierten und oft durch sehr fragwürdige Mittel, deren Anwendung sie selbst im Traume der Öffentlichkeit nicht preisgeben wür- den, die Macht an sich gerissen hatten. Dieser ganze Pro- zeß muß umgewandelt werden. Wir müssen beispielsweise die Auswahl der Kandidaten für Beamtenstellen einer kleinen Gruppe von Leuten abnehmen; denn bislang lag diese Auswahl in den Händen kleiner Koterien, lag aus- schließlich in der Gewalt der hinter verschlossenen Türen waltenden politischen ,, Maschinen". Wir müssen das Be- stimmungsrecht über die Aufstellung von Kandidaten wie-

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der in die Hände des Volkes zurücklegen; und der Weg dazu sind direkte Vorwahlen und Wahlen, zu denen Kan- didaten aller Arten und aller Fähigkeiten freien Zutritt haben. An die Stelle der heimlich arbeitenden Maschinen muß die Öffentlichkeit treten.

Dann muß der Gesellschaft das Bestimmungsrecht über ihr eigenes wirtschaftliches Leben zurückgegeben und jenen verweigert werden, die hinter den Kulissen die gro- ßen Transaktionen modernen Handels leiten, welche einst in den Händen von Männern lagen, die nur ihr eigenes Kapi- tal und ihre eigene persönliche Tatkraft in ihren Unterneh- mungen arbeiten ließen. Die Aktionen des Großkapitals müssen der Öffentlichkeit im gleichen Maße unterliegen wie die Führung der Politik. Diejenigen, welche die großen modernen Kapitalsanhäufungen, die durch die Ausgabe und den Verkauf von Aktien und Obligationen zusammen- gebracht wurden, verwenden, ausnützen und Reserven an- häufen, müssen als der Öffentlichkeit Rechenschaft schul- dig gelten; sie müssen für ihre Betriebsmethoden und Geschäftsmethoden jenen großen Gemeinschaften, die tat- sächlich ihre Mitarbeiter sind, verantwortlich sein, auf daß die regulierende Hand sie leicht erreichen kann und ihr ganzes Handelsgebäude ein neues Gefühl der Verantwort- lichkeit durchzieht.

Was sind in der Politik die richtigen Methoden? Die richtige Methode ist die der öffentlichen Diskussion, ist die Führerschaft unter freiem offenen Himmel, wo alle Augen die Führer sehen und beurteilen können ; aber die Methode der ,,Aufsichtsräte", die hinter verschlossenen Türen ta- gen, gehören nicht dazu. Wenn es nichts zu verbergen gibt, wozu die Verborgenheit ? Wenn es eine öffentliche Ange- legenheit ist, warum sie heimlich behandeln? Wenn es öffentliche Sorgen gilt, warum nicht hinaus mit ihnen in die frische Luft ? Angekränkelte Politik darf nicht anders

behandelt werden als heute Tuberkulose behandelt wird : man lasse die Kranken in der frischen Luft leben. Und nicht nur ihre Tage sollen sie im Freien verbringen, im Freien mögen sie auch schlafen, unausgesetzt sollen sie im Freien weilen, wo sie allen erfrischenden, stärkenden und verjüngenden Einflüssen erreichbar sind.

So hege ich auch die Überzeugung, daß alles Regieren im Freien und nicht hinter verschlossenen Türen voll- bracht werden sollte. Ich für meine Person glaube, daß es keine Stätte geben sollte, an der irgend etwas geschehen kann, ohne daß ein jeder davon erfährt. Manchen würde das wahrscheinlich unbequem sein, aber schon allzulange wurden solche Empfindlichkeiten berücksichtigt. Es mag sein, daß manche Männer ungerecht verdächtigt werden ; dann schulden sie es sich selbst, hervorzutreten und im freien Tageslicht zu handeln. Schon die Tatsache, daß auf dem Gebiete der Politik und des Regierungswesens soviel im Dunkel und hinter verschlossenen Türen geschieht, fördert das Mißtrauen. Jeder weiß, daß die Korruption an geheimen Stätten gedeiht und das Tageslicht scheut ; und der Gedanke, daß von der Heimlichkeit zur Unzulässigkeit nur ein Schritt ist, muß sich aufdrängen. Und darum schulden unsere ehrlichen Politiker und unsere Trustleiter es ihrem eigenen Rufe, ihre Tätigkeit ins Freie zu verlegen.

Jedenfalls aber werden diese Angelegenheiten, ob es nun vielen gefällt oder nicht gefällt, ins Freie gebracht werden. Wir sind um den Ruf jener Männer noch besorg- ter als sie selbst, wir sind um sie zu besorgt, als daß wir sie noch länger der Gefahr ausgesetzt sehen möchten, den Versuchungen der Heimlichkeit zu erliegen. Man weiß, wie- viel Versuchungen Einsamkeit und Heimlichkeit bergen. Hast du das nie erfahren ? Ich weiß es. Nie sind wir in un- serem Verhalten so angemessen als dann, vvenn jedermann genau beobachten kann, was v/ir tun. Wenn du fern in

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einem entlegenen Weltteil weilst und das Gefühl hast, daß im Umkreis einer Meile niemand weilt, dann kommen Zeiten, in denen du deine Gewohnheiten und deine Ma- nieren vernachlässigst. Du sagst dir: ,, Jetzt werde ich es mir aber einmal bequem machen ; kein Mensch erfährt et- was davon." Wärest du in der Sahara, so würdest du das Gefühl haben, daß du dir nun, sagen wir, eine gewisse kleine Lässigkeit in deinem Benehmen gestatten kannst. Aber sobald du siehst, daß aus einer anderen Himmelsrich- tung einer deiner Nachbarn auf seinem Kamele auf dich zukommt du würdest dich ,, benehmen", bis er wieder außer Sehweite ist. Es gehört zu den gefährlichsten Dingen der Welt, in Gegenden zu geraten, wo kein Mensch dich kennt. Ich rate dir, in der Nähe der Nachbarn zu bleiben, dort wirst du auch Konflikte mit den Gesetzen vermeiden. Es ist der einzige Weg, der manche vor dem Gefängnis be- wahrt. Öffentlichkeit ist eines der reinigenden Elemente der Politik. Wenn irgendwo irgend etwas aus dem Geleise ge- raten ist und sich verbogen hat, so bleibt das beste, was du tun kannst : trage es dorthin, wo es gesehen wird. Es wird sich entweder wieder strecken oder verschwinden. Nichts verhindert alle Arten politischer Mißbräuche sicherer und besserer als Preisgabe an die Öffentlichkeit. Im hellen Ta- geslicht vermagst du nichts Unrechtes zu tun. Ich weiß nicht, ob du das je versuchtest ; aber auf Grund von Beob- achtungen wage ich es zu behaupten : es geht nicht.

Darum hat sich das Volk der Vereinigten Staaten ent- schlossen, etwas zu tun, was der Politik und den großen Trusts sehr gesund sein wird. Man gestatte mir ein paar bunte Gleichnisse : man wird die Türen öffnen, die Fenster- läden zurückschlagen und alles Kranke hinaus in die frische Luft und ins Sonnenlicht bringen. Man wird eine große Jagd organisieren und gewisse Tiere ausräuchern. Man wird die Bestie in seinem Jagdreviere aufstöbern, wo

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man bisher, wenn man jagte, von der Bestie gefangen wurde, statt sie zu fangen. Darum hat sich das Volk entschlossen, Axt und Säge zu ergreifen, das Dickicht niederzulegen und dann zu sehen, wo das Tier seinen Un- terschlupf hat. Ich für meine Person kann die Allgemein- heit dabei nur antreiben. Denn das Dickicht birgt nur An- steckungsgefahren und beherbergt nur Feinde der Men- schen. Und niemand wird dabei gefangen werden außer den Raubtieren. Nichts soll niedergelegt und zerstört werden, was jeder erhalten zu sehen wünschen muß.

Man kennt die Geschichte jenes Iren, der ein Loch grub und gefragt wurde : ,,Na, Pat, was machst du denn da? gräbst du ein Loch?" und er antwortete: ,,Nein, Herr, ich grabe die Erde weg und lasse das Loch.** Das war vermutlich derselbe Ire, den man an der Mauer eines Hauses graben sah und fragte: ,,Na, Pat, was machst du da?" Und er antwortete: ,,Nun, ich lasse die Finsternis aus dem Keller." Das ist unsere Aufgabe: wir wollen die Finsternis aus den Kellern herauslassen.

Man betrachte zunächst die Beziehungen zwischen der Politik und dem Geschäftsleben. Es ist natürlich durch- aus angebracht, daß die Geschäftsinteressen des Landes nicht allein den Schutz 'der Gesetze genießen, sondern auch in jeder Weise durch die Gesetzgebung gefördert, ge- stärkt und ermuntert werden. Das Volk hat nichts gegen eine Verbindung zwischen dem Geschäftsleben und der Po- litik einzuwenden, solange diese Verbindung angemessen ist. Es ist den offenen Bestrebungen, die Gesetzgebung der wirtschaftlichen Entwicklung anzupassen, nicht im ge- ringsten abgeneigt, hat diese Entwicklung doch dem Land in allem, was es erreichte, neues Leben und neue Mög- lichkeiten geschaffen.

Aber anders liegen die Dinge mit den ungerechtfertig- ten Beziehungen zwischen Politik und Geschäft. Ich

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möchte über dieses Thema nüchtern und vorsichtig spre- chen. Ich hege nicht den Wunsch, Erbitterung gegen ir- gendwen hervorzurufen. Das wäre leicht, würde aber kei- nen Nutzen stiften. Ich möchte lieber über eine unglück- liche Situation in einer Weise sprechen, die es uns ermög- licht, ihr bis zu einem gewissen Grade gerecht zu werden und uns auf diesem Wege vielleicht Ursachen und Heil- mittel finden läßt. In einer so verwickelten Frage wie in der der Verknüpfung des Geschäftslebens mit Mißständen amerikanischer Politik nutzt eine einfache Anklage nicht viel. Jedermann spürt dunkel, daß die politische Maschine gewisse sehr bestimmte Beziehungen zu Männern hat, die im Großhandel tätig sind, und der Verdacht, der sich gegen die Maschine selbst richtete, hat sich auch gegen die Ge- schäftsunternehmungen zu richten begonnen, weil man wußte, daß Beziehungen vorhanden sind. Wenn diese Ver- bindungen offen vor aller Augen lägen und jedermann genau wüßte, welches Ziel sie verfolgen, dann wäre es nicht schwer, alle diese Vorgänge zu überblicken und durch die öffentliche Meinung zu überwachen. Aber unglück- licherweise ist die ganze Aktion, aus der in Amerika Ge- setze hervorgehen, sehr dunkel und schwer zu übersehen. Es gibt keine breite Landstraße der Gesetzgebung, aber es gibt viele Seitenpfade. In unseren Legislaturen sind die Parteien nicht derart organisiert, daß irgendeine bestimmte Gruppe von Männern für die Taten der Gesetzgebung ver- antwortlich gemacht werden kann. Alle Beratungen und Erörterungen falls Diskussionen überhaupt gepflogen werden vollziehen sich im geheimen und bleiben dem Blicke und der Kenntnis der Öffentlichkeit entzogen. In- nerhalb der Kreise gibt es so viele Kreise und zur Legis- latur führen so viel indirekte und geheime Wege, daß un- sere Gemeinwesen sich während der Session der Parla- mente immer unbehaglich fühlen. Dieser Wirrwarr, diese

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Undurchsichtigkeit und Heimlichkeit unserer gesetzgebe- rischen Methoden schaffen den politischen Maschinen Ge- legenheiten, die allzu leicht zum Diebe machen. Es gibt keine der Öffentlichkeit bekannte und verantwortliche Männer oder Gruppen von Männern, von denen man weiß, daß sie die Gesetze formulieren und sich um diese Gesetze vom Tage der Einbringung bis zu ihrer endgültigen An- nahme bekümmern. Dadurch wurde es möglich, daß eine außenstehende Kraft sich die Rolle des Herrschers an- maßte. Es ist die politische Maschine, die Körperschaft jener Männer, die die Abgeordneten bestimmten und für ihre Kandidaten den Wahlkampf führten. Geschäftsleute, die irgendeine Änderung an den bestehenden Gesetzen wünschten oder die Genehmigung von ihren Interessen gefährlichen Gesetzen verhindern wollten, wußten, daß sie sich an diese bestimmte Gruppe von Männern wenden konnten und trafen mit ihnen ihre Abmachung. Sie er- klärten sich bereit, ihnen Geld zur Führung des Wahl- feldzuges zu geben, sie erklärten sich bereit, in allen an- deren Fällen, da Geld notwendig werden könnte, einzu- springen, wenn andererseits die Maschine es übernehmen wolle, ihnen in Dingen der Gesetzgebung Schutz und Hilfe zu leisten. Die Legislatur erwartete von einem bestimm- ten Manne, der nicht einmal ein Mitglied des Parlamentes war, die Weisung, was mit einzelnen Gesetzen geschehen sollte. Als Zentrum jeder Parteiorganisation war die Ma- schine das gegebene Mittel zur Herrschaft und alle Leute, die bestimmte Geschäftsinteressen zu verfolgen haben, wandten sich naturgemäß an diese Stelle, an der Macht und Einfluß zusammenliefen.

An alledem hätte nichts Unheilvolles zu sein brauchen. Wenn alles offen und ehrlich und ohne Hintergedanken vor sich gegangen wäre, würde sich die öffentliche Kritik wohl nie damit beschäftigt haben. Aber die Hantierung

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mit Geld führt stets zur Demoralisierung und auf dem Wege über die Demoralisierung zur wirklichen Korrup- tion. Es gibt zwei Arten von Korruption. Das eine ist die grobe und plumpe Art, die mit direkten Bestechungen ar- beitet ; die andere Art aber ist jene viel geschicktere und gefährlichere Korruption, die den Willen korrumpiert. Geschäftsleute, die es versuchten, mit Hilfe der Maschine politischen Einfluß zu erlangen, verfielen immer mehr einer Selbsttäuschung: sie begannen sich zu sagen, das ganze Verfahren sei für sie ein notwendiges Mittel der Selbstverteidigung und behaupteten, es handle sich um eine unvermeidbare Folge unseres politischen Systems. Nachdem sie auf diese Weise ihr Gewissen beruhigt hatten, glitten sie von einer Erfahrung zur anderen, von einem Versuche zu neuen, bis die moralische Seite der Angele- genheit hoffnungslos verwirrt und verschleiert war. Wie weitab von den Idealen ihrer Jugend sind viele unserer Ge- schäftsleute geraten, die diesem verderblichen System an- heimfielen; wie weitab von jenen Tagen ihrer schönen jungen Mannheit, da ihre Rüstung jene ,,Schamhaftig- keit der Ehre" war, die einen Flecken gleich einer Wunde empfand.

Es ist ein glücklicher Umstand unserer Tage, daß die Klügsten unter unseren großen Geschäftsleuten sowohl die Irrtümlichkeit als die Unmoral dieser schlimmen Ver- hältnisse erkannt haben. Das Bündnis zwischen Geschäft und Politik war ihnen eine Last ; es war ihnen gewiß manch- mal von Vorteil, aber von einem sehr fragwürdigen Vor- teil, der schwer bezahlt werden mußte. Es verlieh ihnen große Macht, aber es legte ihnen auch das Joch einer Art von Sklaverei auf und brachte sie in eine unmittelbare Ab- hängigkeit von den Politikern. Sie verlangen nicht weni- ger danach, von diesen Banden befreit zu werden, als das Land danach verlangt, die Einflüsse und Methoden,

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die sich in diesem System verkörperten, abzuschütteln. Führende Geschäftsleute sind heute gewichtige Faktoren in der Befreiung unseres Landes von einem System, das vom Schlechten zum Schlimmeren führte. Natürlich gibt es auch andere, die mit den alten Praktiken zu eng verknüpft sind und bis zum letzten für sie eintreten werden ; aber sie wer- den zur Minderheit herabsinken und überwunden werden. Die übrigen haben erkannt, daß die alte Ausrede (es sei notwendig, sich gegen eine ungerechte Gesetzgebung zu verteidigen), nicht länger eine stichhaltige Ausrede ist; und sie wissen, daß es einen besseren Weg der Selbstver- teidigung gibt als den der heimlichen Anwendung von Geld. Dieser bessere Weg besteht aber darin, die Öffentlich- keit ins Vertrauen zu ziehen, alle Beziehungen mit den gesetzgebenden Körperschaften und ihren Mitgliedern of- fen darzulegen und über beide das Publikum urteilen zu lassen, über die Geschäftsleute und über die Mitglieder der Legislatur, mit denen sie zu tun haben.

Diese Entdeckung einer Tatsache, die schon längst auf der Hand lag, zeigt den Weg, den eine Reform einschlagen muß; unzweifelhaft ist breiteste Öffentlichkeit für diese Art politischer und wirtschaftlicher Übelstände ein fast sicher wirkendes Heilmittel. Aber solange unsere Metho- den der Gesetzgebung so verschleiert, verworren und ge- heim sind, wird es sehr schwer werden, Öffentlichkeit zu erreichen. Ich glaube, es wird immer deutlicher zutage tre- ten, daß das Mittel zur Reinigung unserer Politik deren Vereinfachung ist ; und diese Vereinfachung wird erreicht, indem man eine verantwortliche Führerschaft einsetzt. Wir besitzen heute inmitten unserer gesetzgebenden Kör- perschaften überhaupt keine Führerschaft, und jedenfalls keine Führerschaft, die ausgeprägt genug wäre, um die Aufmerksamkeit und die Wachsamkeit des Landes auf sich zu ziehen. Denn unsere Führung liegt bei Leuten, die

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außerhalb unserer Legislatur stehen und nicht verantwort- lich sind ; und damit wird es selbst für die wachsamste öf- fentliche Meinung außergewöhnlich schwierig, die weit- schweifigen, zur Anwendung kommenden Methoden zu ergründen und zu verfolgen. Diese Verhältnisse sind zwei- fellos die Wurzel jenes in allen amerikanischen Gemein- wesen wachsenden Verlangens nach einer verantwort- lichen Führerschaft ; Menschen, die man kennt, die man beobachtet und die das Land jederzeit zur Verantwortung ziehen kann, sollen in Stellen gebracht werden, in denen sie Autorität besitzen und bewahren. Durch eine wohl- bedachte und fortschrittliche Gesetzgebung soll den An- gelegenheiten der Nation gedient werden, aber das muß auch offen, unbekümmert und nutzbringend geschehen; dabei muß darauf geachtet werden, daß jedermann gehört und jedes Interesse erwogen wird, sowohl das Interesse, das über keine Kapitalshilfe verfügt, als auch jenes Inter- esse, das diese Stütze besitzt ; alles das aber wird nur er- reichbar werden, wenn wir unser ganzes System verein- fachen und die Verwaltung der öffentlichen Angelegen- heiten kleinen Gruppen bestimmter Männer anvertrauen, die als Führer wirken : nicht auf Grund gesetzlicher Au- torität oder eines Vorrechtes zum Befehlen, sondern auf Grund ihrer Berührung und ihrer Fühlung mit der öffent- lichen Meinung. Unsere gesetzgeberischen Methoden eignen sich durchaus zu einer Reform, die darauf hinstrebt, jede Handlung dem Lichte der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Es wird in dieser Richtung möglich sein, in den Verhandlungsräumen unserer Parlamente verantwortliche Führerschaften zu bilden, auf daß die Öffentlichkeit er- fahren könne, wer hinter jedem einzelnen Gesetze steht und wer sich hinter der Opposition verbirgt. Und alle Maß- nahmen werden dann statt in den Kommissionszimmern in öffentlichen Sitzungen beraten werden. In alle Prozesse

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der Erzeugung und Genehmigung von Gesetzen wird das helle Licht des Tages dringen.

Die Gesetzgebung, wie wir sie heute handhaben, wird nicht im Freien ausgeführt. Sie wird nicht in offener De- batte im Sitzungssaal des Parlaments erörtert, sie emp- fängt ihre Formen, ihre Billigung und ihre Durchführung in den Kommissionszimmern. In diesen Kommissions- zimmern verschwinden jene Gesetze, die den Sonderinter- essen unwillkommen sind, und in jenen Kommissions- zimmern werden die von den Sonderinteressen gewünsch- ten Gesetze erzeugt und durchgebracht. In den meisten Fällen gibt es im Plenum zu wenig Debatte, um die wahre Bedeutung der vorgeschlagenen Maßnahmen klarzustellen. In den Satzungen liegen verschwiegen, unerklärt und un- angefochten Klauseln, die den ganzen Sinn und Zweck des Gesetzes enthalten ; sie verbergen sich in Sätzen, die kein öffentliches Interesse erwecken, in beiläufigen De- finitionen, die keine Aufmerksamkeit auf sich lenken, und in Klassifizierungen, die so technisch sind, daß die All- gemeinheit sie nicht versteht und die zu erklären oder zu erläutern die wenigen Eingeweihten sich hüten. Erst wenn diese Bestimmungen Gesetzeskraft erlangt haben und zur Anwendung kommen, erst wenn sie vor den Gerichten die Rechtsprechung beschäftigen, erst dann enthüllt sich Sinn, Zweck und Absicht des ganzen Unternehmens. Jene aber, die den Nutzen davon haben, sind dann längst hinter ihren Bollwerken geborgen.

Diese Art der Kommissionsarbeit, dieses Schmieden schwerverständlicher Sätze und diese Aufstellungen uner- läuterter Klassifizierungen feiern naturgemäß ihre Haupt- triumphe bei den Beratungen des ZoUtarifes. Nach der Genehmigung des verderblichen Payne-Aldrich-Tarif es hat das Volk begonnen, die in diesem Tarife versteckten Ab- sichten und Zwecke zu verstehen. Von Fall zu Fall mußte

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man immer klarer einsehen, wie tief und gründlich man getäuscht und überlistet wurde. Und das geschah nicht durch Zufall, das geschah planmäßig, das geschah auf Grund eines genau ausgearbeiteten besonderen Planes. Fragen, die im Abgeordnetenhaus oder im Senat gestellt wurden, fanden keine wahrheitsgemäße Antwort, und so zwang man dem Lande ein kunstvolles Maschenwerk von Bestimmungen auf, die niemals Genehmigung gefunden hätten, wenn sie allgemein verstanden worden wären.

Wir, die wir mit der politischen Maschine zu tun haben, wir wissen es, daß die große Schwierigkeit auf dem Wege zur Vernichtung des Einflusses des politischen Boß der Um- stand ist, daß er durch das Geld und den Einfluß jener Leute gestützt wird, die an jenen Bestimmungen ein In- teresse haben. Nie wäre es möglich gewesen, in öffentlicher Diskussion diesen Tarif Absatz um Absatz aufzubauen ; und nie wäre er angenommen worden, wenn er, Bestim- mung um Bestimmung, dem amerikanischen Volke erklärt worden wäre. Er entstand auf Grund von Abmachungen und auf Grund der geschickten Sachwaltung einer po- litischen Organisation, die in dem Senat der Vereinigten Staaten durch den ältesten Senator von Rhode Island und im Repräsentantenhaus durch einen der Abgeordneten von Illinois vertreten wurde. Diese Männer formten den Tarif nicht etwa auf Grund des Materials, das der Kommission der Wege und Mittel vorgelegt wurde und in dem die Bedürfnisse der Fabrikanten und der Arbeiter, der Kon- sumenten und der Produzenten der Vereinigten Staaten dargelegt waren. Der Tarif wurde diesen Ansprüchen nir- gends angepaßt. Er empfing seine Form auf Grund von Ver- ständigung und Abmachungen, die außerhalb jener Zimmer getroffen wurden, in denen die Aussagen gesammelt und die Diskussion geführt wird.

Selbst in diesem Falle spreche ich nicht von einem

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korrupten Einfluß. Darauf will ich nicht hinaus. Korruption in ihrem wörtlichen Sinn ist sehr schwer faßbar. Geldzah- lungen sind leicht zu entdecken ; und die Männer, die auf Grund geheimer Abmachungen die Sache der Sonderinter- essen führen, würden auch nie einwilligen, auch nur einen Dollar Geldes anzunehmen. Sie befolgen ihre eigenen Grundsätze, d. h. jene Grundsätze, auf deren Basis sie den- ken und handeln, und sie halten sich auch für vollkommen ehrenhafte und unbestechliche Männer. Aber sie glauben etwas, das ich nicht glaube und das offenbar das Volk dieses Landes nicht glaubt, sie glauben, daß die Wohlfahrt des Landes von den Abmachungen abhängt, die gewisse Par- teiführer mit gewissen Geschäftsleuten treffen. Sie glau- ben das, aber diese Anschauung braucht nur ausgespro- chen zu werden, um verworfen zu sein. Die Wohlfahrt un- seres Landes ist von unser aller Interessen abhängig und kann nicht durch Abmachungen zwischen einzelnen Grup- pen erreicht werden. Legt irgendeine Frage dem Lande vor, setzt sie dem reinigenden Feuer der öffentlichen Er- örterung aus: und sofort wird dieses System unmöglich. Bisweilen kommt auch das vor. Man schlägt euch irgendeine besondere gesetzliche Maßnahme vor. Sobald das Parlament zusammentritt, wird ein entsprechender Gesetzantrag eingebracht. Man überweist ihn der Kom- mission. Nie wieder wird man etwas von ihm hören. Was ist geschehen? Kein Mensch weiß, was geschehen ist. Ich behaupte nicht, daß Bestechungen erfolgen, aber ich weiß nicht, was erfolgt. Und nicht allein, daß wir nichts darüber erfahren : wenn wir dringend werden und Erkundigungen anstellen, dann sagt man uns, das sei nicht unseres Amtes. Meine Antwort darauf lautet, daß es un- seres Amtes ist; es ist Sache jedes einzelnen Bürgers im Staate ; wir haben ein Anrecht darauf, die Geschichte jedes Gesetzentwurfes in allen seinen Einzelheiten kennen zu

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lernen. In Regierungsfragen gibt es keine berechtigte Heim- lichkeit. Wenn eine Regierung unantastbar und in allen ihren Schritten korrekt sein soll, muß sie in allen Dingen, die sie berühren, öffentlich sein. Ich kann mir keinen Be- amten oder Volksvertreter denken, der ein Geheimnis kennte, das er dem Volke vorenthalten würde, wenn es die Angelegenheiten des Volkes betrifft.

Ich kenne die Gedankengänge mancher jener Männer. Sie sagen, die Einflüsse, denen sie nachgeben, seien voll- auf berechtigt, würden aber nicht verstanden werden, wenn sie unverhüllt dargelegt werden müßten. Nun, so leid es mir tut, aber nichts, was nicht verstanden werden kann, ist berechtigt. Wenn man es nicht angemessen erklären kann, dann steckt irgendwo etwas, das überhaupt nicht erklärt werden kann. Aus den Umständen des Falles er- sehe ich : nicht was vorgeht, aber daß etwas Heimliches vorgeht ; und immer, wenn einer jener Gesetzentwürfe zur Kommission kommt, bringt ein heimlicher Einfluß die Angelegenheit zum Stehen ; das Gesetz erblickt nie wieder das Tageslicht, es sei denn unter dem Druck eines Presse- feldzuges oder durch den Mut und die Auflehnung einiger wackerer Mitglieder des Parlaments. Ich habe solche wackeren Männer kennen gelernt. Ich könnte einige präch- tige Beispiele anführen, in denen Männer als Vertreter des Volkes von dem Vorsitzenden der Kommission Aufklärung darüber verlangten, weshalb der Bericht über das Gesetz ausbleibe ; und wenn sie das von dem Kommissionsvor- sitzenden nicht erfahren konnten, stellten sie Nachfor- schungen an und brachten das Gesetz schließlich durch, indem sie drohten, die Gründe der Unterdrückung in öf- fentlicher Sitzung zu enthüllen.

Das sind die Schleichpfade der Heimlichkeit, das sind die Einflüsse, die sich zwischen das Volk und die Erfüllung der ihm gemachten Versprechungen schieben. Das System

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der Regierung durch heimliche Abmachungen beraubt das Volk um seine Vertretung. Den Mitgliedern der gesetzgeben- den Körperschaften muß klargemacht werden, daß öffent- liche Angelegenheiten öffentliche Angelegenheiten sind. Ich bin der Überzeugung, daß es in Fragen der Regierung eines Volkes kein Geheimnis geben kann und daß es die Pflicht jedes Beamten ist, seinen Mitbürgern so oft als nur mög- lich zu berichten, was innerhalb seines Amtsbereiches sich vollzieht. Denn es gibt keine gesündere Luft als die unein-^ geschränkte Öffentlichkeit.

Es gibt noch andere Regionen des modernen Lebens, auf denen sich Mißstände entwickelt haben, die beseitigt werden müssen. Man nehme z. B. die völlig unberechtigte Erweiterung, die man dem Begriffe des Privateigentums angedeihen ließ: zugunsten der modernen Korporationen und Trusts. Von einer modernen Aktienkorporation kann nicht in rechtmäßigem Sinne behauptet werden, daß sie ihre Ansprüche und Rechte auf den Prinzipien des Privat- eigentums aufbauen kann. Sie leitet ihre Ansprüche aus- schließlich von der Gesetzgebung her. Sie verfügt über diese Gesetzgebung zugunsten des Geschäftes und auf Kosten der Allgemeinheit. Ihre Aktien oder Anteilscheine sind weit verbreitet, gehen von Hand zu Hand, verbinden eine Unmasse von Menschen zu flüchtigen Teilhaber- schaften und bringen den einzelnen mit den Interessen großer Gemeinschaften in Berührung. Sie ist ein Produkt der Öffentlichkeit; sie läßt sich mit keiner regelrechten Teilhaberschaft vergleichen und bietet keine Analogie für die Anwendung der Bestimmungen, unter denen Privat- eigentum geschützt und behandelt wird. Die Leitung sol- cher Korporationen ist eine öffentliche und eine allge- meine Angelegenheit und in einem sehr weitgehenden Sinne jedermanns Angelegenheit. Das Arbeitsgebiet vieler dieser Korporationen, die wir Public Service Corporations

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nennen und die uns täglich unentbehrlich sind, weil sie uns Verkehr, Licht, Wasser und Kraft liefern, das Ar- beitsgebiet solcher Korporationen ist ausgesprochen öffent- lich und ihre Tätigkeit offenkundig eine öffentliche Ange- legenheit; und darum können und müssen wir uns mit ihren Transaktionen beschäftigen, um sie zu prüfen und zu erörtern.

