. 5 - — = ze: — ea Fe 2 — = —— — 2 —.— 2 2 \ > — — . — = R * Hals Gert RER lm ZU. 8] e, Fr 7629. ee Al. cr Be an. 5 BIP x 3 Vermiſchtes. Schleiden +, uni ftarb der Kaiſerlich ruſſiſche Shaun, | t Math. Jak Be a a. M. Früher Dr. jur, und 8 dvokat in Hamburg wandte er ſich ſpäter mediziniſchen und botaniſchen S udien zu, wurde Prof. der Botanik in Jena, zog ſich ſpäter nach Dresden zurück und wurde 1864 nach Dorpat berufen, verließ aber 2 Stellung bald wieder und lebte nun in Dresden, dann in Darm⸗ 185 Wiesbaden, von wo er im vorigen Jahre nach Fraukfurt a Seine erſte Fre au war eine Tochter des Stabsarztes Dr. Miu Weimar. Schleiden hielt in Erfurt öfters Vorleſungen für Gebildete wurde wegen des Vortrags über Magie ſeiner Zeit von dem Prof. us Caſſel angegriffen. N enn man Schleidens Wert an den von ihm entdeckten Thatſachen 8 en wollte, jo würde man ihn kaum über dem Niveau der gemöhn- 1, beſſeren Botaniker finden: eine Reihe recht guter Monographien, reiche Berichtigungen alter Irrtümer und dergl würden ſich aufs Bar... en laſſen: die wichtigften von ihm aufgeftellten Theorien aber, um je viele Jahre hindurch eine lebhafte Polemik unter den Wan u wi unte, ſind jetzt längſt widerlegt. Seine Bedeutung liegt wo anders. Zuſtand der botaniſchen Litteratur vor 1840 war ein höchſt uner⸗ N cher. Es fehlte eine Juſammenfaſſung all deſſen was ſich von N. 5 wollen Kenntniſſen in der geſamten Botanik angeſammelt N m a eine EHE ſyſtematiſche Behandlung des Ganzen. Der alte 5 1 . ismus der Linnéſchen Schule herrſchte. Da fand ſich zur rechten Mm rechte Mann, der es verſtand, die träge Behaglichkeit aus i N N hlafe aufzurütteln, den Zeitgenoſſen allüberall zu zeigen, daß ſt weitergehen dürfe. Es war Schleiden. Nicht durch ch bg mas 3 1 leiſtete, jagt Julius Sachs in ſeiner klaſſiſ en hte der Botanik vom 16. Jahrhundert bis 1860,“ ſondern 5 8, mas er vom der Wiſſenſchaft forderte, durch das Ziel, 2. lte und in ſeiner Großartigkeit gegenüber dem kleinlichen Weſen Bor allein gelten ließ, erwarb er ſich ein großes 5 55 1 7755 eg wirklich Großes leiſten konnten und woll ſagen 115 ein wiſſenſchaftlich botaniſches Publikum N e wiſſenſchaftliches Verdienſt von dilettantenhafter zu unte rf Hue oe Ph ſchrieb auch an und 1 a 8 51 was er je geſchrieben hat, weht ö les fincfen. männtice en Geiſtes, eines ſtreitbaren Mannes, = hnt iſt, für Recht und te einzutreten und zu kämpfen. 2 Rt Die flauze undihr Leben. LIBRARY NEW VARK Populäre Vorträge ang UARDEN vo n M. J. Schleiden Dr. Profeſſor zu Jena. Zweite vermehrte Auflage. Mit 5 farbigen Tafeln und 15 Holzſchnitten. —— — Leipzig, Verlag von Wilhelm Engelmann. 1850. 3 2 4 . x — * * 21 Der Frau Erbgroßherzogin zu Sachſen-Weimar⸗Eiſenach, Wilhelmine Marie Sophie Louiſe gebornen Prinzeſſin der Niederlande, Königlichen Hoheit, in dankbarer Ergebenheit und ehrfurchtsvoller Unterthänigkeit zugeeignet vom Verfaſſer. ui, > 67 F EV, 8 I 3 rn ’ N i A 7 N 0 1 * * * * 4 * * zZ * 2 0 2 i @ 2 j & i 5 * 1 EN: a ie er 5 * z E w * abe 13 33 20 1 sn 117. aa, Am: Daun air Re E N * 17 * Pi Haar, ern Mann rd TE 7 N — 5 7 f 1 a a ey ee i Me) * e Seite hen öinleim + : nn isn ren 1 Erſte Vorleſung. dns er ae 6 ir Zweite Vorleſung. Ueber den innern Bau der Pflanzen 37 Dritte Dorlefung. Ueber die Fortpflanzung der Gewächſ )) 57 vierte Vorleſung. Die Morphologie der Pflanzen 77 Lünfte Dorlefung. Vom Wetter + * + * + + + + + + + + + * * * + + + 103 Sechſte Vorleſung. Das Waſſer und feine Bewegung « ggg „125 Siebente Vorleſung. Das Meer und feine Bewohnrrtr ee 153 Achte Vorleſung. Wovon lebt der Menſch? (Erſte Beantwortung e mw 185 Neunte Vorleſung. Wovon lebt der Menſch? (Zweite Beantwortung.) )))) 207 Zehnte Vorleſung. Ueber den Milchſaft der Pflanien » eee. 233 .® en * Inhalt. 8 2 nis Seite 3 Elſte Dorlefung. Beiträge zur Kenntniß der Cactuspflanze n 255 Zwölſte Dorlefung. Die Pflanzengeo graphie. 271 Dreizehnte Vorleſung. Geſchichte der Pflanzenwelt * + + + + + * * + + . . + * * 311 vierzehnte Vorleſung. Die Aeſthetik der Pflanzenwelllt .. 3247 © . - 71700 „ 17 1 ar si? ET 4 * ‘ * ® Vorwort und Einleitung. — — Das Büchlein hat ſich in kurzer Zeit ſo manchen Freund und, was unter Umſtänden oft noch mehr werth iſt, ſo manche Freundin er— worben, daß mein Verleger die Veranſtaltung einer neuen Ausgabe verlangt hat. Seinem Wunſche nachkommend habe ich ſo weit ich mußte und konnte im Einzelnen gebeſſert und noch zwei neue ſeit dem Erſcheinen des Buches entſtandene Vorleſungen hinzugefügt. Ueber Zweck und Inhalt des Ganzen kann ich faſt unverändert das Vorwort zur erſten Ausgabe reden laſſen. Die folgenden Vorleſungen ſind im Verlauf der letzten 10 Jahre nach und nach entſtanden, wie die Veranlaſſung dazu von einem Kreiſe geiſtreicher und gebildeter aber vom Schulſtaube freier Men— ſchen gegeben wurde, und fie waren durchaus nicht zur Veröffent⸗ lichung beſtimmt. In dieſem letzten Puncte habe ich freundſchaft— lichem Anſinnen nachgegeben und ſehe mich nun genöthigt noch einige Worte hinzuzufügen, um unrichtigem Urtheil und Mißver— ſtändniß vorzubeugen. 180 Die Vorleſungen ſind der Veranlaſſung zu ihrer Abfaſſung ge— N mäß durchaus nicht beſtimmt, den poſitiven Inhalt der Wiſſenſchaft zu lehren, neues Eigenthümliches zu bringen, oder Probleme der — Schleiden, Pflanze. 1 2 ** _ * 2 - Vorwort und Einleitung. * Forſchung zu löſen. Es kann ſogar ſein, daß hie und da eine ein— u zelne Nebenſache factiſch nicht ganz richtig iſt, obwohl ich mir Mühe gab dergleichen zu vermeiden, und dabei kann dieſer Mangel den Zwecken, die ich bei der Ausarbeitung dieſer kleinen Abhandlungen mir vorſetzte, durchaus nicht in den Weg treten. Mein Hauptwunſch war eigentlich die Befriedigung einer Standeseitelkeit. Ein großer Theil der Laien ſelbſt unter den Gebildeten, iſt noch von früher dar— an gewöhnt, den Botaniker für einen Krämer in barbariſch-lateini⸗ ſchen Namen anzuſehen, für einen Mann, der Blumen pflückt, ſie benennt, trocknet und in Papier wickelt, und deſſen ganze Weisheit in Beſtimmung und Claſſtfication dieſes künſtlich geſammelten Heu's aufgeht. Leider iſt dieſes Bild des Botanikers einmal wahr gewe— ſen, aber es ſchmerzte mich zu ſehen, daß es jetzt, wo es auf den größten Theil der Pflanzenforſcher nicht mehr paßt, noch von gar vielen feſtgehalten wird und ich verſuchte in den vorliegenden Vor— trägen, die wichtigeren Probleme der eigentlichen Wiſſenſchaft der Botanik dem allgemeinen Verſtändniß nahe zu legen, zu zeigen wie die Botanik faſt mit allen tiefſten Disciplinen der Philoſophie und Naturlehre aufs Engſte zuſammenhängt und wie faſt jede Thatſache oder größere Gruppe von Thatſachen geeignet iſt, ſo gut in der Bo— tanik wie in jedem andern Zweige der menſchlichen Thätigkeit die ernſteſten und wichtigſten Fragen anzuregen und den Menſchen vom Sinnlichgegebenen auf das geahnte Ueberſinnliche hinzuführen. Wenn es mir gelungen iſt, das zu erreichen, daß fernerhin der Leſer dieſer Skizzen von der Botanik und dem Botaniker eine wür— digere Anſicht faſſe, daß er einen richtigern Begriff von dem Umfang und den Aufgaben unſerer Wiſſenſchaft ſich bilde, ſo bin ich zufrie— den. Sollte in weiterem Kreiſe durch dieſe Studien ein Intereſſe für die Botanik ſelbſt angeregt werden, ſollte der eine oder andere Leſer durch meine Worte zu dem Wunſche verleitet werden, weiter in Vorwort und Einleitung. 5 dieſe ſo freundlichen und ſo tiefen Lehren eindringen zu * — ſind meine Wünſche e übertroffen. Noch ein paar Worte über die Art der Behandlung mögen ei Platz finden. Ich habe mich meiner Ueberzeugung getreu von allem Schel— lingiſch-naturphiloſophiſchem Geſchwätz, von allen Phantaſtereien frei gehalten und ich bin der feſten Ueberzeugung, daß die Wiſſen— ſchaft dieſes Narrenputzes nicht bedarf, um intereſſant, geiſtreich auch dem Laien zu erſcheinen. Humboldt in ſeinen Anſichten der Natur, Dove in ſeiner meiſterhaften Vorleſung über das Klima von Berlin haben uns den Beweiß gegeben, daß die Wiſſenſchaft auch ohne die Schminke jener bewußten oder unbewußten Lüge, welche Dichtung dem Gedanken, Phantaſie dem Wiſſen, Traum der Wahrheit unter— ſchieben möchte, anziehend, ja ſelbſt liebenswürdig und hinreißend erſcheinen kann. Ich habe mich wenigſtens bemüht den vorliegenden Abhandlungen ſoweit Schmuck zu verleihen, als meine mangelhafte äſthetiſche Ausbildung mir auszutheilen verſtattet. Daß es mir dabei nicht einfällt mit jenen Meiſtern der Sprache in die Schranken treten zu wollen, bedarf keiner Erinnerung. Ich glaube aber, wenn die Männer der Wiſſenſchaft mehr den Verſuch machten, die Wahrheit in ſchönem Gewande in die Geſellſchaft einzuführen, dieſes jenem unerträglichen, geheimnißvoll und tiefthuenden Geſchwätz ohne Kern ſicherer den Weg abſchneiden würde, als alle gründliche Polemik da— gegen. Der Deutſche hat ein zu geſundes Urtheil, einen zu gediege— nen Geſchmack, um nicht ohne viel Bedenken das Aechte und Ge— haltvolle dem leeren Stroh vorzuziehen, wenn nur beides in gleich genießbarer Form ſich darſtellt. Den Inhalt der einzelnen Vorleſungen anlangend, ſo iſt zwar, wie es die Veranlaſſung mit ſich brachte, jede für ſich abgeſchloſſen und von den andern unabhängig, gleichwohl läuft durch alle eine Art von Faden durch, der ſie innerlich ann, Es ſei mir 2 9 5 — 4 Vorwort und Einleitung. vergönnt, dieſen hier noch etwas auffälliger zu machen, indem ich ihn im Einzelnen aufweiſe. Pr > Die ganze Pflanzenwelt, wenn man nur in ihr etwas Anderes ſehen will als Material fürs Herbarium, bietet ſo mannigfaltige Be— rührungspuncte dem Menſchen dar, daß derjenige, welcher ſich dem Studium derſelben hingiebt, bei weitem eher von den ſich andrängen— den intereſſanten Fragen und Aufgaben erdrückt wird, als über Mangel an Stoff zu klagen hätte. Man kann füglich die ſämmtlichen Betrach— tungen unter vier Geſichtspuncte ordnen: erſtens, wie verhält ſich die Pflanze für ſich als Aufgabe wiſſenſchaftlicher Forſchung, zweitens, in welchen Beziehungen ſtehen die einzelnen Pflanzen zu einander, drittens, in welchem Verhältniß ſtehen die Pflanzen als Organismen zum Organismus der ganzen Erde und viertens, wie verhält ſich der Menſch zur Pflanzenwelt. Da aber in jedem Zeitmoment die Pflanze jede dieſer vier Beziehungen erfüllt, ſo iſt es unendlich ſchwer, wo nicht unmöglich, jene Geſichtspuncte rein und unvermiſcht feſtzuhalten und wenn wir an eins jener Verhältniſſe herantreten und es einer ge— nauern Erforſchung unterwerfen wollen, ſo werden wir immer un⸗ willkührlich gezwungen ſein, bald mehr bald weniger auch die andern zu berückſichtigen und in den Kreis unſerer Unterſuchung zu ziehen. Leitet man nun aus jenen Aufgaben etwa nach ihrer Reihefolge fol— gende Disciplinen ab: theoretiſche oder reine Botanik, Syſtematik der Pflanzen, Pflanzengeographie und angewandte Botanik, ſo läßt ſich doch keine derſelben nach ihrem Hauptgeſichtspunct allein behan— deln, wenn ſie überhaupt auf Wiſſenſchaftlichkeit und Gründlichkeit Anſpruch machen ſoll; noch weniger aber iſt es möglich die ſtrenge Durchführung jener vier Theile da feſtzuhalten, wo es nicht auf trockene Wiſſenſchaftlichkeit, ſondern auf lebendigere Anſchaulich— machung der wichtigern Puncte ankommt. Die ſolgenden Abhand— lungen können ſich daher nur ſehr ungefähr der Eintheilung in jene Pr 8 * Vorwort und Einleitung. 3 vier Hauptverhältniſſe anbequemen und eine freiere Behandlung wird durch den Reichthum des Stoffes geboten, der uns ſtets verführt, vom Wege abzuweichen, um hier und da eine farbig leuchtende oder ſüß duftende Blume zu pflücken — oder die Geſellſchaft, die uns auf unſerer Wanderung durch das Gebiet der Wiſſenſchaft begleitet, be— ſtimmt uns häufig, die gerade aber ſtaubige und ermüdende Land— ſtraße zu verlaſſen, um hier einen ſich durch Wieſen ſchlängelnden Pfad, dort einen ſchattigen Waldſteig zu verfolgen. Wir wollen ſehen, wie wir geführt werden. Die Pflanze iſt nicht wie ein Kryſtall oder wie eine reine Flüſ— ſigkeit ein durch und durch gleichartiger Körper, bei dem die Kennt— niß Eines Stoffes, aus dem er beſteht, und der ihn begrenzenden Form zu ſeiner Ergründung genügte, ſie iſt vielmehr aus vielen Flei- nen, ſelbſt ſehr künſtlich gebauten und mannigfache Stoffe enthalten— den Zellen zuſammengeſetzt, und eine möglichſt ergründende Unter⸗ ſuchung dieſes inneren Baues muß allen übrigen Betrachtungen vor— angehen. (II.) Aber die kleinen Körperchen, die ich ſo eben als Zel— en bezeichnete, ſind größtentheils ſo klein, daß das unbewaffnete Auge zu ihrer Erforſchung bei weitem nicht hinreicht. Das Mi— kroſkop iſt das nothwendige Inſtrument, ohne welches der Botaniker keinen geſicherten Schritt in der Wiſſenſchaft vorwärts thun kann. Es giebt nun freilich Viele, welche in dem Irrthum befangen ſind, es bedürfe zu mikroſkopiſchen Unterſuchungen nur eines Auges und eines Inſtrumentes und alles ſei abgethan. Aber nicht allein, daß der Gebrauch des Mikroſkopes eine ſchwere, erſt zu erlernende Kunſt iſt, ſelbſt das wiſſenſchaftliche Sehen mit unbewaffnetem Auge hat ſeine Schwierigkeiten, die von Manchem verkannt werden, und es iſt daher vor Allem nöthig, wenigſtens die Geſichtspunkte aufzuwei— fen, aus denen der Gebrauch des Auges und des Mikroſkops zu be— urtheilen iſt. (J.) | 6 Vorwort und Einleitung. Gehen wir nun einen Schritt weiter, ſo wirft ſich uns als nächſte Frage auf, was hält denn jene vielen kleinen Organismen, die Zellen in der Pflanze, zu einem Individuum zuſammen und wir werden an die Betrachtung der Geſtalten gewieſen, zu denen ſich die Zellen aufbauen. Die Morphologie oder Geſtaltlehre (IV.) macht ihre eignen Anſprüche an unſere Erkenntnißthätigkeit. Aber hier fin— den wir, daß wir es ſelten mit einfachen Pflanzen zu thun haben, daß vielmehr die meiſten Gewächſe, ähnlich einem Polypenſtock, ei⸗ ner Corallencolonie, aus zahlreich mit einander verwachſenen und lebendig verbundenen Individuen beſtehen, welche Producte der Fortpflanzungsthätigkeit der Pflanze ſind und ehe wir an die Mor— phologie hinantreten, erſcheint es uns zweckmäßig erſt die Fortpflan⸗ zung der Gewächſe etwas weiter zu verfolgen. (III.) So haben wir die Pflanze in ihrem innern, ihrem äußern Bau erkannt, wir haben geſehen, wie ſich eine nie ermüdende Kraft der Bildung gefällt, immer aufs Neue in unerſchöpflichem Reichthum Pflanzen hervorzurufen und zu ſorgen, daß der reiche bunte Teppich in welchen die Natur die arme nackte Erde gehüllt, keine table Stellen bekomme. Die Pflanze bedarf aber zur Bildung ihrer Ge— ſtalt und Organe, zur Hervorrufung und Zeugung zahlreicher Ab— kömmlinge des Stoffes. Sie ſoll entſtehen, ſich erhalten, ſich ver— mehren und dadurch werden wir auf die Ernährung der Pflanzen b hingewieſen. Hier iſt es beſonders, wo wir ſchon nicht mehr umhin können, die Pflanze im Verhältniß zu ihrer Trägerin, der Erde, und zu ihrem Vernichter, dem Menſchen, zu betrachten. Die ganze Thier⸗ welt und vor allen der Menſch macht ſeine Anſprüche an die Pflan— zenwelt geltend, ſie ſoll Nahrungsſtoffe liefern für zahlloſe Bedürf— tige; indem ſie ſich ernährt und wächſt verlangt ihre Beſtimmung im x Erdenleben, daß der Stoff, den fie zu ihrer Bildung verwendet, zus gleich ein Nähr- oder Nutzſtoff für andere Organismen an der Erde Vorwort und Einleitung. 7 ſei. Von zwei Seiten aber können wir dieſe Ernährung der Pflan⸗ zen betrachten, denn, um es kurz anzudeuten, wenn wir eine Pflanze verbrennen, ſo wird nur ein Theil derſelben durchs Feuer vernichtet und wir nennen dieſen verbrennlichen Theil den organifchen Stoff der Pflanze, er vor Allem nimmt unſer Intereſſe in Anſpruch (VIII.), weil er die Hauptnahrungsſtoffe für die Thierwelt umfaßt. Je— doch bleibt ſtets ein größerer oder geringerer Theil der Pflanze un— verbrannt als Aſche zurück und auch dieſer, den wir als unorgani— ſchen Stoff bezeichnen, fordert uns zum Nachdenken auf (IX.), um fo mehr, da wir bald finden, daß dieſe Aſche, jo unwahrſcheinlich es auch anfänglich uns vorkommen mag, doch ſelbſt bei der Ernäh— rung der Thiere und des Menſchen eine nicht unweſentliche Rolle ſpielt. Wir werden in beiden Betrachtungen daran erinnert, daß der Menſch, wo ihn die fortgeſchrittene Civiliſation enger auf kleine Areale zuſammengedrängt hat, ſich nicht mehr damit begnügt und begnügen kann, was die Mutter Erde freiwillig hervorbringt und ihm als Nahrung anbietet, daß vielmehr der Ackerbau ihm die Mit— tel verſchaffen ſoll, die geſteigerten Bedürfniſſe zu befriedigen. Doch der Menſch pflügt nur das Feld und ſtreut den Saamen aus, Ge— deihen und Segen aber erwartet er gläubig von Oben. Bei weitem mehr, als man gewöhnlich glaubt, hängt die ganze Vegetation aufs Engſte mit den Erſcheinungen zuſammen, welche in Sonnenſchein und Kälte, in Dürre oder Regen, in Sturm oder dem linden Hauche des Südweſtes, das zuſammenſetzen, was wir Wetter und Klima nennen. Wir ſtellen daher den Unterſuchungen über die Ernährung der Pflan— zen billig eine Betrachtung des Wetters voran. (V.) Unter den vier Elementen der Alten, dem Waſſer, Feuer, der Luft und der Erde, aus deren Kampf ſich das Wetter bildet, iſt keins ſo wichtig, im Allgemeinen ſowohl als in beſonderer Beziehung zur Pflanzenwelt, wie das Waſſer. Dieſes Element hat daher Veranlaſ— 3 3 Vorwort und Einleitung. ſung zu einer doppelten Abſchweifung gegeben. Zunächſt habe ich das Waſſer ſelbſt in ſeinen Verhältniſſen an der Erde und zumal in feinen Bewegungen darzuftellen verſucht (VI.) und dann habe ich insbeſondere das Meer als die Geburtsſtätte des Lebendigen bezüg— lich ſeiner eigenthümlichen Pflanzen- und Thierwelt, in einem bei dem Reichthum des Stoffes freilich nur flüchtig ſkizzirtem Bilde mei— nen Leſern vorgeführt. (VII.) Wenn auch die wichtigſte Grundlage für das Beſtehen der Thierwelt von der Erde darin gegeben iſt, daß die Pflanze den Nah— rungsſtoff bereitet, fo iſt doch zumal der Menſch durch feinen Kunſt⸗ fleiß berechtigt und befähigt eine ungleich umfaſſendere Anwendung von der Pflanze und den in ihr enthaltenen Stoffen zu machen. So eröffnet ſich uns ein neues Gebiet aber faſt ein unbegrenztes. Soll ich die Gewerbe ſämmtlich aufzählen, die ihr zu verarbeitendes Ma— terial dem Pflanzenreich entnehmen? Jeder mag nur in feinem Zim— mer, in ſeinem Haushalt um ſich blicken, um alsbald zu gewahren, wie zahlreicher Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten des Lebens er entbehren müßte, wenn die Pflanzenwelt aufhörte ihm ihren Tribut zu entrichten. Sollen wir noch dazu die vielen Fächer und Büch— ſen der Officinen öffnen und ſehen, welch' einen großen Schatz von Mitteln auch hier die irdiſche Vegetation beiſteuert? Ein vollſtändi— ger Ueberblick gäbe nur ein trocknes Namenregiſter, eine ausführliche Betrachtung Aller ein bändereiches Werk für ſich. Wir laſſen uns da- her hier an einem Beiſpiele genügen, indem wir den Milchſaft der Pflanzen einmal näher in's Auge faſſen. (X.) 8 Nicht an eine, nicht an wenige unter ſich verwandte Pflanzen iſt die Bildung des Milchſaftes geknüpft, ſondern wir finden wenig— ſtens drei größere Gruppen, welche vorzugsweiſe uns mit dieſem in— tereſſanten Stoffe verſorgen. Die Zahl der einzelnen Arten von * Pflanzen iſt nämlich ſo groß (vielleicht nach Schätzung einiger Ge⸗ Vorwort und Einleitung. 9 lehrten 200,000), daß man zur Ueberblickung dieſer Maſſe wiſſen— ſchaftliche Hülfsmittel, nämlich ſyſtematiſche Anordnung der einzel— nen Gattungen nöthig hat. Zum Glück kommt uns die Natur auf halbem Wege entgegen. In der ganzen äußeren Erſcheinungsweiſe, in der Zahl, der Anordnung und dem Bau der einzelnen Theile, in den Geſetzen, nach denen die Entwicklung vor ſich geht, zeigen näm— lich größere Gruppen von Pflanzenarten eine große Uebereinſtim— mung in ſich und unterſcheiden ſich eben dadurch von anderen Grup— pen. Wer kann aufmerkſam zur Zeit der Blüthe eine Mohrrüben— pflanze, den Schierling, die Peterſilie, den Kerbel, Anis, Till und andere anſchauen, ohne von der merkwürdigen Uebereinſtimmung im ganzen Bau dieſer Pflanzen überraſcht zu werden; wem würde nicht auf ähnliche Weiſe die innere Beziehung klar, welche zwiſchen den Kohlarten, dem Senf, dem Meerrettig, dem Radies, der Rübe und dergleichen Pflanzen mehr ſtattfindet? Wem ſollte bei genauerer In: terſuchung entgehen, daß eine große Menge von Pflanzen, die ſich durch ein kräftiges Aroma auszeichnen, die Meliſſe, Münze, der Salbei, Thymian, Majoran, Lavendel u. ſ. w., auch eine wun— derbare Uebereinſtimmung in ihrem ganzen Bau erkennen laſſen. So deutet uns die Natur ſelbſt den Weg an, den wir zu gehen ha— ben; dieſe Spur verfolgend haben die Botaniker nach und nach eine große Anzahl ſolcher Pflanzengruppen erkannt und characteriſirt, die von ihnen Familien genannt werden. Daß auch hier wie im vo— rigen Fall eine Vollſtändigkeit nicht dieſes Orts iſt, bedarf wohl kei— ner Erwähnung, aber beiſpielsweiſe eine Familie vorzuführen und genauer zu characteriſiren, haben wir uns nicht verſagen mögen. (II.) Bei der gewählten Gruppe, der der Cactuspflanzen, muß un— ter manchem Andern die merkwürdige Vertheilung derſelben auf ei— nem verhältnißmäßig kleinen Stück der Erdoberfläche unſere Auf— merkſamkeit auf ſich ziehen und dies führt uns ſehr natürlich zu der . 10 Vorwort und Einleitung. Frage, wie denn überhaupt ſich die einzelnen Pflanzenarten, in größeren und kleineren Gruppen auf der Erde ausbreiten, ob dieſe Vertheilung vom Zufall abhängig oder an Geſetze gebunden ſei und an welche? — Wohlan! folgen wir Humboldts Tritten und einem ſolchen Führer uns überlaſſend, treten wir in ein neues, weit ausge— dehntes, uns von ihm zuerſt entdecktes Gebiet, in die Pflanzengeo— graphie ein. (XII.) Eine Wiſſenſchaft eigner Art, noch jung und mit allen Fehler der Jugend behaftet, überſprudelnd in Lebensfülle, eines ſchönen und kräftigen Mannesalters gewiß, aber noch ungeordnet und unklar, viel noch Unverſtandenes ſammelnd für reifere Jahre und jetzt noch mehr träumend als denkend. Ein kurzer Schatten— riß dieſer anziehenden Erſcheinung kann nicht ohne Intereſſe bleiben. Noch eine jüngere Schweſter aber führt jener Jüngling an der Hand, zwar noch im zarten Kindesalter aber doch eine hoffnungsvolle Knoſpe. Laßt uns freundlich ihren kindlichen Plaudereien, den ah— nungsvollen Anklängen zukünftiger harmoniſcher Schönheit lauſchen, wenn ſie uns auch nicht ſehr belehrt, ſo wird ſie uns doch ein Stünd— chen angenehm vertändeln helfen. Warum ſollten wir denn ihr, der Pflanzengeſchichte nicht ein kleines Plätzchen gönnen. (XIII.) Und dürfen wir uns hier überhaupt den Kindern entziehen? Sind denn die Kinder nicht Blumen, die Blumen nicht Kinder, — eine bewußtloſe Entwicklung, ein friedliches, freundliches, aber noch träumeriſches Daſein — wie nah muß dieſer Vergleich liegen, der ſo oft ſchon von Dichtern ausgeſprochen iſt: Holde Blumen ſchauen uns Mit ihren Kinderaugen freundlich an. Es beruht auf der ähnlichen Stimmung, welche durch das An— ſchauen von Kindern und Blumen in unſerer Seele hervorgerufen wird. Nun aber wird jeder gewiß ſogleich zugeben, daß dieſe Aehn— lichkeit ſich nur auf gewiſſe Blumen einſchränkt. Niemand wird das— > Vorwort und Einleitung. 11 ſelbe von der weißen Lilie „von der krötenfarbenen Stapelie, von der zauberhaften Königin der Nacht behaupten. Noch weniger gilt Aehn— liches vom ganzen Pflanzenreich. Auf den ſinnigen Menſchen macht vielmehr dieſes einen äußerſt verſchiedenen Eindruck nach ſeinen man— nigfachen Erſcheinungsweiſen, aber immer einen ſo unabweislichen, daß kaum der roheſte Menſch ſich überall demſelben entziehen kann. Wie die ganze Natur, ſo iſt auch die Pflanzenwelt uns eine Hieroglyphe des Ewigen; in den irdiſchen Geſtaltungen ſuchen und finden wir Deutungen auf ein überirdiſches Daſein. Wohl ließe ſich dafür eine eigne Disciplin denken, die Aeſthetik der Pflanzen (XIV.), in welcher dieſe nach ihrem Verhältniß zum menſchlichen Geiſte betrachtet wer— den. Aber leider beſitzen wir dieſe Lehre noch gar nicht, einige An— deutungen und Bruchſtücke müſſen ihre Stelle vertreten. Dies mag genügen, um das Band aufzuweiſen, welches den Inhalt der einzelnen Vorleſungen zu einem gewiſſen Ganzen ver— knüpft; es wird aber noch Einiges über das Gewand nachzutragen nöthig ſein, in welchem dieſe Vorleſungen vor dem Publicum er— ſcheinen. „Kleider machen Leute“, ſagt man, weshalb ſollten Klei— der denn nicht auch Vorleſungen machen können. Dies iſt in der That nur zum Theil Scherz, in gewiſſer Weiſe aber bitterer Ernſt. Die Aufſätze, welche hier vorliegen, wurden nicht für das leſende, abweſende Publicum, ſondern für das hörende und ſehende, gegen— wärtige aufgeſchrieben. Dem Gegenwärtigen konnte alles durch au— genblickliche Vorführung in der Natur, durch Demonſtration unterm Mikroſkop und durch Vorlegung zahlreicherer Abbildungen lebendig und anziehend gemacht werden. Dieſe Einkleidung gerade mag den Vorträgen in den Augen wohlwollender Freunde ein Intereſſe gege— ben haben, welches ſie hinriß, mich zur Herausgabe dieſer Aufſätze anzuregen. Dieſer Reiz, den eine ſolche Unterhaltung hat, in welcher man alle Thatſachen ſelbſt ſieht, und indem man gleichzeitig dem 12 Vorwort und Einleitung. Vortrag folgt, die Sätze der Wiſſenſchaft ſelbſt aus den Beobachtun⸗ gen abgeleitet zu haben meint, dieſer Reiz fällt bei der Leſung eines ſolchen Vortrags nothwendig weg, mit der Einkleidung geht auch der Werth der Sache ſelbſt ganz oder theilweiſe verloren, und der Verfaſſer muß fürchten, beſonders da, wo es auf Formenverhältniſſe ankommt, bei denen die beſte Beſchreibung die Anſchauung nie er— ſetzen kann, den Leſer zu langweilen, wo er das Intereſſe des Hoͤ— renden und Schauenden leicht lebendig zu halten wußte. Dieſem Mangel abzuhelfen, war es nöthig durch bildliche Dar⸗ ſtellungen dem Leſer wenigſtens einigermaaßen zu Hülfe zu kommen. Da aber kein koſtbares Kupferwerk, welches den vorgeſetzten Zweck nothwendig verfehlt hätte, beabſichtigt war, ſo mußte ich mich mehr darauf beſchränken, durch Skizzen der Phantaſie des Leſers zu Hülfe zu kommen und ſeine geiſtige Anſchauungskraft anzuregen. So ent— ſtanden die zur Erläuterung dieſer Vorleſungen beſtimmten Bilder, über welche ich nur wenige Worte zu ſagen habe. Sie beziehen ſich jedesmal auf den Inhalt derjenigen Vorleſung, welcher ſie beigege— ben ſind und finden zum größten Theil in derſelben ihre ausführliche Erläuterung. Die Titelvignetten ſind auf der Rückſeite des Titels ſelbſt durch einige Anmerkungen erklärt, bei einigen iſt Erlaͤuterung überflüſſig. So möge denn das Gewand bunt genug fein, um manche Fehler und Schwächen der Sache ſelbſt zu verdecken oder doch minder fühlbar zu machen, kurz möchten dieſe in der That anſpruchs— loſen Betrachtungen wie beim erſten Erſcheinen ſo auch fernerhin nachſichtige und freundliche Leſer finden. Erste Vorlesung. Das Auge und das Mifroffop. Oculus ad vitam nihil facit, ad vitam beatam nihil magis. Seneca. Kein Organ iſt ſo unwichtig für das Leben als das Auge, Keins fo wichtig für die Schönheit des Lebens. Die Vignette giebt einen idealen Durchſchnitt durch die kleine Camera ob— ſeura, welche wir Augapfel nennen. Der Pfeil und die punctirten Linien dienen dazu um zu verſinnlichen, auf welche Weiſe das Bild auf der Netzhaut (der auffan⸗ genden Fläche des Apparats) hervorgebracht wird. Der als Motto dieſem Vortrag vorangeſchickte Ausſpruch eines äl— teren Weiſen mag vielleicht nicht ganz unbeſtritten daſtehen; wenig— ſtens zeigt uns eine ziemlich allgemeine Erfahrung, daß alle voll— kommen Tauben mißmuthig, trübe, hypochondriſch, alle Blinde dagegen heiter und fröhlich ſind; das Auge führt uns nur in die Körperwelt ein, das Ohr aber in unſere eigentliche Heimath, in die Gemeinſchaft geiſtiger Weſen. Nichts deſto weniger läßt ſich nicht leugnen, daß unter allen Sinnen keiner iſt, dem wir theils wirklich ſo viel Elemente unſerer Kenntniß der uns umgebenden Welt verdanken, theils ſo viel von dem, was wir wiſſen, wenn auch mit Unrecht, zuſchreiben, als der Sinn des Geſichts. Insbeſondere aber iſt er es, der unſer ganzes Wiſſen um die Körperwelt zuerſt einleitet und fortwährend erweitert und ſo mag man ihn wohl recht eigentlich den Sinn des Naturforſchers nennen. Ohne ihn wäre die Naturwiſſenſchaft kaum denkbar und ſo verdient er ſicher vor allen andern eine genauere Erwägung, die um ſo fruchtbarer iſt, da das meiſte, was wir bei Betrachtung deſſelben als allgemein Geſetzliches finden nicht nur auf ihn, ſondern mit Berückſichtigung der eigen- thümlichen Unterſchiede unter den einzelnen Sinnen auf die Sinne überhaupt ſeine Anwendung findet. Durchlaufen wir die Geſchichte der allmäligen Entwicklung un— ſerer Naturwiſſenſchaften, ſo tritt uns eine Erſcheinung entgegen, welche von dem größten Einfluß geweſen iſt, faſt immer hemmend, 16 N Erſte Vorleſung. * verwirrend und den Blick auf die einfache und reine Geſetzlichkeit trübend, ſich in die Forſchungen eingemiſcht hat. Der Menſch, wenn er über ſich ſelbſt nachdenkt, fühlt ſich alsbald als Bürger zweier Welten. Sein ganzes Weſen wird nicht von der Körperwelt allein umfaßt, ſondern eine Welt freier geiſtiger Weſen, in der er Unſterblichkeit fordert, über welcher er einen Gott als gütigen Lenker ſich denkt, fordert ihren Antheil an feinem Daſein. Auf ge— heimnißvolle, uns als Menſchen ewig unenträthſelbare Weiſe iſt in unſerer Natur Seele und Leib, Geiſtiges und Körperliches ver: - ſchmolzen. Wo iſt die Grenze des Einen, wo der Anfang des Andern? Die meiſten Menſchen und ſelbſt oft die größten Forſcher antworten uns, wir wiſſen es nicht; es giebt keine Grenze, Beides geht in einander über und durchdringt ſich in jeder Weiſe. Hier liegt der Irrweg, dem forſchenden Menſchen ſo nahe gerückt, daß er ihn nur unendlich ſchwer vermeiden kann, daß derſelbe oft die Scharfſinnigſten verführt und dennoch ein Irrweg, denn Geiſt und Körper ſind für uns ſo ſtrenge, ſo unvermeidlich getrennt, daß keine Brücke von Einem zum Andern überführt. Es iſt hier nicht am Ort, dieſes Verhältniß in allen ſeinen Beziehungen zu entwickeln und in ſeinem ganzen Umfange gründlich zu erörtern, aber die genauere Unterſuchung deſſen, was wir Sehen nennen, wird uns Gelegen- heit geben, wenigſtens an einem Beiſpiel den großen Sprung vom Körperlichen zum Geiſtigen aufzuweiſen und anzudeuten, wie die Nichtanerkennung dieſer Trennung auch bei'm Auge, oft die größten Forſcher verwirrt hat. Was iſt die Welt, in welcher das Auge heimiſch iſt, was ift das Gebiet des Sehens? Die Welt des Lichtes und der Farben. Das Licht — Von Körpern ſtrömt's, die Körper macht es ſchoͤn, Ein Körper hemmt's auf ſeinem Gange, Und ſomit hoff', ich dauert es nicht lange, Und mit den Körpern wird's zu Grunde gehn. In wenigen kräftigen Zügen giebt hier Mephiſtopheles die ganze — Lehre vom Licht. Das Licht, wenn wir es ganz für ſich betrachten, Das Auge und das Mikroſkop. 17 iſt nicht hell, nicht gelb und blau und roth, das Licht iſt eine Be— wegung einer ſehr feinen überall verbreiteten Materie, des Aethers, — Schwingungen, welche ſich in dieſem gradlinig fortpflanzen, wie die Schallwellen in der Luft. In ihrem geraden Gange ſtoßen ſie auf Körper, die in ihrem Wege liegen, werden wie die an's Ufer ſchlagende Woge zurückgeworfen, wenn der Körper das iſt, was wir undurchſichtig nennen, gehen durch den Körper durch, wie die Welle durch einen in das Meer mündenden Kanal, wenn der Körper zu den ſogenannten durchſichtigen gehört. — Das Oelgas verbrennt und während ſeiner Verbindung mit Sauerſtoff ſetzt es den Aether in Schwingungen, es leuchtet; das Oelgas iſt verbrannt und mit dem Körper „der zu Grunde ging“, erliſcht auch das Licht. Ein un— endliches Aethermeer, das ganze Univerſum erfüllend und in ihm die tauſend und aber tauſend Wellen nach den verſchiedenſten Rich— tungen fortſchreitend, ſich durchkreuzend, ſich aufhebend oder ver— ſtärkend, — das iſt die körperliche Natur des Lichtes und der Farbe. Wer vermöchte zu ſagen, daß er je dieſes Licht, dieſe Farben geſehen. So wenig ſind wir dazu im Stande, daß es vielmehr des Scharf— ſinns der größten Geiſter bedurfte, um uns dieſe eigentliche Natur des Lichtes zu enthüllen. Durch das dichte Dach der Weinlaube zittert ein Sonnenſtrahl in den heimlich wohlthuenden Schatten, du glaubſt den Lichtſtrahl ſelbſt zu ſehen, aber weit entfernt davon, iſt, was du wahrnimmſt, Nichts als eine Reihe von Stäubchen, die vom leiſeſten Hauch be— wegt in der Luft ſchweben — aber keineswegs ſind es die Wellen, die ſich in raſtloſer Folge mit einer Schnelligkeit von 40,000 Meilen in der Secunde durch den Aether jagen. — Könnte der Phyſiker ſei— nes Menſchengeiſtes ſich entäußern und nur mit dem Auge der Wiſ⸗ ſenſchaft die Welt um ſich her betrachten, er würde Nichts gewahren als eine öde, farb- und lichtloſe Maſſe, ein unheimlich, ungeheures Uhrwerk, in welchem tauſende von Stoffen und bewegenden Kräften zu einem ewig wechſelnden Spiel verbunden ſind. Aber faſſen wir jetzt auch die ſchönere Kehrſeite ins Auge. Die Schleiden, Pflanze. 2 4 ia * 18 Ertrſte Vorleſung. 5 Nacht iſt vorüber, der belebende Strahl der Morgenſonne zuckt über die fernen Höhen. Die grünenden Matten erglühen wärmer, getrof— fen vom himmliſchen Lichte. Hier öffnet die Blume ihre farbeſtrah— lende Krone dem erſehnten Element, dort ſchwingt der erwachte Vo— gel ſein buntes Gefieder durch die blauen Lüfte; — koſend um— ſchwärmt der ſchillernde Schmetterling die liebliche Roſe und auf bräunlichem Mooſe kriecht emſig der ſmaragd-glänzende Käfer herz bei, um ſeinen Durſt am funkelnden Thautropfen zu ſtillen. Eine ganze, volle, ſchöne Welt des Lichtes und Glanzes, der Farben und Geſtalten liegt vor uns ausgebreitet, jede Bewegung iſt Leben, iſt Schönheit und ſchön in ihrer Freiheit. „Ich ſehe das Alles“, ſagt der Menſch und dankt entzückt dem Geber alles Guten. — Aber was heißt dieſes Sehen? Es iſt nicht ein Wahrnehmen deſſen, was außer ihm wirklich vorhanden iſt. Es iſt eine zauberhafte Phantasmagorie, die ſich der Geiſt ſelbſt vorführt, in freiem Schaf— fen und dabei nur auf wunderbare Weiſe geleitet und gebunden durch das, was außer ihm wirklich iſt, ohne daß er dieſer Wirklich— keit ſelbſt ſich bewußt würde. Wenn der Reiſende auf dem Meere die niederen Breiten erreicht, ſo taucht vor ihm am fernen Hori— zonte in einer von uns kaum geahnten Pracht am tief dunkeln Himmel die majeſtätiſche Geſtalt des ſüdlichen Kreuzes auf. „Preis und Dank dem allmächtigen Schöpfer“ ruft er aus und Anbe— tung zieht ihn faſt unwiderſtehlich auf feine Kniee nieder. — Wohl gebürt dem heiligen Urquell aller Weſen dieſer Dank, aber nicht dafür, daß er die Welt ſo ſchön gemacht, denn dieſe iſt an ſich weder ſchön noch häßlich, ſondern dafür, daß er, wie die alte Sage erzählt, dem Menſchen ſeinen Geiſt einhauchte und ihm ſo die Gabe verlieh, alles was ihn berührt als Leben, Freiheit, Schönheit zu empfinden. So himmelweit wie dieſe beiden Skizzen liegen Körperwelt und Geiſteswelt auseinander. Wenn uns das friſche Grün des Früh— lings mit freudiger Hoffnung erfüllt, wenn das gelbe fallende Blatt des Herbſtes uns mit Wehmuth wie ein Abſchiedsgruß durchzuckt, ſo a * 5 Das Auge und das Mikroſkop. 19 iſt das Blatt für uns grün und gelb und in dieſen Farben Sinn— bild moraliſcher Beziehungen, für ſich, für den Baum, der es trägt, für die Erde, auf die es herabſinkt, mit einem Wort in der körper— lichen Natur hat das Blatt keine Farbe, ſondern es enthielt einen Stoff, der gewiſſe Lichtwellen zurückwarf, die dann in unſer Auge ge— langten, es giebt im Herbſte einige Atome Sauerſtoff ab und die— ſelben Lichtwellen gehen jetzt ungehindert durch ihn durch, während er Wellen anderer Beſchaffenheit reflectirt. — Verweilen wir noch einen Augenblick bei dieſem Beiſpiel. Bringen wir das friſch grü— nende Blatt auf unſere Zunge und koſten wir ſpäter das entfärbte des Herbſtes, ſo zeigt uns der Sinn ſogleich den Unterſchied in der chemiſchen Natur beider Zuſtände an, aber es entſteht dadurch keine Vorſtellung der Farbe in uns. Zerknicken wir vor unſerm Ohr ein friſches, ein getrocknetes Blatt, ſo wird durch den verſchiedenen Ton uns angedeutet, daß das Blatt ſeines Waſſers beraubt iſt, aber Nichts ſagt uns dabei, daß auch das Licht in anderer Weiſe vom friſchen wie vom trocknen Blatte zurückgeworfen werde. Mit einem Worte, wir finden, daß jeder unſerer Sinne nur für ganz beſtimmte äußere Einflüſſe empfänglich iſt und daß die Erregung jedes Sinnes in unſerer Seele ganz andere Vorſtellungen hervorruft. So ſtehen zwiſchen jener äußern ſeelenloſen Welt, welche uns nur durch die Wiſſenſchaft erſchloſſen und zugänglich wird, und der ſchönen Welt in der wir geiſtig uns finden, die Sin— nesorgane als Vermittler. Sie ſind es, welche zuerſt die Eindrücke empfangen, ſie ſind es, welche dieſe Anregungen dem Geiſte über— liefern, Anregungen, nach deren Anleitung ſich der Geiſt ſein Welt— gemälde in Farben und Geſtalten ausführt. Und ſuchen wir nun nach dem Weſentlichen dieſer Sinnesorgane — der verſtändig aus— geführte Knochenbau, fo feſt und fo beweglich zugleich, der kraftige Muskel, der durch ſeine Zuſammenziehung jenes Hebelwerk der Knochen in Bewegung ſetzt, das Herz mit ſeinen zahlreichen Röhren, den Adern, ein meiſterhaft ausgeführtes Pumpenwerk, welches die ernährende Flüſſigkeit, das Blut, durch alle Theile treibt, der ganze . 2 * * * 20 4 Erſte Vorleſung. * 2 verwickelte Bau von Behältern und Canälen in denen Nahrungsſtoffe aufgenommen, in mannigfacher Weiſe chemiſch zerſetzt und wieder anders verbunden, hier dem Blute beigemiſcht, dort als unbrauch— bar ausgeſondert werden, die vielfachen Faſern und Häute welche alle Theile mit einander verbinden und das Ganze umkleiden und zur ſchönen menſchlichen Geſtalt abrunden, ſie alle ſind es nicht. Von ihnen allen reicht kein Theil an das geiſtige Gebiet hinan. — Aber durch alle dieſe Bildungen durch, in alle eindringend, ziehen ſich Millionen der zarteſten Fäden, die Nervenfaſern, die einerſeits in jene Theile einſtrahlen, andererſeits in eine einzige Halbkugel, in das Gehirn zuſammenlaufen. Dieſe Fäden ſind es, welche, von den Bewegungen und Veränderungen der äußern Welt berührt, angeregt werden, welche dieſe Anregung auf das Gehirn übertragen. Das Gehirn aber iſt die geheimnißvolle Stätte wo Geiſtiges und Körper— liches ſich berühren. Jede Veränderung im Gehirn iſt von einem Wechſel im Spiele unſerer Vorſtellungen begleitet; zu jedem auf die Außenwelt gerichteten Gedanken findet ſich eine gleichlaufende Ver— änderung im Gehirn, die von den Nervenfaſern wie von Boten an die Organe übertragen wird, die vom Willen bewegt werden ſol— len. Es ſind alſo die Nerven eigentlich das Weſentliche jedes Sinnesorganes, in ihnen haben wir das Mittelglied zwiſchen Kör— perwelt und Geiſt zu ſuchen; die Geſetzmäßigkeit ihres Wirkens ha— ben wir zu erforſchen wenn wir uns über unſere Verbindung mit der Körperwelt unterrichten wollen. Nur zwei Punkte müſſen wir hier beſonders hervorheben, die eigenthümlich genug ſind. Wunderlich iſt der Herr im Verhältniſſ zu ſeinen Dienern; jener, der Geiſt, überſetzt ſich alles was ihm dieſe, die Nerven, überbringen in ſeine Sprache und zwar hat er für jeden Diener eine andere. Mögen die Faſern des Sehnerven getroffen werden, wovon ſie wollen, mag die Lichtwelle ſie erſchüttern, der Finger ſie drücken, die überfüllte Ader an ſie pulſiren, oder der elek— triſche Funke ſie durchzucken, der Geiſt überſetzt alle dieſe verſchie— denartigen Eindrücke in die Sprache des Lichts und der Farben. ** + * Pr} 1 Das Auge und das Mifroffop, 21 Wenn das erregte Blut, die Adern aufſchwellend, die Nerven drückt, ſo fühlen wir es in den Fingern als Schmerz, wir hören es im Ohr als Summen, wir ſehen es im Auge als zuckenden Blitz. Und hierin haben wir den entſchiedenen Beweis, daß unſere Vorſtellungen freie Schöpfungen unſeres Geiſtes ſind, daß wir nicht die Außenwelt ſo auffaſſen wie ſie iſt, ſondern daß ihre Einwirkung auf uns nur die Veranlaſſung wird zu einer eigenthümlichen geiſtigen Thätigkeit, de— ren Producte häufig in einem gewiſſen geſetzmäßigen Zuſammen— hang mit der Außenwelt ſtehen, häufig aber auch gar nicht damit zuſammenhängen. Wir drücken unſer Auge und ſehen einen leuch⸗ tenden Kreis vor uns, aber es iſt kein leuchtender Körper vorhan— den. — Welch’ eine reiche und gefährliche Quelle von Irrthümern aller Art hier fließt, iſi leicht zu ſehen. Von den neckenden Geſtalten der monddurchglänzten Nebellandſchaft bis zu den wahnſinndrohenden Viſionen des Geiſterſehers haben wir eine Reihe von Täuſchungen, die alle nicht der Natur, nicht ihrer ſtrengen Geſetzlichkeit zur Laft fallen, ſondern in das Gebiet der freien und deshalb dem Irrthum unterworfenen Thätigkeit des Geiſtes gehören. Großer Umſicht, viel— ſeitiger Bildung bedarf es, ehe der Geiſt ſich hier von allen ſeinen eignen Irrthümern losmacht und ſie ganz beherrſchen lernt. Das Sehen, im weitern Sinne des Wortes, erſcheint uns ſo leicht und doch iſt es eine ſchwere Kunſt. Nur nach und nach lernt man, wel— chen Botſchaften der Nerven man vertrauen und danach ſeine Vor: ſtellungen formen dürfe. Selbſt Männer von Wiſſenſchaft können hier irren, irren oft und um ſo öfter, je weniger ſie darüber verſtän— digt ſind, wo ſie die Quellen ihres Irrthums zu ſuchen haben. Aber noch auffallender als das eben entwickelte Verhältniß iſt es, daß der Herr, nämlich die Seele, Botſchaften von ſeinen Dienern, den Nerven, empfängt, Befehle an ſie austheilt ohne ſich ihrer Ge— genwart überhaupt zunächſt bewußt zu werden. Erſt ſpät, erſt durch die weit fortgebildete Wiſſenſchaft erfährt der Menſch, daß Nerven exiſtiren und daß beſtimmte Functionen ihnen zugewieſen find. Er ſieht und weiß nichts von ſeinem Sehnerven, ihn ſchmerzt die ge— * * * . N 22 Erſte Vorleſung. brannte Hand, aber er wird ſich der leitenden Faſer nicht bewußt, er bewegt ſpielend mit geläufiger Geſchwindigkeit die Zunge, aber er— fährt nichts von dem Wege, den die beſtimmenden Nerven nehmen. — Wir empfinden mit einem Worte niemals den Zuſtand eines Nerven, ſondern bilden uns vielmehr unmittelbar ſo wie der Nerv gereizt wird die Vorſtellung eines äußern Gegenſtandes, und es erfordert erſt wiſſenſchaftliche Verſtändigung, daß wir dieſen Gegenſtand als Urſache eines Nervenreizes erkennen. Iſt nun aber, um in dem gewählten Gleichniß zu bleiben, das Verhältniß des Herren zu feinen Dienern ein ganz eigenthümliches, ſo ſind nicht minder die Diener ganz beſonderer Art. Keiner derſel— ben weiß etwas vom Anderen, erfährt etwas von deſſen Daſein und Thätigkeit, oder theilt ſich ihm mit. Ja was noch wichtiger iſt, kei- ner derſelben d. h. keine Nervenfafer kann gleichzeitig mehr als eine einzelne einfache Botſchaft ausrichten und darin gleichen ſie vollkom— men einfältigen Bedienten. Zwei ihnen gleichzeitig übergebene Auf- träge vermengen ſie mit einander zu einem einzigen einfachen. Am leichteſten iſt dies deutlich zu machen, wenn man ſolche Theile des Körpers, wo die Nervenfaſern ſehr vereinzelt und weit auseinander liegen z. B. den Oberarm oder die Mittellinie des Rückens mit den Spitzen eines geöffneten Zirkels berührt. Wenn auch die Spitzen ei— nen Zoll weit aus einander ſtehen, ſo fühlt man an den genannten Theilen doch nur einen einfa chen Stich, da die Nerven hier ſo weit von einander entfernt ſind, daß beide Stiche in den Bereich einer Faſer fallen und dieſe iſt unfähig mehr als einen Eindruck zur Selle aufzunehmen. Nach dieſen allgemeinen Erörterungen über die eigenthümliche Natur der Nervenwirkungen können wir uns wieder unſerer Aufgabe ſelbſt nähern indem wir insbeſondere den Sehnerven betrachten. Derſelbe iſt wie er in den Augapfel eintritt, ein ziemlich dickes Bün— del zahlreicher einzelner Nervenfaſern und dieſe breiten ſich im Aug— apfel in eine Halbkugelfläche aus, ſo daß jede Faſer einen kleinen Theil dieſer Fläche bildet. Der Augapfel ſelbſt aber gleicht vollkom— “ Das Auge und das Mikroſkop. 25 men einem optiſchen Apparat, einer Camera obſcura, und die Halb— kugelfläche des Sehnerven, die ſogenannte Netzhaut des Auges, ent— ſpricht dem weißen Blatt Papier, welches das Bild der Camera obſcura auffängt. Jedes von dem Bilde getroffene Fäſerchen fängt gleichſam einen Punct deſſelben auf und bringt die Nachricht davon zum Gehirn, wo die vorſtellende Seele ihren Sitz hat und dieſe muß ſich dann aus allen dieſen einzelnen Puncten erſt das Bild conſtrui— ren. Ob aber richtig oder falſch conftruirt wird, hängt von der Ue— bung und Ausbildung der Seele ab. — Man könnte mir hier ein— wenden, daß wir ja von dieſer Conſtruction gar kein Bewußtſei haben und daß das Sehen daher doch wohl viel einfacher ſein müſſe. Indeß läßt ſich leicht an einigen Beiſpielen zeigen, daß hier nur die Uebung uns die Sache ſo leicht macht, daß wir uns der einzel— nen Geiſtesthätigkeiten dabei gar nicht mehr bewußt werden. Das Kind, bei dem dieſe Uebung noch nicht Statt gefunden hat, conſtruirt daher auch häufig falſch, es greift nach den Sternen, wie nach den glänzenden Knöpfen an dem Rocke des Vaters, es verſucht den fernen Mond auszublaſen, wie es ihm mit dem Licht auf dem Tiſche gelungen. Und dieſelben Erſcheinungen finden wir bei Blindgebornen die operirt wurden; namentlich ſind uns einige merk— würdige Fälle der Art in den Annalen der Augenärzte aufbewahrt, wo Blindgeborne erſt in ihrem ſpäteren Lebensjahren als ſie ſchon genügende Bildung ſich erworben um von den Vorgängen in ihrem Innern Rechenſchaft zu geben, ihr Angeſicht wieder erhielten und nun ausführlich berichten konnten, wie ſie erſt allmälig die verſchie— denen Licht- und Farbenempfindungen zu einer geordneten Weltan— ſchauung zuſammenſetzen lernten. Der entſchiedenſte Beweis für die Richtigkeit der aufgeſtellten Behauptung liegt aber darin, daß wir, wenn die Umſtände verführeriſch find, falſch conſtruiren, ohne daß das Bild auf der Netzhaut dazu Veranlaßung gegeben hätte. Der Mond nämlich erſcheint uns größer, wenn er aufgeht, als wenn er über uns im dunkeln Luftmeere ſchwimmt. Meſſungen zeigen aber, daß er beidemale in der That gleich groß iſt, und daß ſein Bild auf * — * 24 Erſte Vorleſung. der Netzhaut in beiden Fällen ebenfalls gleichen Durchmeſſer hat. Der Grund der falſchen Conſtruction liegt aber darin, daß, wenn der Mond am Horizont zwiſchen uns bekannten Hügeln, Bäumen oder Häuſern aufgeht, wir ſeine Entfernung nach den ihm zunächſt er— ſcheinenden Gegenſtänden beurtheilen, deren bedeutende Entfernung uns bekannt iſt. Den Mond oben am Himmelsgewölbe dagegen denken wir uns näher, da zwiſchen ihm und uns keine Gegenſtände ſind, nach denen wir ſeine Entfernung ſchätzen könnten. So in der Beurtheilung der Entfernung uns täuſchend conſtruiren wir nach ei— nem und demſelben Netzhautbilde verſchieden, alſo auf jeden Fall das eine Mal falſch. Das Reſultat dieſer ganzen hier mehr angedeuteten und ſkizzir— ten als ausgeführten Unterſuchung iſt alſo folgendes: In der wirk- lichen Welt befinden ſich zahlreiche Stoffe und Kräfte in Wechſelwir— kung, dieſe verändern, wo ſie mit den Nervenfaſern unſeres Körpers zuſammentreffen, den Zuſtand derſelben, und dieſe veränderten Zu— ſtände werden die Veranlaſſung, daß unſer Geiſt ſich eine ganze Weltanſicht ausmalt. Am lebendigſten tritt uns dieſe ſelbſtgeſchaffne Welt entgegen wenn die Erregungszuſtände dem Augennerven ange— hören, aber auch gerade hier können wir am deutlichſten nachweiſen, daß die Welt in unſerer Vorſtellung ſich zwar immer auf die Welt außer uns bezieht, aber durchaus nicht mit ihr gleichartig, identiſch iſt. Noch ein Beiſpiel mag dienen dies deutlich zu machen und zugleich uns den Uebergang zum Folgenden zu bahnen. Das einfachſte Ver— hältniß, welches ſich gewiß in der Außenwelt denken läßt, iſt das von Stoff, Materie, Subſtanz, oder wie wir es nennen wollen, die ei— nen gewiſſen Raum einnimmt. Wenn nun unſere Vorſtellung der Welt irgend mit der wirklichen Welt übereinkommen ſollte, ſo müß— ten wir doch vor Allem wiſſen, wie groß der Raum ſei und wie groß das Stück des Raumes, den das Materielle, z. B. ein Fels, einnimmt. Wir haben aber gar keinen Maaßſtab für die Größe des Raums und daher gar keinen Begriff von der Größe der Welt. Wenn wir ſa— gen: „dieſer Menſch iſt 6 Fuß groß,“ ſo heißt das nur: „in der * 6 0 * “ - Das Auge und das Mikroſkop. 23 Welt unſerer Vorſtellungen iſt der vorgeſtellte Menſch 6 mal ſo groß wie der vorgeſtellte Fuß;“ es iſt nur eine Vergleichung zweier Vor— ſtellungen unter einander. Dann natürlich entſteht die Frage: wie groß iſt denn ein Fuß, wie groß ein Zoll, eine Linie und fo wei- ter? und immer antworten wir nur durch Vergleichungen mit andern ebenſo wenig für ſich beſtimmbaren Größen. — Hier zeigt ſich ſo— gleich wie wir nicht einmal im einfachften Falle aus dem Spiel un: ſerer Vorſtellungen heraus zur Erkenntniß der wirklichen Welt kom— men können, der ganze Begriff der Größe hat für die Welt ſelbſt keine weſentliche Bedeutung, ſondern nur für unſere Vorſtellungen. Und gleichwohl ſpricht der Mikroſkopiker von Vergrößerungen und meint damit die Gegenſtände beſſer zu erkennen als vorher? — Um das zu begreifen, müſſen wir wohl noch etwas über Größe philoſo— phiren, um dieſem ſo ſchwankenden Begriff größere Beſtimmtheit und Feſtigkeit zu verleihen. Wir nennen z. B. den Fuß der Bavaria von Schwanthaler coloſſal, den Fuß eines erwachſenen Mannes groß, und den einer Dame klein, und weshalb? Dies iſt leicht zu ſagen; theilen wir jeden dieſer Füße in 12 Zolle, jeden Zoll in 12 Linien und jede Linie wieder in 12 Theile, ſo ſind dieſe Zwölftellinien beim Damenfuß nicht mehr zu unterſcheiden, beim Männerfuß ſind ſie noch recht deutlich, aber an der Bavaria könnten wir jede Zwölftel— linie abermals in 12 Theile theilen, und jeder derſelben würde noch deutlich zu erkennen ſeyn. So haben wir aber zugleich eine einfache Beſtimmung der Größe gefunden. Ein Ding iſt für uns um fo größer, je mehr Theile wir in ihm unterſcheiden können. Allein es kann uns bei dieſer Beſtimmung des Begriffs noch eine andere Betrachtung führen. Wir haben einen ſcheidenden Freund bis auf den Hügel vor die Stadt geleitet, noch einmal drücken wir ihn an die Bruſt, noch einmal ſchauen wir ihm lange und tief in's Antlitz, um uns alle die lieben, uns ſo vertrauten, ein— zelnen Züge recht feſt einzuprägen. Endlich reißt er ſich los und eilt von dannen, wir ſchauen ihm noch lange nach. Er blickt ſich um und noch erkennen wir das bekannte Geſicht. Immer größer wird * * * 26 Erſte Vorleſung. die Entfernung und mehr und mehr verſchwimmen die Einzelnheiten der Geſtalt. Eine Biegung der Straße verbirgt ihn uns eine zeit— lang, da taucht er noch einmal auf am fernſten Hügelabhang, ein kleiner ſchwarzer ſich bewegender Punct; er ſteht ſtill, winkt noch mit dem Tuche, aber ſelbſt dieſe Bewegung ſind wir ſchon nicht mehr im Stande zu unterſcheiden, und endlich verſchwindet er gänzlich in der Ferne. Je ferner der Freund von uns gerückt wurde, je we— niger konnten wir an ihm unterſcheiden, je kleiner erſchien er uns, bis zuletzt ein Nadelknöpfchen, vor unſer Auge gehalten, größer war, als er. — Indem wir hier bemerken, wie ſelbſt ein uns ganz bekannter Gegenſtand allmälig kleiner wird und zuletzt ganz ver— ſchwindet, ſo zeigt ſich uns auch ſogleich das Mittel, einen Gegen— ſtand zu vergrößern, um ihn deutlicher zu erkennen, mehr einzelne Theile an ihm zu unterſcheiden einfach darin, daß wir ihn unſern. Auge näher bringen. Der Verſuch zeigt uns nun auch allerdings die Anwendbarkeit dieſes Mittels, aber bald erfahren wir, daß hier eine gewiſſe Grenze eintritt, über welche hinaus wir einen Gegenſtand dem Auge nicht mehr nähern dürfen, ohne daß uns das deutliche Sehen überhaupt unmöglich wird. Der Grund dafür liegt in dem Bau der kleinen Camera obſcura, welche wir Augapfel nennen. Derſelbe kann, ſo wie jedes ähnliche Inſtrument des Optikers, nur für gewiſſe Entfernungen eingerichtet ſeyn, und wollen wir in grö— ßerer Nähe ſehen, ſo müſſen wir an dem optiſchen Apparat eine ent— ſprechende Veränderung vornehmen, was einfach dadurch geſchieht, daß wir einen nach beſtimmten Geſetzen geformten, durchſichtigen Körper, wir benutzen dazu gewöhnlich geſchliffnes Glas, vor das Auge bringen. Ein ſolches Glas aber iſt eine ſogenannte Lupe oder ein einfaches Mikroſkop, deſſen Wirkung nur darin beſteht, daß es uns möglich macht, einen Gegenſtand in einer Nähe noch deutlich zu ſehen, in welcher es ſonſt unmöglich wäre, Es iſt unnöthig hier auf die Entwicklung der optiſchen Geſetze einzugehen, denen ge— mäß dieſe Wirkung erfolgt, nur darauf aufmerkſam machen will ich, daß man ſehr leicht hierbei beſtimmen kann, wie ſtark der Gegen— Das Auge und das Mikroſkop. 27 ſtand bei einem ſolchen einfachen Mikroſkop vergrößert erſcheinen müſſe. Man nimmt an, daß durchſchnittlich das menſchliche Auge bei 8 Zoll Entfernung noch deutlich ſehen könne, aber nicht mehr in größerer Nähe. Benutze ich nun ein Glas, welches mir erlaubt, ei— nen Gegenſtand noch bei 4 Zoll Entfernung deutlich zu ſehen, ſo er— ſcheint er noch einmal fo groß, bei 2 Zoll Entfernung 4 mal fo groß, bei ½ Zoll Entfernung 80 mal fo groß und fo weiter; mit einem Worte die Vergrößerung iſt allein davon abhängig, wie nah der Ge— genftand an's Auge gebracht wird. — Früher machte man von dieſen einfachen Mikroſkopen einen ſehr ausgedehnten und faſt ausſchließ— lichen Gebrauch in der Wiſſenſchaft, weil die zuſammengeſetzteren Mikroſkope damals noch ſo ſchlecht waren, daß ſie gegen die ein— fachen Inſtrumente weit zurück ſtanden. Der berühmte Leuwenhoek hat alle ſeine wunderbaren mikroſkopiſchen Beobachtungen mit ganz kleinen Glaskügelchen gemacht, die er ſich ſelbſt an der Lampe aus einem feinen Glasfädchen zuſammenſchmolz. In neuerer Zeit ge⸗ braucht man aber die einfachen Mikroſkope nur noch zu ſehr ſchwachen Vergrößerungen und bedient ſich für ſtärkere allgemein der zuſam— mengeſetzten Mikroſkope. Während dieſe nämlich verhältnißmäßig wenig das Auge angreifen, iſt das Beobachten mit dem einfachen Mikroſkop zumal bei ſtarken Vergrößerungen eine fo ermüdende Ans ſtrengung, daß Augenleiden nur zu häufig die Folge davon ſind. Das Princip, worauf das zuſammengeſetzte Mikroſkop beruht, iſt ebenfalls ſehr leicht deutlich zu machen. Es beruht daſſelbe auf einer Verbindung der Camera obſcura mit dem einfachen Mikro— ſkope. Die gewöhnliche Camera obſcura beſteht im Weſentlichen aus einigen linſenförmig geſchliffenen Gläſern; die von einem Ge— genſtand ausgehenden Lichtſtrahlen gehen durch dieſe Gläſer durch und erzeugen hinter denſelben ein Bild des Gegenſtandes, welches man bei dem gewöhnlichen optiſchen Spielwerk auf einer matt ge— ſchliffenen Glastafel, oder auf einer weißen Papierfläche aufzufan— gen pflegt. Je weiter der Gegenſtand von den Gläſern entfernt iſt, deſto kleiner erſcheint das Bild. Nähert man den Gegenſtand, ſo 28 Erſte Vorleſung. wächſt das Bild bis Bild und Gegenſtand gleich groß ſind. Rückt man nun aber den Gegenſtand den Gläſern noch näher, ſo wird das Bild größer als der Gegenſtand. Dieſes letzte Verhältniß wenden wir zwar niemals bei der ſogenannten Camera obſcura an, wohl aber bei der Zauberlaterne, die in ihrer weſentlichen Grundlage von jener in Nichts verſchieden iſt. — Beim zuſammengeſetzten Mikro— ſkop iſt nun ein ſolcher Apparat ſo angebracht, daß man das ver— größerte Bild des Gegenſtandes nicht unmittelbar mit dem Auge, ſondern abermals mit einem einfachen Mikroſkop betrachtet und ſo noch um ein beträchtliches vergrößert. Iſt zum Beiſpiel das Bild 100 mal fo groß wie der Gegenſtand und vergrößern wir das Bild noch zehnmal, ſo muß uus der Gegenſtand tauſendmal vergrößert er— ſcheinen. Es beſteht alſo das zuſammengeſetzte Mikroskop aus einem doppelten optiſchen Apparat, erſtens den Gläſern, welche dem Gegen⸗ ſtand oder Object zugewendet ſind und von dieſem ein vergrößertes Bild entwerfen, man nennt fie eben deshalb die Objectivgläſer, und zweitens aus einem einfachen Mikroskop, durch welches wir das vergrößerte Bild des Gegenſtandes abermals vergrößern und welches dem Auge zugewendet iſt und deshalb Ocular genannt wird. Man ſollte nun dem Geſagten zufolge glauben, daß es auf dieſe Weiſe möglich ſei, die Vergrößerung bis auf jeden beliebigen Grad zu ſteigern, da einmal die Größe des Bildes nur davon abhängt wie nah' man den Gegenſtand an's Objectiv bringt, und dann die Ver— größerung des Bildes nur dadurch bedingt iſt, daß wir das Auge dem Bilde immer mehr nähern. Aber dieſer theoretiſchen Möglich— keit treten practiſch ſo viele Schwierigkeiten entgegen, daß die wirk— lich ausgeführten Inſtrumente alle unendlich weit von der Grenze der theoretifchen Möglichkeit zurückbleiben. Ich will hier nur das wichtigſte Verhältniß berühren und um daſſelbe deutlich zu machen, an eine ſehr bekannte Thatſache anknü— pfen. Bücher, die beſtimmt ſind, in die Hände aller Leute zu kommen, wie Bibeln und Geſangbücher, verbreitet man in verſchiedenen Drucken, bald mit ganz kleinen, bald mit mittleren, bald für ältere ſchwachſich— Das Auge und das Mikroſkop. 29 tige Leute mit ganz großen Buchſtaben. Hier iſt nun ein einzelnes Wort in dem letzten Druck vielleicht 6 mal ſo groß als in dem erſten, und es läßt ſich deshalb bequem erkennen, aber gleichwohl erkennt man natürlich nicht mehr Buchſtaben in dem einen wie in dem an— dern. Daſſelbe Wort könnte aber auch von einem Schreibkünſtler ſo klein geſchrieben ſein, daß es dem unbewaffneten Auge nur wie ein einziges ſchwarzes Pünctchen erſchiene. Hier würde die Vergrößerung das Püncctchen in feine einzelnen Theile auflöſen und die Buchſtaben und Züge derſelben deutlich erkennen laſſen, aber eine fernere Ver— größerung würde dann wohl den Maaßſtab, nach welchem die einzel— nen Theile erſcheinen, vergrößern, aber ohne feinere Theile, die früher nicht erkennbar waren, zur Anſchauung zu bringen. Ein ähnliches Verhältniß findet nun beim Mikroſkop ſtatt. Bis zu einem gewiſſen Grade iſt das Bild, welches das Objectiv von dem Gegenftande ent— wirft, ein ſolches, daß die in demſelben enthaltenen Einzelnheiten noch durch das Ocular aufgelöſt oder deutlich gemacht werden. Aber bald tritt die Grenze ein, bei welcher wegen der Unvollkommenheit der Objective das von ihnen entworfene Bild zwar noch vergrößert wer— den kann, aber ohne daß dabei mehr einzelne Theile erkennbar werden. Es beſteht gleichſam aus einer beſtimmten Anzahl von Buchſtaben, die, ſtärker vergrößert, ſich zwar bequemer erkennen laſſen, aber ohne daß dieſe ärkere Vergrößerung einen ſcheinbar einfachen Buchſtaben als noch aus zweien zuſammengeſetzt zeigte. — Auf dieſe Weiſe tritt das merkwürdige Verhältniß ein, daß man häufig mit einem beſſer gearbeiten Mikroſkop bei ſchwächerer Vergrößerung bei weitem mehr ſieht, d. h. mehr Einzelnheiten des Gegenſtandes erkennt, als bei viel ſtärkeren Vergrößerungen eines minder gut gearbeiteten Inſtru— mentes. Da es aber bei allen wiſſenſchaftlichen Unterſuchungen gerade auf die Erkennung der einzelnen Theile und Structurverhält— niſſe ankommt, ſo haben die Vergrößerungen überhaupt nur bis ſo weit Bedeutung, als dieſer Anforderung noch entſprochen wird. Dieſe Grenze fällt aber bei allen bis jetzt gebauten Inſtrumenten auf eine Vergrößerung von etwa 3—400 mal im Durchmeſſer und alle ſtär— * 30 Erſte Vorleſung. keren Vergrößerungen ſind theils unbrauchbare Spielereien, theils und zwar am häufigſten nur angeblich, wie die millionenfachen Ver— N größerungen der Hydrooxygengasmikroſkope, mit denen herumziehende Charlatans ſich brüſten und die meiſt nicht einmal ſo viel leiſten wie die 50 fachen eines guten gewöhnlichen Mikroſkops. Aus dieſen Bemerkungen geht hervor, daß dem wiſſenſchaftlichen Forſcher unendlich viel daran liegen muß, genau die Güte eines In— ſtrumentes in dieſer Beziehung beurtheilen zu können und man hat allen Fleiß angewendet, um die dazu führenden Mittel ausfindig zu machen. Man hat zu dem Ende ſogenannte Probeobjecte aufge— ſucht, die im Allgemeinen in Gegenſtänden beſtehen, welche feine ſchwer zu erkennende Structurverhältniſſe zeigen. Zu ſolchen Probe— objecten kann man künſtliche oder natürliche Gegenſtände wählen. Die erſten find bis jetzt nur von dem Königsberger Mechaniker No- bert angefertigt und beſtehen in Syſtemen von hundert mit dem Dia— mant auf Glas gezogenen Linien, von denen je zehn und zehn nach einem beſtimmten Maaße enger beiſammen ſtehen und feiner ſind. Mit den meiſten Inſtrumenten kann man nur das ſechſte und ſiebente Syſtem noch deutlich als aus einzelnen Linien beſtehend erkennen, beſſere Inſtrumente reichen bis zum achten und neunten. Das zehnte löſen aber nur die Allerbeſten der bis jetzt gebauten Mikroſkope in ſeine einzelnen Beſtand— theile auf. Dieſe Linienſyſteme machten, wie ſie bekannt wurden, großes Aufſehen, ſie haben indeſſen den weſentlichen Fehler, daß ein Eremplar dem andern nicht ganz genau gleich iſt, daß alſo jeder For— ſcher einen andern Maaßſtab in die Hände bekommt. — Ungleich ge— nauer als der Menſch arbeitet die Natur und man ſieht daher noch immer die Schmetterlingsſchuppen als die beſten Probeobjecte an. Die meiſten derſelben ſind kleine, mit einem Stielchen verſehene läng— liche Platten, auf ihrer Oberfläche mit feinen Längsrippen beſetzt, die durch äußerſt zarte Querrippen verbunden werden. Beide Arten von Rippen ſind aber bei den verſchiedenen Schmetterlingen von ſehr verſchiedener Feinheit und insbeſondere ſind die Querrippen von Hip— parchia Janira, einem ſehr gemeinen braunen Schmetterling, fo zart * U Das Auge und das Mikroſkop. 31 daß ſie bis jetzt nur durch die ausgezeichnetſten Inſtrumente eines Amici, Plösl, Oberhäuſer und Schieck deutlich zu erkennen ſind. Außer dieſen gewöhnlichen Schuppen kommen aber auch noch mannigfaltige, theils anders geformte, theils auf ihrer Oberfläche anders gezeichnete vor und wenn man ſich eine Zeitlang mit dieſen Unterſuchungen beſchäftigt hat, ſo erſtaunt man über den unendlichen Reichthum von Geſtalten, den die Natur hier noch in den unſchein— barſten und winzigſten Theilen entwickelt hat. Gar manche haben ſich, beſonders in frühern Zeiten, wohl mit dieſer Freude an zier— lichen Bildern genügen laſſen und kaum die Bedeutſamkeit mikroſko— piſcher Unterſuchungen für die Wiſſenſchaft geahnt, wie ſchon die Titel ſo vieler im vorigen Jahrhundert erſchienener Werke andeuten, z. B. Ledermüller mikroſkopiſche Gemüths- und Augenergötzung (Nürnberg 1761), Röſel von Roſenhoffs Inſectenbeluſtigungen (Nürnberg 1746 — 61) u. ſ. w. — Doch fehlte es auch ſchon früh nicht an Beobachtern, welche den ganzen Ernſt dieſer Richtung in den naturwiſſenſchaftlichen Studien einſahen und wir haben ſogar ein merkwürdiges Beiſpiel der Uebertreibung an Swammerdam, der in ſeinen letzten Lebensjahren einen großen Theil der durch die müh— ſamſten Unterſuchungen gewonnenen Reſultate dem Feuer übergab, weil er meinte, der Schöpfer habe dieſe feinern Verhältniſſe nicht ohne weiſe Abſicht dem Menſchen verborgen und es ſey Frevel, die Geheimniſſe Gottes zu profaniren. — In der That würde man aber mit einer ſolchen Anſicht, wenn ſie conſequent durchgeführt würde, jeder Erhebung des Menſchen über den roheſten faſt thieriſchen Na— turzuſtand in den Weg treten. Es war unſerm Jahrhundert vorbehalten das Mikroſkop bei dem Studium der Natur in ſeine Rechte einzuſetzen und es iſt eine erfreuliche Erſcheinung, zu betrachten, wie ſich die Anwendung dieſes Inſtrumentes immer mehr und mehr Eingang verſchafft und wie in immer größern Kreiſen die intereſſanteſten Reſultate durch daſſelbe gewonnen werden. 10 Leicht begreiflich iſt es, wie das Studium der Verhältniſſe des Ey 52 Erſte Vorleſung. feineren Baues der Thiere und ſelbſt des Menſchen ein ganz neues Licht auf die phyſiologiſchen Vorgänge im Körper werfen mußte und in der That kann man für alle Zweige der mediciniſchen Wiſſenſchaf— ten, von der Anwendung des Mikroſkops an, eine durchaus neue Periode datiren. — Daß für die Kenntniß der kleineren Organismen im Thier⸗ und Pflanzenreiche das Mikroskop ein entſcheidender Wen— depunkt werden mußte, iſt eben ſo leicht einzuſehen. — Dagegen liegt es weniger auf der Hand, wie auf den Gebieten der Chemie, Mine— ralogie, und Geognoſie die mikroſkopiſche Beobachtung ihr eigen— thümliches Feld hat finden können. Und gleichwohl iſt die Be— deutſamkeit derſelben auch hier theils ſchon von den ausgezeichnetſten Forſchern anerkannt, theils kann dieſe Anerkennung nicht lange mehr ausbleiben. Insbeſondere iſt auf dem Gebiete der organiſchen Che— mie ein Inſtrument nicht zu entbehren, welches oft allein im Stande iſt uns darüber Aufſchluß zu geben, ob wir es mit einem einfachen Stoff oder mit einem mechaniſchen Gemenge verſchiedener Beſtand— theile zu thun haben. Eine Menge angeblicher Stoffe wären nie in der Wiſſenſchaft aufgeführt worden, es wären nie die Kräfte ausge— zeichneter Forſcher daran vergeudet worden, wenn man mit dem Mi⸗ kroſkop vorher die Natur derſelben genauer unterſucht hätte. Finden wir doch, daß ſelbſt die ausgezeichnetſten Chemiker, wie Berzelius, Liebig u. a. oft von Stoffen reden, die gar nicht exiſtiren. So iſt die ftärfemehlartige Faſer, worunter man den Rückſtand der Kar: toffeln nach Gewinnung des Kartoffelmehls verſteht, ein Gemenge ganz gewöhnlicher Stärke und ganz gewöhnlicher Holzfafer, oder Zellſtoffs, fo iſt das Pollenin, womit man den Grundbeſtandtheil des Blüthenſtaubs bezeichnen will, ein mannigfaltiges Gemiſch von ſehr vielen einzelnen ganz bekannten Subſtanzen. Dergleichen Bei— ſpiele ließen ſich aber noch unzählige aufführen. — Noch auffallender zeigt ſich die Bedeutſamkeit des Mikroſkops in der Mineralogie und Geognoſie. Hier handelt es ſich nämlich um eine ganz andere und genauere Kenntniß der eigenthümlichen Natur ganzer Gebirgsſyſteme, größerer Formationen oder einzelner Mineral— * — Das Auge und das Mikroskop. 35 ſubſtanzen, als uns dieſe Wiſſenſchaften bisher geben konnten. Wenn wir früher in den Gebirgszügen, welche im weſtlichen Aften ſich her— abziehen, einen Gürtel um das nördliche Deutſchland und Frank— reich bilden und dann im griechiſchen Archipelagus wieder auftreten, nur muſchelführende Maſſen kohlenſauren Kalkes erkannten, den wir wegen ſeines eigenthümlichen Aggregatzuſtandes Kreide nannten, wenn wir die Polirſchiefer, Kieſelguhre und Bergmehlarten als Kie— ſelerde in fein vertheiltem Zuſtande betrachteten, wenn wir im Dy— ſodil nur ein Gemenge von Kieſelerde und Erdpech fanden und in den meiſten Opalen und Feuerſteinen eben nur dichtere glasartige Kieſelerde wahrnahmen, ſo eröffnen uns Ehrenbergs mikroſkopiſche Forſchungen hier einen Blick in eine ganz neue lebensvolle Welt. Wir finden auf höchſt merkwürdige Weiſe das Entſtehen nicht unbe— trächtlicher Theile der feſten Rinde unſeres Planeten in ihrer eigen— thümlichen Form an das Leben ganz kleiner dem bloßen Auge un— ſichtbarer Thiere geknüpft, die bei ihrer ans Wunderbare gränzenden ſchnellen Vermehrung durch Individuenzahl und Unzerſtörbarkeit ih— rer Ueberreſte das erſetzen, was ihnen an Maſſe abgeht. Außer den Infuſorien, deren ganze Organiſation nur aus faſt gallertartiger thieriſcher Subſtanz beſteht, giebt es nämlich andere Arten, deren Eigenthümlichkeit darin ſich zeigt, daß ſie ſich ähnlich den Muſcheln und Schnecken mit feſten Panzern in den allerzierlich— ſten Formen umgeben, die entweder aus kohlenſaurem Kalk oder aus Kieſelerde gebildet ſind. Das geſtorbene Thier ſelbſt fällt zwar der Verweſung anheim, aber die von ihnen gebauten Wohnungen, die Schalen bleiben und häufen ſich unter günſtigen Bedingungen für das Leben der Thiere ſo ſehr an, daß ganze Gebirgsſyſteme faſt allein aus ihnen aufgebaut ſind. Die aus Kieſelerde gebildeten Schalen ſintern zuweilen durch einen eigenthümlichen uns noch fremden Pro— ceß zuſammen und bilden ſo Feuerſteine und Opale. — Grade dieſe kieſelſchaligen Thierchen ſind es auch, mit denen der Botaniker eine genauere Bekanntſchaft nicht verſchmähen darf, da der Streit noch immer nicht geſchlichtet iſt, der lange Zeit ſelbſt mit einer gewiſſen Schleiden, Pflanze. 3 * 5A Erſte Vorleſung. Erbitterung geführt wurde, ob dieſe kleinen Organismen Thiere oder Pflanzen ſeyen. — Bedeutender der Maſſe nach ſind freilich die durch kalkſchalige Infuſorien entſtandenen Bildungen. Ein anſehn⸗ licher Theil Rußlands an der Wolga, Polens, Pommerns (z. B. Rügen), Mecklenburgs, Dänemarks, Schwedens, des ſüdlichen Eng— lands und nördlichen Irlands, des nördlichen Frankreichs, Griechen— lands, Siciliens, des nördlichen Afrikas und vielleicht auch der Sa— hara, des nordweſtlichen und arabiſchen Aſiens beſteht aus ſolchen Krei— deboden und Kreidegebirgsmaſſen, deren verticalen Durchmeſſer man oft z. B. in England auf 1000 Fuß berechnen kann. Die Phantaſie erlahmt, wenn ſie dieſe Maſſen organiſchen Lebens erfaſſen ſoll, wenn man ſich erinnert, daß eine einzige mit Kreideüberzug verſehene Viſitenkarte ſchon ein zoologiſches Cabinet von vielleicht 100,000 Thierſchalen bildet. N Wie Galilei, Kepler, Newton, Herſchel uns in eine unend⸗ liche Welt der großen Maſſen einführten, wie Columbus, Magel— haens und ſeine Nachfolger uns die ganze eine Hälfte der Erde erſt entdeckten, ſo hat in neueſter Zeit Ehrenberg durch ſeinen raſtloſen Fleiß uns eine wunderbare Welt des organiſchen Lebens erſchloſſen, welches in ſeinen Individuen unſcheinbar klein, auch dem ſchärfſten unbewaffneten Auge unſichtbar, doch durch die unerſchöpfliche Thä— tigkeit des Bildens, durch die unausſprechlich großen Zahlen der Einzelweſen Maſſen anhäuft, vor denen ſelbſt der Menſch als ohn— mächtiges Weſen erſcheint. Am 26. Januar 1843 war auf der Round-Down-Klippe un: fern von Dover eine zahlreiche Menſchenmenge in ängſtlicher Erwar— tung verſammelt, um den Ausgang einer der großartigſten und kühn— ſten Sprengungen beizuwohnen, welche je die genialen Combinatio— nen menſchlichen Scharfſinns auszuführen unternommen. Die Vor— arbeiten hierzu, die Anlegung der Schachte und Stollen, hatten Jahre erfordert. Durch eine rieſenhafte galvaniſche Batterie wurde die bis dahin noch niemals angewendete Menge von 185 Centnern Pulver auf einmal entzündet. — Faſt lautlos wurde die ungeheure — Das Auge und das Mikroſkop. 53 Klippe ins Meer geschleudert, in einer Minute waren 20 Millionen Centner Kalkfelſen zerriſſen und eine Fläche von faſt 15 Acres 20 Fuß hoch mit ihren Trümmern bedeckt. Man mag daraus die ungeheure Kraft ermeſſen, welche angewendet werden mußte. Und mit wem ließ ſich hier die menſchliche Geiſteskraft in dieſen Rieſenkampf ein? — Mit den Ueberreſten von Geſchöpfen, von denen tauſende durch den Druck des Fingers vernichtet werden können. Wir ſtaunen und fra— gen uns: was heißt „klein“ in der Natur? Es kann aber wohl überhaupt keinem Zweifel unterliegen, daß es einem noch höchſt rohen Zeitalter oder einer ſehr niedrigen Bil— dungsſtufe angehört, wenn man den Werth, die Wichtigkeit eines Dinges nach groß oder klein abmeſſen will, ein Maßſtab, der ja bei dem allerweſentlichſten und werthvollſten was wir kennen keine An— wendung findet, denn der Menſchengeiſt läßt ſich nicht nach Fuß, Zoll und Linie beſtimmen. Nur der ſinnlichen Natur imponirt das phyſiſch Große, der gebildetere Menſch wird die Gegenſtände ſeiner Betrachtung vollſtändig nach allen ihren Verhältniſſen kennen zu lernen ſuchen und dann erſt aus der vollſtändigen Kenntniß derſelben ſich ein Urtheil über weſentlich und unweſentlich erlauben und gar oft wird er dann dahin geführt werden, dasjenige, was die kleinſten Dimenfionen hat, für das allerbedeutendſte zu erklären. Es findet aber dieſe Bemerkung vor Allem ihre volle Anwendung auf die Botanik. Es gab für dieſelbe eine Zeit, in welcher ſie an— fing ſich aus der mittelalterlichen Nacht des Nichts empor zu arbei— ten, wo fie alſo nur noch in ihren roheſten Anfängen exiftirte, es iſt die Zeit der Linné'ſchen Schule. Wir wollen Linné's Verdienſt nicht ſchmälern, denn größer iſt der Ruhm eine Wiſſenſchaft zu erfinden, neu zu geſtalten, als ſie, wenn ihre Grundſteine einmal gelegt ſind, weiter auszubauen; wir wollen Linné, wie geſagt, nicht damit zu nahe treten, wenn wir ihn als den Urheber eines der traurigſten Vorurtheile bezeichnen, welches lange die Botanik auf einer äußerſt niedrigen Stufe erhalten hat und auch jetzt nicht ſo ganz überwun— den ift, daß feine ſchlimmen Nachwirkungen nicht noch mannigfach | 3 * 56 Erſte Vorleſung. Das Auge und das Mikroſkop. — dem Fortſchritt der Wiſſenſchaft hemmend in den Weg träten. Wir meinen Linné's Widerwillen gegen das Mikroſkop und feine Verach⸗ tung aller Kenntniſſe, die ſich nur mit Hülfe deſſelben gewinnen laf- ſen. Der Einfluß der Linné'ſchen Schule iſt in dieſer Beziehung ſo verderblich geweſen, daß faſt alles, was ſchon am Ende des 17ten Ss durch einzelne ausgezeichnete Männer wie z. B. be⸗ ſonders durch Malpighi gewonnen war, im 18ten Jahrhundert für die Wiſſenſchaft ſo vollſtändig wieder verloren ging, daß ſelbſt die Ausgezeichneteren im Anfang dieſes Jahrhunderts die Höhe von Malpighi noch lange nicht in allen Stücken erreichten. Die folgen— den Vorträge werden aber unter anderen auch davon Zeugniß geben, wie eine wiſſenſchaftliche Bearbeitung der Botanik, eine Bearbei— tung, die mehr als ein öder unfruchtbarer, dem Gedächtniß anver— trauter Namenwuſt ſeyn ſoll, ohne faſt beſtändige Anwendung des Mikroſkops gar nicht gedacht werden kann. Hierhin wendet ſich auch die ganze neuere Richtung in der Wiſſenſchaft, und Namen wie Ro: bert Brown, Briſſean, Mirbel, Amici und Mohl bezeichnen den Anfang einer neuen ſegensreichen Epoche. Zweite Vorlesung. Ueber den innern Bau der Pflanzen. Du kannſt im Großen nichts verrichten Und fängſt es nun im Kleinen an. Fauſt. Die Vignette zeigt den Hausrath des wiſſenſchaftlichen Kleinigfeitäfrämers, oder Mekroſkopikers; in der Mitte ein zuſammengeſetztes Mikroſkop nach der Höchft- vollkommenen Einrichtung des vortrefflichen Oberhäuſer in Paris, rechts ein ein⸗ faches Mikroſkop zum Präpariren kleiner Gegenſtände, nach meiner Angabe vom Mechaniker Zeiß in Jena verfertigt, daneben Meſſer, Pincetten u. ſ. w. Wenn wir einem gewandten Taſchenſpieler zuſchauen, wenn er die zauberähnlichen Wirkungen ſeiner täuſchenden Kunſt vor uns ent— faltet, werden wir nach und nach zur ſtaunenden Bewunderung hin— geriffen, die uns endlich unwillkürlich die Aeußerungen des Beifalls entlockt, welche gewöhnlich feine gelungenen Productionen zu beglei- ten und zu belohnen pflegen. Wird es uns nun aber geſtattet, fein Theater zu betreten, ihm im eigentlichſten Sinne in die Karten zu ſehen, wie ſehr kommen wir da von unſerm Erſtaunen zurück, wenn wir wahrnehmen, wie complicirter Vorrichtungen er bedarf, wie viele Gehülfen ihm zur Hand gehen müſſen, mit einem Worte, wie mannigfaltige und große Mittel er anwenden muß, um Erfolge her— vorzubringen, die doch am Ende mit den angewendeten Mitteln in keinem Verhältniſſe ſtehen. — Und ſehen wir uns weiter um in al— len Verhältniſſen des Lebens, finden wir da nicht bald, daß es ein charakteriſtiſcher Zug für die beſchränkte Stellung des Menſchen iſt, daß das Reſultat ſeiner kühnſten Anſtrengungen zuletzt auf Wenig oder Nichts hinausläuft, daß, wenn er Alles aufgeboten, was Ta— lent und begünſtigende Umſtände ihm an Macht darreichten, er ſich am Ende doch geſtehen muß, daß das, was er errungen, nur ein geringer Preis iſt für die verwendeten Koſten? i Der gerade Gegenſatz von dem iſt die Natur. — Von Jugend auf gewohnt, ihre Werke in ewig ſich erneuerndem Reichthum um uns ausgebreitet zu ſehen, gehen wir meiſt kalt an ihnen vorüber. 7 40 Zweite Vorleſung. Das ſinnigere Gemüth fühlt ſich von ihnen angezogen und fängt an, mit einer Art ſüßen Schauers die geheimnißvollen Kräfte, die um uns walten, zu ahnen. Welche Mittel, denken wir, müſſen nicht dieſer großen Künſtlerin zu Gebote ſtehen? Welche wunderbare Ver— kettungen noch unbekannter Kräfte müſſen nicht da noch verborgen liegen? Die Wiſſenſchaft verſucht dieſes Räthſel zu löſen und macht ſich nur zagend an ihre Aufgabe, fürchtend, daß es dem menſch— lichen Verſtande vielleicht unmöglich ſeyn werde, eine ſo wunderbare Verſchlingung und Verwicklung zu überſehen und zu erfaſſen, aber je weiter wir vordringen, deſto mehr wächſt unſer Erſtaunen. Jeder Schritt bringt uns eine einfachere Löſung eines verwickelten Räth— ſels, jede zuſammengeſetzte Erſcheinung weiſt uns auf einfachere Urſachen und Kräfte zurück und unſere Bewunderung wird zuletzt zur frommen Anbetung, wenn wir ſehen, mit wie geringen Mit— teln die Natur ihre ungeheuerſten Erfolge erreicht. Aus dem ein—⸗ fachen Verhältniß, daß Körper, die in Bewegung begriffen, ſich ges genſeitig anziehen, wölbt die Natur den ganzen Sternenhimmel über uns, und ſchreibt der Sonne und ihren Planeten die unwan— delbaren Bahnen vor. Aber wir brauchen nicht nach den Sternen zu greifen, um zu erkennen, wie wenig die Natur bedarf, um ihre Wunder zu entwickeln. | Verweilen wir einen Augenblick bei der Pflanzenwelt. Von der ſchlanken Palme, die ihre zierlichen Wipfel hoch über dem heißen Brodem der braſilianiſchen Wälder in den kühlenden Lüften ſchaukelt, bis zu dem feinen kaum zolllangen Mooſe, welches unſere feuchten Grotten mit ſeinem phosphoreſcirenden Grün auskleidet, — von der prachtvollen Blume der Victoria Regina, die ihre roſafarbenen Blätter auf den ſchweigenden Fluthen der guianiſchen Landſeen wiegt, bis zu den unſcheinbaren gelben Blüthenknöpfchen der ſogenannten Waffer- linſe auf unſeren Teichen; welches wunderbare Spiel der Geſtalten, welch ein Reichthum der Formen! — Von den 6000 jährigen Affen⸗ brodbäumen an den Ufern des Senegal, deren Saamen vielleicht ſchon auf der noch von Menſchen unbewohnten Erde keimten, bis zu dem * Ueber den innern Bau der Pflanzen. 41 Pilz, dem eine feuchtwarme Sommernacht ein Daſeyn gab, das ſchon der nächſte Morgen zerſtörte, welche Verſchiedenheit der Lebens: dauer! — Von dem feſten Holz der Neuholländiſchen Eiche, aus welchem der wilde Urbewohner ſeine Streitkolben ſchnitzt, bis zu dem grünen zerfließenden Schlamm unſerer Gräben, welche Mannigfal- tigkeit, welche Abftufungen im Gewebe, Zuſammenſetzung und Fe— ſtigkeit! Sollte man es für möglich halten, in dieſem verwirrenden Reichthum die Ordnung, in dieſem ſcheinbar regelloſen Spiel der For— men die Geſetzmäßigkeit, in dieſen tauſendfach verſchiedenen Lebens— weiſen den einen Typus, die gleiche Idee finden zu können? Bis vor wenigen Jahren war allerdings die Möglichkeit noch nicht einzu— ſehen, denn wir dürfen, wie ſchon bemerkt, nicht eher erwarten die Natur in ihren Geheimniſſen belauſchen zu können, bis wir auf ſehr einfache Verhältniſſe durch unſere Forſchungen geführt ſind. So konnte man auch über die Pflanze nicht zu wiſſenſchaftlichen Reſultaten ge— langen, bis man nicht das einfache, allen den verſchiedenen Formen gleichmäßig zu Grunde liegende Element gefunden und ſeine leben— dige Eigenthümlichkeit unterſucht und beſtimmt hatte. Mit Hülfe der neueren Mikroſkope find wir endlich jo weit gekommen, den Aus: gangspunct für die ganze Theorie der Pflanze zu finden. Die Grundlage für den Bau aller auch noch ſo ſehr von einan— der abweichenden Gewächſe iſt ein kleines, aus einer meiſt durch— ſichtigen, waſſerhellen Haut gebildetes, rings herum geſchloſſenes Bläschen, welches die Botaniker „Zelle“ oder „Pflanzenzelle“ nennen. Eine Ueberſicht von dem Leben der Pflanzenzelle muß noth— wendig dem Verſtändniß der ganzen Pflanze vorhergehen, ja iſt ei— gentlich bis jetzt faſt das einzige ächt Wiſſenſchaftliche in der Botanik. Per bei dieſen Betrachtungen verlaſſen uns unſere Sinnesor⸗ gane. Das menſchliche Auge kann unbewaffnet, ohne Hülfe des Mikroſkops, nichts von allen dieſen wunderbaren Geheimniſſen wahr⸗ nehmen und es iſt daher nöthig zu bemerken, daß alle folgenden Thatſachen nur durch Hülfe des Mikroſkops zur Anſchauung gebracht werden können. Um dem augenblicklichen Bedürfniß nachzuhelfen 42 Zweite Vorleſung. lege ich meinen Leſern die wichtigſten Gegenſtände in Abbildungen vor, welche mit Hülfe eines guten Mikroſkops gemacht ſind. Wenn man die äußere derbe Haut von der in unſern Gartenan— lagen jetzt fo häufigen Schneebeere (Symphoricarpos racemosa) ent- fernt, ſo ſtößt man auf eine Maſſe, welche aus kleinen, etwas ſchlüpf— rigen, glänzendweißen Körnchen beſteht. Jedes davon iſt eine ein- zelne vollſtändige Zelle. (Taf. I. Fig. 1). Wenn man die derbere * Oberhaut von dem Blatte einer Gartennelke abzieht, ſo findet man darunter ein ſammtartiges grünes Gewebe, von welchem ſich leicht etwas abſchaben läßt. Dieſes vertheilt ſich im Waſſer zu kleinen grü— nen Pünctchen; auch dieſe ſind vollſtändige Zellen, welche ſich von den vorigen nur dadurch unterſcheiden, daß fie außer einem zähen gelblichen und einem flüſſigen waſſerhellen Safte noch grün gefärbte Körner enthalten (Taf. I. Fig. 2). — Beide Arten von Zellen und ähnlich alle lebendig vegetirenden Zellen haben das gemein, daß ihre Wand aus einer doppelten Schicht beſteht, einer feſteren farbloſen, der eigentlichen Zellen haut und einer halbflüſſigen zähen etwas gelb— lichen Subſtanz, welche die innere Fläche jener Zellenhaut vollkom— men überzieht und ſo die Zelle auskleidet. Dieſe letztere Schicht iſt aufs Engſte mit dem Leben der Zelle verknüpft. Nicht ſelten findet man ſie ohne daß ſie ſich gerade nothwendig von der Zellenwand entfernt, ganz oder in einzelnen, etwas dickeren ſtreifenartigen Partien in einer fortſtrö— menden Bewegung, die man die Circulation des Zellenſaftes nennt. Die eigentliche Zellenwand iſt eine aus Kohlenſtoff, Waſſerſtoff und Sauerſtoff gebildete Subſtanz, der Zellſtoff; die halbflüſſige Ausklei—⸗ dung dagegen, von Hugo von Mohl, Primordialſchlauch ge— nannt, enthält außerdem noch Stickſtoff. Man kann ſie leicht dadurch deutlicher machen, daß man eine Zelle mit etwas Salpeterſäure be— tupft, denn da ſie ein dem Eiweiß ſehr ähnlicher Stoff iſt, ſo gerinnt fie durch die Einwirkung der Säure und zieht ſich zuſammen, fo daß fie dann wie ein loſes Säckchen in der Zelle liegt (Taf. J. Fig. 3). Ueber die Entſtehung der Zelle iſt man noch keineswegs völlig im Reinen; ſo viel iſt gewiß, daß dabei ein eigenthümliches dem Ueber den innern Bau der Pflanzen. 45 Primordialſchlauch angehöriges Körperchen, der Zellenkern ge— nannt (Taf. I. Fig. 1, a.), eine ſehr weſentliche Rolle ſpielt. Dieſe Zellen ſchließen ſich nun bei weiterer Entwicklung dicht aneinander und bilden ſo die ganze Maſſe der Pflanze, das Zellge— webe, welches man aber nach den verſchiedenen Formen der Zellen, beſonders aber nach der verſchiedenen Bedeutung derſelben für das Leben der Pflanzen in drei Hauptgewebe abtheilen kann. Ehe wir aber zur Betrachtung dieſer drei Gewebe uns anſchicken, müſſen wir noch etwas genauer mit den Veränderungen uns bekannt machen, welche die Zelle in ihrem Leben durchlaufen kann. — Die Zelle dürfen wir nämlich als einen kleinen ſelbſtſtändigen, für ſich lebenden Organismus anſehen. Aus ſeiner Umgebung nimmt der— ſelbe flüſſigen Nahrungsſtoff auf, aus demſelben bildet er durch che: miſche Proceſſe, die im Innern der Zelle beſtändig rege ſind, neue Stoffe, die er theils zur Ernährung und zum Wachsthum ſeiner Wandung verwendet, theils für zukünftige Bedürfniſſe in ſich aufbe— wahrt, theils als unbrauchbar gewordene Stoffe wieder ausſcheidet, um Statt deſſen abermals neue Stoffe aufzunehmen. In dieſem re— gen Spiel der Aufnahme und Ausſcheidung von Stoffen, der chemi— ſchen Bildung, Umbildung und Zerſetzung von Stoffen beſteht ei— gentlich das ganze Leben der Zelle und — da die Pflanze eigentlich Nichts iſt, als die Summe vieler Zellen, die zu einer beſtimmten Geſtalt verbunden ſind, — auch das Leben der ganzen Pflanze. Bei der Ernährung und dem Wachsthum der Zellenwand laſſen ſich aber noch zwei verſchiedene Verhältniſſe unterſcheiden. Das Wachsthum nämlich iſt einmal dahin gerichtet den Umfang der Zelle zu verändern und zu vergrößern. Daher entſtehen nach und nach aus den Anfangs rundlichen Zellen gar verſchiedene Formen. Zunächſt, wenn ſie ſich dicht aneinander drängen, verlieren ſie ihre runden ge— bogenen Wände, drücken ſich gegenſeitig flach und erſcheinen dann wie ſehr unregelmäßige Bienenzellen oder auf einem zarten Durch— ſchnitt, wie vielſeitige Maſchen (Taf. I. Fig. B, a). — Andere Zellen dehnen ſich mehr ſtellenweiſe aus und bilden Fortſätze, oft ſehr — AA Zweite Vorleſung. zierlich als ſechsſtrahlige Sterne, oft fehr unregelmäßig zu der⸗ lichen Figuren ſich geſtalten. Noch andere Zellen werden flach indem ſie ſich von zwei Seiten abplatten, andere endlich werden mehr in die Länge ausgedehnt und erſcheinen dann als Cylinder, oder Prismen und noch mehr geſtreckt, ſpindelförmig, oder gar als lange dünne * Fäden (Taf. I. Fig. 6, 7, 8, 9, 13, b). Bei allen dieſen Verän⸗ derungen der Form kann die Wand der Zelle die Dicke behalten, welche fie urſprünglich hatte, immer bleibt fie geſchloſſen und rings— um vollkommen zuſammenhängend. Es kommt aber meiſtens zu dem eben geſchilderten Wachsthums— prozeß noch eine zweite Veränderung hinzu, die Verdickung der Wand. Dieſe kommt fo zu Stande, daß ſich eine ganz neue Schicht zwiſchen dem Primordialſchlauch und der urſprünglichen Zellenwand auf die innere Fläche derſelben abſetzt. Das Eigenthümliche dabei iſt, daß dieſe neue Lage niemals eine gleichförmige überall zuſammenhängende Haut bil- det, ſondern daß ſie auf die mannigfaltigſte Weiſe unterbrochen erſcheint. Bald iſt fie überall mit kleinen Löchern durchbohrt (Taf. I. Fig. 6; Taf. II. Fig. 8, b.), bald mit längern Spalten (Taf. I. Fig. 4.), bald er⸗ ſcheint ſie als ein Netzwerk, bald iſt ſie ganz in ein ſpiralig aufgewundenes Band zerſchnitten (Taf. I. Fig. 5.), bald ſtellt ſie ſich nur unter der Form einzelner Ringe dar (Taf. I. Fig. 7). Man bezeichnet nach dieſer Erſchei— nung der Verdickungsſchicht die Zellen als poröſe und Spaltzellen, als Netz⸗, Spiral⸗ und Ring-⸗Faſerzellen. Hat ſich auf dieſe Weiſe eine Ber: dickungsſchicht gebildet, ſo folgt häufig eine zweite und dritte, oft ſo weit, daß die ganze Zelle faſt ganz ausgefüllt wird. — Es iſt leicht zu begreifen wie aus dieſen Veränderungen, in Verbindung mit den eben vorher erwähnten Formenſpielen ſelbſt aus einer ſo einfachen Grund⸗ lage wie die Zelle iſt, eine faſt zahlloſe Menge von Verſchiedenheiten des Gewebes hervorgehen kann, die wir denn auch in den Pflanzen verwirklicht finden. Dazu kommt noch, daß ſich häufig in der Zel⸗ lenwand und ihren Verdickungsſchichten fremdartige Stoffe, z. B. Kalk, Kieſelerde u. ſ. w. ablagern, wodurch zahlreiche Abſtufungen in der Weichheit und Härte, in Zähigkeit und Sprödigkeit entſtehen. * Ueber den innern Bau der Pflanzen. 45 JR es bleibt hier erſt noch eine wichtige Eigenſchaft der Pflan- zenzelle zu erörtern, ehe wir zum Folgenden fortſchreiten dürfen. Wenn ſich in der Zelle der Nahrungsſtoff über ein gewiſſes Maaß hinaus vermehrt, ſo bilden ſich aus demſelben in ihr mehrere neue Zellen, Tochterzellen, — die Zelle pflanzt ſich fort — und in der Regel wird dann die Mutterzelle allmälig aufgelöſt und verſchwindet und 2, 4, 8 und mehr junge von ihr gezeugte Zellen treten an ihre Stelle. Der ganze organg, den wir bei den Pflanzen Wachſen nennen, beſteht eben in ſeiner weſentlichen Grundlage aus einer ſolchen fortwährenden Fortpflanzung der Zellen, wodurch die Zahl der Zellen bis ins Un— glaubliche und Unzählbare vermehrt wird. Nach einer annäherungs— weiſe angeſtellten Berechnung bilden ſich zum Beifpiel an einem ſehr ſchnell wachſenden Pilze, dem Rieſenboviſt (Bovista gigantea), in jeder Minute 20,000 neuer Zellen. — Aber ſo zierlich auch die oben erwähnten Formen der Zellen ſich unterm Mikroſkop ausnehmen mögen, ſo intereſſant auch die Aufgabe für den Botaniker iſt, die Geſetze zu erforſchen, von denen die Bildung dieſer zahlloſen Verſchiedenheiten abhängt, ſo haben ſie doch zur Zeit für uns noch gar keine Bedeutung, wenn wir von dem Leben der ganzen Pflanze reden wollen und wir müſſen hier, alle jene Unter— ſchiede völlig überſehend, ganz andere Abtheilungen des Gewebes der Pflanzen aufzuſtellen ſuchen, die zum Theil gar nicht, zum Theil nur ſehr durchſchnittlich mit beſtimmten Zellenformen zuſammenfallen. Jede noch in der Bildung begriffene Pflanze und jeder noch un— entwickelte Pflanzentheil beſteht ausſchließlich aus kleinen, zarten, rund— lichen Zellen. So verſchieden ſich auch dies Zellgewebe im Einzelnen ſpäter modificiren mag ſo ſind es doch nur zwei Portionen, welche ſich durch ihre ſpätere Entwicklung und ihre Bedeutung für das ganze Pflanzenleben weſentlich von jener Grundmaſſe, die auch ſpäterhin in ausgebildetem Zuſtande das Hauptgewebe der Pflanzen bildet, unterſcheiden. Die Eine iſt die ganze äußere Zellenſchicht der Pflanze, welche ſich in Berührung mit Waſſer oder Erde, beſonders aber der Luft ausgeſetzt entwickelt. Dieſe Zellen ſchließen ſich ſo feſt aneinander, 46 Zweite Vorleſung. daß man ſie meiſtens als eine zuſammenhängende Haut bon der Pflanze abziehen kann. Sie bedeckt ſich früher oder ſpäter nine dicken oder dünnen Schicht einer gleichartigen Subſtanz, welche noch einen feinen Ueberzug von Wachs oder Harz erhält und dadurch wird die Oberhaut völlig undurchdringlich für Flüſſigkeiten und ſelbſt unnetzbar, indem Waſſer davon wie von einer fettigen Subſtanz ab— läuft. Nur an gewiſſen Puncten bleiben zwiſchen den Zellen kleine Lücken, welche ins Innere der Pflanze führen. In dieſe Lücken lagern ſich gewöhnlich zwei halbmondförmige Zellen, die mit der ausgerun— deten Seite einander zugewendet ſind und ſo zwiſchen ſich eine Spalte laſſen, übrigens aber die Lücken völlig verſchließen. Dieſe Spalte, wodurch die Pflanze mit der Atmoſphäre communicirt und Gasarten und Waſſerdünſte aushaucht, verengert und erweitert ſich nach dem Bedürfniß. Man nennt dieſe Lücken mit den halbmondförmigen Zellen Spaltöffnungen und die ganze Zellenſchicht, in welcher ſie vor— kommen, die Oberhaut der Pflanzen (Taf. I. Fig. 12). Ign jedem lebhaft-vegetirenden Pflanzentheil findet aber auch ein beſtändiges Zuſtrömen von neuem Nahrungsſtoffe Statt, welcher von der Wurzel aufgenommen wird und deſſen überſchüſſiges Waſſer eben durch die Spaltöffnung verdunſtet. Dieſe Saftbewegung ver— wandelt die Streifen von Zellen, durch welche ſie mit beſonderer Lebhaftigkeit durchgeht, in langgeſtreckte Zellen. Die meiſten derſelben werden ſtark verdickt, einige verlieren auch wohl plötzlich ihren flüſſi— gen Inhalt und nehmen ſtatt deſſen Luft auf, man nennt dieſe dann Gefäße (Luftgefäße) und ſo bilden ſich in der Maſſe des Zellgewebes Bündel langgeſtreckter Zellen und Gefäße, Gefäßbündel genannt (Taf. I. Fig. 13, b.), die dem unbewaffneten Auge wie derbe Faſern erſcheinen, welche das Pflanzengewebe durchziehen. Bei einer großen Pflanzenabtheilung, bei den Monocotyledonen, wozu Gräſer, Lilien, Palmen u. ſ. w. gehören, bleiben dieſe Gefäßbündel auf einer gewiſſen Stufe der Ausbildung ſtehen und verändern ſich ferner nicht. Bei einer andern Claſſe von Pflanzen dagegen, bei den Dico— tyledonen, wozu unſere Waldbäume, Küchenkräuter und Gemüſe, > Ueber den innern Bau der Pflanzen. 47 ſo je viele andere gehören, entftehen fortwährend an der Außenfeite jedes Gefäßbündels neue Zellen, die ebenfalls zu Gefäßbündelzellen werden und ſo die Gefäßbündel fortwährend verdicken. In Folge deſſen ſchließen ſich dieſe nach und nach zu einem feſten Gewebe an einan— der, zu dem, was wir im gemeinen Leben Holz nennen (Taf. II. Fig. 8, 9, 10). | Fragen wir nach dem Verhältniß in welchem dieſe drei Theile der Pflanze zu den Bedürniſſen des Menſchen ſtehen, ſo finden wir auch eine dreifache Verſchiedenheit. Die Oberhaut iſt in ihrem ge— wöhnlichen Zuſtande für den Menſchen ganz nutzlos, nur an peren— nirenden Pflanzen, zumal an Bäumen, entwickelt ſich aus derſelben die Borke, welche bei einigen Bäumen (3. B. bei der Korkeiche, Quer- cus suber) ſehr weich und elaſtiſch, als Kork, einer ſehr ausgedehn— ten Anwendung fähig iſt. Die Gefäßbündelzellen werden durch die Subſtanz ihrer Zellenwände wichtig, theils als Baſt theils als Holz. Endlich das übrige Zellgewebe hat ſeine Bedeutung für uns faſt nur durch den Inhalt ſeiner Zellen Von allen Zellenformen ſind, wie bemerkt, die wichtigſten für den menſchlichen Haushalt ohne Zweifel die Holzzellen und die Baſtzellen. Die verſchiedenen Holzarten laſſen ſich bei großer Auf— merkſamkeit unter dem Mikroſkop ſelbſt an den kleinſten Abſchnitten noch unterſcheiden; der wichtigſte Unterſchied iſt freilich der zwiſchen Laub⸗ und Nadelholz, welcher ſelbſt an verſteinertem Holze noch be— ſtimmt zu erkennen iſt (Taf. II. Fig. 8, 9, 10.). Die „Baſtzellen“ ſind unter allen die längſten; ſie haben meiſt ſehr dicke, aber ſehr biegſame Wände (Taf. I. Fig. 8), ſelten mit poröſer oder ſpiraliger Zeichnung; nur an der Seidenpflanze, dem Oleander und verwandten Pflanzen findet man eine zarte ſpi— ralige Streifung in der Wand. Alle übrigen Baſtzellen ſind unterm Mikroſkop nicht wohl zu unterſcheiden, ſo verſchiedenartig auch die Pflanzen ſind, von denen ſie genommen werden. Die Baſtzellen aber ſind es, welche wegen ihrer Länge und Biegſamkeit uns faſt allein das Material zu unſern Geweben und zu Seilerarbeiten liefern. 48 1995 Vorleſung. F Wie ſchon bemerkt, werden die verſchiedenartigſten Pflanzen zu die⸗ ſem Zwecke benutzt. Bei uns iſt es hauptſächlich der Flachs und der Hanf, auf den Philippinen bedient man ſich des Baſtes aus den Blättern der Piſangarten, in Mexico liefern die Blätter einiger wilden Ananas einen ähnlichen Stoff. In neuerer Zeit iſt für die eng⸗ liſche Marine beſonders der ſogenannte neuſeeländiſche Flachs wichtig geworden, welcher aus den Blättern eines lilienartigen Ge- wächſes gewonnen wird. Eigenthümliche Zeuge werden ohne Spinnen und Weben auf den weſtindiſchen Inſeln aus dem Baſt des ſogenann— ten Spitzenbaums (Palo di laghetto der Spanier) und auf Ota⸗ heite aus dem des Papiermaulbeerbaums bereitet. Zu Strik— ken werden noch eine unendliche Menge von Pflanzen benutzt, in- dem faſt jedes Land ſeine eignen Pflanzen dazu anwendet. Durch die Güte eines Freundes in Berlin erhielt ich einſt ein Endchen Bind— faden, mit dem ein Weinkrug in Pompeji zugebunden geweſen war und fand zu meinem Erſtaunen, daß er aus den leicht erkennbaren Baſtzellen der Seidenpflanze (Asclepias syriaca) oder doch einer nahe verwandten bereitet ſei, die, ſoviel bekannt, jetzt nirgends mehr zu dieſem Zwecke angewendet werden. Sehr verſchieden von dieſen Baftfaferwe it die Baumwolle, welche als Haarſchopf die Saamen der Baumwollenſtaude um: giebt. Dies ſind zwar auch ſehr lange, aber ganz dünnwandige Zellen, weshalb ſie im trocknen Zuſtande zuſammengefallen ein plattes Band mit etwas rundlichen Rändern und nicht, wie die Baſtfaſern, einen überall gleich dicken cylindriſchen Faden bilden (Taf. I. Fig. 9). Durch dieſen ſcharfen Unterſchied iſt man in den Stand geſetzt, jede Vermiſchung des Leinens mit Baumwolle augenblicklich unter dem Mikroſkop zu erkennen und ſelbſt an den Zeugen, mit denen die ägyptiſchen Mumien umwickelt find, noch ihren Urſprung auszu⸗ machen. Beiläufig mag hier bemerkt werden, daß die Wollenfaſer (Taf. I. Fig. 11) und der feine Faden des Seidenwurmes (Taf. I. Fig. 10) ebenſo auffallende Merkmale darbieten, wie ein Blick auf die beigegebene Tafel ſogleich zeigt, und in der That iſt das Mi⸗ Ueber den innern Bau der Pflanzen. 49 kroſkop vielleicht das einzige vollkommen ſichere Mittel, um jede Vermiſchung dieſer verſchiedenen Fäden in einem Gewebe augenblick— lich zu erkennen. Wir haben nun zwar geſehen, daß die einfache Zelle in ihren verſchiedenen Formen die Grundlage aller Pflanzen in aller Mannig— faltigkeit ihrer Erſcheinungen ſey; was die Sache aber noch unend— lich viel merkwürdiger macht, iſt, daß dieſe Zellen, die überall auf dieſelbe Weiſe ſich gebildet haben und ſelbſt dann, wenn auch ihre ſpätere Form ganz dieſelbe bleibt, die Kraft haben, in ihrem Innern ſo ganz verſchiedene Stoffe zu erzeugen und dadurch der Natur ein Mittel an die Hand zu geben, um den Reichthum und die Schön— heit der Pflanzenwelt bis ins Unendliche zu vervielfältigen. Es führt uns dies auf den eigenthümlichen Lebensproceß der Pflanzenzelle. Jede einzelne Zelle führt gleichſam ein geſondertes Leben für ſich. Ihre Wände ſind freilich nicht durchlöchert, aber dennoch dringt die Flüſſigkeit, die ſie zur Ernährung brauchen, ein. Dieſe beſteht aus Waſſer, Kohlenſäure, Ammoniakſalz und einigen andern aufgelöſten Salzen des Erdbodens. Dieſe von der Zelle auf— genommenen wenigen Stoffe werden nun durch ihre eigenthümliche Kraft mannigfach verändert und aus ihnen alle die verſchiedenen Materialien gebildet, wodurch die Pflanzen eben ſo ſehr für den äſthetiſchen Beſchauer wie für den Haushalt des Oekonomen ihren Werth erhalten. Gar viele Zellen führen freilich einen farbloſen Saft, nament— lich alle Holz- und Baſtzellen, viele ſogar Luft, wie z. B. die ſoge— nannten Gefäße. Andere aber zeigen in ihrem Innern die pracht— voll gefärbten Säfte, die den Blumen und Früchten den Reiz eines ſo lieblichen Farbenſchmelzes verleihen, oder anderen, ſonſt grünen Pflanzentheilen das geſcheckte, fleckige Anſehen geben (Taf. II. Fig. 7). Dahin gehören alle Töne der rothen, blauen und gelben Farbe. Die grüne Färbung der Pflanzen beruht dagegen auf einem ganz anderen Verhältniſſe, denn niemals iſt der Saft der Pflanzen grün. Betrachtet man nämlich die Zellen, die dem unbewaffneten Schleiden, Pflanze. 