Brigham Young University Clark Library

Ivan Volkoff &

Adelheid A. Von Hohenlohe

Die psychischen Fähigkeiten der Ameisen

and. einiger anderer Insekten;

mit einem Anhang

über die Eigentümlichkeiten des Geruchsinnes bei jenen Tieren.

*

VORTRÄGE

gehalten den 13. August 1901 am V. Internationalen Zoologen -Kongress zu Berlin

von

DR AUGUST FOREL

vormals Professor der Psychiatrie an der Universität Zürich.

MÖNdiEN 1901

ERNST REINHARDT, VERLAGSBUCHHANDLUNG

Maximiliansplatz 3.

fc Die psychischen Fähigkeiten der Ameisen

und einiger anderer Insekten ;

mit einem Anhang

über die Eigentümlichkeiten des Geruchsinnes bei jenen Tieren.

VORTRÄGE

gehalten den 13. August 1901 am V. Internationalen Zoologen - Kongress zu Berlin

von

DR AUGUST FOREL

vormals Professor der Psychiatrie an der Universität Zürich.

M0N(fiEN 1901

ERNST REINHARDT, VERLAGSBUCHHANDLUNG

Maximiliansplatz 3.

Hochgeehrte Versammlung!

Heute soll ich Ihnen über die Ameisenseele sprechen, d. h. über die Seele kleiner Tiere, die einerseits weit entfernt von unserer Organisation stehen, andererseits mit uns durch so- genannte Convergenz eine eigentümliche Verwandtschaft, das soziale Gemeinwesen, besitzen. Mein Thema erfordert aber die Discussion so vieler complizirter Fragen und meine Zeit ist so kurz, dass ich gezwungen bin, die Arbeiten Anderer als bekannt vorauszusetzen (vor allem die Grundzüge der Psycho- logie, ferner die Arbeiten von P. Huber, Wasmann, von Buttel- Reepen, Darwin, Romanes, Lubbock, meine „Fourmis de la Suisse“ u. a.m.) Da die Sinnesfunctionen die Grundlage der vergleichen- den Psychologie bilden, verweise ich ferner auf eine Reihe von Aufsätzen (Sensations des Insectes), die ich neuerdings, 1900 1901, in der Rivista di Biologia generale von Dott. P. Celesia publizirt habe, und in welchen ich mich mit ver- schiedenen Autoren, unter Anderen mit Plateau und Bethe, auseinandergesetzt habe.

In neuerer Zeit haben Bethe, Uexküll und Andere die psychischen Fähigkeiten der wirbellosen Tiere in Abrede ge- stellt. Sie erklären die letzteren für Reflexmaschinen, indem sie sich auf den sogenannten psycho-physiologischen Parallelismus stützen, um die Unmöglichkeit der Erkennung ihrer Seelen- qualitäten darzuthun. Sie glauben dagegen die mechanische Gesetzmässigkeit ihrer Handlungen beweisen zu können, nehmen jedoch unbekannte Kräfte an, da wo die Sache nicht klappt. Sie lassen die Seele bei den Wirbeltieren entstehen, während die alten Carthesianer sämmtliche Tiere, im Gegensatz zum Menschen, für seelenlose Maschinen erklärten.

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Der Jesuitenpater Wasmann und von Buttel-Reepen wollen dagegen den inductiven Analogieschluss als naturwissenschaft- liche Methode in seinen Rechten bestehen lassen. Mit Lubbock. dem Vortragenden, und Anderen verteidigen sie die vergleichende Psychologie der Wirbellosen und weisen die psychischen Eigen- schaften derselben überzeugend nach. Wasmann schätzt jedoch die geistigen Fähigkeiten höherer Wirbeltiere sehr gering und spricht denselben, nach meiner Ansicht mit Unrecht, das Ver- mögen aus gemachten Erfahrungen auf neue Verhältnisse zu schliessen (das nennt er einzig Intelligenz) gänzlich ab; der Mensch allein habe, neben der tierischen, noch eine unsterbliche (von den Naturgesetzen unabhängige ?) Seele.

Es handelt sich nun darum, sich über den vieldeutigen Begriff „psychisch“ zu verständigen, um Wortstreiten zu ent- gehen und nicht Theologie im Sinn des Götheschen Mephi- stopheles zu treiben. Zwei Begriffe werden im Wort „psychisch“ kritiklos vermengt: 1) Der abstrakte Begriff der „Introspection“ oder des Subjectivismus, d. h. der Beobachtung von innen, die jeder Mensch nur in und von sich selbst kennt und kennen kann. Für diesen Begriff wollen wir das Wort „Bewusstsein“ reser viren. 2) Das „Thätige“ in der Seele, d. h. dasjenige, was den Inhalt des Bewusstseinsfeldes bedingt. Das hat man schlecht- weg zum Bewusstsein im weiteren Sinne gerechnet und daraus ist die Confusion entstanden, die das Bewusstsein als Seelen- eigenschaft betrachtet. Am anderen Orte habe ich „Neurokym“ die moleculare Thätigkeits welle der Nervenelemente genannt.

Wir können gar nicht vom Bewusstsein anderer Menschen sprechen, ohne einen Analogieschluss zu machen; ebenso wenig sollten wir vom Bewusstsein vergessener Dinge reden. Das Feld unseres Bewusstseins wechselt aber beständig. Dinge erscheinen in demselben und verschwinden aus demselben. Mittelst des Gedächtnisses können viele Dinge leichter oder schwerer, mehr indirekt, in das Bewusstsein durch Association zurückgerufen werden, die momentan nicht bewusst zu sein scheinen. Sowohl die Erfahrung der Selbstbeobachtung, wie der

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Hypnotismus lassen uns ferner experimentell erkennen, dass viele Dinge, die uns unbewusst zu sein scheinen, doch bewusst sind oder waren. Ja, gewisse Sinneseindrücke bleiben im Moment ihres Geschehens unserem gewöhnlichen Bewusstsein oder Oberbewusst- sein unbewusst, können aber durch Suggestion nachträglich in dasselbe gerufen werden. Ganze Ketten von Hirnthätigkeiten (die Träume, der Somnambulismus oder zweites Bewusstsein) sind für gewöhnlich aus dem Oberbewusstsein scheinbar ausge- schaltet, können aber durch Suggestion nachträglich mit dem erinnerlichen Inhalt desselben associirt werden. In allen diesen Fällen erweist sich somit das scheinbar Unbewusste als den- noch bewusst. Genannte Erscheinungen haben vielfach zu mystischen Auslegungen geführt. Eine sehr einfache Annahme lässt sie jedoch erklären. Nehmen wir an, und dies ent- spricht der Beobachtung dass die Felder der introspicirten Gehirnthätigkeiten durch sogenannte Associations- oder Dis- sociationsprozesse begrenzt sind, d. h. dass wir sie nicht alle zugleich miteinander aktiv verknüpfen können, und dass somit alles dasjenige, was uns unbewusst erscheint, in Wirklichkeit auch ein Bewusstsein d. h. einen subjectiven Reflex hat, so ergiebt sich Folgendes: Unser gewöhnliches Bewusstsein im Wachzustand oder Oberbewusstsein ist nur der innere subjective Reflex der miteinander enger verknüpften Thätigkeiten der Aufmerksamkeit, d. h. der intensiver concentrirten Maxima der Grosshirn-Thätigkeiten während wir wach sind. Es giebt aber andere, teils vergessene, teils nur lose oder indirect mit dem Inhalt des Oberbewusstseins verknüpfte Bewusstseine, die man „Unterbewusstseine“ im Gegensatz zu diesem Oberbewusst- sein nennen kann. Dieselben entsprechen anderen, weniger concentrirten oder anders associirten Grosshirnthätigkeiten. Wir müssen ferner für subcorticale (niedrigere) Hirnzentren weitere, noch viel entfernter verknüpfte Unterbewusstseine vermuten u. s. f.

Es ist leicht festzustellen, dass unser psychisches Thätig- keitsmaximum, die Aufmerksamkeit, jeden Augenblick von einer

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Wahrnehmung oder einem Gedanken zum anderen wandert. Jene Objecte der Aufmerksamkeit, als Gesichts- oder Gehör- bilder, Willensimpulse, Gefühle oder abstracte Gedanken, spielen sich dies steht ausser Zweifel in verschiedenen Gehirn- teilen oder Neuronencomplexen ab. Man kann somit die Auf- merksamkeit mit einer funktionellen, im Gehirn wandernden Macula lutea, mit einem wandernden Maximum der intensivsten Neurokymthätigkeit vergleichen. Ebenso fest steht es aber, dass auch andere, ausserhalb der Aufmerksamkeit stehende psychische Erscheinungen, wenn auch schwächer, so doch bewusst werden. Endlich rechnet man bekanntlich alles einmal Bewusstgewesene, wenn auch bald mehr, bald wenigerVergessene, zum „Psychischen“, d. h. zum Bewusstseinsinhalt. Theoretisch scheint dies bei ober- flächlicher Betrachtung zu klappen. Aber in That und Wahrheit giebt es eine Unzahl Vorgänge, die nur kaum wahrnehmbar einen Augenblick schwach bewusst sind, um wieder für immer aus dem Bewusstsein zu verschwinden. Hier, und nicht bei den stark und wiederholt bewussten „Psychomen“ man verzeihe dieses Wort, mit welchem ich einfach alle und jede psychische Einheit der Kürze halber bezeichnen möchte muss man den Uebergang des Bewussten zum scheinbar Unbewussten suchen. Die Schwäche des Bewusstseins ist aber da auch nur scheinbar, indem der innere Reflex jener Vorgänge im Inhalt einer stark abgelenkten Aufmerksamkeit nur schwach wieder- klingen kann. Dieses beweist also keineswegs, dass solch halb- bewusste Vorgänge an und für sich so schwach bewusst sind, denn ein Blitz der Aufmerksamkeit genügt, um sie nach- träglich klar bewusst zu gestalten. Sie verlieren nur infolge Ablenkung immer mehr den Zusammenhang mit der Kette der Intensitätsmaxima, die für gewöhnlich den erinnerlichen Inhalt unseres Oberbewusstseins bilden. Je schwächer aber mit dem Letzteren verknüpft, desto schwerer werden solch halbbewusste Vorgänge später wieder durch Erinnerung mit der Hauptkette neu associirt. So alle Träume, alle Nebenumstände unseres Lebens, alle automatisirten Gewohnheiten, alle Instincte. Giebt

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es aber zwischen dem scharf Bewussten und dem „Unbewussten“ ein halbbewusstes Hirnleben, dessen Bewusstsein nur infolge Ablenkung unserer gewöhnlichen Erinnerungskette uns so schwach erscheint, so ist dies ein unzweideutiger Fingerzeig dafür, dass ein Schritt weiter den Best des Zusammenhanges völlig zerreissen muss, ohne dass wir deshalb das Becht haben diesen im Nebel für unser Oberbewusstsein verschwindenden Gehirnthätigkeiten das Bewusstsein an und für sich abzu- sprechen. Diesen, d. h. den sogenannten unbewussten Hirn- vorgängen, wollen wir somit der Kürze und Einfachheit halber „Unterbewusstseine“ zusprechen.

Ist diese Annahme richtig, wofür alles spricht, so hat uns das Bewusstsein gar nicht weiter zu beschäftigen. Es existirt gar nicht an und für sich, sondern nur durch die Gehirnthätigkeit, dessen innerer Beflex es ist. Schwindet diese, so schwindet es mit ihr. Ist sie complizirt, so ist es auch complizirt. Ist sie einfach , so ist es entsprechend einfach. Ist sie dissociirt, so ist das Bewusstsein ebenfalls dissociirt. Das Bewusstsein ist nur ein abstracter Begriff, dem bei Weg- fall der „bewussten“ Hirnthätigkeit jede Wesenheit abgeht. Die im Spiegel des Bewusstseins erscheinende Gehirnthätigkeit erscheint darin, also subjectiv, als summarische Synthese, und zwar wächst die synthetische Summirung mit den durch Ge- wohnheit und Uebung gewonnenen höheren Complicationen und Abstractionen, sodass früher bewusste Details (z. B. beim Lesen) später unterbewusst werden, und das ganze als psychische Ein- heit erscheint.

Die Psychologie kann sich demnach nicht darauf beschränken, mittelst der Introspection die Erscheinungen unseres Oberbe- wusstseins allein zu studiren, denn sie wäre dann nicht möglich. Jeder Mensch hätte nur die Psychologie seines Subjectivismus, nach Art der alten scholastischen Spiritualisten, und müsste nachgerade die Existenz der Aussenwelt samt seiner Mitmenschen in Zweifel ziehen. Die Analogieschlüsse, die naturwissenschaft- liche Induction, die Vergleichung der Erfahrungen unserer fünf

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Sinne beweisen uns aber die Existenz der Aussenwelt, unserer Mitmenschen und der Psychologie der letzteren. Ebenso beweisen sie uns? dass es eine vergleichende Psychologie, eine Psychologie der Tiere giebt. Endlich ist unsere eigene Psychologie, ohne Rück- sichtnahme auf unsere Gehirnthätigkeit, ein unverständliches, von Widersprüchen wimmelndes Stückwerk, das vor allem dem Gesetz der Erhaltung der Energie zu widersprechen scheint.

Aus diesen doch recht einfachen Ueberlegungen geht weiter hervor, dass eine Psychologie, welche die Gehirnthätigkeit ignoriren will, ein Unding ist. Der Inhalt unseres Oberbe- wusstseins ist beständig von unterbewussten Hirnthätigkeiten beeinflusst und bedingt. Ohne dieselben kann es gar nicht verstanden werden. Andererseits aber begreifen wir erst dann den ganzen Wert und den Grund der complizirten Organisation unseres G-ehirns, wenn wir dieselbe durch die innere Beleuch- tung unseres Bewusstseins betrachten, und wenn wir diese Beobachtung durch die Vergleichung der Bewusstseinsinhalte unserer Mitmenschen bereichern, wie uns dies durch die Laut- und Schriftsprache mittelst sehr ins Detail gehender Analogie- schlüsse ermöglicht wird. Die Seele muss daher zugleich von innen und von aussen studirt werden. Ausser uns selbst kann ersteres zwar nur durch Analogieschluss geschehen ; aber dieses einzige Mittel, das wir haben, müssen wir benützen.

Es hat jemand gesagt, die Sprache sei dem Menschen nicht etwa zum Aeussern, sondern zum Verbergen seiner Gedanken gegeben worden. Ausserdem legen die verschiedenen Menschen bekanntlich in aller Ehrlichkeit den Wörtern sehr verschiedene Bedeutung bei. Ein Gelehrter, ein Künstler, ein Bauer, ein Weib, ein Kind, ein wilder Wedda aus Ceylon deuten gleiche Worte ganz verschieden. Aber auch der gleiche Mensch deutet dieselben, je nach seiner Stimmung und je nach Zusammen- hang verschieden. Daraus ergiebt sich für den Psychologen und besonders für den Psychiater ich spreche hier als solcher dass die Mimik, die Blicke, die Handlungen eines Menschen sein wahres Innere vielfach besser verraten, als das, was er

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sagt. Somit bedeuten auch die Geberden und Handlungen der Tiere für uns eine „Sprache“, deren psychologischer Wert nicht unterschätzt werden darf. Ferner haben uns die Anatomie, die Physiologie und die Pathologie des menschlichen und des tierischen Gehirnes den unwiderleglichen Beweis geliefert, dass unsere Seeleneigenschaften von der Qualität, der Quantität und der Integrität des lebenden Gehirnes abhängen und mit dem- selben eins sind. Es giebt so wenig ein lebendes Gehirn ohne Seele, als eine Seele ohne Gehirn, und jeder normalen oder pathologischen Aenderung der Seelenthätigkeit entspricht eine normale oder pathologische Aenderung der Neurokymthätigkeit des Gehirnes, d. h. seiner Nervenelemente. Was wir intro- spectiv im Bewusstsein wahrnehmen ist somit Hirnthätigkeit.