In New Jersey war sich das Volk hierüber seit langem klar geworden und vor ein oder zwei Jahren verschafften wir diesen Gedanken in der Gesetzgebung Geltung. Die in Betracht kommenden Korporationen suchten der Gesetz- gebung mit allen Mitteln zu trotzen. Sie sprachen von einem Ruin und ich glaube auch, sie glaubten, daß sie in irgendeiner Weise geschädigt werden würden. Aber das trat nicht ein. Und ich kann kaum sagen, wieviel Leute in New Jersey zu mir sprachen: ,, Gouverneur, wir waren Ihre Gegner ; wir glaubten nicht an die Dinge, die Sie voll- bracht wissen wollten, aber nun, da sie vollbracht sind, ziehen wir vor Ihnen den Hut. Das mußte geschehen, und es schadete uns nicht im geringsten ; es stellte uns nur auf eine vernünftige Grundlage und befreite uns von Verdacht und Ungewißheit." Nun, da New Jersey den Kopfsprung gewagt hat, ruft es den übrigen Staaten zu : ,, Kommt mit, das Wasser ist schön!" Ich zweifle, ob die Männer, die heute den bestimmenden Einfluß auf die Regierung der Ver- einigten Staaten ausüben, wahrnehmen, wie sie mit jedem neuen Jahre eine schlimmer werdende Atmosphäre von Verdächtigungen erzeugen, in der das Geschäftsleben schließlich nicht mehr atmen kann.

Und so halte ich es für das Gebot der Stunde, alle Wege und Vorgänge der Politik und der öffentlichen Verwaltung zu enthüllen und sie in ihrer ganzen Breite und Tiefe der Öffentlichkeit zugänglich zu machen ; sie sollen jeder wir- kenden Kraft und jeder im Gedankenleben des Volkes

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vorherrschenden Meinung zugänglich sein. Der Gesellschaft muß das Bestimmungsrecht über ihr eigenes wirtschaft- liches Dasein wiedergegeben werden, nicht durch um- stürzende Maßnahmen, aber durch eine stetige Anwendung des Grundsatzes, nach dem das Volk ein Recht hat, Ein- blick in diese Dinge zu nehmen und sie zu überwachen. Wo immer eine öffentliche Handlung vollzogen wird, wo immer Pläne entworfen werden, die die Allgemeinheit betreffen, wo Unternehmungen gedeihen, die die öffent- liche Wohlfahrt berühren, wo politische Programme for- muliert werden, und wo man Kandidaten aufstellt, an allen diesen Stätten muß sich eine Stimme erheben und mit dem göttlichen Willen des Volksvorrechts rufen : ,,Laßt Licht herein!"

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Siebentes Kapitel Die Tariffrage

Jede politische oder wirtschaftliche Frage in den Verei- nigten Staaten führt über kurz oder lang stets zu einem Punkte zurück: zur Frage des Zolltarifs. Man kann ihr nicht entgehen, welchen Weg man auch einschlägt. Der Tarif steht zu anderen Fragen im gleichen Verhältnis wie etwa der Bostoner Common*) inmitten der alten Anlage jener schönen Stadt. Ich entsinne mich, einst im ,,Life" ein Bild gesehen zu haben, auf dem ein Mann an der Tor- schwelle eines Bostoner Bahnhofs stand und emen Bosto- ner nach dem Weg zum Common fragte. ,, Folgen Sie ir- gendeiner dieser Straßen," lautete die Antwort, ,, gleich- viel in welcher Richtung." Im gleichen Verhältnis, in dem der Common zu den gewundenen Straßen Bostons stand, steht die Tariffrage zu allen wirtschaftlichen Problemen des heutigen Amerika. Welche Richtung du auch ein- schlägst, du mußt früher oder später zum Common kom- men. In der Betrachtung der Tariffrage mag in der Mitte begonnen werden.

Im Jahre 1828, als man vom Standpunkte unseres mo- dernen Wissens so gut wie gar nichts von praktischer Wirtschaftspolitik verstand, brachte man einen Zolltarif durch, den man den ,, Tarif des Absehens" nannte, weil er keinen Anfang, kein Ende und kein Ziel hatte. Kein Plan, kein erkennbares Muster war zu entdecken. Es war, als hätte man die Wünsche und Forderungen jedes einzelnen

*) Großer Park im Herzen der Stadt Boston.

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Bürgers der Vereinigten Staaten aufs Geratewohl in einen Korb geworfen und diesen Korb dann zum Mittelpunkt einer gesetzgeberischen Handlung gemacht. Ein allgemei- nes Gedränge war entstanden, und alle, die sich weit ge- nug vordrängten, wurden in den einzelnen Positionen des Tarifs berücksichtigt. Den überlegteren Männern jener Tage blieb jener Vorgang ein Greuel, da niemand zum Füh- rer wurde, den Wünschen und Bestimmungen eine Form gab und den Versuch unternahm, aus dem Chaos ein brauchbares System zu machen. Das war schlimm genug, aber schließlich fand jeder offene Tür, durch die er seinem Vorteil zustreben konnte. Es war ein offenes Rennen ; je- der, der nach Washington kommen konnte und angab, wichtige Handelsinteressen zu vertreten, vermochte sich bei der Kommission der Wege und Mittel Gehör zu ver- schaffen.

Heute liegen die Dinge anders. Die Kommission der Wege und Mittel und das Finanzkomitee des Senats sind in diesen verwickelten Zeiten durch lange Erfahrung dazu gekommen, unter den Personen, deren Ratschläge sie für Tarifgesetze entgegennehmen, Unterschiede zu machen. An die Stelle jener unerfahrenen Bürger, die einst an den Türen der beiden entscheidenden Kommissionen zu lär- men pflegten, trat eine der interessantesten und fähigsten Gruppen von Leuten, die je aus der Erfahrung irgendeines Landes hervorgingen. Diese Vorsaaibesucher, die mit den Abgeordne|;en Zwiesprach halten, sind Leute, die auf den sie angehenden Gebieten über eine so gründliche Sach- kenntnis verfügen, daß du es nicht wagen kannst, deine Kenntnis mit der ihren rivalisieren zu lassen. Sie über- wältigen dich mit ihrer detaillierten Sachkenntnis derart, daß du nicht mehr erkennst, worin ihre Absichten bestehen. Sie empfehlen die Abänderung irgendeiner unschuldigen Stelle in irgend einen besonderen Absatz und erklären die

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Sache so einfach und plausibel, daß du nicht erkennen wirst, daß die kleine Änderung Millionen von Dollars be- deuten, die von den Konsumenten mehr aufgebracht wer- den sollen. Sie schlagen beispielsweise vor, die Kohle für elektrisches Licht statt als ein Fuß lange Stücke als Zwei- Fuß-Stücke anzusetzen und du wirst kaum erkennen, worin du überlistet wirst, weil du kein Fachmann bist. Wenn du irgendeinen Fachmann die einzelnen Positionen des gegenwärtigen Payne-Aldrich-Tarifes durchsehen läßt, so wirst du erfahren, daß fast jede Zeile ihre Fußangel auf- weist — ein kleines Wort, eine kleine Klausel, eine un- verdächtige Einzelheit, die den Konsum.enten Tausende kostet und doch gar nichts Besonderes bedeuten zu haben scheint. Man hat alles vorher berechnet; man hat jede Einzelheit und Folgewirkung, ein jeder für seine Speziali- tät, analysiert. Mit dem Tarifspezialisten kann der Ge- schäftsmann nicht konkurrieren. So tritt an Stelle der alten Balgerei, die schlimm genug war, die Herrschaft der Spezialisten für jede einzelne Position. Das Verhältnis zwischen Regierung und Handel wird aber nicht zu einem Eingehen aller entscheidenden Regierungsinstanzen auf alle aktiven Kräfte des Volkes, sondern es beschränkt sich auf die besondere Einwirkung einer besonders organisier- ten Macht der Geschäftswelt.

Dazu kommt, daß jedes geeignete Mittel angewandt wird, um die Argumente der Schutzzöllner der Aufmerk- samkeit der Öffentlichkeit zu entziehen und dem Publikum die Kenntnis der Folgen zu verschleiern. Die Öffentlich- keit wird nicht in die Absichten jener eingeweiht, die den vorgeschlagenen Bestimmungen ihre entscheidende Form geben. Es ist sogar erwiesen, daß viele Mitglieder der Fi- nanzkommission nicht die Bedeutung der einzelnen Po- sitionen des Tarifs kannten, die dem Senat vorgelegt wur- den ; und selbst Senatoren, die Herrn Aldrich direkt Fragen

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stellten, wurde die gesuchte Aufklärung verweigert; manch- mal wohl, weil er sie nicht zu geben vermochte, aber manchmal auch, weil die Enthüllung der Einzelheiten die Annahme der Bestimmungen erschwert hätte. Es gab wichtige Dokumente, die nicht zu erlangen waren.

Betrachten wir das interessante Thema dieses ,, Irr- licht" — der ,, Herstellungskosten". Jedem Mann, der sich je mit Nationalökonomie beschäftigte, fällt es schwer, ein spöttisches Lächeln zu unterdrücken, wenn man ihm sagt, eine intelligente Gruppe von Mitbürgern suche die ,, Her- stellungskosten" zur Basis der Zollgesetzgebung zu ma- chen. Diese Kosten sind in keiner Fabrik auf zwei Jahre gleich. Sie sind in keiner Industrie in zwei Jahreszeiten dieselben. In ein und demselben Lande sind sie zu zwei verschiedenen Epochen verschieden. Sie entziehen sich unausgesetzt der Hand, die sie festhalten möchte. Sie exi- stieren als wissenschaftlich beweisbare Tatsache nirgends. Aber um dieZwecke des Schutzzollprogramms zu erreichen, war es notwendig, sich der Mühe zu unterziehen, sie zu entdecken. Ich bin zuverlässig davon unterrichtet, daß die Regierung der Vereinigten Staaten eine Anzahl auswärti- ger Regierungen, darunter auch die deutsche Regierung, aufforderte, ihr so genau als möglich die Herstellungs- kosten gewisser Artikel, die auch in Amerika produziert werden, mitzuteilen. Die deutsche Regierung überwies die Angelegenheit den in Betracht kommenden deutschen Fa- brikanten, die ihrerseits die Fragen so genau beantworte- ten, als sie sich auf Grund ihrer Geschäftsbücher beant- worten ließen. Die Mitteilungen gelangten an unsere Re- gierung während der Debatten um den Aldrichtarif und wurden da das Zollgesetz bereits zum Senat gelangt war der Finanzkommission des Senates überwiesen. Aber man berichtet mir und ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln , daß sie nie mehr den Taubenschlag

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der Kommission verließen. Ich weiß es nicht, und jene Kommission weiß es nicht, welcherart die eingegangenen Mitteilungen waren. Als Herr Aldrich nach ihnen gefragt wurde, sagte er zunächst, es sei kein amtlicher Bericht der deutschen Regierung. Später behauptete er, es sei ein unverschämter Versuch der deutschen Regierung, sich in die Zollgesetzgebung der Vereinigten Staaten einzumischen. Aber niemals verriet er, wie jene Herstellungskosten be- schaffen waren, die in jenen Mitteilungen dargelegt wur- den. Wenn er es getan hätte, hätte sich wahrscheinlich mehr als eine Position seines Tarifes als ungerechtfertigt erwiesen.

Solche Beispiele zeigen, wo der Schwerpunkt liegt, und wirklich ein Schwerpunkt, denn es handelt sich um sehr schwerwiegende Angelegenheiten. Er lag während des letzten Kongresses bei jener einzelnen Persönlichkeit, die als Vermittler zwischen den in den Vorzimmern wirken- den interessierten Fachleuten und der Gesetzgebung des Kongresses wirkte. Ich sage das nicht, um Herrn Aldrichs Charakter herabzusetzen. Es geht mich nichts an, welche Art Mensch Herr Aldrich ist ; und besonders jetzt, da er sich aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen hat, ist das gleichgültig. Die Sache ist nur die : auf Grund seiner langen Erfahrung und seiner langjährigen Beschäftigung mit diesen komplizierten Spezialangelegenheiten war er die gegebene und übliche Mittelsperson, durch die sich der Kongreß der Vereinigten Staaten darüber unterrichtete, welcher Art die Wünsche, nicht etwa des amerikanischen Volkes oder der gesamten Geschäftswelt waren, sondern welche Bedürfnisse und Argumente jene Fachleute vor- brachten, die herbeikamen, um die Angelegenheiten mit der Kommission ins reine zu bringen. Die Geschäftswelt der Vereinigten Staaten steht nicht als ein Ganzes in Füh- lung mit der Regierung der Vereinigten Staaten. Sobald

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das der Fall sein wird, werden alle jene Dinge, die heute das amerikanische Volk mit Recht beunruhigen, ver- schwinden. Sobald die Geschäftswelt Amerikas einen all- gemeinen, freien und willkommenen Zutritt zu den Be- ratungen des Kongresses gewinnt, werden alle Reibungs- flächen zwischen Politik und Geschäft verschwinden.

Die Tariffrage ist heute nicht mehr, was sie vor fünf- zehn oder zwanzig Jahren gewesen ist. Die Verteidiger des Zolltarifs pflegen zu sagen, es sei sogar einerlei, ob uns eine große Mauer vom Welthandel trenne, denn innerhalb der Vereinigten Staaten gäbe es ein so gewaltiges Frei- handelsgebiet, daß allein die Konkurrenz im eigenen Lande die Preise auf eine normale Höhe herabdrücke. Und man macht geltend : solange ein Staat mit allen anderen der Union konkurrieren kann und alle anderen mit ihm konkurrieren, solange könnten nur jene Vorteile errungen werden, die auf das überlegene Gehirn, die überlegene Wirtschaftsführung, das bessere Material und die bessere Verwaltung zurückgehen ; das seien die Kräfte, die Ame- rika stark gemacht und die Preise niedergehalten hätten, weil amerikanischer Geist mit amerikanischem Geiste konkurriere. Solange das zutraf, gab es allerdings sehr viel zugunsten des Schutzzolles anzuführen. Allein der Schutz- zoll ist von einigen wenigen dazu benutzt worden, um die heimische Konkurrenz zu vernichten, um alle innerhalb unserer Freihandelszone wirkenden Konkurrenten zu- sammenzuschließen und um damit neuen Männern das Emporkommen unmöglich zu machen. Unter dem Hoch- zoll wurde ein Netzwerk von Fabriken geschaffen, das in seiner Gesamtheit den Markt Amerikas beherrscht und seine eigenen Preise aufstellt. Darum ist das, was einst diskutabel war, undiskutabel geworden ; nicht der Hoch- zoll rief die Erhöhung der Lebenskosten hervor, jene gro- ßen Verbände bestimmen heute nicht durch den Tarif,

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aber durch ihren Zusammenschluß unter dem Tarif die Preise, die bezahlt werden sollen ; sie bestimmen, wieviel produziert werden soll ; und sie bestimmen dazu noch den Arbeitsmarkt.

Die Politik des ,, Schutzzolles", die heute verkündet wird, hat keine Berührungspunkte mehr mit der vonWeb- ster und Clay ursprünglich aufgestellten Theorie. Die ,, jungen Industrien", die jene Staatsmänner ermutigen wollten, sind aufgewachsen und ergraut, aber für beson- dere Vergünstigungen wußten sie stets neue Gründe zu entdecken. Ihre Ansprüche sind weit über das hinausge- wachsen, was sie in den Tagen Blaines und McKinleys zu fordern wagten, obgleich jene beiden Apostel des ,, Schutz- zolles" vor ihrem Tode zu dem Geständnis bereit waren, daß schon damals die Zeit gekommen war, den Ansprü- chen der unterstützten Industrien Halt zu gebieten. Wil- liam McKinley zeigte vor seinem Ableben Anzeichen einer Anpassung an die neue Zeit, wie seine Nachfolger sie nicht aufwiesen. Man kennt McKinleys letzte Äußerungen über jene Politik, die mit seinem Namen so eng verknüpft wurde, die Schutzzollpolitik. Man weiß, wie er dem bei- stimmte, was Blaine schon vor ihm gesagt hatte: Wir hätten dem Lande eine Politik auferlegt, die bei allzu- strenger Innehaltung sich als eine Politik der Beschrän- kung erweise ; und wir müßten einer Zeit entgegensehen die sehr bald kommen müsse, da wir mit allen Ländern der Welt in gegenseitige Handelsbeziehungen treten müß- ten. Das war nur eine andere Ausdrucksweise für die Not- wendigkeit, Starrheit durch Elastizität und geschlossene Häfen durch Handel zu ersetzen. McKinley sah, was seine Nachfolger nicht sahen. Er sah, daß wir uns selbst eine Zwangsjacke angelegt hatten. Wenn ich die Schutzzoll- politik unseres Landes überblicke und sehe, daß es die spä- teren Erscheinungen und die späteren Gepflogenheiten

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jener Politik waren, die die Trusts und die Monopole in den Vereinigten Staaten aufbauten, dann mache ich im Geiste folgende Gegenüberstellung : McKinley hatte bereits gegen das, was er voraussah, seinen Einspruch erhoben ; sein Nachfolger sah, was McKinley nur vorausgeahnt hatte: aber er handelte nicht. Sein Nachfolger sah jene höchst besonderen Privilegien, gegen die McKinley mißtrauisch zu werden begonnen hatte, in den Händen von Männern, die sie erhalten hatten, um für sich selbst ein Monopol aufzubauen, dessen Wirkung es war, die Freiheit des Un- ternehmungsgeistes mehr und mehr zu erschweren. Ich bin durchaus überzeugt, daß McKinley die spätere Entwick- lung jener Politik, mit der sein Name verkettet blieb, nicht gutgeheißen hätte.

Was bedeutet die jetzige Zollpolitik den Schutzzöll- nern ? Es ist nicht die alte Schutzpolitik, die ich durchaus anerkennen würde ; sie ist eine völlig neue Doktrin. Wer sich für die Geschichte des amerikanischen Schutzzolles interessiert, vergleiche die jüngsten Programme der bei- den Schutzzollparteien mit der alten Doktrin. Man wird, je gründlicher man in die Materie eindringt, durch eine völlig neue Richtung überrascht. Die neue Doktrin der Schutzzöllner ist, daß der Tarif den Unterschied zwischen den Herstellungskosten in Amerika und den Herstellungs- kosten in anderen Ländern darstellen soll, plus eines an- gemessenen Gewinnes für jene, die in der betreffenden In- dustrie tätig sind. Hierin liegt das Neue der jetzigen Dok- trin des Schutzzolles: ,,plus eines angemessenen Gewin- nes". Damit wird den Männern, die zum Kongreß kom- men und Vergünstigungen verlangen, offen ein Gewinn garantiert. Die alte Idee eines SchutzzoUtarifes ward er- dacht, um die amerikanische Industrie lebendig zu er- halten und dadurch amerikanischer Arbeit Beschäftigung zu gewährleisten. Aber die Vergünstigungen des Schutz-

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Zolles sind so fortdauernd geworden, daß folgendes ein- trat: als die Leute sahen, daß sie ausländische Konkur- renz nicht mehr zu fürchten hatten, schlössen sie sich zu großen Interessenverbänden zusammen. Diese Verbände umfassen Fabriken aller Arten : alte Fabriken und neue Fabriken, Fabriken mit veralteten Maschinen und Fabri- ken mit modernsten technischen Hilfsmitteln; Fabriken, die wirtschaftlich sparsam verwaltet werden, und Fabri- ken, die nicht wirtschaftlich geführt werden ; Fabriken, die seit langem im Besitz einer Familie waren und vielleicht heruntergekommen sind, und Fabriken, die über die jüng- sten technischen Erfindungen verfügen. Sobald der Zu- sammenschluß zum Interessenverband durchgeführt ist, werden die schlechter arbeitenden Fabriken außer Be- trieb gestellt. Aber die für sie ausgegebenen Aktien sollen Dividenden bezahlen. Und die Regierung der Vereinigten Staaten garantiert einen Gewinn auf Anlagen in Fabriken, die vom Markte ausgeschieden sind. Sobald jene Verbände ein Sinken der Preise beobachten, werden die Arbeitszeiten verkürzt, die Produktion verkleinert, die Löhne herabge- setzt, Leute aus ihren Arbeitsstellen entlassen zu wel- chem Zwecke ? Um die Preise künstlich auf der Höhe zu er- halten. Es mag eine Zeit gegeben haben, da der Zolltarif die Preise nicht emportrieb, aber jene Zeit ist dahin ; der Tarif wird heute von den großen Verbänden dazu ausgenutzt, ihnen die Herrschaft über die Preisgestaltung zu gewähr- leisten. Das ist nicht zufällig gekommen. Es ist kein Zu- fall gewesen, daß die Preise in den Vereinigten Staaten schneller stiegen und steigen als in irgendwelchem ande- ren Lande. Der Fluß, der uns von Canada scheidet, trennt uns von viel niedrigeren Kosten des Lebensunterhaltes, trotzdem das kanadische Parlament die Einfuhr mit Zöl- len belegt.

Aber jene, die nicht verstehen, was sich in den Ver-

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einigten Staaten abspielt, rufen : ,,Ihr werdet das Land mit eurem Freihandel ruinieren." Wer sprach von Freihandel ? Wer schlägt Freihandel vor? In den Vereinigten Staaten kann es keinen Freihandel geben, weil die Regierung der Vereinigten Staaten bei unserer gegenwärtigen Scheidung des Besteuerungsfeldes zwischen der Bundesverwaltung und den einzelnen Staatsregierungen notgedrungen zum großen Teil von den Zöllen erhalten wird, die in den Häfen erhoben werden. Aber ich möchte manche Herren fragen, ob durch die besonderen Tarifsätze, die sie angehen, in den Häfen sehr viel an Zöllen erhoben wird. Einige der Tarif- sätze sind praktische Verbotzölle und gewähren keine Zoll- einnahmen. Wer in Amerika einen importierten Gegenstand kauft, zahlt der Bundesregierung in Form des Einfuhrzolles einen Anteil am Preise. Aber was in der Regel gekauft wird, ist nicht ein eingeführter, sondern ein in Amerika hergestell- ter Gegenstand, dessen Preise der Fabrikant bis zu einem Punkte steigern konnte, der dem Preis des importierten Gegenstandes plus des Zolles gleich ist oder ihn übertrifft. Wer nimmt in diesem Fall den Zoll ein ? Die Regierung ? Keineswegs. Der Fabrikant, der amerikanische Fabrikant, der da sagt, da er seine Waren nicht so billig verkaufen kann wie der ausländische Fabrikant, sollten alle guten Amerikaner von ihm kaufen und ihm für dieses Privileg eine Steuer auf jeden Artikel entrichten. Vielleicht sollten wir das. Der ursprüngliche Gedanke war, daß wir damals, als er just anfing und Unterstützung brauchte, von ihm kaufen sollten, selbst wenn wir einen höheren Preis ent- richten mußten: bis er auf festen Füßen stände. Heute aber wird verlangt, daß wir von ihm kaufen und einen Preis zahlen sollen, der 15 bis 120 Prozent höher ist als der Preis, den wir einem ausländischen Fabrikanten ent- richten müßten; und das auch dann, wenn das hilfsbe- dürftige ,,Kind" ein bärtiger, sechs Fuß hoher Riese ist.

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Denn er trage notgedrungen höhere Herstellungskosten als irgendwer im Ausland. Ich weiß nicht, warum deis der Fall sein müßte. Amerikanische Arbeiter pflegten mehr und bessere Arbeit zu leisten als Ausländer, so daß er seine höheren Löhne mehr als aufwiegt und bei jedem Lohnsatz ein gutes Geschäft bleibt.

Wenn wir freilich übereinkommen, jedem Mitbürger, der Neigung zu irgendeinem Geschäftszweige hat, für den das Land nicht besonders geeignet ist, eine Extravergü- tung für jeden Artikel zu gewähren, den er hervorbringt, wenn wir diese Extravergütung so hoch bemessen, daß sie alle Nachteile ausgleicht, unter denen er aus dem einen oder anderen natürlichen Grunde arbeitet wenn wir das wollen, dann können wir allerdings unsere Industrie herr- lich vervielfältigen, aber wir berauben uns dabei selbst. Auf solcher Basis können wir in Connecticut oder Mi- chigan oder sonstwo meilenlange Treibhäuser errichten, in denen glückliche amerikanische Arbeiter mit gefüllten Speisekammern Bananen züchten die zum Preise von einem viertel Dollar verkauft würden. Irgendeine törichte Person, ein Demokrat, könnte zwar schüchtern darauf hinweisen, Bananen seien ein großer Segen für die All- gemeinheit, wenn sie aus Jamaica kämen und drei Stück für einen Nickel zu haben wären; aber welcher patrioti- sche Bürger würde auch nur einen Augenblick auf die Ein- wände eines Menschen hören, der kein Gefühl für die Pracht und Herrlichkeit der amerikanischen Bananen- industrie hat und nicht die stolze Bedeutung der Tatsache begreift, daß unser Sternenbanner über den größten Ba- nanentreibhäusern der Welt weht!

Aber das ist nur die eine Seite der Angelegenheit. Der sogenannte ,, Schutztarif" ist ein Werkzeug geworden, um auf Kosten der wirtschaftlichen Lebenskraft des übrigen Landes das Anwachsen besonderer Industriegruppen zu

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fördern. Was jetzt geschehen soll, ist allerdings eine sehr praktische Frage : man will diese Spezialprivilegien ent- hüllen und aus dem Tarif herausschneiden. Es soll auch nicht eine heimliche Sondervergünstigung in den die Zölle betreffenden Bestimmungen bleiben, die beseitigt werden kann, ohne jenen Teil des Handels zu schädigen, der ge- sund und angemessen ist und den wir alle gefördert zu sehen wünschen.

Manche Leute sprechen, als seien die Tarifreformer, als seien die Demokraten nicht Angehörige des amerika- nischen Volkes. Ich sprach kürzlich eine Dame, eine nicht ältliche Dame, die mir mit Stolz erklärte : ,,0, ich bin stets Demokratin gewesen, seitdem man sie mit Hunden hetzt." Und aus manchen Äußerungen könnte man wirklich schließen, die Demokraten seien Geächtete und hätten kei- nen Teil am Leben der Vereinigten Staaten. Die Demokra- ten stellen fast die Hälfte aller Wähler unseres Landes dar. Sie arbeiten in allen Unternehmungszweigen, in großen und in kleinen. Es gibt keinen Lebensweg und keinen Be- ruf, wo man ihnen nicht begegnete ; und wie eine Zei- tung in Philadelphia neulich witzig bemerkte sie kön- nen keinen wirtschaftlichen Mord verüben, ohne zugleich wirtschaftlich Selbstmord zu begehen. Will man sich vorstellen, die Hälfte des amerikanischen Volkes sei im Begriffe, die ganzen Grundlagen unseres Wirtschaftslebens zu zerstören, indem sie mit blinder Wut über die Bestim- mungen des Tarifs herfällt ? Manche dieser Bestimmungen sind so zäh, daß sie auch einem solchen Ansturm wider- stehen würden. Aber dieser Ansturm ist nicht beabsich- tigt, und wer das behauptet, hat für die Situation über- haupt kein Verständnis. Alles, was die Tarifreformer for- dern, ist: die Zahl derer, die Vergünstigungen genießen, soll zahlreicher sein, als sie es heute ist. Just weil ihrer so viele sind, wissen sie, wie viele draußen stehen. Und ich

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möchte es aussprechen : ebenso viele Republikaner stehen draußen. Das einzige, was ich gegen meine schutzzöllne- rischen Mitbürger einzuwenden habe, ist, daß sie sich so lange täuschen ließen. Wer kann noch davon sprechen, daß der Schutzzoll den Arbeitern zugute komme, ange- sichts der Tatsachen, die kürzlich in Lawrence, Massa- chussetts, aufgedeckt wurden, wo die schlimmste von allen Bestimmungen die ,,K-Former* dazu beiträgt, die Leute bei Löhnen zu erhalten, von denen sie nicht leben können! Es ist beweisbar, daß die amerikanischen Ar- beiter, die in ungeschützten Industrien arbeiten, besser bezahlt werden als jene, die in den ,, geschützten" und jedenfalls in den hervorragenden Industrien tätig sind. Die Bestimmung über Stahl ist für alle, die Stahl fabrizieren, recht befriedigend; aber ist sie es auch für jene, die den Stahl mit ihren eigenen, ermüdeten Händen herstellen? Weiß man, daß es Fabriken gibt, in denen Menschen sie- ben Tage in der Woche täglich 12 Stunden arbeiten müs- sen und in den 365 mühseligen Tagen des Jahres nicht genug verdienen, um ihre Rechnungen bezahlen zu kön- nen ? Und das ist einer der Riesen unserer Industrie, eine der Unternehmungen, die auf Grund dieses Systems zu ge- waltigem Um.fang angewachsen sind. Ach, die Fülle der Winkelzüge sinkt zusammen, und unter den sinkenden Schleiern beginnt man kleine Gruppen von Menschen wahr- zunehmen, die die herrschende Partei beherrschen und durch die herrschende Partei die Regierung beherrschen, zugunsten ihres eigenen Vorteils und nicht zugunsten des Vorteils der Vereinigten Staaten.

