SSS

1 1 7 1 N

m

ee :

a a a ee ee Brett nn Zune ke en

NN

ne un.

Zwei Erzählungen

von

Sanıy Sewald.

Im unterzeichneten Verlage erſcheinen demnächſt und ſtnd durch alle Buchhandlungen zu beziehen:

Fanny Lewald's

geſammelte Werke. Neue elegante Ausgabe. In 30 vierzehntägigen Lieferungen & 15 Sgr.

Der vorläufige Inhalt dieſer neuen Ausgabe iſt folgender:

Meine Lebensgeſchichte. Abtheilungen.

Erſter Band: Im Vaterhauſe. Zweiter Band: Seidensjahre. Dritter Band: Wanderleben.

(Zujammen 9 Lieferungen.)

2. Von Geſchlecht zu Geſchlecht. Roman in 2 Abth.

Erſte Abtheilung: Der Freiherr. Zweite Abtheilung: Der Emporkömmling.

(Beide zuſammen 12 Lieferungen.

3. Clementine. Auf rother Erde. Jenny. Eine Lebensfrage. |

(Zujammen 9 Lieferungen.)

Verlags⸗Buchhandlung von Otto Janke

in Berlin.

Die Alnzertrennlichen. Pflegeeltern. Zwei Erzählungen

von

Fanny Lewald.

Das Recht der Ueberſetzung iſt vorbehalten.

Berlin, 1871. Druck und Verlag von Otto Janke.

Die Inzertrennliden.

Fanny Lewald, Neue Erzählungen.

Erſtes Capitel.

Es war im Frühling des Jahres achtzehnhundert⸗ ſechsundſechzig. Der Krieg gegen Oeſterreich war erklärt worden, die Truppen zum großen Theile ausgerückt, die Stimmung in Berlin war ernſt, ohne deshalb gedrückt zu ſein. In ganz Preußen hatte man mit Widerſtreben an dieſen deutſchen Bruderkrieg gedacht. Die Bürger hatten Abgeordnete an den König geſendet, um es demſelben aus⸗ zuſprechen, wie ſehr man dieſem Kriege Deutſcher wider Deutſche abgeneigt ſei, und man wußte, daß auch der König ſelber ihn zu vermeiden gewünſcht hatte. Nun der Entſcheidungskampf unvermeidlich und beſchloſſen worden war, ging man ihm wie einer traurigen Noth⸗ wendigkeit feſten Herzens und feſten Sinnes entgegen, und es gab kaum eine Familie im Lande, die nicht einen der Ihren zum Feldzug zu entlaſſen hatte.

Aus den Hörſälen und von den ee der

Fanny Lewald, Neue Erzählungen.

2

Univerfitäten, von den Kathedern der Schulen, aus den Gerichtshöfen und von der mediziniſchen Praxis, aus den Comptoirs und von den Unternehmungen der Induſtrie, ging die Landwehr, gingen die Jünglinge und Männer zum Heere ab, und wer geſtern noch das Kleid des friedlichen Bürgers getragen hatte, zog heute in der Landwehr⸗Uniform in den Reihen oder an der Spitze ſeiner Compagnie zum Sammelplatze.

Auch die ganze Mitwochs-Geſellſchaft ſtand jetzt unter den Waffen. Sie hatte ſich einige Jahre vor⸗ her aus einer Anzahl junger Männer von den ver⸗ ſchiedenſten Berufsarten zuſammengeſetzt und keinen anderen Zweck gehabt, als den eines regelmäßigen Zu⸗ ſammentreffens an einem beſtimmten Orte. Gerade aber weil die Studien und die Thätgkeit der jungen Männer ſo mannigfaltiger Art geweſen waren, hatte es niemals an einer belebten und förderſamen Unter⸗ haltung gefehlt und jugendlicher Frohſinn hatte mit ernſten Geſprächen in aller Zwangloſigkeit eine glück⸗ liche Abwechslung geboten. Eine längere Zeit hin⸗ durch war man der Reihe nach bei den verſchiedenen Theilnehmern zuſammengekommen, bis ſich ihnen in dem Doktor Claudius ein neuer Gefährte zugeſellt hatte.