4 * 30 Zweite Vorleſung. - Auge grün erſcheinen, unter dem Mikroſkop, fo ſieht man, daß ein- zelne Körnchen einer grünen Subſtanz (Chlorophyll oder B latt⸗ grün) an der innern Wand der Zelle ankleben und ſo den grünen Schein hervorrufen (Taf. I. Fig. 2, 13 c.). Die prachtvolle Farbe des Indigo iſt nichts weiter als eine eigenthümliche Modification dieſes grünen Farbeſtoffs, welche ſich beſonders in den Indigoarten (In- digofera tinctoria und anil), in dem Waid (Isatis tinetoria) und im Färbeknötreich (Polygonum tinctorium) bildet. In einigen Zellen finden wir höchſt zierliche Kryſtalle entweder einzeln oder als nadelförmige Kryſtalle in Bündeln vereinigt, oder zu mehreren in eine kleine Kryſtalldruſe zuſammengruppirt (Taf. II. Fig. 1). Intereſſanter aber für den Menſchen iſt derjenige Inhalt der Pflanzenzellen, welcher ihm als nothwendige Nahrung, als wohl- thuende Erquickung oder als anregendes Gewürz dient, und nicht minder wichtig find auch diejenigen Stoffe, welche, dem kranken Or⸗ ganismus dargeboten, wieder die Fähigkeit herbeiführen der reichen Gaben einer ſchöpferiſchen Natur auf's Neue ungeſtört ſich freuen zu können. — Dieſes Feld der Betrachtung iſt außerordentlich ausge— dehnt, aber noch lange nicht genügend angebaut; indeß zu einem in⸗ tereſſanten Geſetz haben die bisherigen Forſchungen ſchon geführt, daß nämlich Pflanzen, welche in ihren äußeren Formen nahe verwandt ſind, auch in ihren gleichnamigen Organen gleiche oder doch nahe ver— wandte Stoffe enthalten. So giebt es ganze Pflanzenfamilien in de— nen alle Pflanzen bald mehr bald weniger giftig ſind, wie die Nacht— ſchattenpflanzen, die Verwandten unſerer Kartoffel und unſe— res Tabaks, und wieder andere die durchweg fade, geſchmacklos und ohne irgend eigenthümliche Stoffe ſind, wie z. B. die Verwandten unſerer Gartennelken. Es würde hier zu weit führen alle einzel— nen Stoffe und ihr Vorkommen in der Pflanzenwelt durchzugehen und es mag daher an einigen allgemeinen Bemerkungen und der genauen Betrachtung einiger beſonders intereſſanten Stoffe genügen. Alle in den Pflanzenzellen vorkommenden Subſtanzen find ent⸗ Ueber den innern Bau der Pflanzen. 51 weder im Waſſer auflöslich oder nicht. Im erſten Falle giebt uns das Mikroſkop keinen Aufſchluß über dieſelben, da ſie im wäſſrigen Zellſaft verſchwinden, nur die Chemie kann dann ihre Gegenwart nach— weiſen. Hierzu gehören unter andern Eiweiß, Gummi, Zucker und die angenehmen Säuren unſerer Früchte, z. B. Aepfel- und Citronenſäure. Der Saft z. B. in den Zellen des Zucker— rohrs iſt vollkommen klar und durchſichtig, erſt wenn er ausgepreßt iſt und abgedampft wird ſcheidet ſich der aufgelöſte Zucker aus. Dagegen zeigen ſich die flüſſigen Oele recht deutlich unterm Mikroſkop, ſowohl die fetten, die in Geſtalt kleiner glänzender gelber Kügelchen im Zellſafte herumſchwimmen, wie in dem Kern der Man— del, als auch die wohlriechenden (ätheriſchen) Oele, welche ge- wöhnlich ganz allein in Einem großen Tropfen eine Zelle ausfüllen. Zwei der wichtigſten Beſtandtheile in den Pflanzenzellen ſind aber der halbflüſſige, halbkörnige Schleim, welcher, aus einer ſtick— ſtoffhaltigen Subſtanz gebildet, die Zellen entweder ganz ausfüllt, oder neben Oel oder Stärkemehl vorkommt und dann dieſes Letztere ſelbſt. — Gewiſſe ſtickſtoffhaltige Beſtandtheile bilden den eigent— lichen Nahrungsſtoff in den Pflanzen. Ein Theil derſelben kommt aufgelöſt im Zellſafte vor, wie namentlich das Eiweiß, ein anderer und zwar der wichtigere Theil in kleinen ſchleimigen Körnchen. Wenn wir einen Durchſchnitt durch ein Weizen- oder Roggenkorn machen, ſo erkennen wir von Außen nach Innen unterm Mikroſkop ſehr verſchiedene Lagen. Die äußern derſelben gehören der Frucht und Saamenſchaale an (Taf. II. Fig. 2, a.) und werden beim Mah— len des Getreides als Kleie abgeſchieden. Aber der Mühlſtein trennt nicht ſo genau wie der Blick durch's Mikroſkop zu unterſcheiden ver— mag, nicht einmal fo genau als das Meſſer des Pflanzenanatomen und ſo wird zugleich mit der Kleie auch noch die ganze äußere Zel— lenlage des Kerns und ſelbſt einige der darauf folgenden Schichten entfernt. Ein Blick auf die Abbildung der Taf. II. Fig. 2 zeigt aber ſogleich, daß die äußeren Zellen des Kerns einen ganz andern Inhalt haben als die innern Zellen; während dieſe ſehr viel Stärke— 4 * 52 Zweite Vorleſung. mehl und nur ſehr wenig ſtickſtoffreiche Subſtanz führen, findet ſich in der äußern Zellenlage nur die letztere, die man bei den Getreide— arten Kleber zu nennen pflegt und fo erklärt ſich aus der anato- miſchen Unterſuchung eines ſolchen Getreidekorns ſehr leicht weshalb das Brod um ſo weniger nahrhaft iſt, je ſorgfältiger vorher die Kleie vom Mehl abgeſchieden war. Der merkwürdigſte Stoff, den wir als Zelleninhalt antreffen, bleibt aber ohne Zweifel das Stärkemehl, nicht allein weil es bei der Ernährung des Menſchen eine ſo weſentliche Rolle ſpielt, ſon— dern auch, abgeſehen davon, wegen der eigenthümlichen und meiſt zierlichen Geſtalten, welche es unterm Mikroſkop zeigt, und welche auf einen hohen Grad innerer Organiſation deuten. Es kommt in jeder Pflanze, in jedem Pflanzentheil vor, aber nur die Wurzeln, Knollen, Saamen und Früchte, und ſeltner (wie bei der Sagopalme) das Mark enthalten es in ſo großer Menge, daß man ſie als Nahrungsmittel benutzen kann, oder daß es der Mühe lohnt, das Stärkemehl daraus zu gewinnen. Einer höchſt wunderbaren Eigenſchaft des Stärkemehls verdan- ken wir es, daß wir überall daſſelbe auch in der kleinſten Menge im Innern der Pflanze erkennen können. Es wird nämlich, wenn man es mit einer Auflöſung von Jodine befeuchtet, plötzlich prachtvoll violett⸗blau gefärbt. Das Stärkemehl ſelbſt beſteht aus kleinen, glänzenden, durch— ſichtigen Körnern, die oft zu 20 —30 in einer Zelle liegen (Taf. II. Fig. 2, e). Die einzelnen Körnchen zeigen nicht ſelten einen ſehr zu— ſammengeſetzten Bau. Sie beſtehen aus einem kleinen Kern, um den ſich eine größere oder geringere Zahl Schichten abgeſetzt hat. Da dieſe Schichten gewöhnlich an einer Seite dicker ſind als an der andern, ſo erſcheint deshalb der Kern auch nicht immer in der Mitte (Taf. II. Fig. 3). Aber nicht in allen Fällen iſt dieſer Bau ſo leicht zu erkennen wie bei den eiförmigen Körnchen unſerer Kartoffel oder des ächten weſtindiſchen Arrowrosots (Taf. II. Fig. 5), (auch dieſes iſt nichts als ein ſehr reines Stärkemehl), oder wie bei den flachen a Ueber den innern Bau der Pflanzen. 35 ſcheibenförmigen Körnchen des oſtindiſchen Arrowroot (Taf. II. Fig. 6). Dafür zeigt ſich bei andern Pflanzen eine andere Eigen— thümlichkeit, daß nämlich die Stärkekörnchen zu 2, 3, 4 oder meh— reren mit einander vereinigt, gleichſam zuſammengewachſen ſind. Am ſchönſten ſieht man dies in den Zwiebeln der Herbſtzeitloſe (Gol- chicum autumnale), und ähnlich tritt dieſelbe Form bei dem viel häu— figer als das Achte im Handel vorkommenden unächten weſtindiſchen Arrowroot auf (Taf. II. Fig. 6). Ich habe ſo in kurzem, flüchtigem Umriß das ganze Innere der Pflanze gezeichnet. Wie einfach iſt der Bau, wie wenig verwickelte Verhältniſſe und wie unendlich ſind die Reſultate, welche die Natur durch dieſe einfachen Mittel erreicht! Die wenigen Andeutungen, die ich mir erlaubte über den Einfluß der Pflanzen auf das Wohlſeyn der Menſchen, ja ſelbſt auf die Möglichkeit ihrer Exiſtenz mögen ge— nügen; die vollſtändige Ausführung dieſes Themas würde hier zu weit führen; vollends aber der Reichthum und die Schönheit der Pflanzenwelt iſt der noch immer unerſchöpfte Vorwurf für alle Dich— ter aller Zeiten und aller Völker — aber hier trete ich zurück, denn der trockne Ernſt der Wiſſenſchaft reicht nicht in jene heiteren Regionen. Erklärung der Tafeln. Taf. I. Alle Figuren find ſtark vergrößert. Fig. 1. Zwei Zellen aus der Schneebeere. Man erkennt in jeder einen Zellenkern a. und zahlreiche Strömchen einer gelblichen ſchleimigen Subſtanz, welche von demſelben ausgehen oder zu ihm zurückkehren. Bei einigen derſelben iſt die Richtung des Stromes durch den Pfeil angedeutet. Fig. 2. Zwei Zellen aus dem Blatte der Gartennelke. Man unter ſcheidet die farbloſe Zellenwand, eine zarte, gelbliche, ſchleimige Auskleidung und einige größere durch Blattgrün gefärbte Körner. Fig. 3. Eine Zelle aus derſelben Pflanze, welche mit einem Tröpfchen Salpeterſäure und etwas Jodtinktur befeuchtet war. Die grünen Körner find bräunlich geworden, die ſchleimige Auskleidung der Zelle iſt geronnen, hat ſich in Folge deſſen von der Wand der Zelle zurückgezogen und bildet ein loſes in der— ſelben liegendes Säckchen. Fig. 4. Eine Netzfaſerzelle aus dem Blatte der breitblättrigen Ges nerie (Gesneria latifolia). Fig. 5. Eine Spiralfaſerzelle aus dem Blatte einer tropiſchen Orchidee (Pleurothallis ruscifolia). Fig. 6. Eine poröfe Zelle aus der Knolle einer tropifchen Orchidee (Ma- xillaria atropurpurea). Fig. 7. Eine Ringfaferzelle aus dem Stengel des italieniſchen Schilfrohrs (Arundo Dona). Fig. 8. Eine ſehr kurze Baſtfaſer (langgeſtreckte Zelle) aus dem Stengel des Flachſes. Fig. 9, Ein Stückchen einer Baumwollenfaſer. Erflärung der Tafeln. 33 Fig. 10. Ein Stück eines Fadens roher Seide von einem Cocon. Fig. 11. Ein Stückchen einer Faſer der Schaafwolle. Fig. 12. Ein Stückchen der von einem Blatte der Gartentulpe abge— zogenen Oberhaut. Sie beſteht aus länglichen, faſt ſechseckigen Zellen und zeigt auf dieſem Stückchen vier Spaltöffnungen (Athmungswerkzeuge der Pflanze a). Fig. 13. Ein zartes Schnittchen aus dem Stengel des italieniſchen Schilf— rohrs, ſo geſchnitten, daß eines der Gefäßbündel (der derben den Stengel durch— ziehenden Faſern) durch den Schnitt blos gelegt worden iſt. a. Zellen des Mar— kes. b. Gefäßbündel, beſtehend aus langgeſtreckten Zellen und zwar von Innen nach Außen auf einander folgend aus Ringfaſer-, einfachen Spiralfaſer-, poröſen— und Baſt⸗Zellen. C. Zellen der Rinde, die äußerſten enthalten einige durch Blatt— grün gefärbte Körnchen. Taf. II. Alle Gegenſtände ſind ſtark vergrößert dargeſtellt. Fig. 1. Einige Zellen aus einem Cactus, welche verſchiedene Formen von Kryſtallen enthalten, daneben einige freie Kryſtalle von noch andern Formen. Hier iſt zu bemerken, daß in der Natur dieſe ſämmtlichen Formen wohl niemals ſo nahe beiſammen vorkommen, als hier der Raumerſparniß wegen dargeſtellt iſt. Fig. 2. Der äußere Theil eines feinen Querſchnittes durch ein Roggen— korn. a. Einige Lagen gelblicher zuſammengedrückter Zellen, welche die Schaale des Kerns bilden. b. Die äußere Schicht der Zellen des Kerns; dieſelben ſind ganz mit einer gelblichen, ſchleimig-körnigen Subſtanz angefüllt. C. Die innern Zellen des Kerns, welche faſt nur Stärkemehlkörnchen enthalten, und nur hin und wieder etwas von jener ſchleimig- körnigen Subſtanz, welche den ſogenannten Kleber des Mehls bildet und eigentlich der nahrhafteſte Beſtandtheil des Getreides iſt. Die beim Schroten abgeſtreifte Kleie umfaßt mindeſtens alle Schichten bis c., alle übrigen in das weiße oder feine Mehl übergehenden Zellen gleichen in Form und Inhalt den unter c. beſchriebenen. Fig. 3. Stärkemehlkörner aus der Kartoffel. Fig. 4. Desgleichen, das oſtindiſche Arrowroot bildend. Fig. 5. Desgleichen, das ächte weſtindiſche Arrowroot bildend. Fig. 6. Desgleichen, das gewöhnlich im Handel vorkommende unächte weſt— indiſche Arrowroot bildend. Seinen mediciniſchen Eigenſchaften nach ſteht dies letztere übrigens dem ächten ganz gleich. Fig. 7. Ein Stückchen der äußern Zellenſchichten von dem rothgefleckten Blüthenſtiel der grünlich blühenden Veltheimie. Man erkennt fogleich, daß die rothen Flecken aus kleinen Zellengruppen beſtehen, welche einen rothgefärbten Saft enthalten, während die benachbarten mit grün gefärbten Stoffen erfüllt ſind. Zugleich iſt dies ein ſchlagender Beweis dafür, daß die einzelnen Zellen ganz von einander unabhängig und ringsum geſchloſſen ſind, weil ſich ſonſt die verſchieden gefärbten Säfte mit einander vermiſchen müßten. Fig. 8. Ein feines Längsſchnittchen vom Eichenholz, aus Holzzellen a. und poröſen Zellen P., ſogenannten Gefäßen des Holzes, beſtehend. 36 Erklarung der Tafeln. Fig. 9. Ein feines Querſchniktchen deſſelben Holzes. Man unterſcheidet leicht die kleineren aber ſehr dickwandigen Holzzellen a. von den ſehr großen aber verhältnißmäßig dünnwandigen Gefäßzellen b. auch auf dem Querſchnitt. Bei c. nimmt man noch einige Reihen eigenthumlicher Zellen wahr, vom Pflanzenanato⸗ men Markſtrahlen, vom Holzarbeiter Spiegelfaſern genannt, welche das Holz ſtrahlenfoͤrmig vom Marke bis zur Rinde durchziehen. Fig. 10. Ein zartes Längsſchnittchen aus dem Holze der gemeinen Kiefer, beſtehend aus ſehr langgeſtreckten poröſen Holzzellen, aber dadurch ausgezeichnet, daß die Poren mit zwei Kreiſen einem größeren äußeren a. und einem kleineren in⸗ neren b. bezeichnet ſind, eine Eigenheit, die in ähnlicher Weiſe nur beim Nadel⸗ holz vorkommt und es uns möglich macht dieſes auch noch aus der Braunkohle und im verſteinerten Zuſtande zu erkennen. Dritte Vorlesung. Ueber die Fortpflanzung der Gewächſe. Der Luft, dem Waſſer, wie der Erden Entwinden tauſend Keime ſich, Im Trocknen, Feuchten, Warmen, Kalten. — Fauſt. Tief im Innern feines Gemüthes fühlt der Menſch, daß er feiner beſſern Natur nach nicht dieſer Körperwelt, die ihn umgiebt, ange— höre, daß eine Welt ſelbſtſtändiger lebendiger Geiſter ſeine eigentliche Heimath ſey, und gern ſchwingt er ſich in begeiſterter Ahnung auf in jene Regionen, die ihm als ſein wahres Heimathland erſcheinen. Kehrt er nun zurück von ſolchen Ausflügen, zu denen ihm das Gefühl ſeines Urſprungs die Flügel geliehen, wird er nach ſolchen Erhebun— gen wieder zurückverſetzt in die todte Welt ſchwerer Maſſen, ſo trennt er ſich unwillig nur von ſeinen ſchönen Bildern und gern trägt er, zu— mal in der Jugend, wie des Individuums ſo des ganzen menſchlichen Geſchlechts, das freie geiſtige Leben, das ihm verwandt, über auf die ihn umgebende Natur. Die jugendliche Phantaſie leiht dem Fels, dem Baume, der Blume einen ſie belebenden Genius und in dem Rol— len des Donners hört ſie Gottes Stimme. Dem tritt dann die ernſte Wiſſenſchaft entgegen, fie entkleidet die Natur von jenem begeiſti— genden Zauber und unterwirft fie dem blinden Fatum ausnahmslo— ſer Naturgeſetze. Zwar iſt ihr Ziel eben den Geiſt in ſeiner Selbſt— ſtändigkeit unabhängig von der Natur in ſeine Rechte einzuſetzen und über fie in religiöſer Ahnung mit Bewußtſeyn das höchſte Weſen zu erheben, aber doch wird der Durchgang zu dieſem erhabenen Ziel von dem warmfühlenden Menſchen feindſelig empfunden und nur mit bit— term Schmerz trennt er ſich von den lebendigen Geſtalten, mit denen er ſeine Welt bevölkert hatte. Selten hat wohl Jemand dieſen Zwie— 60 Dritte Vorleſung. ſpalt der noch nicht zur höhern Verſöhnung gediehen, ſchöner aus— geſprochen als Schiller in ſeinen Göttern Griechenlands. Auch meine Lebensaufgabe iſt es, nach meinen Kräften an die— ſer Entgeiſtigung der Natur zu arbeiten und es war mir in meiner frühern Vorleſung vergönnt, nachzuweiſen, wie die das ſinnige Ge— müth ſo lebendig anſprechende Formenwelt der Pflanzen, ihr ſo geheim— nißvoll ſcheinendes ſtilles Weben und Wirken ſich vor dem Auge des beſonnenen Naturforſchers auflöſt in chemiſch-phyſicaliſche Proceſſe, die an und in einem unſcheinbaren Bläschen, der Pflanzenzelle, vor ſich gehen. Aber die ganze Pflanze iſt nicht eine einzelne Zelle, ſon— dern nur aus ſolchen zuſammengeſetzt, und zwar nach einer ſo be— ſtimmten Regel zuſammengeſetzt, daß ſeit Jahrtauſenden auf allen Puncten der Erde dieſelben feſtſtehenden Formen wiederkehren. Es fragt ſich nun allerdings, ob denn auch dieſes Zuſammentreten der Zellen zu ganzen Pflanzen beſtimmten Naturgeſetzen unterworfen ſey? Ehe man aber zur Beantwortung dieſer Frage geht, muß man die Art und Weiſe, wie ſich gewiſſe Pflanzenformen in der Natur erhal— ten, mit einem Worte die Fortpflanzung der Vegetabilien genauer ins Auge faſſen. Es ſey mir verſtattet, mich dieſer Aufgabe auf einem Umwege zu nähern. Am zweckmäßigſten laſſen wir uns hier von einer Ueber— ſicht der Maſſen animaliſchen Lebens auf der Erde leiten. Wohin immer den Menſchen ſeine Noth, Eigennutz oder edler Forſchungs— trieb führt, begleitet ihn das thieriſche Leben. Auf dem Meere um: ſpielt ihn die gewandte Schaar der Gefährten des Nereus, der Pi— lot gleitet ſeinem Schiffe voran und der gefräßige Hai folgt ihm, der Beute gewärtig. Auf dem Lande überall regt ſich um ihn, friedlich oder feindlich zu ihm geſtellt, der Thierwelt mannigfaches Formen— ſpiel. In dem beeiſten Norden begleitet ihn der treue Hund, das nützliche Rennthier, fängt er ſich den Kleidung, Nahrung und Licht gebenden Seehund, ſtellt fi ihm der Eis bar zum wilden Kampfe entgegen. Unter den ſenkrechten Strahlen der glühenden Sonne droht ihm der ſcharfe Zahn der großen Katzen, umſpielt ihn die ſchlanke “ * Ueber die Fortpflanzung der Gewächſe. 61 Gazelle, bietet ihm „was wiederkäut und die Klauen ſpaltet“ Nahrung und Kleidung dar. Auf den ſtarrenden Schneeflächen des Chimboraſſo umflatterte noch der Schmetterling Humboldt und ſeine Gefährten und noch weit über ihnen in unberechenbarer Höhe ſchwebte der rieſige Condor. Selbſt unter der feſten Decke, die wir betreten, wühlt der Wurm ſeine dunkeln Gänge. Und dieſe ganze Maſſe des Lebendigen, der Menſch ſelbſt nicht ausgeſchloſſen, lebt nur auf Koſten der ſchon fertigen organiſchen Subſtanz, die ihm Pflanzen⸗ und Thierwelt darbieten. Kein einziges lebendiges Ge— ſchöpf, welches wir dem Thierreich beizählen, kann ſich durch unor— ganiſche Nahrung erhalten. Die wenigen Beiſpiele, die uns bekannt geworden, die Erde freſſenden Otomaken, die Thonkugeln verſchlin— genden Neger, deren Humboldt gedenkt, die Beiſpiele, daß Men— ſchen in Hungersnoth ſogenanntes Bergmehl gegeſſen, oder, wie Ehrenberg kürzlich bei den Finnländern nachgewieſen, die Kieſelpanzer foſſiler Infuſorien verzehrt haben, ſind durch genaue phyſiologiſche Forſchungen dahin beſchränkt, daß dieſe unorganiſchen Stoffe nicht als Nahrung, ſondern nur als Abſtumpfungsmittel für den gereizten Zuſtand des Magens anzuſehen ſind. Aber gehen wir in eine frühere Periode unſerer Erde zurück, ſo zeigen ſich Maſſen von lebenden Weſen, die früher unſern Erdball be— völkerten, von denen wir kaum uns einen Begriff machen können, und, worauf ich hier gleich aufmerkſam machen will, faſt nur Thiere, die auf vegetabiliſche Nahrung angewieſen waren. Die großen Heerden von Mammuths, die die ausgedehnten Flächen Sibiriens durchzogen die zahlloſen Ueberbleibſel rieſengroßer Ochſen, Schaafe, Hirſche, Schweine und Tapire laſſen uns auf einen faſt eben fo großen Verbrauch von Pflanzenmaſſen in früheren Zeiten der Erde ſchließen als gegenwär— tig Statt findet. Und doch iſt Alles, was uns die Zahl der größern Thiere der untergegangenen Welt nennen kann, noch verſchwindend klein gegen die Maſſen unſcheinbarer Geſchöpfe, die uns aufbewahrt ſind. Die ganzen, theils noch beſtehenden, theils durch ſpätere Fluthen zer— ſtörten Bergketten, z. B. von Rügen bis zu den däniſchen Inſeln, die * 5 * 62 Dritte Vorleſung. weißen Kreidefelſen, die England den Namen Albion gaben und die ſich durch Frankreich bis ins ſüdliche Spanien ziehen, die ſämmt— lichen Kreideberge Griechenlands, denen unter Anderm Creta ſei— nen Namen Mn. beſtehen nach Ehrenbergs Unterſuchungen nur aus den Schaalen kleiner Muſcheln und Schnecken, theils zerſtört, theils wohl erhalten. Ja wenden wir uns an die kleinſten Geſchöpfe, die die Natur aufweiſt, Weſen, die durch die Menge der Individuen das er— ſetzen, was dem Einzelnen an Maſſe abgeht, Thierchen, die ſo klein, dem unbewaffneten Auge faſt unſichtbar, auch die meiſten von ihnen ſind, doch einen weſentlichen Zweck im Leben der ganzen Natur er— füllen, ſo erlahmt die Phantaſie gänzlich an den nur in abſtracten Zahlen auszuſprechenden Mengen. Großes Aufſehen hat mit Recht Ehrenbergs Entdeckung der foſſilen Infuſorien gemacht, denn hier verfagt uns die Anſchauung jedes Bild, um uns die Vorſtellung ſol- cher Mengen erfaßbar näher zu bringen. In einem Cubikzoll des Bilin er Polirſchiefers befinden ſich in runder Zahl 41,000 Millio⸗ nen Thiere, das ganze Lager hat aber 8—10 Quadratmeilen Aus- dehnung und eine wechſelnde Mächtigkeit von 2—15 Fuß. Ueberblicken wir nun dieſe ganze Thierwelt ſpecieller, ſo finden wir zwei große Abtheilungen, je nachdem ſich die Arten von Pflan— zen oder von Thieren nähren. Die letztern ſind der Artenzahl nach bei weitem die wenigſten und die einzelnen Arten zeigen eine geringe Individuenzahl. Zahllos ſind dagegen die Arten der Pflanzenfreſſer und nach wenn auch übertriebenen Berechnungen neuerer Werke ſoll man allein 560,000 Inſectenarten, von denen der größte Theil zu den Pflanzenfreſſern gehört, als auf der Erde lebend und verbreitet annehmen dürfen. Aber nicht genug, ganz allgemein ſind auch alle Arten der Pflanzenfreſſer an Individuenzahl den Fleiſchfreſſern über— legen. Alle großen Pflanzenfreſſer leben geſellig in zahlloſen Heer— den und jeder Controle ſich entziehend find beſonders die Schwarme der Inſecten, die durch ihre Menge und ungeheure Gefräßigkeit das erſetzen, was ihnen an körperlicher Größe abgeht; allein die deutſche Eiche muß 70 verſchiedene Inſecten ernähren. * * Ueber die Fortpflanzung der Gewächſe. 65 | Für alle dieſe hungrigen Gäſte mußte die Natur den Tiſch decken, als ſie die Pflanzen hervorrief, und wollte ſie ihre eine Schöpfung, die Thierwelt, nicht untergehen laſſen, ſo mußte ſie die Vermehrung der Pflanzen auf eine ſolche Weiſe n daß ſie, jedem ſchädlichen und ſtörenden Einfluſſe entzogen, einen allgemei— nen Mangel ganz unmöglich machte. Daß hierbei es nicht auf eine einfache, feſtbeſtimmte Form der Vermehrung ankommen durfte, wie bei den höheren Thieren, iſt für ſich klar und zeigt ſich noch um ſo mehr, wenn wir beachten, daß der Menſch und die meiſten Thiere gerade auf diejenigen Pflanzentheile bei ihrer Nahrung angewieſen ſind, die wir gewöhnlich für die einzi— gen Vermehrungsorgane der Pflanzen nehmen, ich meine die Saamen. Gleichwohl bot ſich dem forſchenden Blicke des Menſchen zuerſt die Beobachtung dar, daß die meiſten Pflanzen gewiſſe Organe bil— den, aus denen ſich unter Umſtänden eine neue Pflanze entwickelt, welche man bei den größeren ſchon fertig angelegt, von einigen Hül— len umſchloſſen, im Saamen, erkennen konnte: Nahe lag hier die Vergleichung mit einem Ei, in welchem der Keim ſchon zum jungen Thiere, zum Embryo, gezeitigt iſt. Aber man blieb dabei nicht ſtehen. Schon früh bemerkte man, daß es bei manchen Pflanzenarten zwei verſchiedene Formen von Individuen gebe, von denen nur die eine Form den Saamen trägt, wie beim Hanf (Cannabis sativa), der Dattelpalme (Phoenix dactylifera), den Piſtacien (Pistacia lentiscus). Ebenfalls ſehr früh machte man die Beobachtung, daß die Saamen der einen Pflanze gar nicht zur Ausbildung kommen, wenn nicht ein Exemplar von der anderen Form in ihrer Nähe wächſt und gleichzeitig blüht. Schon Theophraſt und Plin ius berichten, daß die Landleute, die ſich mit der Cultur der Datteln beſchäftigen, Blü— thenzweige des einen Baums zwiſchen die Blüthenzweige des ſaamen— tragenden aufhängen, um ſo die Entwicklung der Saamen und Früchte hervorzurufen. Kämpfer erzählt uns, daß bei einem Einfall der Türken in Baſſora die Einwohner den Feind allein dadurch zur Rückkehr gezwungen hätten, daß ſie ſchnell alle Palmenbäume der 64 Dritte Vorleſung. einen Art abgehauen, ſo daß die andern unfruchtbar geworden ſeyen, wodurch dem Feinde das einzige Nahrungsmittel entzogen ſey. Noch auffallender erſcheinen die zuerft von Micheli an einer italieniſchen Waſſerpflanze (der Vallisneria spiralis) wahrgenommenen Vorgänge. Die Pflanze hat zwei verſchiedene Arten von Blüthen; die einen, in welchen ſich die Saamen entwickeln, ſind lang geſtielt und erheben ſich an die Oberfläche des Waſſers, die anderen ſind aber kurz ge— ſtielt und dadurch am Grunde gefeſſelt. Zu einer beſtimmten Zeit reeißen ſich dieſe Letzteren vom Stiele los, erheben ſich an die Ober— fläche und ſchwimmen zu den andern Blumen hin, die dann erſt fähig werden, ihre Saamen zu entwickeln. Die noch durch keine genaue wiſſenſchaftliche Beobachtung in Schranken gehaltene Phantaſie war gleich bei der Hand, aus dieſen beiden Blumen Mann und Weib zu machen und den geheimen Zug der Liebe, der die Menſchenbruſt beſeligt, auch auf die angeführten Naturerſcheinungen zu übertragen. Kaum war der Gedanke in Anre⸗ gung gebracht, ſo bemächtigte ſich die Wiſſenſchaft deſſelben, führte ihn ins Einzelne für alle Pflanzen aus, und noch heute nennen wir dar— nach die Lin né'ſche Anordnung der Pflanzen das Sexualſyſtem. Leider tritt dieſen ſchönen, beſonders von Dichtern oft ſo zart ausgeſponnenen Träumen die beſonnene Wiſſenſchaft mit ihren neuern Entdeckungen entgegen und weiſt nach, daß von allen dieſen erträumten Aehnlichkeiten mit den ganz anders organiſirten Thieren durchaus auch nichts gegründet ſey. Es war insbeſondere der An— theil, den ich an der Fortbildung der Botanik genommen habe, der dieſes Reſultat zu Tage legte. Um aber den wirklichen Vorgang bei der Vermehrung der Ge— wächſe kurz ſchildern zu können, muß ich an das erinnern, was mir in einer frühern Vorleſung vorzutragen vergönnt war. Ich hatte nämlich bemerkt, daß unter Anderm der einzelnen Pflanzenzelle auch das Vermögen zukomme, in ihrem Innern neue Ze en zu bilden und ſo gleichſam ſich fortzupflanzen. Die neu entſtandenen Zellen haben aber immer zugleich die Eigenheit, daß ſie ſich der Zelle, in der ſie * F Ueber die Fortpflanzung der Gewächſe. 65 entſtanden, conform ausbilden und anordnen. Dadurch nun iſt bei allen Pflanzen die Möglichkeit gegeben, daß ſich aus jeder von ihren Zellen, wenn dieſe in begünſtigende Verhältniſſe verſetzt wird, eine neue Pflanze entwickeln könne, und darin iſt die Leichtigkeit, mit der ſich faſt alle Pflanzen vermehren laſſen, begründet. Man kann hier aber noch ſehr verſchiedene Stufen unterſcheiden nach den verſchiedenen Verhältniſſen, unter denen die Natur die Ent— wicklung der einzelnen Zelle zu einer neuen Pflanze möglich macht. 1) In der ganz allgemeinen Form, wie ich das Geſetz eben aus- geſprochen, kommt die Sache nur höchſt ſelten vor, weil nur in ſehr ſeltenen Fällen das nothwendige Zuſammentreffen aller begünſtigen— den Verhältniſſe eintritt. Indeß giebt es doch in der That einige ſo auffallende Beiſpiele der Art, daß Blätter einer Pflanze auf der Erde und ſelbſt im Herbarium ſich plötzlich ganz mit Knoſpen, was eben ſo viel heißt als mit Anlagen zu neuen Pflanzen, bedeckt haben, daß man an der Gültigkeit des Geſetzes nicht mehr zweifeln darf. 2) Gar häufig kommen dagegen Beiſpiele vor, in denen eine etwas beſchränktere Anwendung des Geſetzes Statt findet, indem nämlich ganz beſt immte Stellen an Blättern dazu gebracht werden können, junge Pflänzchen hervorzubringen. Wenn man z. B. ein Blatt von Bryophyllum calycinum auf feuchte Erde legt, ſo entwickeln ſich aus allen Einkerbungen des Blattes junge Pflanzen, die nur der außerordentlichen Entwicklung einzelner beſtimmter Zellen des Blat— tes ihr Daſeyn verdanken können (vergl. Taf. III. Fig. 5). Aehn⸗ liches findet an der Bruchfläche abgepflückter Blätter bei den ſchönen ſcharlachroth blühenden Echeverien und bei vielen andern aus der Gruppe der ſogenannten Fettpflanzen, ſowie bei den Orangenbäu— men Statt. Unſere Gärtner benutzen dieſe Erſcheinung zur Vermeh— rung dieſer Gewächſe, und ſchon im Mittelalter reiſte ein Italiener Mirandola umher und brüſtete ſich mit der geheimen Kunſt, aus Blättern Bäume zu ziehen. Bei den prachtvollen Gesnerien darf man nur eine der dicken Adern des Blattes einknicken und nach acht Ta— 1 gen hat ſich an der Bruchfläche ein neues junges Pflänzchen erzeugt. Schleiden, Pflanze. 9 7 66 Dritte Vorleſung. 3) Bei noch andern Pflanzen geſchieht es, daß ſich ganz regel— mäßig und von ſelbſt ſchon an den Blättern, die noch am Stengel feſtſitzen, kleine Knöllchen bilden, auf deren Spitze eine Knospe, aus deren unte heile Wurzeln hervortreten um ſo eine neue Pflanze darzuſtellen. Beſonders findet ſich dieſe Eigenthümlichkeit bei vielen Farnkräutern und Aroideen, den Verwandten unſerer ſogenann— tue Calla (richtiger Richardia) aethiopica. Zwar iſt hier immer noch der Sitz dieſer Knollen und Knospenbildung ein nicht ganz beſtimmter, aber doch ſchon in ſo fern ein geſetzmäßiger, als gewiſſe Stellen des Blattes, namentlich die Winkel der Adernvertheilung, ausſchließlich die Fähigkeit ſolche Knospen zu bilden beſitzen. Sobald nun ein ſolches Blatt im natürlichen Laufe der Vegetation abſtirbt, fallen jene Knolltnospen, die allein lebenskräftig bleiben, auf den Boden und wachſen hier zu ganzen vollſtändigen Pflanzen aus. Hier tritt alſo auch ſchon eine wirkliche natürliche Fortpflanzung oder Vermehrung der Individuen ein, worauf es uns zunächſt vorzugsweiſe ankommt. 4) Schon bei weitem mehr an beſtimmte Bedingungen gebun— den iſt das folgende Verhältniß. Eigentlich beſteht die einfache Pflanze nur aus einem einfachen Stengel und ſeinen Blättern; in dem Winkel der Blätter bilden ſich aber ganz regelmäßig beſtimmte Zellen zu Knospen aus (Taf. III., Fig. 3). Eine Knospe iſt nun im Grunde weiter nichts als eine Wiederholung der Pflanze, an der ſie ſich bildete. Eine neue Pflanze der Anlage nach beſteht ſie eben— falls aus Stengel und Blättern und der Unterſchied iſt nur der, daß der Stengel der Knospe an ſeinem Grunde aufs Innigſte mit der Mutterpflanze verwachſen, kein freies Wurzelende hat, wie es die aus einem Saamen entwickelte Pflanze zeigt. Indeß iſt dieſer Unter— ſchied ſo groß nicht wie er auf den erſten Anblick ſcheint. Jede höher organiſirte Pflanze beſitzt nämlich die Fähigkeit, unter dem begünſti— genden Einfluß der Feuchtigkeit aus ihrem Stengel hervor Neben— wurzeln zu treiben und ſehr häufig muß eine Pflanze, auch wenn ſie aus dem Saamen gezogen wird, ſich ganz mit ſolchen Nebenwurzeln 0 begnügen, da es in der Natur vieler Pflanzen, z. B. der Gräſer, liegt, Ueber die Fortpflanzung der Gewächſe. 67 daß ihre eigentliche Wurzel, wenn ſie ſchon der Anlage nach vor— handen iſt, doch niemals zur Entwicklung kommt. Wir ſind nun freilich gewohnt, uns die Sache ſo zu denken, als ob ſich die Knospen immer an der Pflanze ſelbſt und mit ihr in Verbindung zu Zweigen und Aſten entwickeln müßten und wir ſehen ſie denn auch im gewöhnlichen Leben als Theile einer Pflanze und nicht als ſelbſtſtändige Pflanzen an, was ſie doch in der That find, obwohl fie, gleichſam wie Kinder die noch im Vaterhauſe blieben, in der engſten Verbindung mit der ſie erzeugt habenden Pflanze verharren. Daß ſie aber wenigſtens der Möglichkeit nach vollkommen ſelbſtſtändige Pflanzen ſind, zeigt ein Verſuch der bei der nöthigen Sorgfalt häufig gelingt, nämlich das Abbrechen und Ausſäen der Knospen unſerer Waldbäume. Ebenſo beruhen hier— auf die bekannten Gartenoperationen des Pfropfens und Oculi— rens und das Ziehen von Abſenkern und Stecklingen unterſcheidet ſich von dem erwähnten Ausſäen der Knospen nur dadurch, daß man dieſelben erſt an der Mutterpflanze bis zu einer gewiſſen Reife der Entwicklung kommen läßt, ehe man ſie vom Stamme trennt. Alles beruht hier auf der Leichtigkeit mit der dieſe Knospen-Pflan⸗ zen Nebenwurzeln treiben (ſich bewurzeln) ſobald ſie mit feuchter Erde in Berührung kommen. Aber weit entfernt, daß nur der Menſch allein hier eine ſolche künſtliche Vermehrung der Pflanzen erzwänge, ſo benutzt vielmehr die Natur außerordentlich häufig dieſes Mittel um die Vervielfäl— tigung gewiſſer Pflanzen ſelbſt in ungemeſſener Menge hervorzu— rufen. Selten iſt hier der Vorgang dem künſtlichen Ausſäen der Knospen ähnlich, indem die Pflanze zu beſtimmter Zeit die gebildeten Knospen freiwillig abſtößt, wie das zum Beiſpiel bei der Feuerlilie unſerer Gärten mit den kleinen zwiebelähnlichen Knospen, die in den Winkeln der oberen Blätter ſich zeigen, geſchieht. Gewöhnlicher iſt der Vorgang folgender: die Knospen an einer Pflanze, welche ſich dem Erdboden nahe gebildet haben, wachſen aus, alſo zu einem Zweige mit Blättern; der Zweig ſelbſt aber wird ganz lang, dünn 5 * 68 Dritte Vorleſung. und zart, die Blätter erſcheinen verkümmert als kleine Schu ppen, in ihren Winkeln dagegen entwickeln ſich kräftige Knospen, welche ſich in demſelben oder doch im nächſten Jahre bewurzeln und dadurch daß der dünne ſie mit der Mutterpflanze verbindende Zweig abſtirbt und verweſt, zu freien ſelbſtſtändigen Pflanzen werden. Auf dieſe Weiſe überzieht unſere Erdbeere (Taf. III. Fig. 4.) in kurzer Zeit einen ganzen nicht angebauten Garten; in dieſer Weiſe faſt allein vermehrt ſich die Kartoffel, denn dieſe nützliche Knolle iſt nichts als eine in der Erde gebildete große fleiſchige Knospe; in ähnlicher Weiſe endlich bedeckt die kleine ſelten blühende und Saamen tragende Waſ— ſerlinſe (Entenflott) im Frühjahr in kurzer Zeit unſere Gräben und Teiche mit Tauſenden von Individuen. Zahlreiche ähnliche Bei— ſpiele ließen ſich noch anführen, es mögen indeſſen dieſe als die nächſtliegenden hier genügen. — In merkwürdiger Beziehung ſteht aber dieſe Fortpflanzung durch Knospen zu der weiter unten anzu— führenden Vermehrung durch Saamen, indem man die durchſchnitt— lich gültige Regel aufſtellen kann, daß ſich eine Pflanze um ſo mehr durch Knospen vervielfältigt je weniger ſie reifen Saamen entwickeln kann und umgekehrt; die Natur hat hier gleichſam dafür geſorgt, daß unter allen Umſtänden die Pflanzen erhalten werden ſollen. 5) Alle die bis jetzt angeführten Vermehrungsweiſen der Pflan— zen kann man als die unregelmäßige Fortpflanzung zuſammenfaſſen und ihnen die regelmäßige Fortpflanzung gegenüberſtellen, welche im Weſentlichen folgende Erſcheinungen zeigt. Jede Pflanze bildet näm⸗ lich in ihrem Innern eine beſtimmte Menge einzelner loſer, mit ein— ander nicht verbundener Zellen, die zu einer gewiſſen Zeit ſich von der Pflanze freiwillig trennen. Eigen iſt, daß bei den Pflanzen, die wirkliche Blätter haben, ſich dieſe Zellen nur im Innern der Blät⸗ ter ausbilden, wobei aber die Blätter oft eine ſehr abweichende Ge— ftalt annehmen, wie z. B. die Staubfäden). — Auch iſt noch ein an⸗ deres Verhältniß merkwürdig. Nur bei den niedrigſten ſowie bei den ) Dieſe find nur abweichend gebaute Blätter, Man vergleiche die folgende Vorleſung. E A. Ueber die Lean der Gewächſe. 69 ganz unter Waſſer blühenden Pflanzen iſt die Fortpflanzungszelle nackt (Taf. III. Fig. 1.), bei allen andern iſt fie von einer ganz eis genthümlichen, chemiſch noch nicht erforſchten, meiſt gelb ausſehen— den, äußerſt ſchwer zerſtörbaren Subſtanz überzogen. Dieſe Sub— ſtanz nimmt oft ganz wunderbare Formen an. Dft gleichen fie klei— nen Wärzchen, oft Stacheln, oder ſie bilden kleine vorſpringende Leiſten, Bogengänge, Feſtungsmauern mit Thürmchen und ſo weiter. Aber auch nicht die leiſeſte Andeutung hat uns bis jetzt die Natur über den möglichen Zweck dieſer Formenſpiele gegeben. So zierlich ſie ſind, ſo völlig unnütz ſcheinen ſie zu ſeyn. Fritſche in Petersburg hat in einem eignen Werke eine große Menge der niedlichſten For— men abgebildet. Jene Zellen ſind nun vorzugsweiſe zur Vermehrung beſtimmt, indem ſich aus jeder Einzelnen eine neue Pflanze entwickelt. Es kommt bei dieſer Entwicklung aber noch eine weſentliche Verſchie- denheit vor, die man ſchon früh bemerkte und an der man fo feſt— hielt, daß man darüber die höhere Uebereinſtimmung ganz überſah. Es finden nämlich folgende beiden Entwicklungsweiſen Statt: A. In dem einen Falle werden die zur Vermehrung beſtimmten Zellen gleich dorthin auf den Boden oder in das Waſſer verſtreut, wo die neue Pflanze wachſen ſoll. Entweder bildet ſich dann die ganze Zelle allmälig zu einer neuen Pflanze um, indem in ihr neue Zellen entſtehen und an ihre Stelle treten, in dieſen abermals und ſo fort, wie dies bei den Alg en (Taf. III. Fig. 1.), Pilzen, Flech— ten und einem Theil der Lebermooſe der Fall iſt, oder die Zelle dehnt ſich in einen länglichen Schlauch aus und nur das Ende dieſes Schlauches füllt ſich mit Zellen die allmälig zur neuen Pflanze her— anwachſen, während der übrige Theil der Fortpflanzungs-Zelle all— mälig abſtirbt. Dies iſt denn der Fall bei den übrigen Lebermoo— fen, den Laubmooſen, Farnkräutern, Bärlapparten und Schachthalmen. Ein Beiſpiel dieſer letzten Entwicklungsweiſe bieten uns in jedem Treibhauſe die Farnkräuter, welche hier faſt immer keimend zu finden ſind. (Verg. Taf. III. Fig. 2.) Dieſe ſämmtlichen hier genannten nn bezeichnete Linne 70 Def porteſeng . als Kryptogamen, oder verborgen blühende, weil er fälſchlich vorausſetzte daß ihnen das im folgenden zu erwähnende zweite Organ der Fortpflanzung „die Saamenknospe“ keineswegs fehle, ſondern nur jo klein uud verſteckt ſey, daß man es bisher nicht habe auffin- den können. In der That iſt es aber gar nicht oder nur in unwe⸗ ſentlichen Andeutungen vorhanden. Bei allen dieſen Kryptogamen nennt man die Fortpflanzungszellen Sporen oder Keimkörner. B. Anders aber verhält ſich die Sache bei denjenigen Pflanzen, die man mit Linné Phanerogamen oder offenbar blühende nennt. Die Vermehrungszellen, die hier Pollen oder Blüthenſtaub ge— nannt werden, bilden ſich in eigenthümlich veränderten Blättern, die Staubfäden heißen. Neben dieſen Staubfäden finden ſich aber in den Blüthen auf derſelben Pflanze oder auf verſchiedenen Pflan— zen noch andere Organe. Dieſe beſtehen im Weſentlichen aus einem hohlen, meiſt birnförmigen Körper, der nach oben eine kleine Oeff— nung hat. Man nennt ihn Fruchtknoten und die Oeffnung Narbe. In der Höhle befinden ſich kleine aus Zellgewebe beſte⸗ hende Knöpfchen, die Saamenknospen, denen man früher den ſehr unpaſſenden Namen Eierchen gegeben hatte. In jeder Saa— menknospe zeigt ſich eine außerordentlich große Zelle, die mik das Keimſäckchen (Embryoſack) nennt. Zur Zeit der Blüthe nun fällt der Blüthenſtaub auf die Narbe, und hier fängt die Entwicklung der Fortpflanzungszellen an. Jede von ihnen dehnt ſich lang und faden⸗ förmig aus, gerade wie bei den Kryptogamen, und dringt dabei in dieſer Form erſt in die Höhlung des Fruchtknotens und dann in eine der Saamenknospen und zwar bis in den Embryoſack hinein. Das eingedrungene Ende füllt ſich dann mit Zellen und dieſe entwickeln ſich dann zu einem vollſtändigen, obwohl noch einfachen und klei— nen Pflänzchen, dem ſogenannten Embryo oder Keim. (Vergl. Taf. III. Fig. 6 — 9.) Gleichzeitig mit der Ausbildung der Pollen— zelle zur Keimpflanze entwickelt ſich auch die Saamenknospe zum Saamen, der Fruchtknoten zur Frucht. Nun tritt plötzlich ein Stillſtand im Wachsthum ein und der Saame kann oft lange in Ueber die Fortpflanzung der Gewächſe. 71 dieſem Zuſtande von Scheintod aufbewahrt werden. So wie aber begünſtigende Einflüſſe von Außen hinzutreten, beginnt das Leben von Neuem und es zeigt ſich die weitere Entfaltung der Pflanze, die wir gewöhnlich Keimen nennen. (Taf. III. Fig. 10-12.) Wie lange dieſe Lebenskraft im Saamen ſchlummern kann, geht daraus hervor, daß der verſtorbene Graf von Sternberg (wie ſpäter ein Eng— länder) aus Weizenkörnern, die in einem Mumienſarge gefunden waren, die alſo an 3000 Jahre geruht hatten, ſehr geſunde Weizen— pflanzen erzog und dieſe der Verſammlung der Naturforſcher in Frei— burg vorlegte. Bei den Kryptogamen genannten Pflanzen iſt es von ſelbſt klar, daß die Vermehrung der Pflanzen vollſtändig geſichert iſt, in— dem die Sporen, die noch dazu in ungeheurer Anzahl vorhanden ſind, ſogleich auf den Boden fallen, in welchem ſie ſich vollſtändig entwickeln ſollen. Bei den Phanerogamen iſt die Sache indeß ſchein— bar nicht ſo ganz ſicher. Freilich ſtehen in ſehr vielen Blüthen der Fruchtknoten und der Staubfaden ſo nahe beiſammen geſellt, daß der Blüthenſtaub den Ort, an dem er ſeine Entwickelung beginnen ſoll, die Narbe, ſcheinbar nicht verfehlen kann. Dieſe räumliche Be— ziehung genügt indeß allein noch nicht, es müſſen auch beide Theile, Staubfäden und Fruchtknoten oder richtiger Blüthenſtaub und Narbe, gleichzeitig auf gleicher Stufe phyſiologiſcher Entwicklung ſtehen; wenn der Staubbeutel aufſpringt, wenn der Pollen ausfällt, muß die Narbe auch bereit ſeyn, ihn aufzufangen und ſeine Entwicklung hervorzurufen. Dieſes findet nun aber in gar vielen Blüthen nicht Statt; vielleicht bei Weitem öfter als man gewöhnlich glaubt geht der Blüthenſtaub für die Narbe derſelben Blume verloren weil ſie noch nicht weit genug ausgebildet oder im Gegentheil ſchon im Abſterben begriffen iſt, wenn der Augenblick der Ausſtreuung des Pollens her— annaht. Noch ſchwieriger wird die Sache bei einer nicht unbeträchtli— chen Anzahl von Pflanzen, bei denen jede Blüthe entweder nur Staub— fäden oder nur Fruchtknoten enthält und wo dieſe bei den Blüthen— arten an derſelben Pflanze oder gar auf verſchiedenen Pflanzen räum 72 Dritte Vorleſung. lich von einander getrennt find, die Linné als Einhäuſige (Mo: nöciſten) und 3Zweihäuſige Diöciſten) bezeichnete. Ja, in manchen Pflanzengruppen, z. B. bei den Afclepiadeen und Orchideen, ſcheint ſich die Natur ordentlich Mühe gegeben zu haben durch den ver— wickelten und abweichenden Bau der Organe jedes natürliche Zuſam— menkommen des Blüthenſtaubs und der Narbe geradezu unmöglich zu machen. Hier treten nun auf wunderbare Weiſe andere der Pflanzenwelt ganz fremde Naturkräfte ins Mittel und greifen, indem ſie ihre eignen unabhängigen Naturzwecke erfüllen, ganz beiläufig auf eine ſo we— ſentliche Weiſe in das Leben der Pflanzenwelt ein, daß man glauben ſollte dieß ſey ihre einzige Beſtimmung. — Denn find es Landpflanzen, ſo treibt der Wind die ungeheure Menge des Blüthenſtaubs weit umher und die Luft iſt oft ſo ſehr damit erfüllt, daß ein plötzlicher Regen den Blüthenſtaub in ſichtbarer Menge als ſogenannten Schwe— felregen aus der Luft niederſchlägt. Bei ſo großem Ueberfluß er— reichen dann natürlich auch Körner genug den Ort ihrer Beſtimmung. Sind es dagegen Waſſerpflanzen, ſo ſchwimmt der Fruchtknoten in einer Weiſe, daß die leichten Wellen ihn beſpülen, und der im Waſſer umhertreibende Blüthenſtaub wird ſo an ſeinen Ort gebracht. Bei den meiſten Pflanzen aber ſind die Inſecten, die ihre Nahrung in dem ſüßen Safte der Blüthen ſuchen, zugleich gezwungen, den Transport des Blüthenſtaubs an den Ort ſeiner Beſtimmung zu übernehmen. Beſonders in den beiden großen Pflanzenfamilien, den Aſelepia— deen, denen die ſyriſche S eid enpflanze angehört, und den Orchi⸗ deen, die mit ihren prachtvollen, bunten Schmetterlingen und wun— derlich gebauten Inſecten gleichenden Blüthen die feuchtwarmen Schatten der Tropenwälder ſchmücken — bei dieſen beiden Pflanzen⸗ gruppen beſonders zeigt ſich das entſchiedene Eingreifen der belebten Geſchöpfe zur Vermehrung der Pflanzen. Bei ihnen iſt der Blüthen- ſtaub jedes Staubbeutels durch einen dem Vogelleim ähnlichen Stoff zu Einer Maſſe zuſammengeklebt und hängt ſich den Nectar ſuchenden Inſecten fo feſt an, daß ſie ihn nicht abwerfen können. Die Honig— behälter find in einer Weiſe in den Blumen angebracht, daß das In— Ueber die Fortpflanzung der Gewächie. 2 75 ſect, um zu denſelben zu gelangen, nothwendig eng an der Narbe vor— bei ſtreifen muß, und ſo wird der Blüthenſtaub an ſeinen Ort gebracht. Oft ſieht man auf der Seidenpflanze Fliegen umherkriechen die eine große Anzahl ſolcher keulenförmigen Pollenmaſſen an den Beinen hängen haben und in einigen Gegenden kennen die Bienenväter eine eigne Krankheit ihrer fleißigen Thierchen, „die Keulenkrankheit“, die in nichts Anderem beſteht als daß ſich ſo viele Blüthenſtaubmaſſen der Orchideen an die Stirne der Bienen feſtgeheftet haben, daß ih— nen das Fliegen unmöglich wird und ſie darüber zu Grunde gehen. Ueber den Antheil den die Inſecten an der Fortpflanzung der Vegetabi— lien nehmen, haben wir am Ende des vorigen Jahrhunderts ein weit— läufiges Werk von einem Rector Chriſtian Conrad Sprengel erhalten, der in ſeinem warmen Beobachtungseifer den Inſecten faſt die ganze Gärtnerei der Natur übertragen wollte. Leicht mag es ſeyn, mit einem ironiſchen Lächeln dem kindlichen Sinn des gläubigen Na— turfreundes im Einzelnen feine Beſchränktheit nachzuweiſen, ſchwer bleibt es, den richtigen Standpunct für die Beurtheilung dieſer ſcheinbar wunderbarften Erſcheinung in dem Leben der Natur zu gewinnen. Freilich iſt es ein ſehr natürlicher Zuſammenhang, wenn in einer Pflanze neben dem Blüthenſtaub auch eine klebende Sub— ſtanz gebildet wird; es iſt leicht erklärt, daß dadurch der Blüthen— ſtaub nothwendig an der Biene hängen bleiben muß, es iſt aller— dings das Einfachſte und Natürlichſte, anzunehmen, daß ſie beim Weiterſchwärmen auch dieſen Blüthenſtaub zufällig einmal an der rechten Stelle abſtreifen wird, — daß ein Bächlein fließend in kleinen Wellen ſpielt, daß bei dem durch den heißen Sand der Sahara auf— gehobenen Gleichgewicht der Luft der Wind den leichten Blüthenſtaub der Dattelpalme umherweht, iſt freilich ein natürliches Ereigniß und beruht auf ausnahmsloſen Naturgeſetzen. Und dennoch, wenn wir die Phänomene im Großen, im Zuſammenhange auffaſſen, ſo können wir die Fragen, die ſich uns aufdrängen, weder zurückweiſen, noch auch ſogleich beantworten. Was hat denn der Wind mit der Dattel— ernte von Biledulgerid und mit dem Lebensunterhalt von Mil— a 74 3 Dritte Vorleſung. Ueber die Fortpflanzung der Gewächſe. lionen Menſchen zu ſchaffen? Was weiß die ſeelenloſe Welle, welche die Cocusnuß an die fernen unbewohnten Inſeln trägt, wo ſie am Strande keimt, davon, daß dadurch der Ausbreitung des Menſchen— geſchlechtes der Weg gebahnt wird? Was geht es die Gallwespe an, daß fie durch ihre Geſchäftigkeit den Feigenhandel Smyrnas möglich macht und Tauſenden von Menſchen Nahrung und Unterhalt gewährt; oder begreift der Käfer, der durch ſein Naſchen die Vermehrung der Kamtſchatkiſchen Lilie (Lilium camschaticum) erleichtert, daß ihre Zwiebeln in folgenden harten Wintern die ganze Bevölkerung Grönlands vor dem Hungertode ſchützen werden? Wenn auch alles Dieſes im Einzelnen auf weſenloſen Naturgeſetzen beruht, wo⸗ her dies wunderbare Ineinandergreifen und Zuſammenſpielen der un— tergeordneten Naturkräfte, um Wirkungen hervorzubringen, die ſo tief in die Geſchichte der Menſchheit eingreifen? Wir durchſchauen wohl den Mechanismus der Marionetten, aber wer hält die Fäden in ſeiner Hand und leitet alle Bewegungen zu Einem Zweck? Hier iſt die Aufgabe des Naturforſchers zu Ende und ſtatt aller Antwort weiſt er über die Raumwelt der todten Maſſen hinaus dahin, wo wir in heiliger Ahnung den Lenker der Welten ſuchen. * Erklärung der Abbildungen. Taf. III. Die meiften Gegenftände find auf dieſer Tafel ſtark vergrößert dar— geſtellt; wo dies nicht der Fall iſt, wurde es durch die Buchſtaben „n. G.“ (na⸗ türliche Größe) ausdrücklich bemerkt. Fig. 1. Entwicklung einer Fortpflanzungszelle von einem Waſſerfaden (einer Conferve), welcher ſich häufig als grüner fadenförmiger Schleim in unfern ſtehenden Gewäſſern findet. a. Die Spore (Fortpflanzungszelle). b. Erſte Stufe der Entwicklung. Die Spore hat einen dünnen ſchlauchförmigen Fortſatz getrieben. c. Zweite Entwicklungsſtufe. Der Fortſatz hat ſich verlängert und am entgegen— geſetzten Ende der Spore iſt eine neue Zelle entſtanden. d. Vierte Stufe. Die junge Pflanze hat ſich mit dem Fortſatz an ein Stückchen Holz befeſtigt und wächſt auf der entgegengeſetzten Seite allmälig zum vollſtändigen Faden aus, indem ſich daſelbſt immer mehr neue Zellen bilden. Fig. 2. Entwicklung einer Spore eines Farnkrautes. a. Die Spore, welche hier nicht aus der Fortpflanzungszelle allein beſteht, ſondern noch mit einem eigenthümlichen dunkeln Ueberzug bedeckt iſt. b. Erſte Stufe. Die Zelle hat den Ueberzug durchbrochen, indem fie ſich ſchlauchförmig verlängert. c. Zweite Stufe. Im hervorgeſchobenen Ende des Schlauches haben ſich mehrere Zellen gebildet und ſchon grün gefärbt, die urſprüngliche Zelle bleibt aber immer in dem dunkeln Ueberzuge ſtecken. Eine Zelle hat einen kleinen Fortſatz getrieben. d. Dritte Stufe. Die grünen Zellen haben ſich ſo weit vermehrt, daß ſie ein kleines rund— liches Blättchen, den Vorkeim, darſtellen. e. Vierte Stufe (n. G.). Der Vor— keim iſt zweilappig oder herzförmig geworden. Die Sporenzelle mit ihrem Ueber— zuge und dem einen Ende des Schlauches beginnt abzuſterben. k. Fünfte Stufe (n. G.). In der Kerbe des größer gewordenen Vorkeims hat ſich ein Knötchen gebildet, welches nach Unten in eine Wurzel auswächſt, nach Oben das erſte Blatt hervorzutreiben beginnt. g. Sechſte Stufe (n. G.). Der Vorkeim iſt in ſeiner höchſten Ausbildung und beginnt von hier an abzuſterben. Das erſte Blatt der Pflanze iſt ganz entwickelt, das zweite im Beginnen, die Wurzel veräſtelt ſich. h. Siebente Stufe (n. G.). Der Vorkeim iſt völlig abgeſtorben und zerſtört. Die junge Pflanze vollkommen gebildet, entwickelt ſich jetzt ohne beſondere Er— ſcheinungen weiter. Fig. 3. (n. G.). Ein Zweig mit einem Blatte, in deſſen Achſel eine Knospe, d. h. eine mit der Hauptpflanze verbundene neue Pflanze ſich gebildet hat. Fig. 4. Eine Pflanze der Garten erdbeere (% der natürlichen Größe). Die Hauptpflanze a. hat aus den Achſeln ihrer Blätter dünne Zweige getrieben, welche ſtatt mit ausgebildeten Blättern nur mit ſchuppenförmigen Blattbildungen ſehr weitläufig beſetzt ſind; man nennt ſie Ausläufer. Aus der Achſel jedes dieſer ſchuppenförmigen Blätter entwickelt ſich eine Knospe, welche ſogleich nach Unten Wurzel ſchlägt und ſich zu einer vollſtndigen Erdbeerpflanze c. entwickelt. Im * 76 Erklärung der Abbildungen. folgenden Jahre ſtirbt der Verbindungszweig mit der Mutterpflanze b. ab und dieſe iſt dann von einer großen Anzahl junger Nachkommen umgeben. Fig. 5. Ein Blatt von Bryophyllum calycinum (n. G.). welches auf feuchte Erde, gelegt (feuchte Luft hat denſelben Einfluß) nach und nach in allen Einkerbungen ſeines Randes kleine Pflänzchen entwickelt. Fig. 6. Ein Längsdurchſchnitt durch den Stempel des Gartenſtiefmüt— terchens (Viola tricolor). In der kopfförmigen hohlen Narbe a. liegen eine Menge Fortpflanzungszellen (Blüthenſtaub), aus den aufgeſprungenen Staubbeuteln hierher verſetzt. Dieſelben haben ſich ſämmtlich in lange Schläuche ausgedehnt, welche durch den Canal des Staubwegs b. herab bis in den Fruchtknoten e. kriechen und hier theilweiſe in die zahlreich vorhandenen Saamenknospen d. eintreten. Fig. 7. Eine einzelne Saamenknospe derſelben Pflanze durch einen Längs⸗ ſchnitt geöffnet, nebſt dem ganzen Schlauch der Fortpflanzungszelle. Dieſe a. iſt wie beim Farnkraut von einer dunkeln Umhüllungsſubſtanz eingeſchloſſen, welche der Schlauch b. durchbrochen hat. Das freie Ende des Schlauches, an der Saa— menknospe C. angelangt, geht durch die verſchiedenen Hüllen derſelben durch, bis es die innere Höhle erreicht, hier ſchwillt es etwas an, füllt ſich mit grünen Zellen, die dann allmälig ſich zur Keimpflanze umbilden, während der übrige Theil nebſt der Fortpflanzungszelle nach und nach abſtirbt und zerſtört wird. Die große und weſentliche Aehnlichkeit dieſes Vorgangs mit dem beim Farnkraut beſchriebenen iſt nicht zu verkennen. — Fig. 8. Das Ende des Schlauches in einer ſpätern Periode aus der Saa— menknospe herausgenommen. Der Schlauch ce. iſt im Abſterben begriffen. Der kleine rundliche Körper der entſtehenden Keimpflanze treibt rechts und links, zwei kleinen Höckern ähnlich, die erſten Blätter hervor a., nach Oben endet er in der Anlage zum Stengel, das entgegengeſetzte Ende wird zur Wurzel. Fig. 9. Die faſt vollkommen ausgebildete Keimpflanze aus der zum Saamen umgebildeten Saamenknospe herausgenommen. Die beiden erſten Blätter (die Keimblätter, oder Saamenlappen genannt) ſind vollſtändig entwickelt (a. b.) und bedecken das zwiſchen ihnen befindliche Knöspchen, die Anlage zum ſpätern Sten gel; auf der andern Seite iſt die Wurzel c. ebenfalls vollſtändig ausgebildet. Nun tritt ein Zeitpunct ein, in welchem alle Vegetationskraft völlig erſchoͤpft zu ſeyn ſcheint. Der reife Saame wird von der Pflanze abgeworfen und liegt längere Mi kürzere Zeit im Boden, ohne daß die in ihm befindliche Keimpflanze auch nur ine Spur fortdauernden Lebens zeigte. Endlich zur beſtimmten Zeit beginnt die Keimung, wofür die Leinpflanze als Beiſpiel dienen mag. Fig. 10. Längsdurchſchnitt durch ein Leinſaamenkorn. Man erkennt von einer doppelten Hülle umgeben die der Länge nach durchſchnittene Keimpflanze, nach Unten in ein Würzelchen auslaufend, nach Oben in ein Knöspchen endend, welches von den beiden großen Keimblättern zwiſchen ſich genommen wird. Fig. 11. Ein keimender Leinſaamen (n. G.). Das Pflänzchen hat die Hül— len geſprengt und iſt im Begriff die Schaale abzuſtreifen. Fig. 12. Eine etwas ſpätere Stufe (n. G.). Das junge Pflänzchen iſt völ- lig ſelbſtſtändig geworden und das Knöspchen fängt an ſich zu Stengel und Blaͤt⸗ tern zu entwickeln. Vierte Vorlesung. Die Morphologie der Pflanzen. Alle Geſtalten ſind ähnlich, doch keine gleichet der Andern, Und fo deutet der Chor auf ein geheimes Geſetz. ö Göthe. Vor mehreren Jahren ſtand ich in einem ſehr freundſchaftlichen Verhältniß zu dem dirigirenden Arzte an einer großen Irrenanſtalt und ich pflegte die mir deshalb geſtattete Freiheit, das Haus und ſeine Bewohner nach Gefallen zu beſuchen, fleißig zu benutzen. Eines Morgens trat ich in das Zimmer eines Wahnſinnigen, deſſen beſtändig wechſelnde ſeltſame Vorſtellungsſpiele mich beſonders in— tereſſirten. Ich fand ihn am Ofen niedergekauert, mit geſpannter Aufmerkſamkeit einen Tiegel beobachtend, deſſen Inhalt er ſorglich umrührte. Bei dem Geräuſch meines Eintrittes drehte er ſich um und flüſterte mit wichtiger Miene. „Bſt, Bſt, ſtören Sie mir meine kleinen Schweine nicht, ſie ſind gleich fertig.“ Voll Neugier zu wiſ— ſen, wohin ſich nun wieder ſein abnormer Gedankengang verirrt habe, trat ich näher. „Sie ſehen,“ ſagte er leiſe, mit dem geheim— nißvollen Ausdruck eines Alchymiſten, „ich habe hier eine Rothwurſt, Schweineknöchelchen und Borſten im Tiegel, hier iſt Alles was nö— thig iſt, es fehlt nur noch die Lebenswärme und das junge Schwein iſt wieder fertig hergeftellt.” — So lächerlich wie mir damals dieſer Einfall vorkam, ſo ernſt bin ich in meinem ſpäteren Leben wieder an dieſen Wahnſinnigen erinnert worden, wenn ich über gewiſſe Irr— wege der Wiſſenſchaft nachdachte, und wenn die bloße Form des Irrthums hier das Entſcheidende wäre, fo müßten ſelbſt manche aus— gezeichnete Naturforſcher unſerer Tage die enge Zelle meines unglück⸗ lichen Mahlberg theilen. * 80 Vierte Vorleſung. Der Irrthum allgemein ausgeſprochen lautet nämlich ſo, daß eine beſtimmte Miſchung beſtimmter Stoffe ſchon ein vollkommner individualiſirter Naturkörper ſey, während doch zweierlei zuſammen— kommen muß, nämlich Stoff und Form oder Geſtalt, welche beide gleich nothwendig ſind, um insbeſondere den Begriff eines Organis— mus zu vollenden. Die beſtimmte räumliche Abgrenzung der Materie iſt gerade das, was uns als Hauptmerkmal eines individualiſirten Naturkörpers gilt. Die uns umgebende körperliche Welt zeigt ſich uns, wie wir uns auch ſtellen mögen, immer von drei ganz verſchiedenen Seiten und jede derſelben giebt uns Gelegenheit zur Entwicklung eines eigenthümlichen wiſſenſchaftlichen Syſtems. Es liegt weit über die Vorausſicht aller Menſchen hinaus, ob es jemals gelingen werde, zwei dieſer Syſteme oder gar alle in eine gemeinſame von Einem Prin- cip auslaufende wiſſenſchaftliche Weltanſchauung zu umfaſſen. — Am Einfachſten und Verſtändlichſten laſſen ſich dieſe drei Syſteme, welche die Hauptabtheilungen unſerer geſammten Naturwiſſenſchaft ſind, an der Betrachtung unſeres Sonnenſyſtems nachweiſen. Wir finden in demſelben zuerſt große Körper, die aus Stoffen verſchiede— ner Art gebildet ſind. Dieſe Stoffe, ihre Eigenſchaften, die Maſſe, die dem ganzen Syſtem zu Grunde liegt, iſt die erſte Aufgabe für unſere Unterſuchung, daraus bildet ſich die Lehre von den Stoffen oder die Hylologie. Wir bemerken aber auch eben ſo früh, daß dieſe ſchweren Maſſen des Stofflichen niemals in Ruhe ſind, daß raſtloſe Veränderung ihrer gegenſeitigen Stellungen ſie durch den Raum treibt. Dieſe Bewegungen und ihre Geſetzmäßigkeit bilden die zweite Aufgabe für unſere Forſchung, die Bewegungslehre oder Phoronomie. Aber mit beiden haben wir die Kenntniß des Sonnenſyſtems noch nicht erſchöpft. Weder aus den Eigenſchaften des Stoffes, noch aus den Geſetzen der Bewegung läßt ſich ableiten, weshalb gerade 14 Planeten die Sonne umkreiſen, weshalb nur Erde, Jupiter, Saturn und Uranus Trabanten, weshalb nur der Saturn einen Ring habe, weshalb die Ebenen der Planetenbahn gerade dieſe und keine andere Neigung gegen einander haben u. ſ. w. Kurz es giebt noch beſtimmte, } Die Morphologie der Pflanzen. 81 feſtſtehende, gewordene, räumliche Verhältniſſe, welche nicht aus dem Geſetze der Bewegung folgen, welche nicht als Eigenſchaft der Materie, des Stoffes überhaupt betrachtet werden können, Verhält— niſſe, die die Form ausmachen unter der uns die bewegten Maſſen erſcheinen, mit einem Worte, eine beſtimmte Geſtalt dieſes unſeres Sonnenſyſtems, welche als zufällig in ſo fern erſcheint, als daneben noch unzählige andere Geſtalten möglich und vielleicht auch für an— dere Sonnenmittelpuncte wirklich ſind. Dieſe letzteren Betrachtun— gen geben uns die Lehre von der Geſtaltung oder die Morpho— logie. — Gehen wir nun vom Sonnenſyſtem zu den Verhältniſſen unſerer Erde ſelbſt über ſo wird die Hylologie zur Chemie, die Phoronomie zur Phyſik, oder auf organiſche Körper angewendet zur Phyſiologie und die Morphologie liefert die characteriſtiſchen Lehren für Mineralogie, Zoologie und Botanik. Die einfachſte Pflanze, welche wir unterſuchen, zeigt uns ſo gut wie jenes Sonnenſyſtem im Großen eine Reihe von Thatſachen, welche ſich vollſtändig unter jene drei Hauptabtheilungen der Naturwiſſen— ſchaft vertheilen laſſen. Die Pflanze, chemiſch zerlegt, ergiebt ſich als zuſammengeſetzt aus größern oder geringern Mengen verſchiedener Stoffe, deren Eigenſchaften, ſo weit wir ſie bereits kennen, aufs Engſte mit der Eigenthümlichkeit der ganzen Pflanze verbunden ſind (Stoff— lehre). Aber bei genauerer Aufmerkſamkeit finden wir bald, daß dieſe Stoffe niemals in Ruhe ſind, daß Stoffe einerſeits in die Pflanze eintreten, andererſeits dieſelbe verlaſſen, in der Pflanze ſelbſt aber in einer beſtändigen Bewegung von einem Ort zum andern, in be— ſtändiger Verbindung und Trennung begriffen ſind (Bewegungslehre oder Phyſiologie der Pflanze). Haben wir damit nun das ganze Weſen der Pflanze erſchöpft? Keineswegs, und zwar ſo fern ſind wir da— von, daß es denkbar wäre, alle jene Stoffe, alle jene Bewegungen ſo— weit ſie auf chemiſche Verbindungen und Trennungen abzielen in den Retorten und Tiegeln unſerer Laboratorien nachzumachen, ohne daß dabei eine Erſcheinung hervorträte, welche auch nur im Allerentfern— teſten an eine Pflanze erinnerte. Aus Zucker, Gummi oder Pflan— Schleiden, Pflanze. 6 * 82 Vierte Vorleſung. zengallerte bildet ſich Zellſtoff, aber Zellſtoff ift noch keine Zelle. Erſt die Zellenbildung, alſo die Geſtaltung macht den Stoff zum pflanz⸗ lichen Organismus. Aus gleichartigen Zellen ſind ſämmtliche Pflan⸗ zen zuſammengeſetzt, aber ſie unterſcheiden ſich untereinander als ver⸗ ſchiedene Pflanzen eben durch den Umriß, die Zeichnung, nach welcher die Zellen aneinander gefügt ſind. Ob im Weſen der Sache begrün— det, wiſſen wir zwar nicht, aber für die Erſcheinung wenigſtens tritt bei Betrachtung der Pflanzen die Geſtaltenbildung ſo ſehr in den Vorgrund, daß man oft ſogar alles Uebrige ganz darüber vergeſſen hat und ſo wird die Geſtaltungslehre oder Morphologie auf jeden Fall die wichtigſte Disciplin in der ganzen Botanik. Aber man würde ſehr irren, wenn man glaubte, daß die Morphologie ſich nur bei einer magern Aufzählung und Beſchreibung der Formen zu beruhigen hätte. Auch ſie iſt eine naturwiſſenſchaftliche Aufgabe, auch ſie hat nach der Erkenntniß von Geſetzen zu ſtreben und muß wenigſtens vor: läufig die Mannigfaltigkeit der Erſcheinungen unter Hauptgeſichts⸗ puncte ordnen, nach Regel und Ausnahmen zuſammenſtellen und ſo allmälig der Auffindung wirklicher Naturgeſetze näher rücken. Die Ahnung einer ſolchen Geſetzgebung für die Geſtaltung der Pflanzen iſt zuerſt von Göthe in ſeiner Idee einer Urpflanze aus⸗ geſprochen worden, worunter er ſich eine Idealpflanze dachte, deren Verwirklichung gleichſam der Natur als Aufgabe vorgelegen und welche ſie in den einzelnen Pflanzen mehr oder minder vollkommen erreicht habe. Dieſer Gedanke leidet nun allerdings an einigen we— ſentlichen Mängeln. Zunächſt iſt kaum für irgend Einen, der an ſcharfes Denken gewöhnt iſt noch zu erwähnen, daß überhaupt alle dieſe Beziehungen menſchlicher Beſtrebungen auf die Bildungen der Natur durchaus unhaltbare Spielereien ſind, durch welche im beſten Falle einem lahmen Kopfe die Verhältniſſe etwas der Anſchaulich— keit näher gerückt werden, aber ſtets auf Koſten der allein wahren Anſchauung ſelbſt. Aufſtellen eines Planes, Ausführung deſſelben, dabei Begehen von Fehlern, und folglich mehr oder minderes Ge— lingen des Ganzen ſind Beziehungen, welche nur auf die unvoll⸗ / Die Morphologie der Pflanzen. 85 kommene Vernünftigkeit menſchlicher Weſen paſſen, „deren Wiſſen Stückwerk iſt.“ Dieſe ſogenannte Anthropopathie (Vermenſchlichung) hat aber für die Natur gar keinen Sinn; entweder iſt dieſe je nach dem Standpunct, den der Menſch bei ihrer Beurtheilung einnehmen will, das Product blinder nach ausnahmsloſen Naturgeſetzen wir— kender Kräfte und da iſt von keinem Plane, keinem mehr oder minder Vollkommenen die Rede, weil alles ſtarre Nothwendigkeit iſt, oder ſie erſcheint uns als die lebendige Schöpfung eines heiligen Urhe— bers und dann iſt Plan und Ausführung im Größten wie im Klein— ſten gleich vollkommen und vollendet, aber für den Erdenſohn über— all gleich geheimnißvoll und unbegreiflich. — Aber auch auf der andern Seite leidet jener Götheſche Gedanke einer Urpflanze an einer Unklarheit, da nicht deutlich wird wie wie man ſich eine ſolche Ur— pflanze zu denken habe. So viel iſt gewiß, daß ſolche widerlich ge— ſchmackloſe Zuſammenhäufungen einer Menge im Einzelnen möglicher Formen zu einer wahren Mißgeburt von Pflanze, wie fie von Tur— pin in ſeinem Atlas zu Göthes naturwiſſenſchaftlichem Werke gege— ben iſt, alles andere ſind, nur nicht das, was ſich der klare Göthe un— ter einer Urpflanze vorſtellen mochte. Soll der Gedanke mit ſinniger Bedeutſamkeit zugleich ausführbar fein, fo müſſen wir uns als Ur— pflanze eine Zeichnung entwerfen, welche uns die höchſte Entwick— lung der Pflanzenwelt in ihrer einfachſten Form giebt, woraus alſo alle niedrigern Entwicklungsſtufen durch bloße Weglaſſung oder Zu: ſammenziehung, alle nebengeordneten durch Combinationen und Ver— wicklungen abgeleitet werden können. Den Verſuch, eine ſolche Pflanze hinzuſtellen, mag die Tafel vorführen. — Man kann dieſes Bild als eine Abſtraction von einer ſehr einfachen und bekannten Pflanze, der Anagallis phoenicea an⸗ ſehen, deren großblumige blaue Spielart auch als Topfpflanze unter dem Namen Anagallis Monelli unſere Fenſter ziert. Eine genauere Betrachtung dieſes Bildes kann dazu dienen, einige der wichtigeren morphologiſchen Begriffe geläufiger und anſchaulicher zu machen. Ein auch nur flüchtiger Anblick zeigt uns folgende Verhältniſſe. Zu— 6 * 84 Vierte Vorleſung. nächſt entdecken wir einen durchgehenden Hauptkörper (a bis al.) und an dieſem verſchiedene ſeitliche Anhängſel (b, e bis eu. und d). Bei genauerer Betrachtung zeigen aber dieſe letzteren einige ſehr auf— fallende Verſchiedenheiten, die ſie in 3 Claſſen zu ordnen verſtatten (demgemäß fie durch die Buchſtaben b, c und d unterſchieden find). Noch genauere Unterſuchung zeigt uns, daß die mit d bezeichneten Organe (ſiehe Fig. d" Fig. diu) ebenfalls aus einem Hauptkörper und ſeitlichen Organen zuſammengeſetzt und in ihrer fpätern Entwicklung ſich ganz wie die Pflanze ſelbſt verhaltend nur Wiederholungen dieſer ſind, ſo daß ſie ſich von derſelben nur dadurch unterſcheiden, daß ih— nen das freie untere Ende der Pflanze fehlt. Wir können dieſe „Knospen“ genannten Theile alſo vorläufig ganz von unſerer Be— trachtung ausſchließen. Die mit h bezeichneten Organe ferner ſind ſo ſehr übereinſtimmend in ihrer ganzen Erſcheinungsweiſe mit dem untern freien Ende des Pflanzenkörpers, daß wir ſie vorläufig als Theile deſſelben anſehen können, wenn auch die Wiſſenſchaft ſpäter nachweiſt, daß ſie in manchen Stücken weſentlich verſchieden ſind. So bleiben uns dann eigentlich nur noch zwei Organe an der ganzen Pflanze übrig. Das Erſte iſt der durchgehende Hauptkörper der Pflanze, „Axe oder Stengelorgan“ genannt, letzteres weil die verſchiedenen Formen des Pflanzenſtengels ſich ſtets nur aus dieſem Theile entwickeln. Dieſe Are iſt an der ganzen Pflanze bei ihrer Ent— ſtehung das Erſte, Urſprüngliche und nicht ſelten bilden ſich die andern Organe nur ſehr unvollkommen, oder nur in einzelnen beſondern Er— ſcheinungsweiſen aus, wie die blattloſen Cacteen, Stapelien und faſt alle paraſitiſchen Pflanzen zeigen. Das zweite Organ ſtellen die mit e bezeichneten ſeitlichen Theile dar, bei mannigfacher Verſchiedenheit im Einzelnen doch eine weſentliche Grundphyſtognomie zeigend, welche ſie nie ablegen und welche beſonders in ihrer Entwicklungsgeſchichte hervortritt; man nennt ſie im Allgemeinen „Blattorgane oder Blätter.“ — Auf dieſe Weiſe ergiebt ſich uns, daß auch die vollkom— menſte Pflanze eigentlich nur zwei weſentlich verſchiedene Grundor— gane, nämlich Stengel und Blatt, beſitzt, daß alſo das in der Phan Die Morphologie der Pflanzen. 85 taſie ausgezeichnete Pflanzenideal, die Urpflanze, eine über alle Er— wartung einfache Grundlage habe. Genauer müſſen wir aber noch fol— gende Modificationen der Grundorgane unterſcheiden und bezeichnen. 1) An der Axe finden wir ein unteres Ende „die Wurzel“ (a), mit deren ſeitlichen Organen, Nebenwurzeln“ (5), ein mittleres Stück (a! bis a“) als eigentlichen „Stengel“ und als Träger der Blattorgane und Knospen, endlich ein oberes Ende (ab), das ſich ſpäter nach mannigfachen Vorgängen zum Saamen entwickelt und deshalb paſſend „Saamenknospe“ (früher mit einem unglücklich gewählten Wort „Pflanzenei“) genannt wird. 2) Bei den Blättern finden ſich folgende bei Weitem mannig— faltigere Verſchiedenheiten. Die erſten, welche eine ſich entwickelnde Pflanze zeigt, welche meiſt ſchon im Saamen ſich ziemlich ausgebil— det an dem Keim nachweiſen laſſen, find die „Saamenlappen oder Keimblätter“ (e), von ſehr einfachen Umriſſen Von dieſen nach der Mitte des Stengels werden die Blätter nach einem ziemlich durch— greifenden Geſetz immer mannigfaltiger und verwickelter in ihren Um— riſſen und dann bis in die Nähe des oberen Endes wieder einfacher (er -en). Dieſe Formen bezeichnet man ſämmtlich als „Laub: blätter“, ſie machen das aus, was man im gemeinen Leben aus— ſchließlich unter dem Ausdruck Blätter zu verſtehen pflegt. Die dann folgenden Blattorgane (el. — e.) faßt man zugleich mit den zwi— ſchen ihnen befindlichen Stengeltheilen unter dem etwas unbeſtimm— ten Wort „Blume“ oder „Blüthe“ zuſammen, unterſcheidet aber noch wieder vier Entwicklungsſtufen. Die erſten, zweiten und vierten (Wc cn), als „Kelch,“ „Blumenkrone“ und „Fruchtblät— ter“, unterſcheiden ſich gewöhnlich nur noch durch ihre Zartheit und beſonders die zweiten durch ihre Farbe von den Laubblättern. Die Fruchtblätter erhalten ihren Namen davon, daß ſie in ihren ſpätern ſehr merkwürdigen Veränderungen meiſt den weſentlichſten Theil deſ— ſen bilden, was man im Leben als Frucht bezeichnet. Ganz anders verhält es ſich aber mit der dritten Entwicklungsſtufe, in welcher das Blatt durch ſo weſentliche Structurverſchiedenheit verändert wird, 86 Vierte Vorleſung. daß es kaum als Blatt wieder zu erkennen iſt. Die Hauptſache be- ſteht darin, daß es ziemlich ſchmal und dick wird, indem ſich in dem⸗ ſelben mehrere (häufig vier) der Länge nach neben einander liegende Höhlen bilden, die ſich mit zahlreichen ganz iſolirten, ſtaubähnlichen Zellen füllen, und dieſe letztern dadurch, daß fie regelmäßig ſich öff- nen, ausſtreuen. Dieſe Blätter nennt man „Staubfäden“ oder fo weit die Höhlen reichen „Staubbeutel“ und die iſolirten Zel- len „Blüthenſtaub“ oder „Pollen.“ An der hier betrachteten Idealpflanze braucht man nun nur die etwas zuſammengeſetztern Laubblätter (e und on.) wegzulaſſen, die Zahl der Blattorgane der Blüthe bis auf fünf vermehrt und in vier Kreiſe verwachſen zu denken, endlich ebenfalls ſtatt der einen Saa⸗ menknospe viele anzunehmen, die auf einem knopfförmigen Ende des Stengels ſich vereinigen, ſo erhält man ein Pflänzchen jener oben genannten kleinen Anagallis. Wollten wir aber aus dieſer Idealpflanze nun die einfacheren Pflanzenformen z. B. Farnkräuter, Mooſe, Schwämme ſu.ſ. w. ableiten, fo müßten wir dieſelbe fo zuſammenſtreichen und ver: ſchmelzen, daß zuletzt gar Nichts mehr übrig bliebe, was noch eine entfernte Beziehung zu ihr hätte. Nun kann es uns aber mit den Ber: ſuchen einer morphologiſchen Geſetzgebung eben ſo wenig darum zu thun fein, ſtatt in der wirklichen Welt nur in den ſpieleriſchen Pro— ducten unſerer Einbildungskraft uns zu bewegen, als uns mit Er— klärungen und Geſetzen zu begnügen, welche nur für einen kleinen Theil der Pflanzenwelt Anwendung finden, während alles Uebrige dunkel und unverſtändlich bleibt. Es iſt daher mit Göthes Urpflanze überhaupt nichts anzufangen und wir müſſen uns nach anderen Ein— gängen in die Betrachtung der verwickelten Formenverhältniſſe der Pflanzenwelt umſehen. Die Sache hat größere Schwierigkeiten als es anfänglich den Anſchein hat, und um eine richtige Einſicht in dieſe Fragen ſich zu verſchaffen, um ſelbſt grobe Fehler zu vermeiden, die ſogar von aus— gezeichneten Forſchern begangen ſind und noch täglich begangen wer— Die Morphologie der Pflanzen. 87 den, muß man weit über das Gebiet der Pflanzenwelt um ſich blicken. Wenn wir von Formen, von Geſtalten reden, ſo meinen wir damit beſtimmt begrenzte Körper in der Natur. Der Begriff eines jeden Körpers ſetzt aber ſchon zum Voraus, daß er nach allen drei Richtungen des Raumes, nach Länge, Breite und Tiefe ausge— dehnt ſey. Eine bloße Linie oder Fläche ſind keine Körper und daher keine Geſtalten und die einfachſten Beziehungen zum Raum geben uns daher gar keinen Eintheilungsgrund. Zwar können auch bei ei— nem Körper die eine oder zwei Richtungen der Ausdehnung vorherr— ſchen; wir unterſcheiden einen Faden leicht von einem Blatte Papier nur nach dieſen Verhältniſſen. Es liegt hier jedoch nur ein Mehr oder Minder, nicht aber ein innerer weſentlicher Unterſchied vor, wie es ſich am Deutlichſten darin zeigt, daß da, wo eben die äußere Um⸗ grenzung, die Geſtalt, zuerſt in der Naturwiſſenſchaft eine große Bedeutung gewinnt, nämlich bei den Kryſtallen, ein und dieſelbe Kryſtallform als lange dünne Nadel, als ein kleines flaches Plättchen oder als ein nach allen Dimenſionen gleichförmig ausgedehnter Kör⸗ per erſcheinen kann. Der in Pflanzen ſo häufig vorkommende kryſtal— liſirte ſauerkleeſaure Kalk hat beſtändig in allen ſeinen Formen ein Quadrat zur Grundfläche, auf welcher ſich eine quadratiſche Säule erhebt. Iſt dieſe aber ſehr kurz, ſo liegt ein kleines viereckiges Plättchen vor, wird fie höher fo nähert fte ſich allmälig immer mehr einer Würfelform; noch länger geht fie über dieſen hinaus und er— ſcheint endlich als ein langes dünnes Nadelchen faſt fadenförmig, immer bleibt dabei aber die Kryſtallgeſtalt, das Weſentliche der Form, völlig gleich, nämlich eine quadratiſche Säule; ungefähr wie wir die gleiche menſchliche Geſtalt anerkennen, mag der Menſch kurz und dick, oder ſehr lang und ſchlank ſeyn. Der Schluß, den wir gleich hieraus ziehen können, iſt der, daß wir aus dem allgemeinen Begriff eines Körpers gar keine Merkmale ableiten können, um die Geſtalten zu unterſcheiden und anzuordnen. Zwar laſſen ſich auf dem Papier in der Studirſtube prächtige Syſteme ausdenken, aber für die Wirklichkeit haben dieſe gar keine Bedeutung. So wie wir 88 Vierte Vorleſung. an dieſe hinantreten, müſſen wir vielmehr beſcheiden erſt anfragen, ob die Natur geneigt ſey uns ihre Geheimniſſe zu verrathen, ob ſie in dieſem oder jenem einzelnen Falle uns offenbaren will, welche Merkmale ſich bei ihrer Geſtaltenbildung als weſentliche ausſprechen, welche Grundlagen ſie uns alſo zur Bildung unſerer Syſteme anbietet. In dieſer Beziehung ſtehen wir nun auf ſehr verſchiedenen Stu— fen der Vollendung unſerer Wiſſenſchaft bei den einzelnen Claſſen der Naturkörper, überall aber vom Ziele noch weit entfernt. Dieſes Ziel nämlich wäre, alle Geſtalten aus den geſetzmäßigen Wirkungen der Kräfte in der Natur erklären zu können, was aber zur Zeit noch in keinem einzigen Falle uns möglich iſt. Die vorbereitenden Stufen, um zu dieſem Ziel zu gelangen, beſtehen aber erſtens in der genauen Kenntniß und Anordnung der verſchiedenen Geſtalten nach ihren in- nern Verwandtſchaften und zweitens in der allmäligen vollſtändigen Auffindung und Sammlung der äußern Bedingungen, unter deren Einfluß ſich die einzelnen Geſtalten bilden. Für die letzte Aufgabe haben wir hin und wieder einzelne wenige Bruchſtücke geſammelt, für die erſte Hälfte ift uns die Anordnung der Kıyftallgeftalten ziem— lich vollſtändig gelungen; dagegen haben wir für Pflanzen und Thierwelt nur von ſehr verſchiedenen Standpunkten aus einzelne Perſpective und Ueberſichten gewonnen, die im Ganzen noch wenig innern Zuſammenhang darbieten. Das Störende iſt im letzten Falle nämlich in gewiſſer Beziehung gerade das, was wir das Lebendige nennen; nur wird ſelten deut— lich erkannt worin eigentlich das Characteriſtiſche dieſes Lebens liegt. Auch der Kryſtall ſpringt nicht auf einmal, eine fertige Minerva, aus dem Haupte Jupiters hervor, der Stoff, aus dem er ſich bildet, durchläuft eine ſtetige Reihe von Veränderungen, deren Endreſultat die vollendete Kryſtallgeſtalt iſt. Auch der Kryſtall hat eine indivi— duelle Geſchichte, eine Lebensgeſchichte, aber nur eine Geſchichte feines Werdens, feines Entſteheus. Iſt er geworden, ſo iſt fein Leben zu Ende, ſein Beſtehen ſchließt jede Veränderung aus; der Augenblick ſeiner Geburt iſt das Aufhören ſeines Lebens, er iſt todt Die Morphologie der Pflanzen. 89 von dem Moment an, in welchem er ſein vollendetes Daſeyn be— ginnt. Den geradeſten Gegenſatz dazu bilden Pflanzen und Thiere und eben hierin liegt das Gemeinſchaftliche, was uns bewegt, ſie unter einem Begriff als organiſche oder lebendige Weſen zuſammen— zufaſſen. Ich will hier aber meine folgenden Erörterungen auf die Pflanzenwelt beſchränken, um nicht zu weitläufig zu werden. Wir vertrauen das Gerſtenkorn im Frühling der ernährenden Erde, der Keim fängt an ſich zu regen, ſprengt ſeine Hüllen, die der Verweſung anheimfallen. Ein Blatt nach dem andern tritt hervor und entwickelt ſich, dann erſcheinen die Blüthen in dichtgedrängter Aehre; durch wunderbare Wechſelwirkungen hervorgerufen, entſteht in jeder der Keim eines neuen Lebens und während dieſer ſich mit ſeinen Hüllen zum Korne ausbildet, gehen von Unten nach Oben ſtetige Veränderungen an der Pflanze vor ſich; ein Blatt nach dem andern ſtirbt ab und vertrocknet, zuletzt ſteht der dürre, nackte Stroh— halm da; gebeugt unter der Laſt der goldenen Gabe der Ceres bricht er zuſammen und verweſt im Boden, während leis und heimlich vom wärmenden Schnee gedeckt ſich in den verſtreuten Körnern eine neue Entwicklungsperiode vorbereitet, die im nächſten Frühling beginnen ſoll und ſo geht es ins Unendliche fort. Hier iſt nichts Feſtes, nichts Beſtehendes, ein endloſes Werden und Entwickeln, ein fort— währendes Abſterben und Vernichten neben einander und in einan— der greifend — ſo iſt die Pflanze. Sie hat eine Geſchichte nicht nur ihrer Bildung, ſondern auch ihres Daſeyns, nicht nur ihres Entſtehens, ſondern auch ihres Beſtehens. Wir ſprechen von Pflanzen; wo ſind ſie? Wann ſind ſie fertig, vollendet, daß ich ſie aus dieſem beſtändigen Wechſel des Stoffes und der Form heraus— reißen und als ein Gewordenes betrachten dürfte? Wir ſprechen von Geſtalten und Formen; wo ſollen wir ſie erfaſſen, die proteusartig jeden Augenblick wieder unter unſern Händen verſchwinden und in andere übergehen? — Wie in Döblers dissolving views verſchwin— det ganz unmerklich das eine Bild vor unſern Augen und ein ande— res tritt an ſeine Stelle, ohne daß wir im Stande wären den Au— 90 Vierte Vorleſung. genblick anzugeben, wo jenes aufgehört hätte zu fein, dieſes begon⸗ nen hätte in die Erſcheinung zu treten. In jedem gegebenen Mo⸗ mente iſt die Pflanze die Ruine der Vergangenheit und doch zugleich der entwicklungsfähige und ſich wirklich entwickelnde Keim der Zu: kunft, und noch mehr, ſie erſcheint uns auch noch dabei als ein fer— tiges, vollendetes und abgerundetes Product für die Gegenwart. Hier liegt zwar die Grundurſache, weshalb eine Morphologie der Kryſtalle oder der unorganiſchen Welt eine ſo ganz weſentliche verſchiedene Bedeutung und Entwicklung gewinnen muß, wie die Geſtaltenlehre der ſogenannten lebenden Weſen; es kommt aber noch ein anderes, freilich gegen das angegebene viel untergeordneteres Verhältniß hinzu, wodurch die Betrachtung der organiſchen Formen eine Schwierigkeit und Verwicklung erhält, welcher die menſchliche Faſſungskraft mit den ihr gegenwärtig zu Gebote ſtehenden Mitteln noch lange nicht gewachſen iſt. * Unter Geſtalt verſteht man die Begrenzung der Körper im Raume; die Grenzen, wodurch ſich eben die beſtimmte Geſtalt vom grenzenloſen Raum abſcheidet, find Flächen. Flächen ſelbſt find ent weder ebene und dann wieder durch Linien begrenzt, oder gekrümmte und dann in verſchiedener Weiſe durch das Verhältniß ihrer Theile zu einer oder mehreren Linien beſtimmt. Die ebenen Flächen ſind geometriſch leicht zu conſtruiren und zu ordnen, wenn ihre Grenz— linien gerade ſind, und ſomit auch die von ihnen begrenzten Körper, wie die Kryſtalle. Bei Ebenen, die von Curven begrenzt werden, wächſt die Schwierigkeit mehr und mehr, nach der größern Verwick— lung, welche die Theorie der krummen Linien darbietet. Von den gekrümmten Flächen ſind dagegen nur wenige, wie die Kugel, das Elipſoid und ſo weiter, geometriſch ſcharf zu beſtimmen, ſehr bald werden die Verhältniſſe ſo verwickelt, daß ſie den ſcharfſinnigſten Combinationen der größten Mathematiker Trotz bieten. Nun ſind aber alle Linien und Flächen, die an organiſchen Körpern vorkom⸗ mmen, gekrümmt und faſt immer fo unregelmäßig, daß an eine geo- metriſche Beſtimmung derſelben durchaus noch nicht zu denken iſt. Die Morphologie der Pflanzen. 91 So ſind wir ſchon, abgeſehen von allen anderen Schwierigkeiten, bei der bloßen Bezeichnung der einzelnen organiſchen Formen außer Stand geſetzt, uns ſcharf beſtimmter geometriſcher Ausdrücke zu be— dienen und wir können uns nur durch Vergleichungsformeln und eine eigenthümliche daraus entwickelte, aber natürlich ihres Ur— ſprungs wegen ſehr ſchwankende Kunſtſprache helfen. Selbſt Aus— drücke wie cylindriſch, prismatiſch, kreis- und kugelrund, fegelför: mig u. dgl. m., haben in ihrer Anwendung auf die Pflanzenwelt keine ſcharfe mathematiſche Bedeutung mehr, ſondern nur einen an— nähernden Vergleichungswerth. Aus allem Dieſen ergiebt ſich nun, daß eine ſehr allgemeine Orientirung und ein eigenthümlicher naturwiſſenſchaftlicher Tact, ich möchte faſt ſagen Inſtinct, dazu gehört, um in der Formenlehre der Pflanzen mit Sicherheit einen Schritt vorwärts thun zu können und daß es hier vor Allem darauf ankommen wird, aus der Natur des Gegenſtandes ſelbſt ſpecielle, leitende Maximen zu entwickeln, nach denen wir die unzähligen möglichen Syſteme der vegetabiliſchen Morphologie kritiſiren, verwerfen oder zulaſſen. Damit iſt freilich noch nicht mehr als das negative Reſultat gewonnen, daß alle nach jenen leitenden Regeln verworfenen Syſteme gewiß unbrauchbar ſind, während die zugelaſſenen immer nur eine Möglichkeit, aber keine Gewißheit für ihre Richtigkeit gewinnen. Gleichwohl iſt damit ſchon viel gewonnen, da dadurch die Unterſuchungen unendlich viel einfacher werden. Sehen wir uns nach ſolchen leitenden Principien um, ſo bietet uns die Pflanze zwei Eigenthümlichkeiten, welche ihren beſtimmten Anſpruch an Berückſichtigung an alle unſere Forſchungen geltend machen. Die eine iſt die Zuſammenſetzung der Pflanze aus kleinen faſt ſelbſtſtändigen und individualiſirten Elementarorganismen, näm⸗ lich den Zellen, die andere iſt der fortgehende Proceß der Aufnahme und Ausſcheidung von Stoff, der Neubildung und Auflöſung von Zellen und in Folge von Beiden die beſtändige Veränderung der in- neren und äußeren Form, der Structur und Geſtalt. 92 Vierte Vorleſung. Die daraus abzuleitenden Maximen lauten nun: „was in der Pflanze nicht auf ſeine Zuſammenſetzung aus ein— zelnen Zellen zurückgeführt iſt, bleibt zur Zeit noch unerkannt und unverſtanden, kann alſo keiner theoretiſchen Betrachtung zum Grunde gelegt werden“ und zweitens „keine einzelne feſtſtehende, oder vielmehr als feſtſtehend betrach— tete Form, ſondern nur die Entwicklungsreihen können Gegen— ſtand einer botanifchen Formenlehre ſeyn; jedes Syſtem, welches ſich mit den herausgeriſſenen Formenverhältniſſen dieſes oder jenes Zeitabſchnittes ohne Berückſichtigung des Entwicklungsgeſetzes be— ſchäftigt, iſt ein phantaſtiſches Luftſchloß, welches keinen Boden in der Wirklichkeit hat und gehört deshalb nicht der wiſſenſchaftlichen Botanik an.“ Es kann hier nicht meine Aufgabe ſeyn, nunmehr unter Leitung jener Maximen alle einzelnen Sätze, welche die Morphologie bis jetzt gewonnen hat, oder doch gewonnen zu haben glaubt, aus den Thatſachen der Beobachtung ſelbſt zu entwickeln; es würde das nicht weniger heißen als eine ganze Botanik ſchreiben. Ich kann vielmehr hier nur einen Ueberblick über die ganze Pflanzenwelt nach ihren morphologiſchen Characteren ſkizzenhaft vorführen. Betrachten wir die Pflanzenwelt als ein Ganzes, als ein In— dividuum, deſſen verſchiedene Lebens- und Entwicklungsſtufen ſo neben einander vorliegen, wie ſie bei der einzelnen Pflanze nach einander folgen, fo können wir die einfachſten Formen gleichſam als die Anfänge der Pflanzenwelt betrachten und finden dann, daß dieſe ſich eben ſo wie die Einzelpflanze aus einer einfachen Zelle her— vorbildet und entwickelt. Wo wir an alten feuchten Mauern und Bretterzäunen, an Gläſern, in denen wir zur Sommerszeit während mehrerer Tage weiches Waſſer ſtehen ließen, einen zarten, ſchöngrü— nen, oft faſt ſammetartigen Anflug finden, da begegnen wir den erſten Anfängen der Vegetation. Unterm Mikroſkop entdecken wir in dieſen grünen Maſſen eine Menge kleiner, kugelrunder Zellen mit Saft, farbloſen Körnchen und Chlorophyll erfüllt. An andern Die Morphologie der Pflanzen. 95 Orten finden ſich ähnliche, gelbliche, braune, rothe Zellen, und faſt alle darf man, wenigſtens zur Zeit noch, als ganze vollſtändige Pflanzen anſehen, welche von den Botanikern mit verſchiedenen Na— men belegt find. Die paſſendſte Bezeichnung dafür iſt Proto co e— eus, Urbläschen. Von dieſer einfachen als Pflanze ſelbſtſtändig vegetirenden Zelle nimmt die Entwicklung der Pflanzenwelt ihren Ausgang und ſteigt durch immer größere Combinationen und Ver— wicklungen endlich bis zu den complicirteſten Pflanzen auf, die wir als die höchſte Stufe anzuſehen gezwungen ſind, obwohl es dem Laien wunderbar vorkommen mag, wenn ich als einen Repräſen— tanten dieſes höchſten Ausdruckes vegetabiliſcher Entwicklung das kleine, fo allgemein verbreitete und deshalb meiſt verachtete Gänſe— blümchen“) nenne. Die jenen einfachſten Pflanzen zunächſt ſich anſchließenden Bil— dungen beſtehen zwar auch nur aus einer einzelnen einfachen Zelle, die aber doch ſchon fadenförmig verlängert, oft veräſtelt iſt und da— her ſchon mehr Formenbildung zeigt, demnächſt reihen ſich die Zel— len linienförmig auf mannigfache Weiſe aneinander, es erwächſt ſchon eine mannigfaltige Vegetation, die im Waſſer als Waſſer— fäden oder Conferven, meiſt mit grüner Farbe oder an faulen— den organiſchen Körpern als die vielfach verſchiedenen oft ſo zier— lichen Formen des Schimmels in dem bunteſten Farbenſpiel auf— treten. — Weiter legen ſich die Zellen zu flachen Gebilden zuſam— men, unter dem Namen Ulven den Botanikern bekannt und häufig faft jungen Sallatblättern ähnlich im Meere wachſend, oft grün oft purpurroth, armen Küſtenbewohnern nicht ſelten eine magere Speiſe. — Weiter drängen ſich die Zellen endlich zu körperlichen Maſſen aneinander, verſchiedengeformte Klümpchen, Kugeln u. dgl. bildend. Nun beginnt eine mannigfachere und reichere Formenent— wicklung als früher bei den einfachen Grundlagen möglich war, aber häufig wiederholen ſich beſonders auf den niederen Stufen der E ) Marienblümchen, Masliebchen, Bellis perennis. * 94 Vierte Vorleſung. Pflanzenwelt auch noch für die einzelnen Gruppen und für die hö- hern Stufen faſt für alle einzelnen Organe die Unterſchiede der Ent- wicklungen nach der Länge, nach Länge und Breite, oder nach . Breite und Tiefe. Es iſt hier am Ort auf ein eigenthümliches Verhältniß bei den Pflanzen aufmerkſam zu machen, welches in der Thierwelt in ähn- licher Weiſe gar nicht oder doch keineswegs ſo auffallend vorkommt und dann immer nur da, wo ſich ohnehin die Analogien mit der Pflanzenwelt am ſchärfſten faſſen und feſthalten laſſen, namlich beim Knochen⸗ und Hautſyſtem. Bei den bisher erwähnten niederen Pflan- zen läßt ſich überall in ihren einzelnen Theilen, ſo wenig wie eine beſtimmte Gliederung des Umriſſes, eben ſo wenig auch eine be— ſtimmte Vertheilung der Lebensthätigkeiten an einzelne beſtimmte Theile des Ganzen erkennen. Es finden ſich hier überall noch keine Organe, weder ſolche, die durch eine beſtimmte Geſtalt, durch ein in gleicher Weiſe überall wiederkehrendes Verhältniß ihrer Form zur Form der ganzen Pflanze, alſo morphologiſch beſtimmt wären, noch ſolche, an welche bei einer von andern Pflanzentheilen verſchiedenen Form ſtets eine beſtimmte einzelne Lebensäußerung geknüpft wäre, die alſo als phyſiologiſch beſtimmte Organe bezeichnet werden könn⸗ ten. Nach und nach ſehen wir zwar bei den etwas weiter ent— wickelten Tangarten, bei den Schwämmen und Flechten ganz beſtimmte Zellen, die ſich weſentlich von andern unterſcheiden, für die Bildung der Fortpflanzungs zellen beſtimmt; wir finden dieſe Zellen unter ganz beſtimmten Formen zuſammengeordnet, nach deren mannigfaltigen Bildungen man dann auch größere und kleinere Grup⸗ pen unterſcheiden kann, aber dabei bleibt die Sache in der Pflan- zenwelt auch ſtehen. Bis zu den höchſt entwickelten Pflanzen hinauf finden wir ſtets, die Fortpflanzungsorgane abgerechnet, eine völlige Unabhängigkeit der phyſiologiſchen von der morphologiſchen Bedeu— tung der einzelnen Organe, und es hat eine arge, ſchwer aus zu— merzende Verwirrung in die ganze Formenlehre der Pflanzenwelt ge— bracht, daß man dieſes Verhältniß verkannt hatte. — Ein und das⸗ Die Morphologie der Pflanzen, 95 ſelbe Organ kann bei verſchiedenen Pflanzen die verſchiedenſten Lebens⸗ thätigkeiten vermitteln und derſelbe Lebensproceß kann bei der einen Pflanze an ein Blatt, bei der andern an den Stengel geknüpft ſeyn. Nach dieſer Vorbemerkung können wir unſern Ueberblick des ve— getativen Reichs nach ſeinen Geſtalten weiter auszeichnen. Die ganze Pflanzenwelt theilt ſich morphologiſch in zwei ungleiche Hälften, von denen die kleinere aus den drei Gruppen der Algen oder Tangar— ten, der Schwämme ſund der Flechten gebildet wird. Bei die— ſer Abtheilung iſt von weiteren Organen als dem Apparat zur Bil— dung der Fortpflanzungszellen überhaupt nicht die Rede und zwar deshalb, weil der Entwicklungsproceß in allen Theilen der Pflanze ein und derſelbe iſt, jeder Theil daher die ganze Pflanze repräſentirt und als ſolche fortwachſen und fortleben kann. Die Geſtalten ſind hier meiſtentheils von außerordentlich vagen Umriſſen begrenzt, am meiſten bei den Schwämmen, bei denen die eigentliche Pflanze nur ein außerordentlich vergängliches Geflecht einiger zarten Fäden iſt. Die gewöhnlich im gemeinen Leben als Schwämme bezeichneten Kör— per find nämlich nur die Fortpflanzungs organe, gleichſam die Früchte der Pflanze. Aehnliche Unbeſtimmtheit der Formen herrſcht noch bei den einfachen Algen, lauter Waſſerpflanzen, und nicht minder bei den niederen Flechten, den ſogenannten Kruſtenflechten, welche als ein weißlicher, grauer oder gelber Schorf alte Mauern, Steine und Planken überziehen. Nur bei den höheren Algen und Flechten wer— den die Formen etwas beſtimmter und zeigen oft ſehr conſtante Ge— ſtalten, die ſelbſt die Aehnlichkeit von Stengeln und Blättern erhal: ten, aber ohne daß ſie dieſelbe Bedeutung, denſelben morphologi— ſchen Werth wie in der zweiten großen Pflanzenabtheilung erhielten. Erſt in dieſer zeigen ſich zwei ſo weſentlich verſchiedene Ent— wicklungsproceſſe an einer und derſelben Pflanze, daß man die Pro— ducte derſelben als weſentlich verſchiedene Grundorgane der Pflanze betrachten muß. Das eine Organ iſt das Erſte, Urſprüngliche, und bildet ſich immer an ſeinen beiden freien Enden fort, dieſe Enden ſind immer 96 Vierte Vorleſung. ſeine jüngſten zuletzt gebildeten Theile, wir nennen dieſes Organ Stengel im weiteſten Sinne des Worts, oder Axe der Pflanze. An dieſem erſten Grundorgan und aus demſelben hervor bildet ſich dann ein zweites, deſſen freies Ende zuerſt entſteht, alſo der älteſte Theil des Organs iſt, es wächſt nur an ſeinem Grunde, wo es mit dem Stengel zuſammenhängt und auch hier nur eine gewiſſe Zeit lang fort, und wird auf dieſe Weiſe gleichſam aus dem Stengel her— vorgeſchoben. Es wird Blatt in weiterer Bedeutung genannt. Während jenes ein unbegrenztes Wachsthum als möglich erſcheinen läßt, iſt dieſes durch die Art' einer Bildung ſelbſt in beftimmten Grenzen abgeſchloſſen. Man erſieht hieraus zweierlei: erſtens daß Stengel und Blatt ſich als Gegenſätze einander bedingen; nur wo das Eine vorhanden iſt, kann auch vom Andern die Rede ſeyn. Man unterſcheidet demzufolge jene beiden Hauptabtheilungen auch als ſtengelloſe Pflanzen und Stengel-Pflanzen. Zweitens ergiebt ſich aber auch aus dem Vorgetragenen, daß die Pflanze über— all nur zwei ihrem Weſen nach verſchiedene Organe haben könne, nämlich Blatt und Stengel, und daß alle übrigen ſogenannten Or— gane der Pflanze nur minder wichtige Abänderungen eines dieſer Organe, oder aus beiden zuſammengeſetzte und verſchmolzene Bil— dungen ſeyn müſſen. — Erſt ſeit Caspar Friedrich Wolff und Gothe hat man dieſen Satz mit Beſtimmtheit ausgeſprochen und aus den Verſuchen, nachzuweiſen daß alle Organe der Stengelpflanzen ſich auf das eine oder andere Grundorgan zurückführen laſſen, iſt eine eigenthümliche Lehre entſtanden, für welche durch Göthe der Name „die Metamorphoſe der Pflanze“ als allgemein gültig eingeführt ift, Wie ſchon aus dem bisher Mitgetheilten klar geworden ſeyn wird, umfaßt dieſelbe nur einen ganz kleinen Theil derjenigen Lehre, welche als Morphologie einen der weſentlichſten Abſchnitte der ganzen Bo— tanik ausmachen ſoll. Leicht könnten wir hier an einem Beiſpiel einen kurzen Ueber— blick dieſer Lehre geben, ohne gerade in alle Einzelnheiten, die noch manche Schwierigkeiten und ungelöſte Probleme darbieten, einzu— * Die Morphologie der Pflanzen. 97 gehen. Das Wichtigſte ift aber ſchon oben bei der Erläuterung der Idee der Urpflanze vorgekommen, und es bedarf hier nur noch eines kleinen Zuſatzes hinſichtlich der Blüthenbildung, bei welcher ſich einige Verwicklungen zeigen. An der Stelle, wo ſich an der Urpflanze die Fruchtblätter und Saamenknospe befinden, alſo in der Mitte der Blume, findet ſich bei den meiſten Pflanzen ein Organ, welches rings geſchloſſen, im In— nern hohl, die Saamenknospen umſchließt und deſſen Höhle nur nach Oben durch einen gewöhnlich ſchwer erkennbaren Kanal mit der Außenwelt communicirt. Dieſen Körper nennt man im Ganzen „Stempel,“ den Theil, von welchem die Saamenknospen umfaßt werden „den Fruchtknoten“ (fo viel als Fruchtknos pe, Anlage zur Frucht) und die obere Oeffnung „Narbe“. Iſt der Körper zwi— ſchen Fruchtknoten und Narbe ſtielförmig in die Länge gezogen, ſo wird dieſer Theil „Staubweg“ genannt (vergl. Taf. IV. Fig. 2). Die: ſer Körper nun iſt es vorzüglich, welcher auf das Mannigfachſte zu— ſammengeſetzt iſt; bald ganz aus einem oder mehreren Fruchtblät— tern gebildet wird, bald nur in ſeinem unteren Theile, dem Frucht— knoten, bald ganz aus einer eigenthümlichen Umbildung des Sten- gels beſteht. Auch die Stengeltheile, welche ſonſt noch zur Blüthe gehören (all. — a“) find oft auf die wunderbarſte Weiſe umgeſtaltet, und auf dieſen beiden Verhältniſſen beruht zum Theil die große Verſchiedenheit der Blumen, wozu dann noch die Zahl und Stel— lungsverhältniſſe der übrigen Theile das ihrige beitragen. Wunderlich würden ſich die aus einer ſolchen wiſſenſchaftlichen Betrachtung hervorgehenden Bezeichnungen ausnehmen, wenn man ſie ins gemeine Leben übertragen wollte, und es klingt ſeltſam genug, wenn man erfährt, daß uns die Erdbeere nur durch einen Theil des Blü— thenſtengels erfreut, während die wirklichen Früchte als kleine ungenießbare Körner erſcheinen, daß wir dagegen bei einer Him— beere eine Menge kleiner ächter Früchte, nämlich fleiſchig und ſaftig gewordene Fruchtblätter genießen, während dieſelben Stengel— theile, welche bei der nahe verwandten Erdbeere unſeren Gaumen Schleiden, Pflanze.“ 7 4 4 98 Vierte Vorleſung. reizen, hier einen kleinen weißen ſchwammigen Zapfen darſtellen, — daß wir bei dem Apfel einen Theil des Blüthenſtiels, bei der Kirſche einen Theil eines Blattes verzehren, und daß bei der Nuß und Mandel ſogar eine ganz kleine Pflanze mit Wurzel, Stengel, Blättern und Knospe von uns verſchlungen wird. Aber was ſchon im Eingang bei Betrachtung der Urpflanze er: wähnt wurde, müſſen wir uns hier noch einmal ins Gedächtniß zu- rückrufen: daß nämlich die bei der Urpflanze erwähnten einzelnen Theile und Formen bei weitem nicht bei allen Pflanzen, ja nicht ein- mal bei allen Stengelpflanzen vorkommen. Auch unter dieſen letz— tern finden ſich eine große Anzahl, die viel einfacher gebaut ſind, und um hier die Entwicklung der Stufenleiter ferner zu durchlaufen, müſſen wir noch einmal auf die Fortpflanzung der Gewächſe zurückkommen. Aus einer früheren Vorleſung iſt erinnerlich, daß die Bildung von beſtimmten Fortpflanzungszellen, die Lostrennung derſelben von ihrer Bildungsſtätte und ihre Entwicklung zu einer neuen Pflanze der allgemeine Vorgang der Vermehrung bei allen Pflanzen ſey, daß aber ſich ein weſentlicher Unterſchied darin herausſtelle, ob die Fort⸗ pflanzungszelle ſich ſogleich ohne Weiteres im Waſſer oder in der Erde zu einer neuen Pflanze entwickeln kann, oder ob dieſe Ausbil— dung bis zu einer gewiſſen Stufe nur innerhalb eines eignen Or— gans der Pflanze, in der ſogenannten Saamenknospe, erfolgen könne. Zu den Pflanzen der erſten Art, welche Kryptogamen oder Geſchlechts loſe genannt werden, gehört nun auch ein großer Theil der Stengelpflanzen. Namentlich will ich hier nur die Le— bermooſe und Mooſe, die Bärlappenarten (deren Fortpflan⸗ zungszellen das ſogenannte Truden- oder Herenmehl der Apotheken ausmachen), die Farnkräuter und die Schachthalme (3. B. das Scheuerkraut) aufführen. Alle dieſe Pflanzengruppen gehören zu denen, bei welchen man deutlich Stengel und Blätter unterſcheiden kann, aber es bildet ſich bei ihnen eine eigne Stufenfolge dadurch, daß die Bildung der Fortpflanzungszellen, welche bei Lebermoo— ſen und Mooſen noch in einer ihrer morphologiſchen Bedeutung * * Dir Morphologie der Pflanzen. 