Man lasse mich wiederholen : es kann in den Vereinig- ten Staaten keinen Freihandel geben, solange die be- stehende Finanzpolitik der Bundesregierung aufrecht er- halten bleibt. Die Bundesregierung hat während all der Generationen, die uns voraufgingen, darauf beharrt, sich

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hauptsächlich durch indirekte statt durch direkte Besteue- rung zu erhalten. Ich wage zu sagen, daß wir nie eine Zeit erleben werden, in der diese Politik in einem entscheiden- den Maße geändert werden kann ; und es gibt keinen De- mokraten von Überlegung, den ich kennte, der ein Pro- gramm des Freihandels in Betracht zöge.

Aber was wir durchführen wollen, was das Repräsen- tantenhaus versuchte und von neuem versuchen und er- reichen wird, das ist die Ausrottung des Unkrautes aus diesem von uns angelegten Garten. Wir haben die Wur- zeln unserer Industrie mit dem Dünger des Schutzzolles getränkt, haben ihr Wachstum durch Politik gefördert, aber wir haben dann sehen müssen, daß die Förderung sich nicht gleichmäßig auf den ganzen Garten erstreckte ; einige Gewächse, die jedermann auf den ersten Blick er- kennt, haben die übrigen so überholt, daß die anderen in ihren Schatten verbannt sind : und unter dieser lähmenden Beschattung ist es den Industrien Amerikas unmöglich ge- worden, als ein Ganzes zu gedeihen. Mit anderen Worten : Wir haben herausgefunden, daß das, was ein Schutzver- fahren sein will, ein System der Günstlingswirtschaft ge- worden ist und daß die von dieser Politik Begünstigten auf Kosten der übrigen emporblühten. Nun treten wir in diesen Garten, um diese Schäden zu beseitigen. Wir kommen, um den kleinen Pflanzen Licht und Luft zu schaffen, auf daß sie wachsen können. Wir wollen jede Wurzel ausgraben, die sich so weit ausgebreitet hat, daß sie die Nahrung aus dem Erdreich der anderen Wurzeln saugt. Wir wollen dar- über wachen, daß der Dünger der Intelligenz, des Erfin- dungsgeistes und des eigenen Könnens von neuem in einer Gruppe von Industrien angewandt wird, die zu erstarren drohen, weil sie sich zu eng zusammenzuschließen streben. Die Politik, das Land von dem Beschränkungsgesetz zu be- freien, wird ringsum im Lande die Zahl der Unternehmun-

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gen so vielfältig machen und so vervielfältigen, daß der Absatz sich verbreitern und den Wettbewerb der Arbeit steigern wird. Und die Sonne wird wieder durch die Wolken scheinen, wie sie einst herabstrahlte auf die freie, unab- hängige Intelligenz und Tatkraft eines großen Werkes.

Einer der Anklagepunkte gegen den sogenannten Schutzzolltarif ist, daß er die Amerikaner um ihre Unab- hängigkeit, ihren Reichtum und ihr Selbstvertrauen ge- bracht hat. Unsere Industrie ist rückgratschwach, feig und von Regierungshilfe abhängig geworden. Wenn ich die Ar- gumente einige der größten Geschäftsleute höre, die da geltend machen, mit der Beseitigung des Schutzzolles wür- den sie von der Weltkonkurrenz überwunden werden, dann möchte ich mit der Frage antworten : wann und wo ge- schah es je, daß amerikanischer Geist sich fürchtete, ins Freie zu treten und den Kampf mit der Welt aufzunehmen ? Aber sie sagen : ,, Setzt uns um Gottes willen nicht der Ent- mutigung aus, den Preisen aus allen Weltwinkeln die Spitze bieten zu sollen." Wir können mit jenen Preisen konkurrieren. Im Ausland wird Stahl, in Amerika herge- stellter Stahl, in seinen mannigfachen Formen viel billiger verkauft als in Amerika. Es wird vielen schwer, das zu be- greifen. In New York haben wir eine Kinderschule ein- gerichtet. Man nannte sie die Schreckenskammer. Wir stellten dort eine Menge Gegenstände aus, die in Amerika produziert waren, und wir versahen sie mit den Preisen, zu denen sie im Ausland verkauft werden. Wenn man einer Frau erzählt, daß sie in Mexiko für achtzehn Dollar eine Nähmaschine kaufen kann, für die sie in den Vereinigten Staaten dreißig Dollar bezahlen muß, so wird sie das nicht beachten oder vergessen, solange man sie nicht zu der Ma- schine führt und sie ihr mit der Preisnotierung zeigt. Mein verehrter Freund Senator Gore von Oklahoma machte den interessanten Vorschlag, wir sollten ein Gesetz einführen,

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auf Grund dessen jedes in Amerika verkaufte Stück Ware eine Aufschrift tragen müßte, auf der zwei Preise ange- geben werden: der Preis, zu dem die Ware unter dem Srhutzzollgesetz verkauft wird, und der Preis, zu dem sie verkauft werden könnte, wenn kein Schutzzollgesetz wäre. Dann, meinte der Senator, würde die Tariffrage bald ge- löst sein. Er verlangt nicht, daß jene große Zahl unserer Mitbürger, die mit Überzeugung an den ,, Schutzzoll" glau- ben, ihre Meinung opfern. Er schlägt nur vor, daß jeder, der an den Schutzzoll glaubt, dafür auch bezahlt, die an- deren aber nicht ; wer seinen Beitrag leisten will, dem möge das freistehen.

Was uns übrige anbetrifft, so naht die Zeit heran, da wir diesen Beitrag nicht mehr zu leisten haben werden. Das amerikanische Volk hat den Willen, unsere Finanz- gesetzgebung von allen Sondervergünstigungen und Pri- vilegien zu befreien, besonders von jenen, die aus dem Zoll- tarif erwachsen. Wir haben erkannt, daß der Tarif in sei- ner jetzigen Form kein Schutzsystem ist, sondern ein Ver- günstigungssystem, dessen Vorteile zu oft heimlich und unterirdisch, statt offen und ehrlich und gesetzmäßig ge- währt werden. Und diesem Mißstande wollen wir ein Ende bereiten : nicht durch überstürzte und drastische Verände- rungen, sondern durch die Aufnahme eines völlig neuen Prinzipes durch die Reformierung des ganzen Zieles dieser Art von Gesetzgebung. Unsere Zollgesetzgebung soll fortan nicht private Vorteile, sondern die öffentliche Wohl- fahrt und die allgemeine Zweckmäßigkeit zum Ziele ha- ben. Wir wollen unsere Steuergesetze nicht wie Leute ma- chen, die daraus Vorteil ziehen, sondern wie Männer, die einer Nation dienen. Und wir werden bei jenen Bestim- mungen einsetzen, bei denen wir Sonderprivilegien im Spiele finden. Wir kennen diese Bestimmungen ; ihre Ver- teidiger waren freundlich genug, sie selbst aufzuzeigen,

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Bei der Frage des Zolltarifs wollen wir vor allem und zu- erst die Kehle des Kongresses von dem würgenden Griff der Sonderinteressen befreien. Wir haben nicht die Absicht, die Sonderinteressen länger in den Beratungszimmern der Kommission der Mittel und Wege im Abgeordnetenhaus und der Finanzkommission im Senat hausen zu lassen. An jenen Stätten soll das Volk der Vereinigten Staaten zu Worte kommen und vertreten sein, auf daß alles im Inter- esse der Allgemeinheit geschehe und nicht im Interesse je- ner besonderen Gruppen von Persönlichkeiten, die bereits die Industrien und die industrielle Entwicklung des Lan- des beherrschen. Denn wie klug, wie patriotisch und wie begabt zum Vorausahnen der richtigen Handelsentwick- lung diese Männer auch sein mögen, es gibt in den Ver- einigten Staaten und auch in keinem anderen Lande irgend eine Gruppe von Männern, die weise genug wären, um das Schicksal eines großen Volkes allein in ihre Hände gelegt zu sehen. Der Handel Amerikas soll befreit und unabhän- gig gemacht werden.

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Achtes Kapitel Die Trustfrage und der freie Wettbewerb

Viele Leute behaupten und behaupten es seit lan- gem — , Trusts seien unvermeidlich. Ich nehme an, daß sie das glauben. Sie behaupten nicht, Großbetrieb sei un- vermeidbar, sie behaupten nicht einmal, die Herausbildung einer Geschäftsorganisation, die sich auf Kooperation größ- ten Maßstabes gründet, sei für unsere Zeit charakteristisch und notwendig als eine Folge der modernen Zivilisations- formen entstanden. Wir würden das zugeben. Aber sie be- haupten, jene besondere Art von großen Korporationen, die heute unsere wirtschaftliche Entwicklung beherrschen, seien naturnotwendig erstanden und unvermeidbar, wir müßten sie daher als etwas Unvermeidliches hinnehmen und durch sie unsere Entwicklung suchen. Und als Bei- spiel verweist man auf die Eisenbahn. Um Gütertransport und Verkehr zu ermöglichen, waren Eisenbahnen unver- meidlich. Aber Schienenwege bleiben dort, wo man sie er- baute. Eine Eisenbahn kann nicht nach Gutdünken ver- legt werden, man kann nicht einen Teil der Strecke sper- ren und den Betrieb auf der ganzen Linie fortsetzen. Das zählt zu jenen Erscheinungen, die die Nationalökonomen, jene lästigen Gesellen, natürliche Monopole nennen ; und das aus dem Grunde, weil die ganzen Umstände ihrer Aus- nützungsf ähigkeit so starr sind, daß wir sie nicht umwan- deln können. In dieser Richtung bewegen sich auch die Beispiele, die von den Vorkämpfern der modernen Trusts gewählt werden.

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Die Theorie, nach der die Trusts aus der natürlichen Entwicklung der amerikanischen Geschäftsverhältnisse hervorgingen, ist sehr populär. Sie gipfelt in der Behaup- tung, es wäre ein Irrtum, den Vorgängen zu trotzen, aus denen die Trusts hervorgingen. Denn jene Vorgänge ge- hörten zum Wesen des Geschäftslebens unserer Zeit : darum bliebe uns nichts anderes übrig, als sie als unvermeidbare Einrichtungen zu betrachten und uns mit ihnen abzufin- den, indem wir sie regulierten.

Dieser Standpunkt beruht auf einer Verwirrung des Denkens. Die Großorganisation des Handels ist zweifellos in einem weiten Maße notwendig und natürlich. Die Ent- wicklung des Geschäftswesens zu großen Maßstäben und zum Zusammenwirken großen Stils ist unvermeidlich; und sie ist auch, wie ich hinzufügen möchte, wahrschein- lich wünschenswert. Aber das ist etwas ganz anderes als die Entwicklung von Trusts. Die Trusts sind nicht empor- gewachsen. Sie wurden künstlich erzeugt. Sie wuchsen nicht durch natürliche Vorgänge zusammen, sondern sie wurden durch den Willen, durch den entschlossenen Wil- len von Männern zusammengeschweißt, die in der Ge- schäftswelt mächtiger als ihre Nachbarn waren und ihre Machtstellung gegen Wettbewerb sicherstellen wollten.

Die Trusts entstammen nicht den Zeiten industrieller Anfänge, sie sind kein Erzeugnis jener alten, arbeitsamen Zeiten, da der große Weltteil, auf dem wir leben, noch un- erschlossen war und die junge Nation inmitten älterer und erfahrenerer Wettbewerber darum kämpfte, sich selbst zu finden und auf eigenen Füßen zu stehen. Die Trusts ent- stammen einer sehr nahen und sehr sophistischen Zeit, in der die Leute wußten, was sie wollten, und es verstanden, die Gunst der Regierung zu erlangen.

Warft ihr je einen Blick auf die Art, in der Trusts ge- macht wurden? Sie ist in einem Sinn sehr natürlich: in

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demselben Sinne, in dem auch menschliche Habgier natür- lich ist. Bin ich nicht tüchtig genug, meine Konkurrenten zu schlagen, dann werde ich dazu neigen, mich mit ihnen zu verständigen. ,,Laßt uns einander nicht die Kehlen ab- schneiden; schließen wir uns zusammen. Wir setzen die Produktion fest, bestimmen damit die Preise : und wir be- herrschen und bestimmen damit den Markt. * ' Das ist durch- aus natürlich. Das geschah immer, seitdem es Freibeuterei gab. Das geschah stets, seitdem Macht dazu benutzt wurde, eine Vorherrschaft aufzurichten. Der Grund, daß die Füh- rer der Korporationen danach strebten, den Wettbewerb auszuschließen, ist der Umstand, daß bei freiem Wett- bewerb Gehirn und Tüchtigkeit Grundlage der Vorherr- schaft sind. Jede große Korporation, die aus berechtigten Geschäftstransaktionen hervorging und durch Sparsam- keit und Tüchtigkeit aufgebaut wurde, lasse ich als natür- lich gelten und fürchte sie nicht, wie gewaltig sie auch an- wachsen mag. Denn sie kann nur dadurch groß bleiben, daß sie ihre Arbeit besser als andere verrichtet. Es gibt eine Grenze des Umfanges und jeder Geschäftsmann unseres Landes weiß das, obgleich manche das nicht zu- geben — , mit der die Grenze der Zweckmäßigkeit und der Leistungsfähigkeit überschritten wird und wo die Unbe- holfenheit und die Schwerfälligkeit beginnen. Man kann die Kombination so weit ausdehnen, daß sie sich nicht mehr zu einem einzelnen System zusammenschließen läßt ; man erhält so viele Teile, daß sie sich nicht mehr zu einer günstig arbeitenden Maschine montieren lassen. Die Grenze des zweckmäßigen Wirkens ist überschritten, wird in dem natürlichen Entwicklungsprozeß oft überschritten : und sie ist in der künstlichen und gewaltsamen Bildung von Trusts sehr oft überschritten worden.

Wie entsteht ein Trust? Einige wenige Männer ,, grün- den" ihn, sie bringen ihn zustande und erhalten für ihre

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Mühewaltung gewaltige Gebühren, die in Form von Ak- tien oder Anteilscheinen dem Unternehmen aufgeladen werden. Was die Gründer geltend machen, ist nicht etwa, daß jeder, der der Kombination beitritt, sein Geschäft bes- ser führen könne als vorher ; sie sagen : wir werden euch in unserem Verbände einen Anteil gewähren, der dreimal, viermal, fünfmal so hoch ist wie die Summe, die ihr er- halten würdet, wenn ihr euer Unternehmen einem ein- zelnen Mann verkauftet, der gezwungen wäre, es auf einer ökonomischen und konkurrenzfähigen Basis weiterzu- führen. Wir können es uns leisten, zu so hohem Preise zu kaufen, weil wir jede Konkurrenz ausschließen. Wir kön- nen es uns leisten, das Aktienkapital unserer Korporation sechsmal so groß zu machen als es sein müßte und sich verzinsen würde, weil niemand die Preise anfechten wird, die wir festsetzen.

Ist das ein gesundes Geschäft? Kann das als unver- meidbar gelten ? Das beruht auf nichts als auf Macht. Das beruht nicht auf Tüchtigkeit. Es ist kein Wunder, daß die Trusts nicht in dem gleichen Verhältnisse vorwärts kom- men wie die wenigen Konkurrenten in jenen Geschäfts- zweigen, die Konkurrenten noch offen stehen ; die Trusts kommen unbehindert nur auf jenem Gebiete vorwärts, von dem Wettbewerber vollkommen ausgeschlossen sind. Wer Zweifel hegt, lese die Statistik des amerikanischen Stahl- trustes oder die Statistik eines jeden Trustes. Es zeigt sich, daß sie stets vor einem Wettbewerb Angst haben und un- ausgesetzt neue Konkurrenten aufkaufen, um das Feld einzuengen. Der amerikanische Stahltrust erlangt auf dem amerikanischen Markte nur für die roheren Eisen- und Stahlerzeugnisse die Überlegenheit; überall aber, wo er, wie auf dem Gebiete der fortgeschritteneren Eisen- und Stahlfabrikation, größere Konkurrenten hat, steigt die Pro- duktion des Trustes nicht, sondern geht zurück und die

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Konkurrenten sind dort, wo sie die Möglichkeit haben, Fuß zu fassen, oft leistungsfähiger als der Trust.

Warum ? Wie kommt es, daß der Trust mit seinem un- beschränkten Kapital und seinen zahllosen Bergwerken und Fabriken in allen Teilen der Vereinigten Staaten nicht imstande ist, die anderen vom Markte zu verdrängen ? Das erklärt sich zum Teil dadurch, daß der Trust zu viel Ballast mitschleppt und zu schwerfällig und ungelenk geworden ist. Seine Organisation ist unvollkommen. Neben leistungs- fähigen Fabriken wurden auch leistungsunfähige Fabri- ken aufgekauft. Und die Summen, die man dabei bezahlte, müssen als Bürde weitergeschleppt werden auch wenn es notwendig wird, einige dieser Fabriken zu schließen, nur um eine Verzinsung des Kapitals zu erreichen ; aber Ver- zinsung des ,, angelegten Kapitals" wäre in diesem Fall ein unzutreffender Ausdruck, man muß schon von der Verzinsung einer angeblichen Kapitalanlage sprechen. Und so sehen wir eine Schar schwerfälliger Riesen, die unter der Bürde einer unerträglichen Last daherstolpern un- ter einer Last, die sie sich selbst aufgeladen haben , und die ratlos umherschauen, ob am Ende nicht ein kleiner Zwerg mit einem runden Stein in der Schleuder daher- kommt und sie zu Boden streckt.

Ich möchte diesem Zwerge die Möglichkeit geben, her- vorzukommen. Und ich sehe eine Zeit, in der die Zwerge so viel rühriger, so viel erfindungsreicher und so viel tä- tiger als diese Riesen sind, daß die Geschichte von Jack dem Riesentöter sich vielleicht oft wiederholen wird. Man gebe nur einigen jener jungen Männer, die ich kenne, eine Möglichkeit, und sie werden den Männern der Trusts harte Nüsse zu knacken geben. Man leihe ihnen nur ein wenig Geld! Heute können sie es nirgends bekommen. Man sorge nur dafür, daß sie nicht erdrückt werden können, wenn sie sich einen bestimmten Markt erobert haben. Man gebe

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ihnen nur die Möglichkeit, einen Markt zu erobern, und man wird sehen, wie sie einen anderen und dann noch einen anderen dazu erobern, bis jene Riesen mit den un- erträglichen Lasten künstlicher Bewertungen erkennen, daß sie einen festeren Boden suchen müssen, wenn sie nicht zusammenbrechen wollen. Ich möchte dem kleinen Jack die Möglichkeit geben, sich mit dem Riesen zu messen, und wenn Jack soviel Verstand hat, wie einige mir in Amerika bekannte Jacks ihn besitzen, dann möchte ich sehen, wie der Riese mit ihm fertig werden will, der Riese mit der Riesenlast, unter der er einherkeucht. Denn mit einem wassersüchtigen Riesen will ich jederzeit fertig werden, wenn man mir nur einen Kampfplatz gewährt und soviel Vertrauen, als ich verdiene ; und wenn man dem Ge- setz die Macht gibt, das zu tun, was man seit unvorgäng- lichen Zeiten von dem Gesetze erwartete: wenn es den Raum zu einem ehrlichen Wettkampf absteckt.

Ich kenne die Trugschlüsse, mit der man die Kapitali- sierung der Erwerbskraft verteidigt ; und es gibt ihrer viele. Das Argument ist fesselnd und bestechend und kann auch bei manchen Beispielen durchaus rechtmäßig vorgebracht werden. Aber es gibt eine Grenzlinie, bei deren Überschrei- tung man nicht mehr die Erwerbskraft kapitalisiert, son- dern nur die Beherrschung des Marktes und Gewinne, die man durch diese Herrschaft und nicht durch Leistungs- fähigkeit und Sparsamkeit erlangt. Das sind Tatsachen, die sich keinem Beobachter mehr verschließen. Die Un- schuldstage der Gelehrten sind vorüber. Sie wissen, was sich vollzieht, denn wir leben in einer redseligen Welt, die von Statistiken, parlamentarischen Enqueten und von den Versuchen derer erfüllt ist, die es unternahmen, auf Grund der Gesetze der Vereinigten Staaten unabhängig zu leben ; und gar viele Dinge sind unter Eid ans Licht gekommen, die wir auf Grund der Glaubwürdigkeit der Zeugen nicht

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anzweifeln können, denn diese Zeugen waren oft genug sehr fähige und achtenswerte Männer.

Ich stehe auf dem Standpunkt, den jeder fortschrittlich Gesinnte einnehmen sollte : private Monopole nicht zu verteidigen und nicht zu dulden. Und auf diesem Stand- punkt werde ich meinen Kampf durchfechten. Denn ich weiß, wie ich zu kämpfen habe. Jeder Mann, der auch nur die Zeitungen liest, kennt die Mittel, durch die die Trusts ihre Macht schufen und ihre Monopole aufbauten. Jeder halbwegs kundige Jurist kann euch die Bestimmungen nennen, durch die alle diese Vorgänge verhindert werden können. Was die Führer der Trusts nicht wollen, ist dies : sie wollen nicht gezwungen sein, dem Anfänger auf glei- chem Fuße begegnen zu müssen. Ich wünsche durch- aus, daß sie jeden Konkurrenten mit ehrlichen Mitteln schlagen; aber ich kenne auch die unzulässigen Mittel, die bisher angewandt wurden und v/eiß, wie sie durch das Gesetz verhindert werden können. Wenn die Trusts allein auf der Basis der Tüchtigkeit den Markt erobern, wenn sie sich darauf stützen, daß sie ihre Waren besser als an- dere herstellen und billiger als andere verkaufen können, wenn sie glauben, auf dieser Basis die gewaltigen Massen toten Ballastes, die sie beim Ankauf aller Konkurrenten sich aufluden, tragen zu können dann sind sie mir voll- auf willkommen, dann können sie ihr Glück versuchen. Aber der Anfänger darf nicht erdrosselt und erdrückt wer- den, man darf seinen Kredit nicht verkümmern; es darf keinen Verruf jener Kleinhändler geben, die von einem Konkurrenten kaufen; es darf keine Drohungen gegen Verbände geben, die einem Konkurrenten Rohmaterial verkaufen; es darf keine Entziehung von Rohmaterial geben und keine geheimen Abmachungen gegen den klei- neren Wettbewerb. Jedes erdenkliche Mittel eines ehr- lichen Wettbewerbs ist willkommen, aber kein unehrliches

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wird zugelassen. Und dann, wenn jede ungerechtfertigte Art der Konkurrenz beseitigt ist, werden wir sehen, wie die Trusts ihren Ballast zu schleppen vermögen. Ich ver- lange von ihnen nichts weiter, als daß sie sich auf jenen Kampfplatz wagen, wo Tüchtigkeit gegen Tüchtigkeit und Verdienst gegen Verdienst kämpft. Wenn sie die Leistungs- fähigkeit anderer Amerikaner überbieten, dann sind sie die Leistungsfähigeren.

Aber wenn du erfahren willst, was Leistungsfähigkeit und Klugheit heute ausrichten können, dann versuche es, bessere und billigere Ware auf den Markt zu bringen, dann erlebe es, wie man dich unterbietet, noch ehe dein Ab- nehmerkreis größer geworden ist als deine Heimatstadt; dann erlebe es, wie vollkommen unmöglich es dir gemacht wird, Fuß zu fassen. Wenn du wissen willst, was Erfin- dungsgeist vermag, dann mache eine Erfindung, die eine Verbesserung der vom Trust benutzten Maschinen be- deutet, und versuche dann, ob du Geld bekommen kannst, um deine Maschine herzustellen. Du wirst es vielleicht er- leben, daß die Korporation dir etwas für dein Patent an- bietet — um es sorgsam in einen Kassenschrank zu ver- schließen und die alten Maschinen weiter zu benutzen; aber daß du deine Maschine baust und fabrizierst, wird man dir nicht gestatten. Ich kenne Männer, die das ver- suchten, und sie konnten kein Geld bekommen, weil die großen Geldverleiher unseres Landes mit den großen Fa- brikanten unseres Landes ihre Abmachungen haben und es nicht wünschen, daß ein Außenseiter in das Absatzgebiet eindringt und den Absatz stört.

Man macht uns sehr schnell zu Außenseitern, sogar in bezug auf Dinge, die aus den Tiefen der Erde kommen und in besonderem Sinne uns gehören. Gewisse Monopole habe eine fast vollkommene Gewalt über die Zufuhr von Roh- stoffen erlangt, vor allem im Bergbau, von dessen Erzeug-

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nissen eine lange Reihe von Industrien abhängen ; und sie machen beim Verkauf des Rohstoffes nach Belieben Unter- schiede zwischen den Konkurrenten des Monopoles und jenen, die sich dem Monopol beugen. Wir müssen bald dahin kommen, jenen, die über dieses der Industrie un- entbehrliche Material verfügen, zu sagen, daß sie das un- entbehrliche Material mit der gleichen Bereitwilligkeit und zu den gleichen Bedingungen an alle Bürger der Vereinig- ten Staaten zu verkaufen haben. Denn sonst würden die Hilfsquellen dieses Landes durch die private Beherrschung der Rohstoffproduktion so abgeschnürt, daß eine unab- hängige Entv/icklung vollkommen unmöglich würde.

Eine andere Ungerechtigkeit, die sich das Monopol zu- schulden kommen läßt, ist folgende : Trusts, die mit jenen Halbprodukten handeln, die erst durch eine feinere Fa- brikationsmethode zu Gebrauchsgegenständen umgeformt werden, verkaufen nur auf der Basis des Monopols, d. h. : alle Leute, die mit dem betreffenden Trust in Geschäfts- verbindung stehen, müssen sich verpflichten, ihre Roh- produkte ausschließlich von ihm zu kaufen. So wird wie- derum die Entwicklungsmöglichkeit eingeschnürt, ohne daß es möglich ist, diese Fesseln abzustreifen. Zugleich sind die großen Industriemonopole in ihren persönlichen Beziehungen mit den Verkehrsunternehmungen des Lan- des und mit den großen Eisenbahnen so eng liiert, daß sie oft auch die Festsetzung der Frachtsätze bestimmen kön- nen.

Mit dem Volke versteht man sehr gewandt, fertig zu werden. Man weiß natürlich, daß man solange unsere Handelskommission nicht völlig schlaflos ist Fracht- rabatte erlangen kann, ohne sie Rabatt zu nennen. Eines der kompliziertesten Studiumsgebiete, die ich kenne, ist die Klassifizierung der Frachten durch die Eisenbahnge- sellschaften. Wenn ich für einen besonderen Artikel einen

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besonderen Frachtsatz haben will, brauche ich nichts wei- ter zu tun, als diesen Artikel bei der Klassifikation der Frachtraten in eine Spezialklasse einordnen zu lassen, und der Zweck ist erreicht. Wenn man sich klarmacht, daß beispielsweise die vierundzwanzig Männer, die den Stahl- trust der Vereinigten Staaten beherrschen, bei fünfund- fünfzig Prozent aller Eisenbahnen der Union, gerechnet nach dem Werte der Bahnen in der Höhe ihres Aktien- kapitales und ihrer Obligationen, Präsidenten oder Vize- präsidenten oder Direktoren sind, dann weiß man, wie eng all diese Interessen in unserem Industriesystem ineinan- der verwoben sind und wie groß die Versuchung ist. Jene vierundzwanzig Herren verwalten jene Korporation, als wäre sie ihr Eigentum. Das Erstaunlichste für mich aber ist, daß das Volk der Vereinigten Staaten nicht erkannte, daß die Verwaltung eines derartig großen Unternehmens keine Privatangelegenheit ist, sondern eine öffentliche An- gelegenheit.

Man hat mir oft gesagt, mein Gedanke, durch Wieder- herstellung des freien Wettbewerbes die industrielle Frei- heit wiederherzustellen, beruhe auf einer mangelhaften Beobachtung der wirklichen Vorgänge während der letzten Jahrzehnte ; denn, so sagte man, gerade der freie Wett- bewerb hat es den Großen ermöglicht, die Kleinen zu ver- nichten. Darauf erwidere ich : nicht der freie Wettbewerb hat das ermöglicht, sondern der unrechtmäßige Wettbe- werb. Und diese Art des Wettbewerbes, die den kleinen Mann vernichtete, soll und kann das Gesetz verhindern. Man weiß, wie der kleine Geschäftstreibende von den Trusts vernichtet wird. Er schafft sich ein kleines Absatz- gebiet. Die großen Korporationen drängen sich ein und unterbieten ihn auf seinem heimischen Markte, dem ein- zigen, den er besitzt ; und wenn er hier nichts mehr ver- dienen kann, ist er vernichtet. Die großen Verbände aber,

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die ihn auf seinem heimischen Markte unterbieten, können zu gleicher Zeit in den übrigen Teilen der Union verdienen und sich dadurch schadlos halten. Auf diese Weise wird es möglich, wo immer Konkurrenten sich zu zeigen wa- gen, die Wettbewerber einen nach dem anderen lahm zu legen. Und da die kleinen Wettbewerber stets vereinzelt auf- tauchen, können die großen Verbände dafür sorgen, daß sie ein breiteres Absatzgebiet nicht erlangen. Irgendwo mußt du anfangen. Du kannst nicht im freien Weltenraum begin- nen, du mußt in irgendeinem Gemeinwesen beginnen. Deine Abnehmer werden zunächst deine Nachbarn und deine Be- kannten sein. Aber solange du über kein unbeschränktes Kapital verfügst, das du natürlich nicht besitzt, wenn du ein Anfänger bist, oder solange du nicht unbeschränkten Kredit erlangst, was jene Männer zu verhindern wissen, können sie dich jederzeit auf deinem heimischen Absatz- gebiete lahmlegen, und das genau nach demselben Grund- satz, nach dem sie die organisierte Arbeiterschaft über- winden ; denn sie können auf deinem Markte mit Verlust verkaufen, weil sie auf allen anderen Märkten mit Gewinn verkaufen ; und sie können die Verluste durch die Gewinne wieder ausgleichen, die sie dort erzielen, wo sie andere Wettbewerber schon vernichtet und ausgeschaltet haben. Wenn immer aber ein Konkurrent, der Glück und viel Ka- pital hat, auf dem allgemeinen Markt erscheint, dann muß der Trust ihn aufkaufen und drei- oder viermal so viel be- zahlen, als das Unternehmen wert ist. Nach dem Ankauf müssen die Zinsen für jene Summe aufgebracht werden, die für das Unternehmen bezahlt wurde. Und um diese Zinsen für das zu dem Ankauf geliehene Kapital, die Ak- tien und Obligationen, zu erlangen, muß das Volk durch höhere Preise die Steuer entrichten. Aus diesem Grunde sind die großen Trusts und die großen Kombinationen in Amerika die verschwenderischste und unökonomischste

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Art der Industrieführung ; und wenn sie einen gewissen Umfang überschreiten, erreichen sie auch die geringere Leistungsfähigkeit.