Claudius war um ein Bedeutendes älter, als der

2 >

ganze übrige Freundeskreis, von dem noch keiner fein dreißigſtes Lebensjahr erreicht hatte. Er war von Hauſe aus reich begütert, hatte archäologiſche und kunſthiſtoriſche Studien betrieben und hatte ſich, obſchon unverheirathet, in der Hauptſtadt eine Häuslichkeit ge⸗ gründet, deren edle, ſtylvolle Einrichtung, deren maß⸗ volle und doch freigebige Gaſtlichkeit von allen denen, welche derſelben theilhaftig geworden, als ein in ſeiner Art Unvergleichliches geprieſen wurden. Ein zufälliges Begegnen hatte ihn mit dem Architekten Manfred zu⸗ ſammengeführt, der einer der eifrigſten Aufrechterhalter des Vereines war; dieſer hatte ihn allmälig mit der ganzen übrigen Geſellſchaft bekannt gemacht, und da Claudius ſich trotz ſeiner achtundvierzig Jahre eine große Jugendlichkeit des Sinnes und eine eben ſo leb⸗ hafte Empfindung bewahrt, hatte Manfred, als die Reihe der Bewirthung wieder an ihn gekommen war, es endlich gewagt, Claudius zu ſich einzuladen, der dieſer Aufforderung freundlich nachgekommen war. Im erſten Augenblicke hatte die Anweſenheit des älteren Mannes etwas Befremdliches für die jungen Leute gehabt, aber Claudius' Bildung war vielſeitig, ſeine Erlebniſſe und ſeine Erfahrung waren reich, und

er war ſeiner und ſeiner Bedeutung ſo durchaus ge⸗ | 1?

-

wiß, daß er es nicht nöthig fand, ſich irgendwie gel- tend, ſeine Bedeutung irgendwie fühlbar zu machen. Das gab ſeinem Betragen und ſeiner Würde immer etwas Freies und Unbefangenes, und noch ehe jener erſte Abend vorüber gegangen war, hatte die ganze Geſellſchaft für ihre nächſte Zuſammenkunft eine Ein⸗ ladung in ſein Haus empfangen und auch angenommen.

Ein paar Male noch hatte man ſeitdem mit dem üblichen Wechſel des Zuſammenkunftortes fortgefahren und Claudius war immer mit dabei geweſen; dann aber, als er fühlte, daß der ganze Kreis der jungen Männer ſich an ihn gewöhnt habe, hatte er den Vorſchlag ge⸗ macht, man möge ſeiner Bequemlichkeit zu Liebe und ſei⸗ nem Alter zu Ehren, ein für alle Male ſein Haus zum Rendezvous benützen, und da er ſeiner Weiſe nach, weiter darauf keinen Anſpruch für ſich gründete, hatte es ihn nicht viel Ueberredung gekoſtet, dieſes An⸗ er bieten ſeinen jungen Freunden annehmbar zu machen.

Nun war man zwei Jahre lang an jedem Mit⸗ woch in ſeinem Hauſe beiſammen geweſen, die jungen Männer waren ihm werth und werther geworden, an Jedem von ihnen hatte er Antheil nehmen lernen, ihr geiſtiges Streben, ihr Vorwärtskommen hatten ihn be⸗ ſchäftigt und gefreut. Er kannte ihre Lebensſchickſale,

Dem und Jenem hatte er in den Wirren und Irr⸗ thümern, die kaum einem Jünglinge erſpart bleiben, warnend, aufklärend, berathend und helfend zur Seite geſtanden und es hatte ſich ſo allmälig ein wahrhaft ideales Verhältniß zwiſchen ihm und ſeinen jüngern Freund en herausgebildet. Sie erſetzten dem Einſamen die Familie, welche ſich zu gründen eine traurige Er⸗ fahrung ihn abgehalten hatte, und obſchon auch er die Nothwendigkeit dieſes Krieges anerkannte, fiel es ihm wie einem Vater ſchwer, als von ſeinen jungen Freun⸗ den einer um den anderen zu ihm kam, ihm ſein Lebe⸗ wohl zu ſagen.