99 nach unbeſtimmten Kapſel geſchieht, bei den folgenden Gruppen in immer engere Beziehung zum Blatte tritt, und zuletzt beſtimmte Blattorgane ſo ganz in Anſpruch nimmt, daß ſie ihre Aehnlichkeit mit den übrigen „Blätter“ genannten Organen ganz verlieren. Dieſe Blätter werden, da man die Fortpflanzungszellen als Sporen be— zeichnet, „Sporenblätter“ genannt, und bei den Schachthal— men erſcheinen ſie ganz in der Geſtalt wie in der folgenden und höch— ſten großen Abtheilung der Stengelpflanzen, nämlich bei den Ge— ſchlechtspflanzen oder Phanerogamen, die Staubfäden mit ihren Staub beuteln ſich zeigen. Bei Lebermooſen, Mooſen und Farnkräutern findet ſich noch ein eigenthümliches Organ vor, welches ſeinen Structurverhält— niſſen nach der Saamenknospe bei den Geſchlechtspflanzen entſpricht, ſeiner morphologiſchen Bedeutung nach noch unbeſtimmt iſt, in phyſio— logiſcher Beziehung aber noch gänzlich unerklärlich daſteht und we— nigſtens gewiß mit dem Fortpflanzungsgeſchäft nicht in weſentlichem Zuſammenhange ſteht. Man nennt dieſe Organe gewöhnlich A n— theridien. Sie erinnern auf's Lebhafteſte an eine Erſcheinung in der Stufenleiter der Thiere, wo wir ebenfalls nicht ſelten in einer Gruppe oder einem Geſchlecht ein Organ vorgebildet finden, welches hier aber gar nicht functionirt, ſondern erſt in einer benachbarten Gruppe ſeine wirkliche Bedeutung für das Leben gewinnt. — Stengel und Blatt als Grundorgane, beſtimmte Blätter um— gewandelt zu Sporenblättern für die Bildung der Fortpflanzungs— zellen und ein noch vages Organ mit den Structurverhältniſſen der Saamenknospe, das ſind die Erwerbniſſe, mit denen die Natur an die Entwicklung der letzten großen Abtheilung der Pflanzenwelt geht, an die Gruppe der Geſchlechtspflanzen. Das Characteri— ſtiſche für dieſelben iſt, daß hier die Saamenknospe in ihre vollen Rechte als Fortpflanzungsapparat eintritt und zwar hier beſtimmt als Endglied der Stengelorgane erſcheint (ar). — Die ſämmtlichen Geſchlechtspflanzen zerfallen nun zuerſt wies derum in zwei ungleich große Abtheilungen. In der erſten kleineren iſt die Blüthenbildung noch ſehr einfach, indem einerſeits noch das— jenige fehlt, was man im gemeinen Leben vorzugsweiſe unter Blume zu verſtehen pflegt, andererſeits die eee us Folglich auch er 100 Vierte Vorleſung. der ſpäter daraus ſich entwickelnde Saame nackt, von keinem Frucht⸗ knoten eingeſchloſſen ſich zeigt. Dieſe Abtheilung, welche die Na- delhölzer, die Loranthaceen mit der unſern Obſtbäumen ſo ſchädlichen paraſitiſch wuchernden Miſtel und eine tropiſche Pflan⸗ zenfamilie, die Cycadeen, umfaßt, wird als Claſſe der Nadt- ſaamigen oder Gymnoſpermen der Claſſe der Verhüllt— ſaamigen oder Angioſpermen entgegengeſetzt. In dieſer letzten großen Abtheilung der Pflanzen endlich iſt es beſonders die Blüthenbildung, welche unſere Aufmerkſamkeit auf ſich zieht. Auch hierin laſſen ſich die Grundzüge einer Stufenleiter nicht verkennen, jedoch muß man hier noch eine andere Beſonderheit vor— her ins Auge faſſen, welche die ganze Menge der hierher gehörigen — Pflanzen gleichſam in zwei parallele Entwicklungsreihen vertheilt. Wenn ſich aus der Fortpflanzungszelle allmälig die Keimpflanze ent- wickelt, fo bildet ſich an dem natürlich zuerſt entſtehenden Arenkör⸗ per entweder Ein erſtes Blatt, welches die ganze Pflanzenaxe ſchei— denförmig umfaßt, und im obern Theile ganz einhüllt, oder es bil— den ſich gleichzeitig und auf gleicher Höhe an der Stengelgrundlage Zwei erſte Blätter, welche ſich in den Umfang theilen und den obern Theil der Keimpflanze zwiſchen ſich einſchließen. Die erſte Reihe nennt man die Einſaamenlappigen oder Monocotyledonen, zu denen zum Beiſpiel alle Lilien-ähnliche Pflanzen, die Palmen, Gräſer und Rietgräſer gerechnet werden, die andere die Zweiſaa— menlappigen oder Dicotyledonen, wofür unſere gewöhnlich— ſten Gartenpflanzen und Laubbäume als Beiſpiele dienen können. Die Pflanzen beider Reihen weichen aber nicht nur in dieſem fchein- bar untergeordneten Merkmale, ſondern auch in ihrer ganzen übri— gen Organiſation weſentlich von einander ab und unterſcheiden ſich ſelbſt ſo auffallend in ihrer äußeren Erſcheinungsweiſe, daß ein eini— germaßen geübtes Auge ſie leicht auf den erſten Blick erkennt. Die Erſten haben meiſt im Stengel zerſtreute, Faſern ähnliche Holzbün— del, wie der Maisſtengel, die andern einen feſtgeſchloßnen Holz— kreis, wie die Weide; die erſteren haben gewöhnlich Blätter mit ein— fachen parallelen Längsadern, wie die Gräſer, die andern Adern, die ſich baumartig verzweigen und ſo ein zierliches Netz auf der Blattfläche bilden, wie bei der Linde; endlich finden wir in den Blüthentheilen Die Morphologie der Pflanzen. 101 der erſteren häufig die Dreizahl vorherrſchend, wis det der Tulpe, bei den letzteren dagegen die Fünfzahl, wie bei der Primel. Dieſe beiden Reihen ſchreiten nun parallel neben einander, und was im Folgenden über die Blüthenbildung gefagt ift, gilt für beide in gleicher Weiſe. — Die Elemente, deren Combination zu höheren Einheiten hier der Natur zu Gebote ſteht, haben wir kennen lernen. Das Erſte, was ſie thut, iſt, daß ſie die Saamenknospe in den eigenthümlichen Apparat einſchließt, den wir oben als Stempel bezeichnet haben. An⸗ fänglich ſind aber Staubfäden und Stempel noch ohne weſentliche räumliche Beziehung zu einander. Jedes Organ bildet eine Blüthe für ſich. Dann werden beide vereinigt, indem ſich eine beſtimmte Anzahl von Staubfäden um einen oder mehrere Stempel verſam— meln. Demnächſt treten erſt einer, dann mehrere Kreiſe von Blatt— organen zu dieſer Blüthe hinzu und bilden ſo das, was man gewöhn— lich als Blume zu bezeichnen pflegt. Dieſe Blätter nehmen andere Formen, andere Farben, zum Theil auch zartere Structurverhältniſſe an und werden als Blüthenhülle, Kelch, Blumenkrone u. |. w. be: zeichnet. Endlich auf der höchſten Stufe vereinigt die Natur aber— mals eine Anzahl ſolcher einzelnen Blumen zu einem größeren abge— ſchloſſenen Ganzen, indem ſie dieſelben nach einem ganz ſcharf gezeich— neten Typus zuſammenordnet und mit Kreiſen von Blättern umgiebt und abſchließt. Diefe zuſammengeſetzten Blum en (wie Linné fte nannte) characteriſiren in der erſten Reihe oder bei den monocotyledonen Pflanzen die Gräſer, in der zweiten, bei den dicotyledonen Pflanzen diejenige Pflanzenfamilie, zu welcher das Marienblümchen, der Löwenzahn, die Diſteln, Artiſchocken und unzählige andere Pflanzen gehören, die man dieſer Eigenthümlichkeit wegen als die zu— ſammengeſetztblüthigen oder Compoſiten bezeichnet. Was das kränzewindende Mädchen Kornblume nennt, iſt in der That eine ganze Geſellſchaft kleiner, aber ganz vollſtändiger Blumen. Wenn wir in dem Fortſchritt vom Einfacheren zum Zuſammengeſetzteren eine Reihenfolge erkennen wollen, ſo müſſen wir offenbar die Gräſer und Compoſiten als die höchſte Stufe der gegenwärtigen irdiſchen Vegetation anſehen. Merkwürdig genug ſind es auch gerade dieſe beiden Familien, welche durch ihre Arten- und Individuenzahl den eigentlichen characteriſtiſchen Beſtandtheil der ganzen gegenwärtigen 102 Vierte Vorleſung. Die Morphologie der Pflanzen. * Erdenflora ausmachen, indem bei einer Geſammtzahl von etwa 300 Pflanzenfamilien die Familie der Gräſer allein /, die der Compoſiten , alſo beide zuſammen faſt // ſämmtlicher Pflanzen— arten umfaſſen. Ich muß mich hier damit begnügen, in der vorliegendeu Skizze die Hauptgeſichtspunkte hervorgehoben zu haben, welche beim gegen— wärtigen Stande unſerer Wiſſenſchaft die Wendepunkte der morpho— logiſchen Betrachtung ausmachen. Daß ſich hier im Einzelnen noch zahlloſe Fragen und Betrachtungen aufdrängen, wird jedem Denken— den einleuchten. Demjenigen, der noch nicht ſich gewöhnt hat durch die äußere Erſcheinungsweiſe hindurch auf den weſentlichen innern Zuſammenhang der Geſtaltentwicklungen zu blicken, wird es freilich. ſehr paradox vorkommen, wenn wir ihm ſagen, daß die kugelförmige gerippte fleiſchige Maſſe eines Cactus mit feinen prachtvollen Blü⸗ then eigentlich nichts iſt als ein tropiſcher Stachelbeerſtrauch, daß die oft 30 Fuß hohen Palmen-ähnlichen Stämme der Dracä— nen mit mächtigen Büſcheln großer Lilienblumen durchaus demſel— ben Formen- und Entwicklungskreiſe angehören, wie unſer unſchein— barer Gartenſpargel, oder daß unſere an Dorfwegen überall die Ränder ſchmückende, kriechende Käſepappel oder wilde Malve mit den 6000 Jahre alten Rieſenſtämmen des Baobab auf der afrikaniſchen Weſtküſte bei Weitem näher verwandt ſey, als mit dem neben ihr vegetirenden wilden Mohn, und gleichwohl iſt dies Alles unzweifelhaft wahr. Denn um noch einmal auf das oben vorge— führte Princip zurückzukommen, bei den organiſchen Weſen entſchei— det nicht die Erſcheinung des Gewordenen, ſondern das Geſetz des Werdens über gleich und ungleich, ähnlich und unähnlich und die Idee der Entwicklungsgeſchichte iſt der allein befruchtende Gedanke in der wiſſenſchaftlichen Betrachtung des Lebendigen und beſtimmt den Werth der Diſciplinen; deshalb ſteht auch die Pflanzenphyſio— logie höher als die ſyſtematiſche Botanik, die vergleichende Anato— mie höher als die beſchreibende Zoologie und die Geſchichte höher als die Statiſtik. Fünfte Vorlesung. Vom Wetter. Die Stürme brauſen um die Wette, Vom Meer auf's Land, vom Land auf's Meer, Und bilden wüthend eine Kette Der tiefſten Wirkung rings umher. Fauſt. Seit lange ſchon iſt die beſſere Geſellſchaft darin übereinge— kommen, daß es wider den guten Ton ſey, vom Wetter zu reden, daß es nichts Langweiligeres gebe, als Wettergeſpräche und daß man dieſelben den Matroſen und unbeholfnen Liebhabern überlaſſen müſſe, und man verſichert ſich gegenſeitig, daß in allen Geſellſchaf— ten wo guter Geſchmack herrſcht, das Wetter nicht mehr als Ge— genſtand der Unterhaltung vorkomme. Wenn ich gleichwohl mich unterfange, heute vom Wetter zu reden, ſo will ich zwar gern zu— geben, daß vielleicht mein Vortrag herzlich langweilig werden kann, aber ich muß es durchaus in Abrede ſtellen, daß auch in der beſten Geſellſchaft weniger als anderswo vom Wetter geſprochen werde, ich muß beſtimmt darin widerſprechen, daß das Wetter ein langwei— liger Gegenſtand ſey. Was iſt überhaupt langweilig? — ſelten oder nie der Gegenſtand, wohl aber die Art und Weiſe, in welcher er behandelt wird. — Gäbe es wohl für Damen und vielleicht ſelbſt für einige Herren einen intereſſanteren Gegenſtand als die Mode? Und doch würde es eine Dame ebenſo langweilig finden, wenn Je— mand das Geſpräch mit der Bemerkung einleitete: „wir haben jetzt eine ſehr hübſche Mode,“ ebenſo langweilig meine ich, als wenn Einer bemerkt: „wir haben heute eine ſehr ſchöne Witterung.“ — Wie anders aber, wenn, man leicht hervorhebend wie gut die ge— wählte Haube zur Form des Kopfes paſſe, ſinnig zu den Hauben— formen der verſchiedenen Nationen, zu denen berühmter Frauen übergeht, nachweißt, welchen Einfluß Klima, Bedürfniß, Volksei⸗ * — 106 Fünfte Vorleſung. genthümlichkeit auf die Bildung gewiſſer Formen der Kleiduugs— ſtücke haben, wie der Geſchmack die ſo entſtandenen Formen ergreift, nach ſeinem Zwecke umgeſtaltet und endlich ſich die Laune einmiſcht, um durch das Eingreifen ihrer Bizarrerien die bunte Mannigfaltig- keit hervorzurufen, die unſer Auge immer ergößt, fo lange nicht ein überſättigter Sinn und ein verdorbener Geſchmack offenbar Häßliches ſchaffen. — Ebenſo beim Wetter, und um ſo mehr ſo, als nichts ſo tief in unſer körperliches und geiſtiges Leben eingreift, als eben dieſes. Wer möchte heut zu Tage bei unſern complicirten Lebens— verhältniſſen noch behaupten, er ſey abſolut geſund? und brauche ich es erſt auseinander zu ſetzen, welchen Einfluß das Wetter auf einen nicht vollkommen geſunden Menſchen ausübt, wie insbeſondere alle, die an chroniſchen Krankheiten leiden, in ihrem Wohlbefinden von der Witterungsconſtitution abhängig ſind? Wer kennte nicht die alte Redensart: „der Mann hat einen Kalender an ſich,“ welche ſich auf die beſtändig wechſelnden Gefühle in einem kranken Gliede, in größe— ren Wunden, oder an Amputationsflächen bezieht, welche ſich ſelbſt dann, wenn der Menſch übrigens vollkommen geſund iſt, zeigen, ſo wie ſich bedeutende Veränderungen im Wetter zutragen. Hier ſind es die Nerven, die ſich im menſchlichen Körper überall hin gleichſam wie Fühlfäden der Seele ausſtrecken, welche oft genauere und frühere Kunde von den Veränderungen um uns geben, als die nur auffal— lende Erſcheinungen erfaſſenden Augen. — Aber eben wegen dieſer Nerven muß man auch behaupten, daß ſelbſt der geſunde Menſch fortwährend den Einflüſſen der Witterung offen iſt. Von jedem Mann kann man zwar verlangen, daß er dieſen unmerklichen Ein- wirkungen durch den Willen zu widerſtehen vermag, daß er ihnen auf ſein Denken und Handeln keinerlei Einfluß geſtatte. Wer aber dieſe Einwirkung des Wetters auf ſich, auf das Gefühl der Luft oder des Unbehagens, der Kraft und Geſundheit oder der Niedergeſchla— genheit und Mattigkeit ableugnen wollte, den müßte ich der Un- wahrheit oder der mangelhaften Selbſtbeobachtung zeihen, oder ihn als einen Mann von krankhaft abgeſtumpften Nerven beklagen. Ja, * * * 8 4 Vom Wetter. 107 es ließe ſich vielleicht für jede Nüancirung des Wetters eine Ge— müthsſtimmung auffinden, welcher ſie durch ihren Einfluß auf die Nerven förderlich iſt, deren Gegentheile ſie alſo feindlich entgegen tritt. Schon unſere Vorfahren kannten und benannten einen Wonne— mond und in England heißt der November „the month of fog, mi- santhropy and suicide.“ Thatſache iſt, daß die meiſten Selbſtmorde dort in dieſem Monat begangen werden. Frommond erzählt, daß beim Südwind die Einwohner der Azoren herumgehen, als wenn ſie vor den Kopf geſchlagen wären und daß ſelbſt die kleinen Kinder betrübt zu Haufe ſitzen, ſtatt auf den Gaſſen zu ſpielen. Sancto- rius bemerkte, daß alle Menſchen ſich ſchwerfälliger fühlten bei feuchtem nebligen Wetter und Unzer behauptet, daß Kranke und Geſunde ſtets wohler ſeyen bei hohem Stande des Queckſilbers. Schon bei Hippocrates finden wir bemerkt, daß feuchte Frühjahre heftige Fieberepidemieen nach ſich zögen und an allen Seeküſten iſt der Glaube verbreitet, daß die Mehrzahl der Menſchen aus dem Leben ſcheide, wenn der Mond um 90 Grad von ſeiner Culmination entfernt N ſey, nämlich zur Zeit der Ebbe. Ich führe dieſes Alles nicht an, weil ich die Thatſachen ſelbſt für über allen Zweifel erhaben halte, ſondern nur um zu zeigen, wie allgemein die Ueberzeugung verbreitet iſt, daß das Wohlbefinden des Menſchen vom Wetter abhängig ſey. — Wenn wir auf ſehr hohen Bergen find, fo liegen gar häu- fig Wolken, Regen und alle Trübſale des Wetters tief unter un— ſern Füßen und ſo mögen auch die, welche auf den Höhen der Menſchheit ſtehen, die Herrſcher der Völker und die Großen weniger berührt werden von dem Wechſel des Wetters, deſto mehr hängt in den niedern Regionen alles Wohl und alles Wehe des Lebens von Regen und Sonnenſchein ab. Stellen wir uns einen Augenblick ne— ben Le Sage's hinkenden Teufel und ſchauen in das Innere der Häu— ſer hinein; hier harret die liebende Gattin des Mannes, ſie eilt dem wiederkehrenden freundlich entgegen und wird mürriſch zurückgeſtoßen, jubelnd läuft der ſechsjährige Bube auf den Vater zu und beſchmuzt mit ſeinen Fingerchen deſſen Kleid. Ein derber Hieb iſt ſeine Be⸗ ’ — 5 5 | * * 108 Fünfte Vorleſung. grüßung; finſter wirft ſich der Mann auf's Canapee und peinliches Schweigen herrſcht im Zimmer, mit einem Worte, wo man Liebe und Freude geſucht, iſt Mißmuth und Trübſinn eingezogen, und warum? der anhaltende Regen hat die Heuernte ruinirt und wegge— ſchwemmt; der Schaden beläuft ſich auf viele tauſend Thaler. Und dort: mit einer gewiſſen Bangigkeit blickt eine Frau in den ſonnigen Herbſtmorgen, da ſtürmt der Mann herein, umarmt ſie und ſpricht: „Ein köſtliches Jahr, ein Wein wie der Elfer, baaren Gewinn von 10,000 Thaler, fo eben verkaufte ich den ganzen Er: trag. Freue dich mit mir, Geliebte,“ und dabei überreicht er ihr den langerſehnten Caſchmirſhawl; Freunde kommen, um Glück zu wün⸗ ſchen und bis ſpät in die Nacht tönt der Jubel der Freude aus dem Haufe. — Das Wetter iſt es, welches hier beglückt, dort Kum— mer bereitet. Erheben wir uns endlich noch auf höheren Standpunkt. Die ganze Erde liegt ausgebreitet zu unſern Füßen. Dort ſehen wir ein weichliches Volk, der Deſpot in allen Lüſten ſchwelgend, der Bonze allmächtig, der Paria gedrückt und getreten, Aberglaube ſtatt Glaube, Formelweſen ſtatt Geiſt. Hier ein kräftiges Volk, ſtolz auf ſeine Macht, „Freiheit kehrt ungehindert in die ärmſte Hütte ein und ſchüttet Reichthum aus auf die beglückten Fluren,“) wie der Dich⸗ ter ſagt. Dort ſehen wir ein Volk, geiſtig entwickelt und gebildet, wie kein anderes, beſtändig beſchäftigt mit den höchſten Aufgaben der Menſchheit und meift in ihren Löſungen glücklich und bei dieſem re⸗ gen Geiſtesleben faſt des Leiblichen vergeſſend und ſorglos einigen Wenigen die Leitung ſeiner Angelegenheiten überlaſſend und unter andern Breiten derſelbe Stamm, entartet durch Schwelgen, verſun— ken faſt in thieriſchen Genuß der Sinnenreize, über die er als deſpo⸗ tiſcher Herr in ſeinen eignen Angelegenheiten gebietet und unbeküm⸗ mert, ob es ein ſolches Ding wie eine Seele gebe, die ihr höheres Recht auf Entwicklung und Ausbildung geltend machen könnte. * „Where liberty abroad walks unconfined even to thy farthest cotts and scatters plenty oer the shining land.“ Thomson“ s seasons. »- n 2 Vom Wetter, 109 Mit einem Blick überſehen wir den fröhlichen Tahitier, den ſtumpfen Feuerländer, den förmlichen Chineſen, den ungebundenen Beduinen, den kindlichen Hindu, den männlichen Engländer, den abſtracten Deutſchen, den materiellen Pankee und alle dieſe und neben ihnen die tauſend andern Nüancirungen der menſchlichen Na⸗ tur ſind in ihren letzten Gründen abhängig oder doch gefördert vom Wetter. . Iſt es denn nur möglich, daß der Menſch diefe feine Abhängig: keit für längere Zeit vergeſſen kann? Und dieſe ungeheure Macht, die Körper und Geiſt, das Leben des Einzelnen wie die Geſchichte der Menſchheit beherrſcht, ſollte nicht ein würdiger Gegenſtand des Nachdenkens, der Unterhaltung ſeyn? — Aber können wir wirklich in dieſe Werkſtatt der Natur eindringen, oder iſt etwa der Gegen— ſtand deshalb des Intereſſe's unwürdig, weil wir eben verdammt ſind bei ihm ſtets auf der Oberfläche zu bleiben? Unſere heiligen Schriften ſagen: Du hörſt wohl des Windes Rauſchen, aber du weiſt nicht von wannen er kommt und wohin er fährt! Leider kann ich den Vorwurf nicht ganz abweiſen, daß wir Na— turforſcher nicht gar viel von der Bibel halten. Möglich iſt es da— bei freilich, daß eben, weil wir nicht viel davon halten, wir das Wenige, was wir davon behalten, auch klarer, reiner und deßhalb richtiger auffaſſen, als andere; doch das gehört nicht hierher. Ich muß allerdings zugeben, daß, ſo weit es naturwiſſenſchaftliche Fra— gen betrifft, wir der Bibel durchaus gar keine Autorität einräumen können, vielmehr behaupten müſſen, daß ſie ſich dabei auf einer menſchlich höchſt beſchränkten Stufe eines uuwiſſenden und ungebil— deten Jahrhunderts bewegt. Wir glauben jetzt allerdings recht wohl zu wiſſen, von wannen der Wind kommt und wohin er fährt. Doch zunächſt müſſen wir beſtimmter ſagen, was wir unter, Wetter verſtehen. Den Hauptpunkt habe ich ſchon genannt. Für un⸗ ſere Gegenden iſt es der Wind, der abwechſelnd nach ſeinen verſchie— denen Richtungen uns Wolken und Sonnenſchein, Wärme und Kälte, Regen und Schnee, Ruhe und Gewitterſturm bringt und durch al— * * . 110 „ Fünfte Vorleſung.“ * les Dieſes dem allgemeinen Charakter der Jahreszeiten erſt die indi- viduellen Eigenthümlichkeiten aufprägt, die wir Wetter nennen. Alle jene verſchiedenen Erſcheinungen und vor Allen der Wind ſind aber nur Veränderungen, verſchiedene Zuſtände der Zuſammen— ſetzung „Ruhe und Bewegung der feinen Materie, die uns umgiebt, und die wir als Luft bezeichnen. Treten wir hinaus in die klare Nacht und blicken über uns aufwärts zu den Sternen, ſo erblicken unſere Augen keine Grenze zwiſchen uns und jenen Himmelslich— tern. Es deucht uns wohl ſo, als ob daſſelbe unſichtbare Etwas, welches uns umgiebt, ſich ununterbrochen hinauf erſtrecken müſſe bis zu jenen glänzenden Welten, deren Licht ſcheinbar ſo ungehin— dert zu uns herabſtrömt. Dem iſt aber nicht alſo. Könnten wir auf- wärts ſteigen, jo würden wir, ſchon ehe wir noch ein nennens⸗ werthes Stück unſeres Weges zurückgelegt, an der Grenze der Luft angekommen ſeyn. Nicht unrichtig nennt ſie die dichteriſche Sprache Luftmeer, und die kühnen Sterblichen, die fie durchflogen, Luft— ſchiffer. Wie eine dünne flüſſige Schicht umgiebt ſie unſeren Erdball und nimmt an ſeinen Schickſalen Theil. Mit ihm durchfliegt ſie die Räume des Weltalls in ſeinem Laufe um die Sonne, mit ihm dreht ſie ſich in gleicher Schnelligkeit von Weſt nach Oſten um ſeine Axe. Thäte fie dieſes nicht, oder bewegte fie ſich auch nur langſa— mer, als er, ſo würden wir, die wir an den Boden und ſeinen Umſchwung gefeſſelt ſind, uns durch ſie durchdrängen müſſen, ſie würde uns als Sturmwind entgegen zu kommen ſcheinen, eine Thatſache, die, wie fi fpäter erweiſen wird, von großem Ein⸗ fluſſe auf die Theorie der Winde iſt. Ich habe die Luft eine Flüſſig— keit genannt und das iſt ſie in der That. Sie fließt aus einem Raum in den andern und eben dieſe Luftſtröme nennen wir Winde. Aber, wird man fragen, wo iſt denn der Raum, in welchen ſie ein— ſtrömen könnte, da ja überall Luft verbreitet ift, alſo überall Gleich— gewicht herrſchen muß, wie in einem ruhig ſtehenden Gefäße mit Waſſer? — Um dies zu erläutern, muß ich zunächſt eine der wich— tigſten Eigenſchaſten der Luft näher aus einander ſetzen. Die — * 6 2 Vom Wetter. 141 Wärme hat bekanntlich die Eigenſchaft, die Körper, welche ſie durch— dringt, auszudehnen. Ein Eiſenſtab, wenn er glühend gemeſſen wird, iſt breiter, dicker und länger, als derſelbe Stab, nachdem er wieder vollſtändig erkaltet iſt. Daſſelbe gilt auch für die Luft, ſie wird aus— gedehnter und in Folge deſſen auch leichter, wie die einfachſte Form des Luftballons, die nach ihrem Erfinder ſogenannte Montgolfieère beweiſt, welche dadurch ſteigt, daß man die gemeine, in einem unten offnen Ballon eingeſchloſſene Luft durch eine ſtarke, unten angebrachte Flamme erhitzt. Die leichter gewordene Luft ſteigt dann durch die kältere Luft wie Oel durch's Waſſer in die Höhe und ſchwimmt auf derſelben. Liegt die kalte Luft auf einer ſchrägen Fläche, ſo fließt die wärmere auf der kalten Luft herab, wie Waſſer an einem Berge, ſcheinbar ohne ſich, wenn der Temperaturunterſchied bedeutend iſt, mit derſelben zu vermiſchen. Da aber die warme Luft dünner iſt, als die kalte, d. h. weil in einem gleichem Raume weniger Luft iſt, wenn ſie warm als wenn ſie kalt ift, fo fließt auch die kalte Luft in jeden Raum hinein, der er— wärmt iſt und zwar, weil ſie ſchwerer iſt, am Boden. Oeffnet man in ſehr kaltem Winter die Thür eines erheizten Zimmers, ſo ſtrömt die kalte Luft am Boden ein, die warme Luft in der Höhe aus, was ſich deutlich durch die Bewegung einer hoch oder tief in die Thür ge— haltenen Lichtflamme zu erkennen giebt. Dies iſt im Kleinen die Ver— anlaſſung zu dem von dem zarten Frauengeſchlecht und auch von ei— nigen zarten Herren ſo ſehr gefürchteten Zuge. Dies im Großen die Urſache deſſen, was der Matroſe nach Umſtänden durch Beten und durch Pfeifen herbeiruft, oder verflucht, die Urſache des Windes und der Stürme. Freilich wird man mir antworten, daß wir damit immer noch nicht klüger geworden ſind. Denn wenn um den kahlen Gipfel des Brockens die Frühlingsſtürme brauſen und in ſchaurigem Treiben * den Schnee aufwirbeln, daß der geblendete Wanderer, nur noch hun— dert Schritte vom gaftlichen Haufe entfernt, ſich verirrt und eine Beute des Todes wird, ſo frägt ſich's immer noch, wo iſt denn hier das geheizte Zimmer und wo die geöffnete Thür? und am Ende be⸗ * = 112 Fünfte Vorleſung. hält die alte Rede doch Recht, die den für einen klugen Mann er⸗ klaͤrt, der immer weiß, woher der Wind weht. — Ich getraue mit aber nachzuweiſen, daß das gar ſo ſchwer nicht ſey, denn jene Re- densart ſetzt voraus, daß es ſo viele Winde auf Erden gebe, als die Windroſe des Compaſſes Puncte hat, während es doch in der That eigentlich nur zwei Winde giebt. Indeß, ehe ich zur Erklärung dieſer ſonderbar ſcheinenden Be⸗ hauptung übergehe, muß ich einer andern Eigenſchaft der Luft erwähnen, die für die Erſcheinungen, die wir Wetter nennen, nicht minder wichtig wird. Ich knüpfe an eine Allen bekannte Erſcheinung an. Wenn man ein ganz trocknes aber recht kaltes Glas in ein war: mes Zimmer bringt, fo beſchlägt es, wie man ſagt, d. h. es be- deckt ſich plötzlich mit kleinen Waſſertröpfchen, und zwar um fo ftär- ker, je größer der Unterſchied zwiſchen der Wärme der Zimmerluft und der Kälte des Glaſes iſt. Woher kommt dieſes Waſſer? Sicher nicht aus dem Glaſe, denn dieſes war vorher trocken, ſondern aus der Luft in der Stube. Der Grund, daß dieſes vorher unſichtbare, luftförmige Waſſer plötzlich in Geſtalt kleiner ſichtbarer Tropfen er= ſcheint, liegt in dem Unterſchiede der Temperatur der Luft in der Stube und der Luft in der Nähe des kalten Glaſes und es zeigt ſich hierdurch zugleich das Geſetz, daß die Luft um ſo mehr unſichtbares Waſſer enthalten kann, je wärmer ſie iſt. Dieſes ganze Verhältniß iſt die Urſache der Wolkenbildung, des Regens, Schnee's und aähn⸗ licher Erſcheinungen auf der Erde. ’ Beide Betrachtungen aber, ſowohl über die Urſachen des Win- des, als über die Bildung der wäſſrigen Niederfchläge der Atmo⸗ fphäre führten uns zu einer Kraft, von welcher beide Erſcheinungen wiederum abhaͤngig ſind, nämlich zur Wärme. Suchen wir nach der allgemeinen Quelle derſelben, ſo werden wir auf die Sonne gewieſen. Sie iſt die Allbewegerin auf Erden und auf eine wunderbare einfache Weiſe unterhält fie an der Erde einen beftändigen Kreislauf der Stoffe, wodurch allein das Leben der organiſchen Weſen, der Pflan⸗ zen und Thiere möglich gemacht wird. Schon der Kaiſer Aurelian * * Vom Wetter, 115 fagte, daß er unter allen den Göttern, welche die welterobernde Roma von den Beſiegten entlehnt und in ſich verſammelt hätte, keinen der Anbetung wahrhaft würdig gefunden habe, als die Sonne, und un— ter allen Formen des Heidenthums iſt gewiß die erhebendſte Feier die, wenn der Parſe frühmorgens am Ufer des Meeres harrt und bei den erſten Strahlen der Sonne, die über die tanzenden Wellen hinzucken, ſich mit dem Antlitz zu Boden wirft um im ſtillen Gebet die Wieder— kehr der Allbelebenden und Allzeugenden zu begrüßen. Leider iſt hier abermals der Ausſpruch der Bibel, welcher eine gleiche Vertheilung der himmliſchen Gaben an alle Menſchen be— hauptet („der Herr läßt es regnen über Gerechte und Ungerechte“) unrichtig und der Menſch hat je nach ſeinem Wohnplatz auf der Erde ſehr verſchiedenen Antheil an dem erwärmenden und belebenden Ein— fluß der Sonne. Nur dann ſpendet ſie ihren Seegen im höchſten Maße, wenn ihre Strahlen ſenkrecht den Erdboden treffen und dies geſchieht wegen der Stellung der kugelrunden Erde zur Sonne nur in einer ſchmalen Zone zu beiden Seiten des Aequators, im Ganzen etwa nur in einem Viertel der ganzen Länge vom Südpol bis zum Nordpol. Von dieſem Gürtel an nimmt ihre Einwirkung ſo ſchnell ab, daß fie ſchon durchſchnittlich im 70 nördlicher und ſüdlicher Breite nicht im Stande iſt, den gefrornen Boden tiefer als wenige Fuß aufzuthauen und im 800 auch die Oberfläche ſogar im höchſten Sommer von unſchmelzbarem Eiſe ſtarrt. Der Aequator ſelbſt liegt zweimal im Jahre, zur Zeit der Herbſt- und Frühlings-Tagundnacht— gleiche, unter den ſenkrechten Strahlen und ebenfalls jeder Ort in der eben bezeichneten Zone, aber ſo, daß die Zeitpuncte immer näher zu— ſammenrücken bis ſie unter den Wendekreiſen zuſammenfallen, welche nur einmal im Jahre, und zwar der Wendekreis des Krebſes zur Zeit unſeres längſten Tages, der des Steinbocks zur Zeit unſeres kürzeſten Tages, von den ſenkrechten Strahlen der Sonne durchwärmt werden. Wenn der Schiffer auf ſeiner Fahrt nach Süden mitten im at— lantiſchen Oceane ſich dem Aequator nähert, ſo ergreift bange Furcht die ganze Equipage. Früher oder ſpäter, je nach der 1 wird Schleiden, Pflanze. 4 114 Fünfte Vorleſung. der günſtige Wind, der ihn bis dahin getragen, ſchwächer und ſchwaͤ⸗ cher, er ſchweigt anfänglich für kurze Zeit und zuletzt gänzlich. Um ihn breitet ſich das Meer aus, eine endloſe Spiegelfläche. Das vor Kurzem noch einem Vogel gleich dahin fliegende Schiff liegt feſtge⸗ bannt auf dem flüſſigen Kryſtall. Die ſenkrecht herabfallenden Strahlen der Sonne durchglühen den engen Raum, auf welchem die Menjchen eingeſchloſſen ſind. Das Verdeck brennt durch die Sohlen der Schuhe. Ein erſtickender Dunſt füllt die Räume. Schon vierzehn Tage liegt der ſtolze Beherrſcher der Meere unbeweglich auf derſelben Stelle. Der Vorrath des trinkbaren Waſſers iſt verzehrt. Glühender Dat heftet die lechzende Zunge an den Gaumen. Mit wilden, mordſchwan⸗ gern Blicken der Verzweiflung ſieht jeder ſeinen Leidensgefährten an. Die Sonne ſinkt herab, in eigenthümlichem Kupferroth leuchtet der abendliche Himmel. Und mit der emporſteigenden Nacht erhebt ſich auch eine ſchwarze Mauer in Oſten, ein leiſes ſchrilles Pfeifen tönt aus der Ferne, von woher ein weißer Schaumſtreifen über den ſchwarzen Ocean heranzieht. Das Schiff bewegt ſich und ſchwankt auf den unregelmäßig ſich erhebenden Wellen, aber noch hängen die Segel ſchlaff am Maſte herunter und klappern unheimlich an die Stangen. Da plötzlich raſt der Sturm mit furchtbarem Brüllen heran, kreiſchend zerreißen die Segel und fliegen in Fetzen davon, ein lautes Krachen, ein zweites, und der Hauptmaſt fliegt über Bord, mit An⸗ ſtrengung gelingt es der Mannſchaft feine letzten Stricke zu durchhauen und nun fliegt das Schiff auf dem Ocean dahin, bald hoch auf den Rücken der Wellen gehoben, bald hinabgeſchleudert in die Tiefe, daß alle Rippen beben und knirſchen als wollten ſie von einander weichen. — Endlos rollt der Donner, die Blitze zucken ohne Aufhören durch Die empörte Atmoſphäre. In Strömen ſtatt in Tropfen ſtürzt der Regen herab. Zehnmal glauben ſich die Schiffenden verloren, wenn der zitternde Bau in den Abgrund der Wellen hinabſtürzte und immer wieder erhebt er ſich. Endlich läßt der Sturm nach, einzelne Stöße folgen immer ſeltener, die Wellen ebnen ſich und wenn die tröſtende Sonne im Oſten herauf ſteigt, beleuchtet ſie daſſelbe troſtloſe Bild, Dom Wetter, 115 wie am vorigen Tage. Spiegelglatt dehnt fic wieder die endloſe Fläche aus, nach acht Tagen iſt der geſammelte Waſſervorrath ver— zehrt und abermals ſchauen ſich die ſtumm herumſchleichenden Geſpen— ſter mit mordgierigen Blicken an. Ein neuer Sturm, eine neue Windſtille und fo in ſchrecklichem Wechſel fort, bis endlich das Schiff jenſeits des Aequators wieder in die Region der friedlichen Paſſate gejagt iſt. — Hunderte von Schiffen ſind ſchon hier in den Stürmen zu Grunde gegangen, Hunderte haben durch den ſchrecklichſten Tod des Verdurſtens ihre Mannſchaft verloren. Und die, welche die ſchreckliche Region der Calmen, oder Windſtillen, ſo nennt ſie der Schiffer, überſchritten haben, wenden ſich im ernſten Gebet zum Himmel und danken für das neugewonnene Leben. Das deutſche Mährchen nennt eine Höhle, in der Frau Holle ſitzt und das Wetter braut. In der Wirklichkeit iſt jene Region der Windſtillen und Stürme Frau Hollen's Höhle. Dort wird das Wet— ter gemacht für den ganzen Erdkreis. Die Sonne, welche ſich zweimal im Jahre ſenkrecht über dieſer Region befindet, nie ſich weit genug entfernt, daß eine Abkühlung eintreten könnte, durchglüht hier die Atmoſphäre ſo ſehr, daß ſie durch die Hitze dünner, leichter geworden, in einem fortwährend aufſteigenden Strome (Courant ascendant) ſich befindet. Gleichzeitig verdunſtet von der ungeheuren Fläche des atlantifchen und ſtillen Oceans eine namenloſe Menge von Waſſer, welche ſich in der heißen Luft verbreitet und mit ihr emporſteigt. Aber ſo wie die Luft höher und höher ſich von der Erde erhebt, kühlt ſie ſich mehr und mehr ab, oft plötzlich um viele Grade und ein großer Theil des mitgenomme— nen Waſſers ſchlägt ſich nun plötzlich in Tropfenform nieder; dadurch werden große Veränderungen in der Elektricität der Atmoſphäre her— vorgerufen und ſo bilden ſich die furchtbaren, ſchnell entſtehenden und ſchnell vergehenden Gewitterſtürme in der Gegend, die ſonſt wegen des beſtändigen Aufwärtsſteigens der Luft völlig windſtill erſcheint. Anders aber geftaltet ſich die Sache an den beiden Grenzen dieſer Zone. Die in Folge der Hitze fortwährend aufſteigende Luft läßt 8 * * * » * * 116 Fünfte Vorleſung. einen Raum zurück, der nur äußerſt verdünnte Luft enthält und in dieſen ſtrömt von Norden und Süden her beſtändig die kalte Luft mit großer Heftigkeit und Stetigkeit hinein. Dies iſt der eine Wind der Erde, wir wollen ihn, weil er von den Polen nach dem Aequator zu fließt, den Polarſtrom nennen. Auf der nördlichen Halbkugel iſt er natürlich ein Nordwind, auf der ſüdlichen ein Südwind. Wir müſſen aber bedenken, daß ein ſolcher Strom oder Wind nur ein ſich fortbewegender Theil der Atmoſphäre und daß dieſe in allen ihren Theilen an die Erde und ihre Schickſale gebunden iſt und, wie ſchon erwähnt, ſich mit derſelben von Weſten nach Oſten um ihre Are dreht. Dies geſchieht aber in verſchiedenen Gegenden, wie ſchon ein Blick auf die Erdkugel lehrt, in ungleicher Schnelligkeit. Während am Pol ſelbſt ſich die Luft nur um ſich ſelbſt dreht, ohne vorwärts zu kommen, ſo legt die Luft am Aequator in Einer Stunde einen Weg von mehr als 200 Meilen zurück. Denken wir uns nun die Luft des Poles plötzlich an den Aequator verſetzt, ſo wird längere Zeit ver— gehen, ehe ſie dieſelbe Geſchwindigkeit von Weſten nach Oſten ange— nommen, als die dort befindliche Luft, ſie wird gegen dieſe zurück— bleiben, indem die Erde gleichſam unter ihr weggleitet, oder, mit andern Worten, ſie wird als Luft erſcheinen, die ſich von Oſten nach Weſten bewegt, d. h. als Oſtwind. Wenden wir dieſes auf die Po— larſtröme an, ſo ergiebt ſich, daß dieſe, je länger ſie wehen, je mehr fie ſich dem Aequator nähern, um fo mehr als Nordoſt- und Südoſt— winde erſcheinen müſſen. In der That zeigt ſich uns zu beiden Sei— ten der Region der Windſtillen und Stürme eine Region, in welcher Jahr aus Jahr ein, hier ein Oſtnordoſt-, dort ein Oſtſüdoſtwind, der allen Schiffern bekannte Paſſatwind )), weht. Erwähnen wir nun noch, daß die Polarluft die ſchwerere, käl— tere, trocknere iſt, daß alſo beim Nord, Nordoſt und Oſt (alle drei ſind ja derſelbe Wind) das Barometer ſteigen, das Thermometer ſinken u, ) Trade-wind, Handels wind; Paſſat- oder Paffagewind, näm⸗ lich ein Wind der den Handelsſchiffen die Paſſage von Europa nach Amerika möglich macht. 5 Vom Wetter, 417 und der Himmel heiter werden muß, fo haben wir alle wefentlichen Eigenſchaften des einen Hauptwindes, des Polarſtromes, genannt. Wir müſſen aber weiter nach den ferneren Schickſalen der er— wärmten Luft fragen, welche in den Tropen den beſtändig aufſteigen— den Strom bildet. Je höher ſie ſich erhebt, deſto mehr kühlt ſie ſich ab und in Folge deſſen wird ſie ſchwerer und fängt an zu ſinken; da aber unter ihr der ſchwere, kalte Polarſtrom gleichſam einen feſten Boden bildet, ſo fließt ſie auf dieſer Luftſchicht ab gegen die Pole hin und bildet ſo den zweiten auf der Erde herrſchenden Wind, den man nach ſeinem Urſprunge paſſend den Aequatorialſtrom nennt. Für uns iſt derſelbe ein Südwind, für die ſüdliche Erdhälfte natür— lich ein Nordwind. — Aber ſo wie der Polarſtrom bei ſeinem Fort— rücken gegen den Aequator ſich allmälig in einen Oſtwind umän— derte, ſo wird aus denſelben Gründen der von dem Aequator zu den Polen abfließende Luftſtrom, im entgegengeſetzten Sinne abgelenkt, allmälig zum Weſtwind. Auch kommen dieſem Aequatorialſtrom na— türlich gerade die entgegengeſetzten Eigenſchaften zu, wie dem Po— larſtrome, er iſt leichter, wärmer und feuchter, er bringt das Baro— meter zum Fallen, das Thermometer zum Steigen und bedingt Bil— dung von Wolken, Regen und Schnee. Durch beide Ströme in Verbindung mit einander wird eine beſtändige Circulation in der geſammten Atmoſphäre der Erde unterhalten, welche es unmöglich macht, daß irgendwo, durch locale Einflüſſe bedingt, ein den Or— ganismen weſentlicher Stoff der Atmoſphäre, z. B. Sauerſtoff oder Waſſerdampf, vollſtändig verzehrt werde, oder ein ſchädlicher, z. B. Kohlenſäure, ſich übermäßig anhäufe. So iſt alſo das Beſtehen der ganzen belebten Natur an dieſen Kreislauf gebunden. Beim erſten Anblick ſcheinen die einfachen und großartigen Züge des Grundgeſetzes der atmoſphäriſchen Veränderungen, wie ich es ſo eben zu ſkizziren verſucht habe, durchaus nicht zu paſſen zu dem ſcheinbar ſo launenhaften Spiel des Wetters, wie es uns erſcheint und welches geradezu als Prototyp der Veränderlichkeit und Unbe— ftändigfeit gilt. Das Folgende mag dazu dienen, dieſen ſcheinbaren — 118 Fünfte Vorleſung. Widerſpruch aufzuklären. Nach den Witterungserſcheinungen können wir die Oberfläche unſerer Erde in zwei ungleiche Theile theilen, in die Region des beſtändigen Wetters und in die Region des veränder— lichen. So weit ſich der Einfluß der Paſſatwinde an beiden Seiten der Tropenregion erſtreckt, kann man faſt auf Tag und Stunde das Wetter auf viele Jahre vorherſagen. Die mittlere Zone (vom 2°—4° n. B.) iſt die, in welcher ohne Unterbrechung durch das ganze Jahr hindurch mit großer Hitze und Windſtille nächtliche Platzregen und Gewitterſtürme wechſeln. Zu beiden Seiten nach Norden und Süden folgt eine Zone (vom 4°—10° n. Br.), wo die fo eben genannten Erſcheinungen nur im Sommer eintreten, im Winter dagegen der Paſſatwind einen regenloſen Himmel bedingt. Sodann folgt eine Zone (vom 10 — 20 n. Br.), wo im Winter und Sommer der un: ausgeſetzt wehende Paſſat keine Trübung des ewig blauen Himmels duldet und oft viele Jahre vergehen, ehe ein kurzer ſchnell vorüber— ziehender Regen die dürſtende Erde erquickt. Endlich bildet gegen Norden und Süden noch eine Zone (vom 20-30 n. B.) die Grenze des beſtändigen Wetters, in welcher die Paſſate einen regenloſen Sommer bedingen, der Winter aber einen warmen, jedoch nicht ganz beſtändigen Regen bringt. Die ungefähre Angabe der Breiten be— zieht ſich nur auf die nördliche Halbkugel und den atlantiſchen Ocean, den einzigen Ort, für welchen wir genügend genaue Beobachtungen beſitzen. Nun folgt aber eine Breitenzone von etwa 24 Breitengraden, in welcher ein beſtändiges Kämpfen der Polarſtrömungen mit den zurückkehrenden Aequatorialſtrömen ein durchaus veränderliches Klima erzeugt, welches uns eben deshalb ſo launenhaft und zufällig erſcheint, weil die Bedingungen, von welchen das Vorherrſchen des einen oder des andern Stromes in einer gegebenen Localität abhängt, ſo com— plicirt ſind, daß wir das Geſetz für die Veränderungen noch nicht haben aus den verſchiedenen Beobachtungen ableiten können. Gehen wir der Sache genauer nach, ſo zeigt ſich uns nämlich Folgendes. Nach dem ſo eben Angeführten giebt es nur zwei Windſtröme auf der Erde, den von den Polen zum Aequator wehenden und den von do Vom Wetter. 119 zu den Polen zurückkehrenden. Denken wir uns irgend einen Ort in der Region des ſogenannten veränderlichen Wetters, etwa in Deutſch— land, und nehmen wir an, daß dieſer Ort gerade in der Richtung des Polarſtromes liegt. Es weht ein Nordwind, die Luft iſt kalt, der Himmel heiter und bleibt ſo, während der Wind nach und nach ab— weicht und zuletzt als reiner Oſtwind erſcheint, deſſen trockene ſauer— ſtoffreiche Polarluft dem Bruſtkranken ſo gefährlich iſt. Dieſer Oſt— wind weht ſo lange, bis ihn ein anderer Wind ablöſt, nun giebt es aber keinen andern als den Aequatorialſtrom, der ſtets als Südwind beginnt und das Zuſammentreffen dieſes Südwindes mit dem Oſt— winde bringt zunächſt mittlere Richtungen, ſüdöſtliche Winde hervor, in denen die feuchte, warme Luft des Aequatorialſtromes durch den kalten Polarſtrom abgekühlt und gezwungen wird, einen Theil ihres aufgelöſten Waſſers als Wolken, als Schnee oder Regen niederzu— ſchlagen. Allmälig wird der Aequatorialſtrom herrſchend, es wird bei Südwind hell und warm und bleibt ſo, bis allmälig der Aequato— rialſtrom mehr und mehr nach Weſten abweicht. Ihn kann wiederum nur der nördliche Polarſtrom ablöſen, deſſen Vermiſchung mit der feuchten Luft abermals im Nordweſtwinde häufige atmoſphäriſche Niederſchläge hervorruft. Es ſind dies die kalten feuchten Tage, welche ſo ſchwer von denen ertragen werden, welche an Nerven— ſchwäche leiden. So geht es fort, ſtets in derſelben Ordnung, die man jetzt, nach dem, der zuerſt wiſſenſchaftlich dieſe längſt bekannte Thatſache auffaßte, das Do ve'ſche Geſetz der Drehung der Winde genannt hat, und wir können mit großer Sicherheit das Wetter auch in dieſen Regionen vorherſagen, nur nicht für beſtimmte Zeiträume, da uns die Bedingungen unbekannt ſind, an welche die Dauer des einen oder des andern Stromes oder ihres Kampfes im Südoſt- und Nordweſtquadranten geknüpft iſt. Merkwürdiger Weiſe umfaßt dieſe Zone des Veränderlichen, welche man als die ungünſtigſte für die Entwicklung des Menſchenge— chlechtes anſehen möchte, faſt ganz das mittlere Aſien, die Nordküſte n Afrika, Europa und Nordamerika, alſo den ganzen Schauplatz, * 120 * Fünfte Vorleſung. auf welchem ſich die Geſchichte der Menſchheit und ihre allmälige geiſtige Entwicklung bewegt. Vielleicht hängt dieſe Erſcheinung damit zuſammen, daß dieſe Region ebenfalls auf die Entwicklung der Pflan- zenwelt einen ſo eigenthümlichen Einfluß hat, daß ſie nicht ohne Beihülfe menſchlicher Thätigkeit die nöthige Menge Nahrungsſtoff für eine irgend beträchtliche Menſchenmenge produciren kann und daher ſchon bei Befriedigung des erſten und dringendſten Bedürfniſ— ſes den Menſchen zu geiſtiger Anſtrengung aufforderte. Jenſeits die— ſer Region endlich, in der Nähe der Pole, ſcheint das Klima wieder einfacheren Geſetzen ſich zu unterwerfen, aber aus leicht begreiflichen Gründen fehlen uns auch für jene Gegenden die genügenden Be— obachtungen, um mit Sicherheit darüber abſprechen zu können. Haben wir ſomit auf der einen Seite in großartigen Hauptzü— gen uns die Vertheilung des Wetters auf der Erde ſkizzirt, und das einfache Geſetz gefunden, welches ſeinem Wechſel zu Grunde liegt, ſo dürfen wir auf der andern Seite nicht vergeſſen, daß dieſe geſetz— mäßige Vertheilung nur dann für die Erde Gültigkeit haben würde, wenn ihre Oberfläche überall dieſelbe wäre, wenn ſie entweder über— all mit Waſſer bedeckt, oder überall mit einer gleichen ebenen Erd— decke umhüllt wäre. Das iſt ſie aber nicht und die Verſchiedenheit zwiſchen Meer und Land, Ebenen und Gebirgen, nackten Sandwü— ſten und dichten Waldſtrecken u. ſ. w. bringen ſo große Störungen in jene einfachen Geſetze, daß es lange gedauert hat, bis man dieſe untergeordneten Verhältniſſe überſehend ſich zur Erkenntniß jener einfachen Grundlagen durchgefunden hat. Alexander von Hum— boldt iſt hier der Erfinder der wiſſenſchaftlichen Meteorologie, Dove der, welcher das Syſtem zuerſt nach allen Seiten mit emi— nentem Talente entwickelt hat. e Von den Einflüſſen, welche die einfache Geſetzmäßigkeit in der Vertheilung des Wetters weſentlich modificiren, iſt eine der wichtig— ſten die eigenthümliche Vertheilung von Land und Waſſer auf der Erde. Das Land erwärmt ſich, den Sonnenſtrahlen ausgeſetzt, viel ſchneller, und nimmt eine viel höhere Temperatur an, als das Waſſer, Dom Wetter, „ 121 welches ſich dafür auch, einmal erwärmt, um ſo langſamer abkühlt. Der nächſte Erfolg davon iſt, daß die heißeſte Zone, die Region der Windſtillen, nicht gleichmäßig an beiden Seiten des Aequators ver— theilt iſt, ſondern wegen der größern Maffe des Landes auf der Nord— hälfte, ganz dieſſeits des Aequators liegt. Am Auffallendſten iſt dieſes Hinaufrücken nach Norden im Oſtindiſchen Meere zu bemer— ken, wo im Winter zwar der Nordoſtpaſſat weht, im Sommer aber vollſtändig verdrängt und durch den übergreifenden Südoſtpaſſat er— ſetzt wird. Dieſer muß aber, ſobald er den Aequator überſchreitet, wegen der Drehung der Erde nach Weſten abweichen und ſo bilden hier die beiden Paſſate die ſo regelmäßig von 6 zu 6 Monaten ab— wechſelnden Nordoft: und Südweſtwinde, die die Schiffer als Mon— ſoons bezeichnen. Viel wichtiger und intereſſanter für uns Europäer iſt aber die andere Thatſache, daß durch die große, bis zur höchſten Gluth von der Sonne durchwärmte Sahara gerade im Süden von Europa die Region der Calmen, und ſomit auch die Region der Po— larſtrömungen oder Paſſate, ſo weit nach Norden hinauf geſchoben wird, daß die zurückkehrenden warmen Aequatorialſtröme erſt viel weiter nördlich, als in Amerika und Aſien der Fall iſt, den Boden er— reichen, oder, wenn ſie früher herabkommen, in Italien als Sirocco, in den Alpen als Föhn ungleich heißer bei uns anlangen, als ander— wärts. Darauf zum großen Theil beruht es, daß Europa bis weit ge— gen den Pol hin ein ſo viel milderes Klima hat, als alle anderen unter gleicher Breite gelegenen Gegenden. Während am Ranenfiord in Norwegen noch Roggen gebaut wird, ſtarrt in Nordamerika unter gleicher Breite Alles faſt während des ganzen Sommers von Schnee und Eis. Während bei Drontheim noch Weizen wächſt, iſt an der Hudſons bay in gleicher Breite keine menſchliche Niederlaſſung mehr möglich; und in Sibirien thaut unter demſelben Parallelkreiſe der Boden ſelbſt im höchſten Sommer etwa nur zwei Fuß tief auf. Drontheim hat etwa die Temperatur von Canada, welches doch noch ſüdlicher als Paris liegt. In Newyork in gleicher Breite mit Neapel blühen die Bäume erſt zur ſelben Zeit wie in Upſala. 122 1 Fünfte Vorleſung. Spitzbergen hat noch eine Art von kurzem Sommer, während ein warmer Sommertag auf der 3 Breitengrade ſüdlicher gelegenen Mel— villesinſel 14° Kälte haben kann. Indeſſen verdankt Europa dieſen Vorzug doch nicht allein dem angegebenen Verhältniß. Es bleibt noch ein weſentliches Moment zu erwähnen, welches an der Vertheilung der Wärme und ſomit des Wetters auf der Erde einen nichts weniger als unbedeutenden Antheil hat. Dies ſind die Strömungen des Waſſers in den großen Oceanen. Hier bringt nämlich die Erwärmung durch die Aequatorialſonne ganz ähnliche Erſcheinungen hervor wie in dem Luftmeere; auch hier ent— ſtehen Polarſtröme, welche das kalte Waſſer nach der Linie führen und rückkehrende Aequatorialſtröme, welche das wärmere Waſſer wie— der nach dem Pole zurückbringen. Natürlich werden aber dieſe Strö— mungen, eingeſchloſſen in die vom feſten Lande gebildeten Betten, ge— hindert oder gefördert in ihrem Laufe von ſubmarinen Gebirgszügen, noch bei Weitem mehr von der aus dem Princip zu conſtruirenden Regelmäßigkeit abweichen, als die ungefeſſelt oft ſelbſt über die höch— ſten Berge dahinbrauſenden Luftſtrömungen. Aber einer dieſer rück— kehrenden Aequatorialſtröme, deſſen Wäſſer im Golf von Merico wie in einen Keſſel gekocht ſind, fließt in nordöſtlicher Richtung gerade gegen die Weſtküſte von Europa ab und bringt dieſer die Wärme, welche er an der Küſte von Veracruz und Tampico in ſich aufgenommen. Dies iſt der Golfſtrom, deſſen Lauf den Schiffer mit der Schnel— ligkeit von 1½ Meile in der Stunde vom klippenſtarrenden Cap Hatteras bis in die ſtürmiſche Bay von Bis caja führt und Pro- ducte der weſtindiſchen Inſeln bis an die Küſten von Irland treibt. Eine andere Folge der verſchiedenen Erwärmung von Land und Meer iſt die Erſcheinung, welche alle Küſten darbieten, daß während des Tages ein ſtarker Zug nach dem ſtark erwärmten Lande von dem kühleren Meere her „ein Landwind“ weht, der Abends in den ſoge— nannten „Seewind“, den Zug vom ſchnell ſich abkühlenden Lande auf das lange warm bleibende Meer, umſpringt. Abends verläßt der Schiffer den ſicheren Hafen, der Abſchiednehmende findet ik 2 = Vom Wetter. 125 in den Armen des Schlafes, Morgens ſteuert der Schiffer zum Port und wer nach langer Abweſenheit aufs Neue die Heimath begrüßt, erblickt ſie im Glanze der aufgehenden Sonne. Es würde hier zu weit führen, wollte ich alle die einzelnen Verhältniſſe entwickeln, welche dazu mitwirken, dem einfachen ge— ſetzmäßigen Gang der Witterungserſcheinungen die zahlloſen kleinen Abweichungen einzuprägen, welche für jeden Ort den Localcharacter des Klimas bedingen. Aber erwähnen, wenn auch nicht ausfüh— ren, muß ich noch eine der wichtigſten Erſcheinungen, welche mit der Anordnung des Wetters zuſammenhängt. Wir haben geſehen, wie die Wärme und ihre verſchiedene Ver⸗ theilung nach Breite und Länge, nach Höhe und Tiefe eigentlich das Grundphänomen iſt, um welches ſich die übrigen gruppiren, von welchem ſie abhängig ſind. Auf's Innigſte iſt damit der Feuchtig— keitsgrad der Luft verbunden und Wärme und Feuchtigkeit ſind die Grundbedingungen für alles Pflanzenleben. Von jenen beiden Hauptmomenten hängt alſo auch zum großen Theil die Vertheilung der Pflanzen auf der Erde ab. Und der Pflanze folgt die Thierwelt, da die Pflanzenfreſſer direct, die Fleiſchfreſſer indirect an beſtimmte Pflanzenformationen gebunden ſind. So iſt nicht blos „warm und kalt“ die Folge der Stellung der Sonne zur Erde, ſondern das ganze Leben derſelben, das Wirken ihrer mächtigſten Kräfte, im tobenden Orkan, welcher vier und zwanzigpfündige Kanonen durch die Luft ſchleudert“), bis zur unſcheinbaren Arbeit des kleinſten Infuſorium, das Rauſchen der Chileniſchen Fichte und das leiſe Flüſtern der nor— diſchen Birke, das Brüllen des Löwen, der die Gazelle würgt, bis zum Pfeifen des Käuzchens, welches Mäuſe fängt, und deſſen un— heimliche Stimme der wachgerufene Aberglaube als „Komm mit, komm mit“ deutet. — Wir werden vom Fuchs und Tiger zu Huhn und Giraffe, von dieſen zu Gerſtenfeldern und Acacienhainen, von dieſen zur gemäßigten Zone Europas und zu den glühenden Savan— *) Bericht des General Baudrand über den Orkan auf Guadeloupe am Juli 1825. 124 Fünfte Vorleſung. Vom Wetter. nen Afrikas gewieſen. Das Erſte, nicht nur Belebende und Erre— gende, ſondern auch das erſte Ordnende iſt die Sonne, und ihre glänzenden Strahlen find die Griffel mit denen fie Licht und Schat- ten, das glühende Gelb des dürren Sandes und das kühle Grün der feuchten Wieſe, mit denen ſie die Geographie der Pflanzen und Thiere auf die Erdoberfläche zeichnet und ſelbſt den Entwurf zu einer ethnographiſchen Karte für das Menſchengeſchlecht ſkizzirt. Und wenn wir dieſen innern Zuſammenhang durchblicken, wenn wir erkennen, daß die alles Uebrige beherrſchenden Grundzüge ſich vielleicht nirgends ſo ſcheinbar regellos, ſo abnorm zeigen, als in unſerm gebildeten Europa, während ein Theil der Tropengegenden die einfachen Grundgeſetze Jedem verſtändlich ausſpricht, wenn wir ſomit finden, daß das, was den Fortſchritt in allen Disciplinen be- dingt, die Erkenntniß der Naturgeſetze, faſt nur in fremden Regio— nen möglich iſt, ſo erklärt ſich uns hier noch eine Erſcheinung, die ſonſt räthſelhaft uud unerklärlich in der Geſchichte der Menſchheit daſtehen würde, daß nämlich in jeder mit den Naturwiſſenſchaften nur entfernt zuſammenhängenden Lehre, und zumal in jenen ſelbſt, der Fortſchritt aufs Engſte mit Erweiterungen unſerer geographiſchen Kenntniſſe zuſammenhängt, daß der Naturforſcher, den doch beſtän— dig eine Natur umgiebt, doch keinen höhern Genuß kennt, als Rei— ſen, daß er oft ſelbſt mit ungerechter Verachtung deſſen, was ihm ſeine Umgebung bietet, nach exotiſchen Schätzen greift, daß dem Bo— taniker Treibhäuſer, Herbarien, dem Zoologen Thiergärten und Sammlungen zum unabweisbaren Bedürfniß geworden ſind. Wollte ich überall in gleicher Manier zeichnen, ſo durfte ich von dem großen lebensvollen Gemälde nur eine flüchtige Skizze entwer— fen, möchte es mir dabei gelungen ſeyn, wenigſtens die Hauptzüge mit genügender Schärfe und Klarheit hervorgehoben zu haben. Auf jeden Fall werde ich es mir gefallen laſſen müſſen, daß man auf die Frage: „war's denn intereſſant?“ achſelzuckend antwortet: „Je nun, es war von Nichts, als vom Wetter die Rede.“ 2 Sechste Vorlesung. Das Waſſer und ſeine Bewegung. Es ſchäumt das Meer in breiten Flüſſen Am tiefen Grund der Felſen auf. * Fauſt. . Der Sturm, welcher in den letzten beiden Jahren, bald wohl— thätig Nebel zerſtreuend und reinigend, bald unheimlich pfeifend und ſchöne Saaten verwüſtend, durch Deutſchland brauſte, der mächtig alle guten und böſen Geiſter aufregte, er hat einen kleinen Winkel unſeres Vaterlandes nicht berührt. Ein glückliches Völkchen, bei welchem kaum ein Arzt und nie ein Advokat ſein Brod finden konnte, welches gerade in ſeinem wichtigſten Eigenthume eine Art von fried— lichem Communismus übt, lebt ungeſtört durch jene wilden Gährun— gen auf ſeinem einſamen Felſen in der Nordſee und fröhlich begrüßt der Helgolander den Gaſt, der in dieſem ſichern Aſyle geiſtige und leibliche Stärkung und Ruhe ſucht. — Grün iſt das Land, Roth iſt die Klippe, Weiß iſt der Sand, Das ſind die Farben vom heil'gen Land. So lautet der Spruch, der die Farben ihrer Flagge erklärt. Der Fremde, welcher im ſchaukelnden Nachen vom Dampfſchiffe, das ihn hergebracht, zum ſchmalen Vorlande am Fuße des ſenkrechten Fel— ſens fährt, lieſt dieſen Spruch an manchem Spiegel der vor Anker liegenden Boote, zwiſchen denen ſein Fahrzeug hingleitet. 1 Wir landen und die Gruppen der neugierigen Einwohner um- ringen uns. Die friſchen blühenden Geſichter der Weiber und Mäd— chen verrathen den belebenden Einfluß der Seeluft und auf dem Ant— litz der ſtämmigen muskelkräftigen Männer hat mancher Sturm feine Spuren eingegraben. — Unter ihnen zieht uns beſonders eine Ge— 128 Sechſte Vorleſung. ſtalt an, weniger durch ſeine Größe, denn der Mann iſt nur von mittlerer Statur und noch dazu durch das Alter gebeugt, als viel— mehr durch das faſt in jugendlichem Feuer ſtrahlende Auge, durch die Kraft ſeiner Bewegungen, welche mit dem ſchneeweißen Haupthaar und den tiefgefurchten wettergebräunten Zügen, die von mehr als einem Seeroman Kunde geben, in Widerſpruch zu gerathen ſchei— nen. Jens Peterſen )), von feinen Gefährten bezeichnend genug der „alte Grau“ genannt, iſt eine Perſönlichkeit, welche unwider— ſtehlich den Menſchenkenner feſſelt, und wir bedenken uns nicht einen Augenblick ihn zum Führer bei unſern Streifereien durch die Inſel zu erwählen. Er kann als Muſter gelten für dieſen kleinen oſtfrieſiſchen Menſchenſtamm, der, auf ſeinem Felſen wie auf einem mitten im Meere verſteinerten Schiffe lebend, in und auf dem Waſſer alles ſucht und findet, was zu ſeiner Exiſtenz erforderlich iſt, bei welchem Pindar's vielfach mißbrauchter Spruch: „das Vornehmſte aber iſt das Waſſer,“ in jedem Momente des Daſeins zur vollen und unmittelbarſten Wahrheit wird. Die Nächte nicht abgerechnet hat unſer alter Grau mehr als zwei Drittheile ſeines Lebens in offnem Boote auf dem Waſſer verbracht; das Heulen des Sturms, das Ueberſtürzen der gepeitſchten Wogen hat keinen Einfluß mehr auf ſeine geſtählten Nerven. Während wir dem raſchen Alten mühſam folgend die faſt 300 Stufen hohe Treppe zum Felſen hinanſteigen, iſt er ſchon in munterer Erzählung ſeiner Erlebniſſe begriffen; wir folgen ihm wil— lig lauſchend durch manche Gewitternacht, zu manchem Schiffbruch, ſehen ihn kämpfen mit den ſich thürmenden Wellen, um einem ent— maſteten hülflos auf dem Waſſer treibenden Fahrzeug Rettung zuzu⸗ führen. Mit Begeiſterung erzählt er von den Glanzzeiten Helgo— lands während der Continentalſperre, wo die übermüthigen Kauf— mannsdiener die Fiſcherbuben nach Speciesthalern und Goldſtücken tauchen ließen. Mit einer gewiſſen ſchlauen Heimlichkeit ſchildert er uns ſeine abenteuerlichen Fahrten aus jener Zeit, wo er mit einem *) In dieſer Vorleſung find zwar die Namen aber nicht die Perſöͤnlichkeiten erdichtet. Das Waſſer und feine Bewegung. 129 offenen Boote die Nordſee kreuzend geheime Depeſchen an die hollän— diſche Küſte brachte; in finſtrer Nacht näherte er ſich durch unhörba— ren Ruderſchlag dem mit weit ins Waſſer hinauslaufendem Schilfe umgürteten Ufer, legte ſein Fahrzeug vor Anker und watete mit ſei— nen Depeſchen durch die dichten Binſen. Das Raſcheln des Schil— fes wird gehört; — qui vive? — keine Antwort, und auf's Gera— thewohl geſchoſſene Kugeln pfeifen an ihm vorüber, ſchlagen neben ihm in's Waſſer. Mit noch größerer Vorſicht ſetzt er ſeinen naſſen Weg fort, erreicht das Ufer und, dem Canadiſchen Wilden gleich, kriecht er auf dem Bauche über den Deich zwiſchen zwei nur zwanzig Schritte von einander entfernten Schildwachen durch. Auf der an- dern Seite verfolgt er ſeine Richtung durch die Schilfgräben des Marſchlandes und nach vollbrachtem Werke ſchleicht er denſelben ge— fährlichen Pfad zurück, erreicht ſein Boot und lacht über die ohn— mächtigen Kugeln der abermals durch das Geräuſch der Ruder auf— merkſam gemachten Poſten. Unter ſolchen Geſprächen erreichen wir die Höhe; ein Pfad von fünf Minuten durch die dürftigen Culturen, von den Badegäſten ſcherzend die Kartoffelallee genannt, führt uns auf den höchſten Punkt der Inſel, das Belvedere, und hier breitet ſich ringsumher das grenzenloſe Meer aus, ein erhabener Anblick! Unſere Geſell— ſchaft hat ſich indeſſen vermehrt. Einige Damen, ein paar Natur— forſcher und Aerzte und einige engliſche Capitaine haben ſich uns an— geſchloſſen. Das Geſpräch wird belebter und mannigfaltiger, und um was könnte es ſich bei ſolchem Führer, bei ſolcher Umgebung, ſolchen Sprechern anders drehen als um das Waſſer. Vielleicht iſt es nicht unintereſſant dem Geſpräch zu folgen, wenn wir auch im Wiedergeben des Inhaltes nicht gerade den einzelnen Rednern ihr beſonderes Recht zutheilen wollen. Der Anblick, der vom Belvedere aus ſich darbietet, iſt eben ſo eigenthümlich als großartig. Vor uns liegt die obere Fläche des 200 Fuß hohen Felſens, links das kleine Städtchen mit dem niedri— gen Pfarrthurme, rechts der maſſive engliſche Leuchtthurm und etwas Schleiden, Pflanze. 8 9 . 150 Sechſte Vorleſung. hinter ihm der alte einer Burgruine gleichende Feuerthurm. Ihn umſtehen zu allen Tageszeiten, beſonders im Sturm, die rüſtigen Hel—⸗ golander, auf allen Seiten das Meer nach den fie rufenden Ereig: niſſen durchſpähend. Nirgends unterbricht ein Baum die Rundſicht; der mächtige Sturmwind, vor dem ſelbſt die kräftigſten Lootſen ſich beugen, indem ſie nur auf allen Vieren fortzukriechen vermögen, läßt keinen Buſch über die Höhe der Gartenzäune hervorwachſen. Die Inſel ſelbſt, in ihrer größten Länge kaum zweitauſend Schritte lang, bietet keine Fernſicht dar, alles liegt in der durchſichtigen See— luft mit reinen deutlichen Umriſſen vor uns. Rechts ſpringt der weſtliche Rand in ſchmalen Felſenrippen, in gigantiſchen Bogen und grotesken Höhlen oder in einzelnen ſäulenartigen Klippen röthlichen Geſteins in das grünliche Meer vor. Wie der ſcharfe Kiel des Schiffes ſtellt ſich die Südſpitze den Strömungen des Waſſers von Elbe und Weſer entgegen. Links birgt der öſtliche Rand das ſchmale mit etlichen 30 Häuſern beſetzte aus Sand und Gerölle zuſammen— geſpülte Vorland. Weiter in's Meer hinaus glänzen hier in ſilber— farbenem Lichte die Hügel der von Helgoland durch einen tiefen Meeredarm getrennten Sanddünen. Das Alles ift umgeben von dem unbegrenzten Spiegel der See und dem reinen Horizonte. Wir nennen das Meer einen Spiegel und dem erſten flüchtigen Blicke erſcheint es wie eine völlig unbewegte, ruhende Fläche. Nichts deſto weniger vernimmt das lauſchende Ohr das leiſe Murmeln der an den Felſenfuß heranrollenden Gewäſſer und das aufmerkſame Auge entdeckt endlich, daß ſich die ganze unabſehbare Fläche wie in leiſen Athemzügen hebt und ſenkt. „Grunddünung“ nennt es der Seemann. Uns täufcht nur der Schein der Ruhe; hier iſt keine todte un— bewegte Waſſermaſſe, ſondern ein ewig bewegtes raſtlos ſich ändern— des Lebendiges, welches als uralter Okeanos die Feſte in ſeine um— ſchlingenden Arme nimmt. In Sturm und Windſtille wechſelt wohl das Maaß der Bewegung und ihre Erſcheinungen, aber keine Ruhe iſt dem flüſſigen, leicht beweglichen Elemente vergönnt. Auch ohne w 1 Das Waſſer und ſeine Bewegung. 0 151 daß die Wucht der bewegten Atmoſphäre auf den Meeresſpiegel drückt und ſein Gleichgewicht ſtört, kommen dem Waſſer drei geſetz— mäßige Bewegungen zu, von der unſichtbaren und unmerklich aber unwiderſtehlich wirkenden Kraft der Sonne und des Mondes hervor— gerufen, in faſt lautloſem geſetzmäßigem Gange vorſchreitend und doch unendlich großartiger und mächtiger, als der furchtbarſte Auf— ruhr der empörten Elemente, im weſtindiſchen Tornado, im chine— ſiſchen Tyfoon. Die Sonne, welche ſo freundlich ſchimmernd auf der kryſtalle— nen Fläche ruht, treibt fortwährend das verdunſtende Waſſer durch ihre Wärme aufwärts, als unſichtbares Gas ſteigt es auf um als Regen und Schnee wieder zur Erde zu kommen. Der ſtärkſte Regen— tropfen macht fallend kaum einen ſichtbaren Eindruck auf dem weich— ſten Boden. Die herabfallende Waſſermenge übt durch ihren Fall nur eine kaum nennenswerthe Kraft aus. Dann aber ſammelt ſie ſich zu Quellen, Bächen und Strömen, und indem ſie allmälig auf der geneigten Ebene des Landes wieder herab in den Schooß der Mutter gleitet, treibt ſie Mühlen und Schiffe und andere künſtliche Werke der Menſchen. Das ſämmtliche fließende Waſſer Europas entſpricht etwa 300 Millionen Pferdekräften nach der bei Dampf— maſchinen gebräuchlichen Berechnung. Das ſcheint allerdings eine große Kraft, aber wir vertragen uns leicht mit dem Gedanken, wenn wir des Sprudelns der Quelle, des Rauſchens der Bäche, des Brau— ſens der Ströme, des donnernden Rheinfalls und der Trollhätta— fälle gedenken. Der Menſch fällt nur gar zu leicht in den Irrthum, dasjenige für groß, für mächtig zu halten, was mit ſtarken Ein— drücken auf ſeine Sinne wirkt, und leicht giebt er ſich der Täuſchung hin, daß dasjenige auch unbedeutend ſei, was unbemerkt und ge— räuſchlos aber ſtetig im Stillen wirkt. So iſt's auch hier. Das Meer, zu 12000 Fuß mittlerer Tiefe angenommen, enthält faſt 214 Billionen Cubikmeilen Waſſer, und wenn es ausgeſchöpft wäre, müßten alle Ströme der Erde 40000 Jahre lang ihre Waſſer hinein— ſchütten um das leere Becken wieder zu füllen. Aber die ganze Kraft . 9 * 5 152 2 8 Sechſte Vorleſung. des fließenden Waſſers auf Erden iſt noch nicht Ysoo von der Kraft, welche dieſes Waſſer in Dampfform zu den Wolken aufhob. Die Wärme, welche dazu verbraucht wird um dieſes Waſſer verdunſten zu machen, beträgt ein ganzes Drittheil derjenigen Wärme, welche überhaupt von der Sonne auf unſere Erde herabgeſendet wird. Dieſe Wärmemenge nur eines Jahres würde hinreichen eine die ganze Erde umgebende Eisrinde von 32 Fuß Dicke zu ſchmelzen, während alles in Frankreich jährlich verbrauchte Brennmaterial dieſes Land noch nicht von einer Eiskruſte von der Dicke einer Linie zu befreien vermöchte. Nach der techniſchen Bezeichnungsweiſe entſpricht jene Wärmemenge, welche das Meerwaſſer jährlich in Dampfform auf— ſteigen macht, der ungeheuern Summe von 16 Billionen Pferde— kräften. Demnach iſt auf jedem Morgen Landes eine Kraft von 79 Pferdekräften thätig, während in der gewerbfleißigſten Grafſchaft Englands, in Lancaſter, auf jeden Morgen nur ½s einer Pferde: kraft, oder der 3871ſte Theil dieſer Kraft kommt. Von ſolchen, unſere kühnſte Phantaſie überſteigenden Kräften gehoben, als befruchtender und erquickender Regen ſanft wieder nie— derſinkend, als dienender Mühlbach, als belebende Waſſerſtraße dem Meere wieder zueilend, vollendet das Waſſer die Eine ſeiner Be— wegungen im ewigen Kreislaufe durch Waſſer, Luft und Erde. n Daß die gewaltige Macht, welche Sonnen und Planeten an einander kettet, und den weitſchweifenden Cometen von der unend— lichen Bahn zu ſeiner Centralſonne zurückruft, ich meine die allge— meine Anziehungskraft, auch das leicht bewegliche Element des Waſ— ſers ſeinen Einfluß fühlen laſſen werde, verſteht ſich wohl von ſelbſt, und hierbei wirken Mond und Sonne vereint um einen zweiten Kreislauf des Waſſers um das Rund der Erde zu führen. Als die Gefährten des Nearchus unter Alexander dem Großen die Mündungen des In dus erreichten, ſtaunten ſie über das regel— mäßige Steigen und Fallen des Meeres, was fie an den Küften Griechenlands und Kleinaſtens nie geſehen hatten, und ſchon ihr kurzer Aufenthalt genügte, um den Zuſammenhang dieſer Erſcheinung Das Waſſer und feine Bewegung. N 155 mit den Phaſen des Mondes erkennen zu laffen. Der der Erde nä— here und deshalb trotz ſeiner geringen Maſſe ſtärker als die Sonne einwirkende Mond erhebt durch ſeine Anziehungskraft auf der endlo— ſen Fläche des ſtillen Oceans das Waſſer zu einer Welle, dort nur von wenigen Fußen, und führt dieſelbe, an ſeine Bahn gleichſam ge— feſſelt, mit ſich um die Erde. Dieſe Welle würde ſo unbedeutend und machtlos wie ſie entſtanden ihre ganze Bahn vollenden, wenn ſie dieſelbe ungehemmt durchlaufen könnte, wenn nicht am Widerſtande ihre Kraft ſich ſtärkte. Zuerſt tritt ihr Neuholland auf der einen, Südaſien auf der andern Seite entgegen und die zwar flache aber breite Woge wird zu einer größeren Höhe zuſammengepreßt; ſo läuft ſie um Afrikas Südſpitze herum. Eine Stunde nachdem der Mond ſeinen höchſten Stand in Greenwich erreicht, kommt fie bei Fez und Marocco an, zwei Stunden ſpäter drängt ſie ſich in die Meer⸗ enge von Gibraltar und ſtreift Portugals Küſte. In der vierten Stunde brauſt ſie in den Canal hinein und an der Weſtküſte Eng— lands vorbei. Durch die Klippen an Irlands Felſenküſte und die zahlreichen Juſelgruppen im Norden gehemmt, ſchwellt ſie erſt in der achten Stunde das obere Ende der Nordſee und die Waſſer der nor— wegiſchen Fiords. — Vom Canal und der Nordſee her ſich verei— nigend drängen ſich dann die gehobenen Gewäſſer in der eilften und zwölften Stunde bis auf 20 Meilen in die Elbe hinein. — Ein an⸗ derer Theil derſelben Welle geht in dieſer Zeit von Afrikas Süd— ſpitze an die Oſtküſte Amerikas und eilt an derſelben mit der raſen— den Schnelligkeit von 120 Seemeilen in der Stunde nach Norden, wo er in die Meerbuſen eingepreßt in der Fun dybai z. B. zu einer Höhe von 80 Fuß anſchwillt. — Wie machtlos erſcheint dagegen ein Sturm, der in ſeiner furchtbarſten Entwicklung ſeine Wirkung kaum ſechs Meilen weit in die Elbe hinein zu äußern vermag, und deſſen höchſte Wellen am gefürchteten Cap Horn noch keine 25 Fuß er— reichen, deren fühlbare Wirkung nach Bergmann ſich nicht über 15 Faden in die Tiefe erſtreckt, ſo daß die Taucher ſich nicht ſcheuen beim furchtbarſten Orkan im Grunde zu verweilen. * 154 1 Sechſte Vorleſung. Gleichwohl wirkt die ungeheure Fluthwelle nicht fo zerftörend wie die Sturmwelle; mit gleichförmigem Steigen hebt ſie ſich am ſenkrechten Felſenufer und ſinkt lautlos wie ſie erſchien wieder in ihr Niveau zurück. Anders freilich wo zerriſſene Klippen ſich ihr in den Weg ſtellen, wo ſie auf flachen Sandbänken dahin rollt. Hier ent— ſteht die dem Schiffer ſo unbequeme vom Sturm unabhängige Bran— dung, z. B. der von allen Oſtindienfahrern gefürchtete Surf an Sumatras Küſten. Wirklich gefahrdrohend wird aber dieſe Fluth— welle erſt da, wo ſie mit andern Strömungen in Kampf geräth, oder wo ſie von größern Inſeln geſpalten wird und die beiden Arme ſich ſpäter in entgegengeſetzter Richtung forſchreitend bewegen. Das Erſtere geſchieht an den Flußmündungen, das Andere bildet die großen Meereswirbel. — Von jener eigenthümlichen Erſcheinung der Fluth— welle an den Mündungen der Flüſſe hat kürzlich der Prinz Adal— bert von Preußen in einer leider nur als Manuſcript gedruckten Reiſe nach Braſilien eine intereſſante Schilderung gegeben. — „Dem „Schiffer tritt am Ausfluſſe des Amazonenſtromes die höchſt wun— „derbare und noch nicht genügend erklärte Naturerſcheinung, die be⸗ „kannte Bororöca entgegen. Statt nämlich regelmäßig zu ſteigen, „erhebt ſich die durch die ſtark ansſtrömende Waſſermaſſe des unge— „wöhnlich anhaltend ebbenden Fluſſes allmälich angeſtaute Fluth in „wenigen Minuten zu ihrer größten Höhe, überwindet den aus— „gehenden Strom, drückt ihn in die Tiefe hinab, wälzt ſich dann „über ihn fort und einer Mauer gleich den Fluß aufwärts mit einem „Getöſe, welches anderthalb Meilen weit hörbar iſt. Oft nimmt „dieſe Alles verheerende Fluthwelle die ganze Breite des Stroms ein, zuweilen auch nicht. Da wo ſie auf Untiefen ftößt, erhebt fie ſich „zu 12— 15 Fuß, an ſehr tiefen Stellen ſenkt ſie fi dagegen und verſchwindet faſt gänzlich, um ſpäter an einem ſeichteren Orte wie— „der aufzutauchen. Solche tiefe Stellen nennen die Schiffer „Es— „peras,“ Warteſtellen, weil hier ſelbſt kleinere Fahrzeuge vor der „Wuth der Pororöca ſicher liegen. Hinter ſich läßt die Poro— „rôca die ee in demſelben Zuſtande der Ebbe und vollkom— — * Das Waſſer und feine Bewegung. 153 „mener Ruhe zurück, in dem dieſelben ſich vor dieſer plötzlichen Er— „ſcheinung befanden.“ So weit der Prinz. Das Phänomen iſt kei— neswegs auf den Marannon beſchränkt; am längſten bekannt ift es an der Mündung der Dordogne in die Gironde, wo die An— wohner dieſe in zwei Minuten zur Höhe eines Hauſes anſteigende und mit der Schnelligkeit eines Wettrenners den Fluß hinaufbrau— ſende Welle Mascaret oder Ratd'eau, „die Waſſerratte“, nen— nen. Aehnliches findet ſich auf dem Miſ ſiſippi, auf den Flüſſen der Hudſons bay, z. B. die von den Engländern „Bore“ genannte Welle in Hoogly river, und endlich in mehreren Nebenflüſſen des Ganges. Als zweite Folge der Fluthwelle gleichſam im Kampfe mit ſich ſelbſt erkennen wir die Meeresſtrudel, von denen die Alten die Ch a⸗ rybdis kannten. Dieſe, der jetzige Calofaro, iſt einer der ſchwäch— ſten Wirbel und größere Schiffe fahren ohne Gefahr über ihn hin— weg. Dennoch iſt es der berühmteſte theils durch die ſinnigen My— then der Alten theils durch die Poeſie unſeres Schillers, der ein dort vorgefallenes Ereigniß zu ſeiner ſchönen Ballade, dem Taucher, verarbeitete. * 1 Ein neapolitaniſcher Schiffer Nicolo war gleichſam von der Natur zum Waſſerleben beſtimmt; oft trieb er ſich 4 — 5 Tage lang ſchwimmend und tauchend im Meere umher. Blieb er längere Zeit am Lande, ſo bekam er ſtechende Bruſtſchmerzen. Seine Gefährten nannten ihn nach ſeiner Fiſchnatur Pesce-Colo. Der König Friedrich von Sicilien forderte ihn zweimal auf, den Grund der Charybdis zu unterſuchen; beim zweiten Male ertrank er. — Ein ähnliches Beiſpiel angeborner Fiſchnatur lieferte Franz de la Vega, ein ſpaniſcher Zimmergeſelle. In ſeinem 18. Jahre, 1674, ſprang er, von unbezwinglicher Luſt getrieben, aus einem Nachen in die See und kam nicht wieder zum Vorſchein. Fünf Jahre ſpäter entdeckten die Fiſcher in einer entlegenen und unbeſuchten Bucht ein menſchenähnliches Geſchöpf im Waſſer. Nach einiger Mühe gelang es, daſſelbe in einem Netze zu fangen und man erkannte mit Erſtaunen N u . 156 Sechſte Vorleſung. den vermißten Franz de la Vega. Man fand indeß bald, daß er blödſinnig geworden ſei. Er wurde ſorgfältig verpflegt, entwiſchte aber neun Jahre ſpäter zum zweiten Male und wurde nicht wieder geſehen. Bei weitem bedeutender als die Charybdis iſt der den Schif— fern bekannte und gefürchtete Mälftrom im Gebiet der Lofodden an der norwegiſchen Küſte, ein Strudel, der 4 Meilen im Durch— meſſer hat und jedes Schiff, das er erfaßt, rettungslos in ſeinen Schlund zieht. Er entſteht dadurch, daß die in den Canal einge— drungene und an Dänemarks Weſtküſte nach Norden fortrollende Fluthwelle der um Irlands Nordküſte herumgegangenen durch Nord— weſtwinde verſtärkten Fluth begegnet. Noch bleibt die dritte Bewegung übrig, welche beſtändig das Meer in Unruhe erhält, durch einander mengt, und verhindert, daß es bei den zahlloſen Leichen von Pflanzen und Thieren, welche in ſeinem Schooß begraben werden, nie in faulige Zerſetzung übergehen kann, deren mephitiſche Dünſte in wenig Tagen alles Leben auf Er— den tödten würden. So gewiß iſt, daß hier wie überall Bewegung — Leben, Ruhe — Tod iſt. — Jene belebende Bewegung geht nun abermals von der Sonne aus, die nicht nur durch ihre Anziehungs— kraft die Planeten und Irrſterne in ihrem ewigen Reigen führt, fon: dern auch durch ihre erwärmenden Strahlen den irdischen Kreislauf der Luft und des Waſſers hervorruft. — Die eine Circulation des Waſſers, indem es ſich in Dampfform zu den Wolken erhebt, als Regen herabſinkt und als Bach und Fluß wieder dem Meere zueilt, haben wir ſchon kennen lernen. Es bleibt aber noch ein anderes nicht minder mächtiges Strömen des Meeres übrig. Es hängt daſ— ſelbe mit einer der wunderbarſten und folgenreichſten Eigenſchaften des Waſſers zuſammen, welche gleichwohl beim erſten Anblick ſehr unbedeutend erſcheint. Es iſt eine bekannte Thatſache, daß im Allgemeinen alle Kör— per an der Erde und jo auch die Flüſſigkeiten durch die Wärme aus- gedehnt und leichter, durch die Kälte zuſammengezogen und ſchwerer > * a a 89 9 1 Dias Waſſer und feine Bewegung. 157 werden. Das flüſſige Queckſilber zum Beiſpiel zieht ſich bei abneh— mender Temperatur auf einen immer kleineren Raum zuſammen, wird dabei immer dichter und iſt endlich am dichteſten und ſchwerſten bei etwa 40° Kälte, indem es in den feſten Zuftand übergeht. Aehn- lich zieht ſich auch das Waſſer zuſammen bei ſinkender Wärme und wird immer ſchwerer, bis es die Temperatur von etwa 3% R. er: reicht, und in der That hat das Meer unter allen Breiten in einer Tiefe von 3600 Fuß und darüber nach den genaueren Unterſuchun— gen Dumont d' Urvillés eine unveränderliche Wärme von 34— 4 R. Sinkt nun die Temperatur noch tiefer, fo dehnt ſich das Waſ— fer wieder aus und iſt daher bei 0°, alſo bei der Temperatur, in welcher es feſt wird oder gefriert, wieder bedeutend viel leichter als bei 3%4. Die Folge dieſes eigenthümlichen Verhältniſſes zur Wärme iſt nun eine gar wunderbare. In der Tiefe der Gewäſſer er— hält ſich nämlich eine unveränderliche Wärme von 3,4: fo wie ein Waſſertheilchen ſtärker abgekühlt wird, ſo ſteigt es aufwärts und macht dem etwas wärmeren Platz, und erſt wenn es die Oberfläche erreicht hat, kann es zu Eis werden. Wäre dem nicht ſo, würde das Waſſer im Augenblick ſeines Gefrierens am ſchwerſten ſein, ſo würde das Waſſer vom Grunde des Meeres aus gefrieren. Alle Gewäſſer der nördlichen Breiten wären in einem Winter in maſſives Eis verwandelt und keine noch ſo intenſive Sonnenhitze würde im Stande ſein dieſe Eismaſſen wie— der zu ſchmelzen. Der ganze Norden und Süden und beide gemäßig— ten Zonen würden unbewohnbar werden und das Leben der Erde ſich auf einen ſchmalen Gürtel zu beiden Seiten der Linie zurückziehen müſſen. Nun aber ſchützt die dicke Eisdecke, als ſchlechter Wär— meleiter, das Waſſer der Tiefe vor dem Gefrieren und dem Ele— mente bleibt fein Charakter der Flüſſigkeit und Beweglichkeit unan— getaſtet. So veranlaßt der Wärmezuſtand des Waſſers eine dop— pelte Bewegung: bis zur Temperatur von +3°%,4 ſteigt nämlich das wärmere und leichtere Waſſer in die Höhe und das kühlere ſinkt in die Tiefe. Von 3,4 abwärts dagegen findet gerade das Entgegen— = .. x * 6 158 Sechſte Borlefun.. geſetzte Statt, die kältern Waſſerſchichten erheben ſich auf die Ober: fläche und die wärmeren ſinken auf den Grund. Jenes findet vor⸗ zugsweiſe unter den Tropen, dieſes vorzugsweiſe an den Polen Statt. Die Wirkung von Beiden aber erſtreckt ſich über das ganze Weltmeer. | Vorzüglich unter der ewig fenfrechten Sonne der Aequatorial— zone verdampfen jene großen Waſſermaſſen, welche die Wolken bil⸗ den, von einem Meeresſpiegel, welcher Jahr aus Jahr ein eine * Temperatur von 21°—22° hat. Fortwährend ſteigt das erwärmte Waſſer an die Oberfläche um ſich hier zu verflüchtigen, und dieſer 0 unausgeſetzte Verluſt wird dadurch erſetzt, daß beſtändig von den Polen her die kältern Waſſer nachſtrömen. Dadurch wird zuerſt das ganze Meereswaſſer in Bewegung verſetzt. Auf den Verlauf dieſer Strömungen wirken dann aber zwei andere Verhältniſſe ſo mächtig ein, daß wir noch viel weniger hier als bei den Luftſtrömungen durch die bloße Beobachtung der Erſcheinungen auf das zum Grunde lie— gende Geſetz geführt werden würden. — Zuerſt wirken als beſtim— mendes Moment die Paſſatwinde, welche das Waſſer von ſeiner Richtung ablenken und von Oſten nach Weſten um die Erde treiben. Aber ſowohl dieſe großen Oſt-Weſt- oder Aequatorialſtröme als auch jene Polarſtröme werden auf's mannichfachſte modificirt durch die Geſtaltung des feſten Landes und des Meeresbodens, und fo er— giebt ſich uns folgendes Bild dieſer Waſſerbewegungen, welche von ſo unendlich wichtigem Einfluß auf den Verkehr der Völker ſind, in— dem ſie die Schiffe bald fördernd ihrem Ziele zutreiben, bald ihnen hemmend entgegenwirken. — Zwiſchen dem 80» und 1000 öſtlich von Paris kommt ein ſtarker Strom kalten Waſſers vom Südpole herauf, wendet ſich an der Weſtküſte von Neuholland links und geht faſt in der Richtung des Südoſtpaſſates quer ea indiſchen Occan bis an die afrikaniſche Küſte. Hier ſteigt er abermals links gewendet an derſelben herab, drängt ſich um das Cap der guten Hoffnung herum und dann nach Nordoſten. Von der Ango la küſte ablenkend ſtreicht der Strom quer über den atlantiſchen Ocean nach * * 4 * * * 3 BTW # * Dias Waſſer und ſeine Bewegung. 159 Südamerika, wo ihn das Cap Roque in einen ſüdlichen und nörd— lichen Arm ſpaltet. Der nördliche fällt in den Keſſel des mericani— ſchen Meerbuſens und erſcheint austretend bei Florida als der warme Golfſtrom, welcher ſeine ſüdlichen Temperaturen und Pro— dukte bis an die Weſtküſte von Europa führt, indem er als wärme— res und leichteres Waſſer über die von den grönländiſchen Küſten abwärts ſtrömenden kälteren und ſchwereren Gewäſſer weggeht. Dieſe letztern führten einmal eine wenige Meilen von der Südſpitze Grönlands in's Waſſer geworfene Flaſche ſicher bis an die Küſte von Teneriffa. Unter dem 160° bis 220° öſtlich von Paris brauſt ein zweiter mächtiger Strom eiskalten Waſſers vom Südpol herauf, wendet ſich etwa unterm 50° der Breite rechts und bringt, an Peru's Felſen— küſte hinaufſteigend, dieſem Lande ſein gemäßigtes Klima ſelbſt unter den ſenkrechten Strahlen der Tropen. Dann wendet ſich der Strom vom Payta ab und in einer Breite von faſt 450 zieht ſich die nun— mehr erwärmte Waſſermaſſe langſam über den ſtillen Ocean, um mit einem Arm die Inſeln Timor und Celebes, mit dem andern ſtärkern den breiten Bogen des chineſiſchen Küſtenrandes zu beſpülen. Fügen wir noch hinzu, daß faſt jeder dieſer Ströme an beiden Sei— ten eine Oppoſition hervorruft, die als Gegenſtrömung erſcheint, ſo haben wir die Hauptzüge dieſes Bildes gezeichnet. Wie wichtig dieſe Strömungen dem Seefahrer werden müſſen, ergiebt ſich leicht, wenn man bedenkt, daß die Aequatorialſtrömung das Schiff unabhängig vom Winde täglich 15 Meilen fortführt, der Golfſtrom in der gün— ſtigſten Jahreszeit ſogar 30 Meilen. — Der Temperaturunterſchied der Strömungen und des daneben befindlichen ſcheinbar ruhenden Waſſers iſt ſehr beträchtlich und macht ſich auf ſehr geringen Entfer— nungen geltend. Humboldt fand in Truxillo, wo das ruhende Waſſer eine Wärme von 220 beſitzt, in dem Waſſer des Peruaniſchen Küſtenſtromes nur 8,5, und wer genau auf der Grenze des Golf— ſtroms in einem Boote fährt, kann rechts die Hand in warmes, links in kaltes Waſſer tauchen. Pr * 140 Sechſte Vorleſung. * Seltſames Element! Auf leichtem Fahrzeuge ſchwebt der Menſch auf der überall gleich hoch erſcheinenden, unabſehbaren Waſſerflaͤche dahin über Berge und Thäler, über Hoch- und Tiefländer ohne ſie zu kennen, nur hier und da lehrt ihn die abwechſelnde Tiefe, die oft plötzlich von mehreren Tauſend Fuß bis auf wenige Klafter ab— nimmt, daß er über den Gipfel eines bedeutenden Berges dahinglei— tet. Wer vom Meeresboden keine andere Vorſtellung gewonnen, als ihm die ebene Fläche des weißen Uferſandes beim Seebade gewährt, iſt allerdings der Wahrheit ſehr fern. Der ganze Raum, den das Meer bedeckt, umfaßt nur die niedrigeren Berge und tieferen Thäler der Erde, gegen welche das flache Land, etwa der norddeutſchen Heide, noch als hohes Plateau erſcheint. Im atlantifchen Ocean 230 Meilen ſüdweſtwärts von St. Helena erreichte das Senkblei der franzöſiſchen Fregatte Venus erſt mit 145567 den Boden des Meeres, alſo in einer Tiefe, welche der Höhe des Montblanc entſpricht, und Capitain Roß fand bei feiner letzten Südpolerpedi⸗ tion unter dem 68° ſüdlicher Breite noch mit 27600 Fuß keinen Grund, auf welchem man alſo den Dawalaghiri und den Si— nai auf einander ſetzen könnte, ohne daß der letztere mit ſeiner Spitze aus den Fluthen hervorragen würde. Dagegen find die nördlichen Meere durchſchnittlich viel flacher; eine plötzliche Hebung von 600 Fuß würde den Boden der Nordſee trocken legen und dieſer würde ganz in Land umgewandelt, eine wunder- bare Landſchaft bilden. — Wir ſähen dann die Elbe ſich von Cuxhaven nach Weſten wenden und, indem ſie bei einem hohen, dem Lilienſtein der ſächſiſchen Schweiz ähnlichen Felſen, Helgoland genannt, vorbei— zieht, die Weſer aufnehmen; dann liefe ſie faſt gerade auf New aſtle zu, um auf halbem Wege an einer ziemlich hohen Hügelkette abzuprallen und ſich nach Nordoſt zu wenden; faſt gerade in dieſer Richtung fort— eilend fiele fie endlich etwa 15 Meilen von der Südſpitze Norw egens in prachtvollen zuſammen faſt 1200 Fuß hohen Cataracten in ein tiefes Thal, welches ſich an Norwegens Küſte mit zahlreichen ro⸗ mantiſchen Felſenſchluchten, den jetzigen Fiords, nach Norden . 44 „* sn - * Das Waſſer und ſeine Bewegung. 141 zieht; hier vermiſchte ſie ihr Waſſer mit dem der Newa, welche in der Gegend von Seeland ebenfalls in ſchönen Waſſerfällen ſich in dieſes Thal herabſtürzen würde. — Der Rhein dagegen ginge von ſeinem Ausfluſſe ſogleich nach Weſten und drängte ſich mit dem Waſ— ſer der Themſe vereinigt durch eine enge Schlucht beim Ca p Grisnez an der franzöſiſchen Küſte und mündete dann auf der Höhe der Lizards friedlich in den atlantiſchen Ocean. Leider iſt es uns nicht möglich in dieſer Weiſe eine vollſtändige Geographie des Meeresbodens zu zeichnen, denn die Beobachtun— gen, welche dazu erforderlich wären, ſind noch größtentheils erſt zu machen. Nur ſelten kommen Schiffe in die höchſt unangenehme und nur etwa für Beobachtungen dieſer Art günſtige Lage. Nur bei völ— liger Wind⸗ und Meeresſtille können die Meſſungen der Tiefe des Meeres angeſtellt werden und ſelbſt dann erfordert eine einzige Meſ— ſung von 9000 bis 12000 Fuß Tiefe ſchon 2 bis 3 Stunden Zeit. Sind wir aber über die Configuration des Bodens der See nur ſehr mangelhaft unterrichtet, ſo ſind wir leider über die Beſchaffen— heit deſſelben gänzlich im Unklaren. Nur an dem bunten Farben⸗ ſpiel der Seepflanzen und Korallen des Bodens ergötzt ſich das Auge des Schiffers zwiſchen den weſtindiſchen Inſeln, nur weiße Mu: ſcheln erblickte Capt. Wood (1675) auf dem 480 Fuß tiefen Grunde bei Nowaja Semlja, nur von den oberflächlichſten Schlammſchichten giebt das heraufgezogene Senkblei eine unvoll— kommene Kunde. Die Natur der Felsmaſſen bleibt uns ein unauf— geſchloſſenes Geheimniß und damit iſt uns auch der Schlüſſel genom— men, um den ſo merkwürdigen Gehalt des Meerwaſſers an fremdar— tigen Beſtandtheilen zu erklären. Bekanntlich ſtellt man das Waſſer des Oceans, des Caspiſchen und todten Meeres ſo wie einiger minder bedeutenden Waſſerbecken als Salzwaſſer dem übrigen als dem ſüßen Waſſer gegenüber. Die Salze, welche dem Meerwaſſer ſeinen eigenthümlichen Geſchmack und manche andere merkwürdige Eigenſchaft verleihen, beſtehen vorzüglich aus Kochſalz, Glauberſalz, Kalkſalzen und ſalzſaurer . 142 Sechſte Vorleſung. Magneſia. Das letzte iſt eine Verbindung, welche begierig Feuch— tigkeit aus der Atmoſphäre anzieht, und daher kommt es, daß eins mal von Seewaſſer benetzte Kleider und überhaupt organiſche Stoffe nie wieder völlig austrocknen, wenn ſie nicht vorher in ſüßem Waſ— fer ausgewafchen find. Die ſämmtlichen Salze des Meeres machen nach Profeſſor Schafhäutl in München ungefähr 4% Millionen Cubik⸗Meilen aus; davon beträgt das Kochſalz allein 3,051,342 Cubik- Meilen, eine Maſſeausdehnung, die mehr als fünf Mal fo viel beträgt wie die Alpen und nur ½ weniger als der ganze Hi— malaja. Dabei iſt die mittlere Tiefe des Meeres nur nach A. v. Humboldt's Schätzung zu 900 Fuß angenommen und die obigen Zahlen würden noch 3½ mal größer werden, wenn man mit La⸗ place die mittlere Meerestiefe zu 3000 Fuß anſchlägt. Woher mag dieſe ungeheure Salzmenge ſtammen? Der Bohrbrunnen von Neu— ſalzwerk bei Minden müßte in der Weiſe, wie er jetzt fließt, mindeſtens 133,000 Jahre fortſtrömen, ehe er nur eine einzige Cu— bif-Meile Salz geliefert hätte, und doch fließen aus dieſem Bohr— loche in 24 Stunden 64,800 Cubik⸗Fuß Waſſer aus. Welche uner— meßlichen Salzlager muß das aus der dichten Atmoſphäre der Ur— welt herabſtürzende Waſſer ausgewaſchen und aufgelöſt haben, ehe es zum Meerwaſſer wurde. Der große Salzgehalt würde zwar genügen um zu erklären, weshalb das Seewaſſer untrinkbar iſt, wenn nicht ſelbſt das von den Salzen durch Deſtillation befreite Waſſer noch fortführe feinen ver— derblichen Einfluß auf den Organismus auszuüben. Noch immer iſt die Kunſt, das Seewaſſer trinkbar zu machen, eine ungelöſte Aufgabe für die Wiſſenſchaft und noch immer ſind mitten in der Fülle des Waſſers Waſſermangel und Feuersgefahr die beiden Schreckbilder, vor denen auch der muthigſte Seemann erbleicht. Auf der andern Seite iſt es auch gerade dieſer Salzgehalt, welcher dem Seewaſſer die vortheilhafte Einwirkung auf den menſchlichen Organismus ver— leiht, ſobald es nur äußerlich mit demſelben in Berührung tritt. Den beſten Beweis dafür geben uns alle Küſtenbewohner, welche 4 Das Waſſer und feine Bewegung. 145 * ſich durch die Reinheit und Geſundheit ihrer Hautfarbe, durch ihr ſchönes langes Haar, durch Muskelkraft und große Unempfindlich— 4 keit gegen den Wechſel der Witterung auszeichnen. Das Seebad iſt eins der ſicherſten Erhaltungsmittel der Schönheit. Es ſteht des— halb auch die Vorzüglichkeit der Seebäder faſt auf gleicher Stufe mit ihrem Salzgehalt. Die ſchwächſteu Bäder giebt die nur etwas über 1 Procent Salz enthaltende Oſtſee, die Nordſee hat ſchon 3—4 Pro— cent und die von allen Beſuchern geprieſene Kraft der von ſchönen Umgebungen und glücklichem Klima noch unterſtützten Bäder an den Küſten des mittelländiſchen Meeres beruht hauptſächlich auf dem hohen Gehalte des Waſſers von 5 und 6 Procent. Wie das Waſſer des todten Meeres wirken mag, welches 24 Procent Salz enthält, welches den Menſchen wie einen Kork ſchwimmend erhält und das Ertrinken unmöglich macht, iſt noch durch keine Erfahrungen ausge— macht, denn kein Dobberan, kein Nizza ziert ſeine unwirthbaren durch Erdpech und Schwefeldämpfe verpeſteten Felſenufer. Der eigenthümlich verderbliche Einfluß, den das Seewaſſer als Getränk auf den Menſchen ausübt, die tief eingreifende Störung der ganzen Ernährungsthätigkeit ſcheint ſich auch in gewiſſer Weiſe bei den belebten Bewohnern des Meeres, bei Thieren und Pflanzen geltend zu machen. Beſonderheiten, die bei den in der Luft lebenden Geſchöpfen zu den ſeltenen Ausnahmen gehören, bilden bei ihnen die faſt ausnahmsloſe Regel, ich meine eine gewiſſe eigenthümliche Weichheit ihrer Beſtandtheile. Die Knochen der Meerthiere ſind biegſam, knorpelartig und bei vielen faſt reiner Knorpel, das Fleiſch iſt gallertartig, weich; eine große Anzahl dieſer Meergeſchöpfe ſcheint nur aus einem faſt durchſichtigen belebten Schleim zu beſtehen. Selbſt die Pflanzen des Meeres theilen dieſe Eigenheit. Der mäch— tige oft 1500 Fuß lange Rieſentang des Feuerlandes ſo gut wie der ſchöne purpurne Meerſallat der Nordſee haben die ſchlüpfrige Con— ſiſtenz halb aufgequollenen Traganth-Gummis und zerfließen faſt, ſo wie man ſie in ſüßes Waſſer bringt; das Carragheen oder ſo— genannte irländiſche Moos, der ſchneeweiße Fucus amylaceus, 144 Sechſte Vorleſung. welche beide yon der Heilkunſt unter die Zahl der leicht verdaulichen und ſtark nährenden Subſtanzen beſonders zur Erhaltung ſchwäͤch— licher Kinder aufgenommen find, löſen ſich beim Kochen faſt ganz wie das Arrowrootmehl in eine klare farbloſe Gelatine auf, und ſo ſcheint ſich das Waſſer bei dieſen Organismen recht eigentlich mit ſeinem elementaren Charakter als das Erweichende, Auflöſende, Ver— flüſſigende geltend zu machen. Und in der That iſt dies der Charakter des Waſſers auf unſe— rer Erde. Von den älteſten Zeiten her bezeichnet man mit dem Worte Waſſer weniger den chemiſchen Stoff als den Zuſtand der Flüſſig— keit. Ich will nur an Eins erinnern, in welchem chemiſch auch nicht ein Tröpfchen Waſſer enthalten iſt, an das allen bekannte ächte Cöl— niſche Waſſer. Wir kennen unzählige Flüſſigkeiten vom ſchwe— ren glänzenden Queckſilber bis zum leichten waſſerhellen Aether. Von allen hat die Natur keine benutzt als das Waſſer um alle Or— ganismen zu durchdringen, ihre feſten Theile anzufeuchten und bieg— ſam zu machen, andere Theile aufzulöſen und als flüſſige Säfte auf die verſchiedenſte Weiſe in Zellen und Kanälen durch den Organis— mus durchzuführen. Ohne das Waſſer wäre * Leben, kein Dr: ganismus denkbar. Und iſt es denn etwa mit dem ard Organismus, den wir Erde nennen, anders? Wir haben ſchon oben flüchtig berührt, wie das Waſſer einen eignen Kreislauf durch Meer, Luft und Erde voll— endet. Was der Kunſt des Menſchen mit ſeinen Retorten und Tie— geln noch unerreichbar iſt, das vermag mit Leichtigkeit die Sonne. Die Waſſerdämpfe, welche ſie durch ihre Strahlen aus dem großen Keſſel des Meeres aufdeſtillirt, die ſich als Wolken über unſern Häuptern ſammeln, als Wolkenbruch zerſtörend herabſtürzen, als milder Regen die Saaten befruchten, oder als funkelnde Thauperle den zarten Carmin des Roſenblattes ſchmücken, ſie enthalten das * Waſſer, welches wir auf Erden kennen. Begierig ſaugt es die durſtige Erde ein, in tauſend Adern treibt ſie es herum, in un— zähligen Behältern ſammelt ſie es für künftigen Bedarf. Wäre die Das Waſſer und feine Bewegung. 145 Erdkruſte von durchſichtigem Kryſtall, das Waſſer roth wie das Blut, wir würden mit einem Blicke überſehen, in welchem vielfach veräſtel— „ ten künſtlich verſchlungenen Gefäßſyſtem dieſer Lebensſaft der Erde circulirt. Wo die Erde an Vollblütigkeit leidet, hilft ihr die Natur, ſie ſprengt eins der kleinen Gefäße und ſchüttet die belebende Flüſſig— keit als ſprudelnde Quelle aus. Bedürfen wir diefes edlen Saftes, wir wiſſen uns zu helfen und ſchlagen der Natur eine Ader; „einen arteſiſchen Brunnen bohren“ nennt es die proſaiſche Technik. So treten die in verborgener Tiefe kreiſenden Waſſer wieder ans Tageslicht um auf der Oberwelt, zu Bächen, Flüſſen und Strö— men vereinigt, freundlich dem Menſchen ihre Dienſte anzubieten, ſei es hier ſeine Saaten und Heerden ernährend, ſei es dort ſeine Laſten tragend und bewegend, ſei es endlich um ſeinen ſchwachen Arm mit ihrer Kraft zu unterſtützen und gewaltig zu machen. Wenn wir früher erwähnten, wie gering die Kraft des fließenden Waſſers auf Erden ſei, ſo galt es nur im Vergleich mit der unendlich mächtigern Gewalt, durch welche das Waſſer den Wolken zugeführt wird. Wen— den wir den Vergleich aber nach der entgegengeſetzten Seite, ſo ver— ſchwindet der Menſch in ſeiner Ohnmacht gegen die allmächtige Rieſin Natur. Der Amazonenſtrom und Miſſiſippi enden allein fo viel Waſſer dem Meere zu als alle übrigen Ströme der Welt zuſammen— genommen, und ſo erſcheint der Niagara nur als ein beſcheidener Mittelfluß. Er mag daher als ein gutes Beiſpiel dienen um an ihm die Kraft des fließenden Waſſers zu zeigen, wobei wir den Unter— ſuchungen des Ingenieurs E. Blackwell und den Berechnungen des Mr. Allen aus Providence folgen. An den Waſſerfällen dieſes Stromes ſtürzen in jeder Minute 22,440,000 Cubik⸗Fuß oder 1402,500,000 Pfd. Waſſer über den 160 Fuß hohen Felſen. Die Technik nimmt bei Anwendung von Waſſerkräften an, daß ein Drit- theil derſelben verloren gehe. Demnach entſpräche die wirkliche Kraft des Niagarafalles 4,533,334 Pferdekräften. Um einen Maas⸗ ſtab für dieſe Zahlen zu gewinnen, kann man Folgendes hinzunehmen. Nach Baine's Geſchichte der Baumwollenmanufactur (history of Schleiden, Pflanze. 10 146 Sechſte Vorleſung. — * the cotton manufacture of the united Kingdom of great Brittain) war 1835 die menu: Kraft der gefammten englifchen Zane, | an Dampfkraft 33000 15 vage an Waſſerkraft 11000 für andere Manufacturen 100000 für Dampfſchiffe und Gruben 50000 Im Ganzen 194000 Pferdekräfte. Nimmt man bis 1843 20 Procent Zuwachs an, ſo war damals die geſammte Kraft der engliſchen Induſtrie gleich 233000 Pferdekräf⸗ ten, welche nur ſechs Tage der Woche und täglich nur 11 Stunden arbeiten, oder um es kurz zu ſagen: der einzige Niagarafall ent— wickelt eine Kraft, die 40 Mal ſo groß iſt als die der geſammten engliſchen Induſtrie, der mächtigſten, welche irgend eine Nation aufzuweiſen hat. So nichtig ſind die Werke der Menſchen gegen die zermalmende Größe der Natur. Aber kehren wir zu unſerm Waſſer zurück. Was die Sonne demſelben genommen, das giebt die Erde ihm wieder und umgekehrt, nämlich den Salzgehalt und die Temperatur. Das fallende Re— genwaſſer iſt wie bemerkt das reinſte Waſſer, welches wir auf Erden finden; aber indem es durch den Boden ſickert um zu den unterirdi⸗ ſchen Behältern und Canälen zu gelangen, nimmt es die in der Erde befindlichen löslichen Salze auf und führt ſie mit ſich fort. Dadurch wird alljährlich unſerm Culturboden ein großer Theil ſeiner wichtig— ſten Beſtandtheile entzogen und durch die Flüſſe dem Meere zuge— führt. Hat nun noch das Waſſer in ſeinem Laufe Gelegenheit ſich mit Kohlenſäure zu fättigen und wird es durch die Feuer der Tiefe erhitzt, fo verſtärkt ſich ſeine auflöſende Kraft und es nagt ſelbſt Fel⸗ ſen an, zehrt ſo an dem Marke der Erde und ſpringt dann, wo es zu Tage kommt, als heilbringende Mineralquelle hervor. Unter den aufgelöſten Mineralbeſtandtheilen iſt ohne Zweifel für die fern vom Meere gelegenen Länder das Kochſalz, das ſich in mehreren Quel⸗ len zeigt, einer der wichtigſten und deshalb längſt zu einem Gegen⸗ ſtand ſtaatswirthſchaftlicher Fürſorge geworden. Die Menge des im Pferderräfte * Das Waſſer und ſeine Bewegung. 147 Waſſer aufgelöſten Salzes, oder die „Löthigkeit der Soole,“ wie es die Bergleute nennen, iſt ſehr verſchieden; bei 3 Procent, dem un- gefähren Gehalt des gewöhnlichen Meeres waſſers iſt es nicht mehr der Mühe werth das Salz durch Abſieden vom Waſſer zu trennen, und die Soole des ſchon erwähnten Bohrbrunnens zu Neuſalzwerk bei Minden iſt faſt von dieſer Art, indem ſie nur 4 Procent enthält. Die ſtärkſte Soole iſt die Lüneburger, welche in ihrem Salzgehalt genau mit dem Waſſer des todten Meeres übereinſtimmt. Im Ganzen ſind dieſe chemiſchen Verhältniſſe des Quellwaſſers allmälig bei den großen Fortſchritten der Wiſſenſchaft vollkommen in die Gewalt der wiſſenſchaftlichen Einſicht gebracht worden und ihre Erklärung iſt ſehr leicht. Schwieriger und verwickelter dagegen iſt das Verhältniß der Quellen zur Temperatur. Der Gedanke ſcheint hier ſehr einfach und nahe liegend, daß die Gewäſſer die Temperatur des Bodens annehmen, durch welchen ſie fließen. Das iſt nun wohl im Allgemeinen wahr, aber die intereſſanten Schwie— rigkeiten liegen hier gerade in den Temperaturverhältniſſen des Bo— dens ſelbſt, durch welchen die Wärme der Quellen bedingt wird. Unter den Tropen kann eine Quelle nur wenig Erquickung ges währen, da ihre Temperatur nur wenig von der des heißeſten Mo— nats abweicht. In den gemäßigten Zonen erſtaunt man, daß ge— rade die Stelle des Teiches im Winter ungefroren bleibt, welche man im Sommer beim Baden wegen ihrer unangenehmen Kälte zu mei— den pflegte; es iſt der Fleck, wo eine Quelle aus dem Boden hervor— ſprudelt. In Bezug auf die Vegetation find unſere Quellen die ei— gentlichen Ernährer und Beförderer einer üppigen Vegetation, und wenn ſchon der erſte Schnee die abgeſtorbenen Fluren bedeckt, grünt noch Alles in voller Friſche in und neben einer Quelle. Wie anders in Schweden, wo das eiſige Waſſer der Quellen überhaupt jede Ve— getation in ihrer Nähe vernichtet und die Bäche nur zwiſchen un— fruchtbaren, von Pflanzen entblößten Ufern fließen. Der Grund dieſer ſeltſamen Erſcheinung iſt der, daß die Son— nenwärme nur langſam und überall nicht ſehr tief 00 den Erdboden 1 * 1 * 1438 * Sechſte Vorleſung. eindringt. Schon einige Fuße unter der Oberfläche hören die Tem— peraturunterſchiede zwiſchen Nacht und Tag auf bemerklich zu ſein und bei einer Tiefe von 90 Fuß (ſo tief iſt der Keller der Pariſer Sternwarte) ändert ſich die Temperatur Jahr aus Jahr ein noch nicht um den zehnten Theil eines Grades. Es findet hier diejenige Temperatur Statt, welche ſich ergiebt, wenn wir die Wärme des Sommers durch die Kälte des Winters ausgleichen, oder die ſoge— nannte mittlere Temperatur des Ortes, welche natürlich höher als die des Winters und niedriger als die des Sommers iſt. Bei dem unveränderlichen Klima der Tropenländer wird nun in einer größe— ren Tiefe auch eine Temperatur ſein, welche von dem heißeſten Mo— nate wenig verſchieden iſt, und dieſe theilt ſich den in ſolcher Tiefe entſpringenden Quellen mit. Bei uns ſind tief entſpringende Quel- len noch warm genug um im Sommer der Vegetation nicht zu ſcha⸗ den, während ſie im Winter durch ihre eigenthümliche Wärme lange Zeit dem Einfluß der Kälte widerſtehen. Endlich in Schweden iſt die mittlere Temperatur von 6%,° nicht mehr genügend für das Wachsthum der Pflanzen und ein Waſſer, wie die Medewiquelle am Wetterſee, welche dieſe Temperatur beſitzt, muß daher noth— wendig ihre Umgebung der freundlich grünen Decke der Vegetation berauben. Dringen wir nun tiefer ins Innere der Erde, ſo ändert ſich die Sache; hier kommen wir dem Heerde der eignen Erdwärme näher und damit ſteigt wieder die Temperatur. Aber dieſe Temperatur iſt wie unabhängig von der Sonne, ſo auch völlig unabhängig von den durch Einwirkung derſelben bedingten Schwankungen. Die tiefer eindringenden Erdarbeiten haben uns gezeigt, daß die Temperatur in der Tiefe der Erde faſt ganz regelmäßig etwa auf 100 Fuß um 1 R. zunimmt. Am meiſten haben zur Erkenntniß dieſer Thatſache wohl die Arteſiſchen Brunnen mit beigetragen, denn die verſchiede— nen Temperaturen des aus verſchiedenen Tiefen hervorquellenden Waſſers geben hierbei einen trefflichen Maasſtab an die Hand. Der berühmte Bohrbrunnen zu Grenelle, der für 24 Stunden ws = Das Waſſer und feine Bewegung. 