Ein bemerkenswertes Beispiel bleibt die Art, in derHerr Carnegie von dem Stahltrust aufgekauft wurde. Herr Car- negie konnte bessere Fabriken und bessere und billigere Stahlschienen herstellen als irgendeiner jener Leute, aus denen später die United States Steel Corporation hervor- ging. Man wagte es nicht, ihn außerhalb der Interessen- gemeinschaft zu lassen. Er besaß eine so gefährliche Fähig- keit, die besten Fabrikationsmethoden ausfindig zu ma- chen; er besaß eine so große Menschenkenntnis und Er- fahrung bei der Auswahl seiner tüchtigsten Mitarbeiter ; er wußte so genau, wann ein junger Mann, der in sein Unternehmen eingetreten war, zur Beförderung geeignet und dazu reif war, die Leitung irgendeines Zweigunter- nehmens zu übernehmen, und er wußte so sicher, daß der ausgewählte Mann sich bewähren würde, daß er aus- nahmslos alle Konkurrenten in Stahlschienen unterbieten konnte. Und so kaufte man ihn auf, kaufte ihn zu einem Preise, der dreimal oder viermal, ich glaube sogar fünf- mal — so hoch war wie der Schätzungswert seines Besitz- tums und seines Geschäftes; und man tat das, weil man ihn im freien Wettbewerb nicht schlagen konnte. In den Preisen aber, die man fortan für die Stahlprodukte for- derte, die Fabrikate der Carnegieschen Fabriken einge- schlossen, mußten wir die Zinsen für die vier- oder fünf- fache Differenz aufbringen.

Das ist der Unterschied zwischen einem großen Ge- schäft und einem Trust. Ein Trust ist eine Einrichtung zum Zwecke der Beseitigung der Konkurrenz ; und ein großes Geschäft ist ein Unternehmen, das die Konkurrenz über- dauert, indem es auf dem Gebiete der Tüchtigkeit und der Sparsamkeit siegte. Ein Trust bereichert nicht die Leistungs-

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fähigkeit des Handels : er kauft die Leistungsfähigkeit auf. Ich bin für große Geschäfte und gegen Trusts. Vor jedem Manne, der durch seine Tüchtigkeit besteht, vor jedem, der den anderen aus dem Felde schlagen kann, weil er seine Fabrikate den Konsumenten billiger liefern kann und zu- gleich ihren Gebrauchswert und ihre Qualität zu verbes- sern vermag, vor jedem Manne, der das vermag, ziehe auch ich den Hut und sage: ,,Du bist der Mann, der die Vereinigten Staaten in die Höhe bringen kann, und ich wollte, es gäbe noch mehr von deiner Art." Aber mehr von dieser Art wird es nicht geben, solange nicht ein Mittel gefunden wird, Monopole zu verhindern. Es liegt auf der Hand, daß ein Trustunternehmen, das unter der Last einer viel zu hohen Kapitalisierung einherkeucht, kein Unternehmen ist, das es sich leisten kann, Konkur- renz zuzulassen. Denn in dem Augenblick, da ein ratio- nell geführtes Unternehmen, ein Unternehmen, dessen Kapital bis zum letzten Heller arbeitet, am Markte auf- taucht und den Wettbewerb mit einem überbürdeten Trust aufnimmt, wird es unvermeidlich den Trust schlagen und unterbieten; und darum liegt es im Interesse des Trusts, das Monopol aufrecht zu erhalten. Seine Führer vermögen die Absatzgebiete der Welt auf keine andere Weise als auf dem Wege des Monopols zu beherrschen und zu behaupten. Und darum ist es auch nicht erstaunlich, wenn sie heute die Begründusg einer neuen Partei unter- stützen, die ein schönes Programm wohlwollender Für- sorge aufstellt, aber zugleich das Monopol auf eine den Trusts erträgliche Weise gelten läßt.

Wir müssen unsere Aufmerksamkeit, ob wir das nun wollen oder nicht, noch auf einen anderen Gegenstand richten. Ich nehme diese Dinge nicht darum in den Mund, weil sie etwa meinem Gaumen behagen; und ich erörtere sie auch nicht mit dem Wunsche, irgendwen anzugreifen

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oder Dinge umzustürzen ; ich spreche von ihnen, weil wir uns nur durch eine offene Aussprache über die Lage der Dinge klar werden können. Aus einer nicht weit zurück- liegenden Untersuchung ersehen wir, daß die Dinge sich wie folgt abspielen. Eine gewisse Bank legt Kapital in ge- wissen Aktien an. Es liegt auf der Hand, daß mit der Über- nahme dieser Aktien ein Interesse sehr eng verknüpft ist, die Preise gewisser Artikel aufrecht zu erhalten. Niemand sollte und unter normalen Verhältnissen würde auch nie- mand einen Augenblick daran denken, gegen die Leiter einer großen Bank den Verdacht zu hegen, daß sie eine solche Kapitalsanlage unternehmen, um die Erhaltung der Markt- preise jenen zu ermöglichen, die in den Vereinigten Staaten einen bestimmten Geschäftszweig betreiben ; aber die Ver- hältnisse sind nicht normal. Man beginnt zu glauben, daß im Großhandel unseres Landes nichts von etwas anderem unabhängig ist. Ich beziehe mich nicht auf das Beispiel, das ich erwähnte, und ich möchte auch nicht auf bestimmte Fälle exemplifizieren, denn das wäre ungerecht ; aber man nehme jede Anlage industriellen Charakters, die eine Bank unternimmt. Es ist bekannt, daß der Direktorenstab dieser Bank persönlich mit zehn, zwanzig, dreißig, vierzig, fünfzig, sechzig Verwaltungsräten aller Arten verknüpft ist ; mit den Verwaltungsräten von Eisenbahnen, die Waren befördern, mit denen großer Fabrikantengruppen, die Waren erzeu- gen, und mit den großen Kaufleuten, die Waren vertrei- ben ; und die Folge ist, daß jede große Bank Gefahr läuft, die Motive ihrer Kapitalsanlagen verdächtigt zu sehen. Man hält es zumindest für möglich, daß sie im Interesse von irgendwem handelt, der mit dem Bankwesen nichts zu tun hat, mit dem aber einige der Bankdirektoren ge- meinsame oder benachbarte Interessen haben. Kurz : die Beunruhigung und Besorgtheit des Publikums erwächst aus der zunehmenden Erkenntnis, daß viele große Unter-

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nehmungen miteinander verwoben sind und in ihrem Personal voneinander nicht mehr zu unterscheiden sind. Wenn daher eine kleine Gruppe von Männern an den Kongreß herantritt, um die zuständige Kommission zu veranlassen, gewisse Gesetze zu revidieren oder zu ver- ändern, dann kann niemand die Verzweigungen und Ver- kettungen der von diesen Männern vertretenen Interessen überblicken. Und daher scheint es in den öffentlichen Be- ratungen kein ehrliches und freimütiges Walten der öf- fentlichen Meinung zu geben ; jeder einzelne steht in dem Verdachte, irgendeinen anderen zu vertreten, und niemand weiß, wo seine Verbindungen anfangen und wo sie auf- hören. Glückliche Umstände gaben mir Gelegenheit, die Art, in der solche Dinge entstehen, kennen zu lernen, ohne mit ihnen verknüpft zu sein, und ich glaube nicht, daß ir- gendwer dieses System mit bestimmter Absicht ersonnen hat. Ich bin nicht so unwissend oder schlecht unterrichtet, als daß ich annähme, es gäbe irgendwo eine vorsätzliche und böswillige Kombination zur Beherrschung der Regie- rung der Vereinigten Staaten. Ich sage nur, daß durch ge- wisse heute allgemein bekannte und an sich vielleicht be- greifliche Prozesse ein außergewöhnlicher und sehr ver- derblicher Zusammenschluß in der Führung unserer An- gelegenheiten die Herrschaft erlangt hat.

Wie das auch gekommen sein mag, wichtiger ist noch, daß die Macht der Kreditgewährung gefährlich zentrali- siert ist. Es entspricht nur der Wahrheit, wenn man sagt, daß die finanziellen Hilfsmittel des Landes jenen nicht zur Verfügung stehen, die sich nicht der Leitung und der Herr- schaft jener kleiner Kapitalistengruppen fügen, die die wirtschaftliche Entwicklung des Landes beaufsichtigen und führen wollen. Das größte Monopol in diesem Lande ist das Monopol der großen Kredite. Solange es fortbesteht, kann von unserer alten Vielseitigkeit und Freiheit und indivi-

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dueller Tatkraft der Entwicklung nicht die Rede sein. Eine große Industrienation wird durch ihr Kreditsystem be- stimmt. Unser Kreditsystem konzentriert sich auf die Hände weniger Männer. Infolgedessen liegt das Wachstum der Nation und all unser Wirken in den Händen weniger Leute, die notgedrungen wie ehrlich und dem Allgemein- wohl zugewandt ihre Absichten auch sein mögen ihr Interesse auf jene großen Unternehmungen konzentrieren, in denen ihr Geld angelegt ist ; und damit müssen sie not- gedrungen, auf Grund ihrer eigenen Abhängigkeit, die wirk- liche wirtschaftliche Freiheit beengen und vernichten. Das ist die wichtigste von allen Fragen, und ihr müssen sich die Staatsleute mit dem ernsten Willen widmen, der fernen Zukunft und der wahren Freiheit der Menschheit zu dienen. Der Geldtrust, oder richtiger gesagt, der Kredittrust, mit dessen Untersuchung der Kongreß begonnen hat, ist kein Mythus und kein Wahngebilde der Phantasie. Er ist ein gewöhnlicher Trust wie jeder andere. Er macht nicht täglich Geschäfte. Er macht nur Geschäfte, wenn die Ge- legenheit dazu kommt. Du kannst bisweilen, solange er nicht auf der Hut ist, etwas Größeres unternehmen ; aber wenn er auf der Hut ist, kannst du nicht viel erreichen. Ich habe es mitangesehen, wie Menschen durch diesen Kre- dittrust erdrosselt wurden ; ich habe Leute gesehen, die, wie sie es selbst nannten, ,, durch Wallstreet aus dem Ge- schäftsleben hinausgesetzt wurden", weil Wallstreet sie als unbequem empfand und ihre Konkurrenz nicht wünschte. Dabei möchte ich betonen, daß ich die Motive der Männer vom Wallstreet nicht anzweifle. Sie glauben, dies sei der beste Weg, für den Wohlstand des Landes zu sorgen. Wenn du die Herrschaft über den Markt in der Hand hältst, zwingt dich dann die Ehrlichkeit, die Hand zu öffnen und zu leeren? Wenn du den Markt in der Hand hast und über- zeugt bist, besser als irgendwer das Wohl des Landes zu

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ermessen, ist es dann patriotisch, deinen Einfluß zu zer- stören? Ich kann mir vorstellen, daß jene Männer sich selbst diese Gründe vorhalten.

Die größte Gefahr für unser Land ist nicht die Existenz dieser einzelnen großen Korporationen wie groß diese Gefahr auch sein mag ; die große Gefahr ist die Korpora- tion der Korporationen, die Zusammenschließung aller Verbände, der Verknüpfung der Eisenbahnen, der Indu- strieunternehmungen, der großen Bergwerke und der gro- ßen Unternehmungen zur Entwicklung der natürlichen Wasserkräfte. Durch die Persönlichkeiten ihrer Direktoren und durch die Angehörigen einer langen Reihe von Ver- waltungsräten werden sie zu einer ,, Interessengemein- schaft**, die gewaltiger ist als jede denkbare einzelne Kor- poration, die offen zutage tritt.

Die Organisation des Geschäftslebens hat sich in Ame- rika stärker, viel stärker zentralisiert als die politische Or- ganisation des Landes. Es gibt Verbände, die sich über grö- ßere Gebiete als einzelne Staaten erstrecken; sie unter- stehen einer größeren Vielfalt von Gesetzen als der Bürger selbst, überbieten ganze Staaten mit ihren Budgets und er- scheinen in ihrem Einfluß auf Leben und Wohlergehen gan- zer Menschengemeinschaften größer als Staatsverbände. Das zentralisierte Geschäftsleben hat gewaltige Bauten der Organisation aufgetürmt, die alle Staaten überspannen und an Weite des Umkreises, die Bundesregierung der Ver- einigten Staaten ausgenommen, ihresgleichen nicht haben.

Was zu vollbringen bleibt und es ist eine gewaltige Aufgabe, die nicht ohne Überlegung und die nicht leichten Sinnes unternommen werden kann ist die Entwirrung dieser gewaltigen ,,Interessengemeinschaft". Welche Wege wir auch bei der Behandlung der einzelnen auf die Be- schränkung der Handelsfreiheit hinwirkenden Korporatio- nen einschlagen werden : es gibt keine einzelne erklärte

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Kombination, die groß genug sein könnte, um den Ver- einigten Staaten Schrecken einzuflößen; aber wenn alle Korporationen sich verbinden und wenn die daraus empor- wachsende Kombination keinem Gesetze faßbar wird, wenn sie nichts weiter als eine Identität von Personen oder Inter- essen ist, dann steht man vor etwas, das selbst die Regie- rung der Nation Furcht lehren kann. Und dieses Etwas muß das Gesetz auseinanderlegen und vorsichtig aber ent- schlossen und zäh trennen.

Der Chemiker unterscheidet bekanntlich zwischen einer chemischen Verbindung und einem Amalgam. Eine chemische Verbindung hat etwas vollbracht, was ich wis- senschaftlich nicht beschreiben kann, aber ihre Moleküle sind eng miteinander verschmolzen, sie sind eins gewor- den. Ein Amalgam aber stellt eine nur durch körperlichen, durch äußeren Druck erzeugte Vereinigung dar. Dieser nur körperliche Kontakt aber läßt sich beseitigen, ohne die einzelnen Elemente zu verletzen; und diese ,, Interessen- gemeinschaft", von der wir sprachen, ist ein Amalgam; du kannst sie lösen, ohne irgendeines der beteiligten Interessen zu verletzen. Nicht, daß ich besonders zartfüh- lend gegenüber manchen dieser vereinigten Interessen wäre ich stehe nicht unter dem Zwang, übertrieben höf- lich gegen sie zu sein aber ich bin um das Geschäfts- leben des Landes besorgt, und ich glaube daran, daß dessen Unantastbarkeit von dieser Trennung und Auflösung ab- hängig ist. Ich glaube nicht, daß irgendeine Gruppe von Männern genug Einblick und genug Genie hat, um zu be- stimmen, wie die Entwicklung der Möglichkeiten und wie die künftigen Leistungen dieses Landes beschaffen sein sollen.

Die Lage läßt sich wie folgt zusammenfassen : eine ver- hältnismäßig kleine Zahl von Männern hat die Herrschaft über die Rohstoffe Amerikas ; eine verhältnismäßig kleine

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Zahl von Männern hat die Herrschaft über die Wasser- kräfte, die einer ökonomischen Erzeugung von Kraft zum Antrieb unserer Maschinen nutzbar gemacht werden könnten ; und dieselbe Zahl von Männern beherrscht zum größten Teil die Eisenbahnen ; durch Vereinbarungen, die sie untereinander schließen, beherrschen sie die Preis- gestaltung und zugleich das Kreditwesen des Landes. Wenn die Schritte getan werden, die notwendig sind, um dieses weitgreifende Monopolsystem zu überwinden und aufzulösen, dann wird der Handel gerettet und nicht ge- schädigt ; und wenn diese einzelnen Interessen voneinan- der getrennt und dieses Netzwerk von Verbindungen auf- gelöst werden soll, dann haben wir eine größere Interessen- gemeinschaft im Auge, jene Interessengemeinschaft, die die Tugenden aller Menschen verbündet, und jene Men- schengemeinschaft, die groß und weitherzig genug ist, um in den Bereich ihres Verstehens alle Arten von Menschen und alle menschlichen Umstände aufzunehmen ; dann den- ken wir daran, daß keine Gesellschaft vom Gipfel aus und daß jede Gesellschaft sich vom Boden aus erneuert. Be- grenze die Möglichkeiten, beschränke das Gebiet der schöpferischen Leistung, und du hast dem Fortschritt das Herz ausgerissen und die Wurzel zerstört.

Es gibt nur ein Mittel, um ein freies Land zu schaffen, und es heißt : sorge dafür, daß unter jeder Jacke ein freies und hoffnungsvolles Herz schlage. Die ehrliche amerika- nische Industrie ist immer, wenn sie überhaupt gedieh, auf dem Boden der Freiheit gediehen und nie auf dem des Mo- nopols. Es ist besser, für sich selbst zu arbeiten, als eine große Kapitalsvereinigung für einen sorgen zu lassen. Ich möchte lieber als freier Mann verhungern, als nach Laune wie irgendein Ding von jenen ernährt zu werden, die die amerikanische Industrie so organisierten, wie es ihnen beliebte. Ich weiß es und jeder Mann fühlt das in

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seinem Herzen : der einzige Weg zur Bereicherung Ame- rikas liegt in der freien Möglichkeit, daß ein jeder, der Ver- stand und Tüchtigkeit besitzt, vorwärtskommen kann. Ich bin auf kein Unternehmen eifersüchtig, das zu seinem Umfang emporgewachsen ist. Ich bin auf kein Wachs- tum eifersüchtig, wie riesenhaft das Ergebnis auch sein möge, wenn dieses Resultat wirklich durch jene gesunden Entwicklungsprozesse erstand, dessen Grundpfeiler Lei- stungsfähigkeit, Sparsamkeit, Intelligenz und Erfindungs- geist bilden.

II i6i

iiiiiiiiiiniiiiiii

Neuntes Kapitel

Gnade oder Recht

Die Lehre, das Monopol der Trusts sei nicht zu vermei- den, und daß die einzige Möglichkeit für das Volk der Vereinigten Staaten die sei, es zu regeln, um sich ihm zu unterwerfen, fand während des Wahlkrieges von 1912 einen Verfechter in einer neuen Partei, die als Abzweigung der republikanischen Partei unter der Führung von Herrn Roosevelt entstanden v/ar. Als hervorragender Helfer ich sage dies ohne jegliche Ironie, nur um die Tatsachen genau zu konstatieren stand ihm Herr George W. Per- kins zur Seite, der Organisator des Stahltrusts und des Mäh- maschinentrusts, und außer ihm noch mehr als drei Mil- lionen Bürger, darunter viele patriotisch gesinnte, gewis- senhafte und geistig hochstehende Männer und Frauen. Die Annahme des Monopolprinzips war ein charakteri- stisches Merkmal des neuen Parteiprogramms, aber die Aufmerksamkeit der Klugen und Gerechten wurde durch den Reiz eines verlockenden sozialen Programms, das von der Verbesserung des Loses derjenigen, die Unrecht und Entbehrung zu leiden haben, handelte, davon abge- lenkt. Dieses und die weitere Tatsache, daß trotz alledem das Programm von der Majorität der Nation verworfen wurde, machen es höchst notwendig, über die Bedeutung eines Bekenntnisses, wie es zum ersten Male in der Ge- schichte unseres Landes von einer Partei gemacht wurde, nachzudenken. Es dürfte dazu beitragen, die Geister von manchem nicht geringem Irrtum zu befreien, jetzt, nach-

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dem der Kampf um die Präsidentenwahl vorüber ist, ge- nau zu untersuchen, was es denn ist, was Herr Roose- velt vorgeschlagen hat.

Herr Roosevelt gab in seinem Programm einige glän- zende Anregungen, wie durch großartige Unternehmungen die menschliche Rasse gehoben werden könnte. Aber bei einer prunkenden Wahlrede interessiert mich mehr die in- nere Kraft als die Rhetorik. Ich bin für das Praktische, und ich will wissen, wer diese schönen Dinge vollbringen soll und wie sie vollbracht werden sollen. Wenn man den Trustpas- sus in jenem Programm so oft gelesen hat wie ich, hat man den Eindruck, daß er sehr lang, aber sehr tolerant ist. Nir- gends wird das Monopol verdammt, höchstens in Wor- ten. Es läuft darauf hinaus, daß die Trusts schlecht waren und besser gemacht werden müßten. Bekanntlich unter- schied Herr Roosevelt zwischen guten und schlechten Trusts und meinte, nur die schlechten seien zu fürchten. Nun wünscht er nicht etwa, daß die schlechten überhaupt abgeschafft würden, sondern schlägt vor, die schlechten durch bestimmte Vorschriften, die direkt durch eine Kom- mission mit ausübender Gewalt anzuwenden wären, zu guten zu machen. Alles, worüber er sich beklagt, ist der Mangel an Offenheit und Ehrlichkeit, und nicht die Aus- übung von Zwang ; denn in dem ganzen Passus wird die Macht der großen Verbände als unvermeidliche Folge der modernen Industrieentwicklung angesehen. Alles was zur Besserung vorgeschlagen wird, ist, sie unter Aufsicht und Regulierung zu stellen. Da die nationale Verwaltung seit i6 Jahren an der Regulierung der Trusts gearbeitet hat, würde das Ganze eine reine Familienangelegenheit sein, in der nur die Rollen vertauscht würden und die Regu- lierung anderen Familienmitgliedern überwiesen wäre. Augenscheinlich würden dann die Trusts, die unter solchen Umständen ganz bequem fortfahren könnten, unter dem

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milden Einfluß der Föderalregierung unsere Angelegen- heiten zu verwalten, das Werkzeug sein, durch das das ganze übrige humane und beglückende Programm dieser interessanten Parteipolitik ausgeführt würde.

Ich habe diese politischen Grundsätze wieder und wie- der gelesen, um ganz sicher zu sein, daß ich sie richtig ver- stünde. Alles, worüber sie sich gerechterweise beklagen, ist, daß diese Herren ihre Macht auf geheimen Wegen aus- üben. Deshalb gebrauchen wir Offenheit. Zuweilen han- deln sie willkürlich, daher bedürfen sie der Überwachung. Oftmals kümmern sie sich nicht um die Interessen der All- gemeinheit, deshalb müssen sie durch eine Industrie-Kom- mission an diese Interessen erinnert werden. Aber immer sind es die Trusts und nicht wir selbst, die für unser Wohl sorgen sollen. Aber ich erhebe Einspruch dagegen, in die Hand der Trustvorstände gegeben zu sein. Herrn Roosevelts Regierungsauf fassung ist Herrn Tafts Auffassung, nämlich, daß die Präsidentschaft der Vereinigten Staaten die Prä- sidentschaft eines Direktorenkollegiums sei. Die vorge- schlagene Regelung ist sehr schön, sehr verführerisch, in jenem Programm gab es Grundsätze, die alle Sympathien des Herzens aufrühren. Sie schlagen Dinge vor, wie wir alle sie tun möchten, aber die Frage ist: Wer wird sie tun ? Durch wessen Vermittelung ? Ist Amerika geneigt, die Trusts zu fragen, ob sie aus Gnade gewähren wollen, was wir haben müssen ?

Die dritte Partei sagt, das gegenwärtige System von Handel und Industrie müsse bestehen bleiben. Sie be- hauptet, daß diese künstlich aufgebauten Verhältnisse, die sich ohne Monopol nicht am Markt halten können, so blei- ben müssen. Und das einzige, was die Regierung tun könne, und was die dritte Partei zu tun vorschlägt sei die Einsetz- ung einer Kommission zur Regulierung des Monopols. Gut. Die Partei sagt : Wir wollen es nicht unternehmen denn

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es wäre nutzlos dieMonopoleaufzuheben, aber wirwollen eine Anordnungtreff en, wodurch die Monopole auch günstig gestimmt werden. Wir leisten Gewähr, daß sie gnädig sein werden. Wir garantieren, daß sie die richtigen Arbeitslöhne zahlen. Wir garantieren, daß sie alles in gütiger und ge- meinnütziger Absicht tun, wozu sie nie zuvor auch nur die geringste Neigung verrieten.

Allein der Weg zu sozialer Reform ist nicht durch die Kräfte gewinnen, durch die die soziale Reform erst not- wendig geworden ist. Der grundlegende Teil dieses Pro- gramms besteht darin, daß die Trusts als beständiger Faktor unseres wirtschaftlichen Lebens anerkannt werden und daß die Regierung versuchen soll, aus den Trusts dienliche Werkzeuge zu machen, durch welche unser Leben nach industrieller Seite hin gerecht und gut entwickelt werde. Denn alles, was unser Leben früher oder später berührt, geht auf die Industrie, die Erhalterin unseres Lebens, zu- rück. Ich habe oft darüber nachgedacht, daß die Bitten des Vaterunsers doch durchaus menschlich angeordnet sind. Denn wir bitten vor allem: ,, Unser täglich Brot gib uns heute", da wir wissen, daß es keinen Sinn hat, um geistige Gaben mit einem leeren Magen zu bitten. Der Arbeitslohn, den wir bekommen, die Art der Kleider, die wir tragen, die Beschaffenheit der Nahrung, die wir zu kaufen imstande sind, sind von grundlegender Bedeutung für alles übrige. Diejenigen, die unser physisches Leben beherrschen, be- herrschen daher auch unser geistiges. Und wenn wir die schönen Absichten der großen Hymne, die die Anhänger der dritten Partei mit fast religiöser Glut anstimmten, ausführen wollen, dann muß es uns vorerst gelingen, her- auszufinden, durch wen diese Ideale von Humanität ver- wirklicht werden sollen.

Ich will nicht unter der Herrschaft von Philanthropen leben. Ich habe es nicht nötig, daß sich die Regierung oder

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die von ihr beeinflußten Leute um mich kümmern. Ich für meinen Teil wünsche nur, daß Recht und Gerechtigkeit regieren. Man gebe uns unser Recht und übe Gerechtig- keit, und ich will schon für mich selber sorgen. Wenn man die Trusts zu dienlichen Werkzeugen für die Entwicklung des Landes erheben und sie unter die Oberaufsicht der Re- gierung stellen will, so will ich den alten spanischen Spruch beten: ,,Gott schütze mich vor meinen Freunden, vor meinen Feinden will ich mich schon selber schützen." Denn ich muß vor diesen Freunden geschützt werden. Wohl gemerkt, ich sage ,, diese Freunde", denn ich gebe zu, daß viele, die an einer gedeihlichen Entwicklung unse- rer Industrie durch Monopole glauben. Freunde des Volkes sein wollen. Obgleich sie vorgeben, meine Freunde zu sein, schlagen sie einen falschen Weg ein, der es ihnen unmög- lich macht, mir den Dienst zu leisten, auf den es ankommt, nämlich : daß ich frei sei und dieselben Chancen habe, die jeder hat. Denn ich sehe es als Grundbedingung der ameri- kanischen Freiheit an, daß wir keine Sondervorrechte ver- langen, weil wir wissen, daß die Sondervorrechte dem Wohle der Allgemeinheit schaden. Das ist der fundamen- tale Unterschied in der Sinnesrichtung der Anhänger bei- der Parteien, der jetzigen und der früheren Regierungs- partei. Die letztere ist von der Idee, die Interessen des Großhandels könnten die Vereinigten Staaten stützen und vorwärtsbringen, so durchdrungen, daß sie nicht imstande ist, sich davon frei zu machen. Sie hat die Regierung in die Hand der Trustvorstände gegeben, und Herr Taft und Herr Roosevelt waren die rivalisierenden Kandidaten, die über die Trustvorstände präsidieren sollten. Sie waren zweifellos Kandidaten, die dem Volke nach besten Kräf- ten nützen wollten, aber sie hatten nicht die Absicht, dies unmittelbar zu tun, sondern indirekt durch jene unge- heure Macht, die sich schon an die Spitze gestellt hat und

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so groß ist, daß es fast fraglich wird, ob die Regierung der Vereinigten Staaten mit dem ganzen Volk hinter sich stark genug ist, um sie zu überwinden und zu beherrschen. Sollen wir versuchen, die harte Faust des Monopols ab- zuschütteln oder nicht? Sollen wir unsere Hand zurück- ziehen und uns trösten : Monopole sind nicht zu umgehen, alles was wir tun können, besteht in ihrer Regulierung ? Sollen wir zugeben, daß das Werk unserer eigenen Hände stärker ist als wir selbst ? Die ganze Zeit, in der die ver- bündeten Mächte der Hochfinanz stärker als die Regie- rungsmacht waren, haben wir in Furcht gelebt. Sind wir dahin gekommen, daß der Präsident der Vereinigten Staa- ten seinen Hut vor der Hochfinanz ziehen und erklären muß : Ihr seid unsere unerläßlichen Herren, aber wir wol- len sehen, wie wir uns am besten damit abfinden ?

Wir stehen am Scheidewege. Wir haben nicht etwa ein oder zwei oder drei, sondern viele gefährliche Monopole in den Vereinigten Staaten errichtet. Wir haben nicht ein oder zwei, sondern viele Arbeitsfelder, auf denen eine Be- tätigung für den unabhängigen Mann schwer, ja fast un- möglich ist. Wir haben Beschränkung des Kredits, be- schränkte Erwerbsmöglichkeit, behinderte Entfaltung und wir sind zu einer der schlechtest geleiteten und äußerem Zwang unterworfenen Regierung der ganzen zivilisierten Welt gelangt, unter der nicht mehr die freie Meinung und Überzeugung der Majorität entscheiden, sondern die Mei- nung und der Wille einzelner herrschender Männer.