Am Morgen waren die beiden Jüngſten der Ge⸗ noſſenſchaft noch bei ihm vorgeſprochen. Johannes war Mediziner und hatte ſeine Studien nahezu been⸗ digt, Egon war Berufsſoldat und Lieutenant in der Artillerie. Sie waren Landsleute und Beide in dem höchſten Norden Deutſchlands heimiſch. Schon als Knaben hatten ſie mit einander geſpielt, die Schule und das Gymnaſium hatten ſie zuſammen beſucht, bis Egon in das Militär getreten war; und ſie hatten es als ein Glück begrüßt, als ihre verſchiedenen Studien ſie in Berlin auf das Neue einander zugeführt hat⸗ ten. Man nannte ſie nur die Unzertrennlichen, ſie

6

hingen mit der ſchönen Begeiſterung der Jugend an einander, und ſie hatten Grund ſich gegenſeitig hoch zu halten, denn ſie waren einander an glücklicher Be⸗ gabung, an Redlichkeit des Willens, an ernſtem Stre⸗ ben innerhalb ihres gewählten Berufes durchaus ähn⸗ lich; nur in ihren Glücksverhältniſſen und in dem Grunde ihrer Charaktere waren ſie durchaus verſchieden.

Egon's Mutter ſtammte aus einer alten katho⸗ liſchen Grafenfamilie und hatte nach den Begriffen derſelben einen nie zu verzeihenden Fehltritt begangen, als ſie mit dem Lieutenant von Raven, der ein Pro⸗ teſtant und völlig unbemittelt war, aus dem Hauſe ihrer Eltern entfloh. Die ganze ſtolze Familie hatte ſich damals für immer von ihr abgewendet, und auch das Glück ihrer jungen Jahre war ihr nicht treu ge⸗ blieben. Ihr Gatte war früh geſtorben, von drei Kindern war ihr keines als Egon am Leben geblieben, und all ihr Lieben und Hoffen, ja ihre ganze Aus⸗ ſicht für die Zukunft, waren an dieſen Sohn geknüpft. Unter den ſchwerſten Entbehrungen hatte fie ihn mit den geringen Mitteln erzogen, welche die Peuſion einer Hauptmannswittwe ihr darboten; wenn er gegen ſeine Altersgenoſſen in dem Kadettenhauſe zurückſtehen mußte, hatte ſie ihn auf ſich ſelbſt und auf das ideale Leben

m 6

hingewieſen, das Jeder in ſich trägt und Jeder in ſich führen kann, und weil ſie ihn gegen die Verlockungen der Welt zu ſichern gewünſcht, hatte ſie ihn ſo viel als möglich an ſich zu feſſeln und ſeine Ehrbegriffe zu entwickeln geſtrebt. Er war auf dieſe Weiſe früh⸗ zeitig mit dem Ernſt des Lebens vertraut geworden er war ſittlich rein und jeder Leichtfertigkeit abhold geblieben, aber er war auch reizbar und mißtrauiſch, verſchloſſen und leicht verletzlich dadurch geworden, und ſeine Ehrbegriffe gingen bis zur Ueberſpannung. Es hatte einer ſo warmherzigen Natur, wie die ſeines Freundes Johannes bedurft, um Egon's Herz zu er- ſchließen. Er hatte nie einen andern Freund gehabt als ihn, und kaum in das Jünglingsalter eingetreten, hatte er es oftmals gegen Johannes ausgeſprochen, daß er eigentlich ſich nicht ſelber angehöre, weil ſeiner Mutter Schickſal völlig auf dem ſeinigen beruhe.

Um ſo unabhängiger ſtand Johannes da. Er hatte nicht Vater und nicht Mutter; er und ſein um zehn Jahre älterer Bruder waren früh verwaiſt, ein Onkel hatte ihr Vermögen verwaltet, das eben groß genug war, ihnen eine anſtändige Freiheit zuzuſichern, und Freiheit hatte der Onkel den beiden Brüdern über⸗ haupt gelaſſen, da die gutartige Anlage der jungen

8

Männer ihm keine Urſache geboten hatte, fie irgendwie zu hindern oder ſie zu beſchränken. Beide Brüder hatten jetzt den Feldzug mitzumachen. Der ältere war bereits als Rath in einem Regierungskollegium ange⸗ ſtellt, aber ſie ließen keinen nahen Angehörigen zurück, und Johannes war eben deshalb, als er in Beglei⸗ tung ſeines Egon, dem er mit der ganzen Schwär⸗ merei der Freundſchaft ergeben war, dem Doctor Clau⸗ dius ſein Lebewohl zu ſagen kam, bei weitem leichteren Sinnes und freieren Herzens als der junge Offizier.