149 jedem Pariſer 4 Liter (3½ Quart preuß. Maas) Waſſer liefert, erfüllte anfänglich leider den Zweck, den man bei ſeiner Abteufung im Auge hatte, nämlich der Stadt Paris Trinkwaſſer zu liefern, durchaus nicht, weil das bei einer Tiefe von 547 Meter (1742,7 preuß. Fuß) erbohrte Waſſer die Temperatur einer ächt tropiſchen Quelle, nämlich 22,16 R. beſitzt. Jetzt wird es durch eigne Vorrichtungen abgekühlt. Noch etwas weiter ins Innere der Erde dringt der ſchon mehrfach erwähnte Bohrbrunnen zu Neuſalzwerk bei Minden, nämlich bis zu 628,6 Metres (2002,7 preuß. Fuß) ulld das ausſtrö— mende Waſſer hat eine Wärme von 25% R. Ueberhaupt iſt dieſer Bohrbrunnen der tiefſte von allen bis jetzt hergeſtellten und ein von ſeinem tiefſten Punkte aus nach Norden horizontal fortgetriebener Stollen würde noch ziemlich weit unter dem tiefſten Boden der Nordſee durch nach Schweden geführt werden können. Die klarſte Vorſtellung gewinnt man von dieſen Dimenſionen, wenn man ſich irgend ein bekann— tes Gebäude, etwa das Straßburger Münſter daneben geſtellt denkt. Jene conſtante von Winter und Sommer völlig unabhängige Temperatur der Quellen iſt der Grund, weshalb der Anfang der Saiſon bei Brunnen kaum von etwas Anderem abhängig gemacht zu werden braucht als vom Eintritt der Jahreszeit, welche die Be— wegung im Freien erlaubt. Daſſelbe gilt aus anderm Grunde von den Fluß- und Teichbädern, weil dieſe flachen Waſſermengen leicht von der Sonne durchwärmt, ſehr bald eine ſommerliche Temperatur annehmen. Das Meerwaſſer dagegen bedarf bei ſeiner geringen Leitungsfähigkeit für die Wärme und bei der großen zu erwärmenden Maſſe einer längern Einwirkung der Sonne und erſt am Ende des Juli oder im Beginn des Auguſt geſtattet uns der verſtändige Arzt, uns in Helgoland zu verſammeln. Dieſe letzte Bemerkung eines Arztes beruhigte einigermaßen eine ältliche Dame, welche, mehr von der Langenweile als vom Be— dürfniß in die Bäder geführt, nicht hatte begreifen können, weshalb ihr Hausarzt bis dahin ihr ſo hartnäckig den langerſehnten Genuß verſagt hatte. Unter den mitgetheilten Geſprächen war allmälig a 150 Sechſte Vorleſung. die Dämmerung hereingebrochen und die Geſellſchaft, plaudernd vorgeſchritten bis zum alten Feuerthurm, ſchaute hinaus auf das noch immer ſpiegelglatte Meer. * „Ad! der herrliche Stern, der dort aufgeht, u rief eine der jüngern Damen aus und wies nach Süden. — „Das iſt kein Stern,“ belehrte der alte Grau, „ſondern das 18 Seemeilen entfernte Leuchtfeuer auf „Neuwerk, welches ſo eben angezündet wird. Nicht immer iſt es „zu ſehen. Jetzt iſt jene Gegend fo ſtill und klar, daß man deutlich „im Schein der Laterne den Rauch des eben vorbeigehenden Huller „Dampfers erkennen kann; etwas links von jener Stelle, wo jetzt „der Rauch aufwirbelt, zieht ſich der ſchreckliche Vogelſand hin, der „in ſeinem flüſſigen Sande ſchon Tauſende von Fahrzeugen mit ihren „wackern Mannſchaften verſchlungen hat.“ Der Alte ſchwieg einige Secunden, im Nachſinnen verloren, dann fuhr er mit gedämpfter Stimme fort: „Nie werde ich die ſchreck— „liche Nacht vom letzten Auguſt des Jahres 1829 vergeſſen. — Am „Nachmittag hatte ſich ein Sturm aus Nordweſten erhoben, ſo wild, ‚fo furchtbar, wie ich noch keinen hier erlebte. Die größten Fels— „blöcke am Vorlande tanzten auf den Wellen wie Korkſtückchen und „knirſchten an einander, als würden ſie zu Staub zermalmt. Die „ganze See ſchien zu kochen, man ſah keine Fläche, keine Welle, „nichts als umhergejagten Schaum; die Brandung brüllte zwiſchen „dem Neuſtag und dem Mönch und in dem alten Mörmersgatt und „tobte zwiſchen den Klippen, daß der Giſcht uns hier oben am „Leuchtthurm durchnäßte. Da ſtanden wir, Männer und Weiber, „und ſchauten dort hinaus nach der Weſer, wo ſich ein verlornes „Fahrzeug ſehen ließ, was ſchwer mit dem Sturme kämpfte. Immer „mehr wich es trotz aller ſtraff geſpannten Segel nach Oſten ab und „war ſchon bei Neuwerk vorbeigetrieben nahe dem Vogelſand, da „ſtürzte plötzlich mit fliegenden Haaren ein Weib zwiſchen uns und „ſchrie: rettet, rettet meinen Mann, euern Freund! kennt ihr denn die Dorothea nicht mehr? Und ſo war's, das Auge der Liebe hatte ſchärfer geſehen als wir alten Seehunde, — die Dorothea » Das Waſſer und feine Bewegung. 131 „von Bremen kommend und geführt von unſerm beſten Burſchen Ja— „cob Jaſperſen. Das Weib jammerte, rang die Hände, um— „ſchlang unſere Kniee und flehte um Rettung, wir mußten uns ab— „wenden; ach ſie wußte ſo gut als wir, daß bei dem Wetter kein ge— „wöhnliches Fiſcherboot See halten konnte, und kein anderes lag im „Hafen. — Immer näher kam der ſchreckliche Augenblick, die Do— „rothea konnte nur noch wenige kabellängen vom Vogelſand ſein. „Da ſtand das Fahrzeug ſtill, die Segel fielen nieder. Der kühne „Führer hatte mitten in der Brandung Anker geworfen; wenn dieſer „faßte und hielt, ſo war das Schiff gerettet. Mit athemloſer Er— „wartung blickten hundert Augen auf jenen Fleck, das Weib hielt ‚Ich an mich und klapperte hörbar mit den Zähnen. — Und wir fahen, „wie das Schiff langſam vom Anker wegtrieb. — Mit gellendem „Schrei ſank die Frau zuſammen. Da hatte plötzlich Jaſperſen „wieder alle Segel aufgeſpannt und begann auf's Neue den hoff— „nungsloſen Kampf gegen den Orkan, bis die Nacht ihn uns ver— „barg. Keiner von uns ging ſchlafen, keiner verließ den Platz, im— „mer noch ſtierten wir hinaus und harrten mit dumpfem Entſetzen „des Tages; neben uns wimmerte leiſe das unglückliche Weib. — „Gegen Morgen legte ſich plötzlich der Sturm, nach und nach wurde „es lichter, der Tag begann zu grauen und kaum ½ Seemeile vor „uns lag die Dorothea mit vollen Segeln auf den Hafen zu: „ſteuernd. Jauchzend eilten wir zum Strand und eine Viertelſtunde „ſpäter umſchlang Jaſperſen ſein Weib, — aber eine alte Ma— „trone, die er vor wenigen Tagen als blühende junge Frau verlaſ— „ſen. Die furchtbare Angſt der einzigen Nacht hatte tiefe Furchen in „ihr Antlitz gegraben, ihre Wange und ihr Haar gebleicht.“ „Ja! ja! die See iſt eine gefährliche Freundin und wehe dem, „der nicht die Kraft hat, ihr todesmuthig ins Angeſicht zu ſehen!“ — Wir ſchwiegen lange, dann ſchüttelten wir dem Alten ſtill die Hand und bald umfing uns alle die bunt gemalte Täfelung in dem reinlichen und behaglichen Gemache unſerer biedern Wirthe. — * - ee enter. ma # a ke VER A BIN? * g 2 1 Ha! ü Zr t z Er * * 1 J nne 7 8 . trud uu. 17 u.ä 14 Er AS e [> * „ z a Sri ur 4 Br re EEE ARE. 9 Ara Siebente Vorlesung. Das Meer und feine Bewohner. Gold und Juwelen nicht allein Umhüllen ſich mit Nacht und Graus. Der Weiſe forſcht hier unverdroſſen; Am Tag erkennen das ſind Poſſen, Im Finſtern ſind Myſterien zu Haus. Fauſt. Die Vignette zeigt einige der Meeresbewohner. Im Vorgrund Schnecken, Muſcheln und Seeſterne in der Mitte der Kabeljau. Rechts im Mittelgrund eine Caryophyllee, kinks eine Millapore, dahinter eine Mäandrine, und zwei kug⸗ lige Aſträen, ſämmtlich Felſen bildende Korallen. Eine Tangvegetation durchzieht das Ganze, worin ſich beſonders die Nereocyſten mit ihrem birnfoͤrmig ange⸗ ſchwollenen Stengel, der auf ſeiner Spitze einen langen Blattbüſchel trägt, aus⸗ zeichnen. 1 „Es freue ſich „Was da lebet im roſigen Licht; „Da unten aber iſt's fürchterlich, „Und der Menſch verſuche die Götter nicht „Und begehre nimmer und nimmer zu ſchauen, „Was ſie gnädig bedecken mit Nacht und Grauen.“ O lernt ſie nur kennen die grauſige Tiefe, welche unter dem trügeriſch glänzenden Spiegel ſich birgt. — Ihr ſinkt hinab, — Euch verſchwindet das Blau des Himmels, das Licht des Tages, — ein feuriges Gelb umgiebt Euch, dann ein flammendes Roth als tauchtet Ihr ein in ein feuchtes Höllenmeer ohne Gluth, ohne Wärme. — Das Roth wird dunkler, — purpurn, — endlich ſchwarz, — eine undurchdringliche Nacht hält Euch umfangen. — Und was um Euch lebt und ſich bewegt, iſt ein freud- und friedeloſes Daſein, ein unaufhörliches Jagen und Entfliehen, ein Faſſen und Verſchlingen, ein unendlicher Haß, ein ewiger Mord, — ein raſtlo— ſes Schaffen nur um dem gefräßigen, nie ruhenden Tode die Opfer zu liefern. — Und wie hier Licht und Farbenglanz verſchwinden und die dunkle Nacht den endloſen ſchweigenden Krieg, das lautloſe Schlachten einhüllt, ſo iſt auch der Reichthum der Formen, die An— muth der Geſtalt entwichen, dem Plumpen geſellt ſich das Häß— liche, dem Ungeſtalteten das Verzerrte und Widerliche. „Der gefräßige Hai, des Meeres Hyäne, „Der ſtachliche Roche, der Klippenfiſch „Des Hammers gräuliche Ungeſtalt. ..“ 156 Siebente Vorleſung. Kein guter Geiſt regiert dieſe Tiefen, nur boshafte Nixen und falſche verlockende Undinen durchſtreifen das wüſte Reich! — So geſtaltet der Glaube des Volks, ſo die früheſten Kenntniſſe der Waſſerwelt dieſes dem Menſchen faſt unzugängliche Gebiet und die allmälig erwachſende Wiſſenſchaft kann nicht umhin, dem Bilde immer neue, immer grellere Züge zu leihen. Aber dem raſtlos fortſtrebenden Sterblichen bleibt nichts Ir— diſches für immer verſchloſſen, überall hin bahnt er ſich den Weg, »ſelbſt in die dunkle Tiefe des unermeßlichen Oceans trägt er die Leuchte der Forſchung und in dieſem Lichte gewinnt manches auch einen anderen Ausdruck, zeigt eine freundlichere Kehrſeite. Mit der alten Nacht fliehen auch ihre Kinder, die grauſen Geſpenſter. Zwar bleiben manche der Züge in dem Bilde wahr und unverwiſchbar; die Wiſſenſchaft muß es mehr und mehr beſtätigen, daß nur ein Gegen— ſeitiges Morden und Verſchlingen die lebenden Geſchöpfe der Tiefe erhält, daß unter den tauſend und aber tauſend Arten, welche die Fauna des Meeres zuſammenſetzen, bis jetzt kaum Ein Geſchöpf mit Sicherheit als ein ſolches bezeichnet werden kann, welches ſich in friedlicherer Weiſe nur von der reichen Flora des Meeres nährte. Aber wenn wir die einzelnen Bilder, Linien und Farbentöne, welche uns der unermüdliche Fleiß der Forſcher gewonnen, zuſammenſetzen, — wenn wir dieſer Compoſition die Totalanſchauungen zu Grunde legen, welche glückliche Reiſende in günſtigen Beleuchtungen jenem Reiche der Tiefe abgewonnen, ſo erhalten wir eine Gallerie von Landſchaften, welche nicht minder mannigfaltig, nicht minder ſchoͤn und vielleicht ſelbſt prachtvoller, feenhafter und wunderbarer find, als die Erde fie irgendwo aufzuweiſen hat. Dann aber tritt uns ein neues Räthſel entgegen. Das ganze Weſen der Schönheit lebt doch nur in der empfindenden Seele; nicht für ſich, nicht für den Sandhaufen, der ihn umgiebt, funkelt der Diamant in ſeinem farbigen Strahlenſpiel, ſondern für das Men— ſchenauge, durch welches eine Seele ihn bewundert. Nicht für den Berg iſt das Thal, nicht für den Bach die lispelnd ſich niederbeu— Das Meer und feine Bewohner. 137 gende Trauerweide, nicht für den düſtern Fichtenwald das goldene Grün der Matten ſchön, anmuthig oder lieblich, ſondern nur für den Geiſt, der das Alles mit den Blicken der Liebe, der Andacht auf— und zuſammenfaßt. Iſt dem aber ſo, ſo fragen wir wohl mit Recht: für wen iſt denn jener Reichthum an Glanz und Schönheit ausge— breitet, welchen jene blaue Decke verhüllt, deren ſpiegelnde Fläche den Lichtſtrahl zurückwirft und meiſt dem neugierigen Lauſcher faſt wie ſpottend nur das eigene Bild zeigt? Giebt es denn dort unten auch fühlende Weſen, für welche der Anblick des Schönen ein Genuß iſt, oder richtiger, welche das phyſicaliſch Gleichgültige der Geſtalt und Farbenzuſammenſtellung dadurch, daß ſie es fühlen und empfinden, erſt zum Schönen erhe— ben? Wir wiſſen es nicht; nur das dürfen wir behaupten: „das. Fiſchlein,“ dem's nach unſerm Dichter „ſo wohlig auf dem Grunde iſt,“ kann dieſes fühlende Weſen nicht ſein, denn die Augen, aller Thiere des Waſſers ſind ſo conſtruirt, daß ſie nur das Allernächſte im kleinſten Kreiſe wahrzunehmen im Stande ſind, ſo daß ſelbſt der dem Elemente fremde Menſch eine weitere und umfaſſendere An— ſchauung ſeiner Eigenthümlichkeiten hat, als der eigentliche Bürger deſſelben. Mithin bleibt uns nur Eins übrig, um zum Verſtändniß zu gelangen. So wie an den gothifchen Thürmchen des Mailänder Dom's die vollendetſten Statuetten nur der Symmetrie wegen ſelbſt an Stellen ſtehen, wo nie ein menſchliches Auge ſie erreichen und be— wundern kann, ſo iſt auch überall auf der Erde das phyſicaliſche Ma— terial ſo geordnet, daß es den Eindruck des Schönen machen muß und die ganze Schöpfung erſcheint in ſich in allen kleinſten Theilen auch ohne Rückſicht auf den denkenden und empfindenden Menſchen nicht nur techniſch verſtändig geordnet ſondern auch künſtleriſch äſthetiſch vollendet. — Aber lenken wir wieder in unſere einmal begonnene Bahn zu— rück. Neben jenen düſtern Zügen, welche das Meer in ſeinen Tie— fen verſchließt und die wir als ſcharfe Schlagſchatten ſtehen laſſen 158 Siebente Vorleſung. müſſen, zeigen ſich eben fo glänzende Schlaglichter und ſanfte Mittel: töne geben dem Bilde einen unendlichen Reiz. Gegen den endloſen Krieg aller der tauſend Weſen, welche die Waſſerwelt beleben und ſeine Schrecken mildernd, ſeine Folgen auf— hebend, ſtellt ſich eine ſo unerſchöpfliche Zeugungskraft der Natur wie ſie uns in gleicher Fülle nirgends ſonſt auf Erden entgegentritt. Man hat berechnet daß unter den günſtigſten Umſtänden die Nach— kommenſchaft eines Kaninchenpaares in 10 Jahren eine Million betragen könne und dies Reſultat als etwas Ungeheueres angeſtaunt. Unter gleichen Vorausſetzungen würde ſchon im dritten Jahre die Nachkommenſchaft eines Karpfenpaars eine Zahl bilden, die für uns kaum noch einen Sinn hat, nämlich viele Tauſend Billionen. — Wenn man Hennen bewunderte, die in einem Jahre bis 200 Eier legten, ſo zählen bei den meiſten Fiſchen die Eier nur nach Hundert⸗ tauſenden. Aber alle dieſe Zahlen werden ſelbſt noch übertroffen von den Mengen der kleineren unvollkommener organiſirten Meerbewoh— ner. Der Wallfiſch verſchluckt auf jeden Biſſen Tauſende der Clio borealis, welche faft feine alleinige Nahrung find. — Freyecinet und Turrel beobachteten auf der Corvette „la Creole“ in der Nähe des Tajo eine Fläche von 60,000,000 Quadratmeter ſcharlachroth gefärbten Waſſers. Die Unterſuchung zeigte als Urſache der rothen Färbung eine kleine Pflanze, von welcher 40,000 erſt einen Quadrat⸗ millimeter bedecken, alſo etwa 40,000 Millionen die läche eines Quadratmeters erfüllen. Da ſich nun die Färbung in nicht unbe⸗ trächtliche Tiefe erſtreckte, ſo iſt die Sprache kaum noch im Stande annäherungsweiſe die Zahl dieſer lebenden Weſen nur auszuſprechen. Häufig zeigen ſich an den Küſten von Grönland Streifen von 10 bis 15 engl. Meilen in der Breite und 150 —200 Meilen in der Länge, welche durch eine kleine gefleckte Meduſe dunkelbraun gefärbt ſind. Ein einziger Cubik-Fuß enthält ſchon 110,592 ſolcher Thiere und ein ſolcher Streifen, der doch nur einen kaum in Betracht kom— menden Theil des unermeßlichen Weltmeers, ausmacht eine An⸗ zahl von wenigſtens 1600 Billionen lebender Weſen. Das Meer und feine Bewohner. 139 An dieſe raſche Vermehrung und Wiedererzeugung der Zahl nach, reiht ſich dann die außerordentlich ſchnelle Entwicklung der Einzelweſen. Die meiſten Fiſche ſind ſchon in einem Jahre voll— kommen entwickelt, obwohl ihre Größenzunahme viel länger dauern kann und bei einigen Waſſerbewohnern z. B. beim Wallfiſch angeb— lich gar keine Grenze haben ſoll. Im Jahre 1842 erhielt man für die bekannte Adelaide-Gallery in London zwei lebende Exem— plare des elektriſchen Aals. Sie wogen wenig mehr als ein Pfund. Im Jahre 1848 wog der eine derſelben 40 der andere 50 Pfund, ſie hatten alſo ihr Gewicht in jedem Jahre faſt genau verdoppelt, ein Wachsthum, von welchem kein in der Luft lebendes Thier auch nur etwas entfernt Aehnliches aufweiſen kann. Endlich kommt noch zu der großen Zahl der Individuen, zu der Schnelligkeit der Entwicklung, die abſolute Körpergröße hinzu. So weit wir vergleichen können hat jede Thiergruppe ihre größten Reprä— ſentanten im Waſſer. Das größte Säugethier und überhaupt das größte jetzt auf Erden lebende Thier iſt der Wallfiſch, der völlig ausgewach— ſen mindeſtens noch fünf mal ſo lang iſt, als der größte Elephant. Von den Vögeln hat der faſt nur über dem Meere ſchwebende Albatros die größte Flügelſpannung (15 Fuß); aus der Gruppe der Eidechſen lebt die furchtbarſte Art das Croco dil im Waſſer, der kleinen zierlichen Landſchildkröte ſteht die bis 1000 Pfund ſchwere Rieſenſchildkröte des Meeres gegenüber. Die größte aller bekannten Schlangen, die braſilianiſche Anaconda, lebt wenigſtens vorzugsweiſe im Waſ— ſer und unter den giftigen Schlangen ſcheinen die oſtindiſchen Waſ— ſerſchlangen die ſchrecklichſten zu ſein. Nur flüchtig hindeuten will ich hier auf die ſich als eine wunderliche Sage in unſerer Naturge— ſchichte erhaltende rieſenhafte Seeſchlange. Hundertmal als Täu— ſchung erwieſen, hundertmal wenigſtens als ſolche behandelt und bei Seite geſchoben, drängt ſich die Erzählung von derſelben doch immer wieder hervor. Die Unwahrſcheinlichkeit, daß ein ſolches Thier eriſtire, hat noch vor Kurzem einer unſerer geiſtreichſten Zoo— logen Prof. Owen mit eminentem Scharfſinn in einem Briefe in 160 | Siebente Vorleſung. Galignani's messenger (vom 23. Nov. 1848) entwickelt, aber die Unmöglichkeit läßt ſich doch auch keinesweges darthun und noch aus der neueſten Zeit liegen die Ausſagen von Capt. Sulliwan von Halifax, Capitain d'Abnour aus Havre de Grace und Capt. Woodward von Penobſcot vor, welche die Seeſchlange deut— lich geſehen zu haben mit ihrer ganzen Mannſchaft beſchworen. Ja der Letztere ſah ſie während einer ganzen Stunde nur wenige Schritte von ſeinem Schiffe, mit großer Wuth daſſelbe verfolgend und angreifend, nachdem er zweimal eine kleine mit Flintenkugeln geladene Kanone auf ſie abgefeuert, aber ſcheinbar ohne ihren feſten Schuppenpanzer im Geringſten zu verletzen. Vielleicht iſt die große Seefchlange ein noch lebendes Individuum von jenem furcht— baren Hydrarchos, deſſen foſſiles Skelett Dr. Koch vor einigen Jahren in Alabama aufgefunden und auch in Deutſchland zur Schau ſtellte, und dieſes arme Weſen, der einzige noch lebende Zeuge einer längft untergegangenen Schöpfungsperiode ſtreift nun raſt- und ruhelos, wie ein ewiger Jude unter den Thieren, einſam durch die ihm fremd gewordene Welt. — Sei dem, wie ihm wolle, wir bedür— fen wahrlich der Fabeln nicht um das Meer mit allem Zauber der Feenmährchen zu ſchmücken. Ein flüchtiger Ueberblick der Flora und Fauna des Meeres wird genügen, um dieſe Behauptung zu rechtfertigen. Die ganze ſubmarine Vegetation wird faſt ausſchließlich von einer einzigen großen Pflanzenclaſſe „den Algen oder Tangarten,“ gebildet. Obwohl geſchlechtsloſe Pflanzen und ſehr einförmig in ihren Fortpflanzungsorganen, entwickeln dieſelben doch einen ſo außerordentlichen Formenreichthum, daß eine Landſchaft am Boden des Meeres kaum weniger intereſſant und mannigfaltig iſt als eine Gegend, welcher die wärmere Tropenſonne den Character vegetati— ver Ueppigkeit verliehen hat. Die eigenthümliche bald gallertar— tig weiche, bald knorplig-derbe Beſchaffenheit aller Theile, die ſelt— ſame Vereinigung runder, langgeſtreckter und wiederum flach ausge— breiteter Organe, welche gleichwohl die Anwendung der Ausdrücke Das Meer und feine Bewohner, 161 „Stengel und Blatt,“ ſogleich als völlig unpaſſend erkennen laſſen, die prachtvollen intenſiven Farben von grün, olive, gelb, roſa und purpur, zuweilen regenbogenähnlich auf derſelben blattähnlichen Fläche verbunden, geben dieſer Vegetation durchaus den Charakter des Ungewöhnlichen, Mährchenhaften. Noch zu Linné's Zeiten war unſere Kenntniß dieſer Pflanzen ſehr geringe. Die 70 Arten, welche jener Vater der Botanik bei Aufſtellung ſeines Syſtems kannte, ha— ben ſich gegenwärtig auf faſt 2000 vermehrt und zwar ſind es gerade nicht nur die kleinen leicht zu überſehenden Formen, ſondern geradezu die größten Arten, die 100 bis 1500 Fuß langen Rieſen der ſubma— rinen Wälder, mit welchen uns erſt neuere Forſcher bekannt gemacht haben. Lamourcoux, Bory St. Vincent und Greville haben ſich auf dieſem Felde die größten Verdienſte um die Wiſſenſchaft er— worben. Vor Allem aber haben in neuſter Zeit die Expeditionen des Capt. Roß nach den Südpolargegenden und die auf Koſten des Kaiſers von Rußland und der Petersburger Akademie un— ternommenen Reiſen von Martius, Poſtels, von Baer. und Andern in die nördlichen Polarländer uns eine ganz neue An— ſicht dieſer Verhältniſſe eröffnet. Es iſt nicht das unintereſſanteſte Ergebniß dieſer Forſchungen, daß auch die Meeralgen grade wie die Vegetation des feſten Landes an geographiſche Grenzen und eine be— ſtimmte Vertheilungsweiſe gebunden ſind. Bedenkt man, daß auf der Erde die geographiſche Anordnung der Pflanzen vorzugsweiſe durch die verſchiedene Vertheilung der Wärme und Feuchtigkeit be⸗ dingt wird, daß aber das Meer ſo äußerſt geringer Temperaturun— terſchiede fähig iſt und ſchon in verhältnißmäßig ſeichter Tiefe unter allen Zonen denſelben Wärmegrad zeigt, ſo muß es allerdings auffal— len, daß wir in der ſubmarinen Flora ſo weſentliche Verſchiedenhei— ten ſelbſt in verwandten oder nahe gelegenen Regionen antreffen, wie z. B. ſich das ſchwarze Meer vom adriatiſchen oder das Eismeer längs der lappländiſchen und ſibiriſchen Küſte von dem kamſchatki— ſchen Meer und den Küſten der Aleuten und Kurilen unterſcheidet. Im Allgemeinen kann man ſagen, daß die Algen vorzugsweiſe in Schleiden, Pflanze. 11 162 Siebente Vorleſung. der gemäßigten Zone ihren ganzen Reichthum entfalten, dagegen nach dem Aequator zu faſt eben ſo wie gegen die Pole hin abnehmen. An den Küſten der Inſel Sitka zeigt ſich dem Taucher dieſe eigenthümliche Vegetation in ihrer üppigſten Fülle. Einem Urwalde gleich drängt ſich hier Pflanze an Pflanze. Die kleinen Conferven und Ectocarpeen überziehen den Boden mit einem grünen Sammet— teppich, auf dem der Meerſalat mit ſeinem breiten Laube die größern Kräuter vertritt; — dazwiſchen glänzen die mächtigen Blätter der mantelförmig gefalteten Irideen in prachtvollem Roſenroth oder Scharlach; — mannigfaltige Tangarten bekleiden die Klippen mit dunkler Olivenfarbe, zwiſchen denen dann wieder die prachtvolle Meerroſe mit ihrem zarten Farbenſpiel hervorleuchtet; — gelb, grün und roth ſchillernd, bald als Rieſenfächer ſich ausbreitend, bald als mehrere Fuß lange und breite Blätter im Strome ſchwankend bilden die ſeltſam netzförmig durchbrochenen Thalaſſiophyllen und Aga— ren die größeren Büſche dieſes Waldes; als deſſen Bäume erſcheinen dann die oft 30 Fuß langen, breiten Bändern gleich wallenden La mi— narien, wechſelnd mit den buſchig verzweigten Macrocyſtisar— ten mit ihren birnengroßen Blaſen, dann zeigen ſich die langgeſtielten Alarien, deren Stamm, ſonderbar von einem manſchettenähnlichen Blattbüſchel umfaßt, ſich nach oben in das rieſenförmige oft 50 Fuß lange Blatt ausbreitet. Aber alles überragend heben ſich dazwiſchen die merkwürdigen Nereocyſten hervor; aus korallenähnlicher Wur- zel ſteigt der fadendünne Stiel bis zu einer Länge von 70 Fuß auf, allmälig keulenförmig bis zu einer. mächtigen Blaſe anſchwellend, auf dieſer ſchwankt dann ein dichter Büſchel ſchmaler bis 30 Fuß lan- gen Blätter. Man könnte ſie die Palmen des Meeres nennen. Und dieſe ganze mächtige Pflanze iſt das Product weniger Monate, denn alljährlich ſtirbt fie ab und erzeugt ſich aufs neue aus ihrem Saa— men. — Den Boden dieſer ſubmarinen Wälder beleben die See— ſterne, an den Stämmen haften die Muſcheln und Balanen, zwiſchen dem Laube jagen die gefräßigen Raubfiſche ihrer ſchwächeren Beute nach und auf den ſchwimmenden Inſeln, welche von den dichtge— * Das Meer und ſeine Bewohner. 165 drängten Blättern der Nereocyſten gebildet werden, ruht die glänzende Meerotter, behaglich im Sonnenſchein ſich wärmend, weshalb die Pflanze vom Volke mit dem Namen „Otternkohl“ (Bobrowaja Rapusta) bezeichnet wird. So vollendet ſich das Gemälde einer Landſchaft, welche in ihrer Eigenthümlichkeit zu bewundern nur wenig Sterblichen vergönnt iſt. Eine maleriſche Darſtellung davon findet ſich in Ruprecht u. Poſtels prachtvollem Algenwerke mit großer Kunſt ausgeführt. Wallroſſe und Seekühe, Rytinen und Meerweibchen leben von der Vegetation der Tange und es iſt ſchon von vornherein anzuneh— men, daß der Menſch nicht verſäumt hat, auch hier von ſeinem Erb— theil Beſitz zu nehmen. In der That iſt der Nutzen, den dieſe Pflan— zen gewähren, insbeſondere für die Küſtenländer keineswegs gering an— zuſchlagen. Selbſt auf den Straßen Edinburghs hört man auch noch jetzt nicht ſelten den Ruf „Buy pepper- dulse and tangle“ ) erſchal— len, womit die Bewohner benachbarter Küſtendörfer ihren Meerſalat anpreiſen; das ſogenannte Irländiſche Moos“) oder Carrag— hen und der Mehltang***) find bedeutende Handelsartikel gewor- den und werden oft anſtatt des Salepp, des Arrowroots, oder Isländiſchen Mooſes für Bruſtkranke oder Kinder als leichtverdauliches Nahrungsmittel verordnet. Noch bedeutender iſt die Anwendung der größeren Tangarten, wie des „Zuckertangs,“ des „Schaftangs“ und anderer, zur Ernährung des Schaf- und Rindviehs, zumal an den Küſten der Normandie, Irlands, Schottlands und Norwegens ſo wie auf den Faerörne und auf Island. Die großen Tanghügel, welche jeder Sturm an den Weſtküſten Europas aufwirft, werden an den Nordküſten von Frankreich von den Landwirthen ſogar mit bedeutenden Koſten, als ſehr werthvolle Düngeſubſtanz viele Meilen weit landeinwärts gefahren. Der bei weitem wichtigſte Nutzen dieſer Pflanzen gründet ſich aber auf eine phyſiologiſche Eigenheit ihres *) Laurentia pinnatifida und Laminaria digitata. ) Sphaerococcus crispus. e, Sphaerococcus confervoides. 117 164 Siebente Vorleſung. Ernährungsproceſſes. In neuerer Zeit ift ein merkwürdiger Elemen⸗ tarſtoff, die Jodine, in techniſcher, beſonders aber in medicinifcher Hinſicht außerordentlich wichtig geworden. Dieſe Subſtanz erſcheint in ſchwarzen, metalliſch glänzenden, kryſtalliniſchen Plättchen, löſt ſich in Waſſer mit dunkelgelber Farbe auf und verwandelt ſich erhitzt in prachtvoll veilchenblaue Dämpfe. Dieſer letztern Eigenſchaft ver— dankt die Jodine ihren Namen, welcher vom griechiſchen Wort Jon „das Veilchen“ abgeleitet iſt. Außer ſchwachen Spuren, die man in einigen Mineralwäſſern aufgefunden hat, findet ſich dieſer Stoff nur im Meere, aber auch hier in ſo geringer Menge, daß es unmöglich wäre denſelben ohne die ungeheuerſten Koſten aus dem Seewaſſer darzuſtellen. Hier kommen uns nun die Tange zu Hülfe, indem ſie bei ihrer Ernährung die Jodineverbindungen des See— waſſers gleichſam ſammeln und aufbewahren, ſo daß man dieſelben in nicht unbeträchtlicher Menge in ihrer Aſche wiederfindet. An den Küſten von Frankreich, Irland und Schottland dienen die oft bergähnlichen Maſſen Seetang, welche die Wellen an den Strand werfen, den ärmern Leuten auch als Brennmaterial und die Aſche, ſorgfältig geſammelt, kam in früheren Zeiten unter dem Namen Kelp oder Varec, als eine Art unreiner Soda, zur Benutzung bei der Seifenfabrication in den Handel. Dieſer Erwerbzweig würde längſt für jene armen Leute erloſchen ſein, da man, durch die Fort— ſchritte der Chemie gefördert, ſich die Soda jetzt beſſer und billiger auf anderem Wege verſchaffen kann, wenn nicht im Jahre 1811 der Seifenfabrikant Courtois zu Marſeille in dem Kelp die Jo— dine entdeckte, aufmerkſam gemacht durch die bei ſtarkem Abdampfen der Lauge plötzlich ſich entwickelnden blauen Dämpfe. Dieſelbe wurde bald ein vielfältig begehrter Stoff, und ſie wird in der That noch jetzt ausſchließlich aus den Aſchenrückſtänden der Meerpflanzen gewonnen. . Wir haben früher Gelegenheit gehabt, die Productionskraft des Meeres in einigen Beiſpielen zu bewundern, und in der That muß man erſtaunen, wenn man die Berge von Pflanzenmaſſen ſieht, Das Meer und feine Bewohner. 163 die jeder Sturm am Strande anhäuft, welche der erwerbfleißige Menſch für ſeine Zwecke verwendet und die doch Jahr aus Jahr ein in unverminderter Menge ihm vom naſſen Elemente wieder zugeführt werden. Schon den älteften Völkern hat ſich dieſe Schöpferkraft des Meeres aufgedrängt und überall iſt ihnen ihr vornehmſtes Element „das Flüſſige“, die Geburtsſtätte alles Lebendigen. Die morgenlän— diſchen und indiſchen Dichtungen, die Fabeln der Griechen vom erd— umfaſſenden Okeanos und ſelbſt die jüdiſche Sage in den Worten: „die Erde war wüſte und leer und der Geiſt Gottes ſchwebte über den Waſſern,“ deuten mehr oder minder beſtimmt auf den Ur- ſprung alles Lebens aus dem ewig ſchaffenden und erzeugenden Naß. Selbſt bis in die neueſte Wiſſenſchaft hinein, hat ſich in der Lehre von den Infuſions- oder Aufgußthierchen und Pflänzchen, der Ge— danke erhalten, daß Waſſer und Wärme zum Entſtehen des organi— ſchen Lebens genüge. Noch immer iſt der Streit nicht geſchlichtet, ob die zahlreichen kleinen Thierchen und Pflanzen, welche ſogleich in jedem nicht reinem Waſſer ſich bilden, ſobald die Temperatur der Luft nicht zu niedrig iſt, ihr Daſein den unſichtbar kleinen, von der Luft hineingeführten Keimen oder der noch immer fortdauernden Schöpferkraft der Natur verdanken. Wenn auch die geiſtreichſten Forſcher, die feinſten Erperimentatoren ſich jetzt mehr und mehr zu der Ueberzeugung bekennen, daß eine ſolche fortgehende Schöpfung organiſcher Weſen ſich weder mit der Erfahrung noch mit den Grund— ſätzen einer geſunden Naturphiloſophie vereinigen laſſe, ſo giebt es doch auch noch immer beachtenswerthe Gegner dieſer Anſicht und gar manche Thatſache wird noch lange als ungelöſtes Räthſel ſtehen bleiben müſſen. Weit entfernt hier auf dieſen Streit weiter einzu— gehen, will ich nur eins der frappanteſten und nächſt gelegenen Bei— ſpiele hier hervorheben, weil es wie keins geeignet iſt, zugleich die bewundernswürdige Schnelligkeit und Fülle in der Entwicklung des organiſchen Lebens in das hellſte Licht zu ſetzen. Wenn man den Saft der weinreifen Traube filtrirt, ſo erhält man eine klare, waſſer— * 166 Siebente Vorleſung. helle Flüſſigkeit. Schon nach einer halben Stunde fängt dieſelbe an zu opaliſiren, trübe zu werden, Gasblaſen zu entwickeln, mit einem Worte in Gährung überzugehen, ſchon nach drei Stunden ſammelt ſich auf der Oberfläche der Flüſſigkeit eine beträgliche Schicht einer graugelblichen Subſtanz „der Hefe,“ welche unter dem Mikroſkop betrachtet ſich als eine Anhäufung zahlloſer kleiner Pflänzchen aus der Gruppe der Conferven zu erkennen giebt. Wenige Stunden reichen hier hin, um, je nach der Menge der Flüſſigkeit, Tauſende und Millionen dieſer kleinen Pflänzchen entſtehen zu laſſen. Ein einziger Cubikzoll Hefe beſteht ſchon aus 1152,000000 Pflänzchen und nun mag man ermeſſen, welche Zahlen die in einem einzigen Gährbottig oder gar bei ſämmtlicher Wein- und Biergährung nur eines Jah— res entſtehenden Individuen ausdrücken würden. Doch es ſei mir vergönnt zu der Betrachtung der Flora und Fauna des Meeres zurückzukehren. Wir haben ein reiches Bild aufgerollt, das uns die Fülle der Pflanzenwelt in den nordiſchen Meeren vor— führt. Verlaſſen wir jetzt dieſe unterfeeifchen Wälder mit ihren vege— tabiliſchen Rieſen, — die Macroeystis pyrifera z. B. erreicht in den antarctiſchen. Meeren die ungeheuere Länge von 500 bis 1500 Fuß — ſcheiden wir mit einem flüchtigen Blicke von den ſpielenden Wall— fiſchen, den Heerden der Seehunde, von den Myriaden der Kabljaue, Häringe, der Lachſe und Thunfiſche, wenden wir uns in die Regionen der heißern Sonne, mit erwartungsvollem Blicke, ob vielleicht hier, wie auf dem Lande, auch in den Tiefen des Oceans die Natur ih reicheren Schätze ausgebreitet habe. Wir tauchen nieder in den flüſſigen Kryſtall des Indiſchen Meeres und es eröffnet ſich uns der wunderbarſte Zauber aus der Märchenwelt unſerer Kinderträume. Die ſeltſam veräſtelten Gebüſche tragen lebendige Blumen. Dichte Maſſen von Mäandrinen und Aſträen contraſtiren mit den laub- und becherförmigen Ausbreitungen der Explanarien, mitmannigfach verzweigten Madreporen, die theils fingerförmige, theils ſtammartige Aeſte, theils die zierlichſten Verzweigungen beſitzen. Das Colorit iſt unübertrefflich, lebhaftes Grün ” > Das Meer und feine Bewohner, 167 wechſelt mit Braun oder Gelb, mit reichen Purpurſchatten vom blaſſen Rothbraun bis zum tiefſten Blau vermiſcht. Hellrothe, gelbe und pfirſichfarbene Nulliporen überkleiden die abgeſtorbenen Maſſen und ſind ſelbſt wieder mit den perlfarbnen Flächen der, dem zierlichſten Elfenbeinſchnitzwerk gleichenden Retiporen durchwebt. Daneben ſchwanken in gelb oder lilla die gitterartig durchbrochenen Fächer der Gorgonien; — den klaren Sand des Bodens bedecken in tauſend abentheuerlichen Geſtalten und Farbenſpielen die Seeigel und See— ſterne. Gleich Mooſen und Flechten haften die blattartigen Fluſtren und Escharen an den Zweigen der Korallen, wie ungeheuer Schild— läuſe kleben an ihren Stämmen die gelb und grün und purpurge— ſtreiften Patellen; — als rieſengroße Cactusblüthen in den bren— nendſten Farben ſtrahlend, breiten die Seeanemonen auf den Fel— ſenabſätzen ihre Kränze von Fühlern aus oder ſchmücken beſcheidner, bunten Ranunkeln gleich, ein flacheres Beet. Um die Blüthen der Korallenſträuche ſpielen die Colibri's des Meeres, kleine Fiſche, bald in rothen oder blauem metalliſchem Schimmer, bald mit goldnem Grün, bald im hellſten Silberglanz funkelnd. Leiſe ſchwanken, wie Geiſter der Tiefen, die zarten milchweißen oder bläulichen Glocken der Meduſen durch dieſe Zauberwelt. Hier jagen ſich die violett und goldgrün ſchillernde „Iſabelle,““ und die feuergelb, ſchwarz und zinnoberroth geſtreifte „Kokette,““) dort ſchießt ſchlangengleich, wie ein fünf Fuß langes Silberband, in roſigen und azurnen Lichtern ſchillernd, der „Bandfiſch“““) durch das Gebüſch. Dann kom— men fabelhafte Sepien, prangend in allen Farben des Regenbogens, die aber ohne beſtimmte Zeichnung bald entſtehen bald vergehen, bald auf die phantaſtiſchſte Weiſe durcheinanderlaufen, ſich ſuchen und wieder trennen. Und Alles das im ſchnellſten Wechſel und wunderbarſten Spiel von Licht und Schatten, das jeder Windhauch, jede leiſe Kräuſelung der Meeresfläche ändert. — Wenn nun der f * „ Holacanthes ciliaris. , Holacanthes tricolor. ae, Lepidopus argyreus. E. 168 Siebente Vorleſung. Tag ſich neigt und die Schatten der Nacht auch in die Tiefen greifen, da leuchtet dieſer phantaſtiſche Garten wieder auf in neuer Pracht. Millionen glühender Funken, mikroſkopiſch kleine Meduſen und Krebſe, tanzen wie Leuchtwürmchen durch das Dunkel, — in grün— lichem Phosphorlicht ſchwankt die am Tage zinnoberrothe Seefe— der,“) — in allen Winkeln leuchtet es auf; was vielleicht am Tage noch braun und unſcheinbar in dem allgemeinen Farbenglanze ver— ſchwand, das ſtrahlt jetzt im wunderbarſten Spiel des grünen, gel— ben und rothen Lichtes; und um die Wunder dieſer Zaubernacht zu vollenden, zieht ſanft leuchtend, eine 6 Fuß große Silberſcheibe, der „Mondfiſch““) durch das Gewimmel der kleinen funkelnden Sterne. Nicht die üppigſte Vegetation einer Tropenlandſchaft kann einen größeren Formenreichthum entwickeln, während ſie in Mannigfaltig— keit und Pracht der Farbenſpiele weit hinter dieſer Gartenlandſchaft zurückbleibt, die ſeltſamer Weiſe ausſchließlich von Thieren und nicht von Gewächſen gebildet wird. Denn, fo chargcteriſtiſch für den Meer resboden der gemäßigten Zone die üppige Entwicklung der Pflan— zenwelt iſt, ebenſo hervorſtechend iſt in den Tropengegenden der Reichthum und die Mannigfaltigkeit der Meeres: Fauna. Was die großen Claſſen der Fiſche und Stachelhäuter, der Quallen und Po— lypen, der Schnecken und Muſcheln Schönes, Wunderbares oder Abentheuerliches enthalten, das drängt ſich in dem warmen und kry— ſtallhellen Waſſer der tropiſchen Meere zuſammen, wurzelt im weißen Sande, bekleidet die ſchroffen Klippen, haftet, wo der Platz ſchon eingenommen, paraſitiſch an anderen, oder ſchwimmt in Höhe und Tiefe durch das Element, während die Pflanzenwelt der Maſſe nach bei weitem zurücktritt. Eigenthümlich iſt dabei, daß das auf dem Lande geltende Geſetz, nach welchem die Thierwelt, geeigneter ſich den äuſſeren Verhältniſſen anzubequemen, eine größere Verbreitung hat als die Pflanzenwelt, — denn die Polarmeere wimmeln noch von Walen, Robben, Seevögeln, Fiſchen und zahlloſen niedern Thieren, *) Veretillum cynomorium. * Orthagoriscus mola. * .Das Meer und feine Bewohner. 169 wenn fchon längſt jede Spur der Vegetation in dem ewigſtarrenden Eiſe verſchwunden iſt und ſelbſt das durchkältete Meer keinen Tang mehr hegt — daß, ſage ich, dieſes Geſetz auch für das Meer in der Richtung der Tiefe gilt, denn, wenn wir herabſteigen, verſchwindet das pflanzliche Leben viel früher als das animaliſche und ſelbſt aus Tiefen, die kein Lichtſtrahl mehr zu erreichen vermag, fördert das Senkblei wenigſtens noch lebende Infuſorien zu Tage. Es iſt nicht mein Beruf, den großen Reichthum dieſer thieriſchen Waſſerwelt, ihre merkwürdigen Eigenthümlichkeiten, ihre mannig— fachen Beziehungen zum Menſchen und ſeinem Haushalt weiter zu entwickeln, auch bliebe mir hier nicht die Zeit, da eine einzelne Gruppe noch unſere Aufmerkſamkeit auf ſich ziehen wird, welche mit den beſonderen Intereſſen des Botanikers in näherer Beziehung ſteht, indem ſie wenigſtens einen Antheil hat an der Bereitung des Bodens, auf welchem die Pflanzen wurzeln ſollen, ich meine die Korallen. So mag denn das ſkizzenhaft entworfene Bild genügen, den Reichthum mehr errathen zu laſſen als aufzuzeigen, mehr das Wunderbare anzudeuten, als in ſeiner ganzen Fülle und Macht vor— zuführen. Das Meer birgt ohne Zweifel die größten Wunder der Schöpfung und ſchon iſt vieles, was früher nur in den Sagen der Dichter zu leben ſchien, uns in naturhiſtoriſcher Wirklichkeit entgegen— getreten. Ein Zug noch mag hier erlaubt ſein, um dem Bilde ganz den Character des Feenmärchens aufzudrücken. Der einſame Wan— derer, den ſein Wiſſensdurſt an die Küſten Zeilons getrieben, um dort im klaren Elemente den unermeßlichen Reichthum des Geſchaffe— nen zu erforſchen, kehrt Abends mit den gewonnenen Schätzen in ſeine Behauſung zurück, da tönt vom nahen Ufer durch die zauberiſche Mondnacht eine melancholiſch-melodiſche Muſik wie Aeolsharfen, die in ihren wechſelnden zarten Klängen gleichwohl das Rauſchen der Brandung übertönt. Die alte Sage vom Sirenengeſange wird leben— dig. Es ſind die „ſingenden Muſcheln,“ welche vom Strand her ihre ſanftklagende Stimme vernehmen laffen. *) —. *) Athenaeum 1848, Nro. 1089, Seite 915. 170 Siebente Vorleſung. Doch ich kehre zurück zu der animaliſchen Landſchaft, welche ich mit einigen Strichen zu zeichnen verſucht habe. Unter den mannig— faltigen Gebilden, welche an der Compoſition Antheil haben, neh— men theils durch ihre Schönheit, theils durch ihre wunderbare Oe— konomie, theils durch den eigenthümlichen Einfluß den ſie auf die Bildung des feſten Landes ausüben, die Korallen vorzugsweiſe unſere Aufmerkſamkeit in Anſpruch. Schon den Griechen bekannt, und von ihnen „die Jungfrauen des Meeres“ (Kure halos, davon der Name Curalium, ſpäter Corallium, Koralle) genannt, ſind ſie von den älteſten Zeiten an Gegenſtand der Forſchung, aber auch ſeltſamer Fabeln oder wiſſenſchaftlicher Irrfahrten geweſen. Ueberraſcht von der Erſcheinung, daß die ſchön gefärbten, zierlichen Blumengeſtalten aus ihrem Elemente gehoben nur als unſcheinbare bräunliche Stein— klumpen in der Hand des Neugierigen liegen, hielt man lange die Ueberzeugung feſt, daß es wirkliche, zarte, weiche Seepflanzen ſeien, die aber an der Luft ſogleich verſteinerten, ein Irrthum, der durch die Verwechslung der wirklichen Steinkorallen, mit den weicheren, knorpeligen Arten noch mehr befeſtigt und erhalten wurde. Selbſt noch im vorigen Jahrhundert war der Glaube an ihre pflanzliche Natur ſo allgemein vorherrſchend, daß Reaumur (1727) den Na⸗ men Peyſſonels aus Schonung verſchweigen zu müſſen glaubte, als er deſſen Abhandlung über die Thiernatur der Korallen der Pariſer Akademie mittheilte, fürchtend daß eine ſo thörichte Anſicht genügen möchte den jungen aufſtrebenden Naturforſcher für immer um ſeinen wiſſenſchaftlichen Credit zu bringen. Erſt 1740 ſetzte der unſterbliche holländiſche Gelehrte Trembley die thieriſche Natur der Korallen und die Verwandtſchaft der Korallenthiere mit den übrigen Polypen außer allen Zweifel, und Ellis, Pallas und Cavolini erwei⸗ terten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unſere Kenntniß dieſer intereſſanten Thierklaſſe. Schon früher war man darauf aufmerkſam geworden, daß wenig⸗ ſtens ein Theil dieſer Thiere in ihrem Innern einen ſteinigen Kern aus— ſondere, welcher, aus kohlenſaurem Kalk gebildet, den mannigfach ge— Das Meer und feine Bewohner, 171 ſtalteten, bald flach polſterförmigen, bald veräſtelt baumförmigen Po— lypenſtock darſtellt. Derſelbe wird von einer ſchleimig-thieriſchen Sub— ſtanz wie von einer Haut überzogen, welche gleichſam die organiſche Verbindung zwiſchen den zahlreichen einzelnen Polypenthieren herſtellt, die auf dieſe Weiſe eine ganze und lebendig verbundene Familie aus— machen. Im Jahre 1702 machte ein wenig bekannter engliſcher Rei— ſender Strachan darauf aufmerkſam, daß die Korallen ſelbſt größere Felſenmaſſen zu bilden im Stande ſeien, aber erſt der geiſtreiche Be— gleiter Cooks, Johann Reinhold Forſter ſprach es 1780 be— ſtimmt aus, daß gar viele der Südſeeinſeln geradezu dem Bau der Korallenthiere ihr Daſein verdankten. Dieſe Anſicht wurde ſpäter von Flinders und gleichzeitig von Peron beſtätigt und weiter aus geführt. Man legte jenen kleinen Polypen das Verdienſt bei, vom Meeresboden auf, oft aus unergründlicher Tiefe ringförmige Mauern bis zur Oberfläche der See aufzuführen, um dann in dem ſelbſtgebau— ten vor der Brandung geſchützten, ſtillen Hafen ungeſtört zu leben, bis das Meer durch ſeine Wogen dieſen Raum mit Sand und Muſchel— ſtücken ausgefüllt, und angetriebene Baumſtämme, Samen und Vö— gel, von dem neugebildeten Lande Beſitz nehmend, die Erbauer und erſten Eigenthümer verdrängt hätten. Dieſe Lehre ſchien viel wahr— ſcheinliches für ſich zu haben und wurde beſonders begierig von den Geognoſten aufgegriffen, welche darin für manche Erſcheinungen des feſten Landes eine genügende Erklärung zu finden glaubten. In der That beſtehen oft ganze Bergzüge ausſchließlich aus Korallen, wie ſich z. B. ein ganzer Kranz ſolcher Korallenberge nur mit wenigen Unterbre— chungen um den Fuß des ganzen Thüringer Waldes herum zieht und namentlich in der Gegend von Pöſſneck in kühnen Klippen zu Tage tritt. Dieſes waren aber nur die erſten Anfänge einer langen Reihe der gründlichſten Unterſuchungen und geiſtreichſten Forſchungen zur Erklärung der mächtigen Korallenbildungen des ſtillen Oceans, welche erſt vor wenigen Jahren durch den genialen engliſchen Reiſenden und Zoologen Charles Darwin, wie es ſcheint, ihren endlichen richtigen Abſchluß gefunden haben. 172 Siebente Vorleſung. Es ſei mir erlaubt, ehe ich weiter in dieſe intereſſante Materie eingehe, eine kurze Schilderung der Korallenriffe und Inſeln der f Südſee voranzuſchicken. Nichts hat die Reiſenden von Cook bis auf unfere Zeit mehr in Erſtaunen geſetzt und ihren Scharfſinn in man nigfacher Richtung zur Thätigkeit angeregt als die ſogenannten La— guneninſeln oder die Atolle der Maledivensgruppe. Eine oft wenige hundert Schritt breite, wenige Fuß über dem Meere hervorragende kreisförmige Inſel, rings von der ungeſtümſten Brandung umtobt, umſchließt ein Baſſin von völlig ruhigem Waſſer. Nur wenige Pflan— zenarten, unter denen die Cocospalmen ſtets die überwiegenden ſind, bilden gleichſam einen grünen Kranz um das innere Becken. Das ſeichte, klare, ſtille Waſſer dieſer Lagunen, deren Grund faſt nur blendend weißer Sand iſt, erſcheint unter ſenkrechter Sonnenbeleuch— tung mit lebhaft grüner Farbe; die glänzende Fläche, oft mehr als eine Meile breit, wird ringsum von den dunkeln, faſt ſchwarzen ſchwellenden Waſſern des Oceans durch einen Streifen ſchneeweißer Brandung geſchieden, auf denen ſich die ſchlanken Zeichnungen und das friſche Grün der Palmen mit wunderbarer Schärfe hervorheben, über dem Allen lagert ſich das gleichförmig tiefe Azurblau des Him— melsgewölbes. Das Ganze macht den Eindruck majeſtätiſcher Größe und einfacher Erhabenheit. Noch wunderbarer ſind die Erſcheinungen großer kreisförmiger Brandungen, die eine ſtille Waſſerfläche ein— ſchließen, ohne daß auch nur der geringſte Streifen Landes über dem Waſſerſpiegel hervorragend die Grenze bildete, wie ſolche zuerſt von Cook im ſtillen Meer beobachtet wurden. Größere und ausgedehn— tere Korallenriffe mit ihrem Palmenkranze umgeben oft in meilen- weiter Entfernung eine Berginſel und der Reiſende hat hier am Fuße bewaldeter Gipfel um ſich die reichſte und üppigſte Tropenvegetation, vor ſich einen glatten Spiegel des klarſten Waſſers, begrenzt durch eine Palmenlinie und darüber hinaus die weiße Brandung und den endloſen Ocean. Dies ſind gerade die Elemente, welche Alle zum Entzücken hinreißen, denen vergönnt war, die Königin der Inſeln, das reizende Tahiti, oder die durch den Schiffbruch La Peyrouſ'es Das Meer und feine Bewohner. 175 fo traurig berühmte Inſel Vanikoro zu beſuchen. Andere In— ſeln haben dicht an ihrem Ufer einen ſchmalen Kranz von Korallen bänken, während wieder längs der größeren Küſten z. B. Auſtraliens in einer Entfernung von 5 — 10 Meilen mächtige Korallenriffe eine oft 300 Meilen lange Barre bilden. Und wiederum finden ſich andere Inſeln, auf denen ſich, gleichlaufend mit dem Uferrande, aber hoch über dem höchſten Waſſerſtand, hohe und breite Wälle von abgeſtor— benen Korallen finden. — Alle dieſe verſchiedenen Verhältniſſe muß derjenige in ein Bild zuſammenfaſſen, der es unternimmt die eigen- thümlichen Korallenbildungen des ſtillen und indiſchen Oceans er— klären zu wollen, denn ein Erklärungsverſuch muß nothwendig als mißlungen bezeichnet werden, welcher nur eine vereinzelte Erſcheinung herausgreifend alle übrigen als unverſtandene Thatſachen beſtehen läßt. Wie ſchon erwähnt ſind von allen dieſen Bildungen die Lagu— neninſeln bei weitem die merkwürdigſten und haben daher auch am meiſten die Aufmerkſamkeit auf ſich gezogen. Tauſende von In— ſeln, auf einem ausgedehnten Flächenraum der Südſee ausgebreitet, zeigen alle dieſelben Erſcheinungen; alle nur wenige Fuß über dem Meere erhaben, welches außerhalb eine unergründliche Tiefe zeigt, alle ringförmig ein Waſſerbecken einſchließend, alle mit Ausſchluß jedes andern Stoffes nur aus dem Bau noch lebender Korallen, aus den Bruchſtücken des von der Brandung zerſtörten gebildet und aus den von derſelben Gewalt zu Staub zermahlenen Stücken mit einem glänzend weißen Sande bedeckt. Hier iſt nichts als der kohlenſaure Kalk des Polypenſtocks als Bruchſtück oder Sand und der Indianer, der eine ſolche Inſel in Beſitz genommen, ſucht mit gieriger Haſt in dem Wurzelgeflecht eines von fernher angetriebenen Baumes nach einem zufällig darin verſtrickten härtern Stein, um ſeine Pfeile zu ſpitzen oder Feuer zu ſchlagen. — Dieſes Land, von Polypen unter Waſſer gebaut und nur durch die von den Wellen heraufgeſchleuder— ten Bruchſtücke bis über die Fluthmarke erhöht, muß von denſelben Wogen, denen es ſeine Entſtehung verdankt, auch bepflanzt, bevöl— kert werden. Die Welle trägt Samen, trägt ganze noch lebende 174 Siebente Vorleſung. Bäume heran, mit den letzteren auch wohl eine Eidechſe, einige In— ſecten; Waſſervögel mancher Art beleben den noch dürftigen erſt all- mälig mit Vegetation ſich deckenden Streifen Landes. Die Cocos— oder Keelingsinſel hat unter ihren 20 Pflanzen einige, die ihr von Java und Auſtralien zugeführt wurden, was aber nur dann möglich iſt wenn die javaniſchen Samen vom Nordweſt Mon— ſoon bis an die Küſte Auſtraliens getrieben und von hier in Beglei— tung auſtraliſcher Samen durch den Südoſtpaſſat an die Keelings— infeln gelangten, nachdem fie alſo eine Reife von 1800 bis 2400 englifchen Meilen auf den Wellen treibend zurückgelegt hatten. Die älteſten Reiſenden, welche nur dieſe merkwürdigen Lagunen— inſeln ins Auge faßten, glaubten, daß der ganze Bau aus den Tiefen des Meeres von den Korallenthieren aufgeführt ſei, eine Anſicht, die freilich ſogleich aufgegeben werden mußte, als man bemerkte, daß die Felſen bauenden Korallen nicht tiefer als etwa 50 Fuß unter dem Meeresſpiegel leben können. — Später meinte man beſſer durchzu— kommen mit der Annahme, daß die Korallen auf dem Kraterrande großer ſubmariner Vulkane ihren Bau aufführten. Man überſah hier die auffällige Unwahrſcheinlichkeit, daß die Südſee viele tauſende von untermeeriſchen Vulkanen beſitzen ſollte, die alle ganz genau von gleicher Höhe ſeien. Auch hatte man die übrigen Korallenriffe bei dieſem Erklärungsverſuch nicht berückſichtigt, auf welche die An— nahme ſolcher ſubmariner Kratere und Gebirgszüge durchaus unan- wendbar iſt, da ſich die Korallenriffe oft ununterbrochen in einer Länge von 10 — 20 Meilen fortziehen, während doch ein Gebirgs— kamm, welcher auch nur auf eine Viertelmeile eine gleiche Höhe hätte, ſonſt auf der ganzen Erde ohne Beiſpiel iſt. Erſt von Charles Darwin, welcher in den Jahren 1832 bis 1836 den Capt. Fitzroy auf ſeiner Reiſe um die Welt begleitete, wurden alle die erwähnten Thatſachen im Zuſammenhange aufge faßt und in eine erklärende Theorie verbunden. Vorzüglich wurde er dabei durch eine genauere Kenntniß des eigenthümlichen Lebens der Korallenthiere unterſtützt, welches ſich ihm, dem gründlich gebilde— Das Meer und feine Bewohner, 175 ten Zoologen, klarer als anderen nicht jo begünſtigten Reiſenden darſtellte. Die Grenze des Korallenwachsthums nach oben iſt durch den niedrigſten Waſſerſtand gegeben, da ſie von der Sonne und Luft getroffen augenblicklich abſterben. Sie bauen niemals in trübem, niemals in ruhi— gem Waſſer, ſondern wunderbarer Weiſe nur inmitten der heftigſten Brandung, ſo daß hier die Kraft des Lebendigen einen ſiegreichen Kampf mit der ſonſt die härteſten Felsmaſſen zerſtörenden Kraft der Wellen beſteht. Alle dieſe Eigenheiten erwägend, alle Verſchiedenheiten in der Bildung und im Vorkommen der Korallenriffe ſorgfältig ins Auge faſſend, kam nun Darwin zu dem überraſchenden Schluß, daß das weſentliche allen dieſen Erſcheinungen zu Grunde Liegende, nicht das Aufbauen der Korallen, ſondern vielmehr eine allmälige Hebung oder Senkung des Bodens ſei, auf welchem die Korallen ihren Bau zuerſt begonnen. Es iſt wirklich bewundernswürdig wie durch dieſe Annahme ſich ſo einfach alle wirklich vorkommenden Erſcheinungen aus einem und demſelben geologiſchen Phänomen ableiten laſſen. Denken wir uns eine Inſel im Gebiete der felſenbildenden Korallen— polypen, ſo werden dieſe ſich rings um dieſelbe herum feſtſetzen und ihren Bau beginnen und zwar in einer ſolchen Entfernung vom Ufer— rande, daß die durch die Wellenbewegung am Strande hervorge— brachte Trübung des Waſſers die fleißigen Thierchen nicht mehr ſtört. Haben dieſelben auf dieſe Weiſe bis zur Höhe des niedrigſten Waſſer— ſtandes eine Felſenbank um die Inſel herum aufgeführt, ſo können ſie höchſtens noch nach Außen in die Breite bauen. Nun aber werden — die Wogen ihre Macht geltend machen, manches Stück vom Korallenfelſen wird abgeriſſen und auf die Bank hinaufgeworfen, hier durch Zuſammenreiben zermalmt, durch den Staub und das Seewaſſer werden die Zwiſchenräume ausgefüllt und verkittet und ſo fort bis endlich die Bank ſo hoch aufgeworfen iſt, daß die Fluthwelle nicht mehr hinaufreicht. Hebt ſich nun die ganze Inſel, wie Ota— heite, durch vulkaniſche Kräfte langſam aus den Fluthen, ſo ſterben die Korallenthiere an der Luft ab, und die mittleren höheren Theile 176 Siebente Vorleſung. der Inſel ſind dann von einem Kranz von Korallenfelſen und Klip— pen umgeben, außerhalb welcher erſt der flachere Strand beginnt. Dies iſt genau der Zuſtand, in welchem ſich der Thüringer Wald befunden haben muß zu einer Zeit, als der größte Theil Deutſch— lands noch vom Meere bedeckt war, aus welchem nur der Oberharz, der Taunus, und einige andere Gebirgsſtöcke gleich dem Thüringer Wald als bergige Inſeln hervorragten. Weit mannigfaltiger aber werden die Bildungen wenn die In— ſel, nachdem ſie von einer Corallenbank umjäumt ift, ftatt ſich zu heben, ſich ſenkt (ſ. gegenüberſtehende Figur). Das Land iſt hier un— widerbringlich im Ocean verloren, nicht ſo das Korallenriff, denn ſo wie daſſelbe in die Fluth eintaucht, gewinnen die Polypen immer wieder Raum zum Höherbauen und die Fluthwellen heben die obere Fläche immer wieder durch aufgeworfene Bruchſtücke und Sand über den Waſſerſpiegel heraus. Sehr bald aber iſt dadurch die Bank weit von der immer kleiner werdenden Inſel entfernt, obwohl auch die Korallenriffe, weil von Außen immer die Wellen etwas abreißen und zerftören, jo wie fie höher wachſen, auch immer enger ſich zuſam— menziehen. Endlich iſt die letzte höchſte Spitze der Inſel in den Fluthen verſunken und es bleibt nichts als die ringförmige Korallen bank, welche ein gegen die Brandung und den Wellenſchlag ge— ſichertes Binnenwaſſer umſchließt. Tritt dann einmal eine Senkung ein, die zu ſchnell vor ſich geht als daß die bauenden Korallen mit ihrer Arbeit nachkommen könnten, ſo iſt dadurch ein kreisförmiges brandendes Riff unter Waſſer gegeben, wie fie Cook zuerſt ent- deckte. Alle auch die ſcheinbar unbedeutendſten Eigenheiten im Bau der Koralleninſeln laſſen ſich auf dieſe Weiſe vollſtändig erklären, ich müßte aber fürchten durch zu große Detallirung zu ermüden. Ich wende mich vielmehr zu denen, welche dieſe ganze Anſicht, daß ohne offenbare Vulkane Inſeln ſich langſam heben oder ſenken konnten, als abentheuerlich um ſo mehr verwerfen möchten, da es hier ſich keineswegs um eine einzelne kleine Inſel ſondern um ganze Gebiete der Südſee und des oſtindiſchen Meeres handelt, welche viele Das Meer und feine Bewohner. 177 2 — “> ko) EN Eu lo; um , ELLI, N = 1 — 8 * FA — mm TR — A Se Atoll oder Laguneninſel als Korallenbau über einer ganz verſunkenen Inſel. 1. Felſen der Inſel. 2. Korallenbildung. 3. Sand aus zerftörten Korallen und Muſcheln. Schleiden, Pflanze. 12 178 Siebente Vorleſung. tauſend Quadratmeilen umfaſſen. Wir ſind gewohnt das Land als das Feſte, das Meer als das Bewegliche anzuſehen und gleichwohl iſt die Sache in den Augen des Naturforſchers gerade umgekehrt. Das Meer behält ſeine gleiche mittlere Höhe unverändert bei, während das Land gegen dieſes unveränderte Niveau ſeine Lage vielfach ver— ändert. Darwin hat durch ſeine Beobachtungen nachgewieſen, daß in der Südſee große Streifen neben einander liegen, auf denen ab— wechſelnd Hebung und Senkung Statt findet. In eine ſolche Region des Sinkens gehört auch Neuholland. Dieſer ſeltſame Welttheil, weit entfernt ein neues junges Land zu ſein, iſt vielmehr mit ſeiner wunderlichen faft aller Verwandtſchaft entbehrenden Flora, mit ſeiner nicht minder abweichenden, in mannigfacher Beziehung lebhaft an längſt vergangene Bildungsperioden der Erde erinnernden Thier— welt ein altersſchwacher abſterbender Greis, den die Fluthen allmälig begraben. Daß bei vulkaniſchen Ausbrüchen neue Berge und Inſeln, d. h. Berge des Meeresbodens, entſtehen können, iſt zu bekannt als daß es nöthig wäre, an die unzähligen Beiſpiele von den trözeniſchen Hügeln bei Methone bis zum Jorullo in Mexico, von den neuen In— ſeln bei Santorin bis zur neuen Inſel bei Umnak unter den Aleuten zu erinnern. Daß bei heftigen Ausbrüchen und Erdbeben ganze Landſtriche bedeutend gehoben werden, iſt durch die genaueſten Beobachtungen in Chile feſtgeſtellt und ebenfalls oft genug ſchon beſprochen. Die durch eine ſolche Hebung, während des Erdbebens vom 20. Februar 1835, veränderte Beſchaffenheit des Meeresgrundes veranlaßte den Untergang der von Capitain Fitzroy befehligten Fregatte „Challenger,“ in Folge deſſen der Capitain vor ein Kriegsgericht geſtellt, aber natürlich freigeſprochen wurde. Bei weitem unglaublicher als jene Umänderungen, bei denen wir ſo mächtige Kräfte ins Spiel treten ſahen, erſcheint es dagegen, daß ohne alle Krämpfe der Erde, ohne daß irgend eine auffallende Erſcheinung den Menſchen aufmerkſam machte, ganze Landſtriche ſich erheben oder verſinken können, und gleichwohl iſt es un— * . Das Meer und feine Bewohner. 179 beſtreitbar wahr und trifft vielleicht den größten Theil der gan— zen Erde. Begreiflicher Weiſe iſt es nur ſelten möglich, ſolche unmerkliche Veränderungen im Binnenlande nachzuweiſen und es find mir nur zwei Andeutungen der Art bekannt. Die Eine rührt von Bouſſingault her, der aus ſeinen Meſſungen der Schneelinie an den Cordilleren von Bogota, verglichen mit den 50 Jahre früher von Alexander v. Humboldt angeſtellten, ſchließt, daß dieſe Berge ſich ſeit jener Zeit geſenkt haben müßten, weil die Schneelinie an ihnen ohne erkenn— bare klimatiſche Urſache weiter hinaufgerückt ſei. Die andere Nach— richt iſt eine Sage, welche in der Umgebung von Jena lebt, dahin gehend, daß man den Jenaer Stadtthurm jetzt von entfernten Punkten aus wahrnehme, von wo aus derſelbe noch vor 80 Jahren wegen der zwiſchenliegenden Berge nicht ſichtbar geweſen ſei. Wahr— ſcheinlicher iſt indeß in dieſem letzten Falle, daß das Wegſchlagen ei— nes dazwiſchen liegenden Gehölzes, des ſogenannten Schläger— hölzchen auf dem Landgrafen, dieſe Erſcheinung veranlaßt hat. Leicht laſſen ſich indeß ſolche Hebungen und Senkungen des Landes an den Küſten durch das ſich nach hydroſtatiſchen Geſetzen immer gleichbleibende Niveau des Meeres nachweiſen. — Schon zu Celſius Zeiten war es in der Ueberzeugung der Bewohner der Weſt⸗ und Oſtküſte Schwedens eine feſtgeſtellte Thatſache, daß ſich das Waſſer von dem Lande zurückziehe. Celſius ſelbſt ſtellte aus— führliche Nachforſchungen deshalb an und die Sache wurde dadurch außer allen Zweifel geſtellt, obwohl die richtige Erklärung, daß ſich nämlich ganz Schweden, mit Ausnahme von Schonen ſüdwärts von Sölvitsburg, langſam aus dem Meere emporhebe, erſt durch Leo— pold von Buch ausgeſprochen wurde. Selbſt das Maas dieſer Erhebung wurde ſchon von Celſius ziemlich genau auf 3 Fuß im Jahrhundert feſtgeſtellt, ſo daß man vorausſichtlich in einigen tau— ſend Jahren von Stockholm nach Abo trocknen Fußes wird hinüber: gehen können. Dieſe Erhebung wird von Norden nach Süden im— mer geringer; Schonen und Bornholmſtehen feſt, darüber hinaus 12* * 180 Siebente Vorleſung. dagegen in Jütland hat man entſchiedene Beweiſe vom allmäligen Sinken des Landes, und auch auf die Oſtſeeküſte von Preußen ſcheint ſich dieſer allmälige Untergang auszudehnen. Die erwähnte eigenthümliche Erſcheinung iſt indeß keineswegs auf dieſe Gegenden allein beſchränkt. Während der berühmte eng— liſche Geologe Lyell ähnliche Regionen der allmäligen Hebung und Senkung an der Oſtküſte Amerikas nachgewieſen hat, ſind gleiche Thatſachen auch für das übrige Europa zum Theil lange bekannt, nur nicht immer im Zuſammenhange aufgefaßt und gewürdigt. Faſt die ganze Weſtküſte von Schottland und England zeigt oft bis zu ei⸗ ner Höhe von 500 Fuß, ja bei Moel Tryfane in Caernar— vonſhire ſelbſt von 1000 Fuß über dem Meeresſpiegel reihenweiſe übereinanderſtehende Küſtenbänke, welche dieſelben Muſcheln enthal— ten, die noch jetzt in dem benachbarten Meere leben. Aller angewen— deten Mühe ungeachtet wird der ehemals vortreffliche Hafen von Hithe in Kent gegenwärtig vom Vieh beweidet, ſtatt von Schif— fen befahren. Dieſe offenbaren Beweiſe allmäliger Hebung des Lan— des, die leicht durch unzählige Beiſpiele vermehrt werden könnten, verſchwinden aber gegen die Südſpitze von England völlig und gehen wir weiter nach Süden hinab ſo treten uns die entgegengeſetzten Er— ſcheinungen deutlich vor Augen. So wie in der Südſee die Koral- lenthiere, ſo kämpfen an den nördlichen Küſten von Deutſchland und Holland die Menſchen, um ihren beſtändig ſinkenden Boden gegen die eindringenden Fluthen durch Dämme, die ſie fortwährend erhöhen müſſen, zu erhalten. Bis jetzt freilich nicht mit dem glücklichſten Erfolg. Das ehemals ſo ausgedehnte Oſtfriesland wurde 1240 theilweiſe ein Raub des Meeres, welches ein damals noch 6 Stunden im Um— fang haltendes Stück, die InſelNordſtrand, davon losriß. Am 11. October 1638 wurde auch dieſe zum Theil verſchlungen und es blie— ben nur die ganz kleinen Inſeln, das jetzige Nordſtrand und Pel— worm, übrig. Aehnliches gilt von der ganzen Inſelreihe, welche ſich längs der Küſte der Nordſee hinzieht, die immer mehr und mehr zerſtückelt und vernichtet wird. 1277 entſtand durch Einbruch des Das Meer und feine Bewegungen. 181 Meeres der Dollart und der Zuyderſee und 1421 der Bies— boſch. 1532 unterlag der öſtliche Theil von Süd beveland mit den Städten Borſelen und Remersvalen und zahlreichen Dörfern den vordringenden Gewäſſern, ſo wie 1658 die Inſel Oriſant nord— öſtlich von Nordbeveland. An der ganzen jütiſchen Oſtküſte zeigen ſubmarine Wälder und ſichtbar cultivirter Boden unter dem Waſſer das Sinken des Landes an. — Aber neben dieſem im Sinken begriffenen Streifen giebt uns die Weſtküſte von Frankreich wieder ein anderes Bild. In Bourgneuf bei La Rochelle ſcheiterte 1752 ein eng— liſches Schiff auf einer Auſternbank, und dieſes Wrack liegt jetzt mit— ten in einem bebauten Felde 15 Fuß über dem Meeresſpiegel. Die Gemeinde dieſes Orts hat allein in den letzten 25 Jahren dem Meere über 2000 Morgen bauwürdiges Land abgewonnen. Sonſt landeten die Holländer ihr Salz in Port Bahaud, welches jetzt 1000 Fuß vom Meere entfernt liegt. Olonne, ehemals eine Inſel, iſt jetzt durch Wieſen und einige Moräſte mit dem Lande verbunden. Aehnliches findet bei Marennes und auf Oleron Anwendung und wenn wir dieſe Linie fortſetzen treffen wir auf gleiche Erſcheinungen am mittel— ländiſchen Meere. 1248 ſchiffte ſich Ludwig der Heilige in dem da— mals berühmten Hafen von Aigues Mortes ein, der jetzt eine Stunde vom Meere liegt. Gehen wir weiter nach Italien, ſo ließen ſich von Rom und Neapel intereſſante Beiſpiele aufführen. Hier ſteht beſonders der berühmte Tempel des Serap is bei Puzzuoli, deſſen 3 Säulen in bedeutender Höhe einen breiten Streifen zeigen, der von Bohrmuſcheln angefreſſen iſt, ein unwiderſprechliches Zeug— niß von einer früheren Senkung bis zu dieſer Tiefe, während er ſich erſt ſpäter wieder gehoben hat. Göthe hat in feinen naturwiſſen— ſchaftlichen Studien auch dieſen Tempel zum Gegenſtande ſeiner Be— obachtungen gemacht; aber leider war ihm ſein wiſſenſchaftlicher Ge— nius nicht ſo hold wie ſeine Muſe und er hat hier wie in ſo manchen anderen Fällen bedeutend fehlgegriffen. Gegenwärtig zeigt der vom Waſſer überfluthete Tempelgrund ein abermaliges Sinken des Bo— dens an und nicht fern davon erzählt ein alter Mönch bei den Capu— 182 Siebente Vorleſung. cinern, daß er in ſeiner Jugend noch im Weingarten des Kloſters Trauben gepflückt, wo jetzt an derſelben Stelle ſich luſtig die Fiſcher— boote ſchaukeln. Doch ich will dieſe Gegenden verlaſſen, in denen die Bewegungen des Landes entſchieden mit vulkaniſchen Erſcheinungen zuſammenhängen und wende mich lieber zum adriatiſchen Meere. Bekannt iſt, welche unermeßliche Mengen von Schlamm und Gerölle der Po jährlich in den untern Winkel des Adriatiſchen Mee— res ſchleudert und eine Abnahme des Waſſers, eine Erhöhung des Meeresbodens wäre hier eine ſehr natürliche Erſcheinung. Sie fin— det auch in der That in gewiſſer Weiſe Statt; aber um ſo mehr muß es uns überraſchen, wenn uns die unwiderleglichſten Beweiſe vor— liegen, daß das ganze Land nichts deſto weniger ſinkt. Allmälig zwar, aber unaufhaltſam taucht die alte ehrwürdige Dogenſtadt Venedig in den Abgrund des Meeres. Schon als 1722 das Pflaſter des St. Marcusplatzes um 1½ Fuß erhöht werden mußte, fand man beim Aufreißen des Bodens noch ein 5 Fuß tieferes Pflaſter, welches damals etwa 3 bis 3½ Fuß unter dem Waſſerſpiegel lag und jetzt läuft ſchon wieder jedes Hochwaſſer in die Magazine und Kirchen dieſes Platzes hinein. Nicht minder deutliche Beweiſe giebt Trieſt. Bei Zara liegen die ſchönſten Moſaikpflaſter unter dem Waſ— ſer. Auf der Südſpitze der Inſel Vragnitza erblickt man bei ruhi— ger See eine ganze Reihe geordnet neben einander ſtehender Stein— ſarkophage. Dieſelben Erſcheinungen können wir längſt der ganzen Küſte von Dalmatien verfolgen. Kaum hatte der Engländer Wilde durch äußerſt ſorgfältige Beobachtungen an Ruinen und durch Vergleichung geſchichtlicher Angaben nachgewieſen, daß die ganze Küſte Kleinaſiens von Tyrus bis Alexandrien ſeit den Zeiten der Römer langſam in das Meer verſinke, ſo gab Murchiſon in ſeiner Geologie von Ruß— land die ſicherſten Thatſachen dafür an die Hand, daß das nördliche Rußland und Sibirien, ſeit der Zeit als in jenen Ländern die mächti— gen Mam mouths lebendig begraben wurden, ſich ununterbrochen und ſtetig aus den Fluthen des Eismeeres hervorheben und noch Das Meer und feine Bewohner, 185 ganz vor Kurzem hat Dr. Pingel aus Kopenhagen das allmälige Eintauchen Grönlands in das Meer durch zahlreiche Beobachtungen nachgewieſen. Kurz, wohin ſich die durch Celſius und Leopold von Buch aufmerkſam gemachten Geognoſten jetzt mit ihren For— ſchungen wenden, zeigt ſich ein Aufſteigen oder Verſinken des Lan— des und das Studium der Geologie läßt uns erkennen, daß dieſe Crſcheinungen durchaus nichts Neues in der Geſchichte unſeres Pla— neten ſind, ſondern daß wenigſtens vieler Hunderttauſende von Jah— ren rückwärts daſſelbe Spiel die Geographie der Erde beſtimmt und verändert hat. Wir mögen den Stundenzeiger einer kleinen Taſchenuhr mit noch ſo aufmerkſamen Augen betrachten, wir werden doch nicht im Stande ſein, ſein Fortrücken wahrzunehmen, weil dazu erforderlich iſt, daß in einer gewiſſen Zeit ein beſtimmter nicht zu kleiner Raum durch— laufen werde. Gleichwohl iſt die Bewegung des Stundenzeigers nicht gewiſſer und wirklicher als die Bewegung des Bodens unter unſeren Füßen, welche wir ebenfalls nicht unmittelbar beobachten können, weil dieſelbe zu langſam erfolgt, um in die Augen zu fallen. Nach der von Menſchen geſchriebenen Geſchichte ſpielt ſich das Drama der menſchlichen Entwicklung auf dem Boden des ſogenann— ten feſten Landes ab. Wie contraſtirt gegen die angeblich unverän— derliche geographiſche Grundlage die Beweglichkeit und Rührigkeit des Menſchengeſchlechtes; Berg und Thal bleiben dieſelben, aber welcher Veränderungen und Entwicklungen iſt nicht die Menſchheit fähig und wie groß ſind nicht die Fortſchritte, welche ſie ſchon zu— rückgelegt hat. — Vielleicht, vielleicht auch nicht! — Es kommt am Ende nur auf den Standpunkt an, von welchem wir die Dinge be— trachten. — Durch die Anwendung der Dampfkraft iſt es dem Men— ſchen möglich geworden, gewiſſermaaßen über dem Raume erhaben zu ſein und die Anſchauung zweier ſehr entfernter Orte in einer ver— hältnißmäßig kurzen Zeit mit einander zu verknüpfen. Nach den Verſuchen der Ingenieurs auf der great western rail road in Eng— land würde es möglich ſein, auf gradem Wege in 2 und einer halben * 184 Siebente Vorleſung. Das Meer und ſeine Bewohner. Stunde London mit Paris, in anderthalb Stunden Hamburg mit Berlin zu vergleichen.! Nehmen wir einmal an, es wäre dem Menſchen vergönnt, ſich in gleicher Weiſe von der Zeit unabhängig zu machen, was Jahrhunderte auseinander liegt in eine Auffaſſung zu verknüpfen und die Geſchichte unſerer Erde mit dem Auge Deſſen anzuſehen, vor dem Jahrtauſende ein flüchtiger Augenblick ſind, — wie anders wäre dann der Anblick! Das ſcheinbar Feſte und Bleibende würde mit dem ſo beweglich und veränderlich Scheinenden die Rol— len tauſchen. Wir ſähen das Land dem ſturmbewegten Meere gleich auf und abwogen, hier erſcheinen, um im nächſten Augenblick wieder in die Fluthen zu verſinken; hier Berge ſich aufthürmend, dann zer— fallend und eine Secunde darauf wieder zurückgewaſchen in das gleichgültig unveränderliche Meer. — Und die Menſchheit? Durch alle vorüberrauſchende Jahrtauſende zeigte ſie uns daſſelbe ſtehende Bild. Auf Gaſſen und Plätzen, in Tempeln und Kirchen iſt die ſchweigende Menge verſammelt um Einen großen Lehrer, der von Chriſtus auf Luther, von Cong-fu-tſe auf Kant diefel- ben Lehren der Weisheit denſelben tauben Ohren predigt. — So war es, ſo wird es ſein! Nur die Natur hat eine lebendige Ge— ſchichte des Werdens. Die Menſchheit ſteht ſtill und in jedem Ein— zelnen beginnt der alte tauſendjährige Kampf zwiſchen Neigung und Pflicht immer wieder von Vorne. ö Achte Vorlesung. Wovon lebt der Menſch? Erſte Beantwortung. Nicht irdiſch iſt ve Thoren Trank noch Speiſe. Fauſt. ar “ 1 3 = 7 2 Ri & . 1 7 SS. * r a BE 1 U * N 1 * 4 - * * 4 1 8 Ein. ae * te * Kr u \ — K Er A hen * DRITTER * 5 70 ” . 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Da kommt aber der Naturforſcher, ein unbequemer Menſch, der keine Autorität anerkennen will, an Nichts glaubt, als was er mit Händen greifen kann, und ſpricht: „Ihr närriſchen Leute, der Menſch kann allerdings von der Luft leben, ja, er lebt allein von Luft und von gar nichts Anderem.“ Das ſcheint nun dem Theologen eine gar. anmaßliche Rede, er mahnt zürnend: „Menſch, bedenke dein Ende, du biſt vomStaube und mußt einſt wieder zu Staub werden.“ — O der Thorheit“! lacht der Naturforſcher, „das wäre eine ſeltſame Ver— wandlung der Stoffe; aus der Luft ſtammen wir und in die Luft kehren wir bei unſerer endlichen Auflöſung wieder zurück.“ Das ärgert nun auch den Moraliſten und er denkt, es könne wohl gar der Vorwurf: „luftiger Patron oder Windbeutel“ noch einmal zum all— 188 Achte Vorleſung. gemeinen Ehrentitel aller Menſchen erhoben werden. Nun wird der Naturforſcher bedenklich. Im Grunde möchte er es denn doch ungern mit all dieſen frommen Herren verderben. Die Paradore iſt aber einmal ausgeſprochen und er mag zuſehen, wie er ſie rechtfertigt. Wovon lebt der Menſch eigentlich? Die Antwort lautet wohl ſehr verſchieden. Der Gaucho, der mit fabelhafter Gewandtheit ſein halbwildes Pferd in den weiten Pampas von Buenos-Ayres tum— melt, den Laſſo oder die Bolas ſchwingt, um den Strauß, das Gua— naco oder den wilden Stier zu fangen, verzehrt täglich 10 bis 12 Pfund Fleiſch und ſieht es als einen hohen Feſttag an, wenn einmal in irgend einer Hacienda ihm ein Stückchen Kürbis zur Abwechſe— lung geboten wird. Das Wort Brod ſteht überall nicht in ſeinem Wörterbuche. Im fröhlichen Leichtſinn dagegen genießt nach mühe— voller Arbeit der Irlän der fein „potatoes and point“, er, der es nicht laſſen kann, ſelbſt in dem Namen, den er ſeinem kärglichen Mahle giebt, noch Poſſen zu treiben. Fleiſch iſt ihm ein fremder Gedanke und glücklich ſchon der, dem es gelang, viermal im Jahre zur Würze der mehligen Knolle einen Hering aufzutreiben. Der Jä— ger der Prärieen hat mit ſichrer Kugel den Biſon niedergeworfen und der ſaftige, zart mit Fett durchwachſene Höcker deſſelben, zwi⸗ ſchen heißen Steinen geröſtet, iſt ihm ein durch nichts zu erſetzender Leckerbiſſen; derweile trägt zierlich auf weiße Stäbe gereiht der in⸗ duſtrielle Chineſe ſeine ſorgfältig gemäſteten Ratten zu Markt, ſicher, unter den Feinſchmeckern von Peking ſeine gut zahlenden Käufer zu finden, und in der heißen, rauchigen Hütte, unter Schnee und Eis faſt vergraben, verzehrt der Grönländer feinen Speck, den er eben, ju⸗ belnd über den köſtlichen Fang, von einem geſtrandeten Wallfiſche abge⸗ hauen. Hier ſaugt der ſchwarze Sclav am Zuckerrohr und ißt feine Banane dazu, dort füllt der africaniſche Kaufmann ſein Säck— chen mit der ſüßen Dattel als alleiniger Nahrung für die wochenlange Wüſtenreiſe, und dort ſtopft ſich der Siameſe mit Mengen von Reis, vor denen ein Europäer zurückſchrecken würde. Und wo wir hinan— treten auf der bewohnten Erde und das Gaſtrecht begehren, faſt auf Wovon lebt der Menſch? 189 jedem kleinen Flecke, wird uns eine andere Speiſe vorgeſetzt und das „tägliche Brod“ in anderer Form geboten. Aber, dürfen wir fragen, iſt denn der Menſch wirklich ein ſo bewegliches Weſen, daß er aus den verſchiedenartigſten Stoffen doch auf gleiche Weiſe das ſichtbare Haus ſeines Geiſtes aufbauen kann, oder enthalten vielleicht alle jene ſo verſchiedenartigen Lebensmittel einen oder wenige gleiche Stoffe, die eigentlich dem Menſchen ſeine Speiſe bieten? Und allerdings findet das Letzte Statt. „Vier Elemente, Innig geſellt, Bilden das Leben, B auen die Welt.“ Alles was uns umgiebt, iſt aus ſehr wenigen, etwa 53 Grund— ſtoffen oder Elementen zuſammengeſetzt, welche die Chemie nach und nach entdeckt hat. Aber von dieſen ſind es beſonders vier, welche faſt allein weſentlichen Antheil nehmen an der Zuſammenſetzung alles Deſ— fen, was auf Erden organifch, lebendig heißt: Stickſt off und Sauer: ft off bilden die beiden wichtigſten Beſtandtheile der reinen atmoſphäri— ſchen Luft, Sauerſtoff und Waſſerſtoff find die beiden Elemente, aus deren Verbindung das Waſſer entſteht, Kohlenſt off und Sauer— ft off find es, deren Zuſammenſetzung zu Kohlenſäure (fog. firer Luft) die Grotta del cane zu Neapel und die Dunſthöhle zu Pyrmont zur Fol— terkammer der armen Hunde macht, endlich Stickſtoff und Waſſer— ſtoff treten zu Ammoniak, ſog. Salmiakgeiſt zuſammen, eine Luftart, welche in großen Mengen den Eſſen des unterirdiſchen Feuers, den Vulcanen, entſtrömt — hier haben wir die vier Elemente, den Kohlen— ſtoff, den Waſſerſtoff, Sauerſtoffund Stickſtoff, welche in ihren Verbindungen alle diejenigen Subſtanzen bilden, aus denen Pflanzen und Thiere beſtehen; von ihnen find Waſſerſtoff, Sauerſtoff und Stickſtoff Luftarten oder Gaſe, der Kohlenſtoff aber ein feſter Körper, den wir kryſtalliſirt Diamant nennen. Zugleich nennen wir hiermit aber auch die wichtigſten und am Allgemeinſten in der Natur verbreiteten Verbindungen dieſer Elemente, nämlich das gewöhnlich flüſſige Waſſer, welches aber auch in großer Menge als Dunſt in 190 | Achte Vorleſung. der Luft enthalten iſt, ferner Kohlenſäure und Ammoniak, welche ſich beide nur als Gaſe in der Atmoſphäre finden. Um die Betrachtung dieſer drei Verbindungen, jener vier Elemente dreht ſich die ganze Betrachtung des Thier- und Pflanzenlebens. Unſere Atmoſphäre iſt aus etwa % Stickſtoff und / Sauer— ſtoff gemengt, dazu kommen Kohlenſäure etwa 2000 und Ammoniaf- gas in noch nicht genau beſtimmten Mengen. Seit man den Sauer— ſtoff durch Prieſtley kennen und ſeine Bedeutung beim Athmen hatte verſtehen lernen, glaubte man die Güte der Luft nach ihrem Antheile an Sauerſtoff beurtheilen zu können. Es entſtand eine eigene Wiſſen— ſchaft, die Eudiometrie, die hauptſächlich auf Ausmittelung des Verhältniſſes von Sauerſtoff und Stickſtoff in der Luft gerichtet war; nach und nach haben hierbei die Methoden größere Schärfe und Ge— nauigkeit gewonnen und man hat jo gefunden, daß bis auf Tauſend— theile die Luft überall, wo man ſie auch unterſucht, ganz gleich zu— ſammengeſetzt gefunden wird. Sehr voreilig hat man aber von dieſer conſtanten Zuſammenſetzung der Atmoſphäre Folgerungen in Bezug auf den Lebensproceß der Pflanzen und Thiere abgeleitet. Unſere ganze Atmoſphäre enthält nämlich nach E. Schmid's Berechnung ohnge— fähr 2,551,586 Bill. Pfd. Sauerſtoff, der jährliche Verbrauch deſſel— ben durch das Athmen aller Menſchen und Thiere und durch ſämmtliche Verbrennungsproceſſe beträgt etwa 2¼ Bill. Pfd., alſo in 100 Jah: ren 220 Bill. Pfd. oder noch kein Zehntauſendtheil. Eine Verminde— rung um eine ſo geringe Größe würden unſere Inſtrumente aber ſelbſt dann noch nicht anzeigen, wenn ſie auch ſchon ſeit Jahrhunderten eben— ſo genau gearbeitet und angewendet worden wären als gegenwärtig. Eine bei Weitem größere Genauigkeit laſſen nun unſere Methoden zur Beſtimmung des Kohlenſäuregehalts der Luft zu und deshalb J ſtellt man eine weit ſicherere Berechnung (wie ſich ſpäter ergeben wird, für dieſelben Folgerungen anwendbar) ſo: Beim Athmen haucht der Menſch für jeden Cubik-Zoll Sauerſtoff, den er aufnimmt, einen Cubik-Zoll Kohlenſäure aus und ganz derſelbe Tauſch findet bei den Verbrennungsproceſſen Statt. Nach den obigen Annahmen Wovon lebt der Menſch? 191 müßten alſo im Verlauf von 5000 Jahren ungefähr 15,000 Billio⸗ nen Pfund Kohlenſäure in die Luft gehaucht ſein, wenn wir die großen Quantitäten, die den Vulcanen alljährlich entſtrömen, noch ganz unberückſichtigt laſſen. Es müßte folglich die Kohlenſäure in der Luft ſich zum Sauerſtoff wie 1: 200 verhalten, während ſie in der That doch nur die Hälfte oder wenn wir die Ausſtrömungen der Vulkane mit einer gleichen Menge in Anſchlag bringen, den vierten Theil davon ausmacht. Es ergiebt ſich daraus, daß es irgendwo einen Proceß geben muß, durch welchen der Atmoſphäre die Kohlen— ſäure wieder entzogen und in andere Verbindungen übergeführt wird. Der Sauerſtoff hat die Eigenſchaft, ſich leicht mit anderen Stof— fen, beſonders mit Kohlenſtoff und Waſſerſtoff zu verbinden, ein Vorgang, den der Chemiker Verbrennen nennt, wenn auch nicht gerade Lichterſcheinungen dabei Statt finden; bei welchem aber ſtets eine im Verhältniß zum verbrauchten Sauerſtoffe ganz beſtimmte Menge von Wärme entbunden wird. Der Stickſtoff dagegen hat nur ſehr geringe Verwandtſchaft zu anderen Stoffen, er verbrennt faſt gar nicht, aber verbindet ſich leicht mit dem Waſſerſtoffe zu Ammoniak. Die vier genannten Elemente bilden nun durch ihre Verbindun— gen unter einander zahlreiche Stoffe, aber für die organiſche Welt haben nur zwei Reihen eine durchgreifendere Bedeutung. Die eine Reihe umfaßt Stoffe, die aus allen vier Elementen zuſammengeſetzt ſind. Hierher gehören Eiweiß, Faſerſtoff, Käſeſtoff und Leim. Aus dieſen Stoffen iſt der ganze thieriſche Körper gebildet, und wenn ſie von demſelben getrennt, vom Leben verlaſſen werden, gehen ſie alle in kurzer Zeit durch Verweſung in Waſſer, Ammoniak und Kohlen— ſäure über, welche ſich in der Luft verbreiten. Die zweite Reihe enthält dagegen Stoffe, welche ſtickſtofffrei ſind, nämlich Gummi, Zucker, Stärkemehl, die daraus bereiteten Getränke, wie Spiritus, Wein, Bier und endlich die Fettarten. Dieſe gehen ſämmtlich nur durch den thieriſchen Körper durch, indem ihr Kohlenſtoff und Waſſerſtoff durch den beim Athmen aufgenommenen Sauerſtoff verbrannt und als Kohlenſäure und Waſſer wieder ausgehaucht werden. Durch dieſen 192 Achte Vorleſung. langſam, aber unausgeſetzt fortgehenden Verbrennungsproceß wird die zum Leben unentbehrliche Wärme erhalten. Nun erfahren wir aber durch die glänzenden Entdeckungen der neueren Chemie und Phyſtologie, daß der thieriſche Körper unfähig iſt, die zu ſeiner Aus— bildung und Erhaltung durchaus nothwendigen Stoffe: Eiweiß, Faſerſtoff ꝛc. aus den Elementen zuſammenzuſetzen, oder aus anderen Stoffen mit Ausnahme des Käfeftoffes zu bilden, daß das Thier viel— mehr dieſe Stoffe ſchon fertig gebildet aufnehmen muß, um ſie zur ährung verwenden, oder zum Behufe der Knochenbildung in Leim umwandeln zu können. Eiweiß, Faſerſtoff und Käſeſtoff werden daher mit Recht von Liebig ausſchließlich Nahrungsmittel genannt, ſie können durch keine anderen Stoffe erſetzt werden, bei ihrer völligen Ausſchließung geht der Körper rettungslos dem Hungertode entgegen. Daneben müſſen aber auch ſtickſtofffreie Beſtandtheile vorhanden ſeyn, gleichſam als Brennmaterial auf dem Herde des organiſchen Lebens, und dieſe Stoffe, die man im gemeinen Leben auch Nahrungsmittel nennt, bezeichnet Liebig treffend mit dem Namen Reſpirationsmittel. Vergleichen wir nun mit dieſen Anforderungen, welche der thieriſche Körper in Bezug auf ſeine Erhaltung macht, den Gehalt der Pflan— zen, welche Menſchen und Thieren als Nahrungsmittel dienen, ſo finden wir in allen Pflanzen, in allen Organen derſelben, eine bald größere bald geringere Menge Eiweiß im Safte aufgelöſt. In den unſchätzbaren Geſchenken der Ceres, in den Körnern der Getrei— dearten, kommt bald mehr, bald weniger von einem Stoffe vor, den man früher als Kleber bezeichnete. Liebig und Mulder haben nachgewieſen, daß derſelbe einem Gemenge von Leim und thieriſchem Faſerſtoffe durchaus gleich ſey. In den Hülſenfrüchten entdeckte die frühere Chemie eine Subſtanz, welche man nach der Pflanzenfamilie, in welcher ſie ſich vorfand, nach den Leguminoſen, Legumin nannte, Jetzt wiſſen wir aus neueren Unterſuchungen, daß dieſes Legumin durchaus in Nichts vom thieriſchen Käſeſtoffe verſchieden iſt. Legu— min und Kleber oder Käſeſtoff und Faſerſtoff kommen in geringer Menge wahrſcheinlich ebenfalls in den meiſten Pflanzenzellen vor. Wovon lebt der Menfch ? 195 Die zweite Reihe, die der ſtickſtofffreien Subſtanzen oder der Reſpirationsmittel, iſt nicht minder allgemein in der Pflanzenwelt verbreitet. Ueberblicken wir alle die Nahrungsmittel, welche ſich der Menſch aus dem Pflanzenreiche gewählt, ſo finden wir drei Gruppen, von denen ſich die erſte durch den großen Gehalt an Stärkemehl aus— zeichnet. Hierher gehören die Cerealien und Hülſenfrüchte, die Knollengewächſe, Kartoffeln, Erdäpfel, Manjoc, Mams- und Taroo wurzeln, endlich die markigen Stämme der Cycadeen und Palmen, welche den Sago liefern; die zweite Gruppe umfaßt die zucker⸗- und gummireichen Früchte, welche durch Apfel-, Citronen- und Weinſteinſäure ihre eigenthümlichen kühlenden Eigenſchaften und durch geringe Menge aromatiſcher Stoffe ihren Reiz erhalten, außer den bei uns bekannten Früchten, insbe— ſondere die Dattel, die Banane und die Brodfrucht, ferner die zuckerreichen Stengel, namentlich das Zuckerrohr, und endlich die zucker- und gummihaltigen fleiſchigen Wurzeln, die einen großen Theil unſeres Gemüſes bilden; diedritte Claſſe endlich beſteht aus den ölhal— tigen Kernen verſchiedener Früchte: der Cocusnuß, der Nuß derchile— niſchen Fichte, der Paranußund der vielen Nüſſe- u. Mandelarten, welche in Europa zum Theil dem Hunger, zum Theil nur dem Reize des Gaumens ihren Tribut zollen. Endlich dürfen wir bei dieſer Aufzäh— lung die vielen, faſt alle aus dem Pflanzenreiche ſtammenden Getränke nicht vergeſſen. Faſt überallhin iſt dem Europäer der Weinſtock ge— folgt, wo climatiſche Verhältniſſe ſeinen Anbau nicht unmöglich mach— ten. Obſtweine, Bier und Weingeiſt ſind weit verbreitete Ge— tränke. Eine eigenthümliche Aufgabe iſt in der That noch dem Pſycholo— gen aufbehalten in dem merkwürdigen Umſtande, daß, ſo weit wie das Menſchengeſchlecht auf Erden verbreitet iſt, auf dem höchſten Gipfel feiner Ausbildung wie in den erſten Anfängen der Cultur (vielleicht nur mit Ausnahme einiger weniger den Thieren faſt näher als den- Menſchen ſtehender Stämme), auch der Gebrauch ſich findet, durch die verſchiedenartigſten Mittel ſich in einen erhöhten Zuſtand geiſtiger Thätigkeit zu verſetzen, den man in ſeinen höheren und ſchlimmeren Schleiden, Pflanze. 13 | 0 0 ‘ 194 Achte Vorleſung. Erſcheinungen Trunkenheit nennt. Der Magueywein oder Pulque der Mericaner, der Palm enwein der Chilenen, der Trank aus ges käutem Mais bei den Anwohnern des Orinocco u. Amazonenſtroms, endlich der Kumiß der Tartaren, aus Pferdemilch bereitet, ſtehen un» ſeren Getränken in fofern gleich, als bei allen der durch Gährung aus Zucker oder Stärkemehl erzeugte Weingeiſt das berauſchende Princip iſt. Ganz unbekannt iſt uns die Wirkung der Cocca, der Blätter eines americaniſchen Strauches (Erythroxylon Coca). Der größte Genuß des peruaniſchen Muletero (Maulthiertreiber) beſteht darin, dieſe Blätter zu käuen und ſich dadurch in einen Zuſtand träumeriſchen Hinbrütens zu verſetzen, in welchem er, ohne trunken zu ſeyn, nur in ſüßer, künſt⸗ lich erregter Faulheit Tage lang mit Nichtsthun zubringt. Dagegen iſt das Verzehren des Fliegenſchwammes bei den Bewohnern des nördlichen Sibiriens, das Rauchen des Opium bei den Südaſiaten, des Haſchich oder Hanfextracts beiden nördlichften und ſüdlich— ſten Africanern und endlich der Genuß des Getränfes, welches ſich die Südſeeinſulaner aus einer beſondern Art von Pfeffer (Piper methys- ticum) bereiten, geradezu eine narcotiſche Vergiftung, welche bei öfterer Wiederholung ſehr ſchnell die Zerſtörung des Körpers nach ſich zieht. Allen dieſen Mitteln nun, durch körperliche Einwirkung die Thätigfeit des Geiſtes, insbeſondere der Phantaſie anfänglich auf angenehme Weiſe zu erhöhen, haben in der neueſten Zeit zwei Männer mit ſehr ungleichem Erfolge den Krieg erklärt; der Eine kämpfte mit materiellen Waffen und unterlag, nämlich der Kaiſer von China, der Andere erficht täglich neue Siege durch die Gewalt des Geiſtes, ich meine den kühnen Mäßigkeitsapoſtel, den frommen Pater Mathew. Der Letzte hat für die Entſagung, die er forderte, Erſatz geboten in einem andern Getränke, welches wir von den Chineſen entlehnt haben. Ob dieſes Getränk, der Thee, wirklich ein unſchuldiger Erſatz ſey, wäre vielleicht noch erſt einer genauen Unterſuchung zu unterwerfen, bei welcher ich mich hier aber nicht länger aufhalten kann. Ich kann aber nicht umhin, bei dieſer Gelegenheit auf ein intereſſantes, noch ungelöftes phyſtologiſches Räthſel aufmerkſam zu machen. * * Wovon lebt der Menſch? 198 Im J. 1554 entſtand eine heftige Aufregung in Conſtantinopel; die hohe Geiſtlichkeit beftürmte den Sultan und drohte mit allen Schrecken, welche ihr Amt ihr zu Gebote ſtellte, und der Grund war der glänzende Erfolg der in demſelben Jahre eröffneten erſten Caffee— häuſer. Den ganzen Tag waren dieſe belagert und die Moſcheen waren wie verwaiſt. Der Sultan half ſich durch den für ihn vor⸗ theilhafteſten Ausweg; er legte eine hohe Abgabe auf die Caffeehäu— ſer, beruhigte dadurch die Muftis, verſchaffte ſich eine bedeutende Ein— nahme und der Genuß des Caffees breitete ſich trotz dem mit einer ungeheuren Schnelligkeit über Europa aus. 1652 eröffnete der Grieche Pasqua in George Yard, Lombard Street (nach M'Culloch in St. Michael's⸗Alley, Cornhill, auf der Stelle wo jetzt das Virgi— nia⸗Caffeehaus ſteht), das erſte Londoner Caffeehaus und 1671 ent⸗ ſtand das erſte in Marſeille. Im Ganzen mag die Production jetzt etwa 500 Mill. Pfund betragen, während ſie vor etwa 150 Jahren ſchwerlich 10 Mill. Pfund überſtieg. Im J. 1820 berechnete A. v. Humboldt die Conſumtion in Europa zu 150 Mill. Pfund im Werthe von 30 Mill. Speciesthaler, während der gegenwärtige Ver— brauch von 250 Mill. Pfund vielleicht den Werth von 28 Mill. Speciesthaler noch nicht erreicht. Woher ſtammt der Gebrauch, Caffee zu trinken, wer entdeckte den köſtlichen Stoff? Wir wiſſen es nicht. Die ſicherſten Nachrichten darüber finden wir in dem Werke des Scheikh Abd-Alkader Ebn Mohammed vom J. 1566, welches uns Sylveſtre de Sacy in ſeiner Chrestomathie Arabe mitgetheilt hat, und welches den Titel führt: „Die Stütze der Un— ſchuld in Bezug auf die Geſetzlichkeit des Caffees.“ Danach führte im Anfange des 15. Jahrh. der ſehr gelehrte und fromme Scheikh Djemal-eddin-Ebn-Abou⸗alfaggar das Caffeetrinken in dem in neuerer Zeit politiſch ſo bedeutend gewordenen Aden ein, von wo es ſich bald nach Mekka und Medina verbreitete. Er ſelbſt war mit dieſem Getränke in Abyſſinien bekannt geworden, wo es ſeit undenklichen Zeiten gebräuchlich war. Die gemeine Meinung, daß der Caffee urſprünglich in Arabien heimiſch ſey, iſt alſo ganz falſch. 13* u * 196 Achte Vorleſung. Man trank damals ebenſo oft eine Abkochung der geröſteten Schaalen, als der nach dem arabiſchen Worte Bounn fo genannten Bohnen. Das Getränk hieß in beiden Fällen Kahwa. Weiſe Leute, wie z. B. Tadjeddin-Ebn⸗Jacoub, empfahlen ſchon damals kaltes Waſſer zum Caffee zu trinken, um der dem Genuſſe folgenden Schlafloſigkeit vorzubeugen. Indeß war dieſes gerade dem Grunde der Einführung des Caffees zuwider. Man wollte ſich nämlich durch denſelben während der heiligen Nächte zum Gebete wach erhalten. So wurde der Caffee anfänglich vorzugsweiſe beim Gottesdienſte in einer kleinen Schaale aus einer großen braunen Kanne geſchöpft und herumgereicht, und ſo erklärt es ſich leicht, weßhalb dieſes Getränk für einige muhamedaniſche Orthodoxe ſogleich ein Gegenſtand der Anfeindung und überhaupt ein Gegenſtand ſehr gelehrter theologi— ſcher Unterſuchungen werden konnte. Die Gegner des Caffees gin— gen ſelbſt ſo weit, zu behaupten, daß die Geſichter derer, welche Caffee getrunken, am Tage der Auferſtehung noch ſchwärzer als der Caffeeſatz erſcheinen würden. Da aber die Frauen nach dem Koran überhaupt nicht ins Paradies kommen, ſo können ſie ohne Furcht im Genuſſe ihres Lieblingsgetränkes ſchwelgen. Nach den übrigen von Abd-Alkader-Ebn-Mohammed mitgetheilten Nachrichten ergiebt ſich übrigens, daß in Abyſſinien der Gebrauch des Caffeetrinkens über die Zeit der hiſtoriſchen Er— innerungen hinaus liegt und daß auch in Arabien der Caffee nur ein der Wirkung nach ähnliches Getränk den Cafta, von den Blättern des Cat (Celastrus edulis Forskael) verdrängte, deſſen Genuß ebenfalls ohne Kunde ſeines Urſprungs von den Vätern er— erbt war. 3 Als die Spanier zuerft in Mexico landeten, wurden fie mit einem dort ſeit undenklichen Zeiten einheimiſchen Getränke bekannt, welches die Mericaner Chocollatl nannten und aus den Saamen eines Baums bereiteten, der bei ihnen Cacahoaquahuitl, Ca— cahoa-Baum hieß. So weit die ſpaniſche Herrſchaft ſich ſpäterhin ausdehnte, ſo weit hat ſich auch der Gebrauch des Chocoladetrin— 2 * Wovon lebt der Menſch? 197 kens verbreitet, und das übrige Europa hat ſeinen reichlichen An— theil an dieſem neuen Getränke gefordert. Im Anfange des 17. Jahrhunderts wurden einer ruſſiſchen Ge— ſandtſchaft nach China für ihre prachtvollen Zobelpelze ſorgfältig ver— packte getrocknete grüne Blätter als Gegengeſchenk gegeben, und ſelbſt trotz ihres Proteſtirens gegen ſo unnütze Waare aufgedrungen. Aber als ſie dieſelbe nach Moskau brachten und vorſchriftsmäßig bereiten ließen, fand der Thee, denn das war es, gleich großen Beifall. Faſt um dieſelbe Zeit verſuchte die holländiſch-oſtindiſche Compagnie, Salbey, den man damals ähnlich wie jetzt den Thee genoß, nach China zu verhandeln, und erhielt dafür als Aequivalent chineſiſchen Thee. 1664 glaubte die engliſch-oſtindiſche Compagnie dem Könige von England mit 2 Pfund Thee ein glänzendes Geſchenk zu machen. Der Gebrauch des Thees als Getränk verliert ſich in China in die früheſten Zeiten und die Sagen erzählen ſchon im 3. Jahrhundert mit Beſtimmtheit davon. Die älteſte chineſiſche Sage erinnert auf— fallend an den Grund der Einführung des Caffeetrinkens in Arabien. Sie erzählt: Ein frommer Eremit, der bei Wachen und Gebet oftmals vom Schlafe überraſcht worden war, ſo daß ihm die Augen zufielen, ſchnitt ſich, in heiligem Eifer gegen das ſchwache Fleiſch zürnend, die Augenlider ab und warf ſie auf die Erde. Aber ein Gott ließ aus denſelben den Theeſtrauch aufwachſen, deſſen Blätter noch die Form eines mit Wimpern beſetzten Augenlides zeigen und die Gabe beſitzen, den Schlaf zu verſcheuchen. Als die Europäer den Thee kennen lernten, war er ſchon im ganzen ſüdöſtlichen Aſien allgemein verbreitet, und Europa blieb nicht lange hinter ſeinen Lehrmeiſtern zurück. Zur See werden jetzt jährlich etwa 50 Mill. Pfund aus China ausgeführt, über Kiächta gegen 10 Mill., nach Thübet, Indien ꝛc. zu kommen vielleicht nahe an 30 Mill. In China und Japan ſelbſt werden ſicher 400 Mill. Pfund conſumirt, ſo daß die Geſammtproduction mit 500 Mill. Pfund gewiß nicht allzu hoch angeſchlagen iſt. Mit derſelben Leidenſchaft, mit welcher der Chineſe ſeinen Thee genießt, erfreut ſich der Brasilianer und faft die ganze Bevölkerung von 198 Achte Vorleſung. Südamerica am Maté oder Paraguay-Thee, den Blättern ei— ner braſilianiſchen Stechpalme (Ilex paraguayensis), welcher unter Umſtänden mit dem Camini, den Blättern der Cassine Gongonha oder mit der Guarana, einer Art von Caffee aus den Saamen der Paullinia sorbilis bereitet, vertauſcht wird. Auch der Gebrauch des Mats iſt ſeit undenklichen Zeiten in Braſilien einheimiſch. So find dieſe Getränke überall zu nothwendigen Lebensbedürf— niſſen geworden, überall iſt der Anfang ihres Gebrauchs in mythi— ſches Dunkel gehüllt, überall hat der Menſch, nicht etwa durch ver— nünftige Ueberlegung, durch Kenntniß der Eigenſchaften und Wir- kungen, durch Vergleichung derſelben mit ſchon bekannten Nahrungs: ſtoffen geführt, ſondern gleichſam inſtinctmäßig dieſe Getränke in die Zahl ſeiner täglichen Bedürfniſſe aufgenommen. Bei der großen Wichtigkeit des Stoffes ſelbſt und bei dem In: tereſſe, welches die eben angedeutete Betrachtung erregen mußte, hat denn die Chemie verſucht, in wie weit fie zur Aufklärung dieſer felt- ſamen Erſcheinung beitragen könnte. Das Reſultat iſt gegen alle Erwartung ausgefallen und hat das Räthſel nur noch mehr verwirrt. Oudry fand im Thee einen in feinen weißen Nadeln kryſtalliſirenden Stoff, den er Thein nannte, und der etwa ½ Proc. des Thees aus⸗ macht. Früher ſchon 1820 hatte Runge im Caffee eine Subſtanz ent⸗ deckt, deren zarte ſeidenglänzende Kryſtalle kaum zu / Proc. im Caffee enthalten ſind. Runge nannte ſie Caffein. Ein Anderer fand im Cacao das Theobromin in geringer Menge, dann wies man das Thein im Maté, das Caffein in der Guarana nach und endlich zeig— ten die genaueren Unterſuchungen, daß Thein und Caffein ein und derſelbe Stoff ſeien, der ſich von allen bekannten Pflanzenſtoffen durch ſeinen außerordentlich großen Stickſtoffgehalt auszeichnet, und daß Theobromin, wenn nicht vielleicht identiſch mit denſelben, doch ſehr nahe verwandt ſey. Muß es nicht im höchſten Grade auffallend erſcheinen, daß ein wenn auch nur ſehr geringer Gehalt eines und deſſelben eigenthümlichen Stoffes ſich in allen dieſen Getränken finden muß, welche ſo auffallend ſchnell zu nothwendigen Bedürfniſſen der Wovon lebt der Menfch ? 