Wir nehmen daher bezüglich des Verhältnisses der reinen Psychologie (Introspection) zur Physiologie des Gehirns (Be- obachtung der Gehirnthätigkeit von aussen) die Theorie der Identität als gegeben an, solange die Thatsachen damit überein- stimmen. Mit dem Wort Identität oder Monismus sagen wir, dass jede psychologische Erscheinung mit der ihr zu Grunde liegenden Molecular- oder Neurokymthätigkeit der Hirnrinde ein gleiches reelles Ding bildet, das nur auf zweierlei Weise betrachtet wird. Dualistisch ist nur die Erscheinung, monistisch dagegen das Ding. Wäre dem anders, so gäbe es, durch das Hinzutreten des rein Psychischen zum Körperlichen oder Cerebralen, ein Plus an Energie, das dem Gesetz der Erhaltung der Energie widersprechen müsste. Letzteres ist jedoch niemals erwiesen worden und würde allen Erfahrungen der Wissen^ schaft Hohn sprechen. In den Erscheinungen unseres Hirn- lebens, so wunderbar sie auch sind, liegt absolut nichts, das den Naturgesetzen widerspricht und die Herbeirufung einer mystischen, übernatürlichen „Psyche“ berechtigt.

Aus diesem Grunde spreche ich von monistischer Identität und nicht von psycho-physiologischem Parallelismus. Ein Ding kann nicht mit sich selbst parallel sein. Freilich wollen die Psychologen moderner Schule damit nur einen angeblichen

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Parallelismus der Erscheinungen bezeichnen und Monismus oder Dualismus unpräjudicirt lassen. Da jedoch viele centrale Nervenvorgänge weder der physiologischen noch der psycho- logischen Beobachtung zugänglich sind, sind die uns zugäng- lichen Erscheinungen der beiden Forschungsmethoden gar nicht parallel, sondern sehr ungleich von einander durch Zwischen- prozesse entfernt. Indem ferner die dualistische Hypothese naturwissenschaftlich unhaltbar ist, ist es durchaus geboten von der Identitätshypothese auszugehen.

Es ist doch sonnenklar, dass das gleiche Geschehen am Nervensystem eines Tieres, meinetwegen an meinem Nerven- system, von mir selbst, aber erstens mittelst physiologischer Methoden von aussen beobachtet, und zweitens sich selbst in meinem Bewusstsein reflectirend mir total anders erscheinen muss, und es wäre ein vergebliches Bemühen die physiologische Qualität in die psychische, oder umgekehrt, überführen zu wollen. Wir können ja nicht einmal eine psychische Qualität in die andere mit Bezug auf die von beiden versinnbildlichte Realität überführen, wie z. B. den Ton, die Gesichts- und die Tastempfindung, welche eine gleiche tiefe Stimmgabelschwingung auf unsere drei entsprechenden Sinne macht. Dennoch dürfen wir inductiv schliessen, dass es die gleiche Wirklichkeit, die gleiche Schwingung ist, die uns auf diese drei qualitativ total verschiedenen Arten versinnbildlicht wird, d. h. uns diese drei verschiedenen, in einander nicht überführbaren psychischen Eindrücke verursacht. Letztere spielen sich immerhin in verschiedenen Hirnteilen ab und sind natürlich als Eindrücke im Gehirn reell von einander verschieden. Von psycho-physio- logischer Identität sprechen wir nur mit Bezug auf den, die uns bekannten Bewusstseinserscheinungen direct bedingenden corticalen Neurokym einerseits und den betreffenden Bewusst- seinserscheinungen andererseits .

In der That kann eine dualistisch gedachte Seele nur energielos oder energiehaltig sein. Ist sie energielos gedacht (Wasmann), d. h. vom Energiegesetz unabhängig, so sind wir

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bereits beim Wunderglauben angelangt, der die Naturgesetze nach Belieben aufhebt und stören lässt. Ist sie energiehaltig gedacht, so treibt man damit nur Wortspiel, denn eine dem Energiegesetz gehorchende Seele ist nur ein willkürlich aus dem Zusammenhang gerissener Teil der G-ehirnthätigkeit, dem man nur „seelisches Wesen“ verleiht, um es ihm gleich wieder wegzudecretiren. Energie kann nur qualitativ, nicht quantitativ umgewandelt werden. Eine dualistisch gedachte Seele müsste somit, wenn sie dem Energiegesetz gehorchen würde, voll- ständig in eine andere Energieform übergehen können. Dann ist sie aber nicht mehr dualistisch, d. h. nicht mehr von den Hirnthätigkeiten wesentlich verschieden.

Bethe, Uexküll und andere fordern, dass man sich an die physiologische Methode halte, weil sie allein exact sei, und sich auf das Wägbare und Messbare beschränke. Auch dies ist ein seit Urzeiten widerlegter Irrtum. Exact ist nur die reine Mathe- matik, weil sie nur Gleichungen abstracter Zahlen berechnet. Die concreten Naturwissenschaften können nie exact sein und können die Inductionsmethode des Analogieschlusses so wenig entbehren, wie ein Baum seine Wurzeln. Bethe und Uexküll scheinen nicht zu wissen, dass unser Wissen nur ein relatives ist. Sie fordern eine absolute Exactheit und begreifen nicht, dass damit nichts zu erreichen ist. Die Physiologie hat zu- dem keinen Grund sich der besonderen Exactheit ihrer Metho- den und Resultate zu rühmen.

Obwohl wir wissen, dass sich unsere ganze Psychologie als Thätigkeit unseres Grosshirnes in Verbindung mit der Thätigkeit minderwertigerer Nervencentren, der Sinne und der Muskeln abspielt, wird dieselbe zu didactischen Zwecken in Psychologie der Erkenntnis (Intelligenz), des Gefühls und des Willens eingeteilt. Diese Einteilung hat eine relative anatomisch- physiologische Grundlage. Das Erkennen beruht zunächst auf der Verarbeitung der Sinneseindrücke durch das Gehirn; der Wille stellt die psycho- oder cerebrofugalen Resultanten der Erkenntnisse und Gefühle mit ihrer schliesslichen Leitung auf das

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Muskelsystem dar. Die Gefühle bedeuten allgemeine Erregungs- zustände centraler Natur, welche mit Elementen der Erkenntnis und mit cerebrofugalen Trieben verbunden sind, besonders durch erstere differenzirt und verfeinert werden, aber tief hereditär phylogenetisch bedingt und relativ unabhängig sind. Beständig findet eine Wechselwirkung jener drei Gruppen von Hirnthätig- keiten auf einander statt. Die Sinneseindrücke wecken die Aufmerksamkeit : diese fördert Bewegungen ; letztere rufen neue Sinneseindrücke hervor und fördern eine active Wahl unter denselben. Beide bringen Schmerz- und Lustgefühle zustande, welche wiederum Abwehr-, Flucht- oder Begierde-Bewegungen hervorrufen und neue Sinneseindrücke zustande bringen, und so fort. Anatomisch sind wenigstens die Sinnesbahnen zum Gehirn und ihre corticalen Centren von den Centren der Willensbahnen zu den Muskeln scharf gesondert. Weiter im Grosshirn stossen jedoch alle drei Gebiete in vielen Rinden- neuronen zusammen.

In uns selbst können wir ausserdem in den drei genannten Gebieten alle Varianten und Grade sogenannter psychischer Dignitäten vom einfachsten Reflex bis zu den feinsten geistigen Höhen beobachten. Die Gefühle und Triebe, die mit der Selbst- erhaltung (Hunger, Durst, Angst) und mit der Fortpflanzung (sexuelle Liebe und Zubehör) Zusammenhängen, stellen in uns das Gebiet des altvererbten, tief phyletisch fixirten Instinct- lebens dar. Jene Instincte werden immerhin durch die Inter- ferenz höherer Grosshirnthätigkeiten teilweise modificirt und im Zaum gehalten. Die ungeheure Masse Hirnsubstanz, welche jedoch beim Menschen in keiner directen Beziehung zu den Sinnen und den Muskeln steht, erlaubt nicht nur eine enorme Aufspeicherung von Eindrücken und eine unendliche Mannig- faltigkeit von motorischen Innervationen, sondern vor allem gewaltige Combinationen jener Energien unter einander mittelst Wechselwirkungen und Weckungen alter sogenannter Erinne- rungsbilder durch neue Eindrücke. Im Gegensatz zum zwangs- mässigen, gesetzlichen Geschehen der tief phyletisch vererbten

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Automatismen habe ich für jene auf actuellen Wechselwirkungen von Thätigkeiten im Grosshirn beruhenden Combinationen und individuellen Adaptationen die Bezeichnung „plastisch“ ge- braucht. Ihr höchster und feinster Ausdruck ist die plastische Phantasie, sowohl im Gebiet der Erkenntnis, wie im Gebiet des Gefühls, oder in beiden vereinigt. Im Gebiet des Willens bildet die feinste plastische Anpassungsfähigkeit, gepaart mit Ausdauer und Festigkeit, besonders wenn sie mit Phantasie ver- bunden ist, die höchste geistige Stufe, welche fein und lang vorbereitete, tief durchdachte Entschlüsse allmälig im Lauf von vielen Jahren vollführt. Die plastische geniale Combina- tionsgabe steht also viel höher als die einfachere plastische Anpassungsfähigkeit.

Der Gegensatz zwischen Automatismus und Plasticität der Gehirnthätigkeit ist jedoch nur ein relativer und abgestufter. In den verschiedenen Instincten, auf welche wir mit unserem Grosshirn, d. h. mit unserem Willen mehr oder weniger ein- wirken können, wie Schlucken, Athmen, Essen, Trinken, Ge- schlechtstrieb, Mutterliebe, Eifersucht, sehen wir Abstufungen zwischen zwangsmässiger Vererbung und plastischem An- passungsvermögen, ja sogar grosse individuelle Schwankungen je nach der Intensität der entsprechenden erblichen Anlage.

Nun ist es zweifellos, dass derjenige Pithecanthropus oder das verwandte Wesen, dessen Gehirn gross genug wurde, um aus Onomatopceen, Interjectionen u. dgl. allmälig die Grund- lage einer Lautsprache zu bilden, dadurch ein mächtiges Mittel gewann, um sein Gehirn auszunutzen. Erst recht gewann es der Mensch durch die Schriftsprache. Beide haben den ab- stracten, durch Worte symbolisirten Begriff als höhere Stufe der Allgemeinvorstellung ausgebildet. Alle diese Dinge geben dem Menschen einen colossalen Vorsprung, da er sich so auf die Schultern der geschriebenen Encyclopädie seiner Vorgänger stellen kann. Das fehlt allen heute lebenden Tieren. Um die Menschenseele mit der Tierseele zu vergleichen, muss man daher nicht den Dichter oder den Gelehrten, sondern den Wedda

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oder wenigstens den Analphabeten nehmen. Diese Leute sind in ihrem Denken sehr einfach und äusserst concret, ähnlich wie Kinder und Tiere. Die Thatsache, dass man einem Chimpanzegehirn die Symbolik der Sprache nicht beibringen kann, beweist nur, dass es dazu noch nicht genügend ent- wickelt ist. Rudimente davon sind ja vorhanden. Die „Sprache“ der Papageien ist natürlich keine Sprache, da sie nichts sym- bolisirt. Dagegen giebt es bei Tieren phyletisch, d. h. erblich instinctiv fixirte Laute und Geberden, welche ebenso instinctiv verstanden werden. Diese instinctiven Tiersprachen sind auch bei Insecten sehr verbreitet und ausgebildet ; sie sind für jede Art erblich fixirt. Endlich kann man bei höheren Tieren durch Dressur eine gewisse mimische und acustische conventioneile Sprachsymbolik ausbilden, indem man die Anlagen jeder Tier- art dazu benutzt. So kann man dem Hund lehren auf be- stimmte Laute oder Zeichen in einer gewissen Art zu reagiren, was man z. B. einem Fisch oder einer Ameise nicht lehren kann. Der Hund versteht dann das Zeichen, natürlich nicht mit den Reflexionen eines Menschenverstandes, sondern nach Hundegehirnmass. Noch viel weniger jedoch als der Wedda oder selbst der Neger seinen Nachkommen aus eigenem Triebe die angelernte Cultur übermitteln kann, ist ein solches Tier fähig eine für sein Gehirn so hohe Leistung, wie die angelernte Dressur, seinen Jungen zu lehren. Es fehlt ihm auch ganz der Trieb dazu. Jedes von Menschen dressirbare Gehirn kann jedoch auch durch die Erfahrungen seines eigenen Naturlebens vieles lernen und verwerten. Und sieht man genauer zu, so entdeckt man, dass auch niedrige Tiere einigermassen an dieses oder jenes „angewöhnt“, also dressirt werden können, obwohl dieses nicht bis zum Verstehen eines conventioneilen Symholes reicht.

Im Grossen und Ganzen arbeitet also das Centralnerven- system auf zweierlei Weise: automatisch und plastisch.

Der sogenannte Reflex und seine zeitlichen, zweckmässig angepassten, aber erblich fixirten Combinationen, welche auf

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gleiche Reize stets mehr oder weniger gleich antworten, bilden das Paradigma der automatischen Thätigkeit. Dieselbe täuscht uns durch ihr gesetzmässiges Geschehen eine „Maschine“ vor. Eine Maschine, die sich selbst erhält, aufbaut und fortpflanzt ist jedoch keine Maschine. Um sie zu bauen fehlt uns noch der Schlüssel des Lebens, das Verständnis der vermuteten, aber nirgends erwiesenen Mechanik des lebenden Protoplasmas. Alles deutet darauf hin, dass die instinktiven Automatismen durch Zuchtwahl und andere erbliche Factoren allmälig er- worben und erblich fixirt wurden. Aber es giebt noch sekundäre Automatismen oder Gewohnheiten, welche durch häufig wiederholte plastische Thätigkeiten entstehen und daher ganz besonders für das grosse Menschengehirn charak- teristisch sind.

Die Gewohnheiten folgen in allen psychischen Gebieten des Intellektes, des Gefühls und des Willens dem konstanten Gesetz der Uebung durch die Wiederholung. Durch Uebung automatisirt allmälig jede wiederholte plastische Gehirn- thätigkeit und wird zur „zweiten Natur“, d. h. dem Instinkt ähnlich. Der Instinkt ist aber zweifellos keine vererbte Ge- wohnheit, sondern phyletisch-erblich durch Zuchtwahl oder sonstwie allmälig zusammengesetzte, resp. angepasste, krystalli- sirte Intelligenz.

Die plastische Thätigkeit im Allgemeinen zeigt sich durch die Anschmiegungs- oder Anpassungsfähigkeit des Nerven- systems an neue, unerwartete Verhältnisse, sowie durch seine Fähigkeit innerliche neue Combinationen von Reizwellen (Neuro- kyme) zu bewerkstelligen. Bethe nennt es Modificationsver- mögen. Da er aber obwohl er den Anthropomorphismus zu bekämpfen vorgiebt selbst beständig anthropomorphisch vorgeht und von den Tieren menschliche Raisonnements fordert, um ihnen Plastizität (Modificationsvermögen) zuzuschreiben, übersieht er natürlich, dass die Anfänge plastischer Thätig- keit primordial sind, dass sie sogar bereits bei der Amcebe zu finden sind, die sich ihrer Umgebung anschmiegt. Mit dem

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Lceb’schen Wort „Tropismus“ ist die Sache nicht aus der Welt geschaffen.