Der Doctor hatte aber gerade für dieſen ſtets eine beſondere Theilnahme gehegt und der ſchwer⸗ müthige Ernſt, welcher auf der edeln Stirne des Jünglings lagerte, erſchreckte Claudius; denn von ſeiner antiken Bildung war ein Zug antiken Aber⸗ glaubens in die Seele des Archäologen übergegangen, und der Schatten der Sorge, der über dem Jüngling ſchwebte, kam Claudius wie ein Unheil verkündendes Omen vor. Er mochte Egon mit dieſem düſtern Blick nicht von ſich ſcheiden laſſen, es überfiel ihn auch ſel⸗ ber ein Schmerz bei der Vorſtellung, daß nun die beiden Letzten des ganzen fröhlichen Kreiſes von ihm gingen, und plötzlich von einem Gedanken erfaßt, rief er, als jene bereits ihre Helme ergriffen hatten, um

a

ſich zu entfernen: „Nein! So laſſe ich Sie noch nicht von mir. Es iſt ja heute Mitwoch und jedes Wieder— ſehen iſt ein Ueberwinden des Todes! Was hindert uns denn, ſammt und ſonders, da glücklicher Weiſe Alle noch in der Stadt beiſammen ſind, noch einmal zuſammen zu kommen? Ich ſehe Sie Alle heute Abend noch bei mir. Die Einladungen ſchreibe ich ſofort, und da Einige von Ihnen vorausſichtlich in ihren Fa⸗ milien feſtgehalten ſein werden, ſo will ich Sie erſt um eilf Uhr hier bei mir erwarten. Ein paar Stun⸗ den bleiben wir dann noch beiſammen, und dann ſchei⸗ den wir. Auf heut' Abend alſo um eilf Uhr!“

Zweites Capitel.

In Claudius' Hauſe war man den ganzen Tag hindurch auffallend geſchäftig. Arbeiter mancher Art gingen der Dienerſchaft zur Hand, der Hausherr ſelber überwachte mit kunſtſinnigem Auge Alles, was man vorbereitet, und als um die feſtgeſetzte Stunde die jungen Gäſte den Saal betraten, in welchem fie ge⸗ wohnt waren, ſich bei Claudius zu treffen, erkannten ſie das ihnen ſo vertraute Gemach kaum wieder.

Der ganze Raum. Wände, ſo wie Fenſter, war mit einfarbigem Stoff bekleidet, der die reiche Bilder⸗ ſammlung verhüllte, alle Möbel waren aus dem Saale entfernt, nur den Flügel und die Büſten des Jupiter Otricoli, des Belvederiſchen Apoll und der Venus von Milos hatte man auf ihren gewohnten Plätzen ge⸗ laſſen, und ihnen einen Hintergrund von ſüblichen Sträuchen und Gewächſen gegeben. Eine lange niedrige

11

Tafel mit leichten Speiſen, mit Früchten und Geträn⸗ ken wohl beſetzt, nahm die Mitte des Saales ein, Polſterſitze umgaben ſie; alle Geräthſchaften auf der Tafel waren antik, für jeden der Geladenen ſtand der mit Epheu bekränzte Becher auf dem Tiſch, für Jeden lag ein Kranz bereit, und beleuchtet von dem Schein des hellen Lichtes, das von der Decke und von den Lampen auf den Kandelabern in den Ecken des Ge- maches niederſtrömte, ſtand Claudius mitten in dem Saale, ſeine Gäſte zu empfangen.

Einer um den Andern blieb betroffen ſtehen. Man wußte ſich den Vorgang nicht zu deuten. Allen lag der Abſchied von den Ihren noch ſchwer auf der Seele, man war noch ſo eng verwachſen mit dem Er⸗ leben eben dieſer letzten Stunde, man hatte ſich von Vater und Mutter, von Brüdern, von Schweſtern und von Bräuten losgeriſſen die Stirnen waren noch von den Thränen der Zurückgebliebenen bethaut, man fühlte noch die ſegnende Hand auf dem geneigten Haupte, noch den bebenden Händedruck der Eltern, noch die Arme der Braut, die ſich um den Nacken des Geliebten geſchlungen man konnte ſich in Alles das, was in dem Zimmer des Freundes wie eine unzeitige Komödie erſchien, nicht gleich finden, und

12

ſtatt ſich aufzuthun, ſchloſſen ſich die Herzen wie die Lippen. 5

Man mochte nicht fragen: was bedeutet das? und man hatte auch zum Erſtaunen nicht viel Zeit, denn man war pünktlich eingetroffen, und ſobald man vollzählig beiſammen war, trat Claudius mitten in den Saal hinein, die Gäſte zu begrüßen.