Wenn die Regierung den Großindustriellen vorschreibt, wie sie ihr Geschäft führen sollen, dann müssen die Groß- industriellen sich selbstverständlich noch enger als jetzt an die Regierung anschließen. Ist es nicht klar, daß sie die Regierung gewinnen müssen, um durch sie nicht allzu sehr eingegrenzt zu werden ? Aber welche Frage 1 Sie ha- ben sie ja bereits gewonnen! Lädt man sich die Leute ins

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Haus, die schon darinnen sind? Sie brauchen nicht hin- zukommen, denn sie sind schon da. Wollt ihr euern eige- nen Grund und Boden erst erwerben oder nicht? Vor die- ser Wahl steht ihr. Wollt ihr sagen : Ihr kamt zwar nicht auf dem rechten Wege ins Haus, aber ihr seid nun einmal drin, Gott befohlen ! Wir werden hier draußen in der Kälte stehen und ihr könnt uns ab und zu etwas herauslangen ?

Nach dem Plan, dessen Gegner ich bin, soll eine Part- nerschaft zwischen Regierung und Trusts bestehen. Ver- mutlich sollte die Firma nach außen hin von dem älteren Teilhaber geleitet werden. Ich vermute wenigstens, daß die Regierung der Vereinigten Staaten der ältere Teilhaber ist, obgleich der jüngere Teilhaber die ganze Zeit hindurch das Geschäft gemacht hat. Aber wenn aller Antrieb, Ener- gie und ein gut Teil Genie in dem jüngeren Teilhaber liegt, wie es so oft bei Kompagniegeschäften der Fall ist, so glaube ich nicht, daß die Aufsicht des älteren Teilhabers besonders hoch einzuschätzen ist. Und ich glaube nicht, daß durch Aufsicht oder Ratschläge der Förderalregie- rung den Trusts Wohlwollen gepredigt werden kann. Denn nach meiner Erfahrung haben die Trusts niemals Ratschläge von der Regierung angenommen. Im Gegenteil, die Ratschläge der Trusts sind von der Regierung befolgt worden. Für das Volk der Vereinigten Staaten gibt es keine Hoffnung, solange nicht diese Teilhaberschaft gelöst ist. Und die Aufgabe der Partei, die jetzt die Macht in den Händen hat, ist es, diese Auflösung herbeizuführen.

Die Anhänger der dritten Partei unterstützen, glaube ich, ein für die Monopole durchaus annehmbares Pro- gramm. Wie jene, die ihr Lebenlang gegen die Monopole gekämpft haben, die Fortsetzung des Kampfes gerade un- ter dem Banner der Leute, die sie bekämpft haben, recht- fertigen, kann ich mir nicht vorstellen. Ich verwerfe das Programm von Grund auf, denn es ist in keiner Weise fort-

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schrittlich. Warum vertrat Herr Gary gerade diese Me- thode, als er an der Spitze des Stahltrusts stand ? Warum wird gerade diese Methode überall dort gerühmt, wo man an der Aufrechterhaltung des gegenwärtigen wirtschaft- lichen Systems der Vereinigten Staaten interessiert ist? Warum betreiben die Leute, die nicht gestört werden wol- len, die Annahme dieses Programms ? Der Rest des Pro- gramms ist sehr schön, er wird von einem warmen Mit- gefühl für das menschliche Geschlecht getragen. Aber ich wünsche nicht die Sympathie der Trusts für das mensch- liche Geschlecht. Ich lehne diese herablassende Hilfe ab. Und ich mache jeden fortschrittlichen Republikaner, der dieses Programm unterstützt, darauf aufmerksam, daß er gerade mit der Überzeugung, der er dienen will, falsches Spiel treibt. Diese Überzeugung hieß Kampf gegen das Monopol, gegen die Bevormundung, gegen die Konzen- tration der Macht in unserer Industrieentwicklung, gegen alle jene Dinge, die dem freien Unternehmen im Wege sind. Ich bin der Meinung, daß der Alp, der so drückend auf unserem Lande liegt, die gegenwärtige Monopolisierung unseres Industrielebens ist. Das ist der Grund, der gewisse Mitglieder der republikanischen Partei zu ,, Auf rührern" werden ließ : sie wollten dieses Joch abschütteln. Und doch ließen sich einige von ihnen so mißleiten, daß sie in das Lager der dritten Partei übergingen um das zu beseitigen, was die dritte Partei zum Gesetz erheben möchte. Dieses Vorgehen aber entspricht den Ansichten gerade jener Leute, die bevormundet werden sollten, und das ist gerade der falscheste Gesichtspunkt, von dem aus ein Vorgehen be- trachtet werden kann.

Ich sagte vor kurzem, daß Herr Roosevelt einen Plan zur Überwachung der Monopole verteidigte, der von dem Stahlverband der Vereinigten Staaten unterstützt wurde. Herr Roosevelt bestritt, von mehr als einem Mitglied des

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Stahlverbandes unterstützt worden zu sein. Er meinte: durch Geld. Ich meinte : durch Ideen. Ich habe nicht ge- sagt, er hätte von diesen Herren Geld bekommen, es war mir ganz gleichgültig, woher er sein Geld bekam : aber es war mir äußerst wichtig, woher er seine Ideen bekam. Er hatte seine Ideen über die Monopolüberwachung von den Herren, die den amerikanischen Stahlverband bilden. Ich gebe durchaus zu, daß die Herren, die an der Spitze des Stahlverbandes stehen, vollkommen berechtigt sind, ihre eigenen Gedanken darüber zu haben und sie auf das Volk der Vereinigten Staaten anzuwenden, aber ich möchte feststellen, daß ihre Ideen nicht die meinen sind, und ich bin ganz fest überzeugt, daß sie keinen einzigen Gedanken fördern würden, der ihrem Monopol bedrohlich würde. Da ich aber hoffe und beabsichtige, den Monopolen so viel als möglich in den Weg zu legen, kann ich keine Abmachun- gen billigen, die ihnen die Gewißheit freier Bahn gewährt.

Roosevelts Plan ist es, eine Industriekommission ein- zusetzen und sie mit der Aufsicht über die großen mono- polistischen Verbände, die sich unter dem Schutze des Ta- rifs gebildet haben, zu beauftragen ; und die Regierung der Vereinigten Staaten soll darüber wachen, daß diese Herren, die die Arbeit unterjocht haben, den Arbeitern wohlge- sinnt bleiben. Der Vorschlag scheint mir also dahin zu gehen, daß es zwei Herren geben soll : der große Verband und darüber die Regierung der Vereinigten Staaten. Und ich frage, wer soll die Regierung überwachen? Jetzt tun die es, die vereint die Monopole beherrschen. Und wenn die Regierung unter der Aufsicht der Monopole nun wieder die Monopole beaufsichtigt, dann ist ja die Teilhaberschaft endgültig.

Wie wohlwollend auch der Herr sein mag, ich will un- ter keinem Herrn leben. Dafür ward Amerika nicht geschaf- fen. In Amerika soll einer wie der andere die gleiche Mög-

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lichkeit haben, selbständig über seinen Besitz zu verfügen. Was ich vollbracht sehen will ist gleichbedeutend mit dem, was die Behörden von Glasgow mit den Mietshäusern taten. Ich will, daß die Wege dieser großen Verbände erleuchtet und überwacht werden, damit niemand, der sie überschrei- ten will, überfallen und mißhandelt werden kann. Wenn ihr nichts weiter tut, als daß ihr die Widersacher zurück- haltet und dafür sorgt, daß die Schwachen beschützt wer- den, dann will ich wetten, daß sich in den Vereinigten Staaten eine Reihe von Männern erheben wird, die trotz ihrer vorläufigen wirtschaftlichen Schwäche genug Ver- stand besitzen, um mit jenen Herren zu wetteifern. Sie werden diese Herren zur Anstrengung all ihrer Kräfte veranlassen, und in dem Augenblick, in dem sie an den Arbeitsmarkt gelangen, wird er sich erweitern.

Es ist zu beweisen, daß die Arbeit in Amerika gerade dort, wo sie hoch bezahlt wird, sich billiger stellt als die niedrig bezahlte Arbeit auf dem europäischen Kontinent. Wißt ihr, daß 90 % aller angestellten Arbeiter unseres Lan- des nicht in den durch Zölle geschützten Industrien be- schäftigt sind, und daß ihre Löhne fast ohne Ausnahme höher sind als die der Arbeiter in den geschützten Indu- strien? Nur wo in Amerika die Arbeit frei ist, wird sie hoch bezahlt.

Es ist bezeichnend, daß der Vorkämpfer des Planes der Anerkennung der Monopole sein Festhalten an dem Prinzip des ,, Schutzzolls" ausdrücklich erklärt. Nur die Zölle, die sogar zu hoch sind, um den Interessen jener, die durch sie geschützt sind, dienlich zu sein, müssen seiner Ansicht nach erniedrigt werden. Er erklärt, daß er durch die Tat- sache, daß ein sehr großer Teil des Geldes der Tasche des einfachen Steuerzahlers entnommen wird und in die Tasche der ,, geschützten" Fabrikanten wandert, nicht be- unruhigt ist, aber daß es ihn beunruhige, daß so wenig von

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diesem Geld in die Tasche des Arbeiters und ein unverhält- nismäßig großer Teil in die Tasche der Arbeitgeber falle. Ich habe sein Programm sehr sorgfältig daraufhin un- tersucht, ob ich eine Anweisung darüber fände, wie ein größerer Teil dieser „Prämien" dem Arbeiter zugute kom- men könne, aber ich habe keine gefunden. Herr Roosevelt macht in einer seiner Reden den Vorschlag, daß Fabrikan- ten, die ihre Einkünfte nicht freigebig genug mit ihren Ar- beitern teilten, durch eine starke Beschränkung des ihnen gewährten Schutzzolles bestraft werden sollten, aber das Programm schlug in dieser Hinsicht, soviel ich sehen konnte, nichts vor. Überdies würden, bei dem vorgeschla- genen System, die meisten Arbeitgeber, und in der Tat ge- rade die wichtigsten von ihnen, ganz und gar Schützlinge und Mündel der Regierung sein, die unser aller Herr ist, denn kein Satz dieses Programms kann richtig erörtert werden, ohne daß maji daran erinnert, daß das Monopol nach der Darstellung jenes Programmes nicht abgeschafft sondern beibehalten werden soll. Es soll beibehalten und re- guliert werden. Jeder Widerstandsversuch muß aufgegeben werden. Es soll als unentbehrlich angenommen werden. Die Regierung soll eine Kommission einsetzen, deren Pflicht es sein wird, nicht etwa das Monopol einzuschrän- ken, sondern es nur unter Gesetze zu stellen, die das Mono- pol selbst entwerfen und entwickeln soll. So daß die Haupt- arbeitgeber eine ungeheure Macht hinter sich haben wür- den : was sie auch täten, geschähe mit Genehmigung der Bundesregierung.

Es ist für die Arbeiter unseres Landes der Mühe wert, sich ins Gedächtnis zurückzurufen, welcher Art die Hal- tung der verbündeten Industrien der organisierten Ar- beit gegenüber gewesen ist. Sie waren die größten und erfolgreichsten Gegner der organisierten Arbeit und sie haben vielfach versucht, deren Bemühungen zu unter-

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graben. Sie taten es zum Teil mit der Miene der Menschen- freundlichkeit und des Wohlwollen und zweifellos war es ihnen mit ihren guten Absichten auch ernst. Hier und da wurden Systeme aufgestellt, die eine Teilung des Gewinnes, Entschädigung für Verletzungen, Gratifikationen und so- gar Altersrenten vorsahen, aber jeder einzelne dieser Pläne diente nur dazu, die Arbeiter noch fester an die Trusts zu binden. Die Rechte unter diesen verschiedenen Einrich- tungen sind keine gesetzlichen Rechte. Es sind nur Privi- legien, die die Angestellten genießen, solange sie in ihrer Stellung bleiben und die Gesetze der großen Industrien erfüllen, für die sie arbeiten. Wenn sie sich weigern, ihre Unabhängigkeit aufzugeben, können sie die ihnen gebo- tenen Vorteile nicht mehr genießen.

Wenn man die Sache gründlich durchdacht hat, kommt man zu dem Schluß, daß das Programm der neuen Partei die Monopole legalisiert, ihnen die Arbeiter systematisch unterordnet und sie unter Gesetze stellt, die die Regierung mit Rücksicht auf die Industriellen und die Löhne gemacht hat. Als Ganzes betrachtet, sieht die Sache merkwürdig nach wirtschaftlicher Gewalt über Leben und Besitz je- ner aus, die die tägliche Arbeit der Nation leisten, und alles das unter der überwiegenden Macht und Oberhoheit der nationalen Regierung. Diese Teilhaberschaft zwischen dem Großhandel und der Regierung aufzuheben, das ist es, wofür die meisten von uns kämpfen. Alle klugen Männer werden bezeugen, daß, wenn jenes Programm der dritten Partei ausgeführt würde, die großen Arbeitsherren und Kapitalisten des Landes mehr als je vor der unwider- stehlichen Versuchung ständen, ihre Herrschaft über die Regierung auszuüben und sie ihren Zwecken dienstbar zu machen.

Wenn ich die schönen Erlasse des Programms der drit- ten Partei, die der Erholung der Menschheit gewidmet

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sind, lese und sehe, wie verständige Männer und Frauen sich der Partei anschließen, weil sie hoffen, daß durch die Regelung der Monopolwirtschaft sich alle ihre Träume von Humanität verwirklichen werden, so muß ich mich verwundert fragen, ob sie wirklich nachgedacht haben, durch welche Mittel und Werkzeuge diese schönen Dinge er- reicht werden sollen. Der Mann, der der Führer der dritten Partei war, hat seine Ansichten, seitdem er Präsident der Vereinigten Staaten war, nicht geändert. Ich verlange nicht, daß er sie ändert. Ich sage nicht, daß es nicht sein gutes Recht ist, sie beizubehalten. Aber ich sage, daß es nicht verwunderlich ist, daß ein Mann, der als Präsident solchen Ansichten über die Regierung seines Landes hul- digte, nicht wieder gewählt und ihm nicht die Möglich- keit gegeben wurde, die jetzigen Industrieverhältnisse zu schützen.

Es gibt eine Geschichte des menschlichen Geschlechts und eine Geschichte der Regierungen, beide sind über- liefert ; und die verschiedensten Dinge sind vorgeschlagen und wieder und wieder versucht worden und haben stets zu demselben Erfolg geführt. Die Weltgeschichte ist auf ihrem ganzen Wege mit Trümmern gescheiterter Regie- rungen besät, die es versuchten, menschlich zu sein und menschenfreundliche Programme durch die Vermittlung jener zu verwirklichen, die die Herrschaft über die mate- riellen Güter ihrer Mitmenschen ausüben. Die Monopole konnten sich noch niemals mit Prinzipien der Toleranz einverstanden erklären. Sie kennen nur den Zweck ihrer Sondervorteile. Habt ihr jemals Trusts gesehen, die sich darum kümmerten, ob die Gesundheit der Frauen unter- graben wurde oder nicht ? Kennt ihr Trusts, die Bedenken trügen, minderjährige Kinder zu beschäftigen? Gibt es Trusts, die es sich angelegen sein ließen, die Lungen und die Gesundheit und die Freiheit ihrer Angestellten zu

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schützen? Gibt es Trusts, die ebensoviel an ihre Leute denken wie an ihre Maschinen? Wer will die Trusts in Werkzeuge der Gerechtigkeit umwandeln ?

Die Sorge um die Arbeiter, die Frauen und die Kinder Amerikas möchte ich nicht den Vertretern der Sonder- interessen ausgeliefert sehen. Ich möchte Recht und Ge- rechtigkeit, Ehrlichkeit und Menschlichkeit sich in allen Gesetzen der Vereinigten Staaten entfalten sehen, und keine Macht soll zwischen das Volk und seine Regierung treten. Gerechtigkeit ist es, was wir brauchen, keine Be- günstigung, keine Herablassung und keine Hilfe aus Mit- leid.

Ich gebe zu, daß dies, was wir als Nation jetzt unter- nehmen wollen, zu den schwierigsten Regierungsauf- gaben zählt, die es gibt. Wir sind bisher ohne allzu großen Beistand von selten unserer Regierung ausgekommen. Wir haben in den vergangenen Monaten mehr und mehr gefühlt, daß das amerikanische Volk im Vergleich mit den anderen Völkern im Nachteil ist, wenn wir abwägen, was andere Regierungen für ihr Volk tun und was die unsrige verabsäumt. Jedem, der Blick für die nächste Zu- kunft hat und aus bestimmten Anzeichen der Gegenwart sich ein Bild der kommenden Dinge macht, ist es klar, daß wir an der Schwelle einer Zeit stehen, in der das wirt- schaftliche Leben unseres Landes in jeder Weise durch die Tatkraft der Regierung unterstützt und ergänzt werden muß. An uns ist es jetzt, zu bestimmen, welcher Art die Tätigkeit der Regierung sein soll, ob sie von der Regierung direkt ausgehen soll oder ob sie indirekt von Mächten ausgehen soll, die schon bereit stehen, diese Regierung zu unterjochen.

Wir haben ein großes Programm, das vom Beistand der Regierung und von der Mitarbeit der ganzen Nation handelt, aber wir können nichts damit anfangen, ehe wir

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nicht die Regierung frei gemacht haben. Das ist der sprin- gende Punkt. Wohltätigkeit hat noch nie einen Menschen oder eine Nation zur Entfaltung gebracht. Wir wollen keine herablassende Regierung. Wir wollen eine freie und eine gerechte Regierung. Jeder einzelne der großen Pläne von sozialer Erhebung, die von hochgesinnten Leuten unter uns jetzt so viel besprochen werden, gründet sich, wenn er recht verstanden wird, auf Gerechtigkeit, nicht auf Wohl- wollen oder Gnade. Er gründet sich auf das Recht der Men- schen, reine Luft zu atmen, auf das Recht zu leben, auf das Recht der Frauen, Kinder zu gebären und nicht so überbürdet zu sein, daß Krankheit und Zusammenbruch die Folge sind ; auf das Recht der Kinder, zu gedeihen und groß und stark zu werden ; auf alle Fundamente des Le- bens, die uns wirklich am Herzen liegen und die unser Ver- stand als Grundpfeiler der Gerechtigkeit ansieht.

Die Politik unterscheidet sich von der Menschenliebe darin, daß man in der Menschenliebe die Dinge oft aus reinem Mitgefühl tut, während wir in der Politik, wenn wir gerechtdenkende Menschen sind, immer aus Gerech- tigkeit und auf der Basis langer Erfahrungen handeln. Wir persönlich müssen manchmal] aus ' Mitgefühl für unsere Nebenmenschen Dinge tun, die mehr als gerecht sind. Wir müssen Menschen vergeben, wir müssen Menschen helfen, die unrecht getan haben. Wir müssen manchmal solchen helfen, die Verbrechen begangen haben. Aber das Gesetz vergibt nicht. Es ist seine Pflicht, die Zustände auszugleichen, den Weg des Rechtes zum Weg der Sicher- heit und der Zweckmäßigkeit zu machen, dafür zu sorgen, daß jeder die Möglichkeit zu leben findet, und darüber zu wachen, daß niemandem Unrecht und Ungerechtig- keit geschehe.

Wir dürfen in diesen großen Fragen der Leidenschaft in unseren Herzen und Gedanken keinen Raum gewähren,

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wir dürfen uns nicht durch Groll oder Unwillen beherr- schen lassen, wir müssen der Gefahr unserer Lage ins Auge sehen. Diese Gefahr besteht, sonderbar genug, nicht etwa in der Böswilligkeit der Leute, die unser industrielles Leben beherrschen, sondern in ihrer geistigen Bedeutung und ihrem ehrenhaften Denken. Diese Männer glauben, daß das Gedeihen der Vereinigten Staaten nur gesichert ist, wenn sie es in Händen halten. Wenn sie unredlich wären, könn- ten wir sie durch das Gesetz ausschließen, da aber die mei- sten von ihnen redlich sind, können wir sie nur dadurch unschädlich machen, daß wir einer Verwirklichung ihrer Überzeugungen entgegenarbeiten. Ich fürchte mich vor keinem Verbrecher. Ich fürchte mich vor keinem Schur- ken. Ich fürchte mich aber vor einem starken Mann, der unrecht hat und dessen falsche Gedanken durch seine eigene Charakterstärke und seine Macht der Rede anderen aufgezwungen werden können. Wenn Gott es nur so ein- gerichtet hätte, daß alle Menschen, die im Unrecht sind, Schurken wären, so könnten wir sehr leicht mit ihnen fertig werden, weil sie sich früher oder später doch ver- raten würden ; aber Gott hat unsere Aufgabe schwieriger gestaltet er hat gute Menschen geschaffen, die Falsches denken. Wir bekämpfen sie nicht, weil sie schlecht, son- dern weil sie im Unrecht sind. Wir müssen sie durch eine höhere Kraft überwinden, durch die geistige, herrliche und dauernde Kraft einer besseren Einsicht.

Der Grund, daß Amerika begründet wurde, war die Absicht, daß es sich von allen anderen Nationen dadurch unterscheiden sollte, daß der Starke den Schwachen nicht an die Wand drücken, daß er ihn nicht verhindern soll, am Wettkampf teilzunehmen. Amerika will freie Möglich- keiten, Amerika will freie Bahn für alle und duldet keine Begünstigungen, Amerika will eine Regierung, die für die Interessen aller verantwortlich ist. Und ehe Amerika alle

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diese Ideale nicht in die Praxis umsetzt, hat es kein Recht, sein Haupt inmitten der Völker so hoch zu tragen, wie es das tun gewohnt war.

Es ist einem zumute, als käme man aus einem dump- fen Keller ins Freie, man kann wieder atmen und den offnen Himmel sehen, wenn man sich von einem solch kläglichen Programm der Unterwerfung und Abhängig- keit dem vertrauensvollen Beschluß zuwendet, dem das. Volk seine Vollmacht gegeben hat. Unser Ziel ist die Wiederherstellung der Freiheit. Wir wollen darauf hin- arbeiten, private Monopole gesetzlich zu verhindern und das System, durch die die Monopole geschaffen wurden, gesetzlich unmöglich machen. Wir wollen, daß die Nieder- drückung des Unternehmungsgeistes des Einzelnen auf- höre, auf daß die heranwachsende Generation es nicht nötig habe, Schützling herablassender Trusts zu sein, sondern sich ihr Leben frei nach eigenem Willen gestalten kann. Dann werden wir wieder aus dem vollen Becher der Frei- heit und nicht aus dem der Barmherzigkeit trinken den einzigen Wein, der je den Geist eines Volkes erfrischt und erneuert hat.

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Zehntes Kapitel Die Entthronung des Boß

Eine der wunderlichsten Erscheinungen Amerikas ist für mein Empfinden die Tatsache, daß sich das Land seit mehr als einer Generation von Leuten regieren ließ, die man damit nicht beauftragt hatte. Und sonderbar bleibt die schier endlose Geduld, mit der das amerikanische Volk still zusieht, wie Dinge geschehen, gegen die es gestimmt hat und die es nicht vollbracht sehen wollte. Nie hat Auf- lehnung die Anordnungen der Regierung gestört.

Es gibt in den Vereinigten Staaten kaum einen Landes- teil, der nicht wüßte, daß Sonderinteressen und Sonderab- sichten die Regierung führen. Das geschah durch das Walten jener interessanten Leute, die wir in der Politik , »Bosses'* nennen. Ein Boß ist weniger Politiker als ein politischer Geschäftsagent für Sonderinteressen. Ein Boß gehört zu keiner Partei, er steht hoch über den Parteien. Er hat seine Abmachung mit dem Boß der anderen Partei, so daß, ob nun Kopf oder Schwanz, stets wir es sind, die verlieren müssen. Aus den gleichen Quellen beziehen die beiden Bosses ihre Einnahmen, und sie verwenden die Bei- träge für die gleichen Zwecke. Es sind Leute, die die ein- flußreiche Stelle, auf der sie stehen, durch geheime Machen- schaften erlangten ; Leute, die nie gewählt wurden, die das Volk nicht zum Regieren bestimmte und die weit mäch- tiger sind als sie es wären, wenn man sie gewählt oder be- rufen hätte. Ihre Macht währt so lange, als man sie dort gewähren läßt, wo sie walten: in geheimen Beratungen

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hinter verschlossenen Türen. Sie sind keine Politiker, sie haben keine politischen Überzeugungen, es sei denn die heimliche Politik des eigenen Fortkommens. Ein Boß ist kein Parteiführer. Parteien versammeln sich nicht in Hin- terzimmern und Parteien treffen keine Anordnungen, die nicht in die Zeitungen kommen. Parteien sind, wenn man sie nach der Zahl ihrer Wähler beurteilt, große Menschen- massen, die darum, weil sie nicht vorhandene Wahlzettel nicht abgeben können, jene Wahlzettel abgeben, die bei den erwähnten Abmachungen in den erwähnten Hinter- zimmern für sie bereitgelegt wurden. Der Boß handhabt die Wahlmaschine. Und eine ,, Maschine" ist jener Teil einer politischen Organisation, der den Angehörigen der Partei aus den Händen gewunden wurde und durch ein halbes Dutzend Männer erhalten wird. Es ist der Teil, der aufgehört hat, politisch zu sein und eine Agentur für die Ziele skrupelloser Geschäftsinteressen geworden ist. Aber die Sünden dieser Transaktionen sollten nicht den poli- tischen Organisationen zur Last gelegt werden. Organi- sation ist gesetzlich berechtigt, ist notwendig und sogar vortrefflich, wenn sie der Verwirklichung großer Ziele dient. Nur jener, der die politische Organisation zu privaten Zwecken benutzt, ist ein Boß. Ich ehre den Mann, der die Organisation einer großen Partei stark und leistungsfähig macht, auf daß sie dem öffentlichen Interesse dienstbar werde. Aber jener Mann ist kein Boß. Ein Boß ist, wer diese großen ehrlichen Kräfte zu geheimen Zwecken mißbraucht. Der Umstand, daß es im geheimen wirkt, ist einer der schlimmsten Züge dieses Boßsystems. Lieber wollte ich unter einem König leben, den ich wenigstens kenne, als unter einem Boß, den ich nicht kenne. Ein Boß ist ein viel schlimmerer Herr, denn er ist nicht sichtbar und hat die Hände immer dort im Spiel, wo man es am wenigsten er- wartet. Als ich vor einigen Monaten in Oregon weilte, hatte

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ich eine sehr interessante Unterhaltung mit Herrn U'Ren, dem Urheber des sogenannten Oregonsystems, durch das die Bosses ausgeschaltet worden sind. Er gehört einer Gruppe sozial gesinnter Männer an, die jedesmal, wenn sie ihr Ziel durch das Parlament nicht erlangen können, einen Gesetzentwurf aufsetzen und durch eigene Initiative dem Volke zur Abstimmung unterbreiten. Und sie erreichen auf diesem Wege auch gewöhnlich ihren Zweck. An dem Tage, da ich nach Portland kam, stand zufällig in einer Morgenzeitung in recht ironischen Worten zu lesen, es gäbe in Oregon zwei gesetzgebende Instanzen ; die eine be- finde sich in der Hauptstadt Salem, die andere aber stolziere unter dem Hute des Herrn U'Ren einher. Als ich am Abend eine Rede hielt, konnte ich der Versuchung nicht wider- stehen und sagte, daß es mir wiewohl ich als letzter die Macht in einem einzelnen Individuum oder in einer Gruppe von Individuen konzentriert sehen möchte nach meinen Erfahrungen in New Jersey auf jeden Fall lieber sei, eine gesetzgebende Instanz unter dem Hute eines mir bekann- ten und erreichbaren Mannes zu wissen, als einer Gesetz- gebung zu unterstehen, die unter dem Hute von Gott weiß wem herumliefe. Denn im ersten Falle könne man die re- gierende Instanz wenigstens erreichen und wisse, wo sie zu finden sei.

Warum fahren wir fort, solche Dinge zuzulassen ? Es wird Zeit, daß wir mündig werden und selbst die Führung unserer Angelegenheiten übernehmen. Ich bin es müde, in der Politik als unmündig zu gelten. Ich möchte nur mit jenen zusammenarbeiten, die auch in politischer Bezie- hung über einundzwanzig sind. Ich möchte mich nicht ruhig hinsetzen und andere für mich sorgen lassen, ohne zum mindesten mitreden zu können ; und hört man nicht auf meinen Rat, so will ich ihnen die Arbeit so unerfreulich machen, als ich das vermag. Und das nicht, weil etwa mein

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Rat notgedrungen gut sein muß, sondern weil keine Re- gierung gut ist, in der nicht ein jeder darauf besteht, daß sein Rat gehört werde, ob er nun befolgt werde oder nicht. Manche behaupten, die repräsentative Regierung, die Regierung durch die Vertreter des Volkes, habe sich als eine zu mittelbare und umständliche Einrichtung er- wiesen und als ein Mittel der Überwachung durch das Volk versagt. Andere, die etwas tiefer sehen, behaupten, daß es nicht die Regierung durch die Volksvertretung sei, die ver- sagt habe, sondern nur die Bemühungen, eine solche Re- gierung zu erlangen. Man hat darauf hingewiesen, daß bei unserem jetzigen System der Kandidatenaufstellung und der Wahlen, bei denen uns nur die Wahl zwischen dieser oder jener Reihe von der ,, Maschine" aufgestellter Kan- didaten bleibt, eine repräsentative Regierung, eine Regie- rung durch die Vertreter des Volkes überhaupt nicht zu erlangen sei, sondern nur eine Regierung der politischen Unternehmer, die allein ihren eigenen Zwecken und den Interessen jener dienen, mit denen ihnen ein Bündnis vor- teilhaft erscheint. An diesem Einwand ist augenscheinlich etwas, das die Wurzel der ganzen Angelegenheit berührt. Hinter jeder Reform steht die Methode, mit der man sie verwirklicht. Hinter der Frage : was braucht ihr ? steht die für jede Art des Regierens entscheidende Frage : wie wollt ihr es erlangen ? Wie wollt ihr euch jene Diener der Öffent- lichkeit schaffen, die für euch eine Sache durchsetzen.Wie wollt ihr wirkliche Volksvertreter erlangen, die euren In- teressen dienen und nicht ihren eigenen oder denen einer bestimmten Gruppe eurer Mitbürger, deren Macht die Macht der wenigen und nicht die der vielen ist ? Das sind Fragen, die die Aufmerksamkeit des ganzen Landes auf das Thema der direkten Urwahl lenkten, auf die Frage der unmittelbaren Wahl aller Beamten durch das Volk und auf die Beseitigung des jetzigen Systems der Kandidatenauf -

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Stellung durch die politischen Maschinen. Und damit tau- chen auch die nicht weniger bedeutsamen Fragen der direk- ten Senatorenwahl, der Initiative bei Gesetzesanträgen, der Volksabstimmung und der Beamtenabsetzung auf.