Automatische und plastische Thätigkeiten, ob einfach oder complizirt, sind nur relative Gegensätze. Sie gehen in einan- der über (z. B. bei der Bildung der Gewohnheiten, aber auch bei den Instinkten). In ihren Extremen sind sie wie zwei End- äste eines Stammes, können jedoch durch sogenannte Oonvergenz der Lebensbedingungen zu ähnlichen Resultaten führen. (Sklaverei und Viehzucht bei der Ameise und dem Menschen.) Die automatische Thätigkeit lässt sich eher aus der plastischen ableiten als umgekehrt. Eines steht aber fest : da eine einiger- massen complizirte plastische Thätigkeit viele Möglichkeiten der Anpassung eines individuellen Gehirns zulässt, erfordert sie viel mehr Nervensubstanz, viel mehr Neuronen, hat auch mehr Widerstände zu überwinden, um etwas Complizirtes zu erreichen. Die Thätigkeit einer Amcebe gehört daher eher der Plastik der lebenden Molecüle, noch nicht derjenigen der zusammen arbeitenden Nervenelemente an; sie ist eigentlich als Zellenplastik mit dem Ausdruck „undifferenzirt“ zu bezeichnen.*) Bei gewissen Tieren bilden sich besonders complizirte Auto- matismen oder Instinkte, die mit relativ wenig individueller Plastizität und wenig Neuronen auskommen. Bei anderen um- gekehrt bleibt relativ viel Nervensubstanz zur individuellen Plastizität, bei wenig complizirten Instinkten übrig. Weitere Wesen haben fast nur niedrige Reflexcentren und sind an beiden Sorten complizirter Thätigkeiten äusserst arm. Andere endlich sind an beiden reich. Starke, sogenannte „erbliche Anlagen“ oder

*) Wenn ich mich auch ausdrücklich gegen die voreilige und un- gerechtfertigte Identification des Zellenlehens mit einer „Maschine“ ver- wahre, huldige ich deshalb keineswegs den sogenannten vitalistischen An- schauungen. Es ist durchaus möglich, dass es einst der Wissenschaft gelingen wird, aus unorganisirter Materie lebendes Protoplasma hervor- gehen zu lassen. Die Lebenskräfte sind sogar zweifellos aus physico- chemischen Kräften hervorgegangen. Aber das letztinstanzliche Wesen der letzteren und der angenommenen materiellen Atome ist bekanntlich metaphysisch, d. h. unerkennbar.

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unfertige Instinkte, bilden die phyletischen Uebergänge zwischen beiden Thätigkeiten und sind beim Menschen ungemein hoch entwickelt.

Laut- und besonders Schriftsprache gestatten dem Menschen überdies eine ungeheure Ausnutzung seines Gehirns, die uns die Tiere noch minderwertiger erscheinen lässt, als sie sind. Sowohl beim Tier, wie beim Menschen, wird der wahre Wert des Gehirnes durch die Dressur gefälscht, d. h. künstlich er- höht. Wir überschätzen den gebildeten Neger und den dressir- ten Hund und unterschätzen den Analphabeten und das wilde Tier.

Ich bitte diese lange Einführung zu verzeihen, aber wir mussten uns zuerst über die Berechtigung der vergleichenden Psychologie verständigen. Meine Aufgabe besteht nun noch darin, Ihnen zu zeigen, was wir für psychische Fähigkeiten bei Insekten nachweisen können. Naturgemäss wähle ich in erster Linie die mir am besten bekannten Ameisen. Sehen wir uns zunächst ihr Gehirn an.

Um den psychischen Wert eines Centralnervensystems zu bestimmen, muss man zunächst alle Nervencentren ausschalten, welche niedrigen Funktionen, vor allem der direkten Muskel- innervation und den Sinnesorganen als erste Centren dienen. Der Umfang solcher Neuronencomplexe hängt nicht von der Complikation der geistigen Arbeit, sondern von der zugehörigen Zahl der Muskelfasern, der Sinnesoberflächen und der Reflex- apparate, somit vor allem von der Grösse des Tieres ab. Complizirte Instinkte erfordern bereits die Dazwischenkunft von viel mehr plastischer Arbeit und kommen mit solchen Centren allein nicht aus.

Ein schönes Beispiel davon, dass complizirte geistige Combinationen ein grösseres, den Sinnes- und Muskelcentren übergeordnetes Nervenzentrum erfordern, bietet das Ameisen- gehirn. Die Ameisenkolonie besteht gewöhnlich aus drei In- dividuensorten: dem Weibchen (am grössten), dem kleineren Arbeiter und dem Männchen, das eher grösser ist als der Ar-

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beiter. Complizirte Instinkte und deutlich nachweisbare geistige Fähigkeiten (Gedächtnis, Plastizität etc.) haben vor allem die Arbeiter, viel weniger die Weibchen. Unglaublich dumm sind die Männchen, die Freund und Feind nicht unter- scheiden und ihren Weg zum Nest nicht finden können. Dennoch haben letztere sehr entwickelte Augen und Fühl- hörner, d. h. die beiden Sinne, die allein mit dem Gehirn- oder Oberschlundganglion Zusammenhängen und ihnen das Erhaschen der Weibchen im Fluge ermöglichen. Das Oberschlundganglion giebt keinen Muskeln ihren Ursprung. Diese Thatsachen er- leichtern sehr die Vergleichung des Denkorganes, d. h. des Gehirnes (corpora pedunculata) bei den drei Geschlechtern. Dasselbe ist sehr gross beim Arbeiter, viel kleiner beim Weibchen, fast ganz verkümmert beim Männchen, während Seh- und Riechlappen beim letzteren recht gross sind. Das grosse Gehirn des Ameisenarbeiters besitzt ausserdem eine ausserordentlich zellenreiche Rinde. Ich bitte die Tafel und ihre Erklärung zu vergleichen.

Es ist zwar in allerneuester Zeit Mode geworden, die Be- deutung der Gehirnmorphologie für die Psychologie und sogar für die Nervenphysiologie wieder herabzusetzen. Moden sollten jedoch die wahre Forschung nicht beeinflussen, besonders nicht so abgeschmackte. Man darf nur nicht die Anatomie sagen lassen, was sie nicht sagt.

Die Verletzung des Grosshirns hat übrigens bei den Ameisen ganz ähnliche Folgen, wie bei der Taube.

Ich verweise jetzt für die Einzelheiten der Sinnesempfin- dungen und der psychischen Eigenschaften der Insekten auf meine ausführliche anfangs erwähnte Arbeit: „Sensations des insectes“.

Die Insekten besitzen nachweislich Gesicht, Geruch, Ge- schmack und Tastsinn. Der Gehörsinn ist zweifelhaft. Mög- licherweise täuscht ein für feine Erschütterungen modifizirter Tastsinn Gehörsinn vor. Ein 6. Sinn ist nirgends nachzu- weisen. Ein für Lichtempfindung modifizirter photoderma-

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tischer Sinn muss als Varietät des Tastsinnes aufgefasst werden und kommt bei vielen Insekten vor. Optisch ist dieser Sinn keinesfalls. Bei Wasserinsekten geben Geruch und Geschmack wahrscheinlich etwas ineinander über (Nagel), da beide im Wasser gelöste chemische Stoffe unterscheiden.

Der Gesichtsinn der Netzaugen ist besonders für das Sehen der Bewegungen, d. h. der relativen Ortsveränderung des Netzhautbildes eingerichtet. Im Fluge lokalisirt er aus- gezeichnet grössere Raumabteilungen, giebt aber weniger scharfe Conturen der Objekte als unser Auge. Das Netzauge giebt nur ein einziges aufrechtes Bild (Exner), dessen Klarheit mit der Zahl der Facetten und der Convexität des Auges wächst. Exner gelang es, dieses Bild bei Lampyris zu photograph iren. Die Unbeweglichkeit der Augen lässt notwendig das Sehen ruhender Objekte von Seiten eines ruhenden Insektes bald ver- schwinden. Deshalb sind auch ruhende Insekten mittelst lang- samer Bewegungen so leicht zu fangen. Im Flug orientiren sich die Insekten im Raume durch die Netzaugen. Der Geruch zieht sie nur, wenn sie etwas wittern, in gewisse Richtungen an. Verklebt man die Netzaugen, so geht jede Möglichkeit der Orientirung in der Luft verloren. Durch Pigmentver- schiebungen können viele Insekten ihre Augen für den Tag und für die Nacht einstellen. Die Ameisen sehen das Ultra- violett mit ihren Augen. Die Bienen und Hummeln unter- scheiden die Farben, jedoch offenbar mit anderen Nuancen als wir, da sie durch die besten künstlichen Blumen nicht getäuscht werden; vielleicht liegt dies an der von uns nicht wahr- genommenen verschiedenartigen Mischung mit ultravioletten Strahlen.

Die Ocellen spielen eine untergeordnete Rolle und dienen wahrscheinlich nur zum Sehen in nächster Nähe in dunklen Räumen.

Der Geruchsinn sitzt in den Fühlhörnern, meistens an deren Keule, resp. in deren Porenplatten und Geruchkolben. Durch seine bewegliche, äussere Lage an der Fühler spitze be-

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sitzt er meistens zwei Eigenschaften, die dem Wirbeltier und besonders dem Menschen abgehen :

d) Die Fähigkeit beim direkten Contakt die chemischen Eigenschaften eines Körpers zu erkennen (Contaktgeruch).

b) Die Fähigkeit, den Kaum und die Form seiner Objekte, sowie auch die Form der eigenen Spur mittelst des Geruches zu erkennen und zu unterscheiden, somit auch assoziirte Er- innerungen zu hinterlassen.

Der Geruchsinn vieler Insekten giebt also bestimmte und scharfe Verhältnisse des Raumes bekannt, und kann das auf dem Boden sich bewegende Tier gut orientiren. Ich habe diesen dadurch qualitativ, d. h. in seiner spezifischen Energie von unserem Geruch recht abweichenden Sinn : t o p o -

chemischen Geruchsinn genannt. Wahrscheinlich dienen die Porenplatten dem Ferngeruch und die Geruchkolben dem Contaktgeruch; doch ist dies nur Vermutung. Die Entfernung der Fühlhörner zerstört die Fähigkeit, Freund und Feind zu unterscheiden und beraubt die Ameisen des Vermögens, sich auf dem Boden zu orientiren und ihren Weg zu finden, während man drei Beine und ein Fühlhorn wegschneiden kann, ohne dieses Vermögen wesentlich zu stören. Der topochemische Sinn erlaubt der Ameise stets die beiden Richtungen ihrer Spur von einander zu unterscheiden, was Bethe für eine ge- heimnisvolle Polarisation hält. Das Empfindungsvermögen für verschiedene Gerüche wechselt ungemein bei den verschiedenen Insekten. Was für eine Art riecht, ist oft für die andere (und für uns) geruchlos, und umgekehrt.

Die Geschmacksorgane liegen in den Mundteilen. Die Geschmackreaktionen der Insekten sind den unsrigen sehr ähn- lich. Will gewöhnte Wespen daran, Honig an einer be- stimmten Stelle aufzusuchen und setzte dann Chinin hinzu. Die Wespen merkten es sofort, machten Eckelgeberden und kamen dann nicht mehr. Ebenso als er den Honig durch Alaun ersetzt hatte. Sie kamen aber zuerst zurück, und erst nach der schlimmen Geschmackserfahrung kamen sie nicht

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mehr. Dies ist, nebenbei gesagt, auch ein Beweis ihres Ge- schmacksgedächtnisses und ihres Associationsvermögens.

Für das Gehör hat man verschiedene Organe gefunden und beschrieben. Die angeblichen Gehörsreaktionen ändern sich jedoch nach deren Wegnahme nicht, was die Möglichkeit eines falschen, durch Wahrnehmung feiner Erschütterungen mittelst des Tastsinnes vorgetäuschten Gehörs (Duges) zulässt.

Der Tastsinn ist überall durch Tasthaare oder Tast- papillen vertreten. Er reagirt ganz besonders auf feine Er- schütterungen der Luft oder der Unterlage. Gewisse Glieder- tiere, besonders die Spinnen, orientiren sich vornehmlich mit dem Tastsinn.

Es lässt sich nach weisen, dass die Insekten, je nach Arten und Lebensbedingungen, ihre verschiedenen Sinne zur Orien- tirung und Erkennung der Aussenwelt combinirt gebrauchen. Manchen Arten fehlen die Augen und damit der Gesichtssinn. Andere haben umgekehrt einen sehr stumpfen Geruchsinn ; gewissen Formen fehlt der Contaktgeruch, z. B. den meisten Dipteren.

Das grossartige Orientirungs vermögen gewisser Lufttiere, wie Vögel (Brieftauben), Bienen etc. beruht nachweislich auf dem Gesichtssinn und seinem Gedächtnis. Die Bewegung in der Luft giebt ihm eine ungeheure Mehr Wertigkeit. Die Bogen- gänge des Gehör nerves sind für die Wirbeltiere ein Gleich- gewichtssinn und geben Beschleunigungs- und Drehungs- empfindungen (Mach-Breuer), orientiren aber nicht nach aussen. Den Nachweis dieser Dinge bitte ich in meiner oben citirten Arbeit nachzusehen. Ein spezifisches, magnetisches oder son- stiges, von den bekannten Sinnen unabhängiges Orientirungs- vermögen giebt es nicht.

Die genannten Feststellungen geben die Basis der Insekten- psychologie. Die sozialen Insekten sind besonders günstige Objekte wegen ihren mannigfaltigen Wechselbeziehungen. W enn wir summarisch die Synthesen ihrer Handlungen mit Aus- drücken bezeichnen, die unserer menschlichen Psychologie ent-

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nommen sind, so bitte ich daran ein fiir allemal festzuhalten, dass dies nicht anthropomorphisch gedeutet werden darf, son- dern nur analog.

Gebiet der Erkenntnis. Es lässt sich zuerst fest- stellen, dass wenigstens viele Insekten (wahrscheinlich alle in einem mehr rudimentären Grade) Gedächtnis besitzen, d. h. Sinneseindrücke in ihrem Gehirn aufspeichern und später ver- werten. Sie werden nicht bloss direkt durch Sinnesreize an- gezogen, wie Bethe sich einbildet. Huber, ich selbst, Fahre, Lubbock, Wasmann, von Buttel-Reepen haben dies experimentell nachgewiesen. Besonders beweisend ist die Thatsache, dass Bienen, Wespen etc. im Fluge durch die Luft, trotz Wind und Regen (also bei absoluter Ausschliessung einer Geruchsspur), sogar nach Durchschneidung der Fühlhörner, ihren Weg zu einem versteckten, von ihrem Nest durchaus nicht direkt sicht- baren Ort wiederfinden, wo sie etwas gefunden hatten, das ihnen passte, selbst wenn dieses Etwas entfernt worden ist, und selbst nach Tagen und Wochen. Es lässt sich nachweisen, dass sie die Gegenstände an ihrer Farbe, an ihrer Form, be- sonders aber an ihrer Lage im Raum erkennen. Letztere Lage erkennen sie mittelst der gegenseitigen Stellung und Reihenfolge der grossen Gegenstände im Raum, wie dieselbe ihnen in ihrem raschen Lagewechsel im Flug durch die Netz- augen verraten wird (Verschiebungen der Netzhautbilder). Besonders die Experimente, die von Buttel und ich angestellt haben, lassen darüber keinen Zweifel mehr obwalten. Ein Gegenbeweis liefert von Buttel durch die Thatsache, dass Aether- und Chloroformnarcose den Bienen alle Erinnerungen nimmt. Man kann dadurch Feinde zu Freunde machen. Alle Ortskenntnis geht dann auch verloren und muss durch einen neuen Orientirungsflug wiedergewonnen werden. Man kann aber nicht vergessen, ohne sich erinnert zu haben.