„Ich konnte dem Verlangen nicht widerſtehen,“ ſprach er, „noch eine Stunde mit Ihnen zu verleben, und da wir uns vor einem Augenblicke befinden, wie wir ihn Alle noch nicht gekannt, habe ich gemeint, wir müßten ihn auch als einen beſonderen in uns feſt⸗ zuhalten, ihn auch durch ein äußeres Zeichen denn am Zeichen hält der Geiſt die Welt von allen ſeinen Vorgängern und Nachfolgern zu unterſcheiden ſuchen. So oft wir hier zuſammen gewefen ſind, iſt der Geiſt der Schönheit und der Freiheit, wie er uns von den Alten überliefert worden, wie ihn unſere He⸗ roen: Leſſing, Goethe, Schiller, von den Alten in ſich aufgenommen und fortgebildet haben, der Schutzgeiſt geweſen, der uns hier verbunden hat. In uns Allen iſt dieſer Geiſt mächtig und mächtiger geworden, und wie verſchieden die Berufsarten und Charaktere unter uns auch ſein mögen, in uns Allen iſt es lebendig

15

das Pflichtgefühl, welches das Gute um des Guten wegen will und thut, und das Bedürfniß, die Schön⸗ heit und die Poeſie nicht nur im Geiſte anzuerkennen und zu verehren, ſondern die Wirklichkeit, das Leben und den Tod, durch Freiheit zu adeln, durch Schön— heit zu verklären und ſie damit zur Poeſie zu erheben. Nun denn, meine Freunde! Es iſt die Pflicht, es iſt eine zwingende Nothwendigkeit, und es iſt zugleich eine freie Erkenntniß, welche Sie morgen für die Er⸗ haltung der Selbſtſtändigkeit unſeres Vaterlandes in den Kampf führen wird. Wie die Schickſalsſprüche dem Einzelnen von Ihnen fallen werden wer will das vorausſehen? Aber dieſe Stunde iſt unſer! Heute leben Sie noch Alle im Vollgefühl der Jugend und der Kraft. Freuen wir uns deß! Scheuchen Sie von ſich die Bilder der Wehmuth, die trüben, herzerwei⸗ chenden Gedanken, welche die letzte Stunde Ihren Seelen etwa eingeprägt. Drücken Sie die Roſenkränze in Ihr Haar, und laſſen Sie uns die Augenblicke, die uns noch gemeinſam ſind, fröhlichen und freien Herzens verbringen, in erfreulichen Gedanken, in feſtem Glauben an den Sieg des Guten und des Wahren, und in der Hoffnung auf ein Wiederſehen, das wir, wenn der Kampf beendet, der Sieg errungen

14

fein wird, roſenbekränzten Hauptes, vollzählig wie in dieſer Stunde, hier in dieſem ſelben Raume feiern wollen! Alſo auf ein fröhliches Wiederſehen nach Kampf und Sieg!“

Er hatte bei den letzten Worten ſich den Kranz, der auf dem Mittelplatz des Tiſches lag, in ſein vol⸗ les graues Haar gedrückt, und ſelber mit dem Schöpf⸗ kruge aus dem großen Gefäße, in welchem das flüſſige Gold des duftenden Rheinweins erglänzte, ſeinen Becher gefüllt. Wie er nun mit der feinen Geſtalt, mit dem geiſtdurchleuchteten Antlitz, den Becher in der erhobe⸗ nen Rechten, unter den jungen Männern daſtand, Einen um den Andern mit ſeinen hellen Augen freund⸗ lich begrüßend, war es, als falle jedes Bangen und Sorgen des Momentes von ihnen ab, ja als wären ſie ſelbſt den Bedingungen ihres ganzen bisherigen Lebens weit entrückt, als tränken ſie den Quell der Vergeſſenheit aus den antiken Bechern, die ſie an ihre Lippen ſetzten.