199 ganzen bewohnten Erde geworden ſind? Ein merkwürdiges Räthſel, von deſſen Löſung wir noch um ſo entfernter ſind, da von Aerzten und Chemikern angeſtellte Verſuche bis jetzt keine Andeutung einer beſondern Wirkung nach dem Genuſſe größerer Mengen reinen Theins erkennen laſſen, der Stoff alſo ohne auffallende Weng auf die thieriſche Oeconomie erſcheint. Ich kehre nach dieſer Abſchweifung, die der Hauptfrage ohne— hin nicht ſo fremd iſt, wieder zu meiner Aufgabe zurück. Der Menſch bedarf alſo zu ſeiner Nahrung zunächſt dreier ſtickſtoffreicher Subſtan— zen, des Faſerſtoffs, Käſeſtoffs und des Eiweißes, und dieſe findet er nicht nur im Thierreich, ſondern auch im Pflanzenreich allgemein verbreitet. Er verbraucht ferner zur Unterhaltung der Reſpiration und dadurch der Wärme eine gewiſſe Menge ſtickſtofffreier Subſtanzen, welche ihm außer im Fette der Thiere im reichſten Maaße von den meiſten und verbreitetſten Pflanzenſtoffen geboten werden. Sehr leicht erklären ſich uns nun einige der auffallendſten Er— ſcheinungen in der Ernährungsweiſe des Menſchen und der Thiere. Jägervölker und fleiſchfreſſende Thiere bedürfen einer großen Menge ihrer gewöhnlich fettarmen Nahrung. Durch angeſtrengte körperliche Thätigkeit müſſen fie dieſe ſtickſtoffhaltige Nahrung erſt in zwei Be— ſtandtheile zerlegen, einen, der ſämmtlichen Stickſtoff, einen andern, der einen Theil des Kohlen- und Waſſerſtoffs enthält, und dieſen letztern verwenden ſie dann für die Reſpiration, da bei der Unver— brennlichkeit des Stickſtoffs ſtickſtoffhaltige Subſtanzen dazu untauglich ſind. Eben darin findet auch die unruhige, raſtlos thätige Lebensweiſe des reißenden Thiers wie des Jägers ihre Erklärung, indem ſie nur durch heftige Anſtrengungen des Körpers ſo viel der ſtickſtoffhaltigen Nahrung zerſetzen können, um für den Reſpirationsproceß das nöthige Material zu ſchaffen. Aber auch die große Maſſe von Nahrung, die eine ſolche Lebensart erfordert, iſt dadurch leicht erklärt, zumal da meiſt viel mehr thieriſches Leben vernichtet wird, als unmittelbar dem Nahrungsbedürfniß entſpricht. Aus beiden Gründen bedarf das 200 Achte Vorleſung. reißende Thier wie das Jägervolk ein ausgedehntes Areal zu ſeiner Eriſtenz und bedingt eine ſehr dünne Bevölkerung. Die Viehzucht bildet hier den Uebergang, indem der Menſch hier die Hausthiere benutzt, um in den Beſtandtheilen der Milch und in dem reichlichen Fette der Hausthiere, welches den wilden Thieren faft ganz abgeht, ſich neben der Fleiſchſpeiſe auch mit ſtickſtofffreien Beſtandtheilen zu verſehen. Die zweckmäßigſte Lebens weiſe führt aber das verſtändige Acker— bau treibende Volk, welches ſeine Nahrungsmittel ganz in dem Ver— hältniſſe miſcht, wie ſie die Natur dem Säugling in der Milch ge— miſcht hat. Dieſe enthält nämlich in dem Käſeſtoff die ſtickſtoffhaltigen Nahrungsmittel, in der Butter und dem Milchzucker die ſtickſtofffreien Reſpirationsmittel im richtigſten Verhältniſſe. Darüber hinaus finden wir die Ertreme in den Völkern, welche, wie die oſtindiſchen Stämme, die Negervölker und die Bewohner einiger europaiſchen Landſtriche, ganz von Reis, Bananen, Kartoffeln und dergleichen Pflanzenſtoffen leben, in welchen nur wenig ſtickſtoffreiche Beſtandtheile vorkommen. Daher die ungeheuern Mengen, welche dieſe Völkerſchaften zu ſich zu nehmen gezwungen find, um aus der Maſſe der Reſpirationsmittel die nöthige Menge der wirklichen Nahrungsmittel zuſammenzuſuchen. Dieſen Völkern treten unſere ganz von Pflanzen lebenden Hausthiere und die übrigen Pflanzenfreſſer an die Seite, welche ihr ganzes Leben mit Freſſen und Schlafen zubringen und große Maſſen zu ſich nehmen müſſen, weil nur verhältnißmäßig geringe Mengen von wirklicher Nahrung darin enthalten ſind. Endlich finden wir noch in den ſämmt— lichen Polarländern den übermäßigen Genuß von Fett als unzer— trennlich mit der Lebensart in dieſen Climaten verbunden. Auch hier erklärt ſich uns dieſer Naturtrieb gar leicht aus den vorherigen Be— trachtungen. Der Menſch muß hier, um leben zu können, größere Mengen von Wärme produciren und bedarf dazu auch größerer Mengen von Brennmaterial; dazu eignet ſich kaum eine Subſtanz ſo gut, als das faſt ganz allein aus Kohlen- und Waſſerſtoff beſtehende Fett der Thiere. So hätten uns unſere Betrachtungen alle dahin geführt, anzu— Wovon lebt der Menſch? 201 erkennen, daß die ganze Thierwelt zunächſt von der Pflanzenwelt lebt, entweder unmittelbar durch die Pflanzennahrung, oder mittelbar, indem die Pflanzenfreſſer die eigentlichen Nahrungsſtoffe aus den Pflanzen für die Fleiſchfreſſer ſammeln, die ſtickſtofffreien Reſpirations— mittel aber als Fett ablagern. Aber hier finden wir keinen Abſchluß und die Frage wirft ſich uns von ſelbſt auf, wovon lebt denn die Pflanze? Die Beantwortung dieſer Frage umfaßt den Gegenſtand der leb— hafteſten Debatte, welche in neuerer Zeit in der Wiſſenſchaft geführt worden iſt, ſie umfaßt die Theorie des wichtigſten Gewerbes, welches der Menſch erfunden hat, nämlich des Ackerbaues. Die richtige Be— antwortung dieſer Frage findet ſich ſchon theilweiſe in der Mitte des vorigen Jahrhunderts bei Pflanzenphyſiologen und Chemikern, wurde ſeitdem immer genauer von Einzelnen entwickelt, aber erſt in neuerer Zeit durch Liebig mit einer Lebendigkeit und Klarheit geltend ge— macht, daß ſie ſogleich einen lebhaften allgemeinen Kampf erregte, der damit endigen wird, daß die richtige Grundlage allgemein aner— kannt und als neu gefundener Buchſtabe dem ABC der Wiſſenſchaft hinzugefügt wird. Zunächſt müſſen wir hier fragen, woraus beſteht die Pflanze? Sehen wir vorläufig, wie wir auch beim Thiere gethan, von den un— organiſchen Beſtandtheilen, den Erden und Salzen, ab, ſo iſt die Antwort ſchon gegeben durch die beiden oben aufgeſtellten Reihen. Der Körper der Pflanze aber iſt aufgebaut aus ſtickſtofffreien Beſtand— theilen, nämlich aus Zellſtoff und Pflanzengallerte, welche mit den anderen Stoffen, Zucker, Gummi, Stärkemehl ganz gleich zuſammengeſetzt ſind und ſich von den Fett- und Wachsarten nur durch ein geringeres Verhältniß des Sauerſtoffs in Letzteren unter— ſcheiden. Daneben aber bedarf die Pflanze der ſtickſtoffhaltigen Beſtand— theile nicht ſowohl um ihren Körper aufzubauen, ſondern um den chemi— ſchen Proceß zu veranlaſſen, durch welchen die Umbildung der aufge— nommenen Nahrungsſtoffe erfolgt. Die Frage nach der Ernährung der Pflanze umfaßt alſo die Frage nach dem Urſprunge des Kohlenſtoffs und Stickſtoffs, indem für Waſſerſtoff und Sauerſtoff durch Waſſer + 202 Achte Vorleſung. und atmoſphäriſche Luft genügend geſorgt iſt. Die bisherige allgemein geltende Anſicht ging nun dahin, daß die Pflanze ihren Kohlenſtoff und Stickſtoff dem Dünger oder dem Humus des Bodens entnehme. Alle Thier- und Pflanzenkörper gehen nämlich, ſobald fie todt ſind, in einen Zerſetzungsprozeß über, durch welchen ſie früher oder ſpäter in Kohlenſäure, Ammoniak und Waſſer verwandelt, ſich in die Atmoſphäre verlieren. So lange aber dieſer Zerſetzungsproceß noch nicht vollſtändig beendigt iſt, bleibt noch ein freilich ſchon veränderter Rückſtand mit brauner oder ſchwarzer Farbe, den man im Anfange der Zerſetzung Dünger, gegen das Ende derſelben Humus oder Baum— erde nennt. Es iſt ein complicirtes Gemiſch gar mannigfacher Zer— ſetzungsproducte. Man argumentirte nun ſo: Kohlenſtoff und Stick— ſtoff ſind reichlich im Humus vorhanden; auf einem Boden, der reich an Humus iſt oder gut gedüngt wird, gedeihen Pflanzen beſſer, als auf einem humusarmen, alſo iſt Humus die Quelle des Kohlenſtoffs und Stickſtoffs der Pflanzen. Dieſem ganzen Räſonnement fehlt aber die Schlußkraft. N Es gab eine Zeit auf unſerer Erde, in welcher noch keine Vege— tation die feſte Rinde bedeckte, in welcher kein Thier lebte, in welcher kein Humus vorhanden ſeyn konnte. Auf dieſem humusleeren Boden entwickelte ſich allmälig eine Vegetation in fo großer Maſſe, in fo rieſiger Ueppigkeit, daß dieſelbe, durch ſpätere Erdrevolutionen be— graben und uns aufbewahrt, einen höchſt weſentlichen Platz in dem Haushalte der heutigen Menſchheit einnimmt, ich meine die Vege— tation einer der älteſten geognoſtiſchen Formationen, der Steinkohlen— petiode. Der jährliche Verbrauch der Steinkohle in Europa beträgt über 677,500,000 Centner und die Geognoſie weiſt nach, daß ſelbſt bei ſteigendem Verbrauche der Vorrath noch für 500 Jahre ſicher ausreicht. Ein ſolcher Vorrath entſpricht aber 240,500,000, 000 Cent⸗ nern Kohlenſtoff, den dieſe Pflanzen offenbar nicht dem humusleeren Boden der Urzeit entnommen haben konnten. Jenes falſche Räſon— nement ſetzt nämlich ſtillſchweigend folgende Hypotheſe voraus: „Es giebt auf der Erde eine beſtimmte Quantität organiſcher Wovon lebt der Menſch? 205 Subſtanz, welche zwiſchen Pflanzen- und Thierreich circulirt, das abſterbende Thier dient der Pflanze als Nahrung, und die entwickelte Pflanze wieder dem Thiere.“ Das könnte nun auch ganz gut der Fall ſeyn, wenn der Ver— weſungsproceß nicht dazwiſchenträte, durch welchen doch ohne Frage fortwährend mindeſtens ein Theil der organiſchen Subſtanz dem an geblichen Kreislaufe entzogen, und als unorganiſche Verbindung, als Kohlenfäure und Ammoniak, in die Atmoſphäre verflüchtigt wird. Im Verlaufe der Jahrtauſende müßte aber auf dieſe Weiſe ſämmt— liche angeblich mit der Erde zugleich geſchaffene organiſche Subſtanz längſt verbraucht ſeyn. Wir finden aber gerade das Gegentheil. So— wohl im Verlaufe der großen geognoftifchen Perioden als auch im Verlaufe der mit dem Menſchen beginnenden Geſchichte der Erde zeigt ſich uns dort von Periode zu Periode, hier von Jahrhundert zu Jahrhundert eine immer größere Fülle des organiſchen Lebens, eine fortwährende Vermehrung der Thier- und Pflanzenwelt. Woher ſtammt dieſe, wenn es nicht einen Proceß giebt, durch welchen die unorganiſche Subſtanz übergeführt wird in den Kreislauf des Orga— niſchen? Auf der andern Seite können wir leicht überſchlagen, welche ungeheure Mengen von Ammoniak und Kohlenſäure ſich durch Ath— mung und Verbrennungsproceſſe, aus der Verweſung ſo vieler Mil— liarden von Thier- und Pflanzenkörpern und durch die fortwährenden Ausſtrömungen der großen Vulcane in der Luft ſeit Jahrtauſenden müßte angehäuft haben, während in der That das Ammoniak in ver- ſchwindend kleinen Mengen, die Kohlenſäure in einem beſtimmbaren, aber ſehr geringen Antheil in der Atmoſphäre ſich befindet. Es muß alſo ein ganz geſetzmäßiger Abfluß Statt finden, durch welchen ebenſo der Atmoſphäre jene Stoffe wieder entzogen und der organiſchen Welt wieder einverleibt werden. Und wie im Großen können wir daſſelbe im Kleinen an Welttheilen und immer kleineren Gebietsgrößen nachweiſen. Die Pampas von Südamerien hatten zur Zeit ihrer Beſitz— nahme durch die Spanier dieſelbe dürftige Steppenvegetation, wie noch jetzt, ſoweit ſie nicht in der nächſten Nähe der Städte und durch 204 Achte Vorleſung. die Verwilderung der großen Pampasdiſtel und der Artiſchocke ver⸗ ändert iſt; dieſelbe dünne Bevölkerung, dieſelben einheimiſchen Thier— mengen wie noch heute durchſtreiſten dieſe öden Ebenen. Die Spanier führten das Pferd und das Rindvieh ein und dieſe vermehrten ſich in unglaublich kurzer Zeit in ſolchem Maaße, daß allein Montevideo jährlich 300,000 Stierhäute ausführt, daß die Kriegszüge des Ge— neral Roſas viele Hunderttauſende von Pferden koſteten, ohne daß auch nur im Geringſten eine Abnahme merklich wurde. Das einhei— miſche organiſche Leben und ſeine Maſſe hat ſich ſeit der Entdeckung durch die Spanier alſo nicht vermindert, ſondern bedeutend vermehrt, und dabei ſind Millionen Pfunde von Kohlenſtoff und Stickſtoff zu organiſchen Subſtanzen verbunden durch den Handel mit Ochſen— häuten ausgeführt, ohne daß das Land den geringſten berechenbaren Erſatz an organiſchen Stoffen erhalten hätte. Woher können dieſe Maſſen anders ſtammen, als aus der Atmoſphäre? — Wenn wir alle übrigen Beſtandtheile des Thees vernachläſſigen, ſo führt doch China mit dem halben Procent Thein alle Jahre über 300,000 Pf. Stick⸗ ſtoff aus, ohne dafür irgend namhaften Erſatz wieder zu erhalten. — Von dem in gutem Stande erhaltenen Walde gewinnen wir jährlich für den Morgen ohngefähr dritthalbtauſend Pfund trockenes Holz, welche etwa 1000 Pfund Kohlenftoff enthalten. Aber wir düngen den Waldboden nicht, und fein Gehalt an Humus, weit entfernt, erſchöpft zu werden, nimmt vielmehr von Jahr zu Jahr durch Wind— bruch und Blattfall bedeutend zu. — Auf den für jedes Vieh unüber— ſteiglichen Alpen der Schweiz und Tyrols mäht der Wildheuer all— jährlich ſeine beſtimmte Menge Gras, ohne dem Boden auch nur das Allergeringſte an organiſcher Subſtanz wieder zurückzugeben. Woher ſtammt dieſes Heu, wenn nicht aus der Atmofphäre? Kohlenſtoff und Stickſtoff bedarf die Pflanze, und in Südamerica, im Walde auf der wilden Alpe giebt es für ſie keine Möglichkeit, ſich dieſer Stoffe zu bemächtigen, als vermittelſt des Ammoniaks und der Kohlenfäure der Atmoſphäre. — Die Provinzen Nord- und Südholland, Friesland, Gröningen und Dronthe führen alljährlich mit ihrem Käſe etwa Wovon lebt der Menſch? 205 eine Million Pf. Stickſtoff aus. Sie entnehmen dieſelben durch die Kühe ihren Wieſen, die niemals anders, als von dem darauf wei— denden Viehe gedüngt werden. Dadurch erhalten die Wieſen aber keinen Erſatz, denn Alles, was die Kühe produciren, ſtammt ja von den Wieſen her. Woher nun dieſe enormen Maſſen von Stickſtoff? Vielleicht der Veſuv oder Aetna, oder die großen Feuerſchlünde der Cordilleren hauchten die Menge des kohlenſauren Ammoniaks aus, welches den Pflanzen der holländiſchen Wieſen durch die Luftſtrö— mungen zugeführt und von dieſen durch die Kühe endlich als Käſeſtoff zum Gegenſtande des Handels und der Gaumenluſt gemacht wurde. Dieſe und unzählige ähnliche Thatſachen zuſammengenommen geben uns nun ſchon einen ſehr ſichern Abſchluß, welcher endlich durch die Verſuche Bouſſingaults, die großartigſten und faſt die einzi- gen wahrhaft wiſſenſchaftlichen, welche je in landwirthſchaftlicher Be— ziehung angeſtellt ſind, über allen Zweifel erhoben wird. Bouſſingault beſtimmte auf feinem Gute Bechelbronn im Elfaß 4 Hectaren Landes (genau 16 heſſiſche Morgen) zu Verſuchen, die mit derſelben Genauigkeit viele Jahre fortgeſetzt wurden. Die Länge der Zeit, die Größe des benutzten Areals vernichten alle Einwürfe, welche ſonſt bei Verſuchen im Kleinen gemacht werden können. Bouſſingault ließ jene 16 Morgen während 21 Verſuchsjahren ganz auf die im Elſaß gebräuchliche Weiſe beſtellen. Es wurde aber genau der Dünger ge— wogen, welcher aufgefahren, ebenſo alles das, was jedes Jahr ge— erntet wurde, und von beiden wurde ſtets durch genaue chemiſche Unterſuchungen die darin enthaltene Menge von Kohlenſtoff, Waſſer— ſtoff, Sauerſtoff, Stickſtoff und Aſchenbeſtandtheilen beſtimmt. Das Reſultat dieſer Verſuche war, daß durchſchnittlich im Jahre mit der Ernte zweimal ſo viel Stickſtoff, dreimal ſo viel Kohlenſtoff und Waſſerſtoff und viermal ſo viel Sauerſtoff vom Boden gewonnen, als mit dem Dünger darauf gebracht wird, wobei noch vorausgeſetzt iſt, daß der ſämmtliche Gehalt des Düngers den Pflanzen zu Gute kommt, was doch in der That nicht der Fall ſein kann. Iſt nun Kohlenſäure, Ammoniak und Waſſer die Nahrung der 206 Achte Vorleſung. Pflanze und finden wir, daß wir dieſe Stoffe niemals ſo combiniren können, daß ſie nicht bei Weitem mehr Sauerſtoff enthalten, als die in den Pflanzen vorkommenden Subſtanzen, ſo muß nothwendig bei dem Lebensproceſſe der Pflanze beſtändig Sauerſtoffgas frei und aus: geſchieden werden. N So erhalten wir als Endreſultat unſerer Betrachtungen folgende großartige Anſicht von dem Stoffwechſel in den drei Reichen der Na— tur. Die Verweſung und der Athmungsproceß löſen alle Pflanzen⸗ und Thierſtoffe, indem der Sauerſtoff der Atmoſphäre vermindert wird, in Kohlenſäure, Ammoniak und Waſſer auf, welche ſich in der Atmoſphäre verbreiten. Dieſer Stoffe bemächtigt ſich die Pflanze und bildet daraus unter beſtändiger Vermehrung des Sauerſtoffs der At⸗ moſphäre kohlenſtoff- und waſſerſtoffreiche und ſtickſtofffreie Beſtand⸗ theile: Stärke, Gummi, Zucker und Fettarten, und ſtickſtoffreiche Bes ſtandtheile: Eiweiß, Faſerſtoff und Käſeſtoff. Dieſe Beſtandtheile dienen dem Thiere, indem es aus Letzteren ſeinen Körper baut und die Erſten im Reſpirationsproceſſe zur Erhaltung der nöthigen Waͤrme verbrennt. Dieſe Theorie ſteht nach den angeführten Thatſachen jetzt unerſchütterlich feſt und der Naturforſcher hat allerdings Recht, wenn er ſagt, daß der Menſch durch die Vermittelung der Pflanzen in letzter Inſtanz von der Luft lebt. Oder drücken wir es vielmehr ſo aus: aus der Atmoſphäre ſammelt die Pflanze die Stoffe, aus denen ſie die Nahrung des Menſchen zuſammenſetzt. Das Leben ſelbſt aber iſt nur ein Verbrennungsproceß, die Verweſung nur der letzte Abſchluß deſſelben. Durch dieſe Verbrennung kehren alle Beſtandtheile wieder in die Luft zurück und nur eine geringe Menge Aſche bleibt der Erde, der ſie entſtammt. Aber aus dieſen langſamen, unſichtbaren Flammen erhebt ſich ein neugeborner Phönix, die unſterbliche Seele, in Regio— nen, wo unſere Naturwiſſenſchaft keine Geltung mehr hat. Ueunte Vorlesung. Wovon lebt der Menſch? Zweite Beantwortung. N 7 1 i N A\ N 106 S 0 | | 8 Vir UN $ IN! N N ö A Staub foll er freſſen, und mit Luft, Wie meine Muhme, die berühmte Schlange. Fauſt. N. Di | 98 W f er a a I Sl. 3 * * 4 * 4 a Ä 22 4 TR TRIER EN 1 5 5 ’ 5 . rl a LE 7: we TB, Pu A; 3 ere e e e e 8 y . pr, ie 4 I 1 N . 2 . , “ 4 air, «2, a a: a * 2 N * 7 N . 2 ,; 3 * Kr 7 _ a, 1 Tae e N * 7 f . ‘ . 3 * fi ee N “ r . . e * „ Br u 0 re NN W r m en RE 1 ET * 5 ie. u * ne En 8 | * e 64 PET PR n nen PROBE ut * RN . Ds die Worte unferes Motto, welche der Dichter dem böſen Geiſte in den Mund legt, Wahrheit haben? Ob die Rede des ge— meinen Lebens wie der heiligen Poeſie, daß der Menſch dem Staube entſtamme und wieder zu Staub und Aſche werde, mehr ſind als ein poetiſches Gleichniß? Nur die Naturwiſſenſchaft, die Phyſiologie kann es uns beantworten. Es war mir erlaubt, in einer früheren Vorleſung den Natur— ſorſcher zu vertheidigen, wenn er behauptete, der Menſch lebe nur von der Luft, ſtamme von derſelben und kehre in dieſelbe wieder zurück. Die Verweſung löſt alle thieriſchen Körper in Ammoniak, Kohlenſäure und Waſſer auf, und dieſe verfliegen als Gas und Waſſerdunſt in die Luft. Seine Nahrung entnimmt der Menſch mit— telbar oder unmittelbar ganz dem Pflanzenreiche, und dieſes lebt weſentlich ganz auf Koſten der Kohlenſäure, des Ammoniak und des Waſſers der Atmoſphäre. Dieſe Anſichten verdanken wir den ſich folgenden und ergänzen— den Unterſuchungen der ausgezeichnetſten Forſcher der letzten 100 Jahre; doch erſt in neueſter Zeit ſind ſie von Liebig in einer Weiſe ausgeſprochen, die die allgemeine Aufmerkſamkeit auf ſie lenkte. Gegen ihn haben ſich von den verſchiedenſten Seiten her lebhafte Stimmen erhoben, aber ſehr verſchieden ſind die Gründe und Ein— würfe, welche man gegen ihn geltend gemacht hat. Ein Theil der Oppoſition galt nicht den Anſichten, ſo weit ſie mitzutheilen mir früher vergönnt war, ſondern der gar nicht zu rechtfertigenden Unart, mit welcher Liebig ihm völlig fremde Wiſſenſchaften herabſetzte und in Schleiden, Pflanze. 14 210 Neunte Vorleſung. Bauſch und Bogen die Männer, die ſie vertreten, verunglimpfte, während er gleichzeitig die craſſeſte Unwiſſenheit in dieſen Diſciplinen zur Schau trug. Ein andrer Theil der Einwürfe kam von den un— wiſſenden und beſchränkten Köpfen aus älteren naturwiſſenſchaftlichen Schulen, denen, um dieſe Sätze zu beurtheilen, nicht mehr als Alles und namentlich gründliche Kenntniß der Phyſik und Chemie abging. Endlich ein anderer Theil entſprang noch aus einem Mißverſtand, den Liebig ſelbſt durch unklare Auffaſſung und mangelhafte Einklei— dung veranlaßt hatte. Man glaubte nämlich, daß dieſe Theorie des Stoffwechſels durch die drei Reiche der Natur ſchon eine Theorie des Pflanzen- und Thierlebens ſein ſollte, und dachte mit dem Nachweis, daß hier gar Vieles unerklärt und dunkel bleibe, gar Vieles ſich nicht mit jener Theorie reimen laſſe, dieſe felbft umwerfen zu können. Das Verhältniß jener großartigen Anſichten zum Thier- und Pflanzenleben iſt aber ein ganz anderes. Für ſich find jene allgemeinen Umriſſe voll: endet und unerſchütterlich feſtgeſtellt. Für das Pflanzen- und Thier⸗ reich aber gelten fie uns als leitende Maximen, mit denen in Einklang wir die genauere Auszeichnung des Bildes zu verſuchen, nach denen wir die Zuläſſigkeit der Hypotheſen im Einzelnen zu entſcheiden haben, und es mag ſein, daß wir noch lange forſchen müſſen, bis wir hier alle einzelnen Glieder auffinden, die die Kette vollſtändig ſchließen. Die Theorie des Stoffwechſels ſagt uns nur im Allgemeinen, was zwi— hen Pflanzen und Thieren, Thieren und Atmoſphäre, Atmofphäre und Pflanzen vor ſich geht, aber ſie ſagt uns nicht, was für Proceſſe in der Pflanze, im Thier Statt finden, wohl aber bindet ſie unſere ferneren Unterſuchungen in ſofern, als wir von vorn herein jeden Erklärungsverſuch als falſch verwerfen muͤſſen, der jener Theorie des Stoffwechſels widerſpricht. Alle Verſuche z. B. die Ernährung der Pflanzen aus den organiſchen Beſtandtheilen des Bodens abzuleiten, ſtehen ganz müßig da, weil wir durch jene Theorie wiſſen, daß wir mit den ſämmtlichen organifchen Stoffen nie und nimmer auch nur für den vierten Theil der darauf wachſenden Pflanze Rechenſchaft geben können. * Wovon lebt der Menſch? 211 Hier wirft ſich aber ganz von ſelbſt ein Einwurf auf, der der ganzen Theorie ſehr ungünſtig zu ſein ſcheint. Wir ſehen doch nun einmal unzweifelhaft, daß in humusreichem Boden, auf gutgedüngtem Felde die Culturpflanzen beſſer gedeihen, als auf ungedüngtem. Wenn aber die Pflanze Kohlenſäure, Ammoniak und Waſſer aus der Luft bezieht, wenn das ihre einzige Nahrung iſt, wozu nützt dann der Dünger, warum müſſen wir ihn anwenden, wenn wir nicht auf jedes Gedeihen der Culturpflanzen verzichten wollen? Dieſe Frage kann nur durch eine doppelte Antwort erledigt werden, die Eine aus der Phyſik, die Andere aus der Chemie entlehnt, die Eine die Wirkung des Humus im Allgemeinen, die Andere insbeſondere die Nothwen— digkeit oder Vortheilhaftigkeit des Düngers erklärend. Kohlenſäure, Ammoniak und Waſſerdunſt der Atmoſphäre find allerdings die Nahrungsmittel der Pflanzen, aber die Frage iſt, durch welche Organe ſie dieſelben aufnehmen. Beim Waſſer leidet es keinen Zweifel, daß es ganz oder doch zu 99 Procenten durch die Wurzeln aufgenommen werden muß. Aus den Verſuchen des Engländers Hales und des Deutſchen Schübler ſcheint hervorzugehen, daß die Pflanzen bedeutend größere Quantitäten von Waſſer verbrauchen, als mit dem Regen herabfällt. Eine Sonnenblume verbraucht täglich 1¼ Pfund Waſſer; alſo wenn jede Pflanze 4 Quadratfuß einnimmt, bedürfen die Pflanzen eines Morgens in den vier Sommermonaten 1,500,000 Pfund. Der Boden zwiſchen ihnen iſt aber mit Gras und Unkraut bewachſen und auch dieſes verzehrt Waſſer, welches man noch zu 1,500,000 Pfund veranſchlagen kann. Im Ganzen verlangt alſo ein Morgen Landes mit Sonnenblumen beſetzt 3 Millionen Pfd. Waſſer. Durch ähnliche Berechnungen findet man für den Bedarf eines mit Kohl bepflanzten Morgens 5 Millionen Pfund; für einen Obſt— garten mit Zwergbirnbäumen beſetzt ebenſoviel; für einen Morgen, der mit Hopfen bepflanzt iſt, ſogar 6 bis 7 Millionen Pfund. Die dieſen Berechnungen zu Grunde liegenden Verſuche wurden in Eng— land angeſtellt, wo während der vier Sommermonate höͤchſtens 1,600,000 Pfund Regen auf den Morgen Landes fällt. 14* 212 Neunte Vorleſung. Man würde aber einen großen Irrthum begehen, wenn man glaubte, daß dieſes Regenwaſſer alles den Pflanzen zu Gute käme. Es verfliegt vielmehr gleich ein großer Theil in die Luft, aber ein noch bei Weitem größerer Theil läuft ab und wird durch Quellen, Bäche und Flüſſe dem Meere zugeführt. Zur Beſtimmung dieſer letzten Menge beſitzen wir im— mer noch nicht genügend genaue Meſſungen und Berechnungen. Auffal— lend aber iſt es, daß, ſo wie ſich im Laufe der Jahrhunderte die Methoden der Beſtimmung mehr und mehr entwickelt haben, ſo wie die Beobach— tungen genauer wurden, ſich auch herausſtellte, daß man früher dieſe Waſſermenge viel zu klein angeſchlagen habe. Die älteren Phyſiker nahmen an, daß etwa % des als Regen fallenden Waſſers durch die Flüſſe dem Meere zugeführt werde. Die ſchon viel genaueren Be— rechnungen von Dauſſe für die Seine und von D' Alton für die Themſe zeigten, daß man wenigſtens / annehmen könne. Noch ge— nauer ſind die Angaben von Berghaus für den untern Rheinlauf, wonach ½, und von Studer für den obern Rhein, wonach % alles Regens, Schnee's und Thau's durch den Rhein abfließen würde. Endlich ſind die von Berghaus über die Weſer mitgetheilten ſehr ins Specielle gehenden Thatſachen der Art, daß es beinahe wahr— ſcheinlich wird, daß dieſer Fluß noch etwas mehr Waſſer abführt, als ihm die atmoſphäriſchen Niederſchläge liefern können, daß alſo noch andere Naturproceſſe ihn mit Waſſer verſorgen müſſen. Nehmen wir aber auch an, daß im Ganzen nur die Hälfte des Regenwaſſers EM fo ergiebt ſich doch ſogleich die Unmöglichkeit, daß die übrigbleibenden 800,000 Pfd. Waſſer, auch abgeſehen von der Verdunſtung, den Be— darf der Pflanzen decken können, welcher von 3 bis zu 6 Mill. beträgt. Es muß den Pflanzen alſo der Waſſerdunſt der Luft noch auf andere Weiſe zugeführt werden, und dieſes geſchieht durch die Eigen— fhaft der meiſten den Boden bildenden Beſtandtheile, die Waffer- dünſte der Luft einzuſaugen. Dieſe Eigenſchaft kommt aber keiner Subſtanz in ſo hohem Grade zu, als dem aus der allmäligen Ver— weſung der organiſchen Subſtanzen entſtandenen Humus. Merk— würdiger Weiſe zeichnet ſich aber der Humus auch durch ſeine beſondere Wovon lebt der Menſch? 215 Kraft aus, Kohlenfäure und Ammoniakgas der Luft zu entziehen und gleichſam zu ſammeln; auch in dieſer Beziehung kommt ihm keine feſte Subſtanz des Erdbodens gleich und nur das Waſſer ſteht ihm darin am nächſten. Der Humus enthält ſomit unter allen Umſtänden ſtets ein mit Kohlenſäure und Ammoniak geſchwängertes Waſſer, und ſo wie ihm daſſelbe durch die Wurzeln der Pflanzen entzogen wird, erſetzt er den Verluſt wieder aus der Atmoſphäre. Sicher iſt dies der hauptſächlichſte Weg, auf welchem den Pflanzen das Waſſer zugeführt wird, höchſt wahrſcheinlich der weſentlichſte Canal, durch welchen ſie mit Ammoniak geſpeiſt werden, und gewiß wird ihnen dadurch wenigſtens ein großer Theil der Kohlenſäure zugeführt. Sehen wir eine kürzlich blosgelegte Fläche eines Granitblocks z. B. auf der Spitze des Brockens an, ſo finden wir, daß, ernährt von der geringen Menge von kohlenſaurem, mit Ammoniak geſchwängerten atmoſphäriſchen Waſſer ſich bald eine Vegetation einer kleinen zarten, nur unterm Mikroſkop erkennbaren Pflanze auf demſelben entwickelt. Dieß iſt der ſogen. Veilchenſtein, ein ſcharlachrother, pulverförmi— ger Ueberzug des nackten Geſteins, welcher durch ſeinen beſonders beim Reiben hervortretenden Veilchengeruch eine fleißig geſuchte Merkwür— digkeit für den ſinnigen Brockenwanderer geworden iſt. Durch das allmälige Abſterben und Verweſen dieſer kleinen Pflänzchen bildet ſich nach und nach ein ganz dünner Ueberzug von Humus, der ſchon ein Paar großen ſchwarzbraunen Flechten die nöthige Nahrung aus der Atmoſphäre zuführen kann. Dieſe Flechten, welche die Halden um die Tagöffnungen der Bergwerke von Fahlun und Dannemora in Schweden dicht überziehen und durch ihre düſtre Farbe, die ſie der ganzen Gegend aufprägen, jene Pingen oder Tagfahrten als die fin ſtern Schlünde des Todes erſcheinen laſſen, haben die Botaniker tref— fend die ftygifche und die Fahluner Flechte genannt. Aber fie find hier keine Boten des Todes; ihr Abſterben vielmehr bereitet den Boden für das kleine zierliche Alpenmoos, deſſen Vernichtung bald grünere und üppigere Mooſefolgen, bis ſich hinreichender Boden für die Rauſchbeere, für den Wachholder und endlich für die Fichte ge— 214 5 Neunte Vorleſung. bildet hat. So erwächſt aus unſcheinbarem Anfange eine immer dickere Humusdecke über dem nackten Geſtein, und eine immer fräftigere und üppigere Vegetation nimmt Platz, nicht von jenem Humus ſich er— nährend, der ſich vielmehr mit jeder abſterbenden Generation ver— mehrt, ſtatt vermindert, ſondern durch ihn nur mit Nahrung aus der Atmoſphäre verſehen. Ein noch intereſſanteres Beiſpiel der Art führt Bouſſingault in feiner „Economie rurale“ an. Er beſuchte bei ſeinem erſten Aufenthalt in Amerika eine Gegend in der Nähe von La Vega da Supia, die während ſeiner Anweſenheit durch einen Berg— ſturz in eine wüſte Fläche von Porphyrtrümmern verwandelt wurde, wobei alle Vegetation vernichtet und viele Klafter tief unter Fels⸗ ſtücken begraben war. Als er nach 10 Jahren zum zweiten Mal in die— ſelbe Gegend kam, hatte ſich das wilde und nackte Felsgerölle bereits wieder mit einem jungen, üppig grünenden Akazienhain bedeckt. Sicher ſind auf ähnliche Weiſe die den Fluthen des Uroceans durch vulkaniſche Kräfte entſteigenden Felſeninſeln in einer Periode, die Hunderttauſende von Jahren über alle Menſchengeſchichte auf unſerer Erde hinausliegt, allmälig mit Vegetation bedeckt, bis an günſtigen Stellen ſich zuletzt die Maſſen von Humus anhäuften, die dem uner— ſchöpflichen vegetabiliſchen Leben der tropiſchen Urwälder zur üppigen Unterlage dienen. In dieſen phyſikaliſchen Eigenſchaften des Humus, nicht aber in ſeinen chemiſchen Beſtandtheilen haben wir den Grund zu ſuchen, warum auf einem humusreichen Boden eine üppigere Vegetation gedeihen kann, als auf einem andern, in deſſen Miſchung dieſe Subſtanz fehlt. Wie nun aber: wenn Kohlenſäure, Ammoniak und Waſſer die alleinige Nahrung der Pflanzen ſind, wenn dieſe Stoffe in dem großen Reſervoir des Luftmeeres ſtets in genügender Menge vorhanden ſind, wenn ſelbſt ohne Humus dieſe Stoffe einer dürftigen Vegetation zu— geführt werden können, wenn dieſe durch ihr Abſterben beſſeren Pflan— zen den Boden bereiten, warum findet dennoch trotz alles Humusge⸗ halts eine ſo große Verſchiedenheit in der Vegetation Statt? Weß— halb gedeiht eine und dieſelbe Pflanze auf dieſem Boden hoͤchſt üppig, Wovon lebt der Menſch? 215 während fie auf einem andern verkümmert oder überhaupt gar nicht ſich entwickelt? f „ Nicht jeder Boden trägt Alles.“ „Hier gedeihen die Saaten üppiger, dort beſſer die Trauben *),“ Virgils Gedicht vom Landbau. Auf den Schweizer Voralpen wächſt unſere prachtvollſte Orchidee, der Frauenſchuh, überall, wo der ſogen. Alpenkalk den Boden bil— det; ſie begleitet den ganzen ſchwäbiſchen Muſchelkalk und verſchwindet dann plötzlich, ſo wie man dieſſeits der Donau auf den Sand der Jura- und Keuperformation gelangt. Erſt im thüringiſchen Muſchel— kalke tritt ſie wieder auf und zieht ſich mit demſelben an der Werra hinunter bis in die Gegend von Göttingen, überſpringt dann den bunten Sandſtein des untern Eichsfeldes, den Granit des Oberhar— zes, um wieder auf den Kalkformationen öſtlich vom Brocken den Wanderer zu erfreuen. Dann ſucht man ſie vergebens auf all den Thon⸗ und Sandformationen der norddeutſchen Ebene, bis fie im äußerſten Norden auf Rügen wieder ſich einfindet, wo ſich die Kreide— felſen von Arkona und Stubbenkammer erheben. — An der weſtlichen Küſte von Frankreich wachſen verſchiedene unſcheinbar ausſehende Strandgewächſe, die Solſola- u. Salicornienarten, welche dort von den Einwohnern benutzt werden, um aus ihrer Aſche Soda zu gewinnen. Wenn wir von dort nach Oſten reiſen, ſo vermiſſen wir überall auch beim ſorgfältigſten Suchen dieſe Pflänzchen und nur hin und wieder zeigt ſich die eine oder andere da, wo der Boden von einer Salzquelle durchfeuchtet iſt. Endlich gelangen wir in die großen ſüd— öſtlichen ruſſiſchen Steppen, die, im Sommer oft mit einer dicken Salzkruſte bedeckt, ſich als der Boden eines ausgetrockneten Meeres zu erkennen geben, und hier treten jene Pflanzen wieder in derſelben Fülle und Ueppigkeit auf, wie an den Küſten von Frankreich. — An den Küſten von Norddeutſchland wächſt auf dem dürftigen Dünenſande die kleine blaßrothe, ſtrohblumenartige Grasnelke und hat ſich überall r non omnis ſert omnia tellus, hie segetes, illic veniunt felicius uvae. — Virg. Georg. 216 Neunte Borlefung. auf den Sandflächen der norddeutſchen Ebene ausgebreitet; dann aber überſpringt fie die Granite, Thonfchiefer und Gypſe des Harzes, die Porphyre und Muſchelkalke Thüringens und erſcheint erſt jenſeit des Mains wieder auf der Keuperſandebene, welche das ehrwürdige Nürnberg umgiebt. Weiter ſteigt ſie herab durch die Pfalz nach Süden, bis ihr abermals der Muſchelkalk der ſchwäbiſchen Alpe eine Grenze ſetzt; aber ſie überſpringt dieſen und die ganzen reichen Alpen, um endlich im nördlichen Italien wieder auf Sandboden zu erſcheinen. Wie kommt es nun, daß die genannten Pflanzen überall den üppig— ſten Boden in ihrem geographiſchen Verbreitungsbezirk verſchmähen, und nur auf ganz beſtimmte Gebirgsarten beſchränkt ſind? Sollte hier nicht der Kalk, das Salz, der Sand oder vielmehr die Kieſelerde den entſchiedenſten Antheil daran haben? Und man kann noch weiter fragen: Weshalb kann ein und der— ſelbe Boden die eine Pflanze zur höchſten Stufe ihrer Entwicklung bringen, während eine andere auf ihm nicht im Stande iſt, ihr Leben zu friſten? Warum endlich ſehen wir das Leben und geſunde Gedei— hen unſerer meiſten Culturpflanzen ſo entſchieden an die Düngung des Bodens mit organiſchen Subſtanzen gebunden? Dieſe Frage hat nun zuerſt Liebig auf eine gründliche und ächt wiſſenſchaftliche Weiſe beantwortet. Weshalb, fragt er dagegen, gedeiht in dem humus— reichſten Boden, in reiner Baumerde, kein Weizen? Weil der Weizen einen Stoff, die Kieſelerde, enthält, ohne den er nicht beſtehen kann und den er gleichwohl in der Baumerde nicht findet. Wenn wir eine Pflanze, ſey es, welche es wolle, verbrennen, ſo erhalten wir als Rückſtand, der ſich nicht mit den Verbrennungsproducten verflüchtigt, eine größere oder geringere Quantität Aſche. Kalk, Kieſelerde, Soda und Pottaſche, Kochſalz und eine Verbindung von kohlenſaurem und f phosphorfaurem Kalk (fogen. Knochenerde, weil fie den unverbrenn— lichen Theil der thierifchen Knochen bildet), Gyps und einige andere Beſtandtheile ſind die Subſtanzen, aus welchen gewöhnlich die Aſche gemiſcht iſt. Vergleichen wir aber die Reſultate der Unterſuchung der Aſche einer größern Reihe von Pflanzen unter einander, ſo kommen Wovon lebt der Menſch? 217 wir zu einigen merkwürdigen Geſetzen. Wir finden, daß eine und dieſelbe Pflanze immer nahebei die gleiche relative Menge Aſche giebt, daß dieſe Aſche innerhalb gewiſſer ſehr enge nach chemiſchen Grundſätzen beſchränkter Grenzen ganz gleichmäßig zuſammengeſetzt iſt. Wir entdecken endlich, daß verſchiedene Pflanzen eine aus ſehr verſchiedenen Subſtanzen zuſammengeſetzte oder doch ſehr verſchieden gemiſchte Aſche nach dem Verbrennen hinterlaſſen. So wenig wie es vernunftgemäß iſt, vorauszuſetzen, daß die Pfeilwurzel blos deshalb ein ſo reines Stärkemehl bildet, damit wir unſere Kinder und Kranken damit nähren können, ohne daß dieſe Subſtanz eine ganz beſtimmte Bedeutung auch für das Leben der Pflanze ſelbſt hätte, ebenſo verkehrt würde es ſeyn, anzunehmen, daß eine Pflanze ganz beſtimmte Mengen von Aſchenbeſtandtheilen nur deshalb aus dem Boden aufnehme, damit wir hin und wieder etwas Pottaſche daraus gewinnen können, oder damit dieſe Aſche uns ein läſtiger Rückſtand im Ofen bleibe. Wir müſſen vielmehr durch die Erſcheinung, daß gewiſſe Pflanzen ganz geſetzmäßig gewiſſe unorga— niſche Mineralbeſtandtheile aus dem Boden aufnehmen, zu der An— ſicht geführt werden, daß dieſe Beſtandtheile eben ſo weſentlich für das Beſtehen und folglich für die Ernährung der Pflanze ſind, als jene Ele— mente, aus denen dieſelbe ihre organiſchen Bildungen zuſammenſetzt. Dabei iſt es zunächſt ganz gleichgültig, ob wir durch den Stand unſerer Wiſſenſchaft ſchon befähigt find, in jedem einzelnen Falle nachzuweiſen, welche Bedeutung dieſem oder jenem beſtimmten Stoffe im Leben der Pflanze zukomme. Genug, daß wir wiſſen, daß dieſe Stoffe unerläß— liche Bedingung für das geſunde Gedeihen gewiſſer Pflanzen ſind. So neu und fremdartig Manchem auch jetzt die Behauptung erſcheinen mag, daß die unbedeutende Aſchenmenge in einer Pflanze überhaupt im Leben derſelben berückſichtigt zu werden verdiene, ſo wird man ſie doch leicht gelten laſſen und ſich an dieſelbe gewöhnen, ſo lange und weil man dieſes Verhältniß immerhin nur für eine wenn auch in ihrer Weiſe nothwendige Nebenſache anſieht. Aber ganz an— ders nimmt es ſich aus, wenn wir, vertraut mit den Grundprincipien 218 N Neunte Vorleſung. und dem Gange, den die Wiſſenſchaft in der nächſten Zeit nehmen muß und nehmen wird, ſchon jetzt das Schlußreſultat anticipiren, an deſſen vollkommener Begründung vielleicht noch ein Jahrhundert arbeiten kann. Dann lautet unſer Sprüchlein dahin, daß überhaupt der ganze Reichthum und die ganze Mannigfaltigkeit der irdiſchen Vegetation, ihre große Verſchiedenheit, ſowohl wenn wir Längen- und Breiten-Zonen, als wenn wir die wilde Natur mit dem Culturlande ver— gleichen, ganz ausſchließlich abhängig iſt von der Verſchiedenheit der un— organiſchen Beſtandtheile, welche die Pflanze aus dem Boden aufnimmt. Betrachten wir die wilde Vegetation unſerer Breiten, ſo finden wir zwei Hauptclaſſen des Bodens, die eine im Torf- oder Moor— boden, welcher faſt ganz allein aus Humus, alſo aus verweſten or— ganiſchen Stoffen beſteht, und die andere im Kalk-, Sand- und Thon: boden, in welchem die unorganiſchen Beſtandtheile ſo ſehr vorherr— ſchen, daß der Humus in dem ſchwärzeſten Boden höchſtens 10 Procent und ſelbſt in dem üppigſten und pflanzenreichſten oft kaum / Procent ausmacht. Und jener an Humus ſo reiche Torf- oder Moorboden kann von den 5000 in Centraleuropa wachſenden Phanerogamen noch keine 300 ernähren, und vielleicht ſind es keine 50 Pflanzen, alſo noch nicht 1 Procent, deren Gedeihen wirklich durch den Moorboden bedingt wäre, die nicht auch anderweitig, wo ihnen die nöthige Feuchtigkeit geboten wird, trefflich gedeihen könnten. Die meiſten dieſem humus⸗ reichſten Boden angehörigen Pflanzen ſind aus der Familie der Bin— fen und Riedgräſer, welche dem Landmanne als ſogen. ſaures Futter völlig unnütz und verhaßt genug ſind. Dagegen ernährt die andere Claſſe die ganze Vegetation unſerer Breiten in einer Mannigfaltigkeit, die für unſer durch die Tropenwelt nicht verwöhntes Auge bunt genug iſt, und meiſt finden wir die reichſte Fülle auf dem Boden, der am ärmſten an Humus, aber am reichſten an unorganiſchen Beſtandtheilen iſt, auf Baſalt-, Granit, Porphyr- und Kalkboden. Alle jene verſchie— denen Pflanzenarten kehren uns Jahr aus Jahr ein in derſelben Form wieder, der Kreis ihrer Merkmale iſt ſtreng begrenzt, und wenn wir die jüngſten geognoſtiſchen Formationen durchſuchen, ſo finden Wovon lebt der Menſch? 219 wir die Pflanzen der Jetztwelt ganz mit denſelben Merkmalen, welche ſie noch jetzt zeigen, in den Schutt der letzten Revolution der Erdoberfläche eingeſchloſſen. Ganz Hamburg, ſein Hafen und ein breiter Streifen nach Südoſt und Nordweſt von dieſer Stadt z. B. ruht auf einem untergegangenen Walde, der jetzt 30 bis 100 Fuß unter der Oberfläche begraben iſt. Dieſer beſtand ganz aus den— ſelben Linden und Eichen, die wir jetzt noch in jenen Gegenden kennen; zu anderen Zwecken angeſtellte Aufgrabungen haben Tau— ſende von Haſelnüſſen aus jenem Grunde zu Tage gebracht, welche in Nichts von unſerer heutigen Haſelnuß verſchieden ſind. So hat ſich für unſere Breiten die wilde Vegetation ſeit Jahrtauſenden ganz in demſelben Charakter erhalten, den ſie angenommen hatte, als ſich nach der letzten Erdrevolution die climatiſchen Verhältniſſe ſo geſtaltet hatten, wie ſie gegenwärtig von uns beobachtet werden. Ganz anders verhält es ſich mit unſerm Culturboden, von welchem ich hier nur das Gartenland berückſichtigen will, weil es die hervor— zuhebenden Eigenheiten in der auffallendſten Weiſe zeigt. Wir beſchränken unſern ſorgfältigen Pflanzenbau auf eine ge— wiſſe verhältnißmäßig kleine Anzahl von Kräutern, und die Aus- wahl derſelben, in früherer Zeit dem Zufalle überlaſſen, jetzt nicht ſelten mit Bewußtſein nach beſtimmten Grundſätzen geleitet, wird beſonders durch Eine Hauptrückſicht beſtimmt. Unſere Culturpflanzen zeigen ſämmtlich Merkmale, die ihnen im wilden Zuſtande nicht zukommen, welche aber gerade das um— faſſen, was uns dieſelben werth macht. Die 4 bis 6 Pfund ſchwere, ſüße, faftige Altringhammöhre ift im wilden Zuſtande eine dürre, dünne, ungenießbare Wurzel; der fauſtgroße, zarte, wohl— ſchmeckende Wiener Glaskohlra bi iſt wild ein ſchlanker, holziger, ſaftloſer Stengel; der weiße, weiche, gewürzige Blumenkohl iſt auf ſeinem natürlichen Standort, in ſeiner natürlichen Tracht, ein faden⸗ dünner, verzweigter Blüthenſtiel mit kleinen grünen, bitter ſchme— ckenden Blüthenknospen und ſo fort. Alle dieſe ſo verſchiedenen Ei— genheiten, wodurch die Pflanzen ſo wichtige Begleiter des menſch— 220 Neunte Vorleſung. lichen Haushaltes geworden ſind, werden aber hervorgerufen durch einen eigenthümlichen, der Pflanze urſprünglich fremdartigen chemi- ſchen Proceß, den nicht die überall für alle Pflanzen gleichen und faſt gleichmäßig vertheilten organiſchen Elemente, ſondern die im Boden vorhandenen und durch die Wurzeln aufgenommenen unor— ganiſchen Beſtandtheile bedingen. Sobald ein Boden reich iſt an den verſchiedenen den Pflanzen überhaupt zukommenden Salzen, ſo ändern ſich die Charactere der Pflanzen, es entſtehen Varietäten, Monſtroſitäten u. ſ. w., was im wilden Zuſtande der Pflanze, wo ſie ſich immer nur auf dem genau ihr zuſagenden Boden hält, nie: mals Statt findet. Die Pflanzen zeigen aber eine ſehr verſchiedene Geneigtheit, durch ſolche äußere Einflüſſe in ihrer eigenthümlichen Natur abgeändert zu werden. Während einige unter den verſchieden— ſten Verhältniſſen bis in die geringſten Einzelnheiten hinein genau ihre Merkmale beibehalten, gehen andere leicht in unzählige Spiel— arten über. Während bei einigen die Spielarten nur wenig Be— ſtändigkeit zeigen, leicht wieder in die wilde Form oder in neue Spielarten übergehen, bilden andere Pflanzen mannigfaltige Ab— änderungen, die nach der Cultur einiger Jahre ſchon mit völliger Sicherheit durch den Saamen fortgepflanzt werden können und auf dieſe Weiſe ſogenannte Unterarten bilden. Gerade dieſe Eigenſchaft der Pflanzen aber iſt es, welche ſie geeignet macht, zu einem vor— theilhaften Gegenſtand der Cultur zu werden, daß ſie nämlich leicht ſehr verſchiedene und beſtändige Spielarten bilden, aus denen der Menſch ſich dann die für ſeine Zwecke vortheilhaften ausſucht und ſie in die Zahl ſeiner vegetabiliſchen Unterthanen aufnimmt. Hier haben wir nun drei ſich gegenüberſtehende Verhältniſſe, den gemeinen Boden, den Moorboden und den Gartenboden. Der erſte nährt einen Reichthum verſchiedener Pflanzenformen, die ſich N aber in ſtarrer Conſequenz durch Jahrtauſende gleich bleiben. Der Moorboden iſt außerordentlich arm an Gewächſen, nur die form— loſeſten und unbrauchbarſten Pflanzen bringt er hervor. Endlich der Gartenboden ernährt nicht nur üppig jede Pflanze, die ihm über— Wovon lebt der Menfh? 221 geben wird, ſondern er vermehrt ſelbſt beſtändig den Reichthum der Pflanzenformen ins Unendliche, wobei wohl nur die Ungunſt des Climas ein Ziel ſetzt und die Formen wieder auf ihre Urgeſtalten zurückführt, ſobald die begünſtigenden Einflüſſe der Cultur auf— hören. Dann treten zwei andere Verhältniſſe als Gegenſätze vor unſere Betrachtung. Wir haben einerſeits den gemeinen Boden mit wenig oder gar keinen organiſchen Reſten und ſeinem Pflanzenreich— thum, andererſeits den Moorboden und den Gartenboden, beide bis zum Uebermaaß reich an dem ſchwarzen Beſtandtheile, Humus ge— nannt, welcher aus der Zerſtörung thieriſcher und pflanzlicher Orga— nismen ſich gebildet hat. Und gleichwohl finden wir beim Moor— boden und Gartenland einen ſo verſchiedenen Einfluß auf die Vege— tation. Dieſer erklärt ſich aber leicht aus der Art und Weiſe, wie beide gebildet werden. Der Torfboden entſteht da, wo organiſche Subſtanzen bei Gegenwart von vielem Waſſer verweſen. Die Folge davon iſt, daß das Waſſer alle auflöslichen Salze, welche in jenen Organismen enthalten waren, ſogleich, wie ſie frei werden, auf— nimmt und fortführt. Dagegen bleiben im Gartenboden alle jene löslichen Salze zurück, kommen unmittelbar der Pflanze zu Gute und häufen ſich bei einer reichlichen Pflege des Bodens zuletzt außer— ordentlich in ihm an, während die organiſchen Beſtandtheile durch die ununterbrochen fortſchreitende Verweſung immer wieder vermin— dert werden und ſo nie ſich in der Weiſe anſammeln können, wie in Torf: oder Moorboden, wo die Gegenwart des Waſſers von einer gewiſſen Zeit an das weitere Fortſchreiten der Verweſung hemmt oder doch ſehr verzögert. Es kann nicht leicht einen ſchlagendern Beweis für die Richtigkeit der neueren Anſichten über die Ernährung der Pflanzen geben, als dieſe Betrachtungen, für Anſichten, welche faſt gleichzeitig von einem der ausgezeichnetſten Chemiker, Liebig, und einem der bedeutendſten praktiſchen Landwirthe, Bouſſingault, aufgeſtellt und ausgeführt ſind. Aber ich erlaube mir noch einmal auf die früher erörterte Frage zurückzugehen: wovon lebt der Menſch? Wir haben geſehen, daß 222 Neunte Verleſung. die in ſeinem Körper enthaltenen nährenden Flüſſigkeiten, daß Muskeln, Haut und der Leim, welcher die Grundlage der Knochen bildet, weſentlich aus ſtickſtoffhaltigen Subſtanzen gebildet ſind, welche ihm die Pflanzen als Nahrung darbieten. Aber der Leim macht nicht allein den Knochen aus; wir finden vielmehr in dieſem neben dem Leim die ſogenannte Knochenerde, eine Verbindung von kohlenſaurem und phosphorſaurem Kalke. Dieſe iſt es, welche dem Knochen ſeine Feſtigkeit, ſeine Härte giebt, durch welche allein er fähig iſt, die ſtützende Grundlage des ganzen Körpers zu ſeyn; wir wiſſen, daß, wo dieſe Knochenerde mangelt, eine ſchreckliche Krank— heit, die ſogenannte Knochenerweichung, eintritt. Woher nimmt der Menſch dieſen nicht minder weſentlichen Beſtandtheil feines Koͤr— pers? Wir wiſſen ferner, daß alle Flüſſigkeiten des Körpers eine bes ſtimmte Menge gewiſſer Salze enthalten, daß ohne dieſelben dieſe Flüſſigkeiten dem Körper nicht die Dienſte leiſten, zu welchen ſie beſtimmt ſind. Auch von dieſen Stoffen müſſen wir Rechenſchaft geben, wenn wir die Ernährung des Thierkörpers erklären wollen. So wie von den ſtickſtoffhaltigen Theilen des Körpers wird auch be— ſtändig von dieſem Unorganiſchen eine gewiſſe Menge bei der Thä- tigkeit des Körpers zerſetzt und ausgeſchieden und muß erneuert werden. Wir denken hier unwillkürlich zunächſt an die Erde eſſenden Ottomaken, an die Thonkugeln verſchlingenden Neger, an die zahlloſen Beiſpiele, daß Menſchen in Hungersnoth, oder ſonſt aus einer Art Liebhaberei ſogenanntes Bergmehl, eine feine Kieſel— oder Kalkerde, verzehrt haben. Aber ſogleich werden wir dieſen Ge— danken abweiſen, wenn wir bemerken, daß hiemit nicht allgemeine Nahrungsmittel aller Menſchen, ſondern nur einige wenige aus krankhafter Verſtimmung der Magennerven oder aus Noth hervor— gegangene abnorme Erſcheinungen genannt ſind. Die Quelle, aus welcher der thieriſche Körper die unorganiſchen Beſtandtheile ſchoͤpft, muß eine Allgemeine ſeyn, und wir ſehen uns damit wieder auf die Pflanzen gewieſen. Wenn nun Knochenerde und ſtickſtoffhaltige Be— ſtandtheile den thieriſchen Körper aufbauen, wenn wir wiſſen, daß Wovon lebt der Menfh? 225 alcaliſche Salze ſtets die Galle begleiten, welche nach Liebigs An— ſichten eine bedeutende Rolle in dem Athmungs- und Verbren— nungsproceß ſpielt, durch welchen die thieriſche Wärme unterhalten wird, ſo muß es uns natürlich überraſchen, bei den Pflanzen ganz conſtant die ſtickſtoffhaltigen Nahrungsmittel von phosphorſauren Salzen, die ſtickſtofffreien Reſpirationsmittel von Alcalien begleitet zu finden. So hat die weiſe Fürſorge der Natur ſogleich in der Pflanze vereint, was gerade in dieſer gewiſſen Verbindung ander: weitig im Thiere nützlich werden ſoll. Die Naturwiſſenſchaft darf aber bei ſolchen teleologiſchen Be— trachtungen nicht ſtehen bleiben und unſere Aufgabe wird zunächſt ſeyn, nachzuweiſen, daß für die Pflanze ſelbſt jene unorganiſchen Salze ganz beſtimmte Bedeutung haben. Ja ſelbſt wenn wir die— ſen Nachweis noch nicht zu liefern im Stande ſind, ſo müſſen wir doch aus dem conſtanten Vorkommen beſtimmter Mineralbeftand- theile in beſtimmten Pflanzen auf die Nothwendigkeit derſelben für das Beſtehen und Gedeihen der Pflanze ſchließen, wie zuerſt Th. de Sauſſure in feinen unſterblichen Recherches sur la végétation gethan hat. Auf dieſe Anſicht geſtützt ſprach nun Liebig aus: da die organiſchen Nahrungsmittel allen Pflanzen überall in gleichem Maße zu Gebote ſtehen, ſo kann in ihnen die Urſache der großen Verſchiedenheit der Vegetation nicht geſucht werden, folglich muß dieſelbe in den unorganiſchen Beſtandtheilen liegen, und wenn wir den Dünger auf den Acker bringen, ſo iſt es im Weſentlichen ganz daſſelbe, wenn wir ihn erſt verbrennen und nur die Aſche auf den Boden ſtreuen, denn nur in den Aſchenbeſtandtheilen kann ſeine Wirkſamkeit begründet ſeyn. Es iſt leicht einzuſehen, daß dieſer Grundſatz, auf den Land— bau angewendet, über alle Erſcheinungen, um deren Erklärung man ſich bisher vergebens abmühte, plötzlich ein neues helles Licht ausgießt. Nun können wir es leicht begreifen, warum eine Rieſel— wieſe jährlich ohne Düngung die großen Mengen von Heu liefern kann, wenn ihr im Quellwaſſer die nöthigen Quantitäten von 224 Neunte Vorleſung. Salzen zugeführt werden. Es wird uns klar, wie der Peruaner auf dem dürrſten Flugſande die üppigſten Maisernten erzielen kann, wenn nur ein kleines Bächlein von den Schneegipfeln der Andes ihm die nöthigen auflöslichen Erdſalze zuführt. Hunderte von ähn— lichen Erſcheinungen werden plötzlich durch dieſen genialen Gedan— ken Liebigs aufgeklärt, aber auch Hunderte von neuen Gedanken fruchtbar für die Ausbildung und Verbeſſerung, für Vereinfachung und Sicherung des Landbaus werden angeregt, welche die nächſte Folgezeit ausbeuten wird, und wir fangen an, es natürlich zu fin— den, daß England, wo der Ackerbau auf einer nach dem bisherigen Mapftabe fo hohen Stufe ſteht, ihn, den Begründer einer rationellen Pflanzencultur im Gegenſatz der bisherigen rein empiriſchen auf eine Weiſe feiern und mit Feſten und Ehrenbezeigungen aller Art über— häufen konnte, wie es kaum einem Menſchen und ſicher nie einem Ausländer in England widerfahren ift. - Wenn wir die Aſchen der Pflanzen unterſuchen, finden wir insbeſondere folgende vier Beſtandtheile, durch welche ſie charakteri— ſirt ſind: Leicht auflösliche alcaliſche Salze, Erden, beſonders Kalk— und Talkerde, Phosphorſäure und Kieſelſäure oder Kieſelerde. Bald herrſcht eine, bald zwei von dieſen Subſtanzen in der Aſche der Pflanzen vor. Hiernach theilte Liebig die Culturgewächſe ein in: 1) Alcalipflanzen, wozu Kartoffeln und Runkeln, 2) Kalkpflanzen, wozu Klee, Erbſen u. ſ. w., 3) Kieſelpflanzen, wozu die Gräſer, 4) Phosphorpflanzen, wozu Roggen und Weizen gehören. Aber außerdem enthalten die Pflanzen noch manche andere Stoffe, deren Mengen und Bedeutung wir nur zur Zeit noch weni— ger genau kennen. Bei fortſchreitender Wiſſenſchaft wird aber ſicher jene Liebig 'ſche Eintheilung noch eine viel ausführlichere Geſtalt annehmen. Alle jene Stoffe finden ſich nun zwar in den Gebirgsarten der feſten Erdrinde vor, aber faſt alle in einem völlig unauflöslichen, Wovon lebt der Menſch? 223 zum Theil kryſtalliniſchen, alſo für die Pflanze durchaus unbrauch- baren Zuſtande. Die Frage aber, wie dieſe Stoffe auflöslich ge⸗ macht, wie ſie allmälig zum Boden der Pflanze werden, kann uns nur die Geognoſie beantworten. Verſetzen wir uns im Geiſte in eine Zeit, welche die großartig poetiſche Sage der Hebräer mit den Worten bezeichnet: „Und die Erde war wüſte und leer, und es war finſter auf der Tiefe und der Geiſt Gottes ſchwebte auf den Waſſern;“ ſo zeigt ſich uns die Erde in dichte Nebel gehüllt, größtentheils mit Waſſer bedeckt, dem durch vulcaniſche Kräfte gehoben zuerſt die Gebirge entſtiegen, die in feurigem Fluß oder doch in breiartigem Zuſtande an die Luft tra— ten und hier mehr oder weniger kryſtalliniſch als ſogenannte Urge— birge erſtarrten. Gleichzeitig erhebt ſich durch dieſelben Kräfte der benachbarte Meeresboden über den Spiegel deſſelben und zeigt ſich in ſchichtenweis aus dem Meere abgeſetzten Niederſchlägen als Uebergangsgebirge. Sogleich aber beginnt der zerſetzende Einfluß der Atmoſphäre. In die Sprünge und Riſſe des feſten Felſens, die bei der Abkühlung entſtehen, drängt ſich das atmoſphäriſche Waſſer hinein. Durchs Gefrieren ausgedehnt ſprengt es die oberflächlichen Lagen, und die einzelnen Blöcke rollen an den Bergen hinab. An ihnen wiederholt ſich derſelbe Vorgang ſo oft, bis ſie zuletzt mit den ihnen nachfolgenden in Staub zerfallen ſind, den theils Regen— güſſe auf das flache Land hinabſpülen, theils die mächtigen Ströme dem Meere zuführen, wo er ſich wieder in Schichten abſetzt, die, ſpäter ebenfalls durch immer von Neuem aufſteigende geſchmolzene Maſſen gehoben, als ſecundäre und tertiäre Schichten und Dilu— vium erſcheinen. Die zerſtreuten größeren Maſſen auf dem feſten Lande werden durch furchtbare Regengüſſe zuſammengeſchwemmt, an allen blosliegenden Felſen nagt beſtändig neben der bloßen mechaniſchen Zerkleinerung, wodurch ſie in kleine Theile und in Staub zerfallen, noch ein chemiſcher Zerſetzungsproceß, durch wel— chen ganz neue Verbindungen gebildet werden, welche durch Regen und geringere Ströme zum Alluvium zuſammengewaſchen werden. Schleiden, Pflanze. 15 * * 226 Neunte Vorleſung. So bildet ſich die nackte Rinde unferes Planeten. Aber Bil- dungsproceſſe, von denen wir jetzt keinen Begriff mehr haben und haben können, laſſen gleich vom erſten Beginn an, wo ſich Meeres⸗ ablagerungen als Uebergangsgebirge an die Luft erheben, vegetas biliſche Keime entſtehen, welche in Kohlenſäure, Ammoniak und Waſſer und in den Verwitterungsproducten der Geſteine ihre Nah: rung finden. Es entſteht eine lebensvolle Welt der Organismen auf der Erde, deren bunte Mannigfaltigkeit nicht bedingt iſt durch die vier Elemente, welche ihre organiſchen Beſtandtheile im engern Sinne bilden, ſondern vielmehr durch die unendliche Verſchieden— heit des chemiſchen Proceſſes, welche durch die mannigfaltige Art und Menge der unorganiſchen Stoffe hervorgerufen wird. Dagegen bildet die aus dem Abſterben der lebendigen Weſen hervorgehende ſchwarze Subſtanz, der Humus, die Möglichkeit, daß dieſe zahllo— ſen Organismen ſich zur höchſten Kraft entwickeln können, indem er ihnen die organiſche Nahrung zuführt. Die Verwitterung des Felſens und ſeine chemiſche Zerſetzung in auflösliche Beſtandtheile, ſowie die Verweſung der organiſchen Verbindungen hängen aber von der Wärme und der chemiſchen Zuſammenſetzung der Atmofphäre ab. Verhältniſſe, wie wir ſie jetzt nur noch unter den Tropen finden, machen eine ſchnelle Verwitterung und eine ſchnelle Verweſung mög— lich und bedingen fo die reiche und üppige Vegetation dieſer Gegen: den. In einer früheren Periode der Erde muß aber unſere Atmofphäre überall feuchter, dicker und folglich wärmer geweſen ſeyn, und in dieſer Zeit konnte unbeſchränkt auf der ganzen Erde die Fülle von Organismen ſich entwickeln, die wir ohne Rückſicht auf die geogra— phiſche Breite jetzt als Verſteinerungen in den Felsſchichten begra= ben finden. N Doch ich kehre wieder zu meiner Aufgabe zurück. Die geiſt⸗ reiche, durch Liebig begründete Anſicht weiſt uns alſo nach, daß ge— rade die Beſtandtheile, welche wir gewohnt ſind, zu verachten und zu überſehen, für die Pflanzenwelt von der weſentlichſten Bedeu tung ſind. Wohl beſtehen alle die ſtickſtoffhaltigen Beſtandtheile der © . Wovon lebt der Menſch? 227 Pflanzen, deren wir als Nahrung bedürfen, nur aus Kohlenſtoff, Waſſerſtoff, Sauerſtoff und Stickſtoff. Aber alle Gegenwart dieſer Stoffe hilft allein der Pflanze nichts, ſie kann daraus nicht ein Körnchen Eiweiß oder Kleber bilden, wenn ſie nicht gleichzeitig in dem gehörigen Verhältniß phosphorſaure Salze erhält. Wohl iſt das nützliche Stärkemehl, der ſüße Zucker, die kühlende Citronen— ſäure, das gewürzige Orangenöl nur aus Kohlenſtoff, Waſ⸗ ſerſtoff und Sauerſtoff zuſammengeſetzt, aber die Pflanze kann uns bei allem Ueberfluß an dieſen Elementen jene Geſchenke nicht be— reiten, wenn es ihr an alcaliſchen Salzen fehlt. Der ſchlanke Sten— gel des Weizens kann ſich nicht erheben, um an der Sonne ſein Korn zu reifen, wenn ihm der Boden nicht die Kieſelerde liefert, durch welche er ſeinen Zellen die Feſtigkeit verleiht, um ſich aufrecht zu erhalten. Auf dieſe Thatſachen geſtützt hat Liebig in neuerer Zeit ver— ſucht, unſer ganzes bisheriges landwirthſchaftliches Verfahren um⸗ zuſtoßen durch die Empfehlung der von ihm erfundenen minera— liſchen Dünger, für deren Anfertigung er in England ein Patent ge— löſt und daſſelbe an die Herren Musprath u. Comp. verkauft hat. Seine Abſicht dabei iſt, für jede Bodenart und für jede Pflanze eine eigne Compoſition derjenigen mineraliſchen Stoffe zu liefern, welcher die Pflanze bedarf und die in dem Boden fehlen, und zwar in einer ſo eigenthümlichen Verbindung, daß die Stoffe auflöslich genug ſind, um von der Pflanze aufgenommen werden zu können, und doch nicht ſo leicht auflöslich, daß der Regen bedeutende Mengen davon wegſpülen könnte. Ob Liebig dieſe Abſicht erreicht hat, läßt ſich erſt dann entſcheiden, wenn die Erfahrung ſich darüber ausge— ſprochen. Theoretiſch muß man behaupten, daß das Princip richtig und die Ausführung möglich iſt. Aber einen Einwurf wird die Pflanzenphyſtologie dieſem Syſtem der Düngung mit Recht machen und dieſen Einwand wird die Erfahrung beſtätigen, daß nämlich, wie im Vorigen nachgewieſen, der Humus zwar keineswegs ein Nahrungsſtoff für die Pflanzen iſt, aber doch für eine geſunde und 15* * * 228 Neunte Vorleſung. kräftige Vegetation ein unerläßlicher Beſtandtheil auf allen Boden⸗ arten bleibt, die nicht, was ſelten der Fall iſt, auf eine äußerſt glückliche Weiſe mit Thon, der einigermaßen den Humus erſetzen kann, gemiſcht ſind. Liebigs chemiſche Einſeitigkeit in dieſer Be— ziehung wird den Landwirthen, die nicht durch eigne gründliche na— turwſſenſchaftliche Kenntniß dieſem Mangel entgegenwirken können, wahrſcheinlich ebenſo verderblich werden, als auf der andern Seite der Mangel an gründlichen naturwiſſenſchaftlichen Studien und die rohe empiriſche Einſeitigkeit in neueſter Zeit ſo viele, beſonders deutſche Landwirthe verhindert, an den großen, durch das Fort— ſchreiten der Wiſſenſchaften hervorgerufenen Verbeſſerungen Theil zu nehmen. Vielleicht aber giebt ein Ereigniß, welches an ſich trau— rig genug iſt, hier die Veranlaſſung zu einer ernſten Aufmerkſamkeit auf die Reſultate der Wiſſenſchaft und wird ſo, indem es weſent— liche Umgeſtaltungen in unſerem landwirthſchaftlichen Betriebe her— vorruft, zu einem ſegensvollen Momente in unſerer Culturgeſchichte. Ich meine die Kartoffelkrankheit, welche in den letzten Jahren bald hier, bald dort in einer ſo drohenden Geſtalt aufgetreten iſt, daß ſie wohl geeignet iſt, auch den Indolenteſten aus dem Schlummer aufzuwecken, und an der wir wie es ſcheint einen der ſchönſten Belege für die Richtigkeit der Liebigſchen Theorieen haben. Die Erſcheinung der Kartoffelkrankheit in unſerer Zeit ſteht keines— wegs iſolirt da, ſchon ſeit mehr als 100 Jahren haben ſich Krankheiten unter den Kartoffeln gezeigt und find jedesmal bei ihrem Wiedererſchei— nen in größerer Ausdehnung und Heftigkeit aufgetreten. Daß ſie nicht allein oder auch nur weſentlich von Witterungseinflüſſen abhängig ſind, zeigten ſchon ihre immer ſchlimmer werdenden Formen, insbeſondere aber ihre Verbreitung im Jahre 1845, indem ſie mit gleicher Furcht— barkeit im ſüdlichen Schweden und in Südamerika erſchien, welche beide Länder im Gegenſatz zum mittlern Europa einer ausgezeichnet ſchönen Witterung ſich zu erfreuen hatten. Uebrigens iſt die Kartof— fel in keiner Lage, bei keiner Culturmethode, bei keiner Spielart ganz verſchont geblieben, und ſchon das weiſt uns darauf hin, daß * * Wovon lebt der Menſch? 229 hier kein einzelner äußerer Einfluß, ſondern eine innere Ausartung der Kartoffel der eigentliche Grund der Krankheit ſein muß. Fragen wir, wie ſich eine ſolche Ausartung entwickeln konnte, ſo kann uns dabei nur folgende Betrachtung leiten. Die wilde Kartoffel iſt eine kleine grünliche, bitter ſchmeckende Knolle, welche aber viel Stärke— mehl enthält. Sie gehört zu den Pflanzen, welche leicht auf Eul- turboden Spielarten bilden, die ziemliche Unveränderlichkeit zeigen, wenn die Culturbedingungen genau dieſelben bleiben. Wenn dies nicht der Fall iſt, ſo bilden ſich neue Abänderungen, ſie arten aus, wie man zu ſagen pflegt. Die Verſchiedenheit dieſer Spielarten be- ſteht nun nur zum Theil in der bei Weitem unweſentlichern Verän— derung der Geſtalt der Kartoffel, in ihrem ſchnelleren oder lang— ſameren Reifen. Bei weitem wichtiger dagegen iſt die Verſchieden— heit in dem chemiſchen Proceß, durch welchen die relativen Mengen des Stärkemehls und des Eiweißes in den Knollen verändert werden. Das Stärkemehl, ein ſtickſtofffreier Stoff, iſt der eigentliche charac— teriſtiſche Beſtandtheil der Kartoffel, eine Subſtanz, welche für ſich längere Zeit der Fäulniß widerſteht. Die Bildung deſſelben erfordert nach Liebig die Gegenwart einer großen Menge Kali und deshalb gehört die Kartoffel ganz beſonders zu den Alcalipflanzen. Das Ei— weiß dagegen, ſtickſtoffhaltig, iſt außerordentlich zur Zerſetzung und Fäulniß geneigt, und ſeine Gegenwart in größerer Menge macht auch andere Subſtanzen, die für ſich lange der Fäulniß widerſtehen, z. B. Zellſtoff und Stärkemehl, geneigter zu dieſem Auflöſungs— proceß. Die Entſtehung des Eiweißes ſetzt nach Liebig das Vor— handenſeyn einer großen Menge phosphorſaurer Salze voraus. Unterſuchen wir nun die geſunde normale Kartoffel, ſo finden wir in ihr durchſchnittlich das Verhältniß der ſtickſtoffhaltigen Be— ſtandtheile zu den ſtickſtofffreien wie 1: 20; das Verhältniß der phosphorſauren Salze zu den Alcaliſalzen wie 1: 10. Dagegen ent— hält das friſchgedüngte Culturland aus phyſiologiſchen Gründen, welche zu entwickeln mich hier zu weit führen würde, die genann— ten unorganiſchen Beſtandtheile faſt in dem Verhältniſſe wie 1: 2. * 250 Neunte Vorleſung. Die Folge davon iſt, daß die in ſolchem Boden gebaute Kartoffel gezwungen wird, immer im Verhältniſſe zu den alcaliſchen Salzen eine größere Menge phosphorſaurer Salze aufzunehmen, als fie ih⸗ rer Natur nach bedarf, und in Folge deſſen bildet ſich auch in ihr eine größere Menge von ſtickſtoffhaltigen Beſtandtheilen, von Eiweiß, als ſie in ihrem normalen Zuſtande enthalten ſollte. Dieſe letzteren aber müſſen unausbleiblich die Beſtandtheile der ſtets ſehr waſſerrei— chen Kartoffel zu Zerſetzungsproceſſen geneigt machen, die dann un⸗ ter den verſchiedenſten Formen auftreten und bald, wie bei der früher ſchon beobachteten Trocken fäule (dry rot der Engländer), vorzugs⸗ weiſe das Stärkemehl, bald, wie bei der vorjährigen Naſſenfäule, vorzugsweiſe den Zellſtoff ſelbſt angreifen. Daß eine ſolche Anlage augenblicklich ſich als verderbliche Krankheit zeigen wird, wenn äu— ßere Einflüſſe, beſonders ungünſtige Witterungsverhältniſſe, hinzu⸗ kommen, iſt ſehr begreiflich, ſo wie es ſich auch von ſelbſt verſteht, daß, wenn die ſchädlichen Einflüſſe, welche die Krankheitsanlage er- zeugten, fortdauern, die Ausartung der Kartoffel und ihre Geneigt⸗ heit zu Krankheiten ſich immer mehr ſteigern muß. In ſolchem Falle bietet uns nun jene Theorie von Liebig und Bouſſingault abermals einen ſichern Anhaltepunct zur Vermeidung des Uebels. Eine ſorg— fältigere Beachtung der unorganiſchen Subſtanzen läßt uns bald das Geſetz finden, daß es nicht allein darauf ankommt, daß die einzelnen Stoffe überhaupt in genügender Menge im Boden vorhanden ſind, ſondern daß ſie auch zu einander in richtigem Verhältniſſe ſtehen müſ— ſen; daß die Berückſichtigung dieſes Verhältniſſes am wichtigſten wird für die Pflanzen, welche ihrer Natur nach geneigt ſind, Abarten zu bilden, und am meiſten für diejenigen Pflanzen, deren chemiſche Zu— ſammenſetzung am wenigſten eine Veränderung ihrer Beſtandtheile ohne weſentliche Nachtheile erträgt iſt einleuchtend. Alles dieſes trifft aber vorzugsweiſe die Kartoffel, am wenigſten aber unſre Kornarten, Roggen und Weizen. Vergleichen wir nun die Aſchenbeſtandtheile die— fer letzteren mit dem Gehalte eines friſch gedüngten Bodens, fo fin— den wir in beiden die Verhältniſſe faſt gleich und merkwürdigerweiſe Wovon lebt der Menſch? 251 bleibt, wenn wir die Aſchenbeſtandtheile des Noggens vom Gehalte des Bodens abziehen, faſt genau das Verhältniß der einzelnen Stoffe * übrig, wie wir es in der Aſche der Kartoffel finden. Der Schluß iſt alſo einfach der, daß wir in Zukunft nicht mehr, wie es im größten Theile von Europa bis jetzt geſchehen, die Kartoffel als erſte Frucht nach der Düngung bauen dürfen, ſondern daß wir mit dem Roggen anfangen und erſt die Kartoffel auf ihn oder vielleicht noch beſſer zwei Jahre ſpäter auf den Klee folgen laſſen müſſen, wenn wir eine ge— ſunde Frucht erziehen und für die Zukunft von der jetzt langjährigen Landplage befreit ſeyn wollen. Der Grundſatz wird fernerhin uner— ſchütterlich ſtehen bleiben, daß die Nahrungsſtoffe, welche die Pflanze dem Boden ſelbſt entnimmt, im Weſentlichen nur in den unor— ganiſchen Beſtandtheilen deſſelben beſtehen, daß dieſe und nicht die organiſche Subſtanz im Boden ſeinen eigenthümlichen Reichthum ausmachen. In der Pflanze aber ſind an die organiſchen Verbindungen un— trennbar die unorganiſchen geknüpft, und wenn wir uns jener be— mächtigen, müſſen wir dieſe mit in den Kauf nehmen. Aber dieſelben ſind nicht nur nicht ein unnützer Ballaſt, ſon— dern ſie ſind ſelbſt für unſeren Körper und deſſen Erhaltung weſent— liche Beſtandtheile. Sehen wir nun zu, woraus der Menſch eigent— lich beſteht. Nach Quetelet wiegt der erwachſene Mann durchſchnitt— lich 140 , und wenn wir die große Menge Waſſer, welche alle Theile unſers Körpers durchdringt, ſie geſchmeidig und biegſam er— hält, abziehen, etwa 35 4, — davon kommen 13 FJ auf die Kno⸗ chen und 22 W auf alle übrigen Theile. Jene enthalten durchſchnitt⸗ lich 66%, dieſe 3% erdige Beſtandtheile, die beim Verbrennen als Aſche zurückbleiben. Der Menſch beſteht alſo bis mehr als /s aus unorganiſchen Beſtandtheilen, die zu ſeinem Beſtehen nothwendig ſind, die er alſo auch mit der Nahrung aufnehmen muß. Er muß, wie der böſe Geiſt ſagt, in der That vom Staube ſich nähren. Gerade ſo wie die weicheren Organe des menſchlichen Körpers bei jeder Thätigkeitsäͤußerung deſſelben zum Theil abgenutzt und ver: 252 Neunte Vorleſung. Wovon lebt der Menſch? braucht und durch die Ernährung wieder erſetzt werden, verliert der Menſch auch beſtändig einen Theil jener unorganiſchen Subſtanzen und muß dieſen Verluſt durch Nahrungsmittel wieder ausgleichen. Zwiſchen beiden aufgenommenen Stoffen beſteht aber während des Lebens ein eigenthümliches Verhältniß. Beim Kinde, welches noch wachſen, ſeine Organe zum Theil erſt entwickeln ſoll, wird beſtän— dig von beiden Claſſen von Stoffen, von organiſchen ſowohl wie von unorganiſchen, bei Weitem mehr aufgenommen, als abgenutzt; beim Erwachſenen halten ſich Einnahme und Ausgabe gerade das Gleichgewicht, im Greiſenalter dagegen tritt ein eigenthümliches Mißverhältniß ein. Von organiſchen Stoffen verbraucht der Greis allmälig immer mehr, als er aus der Nahrung wieder erſetzen kann. Die Staͤrke ſeiner Muskeln ſchwindet, die Menge des Bluts wird geringer, er magert ab. Die unorganiſchen Stoffe werden aber nicht in gleichem Maße abgenutzt, als ſie aus der Nahrung aufgenommen werden. In dieſer Beziehung tritt der Menſch auf die Kindheits— ſtufe zurück und wir erhalten eine der früher entwickelten faſt gerade entgegengeſetzte Anſicht vom Leben und vom Tode. Immer mehr und mehr ſetzen ſich erdige Beſtandtheile im Menſchen an, Organe, die früher weich und biegſam waren, verknöchern und verſagen ihren Dienſt, immer ſchwerer zieht den Menſchen der Staub zum Staube nie— der bis endlich die leichtbeſchwingte Pſyche, des Druckes müde, die zu ſchwer gewordene Chryſalidenhülle abwirft. Sie überläßt den ſtaub— gebornen Leib der langſamen Verbrennung, welche wir Verweſung nennen. Ein Aſchenhaufen bleibt der Erde, der es entlehnt war. Die Pſyche ſelbſt, unſterblich und unverwesbar, kehrt aus der Skla— verei der Naturgeſetze zum Lenker der geiſtigen Freiheit zurück. Zehnte Vorlesung. Ueber den Milchſaft der Pflanzen. —— ZEN WAT. „ AS Hier iſt ein Saft, der eilig trunken macht. Fauſt. Die Vignette zeigt eine Indianerfamilie bei der Bereitung des aflaves mehls aus dem Manioc beſchäftigt; in den aus dem gepreßten Wurzelbrei ab⸗ tröpfelnden giftigen Milchſaft taucht eine der Frauen die Pfeile des Mannes. Auf jenem glänzenden Paradeplatz der ſchönen Welt, deſſen Eingang der berühmte Obelisk von Luror ziert, auf jenem Felde, wo in unblutigen Kämpfen die Siege der Mode entſchieden werden, obgleich es urſprünglich der humilité de notre Dame geweihte Erde war, in Longchamp, ertönte vor nicht gar langer Zeit die Looſung: „Paletot oder Mackintoſh.“ Für den Augenblick ſiegte der Paletot, aber bald mußte er ſelbſt dem Burnus und anderen Nachfolgern un— terliegen, während der Mackintoſh ſein Leben, wenn auch nicht mehr als Beherrſcher der Mode, bis dieſen Augenblick gefriſtet hat. Es mag der Mühe werth ſeyn zu fragen, was denn eigentlich dem Mackintoſh den Werth gegeben, der ihn wohl für längere Zeit als unentbehrlich zu gewiſſen Zwecken in der Garderobe erhalten wird. Es ſtehen ſich auch außer den Vorkämpfern der Mode zwei Parteien gegenüber, von denen die eine die Vortrefflichkeit, die andere die gänzliche Verwerflichkeit des Mackintoſh behauptet. Sollen wir ſie nicht hören? Die Vertheidiger rühmen die Leichtigkeit bei völliger Waſſer— dichtigkeit und großer Wärme. Dieſe Vorzüge beruhen alle auf dem eigenthümlichen Stoff, mit welchem das Zeug zum Mackintoſh zu— bereitet worden iſt, auf dem ſogenannten elaſtiſchen Gummi oder Kaoutſchouck. In neuerer Zeit hat daſſelbe eine fo ausgedehnte Anwendung in den Gewerben erhalten, daß eine nähere Kenntniß deſſelben gewiß nicht unintereſſant iſt. Den großartigſten Gebrauch von dieſem eigenthümlichen Produkt der Pflanzenwelt machen die 256 Zehnte Vorleſung. Engländer. 1830 wurden über 52,000 / in England eingeführt. Im Jahr 1829 faſt 100,000 % Im Zolljahr, welches mit 1833 zu Ende ging, waren 178,676 & verzollt. Seitdem hat ſich der Ver— brauch fortwährend geſteigert. In Greenwich werden in einer Fabrik allein täglich an 800 „ in eiſernen Gefäßen der trocknen Deftillation unterworfen. Der Rückſtand iſt eine eigenthümliche ſchmierige Sub— ſtanz, welche nie ihre Zähigkeit und Biegſamkeit verliert, jedem Einfluſſe von Luft und Waſſer Trotz bietet, und deshalb benutzt wird, die Stricke der engliſchen Marine zu tränken und ſie dadurch dauerhafter zu machen. Die überdeſtillirte Flüſſigkeit dagegen iſt ein flüchtiges, brenzliches Oel, welches die Eigenſchaft beſitzt, das Kaoutſchouck leicht aufzulöſen, aber nachher beim Verdunſten mit allen ſeinen Eigenſchaften wieder zurückzulaſſen. Dadurch wurde es möglich, auf leichte Weiſe das Kaoutſchouck allen beliebigen Formen anzupaſſen und ſeine Undurchdringlichkeit für Luft und Flüſſigkeiten faſt aller Art auf jeden andern Stoff zu übertragen. So entſtanden denn die vielen waſſerdichten Zeuge, von denen eins nach ſeinem Erfinder Mackintoſh genannt wird. Auf die mannigfachſte Weiſe macht man ferner Gebrauch von ſeiner großen Elaſticität, einer für manche Zwecke höchſt ſchätzbaren Eigenſchaft. Zu dem Ende werden auf eignen Mafchinen die größten Kaoutſchouckmaſſen erſt in dünne Platten und dann in ganz feine Fäden zerſchnitten. Dieſe Fäden werden mit Leinen, Baumwolle oder Seide umſponnen und dann mit anderm gewöhnlichen Garn, welches als Einſchlag dient, zu Bändern u. dgl. verwebt. Endlich wird auch im unbereiteten Zu— ſtande das Kaoutſchouck vielfach angewendet, wobei ich nur an die ſogenannten Gummiſchuhe erinnern will. Südamerika iſt das Land, welches für dieſen großen Bedarf die reichlichſte Menge Kaoutſchouck liefert; aber auch aus Oſtindien wird gar viel eingeführt und ſelbſt Afrika würde dieſen Stoff liefern können, wenn dort nicht die ſocialen Verhältniſſe der Eingebornen ſich der Benutzung ihrer einheimiſchen Hülfsquellen entgegenſetzten. Alle die Länder, welche Kaoutſchouck unter ihre Produkte zählen, Ueber den Milchſaft der Pflanzen. 257 gehören der heißen Zone an. Schon A. v. Humboldt bemerkt in ſeinen Ideen zu einer Pflanzengeographie, daß ſich die Milchſaft ge— benden Pflanzen vermehren, ſo wie man ſich den Tropen nähert. Es iſt aber gerade der Milchſaft der Pflanzen, welcher dieſe eigen— thümliche elaſtiſche Subſtanz enthält. Die tropiſche Wärme ſcheint auf die Ausbildung derſelben einen entſchiedenen Einfluß auszu— üben, denn man hat die Bemerkung gemacht, daß dieſelben Pflanzen, welche unter dem Aequator reichlich Kaoutſchouck liefern, ſtatt deſ— ſen bei uns, ſelbſt in den Treibhäuſern, einen Stoff enthalten, der dem aus unſerer einheimiſchen Miſtel gewonnenen Vogelleim gleichkommt. Wer von meinen Leſern hätte nicht unſre einheimiſche Wolfs— milch geſehen, deren weißer, milchähnlicher Saft vom Volksglau— ben als Mittel gegen Warzen empfohlen wird. Wer hätte nicht in ſeiner Jugend wenigſtens mit dem Schöllkraut Bekanntſchaft ge— macht, aus deſſen Stengel und Blatt, wenn man ſie abreißt, eine ſchöne orangenfarbene Milch ausfließt. Wer hätte nicht ſchon beobachtet, daß aus unſerem Salat, wenn er aufgeſchoſſen, bei der leiſeſten Berührung eine milchweiße Flüſſigkeit hervorſpritzt. Aber das Vorkommen ſolcher milchiger Säfte bei den Pflanzen iſt nicht auf dieſe wenigen beſchränkt. Die nützlichſten wie die giftigſten Stoffe bietet uns die Pflanzenwelt zum Theil in dieſen Milchſäften, und ich will hier nur an das Opium, den eingetrockneten Milchſaft unſeres großen Gartenmohns, erinnern. Eine größere Anzahl von Pflanzen, welche insbeſondere drei großen Familien angehören, nämlich den Wolfs milcharten, den Apocyneen (Juss.) und den Neſſelpflanzen, zeichnen ſich durch einen eigenthümlichen anatomiſchen Bau aus. In ihrer Rinde und auch zum Theil in ihrem Marke finden wir eine Menge langer, vielfach gebogener und unter einander veräſtelter Röhren, die den Adern der Thiere nicht ganz unähnlich ſind. Dieſe Aehnlichkeit hat auch den Prof. Schultze in Berlin verführt, eine weitläufige Theorie der Cir— culation über dieſe Gebilde und die in ihnen enthaltenen Flüſſigkei— 258 Zehnte Vorleſung. ten, die er Lebensſaft nennt, zu entwickeln, welche die beſonnene Wiſſenſchaft leider gezwungen war, ſogleich bei ihrer Bekannt⸗ machung, die um ſo größeres Aufſehen machte, als ſie in einer von der Pariſer Akademie mit dem Monthyonſchen Preiſe beehrten Schrift erſchien, für ein bloßes Hirngeſpinnſt der Phantaſie zu er⸗ klären. In jenen Röhren befindet ſich ein trüber Saft von der Con— fiftenz einer recht fetten Milch, der deshalb auch Milchſaft genannt wird. Seine Farbe iſt gewöhnlich milchweiß, doch kommen auch gelbe, rothe und ſehr ſelten blaue Milchſäfte vor, noch häufiger aber ſind ganz farbloſe. Aehnlich der thieriſchen Milch beſteht dieſer Saft aus einer waſſerhellen Flüſſigkeit und kleinen Kügelchen. Dem Ge- halte nach finden wir die verſchiedenartigſten Stoffe in demſelben, und auf der verſchiedenartigen Menge und Miſchung dieſer Stoffe beruht die große Verſchiedenheit dieſes Saftes. In allen iſt in grö⸗ ßerer oder geringerer Menge Kaoutſchouck enthalten, welches in Ge— ftalt kleiner Kügelchen vorhanden iſt. Dieſe werden auf ähnliche Weiſe wie die Butterkügelchen der Milch durch eine eiweißartige Subſtanz am Zuſammenfließen gehindert. Gerade wie bei der Milch der Rahm (die Butter), ſo ſteigen aus dem Milchſafte der Pflanzen die Kaoutſchouckkügelchen beim längeren Stehen an die Oberfläche, bilden hier einen Rahm und fließen zuſammen, und können eben ſo wenig wie die Butter wieder in ihre getrennten Kügelchen zurück— geführt werden. Alle jene drei großen Familien, welche ſich durch den Gehalt an Milchſaft auszeichnen, obwohl ſie botaniſch ſehr weit von einan— der verſchieden ſind, zeigen doch gerade durch die Natur ihres Milch⸗ ſaftes einige höchſt merkwürdige Uebereinſtimmungen. Es wird wohl nicht unintereſſant ſeyn, dieſe drei Familien et⸗ was näher kennen zu lernen und beſonders die wichtigeren Pflanzen derſelben zu erwähnen. Die bedeutendſte iſt in Bezug auf den Kaoutſchouckgehalt die Gruppe der Wolfsmilcharten oder Euphorbiaceen. Aus dem Hafen von Para in Südamerika, aus der Guyana und den be— m Ueber den Milchſaft der Pflanzen. 259 nachbarten Staaten wird eine unglaubliche Menge des Federharzes nach Europa verſchifft, welches hauptſächlich von einem großen Baum jener Gegenden, der Siphonia elastica, gewonnen wird. Im J. 1736 machte der berühmte franzöſiſche Gelehrte La Condamine zuerſt auf das Kaoutſchouck aufmerkſam und beſchrieb die Gewinnung deſſelben genauer. Jener bis 60 F. hohe, ſchöne Baum hat eine glatte, bräunlich graue Rinde, in welche die Indianer lange und tiefe Einſchnitte bis aufs Holz machen, aus denen dann reichlich der weiße Saft hervorquillt. Noch ehe er Zeit hat anzutrocknen, wird er auf Formen von ungebranntem Thon, gewöhnlich in Geſtalt größerer oder kleinerer, rundlicher und kurzhalſiger Flaſchen geſtrichen und dann über Rauchfeuer getrocknet. Man wiederholt dieſen Anſtrich ſo oft, bis der Ueberzug die gehörige Dicke erlangt hat. Durch dieſe Operation, bei welcher die fremdartigen Theile des Saftes nicht ab— geſchieden und noch durch den Rauch mehr verunreinigt werden, er— hält das Kaoutſchouck die braune oder ſcharze Farbe, während das reine Kaoutſchouck weiß oder hellgelblich und halb durchſichtig iſt. Spätere genauere Kenntniß des Baumes und ſeiner Verbreitung verdanken wir 1751 Fresneau, insbeſondere aber dem unermüd— lich für Naturwiſſenſchaft thätigen Aublet du Petit-Thouars. Noch eine große Zahl anderer Pflanzen dieſer Gruppe enthält Kaoutſchouck. Aus keiner iſt es fo leicht in größerer Menge zu ge⸗ winnen. Iſt nun der Saft der Siphonia mindeſtens unſchaͤdlich, wird der Saft der Tabayba dolce (Euphorbia balsamifera Ait.) ſogar einer ſüßen Milch ähnlich und von den Bewohnern der Canariſchen Inſeln, wie Le op. v. Buch in ſeiner intereſſanten Beſchreibung der Canariſchen Inſeln erzählt, zu Gelee eingedickt, als Delicateſſe ge— noſſen, ſo ſind doch die meiſten Pflanzen dieſer Gruppe eben ihres Milchſaftes wegen verdächtig, oder geradezu den heftigſten Pflanzen⸗ giften beizuzählen. Und ſeltſamer Weiſe liefern ſie dennoch zum Theil die geſundeſte Nahrung, der wir kaum Aehnliches an die Seite zu ſetzen haben. Im ganzen heißeren Amerika macht der Anbau der Manjocwurzel (Jatropha Manihot) einen der wichtigſten Cultur⸗ 240 Zehnte Vorleſung. zweige aus. Die eingebornen Wilden, wie der Europäer, der ſchwarze Sclave, wie der freie Farbige erſetzen auf gleiche Weiſe unſer Weiß— brod und den Reis durch die Tapiocca und die Mandiocca farinha oder das Caſſavamehl, welches eben aus jener höchſt giftigen Pflanze gewonnen wird, und durch die daraus bereiteten Kuchen (pan de tierra caliente der Mexikaner). Man unterſcheidet indeß die ſüße Juca (Juca dolce) (dies iſt der dortige Name der Manjoc⸗ pflanze) von der ſauern oder bittern (Juca amarga). Die Erſtere, welche deshalb vorzugsweiſe künſtlich angebaut wird, kann ohne Ge— fahr ſogleich gegeſſen werden, dahingegen die Letztere, friſch genoſſen, ein ſchnellwirkendes Gift iſt. Sie dient dem unciviliſirten Sohne der ſüdamerikaniſchen Tropen zur Nahrung und wir wollen ihn einen Augenblick in ſeinem Lager belauſchen. In den dichten Wäldern der Guyana hat der Indianerhäuptling zwiſchen hohen Stämmen der Magnolie feine Hängematte ausgeſpannt, im Schatten breitblättri⸗ ger Bananen ruht er unthätig rauchend und dem Treiben feiner Fa— milie neben ihm zuſehend. Mit hölzerner Keule in einem ausgehöhl— ten Baumſtamme ſtampft ſein Weib die geſammelten Manjocwurzeln und wickelt den dicklichen Brei in ein dichtes Flechtwerk von den zähen Blättern großer Lilienpflanzen. An einem Stabe, der auf zwei hölzernen Gabeln ruht, wird das lange Bündelchen aufgehängt und unten ein ſchwerer Stein befeſtigt, durch deſſen Gewicht es ausge— preßt wird *). Der abfließende Saft läuft in eine untergeſetzte Schaale des Calabaſſenkürbis (Crescentia Cujete). Daneben kauert ein kleiner Knabe und taucht die Pfeile des Vaters in die herabtröpfelnde tödtliche Milch, während die Frau ein Feuer anzündet, um den aus— gepreßten Wurzelbrei zu dörren und durch Hitze völlig von dem flüch— tigen Giftſtoffe zu befreien. Sodann wird er zwiſchen Steinen gerie— ben und das Caſſavemehl iſt fertig. Unterdeſſen hat der Knabe ſein unheilvolles Geſchäft vollendet, der Saft hat nach längerem Stehen ein zartes weißes Kraftmehl abgeſetzt, von welchem die giftige Flüſ— ) Man ſehe die Vignette. Ueber den Milchſaft der Pflanzen. 241 ſigkeit abgegoſſen wird. Nachdem das Mehl noch mit Waſſer ausge— waſchen, iſt es das feine weiße dem Arrowroot in jeder Beziehung ähnliche Tapiocca. Auf ähnliche mehr oder minder künſtliche Weiſe wird überall die Mandiocca und Tapiocca bereitet. Der geſättigte Wilde ſchlendert umher, um ein neues Plätzchen zum Schlafen zu ſuchen, aber Wehe ihm, Unachtſamkeit hat ihn verleitet, unter dem furchtbaren Manchinellbaum (Hippomane Mancinella) fein La⸗ ger zu bereiten und ein plötzlich einfallender Regen träuft von deſſen Blättern auf ihn herab. Unter furchtbaren Schmerzen, bedeckt mit Blaſen und Geſchwüren, wacht er auf, und wenn er mit dem Leben davonkommt, fo iſt er mindeſtens um eine furchtbare Erfahrung über die giftigen Eigenſchaften der Euphorbiaceen reicher. Aber nur ſelten wird das einem Eingebornen begegnen, da der Manchinellbaum in Amerika mit eben ſo geheimnißvoller und faſt abergläubiſcher Scheu gemieden wird, als der fabelhafte Giftbaum von Java. Zum Glück erhebt ſich gewöhnlich gleich neben dem Manchinellbaum als feine be- ſtändige Begleitung der ſchöne purpurblüthige Trompetenbaum (Bignonia leucoxylon), deſſen Saft das ſicherſte Gegengift gegen jene gefährliche Euphorbiacee gewährt. Mehrere ähnliche Bäume, deren Aus dünſtung ſchon, deren Saft aber ſicher, Geſundheit und Leben gefährdet, gehören dieſer Familie an. Der Pflanzer am Cap beſtreut mit den zerriebenen Früchten einer dortigen Pflanze (Hyae- nanche globosa Lam.) Stücke Fleiſch und legt ſie als unfehlbares Gift den Hyänen vor. Mit einer Wolfsmilch (Euphorbia caput Medusae) vergiften die wilden Bewohner des ſüdlichen Afrikas, wie uns Bruce berichtet, ihre Pfeile, von Andern (Euphorbia hepta- gona, E. virosa W., E. cereiformis) machen die Aethiopier nach Virey einen ähnlichen Gebrauch, fo wie die Wilden des ſuͤdlichſten Amerika von dem Saft einer dritten (E. cotinifolia). Ja ſelbſt unfer ſcheinbar ſo unſchuldiger Buchsbaum, der ebenfalls dieſer Familie angehört, iſt ſo ſchädlich, daß in einer Gegend Perſiens, wo er ſehr verbreitet iſt, keine Kameele gehalten werden können, weil man ſie man dem Genuß dieſer ihnen tödtlichen Pflanze nicht zu hindern ver— Schleiden, Pflanze. Dr 16 242 Zehnte Vorleſung. mag. Ich kann dieſe Familie nicht verlaſſen, ohne noch einer merk— würdigen Erſcheinung zu erwähnen, von der uns Martius in ſei— ner inhaltsreichen Reiſe durch Braſilien berichtet hat. Dort wächſt nämlich eine Wolfsmilchart (E. phosphorea Mart.), deren Milch, wenn fie in den dunkeln heißen Sommernächten dem Stamme ent⸗ quillt, ein helles, phosphoriſches Licht um ſich her verbreitet. Wenn die ſo eben berührte Familie, mit meiſt unſcheinbaren Blüthen verſehen, faſt nur durch die ſeltſamen Formen, in welchen einige von ihnen ſich den Cactuspflanzen annähern, die Aufmerk— ſamkeit unſerer Kunſtgärtner in Anſpruch nimmt, ſo iſt dagegen die Familie der Apocyneen eine ſolche, deren wunderbarer Blüthen— ſchmuck oft noch durch merkwürdige Blumenbildung und durch ab— weichende, ebenfalls den Cacteen ſich annähernde Geſtaltung der Pflanze ſelbſt anziehend, einen reichen Schmuck unſerer Gärten und Treibhäuſer ausmacht. Welcher Blumenliebhaber kennt nicht die prachtvollen Blüthen der Carissa, Allamanda, Thevetia, Cerbera, Plumeria, Vinca, Nerium- und Gelseminum Arten, die ſeltſamen Stengel und krötenfarbigen, übelriechenden Blumen der Stapelien? Aber nicht minder intereſſant iſt dieſe Familie auch in anderen Hin— ſichten. Das beſte bis jetzt bekannt gewordene Kaoutſchouck, das von Pulo-Penang, ſtammt von einer Pflanze dieſer Familie (Cynanchum ovalifolium). Auch das von Sumatra (Urceola elastica Roxb.), von Madagascar (Vahea gummifera Poir), ein Theil des Braſilia— niſchen (Collophora utilis Mart. und Hancornia speciosa Mart.) und des Oſtindiſchen (Willughbeja edulis) wird von Pflanzen ge— wonnen, welche der Gruppe der Apocyneen angehören. Seltſamer Weiſe zeigt auch dieſe Familie eben ſo wie die fol— gende und letzte die eigenthümliche Erſcheinung, welche ſich ſchon bei der erſtgenannten der Euphorbiaceen ausſprach, nämlich daß der Milchſaft, der in einigen Arten reich an Federharz iſt, bei anderen ſich zu einer zarten, wohlſchmeckenden und geſunden Milch mildert, wäh— rend dagegen bei noch anderen dieſe Flüſſigkeit nach und nach durch immer größeren Gehalt an ſchädlichen Stoffen bis zum furchtbarſten Ueber den Milchſaft der Pflanzen. 245 Gift geſteigert wird. In den Wäldern der engliſchen Guyana wächſt ein Baum, den die Eingebornen Hya-Hya nennen (Tabernae- montana utilis Arn.). Seine Rinde und fein Mark find jo reich an Milch, daß ein nur mäßiger Stamm, den Arnott und ſeine Ge— fährten am Ufer eines ſtarken Waldbachs fällten, das Waſſer deſſel— ben in Zeit einer Stunde ganz weiß und milchig färbte. Dieſe Milch iſt völlig unſchädlich, von angenehmem Geſchmack, und wird von den Wilden als erquickendes Getränk genoſſen. Noch ſchöner ſoll der Geſchmack der Milch des Ceylon'ſchen Kuhbaums, der Ki— riaghuma (Gymneura lactiferum Rob. Br.) ſeyn, deſſen ſich die Cingaleſen nach Burmann's Erzählung ganz wie wir unſerer Milch bedienen. Furchtbar dagegen ſind die Wirkungen des unter geheimniß— vollen Zauberſprüchen von den Anwohnern des Orinoco gebrauten fo ſchrecklichen Woorareegiftes, zu welchem der Saft einer hier— hergehörigen Pflanze (Echites suberecta) und die Rinde einiger an— f deren ebenfalls der Familie der Apocyneen zugezählten Bäume (Strychnos gyanensis Mart. und Str. toxifera Schomb.) die Haupt: ingredienzien liefern. Eine höchſt poetiſche Schilderung von der Be— reitung dieſes Giftes hat uns in neueſter Zeit Schomburgk in ſeinen ſo reichhaltigen Reiſeberichten geliefert, welche bis jetzt leider nur noch bruchſtückweiſe in einzelnen Zeitſchriften erſchienen ſind. Pöppig hat auf ſeinen wi, © Wanderungen durch Süd: amerika oft genug Gelegenheit gehabt, die furchtbaren Wirkungen des Wooraree kennen zu lernen. Ein großes langes Rohr wird von den Indianern ausgehöhlt und mit vieler Sorgfalt geglättet. Von ſehr hartem Holze ſchnitzen ſie dann etwa fußlange Pfeile, deren Spitze in jenes Gift getaucht, deren anderes Ende mit Baumwolle umwickelt wird, ſo daß es genau jenes Rohr ausfüllt. Mit dieſer furchtbaren Waffe verſehen, beſchleicht der Wilde den argloſen Feind, der vielleicht gerade beſchäftigt iſt, ſich den eben gejagten Hirſch zum leckern Mahle zu bereiten. Kein Geräuſch verräth den geübten, leiſe dahingleitenden Fuß, kein Auge erkennt im dichten Gebüſch das ge— 16 * 2944 Zehnte Vorleſung. fährliche Rohr, aus welchem, nur vom kräftigen Hauche getrieben, lautlos und ſicher der geflügelte Bote des Todes ſelbſt auf 30 Schritte Entfernung das ungewarnte und wehrloſe Opfer erreicht, das bei der kleinſten Wunde ſchon nach wenig Minuten unter Convulſionen ſeine Seele aushaucht. Auch die Nordamerikaner benutzen eine Apocynee (Gonolobium macrophyllum Mich.) als Pfeilgift und Gleiches erzählt Mungo Park von den Mandingos am Niger. (Bei ihnen iſt's eine Echi- tesart.) Viele andere verwandte Pflanzen gehören noch zu den heftig— ften Giften (Cerbera Thevetia und C. Ahovai), und beſonders zeichnen ſich die Saamen dieſer Pflanzengruppe faſt noch mehr wie die der vorigen durch ihre Gefährlichkeit aus, indem namentlich zwei der heftigſten Pflanzengifte, das Strychnin und das Brucin, in derſelben vorkommen. Bekannt ſind in dieſer Hinſicht insbefon- dere einige der wirkſamſten Arzneiſtoffe unſerer Apotheken, wie z. B. die fogenannte Ignatiusbohne (Ignatia amara auf Manilla) und die Krähenaugen (Strychnos nux vomica, durch alle Tro— pen verbreitet.) Nicht unerwähnt bleiben darf hier ein ſeltſamer Gebrauch der Malgaſchen (der Bewohner von Madagascar), bei denen in einer Art von Gottesurtheil die Mt des Magens über Schuld und Un— ſchuld entſcheidet. Wenn Jemand eines Verbrechens angeſchuldigt iſt, ſo zwingt man ihn in öffentlicher Verſammlung unter Vorſitz der Prieſter eine Thanginnuß (von Tanghinia venenifera) zu ver ſchlucken; wenn ſein Magen im Stande iſt, dies furchtbare Gift durch Brechen zu entfernen, ſo wird er freigeſprochen, wenn nicht, ſo iſt die Darlegung ſeiner Schuld zugleich ſeine Strafe und der Un— glückliche ftirbt an den unmittelbaren Folgen des Beweistermins. Es würde nicht ſchwer fallen, ſelbſt einem botaniſchen Laien einige der weſentlicheren Charaktere der beiden erwähnten Pflanzen— familien ſo deutlich zu machen, daß er mit Leichtigkeit jede derartige Pflanze als ſolche erkennen könnte. Ganz anders iſt es mit der letzten 1 Ueber den Milchſaft der Pflanzen. 245 und folgenden, der Juſſieu'ſchen Familie der Neſſelpfanzen oder Urticeen. Auffallend verſchieden find die hierhergehörigen Pflan— zen in ihrer äußern Bildung von den kleinſten, unſcheinbarſten Kräu— tern, wie unſer gemeines Glaskraut und unſere Neſſeln, bis zu den größten und ſtattlichſten Bäumen, den Brodfruchtbäumen (Artocarpus integrifolia und incisa), die mit ihren weitgeſtreck— ten Aeſten und breiten, ſchöngeformten Blättern die Hütte des Süd— ſeeinſulaners beſchatten, welchen ihre ſchmackhafte Frucht ernährt. Wenn in der Familie der Wolfsmilcharten nur einige wenige Pflan— zen in ihren Saamen wohlſchmeckende, nußähnliche Kerne ſpenden (ſo Aleurites triloba auf den Molukken, Conceveiba gujanensis in Südamerika), wenn in der Gruppe der Apocyneen ſchon mehrere Bäume die ſaftig kühlenden und deshalb hochgeſchätzten Früchte den Bewohnern der heißen Gegenden darbieten, Carissa Carandas in Oſtindien, C. edulis in Arabien u. ſ. w., ſo umfaßt die Familie der Urticeen die ſeltſamſte Mannigfaltigkeit der Fruchtbildung. Die klei— nen ölreichen Körner des Hanfs, die grünen, Trauben ähnlichen Büſchel, welche anmuthig den ſchlank ſich windenden Hopfen zie— ren, die würzige Maulbeere, die ſüße Feige, die nützliche Brod— frucht, alle dieſe ſo verſchiedenen Formen gehören einer Pflanzen— gruppe an und der Botaniker verfolgt in allen die gleiche Grundbil— dung, ſo unvereinbar auch dem Laienauge dieſe mannigfaltigen Bildungen ſcheinen mögen. Nur eine Eigenheit erſtreckt ſich ohne Ausnahme auf alle Arten dieſer zahlreichen Ordnung, nämlich das Vorhandenſeyn feiner und doch ſtarker Baſtfaſern in der Rinde dieſer Pflanzen. Urſprünglich von den Faſern der Neſſel (Urtica canna- bina) gemacht, trägt noch jetzt das Neſſeltuch ihren Namen, und der Kunſtfleiß des ſanften Tahitiers bereitet die zarteſten Stoffe ohne Spinnrad und Webſtuhl aus dem weißen, feinen Baſte des Auté oder Papiermaulbeerbaums (Broussonetia papyrifera Vent. ). Ein verwandter, zierlicher Baum, der Holquahuitl der Merika— ner oder Ule di Papantla der Spanier (Castilloa elastica Deppe) liefert das neuſpaniſche Kaoutſchouck, und die unbegreiflichen Mengen 246 Zehnte Vorleſung. dieſer Subſtanz, welche von Oſtindien unſern Häfen zugeführt wer— den, ſind zum größern Theile von den ehrwürdigen Feigenbäumen ge— ſammelt, an denen jene aſiatiſche Tropenwelt ſo reich iſt. Auf dickem, umfangreichem, aber ſelten über 15 Fuß hohem Stamme ruht die ungeheure Krone der Banyane oder heiligen Feige (Ficus religiosa); wagerecht laufen die oft 100 Fuß kangen Aeſte vom Stamme ab, in kleineren oder größeren Zwiſchenräumen lange, gerade Wurzeln zur Erde herabſendend, die hier bald eindringen und feſtwachſen, auf dieſe Weiſe den langen Aeſten zur Stütze dienend. Dem Gotte Fo ſind dieſe wunderbaren, jeder für ſich einem kleinen Walde gleichen— den Bäume geweiht und auf ſeinen Zweigen baut ſich der unbehilf— liche, faullenzende Bonze ſeine Hütte, einem Vogelkäfig nicht unähn⸗ lich, in der er ſeine Tage theils verſchläft, theils in beſchaulicher Unthätigkeit, froh des kühlen Schattens, verträumt. Dieſe großen Feigenbäume (Ficus religiosa, indica, benjaminea L., elastica Roxb.) geben ſüße Früchte und in ihrem Milchſaft das nützliche Kaout— ſchouck. Auch unter dieſen Pflanzen haben einige einen unſchädlichen Saft. Wohl am merkwürdigſten in dieſer Beziehung iſt der Palo de Vacca oder Arbol de Leche, der Kuhbaum von Südamerika (Ga- lactodendron utile Kunth), mit welchem uns A. v. Humboldt zuerſt bekannt gemacht hat. Bei einem einigermaßen bedeutenden Einſchnitt in den Stamm dieſes Baumes fließt ſo Viel einer weißen, fetten, angenehm duftenden und ſüßen, der thieriſchen Milch ſelbſt in ihren Beſtandtheilen ſehr ähnlichen Flüſſigkeit aus, daß es zur Erquickung und völligen Sättigung vieler Menſchen vollkommen hinreichend iſt. Wie ſehr damit in Widerſpruch ſtehen dagegen die Eigenſchaften anderer Neſſelpflanzen. Man wird verſucht, ſie die Schlangen des Pflanzenreichs zu nennen, und die Parallele iſt nicht ſchwer durchzu— führen. Am auffallendſten iſt die Aehnlichkeit in dem Werkzeug, mit welchem beide ihre Wunden beibringen und vergiften. Die Schlangen haben vorn im Oberkiefer zwei lange, dünne, etwas gebogene Zähne, welche der Länge nach von einem feinen Canal durchbohrt werden, der ſich vorn an der ſcharfen Spitze öffnet. Dieſe Zähne ſind nicht Ueber den Milchfaft der Pflanzen. 247 wie die übrigen ganz feſt in den Kiefer eingefügt, ſondern ähnlich den Krallen der Katzen nur in minderem Grade beweglich. In der Höhle des Kiefers liegt unter jedem Zahn eine kleine Drüſe, in wel— cher das Gift bereitet wird, und der Ausführungsgang dieſer Drüſe verläuft in dem erwähnten Zahncanal und öffnet ſich an ſeiner Spitze. Beim Beißen wird nun durch den Widerſtand des gebiſſenen Körpers der Zahn zurückgeſchoben, drückt ſo auf die Giftdrüſe und preßt aus derſelben den ätzenden Saft heraus und in die gemachte Wunde. Betrachten wir daneben die Haare auf den Blättern der Neſſeln, ſo finden wir eine wunderbare Uebereinſtimmung. Eine ein— zelne Zelle bildet das ſtechende Haar, oben in ein kleines Knöpfchen geendet. Nach un— ten erweitert ſich die Zelle in ein Säckchen, welches das ätzende Gift enthält. (Man vergleiche den Holzſchnitt.) Bei der leiſe— ſten Berührung bricht die ſpröde Spitze mit dem Knöpfchen ab, dadurch wird das Haar zu einem EN vorn offenen Canal, dieſer BNN dringt dann in weichere Theile r ein und in Folge des Drucks, N . der durch den Widerſtand beim Eindringen auf das Säckchen ausgeübt wird, ſpritzt ein Theil des Giftſaftes heraus in die gemachte Wunde. Das Gift unſerer einhei— miſchen Neſſeln und Schlangen iſt nur unbedeutend, aber je mehr wir uns den Tropen nähern, deſto häufiger und gefährlicher werden beide. Wo die glühende Sonne Indiens das Gift der furchtbaren Brillen— ſchlange kocht, da wachſen auch die gefährlichſten Neſſeln. Wer hätte nicht ſchon bei uns die kleinen, aber empfindlichen Stiche gefühlt, welche unſere Brennneſſel durch die feinen, giftgefüllten Haare hervor— 218 Zehnte Vorleſung. bringt; aber keine Ahnung haben wir von den Qualen, welche ihre Nächſtverwandten (Urtica stimulans, U. crenulata Roxb.) in Oſtin⸗ dien hervorrufen. Eine leiſe Berührung genügt, um den Arm unter den furchtbarſten Schmerzen anſchwellen zu laſſen, und Wochen lang dauern die Leiden, ja eine auf Timor wachſende Art (Urtica urentis- sima Blume) wird von den Eingeborenen Daoun Setan Teufels⸗ blatt) genannt, weil die Schmerzen Jahre lang anhalten und oft nur die Amputation des verletzten Gliedes vor dem Tode ſchützen kann. Bedenkt man wie unmeßbar und unnennbar gering hierbei die Menge des Stoffes iſt, welche ſo gefährliche Folgen im menſchlichen Organismus hervorruft, ſo können wir nicht umhin zu behaupten, daß das Neſſelgift von allen bis jetzt bekannt gewordenen Giftſtoffen bei weilem das furchtbarſte iſt. — Man kann nach der Größe der Brennhaare ungefähr berechnen, daß noch nicht einmal der 15000 0ſte Theil eines Gran's von der giftigen Subſtanz beim Brennen in die Wunde gebracht wird. — Zwar finden ſich viele 55 heftigeren Gifte in dieſer Familie und ſelbſt einige Feigenarten (Ficus toxicaria L.) gehören zu den gefähr— lichſten Pflanzen, doch lohnt es nicht bei dieſen Minderbedeutenden zu verweilen. Aber faſt einer düſteren, unheimlichen Sage gleich zie— hen ſich die Erzählungen vom Upas und vom Giftthal durch die Kenntniß des oſtindiſchen Inſellandes. Die Krone der holländiſchen Colonieen, Java, durch ihre günſtige Lage fo wie durch den uner— ſchöpflichen Reichthum ihrer Producte dazu berufen, mit der Zeit der Mittelpunkt des großen indiſchen Archipelagus zu werden, hat von jeher auch die Aufmerkſamkeit der Naturforſcher in hohem Maße auf ſich gezogen. Holland hat ſtets den Ruhm gehabt, daß es in keiner Zeit und in keiner ſeiner Colonieen vergaß, auf die Kenntniß der natürlichen Producte der erworbenen Länder ſein Augenmerk zu rich— ten und die Naturwiſſenſchaften in ihren Beſtrebungen aufzumun— tern, zu unterſtützen und zu belohnen. Swammerdamm, Leu— wenhoek, Rheede tot Drakenſteen, Rumph und Andere, der Lebenden nicht zu gedenken, werden ſtets mit unſterblichen Namen ueber den Milchfaft der Pflanzen. 