Auch der topochemische Fühlhörnersinn giebt schöne Be- weise des Gedächtnisses der Ameisen, Bienen etc. Eine Ameise macht einen mühseligen Weg bis vielleicht BO Meter weit von

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ihrem zerstörten Nest, findet dort einen Platz, der sich zum Nestbau eignet, kommt zurück (mittelst ihrer Fühler sich orientirend), packt eine Gefährtin, die sich um sie rollt und trägt sie zu dem Orte, den sie fand. Jene findet dann auch den Weg zurück und beide holen je eine weitere Gefährtin u. s. f. Die Erinnerung, dass etwas zweckmässiges zum Nest- bau dort liegt, muss im Gehirn der ersten Ameise liegen, sonst würde sie sich nicht gerade wieder dorthin, mit einer Gefährtin beladen, begeben . Die Sklavameisen (Polyergus) unternehmen Raubzüge, geleitet durch einzelne Arbeiter, welche Tage und Wochen zuvor die Gegend nach Nestern von Formica fusca durchsucht haben. Oft verlieren die Ameisen ihren Weg, stocken dann und suchen lange Zeit, bis eine oder die andere die topochemische Spur wiederfindet und durch rasche Stösse den Uebrigen den Anstoss und die Dichtung zum Weitermarsch giebt. Nun werden die Puppen des gefundenen Nestes der Formica fusca aus der Tiefe des Nestes geholt, ausgeraubt und nach Hause (oft 40 Meter weit und mehr) ge- schleppt. Wenn das ausgeraubte Nest noch Puppen enthält, kehren die Räuber am gleichen oder an einem folgenden Tage nochmals zum Raub zurück, wenn nicht, nicht. Woher wissen die Polyergus, ob noch Puppen dort sind oder nicht? Der Geruch kann sie erwiesenermassen nicht direkt so weit anziehen, noch weniger das Gesicht oder ein anderer Sinn. Nur das Gedächtnis, d. h. die Erinnerung, dass noch viele Puppen im geraubten Nest liegen geblieben sind, kann sie zu einer Rückkehr zu demselben bestimmen. Ich habe eine grosse Zahl solcher Raubzüge genau verfolgt.

Während Formica Arten auf neue Wege sorgfältig und mühselig ihrer topochemischen Spur nachgehen, kennen sie die Lage der direkten Umgebung ihres Nestes so gut, dass seihst das Wegschaufeln des Bodens sie kaum stört und sie ihren Weg sofort finden, wie Wasmann betont, und ich auch sehr oft be- obachtet habe. Ein Wittern des Geruches aus der Ferne ist es nicht. Dies lässt sich auf andere Art nachweisen ; in dieser

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Beziehung ist das direkte Geruchsvermögen der Gattung Formica, sowie der Bienen nicht so weit reichend, was alle Kenner dieser Tiere durch unzählige Experimente nachge- wiesen haben. Gewisse Ameisen können Freundinnen noch nach Monaten wiedererkennen. Bei Ameisen und Bienen giebt es da sehr complizirte Geruchscombinationen und Mischungen, die von Buttel ganz richtig als Nestgeruch, Colonie-(Familien)- geruch und Individualgeruch unterscheidet. Bei den Ameisen kommt noch der Artgeruch hinzu, während der Königingeruch bei ihnen nicht die Bolle spielt, die ihm bei den Bienen zukommt.

Aus diesen und sehr vielen anderen Thatsachen geht her- vor, dass die sozialen Hymenopteren Gesichts- und topo- chemische Geruchsbilder in ihrem Gehirn aufspeichern und zu Wahrnehmungen oder zu etwas ganz ähnlichem combiniren, dass sie jene Wahrnehmungen sogar verschiedener Sinne, wie vor allem Gesicht, Geruch und Geschmack associiren, um Baumbilder zu gewinnen.

Sowohl Huber, als von Buttel, Wasmann und ich selbst, haben stets gefunden, dass diese Tiere durch die mehrfache Wiederholung einer Thätigkeit, eines Weges etc. an Sicherheit und Baschheit in der Ausführung ihrer Instinkte gewinnen. Es bilden sich also bei ihnen, allerdings sehr rasch, Gewohn- heiten. Von Buttel giebt prachtvolle Beispiele solcher bei den zuerst zaudernden und später immer frecheren sogenannten Baubbienen, d. h. bei einzelnen gewöhnlichen Honigbienen, welche die Gewohnheit annehmen, den Honig fremder Stöcke auszurauben. Wer aber Gewohnheit sagt, sagt secundärer Auto- matismus und vorausgegangene plastische Anpassung. Einen wunderbaren Nachweis in der ganzen Frage, zugleich eine der klarsten und einfachsten Widerlegungen der unzähligen Irr- tümer und falschen Auslegungen Bethes, giebt von Buttel da- durch, dass die Bienen, die noch nie aus dem Stock ausgeflogen waren, (selbst wenn sie älter sind als manche schon ausge- flogenen) ihren Weg zum Stock nicht einmal auf wenige Meter Entfernung finden, wenn sie ihn nicht direkt sehen können,

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während alte Bienen die ganze Umgebung oft bis auf 6 und 7 Kilometer kennen.

Aus allen den übereinstimmenden Beobachtungen der Kenner geht somit hervor, dass Sinnesempfindung, Wahr- nehmung, Association, Schlussvermögen, Gedächtnis und Ge- wohnheit bei den sozialen Insekten im Grossen und Ganzen den gleichen Grundgesetzen folgen wie bei den Wirbeltieren und bei uns. Sehr auffällig ist bei den Insekten auch die Aufmerksamkeit, welche einen obsessionnellen Charakter nimmt und schwer abzulenken ist.

Dagegen wiegt bei denselben der ererbte Automatismus kolossal vor. Die genannten Fähigkeiten bethätigen sich nur ausserordentlich schwach ausserhalb des Bereiches des bei der Art fixirten Instinktautomatismus.

Ein Insekt ist ungemein dumm und unanpassungsfähig an alles, was nicht zu seinem Instinkt gehört. Immerhin lehrte ich einem Dytiscus marginalis (Wasserkäfer) auf meinem Tisch zu fressen (in der Natur frisst er nur im Wasser). Dabei machte er stets eine ungeschickte Streckbewegung der Vorderbeine, die ihn auf den Rücken brachte. Er lernte zwar auch auf dem Rücken liegend weiter zu fressen, nicht aber diese Bewegung, die für das Fressen im Wasser angepasst ist, abzulegen. Dagegen suchte er aus dem Wasser zu springen (nicht mehr in die Tiefe des Wasserbehälters zu fliehen), als ich in’s Zimmer trat, und nagte ganz familiär an meiner dar- gereichten Fingerspitze. Das sind immerhin plastische Ab- weichungen des Instinktes. Ebenso lernten grosse, algierische Ameisen, die ich nach Zürich verpflanzte, im Lauf der Sommer- monate, ihre weite NestÖffnung mit Erdkügelchen zu schliessen, weil sie von unseren kleinen Lasius niger verfolgt und be- lästigt wurden. In Algier sah ich niemals die NestÖffnung anders als weit offen. Es gäbe noch viele ähnliche Beispiele, welche zeigen, dass diese Tierchen aus ihren Erfahrungen einiges Wenige sich später zu Nutzen machen, selbst wenn es etwas vom gewöhnlichen Instinkt abweicht.

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Dass Ameisen, Bienen und Wespen sich Mitteilungen machen, die verstanden werden und sich nicht nur betrillern, wie Bethe behauptet, ist so hundertfach nachgewiesen, dass es unnötig ist, ein Wort darüber zu verlieren. Die Beobach- tung eines einzigen Raubzuges von Polyergus, mit Stillstand des Heeres und Suchen des verlorenen Weges genügt, um es zu beweisen. Aber das ist keine Sprache im menschlichen Sinn! Dem Zeichen entspricht kein abstrakter Begriff. Es handelt sich um erblich, instinktiv automatisirte Zeichen ; das Gleiche gilt vom Verständnis derselben (Stossen mit dem Kopf, einander mit offenem Kiefer anfahren, Betrillern mit den Fühlern, Erschüttern der Grundlage mit dem Hinterleib und dergleichen mehr). Ferner spielt dabei die Nachahmung eine grosse Rolle; die Ameisen, Bienen etc. ahmen ihre Gefährtinnen nach und folgen ihnen. Es ist also total verfehlt (darin sind Wasmann, von Buttel und ich völlig einig) eine menschliche Ueberlegung und mensch- liches Begriffsvermögen in diese Instinktsprache hineinzulegen, wie es zum Teil selbst P. Huber, von Anderen nicht zu reden, gethan hat. Es ist sogar sehr fraglich, ob eine soge- nannte sinnliche Allgemein-Vorstellung (z. B. die Vorstellung „Ameise“, „Feind“, „Nest“, „Puppe“), im Gehirn einer Ameise aufkommen kann. Dieses ist kaum nachweisbar. Das Wahr- nehmen und Associiren kann zweifellos in sehr einfacher, insektartiger Weise vor sich gehen, ohne es zu so complizirten Dingen zu bringen. Jedenfalls fehlen uns Beweise für eine solche Annahme. Es ist aber das, was sicher vorliegt, gewiss an sich interessant und wichtig genug. Es giebt uns doch einen Einblick in das Hirnleben dieser Tiere.

Besser als alle Allgemeinheiten kann ein gutes Beispiel das Gesagte illustriren:

Plateau hatte behauptet, dass wenn man Dahlias-Kronen mit grünen Blättern bedeckt, die Bienen dennoch sofort zu denselben zurückkehren. Er hatte zuerst seine Dahlias un- vollständig (nur die äusseren Blüthen), nachträglich vollständig, aber doch mangelhaft, zugedeckt und aus dem Resultat ge-

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schlossen, dass die Bienen durch den Geruch und nicht durch das Gesicht angezogen werden.

Auf einem von vielen Bienen besuchten, zirka 48 ver- schiedenfarbige Blumenkronen zählenden Dahliabeet verdeckte ich um 2y4 Uhr, am 10. September, zuerst 17 und dann im ganzen 28 Kronen vollständig mit umgebogenen Rebblättern (a), die ich unten mit Nadeln befestigte.

b) Von vier Kronen verdeckte ich nur das gelbe Herz.

c) Von einer Krone umgekehrt nur die äusseren ge- färbten Blüten, das Herz freilassend.

So viele Bienen besuchten die Dahlias, dass oft zwei bis drei zugleich auf einer Krone sammelten.

Resultat : Sofort hörten sämtliche vollständig bedeckten Kronen auf von den Bienen besucht zu werden. Die Dahlia c wurde wie die ganz offenen weiter besucht. Die Bienen flogen oft zu den Dahlias #, verliessen sie aber gleich wieder ; einigen jedoch gelang es unter dem Blatt zum Herz zu kommen.

Als ich dann die Bedeckung einer roten Dahlia wegnahm, flogen die Bienen sofort wieder dorthin ; bald wurde auch eine schlechtbedeckte Dahliakrone wieder entdeckt und besucht. Später entdeckte eine suchende Biene von unten oder seitlich den Eingang zu einer bedeckten Dahlia. Von diesem Moment an kam diese Biene, aber nur diese, zu jener bedeckten Dahlia zurück.

Doch suchten immer verschiedene Bienen offenbar die plötzlich verschwundenen Dahlias. Gegen 572 Uhr hatten einige derselben die verdeckten Dahliakronen entdeckt. Von diesem Moment an wurden sie rasch von den übrigen nachgeahmt und in kurzer Zeit wurden dann die bedeckten Kronen wieder be- sucht. Sobald eine Biene meinen Kniff und den Eingang zur bedeckten Krone entdeckt hatte, flog sie in ihren folgenden Reisen sofort, ohne Zaudern, zur unteren verdeckten Oeffnung des Reb- blattes. So lang eine Biene allein etwas gefunden hatte, wurde sie von den andern nicht beachtet; waren es aber mehrere (min- destens 4 5 für gewöhnlich), so folgten ihnen die andern.

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Plateau hatte somit schlecht experimentirt und falsch geschlossen. Seine zuerst unvollständig bedeckten Dahlias sahen die Bienen noch. Als er sie dann, aber nur von oben, ganz bedeckte, waren sie schon auf den Kniff aufmerksam geworden, und sahen überdies die Dahlias noch von der Seite. Plateau hatte ohne das Gedächtnis und die Aufmerksamkeit der Bienen gerechnet.

Am 18. September setzte ich aus gelben Hieracium- KÖpfchen, die ich je in eine Petuniablume steckte, grobe künst- liche Nachahmungen von Dahliakronen zusammen und steckte sie unter die Dahlias. Weder Petunia noch Hieracium waren von den Bienen besucht gewesen. Dennoch flogen viele Bienen und Hummeln anfangs zu meinen Artefacten, fast soviel wie zu den Dahlias, verliessen sie jedoch sofort als sie, offenbar am Geruch, den Irrtum merkten. Gleich erging es einer Dahlia, deren Herz durch ein Hieraciumherz ersetzt wurde.

Als Gegenstück setzte ich ein schönes duftendes Dahlia- herz unter den von den Bienen vernachlässigten weissen und gelben Chrysanthemum, die sich am Rand des Dahliabeetes befanden. Eine halbe Stunde lang flogen alle Bienen wenige Centimeter über dieses Herz, ohne es zu merken; erst dann kam eine Biene, die von einer zweiten zufällig gefolgt wurde. Von diesem Moment an wurde dieses in der Flugrichtung lie- gende Dahliaherz wie die andern besucht, während umgekehrt die Petunia-Hieracium-Artefacte gar nicht mehr beachtet wurden, weil nun als Schwindel erkannt.

Plateau wies nach, dass künstliche Blumen, wenn auch noch so gut (für uns) nachgemacht von den Insekten unbeachtet bleiben. Ich setzte solche unter die Dahlias. Sie wurden in der That vollständig ausser Acht gelassen. Vielleicht unterscheiden die Bienen, wie ich schon andeutete, die Chlorophyllfarben von unsern künstlichen Farben, durch Ultraviolettmischungen oder sonst wie. Da jedoch Plateau sich einbildet, dass die künst- lichen Blumen die Insekten abstossen, fabrizirte ich am 19. September folgende grobgeschnitzte Papierblumen:

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*) eine rote Blume, ß) eine weisse Blume, y) eine blaue Blume,

8) eine blaue Blume mit einem gelben aus einem toten Blatt gemachten Herz.

e) ein rosafarbiges Papierstück mit einem trockenen Dahliaherz.

0 ein grünes Dahliablatt (unverändert).

Es ist 9 Uhr morgens. Ich setze einen Honigtropfen auf jeden der sechs unter die Dahlias gesteckten Artefacten. Eine Viertelstunde lang fliegen zahlreiche Bienen ganz nahe an meinen Artefacten vorbei ohne den Honig zu merken, riechen ihn also nicht. Ich gehe eine Stunde lang fort. Der Artefact $ hat keinen Honig mehr, wurde also offenbar von einer Biene entdeckt; alle andern sind vollständig intakt und unbeachtet geblieben.

Mit Mühe versuche ich nun a ganz nahe an eine auf einer Dahlia sitzenden Biene zu stellen. Die Aufmerksamkeit der Bienen ist jedoch dermassen von den Dahlias in Anspruch ge- nommen, dass ich vier bis fünf mal den Versuch wiederholen muss, bis es mir gelingt, den Honig direkt an den Büssel einer Biene zu bringen. Sofort fängt nun diese an den Honig aus der Papierblume zu saugen. Ich male die Biene mit blauer Farbe am Rücken, um sie zu erkennen und wiederhole das Experiment mit ß und e, deren Bienen ich je gelb und weiss male.

Bald darauf kommt die unterdessen weggeflogene blaue Biene vom Stock zurück, fliegt gleich zu zuerst hin und her zweifelnd, dann zu wo sie weidet, nachher wieder zu a, aber durchaus nicht zu den Dahlias. Später kommt die gelbe Biene zu ß zurück und weidet, fliegt dann zu a und 8, wo sie auch weidet, kümmert sich aber ebensowenig um die Dahlias wie die blaue.