Die Herzen wurden ihnen frei und weit, ſie dachten nicht mehr rückwärts, nicht mehr an das, was dem Einzelnen angehörte, nicht mehr an die Familie und an das Vaterhaus. Vorwärts und auf das All⸗ gemeine wendeten ſich die Blicke und die Gedanken, als

15

ſie, dem Beiſpiel ihres Wirthes folgend, wie er ihr Haar bekränzten, wie er ſich lagerten auf den Pol⸗ ſtern um den dreiſchenkligen Tiſch, und weit fortge⸗ tragen in die Regionen des freien Denkens, waren ihnen als ſie ſich trennten, weil die Regimenter mit Tagesanbruch auf den Sammelplätzen zu erſcheinen hatten, zwei ſchwungvolle und geiſtdurchleuchtete Stun⸗ den wie im Flug vergangen, und man ſchied mit einem freudigen und zuverſichtlichen: auf Wiederſehen!“)

Arm in Arm gingen Egon und Johannes von dem Feſte heim. Sie hatten ihren Weg durch den Park zu machen. Die Nacht war warm, der Mond durchleuchtete ſie und ſtrömte ſein Licht durch das dichte Laub der Bäume auf die beiden Jünglinge her⸗ nieder.

„Claudius iſt doch ein prächtiger Menſch!“ ſagte Egon, als ſie eine Weile neben einander hingegangen waren; „und was ich am meiſten an ihm ſchätze und ihm nachzuahmen lernen möchte, das iſt die Art und Weiſe, mit welcher er raſch und leicht über das, was er das Perſönliche, das Zufällige, das Vergängliche nennt, zu dem Allgemeinen und dem verhältnißmäßig

*) Einem in Berlin von Landwehroffizieren wirklich be- gangenen Abſchiedsfeſte nacherzählt.

16

Dauernden hinwegzugehen vermag, Es iſt wahrſchein⸗ lich Keiner unter uns Allen, dem er nicht für die Cam⸗ pagne irgend Etwas mitgegeben, oder deſſen Angele⸗ genheiten hier in Obhut zu nehmen er ſich nicht er⸗ boten hätte. Es iſt ihm nichts zu gering, es iſt ihm Alles wichtig, was den einzelnen Menſchen betrifft, und doch vermag er es immer, über die Schickſale des Einzelnen hinweg das große Ganze freien Sinnes in's Auge zu faſſen. Das iſt groß und ſchön.“ „Gewiß!“ bekräftigte Johannes. „Es fiel mir eben heute auf, wie bewegt er war, als er von uns ſchied; aber wenn von uns Allen Keiner wiederkehrte, würde das, ich bin des völlig ſicher, nicht den Gleich⸗ muth ſeiner Seele trüben, vorausgeſetzt, daß mit unſerem Tode die Einigung und die Freiheit Deutſch⸗ lands gefördert worden wären; und ſo ſoll es ja auch ſein. Das Schiller'ſche Wort iſt wahr: Setzen wir nicht das Leben ein, nie wird uns das Leben gewon⸗ nen ſein! Aber was ein durchgeiſtetes Feſtmahl in ſeiner Gemeinſamkeit bedeutet, wie es dem Einzelnen die Kraft der Geſammtheit einflößt, das habe ich bis heut doch noch nicht gewußt; ja ich habe mich eigent⸗ lich nie ſo wie jetzt völlig frei und, ich möchte ſagen, fo unbekümmert um Alles gefühlt, was mich ſelbſt be-

17

trifft. Es hat doch Jeder von uns Menſchen, an denen er hängt, Dinge, auf die er Gewicht legt. Ich habe mich die Tage, wenn ich neben meinem Bruder geſeſſen habe, wohl gelegentlich auf dem Gedanken an⸗ 8 getroffen: ob ich ihn wiederſehen würde, nachdem wir morgen zu unſern Regimentern abgegangen ſein wer⸗ den? Heute denke ich: was kommt's darauf an! Dem Ueberlebenden iſt die Erinnerung an den Todten un⸗ verlierbar, und fallen wir Beide, nun ſo rollen die Welten ihre Bahnen gerade ſo weiter fort wie jetzt, der Mond ſcheint eben ſo ſchön und die Nachtigallen ſchlagen und locken, ſo wie in dieſer Stunde.“