249 in den Annalen der Wiſſenſchaft glänzen. Auch über die berüchtigten Giftbäume haben wir die Aufklärungen, in deren Beſitz wir jetzt find, den Ermunterungen und Förderungen zu danken, welche die hollän— diſche Regierung den Naturforſchern angedeihen ließ, insbeſondere den noch lebenden Dr. Blume und Dr. Horsfield, welcher Letz— tere, wenn auch ein Engländer von Geburt, doch ſchon 1802, alſo 8 Jahre vor der kurzen engliſchen Beſitznahme, unter dem Schutze der holländiſchen Regierung ſeine Forſchungen begann. Schon im 16. Jahrhundert verbreiteten ſich die Nachrichten über den macaſſariſchen Giftbaum auf Celebes, und nach und nach meldeten Aerzte und Naturforſcher von den Wirkungen des Giftes, welche ſo ſchrecklich geſchildert wurden, daß die geringſte Menge, in's Blut gebracht, nicht nur augenblicklich tödte, ſondern ſo furchtbar zerſtörend wirke, daß ſchon nach einer halben Stunde das Fleiſch von den Knochen falle. Die erſte Beſchreibung des Baumes gab im Jahre 1682 Neuhof. So fürchterlich aber auch die älteren Schriftſteller das Gift darſtellen, ſo ſind ihre Berichte doch noch frei von den finſtern Fabeln, welche Spätere darüber mittheilen. Schon zu Ende des 17. Jahrhunderts behauptete Gervaiſe, daß das bloße Anrüh— ren und Beriechen des Giftes tödtlich werde, und bei Camel (1704) kommt ſchon die Erzählung vor, daß die Ausdünſtung des Baumes alles Lebende auf eine beträchtliche Strecke ringsumher vertilge, und daß Vögel, welche ſich auf ihm niederlaſſen, ſterben, wenn ſie nicht gleich darauf Krähenaugen (die Saamen von Strychnos nux vomica) freſſen, wodurch ſie zwar am Leben erhalten werden, wenn fie ſchon alle Federn verlieren. Schon früher hatte Argen ſola (Conquista de las islas Molucas) von einem Baume berichtet, in deſſen Nähe Jeder einſchlafe und ſterbe, wenn er von der Weſtſeite darauf zugehe, während die von der Oſtſeite ſich Nähernden gerade durch den Schlaf von der tödtlichen Wirkung befreit blieben. Jetzt berichtete man auch, daß das Sammeln des Giftes lediglich Ver— brechern übertragen werde, welche ihr Leben verwirkt und welche von der Strafe befreit bleiben, wenn ſie ihr Geſchäft glücklich vollendet. 250 Zehnte Vorleſung. Durch Rumph erfuhr man, daß der Giftbaum außer auf Celebes auch auf Sumatra, Borneo und Bali vorkomme. Die abenteuer— lichſten Berichte brachten aber erſt'gegen das Ende des 18. Jahrh. der holländiſche Wundarzt Förſch über den javaniſchen Giftbaum in Umlauf. Sein Brief über denſelben erſchien zuerſt 1781 und wurde nach und nach in faſt alle europäiſchen Sprachen überſetzt, und ſein Inhalt in alle Handbücher der Naturgeſchichte, der Länder— und Völkerkunde aufgenommen. Ganz im entgegengeſetzten Sinne berichteten freilich ſchon 1789 die Commiſſäre der bataviſchen Socie— tät van Rhyn und Palm, welche nicht allein die ſämmtlichen Erzählungen Förſch's als Lügen bezeichneten, ſondern auch ſelbſt die Exiſtenz eines ſolchen Giftbaums auf Java gänzlich in Abrede ſtellten. Faſt ebenſo äußerten ſich ſpäter Stanton, Barrow und Labillardière, während dagegen Des champ, der ſich mehrere Jahre in Java aufhielt, verſichert, daß der Upas im Diſtrikte von Palembang nicht ſelten vorkomme, daß aber ſeine Nachbarſchaft nicht gefährlicher ſei, als die jeder andern Giftpflanze. Schon der vorſichtige und nüchterne Kämpfer fügte 1712 ſeinem ausführlichen Bericht über den Giftbaum aus Celebes hin⸗ zu: „Wer aber könnte Aſiaten etwas nacherzählen, ohne daß der Be— richt mit Fabeln durchflochten ſei.“ Dennoch aber haben die neueren Unterſuchungen von Leschenault (1810), von Dr. Horsfield (1802 — 18) und endlich von Blume die völlige Richtigkeit aller einzelnen Nachrichten beſtätigt und uns gezeigt, wie nur Verwechſe— lungen und Vermengungen ſehr verſchiedener Dinge die Veranlaſſung zu allen jenen zum Theil allerdings fabelhaften Erzählungen gegeben haben. Zwei ſehr verſchiedene Bäume wachſen in jenen noch wenig be— ſuchten Urwäldern Java's. Wie zu den Pforten des Allerheiligſten ſind alle Zugänge zu denſelben verſperrt und bewacht. Nur mit Feuer und Art bahnt man ſich einen Weg durch das undurchdringliche Ge— flecht der Schlingpflanzen, der Paullinieen mit ihren mehrere Fuß langen Trauben großer ſcharlachrother Blüthen, der Ciſſusarten, auf * Ueber den Milchſaft der Pflanzen. 231 deren weithin kriechenden Wurzeln die wunderbare Rieſenblume der Rallesia Arnoldi wuchert. Palmen mit Stacheln und Dornen, ſchilf— artige Gewächſe mit ſchneidenden Blättern, welche wie Meſſer verwun— den, weiſen den Eindringling ſogar mit gefährlichen Waffen zurück, und überall im Dickicht drohen die ſchon erwähnten furchtbaren Neſſelar— ten. Große ſchwarze Ameiſen, deren ſchmerzhafter Biß den Wanderer peinigt, zahlloſe Schwärme quälender Inſecten verfolgen ihn. Sind dieſe Hinderniſſe überwunden, ſo folgen endlich noch die dichten Büſchel der oft 50 Fuß hohen und armdicken Bambusſtämme, deren feſte, glasharte Rinde ſelbſt der Art widerſteht. Endlich iſt auch hier der Weg gebahnt und jetzt öffnen ſich die majeſtätiſchen Dome des eigentlichen Urwaldes. Rieſige Stämme des Brodfruchtbaums, des eiſenfeſten Teckholzes (Tectona grandis), der Leguminoſen mit ihren prachtvollen Blüthenbüſcheln, der Barringtonien, Feigen und Lorbeeren bilden die Säulen, welche das dichte grüne Gewölbe tragen. Von Aſt zu Aſt ſpringen die muntern Schaaren der Affen, neckend den Wanderer mit Früchten werfend. Von einem moosum— wachſenen Felſen erhebt ſich ernſthaft am Stabe in's dichtere Dickicht wandelnd der melancholifche Orang-Utang. Ueberall iſt reiches ani— maliſches Leben und weit entfernt von dem öden und ſchweigſamen Charakter vieler amerikaniſchen Urwälder. Hier umſchlingt ein ſich windender und kletternder Strauch mit armdickem Stamme die Säu— len des Domes, die höchſten Bäume überwuchernd, oft von der Wur— zel an in einer Länge von 100 Fuß völlig einfach und aſtlos, aber mannigfach gewunden und gekrümmt. Die großen, glänzend grünen Blätter wechſeln mit langen ſtarken Ranken, mit denen er ſich feſt— klammert, reiche Dolden grünlich-weißer, wohlriechender Blumen hängen von ihm herab. Dieſe Pflanze, der Familie der Apocyneen angehörig, iſt der Tjetteck der Eingebornen (Strychnos Tieuté Lesch.), aus deſſen Wurzel das furchtbare Upas Radja oder Fürſten— gift gekocht wird. Auf eine leichte Verwundung von einer damit ver— gifteten Waffe, einem kleinen Pfeile aus hartem Holz, welcher auch eben fo wie von den Südamerikanein aus Blasröhren verſchoſſen 252 Zehnte Vorleſung. wird, fängt der Tiger an zu zittern, ſteht unbeweglich eine Minute da und ſtürzt dann plötzlich wie von Schwindel ergriffen auf den Kopf und ſtirbt in kurzen, aber heftigen Zuckungen. Der Strauch ſelbſt aber iſt ungefährlich und kein Nachtheil droht dem, deſſen Haut etwa mit ſeinem Safte in Berührung gekommen war. Aber gehen wir weiter, fo überragt ein ſchöner ſchlanker Stamm die benachbarten Pflanzen. Völlig cylindriſch ſteigt er 60 — 80 Fuß aſtfrei und glatt in die Höhe und trägt eine zierliche halbkuglige Krone, die ſtolz auf die niedern Gewächſe unter ihr, auf die vielen am Stamme aufſtre— benden Schlingpflanzen herabblickt. Wehe dem, der unvorſichtig ſei— nen aus leicht verletzter Rinde reichlich hervorquellenden Milchſaft mit feiner Haut in Berührung bringt. Große Blaſen, ſchmerzhafte Geſchwüre, ähnlich wie bei unſerm Giftſumach, nur noch gefährlicher, ſind die unausbleiblichen Folgen. Dies iſt der Antjar der Javaner, der Pohon Upas (wörtlich Giftbaum) der Malayen, der Ypo auf Celebes und den Philippinen (Antiaris toxicaria Lesch.). Von ihm ſtammt das gewöhnliche Upas (deutſch Gift), welches beſonders zum Vergiften der Pfeile diente, ein Gebrauch, der über alle Sunda— inſeln verbreitet geweſen zu ſein ſcheint, ſich jetzt aber nach Einfüh— rung des Feuergewehrs nur noch bei den Wilden in den rauhern und unzugänglichen Gebirgen des Innern der Inſeln findet. Schauerlich und zugleich großartig erhaben iſt auch der Charakter dieſer Gebirge, die wie die ganzen Inſeln den furchtbarſten vulkaniſchen Kräften ihren Urſprung verdanken. Ueberall noch zeigen ſich die Spuren der Thätigkeit des unterirdiſchen Feuers, ſelbſt in jenen Wäldern, beſon— ders wenn man beginnt in ihnen den Fuß der Gebirge allmälig hinanzu— ſteigen. Die höchften Spitzen bilden die furchtbaren Vulkane, deren Schrecken längſt bekannt ſind. Ihnen reihen ſich die merkwürdigen Schlammvulkane an, die ohne Feuer- u. Lichterſcheinung, oft ohne vor— hergehende Warnung plötzlich hervorbrechen. So entlud ſich am S. u. 12. Octbr. 1822 der Berg Galungung, indem er die Umgegend auf 40 engl. Ouadratmeilen in eine Wüfte umwandelte, 40 —50 Fuß tiefe Thäler ausfüllte, Flüſſe abdämmte, 11,000 Menſchen, unzäh— ® Ueber den Milchſaft der Pflanzen. 235 lige Zugochſen, 3000 Acker Reisfeld und 800,000 Kaffeebäume unter ſeine ſchmutzigen Fluthen begrub. Endlich weiter unten am Fuß der Gebirge zeigen ſich Quellen aller Art, manche darunter ſauer von großen Mengen freier Schwefelſäure, andere mit aufgelöſter Kieſel— erde die benachbarten Bäume verſteinernd, oder milchweiß erſcheinend von dem darin vertheilten feinen Schwefelpulver. An anderen Orten trifft man dicht aneinander geſtellte Gruppen von 3 — 5 Fuß hohen Gypskegeln, aus deren Gipfeln beſtändig heißes oder kaltes Waſſer ſprudelt, welches durch ſeinen Abſatz fortwährend die Kegel ver— größert. Große Strecken ſind durch die Wirkungen wilder vulkani— ſcher Phänomene verödet. Ueberall aber ſproßt neben der Zerſtörung neues friſches Leben hervor und überkleidet bald wieder die nackte Erde. Nur einzelne Regionen machen davon eine Ausnahme. Aus dem Dickicht des Urwaldes hervortretend erklettert man einen mäßigen Hügel und plötzlich breitet ſich in grauenhafter Wildniß, ein wahres Hoflager des Todes, ein ſchmales flaches Thal vor den Blicken des entſetzten Wanderers aus. Keine Spur eines Pflanzenwuchſes be— deckt die nackte, von der Sonne ausgedörrte Erde. Skelette von Thie— ren aller Art liegen auf dem Boden. Oft erkennt man an ihrer Lage, wie den furchtbaren Tiger im Augenblick, als er ſeine Beute ergriffen, mit dieſer zugleich das Verderben erfaßt, wie der Raubvogel, ge— kommen, um von der friſchen Leiche zu zehren, im Genuß vom Tode ergriffen wurde. Ganze Haufen todter Käfer, Ameiſen und anderer Juſecten liegen dazwiſchen und bewähren noch mehr das Treffende des Namens: Thal des Todes oder Giftthal, denn ſo heißen dieſe Orte bei den Eingebornen. Die Furchtbarkeit dieſer Localitäten beruht nämlich auf den Ausdünſtungen des Bodens, in kohlenſaurem Gaſe beſtehend, welches ſeiner Schwere wegen nur langſam in der Luft ſich zerſtreut. Gerade wie in der berühmten Grotta del cane bei Neapel, in der Dunſthöhle von Pyrmont, bringt dieſe Gasart Je— dem, der ſich dem Boden nähert, unausbleiblichen Erſtickungstod. Nur der Menſch, dem es Gott gegeben, aufrecht zu wandeln, geht gewohnlich ungefährdet über dieſe öden Strecken, indem die giftigen 2 234 Zehnte Verleſung. — Ueber den Milchſaft der Pflanzen. Ausdünſtungen nicht bis zu ſeinem Kopf hinanreichen. Wie auf dem Himalajah die Eingebornen das erſchwerte Athemholen auf den 15 und 16,000 Fuß hohen Alpenpäſſen der Ausdünſtung giftiger Kräuter zuſchrieben, ſo wurden auch dieſe grauenerregenden Erſchei⸗ nungen der Todesthäler mit den Wirkungen des Antjargiftes und der gefährlichen Berührung des Pohon Upas verbunden, und die Sagen mußten nach und nach einen um ſo furchtbarern Charakter an— nehmen, als bis jetzt noch gegen jene heftigen und ſchnell wirkenden vegetabiliſchen Stoffe kein Gegengift bekannt geworden iſt. Wir wollen den Tropenbewohner nicht um die Milch ſeines Kuhbaums beneiden, und zufrieden mit dem Geſchenke des nützlichen Kaout— ſchoucks gern auf die üppige Natur jener Gegenden verzichten, die neben aller Schönheit ſo viel Furchtbares haben. Noch bändigt kein Heilmittel die Wirkungen jener Gifte; als verderbliche Räthſel ſtehen fie feindlich dem Menſchengeſchlechte entgegen, auch von ihrer Seite den Satz beſtätigend, daß die hellen Lichter der tropiſchen Natur eben— ſo ſchwarze Schatten neben ſich bedingen und daß mehr als ein Drache dieſe Gärten der Hesperiden bewacht. Doch ich bemerke mit Schrecken, daß ich mich weit von meinem urſprünglichen Thema verirrt. Paletot und Mackintoſh war die Lo— ſung des Streites, die Vorzüge des Letztern ſollten mein Thema ſein, von dem ich mich aber wohl zu weit entfernt habe, um hier noch wieder darauf zurückkommen zu dürfen. r Elkte Vorlesung. Beiträge zur Kenntniß der Cactuspflanzen. Wer ſchaut hinab von dieſem hohen Raum In's weite Reich, ihm ſcheint's ein ſchwerer Traum, Wo Mißgeſtalt in Mißgeſtalten ſchaltet, Das Ungeſetz geſetzlich überwaltet. Fauſt. Die Vignette zeigt eine Gruppe von Cactuspflanzen. Das Titelkupfer ſtellt eine Gruppe der ſchöneren Cactusblüthen und eine Cactusfrucht dar. Den nächſten und höchſten Zweck aller wiſſenſchaftlichen Natur: forſchung dürfen wir wohl beſonders ſeit den neueren Fortſchritten dahin beſtimmen, die ganze uns umgebende Welt als unter aus— nahmsloſe, mathematiſche Geſetze gebannt darzuſtellen und jede vor— gehende Veränderung aus ſolchen Geſetzen abzuleiten. Sehr ver— ſchieden aber iſt die Vollendung der einzelnen Zweige der Naturwiſ— 1 ſenſchaft, je nachdem ſie dieſes höchſte Ziel ſchon erreicht haben, oder ihm noch näher oder ferner ſtehen. Von der Aſtromonie, dem vollen— detſten Theile unſerer menſchlichen Wiſſenſchaft, bis zur Kenntniß der organiſchen Weſen iſt eine große Kluft, an deren Ausfüllung die Menſchheit noch Jahrtauſende arbeiten wird, bis ein ſicherer Pfad hinüberführt. Da es wahrlich nicht an dem Fleiße der Forſcher liegt, ſo muß in der Sache ſelbſt der Grund geſucht werden, weshalb unſere wiſſenſchaftliche Kenntniß der organiſchen Weſen noch fo weit von ihrem Ideal entfernt iſt, daß es ſelbſt Naturkundige giebt, die den endlichen Ausgangspunkt noch nicht einmal anerkennen wollen. Der Grund liegt wohl in Folgendem. Wir finden in der Natur mannigfache Stoffe dieſe wirken auf ein— ander ein und daraus geht ein beſtändiges Spiel von Thätigkeiten her⸗ vor, wofür uns die unverrückbare Geſetzmäßigkeit in den Bewegungen unſeres Sonnenſyſtems das klarſte und großartigſte Beiſpiel iſt. Dieſes Schleiden, Pflanze 17 258 Elfte Vorleſung. Spiel von Kräften zeigt ſich aber ſchon beim Sonnenſyſtem unter einer beſtimmten Form, indem die Planetenbahnen nicht alle gleichförmig um eine und dieſelbe an der Sonne gezogene Linie kreiſen, ſondern von dieſer Linie, jeder auf ſeine Weiſe abweichen, indem die Größe der Planeten nicht in einer ftetigen Reihe von der Sonne aus zu- oder abnimmt u. ſ. w. Schon hierbei verlaſſen uns für jetzt unſere Kenntniſſe und wir ſind unfähig, eine geſetzmäßige Ableitung für dieſe Form des Sonnen— ſyſtems zu finden. Bei Weitem zuſammengeſetzter werden aber dieſe eigenthümlichen Formen bei den Naturproceſſen an der Erde und wir nennen ſie hier, wo ſie uns ſogleich anſchaulich entgegentreten und ſich leicht als ein Ganzes überſehen laſſen „Geſtalten.“ Mögen wir nun zwar bei den Kryſtallen wegen ihrer regelmäßigen mathematiſchen Form ahnen, daß auch ſie ſtrengen Geſetzen bei ihrer Bildung unter— worfen ſind, ſo erſcheint es uns doch immerhin als rein zufällig, warum gerade das Kochſalz und der Schwefelkies in reinen Würfeln kryſtalliſtren und nicht wie der Flußſpath in achtflächigen Körpern. Endlich bei Pflanzen und Thieren werden die Formen ſo mannig— . faltig und fo abweichend, daß wir eine mathematiſche Grundlage auch nicht einmal zu ahnen vermögen. Alles erſcheint hier rein zu— fällig oder launenhaftes Spiel einer blind wirkenden Naturkraft. Es liegt aber im Menſchen ein unabweisbares Bedürfniß, in feiner Weltanſchauung Nichts dem Zufalle zu überlaffen, der ihn troſt- und hoffnungslos den ihm überlegenen Naturkräften gegenüber ſtellen würde, und wo daher die Erkenntniß der Geſetzmäßigkeit zur Zeit noch verſagt iſt, legt er den Sachen nach Maßgabe ſeiner eigenen Hand— lungsweiſe eine Zweckmäßigkeit unter, deren letzte Urſache er in einem mächtigen und weiſen Schöpfer und Erhalter der Welt ſucht. Wie f ſehr aber für die wiſſenſchaftliche Beurtheilung der Natur dieſes un— zureichend ſey, zeigt ſich gleich darin, daß wir mit einer ſolchen Be⸗ urtheilung nach Zwecken auch durchaus nicht ausreichen. Für die uns am Nächſten ſtehenden Thiere gelingt es freilich noch, ihre For— men in Beziehung zu ſetzen mit ihrer Lebensweiſe, wir erkennen wohl, daß ein Vogel zum Fliegen, ein Fiſch zum Schwimmen am 4. Beiträge zur Kenntniß der Cactuspflanzen. 239 zweckmäßigſten gebaut iſt, und wir bewundern den Scharfſinn, mit dem Cuvier den Zweck, für den die Thiere beſtimmt ſind, benutzt hat, um daraus mit überraſchender Sicherheit ihre Geſtalt und die feinſten Verſchiedenheiten ihres anatomiſchen Baues zu entwickeln. Tree wir aber in die Höhle von Antiparos, wo Tauſende von Kryſtallen das Licht der Fackeln in wunderbarem Glanze brechen und ein Mährchen aus der Feenwelt unſerm ſtaunenden Auge vorführen, bahnen wir uns einen Pfad durch die dichten Wälder der Guyana, wo die Rieſenſtämme tauſendjähriger Bertholetien neben den ſchlanken Pfeilern der Palmen ſtehen, das zarte wunderbar gefiederte Laub der Farren mit den einfachen großen Blättern der Piſangge— wächſe ſeltſam contraſtirt, wo die kahlen, dünnen, hundert Fuß langen Stengel der Llanen ſich wie Schiffsſeile von Baum zu Baum ziehen, auf welchen die ſchlanke Tigerkatze auf- und abklettert, wäh- rend tauſende von verſchiedenen winzig kleinen und zierlichen Mooſen und Lebermooſen die Stämme überziehen; ſehen wir, wie dazwiſchen ſich in den bunteſten Farben und dem wunderbarſten Formenſpiele die ganze prachtvolle Blüthenwelt der Tropen ausſchüttet — dann freilich erlahmt auch die kühnſte Einbildungskraft daran, für dieſe mannig— faltigen Formen und Geſtalten beſtimmte Begriffe der Zweckmäßigkeit aufzuſuchen und feſtzuhalten und wir haben nichts mehr, als das Princip der Schönheit, nach dem wir die Natur beurtheilen können; ſie allein ſpricht noch zu unſerm Gefühl und läßt uns in heiliger Ahnung ein höheres Weſen hinter dem unermeßlichen Reichthum mannigfaltiger Geſtalten anbeten. Aber leider ſollen wir gewahr werden, daß auch dieſer Gedanke nicht ausreicht, um uns überall als Leitſtern durch die zahlloſen Formen der Natur zu dienen. Mit dem Gefühl, daß, wo wirnicht aus Geſetzen er— klären, wo wir nicht nach Zwecken beurtheilen können, doch wenigſtens das unerklärte Weſen der Schönheit auf eine geheimnißvolle Weiſe die Symbole der Natur uns auszudeuten vermöge, verlaſſen wir die Wäl— der der Guyana, die letzten Hängematten der Guaraunen zwi— ſchen den Stämmen der Mauritius palme und treten hinein in die 17° 260 Elfte Vorleſung. Pampas von Venezuela, von denen uns Humboldt ein ſo geiſtreiches u. lebendiges Bild entworfen. Kein lachendes Grün über— zieht hier den glühenden Felſenboden, in deſſen Ritzen nur hin u. wieder mit furchtbar drohenden Dornen beſetzt die runden Ballen des o⸗ nencactus ſich zeigen. Steigen wir höher an den And en ſo bedeckt ſich die Erde ſtatt mit zarten Gräſern mit den fahlen, grau— grünen Kugeln der ſtachlichen Mamillarien, dazwiſchen hebt ſich ernſt und traurig mit langen grauen Haaren behängt der Greiſen— cactus. Führt uns der Flug der Phantaſie weiter nach Norden, ſteigen wir hinab in die Ebenen Mexico's, wo die Rieſentrümmer der Azteckenburg, ein Zeugniß einſtmaliger längſt verſchollener Cul— tur, ſich zeigen, ſo breitet ſich vor uns die Landſchaft aus kahl und nackt von der glühenden Sonne der Tierra caliente gedörrt; in mat— tem Graugrün, zweig- und blattlos, erheben ſich, zwanzig, dreißig Fuß hoch, die kantigen Säulen der Fackeldiſteln mit einer uns durchdringlichen Hecke der empfindlich ſtechenden indianiſchen Feige eingefaßt, und rings umher zeigen ſich Gruppen der meiſt ſelt— ſam häßlichen Geſtalten der Echinocacten und kleinen Cereen, zwiſchen denen ſchlangenartig oder wie großes giftiges Gewürm die langen, dürren Stengel des großblumigen Cactus (Cereus nycticallus) umherkriechen. Kurz, auf dieſer ganzen Wanderung be— gleitet uns eine Pflanzenfamilie, die der Cactus gewächſe, welche ſich in ihren wunderlichen Formen durchaus dem Prinzip der Schön— heit zu entziehen ſcheint und die ſich gleichwohl ſo auffällig, ſo ſehr den eigenthümlichen Charakter der Landſchaft beſtimmend hervor— drängt, daß wir gezwungen find, ihr unſere Aufmerkſamkeit zuzu— wenden. Und gewiß verdient eine Pflanzengruppe, die ſich ſo weit von allen Geſetzen der übrigen Vegetation zu entfernen ſcheint, unſere ganze Theilnahme in hohem Grade. Sie iſt ihr in reichem Maaße geworden, und für die, denen Verhältniſſe nicht erlauben, aus eigner Anſchauung die Kinder einer humoriſtiſchen Laune der Natur kennen zu lernen, zeigen unſere Gärten, in denen die Cactusgewächſe eine der erſten Modepflanzen geworden find, eine reiche Auswahl der Beiträge zur Kenntniß der Cactuspflanzen. 261 Geſtalten. Eine genauere Betrachtung dieſer eigenthümlichen Familie möchte daher wie für den Naturfreund belehrend, ſo auch nicht ohne zeitgemäßes Intereſſe ſeyn. Linns kannte von dieſer ganzen Familie nur etwa ein Dutzend Arten, die er unter dem Namen Cactus vereinigte, gegenwärtig find über 600 Arten bekannt, welche von den Botanikern in etwa 20 Geſchlechter vertheilt ſind. Die meiſten derſelben werden in Deutſch— land cultivirt. Die reichſte Sammlung möchte wohl die fürſtlich Salm-Dyk-Reifferſcheid'ſche Collection ſeyn, welche 592 Arten be— ſitzt; demnächſt folgt ohne Zweifel die des königlichen botaniſchen Gartens bei Berlin. Der königlich botaniſche Garten zu München, der Garten des japaniſchen Palais zu Dresden möchten demnächſt an Reichhaltigkeit die bedeutendſten ſein. In der Nähe ſind die Samm— lungen von Haage in Erfurt und die im Breiterſchen Garten in Leipzig die vollſtändigſten. Alles an dieſen Pflanzen iſt wunderbar. Mit Ausnahme des Ge— ſchlechts Peireskia hat keine hierher gehörige Pflanze Blätter. Denn was man beim Cactus alatus u. der indianiſchen Feige wohl Blätter zu nennen pflegt, ſind nur flach ausgebreitete Stengel. Dagegen zeich— nen ſich alle durch einen außerordentlich fleiſchigen Stengel oder viel— mehr Stamm aus, der mit einer graugrünen, lederartigen Haut bedeckt und an den Stellen, wo geſetzmäßig die Blätter ſitzen ſollten, mit mannigfaltigen Haarbüſcheln, Stacheln und Spitzen beſetzt durch ſeine verſchiedene Ausbildung den verſchiedenen Charakter der Pflanzen be— dingt. In vier- bis neunkantigen oft faſt runden Säulen erheben ſich die Fackeldiſteln dreißig bis vierzig Fuß hoch, meiſt aſtlos, zuweilen aber auf die ſeltſamſte Weiſe Candelabern gleich verzweigt; niedriger ſind die indianiſchen Feigen, deren ovale flache Aeſte nach allen Seiten an einander gereiht eigne Geſtalten hervorrufen. Die niedrig— ſten und dickſten Fackeldiſteln ſchließen ſich an die runden mit hervor— ſpringenden Rippen beſetzten Echinocacten u. Melonencacten an und führen ſo zu den faſt ganz kugligen, mit längeren oder kürzeren fleiſchigen Warzen ſehr regelmäßig bedeckten Mamillarien über. — 262 Elfte Vorleſung. Endlich giebt es noch Formen, bei denen der Längswachsthum vor— herrſcht, die mit langen dünnen, oft peitſchenförmigen Stengeln wie der bei uns ſo häufig cultivirte Schlangencactus von den Bäumen, auf denen ſie paraſitiſch leben, herabhängen “). Wenige Familien haben einen ſo engen Verbreitungsbezirk auf der Erde. Alle Cacteen vielleicht ohne eine einzige Ausnahme ſind in Amerika zwifchen dem 40° S. Br. und dem 40˙ N. B. einheimiſch. Von da haben ſich aber einige Arten ſo ſchnell gleich nach der Ent— deckung von Amerika in der alten Welt verbreitet, daß ſie faſt als völlig eingebürgert anzuſehen ſind. Bei weitem die Meiſten lieben einen dür— ren und der brennenden Sonne ausgeſetzten Standort, der ſeltſam mit ihrem fleiſchigen, von wäſſrigem, nicht unangenehm ſäuerlichem Safte ſtrotzenden Gewebe contraſtirt. Durch dieſe Eigenſchaft ſind ſie für den verſchmachtenden Reiſenden von unſchätzbarem Werthe und Ber— nard in de St. Pierre hat ſie treffend die Quellen der Wüſte ge— nannt. Auch die wilden Eſel der Llanos wiſſen ſich dieſe Pflanzen zu Nutze zu machen. In der trocknen Jahreszeit, wenn alles thieriſche Leben aus den glühenden Pampas entflieht, wenn Crokodill und Boa in dem austrocknenden Schlamme in todtenähnlichen Schlaf verſinken, ſind es allein die wilden Eſel, welche die Steppe durch— ſtreifend ſich gegen den Durſt zu ſchützen wiſſen, indem ſie behutſam mit dem Hufe die gefährlichen Stacheln des Melonencactus abſtrei— fen und dann gefahrlos den kühlenden Saft der Pflanze ausſaugen. In der ſenkrechten Ausdehnung ſind die Cacteen weniger beſchränkt und ziehen ſich von den niedrigſten Küſtenſtrichen durch die weiten Ebenen hinan bis zum höchſten Rücken der Andeskette. Am Ufer des Sees von Titicaca 12,700 Fuß über der Meeresfläche ſieht man hochſtämmige Peireskien mit ihren prachtvollen dunkelbraun— rothen Blüthen und auf dem Plateau des ſüdlichen Peru nahe der Vegetationsgrenze, alſo beiläufig 14,000 Fuß hoch wird der Wan— derer durch eigenthümliche Geſtalten von gelbrother Farbe überraſcht, ) Man vergleiche die Vignette, welche die verſchiedenen Hauptformen dieſer Pflanzengruppe darſtellt. Beiträge zur Kenntniß der Cactuspflanzen. 265 die von ferne täuſchend den Anſchein des ruhenden Wildes haben, ſich bei näherer Unterſuchung aber als unförmliche Haufen niediger, mit gelbrothen Stacheln dicht beſetzter Cacteen ausweiſen. Was die Natur aber dem äußern Anſehen der Pflanze entzogen, das hat ſie den meiſten in reichlichem Maaße in den prachtvollen Blüthen erſetzt. Man ſtaunt die unförmlich graugrüne Maſſe einer Mamillar ia mit den ſchönſten purpurrothen Blüthen bedeckt zu fin— den. Seltſam iſt der Contraſt zwiſchen dem troſtloſen und unheimlichen Anblick des kahlen, dürren Stengels der großblumigen Fackel— diſtel (Cereus grandillorus) und feinen großen prachtvollen, iſabell— farbenen, vanilleduftenden Blumen, die in verſchwiegener Nacht ſich entfaltend einer Sonne gleich ſtrahlen und in dem wunderbaren Spiel ihrer Staubfäden faſt zu einem höheren thieriſchen Leben hinanzu— ſtreben ſcheinen ). Aber nicht die Schönheit der Blüthen allein iſt es, die den Menſchen erfreut, nicht ihr erquickender Saft allein, der den ſchmachtenden Wanderer erfriſcht. Auch ſonſt iſt ihr Nutzen für den Haushalt der Menſchen von mannigfachem Einfluß. Faſt alle Cacteen haben eßbare Früchte und ſie gehören zum Theile mit zu den ſchönſten Erquickungen in der heißen Zone, welche ſie zur Reife bringt. Faſt alle größeren Opuntien, die unter dem Namen der indianiſchen Feige bekannt ſind, liefern in Weſtindien und Merico beliebte Früchte des Nachtiſches, und ſelbſt die kleinen roſenrothen Beeren der Mamillarien, die bei uns geſchmacklos zu ſein pflegen, haben unter den Tropen einen angenehmen ſüßſäuer— lichen Saft. Im Allgemeinen kann man ſagen, daß ihre Frucht eine edlere Form der bei uns einheimiſchen Stachel- und Johannisbeeren iſt, denen fie auch in botaniſcher Hinſicht am nächſten verwandt ſind“). So ſaftreich auch der Stamm der meiſten Cacteen iſt, fo bildet ſich *) Das Titelkupfer zeigt die prachtvoll ſcharlachrothe Blüthe des Cereus coceineus, darüber geneigt die große blaſſe Blume von Cereus Hookeri und endlich daneben noch die kleinere langgeſtielte von Cereus phyllanthus. **) Eine Frucht des Cereus Hookeri auf dem Titelkupfer links nach unten. 264 Elfte Vorleſung. doch mit der Zeit in ihnen ein eben ſo feſtes als leichtes Holz aus. Beſonders findet ſich dies bei den langen ſäulenförmigen Cereen, deren alte abgeſtorbene Stämme, nach Zerſtörung der graugrünen Rinde, mit weißem Holze, Geſpenſtern gleich, zwiſchen den lebenden Stämmen ſtehen bleiben, bis ein von der Nacht überfallener Rei— ſender ſich ihrer bemächtigt, um in jenen holzarmen Gegenden ſich ein Feuer gegen Moſquitos anzuzünden, ſeinen Maiskuchen dabei zu röſten, oder, indem er ſie als Fackel anbrennt, die dunkle Tropen— nacht zu erhellen. Von dem letztern Gebrauch haben ſie eben den Namen der Fackeldiſteln erhalten. Auf die Höhen der Cordilleren werden dieſe Stämme wegen ihrer Leichtigkeit auf Maulthieren hin— aufgeſchaft, um als Balken, Pfoſten und Thürſchwellen der Häuſer zu dienen, wie z. B. in der Meierei von Antiſana, vielleicht dem höchſten bewohnten Orte der Erde (12,604 F.). Ganz wie bei uns ihre Verwandten, die Stachelbeerbüſche, vom Landmann zur Ein— zäunung ſeiner Gärten benutzt werden, wendet man in Merico, an der Weſtküſte Südamerika's und in den ſüdlichen Theilen Europa's ſo wie auf den Canaren mit noch größerem Erfolg die Opuntien an, deren feſte, unförmliche Zweige ſich ſchnell zu einem undurchdring— lichen Zaun zuſammenſchlingen und durch ihre furchtbaren Stacheln jedem Eindringling ein unüberwindliches Hinderniß entgegenſetzen. Endlich geht auch der Arzneiſchatz nicht leer aus, indem die Aerzte Amerika's vielfach von dem ſäuerlichen Safte Gebrauch zu Umſchlä— gen bei Entzündungen machen und die eingekochten Früchte als Bruſt— ſaft anwenden, einiger anderer Vorſchriften nicht zu gedenken. Aber in ähnlicher Weiſe wie Gras und Klee nicht ſowohl un mittelbar, ſondern nur als Nahrungsmittel nützlicher Thiere dem Menſchen ſchätzbar werden, iſt es auch eine Anzahl von Cacteen, die ein Thier ernähren, welches von außerordentlicher Wichtigkeit iſt. Es iſt dies das Cochenille-Inſect (Coceus Caeti), ein kleines, höchſt unſcheinbares Thier, im Aeußern ganz dem kleinen weißen, wiolligen Schmarotzer ähnlich, der in unſern Treibhäuſern fo häufig ſich auf den Pflanzen einfindet, und doch durch den unſchätzbaren Beiträge zur Kenntniß der Cactuspflanzen. 265 Farbſtoff, den es enthält, fo unendlich davon verſchieden. Früher war die Cochenillenzucht allein auf Mexico beſchränkt und wurde daſelbſt mit großer Sorgfalt von der Regierung geheim gehalten. Noch im Jahre 1725 wurden heftige Streitigkeiten in Europa darüber geführt, ob die Cochenille überhaupt ein Inſect, oder ein Saamenkorn einer Pflanze ſey. Nur mit Lebensgefahr brachte Thierry de Menonville ſie im Jahre 1785 nach dem franzö— ſiſchen Domingo hinüber. Seit 1827 iſt ſie auch durch Berthe— lot auf den Canaren eingeführt. Selbſt in Corſica ſo wie in Spanien ſind in neuerer Zeit glückliche Verſuche mit ihrer Cultur gemacht. Zwar auch in Braſilien und Oſtindien jetzt häufig ge— zogen, bleibt doch immer Mexico der Ort der größten Production und der ſchönſten Cochenille. Nach Alex. v. Humboldt (Essai politique sur la nouvelle Espagne Vol. III) beträgt die Ausfuhr der Cochenille noch jetzt allein aus Oaxaca viertehalb Millionen Thaler, eine ungeheure Summe wenn man bedenkt, daß das Pfund etwa 10 Thaler koſtet und 70,000 Thierchen zu einem Pfunde gehören. Es ſind beſonders die Provinzen Oaxaca, Tlas— cala u. Guanaxuato, welche ſich mit der Zucht der Cochenille beſchäftigen. Auf großen Meiereien, Nopaleros genannt von dem ſpaniſchen Namen der Opuntia (Nopal), wird felderweiſe der Tu— nacactus (Opuntia Tuna) gezogen. Nur auf den weſtindiſchen Inſeln und in Braſilien bedient man ſich des ſogenannten Coche— nillecactus (Opuntia coceinellifera). Die Pflanzungen müſſen oft erſetzt werden, weil das Inſect mit großer Schnelligkeit die Pflanze ſo ausſaugt, daß ſie vertrocknet und abſtirbt. Die Kauf— leute unterſcheiden zwei Sorten von Cochenille, die grana lina und grana sylvestre; die erſtere iſt reicher an Farbeſtoff und ihre Farbe feuriger als bei der letzteren, und der weiße Ueberzug des Inſects mehr ſtaubig, bei der letzteren dagegen flockig. Indeß iſt es noch nicht gelungen auszumachen, ob dieſer Verſchiedenheit zwei ver- — ſchiedene Arten des Thieres zum Grunde liegen, oder ob die Ver— ſchiedenheit von der Culturweiſe und der Art der Pflanze abhängt, 266 Elfte Vorleſung. auf welcher das Thier lebt. Wenn die Thiere völlig ausgebildet ſind, werden ſie mit dem Schweife eines Eichhörnchens von den Zweigen der Pflanze abgekehrt und durch Sonnenhitze oder heiße Waſſerdämpfe getödtet, getrocknet und in den Handel gebracht. Bei uns wird daraus durch Zuſatz von Alaun der koſtbare Carmin und durch Zuſatz von Thonerde der Carminlack (Florentiner Lack) bereitet. So wie aber die Familie der Cactusgewächſe durch ihre äußere häßliche Form, durch die Pracht ihrer Blüthen, durch ihren viel— fachen Nutzen im Allgemeinen ein hohes Intereſſe erregt, ſo iſt ſie auch in engerer Beziehung nicht minder für den Botaniker intereſ— ſant. Von jeher haben die Zoologen in der Betrachtung der Miß— geburten und der abweichenden Formen einen reichen Stoff gefun— den, um ihre Kenntniſſe des regelmäßig ſich entwickelnden Orga— nismus zu läutern und auszubreiten. Es läßt ſich daher auch er— warten, daß in der Pflanzenwelt ähnliche Verhältniſſe ähnlichen Werth haben werden, und welche Familie könnte man beſſer zu dieſem Zwecke auswählen, als die der Cacteen, die nur ein na— türliches Muſeum von Mißgeburten zu ſein ſcheint und deren For— men zum Theil ſo abnorm ſind, daß man eine Art überhaupt nicht anders als mit dem Namen des monſtröſen Cactus (Cereus monstrosus) zu bezeichnen wußte. Auch haben ſie in viel— facher Hinſicht die Aufmerkſamkeit der Botaniker auf ſich gezogen und es haben ſich manche ſowohl anatomiſche und phyſiologiſche Eigenthümlichkeiten ergeben, durch welche ſie von allen übrigen ſelbſt den nächſt verwandten Pflanzen abweichen. Ja die Ergebniſſe würden ſicher noch viel interereſſanter ſein, wenn es nicht ſo un— endlich ſchwer wäre, ſich das Material für die Unterſuchung zu verſchaffen, indem nur zu ſelten Gärtner und Blumenliebhaber ſich geneigt zeigen, ihre Lieblinge dem Meſſer der Wiſſenſchaft zu opfern. Die Cacteen haben lange Zeit in der Wiſſenſchaft zur Stütze eines Satzes dienen müſſen, der durchaus falſch, doch häufig genug ſelbſt von ausgezeichneten Botanikern behauptet worden iſt, ich meine Beiträge zur Kenntniß der Cactuspflanzen. 267 nämlich die Anſicht, als könnten viele oder gar alle Pflanzen ihre Nahrung aus der Luft ſaugen. Noch in den neueſten Zeiten iſt dieſer Gedanke von Liebig, deſſen organiſche Chemie ſo großes Aufſehen gemacht hat, mit den alten längſt widerlegten Gründen wieder aufgefriſcht. Man glaubte nämlich, daß aus der großen Maſſe des wäſſrigen Saftes in den Cacteen, verbunden mit der Thatſache, daß die meiſten und gerade die ſaftreichſten auf dürrem Sande in faſt von aller Dammerde entblößten Felſenritzen vege— tiren, wo ſie noch dazu oft drei Viertel des Jahres den austrock— nenden Sonnenſtrahlen eines ewig heitern Himmels ausgeſetzt ſind — aus dieſem Zuſammentreffen eben glaubte man um ſo mehr mit Sicherheit ſchließen zu dürfen, daß dieſe Pflanzen ihre Nah— rung aus der Luft anziehen, als man auch noch in unſern Treib— häuſern die Beobachtung machte, daß die Zweige von Cactus ſtämmen, abgeſchnitten und in einem Winkel vergeſſen, oft ohne Weiteres, ſtatt abzuſterben, weitergewachſen waren und drei und mehr Fuß lange Aeſte getrieben hatten. Erſt De Candolle kam auf den richtigen Weg, indem er ſolche ohne Boden fortwachſende Cactuszweige wog und dabei fand, daß die Pflanze ſo wie größer immer leichter wurde und daher weit entfernt, aus der Atmoſphäre etwas aufzunehmen, vielmehr noch an dieſe abgegeben hatte. Das ganze Wachſen geſchieht hier auf Unkoſten des ſchon früher in dem ſaftigen Gewebe angeſammelten Nahrungsſtoffes, und erſchöpft die Pflanze meiſt ſo ſehr, daß ſie nachher nicht mehr zu retten iſt. Es iſt gerade das vollſaftige Gewebe, welches die Cactuspflanzen fähig macht, man könnte ſie den Kameelen vergleichen, auf lange Zeit im Voraus ſich mit Flüſſigkeit zu verſehen und ſo der regen— loſen Jahreszeit trotzen zu können. Dabei werden ſie aber auf eigene Weiſe durch anatomiſche Verhältniſſe unterſtützt. Wir wiſſen durch die Verſuche von Hales, daß die Pflanzen hauptſächlich durch die Blätter das in ihnen enthaltene Waſſer verdunſten und gerade Blätter fehlen den Cacteen. Ihr Stamm aber iſt ebenfalls abweichend von allen übrigen Pflanzen mit einer eigenthümlichen 268 Elfte Vorleſung. lederartigen Haut bekleidet, welche die Verdunſtung faſt völlig ver— hindert. Dieſe Haut beſteht aus ſehr ſonderbaren faſt knorpeligen Zellen, in deren Wänden häufig die zierlichſten kleinen Canäle ver— laufen. Sie iſt bei verſchiedenen Cactusarten verſchieden dick und zwar am dickſten und daher undurchdringlichſten bei dem Melon en— cactus, der in den dürrſten und heißeſten Gegenden wächſt, am wenigſten auffallend dagegen bei den Rhipſalisarten, welche paraſitiſch auf den Bäumen der feuchten braſilianiſchen Wälder leben. Eine andere Merkwürdigkeit dieſer Pflanzengruppe iſt die Bil— dung einer außerordentlichen Menge von Sauerkleeſäure. Dieſe Säure würde in großer Menge in der Pflanze angehäuft für die— ſelbe nothwendig tödtlich werden müſſen. Die Pflanze nimmt da— her aus dem Boden, auf dem ſie wächſt, eine verhältnißmäßige Menge Kalk auf, dieſer verbindet ſich dann mit der Sauerklee⸗ ſäure zu unlöslichen Kryſtallen, welche ſich in allen Cacteen in großer Menge finden. In einigen Arten, z. B. dem peruaniſchen und Greiſen-Cactus enthält die Pflanze fünf und achtzig Procent oralfauren Kalk. Sicher ließen ſich die Cacteen unter den Tropen mit Vortheil zur Gewinnung des Sauerkleeſalzes benutzen. Eine dritte Eigenthümlichkeit zeigt ſich ferner bei den kugligen Formen der Melonencactus und Mamillarien in der Bildung des Holzes, welches durchaus von dem der gewöhnlichen Holzpflanzen abweicht. Das gewöhnliche Holz, z. B. der Pappel beſteht aus langen Holzzellen, deren Wände ganz einfach und gleichförmig ſind, und aus luftführenden Zellen, ſogenannten Gefäßen, deren Wände ganz dicht mit kleinen Poren beſetzt ſind. Ganz abwei— chend davon zeigt das Holz der genannten Cacteen nur kurze ſpin— delförmige Zellen, in denen ſich höchſt zierliche ſpiralförmig ges wundene Bänder, wie kleine Wendeltreppen hinaufziehen. Endlich verdienen die an der Stelle der Blätter ſitzenden Haare, Stacheln u. ſ. w. noch eine beſondere Erwähnuug. Man kann im Allgemeinen drei Formen derſelben unterſcheiden, die ge— wöhnlich zuſammen an derſelben Stelle vorkommen. Die Erſten Beiträge zur Kenntniß der Cactuspflanzen. 269 ſind ganz biegſame einfache Haare, welche ein kleines, flaches, weiches Kiſſen bilden. Zwiſchen ihnen findet ſich ein Büſchel et— was längerer, aber dünner Stacheln. Diefe find es hauptſächlich, welche wegen ihres eigenthümlichen Baues das unvorſichtige An— greifen der Cactuspflanzen ſo gefährlich machen. Dieſe kleinen Stacheln ſind nämlich ſehr dünn und ſpröde, ſo daß ſie leicht ab— brechen, und von oben bis unten mit rückwärts gerichteten Wider— haken beſetzt. Bei der Berührung drückt ſich gleich ein ganzer Büſchel in die Haut ein; verſucht man es abzuſtreifen, ſo brechen die einzelnen Stacheln in der Haut ab und die Stückchen dringen wieder in andere Theile der Haut; wo man mit der Hand über— ſtreift, hängen ſie ſich ein und ein unerträgliches Jucken und zu— letzt eine leichte Entzündung verbreitet ſich überall dahin, wo man ſie durch Berührung hingebracht. Beſonders zeichnet ſich dadurch die Opuntia ferox aus, die davon ihren Namen, die wilde, hat. Zwiſchen dieſen Haaren und kleinen Stacheln erheben ſich dann in verſchiedener Anzahl und Form ſehr lange und große Stacheln, welche die beſten Kennzeichen zur Beſtimmung der Arten abgeben. Dieſe ſind bei einigen ſo hart und ſtark, daß ſie z. B. häufig die Lähmung der wilden Eſel herbeiführen, wenn dieſe zur Stillung ihres Durſtes die Stacheln mit dem Hufe abſtreifen und dabei ſich unvorſichtig verletzen. Bei Opuntia Tuna, die am meiſten zu Zäunen benutzt wird, ſind ſie ſo groß, daß ſelbſt Büffel, die ſich dieſe Stacheln in die Bruſt rannten, an der darauf folgenden Ent— zündung geſtorben ſind. Gerade dieſe Art war es auch, welche in dreifacher Reihe als Grenzſcheide gepflanzt wurde, als die Eng— länder und Franzoſen die Inſel St. Chriſtoph zwiſchen ſich theilten. Dieſe kurze Ueberſicht möge denn genügen, um das Intereſſe zu rechtfertigen, welches ganz allgemein jetzt dieſe Pflanzenfamilie erweckt hat. Ihre genauere Erforſchung giebt dem Naturforſcher reichen Stoff, ihr mannigfaltiger Nutzen, beſonders in ihrer Hei— math, lenkt mit Recht auf fie die Aufmerkſamkeit der Staatsöfo- nomen; aber bedeutungsvoller als dieſes wird ſie in der Mannig— 270 Elfte Vorleſung. — Beiträge zur Kenntniß der Cactuspflanzen. faltigkeit ihrer durchweg häßlichen Formen eine Aufgabe für den Naturphiloſophen, welche ihn daran mahnt, wie unzulänglich zur Zeit noch alles das iſt, was wir zum tiefern Verſtändniß der Natur erdacht haben, und wie endlos daher noch die Bahn vor uns liegt, die ganz durchlaufen ſein muß, ehe wir es wagen dürfen, an die Aufſtellung eines naturphiloſophiſchen Syſtems zu gehen, wenn es nicht ſtatt wiſſenſchaftlicher Begründung, die viel— leicht ſchönen, aber immer unwahren Träume einer dichteriſchen Phantaſte bringen ſoll. Zwölkte Vorlesung. Die Pflanzengeographie. Im Vatican bedient man ſich Palmſonntags ächter Palmen, Die Cardinäle beugen ſich Und fingen alte Pſalmen, Dieſelben Pſalmen ſingt man auch, Oelzweiglein in den Händen, Muß im Gebirg zu dieſem Brauch Stechpalmen gar verwenden, Zuletzt, man will ein grünes Reis, So nimmt man Weidenzweige Göthe. Die Vignette zeigt eine Gruppe der wichtigften Nahrungspflanzen. Vorn einige Kartoffeln, rechts die kuglige Brodfrucht und einen Zweig mit Bananen. In der Mitte eine geöffnete Cocosnuß, links einen Maiskolben. Dazwiſchen er— heben ſich einige Kornähren. Dem folgenden Vortrag wird vor Allem die Anſchaulichkeit fehlen, die dem— ſelben durch keine Macht der Sprache zu verleihen war. Ich muß meine freundlichen Leſer erſuchen, eine gute Weltkarte und die vortrefflichen Pflanzengeographiſchen Tafeln in Berghaus' phyſicaliſchem Atlas zur Hand zu nehmen und dadurch die beim mündlichen Vortrag ſo bequem unterſtützende Demonſtration zu erſetzen, und gern will ich zugeſtehen, daß vielleicht ein Blick auf die Berghaus' chen Vege— tationstafeln lebendigere Anſchauung hervorruft und ebenſo zum Nachdenken erregt als dieſe Vorleſung. 8 Wenn wir die Erdkugel durch einen größten Kreis in zwei Hälften theilen, ſo daß die eine Hälfte die größtmögliche Fläche feſten Landes umfaßt, ſo liegt ſeltſamer Weiſe London gerade im Mittel⸗ punct dieſer Hemiſphäre. Können wir wohl einen beſſern Ausgangs— punct wählen, wenn wir uns zu irgend einem Behufe einen Ueber— blick über die Erde verſchaffen wollen? Wir treten ein in dieſe Metro- pole des Handels, nach dem unruhigen Umhertreiben ſuchen wir Er— holung im St. James Park und wenden uns von da über die Carl— ton Teraſſe in die Regentſtraße. Eine Geſellſchaft etwas fremdartig ausſehender Männer verführt uns, mit ihnen in Pall Mall einzu— biegen und ein neues Prachtgebäude zwiſchen dem Athenäum und Reform-Club-Hauſe zu betreten. Es iſt der Verſammlungsort des Travellers-Club. In England verfolgt Jeder mit Freiheit feine Launen. Lord Ruſſel ſetzt ſeinen Ruhm darin, Führer eines Whigparlaments zu ſeyn, O'Connel in die Aufregung der Ir— länder, Oberſt Sibthorp in feinen Schnurrbart, Graf D'Ors ay in feinen Backenbart und Lord Ellenborough in ſeine Locken, die Mitglieder des Travellers-Club kennen keinen andern Ehrgeiz, als weit gereiſt zu ſeyn und die Kellner im Club-Hauſe erhaſchen ſpielend aus den Geſprächen der Gäſte mehr geographiſche Kennt— niſſe, als wenn ſie Jahre lang Ritters fleißige Schüler geweſen wären. Warum ſollten nicht auch wir von der Gelegenheit Nutzen zu ziehen ſuchen. Wir treten zu einem Tiſch, an welchem drei Män— ner im eifrigen Geſpräche ſitzen, deren ſonnenverbrannte Geſichter ſo— gleich die leidenſchaftlichen „Sportsmen“ verrathen, die, einer bloßen Schleiden, Pflanze. f 18 274 Zwölfte Vorleſung. Tagslaune nachjagend, oft Anſchauungen ſammeln, um welche viele Naturforſcher ſie beneiden würden. „In der Mitte des Octobers vorigen Jahres, erzählt der Eine, durchſtrich ich die wunderlieblichen Berge von Morray. Vor mir lag einer jener ſtillen, ſpiegelhellen Gebirgsſeen, welche jene Graf— ſchaft zieren, an deſſen einem Ufer ſich eine weite, mit Moos und Rietgräſern und mit dem weißhäuptigen Wollgraſe bedeckte Moor— niederung hinzog, während das andere Ufer ſich in maleriſchen Ab— ſtürzen zu grauen wilden Felſen, ſpärlich mit Birken und Haſelbüſchen beſetzt, erhob und zuweilen zu hohen Klippen aufſtieg, deren Gipfel die Raben krächzend umkreiſten. Der dichte Herbſtnebel begann all⸗ mälig vor der Sonne zu fliehen, die in den leicht bereiften Büſchen und Hecken in tauſend Diamanten funkelte. Zu phantaſtiſchen Ge- ſtalten dicht zuſammengeballt zog ſich die leichte Dunſtſchicht durch die Schluchten der Berge und ließ die benachbarten Hügel im düſtern Braunroth des Haidekrauts erglänzen oder drängte ſich höher hinauf im Gebirge durch die lichten, kräftigen Kämme der ſchottiſchen Fich— ten, die in immer beſtimmteren Zügen hervortraten. Lange hatte ich das Spiel einer beſonders wunderlich geſtalteten Wolke verfolgt, als ſie plötzlich vom leichten Morgenwinde zuſammengewirbelt und zu— rückgeworfen eine Hügelfläche frei ließ, auf welcher in ruhiger Maje— ftät ein prachtvoller Sechszehnender gelagert war. Mein erſter Ge- danke war, mich feinem Anblick zu entziehen, indem ich mich nieder— warf und rücklings eine kleine Böſchung herabkroch bis ich nur noch die Spitzen ſeines Geweihs erblicken konnte. Seine Stellung war die unvortheilhafteſte, die ſich denken ließ und meine Hoffnung, mich ſeiner zu bemächtigen, beruhte nur auf einem kleinen Bach, der ſich zwiſchen mir und ihm hinſchlängelte und ſich dann über einen ſteilen Abſturz in den See ergoß. Mit einem bedeutenden Umweg gelangte ich unbemerkt in ſein Bette, deſſen ſteile Wände mich verbargen, ſo daß ich, immer die Spitzen des Geweihs als Zielpuncte im Auge, mich bis auf etwa 100 Schritte an ihn heranſchleichen konnte. Hier hatte ich den vollen Anblick des ſchönen Thieres, wie es dalag, hingeſtreckt Die Pflanzengeographie. 275 zwiſchen rother Haide und graugrünen Binſen unbeweglich und nur zuweilen ſich mit dem Gehörn die Weichen reibend. Endlich richtete es ſich auf, ſtreckte ſich und ſchritt langſam auf eine Biegung des Baches zu, von welcher ich nur durch einen flachen, ſchmalen Hügel, um den ſich dies Waſſer herumwand, getrennt war. Ich griff zur Flinte, wechſelte aus Vorſicht das Zündhütchen und kroch ſoweit das Ufer hinan, daß ich das Wild etwa 50 Schritt vor mir bis an die Knie im Waſſer ſtehend und in langen Zügen trinkend erblickte. Ich feuerte auf den Hals dicht am Kopf. Es ſtürzte in die Knie, erhob ſich aber ſogleich wieder und ſprang einen Hügel hinan, doch ſchon zu matt für dieſe Anſtrengung wankte es, kehrte zum Bache zurück und ſtürzte anſcheinend todt, wenige Schritte von mir, häuptlings in das tief eingeſchnittene Bette. Ich ließ die Flinte fallen und warf mich mit einem Freuderuf und mit gezücktem Waidmeſſer auf meine, wie ich glaubte, ſichere Beute. Aber kaum berührte ich das edle Thier als es aufſprang und mich mit einem Stoße rückwärts gegen die Steine ſchleuderte, daß ich nur mit Mühe und ſchmerzenden Gliedern mich wieder erheben konnte. Ich war betäubt und in einer unangenehmen Lage. Hinter mir der ſteile Abſturz, über welchen der Bach ſein Waſſer in den See ergoß, vor mir das zornige Thier von Schweiß und Waſſer triefend und wie es ſchien zu einem neuen Stoß ſich anſchickend. So ſtarrten wir einige bange Minuten Einer in des Andern Auge, bis ich mich etwas erholte und ſchnellen Entſchluſſes mit ſo raſcher Wendung mich auf den Uferrand ſchwang, daß mein Gegner nicht Zeit behielt feinen Stoß zu vollführen. Nun ſchlug ich von oben her dem ſchon matten Thier mein Plaid um Kopf und Augen, und warf mich abermals auf ihn. Aber erſt nach verzweifelter Gegenwehr von ſeiner Seite gelang es mir ihm den Genickfang zu geben und erſchöpft ſank ich neben meine Beute in das feuchte Moos nieder.“ „Es iſt nichts Seltnes, begann der Zweite, daß ein ſo edles und ſtarkes Thier den Jäger in gefährliche Verlegenheit bringt, ich erlebte aber im vorigen Jahre den lächerlichſten Auftritt in dem ohne meine Dazwiſchenkunft hoffnungsloſen Kampf eines Mannes mit einem der 18* 276 Zwölfte Vorleſung. ſchwächſten und feigſten Thiere. An einem ſchönen Sonntage durchſtrich ich frühmorgens die weiten Ebenen von Gipps land. Meine Gedan- ken waren durch die Eigenthümlichkeiten der mich umgebenden Natur ganz von meinem eigentlichen Zwecke, der Jagdluſt, abgezogen. Zuerſt führte mein Pfad durch jene ſchattenloſen Wälder Neuhollands von blattlofen Caſuarinen und von den ſchwachbelaubten Eucalyp— ten und Cajuputbäumen gebildet, deren ſchmale Blätter noch dazu in ſeltſamer Verdrehung nicht ihre Fläche, ſondern ihre Kanten nach oben und unten richten. Mit Bewunderung belauſchte ich die ſelt— ſame Thierwelt der Inſecten, unter denen beſonders eine Heuſchrecken— form, die vollkommen einem wandelnden Strohhalme glich, meine Aufmerkſamkeit feſſelte. Nun trat ich auf eine weite ſandige Fläche, zum Theil mit dem wunderlichen Gras baum) bedeckt. Die meh— rere Fuß hohen Stämme tragen auf ihrer Spitze einen Büſchel rie— ſenmäßigen Graſes, aus deſſen Mitte ſich 14—20 Fuß hoch der den Blüthenkolben tragende Schaft erhebt. — Zuweilen wurde der Boden feucht und die Vegetation, obwohl nur niedriges Buſchwerk, faſt un— durchdringlich dicht. Nur hin und wieder erhoben ſich mit prachtvol— len goldgelben Blüthenbüſcheln ſüßduſtende Acacien“), oft vom wilden Wein ***) wie von rieſigeu Stricken dicht verſchlungen. Auf et— was lichteren Stellen breitete der Ly raphaſan fein prunkvolles Gefie— der aus und gefiel ſich darin, die ſämmtlichen Naturlaute dieſes eigen— thümlichen Landes, das Geſchrei verſchiedner Vögel, das Bellen der wilden Hunde, das Schreien der Cicaden täuſchend in unermüdlicher Ausdauer nachzuäffen. Mit einiger Mühe hatte ich mich durch dieſes Dickicht durchgearbeitet und erreichte jetzt ein ſumpfiges Gebiet, wel— ches aber ausgetrocknet durch die glühende Sonne nur noch einzelne Pfützen und Bächelchen zeigte, die, mit dichten Gebüſchen rieſiger Riet— gräſer und breitblättrigen Schilfes abwechſelnd, dem ſeltſamen Natur— ſpiele, dem Schnabelthiere, zum Aufenthalt dienen. Auf dem et— ) Xanthorrhoea australis. ) Acacia mollissima, alfinis u. a. m. zan) Cissus antarctica. Die Pflanzengeographie. 277 was beſſern Raſen feſſelte eine freundliche Erinnerung an die ferne Hei: math, die einzige in dieſem fremdartigen Lande, meine Blicke und eben bückte ich mich um dankbar das einſame kleine Marienblümchen zu pflücken, als ein lauter Hülferuf mit Geſchrei und Flüchen gemiſcht, mein Ohr traf. Ich eilte nach dem Orte hin, woher die in dieſer Wildniß überraſchenden Töne zu kommen ſchienen und war nicht we— nig erſtaunt über das, was ich entdeckte. In der Mitte eines Waſ— ſertümpfels ſtand ein feiſter männlicher Känguruh 7 Fuß hoch auf— recht auf ſeinen Hinterfüßen und am Ufer vor ihm lag ein zerfleiſch— ter, aus vielen Wunden blutender Hund. Ich griff zur Flinte und legte an, als meine Aufmerkſamkeit abgelenkt wurde durch das Antlitz eines Menſchen, welcher zerkratzt und blutig ſich zwiſchen den Binſen des Ufers zeigte. Sogleich ſprang ich zu Hülfe, aber während ich den Menſchen aus dem Schlamm hervorzog hatte der „alte Mann“)“ ſein Heil in der Flucht geſucht und war unſern Blicken entſchwunden. Die Wunden des unglücklichen Jägers waren zum Glück weniger ge— fährlich als ſie ausſahen und er hatte ſich bald erholt, ſo daß er mir ſeine Abenteuer erzählen konnte. Frühmorgens hatte er ſich ohne Flinte, nur von ſeinen Hunden begleitet, auf die Känguruhjagd be— geben. Bald hatten die Hunde ein Rudel aufgeſpürt und verfolgt, aber nur einer derſelben war zu ſeinem Herrn zurückgekehrt. Nichts— deſtoweniger hatte er feinen Waidgang fortgeſetzt und bald den „al— ten Mann“ aufgetrieben, auf den er ſeinen Hund anhetzte. Das alte kluge Thier aber ftatt zu fliehen, ſtellte ſich an jener Lache und hielt ſich mit den Vorderpfoten den Hund vom Leibe. Um nicht müſſig zu ſeyn verſuchte der Jäger einen Angriff von Hinten durchs Waſſer, aber das einmal gereizte Thier wendete ſich auch gegen ihn, zerkratzte ihm das Geſicht und warf ihn rücklings in die Lache. Jedesmal, wenn er verſucht hatte ſich wieder zu erheben, drückte ihn der „alte Mann“ wieder mit dem Kopf unter das Waſſer, ſo daß er ohne meine Dazwiſchenkunft rettungslos ertrunken wäre. Inzwiſchen hatte das Thier wahrſcheinlich den Hund bei einem erneuerten Angriff *) Old man wird das männliche Känguruh von den Anſiedlern genannt. 278 Zwölfte Vorleſung. fampfunfähig ans Ufer hingeſtreckt. Nachdem der Jäger ſich von Schlamm und Blut gereinigt, wendeten wir unſern Beiſtand dem gefährlicher verwundeten Hund zu und trennten uns endlich, jeder ſei— nen eigenen Weg verfolgend und der Jäger ſchwörend, daß er nie wieder ohne Flinte mit einem „alten Mann“ anbinden wolle.“ „So niedlich ſolche Erzählungen ſich im Damenkreiſe ausnehmen mögen, hob der Dritte an, ſo ſollte der Mann doch darüber hinaus ſeyn, in ſolchen Trivialitäten Genuß zu finden. Nur wenn das Leben täglich und ſtündlich aufs Spiel geſetzt wird, wenn die Gefahren in allen Formen ſich zeigen, läßt ſich von einer Aufregung reden, die eine würdige Unterhaltung des Mannes ſein kann, und wo fände man das in dem Maaße wie bei einer Wallfiſchjagd auf den nordiſchen Meeren. Mit Luſt denke ich noch jetzt an eine Scene zurück, welche im vorletzten Winter bald auf eigenthümliche Weiſe meinem Leben ein Ende gemacht hätte. Wir hatten bereits 16 Tage bei einem furchtbaren Sturme am Eingang der Baffins bay gekreuzt. Die Ta⸗ kelage ſtarrte von Eis, die Seiten des Schiffes waren mit großen glän: zenden Maſſen überzogen. Die Mannſchaft war halb erfroren und wir konnten keinen Strick durch einen Block bewegen ohne vorher heißes Waſſer darüber gegoſſen zu haben. Wir hatten wenig Tages: licht wegen des dichten Nebels, aber noch furchtbarer waren die langen, ſchauerlichen Nächte, wenn das Schiff ſich auf den ſchwarzen Wellen bergan erhob und dann wieder hinabſtürzte in die Tiefe, fo daß wir jeden Augenblick fürchten mußten an den Eismaſſen zu zerſchellen, welche der heulende Sturm, wie fahl leuchtende und ſchäumende Nacht— dämonen zu unſerer Vernichtung geſendet, über die brauſende Waſſer— fläche dahinjagte. Eines Morgens gegen Ende des Sturms nach einem friſchen Schneefall näherte ſich uns mit erſchreckender Ge— ſchwindigkeit ein 500 Fuß hoher Eisfelſen, ſchon war er in gefahr— drohender Nähe, da erſcholl plötzlich der Schreckensruf: Er wendet ſich!“) Da kam er näher, feinen wankenden Gipfel langſam auf un⸗ ) Die vom Polareiſe losgeriſſenen Eismaſſen, vom Sturm in niedere Breiten getrieben, ragen oft zwei und mehrere Hundert Fuß aus dem Meere hervor, aber Die Pflanzengeographie. 279 ſere Häupter niederbeugend. Unſer Schickſal ſchien entſchieden, die ganze rieſige Eismaſſe ſank auf unſer Schiff herab und mußte uns in Stückchen zerſchmettern. Wir alle fielen auf unſere Knie, ſtill betend und den entſetzlichen Augenblick erwartend; ſelbſt der Steuermann kniete, ohne aber das Steuerruder aus den Händen zu laſſen. Schon war der Eisfelſen halb übergebogen, als er ſich durch eine ungleiche Schwere ſeiner untergetauchten Theile drehte und in demſelben Au— genblick etwa auf Kabellänge hinter unſerm Spiegel ins Meer ſtürzte, das Waſſer in Schaummaſſen bis über die Maſtſpitzen ſchleudernd und uns alle blendend durch die Gewalt, mit welcher die eiſigen Tropfen in unſer Geſicht geſpritzt wurden. Eine Minute lang fchie- nen die Wogen in ihrem Laufe gehemmt, die See ſchien zu kochen, das Schiff zitterte und ſchwankte und ſelbſt der Sturm ſchien geſtört, denn die Segel klapperten an den Maſten und warfen das Eis ab, mit welchem ſie ſo lange bedeckt geweſen waren. Da brach plötzlich die Sonne durch einen Wolkenriß und mit der eigenthümlichen Ro— fenfarbe des rothen Schnees *) breitete ſich vor uns eine weite Küſte aus, die dem müden Schiffer eine kurze Raſt verhieß.“ — Welche contraſtirende Bilder führen uns dieſe Erzählungen vor, wie muß es zum Nachdenken auffordern, wenn wir bemerken, daß in jeder dieſer drei Skizzen die Naturverhältniſſe, Klima, Pflanzen und Thierwelt ſolche ſind, daß ſie in einer der Andern gar nicht vorkommen könnten. Ja die einzige Uebereinſtimmung, die ſelbſt dem Laien auf: fiel, das Vorkommen eines unſcheinbaren Blümchens unſerer Wieſen, gerade in dem eigenthümlichſten und fremdartigſten Lande, welches wir bis jetzt auf der Erde haben kennen lernen, kann nur dazu bei— find noch mit einer beträchtlich größeren Maſſe eingetaucht. Dieſe letztere wird bald von dem wärmern Waſſer des Oceans aufgelöft und dann tritt ein Zeitpunct ein, in welchem der ganze Eisberg ſich überſtürzt und ſein unteres Ende über die Meeres— fläche erhebt, während das bis dahin hervorragende Ende nunmehr eintaucht. *) Auf dem friſchgefallenen Schnee der Polargegenden und der höhern Alpen ſiedelt ſich nicht ſelten eine kleine mikroſkopiſche Alge, der Protococcus nivalis, an, welche nebſt einigen kleinen Infuſionsthierchen die roſenrothe Farbung oft ganzer Schneefelder bedingt. 280 Zwölfte Vorleſung. tragen unſer Erſtaunen noch zu fteigern. — Bunt, formen- und far- benreich iſt der Teppich der Natur, aber gewiß nicht aus einzelnen Lappen regellos zuſammengeſtückt, ſondern, wie eine Stickerei von künſtleriſchen Händen, nach einem ſchönen Plan gewirkt. Wenn wir aber uns vorſtellen, daß eine mit Sinn und Faſſungskraft begabte Mücke auf einem koſtbaren Gobelin umherkröche und aus den farbi— gen Pünctchen, die ſie einzeln nicht einmal ganz zu überſehen ver— mag, ſich ein Bild des Ganzen entwerfen, die Zeichnung und Far— bengebung verſtehen und beurtheilen ſollte, wir würden zugeſtehen, daß ſie das größte Genie ſeyn müßte, das je gelebt. Und in wie viel unvortheilhafterem Verhältniſſe ſteht der Menſch zur ganzen Erde. Wie Viele haben hier ihre Beobachtungen zuſammentragen müſſen, um nur ganz kleine Theile vorläufig überſehen und erkennen zu lehren, wie viele Meiſter werden noch ihr Leben daran ſetzen müſ— fen, bis uns eine völlige Kenntniß des Ganzen gewonnen iſt. Kaum können wir zur Zeit mehr thun, als die einzelnen Bilder je— ner Jäger vermehren und etwas genauer auszeichnen. Ein Brauersſohn aus Huntingdon Oliver Cromwell ſchwang ſich in wenigen Jahren zum unumſchränkten Herrſcher von Großbrit— tanien auf, und ſchrieb ſelbſt dem halben Europa durch die Macht ſeines Geiſtes Geſetze vor. Die Tradition ſagt, daß ihn dabei eine ihm ſchon in früher Jugend eigne Redensart geführt: „Der kommt am weiteſten, der nicht weiß, wo er hin will.“ Man kann dieſen Spruch in einer weniger paradoxen Sprache ſo ausdrücken, daß der Menſch in ſeinen Angelegenheiten nur dann etwas Tüchtiges erreicht, wenn er ſich von vorn herein die höchſte Aufgabe, das unerreichbare Ideal als Ziel ſteckt. In dieſer Weiſe aber können wir auch Crom— wells Lebensſpruch als Führer in jeder Wiſſenſchaft betrachten und wir werden finden, daß er auch hier ſeine Macht keineswegs verleugnet. Im erſten Augenblick mag man freilich glauben, daß es gar leicht ſey, einer ſolchen Anforderung nachzukommen. Es iſt fo ſchwer nicht, ſich das ethiſche, oder wenn man lieber will, das umfaſſendere chriſtliche Ideal auszuzeichnen und hinzuſtellen, aber gleichwohl ge— Die Pflanzengeographie. 281 wiß, daß nichts deſto weniger in dieſer Beziehung von dem einzelnen Menſchen gar wenig erreicht wird. Man wird daraus den Schluß ziehen, daß es bei Weitem weniger auf die richtige Kenntniß des Ziels als vielmehr auf die Thätigkeit, durch welche wir daſſelbe erſtreben, an— komme. — Man verwechſelt dabei aber zwei weſentlich verſchiedene Standpuncte mit einander und leider geht dieſe Verirrung durch einen großen Theil unſerer wiſſenſchaftlichen Beſtrebungen durch und bringt ein gutes Theil des Mißverſtandenen, Unklaren und Falſchen in un— ſere Beurtheilungen hinein. Die Sache liegt ſo. An den auf Erden lebenden Menſchen wird eine gedoppelte Anforderung, für geiſtige Thätigkeit und Entwicklung, geſtellt. Die Eine betrifft das ethiſch-religiöſe Element, die Andere feine wiſſenſchaftliche Ausbildung. Beide greifen ineinander und unterſtützen ſich gegenſeitig; beide ſind aber ihrem Urſprung, ihrem innerſten Weſen nach ganz getrennt und haben eine unendlich verſchiedene Bedeutung, ent— ſprechen einer unendlich verſchiedenen Werthgebung für den Menſchen. Die ethifchereligiöfe Entwicklung bezieht ſich auf den ewigen und unverderblichen Antheil des Menſchen auf ſeine ewige Seele, alſo auf das eigentliche nie aufhörende Ich. Hier ſtellt ſich eine allgemeine und nothwendige Anforderung an jeden Menfchen, es iſt der Punct wo wir Alle vor Gott gleich, gleich berechtigt und gleich belaſtet ſind und zwar des halb gleich, weil die einfachſte Selbſtverſtändigung ſchon hinreicht, die Aufgabe, das Ideal vollkommen und rein zu faſſen und auszu— ſprechen. Wir finden deshalb hierin auch keinen nennenswerthen Fort— ſchritt in der Geſchichte der Menſchheit. Von den älteſten bis auf die neueſten Zeiten ſind hier die Anforderungen in gleicher Weiſe, nur bald ſo, bald ſo im Ausdruck verſchieden geformt, klar und beſtimmt hingeſtellt worden. Hier iſt allerdings das Wichtigſte für den Ein— zelnen, jenen Anforderungen zu entſprechen und ſich dadurch, daß er ihnen entſpricht, als Menſch im edleren Sinne des Wortes, als ein zur höheren Vollendung und zu ewiger Dauer beſtimmtes Weſen zu legitimiren. Ohne dieſe Legitimation hat er keine Berechtigung auf Achtung, auf Anerkennung irgend einer Art, und möchte er in Bezug 282 Zwölfte Vorleſung. auf den zweiten, gleich zu erwähnenden Punct eine auch noch fo hohe Stufe erſtiegen haben. — Die zweite Anforderung, die an die Menſchen geſtellt iſt, bezieht ſich dagegen auf ihre Ausbildung für ihren beſchränkten Standpunct auf der Erde. Hier iſt die Aufgabe, jede körperliche und geiſtige Seite unſeres Weſens zur vollkommenſten Ausbildungsſtufe zu erheben, um dadurch die Erreichung des erſtgenannten Ziels zu erleichtern und zu ſichern. Hierher gehören alle Wiſſenſchaften, die die Verhältniſſe für Staat und Kirche, für Natur und Kunſt, Genuß und Bequemlichkeit ordnen und fördern; Alle zuſammen, mag man ſie übrigens unter den Menſchen hoch oder niedrig fchäsen, ſtehen darin auf einer und der— ſelben nichtigen Stufe, daß ihre Bedeutung ſogleich mit dieſem Leben aufhört, daß ſie nur hier auf unſerem kleinen Sonnenſtäubchen der Erde, Geltung und Werth haben. Hier mag einer Großes geleiſtet haben, es giebt ihm nicht den leiſeſten Anſpruch auf meine Achtung, meine Anerkennung, wenn er der höheren Anforderung ſittlich reli— giöſer Ausbildung nicht nachgekommen iſt. Was er etwa als Künft: ler, als Gelehrter geleiſtet, ich nehme es an und verwende es für meinen Nutzen, aber ohne Dank, wie ich das Geldſtück einſtecke, was ich finde, während ich den Schmutzwiſch, in den es gewickelt war, mit Ekel von mir werfe. Was auf jen em Gebiete erlangt wird, beſchließt ſich im Indi— viduum, mit dem dieſelbe Entwicklung ſtets wieder von Neuem beginnt, giebt ihm und nur ihm einen Werth. Was hier allmälig errungen ift ge— hört nicht dem Einzelnen, ſondern der Menſchheit und eine Zeit knüpft da an, wo die vorige aufhörte. Die Leiſtung des Einzelnen hat zwar Werth für die Menſchheit, fie verleiht aber dem Einzelnen ſelbſt keinen Werth. Auf der andern Seite darf ich meine Achtung, meine Anerken— nung eines edlen, geiſtigen Weſens auch dem nicht entziehen, der durch ſittlich religiöſes Leben feine Berechtigung auf dieſe Anerken— nung erwieſen hat, mag er auch noch ſo wenig in irgend einem anderen Zweige menſchlicher Ausbildung erreicht haben. Die letztere Anforderung iſt nämlich keine nothwendige und gleiche für alle Menſchen, ſondern vielfach modificirt, nach unzähligen Ab— Die Pflanzengeographie. 285 ſtufungen in äußeren Bedingungen, in Hemmungen und Begünſtigun— gen. Sie iſt deshalb keine allgemein gleiche und nothwendige, weil hier gerade umgekehrt die Erkennung der Aufgaben, die Stellung der zu löſen— den Fragen, das bei Weitem Schwierigſte iſt und natürlich nur von dem eine richtige Antwort erwartet werden kann, dem die richtig geſtellte Frage vorlag. Insbeſondere gilt dies nun aber für alle naturwiſſen— ſchaftlichen Disciplinen und man könnte mit wenig Uebertreibung ſagen, fragt nur richtig, ſo bleibt die Naturwiſſenſchaft keine Antwort ſchuldig. Ihre Mangelhaftigkeit, ihr verhältnißmäßig noch ſo be— ſchränkter Standpunct liegt nur darin, daß die Fragen ſo ſchwierig richtig zu ſtellen ſind. Es ſammeln ſich Reihen von Thatſachen, die ſichtbar verwandter Natur ſind; wird ihre Menge bedeutend, ſo faßt man ſie in ſyſtematiſcher Ordnung zu einer ſogenannten Wiſſenſchaft zuſammen, aber die Forſcher irren ohne Halt und Ziel hierhin, dort— hin, das Material wird angehäuft und dennoch kommt die Wiſſen— ſchaft um keinen Schritt weiter. Da tritt ein mit eminentem Genie begabter Mann oder oft auch nur ein durch den Zufall begünſtigter Glücklicher dazwiſchen und nennt das Räthſel, um deſſen Löſung man ſich ſchon lange gequält, ohne es noch zu kennen und nun plötzlich richtet ſich alle geiſtige Kraft der Forſcher dieſem einen Punct zu, Schlag auf Schlag fallen die Schranken, mit Rieſenſchritten geht die Wiſſenſchaft vorwärts bis ſie wieder überall den Ausweg ver— ſchloſſen, überall eine gleiche und undurchdringliche Mauer ſich ent— gegengeſtellt ſieht und nun auf höherer Stufe dieſelbe Entwicklungs— geſchichte aufs Neue durchmachen muß, bis abermals ein neuer Füh— rer an die rechte Stelle klopft, wo die Mauer hohl klingt und da— durch die Möglichkeit eines weitern Fortſchritts verräth. So haben wir auf dem ethiſch-religiöſen Gebiet Aufgaben, aber wir ſuchen die Wiſſenſchaften, die ihre Löſung ſichern; — auf der andern Seite dagegen haben wir zahlreiche Wiſſenſchaf— ten, die ſich aber ſtets im Kreiſe herumdrehen, bis bald dieſer, bald jener von der Vorſehung eine neue Aufgabe genannt und ſie ſo zu einem Fortſchritt befähigt wird. 2384 Zwölfte Vorleſung. Einen trefflichen Beleg für dieſe Anſichten bietet uns zum Bei— ſpiel die Pflanzengeographie dar. Schon in den früheſten Zeiten der Botanik merkte man natürlich bei jeder Pflanze, welche man beſchrieb, an, wo ſie zu ſinden ſey, aber Niemand ahnete noch in dieſen Be— merkungen die Keime einer Wiſſenſchaft. Da machte der geniale Bo— taniker Tournefort eine Reiſe in die Levante und bei Beſteigung des Ararat fiel es ihm auf, daß mit ſeiner allmäligen Erhebung über die Meeresfläche die Vegetation auch einen weſentlich verſchie— denen Character annahm, und daß dieſe Veränderungen nahebei dem entſprechen, was man beobachtet, wenn man von Kleinaſien nach Lappland reiſt. Hier war ein Räthſel genannt und eifrig ging man an die Löſung. Adanſon, nicht minder ausgezeichnet als To urne— fort, ſprach es zuerſt aus, daß die Doldenpflanzen innerhalb der Wendekreiſe faſt gar nicht vorkommen und damit war eine Frage hin— geworfen, die abermals ihre Antwort erwartete. — Im Jahr 1807 erſchien Humboldts essai sur la geographie des plantes, worin er die beobachteten Eigenthümlichkeiten in der Vertheilung der Ge— wächſe mit den Beſonderheiten des Climas in Verbindung zu bringen ſuchte. Aber erſt 10 Jahre ſpäter, nachdem ſich abermals die Maſſe der Thatſachen gehäuft hatte, ohne daß man etwas weſentlich Neues damit zu beginnen wußte, that abermals Humboldt den lebten Schritt, indem er, mit einem genialen Blick die ganze Erde umfaſſend, die Pflanzengeographie einer Theorie der Erde einfügte und die Vertheilung der Pflanzen im Großen wie im Kleinen von der phy— ſicaliſchen Beſchaffenheit der Erde abhängig machte. Damit zuerſt war nicht etwa die Wiſſenſchaft vollendet, ſondern erſt begonnen, ſie hatte einen beſtimmten Ausgangspunct erhalten, was aber ihr Endziel ſeyn wird, iſt zur Zeit noch ſchwer, wo nicht unmöglich, zu entwickeln. Wenigſtens iſt es ſehr leicht an einigen Beiſpielen nachzuweiſen, daß für die ganze Eine Hälfte der Erſcheinungen noch keine Andeutungen vorhanden ſind, woher, aus welchem Kreiſe von Naturgeſetzen der— einſt die Erklärungsgründe für ſie zu entlehnen ſeyn werden. Dieſſeits der Alpen wachſen keine Orangen. Ueber die Die Pflanzengeographie. 285 Breite von Berlin hinauf reift keine Traube mehr. In Scho— nen und auf der ſüdlichſten Spitze Norwegens erreicht die Buche ihren nördlichſten Standort. Von Biornoe, nördlich von Dront— heim, zieht ſich eine Linie quer durch Norwegen, durch Jämtland und Herjedalen, welche im nördlichen Theil von Gefleborg die Oſtküſte von Schweden ſchneidet und dem Anbau des Weizens nach Norden eine unüberſteigliche Schranke ſetzt. Höher hinauf bil— det die Kiefer die Baumvegetation, aber wo ſelbſt die genügſame Birke zuletzt nicht mehr gedeiht, da erlaubt noch ein kurzer, aber wenigſtens zuweilen warmer Sommer die Cultur der raſch wachſen— den Gerſte. Für dieſe ganze Reihe von Thatſachen iſt es nicht ſchwer die Erklärungen aufzufinden, ſie ſind durchaus abhängig von klimatiſchen Einflüſſen und ſchon allein eine genaue Unterſuchung der Temperaturverhältniſſe genügt, um von allen dieſen Thatſachen erklärende Rechenſchaft ablegen zu können. Ganz anders verhält es ſich mit den folgenden Erſcheinungen. Von der Südſpitze von Africa bis zum Nordcap auf Mageroe ziehen ſich durch die ganze alte Welt die Haidepflanzen, nur die eigentlichen Tropengegenden überſpringend. In gleichen Breiten, bei gleichem Clima, gleichen Bodenverhältniſſen finden wir in ganz America nicht eine einzige ächte Haideart. Andere ihnen verwandte Pflanzen vertreten ihre Stelle, Pflanzen, die wenigſtens derſelben Fa— milie (den Ericeen) angehören; gehen wir aber nach Auſtralien, ſo finden wir unter entſprechenden Verhältniſſen auch nicht einmal eine Ericee, an deren Stelle eine andere zwar verwandte, aber doch ganz eigenthümliche Pflanzenfamilie, die Gruppe der Epacrideen auftritt. In einem kleinen Winkel Aſiens wächſt die Theeſtaude und gewiß iſt es nicht der Mangel an entſprechenden climatiſchen Einflüſſen in der ganzen übrigen Welt, der den Thee auf China beſchränkt. Ein ſchmaler Gürtel an den Anden der nördlichen Hälfte von Südamerica nährt das Geſchlecht der Chinarinden— bäume, ſollte die ganze Erde weiter keinen Fleck aufzuweiſen ha— ben, auf welchem gleiche Temperatur und Bodenverhältniſſe ſich zu— 286 Zwölfte Vorleſung. ſammenfänden? Doch genug, ſchon ein einziges Beiſpiel würde hin⸗ reichen darauf aufmerkſam zu machen, daß es eine Vertheilungsweiſe der Pflanzen auf der Erde giebt, die von den uns bekannten Bedingungen der Vegetation nicht hervorgerufen, durch dieſelbe nicht erklärt wird. — Wir erhalten hier nebeneinander zwei ganz verſchiedene Grup— pen von Kenntniſſen, die ſich auf dieſelben Pflanzen beziehen, denn jede zeigt in ihrer Weiſe beide Arten der Verbreitung. Es liegen neben einander eine auflösliche und eine unauflösliche Auf— gabe, die erſtere auflöslich, weil die Frage beſtimmt geſtellt wer- den konnte und durch A. v. Humboldt geſtellt iſt: nämlich die Ab— hängigkeit der Verbreitung der Pflanzen von den phyſicaliſchen Ver: hältniſſen des Erdkörpers, — die zweite unauflöslich, weil wir eben keine beſtimmte Aufgabe, deren Löſung ſich die Forſchung zuwenden könnte, aufſtellen können. In der erſten Beziehung können wir da⸗ her die ſämmtlichen Thatſachen in einen erklärenden Zuſammenhang bringen, aus dem letzten Geſichtspunct erhalten wir dagegen nichts als ein Aggregat unter ſich unzuſammenhängender, zur Zeit noch keiner Erklärung fähiger, aber vielleicht eben deshalb um ſo mehr das Intereſſe in Anſpruch nehmender Thatſachen. — Es ſey mir er— laubt in beiden Beziehungen das Verhältniß der Pflanzen zur Ober⸗ fläche der Erde in einer flüchtigen Skizze zu zeichnen und zum Schluß mit etwas größerer Ausführlichkeit, gleichſam als ein mehr durchge— führtes Beiſpiel, die Verbreitung der wichtigern Nahrungs— m Nutzpflanzen auf der Erde zu ſchildern. — „ Abhängigkeit der Pflanzen vertheilung von phyſicaliſchen Verhaͤltniſſen. Vom kleinſten, beſchränkteſten Kreiſe müſſen wir hier ausgehen, um uns zuletzt über die ganze Erde auszubreiten. Der kleine Anfang der umfaſſenden Pflanzengeographie iſt die alltägliche Frage: wo wächſt die Pflanze? und jede Botanik handelt mehr oder weniger oberflächlich ein Kapitel von den ſogenannten Standorten, dem Wohnort und Vaterland der Pflanze ab. Schon bei dieſen erſten Die Pflanzengeographie. 287 Anfängen der Wiſſenſchaft iſt erſt nach und nach Licht und Ordnung in die Begriffe gekommen und noch wohl iſt Vieles verworren, was erſt Spätere aufklären werden. Zweierlei iſt aber weſentlich zu unterſcheiden. Die Haidepflan- zen kommen vor auf trocknen, ſonnigen, ſandigen Ebenen, ſie verbreiten ſich vom Cap der guten Hoffnung durch Africa, Eu— ropa und das nördliche Alien bis an die äußerften Vegetationsgren⸗ zen in Scandinavien und Sibiren, in dieſem großen Gebiet ver— theilen ſich dieſe Pflanzen, ſo daß Südafrica unzählige, ver— ſchiedene Arten hat, von denen aber ſtets nur wenige Individuen neben einander wachſen, daß dann gegen Norden die Zahl der Arten ſich plötzlich bedeutend verringert, dagegen allmälig die Menge der Individuen zunimmt, bis endlich im Norden Europas eine ein— zige Art, die gemeine Haide“), in Millionen von Einzelweſen ganze Länder überzieht. Zunächſt ſehen wir leicht, daß nur die erſte Be— ſtimmung, die des Vorkommens nämlich, ſich mit Nothwendigkeit auf jedes Individuum bezieht; daß dagegen der Verbreitungsbe— zirk und die Vertheilungsweiſe Momente hervorhebt, welche für das einzelne Individuum gar keine, deſto größere Bedeutung da— gegen für die größeren Pflanzengruppen haben, die wir Art, Ge— ſchlecht, Zunft u. ſ. w. nennen. Hiervon gehört aber nur das erſte, das Vorkommen der Pflanzen ganz, die beiden andern dagegen nur theilweiſe zu den aus phyſicaliſchen Einflüſſen erklärlichen Verhält— niſſen, gleichwohl müſſen wir uns fürs Erſte mehr an jene Ordnung halten, da ſie eine logiſch ſtrenge iſt, die für unberechenbar lange Zeit un— verrückbar ſtehen bleiben wird, während natürlich die letzte Anordnung nur für den jedesmaligen Stand der Wiſſenſchaft ihre Gültigkeit hat. — Wenn wir nämlich die verſchiedenartigen Einflüſſe über— blicken, von denen das Leben und die geſunde Vegetation einer Pflanze nach unſern gegenwärtigen phyſiologiſchen Kenntniſſen ab— hängig iſt, ſo finden wir bald, daß nur eine geringe Anzahl phyſica— liſcher Kräfte bis jetzt in ihrer Wirkung auf den Organismus von ) Calluna vulgaris. 288 Zwoͤlfte Vorleſung. uns durchſchaut wird, daß dagegen eine nicht minder große Anzahl noch zur Zeit durchaus unſeren Bemühungen um nähere Kenntniß ihrer Einwirkungen ſpottet, obwohl wir mit Sicherheit behaupten dürfen, daß das Pflanzenleben ſo gut von ihnen wie von den anderen abhängig iſt und ſeyn muß. Nur Beiſpielsweiſe will ich hier Licht, Electricität und Luftdruck nennen. Die beiden erſten als beftändig einwirkend auf jeden chemiſchen Proceß, der letztere für ſämmtliche Vorgänge und Verhältniſſe zwiſchen Gasarten und Dünſten von weſentlicher Bedeutung, müſſen auch das Pflanzenleben, welches in fortlaufenden chemiſchen Verbindungen und Trennungen, in beſtändi⸗ gen Aufnahmen und Ausſcheidungen von Dünſten und Gaſen be— ſteht, mächtig afficiren. Das Wie iſt uns aber noch völlig unbe— kannt, und manche uns zur Zeit noch ganz unbegreiflichen Verhält— niſſe in Verbreitung und Vertheilung der Arten mögen über kurz oder lang in dieſen Einflüſſen ihre genügende Erklärung finden. Wenn wir von den ſchneebedeckten Eisflächen des höchſten Nor— dens, wo nur noch die rothe Schneealge an eine pflanzliche Organiſation erinnert, uns nach Süden wenden, ſo breitet ſich vor uns zunächſt ein Gürtel aus, in welchem Moo ſe und Flechten den Boden bedecken und eine eigenthümliche Vegetation niedriger mit unterirdiſchen Stengeln perennirender, meiſt groß- und ſchönblumiger Kräuter, die ſogenannten Alpenpflanzen, der Natur einen eigenthümlichen Character verlei— hen. Faſt ſämmtliche Pflanzen bilden kleine, flache, vereinzelte Polſter; Pyrola, Andromeda, Pedicularis, Löffelkraut, Mohne, Hahnenfuß und andere ſind characteriſtiſche Gattungen für dieſe Flora, in der kein Baum, kein Strauch gedeiht. Verlaſſen wir dieſe Re— gion, die von den Botanikern das Reich der Mooſe und Saxifra— gen, oder nach einem der Gründer der Pflanzengeographie „Wah— lenbergs Reich“ genannt iſt und gehen mehr nach Süden, ſo zeigen ſich anfänglich kleine niedrige Gebüſche von Birken, dann mehr zu— ſammenhängende Wälder, zu denen ſich Kiefern und andere Nadel— hölzer hinzugeſellen und wir befinden uns endlich in einem zweiten größeren Vegetationsgürtel, der ſich dadurch characteriſirt, daß alle Die Pflanzengeographie. 289 Wälder der Ebene faſt ausſchließlich aus Nadelhölzern gebildet ſind, die daher der Flora einen eigenthümlichen Character aufprägen, Kie— fern und Fichten, Zürbeln und Lärchen bilden große und aus— gedehnte Waldmaſſen, an Bächen und auf feuchtem Boden finden ſich Weiden und Erlen ein. Auf dürren Hügeln wächſt die Renn— thierflechte und das isländiſche Moos. In der Preißel— beere, Multebeere “, Johannisbeere und anderen bietet ſchon freiwillig die Natur, wenn auch ſpärliche Nahrungsmittel und eine reiche Flora bunter Blumen dient zur Verzierung der Zone, die ſich in Scandinavien bis an die ſchon erwähnte Nordgrenze des Wei— zenbaues, in Rußland und Aſien aber faſt bis Kaſan und Jakutzk erſtreckt. Wir wollen fie die Zone der Nadelhölzer nennen. — Schon in Drontheims Umgebungen fängt wenn auch noch ſpär— lich der O b ſtbau an, bald tritt die kraftvolle Eiche auf, mit etwas zu weit getriebener poetiſcher Freiheit, „die Deutſche“ genannt; Scho— nen, Seeland, Schleswig und Holſtein nähren die prachtvoll— ſten Buchenwälder. Etwa in der Breite von Frankfurt a. M. ge— ſellt ſich noch ein Baum hinzu, der ſich durch ſeine kühne, maleriſche Veräſtelung der Eiche an die Seite ſtellt, die er durch die Pracht ſei— nes Laubes, ſo wie durch den Nutzen ſeiner Früchte weit übertrifft, die edle Kaſtanie nämlich. Pyrenäen, Alpen und Kaukaſus bilden die Südgrenze dieſer Zone, in welcher mehr nach Oſten die Linde und Ulme in ſo reichlichem Maaße zur Waldbilduug beitra— gen, daß erſtere ſelbſt den Verwüſtungen widerſteht, welche die Eſthen zur Anfertigung ihrer Lindenbaſtſchuhe anrichten. In dem Hopfen, Epheu und der Waldrebe finden ſich hier die erſten Repräſentanten tropiſcher Schlingpflanzen ein. Mit dem duͤſtern Schatten der Wälder wechſelt das lachende Grün der Wieſen und der Menſch hat ſich in Beſitz der Erde geſetzt, die wilde Vegetation bis auf das Nothwendigſte für Holz- und Heubedarf beſchränkend und reiche Saaten lohnen ſeinem Fleiß. — Wir verlaſſen dieſe Zone der ſommergrünen Laubhölzer, um die Felſenmauer der *) Rubus Chamaemorus. Schleiden, Pflanze. 19 290 Zwoͤlfte Vorleſung. Alpen zu überſteigen, wodurch eine weiſe Vorſehung den Deutſchen gegen Süden beſchränkt hat, die er vorwitzig überſtieg, um aus dem ſinnlichen und verderbten Süden ſeinem Volke unendliches Elend und Jahrhunderte durch zehrendes Siechthum zu holen. Hier treten plötzlich ganz andere Pflanzenformen auf; an die großen Wälder aus Laubhölzern, deren lederartige, glänzende Blätter den leichten Win— ter überdauern, um deren mächtige Stämme ſich die Reben und feuer— farbigen Bignonien ſchlingen, ſchließen ſich ähnliche Gebüſche von Myrte, Tinus, Erdbeerbäumen und Piſtacien gebildet. Hin und wieder findet fi) die Zwerg palme ein, Labiaten und kreuzblüthige, und ſchönblühende Ciſtroſen erſetzen im Sommer die Frühlingsflor duftender Hyacinthen und Nareiſſen, aber ſelten noch in günſtigſten Lagen erfreut ſich das vom Glanz der immer— grünen Blätter, oder von dem grellen Farbenſpiel nackter, zackiger Ge— birgszüge geblendete Auge des milden Schimmers grünender Wieſen. Dafür hat ſich der Menſch in dieſem Gürtel immergrüner Laubhölzer der Frucht der Hesperiden bemächtigt. Es iſt „das Land wo die Citronen blühn, Im dunkeln Laub die Goldorangen glühn.“ — Aber weiter, immer weiter ſtrebt das unerſättliche Geſchlecht des Japetus, keine Sage vom afrikaniſchen Wüſtenlande, keine Todes— nachricht von den vielen kühnen Reiſenden, die ausgingen die Quellen des Niger zu ſuchen, ſchreckt ihn zurück. An der Weſtküſte Africas, auf den canariſchen Inſeln, findet er zwar nicht mehr den rieſen— mäßigen Hund, nach welchem ſie, wie Plinius berichtet, die Hunds— inſeln genannt ſind, aber Flora beut ihm die reichſten Schätze, welche fie mit Hülfe der tropiſchen Sonne dem von Meeresdünſten durch— feuchteten Boden zu entlocken vermag. Um Sycomoren ſchlingen ſich mächtige Ciſſusſtämme, Capern und Bauhinien durch— flechten die Gebüſche von balſamreichen Sträuchern gebildet. Schlank erhebt ſich die Dattelpalme und zu rieſigen Holzmaſſen erwächft der Baobab“). Die wunderlichen cactusähnlichen Formen blatt ) oder Affenbrodbaum, Adansonia digitata. Die Pflanzengeographie. 291 loſer Wolfsmilcharten, durch ihre giftige oder wohlſchmeckende ſüße Milch ausgezeichnet, verrathen eine eigenthümliche Bildungs— kraft in der Natur und der Drachenbaum in den Gärten von Orotava auf Teneriffa, eine rieſige baumartige Lilienpflanze, erzählt dem ſinnigen Lauſcher die Sagen von vielen Jahrtauſenden. Sechs Vegetationsgürtel ſind wir ſo durchzogen, in denen die allmä— lig ſteigende Temperatur des Climas eine immer andere, eine üppigere Vegetation hervorrief und wir beſchließen unſere Wanderung, indem wir nach kurzer Raſt unter jenen fünftauſendjährigen Dracänen den Pie von Teyde erſteigen. Am flachen Fuße deſſelben hat der Menſch vom Boden Beſitz genommen und die urſprüngliche Vegeta— tion verdrängt. Durch Weinberge und Maisfelder ſteigen wir auf— wärts bis uns die Schatten immergrüner Lorbeeren umfangen. Seidelbaſtarten und ähnliche Pflanzen ſchließen fi) an, wir durchwandern eine Zeitlang einen Gürtel immergrüner Laub— hölzer. Auf einer Höhe von 4000 Fuß verlieren ſich die Pflanzen, die uns bis dahin begleitet haben. Nur eine geringe Anzahl eigen— thümlicher Gewächſe deutet uns eine ſchnell durchſchrittene Zone ſommergrüner Laubhölzer an, und wir ſind umgeben von den harzigen Stämmen der canariſchen Kiefer. Ein Gürtel der Nadel— hölzer ſchützt uns gegen die Sonnenftrahlen bis zu einer Höhe von 6000 Fuß, dann wird die Vegetation plötzlich niedrig, durch niedri— ges Gebüſch geht ſie über in eine Flor, welche ganz den Character der Alpenkräuter trägt, bis zuletzt nackter Fels jedem organiſchen Le— ben eine Schranke ſetzt und nur deshalb kein Schnee und Eis die Spitze des Berges bedeckt, weil ſeine Höhe von 11430 Fuß bei einer dem Wendekreis ſo nahen Lage nicht bis in die Region des ewigen Schnees hinaufreicht. Den weiten Weg von Spitzbergen bis zu den Canaren, eine Ausdehnung von mehr als 50 Breitengraden, haben wir, wenn wir ihn nach den Vegetationsgrenzen beurtheilen, hier aufwärts ſteigend in wenigen Stunden zurückgemeſſen. — Auf dieſem ganzen Wege, abwärts nach Süden und aufwärts zur Spitze des Tey de, verändert ſich die Vegetation conform mit den 19 * 292 Zwöͤlfte Vorleſung. climatiſchen Verhältniſſen und wir können faſt allein ſchon durch die Zunahme und Abnahme der Wärme für die beobachtete Vertheilung der Gewächſe Rechenſchaft geben. Wenn wir unſere Unterſuchungen weiter ausdehnen, können wir ſogar beſtimmte Pflanzenarten nennen, welche einer beſtimmten nördlichen Breite eigen ſind, aber in niederen Breiten auch regelmäßig in den Gebirgen auf einer beſtimmten Höhe ſich wieder einfinden. Indeß tritt dieſer Fall doch verhältnißmäßig ſelten ein und wir werden zuletzt gezwungen dafür auf andere, weni— ger oder gar nicht gekannte Einflüſſe zu verweiſen. Wenn wir Ge— genden in den tropiſchen Gebirgen finden, die rückſichtlich der Feuch— tigkeit und Temperatur, ſo wie rückſichtlich der Bodenconſtitution durchaus gewiſſen Gegenden in nördlichen Breiten entſprechen und die dennoch eine dem allgemeinen Character nach zwar ähnliche, den Geſchlechtern und Arten nach aber ſo ganz verſchiedene Vegetation ernähren, ja wenn wir bemerken, daß die Uebereinſtimmung zwiſchen nördlicher Breite, und Erhebung über der Meeresfläche in ſüdlicher Breite ſich durchſchnittlich nur bis zu einer Höhe von etwa 6000 Fuß nachweiſen läßt, ſo werden wir darauf hingewieſen, dem Licht, dem Luftdruck u. ſ. w. einen weſentlichen Einfluß einzuräumen, wenn wir auch nicht im Stande ſind das Wie zu entwickeln. Am Beſtimmteſten werden wir auf einen ſolchen zukünftigen Ent— wicklungsgang der Wiſſenſchaft hingewieſen, wenn wir die Vergan— genheit derſelben näher ins Auge faſſen und gewahr werden, wie hier die allmälig ſich entwickelnde genauere Kenntniß beſtimmter phyſica— liſcher Verhältniſſe auch die Erklärung vieler Erſcheinungen möglich gemacht hat, die früher ſehr räthſelhaft daſtanden. Am auffallendſten zeigt ſich dies in der Lehre von der Wärmevertheilung auf der Erde. Anfänglich verſuchte man, wie Halley, Euler und Andere, dieſe Vertheilung aus der Stellung der Erde zur Sonne zu berechnen, ein Verfahren was augenblicklich ſehr annehmlich erſcheint, da gegen— wärtig die Sonne, wenn nicht die einzige, doch die weſentlichſte Wärmequelle für die Erde iſt. Aber in welchen ſchreienden Contraſt treten mit den ſo gewonnenen Reſultaten die Erſcheinungen in der Die Pflanzengeographie, 295 Wirklichkeit. Natürlich müßte dann die Temperatur regelmäßig mit der wachſenden Breite abnehmen, aber während die ruſſiſche Armee auf ihrem Marſch nach Chiwa unter dem 40. Grad der Breite durch Kälte zu Grunde ging, bleiben auf den Faröern unter dem 62. Breiten— grade die Schaafe während des ganzen Winters auf der Weide. Jede ſolcher Berechnungen hat nämlich nur unter der Vorausſetzung Werth, daß die ganze Erde vollkommen gleichförmig zu beiden Seiten des Aequators in völligen Ebenen mit Subſtanzen bedeckt wäre, die ſich gegen Wärmeſtrahlen völlig gleich verhalten und endlich völlig in Ruhe ſind. Von allen dieſen Bedingungen iſt aber keine einzige auf der Erde verwirklicht. Man wurde alſo auf die unmittelbare Beobach— tung gewieſen. Man fand, daß wenn auch die Wärme in Tages— und Jahreszeiten verſchieden vertheilt iſt, doch derſelbe Ort durch— ſchnittlich jedes Jahr eine gleiche Temperatur habe. Wenn man näm— lich von mehreren täglichen Beobachtungen die mittlere Zahl der Wär— megrade nimmt und dieſe mittleren Zahlen von allen Tagen im Jahre zuſammenſtellt und daraus abermals einen Mittelwerth zieht, ſo weicht der ſo gewonnene Mittelwerth von dem des vorhergehenden oder folgenden Jahres nur um wenige Grade ab. Nimmt man eine größere Anzahl Jahre z. B. 20, ſo erhält man einen Werth, der von dem der vorhergehenden oder nachfolgenden 20 Jahre kaum noch ein Zehntel eines Grades verſchieden iſt. — Humboldt kam nun zuerſt auf den ſinnreichen Gedanken, alle Orte auf der Erde, die nach der eben beſchriebenen Beſtimmungsweiſe gleiche mittlere Temperatur haben, durch eine Linie auf der Karte zu verbinden (Jſotherme oder Linie gleicher Wärme), und bald fand man nun, daß ſo ſehr auch dieſe Iſothermen in ihren Biegungen von den Parallelkreiſen abweichen, doch ſich die Vegetationsgrenzen viel näher an ſie ſchmiegen als an dieſe. Noch immer aber blieben viele Räthſel ungelöſt. Drontheim z. B. hat gleiche mittlere Temperatur mit der ſüdlichſten Spitze von Island, die Hebriden, Orkaden und Shettlands Inſeln haben eine um faſt 3° höhere mittlere Temperatur. Gleichwohl hat Drontheim noch Obſt- und Weizenbau, während der Weizenbau 294 6 Zwölfte Vorleſung. erſt bei Inverneß in Schottland, der Obſtbau noch etwas ſüdlicher beginnt. So wurde man endlich darauf geführt auch die Vertheilung der Wärme innerhalb der Jahreszeiten mit in den Kreis der Unter— ſuchung zu ziehen, da ſich zeigte, das hiervon oft die Vegetation viel weſentlicher beſtimmt wird, als durch die mittlere Temperatur oder die Summe der Wärme, die ſie empfängt. — Man berechnete nun auf die angedeutete Weiſe die mittlere Sommer- und Winterwärme und verband ebenfalls die Orte, die ſich in dieſer Beziehung gleich— ſtanden, durch Linien: Iſotheren (Linien gleicher Sommerwärme) und Iſochimenen (Linien gleicher Winterfälte). Nun hat z. B. Drontheim eine mittlere Winterkälte von — 4%8 während die Faröer eine mittlere Wintertemperatur von + 3,9, die Shettlands Inſeln gar von + 4,0 haben, aber die mittlere Sommerwärme beträgt in Drontheim + 16°,3, dagegen auf den Faröer nur + 10,0, auf den Shettlandsinſeln + 11°,9 und dabei reift weder Weizen noch Obſt, obwohl Letzteres eine viel ſtärkere Winterkälte als — 4,3 ver- tragen kann. Mos cau, welches eine treffliche Vegetation hat, er— trägt eine mittlere Wintertemperatur von — 10%5. Das 15 Brei— tengrade nördlichere Mageroe, ſchon außerhalb aller Pflanzencultur gelegen, hat eine mittlere Temperatur des Winters von — 5%, die der von Aſtrachan, 10 Breitengrade ſüdlicher als Moscau und wo ſchon Wein und Mais gedeiht, gleich iſt. Die mittlere Sommer— wärme von Mageroe iſt aber + 6°,4, von Mos cau 16,9 und von Aſtrachan 22,0 und es iſt ganz beſonders die Wärme, welche während der Vegetationszeit der Pflanzen herrſcht, die ihr Ge— deihen beſtimmt. Bei einjährigen Pflanzen oder, man ſollte richtiger ſagen, bei Sommergewächſen verſteht ſich die Sache ohnehin von ſelbſt und die perennirenden Pflanzen treten meiſt im Herbſt in einen Zuſtand vegetativer Unthätigkeit, einen wirklichen Winterſchlaf, der ſie ſelbſt große Kältegrade ohne Nachtheil ertragen läßt. Aber wir ſind durch alle dieſe Unterſuchungen noch lange nicht ans Ziel gekommen; der nächſten Zeit wird es obliegen, auch die Theilung der mittleren Temperatur in Winter- und Sommerwärme Die Pflanzengeographie. f 295 noch weiter in die mittlere Temperatur der einzelnen Monate aufzu— löſen, denn die halbjährigen Abſchnitte ſind noch viel zu groß, um eine genauere Vergleichung mit den Vegetationsperioden der Pflanze zuzulaſſen. Sehr wahrſcheinlich wird es auch nicht allein darauf an— kommen, welche Temperatur die Pflanze überhaupt während ihrer „Vegetationszeit empfängt, ſondern auch weſentlich darauf, wie dieſe Temperatur auf die Zeit des Keimens, Wachſens, Blühens und Früchtereifens vertheilt iſt. Hier wie überall ſieht der tiefer eindrin— gende Naturforſcher noch unendliche Arbeit vor ſich und nur der un— wiſſende Schwäßer glaubt ſchon etwas zu wiſſen, weil fein blödes Auge nicht weiter reicht als das Buch, aus welchem er ſo eben müh— ſam fein Krümchen Weisheit geſammelt. Schon in frühern Vorträgen ſind wenigſtens die Hauptpuncte berührt, von denen das Leben der Pflanzen, von deren Verſchieden— heit auf der Erde alſo auch die Verſchiedenheit der Vegetation ab— hängt. Das erklärliche Leben der Pflanze iſt Bildung organiſchen Stoffes aus unorganifchen Verbindungen. Abhängig iſt alſo die Pflanze von der Bodenbeſchaffenheit im weitern Sinne des Wortes, von ihrem Nahrungsvorrath und von Allem was den chemiſchen Pro— ceß der Bildung ſelbſt bedingt, alſo vorzugsweiſe von einer beſtimm— ten Temperatur. Nachdem ich die Temperaturverhältniſſe im Vori— gen berührt, will ich hier noch kurz den Einfluß des Bodens näher betrachten. Man unterſcheidet zwar gewöhnlich ſehr verſchiedene ſo— genannte Standorte der Pflanzen, aber ohne dieſelben eigentlich nach phyſiologiſchen Grundlagen beſtimmt zu haben. Das allgemeine un— entbehrliche Nahrungsmittel der Pflanze und zugleich der Stoff, durch welchen alle übrigen in die Pflanze eingeführt werden, iſt das Waſſer. Ohne Waſſer giebt es keine Vegetation. Dies Element der Alten bietet ſich der Pflanze in drei verſchiedenen Formen dar und danach vor allen Dingen müſſen wir die Standorte der Pflanzen unterſchei— den. Die Orchideen der tropiſchen Wälder laſſen ihre eigenthümlich gebaute Wurzel von dem Aſt, auf dem ſie kleben, in die feuchtwarme Atmoſphäre hineinhängen und ſaugen das Waſſer in Dunſtform 296 £ Zwölfte Vorleſung. auf. Nur von tropfbarflüſſigem Waſſer umgeben, oder doch mit den Wurzeln in ſolches eingetaucht, gedeihen unſere Waſſerlilien und die eigentlichſten Sumpfpflanzen. Ganz anders aber verhaͤlt es ſich mit der größeren Anzahl der Pflanzen, die ihre Nahrung einer Erde entziehen müſſen, welche die Feuchtigkeit in einem eigenthümlichen Zuſtande aufgeſogen enthält. Fügen wir dieſen drei Claſſen der Luft-,. Waſſer- und Erdpflanzen noch eine dritte hinzu, nämlich die ächten Paraſiten, welche wie unſere Flachsſeide ihre ſchon organiſirte Nahrung aus andern Pflanzen ſaugen, ſo haben wir die Hauptein— theilung für die Standorte gewonnen. Hieran erſt ſchließen ſich die Unterabtheilungen, die ſich nach den Stoffen beſtimmen, welche das Waſſer aufgelöſt enthält und ſo den Pflanzen zuführt. Daß unter dieſen Kohlenſäure und Ammoniakſalze ſich überall befinden müſſen, wo Vegetation möglich ſein ſoll, habe ich ſchon früher erörtert. Viel— leicht aber macht auch hier ſchon das Mehr oder Weniger beider Be— ſtandtheile und ihr Verhältniß zu einander einen Unterſchied, den wir noch nicht zu würdigen im Stande ſind. Deutlicher ſind uns die Be— ziehungen der unorganiſchen Beſtandtheile, der vom Waſſer aufge— löſten Salze, zur Pflanze. Die Wiſſenſchaft hat gerade in dieſer Beziehung mannigfach in den entgegengeſetzteſten Richtungen geirrt. Noch im Anfang dieſes Jahrhunderts gab es Männer, welche be— haupteten die Pflanzen könnten aus Luft und deſtillirtem Waſſer alle ihre organifchen und unorganiſchen Beſtandtheile ſelbſt bilden. Ober: flächliche Experimente, die noch dazu von urtheilsloſen Akademikern gekrönt wurden, phantaſtiſches Geſchwätz ſtatt logiſcher Gedanken— ſchärfe ließen ſolche ſchiefen Anſichten bei einem Theil der Forſcher für eine zeitlang Geltung erlangen. Später irrte man in das ent— gegengeſetzte Extrem, indem man jeder geognoſtiſchen Formation eine eigne Flora zuzuſchreiben geneigt war und dieſer letzte Irrthum fpuft noch jetzt in den landwirthſchaftlichen Lehren, die Güte und Gehalt. des Bodens nach den darauf wachſenden Pflanzen beſtimmen wollen. Das Richtige liegt hier zwiſchen beiden Ertremen. Ich habe früher Gelegenheit gehabt auszuführen, wie die Pflanzen ſehr ver— Die Pflanzengeographie. 