Nun kommt die weisse Biene, sucht e, findet es nicht gleich und weidet in einigen Dahlias. Aber nur einen Augenblick weilt sie in jeder Dahlia, wie wenn die Zwangsvorstellung

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des Honigs sie quälen würde. Sie kommt zu den Artefacten zurück, deren Warnehmung sie jedoch offenbar noch nicht recht mit der Erinnerung des Honiggeschmackes associirt, findet schliesslich aber einen abgetrennten, etwas nach unten ge- fallenen Teil von £ und saugt darin Honig.

Von nun an kehren die drei gemalten Bienen, aber diese allein, regelmässig zu den Artefacten zurück ohne mehr die Dahlias zu beachten. Sehr wichtig ist die Thatsache, dass diese gemalten Bienen ganz von selbst, zweifellos auf Grund eines instinktiven Analogieschlusses, die andern Artefacten entdecken, sobald sie auf den Honig des einen derselben auf- merksam gemacht worden sind, und zwar trotzdem die Arte- facten von einander etwas entfernt und verschiedenfarbig sind. Die Dahlias, die sie vorher besuchten, sind aber auch ver- schiedenfarbig! So fliegt die blaue Biene zu a, ß, y und die gelbe zu ß, a, S und y, die weisse zu s, a, ß und 8. Eine halbe Stunde geht es so weiter. Das versteckte grüne £ wird nicht gefunden, offenbar weil es sich vom grünen Laub nicht abhebt.

Endlich kommt von selbst eine, offenbar durch die drei andern aufmerksam gemachte Biene zu S und weidet. Ich male sie mit Karmin. Sie fliegt dann zu x und jagt die blaue Biene fort. Eine weitere Biene wird zu £ von uns geführt und mit Zinnober bemalt. Noch eine Biene kommt von selbst zu ß und wird grün bemalt. Es ist 12 Uhr 20 Minuten; das Experiment dauert also über drei Stunden und erst sechs Bienen kennen die Artefacten, während die grosse Schar noch zu den Dahlias geht. Nun aber fangen die andern Bienen an die Artefacten- Besucherinnen zu bemerken. Eine, dann zwei, dann drei und mehr neue folgen ihnen und mir fehlen die Farben um sie zu bezeichnen. Jeden Augenblick muss ich den Honig erneuern. Nun gehe ich zum Mittagessen und komme 1 Uhr 25 Minuten zurück. In diesem Augenblick weiden zugleich sieben Bienen in ß, zwei in a, eine in y, drei in &, die weisse allein in £; mehr als die Hälfte davon sind neue unbemalte Nachfolgerinnen. Von nun an stürzt sich ein wahrer Schwarm Bienen auf die

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Artefacten und leckt die letzte Spur Honig weg. Jetzt erst endlich, nach mehr als vier Stunden, entdeckt eine Biene aus dem Schwarm den bis jetzt seiner Farbe wegen unentdeckt und voll Honig gebliebenen Artefakt *(!

Wie eine Hundemeute auf ein leeres Skelett stürzt sich nun der von den Dahlias ganz abgelenkte Bienenschwarm auf die von Honig total entblössten Artefacte und sucht sie vergebens in jedem Winkelchen nach Honig ab. Es ist 1 Uhr 55 Min. Die Bienen fangen an sich zu zerstreuen und zu den Dahlias zurückzukehren. Nun ersetze ich oc und ß durch je ein Stück rotes und weisses Papier, das keine Spur Honig berührt hat, somit auch nicht darnach riechen kann. Trotzdem werden diese Papierstücke von verschiedenen Bienen besucht und untersucht, deren Gehirne von der Zwangsvorstellung des Honiggeschmackes noch in Anspruch genommen ist. Die weisse Biene z. B. untersucht das weisse Papier 3 4 Minuten lang aufs genaueste. Von unbekannter Kraft oder Anziehung durch Geruch oder Blumen- pracht kann hier keine Hede mehr sein. Diese Thatsache kann nur durch Raum, Form und Farbenerinnerung, mit Geschmacks- erinnerung associirt erklärt werden.

Nun nehme ich alle Artefacten weg in meine linke Hand, um sie fortzutragen. Jetzt folgen mir 2 3 Bienen, umfliegen meine linke Hand und suchen sich auf die leeren Artefacten zu setzen. Das Raumbild hat noch gewechselt; Farbe und Form des Gegenstandes können allein noch den Bienen zu ihrer Erkennung dienen.

Dieses Experiment ist so klar und spricht so deutlich, dass ich es hier unter sehr vielen andern erwähnt habe. Es beweist :

1) Das Raum-, Form- und Farben-Wahrnehmungsvermögen der Bienen. Dass dieses nur durch die Netzaugen ermöglicht wird, beweisen andere Experimente (Firnissen der Augen, Ab- schneiden der Fühler und Mundorgane etc.).

2) Das Gedächtnis der Honigbiene und zwar ihr Gesichts- und Geschmacksgedächtnis.

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3) Ihr Associationsvermögen zwischen Geschmacks- und Gesichtserinnerungen.

4) Ihre Fähigkeit zu instinktiven Analogieschlüssen: Hat man ihr einmal Honig in einem Artefact hingestellt, so unter- sucht sie andere, sogar anders gefärbte, und bis dahin von ihr völlig unbeachtet gelassene Artefacte, die sie nun wegen ihrer relativen Aehnlichkeit mit dem ersten mittelst des Gesichts- sinnes vergleicht und als ähnlich erkennt, obwohl solche Dinge für Bienen ganz ungewöhnlich sind.

5) Ihr schlechtes Geruchs vermögen, das nur in nächster Nähe ein Wittern ermöglicht.

6) Die Einseitigkeit und der enge Kreis ihrer Auf- merksamkeit.

7) Die rasche Bildung von Gewohnheiten.

8) Die Grenzen der Nachahmung der Bienen unter sich.

Natürlich würde ich mir nicht erlauben, diese Schlüsse

aus einem Experiment zu ziehen, wenn sie nicht durch un- zählige andere Beobachtungen von den tüchtigsten Forschern in diesem Gebiet bestätigt wären. Lubhock hat klar gezeigt, dass man eine Biene eine zeitlang auf eine bestimmte Farbe trainiren muss, um sie zu veranlassen, die andern Farben unbeachtet zu lassen. Nur so kann man ihr Farbenunterscheidungs- vermögen beweisen. Meine Bienen waren umgekehrt auf ver- schiedenfarbige Gegenstände (Dahlias und Artefacten) trainirt; daher beachteten sie die Farbenunterschiede nicht. Daraus zu schliessen, dass sie die Farben nicht unterscheiden, wäre ein Fehlschluss. Durch andere Experimente habe ich im Gegenteil Lubbocks Resultate vollauf bestätigt.

Dm 2 Uhr 20 Min. kehrten alle meine Bienen, auch die bemalten, zu den Dahlias zurück.

Am 27. September, also acht Tage nachher, wollte ich mit den gleichen Bienen ein neues Experiment machen. Ich wollte ver- schiedenfarbige Scheiben auf verschiedenen Stellen einer langen Helligkeitsskala, welche auf einem grossen Papierblatt von Weiss, durch Grau bis zum Schwarz gemalt war, durch die

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Farbe allein unterscheiden lassen. Ich wollte zuerst eine Biene auf eine Farbe trainiren. Ich hatte jedoch ohne das Ge- dächtnis der Bienen gerechnet, das mir die ganze Sache ver- eitelte. Kaum hatte ich mein Papier und meine Scheiben auf der Wiese in der Nähe des Dahliabeetes gelegt, und eine oder zwei Bienen auf blaue Scheiben gesetzt und bemalt, so be- gannen dieselben zu allen roten, blauen, weissen, schwarzen und sonstigen Scheiben mit oder ohne Honig zu fliegen und dieselben zu untersuchen. Nach wenigen Augenblicken kamen andere Bienen aus dem Dahliabeet nach, und in kurzer Zeit stürzte sich ein ganzer Schwarm auf die Papierscheiben. Natürlich waren die mit Honig bedeckten stärker besucht, weil die Bienen darauf blieben ; aber auch vollständig honigfreie Scheiben wurden von einander im Flug folgenden Bienengruppen bestürmt und untersucht, dann aber gleich wieder verlassen. Die Bienen bestürmten sogar die Farbenschachtel, darunter eine, welcher ich die Fühler abgeschnitten hatte; sie hatte vorher schon auf blauen Scheiben Honig gesogen, und war zum Stock zurück- geflogen. Diese untersuchte das blaue Farbenstück in der Farbenschachtel.

Kurz, mein Experiment war unmöglich, weil alle Bienen noch die früheren verschiedenfarbigen Artefacte mit dem Honig im Kopf hatten und daher alle Papierscheiben, gleich wie ge- färbt, untersuchten. Die Association Honiggeschmack und Papierscheiben war durch die Wahrnehmung der letzteren wieder wach geworden und gewann Bestand, sowie rasche, gewaltige Nachahmung, weil auch wirklich Honig auf einigen Scheiben gefunden wurde.

Mit dem Wahrnehmungs- und Associations vermögen ist auch das Vermögen einfache, instinktive Analogieschlüsse aus individuellen Erfahrungen zu ziehen ausgesprochen, ohne welche Wahrnehmungen und Gedächtnisarbeit undenkbar sind! Wir haben soeben ein Beispiel davon erwähnt. Ich habe früher gezeigt, dass Hummeln, deren Nest ich auf mein Fenster ver- setzt hatte, als sie dahin zurückflogen vielfach andere Fenster

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der gleichen Faeade damit verwechselten und dieselben lange untersuchten bis sie zum richtigen kamen. Lubbock berichtet Aehnliches. Von Buttel zeigt, dass Bienen, die an Zimmer und Fenster gewöhnt wurden, daraus lernten, an anderen Orten (anderen Häusern) Fenster und Zimmer zu untersuchen. Als Pissot den Eingang eines "Wespennestes mit einem Netz verlegte, dessen Maschen 22 Millimeter massen, stutzten die Wespen zuerst, gingen unten am Boden herum, und dgl. mehr. Aber bald lernten sie direkt durch die Maschen zu fliegen. Der Gesichtssinn, im Fluge beobachtet, eignet sich besonders zu dieser Art Experimente, welche daher bei Ameisen nicht zu machen sind. Doch bilden letztere zweifellos ähnliche Schlüsse auf Grund ihres topochemischen Antennensinns. Die Auffindung einer Beute oder anderer Nahrung auf einer Pflanze oder an einem Gegenstand veranlasst sie ähnliche Pflanzen oder Gegenstände zu untersuchen, und dgl. mehr.

Es giebt aber auf der anderen Seite sehr dumme Insekten, wie Ameisenmännchen, Dipteren, Eintagsfliegen, mit kümmer- lichem Gehirn, die unfähig sind, irgend etwas zu lernen, Sinnesempfindungen höher als zu einfachen Automatismen zu combiniren, und bei welchen ein Haftenbleiben von Gedächtnis- bildern kaum nachweisbar ist. Diese ziehen fast nur direkt nach Sinnesreizen dahin; ihr Leben ist aber auch äusserst ein- fachen Verhältnissen angepasst. Hier gerade sieht man am besten den Unterschied, und dieser beweist am klarsten durch den Vergleich und den Contrast, das Plus, das gescheidtere Insekten besitzen.

Gebiet des Willens. Der Begriff des Willens, sobald man ihn im Gegensatz zum Begriff des Reflexes stellt, setzt zwischen dem Sinneseindruck und der von ihm bedingten Be- wegung eine gewisse -Zeit, sowie vermittelnde und com- plicirende Gehirnprozesse voraus. Bei den Handlungen zweck- mässiger Automatismen des Instinktes, die einander in einer gewissen Reihenfolge auslösen, giebt es auch eine Zwischen- zeit, ausgefüllt durch innerliche, dynamische Prozesse des Ge-

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hirnes, wie beim Willen. Es sind daher keine reinen Reflexe. Sie können eine Zeit lang unterbrochen und dann doch wieder aufgenommen werden. Aber ihre Ausführung geschieht grössten- teils durch eine Verkettung complizirter Reflexe, die zwangs- mässig so und nicht anders erfolgen. Daher ist der Ausdruck Automatismus oder Instinkt gerechtfertigt.

Um vom Willen im engeren Sinne sprechen zu können, müssen wir individuelle Entschlüsse feststellen, die sich nach den Umständen richten können, d. h. modifizirbar sind, die eine gewisse Zeit im Gehirn liegen zu bleiben vermögen und dann doch noch ausgeführt werden. Dieser Wille braucht noch lange nicht der complizirte Menschenwille zu sein, der aus Resultanten ungeheuer complizirter, lang vorbereiteter und combinirter Componenten besteht. Die Ameisen zeigen positive und negative Willenserscheinungen, die nicht zu ver- kennen sind. Darin glänzt die Gattung Formica L., die überhaupt die individuellen psychischen Thätigkeiten am deut- lichsten illustrirt. Ihre oben erwähnten Nestumzüge lassen individuelle Pläne eines Arbeiters, die mit grosser Zähigkeit durchgeführt werden , sehr schön erkennen. Stundenlang kann eine Ameise eine Masse Schwierigkeiten überwinden, um zu einem Ziel zu gelangen, das sie sich vorgesteckt hat. Dieses Ziel ist nicht genau instinktiv vorgeschrieben, da sehr viele Möglichkeiten vorliegen, und so kommt es oft vor, dass zwei Ameisen einander entgegenarbeiten. Dem oberflächlichen Beobachter erscheint dieses dumm. Aber darin verrät sich gerade die Ameisenplastik. Eine Zeit lang stören die beiden Tierchen einander. Schliesslich merken sie es jedoch und das eine giebt nach, geht weg, oder hilft dem anderen.

Der Nest- und Wegbau giebt die besten Gelegenheiten, dieses z. B. bei der Waldameise (Formica rufa) und noch besser bei der F. pratensis zu beobachten. Man muss aber stundenlang wenige Ameisen verfolgen, um darüber ins Klare zu kommen. Dazu gehört viel Geduld und viel Zeit. Auch die Kriege der Ameisen lassen gewisse, sehr consequente

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Handlungsziele erkennen, besonders das, was ick „combats a froid“ (chronische Kämpfe) genannt habe. Nachdem zwei Parteien (zwei Kolonien, die man zusammenbringt) Frieden geschlossen haben, sieht man oft noch einzelne Ameisen be- stimmte Individuen der anderen Partei verfolgen und miss- handeln. Sie tragen dieselben oft weit weg, um sie vom Nest wegzuschieben. Kommt dann die Weggetragene von selbst zurück, und wird sie von ihrer Verfolgerin wieder- gefunden, so wird sie nochmals gepackt und noch weiter weg- getragen. In einem solchen Fall gelang es, bei einem Beob- achtungsnest einer kleinen Art (Leptothorax) der Quälerin ihr Opfer an den Rand meines Tisches zu bringen. Sie streckte dann den Kopf und liess den Feind zu Boden fallen. Es war nicht Zufall, denn sie wiederholte die Sache zweimal nach- einander, als ich die Weggeworfene ihr auf dem Tische wieder vorlegte. Unter den verschiedenen Individuen der ehemaligen, nun verbündeten Gegenpartei hatte sie gerade auf dieses ihre Antipathie conzentrirt und suchte ihm die Rückkehr unmög- lich zu machen. Man muss eine stark vorgefasste Meinung haben, um in derartigen und vielen ähnlichen Fällen den Ameisen individuelle Entschlüsse und deren Durchführung ab- zusprechen. Freilich geschehen diese Dinge im Rahmen der Bahnen des Artinstinktes und die verschiedenen Abschnitte der Durchführung eines Entschlusses geschehen instinktiv. Ferner verwahre ich mich ausdrücklich dagegen, menschliche Ueberlegungen und abstracte Begriffe in diesen Ameisen willen hineinzulegen. Nichtsdestoweniger müssen wir ehrlich gestehen, dass umgekehrt wir Menschen in der Durchführung unserer Entschlüsse sowohl ererbte als secundäre Automatismen be- ständig mitunterlaufen lassen. Während ich dieses schreibe, arbeiten meine Augen mit zum Teil vererbten und meine Hand mit secundären Automatismen. Zu den Complikationen meiner Innervationen und meiner begleitenden abstrakten Ueber- legungen ist aber selbstverständlich nur ein Menschenhirn be- fähigt. Etwas conkret associiren und überlegen muss immer-

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hin die Ameise in Ameisenart, wenn sie eines der genannten Ziele verfolgt und zu diesem speziellen Zwecke ihre Instinkte combinirt. Während jedoch die Instinkte bei der Ameise nur zu einzelnen, wenig verschiedenen Zwecken durch wenige plastische Anpassungen oder Associationen individuell in ihrer Verkettung unterbrochen oder umgekehrt zusammengefügt werden, stellen beim denkenden Menschen die vererbten sowohl als die secundären Automatismen nur Bruchstücke oder In- strumente im Dienst einer ungeheuren, alles beherrschenden, plastischen Gehirnarbeit dar. Nebenbei gesagt erklärt sich auf ähnliche Weise die relative Unabhängigkeit des Rücken- markes und der untergeordneten Hirnzentren bei niederen Wirbeltieren (auch bei niedrigeren Säugetieren) dem Gross- hirn gegenüber, wenn man sie mit der tiefen Abhängigkeit vergleicht, in welcher diese Organe und ihre Funktion vom mächtigen Grosshirn des Menschen und schon z. T. des Affen befinden. Letzteres zerklüftet und beherrscht ihre Automatis- men (Divide et impera).