Der entscheidende Augenblick bei der Wahl der Be- amten ist heute viel häufiger der Augenblick ihrer Auf- stellung als Kandidat als die Stunde der Wahl durch das Volk. Wenn zwei Parteiorganisationen, die sich dem Na- men nach feindlich gegenüberstehen, in Wirklichkeit aber in völligem Einverständnis arbeiten, dafür sorgen, daß die Wahllisten beider Parteien Kandidaten gleicher Art auf- stellen, dann wird es belanglos, für welchen dieser Kan- didaten das Volk sich entscheidet ; die politischen Manager haben uns in der Hand, was immer wir auch tun mögen. Es steht uns frei, uns der angenehmen Täuschung hinzu- geben, daß wir unsere eigenen Kandidaten zu Beamten wählen ; in Wirklichkeit aber treffen wir nur eine gleich- gültige und wirkungslose Auswahl zwischen zwei Reihen von Leuten, die durch alle möglichen anderen, aber nicht durch unsere eigenen Interessen als Kandidaten aufge- stellt wurden.

Wenn wir die direkte Urwahl und die Auswahl der Kandidaten beanspruchen, so geschieht das mit der Ab- sicht, die heimlichen und selbstsüchtigen Entscheidungen über die Frage, wer zur Wahl gestellt werden soll, unmög- lich zu machen. Mehr und mehr bricht sich die Überzeu- gung Bahn, die Herrschaft über jene Mächte, die uns bis- her beherrschten, sei nur dadurch zu gewinnen, daß wir selbst unter jenen Männern, die als Kandidaten auftreten sollen, die erste Auswahl treffen. Man hat eingewandt, dies Verfahren könne nicht immer wirksam sein, das Volk sei zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt oder zu träge, um sich um sein Stimmrecht in den Parteiversammlungen zu bekümmern. Gewiß, bisweilen läßt die Bevölkerung eines

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Staates oder einer Gemeinde eine Kandidatenwahl vor- übergehen, ohne gegenüber den Bosses ihr Recht geltend zu machen. Die Wählermasse der Vereinigten Staaten gleicht manchmal dem Götzen Baal : bisweilen ist sie ab- wesend und manchmal schläft sie auch ; aber wenn sie er- wacht, dann gleicht sie dem Götzen Baal nicht im gering- sten. Dann ist sie eine große selbstbeherrschte Gewalt, die wirklich die Führung ihrer eigenen Angelegenheiten in die Hand nimmt. Ich bin bereit zu warten. Ich zähle zu jenen, die so unerschütterlich an die grundlegenden Lehren der Demokratie glauben, daß ich bereit bin zu warten, bis der große Herrscher zu erwachen beliebt, vorausgesetzt, daß das Werkzeug seiner Macht bereit liegt, um jederzeit, wenn das wünschenswert erscheint, ergriffen werden zu können.

Es gibt noch eine andere Frage, die konservative Gemü- ter beunruhigt : die direkte Wahl der Senatoren der Verei- nigten Staaten. Ich hörte bedächtige Männer darüber mit einer Art Schauder diskutieren, als sei eine Änderung in der ursprünglichen Konstitution des Senates ein Verbrechen und eine Mißachtung der Verfassung. Allein zu der Achtung vor dem Senat der Vereinigten Staaten gehört vor allem die Achtung vor den Senatoren. Ich zähle nicht zu jenen, die den Senat der Vereinigten Staaten als Körperschaft ver- dammen; denn was sich dort auch ereignete und durch welch fragwürdige Praktiken und korrupte Einflüsse manche Senatorenstühle auch besetzt worden sind es muß offen ausgesprochen werden : die Mehrzahl der Se- natsmitglieder stand die ganzen Jahre hindurch makellos da und stets gab es genug ehrenhafte Männer, die Ame- rikas Selbstachtung und Amerikas Vertrauen zu seinen staatlichen Einrichtungen rechtfertigen.

Es erübrigt sich, auf die schmerzliche Tatsache zurück- zukommen, daß Sitze im Senat auf gewisse V\^eise erkauft wurden. Und man weiß, daß eine kleine Senatorengruppe,

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die das Zünglein an der Wage bildete und dadurch mäch- tig war, immer wieder Reformvorschläge, auf die das ganze Land seine Hoffnungen gesetzt hatte, zum Schei- tern brachte. Wenn man die Mächte, die hinter diesen kleinen Gruppen standen, näher untersucht, erfährt man, daß nicht die Macht der öffentlichen Meinung jene Män- ner zu jenem Tun trieb, sondern geheime Einflüsse, die sich bei oberflächlicher Betrachtung nicht enthüllen.

Um zu den alten Grundsätzen zurückzukehren, zu denen wir uns bekennen: hat das Volk der Vereinigten Staaten nicht das Recht, darüber zu wachen, daß jeder Sitz im Senat die unbestochenen Vereinigten Staaten von Amerika vertrete ? Berührt die direkte Wahl der Senatoren irgend etwas anderes als die heimliche Beherrschung der Sitze im Senat ? Wir erinnern uns einer anderen Tatsache, unseres Verdachtes gegen gewisse Parlamente, die Sena- toren wählen. Einige dieser Verdachte, die wir in New Jersey hegten, haben sich als auf höchst greifbaren Tat- sachen beruhend erwiesen. Bis vor zwei Jahren war New Jersey seit einer halben Generation im Senate der Ver- einigten Staaten nicht durch die Männer vertreten, die gewählt worden wären, wenn die Wahl frei und auf den Willen des Volkes begründet gewesen wäre.

Wir wollen uns nicht selbst täuschen, unsere Köpfe in den Sand stecken und sagen: ,, Alles ist in schönster Ord- nung." Gladstone erklärte die amerikanische Verfassung für das vollkommenste Schriftstück, das je vom Menschen- geiste verfaßt worden sei. Die Welt rühmte uns eine be- sondere Befähigung nach, zweckmäßige Einrichtungen zu ersinnen, aber zu diesem Thema machte ein sehr kluger und geistreicher Engländer eine sehr lehrreiche Bemer- kung ; er meinte, der Umstand, daß die amerikanische Ver- fassung sich bewährt habe, beweise noch nicht, daß sie auch wirklich eine vortreffliche Verfassung sei ; denn Ame-

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rikaner verstünden jede Verfassung so zu handhaben, daß sie vortrefflich erscheinen könne, ein KompUment, das sich wie Balsam auf unsere Seele legt und doch eine Kritik, die uns zum Nachdenken veranlassen sollte. Es ist wahr, daß die Kräfte Amerikas, solange sie rege sind, die Entwicklung und das Leben Amerikas lenken können, ohne dem Ideal unserer Verfassung ernstlich untreu zu werden ; aber es ist nicht weniger wahr, daß wir viele beschämende Fälle von Mißbräuchen erleben mußten, die durch die unmittelbare Wahl der Senatoren durch das Volk völlig beseitigt werden könnten. Und darum will ich mir von kei- nem Menschen, der seine amerikanische Geschichte kennt, sagen lassen, es wäre mit dem Geist und dem Wesen ame- rikanischer Regierungsprinzipien unvereinbar, die direkte Senatorenwahl zu befürworten.

Eine andere Frage. Man betrachte das Problem der Initiative in der Gesetzgebung, die Frage der Volksabstim- mung und der Beamtenabsetzung. Es gibt in der Union Gemeinwesen und Staaten, in denen es, wie ich bereitwillig zugebe, vielleicht verfrüht wäre oder vielleicht auch nie- mals notwendig sein wird, diese Maßnahmen zu erörtern. Aber ich möchte die Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenken, daß alle diese Bestimmungen zur allgemeinen Be- friedigung in einer Reihe von Staaten angenommen wur- den, in denen die Wählerschar zu der Überzeugung ge- kommen war, daß sie in ihrem Lande keine repräsentative Regierung besäße. Weshalb sollten wir in den Vereinigten Staaten, dem Lande, in dem das Volk ermächtigt ist, seine eigene Regierung zu sein, eine Bewegung für die Einfüh- rung der Initiative in der Gesetzgebung, eine Bewegung für die Einführung der Volksabstimmungen und der Be- amtenabsetzung in die Wege leiten ? Wann nahm das sei- nen Anfang ? Ich habe während der letzten fünfundzwan- zig Jahre von kleinen Vereinen und Gesellschaften aus

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allen Gebieten der Vereinigten Staaten Schriftstücke und Rundschreiben erhalten, die sich mit diesen Fragen be- schäftigten. Aber lange Zeit wollte keine Flamme zünden. Man spürte, daß man eine repräsentative Regierung, eine Regierung durch die Volksvertreter besaß und war zu- frieden. Aber vor zehn oder fünfzehn Jahren begann die Flamme aufzulodern und hat sich weiter und weiter über das Land verbreitet ; denn es wuchs das Bewußtsein, daß sich irgend etwas zwischen das Volk und die Regierung drängte und daß man eine Macht brauchte, die unmittel- bar und stark genug wäre, um jenes Hindernis, das sich in den Weg stellte, beiseite zu schleudern, f^ijflch glaube, wir stehen im Begriffe, einige der wichtig- sten Vorrechte eines freien Volkes wiederzuerlangen, und ich glaube auch, daß die erwähnten Fragen bei dieser Wiedererlangung eine wichtige Rolle spielen. Ich traf kürz- lich einen Mann, der glaubte, das Referendum sei eine Art Tier, weil es einen lateinischen Namen hat; und es gibt manche, denen die Bedeutung dieses Wortes noch er- klärt werden muß. Aber die Mehrzahl kennt den Sinn und bringt ihm ein tiefes Interesse entgegen. Warum ? Weil wir zu oft spürten, daß unsere Regierung nicht uns vertritt, und weil wir uns sagten : wir müssen einen Schlüssel zur Tür unseres eigenen Hauses haben. Die Initiative zu Ge- setzesanträgen, das Referendum und die Beamtenabsetzung sind ein solcher Schlüssel zu unserer eigenen Wohnung. Wenn drinnen im Hause die Leute ihr Amt so versehen, wie wir es versehen sehen wollen, mögen sie drinnen blei- ben, dann werden wir unseren Drücker in der Tasche be- halten. Versäumen sie aber ihre Pflicht, dann werden wir genötigt sein, als Eigentümer einzutreten. Man lasse sich nicht durch den Ruf täuschen, jemand habe die Absicht, die repräsentative Regierung durch eine direkte Regierung durch das Volk zu ersetzen oder durch eine direkte Volks-

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abstimmung über Gesetze, die das Parlament angenom- men oder abgelehnt hat. Die Verteidiger dieser Reformen haben stets in unzweideutiger Weise erklärt, daß sie die repräsentative Regierung, die Regierung durch die Volks- vertretung wiederherstellen und nicht beseitigen wollen; die Initiative zu Gesetzesanträgen und die Volksabstim- mung würden dort keine Anwendung finden, wo die gesetz- gebenden Körperschaften wirklich das Volk vertreten, das sie zu ihrem Dienste erwählte. Die Initiative zu Gesetzes- anträgen ist ein Mittel, um Maßregeln durchzuführen, die das Volk braucht, und dieses Mittel wird nur angewendet, wenn die gesetzgebenden Körperschaften die öffentliche Meinung überhören oder ihr trotzen. Das Referendum aber ist ein Mittel, um zu hindern, daß Maßnahmen, die nicht im Interesse des Volkes liegen, Gesetz werden und in die Verfassung übergehen. Die Grundlage der Beamten- absetzung, der ,, Abberufung" ist die Möglichkeit, einen Verwaltungsbeamten denn mit den Verwaltungsbeam- ten wollen wir den Anfang machen , der bestechlich oder so unklug ist, Dinge zu tun, die wahrscheinlich allerlei Un- heil stiften müssen, durch ein vom Gesetz vorgeschriebenes Verfahren seiner Stellung zu entheben, ehe seine Anstel- lungsfrist abläuft. Man wird zugeben, daß es bisweilen Un- zuträglichkeiten mit sich bringt, ein sogenanntes astro- nomisches Regierungssystem zu haben, an dem nichts ge- ändert werden kann, ehe eine gewisse Zahl von Jahreszeit- wechseln eingetreten ist. In vielen unserer ältesten Staaten ist die übliche Verwaltungsfrist ein einziges Jahr. Die Be- wohner dieser Staaten waren nicht willens, einem Beamten, der ihren Blicken entzogen bleibt, länger als zwölf Monate zu vertrauen. Wahlen sind dort gewissermaßen eine Art immerwährende Tätigkeit, was aus dem Gedanken erwuchs, das Volk müsse mit seinen eigenen Angelegenheiten in ständiger Berührung bleiben. Das ist auch der Grundsatz

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der ,, Abberufung". Ich sehe nicht ein, wie jemand, der die Überlieferungen amerikanischer Institutionen kennt, ge- gen die Abberufung der Verwaltungsbeamten irgendeine triftige Einwendung geltend machen kann. Die Bedeutung der Abberufungsmöglichkeit entspringt nicht dem Ver- langen, eine wandelbare Regierung zu haben und auch nicht dem Gedanken, daß Beamte nicht wissen sollen, wie lange ihre Macht währen kann ; der Sinn der Maßnahme ist der Wille, die Verwaltung und die Regierung von Beam- ten ausgeübt zu sehen, die sich des Ursprungs ihrer Macht bewußt bleiben und wissen, daß sie, wenn sie heimlichen Einflüssen erliegen, sofort durch öffentliche Einflüsse ab- gesetzt werden.

Man versteht ohne weiteres, daß sowohl bei der Initia- tive zu Gesetzesanträgen wie bei dem Referendum und der Beamtenabsetzung allein das Vorhandensein dieser Ge- walt und die Möglichkeiten, die sie in sich schließt, den halben, ja mehr noch als den halben Sieg bedeuten. Sie brauchen kaum jemals angewandt zu werden. Die Tatsache, daß das Volk eingreifen kann, läßt die Mitglieder der Le- gislatur die Notwendigkeit, selbst einzugreifen, stets füh- len ; die Tatsache, daß das Volk das Recht hat, die Auf- hebung von Gesetzen zu fordern, macht die Mitglieder der gesetzgebenden Körperschaften gegen Gesetze vor- sichtig, die das Volk nicht billigt. Die Möglichkeit aber, abgesetzt zu werden, wird die Beamten anhalten, sich der Verantwortlichkeit für ihr Verhalten bewußt zu bleiben.

Anders liegen die Dinge, wenn wir uns dem Gerichts- wesen zuwenden. Ich persönlich bin nie ein Anhänger der Richterabsetzung gewesen. Nicht daß einige Richter es nicht verdient hätten, abgesetzt zu werden. Das ist nicht der entscheidende Punkt. Das Entscheidende scheint mir, daß die Absetzung der Richter nur das Symptom und nicht die Krankheit behandelt. Das Übel sitzt tiefer und ist

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manchmal sehr heftig und gefährlich. Es hat in den Ver- einigten Staaten Gerichtshöfe gegeben, die durch Sonder- interessen beeinflußt worden sind. Wir haben höchste Ge- richtshöfe gehabt, vor denen einfache Leute keine Ge- rechtigkeit erlangen konnten. Es hat bestochene Richter gegeben, es hat beeinflußte Richter gegeben, es hat Rich- ter gegeben, die als Diener anderer Leute handelten und nicht als Diener der Allgemeinheit. Ach, die Geschichte birgt manche schimpflichen Kapitel! Das Gerichtsver- fahren ist die letzte Zuflucht aller Dinge, die wir in unse- rem Lande schützen und bewahren müssen. Aber wenn diese Zuflucht der Korruption zugänglich ist, wenn sie mei- nen und euren Interessen keinen Schutz mehr gewährt, sondern nur denen einer sehr kleinen Gruppe von Män- nern, und wenn immer, wo eure Interessen mit denen dieser kleinen Gruppe in Widerstreit geraten, die eurigen weichen müssen, obwohl ihr neun Zehntel der Bürger und sie nur ein Zehntel darstellen wo bleibt dann unsere Zuflucht und unsere Sicherheit ? Das Rechtsempfinden des Volkes muß wie jeden anderen Zweig der Regierung und der Verwaltung auch das Gerichtswesen beherrschen. Aber um das zu erreichen, gibt es wirksame und unwirk- same Mittel. Wenn wohl gemerkt, ich sage wenn ein- mal die Southern Pacific Bahn den obersten Gerichtshof des Staates Kalifornien von sich abhängig gemacht hätte : würdet ihr durch die Absetzung der Richter dieses Ge- richtshofes diese Situation beseitigen? Was wäre mit der Absetzung erreicht, wenn die Southern Pacific andere ihr ergebene Richter an ihre Stelle setzen könnte? Der Schnitt wäre nicht tief genug. Was wir erstreben, ist Ein- fluß auf die Auswahl der Richter. Und wenn wir dort be- ginnen, werden wir auch den Kern der ganzen Frage tref- fen. Denn der Schwerpunkt der Angelegenheit ist, daß das amerikanische Volk den Verdacht hegte (der sich durch

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alle Art von überwältigenden und unwiderleglichen Be- weisen als gerechtfertigt erwies), wir seien Schritt um Schritt bei allen Wendepunkten der Geschichte unseres Landes nicht durch das öffentliche Interesse, sondern durch geheime Abmachungen beherrscht worden. Und un- saubere, um nicht zu sagen verderbte Einflüsse haben alles bestimmt: von dem Erlaß von Gesetzen bis zur Verwal- tung des Gerichtsverfahrens. Das Übel liegt in jener Gegend, in der die Ernennung dieser Leute erfolgt; und wenn es uns gelingt, dem Volk die Auswahl der Richter wieder- zuerobern, werden wir uns um die Frage ihrer Absetzung kaum noch zu sorgen haben. Die Auswahl ist von weit- reichenderer Wirkung als die Wahl. Ich weiß wohl, daß jene, die für die hier erörterten Maßnahmen eingetreten sind, als gefährliche Radikale verschrien wurden. Ich be- obachte dabei mit besonderem Interesse, daß die Leute, die am lautesten ihre Stimme gegen das, was sie Radika- lismus nennen, erheben, just jene Leute sind, die ihr ei- genes politisches Spiel gefährdet sehen. Wer sind heutzu- tage diese Erzkonservativen ? Wer sind die Leute, die die glühendsten Lobeshymnen auf die Verfassung der Ver- einigten Staaten und auf die Verfassung der Einzelstaaten anstimmen? Es sind die Herren, die sich hinter jenen Ur- kunden zu verkriechen pflegen, um mit dem Volke, dem sie angeblich dienen, Versteck zu spielen. Es sind die Leute, die sich selbst in jene Gesetze verstrickten, die sie falsch auslegten und mißbrauchten. Wenn sie jetzt und ich glaube mit Recht fürchten, daß der ,, Radikalismus" sie hinwegfegen wird, so haben sie das nur sich selbst zu danken.

Wie absurd, wie aus der Luft gegriffen und wie heuch- lerisch ist die Anklage, wir, die wir eine das Volk vertre- tende und für die Forderungen des Volks verantwortliche Regierung fordern, tasteten die entscheidenden Grundsätze

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der republikanischen Einrichtungen an! Dieselben Leute, die so aufgeregt ihre Warnungsrufe ausstoßen, würden am 4. Juli laut genug die Unabhängigkeitserklärung de- klamieren ; und sie würden fortfahren und über jene präch- tigen Kundgebungen in unseren frühesten Staatsverfas- sungen sprechen, die von allen späteren nachgeahmt wur- den und die der Petition der Rechte und der Erklärung der Rechte entstammte, jenen großen grundlegenden Doku- menten des englischen Kampfes um die Freiheit. Und doch lesen wir sogar in diesen Dokumenten so rücksichtslose Be- stimmungen wie die : Wenn je die Bürger eines Gemein- wesens sehen, daß die Regierung für die Lebensverhält- nisse und die Wahrung der Rechte der Allgemeinheit nicht geeignet ist, dann ist es ihr Vorrecht, diese Regierung nach ihrem Belieben nach jeder Richtung hin und in jedem Um- fange zu ändern. Das ist die Grundlage, die innerste Lehre und das Grundgesetz amerikanischer Einrichtungen. Ich möchte einen Absatz aus der ,, Erklärung der Rechte" von Virginien zitieren, aus jenem unvergänglichen Dokument, das ein Vorbild für die Freiheitserklärungen unseres Erd- teils geworden ist:

,,Daß alle Gewalt dem Volke übertragen und infolge- dessen vom Volke abgeleitet ist ; daß Beamte seine Beauf- tragten und Diener und ihm jederzeit verantwortlich sind.

Daß die Regierung für das allgemeine Wohl, den Schutz und die Sicherheit des Volkes, der Nation oder des Gemein- wesens eingesetzt ist oder sein soll ; von allen mannig- fachen Arten und Formen der Regierung ist jene die beste, die den höchsten Grad von Glück und Sicherheit hervor- zubringen vermag und die am wirkungsvollsten gegen die Gefahr einer Mißregierung geschützt ist; und daß, wenn irgendeine Regierung als nicht diesen Zwecken dienlich oder ihnen widersprechend erachtet werden sollte, die Mehrheit des Gemeinwesens das unzweifelhafte, unver-

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äußerliche und unantastbare Recht hat, sie zu verbessern, zu verändern oder zu beseitigen, in solcher Weise, wie sie dem öffentlichen Wohle als am dienlichsten erachtet wird."

Ich habe diese Sätze unzähligemal am 4. Juli verlesen hören, aber ich hörte sie niemals, wo über aktuelle Maß- nahmen beraten wurde. Niemand, der die Grundsätze kennt, auf denen unsere Republik aufgebaut wurde, hat die leiseste Furcht vor diesen sanften, wenn auch sehr wir- kungsvollen Maßnahmen, durch die das Volk von neuem die Führung seiner eigenen Angelegenheiten übernimmt.

Auch braucht kein Anhänger der Freiheit für den Aus- gang des Kampfes, den wir jetzt begonnen haben, zu ban- gen. Der Sieg ist gewiß, und der Kampf wird kein beson- ders blutiger sein. Er wird kaum den Namen eines Kampfes verdienen. Man lasse mich die Geschichte von der Befrei- ung eines Staates New Jerseys erzählen:

Es hat das Volk der Vereinigten Staaten überrascht, New Jersey an der Spitze der Reformbestrebungen zu sehen. Ich, der ich den größten Teil meines reiferen Lebens in New Jersey verbrachte, weiß, daß es keinen Staat in der Union gibt, der, was Herz und Verstand des Volkes betrifft, eine Reform ernstlicher wünschte als New Jersey. Es gibt dort Männer, die in hervorragender Weise für die Staats- angelegenheiten wirken und die immer wieder mit dem ganzen ihnen innewohnenden Ernste für die Dinge ein- traten, die zu vollbringen sie jetzt endlich in der Lage sind. Es gibt in New Jersey Männer, die ihre besten Lebens- kräfte daransetzten, bei den Wahlen zu siegen, um die Unterstützung der Bürger New Jerseys für eine Reform zu erlangen.

Das Volk hatte vor dem Herbst des Jahres 1910 sehr oft seine Stimme für diese Reform abgegeben, aber das Merkwürdige war, daß nichts, geschah. Man forderte die Wohltat gewisser reformatorischer Bestimmungen, wie

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sie in jedem fortschrittlicheren Staat der Union angenom- men worden waren, Maßnahmen, die bewiesen hatten, daß sie nicht nur das Leben der Gemeinwesen, in denen sie Geltung hatten, nicht umstürzten, sondern durch deren Wirksamkeit jede Kraft neu belebt und jede Lebensbe- dingung gebessert wurde. Aber das Volk von New Jersey vermochte diese Maßnahmen nicht zu erlangen, und so bemächtigte sich der Bürger eine gewisse pessimistische Verzweiflung. Des öfteren traf ich Leute, die die Achsel zu zucken pflegten und meinten: ,,Es ist ja gleichgültig, wofür wir stimmen, nie ist der Abstimmung irgendetwas gefolgt." Die Macht, die hinter der vor kurzem neu gebil- deten Partei, der sogenannten Fortschrittspartei, steht, ist die Macht der Unzufriedenheit mit den alten Parteien der Vereinigten Staaten. Es ist das Gefühl, daß man oft genug in Sackgassen geraten ist und daß irgendwie freie Bahn geschaffen werden muß, durch die man zu irgendeinem Ziele kommen kann.

Im Jahre 1910 kam der Tag, da das Volk von New Jersey Mut faßte und zu glauben begann, daß etwas voll- bracht werden könnte. Als Kandidat für den Gouverneurs- posten besaß ich keinerlei Verdienste, es sei denn, daß ich sagte, was ich wirklich dachte und daß das Volk mir dieses Kompliment dadurch zurückgab, daß es glaubte, ich meinte wirklich, was ich sagte. Aber trotzdem sie dem Gouverneur, den sie damals erwählten, glaubten, trotz- dem sie ihm voll und ganz vertrauten : er konnte absolut nichts durchsetzen. Viel mehr als in ihren eigenen Geistes- gaben liegt die Stärke der Staatsmänner einer Nation im Vertrauen des Volkes und im Rückhalt im Volke. In dem Maße als die Allgemeinheit ihnen vertraut, sie unterstützt und ihnen die eigene Kraft leiht, in dem Maße sind sie stark. Die Dinge, die sich in New Jersey seit 19 10 ereig- neten, haben sich ereignet, weil der Samen in den frucht-

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baren Boden des allgemeinen Vertrauens und der Hoffnung gepflanzt worden war.

In dem Augenblick, da in New Jersey die bisherigen Gegner der Reformbestrebungen erkannten, daß das Volk neue Männer stützte, die das meinten, was sie sagten, er- kannten sie, daß sie ihnen nicht widerstehen durften. Es war nicht die persönliche Kraft der neuen Beamten: es war die moralische Kraft des hinter ihnen stehenden Vol- kes, die den außergewöhnlichen Erfolg erzielte.

Und was ward erreicht ? Nur Gerechtigkeit für Volks- klassen, die vordem nicht gerecht behandelt worden waren.

Jeder Schuljunge in New Jersey konnte, wenn er sich die Mühe nahm, die Dinge zu betrachten, die Tatsache erkennen, daß die Gesetze, die sich auf die Entschädigun- gen der Arbeiter bei Betriebsunfällen beziehen, zu einer Zeit entstanden waren, da die Gesellschaft in einer von heute durchaus abweichenden Art organisiert war. Und da die Gesetze nicht geändert worden waren, blieben die Gerichts- höfe gezwungen, blindlings Gesetze anzuwenden, die den bestehenden Verhältnissen nicht mehr entsprachen, so daß es für die Arbeiter von New Jersey tatsächlich unmöglich war, vor Gericht Gerechtigkeit zu erlangen. Die Legislatur des Staates war ihnen nicht mit der notwendigen Gesetz- gebung zur Hilfe gekommen. Diese Umstände waren für keinen Menschen ernsthaft strittig; jeder wußte, daß die Gesetze veraltet und unmöglich waren und daß man ver- gebens Gerechtigkeit suchte.

Dann gab es eine andere Aufgabe, die wir zu lösen wünschten : wir wünschten die Bestimmungen über die Pu- blic Service Corporations*) so zu regulieren, daß wir von ihnen eine angemessene Arbeitsleistung zu vernünftigen

*) Die zu Verbänden trustartig organisierten Gesellschaften, die Staat, Gemeinden und Publikum mit Wasser, Gas und Elektrizität ver- sorgen und vielfach auch die Straßenbahnen betreiben. Anm. d. Ü.

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Bedingungen fordern könnten. Das war in anderen Staaten geschehen, und wo es geschehen war, hatte sich diese Maß- nahme ebensosehr zum Vorteil der Korporationen wie zum Nutzen des Volkes bewährt. Natürlich war es nicht leicht, die Verbände zu überzeugen. Es fügte sich, daß einer von jenen, die recht wenig von diesen Dingen ver- standen, zufällig der Vorsitzende der Public Service Corpo- ration von New Jersey war. Ich habe Reden dieses Herrn gehört, die von einer vollkommenen Unkenntnis der Ver- hältnisse unserer Tage zeugten. Nie habe ich in allen Einzel- heiten eine restlosere Unwissenheit kennen gelernt; und da er Macht und Unwissenheit in sich vereinigte, setzte er naturgemäß seine ganze Kraft daran, den Dingen, die er nicht verstand, zu trotzen.

Ich habe keinen Anlaß, die Ehrlichkeit der Beweg- gründe von Männern, die sich in solchen Stellungen be- finden, anzuzweifeln. Ich bedauere nur, daß sie nicht mehr wissen. Wenn sie sich dem Zuge des Fortschrittes anschlie- ßen wollten, würden sie an sich selbst den Segen dieser ge- sunden Bewegung verspüren und damit sicherlich in sich jene Fähigkeit zum Lernen erneuern, die sie hoffentlich besaßen, als sie jünger waren. Als wir die Public Service Corporation in New Jersey regulierten, unternahmen wir nicht etwa einen neuartigen Versuch ; wir versuchten nur eine Maßnahme öffentlicher Gerechtigkeit einzuführen, die bereits ihre Proben bestanden hatte. Wir führten sie ein. Hat jemand seitdem Bankrott gemacht? Zweifelt heute noch jemand daran, daß die Verwirklichung unse- rer Absicht sowohl der Public Service Corporation als dem Volke des Staates zum Segen gereichte?