297 ſchiedene Mengen und Arten von unorganiſchen Stoffen zu ihrer Ve— getation in Anſpruch nehmen. Wenn wir finden, daß die Aſchen der Lucerne, des Tabaks, des Klee's über 60 Procent Kalk und Talkſalze enthalten, ſo kann es uns unmöglich Wunder neh— men, wenn wir dieſelben auf einem reinen Sandboden, der kaum Spuren von Kalk enthält, nicht antreffen, aber falſch iſt es, daraus zu ſchließen, daß gerade der Muſchelkalk, oder der Keuperkalk, oder der Jurakalk, oder irgend eine andere Kalkſchicht einer beſtimmten Formation gerade der eigentliche Boden für dieſe Pflanzen wäre. Daß eine Pflanze wie der große Zudertang*), der ſo reich iſt an Natron, Jod und Brom nur im Meere, nicht im ſüßen Waſſer ſich findet, wo ihm Natron höchſt ſpärlich, Jod und Brom gar nicht zu— gemeſſen ſind, iſt wohl leicht begreiflich. Gleichwohl giebt es doch, wenn wir den Boden im Großen nach den geognoſtiſchen Grundla— gen beurtheilen wollen, nur ſehr wenig Pflanzen, welche für gewiſſe Bodenbeſtandtheile characteriſtiſch ſind und zwar iſt auch dies Ver— hältniß wieder ſehr natürlich und nothwendig. Nahebei kann man behaupten, daß alle Pflanzen in ihrer Aſche dieſelben Beſtandtheile enthalten, aber in ſehr verſchiedenen Verhält— niſſen. Auf einem Boden, der daher ganz rein aus einer Erdart, z. B. Kalk, Kieſel, Gyps beſtände, würde gar keine Pflanze ge— deihen können. Jeder Boden, der Pflanzen trägt, enthält auch alle von allen Pflanzen geforderten Stoffe in ſeiner Miſchung, nur ſind die Verhältniſſe verſchieden nnd das Vorwalten von Kieſelerde, Kalkerde, Kochſalz muß auch vorzugsweiſe das Wachsthum der Grasgewächſe, der Hülſenpflanzen, der Strandpflanzen begünſtigen, obwohl dieſelben keineswegs ausſchließlich auf den eigentlichen Sandboden, Kalkboden, oder auf den Strand beſchränkt ſind. Ich wüßte in dieſer Beziehung wahrlich keine anderen Pflanzen als koh— lenſaure Kalk-, Gyps- und Salzpflanzen als wirklich zu rechtferti— gende Benennungen hinzuſtellen. Es kommt zu dieſem chemiſchen Verhältniß aber noch ein ande— ) Laminaria saccharina. . * 298 Zwölfte Vorleſung. res, welches das erſte modificirt und da, wo es dieſelben Wirkungen hervorbringt, dazu beiträgt, gewiſſe Pflanzen deſto feſter ausſchließ— lich an gewiſſe Bodenarten zu feſſeln, im entgegengeſetzten Fall auch dazu beiträgt den Zuſammenhang zwiſchen Pflanzen und chemiſchem Gehalt des Bodens zu verdecken oder zu verwiſchen. Es iſt dieſes der mechaniſche Zuſammenhang und die phyſicaliſchen Eigenſchaften des Bodens. So giebt es Pflanzen, die nur auf den unzerkleinerten Felſen ſich anſiedeln, die dann, wenn die übrigen Bedingungen ſich dazu finden, von den Felſen auf unſere Mauern überſpringen wie die Mauerraute), ein kleines Farnkraut, das von feinem Stand— ort den Namen führt. Andere finden ſich nur da, wo die Verwitterung das derbe Geſtein zu kleinen Brocken zertheilt hat, Geröllpflanzen, die dann dem Menſchen ſich anſchmiegend die ihrem natürlichen Standort ähnlichen Schutthaufen wählen; unſere große Neſſel und das Bilſenkraut mögen als Beiſpiele dienen. Endlich an— dere Pflanzen wachſen nur in dem völlig zu feinen Pulver aufgelöſten Gebirge im Sande oder in dem noch feinkörnigeren durch chemiſche Zerſetzung entſtandenen Thon. Die ſogenannte deutſche Saſſapa— rille, das Sandrietgras, iſt ein Beiſpiel für das erſte Ver— hältniß, dem nicht wohl ein beſtimmtes Verhältniß in der Nähe menſchlicher Wohnungen entſpricht. Dem Thone dagegen ſtellt ſich die aus Zerſtörung organiſcher Stoffe hervorgegangene ſchwarze Sub— ſtanz, der Humus, an die Seite. Beide reich an auflöslichen der Vegetation wichtigen Salzen, beide ausgezeichnet in Rückſicht auf ihre Eigenſchaft, Gaſe And Waſſerdünſte aus der Atmoſphäre aufzu— ſaugen und ſo den Pflanzenwurzeln zuzuführen, bedingen einzeln oder in Verbindung miteinander die üppigſte Vegetation. Wir erhalten ſo eigentlich drei Stufen hinſichtlich der Bodenbeſchaffenheit: reine Erdarten als völlig vegetationsleer, — gemiſchte Erden ohne Thon und Humus mit zwar dürftiger aber characteriſtiſcher Vegetation — und endlich thon- und humusreicher Boden mit der größten Fülle und — ) Asplenium Ruta muraria. Die Pflanzengeographie. 299 Mannigfaltigkeit der Pflanzen. — Selbſt im Norden fällt auch dem Laienauge der größere Reichthum und die kräftigere Entwicklung des Pflanzenreichs auf thonreichem Baſalt- oder Porphyrboden auf und reiner Quarzſand iſt ſelbſt unter der tropiſchen Sonne eine Wüſte, wenn ihm nicht Waſſer und darin fremde Stoffe zugeführt werden. Vertheilung der Pflanzen auf der Erde ohne nachweisbare Abhängigkeit von phyſi— kaliſchen Bedingungen. In den einleitenden Erzählungen zu gegenwärtigem Aufſatze habe ich ſchon bemerkt, daß Auſtralien eine ſehr gemeine Pflanze, das ſogenannte Gänſeblümchen, mit Europa gemein habe. Daſſelbe kleine Pflänzchen findet ſich in Nordaſien, in einigen Gegenden Africas und Südamericas und wo es vorkommt ſteigt es an den Bergen von dem Niveau des Meeres bis zur Schneegrenze hinauf. Das kleine Herenfraut, die zarte Linnaea, das Bitterſüß, der Vogelknöterich, die blaue Gentiane, die Zwergbirke und die krautartige Weide“ und mehrere Andere find zugleich in Europa und Nordamerica einheimiſch. Der gemeine Braunheil, die Waſſerlinſe und unſer Schilf“) wachſen auch in Neuhol— land. Das Torfmoos ““) bedeckt fo gut die Moore Peru's und Neu⸗Granada's als die des Harzes und des Dovrefjeld in Norwegen. Die bräunliche Schorfflechte ), welche alle unſere Mauern, Planken und alten Bäume überzieht, ſindet ſich nicht minder auf den Felſen des erſt 90 Jahre alten Yorullo in Mexico. Das bläu— liche Borftengrastr), welches bei uns auf Sandboden das ge: meinſte Garten- und Ackerunkraut iſt, wächſt ebenſo im Innern Bra— ſiliens auf paſſendem Boden. Eine characteriſtiſche Pflanze unſers Strandes und der Umgebung der Falzguelſe, die Ruppiartr), 370 rcd alpina, Linnaeä borealis, aa dulcamara, Polygonum aviculare, Gentiana Pneumonanthe, Betula nana, Salix herbacea. ) Prunella vulgaris, Lemna minor, Phragmites communis. , Sphagnum palustre. +) Parmelia subfusca. ++) Setaria glauca. + Ruppia maritima. 500 AS3wöͤlfte Vorleſung. wächſt zugleich an der norddeutſchen Küſte, in Braſilien und Oſtindien. Doch wozu die Beiſpiele häufen, da dieſe ſchon hinreichen zu zeigen, daß allerdings die Anſicht einige Stütze in der Beobachtung findet, welche annimmt, daß jede Pflanze auch da auf der Erde ſich finden müſſe, wo die uns bekannten Bedingungen ihrer Vegetation vorhanden ſind. Aber eben deshalb habe ich jene drei Scenen gleich an den Eingang meiner Mittheilungen geſtellt, um von vornherein darauf aufmerkſam zu machen, daß gerade die eben erwähnten Fälle, die uns auf den erſten Anblick eine natürliche und nothwendige Folge der Pflanzenorganiſa— tion zu ſein ſcheinen, geradezu nur als ſeltene Ausnahmen vorkommen. Schon das kleine Gänſeblümchen zeigt einen gewiſſen Eigen— ſinn. Es fehlt in ganz Nordamerica und was wir auf unſern Wie— fen als unbedeutendes Unkraut zertreten, wird dort mit der zaͤrt— lichſten Sorgfalt in den botaniſchen Gärten erzogen. Gehen wir die Vegetation verſchiedener Länder durch, fo ſehen wir, daß die für un— ſere jetzigen Kenntniſſe gleich erſcheinenden Bedingungen zwar ähn— liche aber keineswegs gleiche Pflanzenformen hervorrufen. Den Pflanzen einer beſtimmten nördlichen Breite entſprechen auf der ana— logen Höhe der ſüdlicher gelegenen Alpen andere Arten deſſelben Ge— ſchlechtes, oder andere Geſchlechter derſelben Pflanzenfamilie, oder die Pflanzen Americas werden auf gleicher Breite in der alten Welt durch andere aber in ihrer Entwicklung nahe verwandte Pflanzen ver— treten. Ja ſelbſt Pflanzen, die ganz und gar verſchiedenen Familien angehören, nehmen wenigſtens in ihrer äußeren Erſcheinungsweiſe ähnliche Geſtalten an. So entſprechen den Cacteen der neuen Welt die blattloſen fleiſchigen Wolfsmilcharten des heißen Africas. Wenn wir auch ahnen, daß eine größere Mannigfaltigkeit der Vegetationsbedingungen der Grund iſt, weshalb die Mannigfaltigkeit der Vegetation, die Zahl der Pflanzenarten von den Polen nach dem Aequator hin ſtetig zunimmt und eben deshalb die Zahl der geſellig wachſenden Pflanzen, der Arten, welche in zahlloſen Exemplaren große Strecken überziehen, in eben demſelben Maaße abnimmt, fo ſind wir doch weit davon entfernt uns darüber wiſſenſchaftlich Rechen— - Die Pflanzengeographie. 501 ſchaft ablegen zu können. Ganz Reſultat launenhafter Willkühr muß es uns aber erſcheinen, warum einzelne Pflanzen weit auf der Erde verbreitet ſind, während andere auf die kleinſten Flecke eingeſchränkt leben müſſen, wie z. B. die ausſchließlich auf den Kärnthner Alpen vorkommende Wulfenie; warum einzelne Familien, wie die Com— poſiten, über die ganze Erde vertheilt gedeihen, während andere, wie die Pfefferarten, die Palmen, nur zwiſchen ſehr beſtimm— ten Breitegraden zu beiden Seiten des Aequators, die Proteaceen nur auf der ſüdlichen Halbkugel, die Cactus pflanzen nur auf der weſtlichen Hälfte der Erde ſich finden. Eben ſo wenig erklärlich iſt uns die Vertheilungs weiſe der Pflanzenfamilien. Während die Pal— men arten vom Aequator gegen die höheren Breiten abnehmen, errei— chen die Compoſiten gerade in der mittleren Temperaturzone ihre höchſte Entwicklung, ihre Artenzahl nimmt von da nach beiden Seiten, ſowohl nach dem Aequator als nach den Polen zu, ab, während die Gräſer endlich ſtetig vom Aequator nach den Polen hin zunehmen. Hier iſt aber noch eine eigenthümliche Betrachtungsweiſe her— vorzuheben, nach welcher man die Vertheilung der Familien zu be— urtheilen pflegt. b Die Rietgräſer z. B. treten in der Flora von Frankreich mit 134 Arten auf, in der Flora von Lappland dagegen nur mit 55 Arten. Frankreich iſt alſo ohne Frage abſolu t reicher an Arten als Lappland. Anders aber ſtellt ſich die Sache, wenn wir dieſe Pflanzen im Ver— hältniß zur ganzen Vegetation beider Länder betrachten und wenn es uns darauf ankommt, eben das Characteriſtiſche der Vegetationsge— biete aufzufaſſen, ſo dürfen wir nur dieſe Betrachtungsweiſe gelten laſſen. Frankreich beſitzt im Ganzen etwa fünftehalb Tauſend phane— rogame Pflanzen und davon machen die Rietgräſer nur / aus; Lapplands Phanerogamen dagegen beſchränken ſich auf etwa 500 Arten und darunter iſt / Rietgräſer. Die letztern ſind daher ein viel weſentlicherer Theil der Lappländiſchen Flora als der Franzöſiſchen, jene hat relativ eine größere Anzahl Arten als dieſe. Nur dieſes iſt es was man unter Zunehmen der Arten, in einer beſtimmten Richtung, verſteht. 502 Zwölfte Vorleſung. Durch dieſe uns unerklärliche Vertheilungsweiſe der Pflanzen nach Arten, Geſchlechtern, Familien, Ordnungen und Claſſen ent— ſtehen nun gewiſſe eigenthümliche Gebiete auf der Erde, welche ſich durch das Vorherrſchen gewiſſer Pflanzenformen oder das ausſchließ— liche Vorkommen beſonderer Familien characteriſiren. Man hat dieſe Theile der Erdoberfläche, deren man jetzt etwa 25 zählt, pflanzen- geographiſche Reiche genannt und ihnen die Namen der Männer beigelegt, welche ſich vorzugsweiſe um die Erforſchung dieſer Gegen— den berühmt gemacht haben. Schon fruher habe ich des Reichs der Saxifragen und Mooſe, oder des Wahlenberg'ſchen Reiches gedacht, welches ſich vom ewigen Schnee der Pole oder der Berggipfel bis an die Baumgrenze erſtreckt und ſich eben durch das gänzliche Fehlen der baumartigen Pflanzen und ſelbſt der höheren Büſche auszeichnet. — An dieſes ſchließt ſich das große Lin né'ſche Reich, Nordeuropa und Nordaſien umfaſſend, bis an die großen Gebirgsketten, welche ſich von den Py— renäen bis zu den Alpen fortziehen. Wälder von Nadelhölzern oder von ſommergrünen Bäumen, üppige Wieſen und weite Haiden, in Aſien die eigentlichen Salzſteppen beſtimmen vor— zugsweiſe die Eigenthümlichkeiten dieſes Gebiets, welches aber wenig— ſtens in feinem europäifchen Theile ſchon zu ſehr von der Cultur in Be— ſitz genommen iſt, um noch ſeine natürliche Phyſiognomie zur Schau zu tragen. — Das weite Becken von den Alpen bis zum Atlas, deſſen tiefſte Stelle das Mittelländiſche Meer erfüllt, bildet ein drittes Reich, durch den Reichthum an gewürzigen Lippenblumen, ſchönen aber ſchnellvergehenden Lilienpflanzen, und durch die harzreichen Ci— ſtroſen ausgezeichnet. Die einzelnen Zwergpalmen und Bal— ſambäume deuten in dieſem Reiche Decandolle's auf einen Uebergang zu tropiſchen Regionen. — Den letztgenannten beiden Reichen parallel theilt ſich Nordamerica in ein nördlicheres, Michaur zu Ehren benanntes Reich, durch eigenthümliche Nadelhoͤlzer, Eichen und Wallnüſſe, durch zahlloſe Aſtern und Goldru— then von dem Linnsſchen Reich unterſchieden, — und in das ſüd— Die Pflanzengeographie. 505 lichere Reich Pursh's, in welchem beſonders die Bäume mit breiten glänzenden Blättern und großen prachtvollen Blumen wie der Tul— penbaum, die Magnolie und andere den Character beſtimmend hervortreten. Zwiſchem dem China und Japan umfaſſenden Reiche Kämpfer's, dem Wallich'ſchen Reiche im Hochlande von In— dien und dem durch ſeinen Giftbaum und ſeine Rieſenblume berühm— ten polyneſiſchen oder Inſelreiche Reinwardt's liegt Roxburgh's Reich, welches in beiden indiſchen Halbinſeln ſich ausbreitet und im Schatten der rieſigen Feigenbäume die prachtvollen Scitamineenod. Gewürzlilien, wie Ingwer, Cardamomen u. Gelbwurz birgt oder in kleinen Wäldern die gewürzigen Rinden des Zimmts und der Caſſie, in dicken unförmlichen Stämmen das Stärkemehl des Sagos zeitigt. — Wir überſpringen das Reich Blume's in den Gebirgen Javas, das Reich Chamiſſo's oder den Archipel der Südſee und das Reich Forſter's auf Neuſeeland, und wenden uns wieder nach Africa, wo die Wüſte, das Reich Delile's, in den Oaſen die Dattel reift und in den zartblättrigen Acacien die Mengen des arabiſchen und Senegalgummi's kocht, welche der Handel unſerem Kunſtfleiß zuführt. — Hieran ſchließt ſich nach Oſten das Reich der Bal- ſambäume von Forskael beherrſcht, nach Süden das Reich Adan— ſon's, deſſen Characterpflanze ebenfalls den Namen jenes genialen Botanikers verewigt, die tauſendjährigen Rieſenſtämme der Adan— sonia digitata (oder des Baobab). Das dürftig gekannte Africa bietet uns nur noch in ſeiner Südſpitze das Reich Thunberg's mit Sta— pelien, Meſembryanthemen, bunter Haide und übelriechen— den Buccoſträuchern bedeckt, aber arm an Wäldern. — Neuholland und Van Diemens Land tragen den Namen ihres erſten und gründlich— ften botanischen Erforſchers Rob. Brown's und das mittlere und füd- liche America vertheilt ſeinen Pflanzenreichthum noch in acht Reiche, welche Jacquin, Bonpland, Humboldt, Ruiz u. Pavon, Swartz, Martius, St. Hilaire und d' Urville gewidmet find, unter denen das Ja cquinſche Reich durch feine ſeltſamen Cacteen, das Reich Humboldt's auf den Höhen der ſüdamericani— 504 Swölfte Vorleſung. ſchen Anden durch feine Chinawälder, und Martius' Reich im Innern Braſiliens durch ſeinen Reichthum an Palmen, durch die Menge der Schlingpflanzen und Schmarotzergewächſe ausgezeichnet ſind. Dieſe wenigen Züge mögen genügen, nicht ein Bild der Erdenflora zu entwerfen, denn das erforderte die Kenntniß eines Rob. Brown, die Feder eines Humboldt, ſondern nur anzudeuten, welch' ein Reich— thum hier verborgen liegt, den nur zum Theil der Fleiß und Geiſt der ausgezeichneten Forſcher uns bis jetzt hat zugänglich machen können. Ich wende mich jetzt zum letzten Abſchnitt meiner Aufgabe, zu einer Skizze der Verbreitung der wichtigſten Nahrungs: pflanzen auf der Erde. Es giebt wohl kein Reich unter den im Vorigen Genannten, welches nicht einige ſeiner Bürger zur Verzierung unſerer Luſtanlagen oder zum Dienſt der Wiſſenſchaft in unſern botaniſchen Gärten hätte hergeben müſſen und wenn wir auch die aus den eigentlich tropiſchen Reichen von Martius, Jacquin, Adanſon, Reinwardtu. Rorxburgh entlehnten Pflanzen durch künſtliche Wärme entweder überwintern oder auch ſelbſt im Sommer gegen die Ungunſt des Cli— mas ſchützen müſſen, ſo bleiben doch immer eine große Anzahl Pflan— zen aus allen Theilen der Erde und aus den Tropen wenigſtens die Gebirgspflanzen übrig, welche von uns in freier Luft angebaut den Satz zu erhärten ſcheinen, daß auch in dieſer Beziehung der Menſch Herr der Schöpfung iſt und daß er, wie auch die Natur die Pflanzen— decke auf der Erde angeordnet haben möge, die Macht habe, dieſe Anordnung nach ſeinem Gefallen und beſonders zu ſeinem Nutzen abzuändern. Dem iſt aber nicht ſo und die ganze zu Grunde gelegte Thatſache nur illuſoriſch, wenn wir nicht auf die kleinen Erdfleckchen eines botaniſchen Gartens, ſondern auf die Culturen im Großen ſehen wollen, die doch allein von Bedeutung ſind. Hier erſcheint der Menſch wieder als ein ohnmächtiges Geſchöpf, ſeine Thätigkeit mit Ackern und Düngen als eine unbedeutende Beihülfe zum Gedeihen der Cultur— Die Pflanzengeographie. 303 pflanzen, denen die climatiſchen Verſchiedenheiten ebenſo beſtimmte Aus dehnungsbezirke vorzeichnen wie der wilden Flora und welche die Gunſt oder Ungunſt einer Jahreswitterung zur üppigen Entwicklung bringt, oder vernichtet. Auf der ganzen Erde hat der Menſch, um ſeinem Nahrungsbe— dürfniß zu entſprechen, ſich faſt nur Sommergewächſe, d. h. ſolche Pflanzen ausgewählt, die ihre geſammte Vegetation, oder doch die Entwicklung der die Nahrungsſtoffe enthaltenden Theile, innerhalb weniger Monate vollenden. Dadurch hat er ſich in den halb tropi— ſchen Gegenden von der Ungunſt der dürren Jahreszeit, in den höheren Breiten von dem ſtörenden Einfluß der Kälte unabhängig gemacht und ſo die Möglichkeit ſich geſichert, Pflanzen anbauen zu können, die dort der Dürre des Sommers, oder hier der Kälte des Winters erliegen müßten. Scheiden wir die mehr der Annehmlichkeit als der Nothwendigkeit dienenden Obſtarten aus, ſo bleiben uns unter den eigentlichen Nahrungspflanzen nur noch 3 baumartige Gewächſe auf der ganzen Erde übrig, nämlich die Brodfrucht, die Cocos nuß, die Dattel, welche wirklich für eine größere Menſchenmenge und auf einem größeren Areal das Hauptnahrungsmittel liefern und des— halb Gegenſtand der Cultur geworden ſind, und höchſtens kann man vielleicht für einen ſehr beſchränkten Kreis in Oſtindien noch die Cy— cadeen und Sagupalmen eben ihres ſtärkemehlreichen Markes wegen hinzurechnen. Alle anderen Nahrungspflanzen ſind ſolche, die entweder einen unter der Erde fortvegetirenden, gewöhnlich knollen— förmigen Stamm beſitzen, der nur wenige Monate dauernde Triebe über dem Boden hervortreibt, an denen ſich Blüthen entwickeln und Früchte reifen, während er in der übrigen Zeit gleichſam ſchlafend unter der ſchützenden Erddecke der Ungunſt des Climas trotzt, — oder ſolche, die am Ende einer kurzen Vegetationsperiode ganz abſterben und nur im ſchlummernden Keim des Saamens die zukünftige Wie— dererzeugung ſichern. Zu den erſteren gehören z. B. die den Cordil— leren Chili's, Peru's und Mexico's entlehnte Kartoffel, zu den anderen faſt alle unſere Getreidearten. Schleiden, Pflanze. 20 506. Zwölfte Vorleſung. Nur Eine Pflanze zeichnet ſich unter den Culturpflanzen noch durch eine beſondere Vegetationsweiſe aus, eine Pflanze, die vielleicht das erſte Geſchenk der Natur an den erwachenden Menſchen und ſo— mit der Gegenſtand der allerälteſten Cultur iſt, ich meine die Ba— nane*). Und nicht nur die erſte, auch die werthvollſte Gabe der Natur iſt dieſe Pflanze, deren ſchwacharomatiſche, ſüße und nahrhafte Früchte dem größten Theil der Bewohner der heißern Landſtriche die Einzige oder doch die vornehmſte Nahrung ſind. Ein unter der Erde fortkriechender Wurzelſtock treibt aus ſeitlichen Augen einen 15 — 20 Fuß langen Schaft in die Höhe, der nur aus den übereinanderge— rollten, ſcheidenförmigen Blattſtielen beſteht, welche die oft 10 Fuß langen und 2 Fuß breiten ſammetartig glänzenden Blätter tragen; nur die Mittelrippe des Blattes iſt derb und dick, die Blattfläche zu beiden Seiten aber ſo zart, daß ſie vom Winde leicht zerriſſen wird, wodurch das Blatt ein eigenthümlich gefiedertes Anſehn erhält“). Zwiſchen den Blättern hervor drängt ſich der reiche Blüthenbüſchel, der ſchon drei Monate nachdem der Trieb ſich erhoben 150 bis 180 reife Früchte, etwa von der Größe und Form einer Schlangengurke, gebil— det hat. Die Früchte zuſammen wiegen etwa 70—80 Pfd.; derſelbe Raum, welcher im Stande iſt 1000 Pfd. Kartoffeln zu tragen, bringt in bedeutend kürzerer Zeit 44,000 Pfd. Bananen hervor, und wenn wir den Nahrungsſtoff ſelbſt in Rechnung bringen, den dieſe Frucht enthält, ſo kann eine Fläche, die mit Weizen beſtellt Einen Menſchen ernährt, mit Bananen bepflanzt, fünf und zwanzigen ihren Unter⸗ halt gewähren. Nichts fällt einem Europäer, der in der heißen Zone landet, anfänglich ſo ſehr auf als das winzige Fleckchen Culturland um eine Hütte, die eine höchſt zahlreiche Indianerfamilie birgt. Erſt bei Weitem ſpäter lernte der Menſch die Gaben der Ceres kennen und anbauen. Jetzt muß es uns in der That überraſchen zu ſehen, daß bei Weitem dem größten Theile aller Menſchen nur wenige Arten einer einzigen Pflanzenfamilie den hauptſächlichſten Nahrungs— *) Musa sapientum, , S. den Umſchlag rechts unter der Cocospalme. Die Pflanzengeographie. 307 ſtoff liefern, nämlich die ſogenannten Getreidepflanzen oder Cerealien aus der Familie der Gräſer. — Die Familie umfaßt nahe an 4000 Arten und von dieſen werden noch nicht 20 zur Nah— rung für den Menſchen cultivirt. Dieſe Culturgräſer ſind ihrer Natur nach zwar ſämmtlich Sommergewächſe, aber von einigen der wich— tigſten hat ſich der Menſch eigne Abarten gezogen, die in dem dazu geeigneten Clima im Herbſt geſäet keimen und dann unter der wär— menden Decke des Schnees überwintern, ſo daß ſie im Frühling ſchon kräftig fortwachſen können, während noch für die übrigen Sommer— gewächſe der Boden zur Aufnahme des Saamens vorbereitet wird. Mit Berückſichtigung dieſer Ausnahme kann man ſagen, daß das Ge— deihen ſämmtlicher Cerealien von der Temperatur des Sommers oder der Vegetationszeit abhängig iſt, und wenn wir ihre Verbrei— tung auf der Erde uns verſinnlichen, ſo zeigen ſie uns Gürtel, welche nicht ſo ſehr wie manche andere Vegetationsverhältniſſe von dem Verlauf der Iſotheren abweichen. Es laſſen ſich aber die Temperaturverhältniſſe, unter denen die Getreidearten vegetiren, noch vielleicht genauer entwickeln als durch die Angabe der Iſotheren möglich iſt. In Aegypten, an den Ufern des Nils, ſäet man die Gerſte Ende November und erndtet Ende Februar, die Vegetationszeit beträgt alſo 90 Tage und die mittlere Temperatur dieſer Zeit iſt 219,0. In Tuquerés nahe bei Cumbal unter dem Aequator iſt die Beſtellzeit auf den Gebirgen für die Gerſte etwa am 1. Juni, die Zeit der Erndte Mitte November, die mittlere Temperatur dieſer Vegetationszeit von 168 Tagen iſt 10° ,7. Zu Santa Fé de Bogota zählt man zwiſchen Ausſaat u. Erndte 122 Tage mit einer mittlern Temperatur von 14%7. Wenn man nun die Anzahl der Tage mit der Zahl der mittleren Temperatur multiplicirt ſo erhält man für Aegypten 1890, für Tuquerés 1798, für Sta. F & 1793, alfo fo nahebei dieſelbe Zahl als es die Unſicherheit in der Beſtimmung der Tage, der genaueren mittleren Temperatur und die Ungewißheit ob überall dieſelbe Gerſtenart gebaut wird, nur irgend erwarten laſſen. Aehnliche Reſultate erhält man beim Weizen, 20 * 508 Zwölfte Vorleſung. Mais, der Kartoffel und anderen Culturpflanzen. Wir können die— ſes Reſultat fo ausſprechen: jede Culturpflanze bedarf zu ihrer Ent— wicklung einer gewiſſen Quantität Wärme, es iſt aber gleichgültig ob dieſe Wärme auf einen längern oder kürzeren Zeitraum vertheilt wird, ſobald nur gewiſſe Grenzen nicht überſchritten werden; denn wo die mittlere Temperatur unter 86 ſinkt, wo ſie ſich über 22° er- hebt, da reift keine Gerſte mehr. Wir müſſen alſo, um genau die Temperaturverhältniſſe, die eine Pflanze zu ihrem Gedeihen fordert, zu beſtimmen, angeben, innerhalb welcher Grenzen ihre Vegetations- zeit ſchwanken kann und welche Quantität der Wärme ſie bedarf. Auf dieſes höchſt merkwürdige Verhältniß iſt zuerſt von Bouſſin— gault aufmerkſam gemacht, aber leider beſitzen wir noch nicht ge— nügend genaue Angaben über die Culturverhältniſſe in den verſchiede— nen Gegenden der Erde, um dieſe geiſtreiche Anſicht bis in alle Ein— zelheiten verfolgen zu können. | Ich habe in Vorigem deshalb die Gerſte als Beifpiel gewählt, weil ſie von allen Cerealien den größten Verbreitungsbezirk hat und von den äußerſten Grenzen der Cultur in Lappland bis auf die Höhen unmittelbar unter dem Aequator angebaut wird. Aber keineswegs hat ſie überall dieſelbe Bedeutung wie in den nördlichſten Gegenden, wo ſie in einem kleinen ſchmalen Gürtel als alleiniges Brodkorn auf— tritt, und nur in der letzten Beziehung ſoll im Folgenden die Ver— breitung der wichtigeren Cerealien betrachtet werden. Schon in Lapp— land und im nördlichen Aſien tritt ſehr bald neben ihr der Roggen auf, von der Ungunſt des Climas aber noch auf glückliche Jahre be— ſchränkt und daher nicht als die eigentliche Hauptnahrung anzuſehen. Erſt in Norwegen, Schweden, Finnland und Rußland wird der Roggen das eigentliche Brodkorn, dem dann im nördlichen England und Deutſchland der Weizen eben ſo an die Seite tritt als früher der Roggen der Gerſte ſich anſchloß. In der Mitte von Deutſchland, im ſüdlichen England, in Frankreich und in einem weiten Bezirk nach Oſten, das ganze caspiſche Meer umfaſſend, wird dann Weizen die herrſchende Culturpflanze, der ſich erſt am Becken des Mittelmeeres, Die Pflanzengeographie. 309 ſo wie in ganz Nordamerica der Mais zugeſellt. Die Stelle des letztern vertritt in Aegypten und im nördlichen Indien der Reis, der ſelbſt dann wiederum auf beiden indiſchen Halbinſeln, in China, Ja— pan und auf dem oſtindiſchen Juſellande zur Alleinherrſchaft gelangt, die er auf der Weſtküſte Africas mit dem Mais theilen muß, der da— gegen im größten Theile des tropiſchen Americas die ausſchließliche Culturpflanze iſt, wenn wir einige minder bedeutende Ausnahmen abrechnen. Im ſüdlichen America, Africa u. Auſtralien tritt bei der wiederabnehmenden Temperatur auch der Weizen wieder in ſeine Rechte ein. Von bei Weitem untergeordneter Bedeutung iſt die Cultur des Tef') und Tocuffo**) in Abyſſinien, der Hirfe**) in Weſtafrica und Arabien, fo wie der Eleufiner) und Hirſeich in Oſtindien. Einen bei Weitem weſentlicheren Antheil als die zuletzt genannten Gräſer nehmen einige andere Pflanzen an der Ernährung der Men— ſchen. Schon in dem nördlichſten Gürtel der Gerſte und des Roggens bildet der Buchweizen den Gegenſtand einer ziemlich ausgedehnten Cultur. Neben den ſchon beſprochenen Bananen geben die Mams— wurzelnttr), die Manjoc*} und die Batate*++) einen ſehr beträchtlichen Beitrag zu den alltäglichen Nahrungsmitteln der Tro— penbewohner, ſowohl der alten als der neuen Welt, wozu auf den Anden noch ein eigenthümliches Gewächs, die Qu in oa ln) kommt, eine Pflanze, die gleichzeitig eßbare Knollen und reichliche, dem Buchweizen zu vergleichende Saamen bringt. Nicht übergehen dürfen wir endlich die Brodfrucht im eigentlichen Sinne des Wortes, welche das Hauptnahrungsmittel der Bewohner der großen Inſel— kette iſt, welche ſich von Oſtindien durch das ganze tropiſche Meer bis an die Weſtküſte von America hinzieht, die Gabe des ſchönen großen Baums aus der Familie der Neſſelpflanzen, den man feines Nutzens wegen den Brodfruchtbaumet) genannt hat. Zur Abwechſe— *) Poa abyssinica. **) Eleusine Tocusso. ****) Sorghum vulgare u. a. ) Eleusine coracana et stricta. ) Panicum frumentaceum. -++--) Dios- corea sativa. ½ Manihot utilissima. *r) Batatas edulis. ur) Che- nopodium Quinoa. -*) Artocarpus incisa. 510 Zwoͤlfte Vorleſung. — Die Pflanzengeographie. lung bauen einige daneben noch die Tarroo-Wurzel), die Tac⸗ caknollen“), oder einige Farnkräuter “), deren mehlreiche Blattſtiele zur wohlſchmeckenden Speiſe dienen. Soll ich endlich noch der Kartoff el erwähnen, die ſich von den Gebirgen der neuen Welt mit ſolcher Schnelligkeit über die ganze Erde verbreitet hat, daß ſie an manchen Orten nicht eben zum Vortheil der Menſchen jede andere Cultur zu verdrängen droht. Nur ein Theil ihres Vaterlandes ſelbſt, nämlich Mexico, iſt freigeblieben und baut erſt in neueſter Zeit wenige ſchlechte Knollen an den Küſtenorten, um den verwöhnten europäiſchen Gäſten ihre, man kann mit ſeltſamer Verkehrung der Begriffe ſagen, vaterländiſche Speiſe vorzuſetzen. Wozu bedurfte auch ein Land der Kartoffel, in welchem die vielleicht tauſendjährige Cul— tur den Boden ſo wenig erſchöpft hat, daß nach weniger Arbeit eine ſchlechte Maiserndte 200fältigen Ertrag liefert, der nd in guten Jahren auf das 600fache ſteigert. Und wir, die wir uns ſchmeicheln große Landwirthe zu ſein, die wir ackern, düngen und ſäen mit den ſinnreichſten Maſchinen, bilden uns ein, Großes gewirkt zu haben, wenn wir ein zwölffaches Korn erndten. Selbſt dieſes verdanken wir nicht unſerer Kunſt, der wir es ſo gern zuſchreiben möchten. Der am ſchlechteſten beſtellte Boden bringt in einem günſtigen Jahre reichere Erndte, als wir dem beſten Boden mit allem Culturfleiß in dem ungünſtigſten Jahre abzwingen können. Wahrlich, nur wer mit beſchränktem Blick an der Scholle kleben bleibt, die ſein Pflug aufgeworfen, kann noch das Gefühl der Bedeutſamkeit menſchlicher Thätigkeit in ſeiner Bruſt bewahren. Wer den freien Blick über das Rund der Erde ſchweifen läßt, und im Großen das Spiel der wirkenden Kräfte überblickt, der lächelt des grabenden, ſchleppenden, geſchäftigen, keuchenden Ameiſenhaufens, den wir Menſchheit nennen und der mit aller feiner eingebildeten Weis: heit nicht im Stande iſt, die kleinſte Wirkung der Geſetze zu ändern, welche die tyranniſche Rieſin Natur ihren Sclaven vorgeſchrieben. ) Arum esculentum. 8 Tacca pinnatifida. ***) Acrostichum fur- catum, Pteris esculenta u, a. Dreizehnte Vorlesung. Geſchichte der Pflanzenwelt. Ihr alle fühlt geheimes Wirken Der ewig waltenden Natur, Und aus den unterſten Bezirken Schmiegt ſich herauf lebend'ge Spur. Fauſt. Die Vignette zeigt eine Gruppe von verfteinerten Pflanzen oder Pflanzen: abdrücken, z. B. ganz hinten einen Calamitenſtamm, links und rechts einige Farnkrautabdrücke und ſo weiter. * Es könnte ſeltſam erſcheinen, daß der Menſch von den früheſten Zeiten an über nichts ſo gern nachgedacht, nichts ſo ausführlich ent— wickelt und über nichts ſo weitläufig gelehrt und geſchrieben hat als über das, wovon wir Menſchen nichts wiſſen und nichts wiſſen kön— nen. Gleichwohl iſt die Sache ſehr natürlich in der menſchlichen Trägheit einerſeits und Eitelkeit andererſeits begründet. Sobald die erſte Stufe ſinnlicher Anregung und gewohnheitsmäßigen Dahin— lebens überwunden iſt, ſobald der Menſch überhaupt anfängt, an gei— ſtiger Bewegung Gefallen zu finden, erwacht auch der Ehrgeiz, mehr zu wiſſen, tiefer zu blicken als Andere. Der rechte Weg zu dieſem Ziele, umfaſſende Kenntniſſe und anhaltendes, ernſtes, begriffsmäßiges Nachdenken iſt aber gar zu beſchwerlich und deshalb nicht Jedermanns Sache, und ſtatt auf dieſem Wege dem wirklich Erkennbaren nachzu— ſtreben, wendet der Menſch lieber ſeine Phantaſie, ein Vermögen, deſſen Thätigkeit wegen ſeiner halb ſinnlichen Natur ſcheinbar einen ungleich größeren Genuß gewährt, den Regionen zu, wo nicht die unbequeme Thatſache und die ſicher abſprechende Logik den Anſichten in den Weg treten können, wo die Phantaſie, die nicht dem Urtheils— ſpruch der Wahrheit unterworfen iſt, in dem Einen eben ſo berechtigt iſt als im Andern und alſo von dieſem keine Widerlegung zu fürchten hat, und wo man, die Begründung der aufgeſtellten Träume klüglich ganz überſpringend, gleich ſich hinter die uneinnehmbare Verſchan— zung zurückzieht: Beweiſe mir das Gegentheil! Ich will hier nicht auf die verſchiedenartigenreligiöſen Phantasmagorien, auf die Unterſuchungen über das, was nach dem Tode ſein wird, und der— 8 314 Dreizehnte Vorleſung. gleichen eingehen, ſondern nur die Kosmogonien hervorheben, die ſich jedes Volk, ja in jedem Volke faſt jeder Einzelne anders auszeichnet und daran erinnern, daß mit mehr Eifer über die Wahrheit der fechstägigen moſaiſchen Schöpfungsgeſchichte geftritten iſt, als man jemals daran gewendet, ſich den Spruch: „liebe dei— nen Nächſten als dich ſelbſt“ in allen Beziehungen zu ent— wickeln und danach zu handeln. Während die übermüthige engliſche Hochkirche, viel verächtlicher als das Pabſtthum in ſeinen widerlich— ſten Ertremen, ſich mit dem Schweiß und Blut von Millionen armer hungernder Irländer mäſtet, verfolgt fie in England mit allen Nichts— würdigkeiten, die ihrer Macht zu Gebote ſtehen, jede wiſſenſchaft— liche Unterſuchung, die ihrer bornirten Anſicht von der Buchſtaben⸗ wahrheit alter jüdiſcher Poeſien zu widerſprechen ſcheint Nirgend mehr und faſt nur da iſt der Menſch unduldſam, wo an eine wiſſen— ſchaftliche Begründung oder Widerlegung nicht zu denken iſt. Wer auf dem Gebiete des Beweisbaren dem geſunden Menſchenverſtande ins Geſicht ſchlagen will, unterliegt dem Fluche der Lächerlichkeit, dem nichts widerſteht. Aber da, wo kein Beweis dafür und folglich auch in der Regel kein Beweis dagegen möglich iſt, erzwingt die Ei— telkeit, wenn ſie mit Macht gepaart iſt, die Anerkennung ihrer Träu— mereien und behauptet wohl gar mit gottesläfterlicher Frechheit, daß der ewige Lenker der Welten ſie vor allen Menſchen mit beſonderen geheimen Mittheilungen ausgerüſtet habe. Das Schlimmſte da— bei bleibt aber, daß, während man ſich dem Ausſpinnen, Vertheidi— gen und Angreifen von Traumgebilden über unfaßbare Dinge hingiebt, ſo häufig die Zeit und Gelegenheit verſäumt wird, nicht nur ſeine Pflicht zu thun und Gottesfurcht im Leben zu üben, ſondern auch mit Ruhe und Klarheit die Verhältniſſe aufzufaſſen, die That: ſachen zu ſammeln, welche nothwendig ſind, um das mögliche Wiſſen zu fördern und zu entwickeln. Ueber den einfachen Ausſpruch: „Gott iſt der heilige Urheber aller Dinge, und ſeine Weisheit, ſeine Liebe hat die Welt erſchaffen,“ kommt auch der tiefſte Naturforſcher nicht hinaus. Er gilt ihm wie 5 Geſchichte der Pflanzenwelt. 313 jedem in ſich ſelbſt verſtändigten Menſchen als eine unantaſtbare Wahrheit. Aber er entwerthet dieſe Wahrheit nicht dadurch, daß er ſie in das Zeitliche und Räumliche oder gar in das blos Irdiſche überträgt. Er fragt nicht bei dem Allmächtigen nach dem menſchlich beſchränkten Wie der Vermittlung, nicht bei dem Ewigen, Zeitloſen, nach der nur in der Zeit Platz greifenden Folge von Urſache und Wirkung. Er weiß, daß, wo er die ihn umgebende Natur mit Beobachtung oder Gedanken rückwärts oder vorwärts verfolgt, er nur eine endloſe Reihe von Veränderungen des Geſchaffenen, aber nie ein Entſtehen, ein Vergehen finden kann. Die einfach poetiſche Sage der Juden oder die ſogenannte Schö— pfungsgeſchichte bewegt ſich wie natürlich auf einem Standpunkt, wo das Rund der Erde noch den Blick des Menſchen umfing, wo ihm Sonne, Mond und Sterne nur freundliche Lichter waren, den Tag zu erhellen, die Nacht zu verſchönern. Naturbetrachtungen im Großen und in einer großartigen Natur, noch unzerſtreut durch die verwirrende Menge der Einzelanſchauungen, mochten früh ſchon dem gebildeten Stand der ägyptiſchen Prieſter eine Ahnung erweckt haben, daß ge— waltige Umwälzungen unſere Erde erſt nach und nach zu dem Zu— ſtande gebracht, in welchem wir ſie jetzt finden. Es mochten ſich hier durch Nachdenken über das große Spiel der Naturkräfte beſtimmtere Anſichten gebildet haben über die allmälige Bildung der feſten Erd— rinde, das Vorangehen der vegetabiliſchen Entwicklung von der thie— riſchen und das endliche Auftreten des Menſchen als des vollkommen— ſten Organismus, den wir auf Erden kennen, dem man billig das Unvollkommnere ſtufenweiſe vorhergehen ließ. Dieſe Anſichten über die allmälige Bildung der Erde, die dem damaligen Menſchen noch mit der Welt gleichbedeutend war, faßte einer der größten und ge— nialſten Köpfe des Alterthums, Moſeh, mit ſeinem geläuterten und reinen Gottesglauben zuſammen und zeichnete ſie unter dem Bilde der Weltſchöpfung aus. Aber nicht die wenigen Züge naturhiſtori— ſcher Kenntniß, die ſich darin finden, ſind das Großartige, das alle anderen Sagen der Völker hoch Ueberragende, ſondern der Ausſpruch: 5 316 Dreizehnte Vorleſung. „die Welt iſt nicht ſeit anfangsloſer Zeit geweſen, iſt nicht Spiel einer blinden Bildungskraft, nicht Product einer ſtarren Nothwendigkeit, eines Schickſals, ſondern es iſt die freie That eines heiligen Urhebers, einer ewigen Liebe.“ In dieſem Sinne hat ſich keiner der Menſchen⸗ ſtämme je zu dem Begriffe der Schöpfung erhoben, denn ſelbſt die nahe anklingende und offenbar verwandte Brahmaſage iſt, gegen dieſen einfachen, klaren Gedanken gehalten, phantaſtiſch verworren und ſinnlich unklar. — Immer bis in die fernſten Zeiten wird es unverändert wiederhallen: „Gott ſchuf die Welt;“ aber weit hinaus ſind wir ſchon über die damit vermengten naturwiſſenſchaftlichen An— fänge. Sie beziehen ſich nicht auf die Welt, ſondern auf eines der kleinſten Stäubchen von Einem der unzählbaren Staubhäufchen, die im Aethermeere ihren endloſen Reigen tanzen. Von allen jenen Mil— lionen andern größern, wunderbaren Weltkörpern wiſſen wir über Entſtehung und Entwicklung nichts. Von der Welt wiſſen wir nur, ſie iſt da und gehorcht jetzt einfachen, ausnahmsloſen Naturgeſetzen; jene moſaiſche Schöpfungsgeſchichte dagegen iſt zuſammengeſchmolzen zu Einer Zeile in dem Rieſenbuche, welches die zeitlichen Verände— rungen des ſchon Geſchaffenen erzählt, eine Zeile, von der wir zwar einige Buchſtaben mehr entziffert haben als die Menſchheit zu Moſes Zeit, aber ohne daß wir fie ſchon vollſtändig leſen könnten. Wir wollen verſuchen, wie wir die entzifferten Buchſtaben zu einem ver— ſtändlichen Ganzen zuſammenfaſſen können. Der erſte Zuſtand der Erde, auf deſſen Kenntniß noch mehr als bloße Träumereien, und wenigſtens wohl geordnete wiſſenſchaftliche Analogieen hinführen, iſt der einer geſchmolzenen, feurigflüſſigen Maſſe, umgeben von einer dichten Atmoſphäre, welche ſämmtliche jetzt auf der Erde fließende Gewäſſer als Dampf enthielt, vielleicht eine beträchtlich größere Menge Sauerſtoff, ſicher aber einen ungleich größeren Antheil an Kohlenſäure als jetzt zu ihren Beſtandtheilen zählte. In dem nach ungefähren Schätzungen wenigſtens — 40 Grad kalten Weltraum mußte ſich die Erde allmälig abkühlen, die geſchmol— zenen Maſſen mußten erſtarren und ſo bildete ſich eine feſte Rinde, 2 Geſchichte der Pflanzenwelt. 517 auf welche ein Theil des Waſſerdampfes, von der verminderten Erd— wärme nicht mehr zurückgehalten, als Regen niederſtürzte. Jeder ſich abkühlende Körper zieht ſich aber zuſammen und ſo mußte ſich auch die Erdrinde zuſammenziehen, es mußten Riſſe entſtehen, aus denen ein Theil des noch flüſſigen Kerns hervorgepreßt wurde, ſich über den Riß erhob und über ſeine Ränder ausbreitete, auf dieſe Weiſe die erſten Unebenheiten oder Berge, und dadurch auch zuerſt den Unterſchied zwiſchen höherem trockenem Lande und dem die Fläche be— deckenden Meere bildend. Bei immer größerer Abkühlung, bei immer ſtärkerer Verdickung und Zuſammenziehung der Erdrinde mußte ſich dieſer Vorgang öfter und in immer heftigerer Weiſe wiederholen, heftiger weil in der dickern Rinde die Spalten immer enger wurden und die ſchon durch Abkühlung mehr zähflüſſig gewordene Maſſe ſich, aus den Riſſen hervortretend, nicht gleich über die Ränder ausbreitete, ſondern nach und nach immer höher hervorſchob. Aber in eben demſel— ben Maaße wie die feſte Kruſte dicker und widerſtandsfähiger wurde, mußten jene Proceſſe auch mehr örtlich werden, und ihre erſchütternde Wirkung ſich auf einen geringern Theil der Erdoberfläche ausbreiten. An manchen Stellen bildeten ſich auch wohl nur blaſenförmige Er— hebungen, die aus dem Waſſer hervortraten und öfter, wenn der Inhalt ſich anderswo Luft machte, ſchneller oder langſamer wieder einſanken. Wie oft ſich ſolche Erſcheinungen im größeren Maasſtabe wie— derholt haben mögen, wiſſen wir nicht. Viele Geologen nehmen nach den an unſeren jetzigen Gebirgsſyſtemen beobachteten Verhältniſſen an, daß 12, 24 ſolcher Erhebungen Statt gehabt haben mögen, einige zählen noch mehr, andere noch weniger, indeß iſt die Annahme nur für das jetzt vor uns liegende Product gültig, denn Niemand kann uns darüber eine Andeutung geben, wie viele ganze Gebirgsſyſteme ſchon in früheren Zeiten beſtanden haben und völlig wieder vernichtet oder auf den Grund des Oceans hinab geſunken ſind. * Zu jener Erſtarrung der feurigflüſſigen Maſſen, woran vielleicht der Sauerſtoff der Atmoſphäre in ſo fern einen Antheil nahm, als er ſich mit dem Metall des Kalks, der Kieſelerde, des Kali, Natron 518 Dreizehnte Vorleſung. und anderen zu den Sauerſtoffverbindungen oder Oryden vereinigte aus denen gegenwärtig die Gebirgsmaſſen beſtehen — zu jener un— mittelbaren Bildung der Gebirge aus der ſich abkühlenden und er— härtenden Grundmaſſe, ſage ich, kam noch ein anderer Vorgang, der von nicht minder großem Einfluß war. Sobald nämlich die erſten feſten Geſteinsmaſſen ſich in die Luft erhoben, waren auch ſchon Kräfte thätig, ſie wieder zu zerſtören, Kräfte die wir größtentheils noch jetzt, wenn auch vielleicht in minderer Heftigkeit, raſtlos an der Vernichtung und Verflachung der Gebirge arbeiten ſehen. Der Wechſel von Hitze und Abkühlung bewirkte ein Zerſpringen der Ge— ſteinsmaſſen; in die Sprünge drang das von Kohlenſäure geſättigte Waſſer ein, zerſetzte die früher entſtandenen chemiſchen Verbindungen und lößte auf dieſe Weiſe den innern Zuſammenhang der Felſen, der zerbröckelte und endlich in Staub ſich auflöſte. So ſehen wir noch jetzt auf dem Brocken große Granitblöcke in einer Reihe von Jahren zu einem grobkörnigen Sande zerfallen. Jene Sand- und Staub— maſſen wurden aber von den gewaltigen Regengüſſen, die bei weiterer Abkühlung der Erde immer heftiger herunterſtürzten, in die Tiefen, die großen Becken des Uroceans, zuſammengeſchwemmt und ſetzten ſich hier beim ruhigen Stehen des Waſſers ſchichtenweis auf dem Boden ab, bis etwa ein neuer Ausbruch dieſen Meeresboden und die darauf abgeſetzten Schichten wiederum über den Spiegel des Waſſers hin— aushob. Es verſteht ſich, daß auch dieſe ſo gehobenen Gebirgsmaſſen dem Proceß der Verwitterung unterlagen, und daß die Producte derſelben zuſammengeſchwemmt zu neuen Ablagerungen anderer Art Veranlaſſung geben mußten. Indeſſen ſind doch die urſprünglichen Verſchiedenheiten dieſer Ablagerungen der Zeit nach nicht ſehr ver— ſchieden und laſſen ſich auf Sandſtein, Kalkſtein und Thone oder Mergel zurückführen, die in allen Perioden wiederkehren. Dieſe Vor— gänge müſſen viele Hunderttauſende von Jahren gedauert haben, bis ſich die feſte Rinde des Erdkörpers allmälig der Geſtalt annäherte, welche ſich noch jetzt zeigt und bis ſich der heftige Kampf zwiſchen der noch feurigflüſſigen Maſſe und der Dampfatmofphäre bis zu einer Geſchichte der Pflanzenwelt. 519 gewiffen Ruhe gemäßigt hatte. Dieſe Bildungsgeſchichte unferes Erdkörpers führt uns auf die Annahme zweier ihrem innerſten Weſen nach verſchiedenen Gebirgsmaſſen, nämlich der ungeſchichteten, aus geſchmolzenem Zuſtande erkalteten und der geſchichteten, aus den Ab— ſätzen des Waſſers entſtandenen Geſteine. Zu irgend einer Periode dieſer allmäligen Geſtaltung des Lan— des entſtanden durch Kräfte, die noch vorhanden ſein mögen, aber unter Bedingungen und einem Zuſammenwirken jener verſchiedenen Kräfte wie es jetzt auf unſerer Erde nicht mehr möglich ſcheint, die erſten Keime organiſcher Weſen. Wahrſcheinlich war das Meer die Geburtsſtätte dieſer Organismen und waren die Formen derſelben noch ſehr einfach. Die abſterbenden Organismen wurden im Grunde des Meeres von den Abſätzen begraben und erhielten ſich ganz oder in ihren feſteren Theilen (Schalen oder Knochen), wenigſtens ihrer äußeren Form nach, wenn auch die organiſche Subſtanz zum größten Theil zerſtört und oft durch eindringende unorganiſche Stoffe erſetzt wurde, als ſogenannte Verſteinerungen (Petrefacten). Schon aus dem über die Bildungsgeſchichte der Gebirge Geſagten geht hervor, daß ſolche Verſteinerungen nur in den geſchichteten Steinen vorkommen können. In ſpäteren Perioden entſtanden dann auch Organismen auf dem trocknen Lande und auch von dieſen gin— gen Reſte als Verſteinerungen in die Gebirge über und zwar auf doppelte Weiſe, entweder wurden ihre Leichen durch Regengüſſe und die größeren Ströme dem Meere zugeführt, oder der ganze Boden, auf welchem ſie lebten, verſank, wie oben erwähnt, unter den Mee— resſpiegel und begrub ſie ſo in ganzen Maſſen unter den Abſätzen der Gewäſſer. 8 Das ſorgfältige Studium der Gebirgsſyſteme, Gebirgsmaſſen und Verſteinerungen hat nun dahin geführt, daß man die allmälige Bildung der Erde in beſtimmte, zwar nicht der Zeit aber doch ihren Producten nach begrenzte Perioden hat eintheilen können und man nennt dieſe Producte Gebirgs formationen, die in beſtimmter Reihefolge geordnet ſich ſo verhalten, daß nirgends auf der Erde ſich 520 Dreizehnte Vorleſung. eine tiefer in der Reihe ſtehende Formation auf einer höher ſtehenden aufgelagert findet, ſo daß man mit Sicherheit annehmen kann, daß ſie in dieſer Ordnung nach einander ſich gebildet haben. Von dieſen Formationen faßt man nun mehrere zuſammen und bildet da— raus größere Bildungsperioden, gleichſam Altersſtufen der Erde, nach denen ich dann auch im Folgenden kurz die allmälige Ent— wicklung des Pflanzenreichs ſchildern will. Ehe ich aber dazu übergehe muß ich noch einmal auf den ur— ſprünglichen Zuſtand der Atmoſphäre unſerer Erde, auf den clima— tiſchen Zuſtand derſelben und ſeine allmäligen Veränderungen zurück— gehen. Die Temperatur unſeres Erdkörpers hat eine doppelte Quelle, nämlich die eigne ihm inwohnende Wärme und die, welche er durch die Strahlen der Sonne erhält. Von der Wärme aber, die er hat oder erhält, giebt er beſtändig eine gewiſſe Menge an den kalten Weltraum ab. Abkühlung und Erwärmung von der Sonne her ſtehen jetzt in dem Verhältniß zu einanber, daß ſie ſich vollkommen das Gleichgewicht halten und daß wenigſtens ſeit faſt 3000 Jahren die Temperatur der Erde ſich nicht um den zehnten Theil eines Grades verändert haben kann. Dafür haben wir zwei Beweiſe, einen aſtro— nomiſchen, welcher ſich auf die Beobachtungen der Mondfinſterniſſe des Hipparch ſtützt, den ich hier übergehe, und einen botaniſchen, den der geiſtreiche Arag o zuerſt aufgefunden hat. Der Weinſtock reift dort keine Früchte mehr, wo die mittlere Temperatur des Jahres höher wird als 20 Grad, und umgekehrt gedeiht keine Dattel mehr, wo die Temperatur unter 20 Grad herabſinkt. Dieſe Bedingungen treffen nun gerade in Paläſtina zuſammen und hier fanden die Juden bei ihrer Einnahme des Landes Datteln und Trauben vereinigt; hätte ſich nun die Temperatur der Erde um ein Geringes ſeit jener Zeit erhöht oder erniedrigt, ſo müßte eine jener Pflanzen in Paläſtina verſchwun— den oder doch unfruchtbar geworden ſein, was jedoch nicht der Fall iſt. Wenn aber die Erde jetzt gerade ſo viel Wärme von der Sonne empfängt als ſie durch Abkühlung wieder an den Weltenraum ver— liert, ſo heißt das mit anderen Worten, daß die Sonne jetzt die Geſchichte der Pflanzenwelt. 321 einzige Quelle der Wärme iſt und es muß daher die Wärme auf der Erde auch ihrer Stellung zur Wärmequelle gemäß vertheilt, die Tro— pen müſſen am heißeſten, die Pole kalt ſein, wie das ſchon in einer anderen Vorleſung entwickelt wurde. — Dies Verhältniß fand aber nicht immer Statt. So lange die Erde noch feurig-flüſſig und von einer dichten, die Sonnenſtrahlen nur wenig durchlaſſenden Atmo— ſphäre umgeben war, blieb die Wärmemenge, welche ſie von der Sonne erhielt, verſchwindend klein gegen diejenige, welche ſie durch Abkühlung verlor, oder mit anderen Worten: zur Zeit der ſich erſt bildenden Erde lag die Quelle ihrer Wärme ſo gut wie ganz in ihr ſelbſt. Hier fand daher auch keine nur vom Stande der Erde zur Sonne abhängige Vertheilung der Wärme auf der Erde Statt und ſie hatte nahebei überall die gleiche hohe Temperatur. Eine heiße, feuchte Atmoſphäre, gegenwärtig das Characteriſtiſche der Tropen— welt, herrſchte damals auf der ganzen Erde und machte die Polar— gegenden den Tropenländern gleich. Erſt nach und nach, wie ſich die Erde immer mehr und mehr abkühlte, die Atmoſphäre immer mehr ihrer Dämpfe als Regen herabſchüttete, ihre Kohlenſäure an die or— ganiſche Welt abgab und ſo lichter und durchſichtiger wurde, gewann die Sonne eine größere Bedeutung und ſo gingen ſtufenweiſe die Gegenden höherer Breiten und ſelbſt die Polarländer nacheinander die Climate durch, die wir jetzt von dem Aequator zu den Polen nebeneinander auf der Erde finden. Dieſes Verhältniß wird ſich ſpäter zur Erklärung der verſchiedenen ſich folgenden Vegetatio— nen an der Erde als ſehr folgenreich erweiſen. Wie ſchon erwähnt entſtanden wahrſcheinlich die erſten Keime des Lebendigen im Waſſer, und dem entſprechend finden wir in den älteſten geſchichteten Felsarten, dem Grauwacken gebirge, oder wie die Engländer es nennen, dem ſiluriſchen Gebirge, nur einige wenige Reſte von Tangarten, begleitet von den ſchon in der vorhergehenden cambriſchen Formation in einzelnen Ver— tretern ſich zeigenden Meerthieren. Die gefundenen Tangarten zeigen im Allgemeinen große Uebereinſtimmung mit den jetzt unter den Tro— Schleiden, Pflanze. 21 322 a Dreizehnte Vorleſung. pen vorkommenden Formen. Allerdings dürfen wir hier nicht un- bemerkt laſſen, daß das Grauwackengebirge bis jetzt faſt nur in Eng⸗ land und Deutſchland ſorgfältiger durchforſcht iſt, und daß gerade an dieſen Orten die Schichten deſſelben durch ſpäter aufſteigende Gebirge und durch die Einwirkung dieſer glühenden Maſſe ſo gewaltſam ge— ſtört und verändert ſind, daß gewiß viele in denſelben eingeſchloſſene Reſte durch dieſe Revolutionen wieder vernichtet ſind. Dagegen ſcheint dieſe Formation in Rußland in ungemeiner Ausdehnung noch auf ungeſtörter Lagerſtätte vorzukommen, nur langſam und ruhig über das Niveau des Meeres emporgehoben, und von dort werden wir erſt in der Folgezeit eine genauere Kenntniß dieſer älteſten Meeres— abſätze erhalten. In der zweiten Periode haben ſich zahlreiche Inſeln gebil— det, deren Boden, zum größten Theil aus Schichten der vorigen Pe- riode beſtehend, ſchon eine reiche Landvegetation ernährt. Ein Theil von England und Schottland, der Rheingegend, das Erzgebirge und die Sudeten, Mittelfrankreich, die Vogeſen, nördlich ein Theil von Schweden und Norwegen, die Alleghanys in Nordamerica und einige andere Punkte können wir mit Sicherheit als ſolche Inſelgruppen nen— nen, auf denen ſich eine ihrem Character nach ganz tropiſche, aber in ihren einzelnen Formen ganz fremdartige und zu einem großen Theil aus völlig von der Erde verſchwundenenPflanzengeſchlechtern beſtehende Ve⸗ getation entwickelte. Wenige Palmen und einige Cycadeen, einige rieſige 12 — 20 Fuß hohe Formen von Schafthalmen, fanden ſich zerſtreut in dichten Wäldern von baumartigen Farn, die mitLepido— dendren (zu mächtigen Stämmen ſich erhebenden Bärlappenar— ten), Sigillarien (vielleicht Cactus ähnliche Pflanzen) mit Ca⸗ lamiten, Stigmarien und Nadelhölzern abwechſelten. Noch finden wir keine Spur davon, daß dieſe Inſeln auch von Thieren be— wohnt geweſen find, aber im Meere jagten ſchon furchtbare Haie die kleinen Fiſche, die Ufer waren mit zahlreichen Formen von Co: rallen umfäumt, die Trilobiten, ſeltſame krebsartige Thiere, wunderliche den Nautilen verwandte Geſchöpfe und die zierlichen, Geſchichte der Pflanzenwelt. 325 lilienähnlichen Eneriniten und Pentacriniten gaben der Waſ— ferfauna eine reiche Mannigfaltigkeit. Ueberall auf der ganzen Erde iſt jene Flora dieſelbe, von den jetzt eiſigen Klüften Islands bis zur glühenden Küſte von Malabar. — Lange muß dieſe Vegetation gedauert haben, oft muß der von den Reſten der abgeſtorbenen Pflan— zen mit dicker Humusſchicht bedeckte Boden wieder unter den Meeres— ſpiegel verſunken und mit einer Schicht von Abſätzen überdeckt und dann aufs Neue emporgeſtiegen ſeyn, um einer gleichen und gleich, üppigen Vegetation neuen Boden zu gönnen, denn dieſe Vegetation iſt es, welche die unberechenbar großen, halbzerſtörten, vegetabiliſchen Maſſen zurückgelaſſen hat, die als Steinkohle jetzt faſt einen der weſentlichſten Theile des natürlichen Reichthums eines Landes aus— machen. Wir finden oft 20 bis 30 Lager von Steinkohlen überein— ander, immer durch Schichten von Meerthiere einſchließenden Kalkab— ſätzen getrennt. Wir finden oft in ſolchen Steinkohlenlagern noch die aufrechten Stämme ganzer Wälder, beweiſend, daß das ganze Land mit ſeiner Vegetation langſam und ohne bedeutende Revolution un— ter die Meeresfläche herabgeſunken iſt, wie Aehnliches noch jetzt an der Südweſtküſte von Nordamerica vorgeht; ja wir finden ſolche Stämme nach unten mit ihren Wurzeln in die Steinkohle, das heißt in den humusreichen Boden, der ſie nährte, verſenkt, während ihr oberer Theil von der ſpäter auf den Boden abgelagerten Kallſchicht eingehüllt iſt. Wenn man bedenkt, daß bei der üppigſten Vegetation der Tropen die Bildung einer 9 Zoll dicken Humusſchicht faſt ein Jahrhundert erfordert, daß dieſe Schicht, um zu Steinkohle zu wer— den, auf den 27ſten Theil ihrer Dicke, alfo das Product eines Jahrhun— derts auf 4 Linien zuſammengepreßt werden muß, fo kann man ſich einen ungefähren Begriff von der Dauer jener Periode machen, da die überein ander liegenden Kohlenlager in England z. B. oft eine Geſammtmäch— tigkeit von 44 Fuß haben, alſo einem Zeitraume von etwa 150,000 Jahren entſprechen würden. — Der Character der Pflanzenwelt der Steinkohlenperiode, in dem Vorherrſchen großer baumartiger Kryptogamen, beſonders der Farnkräuter, ausgeſprochen, erinnert am 2 * 524 Dreizehnte Vorleſung. meiſten an die Flora der tropiſchen Südſeeinſeln, auch ſcheint die Ve— getation dieſer Organismen vorzugsweiſe durch eine heiße mit Feuch— tigkeit geſättigte Atmoſphäre, wie wir ſie für jene Epoche der Erde anzunehmen gezwungen ſind, bedingt zu ſeyn. In der darauf folgenden Periode der ſecundären Gebirge ſchei— nen die vorher vorhandenen Inſeln mit ihren Floren zum Theil wie— der ins Meer verſenkt worden zu ſeyn, während ſich andere ausgedehn— tere Landſtriche erhoben, deren Boden vorzüglich aus den Kalken und Sandſteinen der Steinkohlenperiode beſtand. Zum Theil traten dieſe Landſtrecken wohl mit den noch vorhandenen Inſeln in Verbindung und ſo retteten ſich einzelne Pflanzenformen der vorigen Epoche in die neue Ordnung der Dinge heruͤber, während die meiſten eigenthüm— lichen Pflanzengeſchlechter theils mit ihrem Boden verſanken, theils wohl in Folge der allmälig weſentlich veränderten phyſicaliſchen Ver— hältniſſe ausſtarben. Die baumartigen Farnkräuter und die Ca— lamiten ſind zwar noch vorhanden, werden aber ſeltener, dagegen ſind die Cycadeen und Nadelhölzer in größter Menge und in zahlreichen eigenthümlichen Formen entwickelt, dichte Wälder bildend am Rande größerer Landſeen, in denen große ſchilf- und bin— ſenartige Gewächſe vegetirten. Großartige Formen zu Bäumen ſich erhebender Liliaceen, der Bucklandien und Clathrarien bildeten vielleicht auf höherem Boden eigenthümliche Gruppen. Da— zwiſchen wälzten ſich die Rieſenleiber vorweltlicher Gaviale, Le— guane und Schildkröten, flatterten die ſeltſamen Pterodacty— lu sarten, coloſſalen Fledermäuſen vergleichbar, und auf den trock— nen Plätzen ſpielten wunderliche Beutelratzen, während im Meere die Ungeſtalten der Pleſioſauren und Ichthyoſauren, halb Fiſche halb Eidechſen, ſich von den zahlreichen kleinen Bewohnern des flüſſigen Elementes ernährten, das außerdem durch Ammoniten und Nautilen, ſonderbaren Krebſen und eigenthümlichen Seefter- nen belebt wurde. In ſehr kleinem Maaßſtabe wiederholten ſich hier die Verhältniſſe der Steinkohlenperiode und die Reſte jener Pflanzen— welt finden ſich in der ſogenannten Keuperformation als Let- ir Geſchichte der Pflanzenwelt. 525 tenkohle hin und wieder fo mächtig, daß man es der Mühe werth geachtet, ſie bergmänniſch zu gewinnen. Beſtand das Eigenthümliche der Steinkohlenflora in dem Ueberwiegen baumartiger Kryptogamen, zu denen ſich nur einzelne Coniferen und Cycadeen hinzugeſellt, ſo werden dieſe dagegen für die Periode der ſecundären Formationen die eigentlich den Character beſtimmenden Pflanzen, während ſich ein— zelne monocotyledone Formen einfinden. Aber ſchon gegen das Ende der ſecundären Periode ändert ſich der Character der Vegetation, in— dem wahrſcheinlich ein großer Theil des ſchon gebildeten Landes aber— mals langſam in das Meer verſank, umrandet von mächtigen Coral— lenbänken, während anderwärts ſich mächtigere Continente, zum Theil ſchon den jetzt noch vorhandenen entſprechend, erhoben. Wir finden daher aus den letzten Formationen der ſecundären Gebirge faſt nur einige Algen und monocotyledone Waſſerpflanzen und nur Andeu— tungen, daß Cycadeen und Nadelhölzer nicht ausgeſtorben waren. Die nun auftretende neue Ordnung, von den Geognoſten als tertiäre Bildungen bezeichnet, beginnt zwar noch mit einem weit auf der Erde verbreiteten tropiſchen Character, wir finden ſelbſt in hohen Breiten, ſo in England noch reiche Palmenvegetation, die überhaupt jetzt auffallend hervortritt und die Phyſiognomie der Landſchaft beſtimmt zu haben ſcheint, während Coniferen und Cy— cadeen allmälig ſich mehr auf beſtimmte Localitäten, vielleicht jene auf kühlere Höhen, dieſe auf trockene ſonnige Hügel, zurückziehen. Zwiſchen Pandaneen und mächtigen Rohrkolben weiden rie— ſenmäßige Tapire und die ſchon von dicotyledonen Laubhöl— zern gebildeten Wälder werden durch Vögel und kleinere Landthiere belebt. Wale, Walroſſe und Robben durchziehen die Meere. Während von den Polen her die Erde allmälig bis zu ihrer ge— genwärtigen Temperatur abzukühlen beginnt, werden Pflanzen und Thierwelt immer beſtimmter localiſirt, es bilden ſich Faunen und Floren beſtimmter Zonen. Schon gegen das Ende dieſer Periode be— darf das Mam muth in den Steppen Sibiriens des wärmenden Wollhaares gegen die eindringende Kälte und ſtiefmütterlicher von der * 326 Dreizehnte Vorleſung. Natur bedacht als ſein jüngerer Bruder der Elephant, muß es von den ſich auf den Norden und die höheren Berge beſchränkenden Na— delhölzern zehren. Immer mehr) treten in der Pflanzenwelt die For: men der Jetztwelt hervor. Erlen und Pappeln bedecken die friſche Niederung, Kaſtanien und Feigen die ſonnigen Hügel und ſchlanke Birken kämpfen mit den Fichten um den Beſitz des dürf— tigeren und kühleren Bodens. — Der Rieſenſtrom Nordamericas, der Miiſſſiiſippi, wälzt mit feinen Fluthen alljährlich unmeßbare Maſ⸗ ſen fortgeſchwemmter vegetabiliſcher Leichen, große Baumſtämme aus den Wäldern ſeines Quellengebietes, abwärts dem Meere zu. Hier kann die langſamere Strömung jene ſchweren Leiber nicht mehr ſchwimmend erhalten und ſetzt ſie an der Mündung ab, ihre Zwi— ſchenräume mit Schlamm und Steingerölle ausfüllend. Von New— orleans erſtreckt ſich eine ſumpfige Niederung viele Meilen abwärts, die ganz aus ſolchen zuſammengeſchwemmten, mit Sand und Thon verkitteten und allmälig zu einer braunkohligen Subſtanz zerſetzten Pflanzenmaſſen beſteht und für ferne Zeiten ein Kohlenlager bildet. Auf ähnliche Weiſe haben große Ströme dieſer Periode zahlloſe Stämme, beſonders von Nadelhölzern, in Buchten und Süßwaſſer— becken zuſammengeflößt und abgeſetzt, welche vielleicht durch ſpätere Senkungen noch tiefer unter die Meeresfläche gebracht, durch Abla— gerungen von Sand, Kalk oder Thon bedeckt und dann mit an die Oberfläche gehoben wurden. Dieſe ſind es, welche die oft ſo ſehr ausgedehnten Braunkohlenflötze bilden, die immer ein werth— volles Geſchenk des Bodens, doch nur einen dürftigen Erſatz für die verſagte Steinkohle bieten. Dieſem ganzen Leben ſcheint die abermalige Erhebung einiger bedeutenden Gebirgsſyſteme und insbeſondere der Himalaya durch die herbeigeführte Niveauveränderung des Meeres zum größeren Theil ein Ende gemacht, und während gleichzeitig die Erde die Grenze ihrer möglichen Abkühlung erreichte, ſo die gegenwärtige Bildung des feſten Landes und ſeiner Organismen hervorgerufen zu haben. Alle folgenden Veränderungen, die noch Statt fanden, 2} “ a Geſchichte der Pflanzenwelt. 327 Hebungen und Senkungen des Landes ſind unmittelbar nur von un— tergeordneter localer Wirkung geweſen. Wir können die hier vorgeführte Skizze kurz in folgende Haupt— puncte zuſammenfaſſen. Die allmälige Entwicklung der Pflanzenwelt beginnt bei den einfachſten Pflanzen und ſchreitet durch die fi) fol— genden Perioden allmälig bis zu den vollkommenſten Gewächſen un— ſerer gegenwärtigen Vegetation fort. — Die Bildungen der erſten Perioden entſprechen einem gleichförmig über die ganze Erde verbrei— teten Tropenclima, welches erſt nach und nach von den Polen zum Aequator hin in die gegenwärtigen climatiſchen Verhältniſſe übergeht und damit gleichlaufend erſcheint, eine andere Veränderung, indem die Pflanzen der älteſten Perioden gleichmäßig über der ganzen Erde verbreitet geweſen zu ſeyn ſcheinen, erſt nach und nach die Verbrei— tungsbezirke beſchränkter werden und fo in die große geographiſche Verſchiedenheit der Pflanzenwelt übergehn. — Die allmälige Umän— derung des allgemeinen Tropenclimas in die climatiſchen Zonen der Gegenwart, läßt ſich noch auf intereffante Weiſe an einem ganz ſpe— ciellen Beiſpiele nachweiſen. Jeder Holzſtamm der Nadel-Bäume ver: dickt ſich fortwährend in ſeinem ganzen Umfang. In den Aequatorial— gegenden, wo das Clima unausgeſetzt denſelben Character das ganze Jahr hindurch beibehält, geht auch dieſe Verdickung des Stammes ununterbrochen und gleichförmig vor ſich, kein Merkmal verräth uns auf einem glatten Querſchnitt des Stammes die Zeit, welche zu ſeiner Ausbildung nöthig war. So wie wir aber nach Norden fortſchreiten, fo wie die climatiſchen Verhältniſſe mehr und mehr eine Verſchieden— heit der einzelnen Jahreszeiten bedingen, ſo zeigt ſich auch dem ent— ſprechend das Wachsthum in die Dicke durch die begünſtigenden Jahreszeiten gefördert, durch die ungünſtigeren Zeiten dagegen ge— hemmt oder ganz unterdrückt. Auf einem Querſchnitte des Stammes zeigen ſich je mehr er in einer höheren Breite gewachſen iſt, um ſo mehr auch Verſchiedenheiten in der Bildung der aufeinander folgenden Theile des Holzes, die endlich in den Breiten mit ſcharfem Wechſel von Winter und Sommer ſo auffallend das zuletzt im Sommer ent— 7 528 Dreizehnte Vorleſung. ftandene von dem zuerſt im nächſten Frühjahre gebildeten Holze a terſcheiden, daß man an den dadurch auf einem Querſchnitt hervor— gerufenen ringförmigen Zeichnungen mit der größten Sicherheit und Genauigkeit die Zahl der Jahre, welche das Holz zu ſeiner Bildung bis dahin gebraucht hat, abzählen kann. Man nennt deshalb auch dieſe kreisförmigen Linien des Querſchnittes, die jedem Förſter be- kannt ſind: Jahresringe. Vergleichen wir mit dieſer Kenntniß ausgerüſtet nun die Stämme der Nadelhölzer, welche uns aus den verſchiedenen Bildungsepochen aufbehalten ſind, untereinander, ſo finden wir, daß die älteſten Ueberreſte durchaus keine Spur von Jahresringen zeigen, daß aber ſo wie wir mit der Zeit fortſchreiten dieſe letzten immer ſchärfer und endlich in der jüngſten Bildung, 3. B. in der obern Braunkohle, gerade fo ſcharf hervortreten wie an den in denſelben Gegenden noch jetzt lebenden Bäumen. So ſkizzenhaft und unvollkommen die von mir gegebene Dar— ſtellung der ſich einander folgenden irdiſchen Vegetationen iſt, eben ſo, nur auf höherer Stufe unvollſtandig und lückenhaft, iſt über— haupt unſere Kenntniſſe von dieſen Zeiten, die nicht mehr ſind. Wenn man erwägt, wie viele Zufälligkeiten zuſammentreffen muß— ten, daß Organismen, nur einigermaßen erkennbar, in ſich bildende Gebirgsmaſſen eingeſchloſſen werden konnten, wie vielerlei zerſtö— rende Kräfte während der Hunderttauſende von Jahren, die zwiſchen den erſten Anfängen einer Vegetation und der Jetztwelt liegen, ihren Einfluß auf die bewahrten Organismen geltend machen mußten, ſo wird man ſich nicht wundern, daß unſer Wiſſen hier, mehr wie ir— gend wo, Stückwerk iſt, aber man wird auch den Männern ſeine Bewunderung nicht verſagen können, deren raſtloſer Fleiß, deren geiſtreiche Combinationen das, was wir von der Urgeſchichte der Pflanzenwelt wiſſen, zu Tage förderten und mit einem ſo hohen Grade von Gewißheit hinſtellen konnten. Beſonders ſind hier die Namen Sternberg, Brogniart, Göppert und Unger zu nennen, die ſich um die Kenntniß der urweltlichen Flora unſterbliche Verdienſte erworben haben. Vorzüglich hat ſich der geniale und 4 Geſchichte der Pflanzenwelt. 329 phantaſiereiche Unger Anſpruch auf unſere Dankbarkeit erworben, indem er die Reſultate der bisherigen Forſchungen in einer Reihe von Bildern zufammenftellte*), welche den Character der verſchiede— nen Bildungsperioden der Erde in landſchaftlicher Vollendung an— ſchaulicher vorführen als die beſte Beſchreibung zu thun vermag, und ich empfehle meinen Leſern dringend ſich den Genuß, den die Be— trachtung dieſer Anſichten gewährt, auf jede Weiſe zu ſichern. Aber ich habe nur eine Skizze gegeben von dem, was wir wiſſen, von dem, was zu verſchiedenen Zeiten der Erde war, und gleichwohl möchte Manchem die Frage nach Dem was wir nicht wiſſen, nach dem wie es wurde, ein nicht minder großes Intereſſe zu haben ſcheinen. Hier nun gerathen wir faſt ganz in das Gebiet der willkürlichen Phan— taſieſpiele, nur ſchwankende Analogieen können wir hin und wieder her— beiziehen, um uns die Bilder mit einem ſchwachen Schein von Wahr— ſcheinlichkeit auszumalen, und ſo natürlich es auf der einen Seite iſt, daß hier die Anſichten der einzelnen Forſcher unendlich von einander ab— weichen, ſo lächerlich und zwecklos iſt es doch auf der andern Seite, ſich über dieſe oder jede Meinung, über die Wahrheit oder Falſchheit eines wachen Traumes zu ſtreiten, wie nur zu oft geſchehen iſt. Daß einmal wenigſtens aus dem Kampf der unorganiſchen Ele— mente die Keime des organiſchen Lebens an der Erde hervorgegangen ſeyn müſſen, leidet keinen Zweifel, aber eine andere Frage iſt die: hat dieſer Vorgang öfter Statt gefunden und mußte er öfter Statt finden? — Da in dieſer Sache jeder ſeine Phantaſieen für ſich hat und haben darf, warum ich nicht die Meinige auch. Ich halte die Annahme einer mehrmaligen Urzeugung, einer ganz neuen Ent— ſtehung von Pflanzenkeimen aus unorganiſirten oder ſelbſt unorgani— ſchen Stoffen, für überflüſſig und folglich für verwerflich und zwar aus der Zuſammenſtellung folgender Betrachtungen über die allmä- lige Entwicklung der Pflanzenwelt. Die einfachſte Grundlage der ganzen Pflanzenwelt iſt die Zelle“), ein ſehr einfach gebauter Orga— *) Das ſchöne Werk erſcheint bei Minſinger in München. 5 Man vergl. die zweite, dritte und vierte Vorleſung. 550 Dreizehnte Vorleſung. nismus, deſſen Entſtehung aus dem eigenthümlichen Susan ten von Kohlenſäure und Waſſer einerſeits zu Gummi und Pflans zengallerte, und von Kohlenſäure und Ammoniak andererſeits zu Schleim oder Eiweiß, einer möglichen Erklärung nicht ſo ſehr ſich entzieht als die plötzliche Entſtehung eines Pflanzenkeims mit ganz beſtimmten Entwicklungsvermögen zu einer eigenthümlichen Pflan— zenart. Daß die Zelle als eine ſelbſtſtändige Pflanze fortvegetiren kann, wiſſen wir aus der noch jetzt uns umgebenden Pflanzenwelt, da viele der einfacher gebauten Pflanzen, zumal der Waſſer— pflanzen, aus einer einzelneu Zelle beſtehen und ſich unter einan— der nur durch die verſchiedene Form der Zellen unterſcheiden. Die Hauptbedingungen zu einer üppigen und formenreichen Pflanzenwelt unter den Tropen ſind Feuchtigkeit und Wärme, die Urſachen ihrer Mannigfaltigkeit ſcheinen in dem Reichthum des Bodens an leicht auflöslichen unorganiſchen Stoffen zu liegen, welche zunächſt eine Abänderung des chemiſchen Proceſſes in den Pflanzen und dadurch ein größeres oder geringeres Abweichen in den Formen hervorru— fen“). Beide Verhältniſſe finden ſich unter den Tropen zuſam— men, weil ſie von einander abhängig ſind, denn die durch feucht— warme Atmoſphäre hervorgerufene üppigere Pflanzenwelt bereitet durch ihr Abſterben und raſches Verweſen einen an leicht löslichen unorganiſchen Subſtanzen reicheren Boden für die folgende Genera— tion. Aehnliche Verhältniſſe, das heißt größeren Reichthum an lös— lichen unorganiſchen Stoffen, zeigt auch unſer gedüngtes Culturland, und die Alpenregion, welche von den am meiſten der Verwitterung preisgegebenen nackten höheren Felſen beſtändig mit einem Reichthum auflöslicher Verwitterungsproducte verſorgt wird!“). Wir wiſſen ) Man vergleiche die neunte Vorleſung. a, Es wird Niemand beſtreiten können, daß ſich die Alpenpflanzen in einem größeren Formenreichthum darſtellen und Reihen der auffallendſten Spielarten bilden, wenn man nur einen Blick auf ein Handbuch über eine genauer durchforſchte Flora wirft. Nicht jo augenfällig möchte es für das Culturland ſeyn und ich erwähne das her hier noch kurz Folgendes: Unter den deutſchen Pflanzenfamilien ſind es beſonders die Gänſeſußarten und Melden (Chenopodeen und Atripliceen), welche auf Schutt, Compoſthaufen und in Gärten, alſo recht eigentlich unter dem unvermeidlichen Ginz Geſchichte der Pflanzenwelt. 351 ferner, daß einmal gebildete Spielarten, wenn ſie mehrere Genera— tionen hindurch unter denſelben Bedingungen fortvegetiren, zuletzt in Unterarten, das heißt in Spielarten, die ſich mit Sicherheit durch ihren Saamen fortpflanzen laſſen, übergehen, wie das z. B. unſere Erbſenbeete, unſere Kohlpflanzungen, unſere Weizenfelder beweiſen. Wie nun aber, wenn dieſelben Einflüſſe, die eine Abänderung der urſprünglichen Form einer Pflanze hervorriefen, nicht Jahrhunderte und Jahrtauſende, ſondern 10 und 100 Tauſend Jahre in gleicher Weiſe zu wirken fortfahren, — wird nicht da zuletzt wie aus der Spielart eine Unterart, fo aus dieſer eine fo feſtſtehende Pflanzenform werden, daß wir ſie als Art bezeichnen können und bezeichnen müſſen? Nun denn, iſt die erſte Zelle gegeben, ſo iſt dann mit dem Vorigen auch der Weg bezeichnet, wie ſich ausgehend von Derſelben allmälig der ganze Reichthum der Pflanzenwelt durch Bildung von Spielar— ten Unterarten und Arten und ſo fort, von dieſen aufs Neue begin— nend, habe bilden können, — freilich in Zeiträumen, von denen wir keinen Begriff haben, über die wir aber, wenn es ſonſt an Nichts fehlt, in unſern Träumen nach Belieben verfügen dürfen! — denn um fluſſe der durch unſre Cultur gegebenen Bedingungen wachſen und keinem Pflanzen— kenner iſt es unbekannt, in welchem Reichthum von Formen und Spielarten gerade die Meiſten dieſer Pflanzen abändern. Nehmen wir aus der am beſten und ſorgfäl— tigſten gearbeiteten Flora von Deutſchland diejenigen Pflanzengeſchlechter heraus, die am meiſten feſtſtehende Arten zeigen, dabei aber zugleich einige Arten umfaſſen, welche ganz entſchieden unter den Einflüſſen unſerer Cultur vegetiren, ſo zeigt ſich uns ſo— gleich, daß dieſe letzteren ausſchließlich oder doch vorzugsweiſe in einem Reichthum von Formenſpielen vorkommen, wobei fie mehr oder minder ſich von dem Haupt— character ihrer Art entfernen. Ich nenne beiſpielsweiſe als ſolche Arten: Thalic- trum minus, Ranunculus arvensis, Viola tricolor, Sile ne gallica und inflata, Spergula arvensis, Medicago falcata, lupulina, tribuloides, Vicia villosa, sepium, grandiflora, angustifolia, Knautia hybrida, ar- vensis, Scabiosa gramuntia, Cirsium arvense, Taraxa cum offici- nale, Galeopsis ladanum, Agrostis stolonifera, vulgaris, Aira cae- spitosa, Festuca ovina, rubra, Bromus secalinus. Ja, manche Arten mögen erſt innerhalb der hiſtoriſchen Zeit aus ſolchen Spielarten entſtanden ſeyn, fo Thalictrum minus und majus, Veronica praecox und triphyllos. Daß alle eigentlichen Culturpflanzen aber in zahlloſen Spielarten vorkommen, brauche ich wohl kaum noch zu erwähnen, da Erbſen, Kohl und Kartoffeln, der Obſtbäume gar nicht zu gedenken, Jedem dieſe Wahrheit nahe genug legen. 352 Dreizehnte Vorleſung es hier noch zu erwähnen, alle neuern ausgezeichneten Geologen kommen immer mehr und mehr zu der Anſicht, daß gar Vieles bei der Bildung unſerer Erdveſte, was man früher heftigen, krampfhaf— ten und plötzlichen Revolutionen zuſchrieb, vielmehr das Product langſam aber durch ungeheure Zeiträume hindurch wirkender Thätig— keit geweſen ſey. Der Niagarafall z. B. ergießt ſich in eine Schlucht, die in eine Gebirgs-Terraſſe eingeſchnitten iſt und Lyell hat nach— gewieſen, daß der Waſſerfall anfänglich, das heißt ſchon am Ende aller ſogenannten Erdrevolutionen und Sündfluthen, ſein Waſſer über den Rand der Terraſſe ſelbſt herabgeſchüttet und erſt allmälig ſich jene Schlucht ausgewaſchen habe. Dazu bedurfte es aber eines Zeitraums von mindeſtens 20,000 Jahren und ſo lange zum Wenig— ſten alſo beſteht Nordamerica ſchon in ſeiner jetzigen Configuration und unter denſelben phyſicaliſchen Verhältniſſen. Ein anderes ähn- liches Beiſpiel iſt ſchon oben bei den Steinkohlen angeführt worden, und es wären leicht die Nachweiſe zu vermehren, daß der Zeitraum, den wir mit prahleriſcher Selbſtgefälligkeit die Weltgeſchichte zu nennen belieben, kaum die letzte flüchtige Minute in der unendlich langen Lebensgeſchichte unſeres winzigen Planetenſtäubchens iſt. Erinnern wir uns nun der oben gegebenen Skizze der ſich fol— genden Vegetationsepochen, ſo ſehen wir, daß die Pflanzenwelt im Waſſer mit den einfachſten Formen und gerade in der Familie beginnt, wo am häufigſten noch jetzt eine einzelne Zelle die ganze Pflanze vor— ſtellt. Hieran ſchließen ſich in den folgenden Perioden dann die an— deren Pflanzengruppen, indem ſie in einer Reihefolge auftreten, die ihrer immer höheren Organiſation, d. h. ihrem immer mannigfalti— geren Lebensproceß nach, den mannigfaltiger und verwickelter wer— denden phyſicaliſchen Bedingungen entſpricht. So folgen auf die ſten— gelloſen Kryptogamen, die mit Stamm und Blätter verſehenen. Dann miſchen ſich die Gymnoſporen (Nadelhölzer und Ey: cadeen) ein, ihnen folgen die Monocotyledonen und endlich erſcheinen auch die Dicotyledonen. So unvollſtändig auch die uns erhaltenen Acten ſind, ſo wenig wir auch noch davon entziffert Geſchichte der Pflanzenwelt. 555 haben, ſo finden wir doch in keiner Periode das Auftreten einer ganz neuen Schöpfung, ſondern immer ſchließen ſich die organiſchen We— ſen in den unterſten Gliedern einer Periode denen der oberſten Glie— der der Vorhergehenden in der Weiſe an, daß ſie wenigſtens den— ſelben Haupttypus wiederholen, ja wir können noch mehr ſagen: wenn auch Geſchlechter und Arten, ja ſelbſt Pflanzenfamilien, von der Erde verſchwunden ſind, ſo findet ſich doch ſelbſt unter den älte— ſten Ueberbleibſeln keine, eine eigenthümliche größere Gruppe, gleich— ſam eine Bildungsſtufe der Pflanzenwelt ausmachende Pflanzenform, welche nicht ihre Repräſentanten auch noch in der Flora der Jetzt— welt aufzuweiſen hätte. Dieſe Anſicht, daß aus einer einzigen Zelle und ihrer Nachkom— menſchaft, durch allmälige Bildung von Spielarten, die ſich zu Ar— ten ſtereotypirten und dann auf gleiche Weiſe wieder die Erzeuger neuer Formen wurden, ſich allmälig die ganze Fülle der Pflanzen— welt entwickelt habe, iſt mindeſtens eben ſo möglich als jede andere, und vielleicht wahrſcheinlicher und entſprechender als jede andere, weil ſie das abſolut Unerklärbare, nämlich die Urzeugung eines or— ganiſchen Weſens, in die allerengſten Grenzen, die ſich denken laſ— ſen, zurückweiſt. Erſt am Ende dieſer ganzen Reihe von Entwicklungen tritt auf uns unerklärliche Weiſe der Menſch in den Kreis der Erdenbewoh— ner und trennt dadurch die Reihe der vorhergehenden Veränderun— gen als Urgeſchichte der Pflanzenwelt von den folgenden als Zeitgeſchichte ab. Die Grenze iſt etwas verwiſcht und ein Irr— thum von 10 - 20,000 Jahren bei dem Verſuch einer Zeitbeſtim— mung leicht möglich, ſogar wahrſcheinlich, gleichwohl haben ſich Thoren auf ſolche Angaben eingelaſſen, wie es ja auch complete Narren gab, die Jahr, Monat, Tag und Stunde ausrechneten, an denen Gott die Welt geſchaffen. Aus der Hand der Natur empfing der Menſch ſein ihm bereite— tes Erbtheil: Pflanzen und Thierwelt, die todten Stoffe und ihre Kräfte und wie hat er dieſes Erbtheil verwaltet? Mag er Rechen— 354 Dreizehnte Vorleſung. ſchaft davon ablegen, aber zu fürchten iſt, daß er hier, wie überall, nur ſchlecht beſtehen werde. Fragen wir nach den Zwecken, welchen die Pflanzenwelt, die bunte Decke der Erde, zu entſprechen beſtimmt iſt, ſo finden wir einen dreifachen. Der niedrigſte iſt ohne Zweifel der, den gemeinen Be— dürfniſſen der Menſchen, feiner Ernährung und feinem Gewerbe, in einem Wort, ſeinem Haushalt zu dienen. Ich nenne ihn den nie— drigſten, weil hier nur jedes einzelne Individuum in ſeinen thieri— ſchen, wenn auch durch die Cultur noch ſo ſehr verfeinerten und übertünchten Bedürfniſſen von der Natur Befriedigung fordert. — Schon Höher erſcheint die Bedeutung der Pflanzenwelt für die Regu— lirung zahlreicher und umfaſſender phyſicaliſcher Proceſſe an der Erde. Die Gluth der africaniſchen Wüſte, ihre dürre Regenloſigkeit und die Lebensfülle der Urwälder mit ihren Wolkenbruch ähnlichen Sturz: regen, erhalten ihren eigenthümlichen Character durch die Pflanzen— welt. Feuchtigkeit und Trockenheit der Atmoſphäre, Wärme und Kälte des Bodens, Gleichförmigkeit oder ſchroffer Wechſel im Clima und dergleichen mehr, und vor Allem das Leben der Thiere und end— lich des Menſchen im Großen ſind bedingt durch die Ueppigkeit und Art der Vegetation. Dieſe Bedeutung des Pflanzenlebens bezieht ſich nicht auf das einzelne armſelige Individuum, ſondern auf ganze Länder und Völkergebiete, auf zahlreiche einander folgende Genera— tionen, bei denen Möglichkeit und Leichtigkeit des Lebens an die Formation der Pflanzenwelt im Großen geknüpft iſt. — Endlich zeigt ſich eine dritte Seite, welche die Pflanzenwelt uns zuzuwenden ver— mag, ohne Frage die Cdelſte und Höchſte. Sie iſt ſo gut wie alle andere Natur Symbol des Ewigen; wir ehren hinter dieſem Spiel todter Naturkräfte und ſeiner Producte einen heiligen Urheber und Lenker. Die Pflanzenwelt iſt die reiche Altardecke im Tempel Got: tes, in welchem Anerkennung der Schönheit und Erhabenheit die Form des Cultus ausmacht. Und der Menſch der Pflanzenwelt gegenüber? Mannigfach vers ändernd hat er eingegriffen und die großen Phaſen ſeiner Geſchichte Geſchichte der Pflanzenwelt. 353 ſind auch auf dem grünen Blatte der Vegetation verzeichnet. Aber wie hat er gewirthſchaftet? Ei, die Culturgeſchichte wird uns ant— worten: „Trefflich; er hat das rohe ungefüge Material der Natur durch weiſe Pflege erſt zu jenen köſtlichen Gaben gemacht, als welche es jetzt erſcheint.“ Nun ja, wir wollen ihm den Ruhm nicht abſtrei— ten, daß da, wo Eigennutz und thieriſches Bedürfniß ihn trieben, ſich wohl der Einzelne auf ſeinen Vortheil verſtanden hat, aber dann mit Mitmenſchen und Nachwelt nur gezwungen durch Naturgeſetze den erlangten Vortheil theilend. Hingegen da, wo kein augenblicklicher Vortheil für ihn im Unterſtützen der Natur oder auch nur im Scho— nen derſelben lag, wo es ſich ja nur um das Elend von ein Paar Millionen Nachgeborner handelte, hat er mit barbariſcher Rohheit zerftört und vernichtet, auf Jährtauſende hinaus oft den nicht nur ihm, ſondern auch ſeinen Nachkommen verliehenen Segen Gottes liederlich verſchleudert. Und hat er ſich bemüht, den Tempel Gottes zur allgemeinen Verehrung zu ſchmücken und zu heiligen? O nein, bei ſeinem eigennützigen Treiben, bei den Kummerthränen des durch ſeine Schuld elend gewordenen Bruders, bei dem Heulen des ge— peitſchten Sclaven war ihm die beſtändige Erinnerung an Gott un— angenehm und ſtörend, er erklärte das Wehen des göttlichen Odems in der Natur für ein Ammenmährchen, um nicht mehr durch ſein Gewiſſen erſchreckt zu werden. Die Schönheit, der Ausdruck des Göttlichen in der Natur verſchwand vor der eigennützigen Ausbeu— tung der Pflanzenwelt und höchſtens, engherzig nur für ſich ſorgend, grenzte ſich der Einzelne ein Räumchen ein, in dem er die Schönheit der Natur nicht als Cultus, ſondern als Sinnenreiz pflegte. Das ſind bis jetzt die Thaten der Menſchen; nach Jahrtauſenden hoffen wir Beſſeres berichten zu können, denn wir verzweifeln nicht an der Menſchheit, in ihr liegt der Keim des Göttlichen, der ewiger Ent— wicklung fähig und für dieſelbe beſtimmt iſt. Aber ſpottend möchten wir dem Geſchrei über unſere hohe Bildung entgegentreten, da doch jede ernſte ethiſche Betrachtung der Geſchichte uns ſagen könnte, daß wir uns kaum etwas aus dem Koth der tiefſten Erniedrigung und 556 Dreizehnte Vorleſung. Rohheit hervorgearbeitet. Möchte in den folgenden Thatſachen, vielleicht in beſſerer Weiſe benutzt, ein Anderer die Anhaltepuncte zur Erlangung eines etwas beſſeren Reſultats finden können. Die Wiege des Menſchengeſchlechts, für uns in unerforſchliche Ferne gerückt, ſtand wahrſcheinlich in einem wärmern halbtropiſchen Clima, beſchattet von den breiten Blättern der Banane, oder des Piſangs und dem zartgefiederten Laub der Dattelpalme. Was des Menſchen erſte Nahrung war, wiſſen wir nicht, aber früh ſchon ſcheint er ſich der genannten beiden Pflanzen bemächtigt zu haben, denn beide zeigen ſchon ſeit den älteſten Zeiten, über welche uns Nach— richten aufbehalten ſind, ſich nicht mehr ſo, wie ſie aus der Hand der Natur hervorgingen, ſondern durch die Cultureingriffe der Menſchen weſentlich verändert. Die wilde Banane iſt eine kleine grüne, unſchmackhafte Frucht, erfüllt mit zahlreichen Saamen; die cultivirte Pflanze dagegen enthält in ihrer nahrhaften Beere gar keine keim— fähigen Saamen; ihre Erhaltung, ihre Vermehrung iſt ganz von der Thätigkeit des Menſchen abhängig, der ſie künſtlich durch Steck— linge fortpflanzt. Ebenfalls ſchon ſehr früh müſſen die Menſchen die großſaamigen Gräſer ihrer Vorrathskammer zinsbar gemacht haben. Wir kennen von keiner jetzt als Brodkorn benutzten Pflanze die Zeit, in der ſie aus dem Eden Gottes auf die Felder der Menſchen ver— pflanzt wurde. Ihre Benutzung ging von Einem Völkerſtamm auf den Andern über, aber wenn wir an die älteſten Quellen kommen, ſo berichtet uns die Sage in mannigfachem Gewande und verſchie— denartiger Ausſchmückung, daß ſie Geſchenke der Götter ſeyen, daß dieſe dem Menſchen den Kornbau gelehrt. Die Perſonificirung phyſiſcher Kräfte und Vorgänge, des Lichts, der Wärme, des Regens, der Nilüberſchwemmungen, mag ſich mit der Verehrung von den einzelnen hervorragenden Perſönlichkeiten, die zuerſt verſuchten in weiterem Umfange die Schätze der Natur für die Zwecke der Menſchen auszubeuten, mannigfach in ſolchen Sagen verbunden und vermiſcht haben. Eine auffallende Erſcheinung, die auf das ungeheure Alter des Anbaus der Cerealien hindeutet, iſt, Geſchichte der Pflanzenwelt. 357 daß man trotz vieler gründlichen Nachforſchungen bis jetzt nicht im Stande geweſen iſt, die eigentliche natürliche Heimath der wichtige— ren Kornarten aufzufinden. Keiner der fleißig forſchenden Reiſenden in America hat dort den Mais anders als cultivirt oder offenbar verwildert angetroffen. Ueber unſere europäiſchen Kornarten beſitzen wir nur ſehr ungenaue Andeutungen, daß ſie hin und wieder in den ſüdweſtlichen Ländern Mittelaſiens wild gefunden ſeyn ſollen. Aber die Geſchichte weiſt uns nach, daß jene Gegenden früher eine ſo ſtarke Bevölkerung nährten, und in einem ſo hohen Culturzuſtande ſich be— fanden, daß die Annahme, jene Culturpflanzen fänden ſich noch jetzt dort in einem andern Zuſtande als dem der Verwilderung, ſchwerlich gerechtfertigt werden kann. Aus der Kenntniß des größten öſtlichen Theils von China wiſſen wir, daß eine dichte Bevölkerung bei einem gewiſſen Grade induſtrieller Cultur es in der That dahin bringen kann, jede wildwachſende Pflanze zu vertilgen und ausſchließlich mit abſichtlich gezogenen Pflanzen den ganzen Boden zu bedecken. Außer einigen wenigen Waſſerpflanzen, in den abſichtlich überſchwemmten Reisfeldern, findet der Botaniker im chineſiſchen Flachlande ſo gut wie keine Pflanze, die nicht Gegenſtand der Cultur wäre. So wäre es gar nicht unmöglich, daß die Cerealien, vielleicht urſprüng— lich, wie noch jetzt ſo viele Pflanzen Auſtraliens, auf einen engen Verbreitungsbezirk beſchränkt, der früh ſchon von einer ſich mächtig entwickelnden Bevölkerung eingenommen wurde, in der That als ur— ſprünglich wildwachſende Pflanzen ganz von unſerer Erde verſchwun— den ſind. Die älteſten Kornarten ſind ohne Zweifel Weizen und Spelze, welche ſchon im Homer als Brodkorn erwähnt werden, und Gerſte, womit Homers Helden, wie noch jetzt die Südeuropäer, ihre Roſſe fütterten. Erſt zu Galens Zeiten wurde über Thrazien her der Roggen in Griechenland eingeführt. Verſchiedene Haferarten wurden in Griechenland nicht zur Saamengewinnung, ſondern nur als Grünfutter gebaut. Der eigentliche Haferbau findet ſich erſt ſpä— er in Deutſchland, wie es ſcheint von öftlichen Völkern entlehnt, Schleiden, Pflanze. 22 358 Dreizehnte Vorleſung. woher auch Deutſchland feinen Roggen erhielt. Nach der gewöhn— lichen Annahme hat zwar die ganze alte Welt den Maisbau erſt von America überkommen, indeß ſind doch auch Angaben vorhanden, die es mindeſtens eben ſo wahrſcheinlich machen, daß ſchon zu Theo— phraſt's Zeit der Mais von Indien her bekannt war, und daß we— nigſtens das öſtliche Europa den Mais aus dem Morgenlande erhal— ten habe. Eine ganz ähnliche Ungewißheit wie beim ſogenannten türkiſchen“) Korn finden wir bei der Cactus Opuntia oder in- dianiſchen Feige. Dieſe jetzt in ganz Südeuropa, Africa und einem Theil des Orients nach der Anſicht der Meiſten nur durch Verwilderung verbreitete Pflanze Americas, ſoll nach den Forſchun— gen erer mit größerer Wahrſcheinlichkeit als urſprünglich ein— dean dieſen Gegenden angeſehen werden können. Dieſe durch die Einwirkungen der Menſchen bewirkten Wanderungen der Pflan— zen ſind eine häufig gar nicht zu umſchiffende Klippe, an welcher die genaueſten Pflanzengeographiſchen Unterſuchungen ſcheitern, wenn uns nicht beſtimmte hiſtoriſche Urkunden aufbewahrt ſind. Was von den Getreidearten geſagt iſt, daß der Anfang ihrer Cultur weit über die hiſtoriſche Zeit hinausliegt, gilt auch von den meiſten unſerer Gemüſearten und Obſtbäume. Ja man kann behaup— ten, daß mit äußerſt wenigen Ausnahmen alle weſentlichen Cultur— pflanzen ſchon ſeit undenklicher Zeit den Menſchen bekannt geweſen ſind, und daß, mit Ausnahme der Kartoffel, keine ſpäter dem wil— den Zuſtande entriſſene Pflanze eine irgend bedeutende Rolle in un— ſerm Haushalte ſpielt. Von allen Einflüſſen der Menſchen auf die Pflanzenwelt iſt ohne Zweifel eine der ſegensreichſten die von ihm bewirkte Umwandlung wilder, oft faſt ungenießbarer Vegetabilien in die köſtlichſten Zierden unferer Tafel. Wenn auch in der That die Apfel, Birn- und Kirſchbäume urſprünglich beſondere Arten ausmachen und nicht ) Schon dieſer in Deutſchland und Italien allgemeine Name, dem in Grie— chenland ein ähnlicher (karabiſches Korn) ſubſtituirt wird, weiſt auf einen orlentaliſchen Urſprung hin. Geſchichte der Pflanzenwelt. 359 durch allmälige Veredlung aus den Holz-Aepfeln, Birnen und Kirſchen entſtanden ſind, ſo bleiben doch immer noch genug Pflan— zen übrig, an welchen man nachweiſen kann, welche große Macht in der That der Menſch hier über die Natur ausübt. Welche Aehnlich— keit hat denn der Blumenkohl, der krauſe grüne Kohl, der Kohlrabi mit der dürren, widrig bitter ſchmeckenden Kohlpflanze, die ohne Zweifel die Stammpflanze unſerer köſtlichen Gemüſe iſt, da wir dieſe durch Verwilderung leicht wieder in jene überführen kön— nen. Wer würde bei der Vergleichung der zuckerſüßen, zarten, orange— gelben Carotte mit der ſpindligen und holzigen Wurzel der wil— den Möhre glauben, daß Beide einer und derſelben Pflanzenart angehören? — und gleichwohl iſt es der Fall. Kurz der Menſch ver— mag hier weſentlich in die Entwicklung der einzelnen Naturkörper verändernd einzugreifen und wie er ſich aus dem blutgierigen Raub— thier, aus dem wilden Hund, den neckiſchen Pudel, den nützlichen Jagdgenoſſen und den rettenden Bernhardshund oder aus irgend ei— nem ſtruppigen Wollthier das edle Merinolamm erzogen, ſo gelingt es ihm auch in der Pflanzenwelt, das Nutzloſeſte was ihm die Natur anbietet zu einem werthvollen Gegenſtand ſeiner Cultur zu erheben. Weniger bedeutend als dieſe Eingriffe könnten die Veränderun— gen, die der Menſch in der Vertheilung der Gewächſe hervorgeru— fen hat, erſcheinen. Als ganz natürlich muß es uns vorkommen, daß wir die Nutz- und Nahrungspflanzen dem Menſchen überall hin fol— gen ſehen, wo die climatiſchen Bedingungen ihres Wachsthums ſich noch vorfinden. Dieſe Pflanzenwanderungen ſind vom Menſchen mit Abſicht und Bewußtſeyn veranſtaltet und geführt. Aber ſchon an dieſe Pflanzenzüge ſchließt ſich, wie an große Völkerzüge das Geſin— del der Nachzügler und Räuber, ganz untrennbar eine Menge von Pflanzen an, die der Menſch, der ſich eine Nutzpflanze holt, gleich— ſam als Zugabe in den Kauf nehmen muß, ich meine die Unkräuter. Mit Sicherheit kann man behaupten, daß ein Theil unſerer Acker— unkräuter, die nie und nirgends bei uns gefunden werden als unter beſtimmten Saaten, nicht in unſeren Gegenden einheimiſch, ſondern Bar 540 Dreizehnte Vorleſung. mit den Culturpflanzen, zwiſchen denen ſie vorkommen, eingewan— dert ſind. Zu ſolchen ungebetenen Gäſten gehört ſicher das niedliche Adonisröschen, die blaue Cyane, die Kornrade, der Acker mohn, der Feldritterſporn, der Leinlolch, der Hanfwür— ger und viele andere. 7 In noch höherem Grade, freiwillig und ohne bewußte Mitwir- kung des Menſchen, ſchließt ſich eine gewiſſe Anzahl von Pflanzen an den Herrn der Schöpfung an und folgt ihm, wohin er geht, wo irgend auf Erden er ſeine Wohnung aufſchlägt, nicht an die von ihm mitgebrachten Culturgewächſe gebunden, ſondern ſich in unmittelba— rer Nähe des Menſchen, um die Hütte, um den Stall, auf Dünger— und poſthaufen anſiedelnd. Es iſt mehr als wahrſcheinlich, daß die ei en großen Völkerfamilien auch in dieſer Beziehung ſich un— terſcheiden, und daß man an den ſich feſtgeſetzt habenden Uukräutern mit einiger Sicherheit beſtimmen könne, ob Slaven oder Germanen, Europäer oder Orientalen, Neger oder Indianer u. ſ. w. ſich früher an dem Platze ihre Hütte gebaut. So werden uns noch jetzt die großen Völkerzüge, die ſich im Mittelalter von Aſien aus gegen das mittlere Europa wendeten, durch das Vordringen aſiatiſcher Step— penpflanzen, z. B. der Kochia“), des tartariſchen Meer— kohls ), der erſteren nach Böhmen und der Krain, des letzteren durch Ungarn und Mähren bezeichnet. Sinnig benennt der nord— americaniſche Wilde unſern Wegebreit““) „die Fußtapfe der Weißen“ und eine gemeine Wickenartih bezeichnet noch jetzt die ehemalige Wohnſtätte der norwegiſchen Coloniſten in Grönland. — Wahrſcheinlich würde die genauere Kenntniß dieſer eigenthümlichen Floren uns noch manche intereſſante Aufſchlüſſe über die Wanderun— gen der Völkerſtämme und ihre Verwandtſchaften geben können, wenn nicht ſo viele botaniſche Reiſende ſogenannte Syſtematiker, d. h. geiſt⸗ und kenntnißloſe Heuſammler wären. Ich erwähne noch als Beiſpiele ſolcher, beſonders dem Europäer folgenden Gewächſe die ) Kochia scoparia. au) Crambe tatarica. se) Plantago major. +) Vicia cracca. Geſchichte der Pflanzenwelt. 3341 Neſſel- und Gänſefußarten. Eins der auffallendſten Beiſpiele der Art iſt aber die allmälige Verbreitung des Stechapfels durch ganz Europa, der aus Aſien her den Zügen der Zigeuner gefolgt iſt, welche häufige Anwendung dieſer giftigen Pflanze bei ihren polizei— widrigen Geſchäften machten, und die daher, vielfach von ihnen ge— baut, auch ungefordert neben ihren Wohnplätzen ſich einfand. Au— guft St. Hilaire ſagt in feiner Einleitung in die Flora von Bra— ſilien: „In Braſilien wie in Europa ſcheinen gewiſſe Pflanzen dem Menſchen auf dem Fuße zu folgen und erhalten die Spuren ſei— ner Gegenwart, häufig haben ſie mir mitten in den Wüſten, welche ſich über Paracuta hinauserſtrecken, die Stelle einer zerſtörten Hütte auffinden helfen. Nirgends haben ſich europäiſche Pflanzen in ſo großer Menge vermehrt als in den Gefilden zwiſchen There- ſia und Montevideo und von dieſer Stadt aus bis zum Rio negro. Schon haben ſich in der Umgegend von Sta. Thereſia das Veilchen, der Borretſch, einige Geranien, der Fenchel und Andere angeſiedelt. Ueberall findet man unſere Malven und Camillen; unſere Mariendiſtel, beſonders aber unſere Arti— ſchocken, welche in die Ebene des Rio de la Plata und Uru— guay eingeführt ſind, bedecken jetzt unermeßliche Landſtriche und machen ſie zu Weiden untauglich.“ — Nach den Befreiungskriegen fand ſich an vielen Stellen, wo Koſacken gelagert, z. B. um Schwetzigen, eine den Gänſefußarten verwandte Pflanze“ ein, welche ſonſt ausſchließlich in den Steppen am Duieper ein— heimiſch iſt, und in ähnlicher Weiſe verbreitete ſich die Bunias orientalis mit den ruſſiſchen Heereszügen von 1814 durch Deutſch— land bis Paris. Aber auch ganz ohne Mitwirkung des Menſchen finden ſich ſolche Wanderungen der Pflanzen. An die Ufer der Malediven treibt von Meeresſtrömungen getragen die Sechellennuß“) und keimt dort im Sande. Die erſten Anſiedler neuentſtehender Coralleninſeln Corispermum Marschallii. e Lodoicea sechellarum. 342 Dreizehnte Vorleſung. im ſtillen Ocean ſind Cocospalmen und Pandaneen, deren durch harte Schalen geſchützte Früchte man überall in jenen Meeren treibend findet. Flüſſe führen die Saamen höherer Landſtriche den Niederungen zu und ſo verbreiten ſich zum Beiſpiel an den Ufern der Alpenſtröme in Süddeutſchland, in Baiern und Würtemberg, Formen, die urſprünglich höheren Bergen eigenthümlich waren. Un— beabſichtigt giebt auch der Menſch den erſten Anſtoß zu ſolchen Wan— derungen, die dann die Pflanze, unabhängig vom Menſchen, fort: ſetzt. So hat ſich der Calmus über ganz Europa ausgebreitet, der anfänglich aus Indien geholt in einigen botaniſchen Gärten gezogen wurde. Die indianiſche Feige und die americaniſche Agave haben verwildernd weſentlich die Phyſiognomie der Landſchaft im ſüdlichen Spanien, Italien und Sicilien verändert. In der Mitte des 17. Jahrhunderts kam in einem ausgeſtopften Vogel ein Saame von Erigeron canadense nach Europa, wurde gefäet und jetzt iſt die Pflanze überall in ganz Europa auf Plätzen verbreitet, wo kein Menſch jemals ſie hingebracht hat. Die Bildung der Saamen nnd Früchte, welche ſie geſchickt macht weit vom Winde fortgetragen zu werden, die Gefräßigfeit der Vögel, welche den unverdaulichen Saa— men mit verſchlingen, der dann nachher oft in weiter Entfernung von ſeiner Mutterpflanze im Auswurf des Vogels keimt, und ähn— liche Verhältniffe find es, die dieſe leichte Verbreitung der Gewächſe erklären. 8 Ungleich bedeutender aber als alle dieſe Veränderungen im Kleinen und Einzelnen ſind die climatiſchen Veränderungen, welche die Zeit oder die Einwirkung der Menſchen auf der Erde und in der Pflanzenwelt hervorruft. Zwar wiſſen wir, daß die Geſammt— menge der unſerer Erde zukommenden Wärme ſich ſeit Jahrtauſen— den nicht um ſo viel verändert hat, um auch nur die geringſte Ver— änderung in der Pflanzenwelt, die dadurch allein bedingt wäre, her— vorzurufen, aber die Vertheilung der Wärme auf der Erde und in den verſchiedenen Jahreszeiten kann im Laufe der Zeit eine we— ſentlich verſchiedene werden und dadurch die ganze Phyſiognomie Geſchichte der Pflanzenwelt. 545 eines Landes umgeſtalten. Das unglückliche Island hatte noch vor wenigen Jahrhunderten Getreidebau“), der jetzt ganz aufgehört hat und ſich auf einige dürftige, in den meiſten Jahren fehlichlagende Gerſtenärndten beſchränkt; die ſonſt dichte Wälder bildende Birke iſt jetzt zu kurzem Geſtrüpp verkümmert. Bekannt iſt die weſent— liche Veränderung des Climas, welche, mit dem zwölften Jahr— hundert beginnend, Grönland zu einer faſt unbewohnten Eiswüſte gemacht hat. So ſehr nun auch dieſe Vorgänge im Großen der Willkühr des Menſchen entzogen ſcheinen, ſo iſt dies doch keineswegs der Fall und ſeine fortgeſetzte auf einen beſtimmten Punct gerichtete Thätigkeit vermittelt zuletzt Erfolge, die ihn ſelbſt überraſchen, weil er augen— blicklich die erſt allmälig eintretenden Folgen bei ſeinen Handlungen nicht bemerkte, noch, durch die nöthigen Kenntniſſe are das Endreſultat vorherſah. Ueberall faſt finden ſich in den großen Zügen, mit denen die Na— tur ihre Chronik ſchreibt, in verſteinerten Wäldern, Braunkohlenla— gern und ſo weiter, oder ſelbſt in den kleinen Aufzeichnungen der Menſchen, z. B. in den Urkunden des alten Teſtaments, Nachweiſe oder doch Andeutungen, daß jene Länder, die jetzt baum- und waſ— ſerarme Wüſten ſind, ein Theil Aegyptens, Syriens, Perſiens und ſo weiter, früher ſtark bewaldete, von großen jetzt verſiegten oder doch verkümmerten Strömen durchzogene fruchtbare Länder waren, während jetzt die dörrende Gluth der Sonne und beſonders der Waſ— ſermangel nur einer ſpärlichen Bevölkerung zu leben geſtattet. Im Gegenſatz dazu, wie muß nicht ein fröhlicher Zecher, der vom Jo— hannisberg aus den Rheingau überblickt und dem edelſten der deut— ſchen Ströme ein Hoch in Rüdesheimer bringt, lächeln, wenn er ſich des Ausſpruchs des Tacitus erinnert, daß am Rhein nie eine Kirſche, viel weniger eine Traube reifen könne. Und fragen wir nach der Vermittlung dieſer mächtigen Veränderungen, ſo werden *) ſogar bedeutenden Roggenbau. 344 Dreizehnte Vorleſung. wir auf das Verſchwinden der Wälder gewieſen. Mit dem ſorglo— ſen Vernichten des Baumwuchſes greift der Menſch mächtig verän— dernd in die natürlichen Verhältniſſe eines Landes ein. Wohl kön— nen wir jetzt am Rhein einen der edelſten Weine bauen, wo vor zweitauſend Jahren noch keine Kirſche reifte, aber dagegen ſind jetzt auch da, wo die dichte Bevölkerung der Juden von einer üppigen Cultur ernährt wurde, halbe Wüſten. Der eine feuchte Atmoſphäre erfordernde Kleebau hat ſich von Griechenland nach Italien, von dort nach Süddeutſchland gezogen und fängt ſchon jetzt an jene im— mer trockner werdenden Sommer zu fliehn und ſich auf den feuchteren Norden zu beſchränken. Flüſſe, die ſonſt im ganzen Jahre in gleich— mäßiger Fülle ihren Segen ſpendeten, laſſen jetzt im Sommer die lechzende Flur verdurſten, während ſie im Frühjahr plötzlich die im Winter angehäuften Schneemaſſen über die Stätten der erſchreckten Menſchen ausſchütten. — Wenn der fortſchreitenden Lichtung und Zerſtörung der Wälder anfänglich größere Wärme, ſüdlicheres Clima, üppigeres Gedeihen zarterer Pflanzen folgt, ſo zieht hinter dieſem erwünſchten Zuſtande doch auch bald ein anderer her, welcher die Bewohnbarkeit einer Gegend ebenſo ſehr und vielleicht in noch engere Grenzen als früher zurückdrängt. Kein Pythagoras brauchte jetzt in Aegypten feinen Schülern den Genuß der Bohne*) zu verbieten, längſt iſt das Land unfähig geworden ſie hervorzubringen. Der Wein von Mendes und Moreotis, der die Gäſte der Kleopatra be— geiſterte, den ſelbſt Horaz noch rühmte, er wächſt nicht mehr. Kein Mörder findet mehr den heiligen Fichtenhain des Poſeidon, um ſich zu verbergen und dem zu dem Feſte heranziehenden Sänger auf— zulauern. Die Pinie hat ſich längſt vor dem eindringenden Wü— ſtenclima auf die Höhen der arcadiſchen Gebirge zurückgezogen. Wo ſind die Weiden jetzt, wo die Gefilde um die heilige Burg des Dar— danus, die am Fuße des quellenreichen Ida die 3000 Stuten nährten“)? Wer möchte jetzt noch vom „wogendrängenden Kan *, Nelumbium speciosum. u) Homers Iliade 20. Geſchichte der Pflanzenwelt. 