Während der Erfolg sowohl die Kühnheit als die Zähig- keit des Ameisenwillens sichtlich steigert, kann man durch fortgesetzten Misserfolg oder infolge plötzlicher Ueberrumpe- lungen durch mächtige Feinde eine abulische Entmutigung eintreten sehen, die bis zur Vernachlässigung der wichtigsten Instinkte, zur feigen Flucht, zum Fressen oder Wegwerfen der eigenen Brut, zur Vernachlässigung der Arbeit und der- gleichen führen kann. Es giebt eine chronisch zunehmende Entmutigung bei degenerirten Colonien und akute Ent- mutigungen bei einer verlorenen Schlacht. In letzterem Falle kann man Schaaren grosser, starker Ameisen vor einer ein- zigen kecken kleinen, sie verfolgenden Feindin ohne Verteidi- gungsversuch fliehen sehen, welch’ letztere Feindin eine halbe Stunde vorher mit wenigen Bissen von den nun Fliehenden getötet worden wäre. Merkwürdig ist es, wie rasch der Sieger diese abulische Entmutigung merkt und benutzt. Ent- mutigte Ameisen pflegen sich nach der Flucht zu sammeln,

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und sie gewinnen bald wieder Willen und Mut. Doch leisten sie einem z. B. am nächstfolgenden Tage erneuerten Angriff des gleichen Feindes nur schwachen Widerstand. So schnell vergisst selbst ein Ameisengehirn die erlittene Schlappe nicht.

Bei erbitterten Kämpfen zwischen zwei fast gleichstarken Colonien steigert sich zuerst die Zähigkeit des Kampfes und somit der Wille zu siegen, bis die eine entschieden besiegt wird. Im Gebiet des Willens spielt die Nachahmung eine grosse Bolle. Auch bei Ameisen sind Uebermut und Ent- mutigung ungemein ansteckend.

Gebiet des Gefühls. Es mag komisch klingen von Gefühlen bei Insekten zu sprechen. Ueberlegen wir jedoch, wie tief erblich instinktiv fixirt unser menschliches Gefühls- leben ist, wie ausgesprochen die Affekte unserer Haustiere und wie sehr sie mit den Trieben verbunden sind, so müssen wir Affekte und Gefühle in der Tierpsychologie erwarten. Diese geben sich auch so klar bei sozialen Insekten zu er- kennen, dass selbst ein Uexküll capituliren müsste, wenn er sie genauer kennen würde. Wir finden solche schon einge- flochten in dem, was wir vom Willen sagten. Die meisten Affekte der Insekten sind mit Instinkten tief verbunden. So die Eifersucht der Bienenkönigin, die ihre Nebenbuhlerinnen tötet, und die Angst der letzteren, die noch in ihren Zellen sind; so die Wut kämpfender Ameisen, Wespen oder Bienen, so die soeben erwähnte Entmutigung, die Liebe zur Brut, die Aufopferung der Arbeiterbienen, die sich selbst Hunger sterben lassen, um ihre Königin zu füttern und dergleichen mehr. Aber es giebt auch individuelle Affekte, die nicht zwingend vom Instinkt bedingt sind, wie z. B. die Sucht einzelner Ameisen bestimmte Gegnerinnen zu misshandeln, wie wir es sahen. Umgekehrt können, wie ich es bewies, Freundesdienste, die einem Feinde ausnahmsweise geleistet werden (Fütterung), gegenseitige Sympathiegefühle und schliesslich Bündnis, sogar zwischen Ameisen verschiedener Art zur Folge haben. Ueber- dies steigern sich Sympathie-, Antipathie- und Zornaffekte bei

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den Ameisen durch ihre Wiederholung und durch die ihnen entsprechende Handlungen, wie dies bei anderen Tieren und heim Menschen der Fall ist.

Das soziale Pflichtgefühl ist hei den Ameisen instinktiv, aber zeigt grosse individuelle, zeitliche und gelegentliche Schwankungen, die eine gewisse Plastizität verraten.

Psychische Wechselbeziehungen. Ich habe rasch die drei Hauptgebiete der Psychologie der Ameisen durch- gegangen. Selbstverständlich lassen sich dieselben hier, so- wenig wie anderswo, scharf von einander trennen. Der Wille besteht aus centrifugalen Resultanten der Sinneswahrnehmungen und der Affekte, reagirt aber mächtig wiederum auf beide.

Sehr interessant ist die Beobachtung des Antagonismus zwischen verschiedenen Wahrnehmungen, Gefühlen und Willens- regungen bei Ameisen und Bienen, und die Art, wie die stets bei diesen Tieren sehr einseitige und intensiv zwingende (ob- sessionnelle) Aufmerksamkeit schliesslich von einer Sache auf die andere abgelenkt wird. Experimente leisten hier viel. So lang Bienen auf einer bestimmten Blumenart allein sammeln, übersehen sie alles Andere, auch die anderen Blumen. Lenkt man ihre Aufmerksamkeit durch direkt dargereichten Honig, den sie bisher übersahen, ab, so haben sie nur noch Augen für den Honig. Ein intensiver Affekt, wie das Schwärmen bei den Bienen (von Buttel), lässt diese Insekten alle Feind- schaften und selbst ihren alten Mutterstock vergessen, sodass sie nicht mehr dahin zurückkehren. War jedoch letzterer blau angestrichen und wird durch Wegnahme der Königin das Schwärmen unterbrochen, so erinnern sich die Bienen der blauen Farbe ihres alten Stockes wieder und fliegen zu blau angestrichenen Stöcken. Zwei Gefühle kämpfen oft bei den unruhig und heulend gewordenen weisellosen Bienen: das der Feindschaft gegen fremde Bienen und das des Bedürfnisses nach einer Königin. Giebt man ihnen nun künstlich eine fremde Königin, so misshandeln oder töten sie dieselbe, weil das erste Gefühl zunächst überwiegt. Die Imker geben ihnen

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daher eine fremde in einem Drahtkäfig eingesperrte Königin. Der fremde Geruch stört sie dann weniger, weil er entfernter ist, und sie können die Königin nicht misshandeln. Dennoch erkennen sie den spezifischen Königinnengeruch und können die fremde Königin durch die Maschen des Netzes mit ihrem Küssel füttern. Dieses genügt, um den Stock sofort zu be- ruhigen. So siegt dann rasch das zweite Gefühl; die Arbeiter gewöhnen sich schnell an den fremden Geruch und nach drei bis vier Tagen kann man ohne Gefahr die Königin befreien.

Bei Ameisen kann man die Naschhaftigkeit mit dem Pflicht- gefühl kämpfen lassen, wenn man eine Colonie von herbei- gebrachten Feinden angreifen lässt und Honig den aus dem Nest strömenden Verteidigern vorlegt. Ich that dies bei Formica pratensis. Zuerst naschten die Ameisen ganz wenig an dem Honig, aber nur einen Augenblick. Das Pflicht- gefühl siegte und alle, ausnahmslos, eilten zum Kampfe, meistens zum Tode davon. Hier siegte ein höherer Entschluss oder Instinkt über einen niedrigeren Trieb.

Wir stellen zum Schluss resumirend Folgendes fest:

1) Vom naturwissenschaftlichen Standpunkt aus muss an der psychophysiologischen Identitätshypothese (Monismus) im Gegensatz zum Dualismus festgehalten werden, weil sie allein mit den Thatsachen und speziell mit dem Gesetz der Erhal- tung der Energie übereinstimmt. Unsere Seele muss zugleich von innen direkt und von aussen, mittelst der Biologie und in den Bedingungen ihres Zustandekommens, indirekt studirt werden. So giebt es eine vergleichende Psychologie der An- deren neben der eigenen, und auf diesem Weg gelangt man auch zu einer Tierpsychologie. Der Analogieschluss, vorsichtig angewendet, ist hierbei unerlässlich und zulässig.

2) Die Sinne der Insekten sind die unsrigen. Nur der Gehörsinn bleibt noch zweifelhaft bezüglich Sitz und Deutung. Ein sechster Sinn ist bisher nicht nachzuweisen und ein eigener Richtungs- oder Orientirungssinn fehlt bestimmt. Der Vesti- bulär apparat der Wirbeltiere ist nur Gleichgewichts sinn und

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giebt innere Beschleunigungsempfindungen, aber orientirt nicht im Raum ausserhalb des Körpers. Dagegen bieten Gesichts- und Geruchsinn der Insekten Varietäten der Leistungsart und der spezifischen Energieen dar (Sehen des Ultraviolettes, Funk- tionsweise des facettierten Auges, topochemischer Antennen- sinn und Contaktgeruch).

3) Reflexe, Instinkte und plastische, individuell anpassungs- fähige centrale Nerventhätigkeiten gehen allmählich ineinander über. Höhere Complikationen jener centralen oder psychischen Funktionen entsprechen complizirteren Apparaten übergeord- neter Neüronencomplexe (Grosshirn).

4) Ohne gegensätzlich zu werden, complizirt sich die centrale Nerventhätigkeit bei verschiedenen Tiergruppen und -Arten auf zwei Weisen : a) durch Vererbung (Zuchtwahl u. A. m.) complizirter zweckmässiger Automatismen oder Instinkte ; b) durch immer mannigfaltigere Möglichkeiten plastischer, in- dividuell anpassbarer Thätigkeiten, verbunden mit der Fähig- keit individuelle sekundäre Automatismen (Gewohnheiten) all- mählich zu bilden.

Der zweite Modus erfordert viel mehr Nervenelemente. Durch erbliche Anlagen (unfertige Instinkte) mehr oder weniger gefestigter Art, bietet er Uebergänge zum ersten Modus.

5) Bei sozialen Insekten lässt sich das Verhältnis ent- wickelterer psychischer Fähigkeiten zur Grösse des Gehirnes direkt beobachten.

6) Bei denselben kann man Gedächtnis, Associationen von Sinnesbildern, Wahrnehmungen, Aufmerksamkeit, Gewohn- heiten, einfaches Schlussvermögen aus Analogien, Benutzung von individuellen Erfahrungen, somit deutliche, wenn auch geringe individuelle plastische Ueberlegungen oder Anpassungen nachweisen.

7) Auch eine entsprechende, einfachere Form des Willens, d. h. der Durchführung individueller Entschlüsse in längerer zeitlicher Folge, durch verschiedene Instinktketten hindurch: ferner verschiedene Arten von Lust und UnlustafFekten, sowie

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Wechselwirkungen und Antagonismen zwischen jenen diversen psychischen Kräften sind nachweisbar.

8) Bei den Handlungen der Insekten tritt die Thätigkeit der Aufmerksamkeit einseitig und stark in den Vordergrund. Sie engt ihr Gebiet stark ein und macht das Tier vorüber- gehend blind (unaufmerksam) für andere Sinneseindrücke.

So sehr also die Ausbildung und die Anpassungen der automatischen und der plastischen, centralen Neurokymthätig- keit bei verschiedenen Tiergehirnen verschieden ist, so sicher lassen sich dennoch gewisse allgemeingültige Erscheinungs- reihen und ihre Grundgesetze erkennen.

Heute noch muss ich die 7. These aufrecht erhalten, die ich 1877 bei meiner Habilitation als Privatdocent an der Münchener Hochschule aufstellte:

„Sämtliche Eigenschaften der menschlichen Seele können aus Eigenschaften der Seele höherer Tiere abgeleitet werden.“ Ich füge nur noch hinzu :

„Und sämtliche Seeleneigenschaften höherer Tiere lassen sich aus denjenigen niederer Tiere ableiten“. Mit anderen Worten: Die Evolutionslehre gilt genau so gut auf dem

psychischen Gebiet als auf allen anderen Gebieten des orga- nischen Lebens. Bei aller Verschiedenheit der tierischen Organismen und ihrer Lebensbedingungen scheinen die psy- chischen Funktionen der Nervenelemente doch gewissen Grund- gesetzen überall zu folgen, selbst da, wo die Unterschiede so gross sind, dass man es am Wenigsten erwarten würde.

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Anhang:

Die Eigentümlichkeiten des Geruchsinnes

bei den Insecten.

Unser Geruchsinn ist, wie der Geschmacksinn, ein chemischer Sinn. Aber während letzterer nur auf in Flüssigkeiten gelöste Substanzen mit nur wenig (ca. 5) verschiedenen Hauptqualitäten reagirt, reagirt der Geruchsinn mit unendlich viel Qualitäten auf in der Luft gelöste Partikeln der verschiedensten Sub- stanzen. Selbst für unseren relativ verkümmerten menschlichen Geruchsinn scheint die Zahl der Geruchsqualitäten fast unbe- grenzt zu sein.

Bei den in der Luft und auf der Erde lebenden Insecten scheint der Geschmacksinn nicht nur, wie bei uns, in den Mundorganen localisirt zu sein, sondern auch die gleichen Qualitäten und die entsprechenden Reactionen zu zeigen. Es ist wenigstens leicht nachzuweisen, dass sie meistens das Süsse sehr lieben und das Bittere verabscheuen, sowie von den beiden Eigenschaften erst beim Schmecken der bezüglichen Substanzen Kenntnis erhalten. Besonders F. Will hat darüber gute Ex- perimente veröffentlicht.

Bei Wasserinsecten sind die Verhältnisse verwickelt. Nagel hat sie näher studirt und gezeigt, wie schwer es ist, da Geruch von Geschmack zu scheiden, indem für beide Sinne einfach im Wasser gelöste Substanzen mehr oder weniger deutlich oder fern gewittert und aufgesucht oder vermieden werden. Jeden-

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falls zeigte Nagel, dass die bei Landinsecten unwichtigeren Taster bei Wasserinsecten eine grosse Rolle spielen.

Wir wollen aber hier speziell den Geruchsinn der Land- insecten untersuchen, dessen Sitz erwiesenermassen die Nerven- endigungen der Fühlhörner ist. Ein unwichtigeres Complement desselben liegt noch in den Tastern, wie Wasmann und Nagel nachgewiesen haben. Im Fühlhorn sind es meistens die Keule oder andere blättrige oder andersgeformte Anschwellungen, welche das zellige Ganglion des Antennenner vs enthalten. Auf die histologische Struktur der Nervenendigungen gehe ich hier nicht ein. Ich verweise auf Hicks, Leydig, Hauser, meine eigenen und noch anderen diesbezüglichen Arbeiten, besonders aber auf die vorzügliche Arbeit K. Krsepelins. Ich bemerke nur folgendes:

1) Alle Riechpapillen der Antennen sind umgewandelte, haarartige Porencanäle.