Es gab noch etwas, das wir in aller Bescheidenheit wünschten : wir verlangten ehrliche Wahlen ; wir wollten nicht, daß Kandidaten sich Amter erkauften. Das erschien vernünftig. So nahmen wir ein Gesetz an, das in einer Be-

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Ziehung einzigartig war, nämlich : wer sich ein Amt kaufte, erhielt es nicht. Ich räume ein, daß das allen kaufmänni- schen Grundsätzen widerspricht, aber ich halte es für einen sehr gesunden politischen Grundsatz. Es ist ganz schön und gut, jemanden dafür, daß er ein Amt erkaufte, ins Gefängnis zu stecken, aber es ist viel besser, ihm außer- dem noch zu zeigen, daß er ein Amt, für das er auch nur einen einzigen Dollar bezahlt hat, nicht erhält, trotzdem eine große Mehrheit für ihn gestimmt hat. Wir stellten die Handelsgesetze auf den Kopf: wer in New Jersey in der Politik irgend etwas kauft, bekommt es nicht. Das schien uns der geeignete Weg, um unsaubere politische Machenschaften zu entmutigen. Wenn man mit seinem Gelde keine Güter erwerben kann, kommt man nicht in Versuchung, sein Geld auszugeben.

Wir führten ein Gesetz gegen die Bestechungen ein, dessen vernünftige Begründung niemand anzweifeln konnte ; und ein Wahlgesetz, dem jedermann prophezeite, daß es nicht wirksam werden würde ; aber es wurde wirk- sam und es bewirkte die Befreiung aller Wähler New Jer- seys.

Alle diese Dinge sind heute für uns etwas Alltägliches geworden. Wir schätzen die Gesetze, die wir eingeführt ha- ben, und niemand wagt es, eine grundlegende Änderung an ihnen vorzuschlagen. Warum hatten wir diese Gesetze nicht schon längst erhalten? Was hinderte uns daran? Der Grund war, daß wir eine geheime und keine öffent- liche Regierung hatten. Es war nicht unsere Regierung. Sie wurde durch kleine Gruppen von Männern beherrscht, deren Namen wir kannten, die aber abzusetzen wir irgend- wie nicht imstande zu sein schienen. Wenn wir Männer wählten, die sich dazu verpflichtet hatten, sie ihrer Macht zu entkleiden, dann wurden die Gewählten nur die Ver- bündeten jener, die zu bekämpfen sie gewählt worden

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waren. Offenbar war es notwendig, daß ein Laie gewählt wurde, der von dem ganzen Handel so wenig verstand, daß er annahm, man erwarte von ihm, er würde das tun, was zu tun er versprochen hatte.

Es gibt Leute, die dem Gouverneur von New Jersey den Vorwurf machten, daß er gewisse Dinge nicht tat und daß er beispielsweise nicht einen Haufen von Anklagen anstrengte. Der Gouverneur von New Jersey hält es nicht für nötig, sich selbst zu verteidigen; aber er möchte die Aufmerksamkeit auf einen interessanten Vorgang lenken, der sich in seinem Staate vollzog. Als das Volk die Re- gierung wieder übernommen hatte, ging bei sehr vielen Leuten eine sonderbare Veränderung vor sich ; es war ein jähes moralisches Erwachen, und wir konnten keine Schuldigen mehr finden, gegen die wir hätten klagen kön- nen ; man befolgte alle Gesetze wie in der Sonntagsschule.

Darum sage ich, daß es durchaus nicht schwierig ist, die Selbstregierung wiederzuerlangen. Wir brauchen keine Befürchtungen zu hegen, wenn wir den Entschluß fassen, diese Aufgabe zu erfüllen. ,,Der Weg zum Wieder- beginn ist der Wiederbeginn", sagte einst Horace Greeley, als das Land sich bei einer Aussicht entsetzte, die sich als nicht im geringsten entsetzlich erwies; es war bei der Wiederaufnahme der Münzzahlungen für die Schatzan- weisungen. Das Schatzamt nahm die Einlösung einfach wieder auf und als der Tag dieser Wiederaufnahme der Münzzahlungen kam, gab es nirgends Gefahr und Auf- regung. Genau so wird es sein, wenn das Volk wieder die Herrschaft über seine eigene Regierung übernimmt. Die Männer, die die politischen Maschinen bedienen, sind nur ein kleiner Bruchteil der Partei, die sie angeblich vertreten, und die Leute, die einen verderblichen Einfluß auf sie aus- üben, sind wiederum nur ein kleiner Teil der Geschäfts- leute des ganzen Landes. Wir haben uns nicht dazu ver-

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bündet, um eine Partei oder einen großen Verband von Bürgern zu bekämpfen ; wir haben nur kleine Koterien zu bekämpfen, vereinzelte Gruppen von Leuten, einige wenige Männer, die nur dadurch schalten, daß sie uns täuschen, und die verschwinden werden, sobald sie aufhören müssen uns zu täuschen. Ich hatte Gelegenheit, die Macht einer solchen Gruppe in New Jersey zu erproben, und konnte zu meiner Zufriedenheit feststellen, daß ich recht gehabt hatte, als ich annahm, sie besäßen in Wirklichkeit über- haupt keine Macht. Es sah aus, als seien sie in einer Fe- stung verschanzt ; es sah aus, als starrten die Schießschar- ten der Mauern von Gewehren. Aber wie ich es meinen Mitbürgern prophezeit hatte : man brauchte nichts weiter zu tun, als ein wenig gegen die Mauern zu drücken, um zu entdecken, daß sie nichts weiter als ein Kartenhaus waren; es waren nur Bühnenrequisiten und als sich die Zuschauer erst aufmachten und einen Blick hinter die Ku- lissen warfen, da zeigte es sich, daß das Heer, das mit so schrecklichem Aufwand aufmarschiert war, nur aus einer einzigen Kompagnie bestand, die in die eine Kulisse hin- ein und aus der anderen wieder herausmarschiert war, sie hätte auf diese Weise vierundzwanzig Stunden lang verbeimarschieren können. Man braucht nur gegen vier- undzwanzig Mann, um diese Augentäuschung hervorzu- rufen. Es sind Taschenspieler. Sie haben nur Macht, wenn wir so töricht sind wie bisher. Ihr Kapital ist unsere Unwissenheit und unsere Leichtgläubigkeit.

Heute gewahren wir etwas, das zu sehen manche von uns ein Leben lang geharrt haben. Wir sind Zeugen einer Erhebung unseres Landes. Wir sehen, wie ein ganzes Volk aufsteht und sich nicht länger täuschen lassen will. Der Tag ist gekommen, da die Leute zueinander sagen: ,,Es ist für mich vollkommen gleichgültig, mit welcher Partei ich abgestimmt habe. Ich werde mir die Leute heraus-

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suchen, die ich will, und die Politik, die ich brauche, und kümmere mich nicht um das Etikett. Ich sehe keinen gro- ßen Unterschied zwischen meiner Liste und der Liste jener, die für die andere Partei gestimmt haben und die ebenso wie ich mit der Art, in der ihre Partei ihre Treue vergalt, höchst unzufrieden sind. Sie wollen dasselbe, das ich will, und ich weiß unter Gottes Himmel nichts, was unser Zu- sammengehen verhindern könnte. Wir wollen das gleiche, wir haben das gleiche Vertrauen zu den alten Traditionen des amerikanischen Volkes, und wir haben uns entschlos- sen, jetzt endlich statt des Schattens die Wirklichkeit zu erlangen." Wir Amerikaner haben uns zu lange damit begnügt, die Maßnahmen der Regierung nur oberfläch- lich zu überfliegen. Wir haben uns nasführen lassen. Wir sind zu den Wahlen gegangen und haben gesagt: ,,Dies ist die Handlung eines souveränen Volkes, aber wir wollen jetzt noch nicht souverän sein; wir wollen es vertagen, wir wollen bis zum nächsten Male warten. Die Regisseure rücken noch an den Kulissen; wir sind noch nicht zum richtigen Auftreten bereit." Mein Vorschlag ist, daß wir mit diesem Theaterspiel aufhören und daß wir anfangen, die Ideale amerikanischer Politik in die Wirklichkeit um- zusetzen, so daß ein jeder, wenn er am Wahltage seine Stimme abgibt, das Bewußtsein spüre, wirklich ein Urteil zu fällen, indem er die großen Dinge, die allzulange Leu- ten, die sich selbst erwählt hatten, überlassen waren, nun selbst wieder in seine Hand nimmt, um im Ernste daran- zugehen, seine eigenen Ziele zu verwirklichen.

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Elftes Kapitel Die Befreiung des Geschäftslebens

Bei den Reformen und Wiederanpassungen, die in Ame- rika durchgeführt werden müssen, wird auch nicht eine einzige rechtmäßige und berechtigte Abmachung beein- trächtigt werden ; jede Beschränkung des Geschäftslebens aber soll beseitigt und jede unrechtmäßige Art von Will- kür vernichtet werden. Jedem Manne, der eine Gelegen- heit zur Betätigung seines Unternehmungsgeistes sucht und der die Tatkraft besitzt, die Gelegenheit zu ergreifen, soll der Weg zu dieser Möglichkeit freistehen. Von jenen Männern, die heute monopolartige Vergünstigungen ge- nießen, soll nichts weiter verlangt werden, als daß sie ihren Verstand mit dem Verstand jener messen, die mit ihnen konkurrieren wollen. Dem Verstand und der Tat- kraft der anderen soll freies Feld zur Betätigung ihrer Fähig- keiten geboten werden das ist der Inbegriff der unser harrenden Aufgabe. Eine allgemeine Befreiung des Kapi- tals und des Unternehmungsgeistes von Millionen Men- schen wird einsetzen und weit sollen die Tore der Mög- lichkeiten aufgeschlagen werden. Mit welcher Entschlos- senheit und mit welchem Jubelruf wird das Volk sich zu seiner Befreiung erheben ! Denn ich gehöre zu jenen, die da glauben, daß der Wohlfahrt dieses Landes so starke Fes- seln angelegt wurden, daß wir noch nicht zu unserem Rechte kamen ; und ich glaube, daß die Beseitigung dieser Schranken einen Sturm von Tatkraft entfesseln wird, wie sie unsere Generation nicht kannte.

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Aus diesem Glauben leite ich das Recht her, die vor- handenen Beschränkungen und die Mittel, durch die sie erreicht wurden, mit dem größten Freimut zu kritisieren. Und ich spreche nicht als einer, der den Mut verloren hat ; wenn ich diese Zustände schildere, die so viel hemmen, hindern und fesseln, dann schildere ich nur Zustände, die wir überwinden und hinter uns lassen werden, um ein neues Zeitalter zu beginnen. Die Stunde ist angetan, un- gewohnte Freimut zu fordern. Ich kann kaum sagen, wie viele Geschäftsleute, wie viele große Geschäftsleute mir heimlich und vertraulich ihre wirkliche Meinung über die waltenden Zustände mitgeteilt haben. Sie fürchten irgendwen. Sie schrecken davor zurück, mit ihrer wirk- lichen Meinung öffentlich hervorzutreten ; sie verraten sie in nur unter der Hand. Das ist ein trostloser Zustand. Denn es zeigt, daß wir nicht die Herren unserer Meinun- gen sind, es sei denn vor der Wahlurne ; und selbst dann achten wir darauf, so heimlich als möglich zu wählen. Daß solche Zustände walten können, muß die ernstesten Befürchtungen wecken. Aus welchem Grunde sollte irgend- ein Mann im freien Amerika irgendeinen anderen Mann fürchten ? Und warum soll irgendwer Konkurrenz fürch- den, sei dies nun der Wettbewerb mit seinen Landsleuten oder mit sonst jemand auf der Welt?

Eine der Anklagen gegen die Wirkungen unseres Schutz- zolltarifes ist, daß er den Lebensmut unseres Volkes ge- schwächt und nicht gesteigert hat. Amerikanische Fabri- kanten, die wissen, daß sie bessere Produkte erzeugen kön- nen als sie in irgendeinem Lande der Welt hervorgebracht werden, amerikanische Fabrikanten, die diese Produkte auf ausländischen Märkten billiger verkaufen können als die heimische Industrie jener Länder, amerikanische Fa- brikanten fürchten sich, fürchten sich davor, sich nur mit der Rüstung ihrer eigenen Tüchtigkeit und ihrer eige-

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nen Gewandtheit in die große Welt hinauszuwagen. Man halte es sich vor Augen : eine große begabte und tatkräftige Nation, die durch Angst gelähmt wird ! Diese Angst der ame- rikanischen Geschäftsleute hat für mich etwas schlecht- hin Erstaunliches. Sie hängen sich an die Rockschöße der Regierung in Washington. Sie suchen Vergünstigungen zu erlangen, sie bitten : ,,Aus Barmherzigkeit, setzt uns nicht dem rauhen Wetter der Welt aus ; wickelt uns in ein paar heimatliche Schutzdecken. Beschützt uns. Sorgt dafür, daß die fremden Männer nicht kommen und ihre Kraft mit der unseren messen!" Und als handelte es sich dabei um eine Eigentümlichkeit unseres Charakters : wir erleben es, daß just die tüchtigsten und größten Männer Amerikas die größ- ten Vergünstigungen erlangen ; die Männer, die die größte Befähigung zum Aufbau und zur Organisation einer In- dustrie besitzen, die Männer, die die Industrieen aller Län- der führen könnten es sind dieselben Männer, die sich am zähesten hinter den höchsten Zollsätzen des Tarifes verschanzen. Und sie sind obendrein noch so furchtsam, daß sie nicht offen vor das amerikanische Volk hintreten, sondern diese Vergünstigungen in dem Wortschwall ein- zelner Tarifbestimmungen gar sorglich verstecken. Es ist ein trauriges Bild, wenn Männer, die Vergünstigungen for- dern, das Urteil ihrer Mitbürger so fürchten, daß sie nicht einzugestehen wagen, was sie erhalten.

Zum Glück beschränkt sich im Lande das allgemeine Erwachen des Bewußtseins nicht auf jene, die aus Über- zeugung alle Sonderbevorzugungen und Privilegien be- kämpfen. Es hat sich auch auf jene erstreckt, die Sonder- bevorzugungen genießen ; Gott sei Dank beginnen die Ge- schäftsleute unseres Landes unser Wirtschaftssystem in seiner wahren Bedeutung zu erkennen : als eine hemmende Aristokratie der Privilegierten, von der das Geschäftsleben sich freimachen muß. Die kleinen Leute lassen sich nicht

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täuschen und nicht alle großen Geschäftsleute haben sich länger täuschen lassen. Manche jener Männer, die sich auf falsche Bahnen führen ließen und den Weg zum Mono- pol beschritten, weil das ihnen der Zug der Zeit und das unumgängliche Mittel zur Überlegenheit zu sein schien, sind heute ebenso wie wir zur Umkehr bereit und wollen den Weg zur Freiheit einschlagen. Denn amerikanische Herzen schlagen auch in jenen Männern nicht anders als unter unseren Röcken. Sie werden sich nicht weniger freuen, frei zu werden, als wir uns freuen, ihnen die Be- freiung zu bringen. Und dann wird sich jener imponierende Kraftaufwand, der sich bisher schädlichen Dingen zu- wandte, auf Dinge richten, die uns nutzen.

Und auch wir die wir nicht große Industriekapitäne und Führer des Handels sind , wir werden ihnen dann, selbst auf materiellem Gebiete, mehr Nutzen bringen als heute. Selbst wenn du ihnen dienstbar sein mußt, machst du heute jene reichen Männer nicht so reich als sie es sein könnten, weil du der ungewöhnlichen Reichtumser- zeugung Amerikas deine schöpferischen Fähigkeiten, deine besten Kräfte nicht beigesellst. Denn für den Reichtum Amerikas sind nicht Wallstreet und die Geldzentren in Chi- cago oder St. Louis oder San Francisco der Gradmesser: Amerika ist so reich als die Männer, die jene Zentren reich machen. Wenn sie in ihrem Unternehmungsgeist erlahmen, wenn sie angesichts ihrer Macht erschlaffen und wenn sie zögern, aus eigener Kraft neue Pläne und neue Erfindun- gen zu schaffen, dann versiegen die Quellen, die jene Stät- ten mit Wohlstand überschütteten. Durch die Befreiung des kleinen Mannes Amerikas widerfährt den Riesen kein Schaden.

Es mag sein, daß gewisse Dinge sich ereignen werden, denn das Monopolwesen unseres Landes schleppt in seinem Organismus so viel toten Ballast mit sich, als Menschen

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nicht mit sich schleppen sollten. Wenn durch einen ge- regelten Wettbewerb durch einen ehrlichen Wettbe- werb, durch eine Konkurrenz, die mit ehrlichen Mitteln kämpft diese riesenhaften Schützlinge des Monopols zur Aufbietung aller ihrer Kräfte gezwungen werden, dann werden sie sparen müssen; und sparen werden sie nicht können, solange sie nicht jenen toten Ballast von sich ab- werfen. Ich weiß heute nicht, wie man ihnen diese Bürde abnehmen könnte ; aber wenn man sie vor diese Notwen- digkeit stellt, werden sie sich ihrer zu entledigen wissen. Denn sie werden sich dieses Ballastes entledigen müssen oder der Gefahr ins Auge sehen, daß alle, die solche Lasten nicht schleppen, sie im Wettlauf überholen werden. Das Geschäftsleben Amerikas muß auf das Fundament der Sparsamkeit und der Zweckmäßigkeit gestellt werden ; dann mögen die Stärksten und die Schnellsten den Sieg davontragen.

Unser Programm ist ein Programm der Wohlfahrt; ein Programm der Wohlfahrt, die etwas weiter reichen soll als die jetzige Wohlfahrt denn eine weitreichende Wohlfahrt ist fruchtbarer als eine enge und beschränkte. Ich beglückwünsche die Monopolisten der Vereinigten Staa- ten dazu, daß sie ihre Absicht nicht erreichen werden, denn entgegen ihrer Theorie ist das Volk klüger als sie. Das Volk versteht die Vereinigten Staaten besser als jene Männer ; und wenn sie uns gewähren lassen, werden wir sie nicht nur reich, sondern auch glücklich machen. Denn dann wird ihr Gewissen eine leichtere Last zu tragen haben. Ich habe in einem Staate gelebt, der in den Händen einer Reihe von Korporationen war. Sie reichten ihn sich herum. Ein- mal war er in den Händen der Pennsylvania-Eisenbahn ; ein andermal beherrschte ihn die Public Service Corpora- tion. Als ich gewählt wurde, herrschte die Public Service Corporation. Sie hat es mir seitdem nie verziehen, daß ich

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ihren schweigenden Pachtvertrag anfocht. Aber ich ver- mochte nicht einzusehen, weshalb das Volk sein eigenes Haus einer so kleinen Gruppe von Männern zur Monopo- lisierung ausliefern sollte ; und als ich die Korporation nach ihrem Pachtvertrage fragte und sie ihr Recht nicht nachweisen konnte, mußte sie ausziehen ; denn es gab kei- nen anderen Gerichtshof als den der öffentlichen Meinung, und der sprach ihnen das Urteil. Heute fressen sie uns aus der Hand und magern dabei keineswegs ab. Sie verdienen genau soviel Geld, als sie vorher verdienten : nur verdienen sie es jetzt auf ehrlichere Weise. Sie verdienen es ohne die immerwährende Beihilfe der Staatslegislatur von New Jer- sey. Sie verdienen es auf normale Weise, indem sie das Volk von New Jersey aus dem Gebiete der Wasser- und Gasversorgung und im Verkehrswesen so bedienen, wie das Volk es braucht. Ich glaube nicht, daß ein verständiger Beamter der Public Service Corporation von New Jersey den Wandel, der sich vollzog, heute noch ernsthaft be- dauert. Wir haben die Regierung des Staates befreit, und das Interessante daran ist die Tatsache, daß die allgemeine Wohlfahrt dabei auch nicht im geringsten gelitten hat. Mit unserem Programm der Freiheit stellen wir daher auch ein Programm des allgemeinen Vorteils auf. Fast jedes Monopol, das sich der Auflösung widersetzt, hat sich den wirklichen Interessen seiner eigenen Aktionäre wider- setzt. Ein Monopol hemmt stets die Entwicklung, drückt die Wohlfahrt und den Fortschritt nieder und stemmt sich gegen den natürlichen Fortschritt an. Man nehme als ein Beispiel nur eine so alltägliche Sache wie eine nützliche Erfindung und ihre praktische Anwendung im Dienste der Menschheit. Man weiß, wie fruchtbar der amerikanische Geist sich im Reiche der Erfindung erwiesen hat und was er zur Förderung des Fortschrittes der Zivilisation beige- tragen hat. Er schenkte uns das Dampfschiff und die Ent-

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körnungsmaschine zum Reinigen der Baumwolle, die Näh- maschine und die Mähmaschine, die Schreibmaschine und das elektrische Licht, das Telephon und den Phonogra- phen. Aber weiß man auch, daß heute Erfindungen keine Gastfreundschaft und keinen Willkomm mehr finden ? Es gibt keine Ermutigung mehr für jenen, der seinen Erfin- dungsgeist anspannt, um den Fernsprecher, den photo- graphischen Apparat oder irgendeine Maschine oder ein mechanisches Verfahren zu verbessern. Man wünscht es nicht, daß jemand ein schnelleres oder billigeres Verfahren zur Herstellung von Gegenständen erfinde oder vervoll- kommne ; man hat auch kein Verlangen nach der Erfin- dung besserer Dinge, die ältere ersetzen könnten. Denn in den alten Betrieben ist zuviel Geld angelegt ; zuviel Geld wurde ausgegeben, um den alten photographischen Ap- parat zu propagieren ; und die jetzigen Telephoneinrich- tungen kosten zuviel, als daß es wünschenswert erschiene, sie durch bessere zu ersetzen und zu entwerten. Wo immer wir dem Monopol begegnen, finden wir nicht nur keinen Drang zur Verbesserung, sondern eine ausgesprochene Ab- neigung gegen sie, denn Verbesserungen sind kostspielig, entwerten alte Maschinen und zerstören die Preise der al- ten Artikel. Der Instinkt der Monopole wendet sich gegen Neuerungen ; die Tendenz strebt unwillkürlich dahin, das im alten Verfahren hergestellte Alte im Konsum und im Kurse zu erhalten; die Monopole wollen, daß alles be- harre. Beharrungsvermögen hat sein Gutes, aber wenn alles seit 30 Jahren in gleichem Zustand erhalten worden wäre, würden wir heute noch bei Gasbeleuchtung mit der Hand schreiben, würden die unschätzbare Hilfe des Fern- sprechers entbehren (ich gebe zu, das Telephon ist manch- mal eine Plage), wir hätten keine Automobile und keine drahtlose Telegraphie. Ich persönlich würde allerdings auch ohne Kinematographen glücklich sein. Ich behaupte

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selbstverständlich nicht, daß durch das Wachstum der Trusts aller Erfindungsgeist brach gelegt worden ist ; aber es scheint mir auf der Hand zu liegen, daß der Erfin- dungsgeist auf vielen Gebieten entmutigt worden ist, daß man Erfinder daran verhinderte, die Früchte ihres Geistes und ihres Fleißes zu ernten und daß man die Menschheit sowohl um manche Annehmlichkeiten wie auch um die Gelegenheit gebracht hat, zu billigeren Preisen zu kaufen.

Der Dämpfer, der durch die Truste dem Erfindungsgeist Amerikas auferlegt wurde, macht sich auf die mannigfach- ste Art geltend. Das erste, was der Erfinder eines Ver- fahrens, das in die von einem Trust beherrschten Gebiete eingreift, erfahren muß, ist der Umstand, daß er kein Ka- pital zur Herstellung seines Produktes und kein Kapital zu dessen Verwertung findet. Wenn du Geld benötigst, um deine Fabrik zu bauen und dein Fabrikat anzukündigen, um Agenten anzustellen und ein Absatzgebiet zu schaffen : wo sollst du dieses Geld erhalten ? In dem Augenblick, da du Geld oder Kredit suchst, wird dir von den Banken fol- gender Vorschlag unterbreitet: ,, Diese Erfindung wird die bereits eingeführten Herstellungsverfahren stören, es greift in den Markt ein, den gewisse große Industrien beherrschen. Wir finanzieren bereits diese Industrien, ihre Aktien sind in unseren Händen: wir werden sie befragen."

Als das Ergebnis dieser Beratung wird man dir viel- leicht mitteilen, es sei wirklich schade, aber es wäre un- möglich, dich zu finanzieren. Vielleicht aber wirst du auch einen Vorschlag erhalten, auf Grund dessen dir wenn du mit dem Trust gewisse Abmachungen treffen willst die Fabrikation deines Produktes ermöglicht wird. Viel- leicht aber erhältst du ein bestimmtes Angebot : man ist be- reit, dir dein Patent abzukaufen. Aber dieses Angebot bie- tet dir nicht mehr als nur ein armseliges Schmerzensgeld. Und es kann geschehen, daß man selbst nach dem Ankauf

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deiner Erfindung nie wieder etwas von ihr vernimmt. Diese zuletzt genannte Art, mit einer Erfindung um- zugehen, ist, nebenbei bemerkt, ein besonders unbilliger Mißbrauch der Patentgesetze, die es nicht zulassen sollten, daß ein Eigentumsrecht an einer Erfindung anerkannt wird, wenn deren Verwirklichung niemals beabsichtigt ist. Zu den Reformen, die in Angriff zu nehmen sind, gehört auch eine Revision unserer Patentgesetze. Wenn der Trust es nicht wünscht, daß du deine Erfindung verwirklichst und deine Fabrikate fabrizierst, so wirst du auf die Aus- führung deiner Pläne Verzicht leisten müssen : es sei denn, du verfügtest über eigenes Kapital und seist gesonnen, es im Kampfe mit den gewaltigen Hilfsmitteln der Trusts zu riskieren. Ich könnte Fälle anführen, bei denen sich diese Vorgänge genau in der angeführten Weise abspielten. Durch den Zusammenschluß der großen Industrien wird für alle Fabrikate nicht nur ein Beharrungsvermögen auf dem Markte erzwungen, nur allzu oft wird auch die Verbesse- rung und die Güte der Fabrikate künstlich an einem ge- wissen Punkte festgehalten. Das Verhältnis der Produk- tionsfähigkeit zu den Produktionskosten wird in Amerika nicht mehr so berücksichtigt, wie es früher ergründet und berücksichtigt zu werden pflegte. Denn wenn man nicht gezwungen ist, seine Fabrikationsmethoden zu verbessern, um den Konkurrenten zu überbieten, so wird man was nur menschlich ist seine Fabrikationsmethode nicht verbessern. Wenn man den Konkurrenten daran verhin- dern kann, auf den Markt zu kommen, dann kann man es sich bequem machen und hinter der Mauer des Schutz- zolles, die die Tüchtigkeit aller Ausländer daran verhin- dert, dir Konkurrenz zu machen, gemächlich eine Gene- ration lang ausruhen.

Selbst jemand, der nur diese eine Seite betrachtet, die Haltung der Trusts den Erfindungen gegenüber sieht, kann

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nicht daran zweifeln, welche gewichtige und große Be- deutung, welch notwendige Wirkung es haben muß, wenn die Fähigkeiten und der Erfindungsgeist unseres Volkes wieder befreit werden, um die Werkzeuge und die Umstände unseres Daseins zu verbessern und zu vervollkommnen. Wer vermöchte zu sagen, wie viele Patente, die jetzt in ge- heimen Schubfächern brach liegen, ans Tageslicht kom- men werden und durch wieviel neue Erfindungen wir über- rascht und bereichert würden, wenn die Freiheit wieder- hergestellt sein wird.

Verlangt euch nicht nach der Zeit, da der Geist und die Triebkraft des Volkes aufgerufen werden wird, in den Dienst des Handels zu treten ? Nach der Zeit, da die Neu- ankömmlinge mit neuen Ideen und neuer Begeisterung willkommen geheißen werden sollen ? Eure Söhne werden hoffen dürfen, nicht nur Angestellte zu werden, sondern Leiter irgendeines vielleicht kleinen, aber aussichtsreichen Unternehmens, in dem ihre beste Tatkraft entflammt wird durch das Bewußtsein, daß sie ihre eigenen Herren sind und daß die Wege der Welt vor ihnen offen liegen. Wollt ihr es nicht, daß allen die Märkte geöffnet werden ? Daß ein angemessener Kredit jedem Manne offen stehe, der Charak- ter und ein ernstes Ziel hat und seinen Kredit sicher und vorteilhaft anwenden kann ? Soll das Geschäftsleben nicht von seiner unseligen Verbindung mit der Politik befreit wer- den ? Soll das Rohmaterial nicht der Alleinherrschaft der Monopole entzogen und sollen die Transporterleichterun- gen nicht für alle die gleichen werden ? Soll die große Straße geschäftlichen und industriellen Wirkens nicht jedem frei stehen, der sie betreten will ? Es gibt keinen, der die Herr- lichkeit einer solchen neuen Freiheit nicht fühlen würde.

Da ist z. B. die große Aufgabe der ,,Konservation", der Erhaltung unserer Güter und Hilfsquellen; und ich möchte diese Frage in keinem engen Sinne verstanden

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sehen. Forste sollen erhalten werden, große Wasserkräfte sind zu erhalten, es gibt Bergwerke, deren Schätze nicht als unerschöpflich betrachtet werden dürfen und deren Hilfsquellen für künftige Generationen bewahrt werden müssen. Aber es gibt noch viel mehr. Die Lebenskräfte und die Energie des Volkes sollen erhalten werden.