345 thos““) reden? Wer würde jetzt noch die „roſſenährende Argos“ begreifen? * Ich ſchließe dieſe Skizze, wenn auch nicht den Worten, doch dem Gedankengange eines der edelſten Veteranen unſerer Wiſſen— ſchaft, des ehrwürdigen Elias Fries in Lund, folgend. Ein breiter Streifen verwüſteten Landes folgt allmälig den Schritten der Cultur. Wenn ſie ſich ausbreitet ſtirbt ihre Mitte und ihre Wiege ab und nur im äußerſten Umfang finden ſich ihre grünen— den Zweige. Aber nicht unmöglich, nur ſchwer iſt, daß der Menſch, ohne auf die Vortheile der Cultur ſelbſt zu verzichten, den Schaden dereinſt wieder gut mache, den er angeſtiftet; er iſt zum Herrn der Schöpfung beſtimmt. Wahr iſt es, Dornen und Diſteln, häßliche und giftige Pflanzen, treffend vom Botaniker Schuttpflanzen ge: nannt, bezeichnen den Pfad, den der Menſch bisher durch die Erde gegangen iſt. Vor ihm liegt die urſprüngliche Natur in ihrer wilden aber großartigen Schönheit. Hinter ſich läßt er die Wüſte, ein häß— liches, verdorbenes Land; denn kindiſche Zerſtörungsluſt, oder unbe— ſonnene Verſchwendung der Pflanzenſchätze haben den Character der Natur vernichtet und erſchreckt flieht der Menſch ſelbſt den Schauplatz ſeiner Thaten, um rohen Stämmen oder den Thieren die entwür— digte Erde zu überlaſſen, ſo lange noch ein anderer Fleck ihm in jung— fräulicher Schönheit entgegenlächelt. Auch hier wieder eigennützig nur ſeinen Vortheil ſuchend und bewußter oder unbewußter folgend dem ſcheußlichſten Grundſatz, der größten moraliſchen Nichtswürdig— keit, die je ein Menſch ausgeſprochen: „après nous le déluge,“ fein Zerſtörungswerk aufs Neue beginnend. So überließ die fortrückende Cultur den Orient und vielleicht früher ſchon die ihres Kleides be— raubte Wüſte, ſo das ehemals ſchöne Griechenland wilden Horden, ſo wälzt ſich mit entſetzlicher Schnelligkeit dieſe Eroberung von Oſten nach Weſten durch America, und der Pflanzer verläßt ſchon jetzt häufig den ausgeſogenen Boden, das durch Vernichten der Wälder *) Homers Iliade 12, 310. 546 Dreizehnte Vorleſung. Geſchichte der Pflanzenwelt. unfruchtbar gewordene Clima des Oſtens, um im fernen Weſten eine ähnliche Revolution einzuleiten Aber wir ſehen auch, daß edle Stämme, oder wahrhaft gebildete Männer beginnen ihre warnende Stimme zu erheben, im Kleinen Hand anlegen an die zweite gewal— tigere Arbeit, die Natur wieder herzuſtellen in ihrer Kraft und Fülle, aber auf einer höheren Stufe als der der wilden Natur, vielmehr unterthan dem vom Menſchen gegebenen Zweckgeſetz, nach Planen, die der Entwicklung der Menſchheit ſelbſt nachgebildet ſind, geordnet. Freilich bleibt das Alles zur Zeit noch ein machtloſes und für das Ganze verſchwindend kleines Unternehmen, aber es wahrt den Glau— ben an den menſchlichen Beruf und ſeine Kraft, ihn zu erfüllen. Dereinſt wird und muß es ihm gelingen, die Natur, indem er ſie ganz beherrſcht, leitet und ſchützt, frei zu machen von der tyranni— ſchen Sclaverei, zu welcher er ſie jetzt noch erniedrigt und in welcher er ſie nur durch raſtloſen Rieſenkampf gegen die ewig ſich Auflehnende erhalten kann. Wir ſehen in nebelgrauer Ferne der Zukunft ein Reich des Friedens und der Schönheit auf der Erde und in der Na— tur, aber bis dahin muß der Menſch noch lange in die Schule der Natur gehen und vor Allem ſich ſelbſt von den Banden des Egoismus befreien. vierzehnte Vorlesung. Die Aeſthetik der Pflanzenwelt. Die Bedeutung der Geſtalten Möcht’ ich amtsgemäß entfalten, Aber was nicht zu begreifen, Wüßt ich auch nicht zu erklären. Fauſt. 5 9 nr 44 7 25 8 . 0 7 Daran erkenn' ich den gelehrten Herrn, Was Ihr nicht taſtet, ſteht Euch meilenfern, Was Ihr nicht faßt, das fehlt Euch ganz und gar, Was Ihr nicht rechnet, glaubt Ihr ſey nicht wahr, Was Ihr nicht wägt, hat für Euch kein Gewicht, Was Ihr nicht münzt, das meint Ihr gelte nicht. Fauſt. 1 R n 88 * — . 7 a ee Basar ee e hg e AT rn W. eine n er ee pete 5 er - * ne Kin er Auge. ene enen En R DEREN At wen ern tete. 1 n 4 N. 1720 N f ns ; Su eee ft 944 Bi Ne 1 un re m l „ inn ag, Be x 5 Fi At 2.73 rar n 1 170 Inn 18 van? 1 2 8 N 4 8 t be 15 * 8 1 Pe. a 4 4 12 1 een rer An) nz e ieee 1 ien x “ri nen Val 20 An n ven u j u” “U WR 3 un ned Ning Min. tas | u ren } N 80 münze en, * este en M ne She 2 sg” ai, Fa Rx un et RE) daR sehe ene ee r t dt 2 Br er “ eee eee ee dn ende W 2 e Rt are K. PR ER ee HEN ag ee: Base: vor as mi ir Unerklärbar iſt das Weſen der Schönheit. Nur im Gefühle erfcheint es dem empfänglichen Gemüth und dem logiſch ordnenden, wiſſenſchaftlich verknüpfenden, theoretiſch ableitenden Verſtande bleibt es immer ein fremdes, verſchloſſenes Gebiet. Aber „Was kein Verſtand der Verſtändigen ſieht Das übet in Einfalt ein kindlich Gemüth.“ Wenn wir mit unſeren Beobachtungen und Experimenten, mit Zergliederungen, Schlüſſen und Beweiſen uns die Natur in ein plan verſtändliches Gewebe von Stoffen und Kräften zerfaſert haben, treten uns die Schönheit und Erhabenheit derſelben dazwiſchen, ver— knüpfen das Zerlegte wieder zu einem einigen Ganzen und ſpotten unſerer Bemühungen, das ewig Unbegreifliche begreifen zu wollen. Wir erklären's nicht und doch iſt es wahr, wir begreifen's nicht und doch iſt es da. Das reine Gemüth ſpricht es ohne Zaudern aus, was der ſchärfſte Verſtand nicht findet: „Die Himmel erzählen die Ehre Gottes und die Veſte verkündet ſeiner Hände Werk. Ein Tag ſagt es dem andern und eine Nacht thut es kund der andern.“ Immerhin, was wir nicht begreifen, nicht erklären können, mag doch vielleicht in ſo fern einer Auseinanderſetzung und Darlegung fähig ſein, daß wir uns klar machen, wo, wie und warum das Unbe— greifliche nothwendig eintritt in das Geſammtgebiet unſeres Geiſtes— lebens. Wenn wir das Weſen der Schönheit an ſich auch nicht ent— wickeln können, ſo iſt es uns doch vielleicht möglich, aufzufinden, was ſie für uns, die Menſchen, bedeutet, wie ſie erſcheint und was ihre wirkenden Elemente ſind. Der Naturforſcher kennt und verſteht keine andere Entwicklung u 550 Vierzehnte Vorleſung. n als den Fortſchritt vom Einfacheren zum Zuſammengeſetzteren, von Unvollkommneren zum Vollkommneren und ſo hat jene andere Lehre keinen Sinn für ihn, die hin und wieder aufgetaucht und vertheidigt worden iſt, nach welcher der Menſch vollkommen aus der Hand der Schöpfung hervorging und allmälig durch Verderbniß und Verwil— derung zu dem geworden iſt, was er jetzt zeigt. Ich nannte den Fort— ſchritt vom Unvollkommenen zum Vollkommneren, muß aber bemerken, daß das nur ein Gleichniß, eine menſchlich unbeholfene Vorſtellung iſt, in der That aber auf die Producte der Natur und um ſo mehr auf die Schöpfung eines heiligen Urhebers der Dinge keine Anwen— dung findet. „Wenn die Geſchöpfe auch verſchieden erſcheinen, ſo ſind ſie doch von gleicher Güte !).“ Wir müſſen uns dieſen Fortſchritt vielmehr auf eine andere Weiſe dem Verſtändniſſe näher bringen. Die ganze Pflanzenwelt wie die einzelne individuelle Pflanze entwickelt ſich aus einer Zelle. Die Zelle iſt es, welche das ganze Pflanzenleben in ſeinen mannig— fachſten Erſcheinungen, in ſeinen verwickeltſten Zuſammenſetzungen in ſich einſchließt; in ihr iſt aber Alles noch einfach und leicht zu überſchauen. Die Pflanzenzelle ſchreitet fort in ihrer Ausbildung und nach und nach nehmen einzelne Theile derſelben eine andere Bedeutung an als die übrigen. Die ganze Zelle iſt anfänglich gleich— mäßig Organ der Nahrungsaufnahme, der Aneignung, der Aus— ſcheidung und der Fortpflanzung. Zuerſt treten nur beſondere Theile der weiter entwickelten Zelle auf, welche ausſchließlich die Function der Fortpflanzung, die Bildung neuer Zellen übernehmen. Nach und nach wird eine größere Menge von Zellen unter dem Umriß einer Pflanze vereinigt und dann vertheilen ſich ſchon die einzelnen Thätig— keiten auch an beſondere Zellen, in denen ſie wenigſtens vorzugs— weiſe hervortreten. Der Ernährungsprozeß ſelbſt iſt anfänglich fehr einfach; aus dem aufgenommenen Stoff wird direct das für das ) „ yag Öıapopa ra ywöusva, ala wäs dıoıw dyadöryros.‘‘ Chry- sostomus egl mgorVores. Die Aeſthetik der Pflanzenwelt. 331 Leben der Zelle Wichtige gebildet und das Ueberflüſſige ausgeſchieden. Später treten mehr und mehr fremdartige Stoffe dazwiſchen und der unmittelbare einfache Vorgang der Nahrungsbereitung lößt ſich in eine ganze Reihe einzelner Proceſſe auf, deren Endreſultat erſt mittel— bar die Erzeugung der Pflanzenſubſtanz iſt, während auf den Zwi— ſchenſtufen eine Anzahl von für das Weſen der Sache gleichgültigen Nebenproducten entſtehen. Doch wozu das Gleichniß weiter aus— führen; was uns als ein Fortſchritt erſcheint, iſt in der That eine Entwicklung im eigentlichſten Sinne des Worts, ein Entfalten und Auseinanderlegen des Einfachen in eine größere Anzahl das Ganze zuſammenſetzender Theile. So iſt die Zahl 100 eine einfache Zahl, durch Entwicklung kann ſie aber zu 99 + 1, zu 3.335 +1, zu 3. (32+1) + 1, zu 3. (4 mal 8) + 1] + 1 und fo weiter werden, wir können uns die in ihr enthaltenen Verhältniſſe auseinanderlegen, ſtatt der einfachen Bezeichnung von 100 Einheiten eine höchſt ver— wickelte Rechnung hinſtellen, deren Endproduct eben auch nur 100 iſt. Das iſt der Gang, den jede Entwicklung in der Natur annimmt. Der leidende Grieche wendete ſich an den Prieſter des Hercules oder des Aesculap. Ein Kraut, das dieſer neben dem Tempel baute, diente als Heilmittel und das Opfer, welches der Prieſter leitete, gab dem Sterblichen das Vertrauen auf den Beiſtand der unſterblichen Götter. Und was hat ſich Alles im Laufe der Zeiten aus dieſem ein— fachen Naturzuſtande entwickelt: Die ganze verwickelte Vergliederung unſeres geiſtlichen Standes und der Seelſorge einerſeits und anderer— ſeits die Medicin und Chirurgie, zerfallend in zahlreiche Zweige, die ſämmtlichen Naturwiſſenſchaften mit ihren einzelnen Disciplinen; Pharmaceuten, Droguiſten ſind Nachfolger der Prieſter des Aesculaps; die Jardins des plantes, die zoologiſchen Gärten und botanifchen An— ſtalten, die ganzen Landſtriche, in denen gewerbfleißige Menſchen officinelle Kräuter bauen, find alle Entwicklungen jenes Tempelgar— . tens. Viele Hunderte von Menſchen wirken jetzt mit allen ihren gei— ſtigen und körperlichen Kräften zuſammen, um beſſer, beſtimmter, ent— wickelter das zu erreichen, was einfach jener Prieſter des Aesculap, 552 Vierzehnte Vorleſung. wenn auch minder erfolgreich, in ſich vereinigte. Denn wir müſſen es eingeſtehen, daß, wenn auch nicht Gotteswerk, doch Menſchen— werk vom Unvollkommenen beginnt und zum Vollkommenen fort: ſchreitet, daß beim menſchlichen Thun und Treiben in der That der einfachere unentwickelte Zuſtand auch der unvollkommnere iſt. Gleich— wohl finden wir auch in der menſchlichen Entwicklung ein ſolches Auseinandertreten der einzelnen Elemente, die anfänglich verbunden und ununterſcheidbar, gleichſam in einem Chaos, zuſammenliegen. Wir wollen hier aber nur Ein Verhältniß näher ins Auge faſſen und uns klar zu machen ſuchen, nämlich die Stellung, welche der Menſch der Natur gegenüber einnimmt. Im Beginn der Entwicklung finden wir ſtets eine innige und völlige Verſchmelzung von Phyſik und religiöſer Weltanſchauung und jede urſprüngliche Darlegung der frommen Gefühle des Menſchen iſt Naturdienſt. So ſpricht ſich in den ägyptiſchen Culten der Iſis und des Oſiris, der heiligen Thiere gar nicht zu gedenken, unmittelbar unter der Form der Gottes verehrung, die Anerkennung der für den Aegypter wirkſamſten und ſegenreichſten Naturkräfte aus, ſo geſtaltet ſich aus der üppigen Natur Indiens die bilderreiche Naturgeſchichte des Brahmanenthums und auf den lichten, ſonnigen Höhen Irans und Turans betet der Menſch die lichtbringende Sonne und ihr Symbol das Feuer an, während man in der nordiſchen My— thologie unſchwer den Kampf des eiſigen Winters und ſeiner Stürme mit dem kurzen Sommer erkennt. Am ſchönſten, feinſten und durch— gebildetſten erſcheint uns aber dieſe Naturreligion bei den geiſtig ſo hochbegabten Griechen, in deren im Ganzen trocknen heitern Lande das ganze Gedeihen der organiſchen Welt an die locale und jährliche Vertheilung der Feuchtigkeit gebunden war und fo in der vergätterne den Perſonificirung des heitern Zeus, der wolkenbringenden Here, des wärmenden Apollo, des blitzenden Hephaiſtos und ſofort eine wunderbar ſchöne Geſtaltung und Verſchmelzung von Religion, Phyſik und Poeſie, ein Mythos geſchaffen wurde, deſſen Reichthum Die Aeſthetik der Pflanzenwelt. 7 335 und plaſtiſche Schönheit eine nie verſiegende Quelle des Genuſſes für alle Zeiten ſein wird. Aber dieſes Verhältniß kann nur auf einer gewiſſen Bildungs— ſtufe der Menſchheit beſtehen. Der forſchende Vorwitz des Menſchen läßt ihn bald am Iſisſchleier der Natur zerren und je mehr es ihm gelingt denſelben zu lüften, deſto mehr ſchwinden die Götter aus ſei— ner unmittelbaren Umgebung, von der Erde und endlich auch aus dem Sternenhimmel und die ganze Natur mit ihrem Getriebe von Kräften und Stoffen fällt der „gemeinen Deutlichkeit der Dinge,“ der entgeiſternden Phyſik anheim. Es bleibt keine Subſtanz, nichts We— ſentliches in der Natur zurück, was eines Gottes bedürfte, einen Gott enthielte; unter weſenloſen, unveränderlichen Naturgeſetzen läuft das Uhrwerk ab und zieht ſich auf, ohne Bedürfniß, — aber auch ohne Schönheit, ohne Freude. — Aber ſeltſam! der Naturfor— ſcher beweißt ſich unwiderleglich: es giebt in der Natur keine Farbe, ſondern nur Aetherwellen verſchiedener Länge, es giebt keinen Ton, ſondern nur Luftſchwingungen, die ſich langſamer oder raſcher folgen und ſo fort — und doch entzückt ihn zugleich das Farbenſpiel des Regenbogens, doch ſchwellt das tiefe Flöten der Nachtigall ſeine Bruſt mit Sehnſucht, doch kann er von dem ganzen Haufwerke ſeelenloſer Maſſen, die als Landſchaft vor ihm liegen, den „goldenen Duft der Morgenröthe“ nicht abſtreifen, wodurch fie ihm lieblich zum Herzen ſpricht oder in ihrer Erhabenheit ſeine Seele fortreißt über die Grenze der Raumwelt; wohin? er weiß es nicht, nur ſein Gefühl pocht da— rauf: es muß ein Jenſeits geben; aber wo liegt dieſes? — Nicht im Raume, nicht in der Zeit. Zwar iſt das Paradies der Völker wie des Einzelnen, wenn auch nicht räumlich, doch zeitlich zu ermitteln. Das Eden des Menſchen iſt eben jene erſte urſprüngliche Stufe, wo er ſich noch keine Rechenſchaft gegeben über ſeinen Zu— ſtand, ſeine Stellung zur Natur, wo ihm Gott und Natur noch als Eins erſcheinen, weil er von beiden falſche Vorſtellungen hat, die er ſich nach Analogie ſeiner eigenen Natur ausführt, Vorſtellungen, welche Natur und Gottheit einander nahe bringen, weil ſie jene zu hoch und Schleiden, Pflanze. 23 554 Vierzehnte Vorleſung. dieſe zu niedrig ſtellen. Aber die Lage des Jenſeits, welches der ge— bildete Menſch erſtrebt, wird durch kein Wo und kein Wann beſtimmt. — So lange und ſo weit die Natur dem Menſchen noch uner— klärlich und unverſtändlich iſt, ſucht er hinter dieſem von ihm nicht Durchſchauten ein ihm gleiches geiſtiges Weſen, er belebt die „Nacht— ſeiten der Natur“ mit den von ihm ſelbſt geſchaffenen Geiſtern oder Geſpenſtern, die aber ſchnell vor dem Lichte der Wiſſenſchaft entfliehen. Auf der anderen Seite läßt ihn das Bedürfniß ſeines Herzens nach einer Macht ſuchen, in deren „en Lenkung der Begebenheiten er Schutz gegen das Spiel des Zufalls oder die Tyrannei des Schid- ſals finden könne, und dieſe Macht zeichnet er ſich nach dem Höͤchſten was er bis dahin kennen gelernt, nach dem Beſten, Weiſeſten der Menſchen und fügt dieſem Bilde nur noch die Herrſchaft über die Erſcheinungen hinzu, in denen er zuerſt Zufall und Schickſal fürchten lernte, nämlich über das Spiel der Naturkräfte. Immer aber bleibt der Menſch mit ſeinen Vorſtellungen von Gott in dem Kreiſe des Menſchlichen und deshalb fühlt er ſich dem ſelbſtgeſchaffenen Gotte immer noch verwandt genug, um, wenn auch nicht für ſich, doch für ſeine glücklichern Vorväter ihre gerade Abſtammung von den Göttern oder ihren unmittelbaren Umgang mit denſelben in Anſpruch zu neh— men. — Je weiter nun der Menſch in feiner Ausbildung und Ent» wicklung fortſchreitet, deſto klarer, durchſichtiger, verſtändlicher wird ihm die Natur, aber deſto weiter wird auch ſein Abſtand von Gott und deſto unbegreiflicher wird ihm derſelbe. Dem am Höchſten gebil— deten Menſchen iſt Gott am unbegreiflichſten, denn er iſt ſich bewußt, daß jede Vorſtellung, ſei es welche es wolle, die er ſich vom höchſten Weſen entwirft, demſelben durchaus in keiner Weiſe entſprechen kann; aber nur Wenige erreichen dieſe Stufe der Ausbildung, nur Wenige ſind ſo weit mit ſich ſelbſt verſtändigt, daß ſie ſich ruhig beſcheiden, daß der Menſchen Wiſſen nie dahin reicht, wo Gott und Unſterb— lichkeit wohnen. O! des thörichten Hochmuthes der Menſchen, die, um ſich ſelbſt nur nicht zu klein zu finden, lieber das hoͤchſte Weſen zu ſich in den Staub menſchlicher Verſtändlichkeit herabziehen möchten. Die Aeſthetik der Pflanzenwelt. 335 Wie aber finden wir uns hier zurecht und zu unſerer Aufgabe ſelbſt zurück? — Ich meine auf folgendem Wege. Die ganze Natur zeigt ſich uns in Raum und Zeit gebunden und eben deshalb erſcheint ſie uns auch mit Nothwendigkeit als nichtig und unwürdig. In unſerm Herzen ſelbſt lebt unabweisbar die Forderung nach etwas Vollendetem, Unveränderlichem, wir fühlen uns zu dem Ausſpruch berechtigt: „nur das Vollkommene beſteht wirklich;“ aber was im Raum iſt, iſt auch wie der Raum ſelbſt ohne Grenzen, nirgends abgeſchloſſen, nirgends fertig, unendlich, d. h. unvollendbar; was in der Zeit iſt, gehorcht dem Geſetz der Veränderung, oder der Aufeinanderfolge verſchiedener Zuſtände. In Raum und Zeit dürfen wir alſo Das nicht ſuchen, was unſerem Herzen Befriedigung gewähren ſoll, das wahrhaft Seyende, Vollendete; die allein wirk— liche Gotteswelt iſt nicht die uns umgebende Natur. — Nun denn, ſo wäre Alles, was uns anſchaulich entgegentritt, nichts als ein neckender Fiebertraum, ein leerer, weſenloſer Schein? — Wohl hat es Leute gegeben, welche zu dieſem ſeltſamen Schluſſe gekommen ſind, der auch nach dem, was wir bisher erörtert, vielen Schein für ſich zu haben ſcheint. Aber der Schein gilt auch nur dem mangelhaft über ſich ſelbſt verſtändigten Menſchen. Forſchen wir nämlich weiter, ſo kommen wir bald auf die Entdeckung, daß Raum und Zeit überall nichts den Dingen ſelbſt Angehöriges ſind, ſondern nur zu der Art und Weiſe gehören, wie wir menſchlich beſchränkt die Dinge auffaſſen und, ſo lange wir eben Menſchen bleiben, auch aufzufaſſen gezwun— gen ſind. Raum und Zeit ſind gleichſam die gefärbte Brille, welche wir Alle von der Wiege bis zur Bahre tragen, ohne ſie jemals ab— legen zu können, was der Macht auch des Gebildetſten unmöglich iſt. Aber der wahrhaft Gebildete kann es wohl dahin bringen, einzuſehen, daß er eine Brille trägt, welche ihm die Dinge nicht ſo zeigt und nicht ſo zeigen kann, wie ſie in der That an ſich ſind. — Nun, dann ſchließen wir weiter: ſo iſt es doch das Reich Gottes, welches uns umgiebt und aufnimmt und nur unſerem menſchlich beſchränkten Standpunkte, unſeren umdüſterten Blicken iſt es zuzuſchreiben, daß 23 * 556 Vierzehnte Vorleſung. wir mit dem Scheine der größten Wahrheit, mit mathematiſcher Ge— wißheit nämlich, dieſe Welt ſo auffaſſen als ob ſie dem ewigen und heiligen Urheber der Dinge entfremdet wäre. Ein Nebelſchleier, den wir nicht zu heben vermögen, macht uns die Anſchauung des Gött— lichen in der Natur unmöglich, aber es wird, es muß ein Zuſtand kommen, wo Raum und Zeit, dieſe Schranken unſerer menſchlichen Auffaſſungsweiſe, fallen und wir ſchauen, was wir jetzt nur ahnen. „Wir ſehen jetzt durch einen Spiegel, in einem dunkeln Wort, dann aber von Angeſicht zu Angeſicht.“ Jene ſcheinbar ſo feſte, klare mathematiſche Auffaſſung der Na— tur, und mit ihr alle Wiſſenſchaft, iſt alſo im Grunde die dürftigſte, niedrigſte, unwahrſte, weil ſie nur die menſchlich beſchränkte iſt. Aber ſo wie der dem Menſchen erſcheinenden Natur die hehre Gotteswelt zum Grunde liegt, fo lebt auch in uns, ungeachtet nnferes menſchlich beſchränkten Zuſtandes, der göttliche Funke, nicht erloſchen, ſondern nur für die Zeit durch Staub und Aſche bedeckt. Dieſer Funke, die Sehnſucht nach dem Ewigen, Unverderblichen, fordert zu ſeiner Be— friedigung das ihm Gleichartige, und ahnt in der Erſcheinung das Weſen, im naturgeſetzlichen Mechanismus der todten Maſ— ſen das freie Göttliche, und was er niemals in deutlichen Be— griffen auszuſprechen vermag, lebt gleichwohl als ſein edelſtes Erb— theil in den Gefühlen ſeines Herzens. Das eben iſt es, was ihm als unerklärbar, unbegreiflich in der Natur entgegentritt, was ſich jeder wiſſenſchaftlichen Behandlung entzieht und doch als ein Beſſeres, Hö— heres denn alle Wiſſenſchaft ankündigt, das iſt es was uns als Schönheit in der Natur mit unendlichem Entzücken erfüllt, oder als Erhabenheit mit unausſprechlich heiligen Schauern durchbebt. Und hier ſchließt die Entwicklung zu einem Ring zuſammen; auf der höchſten Stufe der Bildung gewinnen wir mit Bewußtſein und geläuterter Einſicht Das wieder, womit unbewußt der kind— liche Verſtand begonnen. Naturbetrachtung wird wieder Gottes— dienſt, aber erſt nachdem wir alles Ungöttliche, Menſchliche, alles wiſſenſchaftlich Erklärbare, gemein Begreifliche aus der Natur abge— Die Aeſthetik der Pflanzenwelt. 337 ſchieden haben und nichts geblieben iſt als das Geheimniß der Schönheit. In ihr geht uns die Ahnung einer höheren Bedeutung aller Erſcheinungen auf, ihre Anerkennung iſt Cultus, iſt der reinſte und höchſte Gottes dienſt, zu welchem der Menſch ſich erheben kann, in ihr wird uns die unmittelbarſte Offenbarung des Heiligen, deren der Menſch fähig iſt. — Laßt uns, um Mißverſtand vorzubeugen, noch hinzufügen, daß die Schönheit der äußern körperlichen Natur nicht die höchſte iſt, die uns im Leben begegnet. Es giebt noch Ed— leres als die Körperwelt, das iſt der Geiſt des Menſchen; Schönheit der Seele und die edelſte Blüthe derſelben, reine Liebe, iſt ein noch vollkommnerer Abglanz des Göttlichen und nicht aus der Körperwelt, aus dem innerſten Leben des Menſchengeiſtes entlehnen wir daher unſere höchſten Symbole. Hat nun auf dieſe Weiſe die Natur ihre eigentliche Bedeutſam— keit für uns erhalten, ſo ſcheinen wir mit unſerer Rede am Schluſſe zu ſein. Die Schönheit iſt keiner erklärenden Wiſſenſchaft fähig. Die Ausſprüche, in denen wir ſie anerkennen, die Geſchmacksurtheile ſind nicht durch Schlußreihen zu ſtützen. Jedes ſteht vielmehr für ſich allein da und macht ſeinen Anſpruch auf unmittelbare Gültigkeit, ſelbſt dann noch, wenn es ſich in der Seele verſchiedener Beſchauer ganz verſchieden geſtaltet. Woher ſollen wir den Stoff nehmen zu weiterer Ausführung? — Können wir auch das Weſen der Schön— heit nicht zerlegen, ſo können wir doch den Gegenſtand, der uns als ſchön erſcheint, einer genauern Betrachtung unterwerfen, wir können uns ſeiner einzelnen Theile und Merkmale, ihres Verhältniſſes zu einander bewußt werden und uns in einer gewiſſen Syſtematik ent— wickeln, welche Elemente und welche Verbindungen derſelben in uns das Gefühl des Schönen und Erhabenen beleben. Analog den Unter— ſuchungen über Harmonie der Farben, Regeln der Compoſition und jo weiter, können wir auch in der Pflanzenwelt näher die Eigen— thümlichkeiten aufſuchen, durch welche der äſthetiſche Eindruck, den ſie auf uns macht, vermittelt wird. Vor Allem aber müſſen wir hier bevorworten, daß nirgends 558 Vierzehnte Vorleſung. ſo wenig noch mit Geiſt und Geſchmack vorgearbeitet iſt, als gerade in dieſer höchſten Aufgabe der Botanik und daß wir hier deshalb wenig mehr finden als ſehr unzuſammenhängende Bruchſtücke. Dies mag denn das noch weniger als Skizzenhafte der folgenden Mit— theilungen entſchuldigen. Das geſammte Material, welches uns hier zu Gebote ſeht, zer⸗ fällt in drei Gruppen, nach der Art und Weiſe, in welcher die Pflan— zen ihre Bedeutſamkeit geltend machen. Das erſte iſt die Symbolift- rung der einzelnen Pflanzen. Der Menſch, ſobald er ſich dem roheſten Zuſtande des Jägerlebens entriſſen, wird ſchon durch den Heerden pflegenden Beruf des geſänftigtern Hirten, mehr aber noch durch die Eigenthum anerkennende Geſittung des Ackerbaus auf die Beobachtung der Pflanzen im Einzelnen, ihres Entſtehens und Vergehens, ihres Lebens und ihrer Fortpflanzung, endlich ihrer Abhängigkeit von för— dernden oder ſtörenden Einflüſſen der äußern Natur, von Sonne, Thau, Regen und Boden hingewieſen. Dem Menſchen, der zuerſt zum Gefühl eigner Freiheit erwacht iſt, der gefühlt hat, daß er „Thäter ſeiner Thaten“ ſei, iſt es faſt unvermeidlich, überall da wo er Verän— derung ſieht Handlung, wo er Thätigkeit ſieht Freiheit und daher gei— ſtiges Leben vorauszuſetzen. So erhält anfänglich jede Pflanze, jeder Baum, jede Blume ein perſonificirendes Princip als einwohnenden Gott; Dryaden beleben die Wälder, im ſäuſelnden Graſe tanzen Elfen ihren leichten Reigen. — Noch beſtimmter bemächtigt ſich ſpäterhin die ſymboliſirende Dichtung des Lebens der einzelnen Pflanzen und in Cultus und Poeſie verflechten ſich reiche Kränze aus dem friedlichen Reiche der Flora. Die Sehnſucht nach einer Fortdauer jenſeits des unvollkommenen Erdenlebens greift begierig nach jedem Zug in der Natur, der eine ſolche Unſterblichkeit andeutet. Die ernſte und dau— ernde Cypreſſe ſchmückte bei den Griechen die Graber der Gelieb— ten und die Wieſen der homerifchen Unterwelt belebt der blaue Aſphodelos, deſſen lichte Blüthe, in jedem Frühling neu aus der in der Erde ſich bergenden Zwiebel emporgehoben, ein ewiges Wieder— aufleben, eine ſichere Unſterblichkeit verkündete. — Auf den ſtillen Die Aeſthetik der Pflanzenwelt. 339 Gewäſſern des ſegenbringenden Nils, des allernährenden Iſis ſtromes ruft der belebende Einfluß des Sonnengottes Oſiris die üppige Lo— tosblume hervor, in ihren großen, mandelähnlichen Kernen dem älteſten Menſchengeſchlechte leicht gewonnene Nahrung ſpendend, und in dankbarem Gefühle wird dieſe Pflanze jenen milden Gottheiten ge— weiht; ſie ſelbſt wird das Symbol der Fruchtbarkeit, der ſegensvollen Kraft der Entwicklung der Natur, und nachdem die Nothdurft ander— weitig befriedigt iſt, wird der Genuß ihrer Frucht, als einer gehei— ligten, dem ſtaubgebornen Menſchen unterſagt; zugleich mit ägypti— ſcher Prieſterweisheit verkündet Pythagoras ſeinen Schülern das Verbot jene Bohnen zu eſſen. — Es iſt Athene, die Göttin der heitern Luft, welche den Griechen den ſonnige Standorte liebenden Oelbaum ſchenkt und der Uferbenetzer Poſeidon kränzt ſeine Stirn mit den Zweigen der ihm heiligen Strandkiefer “). Leider iſt die Verbindung lebendiger Naturanſchauung mit todter philologiſcher Gelehrſamkeit noch viel zu neu, als daß es möglich wäre, die Symboliſirung der Pflanzenwelt durch alle For— men der Gottesverehrung bei den verſchiedenen Menſchenſtämmen zu verfolgen. Gerade die Seiten der alten religiöſen Mythen ſind bis auf die neueſte Zeit am meiſten vernachläſſigt worden, in welchen ſich ihre Verbindung mit dem Naturleben ausſpricht, in welchen man daher die ſicherſten Anhaltepunkte zu ihrer Erklärung und Aufklärung gefunden haben würde, während man jetzt nur zu oft der Deutung die albernſten Phantaſien untergeſchoben hat. Wir finden daher natürlich auch noch eine Menge von Bezie— hungen zwiſchen religioſem Mythus und Pflanzenwelt, welche wir zu deuten gegenwärtig noch ganz außer Stand ſind. Die Deu— tung der Roſe und Myrte zum Beiſpiel auf Liebe und Ehe, ſchon den alten Völkern geläufig, beruht ſicher nicht auf einem bloßen äſthe— tiſchen Wohlgefallen, ſondern auf einer tiefern Beziehung zum griechiſchen Naturcultus, deren Entzifferung uns auch wohl erklären *) Pinus maritima. „Poſeidons Fichtenhain.“ 360 Vierzehnte Vorleſung. würde, weshalb zwei der Charitinnen mit Roſe und Myrte, die dritte aber durch einen Würfel characteriſirt werden. Auch der Bogen des indiſchen Liebesgottes Kamadawa, aus Zuckerrohr gefertigt, ſymboliſirt wohl mehr als die bloße Süßigkeit der Liebe, was ohne— hin ein etwas froſtiges Gleichniß wäre und gewiß eine tiefſinnige Naturbetrachtung hat ihm als Pfeilſpitze die roſenrothen Blüthen— knospen des Am rabaumes gegeben. Freilich muß zugeſtanden werden, daß dieſe ſymboliſche Auffaſ— ſung der Pflanzenwelt nicht mit einem beſtimmten Zeitalter der Menſchheit abgeſchloſſen iſt, ſondern daß der an ſich unerſchöpfliche Stoff auch fortwährend von dem dichteriſchen Geiſt des Volkes aus: gebeutet wird, mag ſich nun der Urſprung irgend einer ſolchen Para— bel in der Menge des Volkes verlieren oder beſtimmt an ein einzelnes Genie knüpfen, welches mit ſo richtigem Gefühle dem Volke vorge— dichtet hatte, daß dieſes ſogleich den fremden Gedanken als Gemein- gut adoptirte. So mag es oft ſchwer halten zu beftimmen, wie weit in der Geſchichte die erſte Entſtehung und Ausbildung eines ſpäter allgemein gebrauchten Gleichniſſes, einer typiſch gewordenen Bedeutung einer Pflanze oder eines Vorgangs aus ihrem Leben hinaufreicht. Die geknickte Lilie, das beſcheidene Veilchen, die ſtolze Kaiſerkrone und fo weiter find fo natürlich anſprechende und verſtändliche Bilder, daß wir ſie in gleicher Weiſe faſt bei jedem gebildeten Volke wiederfinden und doch kennt man weder von dieſen noch von den unzähligen ähnlichen, welche geradezu der Sprache ſelbſt angeeignete Formen geworden ſind, die erſten Urheber. Selbſt da ſind wir im Unklaren, wo die Eigenthümlichkeit des Symbols auf ganz beſtimmte Orte und Zeiten in der Geſchichte hinweißt. Der Moslem, der von Mecca zurückkehrt, bringt als Zeugniß ſeiner Pilgerfahrt die Aloe) mit und hängt fie, mit der Spitze nach Mecca weiſend, über ſeiner Schwelle auf, welcher dann kein unſauberer Geiſt mehr nahen kann. Dieſer Gebrauch, deſſen abergläubiſcher Theil ) Aloe perfoliata vera, Die Aeſthetik der Pflanzenwelt. 361 ſelbſt auf die Juden und Chriſten in Cairo übergegangen iſt, hängt ſicher auf eigenthümliche Weiſe mit der Entſtehung der Pilgerſchaft nach Mecca und mit der Natur dieſer Pflanze zuſammen, aber das Wie iſt uns unbekannt. Manche der früher gebräuchlichen Bilder und Symbole haben ſich auch im Laufe der Zeit umgeſtaltet, andere ſind an ihre Stelle getreten, wenn genauere Naturbeobachtung zeigte, daß ſie den zu be— zeichnenden Gedanken ſchärfer und prägnanter ausſprachen. Ja oft möchte man in ſolchen Vertauſchungen den ſtrafenden Volkswitz ver— muthen. Die alte deutſche Mannstreue*) iſt zwar eine etwas derbe, auch rauhe und ſtachliche Pflanze aber dauerhaft in Geſtalt und unverwüſtlich ächt in Farbe, was man dagegen heut zu Tage Männertreue“ nennt iſt ein kleines blaues Blümchen, das kaum gepflückt ſchon abfällt, deſſen allerdings verlockend ſchöne Farbe ſchon nach wenig Stunden an der Sonne verbleicht. Doch wozu noch dieſe einzelnen Anführungen häufen, da jeder Gebildete, der einigermaßen mit dem Geiſte ſeiner Mutterſprache ver— traut iſt, dieſer Bilder aus dem Pflanzenleben ſich zu Tauſenden aus ſeinen Sagen, Mährchen und Dichtungen erinnern wird. Wichtiger und intereſſanter möchte es vielleicht ſein, mehr im Großen die Elemente der Pflanzenwelt aufzuſuchen, welche die Ver— mittler des äſthetiſchen Eindrucks ſind. Hier treten uns nun wieder zwei verſchiedene Aufgaben entgegen. Was uns im Großen in der Natur entzückt, die als ein Ganzes zuſammengefaßten Naturerſcheinun— gen, mit einem Wort die Landſchaft, iſt eben eine Moſaik einzelner auch für ſich beſtehender und für ſich bedeutungsvoller Theile. Wald und Wieſe, in einer Gegend ſich gegenſeitig hebend durch den Contraſt und ſo die Schönheit derſelben bedingend, ſind auch für ſich, ohne Rückſicht auf den Antheil, den fie an der Zuſammenſetzung des größern Ganzen nehmen, characteriſtiſche Bildungen der Pflanzenwelt und jede auf eine beſondere Weiſe aus einzelnen Pflanzenarten zu einem ) Eryngium. 9 Veronica chamaedrys. 562 Vierzehnte Vorleſung. beſtimmten äſthetiſchen Eindruck zuſammengeſetzt. Man kann ſolche Pflanzengruppirungen, wie Wald, Wieſe, Haide u. ſ. w., Pflanzenformationen nennen, und gewiß verdienen ſie eine bei Weitem tiefere Erforſchung und ſorgfältigere Darſtellung als ihnen bisher zu Theil geworden iſt. Wir werden aber, wenn wir näher treten, bald darauf geführt, daß ihr eigenthümlicher Charakter wieder in mannigfacher Weiſe be— dingt iſt von dem, ſo zu ſagen, phyſiognomiſchen Ausdrucke der Pflanzenarten, woraus ſie beſtehen. Die Botaniker unterſcheiden nach mannigfachen Merkmalen, am beſten und wiſſenſchaftlichſten nach den eigenthümlichen Verſchiedenheiten und Aehnlichkeiten in der gan— zen Entwicklungsgeſchichte der Pflanzen zahlreiche größere und kleinere Gruppen, welche man gemeinhin als Familien bezeichnet. Die zu einer Familie gerechneten Pflanzen verknüpft natürlich ein enges verwandtfchaftliches Band, und wer ſich auf feinere phyſiognomiſche Studien verſteht, dem werden auch die feineren Familienzüge, in denen alle übereinſtimmen, nicht entgehen. Aber ſo wie im Großen unter Menſchen uns doch zunächſt die von Familienverwandtſchaften ganz unabhängigen Ragencharaktere und Spielartenbezeichnungen: Kalmückenaugen, Negerſchädel, Habichtsnaſen, Blondinen und Brünetten u. dgl. auffallend entgegentreten, jo ſind es auch unter den Pflanzen durchaus nicht die Aehnlichkeiten und Verſchiedenheiten, welche durch die wirkliche natürliche Berwandt- ſchaft hervorgerufen werden, ſondern es ſind vielmehr allgemeinere, meiſtens in vielen Familien zugleich vorkommende Eigenthümlichkeiten der Erſcheinung und des Baues der Pflanzen, von welchen ihre phy— ſiognomiſche Bedeutung für die Zuſammenſetzung der botaniſchen Formationen und ſomit der Landſchaften abhängig iſt. Die Beach— tung dieſer Eigenſchaften der Pflanzen läßt uns denn für ſie gewiſſe allgemeine Formen aufſtellen, nach welchen, ohne Rückſicht auf die natürliche innere Verwandtſchaft die Pflanzen nur danach zuſammen— geordnet werden, wie fie einen gleichen gemeinſchaftlichen äſthetiſchen Eindruck auf uns machen und zugleich als Charakter beſtimmend in Die Aeſthetik der Pflanzenwelt. 365 den Formationen oder überhaupt in der Phyſtognomie der Landſchaft hervortreten. So erhalten wir ſtatt der etwa 300 Familien, welche die Botaniker bis jetzt aufgeſtellt und durch feinere, ſorgfältig erforſchte Merkmale von einander unterſchieden haben, nur eine verhältniß— mäßig geringe Anzahl von Pflanzenformen. Meiſt grau und dürr, ſchorfig flach oder ſtachlich, wie rieſige Schneekryſtalle in einander gewirrt, fröſtelnde Schauer hervorrufend, überzieht die Flechtenform die öden Grenzflächen der Vegetation gegen die unorganiſche Natur und zu dieſer gleichſam den Uebergang bildend, während in der Form der Mo oſe dicht gedrängte, zarte gelblichgrüne Blättchen meiſt mit Seidenglanz einen polſterartigen Sammetüberzug über Boden und Geſtein bilden. — Aehnlich den beiden Genannten, ſich nicht zu freien Geſtalten aufrichtend, ſondern faſt nur die nackte Fläche, nicht der Erde aber des Waſſers, kleidend, entwickelt ſich bedeutungsvoll für die Schönheit aller waſſerreichen Landſchaften die Form der Seeroſen ). Große breite Blätter, mit abgerundeten Umriſſen, flach auf dem Waſſer ſchwimmend oder etwas ſchüſſelförmig vertieft ſich wenig über daſſelbe erhebend, pracht— voll gefärbte Blumen von ſchönem Bau und großem Umfange, auch kaum aus dem naſſen Elemente auftauchend, ſind die bezeichnendſten Züge in der Phyſiognomie dieſer Gewächſe. — Die Form der Grä— ſer zeichnet ſich vor Allen beſonders aus durch ihre Geſelligkeit; die nicht hohen Stengel tragen flache, ſchmale, biegſame, lebhaft und wohlthuend grüne Blätter, und auf dünnen Stielchen wiegen ſich im leiſeſten Hauche die feinen Blüthenriſpen; noch iſt in ihnen die Pflanzenwelt an den Boden gebannt, über welchen ſie ſich wenig erheben und den ſie als weicher, wolliger Teppich bedecken. — Ihnen, die den Eindruck heiterer Behaglichkeit hervorrufen, des Hirten Freude, der Heerden üppiger Nahrung zur Seite ſteht die düſtere *) Die prachtvollſte von allen, die Victoria regia, mit Blättern, die 15 Fuß, weiß und roſenrothen Blüthen, die 4 Fuß im Umfange haben, bildet den Mittel- grund des Umſchlags. 564 Vierzehnte Vorleſung. Form der Binſen; aus verſumpfter ſchwarzer Erde ragen in ſchmutzigem Graugrün die ſteifen, ſtruppigen, rundlichen Stengel und Blätter, hin und wieder Knäulchen brauner oder ſchwarzer trockener Blüthchen tragend oder weiße wollige Flocken, das Greiſen⸗ haar der Früchtchen, in den herbſtlichen Sturmwind ſtreuend; ſaure Gräſer nennt ſie ſeufzend der Landwirth und das Vieh verſchmäht ſie. — Am Rande friſcher Gewäſſer dagegen und zumal unter dem befruch— tendem Einfluſſe feuchtwarmen Tropenklimas erhebt ſich das Gras zur edleren hohen und breitblättrigen Schilfform*), in Hindoſtan ſelbſt Bäume überragend“) und eine Wieſe über dem Walde bil— dend. — Hier im Reiche der Gewürzlilien ſchwillt der Stengel von Saft, breitet ſich das Blatt in Länge und Breite, aber zur Seite der Mittelrippe ſo dünn, daß es leicht vom Winde zerſpalten wird; die Pflanze färbt ſich mit dunklem, ſammetſchillerndem Grün oder dem | wärmſten Gelbgrün, und in reinen intenfiven Farben ſtrahlen die großen Blüthenbüſchel; fo entfteht die Bifang-Form***), eine der characteriſtiſchſten für die Ueppigkeit der Tropenvegetation. — Durch die Pracht der Blüthen den Piſang- oder Bananenpflanzen, durch die Tracht der Blätter faſt dem Schilfe ähnelnd, ſteht zwiſchen beiden gleichſam mitten inne die Form der Liliengewächſe, die einzige, welche gerade in dem hier genommenen Umfange einen künſt— leriſchen Darſteller an dem franzöſiſchen Blumenmaler Redouté gefunden hat. — Endlich ſtellt ſich noch eine dritte Form der Aroi— den) daneben. Dreieckige oder pfeilförmige ſaftig grüne Blätter auf langen Stielen und wunderliche oft ſchön gefärbte Tuten, welche kolbenförmige Blüthenſtände umhüllen, bilden die Pflanzen, *) Ein Bambusgebüſch ftellt dieſe Form am fehönften dar, ſiehe auf dem Umſchlag links. n) Panicum arborescens. vun) Rechts auf dem Umſchlag die breiten Blätter der Banane. +) Der Umfchlag zeigt rechts in der Mitte eine große Blaͤttergruppe dieſer Pflanzen. . Die Aeſthetik der Pflanzenwelt. 565 die, auf den mächtigen Stämmen tropifcher Waldbäume ſich anſie— delnd, den Uebergang zu den Orchideen andeuten. Wenn in allen dieſen zuletzt genannten Formen die Blattbil- dung übermäßig hervortrat, ſo ſetzen wir ihnen jetzt einige Formen entgegen, welche vielmehr eine bevorzugte Entwicklung des Stengels zeigen. Zunächſt möchte ich dahin die Haiden-Form rechnen; niedres, vieläſtiges, holziges Geſträuch, deſſen kleine matt— grüne oder graue Blätter ſo dicht gedrängt ſtehen, daß ſie faſt nur als Rauhigkeiten der Zweige erſcheinen und daß ſelbſt die oft ſchöne Farbe der trockenen Blüthen den traurigen Eindruck nicht verwiſcht, den die Pflanzen überall hervorrufen, wo ſie die Phſiognomie der Landſchaft beſtimmen. — Eine Nebengruppe könnte man hier für die Caſua— rinen beſtimmen und ſie baumartige Haideform nennen, die in Auſtralien die unheimlichen blatt- und ſchattenloſen Wälder bil— den. — Noch auffallender iſt aber die Stammbildung begünſtigt in den ſtachlichen Cacteen, die nur aus fleiſchigen, wunderlich ge— formten Stämmen und Aeſten beſtehen, welche Cactusform noch in manchen anderen Familien, z. B. bei den Wolfsmilcharten, bei den Stapelien, und wenn auch allerdings mit bedeutenderer Blattentwickelung, doch mit gleich phyſiognomiſchem Ausdrucke in den meiſten Fettpflanzen, Aloen u. Meſembryanthemen wie— derkehrt. — Zwar nicht bezüglich ihrer wirklichen Organiſation, aber doch mit Berückſichtigung der eigenthümlichen Art und Weiſe, wie ſie Theil nehmen an der Zuſammenſetzung eines Pflanzengemäl— des, müſſen wir hierher zu den blattlofen oder vielmehr nur durch ihre Stengel wirkenden Pflanzen alle diejenigen rechnen, die wir mit den ſpaniſchen Anſiedlern in Amerika als Llanen oder Lianen form“ zuſammenfaſſen. Wie ſtarke Schiffstaue gedreht oder ſchlan— genförmig hin- und hergebogen, bald Schnüren gleich, bald flach und bandartig, bald abwechſelnd rechts und links mit flachen kamm— ) Der Umſchlag zeigt einige kleinere Formen, zumal in der Mitte des ganzen Bildes ein Feſton einer prachtvoll blühenden Trichterwinde. 566 Vierzehnte Vorleſung. ähnlichen Auswüchſen beſetzt, ziehen ſich 40, 50, ja 100 und mehrere Hunderte von Fußen blatt- und aſtlos die Bauhinien, Ariſto⸗ lochien, Winden, Bignonien und andere in den tropiſchen Urwäldern von Baum zu Baum; oft an dem Einen hinaufſteigend, ihn umſchlingend bis zum Erſticken, dann überſpringend auf einen Andern, dann herabfallend in einem Bogen und wieder bis in die höchſten Gipfel eines dritten Baumes hinankletternd, wo die Pflanze vielleicht einen Büſchel der prachtvollſten Blüthen in den lichteren Lüften wiegt, während ſie höhnend dem Wanderer im Waldesſchatten nichts beut als ihre nackten Stämme, mit denen ſie oft faſt undurch— dringlich das Dickicht verflicht. Aus dieſem Grunde wiſſen wir auch der allem Fleiße der Sammler nur in den wenigſten Fällen, welche der zahlreichen in den Herbarien aufbewahrten Blüthen mit den eben— falls reichlich geſammelten, oft gar wunderbar abweichend gebauten Stämmen zuſammengehören. 5 Zu einer ganz eigenthümlichen Zeichnung verknüpft die Natur gleichſam die beiden in der vorigen Familie getrennt auftretenden Elemente, nämlich den Büſchel ſchön entwickelter Blätter und den rein für ſich ausgebildeten nackten Stamm in der von dem Cultus geheiligten, vom Alterthum geprieſenen, von Dichtern beſungenen Palmenform“) Es zerfällt aber dieſe Form in mehrere Unterab— theilungen, bei denen beſonders durch die Subſtanz und Geſtaltung der Blätter ihr phyſiognomiſcher Charakter noch eigenthümlich indi— vidualiſirt wird. Im Allgemeinen erhebt ſich bei dieſer Pflanzenge— ſtalt der Stamm von einer ganz niedrigen, an einen Kugelcactus erinnernden Maſſe bis zu der ſchlankeſten, mehrere 100 Fuß hohen Säule, und natürlich iſt der Eindruck, den die faſt ſtammloſen Zwerg: und Nipapalmen hervorrufen, noch weſentlich verſchie— den von der majeſtätiſchen Erhabenheit des 180 Fuß hohen Schaffts der Wachs palme der Anden; es bleibt aber doch insbeſondere die ) Die Einfaſſung des Umſchlags bilden rechts die ſchlanken Cocos mit ges fiedertem Laube, links die kräftigere Mauritiuspalme mit fächerförmigen Blättern. Die Aeſthetik der Pflanzenwelt. 567 Anordnung und Form des Laubes, welche bedeutſamer den Total— eindruck modificirt. In dieſer Rückſicht unterſcheiden wir die Form der baumartigen Lilien oder die Agaven-Form, mit oft hin— und hergebogenem, zuweilen nach Oben in wenige kurze dicke Aeſte getheilten Stamme, deſſen Enden einen nach allen Seiten gleich— mäßig ausgebreiteten Büſchel lilienartiger, gewöhnlich derber, ſtarrer, und deshalb von leichtem Winde nie bewegter, oft mattgrüner Blätter tragen und ſo das Bild der unerſchütterlichen Ruhe darbieten. Die thebaiſche Cocospalme, die rieſigen Fourcrojen, die Yuccen Merico’s, die Vellozien und Barbacenien Chile's, die großen Aloen Afrika's, die Gras bäume Auſtraliens gehören hierher und Polyneſien liefert noch eine beſondere Form in den Pan— daneen, mit ſteifen, zweiſchneidigen, glänzend grünen und in auf— fallend hervortretenden Schraubenlinien geſtellten Blättern, die Schraubenfichten (screw-pine) der Engländer. — Den Gegen- ſatz hierzu bildet die Form der Farnkräuter, deren zartes, viel— fach zerſchlitztes Laub ſchirmartig ausgebreitet, vor Allem den Cha— rakter anmuthiger Zierlichkeit und im leiſeſten Windhauche zitternd den Eindruck beweglicher Leichtigkeit hervorruft. — Die Mitte zwi— ſchen beiden Extremen hält die Palmenform im engeren Sinne des Wortes, deren vollendete Geſtalten, gleichſam durch einen noch rohen, halbmißlungenen Verſuch der Natur in den Cycadeen vor— gebildet, eigentlich die imponirende Schönheit der Tropenwelt bedin— gen. Sie verdienen, daß wir einige Augenblicke bei ihnen verweilen, und wir können hier keinem Beſſern als A. v. Humboldt folgen. Die Stämme der Palmen ſind bald unförmlich dick, bald rohr— artig ſchwach, bald nach oben, bald nach unten, bald in der Mitte bauchig anſchwellend, bald glatt wie abgedrechſelt, bald ſchuppig, bald dicht beſetzt mit fußlangen, ſchwarzglänzenden Stacheln, bald um— wunden mit einem zarten Netz von braunen Faſern. Seltſam erſchei— nen ſie, wenn ſie, durch hoch am Stamme entſpringende Wurzeln über den Erdboden gehoben, gleichſam vielfüßig daſtehen oder ihren Ur— ſprung in wulſtartig ſie umwuchernde Wurzelfaſern verſtecken. Die 568 Vierzehnte Vorleſung. großen Blätter ſind gefiedert oder fächerförmig zertheilt, die ſtarken Blattſtiele, welche man ſchon in Genua von der Dattelpalme als Spazierſtöcke benutzt, ſind bald glatt, bald ſcharf gezahnt. Das Grün der Blätter iſt bald dunkelglänzend, bald auf der untern Seite ſilberfarben weiß. Bisweilen iſt die Mitte des Fächerblattes mit concentriſchen gelben und bläulichen Streifen eee geſchmückt. In Tracht und Phyſiognomie der Palmen liegt überhaupt ein großer, ſchwer mit Worten auszudrückender Charakter, beſonders durch die Richtung der Blätter ſelbſt hervorgerufen. Die Theile der— ſelben, die Blättchen, ſind theils kammartig in einer Fläche dicht aneinander gereiht mit ſteifem Zellgewebe, wie bei der Cocos und der Dattel, daher der herrliche Abglanz der Sonne auf der obern Blatt— fläche, welche friſcheren Grüns in der Strandliebenden Cocos, matter und aſchfarbiger in der Wüſten umſäumenden Dattel iſt; bald erſcheint das Laub ſchilfartig, von dünneren, biegſamen Elemen⸗ ten gewebt und nach der Spitze hin gekräuſelt. Den Ausdruck hoher Majeſtät gewährt den Palmen außer dem Stamme hauptſächlich die Richtung der Blätter. Je anſtrebender, je ſpitziger der Winkel iſt, den ſie mit dem Stamme nach oben machen, deſto großartiger und erhabener iſt die Form. Welchen verſchiedenen Anblick gewähren die herabhängenden Blätter der Palma de Covija am Orinoco, ja ſelbſt der Cocos- und Dattelpalme und die himmelanſtrebenden Zweige der Jagua und Pirijao! Alle Schönheiten der Form hat die Natur in der Jaguapalme, welche die Granitfelſen in den Kataracten des Atures und Maypure bekränzen, zuſammen— gehäuft. Ihre ſchlanken glatten Stämme erheben ſich 60 bis 70 Fuß hoch, jo daß fie über das Dickicht des Laubholzes wie ein Säulen gang hervorragen. Dieſe luftigen Gipfel contraſtiren wunderſam mit den dickbelaubten Ceibaarten, mit dem Walde von Lauri— neen- und Balſambäumen, welche fie umgeben. Ihre Blätter, kaum 7 bis 8, ſtreben faſt ſenkrecht 14 bis 16 Fuß hoch aufwärts. Die Spitzen des Laubes ſind federbuſchartig gekräuſelt. Die Blättchen Die Aeſthetik der Pflanzenwelt. 369 haben ein grasartig dünnes Gewebe und flattern luftig und leicht um die ſich langſam wiegenden Blattſtiele. Bei Palmen mit gefiedertem Laube entſpringen die Blattſtiele entweder aus dem dürren, rauhen, holzigen Theile des Schaftes, oder auf dem rauhen Theile des Stammes iſt ein grasgrüner, glatter, dünnerer Schaft wie Säule auf Säule aufgeſetzt, aus dem die Blätter hervortreten. In der Fächerpalme ruht die blätterreiche Krone auf einer Lage dürren Lau- bes, ein Umſtand, der dem Gewächſe einen ernſten, melancholiſchen Charakter gewährt. In einigen Schirmpalmen beſteht die Krone aus wenigen fi) an ſchlanken langen Stielen erhebenden Fächern. Unter dem Urſprunge der Blätter aus dem Stamme brechen bei allen Palmen die Blüthentheile hervor. Die Art dieſes Hervorbrechens modificirt ebenfalls ihre Geſtalt. Bei wenigen ſteht die große tuten— förmig zuſammengerollte Scheide ſenkrecht und aus ihr erhebt ſich der dichte Strauß der Früchte, einer Ananas ähnlich. Bei den Meiſten hängen die oft mehrere Fuß langen Scheiden bald glatt, bald feindlich rauh abwärts, oft von blendender Weiße, die weit in die Ferne glänzt. Auch in Geſtalt und Farbe der Früchte iſt mehr Mannigfal— tigkeit als man gewöhnlich glaubt. Die Lepidocaryen, die Sagupalme ſind mit eierförmigen Früchten geziert, deren ſchup— pige, braune, glatte Oberfläche ihnen das Anſehen junger ſchöner Tannenzapfen giebt. Welcher Abſtand von der ungeheuren dreikan— tigen Cocosnuß zu der Beere der Dattel und den kleinen kirſchen— ähnlichen Steinfrüchten des Corozo. Keine Palmenfrucht kommt aber an Schönheit den Früchten der Birijao von St. Fernando de Atabapo gleich; eierförmige, goldfarbene und zur Hälfte purpurrothe Aepfel hängen traubenartig zuſammengedrängt von dem Gipfel der majeſtätiſchen Stämme herab. Mag dieſes zur Charakteriſtik der OR genügen, uns bleibt noch eine letzte Hauptform zu betrachten übrig, in der ſich am innig— ſten Stamm und Blattbildung mit einander verſchmelzen und unge— ſondert den Totaleindruck beſtimmen, nicht ohne daß derſelbe bald vom Stamme und ſeiner Veräſtelung bald von den Blättern und Schleiden, Pflanze. i 24 — 370 Vierzehnte Vorleſung. ihren Formen eigenthümliche Modificationen empfinge. Die Form der Bäume zerfällt wieder in noch größerem Verhältniß als en * Palmen in beſondere charakteriſtiſche Unterformen. Drei derſelben liegen unſerer Anſchauung ſo nahe, daß es kaum mehr bedarf als ihrer zu erwähnen. Es ſind die Fo rm des Laub— holzes mit ihrem nach allen Seiten verzweigten Stamme und ihrer reichen, kurz- und breitblätterigen Belaubung dichte compacte Pflan⸗ zenmaſſen bildend; — die Weidenform mit lockern, ruthenfoͤrmi⸗ gen Zweigen, be der langgeſtelten fatternden Blättern, deren eigenthümlichen weißen Schiller verleiht, bei uns durch Weide und Pappel, im Süden durch den nützlichen Oelbaum repräſentitt; — endlich drittens die Form des Nadelholzes, durch die ſchmalen, graugrünen Blätter und die quirlförmig vertheilten oder ſchumformig ausgebreiteten Aeſte der braunrothen Stämme ausgezeichnet, faſt eine zwergartige aber dichte Binfenvegetation auf einem Baume angeſiedelt. Kt te Ihnen ſtellen ſich drei Formen aus den ſüdlicheren und Aegui⸗ noctialregionen gegenüber, die ſich bei ganz verfehiedenem Wesen doch in mancher Beziehung ihnen vergleichen laſſen. Die Maſſe der aub⸗ wälder, beſonders das Unterholz der Gi wird unter den Tro⸗ pen eigenthümlich charakteriſirt durch die Malv enform‘) je welchen die großen, handförmig gelappten, gewohnlich lang are Blätter, die bei aller Ausbreitung in die Fläche ihres lockeren Stan⸗ des wegen doch keine dunkeln Schatten geben, ‚ auf meistens furzen dicken, nur an der Spitze zu einer Krone verzweigten, ſeltener au Tang veräftelten, weithin gekrümmten Stämmen vertheilt ſind. Der Rieſe der Pflanzenwelt, der heilige Baobab, die unförmliche Maſſe des tonnenförmig angeſchwollenen Bo mbarftar mmes, die purpurbln. thigen Eibiſchgebüſche gehören dieſer Geſtallüng a an. ann „) Auf dem Umſchlage rechts nach unten zeigt eine bibi. iscus 3 die breit und doch luftige Belaubung dieſer Pflanzen. Die Aeſthetik der Pflanzenwelt. 371 Durch den eigenthümlichen Eindruck, den die Pflanzen durch die Textur und Farbe ihrer Blätter machen, iſt die Lorbeer- und Myrtenform den mehr nordiſchen Weiden verwandt, in welche viele neuholländiſche Myrtaceen geradezu bis zur phyſiognomiſchen Ununterſcheidbarkeit übergehen. Im Ganzen ſind freilich breite, leder— artig fteife, wie ladirt glänzende und das Licht blendend zurückwer⸗ fende Blätter das Bezeichnende für dieſe Pflanzen, welches noch ſon— derbar modificirt wird, wenn ein weißer dichter Filz, wie bei den Proteaceen, die untere Blattfläche überzieht und fo in das glän— zende Grün einen eigenen ſilberfarbenen Ton miſcht. — Für die höchſte Vollendung aller Pflanzenformen aber möchte ich die Aca— cienform erklären. Die vielfache, oft ſchirmartig einfache, oft netz— förmig luftige, oft eichenähnlich knorrige Veräſtelung der hier ſchlan— ken, dort maſſigen Stämme bedingt einen der Schönheit ſo förder— lichen Reichthum von Formenſpielen, der aufs Mannigfachſte ver— vielfältigt wird von den gefiederten leichten Blättern, die bald klein und zierlich wie feinſte Stickereien und Spitzen ſich auf dem klaren Himmelsgrunde abzeichnen, bald weit ſich hinausſtreckend in maleriſchen Biegungen mit dem Palmenlaube wetteifern. Nur ein ſchwaches Bild giebt die aus Nordamerika bei uns eingewanderte Robinie von der Mannigfaltigkeit, der Zartheit, Pracht und Majeſtät, zu welcher ſich dieſe Form unter dem belebenden Strahle der tropiſchen Sonne entwickelt. Wenn wir uns auf dieſe ſkizzenhafte Aufzählung charakteriſtiſcher Pflanzenformen beſchränken, ſo liegt es wohl in der Natur der Sache, daß dieſelbe keineswegs genügt, um den Reichthum der Natur zu malen, aber es fehlt uns gerade hier am meiſten an ſicheren, mit künſtleriſcher Hand entworfenen Zeichnungen. Die Reiſenden, nur zu oft geiſtloſe Sammler, haben noch zu wenig dieſe Seite der Na— turbetrachtung angebaut. Auch unter ſolchen, welche darauf Rück— ſicht nehmen, ſind gar Manche, deren Blick nicht ruhig und unbe— fangen genug ift, das, was ihnen ſubjectiv auffällig und intereſſant erſcheint, von dem Charakterbeſtimmenden in der Landſchaft zu Pr 24* 572 Vierzehnte Vorleſung. ſondern; Viele, in dem eitlen Drange, etwas abſonderliches ſagen zu wollen, reihen mühſam geſuchte Worte, die doch kein Bild geben, aneinander, oder überlaſſen ſich dem Uebermaaß der Gefühle und dem Fluge einer ungezügelten Phantaſie. Selten ſind die claſſiſche Objectivität und die plaſtiſche Anſchaulichkeit, welche die Natur— ſchilderungen des klaren Goethe, des reichen und lebendigen Seals— field, vor Allen aber den Meiſter der Wiſſenſchaft, der künſtleriſchen Auffaſſung und der Sprache, Alexander von Humboldt, auszeichnen. Ich habe jene Formen aneinander gereiht, je nachdem ſie blos die nackte Erde bekleiden oder ſich über derſelben zu ſelbſtſtändigen Geſtalten erheben und die letzteren, je nachdem ſie vorzugsweiſe durch Blattbildung oder mehr durch das charakteriſtiſche Hervortreten der Stämme oder endlich durch eine Verbindung und Verſchmelzung Beider den beſonderen Eindruck hervorrufen, den eine von ihnen be— ſtimmte Landſchaft auf den Beſchauer macht. Es ließen ſich aber wohl noch andere, wichtigere, mehr dem künſtleriſchen Standpunkte entnommene Eintheilungsgründe geltend machen. So wie wir die Landſchaft ſelbſt eintheilen in Vorgrund, Mittelgrund und Hinter: grund, ſo müßten auch vor Allem die charakteriſtiſchen Pflanzenfor— men in ihrer verſchiedenen Bedeutung für dieſe drei Theile jedes Na⸗ turgemäldes aufgefaßt und mit ſicherer Zeichnung hingeſtellt werden. Die kleinen Formen der Gräſer, nur in dem Totaleindruck ihrer Maſſen bedeutſam, verlieren nichts durch die größere Ferne, waͤhrend Piſang- und Aroideengewächſe wegen der ſchönen Form ihrer großen Blätter ſelbſt den nächſten Vorgrund vertragen. Dage— gen verſchwimmen die feinen Linien der Mimoſenblätter im Hinter— grunde in eine grüne Maſſe, während die höheren Palmen, zu nahe geſtellt, der Totalanſchauung überlegen werden, fo daß ihre Schön: heit aufhört wirkſam zu ſein. Nachfolgende Reiſende werden die Zahl der Pflanzenformen ver— mehren, ihre Bedeutung beſtimmter hervorheben und die zarten Nüancirungen auffaſſen lehren, welche jene größeren Gruppen noch — Die Aeſthetik der Pflanzenwelt. 375 in kleinere zu zerfällen erlauben, und vorzugsweiſe wird die An— ſchauung gewinnen, wenn uns ein größerer Vorrath ſolcher künſt— leriſcher Darſtellungen vorliegt, wie ſie mit unnachahmlicher Treue Baron von Kittlitz in ſeinen Vegetationsanſichten geliefert hat. Am Meiſten des Studiums werth, aber noch faſt gänzlich un— beachtet und unerforſcht iſt die Seite dieſer Pflanzenformen, welche ſich dem Menſchen, ſeiner Bildungsgeſchichte, ſeiner Lebensanſicht zuwendet. Hier gewinnen dieſe Typen der Natur erſt ihre höhere Bedeutung und werden für den Pſychologen, den Ethnographen ſaſt noch wichtiger als für den Pflanzenforſcher. Daß ſich anders die Weltanſchauung Dem geſtalten muß, der ſeine erſten Eindrücke von den ernſten wintergrünen Fichtenwäldern Schwedens erhielt, anders Dem, der in den nebelfeuchten Hochmooren und Haiden Schottlands aufwuchs und wieder anders bei Jenem, den von ſeiner Kindheit an das glänzende Laub der Lorbeeren und Myrten unter dem heitern griechiſchen Himmel umgab, liegt ſcheinbar zu nahe, um der Er— wähnung zu bedürfen, und doch läßt ſich die daraus hervorgehende Lebensanſchauung leichter herausfühlen als mit Worten klar und deutlich entwickeln. So wie bei der Mythologie, ſo iſt auch hier die lebensvollſte und fruchtbarſte Seite noch gar nicht erforſcht wor— den; gleichwohl können wir es als allgemeinen Satz geltend machen: es giebt keine Disciplin, die ſich irgendwie auf irdiſche Verhältniſſe bezieht oder in ſolchen verwirklicht wird, die ohne naturwiſſenſchaft— liche Grundlage je etwas Anderes als todte Wortgelehrſamkeit oder unwahre Phantaſterei ſein und werden könnte. Des Menſchen Seele verſteht man nicht ohne ihre Verbindung mit dem Körper und dieſen nicht ohne ſeine Abhängigkeit von der ganzen Natur und was gäbe es außerdem noch, was Gegenſtand der Wiſſenſchaft werden könnte! Dieſen Einfluß, den insbeſondere auch die Pflanzenwelt auf die Entwicklung des Menſchen geltend macht, zeigen jene Pflanzen— formen aber nicht für ſich, ſondern vielmehr erſt in und durch ihre Verbindung zu den ſchon genannten Pflanzenformationen. 374 Vierzehnte Vorleſung. Man erwarte auch hier von mir nicht mehr als ſkizzirte Hindeu— tung auf den unendlichen Reichthum der Natur, mehr zu geben ver— bietet mir der enge Rahmen, welcher meine Bilder begrenzt. Ja, wenn es hier unfere Aufgabe wäre, vollſtändig dieſes Verhältniß zu er⸗ ſchöpfen, ſo müßten wir ſelbſt Thierwelt und geognoſtiſche Grund— lage noch mit in den Kreis unſerer Betrachtung ziehen. Der natür— liche Menſch lebt nicht mit dieſen oder jenen Einzelnen Naturkörpern, ſondern mit dem Ganzen ſeiner Umgebung, die Landſchaft mit allen ihren ungeſonderten Elementen wirkt auf ſeine Gemüthsſtimmung und dadurch unmerklich auf die ganze Geſchichte ſeines Inneren, erſt allmälig bei fortgeſchrittener Bildung wird es ihm möglich, die ein— zelnen Beſtandtheile aus dem Bilde herauszulöſen und den Total— eindruck in feine Einzelwirkungen zu zerlegen. Nicht das Gras, ſon⸗ dern die Wieſe, nicht der Baum, ſondern der Wald, nicht der Myr⸗ tenbuſch, ſondern die ganze Fläche, mit niedrig buſchigen, immer⸗ grünen Pflanzen bedeckt, welche ſich als eigner Gürtel an den grie— chiſchen Bergen hinzieht, einerfeits mit den blühenden Wieſen, andrer⸗ ſeits mit den hochaufſtrebenden Fichten contraſtirt, haben den mäch⸗ tigen Einfluß auf das Behagen oder den Mißmuth des Menſchen ausgeübt. So wird uns die Betrachtung der Pflanzenformationen, wie ſie aus jenen Formen zuſammengeſetzt ſind, ungleich bedeutſamer und um ſo mehr ſo, als gerade hierin vorzüglich der eee Character der verſchiedenen Länder ſich ausſpricht. Keiner der Unſrigen, den ein freundlicher Genius in die reiche Welt der ſenkrechten Sonne führte und glücklich zurückleitete, hat ſich des Eindrucks erwehren können, den die Eigenthümlichkeit der Tropenvegetation auf ihn gemacht hat, und niemals wird er den— ſelben wieder vergeſſen. Nur unklar und matt find die gewöhn⸗ lichen Ausdrücke: Reichthum, Fülle, Ueppigkeit, wodurch man jenen Character wiederzugeben ſucht; ja ſelbſt falſch ſind ſie, denn wer jemals einen nordiſchen Urwald ſah, die mächtig ragenden Stämme, die modernden Pflanzenleichen, die Fülle der Farnkräuter und Mooſe, Alles, Todtes und Lebendiges, bekleidend und umhüllend, Die Aeſtethik der Pflanzenwelt. 575 der muß zu dem nahebei richtigen Glauben kommen: eine größere Ueppigkeit des Pflanzenwuchſes ſey nicht wohl denkbar. Schon mehr die richtige Vorſtellung erweckend iſt die Rede, daß, je mehr man ſich den heißen Gegenden nähere, um ſo mehr auch die geſellig lebenden Pflanzen ſich verlieren, um ſo mehr die verſchiedenſten Pflanzenfor— men durch einander vorkommen. Und gleichwohl, jo wahr dieſer Satz iſt, wird Der weniger geneigt ſein ihn anzuerkennen, der, ſich mehr an die Phyſiognomie als an die botaniſchen Beſtimmungen hal— tend, einzelner characteriſtiſchen Waldformen, Gebüſchbildungen oder Steppen ſich erinnert, denn die Erklärung nennt zwar die Grundur— ſache des Phänomens, ſie führt aber nicht aus, wie dieſelbe das Endreſultat vermittele., Wenn wir von dem dunklen Schatten unſerer dichtbelaubten Buchenhochwälder einen Schluß machen auf die ungleich vollere und gedrängtere Vegetation in einem tropiſchen Urwalde, ſo fühlen wir uns ſeltſam getäuſcht, in ihm Alles ſo hell, ſo lichterfüllt zu finden. Dieſer Reichthum der Vegetation, der von den höchſten Gipfeln der Palmen und Bertholletien von Zweig zu Aſt, von Aft zu Stamm herabſteigt, die Erde bekleidet und fich noch in reichen Feſtons durch den Luftraum zieht, wäre aber gar nicht möglich, wenn nicht das der Vegetation unentbehrliche Licht bis in die niederſten Regio— nen Zugang hätte. Der dichte Schatten unſerer Wälder, den im Verhältniß zu den tropiſchen Urwäldern ſelbſt unſere feinnadeligen Kiefern durch ihre dichtgedrängte Verzweigung hervorrufen, durch welche ſie dem herbſtlichen Sturme, dem rauhen Winter, dem la— ſtenden Drucke der Schneemaſſen Widerſtand leiſten, verhindert ge— rade unter den Bäumen jene reiche mannigfaltige Entwicklung des vegetabiliſchen Lebens, welche unter den Tropen in Länge und Breite, in Höhe und Tiefe jeden Winkel erfüllt und ſchmückt. Es liegt näm— lich in dem Character der tropiſchen Waldbäume die eigenthümliche, weitläufige, luftige Verzweigung und eine Blattvegetation, welche, die Tracht der Palmen im Kleinen und Einzelnen nachahmend, ſich nur an den äußerſten Spitzen der Zweige geltend macht. Dazu 576 Vierzehnte Vorleſung. kommt dann die große Verſchiedenheit der Pflanzen, welche auf einem kleinen Raume neben einander ſtehen und in ſo ungleicher Weiſe hinaufragen in die Luft, daß ſchon in der Ferne ein tropiſcher Wald nicht die einfachen abgerundeten Umrißlinien zeigt, wie ein nordi— ſcher Buchen- oder Lindenwald. Endlich kommt noch hinzu das Vor⸗ herrſchen oder doch häufige Vorkommen glänzender Blätter, die das Licht der Sonne reflectirend in die dunkleren Schatten hineinwerfen oder der weißen Fläche der hoch aufgerichteten Palmenblätter und anderen Laubes, welche, Spiegeln gleich, die Strahlen der Sonne ins Innere der Wälder tragen. Aus dieſen und vielleicht noch unzäh⸗ lichen einzelnen kleinen Zügen iſt dies Bild zuſammengeſetzt, welches uns mit fo fremdartigem Character und doch mit ſe anziehendem Reize entgegentritt. 11 ie N Indem wir aber von Biilanzenfe reihen en ee ent⸗ lehnen wir dieſen Ausdruck eigentlich einer andern Wiſſenſchaft, der Geognoſie, und meinen auch, ſo weit überhaupt eine Vergleichung zuläſſig iſt, Aehnliches damit zu bezeichnen. So wie wir aber in der geognoſtiſchen Betrachtung der Erdoberfläche zunächſt zwiſchen ebenem Lande und Gebirgszügen unterſcheiden, können wir auch hier in Anwendung dieſer Betrachtungen auf die Pflanzenwelt zuerſt als zwei Hauptbildungen Plänen und Wälder von einander trennen. Jede dieſer Hauptabtheilungen zerfällt dann wieder in die einzelnen Formationen ſelbſt, die es ja eben ſind, die hier oder dort entwickelt, hervortretend oder zurückgedrängt, wie in der Geognoſie den geogno— ſtiſchen, ſo hier den vegetativ landſchaftlichen Charakter eines Lan— des beſtimmen. Insbeſondere in der Aufſuchung und Darſtellung dieſer Formationen liegt eigentlich der Reiz, den man gewöhnlich mit einer Verwechſelung der Begriffe der Pflanzengeographie zu— ſchreibt. Dieſe aber kann und ſoll wiſſenſchaftliche Zwecke verfolgen, theoretiſche Aufgaben ſich ſetzen und löſen — und N „Grau, theurer Freund, iſt alle Theorie.“ Aber „grün des Lebens goldner Baum“ und es iſt angedeutet, wie gerade dieſe, ſtrenger Wiſſenſchaftlichkeit unzugängliche, äſthetiſche Die Aeſthetik der Pflanzenwelt. 377 Seite der Natur es iſt, welche, wenn auch geheim und ſchwer in ih- rem Wirken zu verfolgen, doch am allermächtigſten beſtimmend, hemmend oder fördernd in den Gang der geiſtigen Entwicklungsge— ſchichte eingreift. „Wie der Menſch, ſo iſt ſein Gott“ iſt ſicher wahr, aber man muß noch weiter gehen und hinzufügen, der Menſch in ſeinen erſten Bildungsſtufen iſt auch wie die Natur, in der er aufge— wachſen iſt. Auf der anderen Seite müſſen wir aber auch eine weſentliche Verſchiedenheit hervorzuheben nicht verſäumen, wodurch ſich die geognoſtiſche Formation von der vegetabiliſchen unterſcheidet. Jene ſteht in ausgeprägter Starrheit unwandelbar und unveränderlich, wenigſtens weit hinaus über die höchſtens nach Jahrhunderten den— kenden und rechnenden Menſchen feſt, dieſe dagegen mit dem Ge— präge des organifchen Lebens folgt in ihrer Weiſe dem Spiele der mächtigen Naturkräfte an der Erde. Die Zeichnung iſt keine feſte, unbewegliche, ſondern ſo wie ſich der Charakter der Natur im Gro— ßen ändert, zeigt ſie auch andere Züge und blickt den Menſchen gleich— ſam mit anderm Antlitz an, und dieſelbe Bildung, die heute zu fröhlichen Gefühlen erweckte, drückt vielleicht morgen das Gemüth mit dem Bilde melancholiſcher Verödung nieder. Je weiter hinauf wir in höhere Breiten kommen, deſto verſchiedener iſt die Natur in ihrem Winter- und Sommerkleide, und je nachdem die klimatiſchen Verhältniſſe bald nur eine, bald zwei, bald drei, bald vier Jahres— zeiten bedingen, iſt auch die Phyſiognomie der Pflanzenwelt bald eine feſte unveränderliche, bald eine in mannigfacher Weiſe ihren Charakter wechſelnde. Nicht aber in dieſem oder jenem einzelnen Zuſtande, ſondern ganz beſonders darin, wie die Geſchichte der Natur, der Ablauf ihrer Veränderungen der Zeit nach die Thätig— keit des Menſchen begleitend beſtimmt, iſt die mächtige Cinwirkung auf die Gefühle und ihr Spiel, auf den Gedankengang und ſeine Ausbildung begründet. Während das fahle Graugrün der Fichten— nadeln unter der laſtenden Schneedecke den Eindruck des Winters nur noch trüber und melancholiſcher macht, lügt der heitere Glanz der 378 Vierzehnte Vorleſung. immergrünen Laubwälder des Südens noch einen Sommer in die Bruſt des Menſchen, wenn auch der Körper, von Froſtkälte getrof⸗ fen; jene meteorologifche Verirrung Lügen ſtraft. - Es ift ſchwer den Character der verſchiedenen W a ldform atio⸗ nen mit Worten auch nur einigermaßen lebendig und anſchaulich wiederzugeben, was dem Landſchaftsmaler, dem Zeichnung, Baum⸗ ſchlag, Farbe und Lichteffect zu Gebote ſteht, fo leicht gelingt. Gleichwohl find die Verſchiedenheiten auffallend genug füt Jeden, der mit offnen Sinnen an die Natur hinantritt. Schon die e Fichten⸗ und Kief ernwälder zeigen weſentliche Verſchledenhetten i in ihren Zügen; jene mit geraden ſäulenförmigen untereinander parallelen Stämmen, mit der kegelförmigen von quirlattig geſtellten Aeſten ge: tragenen Krone, dieſe auf knorrig gebogenen Stämmen, deten Linien ſich überall in der Perſpective kreuzen, einen flachen Laubſchirm ! tra⸗ gend, eine Tracht, die am reinſten und edelſen von der Pinie dat⸗ geſtellt wird. Dieſe Kiefernwälder, wie ſie in meilenweitet Ausdeh⸗ nung die Mark Brandenburg bedecken, wiederholen ſich in üppiger Entwicklung in den Kief ernhaiden (Pine barrens) Nordameri⸗ cas. Hier wie dort einen kieſeligen Boden liebend, ziehen ſi ſie ft ch in einem breiten, viele Hundert engliſche Meilen langen Guͤttel an det Küfte von Virginien und Nordcarolina herab und bilden durch ihre Maſſe einen ſcharf hervortretenden ug in der Phypſtognonte des ganzen Landes. | fm 1 781 NN Noch Ausfall in der Unterfhleb iche den einzelnen For⸗ mationen des Laubholzes; der dichtgedrängte Stand der geſelligen Buchen, Linden oder Rüſtern bildet Wälder mit dunkeln Schat⸗ ten und vegetationsleerem Boden, während die ſtolze Eiche, allen Baumwuchs in ihrer unmittelbaren Nähe unterdrückend, auf einem mit Gras und Kräutern freundlich bekleideten Boden ſich vereinzelt oder in kleinen Gruppirungen zu den wunderbaren Waldlandſchaf— ten vereinigt, die uns Ruis daels unſterblicher Pinſel fo oft vor— führt. — Anders wirkt der maſſive Glanz der Magnolienwälder * Die Aeſthetik der Pflanzenwelt. 379 des ſüdlichen Nordamericas, als die zierliche Schönheit africaniſcher Acacienhaine oder die geiſterhafte Durchſichtigkeit nordiſcher Birken und vollends die Tropenwelt entwickelt eine Mannigfaltig— keit, deren Schilderung ein unerſchöpfliches Thema ſeyn würde. Ich will hier nur noch auf einen ſeltſamen Contraſt aufmerkſam machen, welchen einige Gegenden der heißen Climate darbieten. Die rauhe Winterkälte beraubt unſere Wälder ihres ſchönſten Schmucks und entblättert ſtarren die ſchwärzlichen Ruthen aus dem Schnee, oder dem feuchten ſchwarzen Boden in die trübgraue Decemberluft; umgekehrt durchwandert der braſilianiſche Reiſende in der glühendſten Hitze die Catingas, Wälder, die durch den verdorrenden Einfluß der Sonne gerade im Sommer entlaubt werden und mit ihrer kahlen Verzwei⸗ gung ſeltſam gegen das friſche üppige Grün am Ufer eines kleinen Baches oder gegen die von der Hitze unberührten, ſaftig⸗-fleiſchigen Maſſen der Cacteen contraſtiren. Aber auch in der friſcheſten Belaubung können die Wälder den Cha⸗ racter der ſchauerlichſten und abſchreckendſten Wildheit annehmen. Wo dichte Belaubung den Einfluß der Sonne und den erfriſchenden Luft: wechſel hindert und ſo die Zerſetzung der vegetabiliſchen Maſſen verlang— ſamt, wo der Boden flach und ohne Gefälle ohnehin ſchwer ſeines Waſ— ſerreichthums ſich entledigt, und um ſo weniger, wenn die aufgehäuften Pflanzenleichen beſtändig den Abfluß hemmen, und der entſtandene Hu⸗ mus begierig die Feuchtigkeit anſaugt, da bilden ſich die ausgedehnteſten Sumpfmoore. Durch die fortwährende Zunahme der Vegetations- reſte erhebt ſich der Boden und oft liegt eine ſolche waſſerdurchtränkte, halbflüſſige Maſſe zuletzt weit über dem Niveau der umgebenden Ebene, ohne daß jetzt noch die Sonne im Stande wäre, auch wenn Stürme das ſchützende Dach entfernen, den Sumpf auszutrocknen oder auch nur ſein Fortwachſen zu beſchränken. Ein ſolcher Sumpf erhebt ſich bis zu 12 Fuß über die umgebende Ebene in Virginien zwiſchen den Städten Suffolk und Waldon, von den Einwohnern „„the great dismal““ (der große Unſelige) genannt, der nicht unbeträchtlichen Flüſſen den Urſprung giebt und ſie mit Waſſer perſorgt. Es iſt be— 580 Vierzehnte Vorleſung. * ſonders die nordamericaniſche Eypreffe*), welche mit ihrer feinen aber dichten Belaubung zur Bildung deſſelben Veranlaſſung gegeben. Derſelbe Baum iſt es, welcher die furchtbaren, verrufenen Cypreſ— ſenſümpfe Louiſiana's an den Ufern des Redriver und Miſſi— ſippi bildet. Rieſenſtämme von unerhörter Mächtigkeit drängen ſich aneinander, ihre Zweige ineinander flechtend und am hellſten Tage ein düſtres Dämmerlicht verbreitend. Der Boden beſteht nur aus halbverfaulten übereinander gethürmten Blöcken und dazwiſchen aus einem unergründlich tiefen flüſſigen Schlamm, in welchem ſich ge— fräßige Aligators und die beißende Schildkröte umherwälzen, die alleinigen Herren dieſer unter der Gluth der faſt tropifchen Sonne qualmenden Hölle; fo im hohen Sommer, während im Frühling ſich brauſend die trüben, ſchlammigen Fluthen der austretenden Ströme in meilenweiter Ausdehnung durch dieſe feindſelige Vegetation er⸗ gießen. — So entſprechen dieſe Cypreſſenſümpfe, von denen uns Sealsfield ein fo lebendiges Bild entworfen, im Binnenlande, den Mangrovewäldern, welche die Flußmündungen faſt aller Tropenſtröme umfäumen. Aus nur wenig Pflanzenarten zuſammen⸗ geſetzt, unter denen der Manglebaum der gemeinſte ift, find fie vorzugsweiſe durch die große Anzahl ihrer hoch am Stamme ent— ſpringenden ſtarken Wurzeln, von denen jener über der Fläche des Bodens getragen wird, auffallend. Der eigentliche Standort dieſer Pflanze iſt das ſogenannte Brakwaſſer, welches, zur Zeit der Ebbe aus dem ſüßen Waſſer des Fluſſes beſtehend, zur Fluthzeit vom an— dringenden Meerwaſſer verdrängt wird. Die zahlreichen Wurzeln bilden oft ein ſo dichtes Geflecht, daß die Lücken durch fallende Blät— ter verſtopft werden können und ſo ſich allmälig für eine zweite Be: getation ein Boden ſammelt, unter welchem zu verſchiednen Tages: zeiten das Meer oder der Fluß ſeine Wogen dahinrollt. Häufiger aber beſchränkt ſich die Wirkſamkeit der Wurzeln darauf, den Strom des Waſſers zu verlangſamen und zwiſchen ihrem Geflecht die vom Fluſſe herabgetriebenen Pflanzen- und Thierleichen zurückzuhalten, ) Cupressus disticha, Die Aeſthetik der Pflanzenwelt. 381 die dann hier in Berührung mit dem Meerwaſſer und ſeinen Salzen faulen. entwickelt ſich in dieſen Gegenden das furchtbare Schwe— n A die Atmoſphäre vergiftend, daß die von Jugend auf an dieſen Aufenthalt gewöhnten Eingebornen gleichwohl wie Geſpenſter herumwanken, während den eindringenden Europäer faſt unausweichbar der Tod dahinrafft. Dieſe Wälder ſind vorzüglich der Feind, welcher ſich bisher unüberwunden faſt allen Nigererpedi- tionen entgegengeſetzt und die Reihen der kühnen Abentheurer ſchreck— lich gelichtet hat. Auch ich habe einen Freund, den für die Wiſſen— ſchaft zu früh geſtorbenen Theodor Vogel beweint, der auf Fer— nando da Po dieſem Dämon zum Opfer fiel. Wie zwiſchen Berg und Ebene der Hügel, ſo bildet zwiſchen Waldformationen und Plänen das Gebüſch und die nur mit ein- zelnen kleinen Baumgruppen beſetzte Ebene das Zwiſchenglied. ; Zum Theil muß man ſchon die fogenannten Wälder an der Nordküſte Auſtraliens hierher rechnen, die den ungeheuren Landſtrich, der ſich ſüdlich von der Rafflesbay und Eſſington ins Innere ausdehnt, bedecken. Sie zeigen eine ganz beſondere Phyſiognomie, die faſt überall in dieſem ſeltſamen Lande ſich wiederfindet. Die Bäume und Büſche haben lederartige Blätter, die Mehrzahl derſelben iſt mit einem weißen harzigen Staube bedeckt, der ihnen einen äußerſt monotonen, trübſeligen, blaßgrünen Schein verleiht. Die Haupt⸗ bäume ſind Eucalypten, Acacien, Prachtfaden und Caje— putarten “). Mehrere andere Pflanzen können neben den genann— ten kaum zählen und leben unter dem Schutz dieſer hohen grau— lichen, weit auseinander ſtehenden Stämme, deren mageres, unauf- hörlich zitterndes Blätterwerk an die Trauerweiden mahnt. Schöne Grasbüſchel mit langem ſchlanken Halm wachſen in der ganzen Ausdehnung dieſer Büſche und darin niſten Känguruhs, die Rin— geltaube und andere Vögel. Die Strahlen der Sonne dringen leicht durch die ſchmalen, ſtets auf ihren langen Stielen ſich wiegen— Eucalyptus, Acacia, Leptospermum, Melaleuca. 382 Vierzehnte Vorleſung. den Blätter und machen ein zweifelhaftes mit flüchtigen Schatten ſich miſchendes Licht. Das Auge blickt weit hin durch die Gewölbe von Zweigen und Blättern und wird weniger durch die Dichtigkeit der Vegetation als durch den ſtets wechſelnden Glanz eines ungewiſſen myſtiſchen Lichtes aufgehalten. Noch lichter, noch weniger den geſchloſſenen Stand der Wil. der repräſentirend, iſt eigentlich die Palmenform überall da, wo ſich geſellig lebende Pflanzen derſelben zuſammengruppiren. Schon die wirklichen Palmenhaine am Nordrande der Sahara, an den Ufern der braſilianiſchen Ströme gleichen mehr offnen Säulenhallen mit durchbrochener Decke und ganz eigenthümlich ſtellen ſich auf dem dürren Boden der Hochebenen von Mexico die Stämme der Pucca, Fourecroya und andere hochſtämmige Lilien arten zuſammen, weder Schatten gegen die Sonne, noch Schutz gegen den Wind ge— während. An ſie ſchließen ſich die unförmlichen Pflanzenmaſſen der Magueypflanzen mit ihren breiten, dicken, graugrünen, Reifen, am Rande ſcharf gezähnten Blättern und den 20 Fuß hohen Blü- thenſchaften, durch Cacteen mannigfacher Form zu, ſeltſam phan⸗ taſtiſchen undurchdringlichen Gebüſchen abgerundet. — Die aus 6—7 Fuß hohen Mes quiteſträuchen gebildeten mit Lianen durchſchlungenen, undurchdringlichen Chapparals in den ausgedehnten Landſtrichen zwiſchen dem Nueres und Rio grande; — die aus Schilf und Zwergpalmen gebildeten Pal⸗ mettofelder an den Ufern der Sabine, Natches und anderer Flüſſe von Teras; — die niedrigen Acaciengebüſche von Au⸗ ſtralia felix und endlich die weit ausgedehnten von Elephanten und Tiegern durchſtreiften, von Bambuſen und andern hohen Gräͤ— fern gebildeten Djungles in Oſtindien find eben fo viele eigen⸗ thümlich characteriſirte Formationen der Buſchbildung, die, die Größe des Menſchen oft nicht erreichend oder doch nur wenig überragend, den oft unüberwindlichen Widerſtand, den ſie dem Eindringling ent— gegenſetzen, beim erſten Anblick gar nicht verrathen und noch lange, nachdem ſchon der Menſch fi) in ihren Umgebungen angeſiedelt hat, Die Aeſthetik der Pflanzenwelt. 585 nur auf Pfaden durchſchritten werden können, welche die en Thiere vorgebahnt. Der Wechſel iſt es, welcher durch die Bewegung, die er in der Anſchauung oder im Gedanken hervorruft, als ein weſentliches Mittel zur Erweckung des äſthetiſchen Gefallens oder des Intereſſes auftritt. Die gerade Linie iſt nicht ſchön, ja eigentlich weder ſchoͤn noch häß— lich, aber ſchon die gebogene, gebrochene Linie macht, indem ſie das Auge zu einer abweichenden Bewegung auffordert, Auſpruch auf äſthetiſche Beurtheilung und wir nennen fie ſchöͤn, wenn die Be— wegung des Auges mild und ſtetig vermittelt iſt, häßlich, wenn das Auge, oft und plotzlich von feinem Wege abgelenkt, der eckig geknickten Linie nicht mit Einer in ſich zuſammenhängenden Be- wegung, ſondern nur in unvermitteltem Wechſel der Richtung folgen kann. Doch auch durch den Contraſt, durch den Gegen: ſatz kann das Gefühl für Schönheit geweckt werden, wenn gleich— ſam einer unbewußt zum Grunde gelegten Geſetzmäßigkeit (wie in der bekannten Nebeneinanderſtellung der complementairen Farben) und der Anforderung der Ergänzung zu einem idealen Ganzen der Erſcheinung genügt und fo im Contraſt ſelbſt ein befriedigen⸗ des Gefühl der Vollendung hervorgerufen wird. Aus dieſen An— deutungen verſtehen wir vielleicht beſſer die alte Rede, daß den heißen Gegenden ein landſchaftlicher Hauptreiz in dem Mangel un⸗ ſeret Wieſen abgehe, denn an grasbewachſenen baumloſen Ebenen fehlt es keineswegs in der neuen Welt überhaupt, und beſonders unter den Tropen des alten und neuen Continentes. Wenn wir aber von der Schönheit unſerer Wieſen reden, ſo meinen wir in der That eigentlich gar nicht die Wieſe, d. h. die mit Oräfern bedeckte ebene Fläche, ſondern den formenreichen und dadurch anmuthigen Gegenſatz zwiſchen dem ſammetartigen grünen Teppich und den in ſchönen abgerundeten Formen daneben ſich erhebenden Gebüſchen, bis hinauf zum majeſtätiſchen Hochwald, und die traurigen märfi- ſchen Kiefernhaiden würden dadurch um nichts ſchöner werden, wenn die ganze endloſe von keinem in ihr vorkommenden Hügel überſeh— 384 Vr.ierzehnte Vorleſung. bare Fläche mit Ausſchluß aller Baumvegetation von noch ſo üppi⸗ gem Graswuchs bedeckt wäre. 1 Wenn wir nun die Formationen der Plänen denen Be Wälder an die Seite fegen, fo führen wir hiermit zugleich ein ganz neues äſthetiſches Element in die Naturbetrachtung ein. Aus den Wäldern iſt ſchon wegen des Reichthums der Formen, wegen der Verſchlungenheit der Zeichnung, die fortwährend das Gefühl und den Geiſt zu wechſelnder Thätigkeit anregen, das Element der Schönheit nicht wegzudenken. Ganz anders iſt es mit den großen Pflanzenebenen, die deshalb auch einen durchaus eigenthümlichen Eindruck auf das Gemüth des Menſchen machen. Mit einem gewiſſen Gefühle getäuſchter Erwartung reitet der Reiſende ein in die Prärien des Weſtens, nur unerquicklich ſcheint ihm die mit hohem Graſe gleichförmig bewachſene monotone Flache, deren Horizontlinie von keiner noch fo geringen Erhebung unter- brochen wird. Aber er reitet und reitet und immer dehnt ſich in gleicher Einförmigkeit, in gleicher ruhiger Einfachheit der grenzen: loſe Raum vor ſeinen Blicken aus. Was ſich anfänglich ſeiner An— ſchauung entzog, die dem kleinen Menſchen überlegene Unendlichkeit, tritt ihm entgegen, das Gefühl der troſtloſen Einſamkeit ſchleicht ſich allmälig in ſein Herz. Ein Tag nach dem andern ſteigt im Oſten herauf und ſinkt im Weſten herab. Immer weiter und weiter dehnt ſich die Unendlichkeit um ihn aus und wächſt, alle ſeine bisherigen Begriffe von Größe überragend. Immer mehr ſchrumpft das Selbft- gefühl zuſammen, immer lähmender und beklemmender legt ſich das Bewußtſeyn der Nichtigkeit auf ſeine bebende Seele und noch ehe er die jenſeitige Grenze erreicht, haben Verzweiflung oder eine unend- lich tiefe und innige Frömmigkeit von ſeinem Herzen Beſitz genom⸗ men. Sobald das einförmig Große überhaupt geeignet iſt einen äſthetiſchen Eindruck zu machen, ſo iſt es der der Erhabenheit, vor der der Menſch anbetend in den Staub ſinkt. — Eine beſondere Modi— fication jener Prärien ſind ſo bezeichnend von den Anſiedlern rolling prairies (wogende Ebenen) genannt, ein grenzenloſes Meer flacher, Die Aeſthetik der Pflanzenwelt. 385 gleichförmiger, 20—30 Fuß hoher Erdwellen. Ich wage es nicht das andere zornglühende Antlitz dieſer Rieſenwieſen zu ſchildern, wenn im Sommer ein Zufall oder Abſicht das dürre Gras entzündet haben und der Brand ſich mit raſender Schnelligkeit über die Fläche fortwälzt; nach Cooper und Sealsfield hieße das, Eulen nach Athen tragen. Unter ähnlichen Breiten und climatiſchen Verhältniſſen gele— gen, tragen die Pampas von Buenos-Ayres auch einen ähn— lichen Character wie die nordamericaniſchen Prärien, nur hat hin und wieder der Menſch durch ſeine Einwirkung der Natur einen ei— genthümlichen Stempel aufgedrückt. Die mit der Ankunft des Eu— ropäers eingewanderte Diſtel und Artiſchocke haben ſich raſch des herrenloſen Bodens bemeiſtert und mit unglaublicher Schnellig— keit Gebiete von vielen Quadratmeilen mit ihrer ſtachlichen Vegeta— tion überzogen, die hier ſich zu einer in Europa unerkannten Uep- pigkeit entwickelt hat. So ſind dieſe Diſtelwüſten zu einer furcht— baren Landplage geworden, ſelbſt Räuber den Boden beſſeren Ge— wächſen wegnehmend und ein nicht zu beherrſchender Schlupfwinkel der großen raub- und mordgierigen Katzen und der noch viel ge: fährlicheren menſchlichen Banditen, dem ſtechenden Unkraut hal— ber Civiliſation. Faſt möchte man behaupten, daß die eigenthümlichen Steppen, welche uns zu allernächſt liegen, weniger bekannt ſeyen, als jene durch die Schilderungen genialer Männer uns faſt vertraut geworde— nen Naturformen ferner Welttheile, denn in der That hört man nur zu oft aus den Reden der Menſchen, welche falſche Vorſtellungen ſie von jenen ausgedehnten Plänen haben, die gewöhnlich mit dem Na— men der norddeutſchen Haide bezeichnet werden. Von den Weſtgren— zen des nördlichen Frankreichs durch Belgien, Norddeutſchland, Rußland bis faſt zur Oſtgrenze Sibiriens zieht ſich eine breite Ebene, ſelten durch niedrige Höhenzüge unterbrochen und eben ſo ſel— ten ausgedehnterem Waldwuchs einen paſſenden Boden darbietend, der ſich im Ganzen auf den von benachbarten Flüſſen durchtränkten Schleiden, Pflanze. 25 586 Vierzehnte Vorleſung. beſſern Boden beſchränkt. Am Südrande dieſer Ebene hin zieht ſich eine Kette von Hügeln und Bergen, bald vorgebirgartig in die wei— ten Flächen hinaus vorſpringend, bald zu weiteren oder engeren Buch— ten zurücktretend, die Küſten eines ehemaligen die ganze Ebene be— deckenden Meeres. In dieſer ganzen unendlichen Ausdehnung hat eine einzige Pflanzenart ſich eine faſt ausſchließliche Herrſchaft be— gründet, die Haide, welche dieſem Landſtrich ihren Namen ge— liehen hat. Aehnliche Verhältniſſe aber als in Nordamerica den Un— terſchied zwiſchen der Kiefernhaide und Cypreſſenſümpfen hervorrufen, ſind auch hier thätig eine weſentliche Verſchiedenheit zu begründen. Die große Ebenheit des Bodens, an manchen Stellen ſelbſt geognoftifche Verhältniſſe, indem geringere Bodenerhebungen flache rings geſchloſſene Becken bilden, machen an vielen Orten den freien Abfluß des Waſſers unmöglich und die Haide, unterſtützt durch die von der Feuchtigkeit hervorgerufene eigene Vegetation, bildet durch die jährlich ſich anhäufende Pflanzenſubſtanz, welche im Waſ— ſer nur bis zu einem gewiſſen Grade verkohlt ohne völlig zerſetzt zu werde fene ſchwarzen Maſſen vegetabiliſcher Ueberreſte, welche als Torf in der Oeconomie der Anwohner eine ſo weſentliche Rolle ſpie— len. So wechſeln hier in verſchiedener Vertheilungsweiſe, dürre, trockne Sandhaiden mit feuchten ſchwammigen Torfhaiden oder Mooren. Am Rande der letzteren, ſeltner auf ihnen ſelbſt, pflegt ſich eine bald mehr bald weniger geſunde Baumvegetation anzuſiedeln und man findet oft in der Lüneburger Haide Gruppen von pracht— vollen Eichen, welche, eins jener behaglich freundlichen, ſtrohgedeck— ten Häuſer beſchattend, und gehoben durch den Hintergrund der in eigenthümlichen rothen Farbentinten ſchimmernden Haide, einen hier gar nicht vermutheten landſchaftlichen Reiz entwickeln. Dieſen großen Mooren reihen ſich noch die Torfmoore einiger höheren Ge— birge des Brockens, der Röhn, des Fichtelgebirges und ſo weiter und die ſogenannten Mooſe von Süddeutſchland und der Schweiz an. In einem andern Clima, in einem andern Vegetationsgürtel eigen ſich analoge Verhältniſſe, den äußerſten Norden Europas Die Aeſthetik der Pflanzenwelt. 987 durchziehend. Wie dort die dürre Sandhaide mit den waſſerdurch— tränkten Mooren, ſo wechſeln auch hier in mannigfacher Weiſe trockene waſſerleere Streifen mit ſumpfigem Boden. Aber wir befin— den uns hier in Wahlenbergs Reich der Flechten und der Mooſe. Die dürren Stellen überziehen in unabſehbaren Flächen krauſe, trockene, bleigraue Flechten, unter denen das Rennthier ſeine dürftige Nahrung ſucht und auf dem tiefdurchnäßten, auch nicht die leichteſten Schritte tragenden Boden täuſcht eine üppige Moosvege— tation von Ferne mit dem Schein einer lachenden Wieſe. Hier ver— ſinkt der unvorſichtige Wanderer in das von den Mooſen mehr ver— ſteckte als verdrängte Waſſer, während auf jenen Flechtenhaiden, Tundras nennt ſie der Lappländer, der ſonnendurchglühte Boden im Sommer jeden Schritt zur Qual macht. So wie in den Waldformationen die ſüdamericaniſchen Ca— tingas den nordifchen Laubholzwäldern, fo ſtehen auch unter den Ebenen die Lanos von Venezuela den ruſſiſchen Steppen gegenüber. In jenen, von welchen A. v. Humboldt ein ſo le— bensvolles Bild entworfen, tritt der Schlaf der Natur im Sommer in der heißen, dürren Jahreszeit ein, die Vegetation vertrocknet und zerfällt zu Staub, den Boden nackt zurücklaſſend, das animaliſche Leben der Vierfüßler flieht das abgeſtorbene Land, während die Crocodile und Boas ſich in den Schlamm der allmälig verſie— genden Steppenflüſſe einwühlen und mit dieſem zugleich erſtarren, bis der erſte Regenguß, der eine friſche, jugendliche Vegetation auf dem öden Boden hervorzaubert, auch ſie wieder zur Auferſtehung ruft. Anders in den Steppen, welche ſich vom ſüdlichen Rußland nach Oſten durch das mittlere Aſien fortziehen. Nur erwähnen will ich der ſeltſſamen Salzſteppen, die im Sommer oft wie von friſch— gefallenem Schnee durch ausgewittertes Salz glänzen und eine ganz eigenthümliche Vegetation nähren. Dagegen kann ich es mir nicht verſagen, noch kurz eine Schilderung der, wenn auch dürftig bevöl— kerten, doch bewohnten tartariſchen Steppen am Pontus zu ver— ſuchen. Nicht überall bieten dieſelben eine gleichmäßige Fläche dar, . 25* 588 Vierzehnte Vorleſung. die vielmehr durch die Durrina's, niedrige Buſchparthien aus Schlehen, Weißdorn, Hagebutten und Brombeeren un- terbochen wird. Aber auch die übrige Vegetation wird noch von den Kleinruſſen, nach ihrem Nutzen für die Viehzucht, in zwei weſentlich verſchiedene Gruppen getheilt, in die Truwa“, den Raſen, und den „Burian“, die ſtruppigen hochaufſchießenden Kräuter, die we— gen ihres holzigen Stengels keine Nahrung für die Steppenheerden find. Unter den Gräſern bildet das Federgras“ die Haupt: pflanze. Gleich nach der Blüthe ſtreckt es ſeine langen zartgefieder— ten Grannen, den feinſten Maraboutfedern nicht unähnlich, aus der Aehre heraus, ſich weit über die Büſchel ſchmaler, dürrer Grasblätter erhebend. Je älter die Steppe, deſto höher entwickelt ſich der holzige Wurzelſtock über den Boden, zum Aerger der mähen— den Bauern. Wer nur wenige Meilen in der Steppe gereiſt iſt, hört ſchon das Wort Burian. Auf den Burian ſchilt der Hirt mit feinen Rindern und Pferden, über den Burian jammert der Ader- bauer, der Burian iſt der Fluch des Gärtners und der Troſt der Köchin. Denn bei dem für gewiſſe Pflanzen, wir nennen ſie Un— kräuter, eigenthümlich fruchtbaren Boden der Steppe ſchießen dieſe bis zu einer unglaublichen Höhe heran, wo irgend die Cultur den feſten Boden, den ſie meiden, gelockert hat und ihr einziger Nutzen iſt der, daß ſie im Herbſte abgedörrt zugleich das einzige Brennma— terial in dieſer öden Gegend liefern. Vor Allen zeichnen ſich, wie in den Pampas von Buenos-Ayres, auch hier die Diſteln aus, die bis zu einer Größe, Entwicklung und Verzweigung kommen, die in der That bewundernswürdig iſt. Oft ſtehen ſie kleinen Bäumen gleich neben den niedrigen Erdhütten des Landmanns, oft bilden ſie auf günſtigen Bodenſtellen ausgedehnte Gebüſche, ſelbſt den Reiter zu Pferde überragend, der in ihm rathloſer iſt, wie im Walde, da fie jeden Umblick verhindern und doch keinen Stamm darbieten, den man erklettern könnte. Neben der Diſtel erhebt ſich mannshoch der *) Scholkowoi Truwa (das Seidenkraut) in einigen Gegenden eien Federgras genannt, Stipa pennata. Die Nefetit der Pflanzenwelt. 389 Wermuth, untermiſcht mit der rieſenmäßigen Königskerze, dem „Steppenlicht“ der Kleinruſſen. Selbſt die kleine Schaafgarbe wird mehrere Fuß hoch und wird nicht gering geſchätzt, da ſie von dem bei ärmlichem Vorrath die Hitzkraft des Burian ſorgfältig prüfenden Bewohner als das beſte Brennmaterial geſchätzt wird. Von allen Pflanzen des Burian iſt aber die characteriſtiſchſte die, welche die Ruſſen „perekatipole““ den Spring insfeld, die deutſchen Coloniſten faſt noch bezeichnender die Windhexe“ nennen; eine dürftige Diſtelpflanze, zerſplittert ſie ihre Kraft in der Bildung zahl: reicher, dürrer, dünner Zweiglein, die ſich nach allen Seiten hin ausbreiten und ineinander verwirren. Bitterer als der Wermuth wird ſie auch im dürftigſten Hungerjahr von keinem Vieh berührt. Die Kuppeln, die ſie im Raſen bildet, werden oft drei Fuß hoch, ha— ben zuweilen 10 — 15 Fuß im Umfang und find aus lauter zarten dünnen Aeſtchen gewölbt. Im Herbſt fault der Stamm der Pflanze ab, die Zweigkugel trocknet zu einem großen federleichten Balle aus, den dann der Herbſtwind durch die Lüfte über die Steppe führt. Viele ſolcher Bälle fliegen oft auf einmal über die Ebene, mit einer Schnelligkeit, daß kein Reiter ſie einholen kann, bald hüpfen ſie in kurzen raſchen Sprüngen über den Boden, bald wirbeln ſie in großen Kreiſen übereinander wegkugelnd zu geſpenſtiſchem Reigen auf den Raſen fort, bald ſteigen ſie plötzlich vom Wirbel gefaßt zu hunder— ten hoch in die Luft. Oft häkelt ſich eine Windhexe an die andere, zwanzig andere geſellen ſich hinzu, die ganze rieſige und doch luftige Maſſe rollt vor dem pfeifenden Oſtwind dahin. — Man braucht wahrlich keine Felſenſchlünde, keine Bergwerke, oder heulende See— ſtürme, um Nahrung genug für den Aberglauben des Menſchen zu finden. — Ein gefährlicheres Leben erhält die Steppe, wenn ein Landmann „ſein Gehöfte gereinigt“, d. h. den Burian auf dem— ſelben und alle Reſte des durch die neue Erndte unbrauchbar gewor— denen alten Strohs und Heus mit den darin enthaltenen Mäuſen und anderem Ungeziefer in Brand geſteckt und dieſer das dürre Gras der Steppe ergriffen hat. Im gewöhnlichen Graſe fährt er wie eine 590 Vierzehnte Vorleſung. Schlange mit mäßiger Raſchheit dahin, hier ergreift er einen Bu- rianbuſch und mit gewaltigem Lärm, platzend und ziſchend lodert die Lohe hoch gen Himmel, dann, eine Strecke mit üppigem Feder: gras erreichend, zuckt ſie in zarten weißen Flammen auf, ſchwingt ſich mit ſchrecklicher Gewandtheit über das wogende Feld, die Millionen zarter Federchen in wenig Augenblicken verzehrend. Zuweilen, zwi⸗ ſchen zwei vegetationsentblößte Wege, oder zwiſchen Waſſerriſſe ein— geklemmt, zieht ſich die Flamme eng zuſammen, faſt dem Verſchwin⸗ den nah, dann plötzlich eine neue Dürrgrasfläche erreichend, gewinnt fie neue furchtbare Kräfte, in ein weites Rauch- und Feuermeer aus⸗ einandergehend, in welchem die höher und heller aufwirbelnden Feuerſäulen die unglückſeligen Stätten menſchlicher Wohnungen be— zeichnen. Auf unberechenbaren Kreuz- und Querwegen bewegt ſich ein ſolcher Steppenbrand oft acht und zehn Tage in einer Gegend umher, jedem veränderten Windzuge folgend, oft jedem noch ſo wohl überlegten Verſuch zur Flucht Hohn ſprechend. Endlich kommt ein Regen und das mächtige Element des Feuers unterliegt dem noch mächtigeren des Waſſers. Aber die Steppe iſt öde, der Vegetation beraubt, was die Flamme verſchonte war ohnehin ſchon als Opfer dem eiſigen Hauche des eindringenden Winters verfallen. Immer dichter und düſterer ziehen die Wolken heran, immer dichter fällt der Schnee und immer ſchneidender zieht der kalte Nord über die ſchutzloſe Fläche. Der ver— ſpätete Reiſende treibt haſtig ſeine Pferde zur angeſtrengteſten Eile. Silberne Streifen erheben ſich von der Ebene und ſteigen immer häufiger auf, der Wind fängt an zu heulen und zu ſauſen, die Luft erglänzt mehr und mehr von Kryſtallen des Schnees und endlich wird dies Alles eine dichte dunkle Maſſe, die in einer Richtung fortzieht, bis ſie vom Wirbelwinde gefaßt ſich im Kreiſe dreht, oder von den erhabenen Stellen der Steppe abprallt. Es iſt der Buran, der Steppenſturm; ſchon lange hat der entſetzte Führer feine Wahr— zeichen erkannt und mit verzweiflungsvoller Kraft auf die allmälig en Pferde gepeitſcht. Heftiger und ſchneller folgen ſich die — Die Aeſthetik der Pflanzenwelt. 391 Schneewirbel, in wehendem Schwindel alles umkreiſend und betäu— bend, jeder Gedanke an Orientirung muß aufgegeben werden und blindlings überläßt man ſich dem Zuge der Roſſe, die nun ſelbſt wie vom Wahnſinn gejagt durch die Ebene dahinfliegen. An dem Schlit— ten vorbei brauſt eine entſetzte Heerde und kaum erlaubt ein flüchti— ger Blick, durch den dichten Schneeſtaub zu erkennen wie ſie blind— lings in ihrer Angſt einen Felſenabhang hinunterſtürzt, an deſſen Fuße im nächſten Frühling ihre zerſchmetterten Gebeine bleichen werden. Jede Hoffnung ſcheint verloren und der Untergang gewiß, ſchon bricht die Nacht herein, da ermattet der Sturm; die aufgejagten Schneemaſſen ſenken ſich und plötzlich, wie er entſtanden, legt ſich auch nach kaum halbtägiger Dauer der Buran wieder, der Luftkreis wird noch einmal durch das abendliche Dämmerlicht erhellt und der er— ſchöpfte Reiſende ſieht vor ſich eine menſchliche Wohnung. ietet ſie auch nur geringe Entſchädigung für die ausgeſtandenen Beſchwer— den, ſo erlaubt ſie doch wenigſtens den Schlummer. Ein freund— licher Traum trägt den müden Wanderer in die ferne Heimath. An den freundlichen Ufern des ſanft dahingleitenden Fluſſes wandert er durch üppige Wieſen, der Abend ſenkt ſich herab auf die erwärmten Fluren. Feuchte Thaunebel erheben ſich erquickend vom Boden und ziehen durch die Ufererlen und hüllen ſie in ihren Schleier, Erlkönig und ſeine Töchter umſchweben in neckiſch-wechſelndem Spiel der Ge— ſtalten die altersgrauen Stämme der Weiden. Da bebt durch die duftige Abendluft ein leiſer Klang. Die Glocke des heimathlichen Dorfes ruft den Heimgekehrten nach raſtloſem Umherſtreifen in der großen Gotteswelt, nach reichen Anſchauungen, anregenden Aben— theuern, ſpannenden Mühſeligkeiten und wunderbaren Genüſſen zu— rück zur Ruhe, — in das trotz alles Dazwiſchenliegenden unvergeſſene und unvergeßliche Paradies der Kindheit, in das Elternhaus, in die Arme der Mutter. — * 7 = Druck mer Breitkopf und Härtel in 15 2 9 * 6 j AP n uk E 5 NEW YORK BOTANICAL — « = 2 € > 2 ; LIBRARY NEW YORK ) 5 e N * Nar be, * Satt bing. * EFrudchtknoten. * af aH »Durchschnitt, LIBRARY NEW YORK BOTANICAL GARDEN 8 In 3 5185 00110 82 — EEE "el R