2) Alle haben direct vor dem Nervenende eine zellige Anschwellung.

3) Tasthaare befinden sich neben den Geruchspapillen auf den Fühlhörnern.

4) Die Art und Form der Nervenenden wechseln sehr, kommen aber meistens auf drei Hauptformen mehr oder weniger zurück : Porpenplatten, Riechkolben und Riechhaare. Die beiden letzteren Formen sind oft schwer oder kaum von ein- ander zu unterscheiden. Eine Cuticula bedeckt stets, wenn auch noch so fein, das Nervenende.

Andere Endorgane der Hymenopterenfühler, die Hicks und ich beschrieben haben (Flaschen- und Champagnerpfropforgane), sind noch in ihrer Bedeutung völlig unklar, jedoch ohne Be- zug zum Geruchsinn, da sie bei sehr gut riechenden Insecten (Wespen) fehlen, und bei stumpf riechenden (Bienen) massen- haft Vorkommen.

Dass die Antennen und nicht die Nervenenden des Mundes und des Gaumens zum Geruch dienen, habe ich durch Controll-

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experimente nachgewiesen, die absolut keinen Zweifel übrig lassen, übrigens allseitig bestätigt worden sind. Nur mit den Fühlern können Landinsekten chemische Substanzen aus der Entfernung wittern. Aber auch beim Contakt sind es vor- nehmlich diese Organe, und nur in untergeordneter Weise, nämlich beim Kauen, die Taster, welche den Insekten die Kenntnis der chemischen Natur der Körper giebt und Ihnen speziell erlauben die Pflanzen, andere Tiere, ihre Nahrung zu erkennen und zu unterscheiden, sofern Gesichts- und Geschmack- sinn nicht in Betracht kommen. Diese beiden Sinne sind leicht auszuschalten, da Letzterer erst während des Fressens wirkt und Ersterer durch Firnissen der Augen und auf andere Wege beseitigt werden kann. Manche Insekten sind auch augenlos, und finden sich einzig mit ihren Fühlern zurecht, z. B. viele Raubameisen der Gattung Eciton.

Ich will aber hier diese Fragen als bekannt und erledigt voraussetzen, und auch nicht mit Bethe und Consorten über die Berechtigung polemisiren den chemischen Antennensinn „Geruch“ zu nennen. Diese Frage habe ich am anderen Orte*) ' besprochen. Was ich untersuchen will, ist die psychologische Qualität des Antennengeruches, wie sie sich teils aus der Be- obachtung und teils aus viel zu wenig beachteten correlativen Gesetzen der psychologischen Verwertung eines jeden Sinnes je nach seinem Bau ergiebt. Ich setze die Lehren der spe- zifischen Energien und des adäquaten Reizes, sowie die neueren Forschungen über noch undiflerenzirte Sinne, wie der Photo- dermatismus und dergleichen als bekannt voraus, verweise übrigens auf Helmholz: Die Thatsachen in der Wahrnehmung; 1879, Berlin, Hirsch wald.

Wenn wir in unserer uns allein direkt bekannten mensch- lichen Ich-Psychologie die Art untersuchen, wie wir unsere

*) Sensations des Insectes. Rivista di Biologia generale, Como 1900 bis 1901. Siebe für das Uebrige auch: A. Forel: Mitt. des München, entom. Vereins. 1878 und Recueil Zoologique Suisse 1886 87.

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Sinnesempfindungen verwerten, stossen wir auf eine eigentüm- liche Thatsache, die keine Ausnahme zu zeigen scheint, und auf welche besonders Herb. Spencer aufmerksam gemacht hat : Die sogenannte Wahrnehmung besteht bekanntlich aus Em- pfindungen, die zusammen bald mehr, bald weniger festgebunden sind. Je fester die Empfindungen zu einem Ganzen gebunden sind, desto leichter ist es uns durch einen Teil einer Wahr- nehmung den Rest derselben in’s Gedächtnis zu rufen. So z. B. ist es mir leicht, durch den Gedanken an den Kopf eines Bekannten, mir den Rest seines Körpers vorzustellen. Ebenso, durch die erste Note einer Melodie oder den ersten Vers eines Gedichtes, den Rest beider. Der Gedanken an Yeilchengeruch, an Hungergefühl oder an Bauchgrimmen kann mir dagegen weder gleichzeitige, noch nachfolgende Gerüche oder Gefühle zurückrufen.

Diese letzteren Dinge werden mir viel eher unwillkürlich mit denselben associirten Gesichts-, Tast- oder Gehörsvor- stellungen (z. B. das Gesichtsbild eines Veilchens, eines ge- deckten Tisches) zum Bewusstsein bringen. Sie sind überhaupt äusserst schwer, manchmal gar nicht allein vorstellbar, und unter sich kaum associirbar. Ferner merken wir leicht, dass die Gesichtsvorstellungen uns hauptsächlich Raumerinnerungen, die Gehörsvorstellungen viel mehr zeitliche Reihenfolgen, die Tasterinnerungen beides, aber unvollständiger verschaffen. Das sind unzweifelhafte und allbekannte Thatsachen.

Wenn wir aber nach dem Warum forschen, so finden wir die Antwort im Bau des betreffenden Sinnes und in seiner F unktionsweise.

Das Auge giebt uns bekanntlich ein sehr genaues Bild der Aussenwelt auf der Netzhaut. Die Farben und Formen der Gegenstände malen sich da genau in ihrem räumlichen Neben- einander mit den feinsten Details, und sowohl die Convergenz beider Augen als deren Bewegung und Accommodation geben uns ausserdem durch das stereoscopische Sehen die Tiefen- dimensionen. Was etwa da noch fehlt oder stört, wird durch

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instinktive Schlüsse, infolge der Uebung,*) innerhalb der Er- innerung sowohl als der direkten Wahrnehmung selbst, er- gänzt (wie die Lücken des Gesichtsfeldes) oder wegsuggerirt (wie die Glaskörpertrübungen). Aber die Grundlage des Raum- bildes giebt uns das Gesammte nebeneinander der Netzhautreize, des Netzhautbildes. Deshalb, weil die Netzhaut solche Raum- projektionen verschafft, und zwar in scharfen, streng unter einander verbundenen Details, resp. Verhältnissen, giebt uns der Gesichtssinn die Kenntnis des Raumes. Deshalb auch, und nur deshalb ist es uns so leicht möglich, durch einen Teil des Gesichtsbildes des Raumes oder seiner Erinnerung den Rest des bezüglichen Raumbildes durch Association hinzu zu erinnern. Deshalb sind auch die Gesichtsempfindungen eminent associativ oder „relationell“ im Raum, wie Spencer sich ausdrückt. Aus dem gleichen Grund hallucinirt der Geisteskranke so leicht complizirte Raumbilder mit dem Ge- sichtssinn. Das ist ihm mit dem Geruchsinn unmöglich.

Auf ähnliche Weise giebt das Cor ti’ sehe Organ des Ohres zeitlich genau abgemessene Ton- oder Lautskalen und deshalb auch Folgeassociationen viel genauer als die anderen Sinne. Seine Associationen sind deshalb der Hauptsache nach Folge- associationen, weil der Endapparat nicht Raumbilder, sondern Tonfolgen in abgemessenen Zeiten registrirt.

Die bezüglichen corticalen Empfangstellen können zunächst nur dasjenige registriren, was ihnen die Sinnesreize über- mitteln, vornehmlich also associirte Raumbilder für das Gesicht und Ton- oder Lautskalen für das Gehör.

Betrachten wir nun die Art, wie die Gerüche unsere Choanenschleimhaut treffen. Sie kommen dahin als wilde

*) Bekanntlich spielt dabei die Beweglichkeit der Augen, die Bewe- gung des Körpers und der Aussengegenstände eine wesentliche Rolle, sodass ohne dieselben das Auge uns die Kenntnis des Raumes nicht geben würde. Aber ich brauche dies hier nicht näher zu erörtern, da die Fühl- hörner der Ameisen mindestens ebenso beweglich sind und ihr Geruch- sinn noch leichter vom Tastsinn miterzogen wird.

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Gemische in einem Luftstrudel, der sie regellos zu den Endi- gungen des Olfactorius mit der eingeatmeten Luft oder aus dem Gaumenschleim bringt. Ihre Ankunftsart ist so gestaltet, dass sie unmöglich verschiedene Gerüche räumlich in be- stimmten Verhältnissen associirt. Zeitlich lösen sie einander langsam und regellos nach dem Gesetz des stärksten in der Mischung ab, aber ohne jedwede scharfe Combination. Wenn die Luft nach Einatmung eines Veilchengeruches allmählich mehr Braten als Veilchenpartikeln enthält, folgt der Bratengeruch dem Veilchengeruch. Von irgend einer scharfen associirten Skala ist aber nirgends etwas zu merken, sodass weder Zeit- bild, noch Baumbild Gerüche enthalten können, die einander associativ rufen. Höchstens durch sehr vieles Schnüffeln an den Gegenständen könnte man schliesslich ein gewisses Raum- bild gewinnen, was jedoch bei der aufrechten Statur des Menschen schwerlich durchzuführen ist. Allenfalls dürften Hunde, Igel und dergleichen Tiere mittelst Schnüffeln ein ge- wisses Geruchsbild des Raumes gewinnen. Gleich verhält es sich mit dem Geschmack und den visceralen Empfindungen aus dem gleichen Grunde. Alle diese Sinne geben keine scharfen Verhältnisse ihrer Qualitäten, weder im Raum, noch in der Zeit. Aus diesem Grunde geben sie uns allein keine Associa- tionen, keine eigentlichen Wahrnehmungen, keine Erinnerungs- bilder, keine conkreten Objektvor Stellungen, sondern nur Em- pfindungen, oft Mischempfindungen, die unscharf sind und meistens nur mit associirbaren Sinnen associirt werden. Die Hallucinationen des Geruchs, des Geschmacks und der Einge- weidegefühle sind keine Trugwahrnehmungen , da sie keine Objekte Vortäuschen können. Es sind einfache Paraesthesien oder Hyperaesthesien, das heisst pathologische Elementar- empfindungen ohne adaequaten Reiz, oder dem Reiz ina- daequat.

Der Tastsinn dagegen giebt eine grobe Raumkenntnis in bestimmten Verhältnissen und kann daher Hallucinationen, Objecttrugwahrnehmungen produciren. Seine starke Uebung

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bei Blinden kann seine Associirbarkeit steigern. Die visceralen Empfindungen sind meistens mit Tastlocalisationen associirt.

Man ersieht daraus, dass ein Gesetz vorliegt, nach welchem die Psychologie eines Sinnes sich nicht nur nach seiner speci- fischen Energie und seinem adaequaten Reiz, sondern auch nach der Art richtet, wie er die Verhältnisse seiner Qualitäten in Raum und Zeit dem Gehirn übertragen kann. Auf das hin richtet sich die Kenntnis, die dieser Sinn uns von Raum oder Zeitverhältnissen giebt, und infolge dessen seine Fähigkeit Wahrnehmungen und Associationen im Gehirn zu bilden. Grössere oder geringere Uebung kommt natür- lich hinzu oder in Abzug, kann aber nur nach dem Massstab der Verhältnisse der bezüglichen Sinnesreize zum Raum und zu der Zeit die Kenntnisse seines Besitzers über beide bereichern.

Ich bitte Sie, das Gesagte fest zu halten, und sich nun einen Geruchsinn, d. h. einen chemischen Sinn auf Entfernung, der in der Luft gelöste Atome diverser Substanzen mit ver- schiedenen Qualitäten recipiren kann, wie unser Geruchsinn, etwa an der Spitze Ihrer Hände, statt in den Choanen locali- sirt vorzustellen. So sitzt nämlich der Antennengeruchsinn auf der Fühlerkeule einer Ameise.

Stellen Sie sich weiter diese Ihre riechenden Hände in beständiger Bewegung vor, beim Vorwärtsschreiten alle Gegen- stände rechts und links betastend, die Lage aller duftenden Objecte durch Annäherung oder Entfernung rasch dadurch localisirend, dass ihre Oberfläche sowohl gleichzeitig als nach- einander an verschiedenen Stellen verschieden riechende Object- teile recipirt. Es ist von vorneherein klar, dass sie eine förmliche Geruchskarte des Weges aufnehmen werden, und zwar eine doppelte:

a) eine scharfe, aber auf nächste Nähe beschränkte Contact- geruchskarte, welche eine genaue Geruchsform der berührten Gegenstände geben (runde Gerüche, viereckige, längliche Ge- rüche) und ferner harte Gerüche, weiche Gerüche verschaffen

wird, indem sie sich mit den Tastempfindungen combinirt.

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b) Eine weniger scharfe, dafür aber auf eine gewisse Ent- fernung orientirende Karte der weiter duftenden Gegenstände, die wir uns da etwa mit Bezug auf ibr Ausdünsten wie das uns sichtbare Bild des roten Bromgazes vorstellen können.

Haben wir bewiesen, dass die Fühler die chemischen Qualitäten, sowohl beim Contact wie aus der Entfernung, den Ameisen geben, so müssen sie diese Art Baumkenntnis geben, wenn das oben formulierte Gesetz richtig ist, woran schwer- lich zu zweifeln sein dürfte. Sie müssen es schon dadurch, dass gleichzeitig jede Antenne andere und anders riechende Baumteile recipirt.*)

Sie müssen folglich auch Wahrnehmungen und topographisch associirte Erinnerungen eines so betasteten und per Duft reci- pirten Weges geben. Sowohl die eigene Spur der Ameisen als die umliegenden Gegenstände müssen eine chemische (Geruchs-)Baumform mit differenten mehr oder weniger scharf begrenzten Qualitäten in ihrem Gehirn, ein Geruchsbild des nächsten Baumes hinterlassen, das associirte Erinnerungen ermöglicht. Somit muss eine Ameise die Formen ihres Weges mit dem Geruch wahrnehmen, was ihre schlechten Augen ihr nicht gestatten, wenigstens den meisten Arten nicht. Ist dieses wahr, so wird sie stets im Stande sein, auf welchen Teil ihres Pfades man sie auch setzt, zu erkennen, was rechts, links, vorne und hinten ist, folglich welcher Bichtung sie folgen soll, je nachdem sie nach Hause, oder umgekehrt zu einem Blattlausbaum oder dergleichen soll.

Sonderbarerweise hatte ich letztere Thatsache in meinen Etudes myrmecologiques en 1886 (Annales de la societe ento- mologique de Belgique) festgestellt, bevor ich zu ihrer Deutung theoretisch gelangt war. Aber diese Entdeckung führte mich

*) Es ist nicht ohne Interesse, diese Thatsachen mit den Ausführungen Condillac’s (Abhandlung über die Empfindungen) bei seiner hypothetischen Statue zu vergleichen. Condillac zeigt, dass uns unser Geruchsinn allein keine Raumkenntnis geben kann. Anders ist es aber bei dem topo- chemischen Fühlhörnergeruchsinn mit Hülfe der Fühlerbewegung. Hier sind Condillac’s Bedingungen des Tastsinnes erfüllt.

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auch sofort in der gleichen Arbeit zu der eben gegebenen Deutung. Ohne meine bezügliche Arbeit zu kennen, hat nun unlängst A. Bethe die gleiche Thatsache festgestellt (wie er meint entdeckt) und sie als Polarisation der Ameisen- spur bezeichnet. Er findet darin den Ausdruck einer geheim- nisvollen unerklärlichen Kraft oder Polarisation. Wie wir sehen, ist die Sache nicht nur kein Rätsel, sondern umgekehrt ein notwendiges psychologisches Postulat. Unbegreiflich wäre vielmehr das Fehlen dieses Vermögens.