Die Bundesregierung hat es nicht gewagt, ihre An- schauungen zu revidieren. Nicht etwa mit Rücksicht auf gutgläubige Ansiedler und auf Männer, die über die recht- mäßige Entwicklung großer Landstrecken wachen, son- dern weil Männer, die danach strebten, die Alleinherrschaft über die großen Forsten, Minen und Wasserkräfte zu er- langen, neben der Regierung standen und ihre eigenen Pläne ihr zu diktieren versuchten. Und so wagte es die Regierung der Vereinigten Staaten nicht, ihre etwas star- ren Anschauungen zu ändern, denn sie fürchtete, daß jene Mächte stärker seien könnten als die Macht der ein- zelnen Gemeinwesen und die Macht des öffentlichen In- teresses. Was wir heute befürchten, ist die Gefahr, daß die jetzige Situation zu einer dauernden gestaltet wird. Wie kommt es, daß die Entwicklung Alaskas sich so langsam vollzieht ? Wie erklärt es sich, daß in den Häfen von Alaska große Berge von Kohlen aufgetürmt liegen, deren Verkauf die Regierung zu Washington nicht erlauben will? Das geschieht, weil die Regierung nicht sicher ist, daß sie all jenen vielverschlungenen Fäden des Intrigengewebes fol- gen kann, mit dessen Hilfe kleine Gruppen von Leuten es versuchten, die ausschließliche Herrschaft über die Kohlenfelder Alaskas zu erlangen. Die Regierung mißtraut selbst jenen Kräften, von denen sie umgeben ist.

Das Schlimme bei der Frage der Konservation ist, daß die Regierung der Vereinigten Staaten in dieser Richtung zurzeit überhaupt keine Politik verfolgt. Sie konstatiert nur. Sie steht einfach still. Reservation ist nicht Konser-

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vation. Wenn das Land die Ausnutzung gewisser Forste braucht und dann beschlossen wird, „wir werden in der Forstfrage nichts unternehmen", so ist das durchaus keine praktische PoUtik. Die Verfügung, daß das Volk der Ver- einigten Staaten keine Kohle aus den Kohlenfeldern Alas- kas kaufen darf, löst die Frage keineswegs. Wir werden diese Kohle früher oder später doch bekommen müssen. Wenn man sich vor den Guggenheims und all den anderen so fürchtet, daß man sich nicht entschließen kann, welchen Weg man bei der Ausnutzung dieser Kohlenfelder ein- schlagen soll, dann fragt es sich, wielange wir darauf war- ten sollen, daß die Regierung ihre Angst abstreift. Es kann kein Arbeitsprogramm geben, solange es keine freie Re- gierung gibt. Der Tag, an dem die Regierung unabhängig genug sein wird, im Gegensatz zu der nur negativen Po- litik der Reservation eine Politik der positiven Konserva- tion zu beschließen, dieser Tag wird für die Entwicklung unseres Landes ein Befreiungstag sein, dessen Bedeutung nicht hoch genug einzuschätzen ist.

Aber das Problem der Konservation ist viel umfassen- der als die Frage der Erhaltung unserer natürlichen Hilfs- quellen; denn wenn wir unsere natürlichen Hilfsquellen summieren, so erhalten wir eine große natürliche Hilfs- quelle, die allen anderen zugrunde liegt und ihnen so tief zugrunde zu liegen scheint, daß wir sie manchmal über- sehen. Was wäre der Wert unserer Forste ohne tatkräftige und intelligente Männer, die die Wälder auszunutzen wis- sen ? Wozu sollten wir unsere natürlichen Hilfsquellen er- halten, wenn wir sie nicht durch die Zauberkraft der Ar- beit zu irdischen Gütern umwandeln können? Und was verwandelt die Hilfsquellen zu Reichtum, wenn nicht die Gewandtheit und die Hand jener Männer, die Tag um Tag an ihre Arbeit gehen und die große Gemeinschaft des ame- rikanischen Volkes bilden ? Wichtig erscheint mir die Not-

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wendigkeit, daß die Regierung der Vereinigten Staaten sich mehr um die Menschenrechte als um die Eigentums- rechte kümmere. Besitz ist ein Werkzeug der Menschheit ; die Menschheit ist kein Werkzeug des Besitzes. Aber wenn man sieht, wie manche Menschen auf ihren großen Indu- strien thronen wie auf dem Wagen eines großen Götzen, der keinen Blick für die Massen der Menschen hat, die sich vor seinem Gefährte niederwerfen und verstümmelt wer- den, dann fragt man sich : wielange soll es Menschen noch erlaubt sein, an ihre Maschinen und Werkzeuge mehr als an ihre Menschen zu denken ? Habt ihr niemals dessen ge- dacht — Menschen sind billig und Maschinen sind teuer ; mancher Fabrikdirektor wurde entlassen, weil er eine kostbare und empfindliche Maschine überanstrengte, aber keiner würde entlassen werden, weil er einem überlasteten Menschen zu viel zumutete. Deine Menschen kannst du entlassen und durch andere ersetzen ; andere stehen bereit, um die Plätze der Vorgänger auszufüllen ; aber deine Ma- schine kannst du nicht ohne große Kosten ausrangieren und durch eine neue ersetzen. Darum seid Ihr weniger ge- neigt, eure Leute als die ausschlaggebende Grundlage eures ganzen Betriebes zu betrachten. Es wird Zeit, daß der Besitz im Vergleich mit der Menschheit die erste Stelle räume und die zweite einnehme. Wir müssen dafür sorgen, daß es keine Überfüllung gebe, keine schlechten gesund- heitlichen Einrichtungen, keine Ausbreitung vermeidbarer Krankheiten und keine Fälschung der Nahrungsmittel ; wir müssen darüber wachen, daß Vorsorge gegen Unfälle getroffen werde, daß Frauen nicht vor Arbeiten gestellt werden, die sie nicht leisten können, und daß Kinder nicht ihre Kräfte verausgaben, ehe sie nicht dazu reif sind, sie anzuwenden. Die Hoffnungsfreude und die Elastizität der Rassen sind zu erhalten ; Menschen aber müssen nach dem Maßstabe menschlicher Lebensbedürfnisse erhalten werden

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und nicht nur nach den Programmen der Industrie. Was nutzt uns eine Industrie, wenn wir durch ihre Erhal- tung zugrunde gehen ? Wenn wir bei dem Versuche, uns zu ernähren, sterben müssen wozu sollten wir essen? Ich sage euch, in unserer Nation hat jener große Puls- schlag des unwiderstehlichen gegenseitigen Mitempfindens eingesetzt und er wird die Formen unserer Regierung um- wandeln. Die Kraft Amerikas ist nur abhängig von der Gesundheit, der Hoffnungsfreude, der Elastizität und dem Frohmut des amerikanischen Volkes.

Wäre das nicht die erhebendste Vorstellung, die wir von der Freiheit haben können: die Vorstellung einer Gabe, die Männer und Frauen von allem befreit, was sie verhin- dert, ihr Bestes zu leisten und ihr Bestes zu wollen? Die Freiheit soll der Tatkraft aller den weitesten Spielraum ge- währen, soll ihren Ehrgeiz befreien, bis keine Grenze ihn mehr umschließt, und die Geister aller mit dem Jubel- gefühl einer Hoffnung erfüllen, die verwirklicht werden kann.

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Zwölftes Kapitel Die Befreiung der Lebenskräfte

Die Entdeckung von Amerika gibt unserer Phantasie jedesmal, wenn wir ihrer gedenken, neue Nahrung. Seit Jahrhunderten, eigentlich von Beginn der Weltgeschichte an, war das Antlitz Europas nach Osten gewandt. Alle Handelsgesetze liefen von Westen nach Osten, alle Kraft- entfaltung richtete sich ostwärts. Der Atlantische Ozean lag im Rücken der Welt. Dann wurde plötzlich durch die Eroberung Konstantinopels durch die Türken der Weg nach dem Orient verschlossen. Europa mußte sich ent- weder umwenden oder jeder Ausweg blieb ihm versperrt. Schließlich wagte man sich auf das unbekannte Meer im Westen und erfuhr, daß es zweimal so groß war, als man gedacht hatte. Kolumbus fand nicht, wie er erwartet hatte, eine Zivilisation wie die Chinas ; er fand einen leeren Kon- tinent. Auf dieser unentdeckten Hälfte der Erdkugel war der Menschheit spät im Verlaufe der Weltgeschichte die Gelegenheit geboten, eine neue Zivilisation zu schaffen ; hier wurde ihr das ungewöhnliche Vorrecht zuteil, ein neues geschichtliches Experiment anzustellen.

Diese einzigartige Gelegenheit, die so unerhört reiche Möglichkeiten in sich birgt, muß immer wieder die Ein- bildungskraft erregen. Eher könnten tausend Märchen er- sonnen werden, als daß die Einbildungskraft das eine zu begreifen wagte : daß sich die Hälfte der Erdkugel so lange verbirgt, bis die Zeit zu einem neuen Aufschwung der Zivilisation gekommen ist. Nichts als der Ehrgeiz eines

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Kapitäns, der einen neuen Handelsweg finden wollte, schuf der Menschheit Raum zu einem moralischen Erlebnis. Die Menschen sollten in diesem herrlichen Lande eine neue Aufgabe finden, hier, wohin, wie die alten Reisenden er- zählen, keiner kam, ohne den Duft der von Blumen und klaren Quellen erfüllten Wälder zu verspüren. Die neue Erde lag da in Erwartung des Lebens. Mochte dieses auch aus den alten Lebenszentren stammen, es war doch ge- reinigt von allen Schlacken und frei von Überdruß. Das Ganze erscheint uns wie eine märchenhafte Vision, wie ein einzigartiges Wunder, das nur einmal in der Geschichte stattfinden konnte.

Eines nur läßt sich damit vergleichen. Etwas gibt es, das unser Gefühl noch so packen kann, wie jenes Bild von den Schiffen des Kolumbus, die an leuchtender Küste da- hinziehen : das ist der Gedanke an den Auswanderer von heute, der mit einem Würgen in der Kehle im Zwi- schendeck steht und auf das Land blickt, das, wie man ihm gesagt hat, ein irdisches Paradies ist, ein irdisches Paradies, in dem er, ein freier Mann, die Kümmernisse des alten Lebens vergessen und die Erfüllung aller seiner Hoff- nungen finden wird. Denn hat nicht jedes Schiff, das seinen Bug westwärts lenkt, die Hoffnungen vieler Generationen der Bedrückten anderer Länder hierhergetragen ? Wie ha- ben die Herzen der Menschen immer höher geschlagen, wenn sie die Küste Amerikas sich vor ihren Blicken er- heben sahen! Wie haben sie immer geglaubt, daß die, die dort wohnen, frei seien von Herrschern, von bevorzugten Klassen und allen Schranken, die die Menschen bedrücken und hilflos machen ; daß man dort sein Ideal vom recht- schaffenen Menschtum verwirklichen könne, daß dort alle Menschen Brüder seien, die einander nicht hintergehen und betrügen, sondern nur danach streben, das Wohl der Allgemeinheit zu fördern. Was lesen wir in den Schriften

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der Männer, die Amerika gründeten ? Daß sie den selbsti- schen Interessen Amerikas dienen wollten? Sie wollten der Humanität dienen und den Menschen die Freiheit bringen. Sie pflanzten hier in Amerika ihr Banner auf, ein Prinzip der Hoffnung und ein Signal der Ermutigung für alle Nationen der Welt. Und die Leute kamen und drängten sich zu diesen Küsten, so hoffnungsfreudig und so voller Vertrauen wie nie zuvor. Sie fanden hier für ganze Generationen einen Hafen des Friedens und des Glückes. Gott gebe, daß wir in unseren heutigen, verwor- renen Verhältnissen uns zu den Heldentaten jener großen Zeit wieder aufschwingen.

Denn das Leben ist jetzt nicht mehr so einfach wie ehe- dem. Die Beziehungen der Menschen untereinander haben sich von Grund auf verändert durch die neuen schnellen Verkehrs- und Transportmittel, die zur Konzentrierung des Lebens, zur Erweiterung der Gemeinschaften, zur Ver- schmelzung der Interessen und zur Vervollkommnung aller Fortschritte dienen. Der einzelne wird in tausend neue Strudel des Lebens hineingerissen. Die Tyrannei ist raffinierter geworden und hat das Gewand des Fleißes, ja selbst der Güte zu tragen gelernt. Die Freiheit zeigt ein anderes Antlitz. Sie kann sich ein Gesetz der Ewigkeit nicht verändert haben, und doch zeigt sie neue Seiten. Vielleicht enthüllt sie nur ihre tiefere Bedeutung.

Was ist Freiheit? Das Bild, das mir vorschwebt, ist eine große mächtige Maschine ; setze ich die Teile so unbe- holfen und ungeschickt zusammen, daß, wenn ein Teil sich bewegen will, er durch die anderen gehemmt wird, dann verbiegt sich die ganze Maschine und steht still. Die Freiheit der einzelnen Teile würde in der besten Anpassung und Zusammensetzung aller bestehen. Wenn der große Kolben einer Maschine vollkommen frei laufen soll, so muß man ihn den andern Teilen der Maschine ganz genau

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anpassen. Dann ist er frei, nicht weil man ihn isoliert und für sich allein läßt, sondern weil man ihn sorgfältig und ge- schickt den übrigen Teilen des großen Gef üges eingefügt hat.

Was ist Freiheit ? Man sagt von einer Lokomotive, daß sie frei laufe. Was meint man damit ? Man will sagen, die einzelnen Bestandteile seien so zusammengesetzt und in- einander gepaßt, daß die Reibung auf ein Minimum be- schränkt wird. Man sagt von einem Schiff, das leicht die Wellen durchschneidet: wie frei läuft es, und meint da- mit, daß es der Stärke des Windes vollkommen angepaßt ist. Richte es gegen den Wind, und es wird halten und schwanken, alle Planken und der ganze Rumpf werden erzittern, und sofort ist es ,,gefesselt**. Es wird nur dann frei, wenn man es wieder abfallen läßt und die weise An- passung an die Gewalten, denen es gehorchen muß, wieder- hergestellt hat. Die Freiheit des Menschen besteht in dem richtigen Ineinandergreifen der menschlichen Interessen, des Handels und der Kräfte. Die notwendigen Beziehungen zwischen den Einzelnen, zwischen ihnen und den ganzen menschlichen Einrichtungen, unter denen sie leben, ferner zwischen diesen Einrichtungen und der Regierung sind heute viel komplizierter als je zuvor. Es mag ermüdend und umständlich sein, über diese Dinge zu reden, aber es ist doch wohl der Mühe wert, uns darüber klar zu werden, wodurch denn eigentlich die ganze jetzige Verwirrung ver- anlaßt ist. Das Leben ist komplizierter geworden, es setzt sich aus viel mehr Elementen und Teilen zusammen als früher. Und darum ist es schwieriger, alles in Ordnung zu halten und herauszufinden, woran es liegt, wenn die Ma- schine nicht mehr läuft.

Jefferson pflegte zu sagen : Die beste Regierung ist die, die am wenigsten regiert. Und in gewissem Sinne trifft das auch heute noch zu. Es ist auch heute noch unerträglich, wenn die Regierung unsern persönlichen Betätigungen in

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die Quere kommt, ausgenommen dort, wo es notwendig wird, daß sie sich mit ihnen befaßt : um sie frei zu machen. Aber ich bin überzeugt, daß Jefferson, wenn er heute lebte, sehen würde, was wir sehen : daß der einzelne in ein großes Netzwerk vielfach verschlungener Verhältnisse eingespon- nen ist. Ihn sich selbst überlassen hieße ihn hilflos allen Schwierigkeiten ausliefern, mit denen er zu kämpfen hat. Darum muß das Gesetz in unseren Tagen dem einzelnen zu Hilfe kommen. Es muß ihm beistehen, damit gerechtes Spiel walte. Das ist alles, aber das ist sehr viel. Ohne das wachsame und entschlossene Dazwischentreten der Re- gierung kann zwischen den einzelnen und solchen mäch- tigen Einrichtungen wie die Trusts kein ehrliches Spiel walten. Die Freiheit ist weit mehr als: sich selbst über- lassen sein. Das Programm einer freiheitlichen Regierung muß positiv und nicht nur negativ sein. Wahren wir die Freiheit in diesem Sinne und dieser Bedeutung hier in un- serem Lande, das für die ganze Welt ein Land der Hoff- nung ist? Haben wir, die Erben dieses Kontinents, die Ideale, denen unsere Vorfahren nachstrebten, hochgehal- ten und, wie es jede Generation tun sollte, aufs neue ver- wirklicht ? Kämpfen wir noch in dem Bewußtsein, daß der Mensch hier eine höhere Lebensstufe erreichen sollte als anderwärts, kämpfen wir für die Freiheit und die Hoff- nung aller ? Oder haben wir das entmutigende Gefühl, ein weites Feld brachliegen gelassen zu haben ?

Die Antwort lautet, daß wir einen Weg des Mißerfolges gingen eines tragischen Mißerfolges. Und wir stehen vor der Gefahr des völligen Versagens, wenn wir nicht mutig unsere Entschlüsse fassen und die neue Tyrannis so behandeln, wie sie es verdient. Man täusche sich nicht über die Macht des Großkapitalismus, der jetzt unsere Ent- wickelung beherrscht. Seine Macht ist so stark, daß es fast zweifelhaft erscheint, ob die Regierung der Vereinigten

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Staaten sie beherrschen kann oder nicht. Geht man nur einen Schritt weiter und läßt ihre organisierte Macht zu einer dauernden werden, so kann es zur Umkehr zu spät sein. An dem Punkte, an dem wir jetzt stehen, tren- nen sich die Wege. Sie führen zu weit auseinanderliegen- den Zielen. An dem Ende des einen Weges steht das un- erquickliche Schauspiel einer Regierung, die durch Sonder- interessen gebunden ist, am Ende des anderen leuchtet das Licht des persönlichen Handelns, der persönlichen Unab- hängigkeit und des ungehemmten Unternehmungsgeistes. Ich glaube, daß dieses Licht vom Himmel selbst hernieder- strahlt und von Gott geschaffen ist. Ich glaube an die menschliche Freiheit, wie ich an den köstlichen Trank des Daseins glaube. Mit dem leutseligen Gebahren der In- dustrieherrscher ist uns nicht gedient. Das Land der Freien braucht keine Vormundschaft. Eine Wohlfahrt, die vom Unternehmer gewährleistet wird, hat keine Aussicht auf Dauer. Das Monopol ist das Ende des Unternehmungs- geistes. Wenn das Monopol weiter besteht, wird es immer am Staatsruder sitzen, denn es ist nicht zu erwarten, daß das Monopol sich selbst beschränkt. Wenn es in Amerika Leute gibt, die stark genug sind, sich die Regierung der Vereinigten Staaten anzueignen, so werden sie es tun. Wir haben jetzt zu entscheiden, ob wir stark genug, Manns genug und frei genug sind, wieder von der Regierung Be- sitz zu ergreifen, die die unsrige ist. Seit einer halben Ge- neration haben wir keinen freien Zutritt zu ihr gehabt und unsere Ansichten haben ihr nicht als Richtschnur ge- dient. Und nun müssen wir die Regierung, die wir mit ei- gener Hand geschaffen haben und die nur durch unsere Vollmacht handelt, wiederherstellen.

Wenn wir die Frage des Zolltarifs und der Trusts er- örtern, so handelt es sich dabei um eine Lebensfrage für uns und unsere Kinder. Und ich glaube, daß ich im In-

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teresse mancher jener Männer, deren Gegner ich bin, rede, wenn ich für die freie Industrie in den Vereinigten Staaten eintrete. Denn es ist, als ob sie den Baum, der unsere schön sten Lebensfrüchte trägt, langsam einengten und abschlös- sen ; wenn er aber erst ganz abgeschlossen ist, rächt sich die Natur, und der Baum muß sterben.

Ich glaube nicht, daß Amerikas Größe gesichert ist, weil es heute bedeutende Männer hat. Amerika ist nur groß, wenn es mit Sicherheit darauf rechnen kann, auch in den nächsten Generationen große Männer zu haben. Es ist reich in seinen ungeborenen Kindern, reich, wenn diesen Kindern alle Möglichkeiten offen stehen, und wenn sie ihre Kräfte frei, wie sie wollen, betätigen können. Wenn sie ihre Augen in einem Lande, wo keine Sondervorrechte herrschen, öffnen, dann werden wir eine neue Ära ameri- kanischer Größe und amerikanischer Freiheit erleben. Aber wenn sie ihre Augen in einem Lande auftun, in dem sie nichts als Angestellte werden können, in einem Lande, in dem nur eine geregelte Monopolwirtschaft herrscht und in dem die ganzen Industrieverhältnisse durch kleine Gruppen von Männern bestimmt werden, dann werden sie ein Amerika erleben, an das die Gründer dieser Re- publik nur mit Trauer hätten denken können. Unsere ein- zige Hoffnung besteht in der Erlösung der Kräfte, die philanthropische Trustpräsidenten monopolisieren wollen. Nur die Emanzipierung, die Befreiung und Förderung der Lebenskräfte des ganzen Volkes kann uns erlösen. Bei allem, was ich für die öffentlichen Angelegenheiten in den Vereinigten Staaten tun kann, werde ich an Städte denken, wie ich sie in Indiana gesehen habe, Städte von altem, amerikanischem Schlage, die ihre eigene Industrie hoff- nungsreich und glücklich betreiben. Mein Streben wird auf die Vermehrung solcher Städte gerichtet sein und die Konzentration der Industrie zu verhindern suchen, deren

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Organisation es den kleinen Städten unmöglich macht, an ihr teilzunehmen. Wir wissen, worin die Lebensfähigkeit Amerikas besteht. Seine Lebenskräfte liegen weder in New York noch in Chicago, sie können nicht durch etwas untergraben werden, was sich in St. Louis ereignet. Ame- rikas Kraft liegt in dem Verstand, den Fähigkeiten und den Unternehmungen des Volkes im ganzen Lande, in der Lei- stungsfähigkeit seiner Fabriken, der Ergiebigkeit der Fel- der, die sich jenseits der Stadtgrenzen erstrecken, und in dem Reichtum, den Menschen der Natur abgewinnen oder durch jenen erfinderischen Geist erzeugen, der allen freien amerikanischen Gemeinwesen eigen ist. Aber wenn Ame- rika die lokale Unternehmung und die selbständige kleine Stadt zurückzuschrecken sucht, wird es die Nation zum Untergang führen. Eine Nation ist so reich, als sie freie Kommunen besitzt, nicht die Zahl ihrer Haupt- und Welt- städte bestimmt ihren Reichtum. Die Kapitalanhäufung in Wallstreet ist kein Gradmesser für den Besitz des amerika- nischen Volkes. Er kann nur in der Fruchtbarkeit amerika- nischen Geistes und der Produktivität amerikanischer In- dustrie, soweit sie sich über das ganze Land der Vereinig- ten Staaten erstrecken, gefunden werden. Wäre Amerika nicht reich und fruchtbar, so gäbe es auch kein Geld von Wallstreet. Wäre der Amerikaner nicht lebenskräftig und nicht fähig, für sich selbst zu sorgen, so würde der große Geldumsatz daniederliegen. Die Wohlfahrt, die eigentliche Existenz der Nation ruht im letzten Grunde auf den großen Massen des Volkes. Das nationale Gedeihen hängt von dem Geiste ab, in welchem das Volk in den zahlreichen, über das ganze Land verstreuten Gemeinwesen an seine Arbeit geht. Je nachdem die kleinen Städte und das Land Glück und Fortkommen versprechen, wird Amerika die ehrgeizigen Bestrebungen, die es in den Augen der ganzen Welt kennzeichnen, verwirklichen können.

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Das Wohlergehen, das Glück, die Tatkraft und die Zu- versicht der Männer und Frauen, welche Tag für Tag in unsern Minen und Fabriken, auf unsern Eisenbahnen, in den Kontoren und Handelshäfen, auf den Farmen und auf der See arbeiten, ist die notwendige Vorbedingung für das Gedeihen der Nation. Es kann keine Gesundheit geben, wenn jene nicht gesund, keine Zufriedenheit, wenn jene nicht zufrieden sind. Ihr physisches Wohlergehen beein- flußt die Gesundheit des ganzen Volkes. Wie stände es mit den Vereinigten Staaten und seinem Geschäftswesen, wenn das Volk jeden Tag unmutig und verdrießlich an seine Ar- beit ginge ? Wie würde es mit der Zukunft bestellt sein, wenn wir fühlten, daß die meisten Menschen alles Streben, alles Vertrauen auf den Erfolg, die Hoffnung auf die Verbesse- rung ihrer Lage aufgegeben hätten. Sobald das alte Selbst- vertrauen Amerikas und der altgerühmte Vorzug der per- sönlichen Freiheit und Erwerbsmöglichkeit uns genom- men ist, beginnt alle Tatkraft eines Volkes zu sinken, zu erschlaffen, locker und marklos zu werden, und die Men- schen sehen nur noch darauf, daß der nächste Tag nicht unglücklich für sie verlaufe.

Daher müssen wir dem Volke dadurch Mut machen, daß wir die Mutlosigkeit in Politik, Geschäft und Industrie beseitigen. Wir müssen Politik zu einer Angelegenheit machen, an der ein rechtschaffener Mann mit Befriedigung teilnehmen kann, weil er weiß, daß seine Meinung soviel gelten wird als die seines Nächsten, und weil die bosses und die Sonderinteressen entthront sind. Wir müssen die Hemmungen des Geschäftslebens aus dem Wege räumen und die Tarifbegünstigungen, die Eisenbahnmißbräuche, Kreditverweigerungen und alle ungerechten Bedingungen, die sich gegen den kleinen Mann richten, aufheben. In der Industrie müssen wir menschliche Bedingungen schaffen nicht durch die Trusts sondern auf dem direkten

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Wege des Gesetzes, welches Schutz gegen Gefahren, Ent- schädigung für Verletzungen, gesunde Arbeitsbedingungen, angemessene Arbeitszeit, das Recht zur Organisation und alle anderen Dinge gewährleistet, die das Gewissen des Landes als das Recht des Arbeiters fordert. Wir müssen unser Volk durch soziale Gerechtigkeit und gerechten Lohn mit dem Ausblick auf freie Arbeitsmöglichkeit für jedermann stärken und ermutigen. Wir müssen die Tat- kraft und das Streben unseres großen Volkes sich voll- kommen frei entfalten lassen, auf daß Amerikas Zukunft größer als seine Vergangenheit sei. Dann wird Amerikas Bestimmung sich erfüllen. Von Generation zu Generation fortschreitend wird Amerika erleben, daß die Nachkom- menschaft seiner Söhne größer und vorbildlicher dasteht. Dann wird Amerika sein Versprechen an die Menschheit einlösen.

Das ist die Idee, die einige von uns zu verwirklichen trachten. Wir Demokraten würden diese lange Zeit der Verbannung nicht ertragen haben, wenn wir uns nicht an dieser Idee aufgerichtet hätten. Wir hätten feilschen können, wir hätten an dem Geschäft teilnehmen können, wir hätten nachgeben und Bedingungen machen können, wir hätten die Gönnerrolle für solche Leute spielen können die die Interessen des Landes beherrschen wollten und einige Herren, die vorgaben, zu uns zu gehören, haben solche Versuche gemacht. Sie konnten die Entsagung nicht ertragen. Man kann sie nie ertragen, wenn man nicht in sich etwas von jenem unzerstörbaren Stoffe hat, dem der Lebensmut entstammt. Das ist Nahrung aus einer anderen Welt, in der die Früchte der Hoffnung und der Phantasie die Tafel schmücken, jene unsichtbaren Güter des Geistes, die allein imstande sind, uns in dieser dunklen Welt auf- rechtzuerhalten. Wir haben in unserem Herzen die bisher getrübten und verwischten Ideale jener Männer aufge-

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richtet, die zuerst ihren Fuß auf amerikanischen Boden setzten und in der Wildnis festen Halt zu gewinnen such- ten, weil große Nationen, denen sie den Rücken gekehrt, nicht mehr gewußt hatten, was menschliche Freiheit, Frei- heit des Gedankens und der Religion, Freiheit des Wollens und des Handelns ist.

Seit jenen Tagen hat sich der Freiheitsbegriff vertieft. Aber er hat nicht aufgehört, eine fundamendale Forderung des menschlichen Geistes und eine fundamentale Not- wendigkeit für das Leben der Seele zu bilden. Jetzt ist der Tag gekommen, an welchem die neue Freiheit auf diesem geweihten Boden verwirklicht werden soll, eine Freiheit, die dem erweiterten Leben im modernen Amerika ange- paßt ist. Sie gibt uns in Wahrheit die Herrschaft über un- sere Regierung zurück, sie öffnet dem berechtigten Unter- nehmungsgeist alle Pforten, sie befreit alle Energien und feuert die edlen Triebe des Herzens an. Die neue Freiheit ist das Lied der Erlösung und der Gleichheit, in ihm waltet der Atem des Lebens, der köstlich ist gleich jenen Lüften, die die Schiffe des Kolumbus vorwärtstrieben und die die stolze Verheißung einer Glücksmöglichkeit mit sich trugen, deren Erfüllung Amerikas Aufgabe ist.

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IM GLEICHEN VERLAGE ERSCHIEN:

NUE LITEEATUB

Betrachtungen eines Amerikaners

Von

Woodrow Wilson

Alleinberechtigte Übertragung von HANS WINAND

222 Seiten Gebunden M. 4. Broschiert M. 3.

AUS DEM INHALT:

Der Verlauf amerikanischer Geschichte / Der Schriftsteller / Vom Umgang des Schriftstellers / Ein literarischer Politiker /Der Interpret englischer Freiheit / Von den Aufgaben des Historikers usw.

JULIUS HART SCHREIBT IM „TAG":

Wenn man mit das Beste, Ernsteste, Tiefste lesen will, was in unserer Zeit über den Dichter, Schrift- steller und Kritiker gesagt worden ist so setze man sich getrost zu Füßen des augenblicklichen Präsidenten der Vereinigten Staaten, und wenn man Wilson sprechen hört, so empfindet die Seele seine Worte wie ein reinigendes und sehr stäh- lendes und stärkendes Bad der Freude. Hier wehen wieder Höhenlüfte . . .

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GEORG MÜLLER VERLAG MÜNCHEN

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Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig

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