Egon ſeufzte und drückte dem Freunde die Hand. „Du haſt keine Mutter!“ ſagte er, „keine Mutter, die einſam und kränkelnd die Minuten der Sorge ſchwer wie Jahre auf ſich laſten fühlt. Sieh!“ rief er, „ich darf es ſagen, denn es fehlt mir nicht an Muth, der Gedanke an die Mutter lähmt mir den Aufſchwung des Geiſtes. Aus dem Becher voll hellen Weins, zwiſchen den Roſenkränzen um Eure Häupter, habe ich ihre weinenden Augen geſehen; mitten in den Wor⸗ ten des Feſtes, die mich emportrugen wie Euch, habe ich doch ihren verzweifelten Ausruf gehört: ich habe

nur Dich! nur Dich! was wird aus mir, wenn Du van, Lewald, Neue Erzählungen. 2

18

nicht wiederkehrſt? Ich ſchelte mich um dieſer Schwäche willen; ich ſage es mir wie Du, was gilt das Loos des Einzelnen? Ich halte mir vor, daß fie die Frau eines Soldaten war, die Mutter eines Sol⸗ daten iſt, daß ſie gefaßt ſein müßte auf Alles, was da kommen kann, aber ich frage mich doch ſelber immer wieder: was wird aus ihr? Der Gedanke, meine f Mutter, deren ganzes Leben ſo ſchwer geweſen iſt, auf fremde Hülfe angewieſen, in Noth und Elend zurück zu laſſen, raubt mir alle Ruhe.“

„Egon!“ rief der Freund, „bin ich nicht da? Warum haſt Du mir das verborgen, da ich Dir hätte die Laſt vom Herzen nehmen können? Mein Bruder bedarf meiner in keinem Falle. Heute noch, gleich wenn ich nach Hauſe komme, will ich meinen letzten Willen zu Papier bringen. Falle ich, ſo ſoll was ich beſitze, Dir gehören, um Dir ein freies Herz zu ſchaf⸗ fen. Kehrſt Du nicht wieder ich habe ja nicht Vater und nicht Mutter ſo ſoll Deine Mutter fortan die meine ſein; und kommen wir Beide aus dem Felde heim, nun,“ und er ſchüttelte bei den Wor⸗ ten dem Freunde treuherzig die Hand, „dann ſind wir Freunde und Brüder wie bisher, und Deine Mut⸗ ter hat zwei Söhne, die künftig für ſie ſorgen. Und

19

nun laß uns raſch vorwärts gehen, damit ich dieſes Teſtament noch ſchreiben kann. Dann adreſſiren wir die Schrift an Claudius und bitten ihn, ſie zu eröff⸗ nen, wenn ich nicht wiederkehren ſollte.“

Er ſprach das mit der friſchen Entſchiedenheit, die in ſeinem ganzen Weſen lag, Egon konnte ihm lange Nichts erwidern, bis er endlich in die Worte ausbrach: „Du biſt ſehr gut und ich nehme es an. Mehr kann ich Dir nicht ſagen; aber glaube mir, ich werde Dir es nicht vergeſſen, und was Du im Leben immer von mir fordern magſt, mahne mich an dieſe Stunde, und ich will es thun. Jetzt bin ich frei und heute zum erſten Male ſchlägt mein Herz mit frohem Schlage dem lang erſehnten Entſcheidungskampf ent⸗ gegen.

2*

Drittes Capitel.

Der Feldzug war kurz und entſcheidend geweſen, ſchon im Herbſte kehrte der größte Theil der ſiegreichen Truppen in die Hauptſtadt zurück, und die glückwün⸗ ſchenden Hoffnungen, welche Claudius bei dem Ab⸗ ſchiedsfeſte für ſeine jungen Freunde ausgeſprochen, ſchienen ihnen Heil gebracht zu haben, denn es fehlte Keiner von ihnen in den Reihen der Sieger. Aus den furchtbaren Schlachten von Gitſchin und Trautenau, von Sadowa und Königgrätz waren ſie theils völlig rüſtig, theils mit mehr oder weniger leichten Verwun⸗ dungen zurückgekehrt, die für ihre Zukunft nicht das mindeſte Bedrohliche hatten.