Aber alles, was ich eben gesagt habe, setzt ein recipiren- des Gehirn voraus. Die Bildung von bleibenden Wahrneh- mungen und Associationen kann ohne ein Organ, das die Ein- drücke der Sinne fixiren und unter einander combiniren kann, nicht stattfinden. Dazu genügen die unmittelbaren Sinnes- centren erfahrungsgemäss nicht. Sie recipiren zwar zweifellos, können aber das Recipirte nicht für complicirtere Instinkte, sondern nur für gröbere, einfachere Reflexe und Automatismen verwerten. Ein Ameisenmännchen hat zwar bessere Augen und vielleicht ebenso gute Fühlhörner als ein Ameisenarbeiter, kann aber das Gesehene nicht behalten, und namentlich nicht als Wegbild associiren, weil ihm das Gehirn nahezu fehlt. Deshalb findet es auch keinen Weg zurück. Umgekehrt kann bekanntlich das Gehirn eines amputirten oder schwerhörigen Menschen selbst mit einem Fuss malen, mit einem Armstummel schreiben oder aus den Bildern defecter Sinne Grosses com- biniren.

Ich nehme daher keinen Anstand, den Fühlhörner-Geruch- sinn der Ameisen, Wespen, Hummeln etc. als topochemi- schen Geruchsinn zu bezeichnen.

Kann nun diese Bezeichnung ohne Weiteres auf alle Arthro- poden verallgemeinert werden? Dieses ist wenigstens zu einem grossen Teil zu verneinen.

In der That ist die Mannigfaltigkeit des Baues und der Entwicklung der Arthropodensinne eine ungeheure, und wir müssen uns vor voreiligen Verallgemeinerungen hüten.

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Sicher ist es, dass bei gewissen Lnftinsekten der Geruch- sinn bis auf ein Minimum schrumpft, da nämlich, wo das Männchen sein Weibchen ausschliesslich mittelst der Augen erkennt und verfolgt, wie z. B. bei den Odonaten (Libellen), deren Sitten den Geruchsinn nahezu entbehrlich machen. Hier schrumpfen auch die Fühler bedenklich zusammen.

Vor allem aber giebt es Insekten, deren Fühler unbeweglich da stehen und kein Object zu betasten im Stande sind. So die meisten Dipteren (Fliegen). Nichtsdestoweniger sind diese Fühler oft sehr entwickelt und besitzen auffällige Anschwellungen, die dicht mit Geruchspapillen besetzt sind. Ich habe den Sitz des Geruches in jenen Dipteren-Fühlhörnern experimentell nachgewiesen und sogar gezeigt, dass z. B. bei der Sarco- phaga vivipara und anderen Aasfliegen die Betätigung des Instinktes des Eierlegens absolut von der Geruchsempfindung des Aases und vom Vorhandensein wenigstens eines Fühl- hornes abhängt. Hier fehlt unbedingt der Contactgeruch. Der mehr oder weniger topochemische Ferngeruch muss aller- dings vorhanden sein, da das Fühlhorn nach aussen liegt, aber die Schärfe des Baumbildes muss durch die Unbeweglichkeit der Fühler sehr leiden. Indessen bewegen sich die Fliegen so rasch in der Luft, dass ihre Fühler die Bichtung, woher die Gerüche kommen, sehr schnell unterscheiden müssen. That- sächlich finden sie die Quelle auch versteckt liegender Gerüche mit grosser Sicherheit. Das ist auch keine grosse Kunst; wir bringen es selbst mit Schnüffeln oder hin und her gehen, fertig. Ihren Weg in der Luft finden jedoch die Fliegen keineswegs mit dem Geruch, sondern mit den Augen. Somit steht ihr Geruchsvermögen psychologisch demjenigen der Säuge- tiere vielleicht näher als dem topochemischen Geruch der Ameisen, denn es kann ihnen keine constanten und scharfen Baumverhältnisse verschaffen.

Selbst bei manchen Insekten, die bewegliche Fühler haben und weniger Lufttiere sind, wie z. B. die Lamellicornen und die Bombyciden, ist offenbar der Antennengeruchsinn viel mehr

auf Fernwirkung, d. h. auf wittern entfernter Gerüche, als auf Raum und Pfaderkenntnis eingerichtet. Solche Insekten finden ihren Weg mittelst der Augen, fliegen aber in die Rich- tung hin, von wo her ihre Fühler einen gesuchten Geruch wittern.

Der eigentliche topochemische Antennensinn dürfte daher vor allem bei denjenigen Arthropoden gut entwickelt sein, deren Fühlhörner nicht nur in der Luft beweglich, sondern zum Betasten der Gegenstände eingerichtet sind. Bei den- selben kann der immerhin topochemisch ungenauere Fern- geruch durch den Contaktgeruch jeden Augenblick controlirt und scharf topographisch, resp. topochemisch fixirt werden, wie es die Ameisen so ausgiebig praktiziren.

Man kann mir ferner einwenden, dass ein Contaktgeruch nicht viel mehr geben könne als der Tastsinn. Ich habe mir diesen Einwand selbst gemacht. Allein erstens muss man mit den Thatsachen rechnen. Es ist eben Thatsache, dass die In- sekten beim Tasten mit ihren Fühlern vor allem die chemische Beschaffenheit der betasteten Objekte erkennen und unter- scheiden, und diese ungleich mehr beachten als die (auch wahr- genommen) mechanischen Reize. Zweitens giebt der Tastsinn nur die Resistenz und durch dieselbe die Form. Dagegen ist die Mannigfaltigkeit der Gerüche ungeheuer und man kann nach weisen, wie ich es für die Ameisen und v. Buttel-Reepen für die Bienen gethan haben, dass diese Tiere allein bei der Unter- scheidung von ihren verschiedenen Nestgenossen und Feinden die Wahrnehmung ungemein feiner und zahlreicher Nuancen von Geruchsqualitäten verraten.

Combinirt mit dem topochemischen Raumwahrnehmungs- vermögen müssen diese vielen Geruchsqualitäten einen Raum- sinn bilden, der dem Tastsinn bedeutend überlegen ist. Die ganze Biologie der sozialen Hymenopteren liefert dazu den objektiven Nachweis.

Es würde sich sicher lohnen, diese Frage bei anderen Arthro- podengruppen mit complizirten Instinkten näher zu prüfen-

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Zum Schluss will ich ein selbstbeobachtetes Beispiel der Leistungsfähigkeit des topochemischen Geruches anführen:

Die amerikanische Ameisengattung Eciton lebt aus Raub, bildet vorübergehende Wandernester, und unternimmt von da aus Jagdzüge auf allerlei Insekten. Die Ecitons folgen einander im Gänsemarsch und erspähen äusserst schnell neue Reviere. Als Yisitenameisen, wie die afrikanisch-indischen Dorylus- Arten bekannt, überfallen sie oft Häuser, untersuchen alle Mauer- und Zimmerritzen nach Spinnen, Schwabenkäfern, Mäusen und selbst Ratten, töten und zerstückeln alles dieses Ungeziefer in wenigen Stunden und bringen die Beute nach Hause. Eine Maus wfird von ihnen blank skelettirt. Sie greifen auch andere Ameisen- Arten an und plündern ihre Nester aus.

Nun sind alle Arbeiter der D orylus- Arten aus Afrika, sowie mancher Eciton- Arten vollständig blind, sodass der Fühlhörnersinn sie ganz allein orientirt.

Ich hatte das Glück, 1899 in Eaisons (Nord-Carolina) ein Wandernest des völlig blinden kleinen E c i t o n carolin ense in einem morschen Baumstamm zu entdecken. Ich steckte es in einen Sack und stellte einige Beobachtungen an. Die Ecitonarbeiter tragen ihre länglichen Larven mit den Kiefern so, dass der grössere Teil der Larve zwischen ihren Beinen zu liegen kommt, und, dass ihre Fühlhörner vorne völlig freies Spiel haben.

East unglaublich ist ihre Fähigkeit einander zu folgen und sich auf neues Terrain einhellig und rasch zurechtzufinden, ohne dass auch nur eine sich verliert. Ich warf eine Hand voll Ecitons mit Brut in einen ganz fremden Garten in Washington, also nach einer langen Eisenbahnreise, weit von ihrem Nest entfernt. Ohne eine Minute zu verlieren, fingen die Tierchen an Reihen zu bilden, welche nach 5 Minuten schon völlig organisirt schienen. Beständig den Boden mit den Fühlern betrillernd, trugen sie bereits ihre Larven und schritten, das Terrain recognoscirend in allen Richtungen geordnet, vor-

wärts. Kein Sternchen, kein Kitzchen, kein Pflänzchen wurde unbeachtet gelassen oder übersehen. Die zweckmässigste Stelle zur Unterbringung ihrer Brut war baldigst gefunden, während unsere meisten europäischen Ameisen, unter solchen Bedingungen, d. h. an einem völlig unbekannten Ort, meistens wohl eine Stunde brauchen, bis sie annähernd so weit sind. Die Ordnung und die Schnelligkeit, mit welcher ein solcher Umzug inmitten eines den Tierchen bisher total unbekannten Ortes stattfindet, grenzt an’s Fabelhafte. Ich habe das Experiment an zwei Orten wiederholt, jedes Mal mit dem gleichen Resultat. Die Fühl- hörner der Ecitons sind hochentwickelt und ihr Gehirn ist offenbar instinktiv an eine solche rasche Orientirung an fremden Orten besonders angepasst.

In Columbien habe ich zwar nicht die Wandernester, wohl aber die Raubzüge augenbesitzender, grösserer Ecitonarten (Burchellii und hamatum) beobachtet. Dieselben über- treffen aber keineswegs an Orientirungs- und Zusammenmarsch- vermögen den ganz blinden E. Carolinens e. Sowie eine Ameise merkt, dass ihr nicht gefolgt wird, kehrt sie zurück und folgt den Anderen. Aber das Wunderbare ist die Sicher- heit und Raschheit dieses Merkens, die Geschwindigkeit und Sicherheit, mit welcher die Tiere die Richtung ihrer topo- chemischen Spuren ohne Zaudern erkennen. Von dem Herum- tappen und -irren unserer meisten Ameisen ist bei ihnen nichts zu bemerken. Höchstens unsere Tapinoma und Polyergus bieten etwas Aehnliches, jedoch weniger Vollkommenes dar. Aber man muss auch sehen, welches perpetuum mobile die Fühlhörner der Eciton darstellen, wie lebhaft die Ameisen den Boden, alle Gegenstände und ihre Gefährtinnen betrillern.

Nie und nimmer könnte der Tastsinn allein solches leisten, und ebenso wenig ein Geruchsinn, der keine Raumassociationen geben könnte. Sobald man einen Eciton seiner beiden Fühler beraubt, ist er, wie jede andere Ameise, total verloren, kann sich absolut nicht mehr orientiren, und erkennt keine Ge- fährtin mehr.

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Der topocliemische Geruchsinn der Fühler giebt, in Ver- bindung mit der starken Entwicklung des Grosshirns (Cor- pora pedunculata) den Schlüssel zur Ameisenpsycbologie. Da ich Letztere in dem vorhergehenden Vortrag zu behandeln hatte, fand ich nötig, diese vielfach missverstandene Spezial- frage hier im Detail zu erörtern.*)

*) In seinen neuesten „Souvenirs entomologiques“ (7rae sörie), hat J. H. Fahre mit dem Vermögen der Saturnia und Bombyx-Männchen ihre Weibchen auf grosse Entfernungen und in versteckter Lage aufzufinden zahlreiche sinnreiche Experimente gemacht. Er hat vergebens versucht (das war vorauszusehen) durch für uns starke Gerüche den Weibchengeruch zu verdecken; die Männchen kamen dennoch. Folgendes hat er fest- gestellt: 1) Selbst Gegenwind hindert die Männchen nicht ihren Weg zu finden; 2) Wenn man die Schachtel, wo das Weibchen sitzt, locker schliesst, kommen die Männchen dennoch daran; 3) Schliesst man sie her-, metisch (z. B. mit Watte oder verlötet), so kommen sie nicht mehr; 4) Das Weibchen muss eine Zeitlang an einer Stelle sitzen, bis die Männchen kommen; 5) Stellt man dann das Weibchen plötzlich unter ein Drahtnetz oder eine Glasglocke, wohl sichtbar, so flie- gen die Männchen nicht zu ihr, sondern an ihr vorbei, zu derStelle, wo sie vorher sass und ihren Geruch hinterlassen hat; 6) Das Experiment der Fühlerdurchschneidung beweist wenig : die fühlerlosen Männchen kommen zwar nicht mehr, aber auch andere Männ- chen kommen meistens nur einmal; ihr Leben ist zu kurz und bald erschöpft.

Fahre wollte zuerst nicht an Geruch glauben, musste aber durch seine eigenen Experimente das Gesicht und das Gehör ausschliessen. Nun macht er eine kühne Hypothese : der Geruchsinn der Insekten habe zwei Energien, die erste (die unsrige), welche gelöste chemische Partikeln, die zweite, welche „physikalische Geruchswellen“, ähnlich den Licht- wellen oder Schallwellen recipirt. Er sieht schon voraus, wie die Wissen- schaft uns eine „Radiographie der Gerüche“ (nach dem Muster der Röntgen’schen Strahlen) verschaffen wird. Gegen diese Ansicht sprechen aber seine eigenen, unter 4 und 5 erwähnten Resultate. Die grosse Ent- fernung, aus welcher gerade die Bombyxmännchen ihre Weibchen wittern ist ihm ein Beweis, dass es sich unmöglich um gelöste chemische Partikeln handeln könne. Und diese gleichen Tiere wittern ihr Weibchen erst nach einiger Zeit, und wittern die Stelle wo es sass, statt des Weibchens, wenn man letzteres entfernt; dies wäre aber bei einem physikalischen Wellensinn undenkbar, während es sehr gut mit einem äusserst feinen chemischen Geruchsinn übereinstimmt.

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Thatsache ist es, dass die Insekten vielfach Gerüche, die für uns intensiv sind, nicht beachten, und trotz ihres Vorhandenseins Substanzen wittern, die für uns geruchlos sind. Dies müssen wir so erklären, dass die Geruchspapillen verschiedener Tierarten zur Rezeption sehr ver- schiedener Substanzen besonders angepasst sind. Alle biologischen Beob- achtungen sprechen dafür, und unsere physico-chemischen Theorien haben sich darnach zu richten.

Erklärung der Tafel

Gehirn (Oberes Schlundganglion) des Lasius fuliginosus Latr,, 60 mal vergrössert, von oben gesehen,

Fig. A Gehirn des Arbeiters.

Fig. W Gehirn des Weibchens.

Fig. M Gehirn des Männchens.

St. = Gehirnstamm.

L. op. Lobus opticus (Sehlappen).

L.olf. Lobus olfactorius oder antennalis (Riechlappen).

N. = Netzauge.

N. olf. = Nervus olfactorius oder antennalis (Riechlappen).

O. = Ocellen oder Stirnaugen mit Nerven (nur beim Männ- chen und Weibchen vorhanden).

H. = zellige Grosshirnrinde (nur beim Arbeiter und Weib- chen entwickelt).

C.p. = Corpora pedunculata oder Grosshirnstiele (nur beim Arbeiter und Weibchen entwickelt).

R. = Rudimentäres Grosshirn des Männchens.

Die Körperlänge der ganzen Ameise beträgt:

beim Arbeiter: 4,5 mm. beim Weibchen: 6,0 mm. heim Männchen: 4,5 mm.

NB. Die Streifung der Corpora pedunculata und ihrer Stiele ist schematisch dargestellt, um in grober Weise ihre höchst feine fribilläre Struktur anzudeuten.

A

W

M