Sie hatten ſich Alle brav gehalten; Egon vor Allen hatte ſich hervorgethan. Auf dem Schlachtfelde ſelbſt war er befördert worden, der Kronprinz von Preußen hatte ihm den Orden eigenhändig zugetheilt,

21

und wie er dann nach dem feierlichen Einmarſche der Truppen mit ſeinem Johannes vor die Mutter hinge⸗ treten war, wie er ihr berichtet, was zwiſchen ihm und ſeinem Freunde in jener Nacht geſchehen, und wie die beiden hochgewachſenen, breitbrüſtigen Geſtalten ſich zu Frau von Raven niederbeugten, ihre Hände zu küſſen und es ihr zu wiederholen, daß nun alle Sorge für fie verſchwinden ſolle, da Egon's Gehalt ſich ge— ſteigert hatte, da Johannes dem Ende ſeiner medizi⸗ niſchen Prüfungen nahe ſei und dann mit ſeiner Praxis mehr Geld verdienen werde als er brauche, da war aus den lebensfrohen Geſichtern der jungen Männer wie ein Strahl von neuer Jugend über das Antlitz der ſchönen Matrone geglitten, und Johannes hatte fröhlich ausgerufen: „Heute aber ſieht Deine Mutter ſo jung und ſchön aus wie auf dem Bilde, das Du von ihr aus ihrer Jugend haſt; und heute bitte ich es mir von ihr aus, daß ſie mich an Kindesſtatt annimmt, und daß ich auch eine Mutter an ihr be⸗ komme, die mich umarmt und Du nennt, wenn ich ein guter Sohn bin ſo wie Du, und die mir nichts durchgehen läßt und mich tüchtig auszankt, wenn ich gegen irgend eines der Gebote ſündige, auf die fie hält.“

22

Er hatte dabei nach feiner Weiſe allerlei Scherz und Thorheit getrieben, um der Rührung und dem Danke der Mutter vorbeugend zu wehren; und wie Liebende einen Genuß darin finden, es einander zu beweiſen, in weſſen Herzen die Neigung ſich früher bewußt geregt habe, ſo gefielen die Freunde ſich darin, es Frau von Raven zu erzählen, was der Eine dem Andern in den Schrecken und Nöthen dieſes Feldzuges an Treue und Hülfe geleiſtet habe, was man einander ſchuldig geworden ſei. Jeder von ihnen vergaß des eigenen entſchloſſenen Muthes, um vor der Frau, die nun auch Johannes ſeine Mutter nannte, nur der Tapferkeit und Bravheit des Andern zu gedenken. Die Unzertrennlichen waren nun erſt recht unzertrenn⸗ lich geworden, und der Herbſt und der Winter ſahen ſie in der einigſten Gemeinſamkeit.

Freilich hatte das Mitwochskränzchen nach dem Feldzuge ſich nicht wieder zuſammen gefunden. Faſt die Hälfte ſeiner Theilnehmer war durch die Forde⸗ rungen der verſchiedenen Berufsarten von der Haupt⸗ ſtadt entfernt worden; Claudius mußte aus Rückſicht auf feine Geſundheit den Winter in einem ſüdlichen Klima zubringen; der Bruder von Johannes, der ſchon vor dem Kriege verlobt geweſen war, hatte ſich gleich

23

nach dem Feldzuge verheirathet, und da ſeine Frau begütert war, ein Landhaus vor der Stadt bezogen; aber die Unzertrennlichen fühlten ſich durch dieſe Ver⸗ änderung nicht beeinträchtigt. Sie ſtanden Beide auf jenem angenehmen Punkte des Lebens, an welchem die Zeit der Examina mit ihren Zwangsarbeiten und Unſicherheiten hinter ihnen lag. Egon trat in dieſem Winter zum erſten Male als Oberlieutenant in der Geſellſchaft auf, man hatte ihn obenein als Hilfsar⸗ beiter in dem Generalſtab angeſtellt, er war ſorgen⸗ freier als in früheren Jahren, die Hiebwunde ent⸗ ſtellte ſeine Stirne nicht, der Vollbart, den er ſich im Kriege hatte wachſen laſſen, ſtand ihm zu ſeinem ern⸗ ſten Geſichte trefflich an, und ſo wenig er auf Aeußer⸗ lichkeiten Werth zu legen glaubte, hob er ſich doch ſtolzer, ſeit er die empfangenen Ordenszeichen als Lohn für ſeine beſondere Tapferkeit auf ſeiner Bruſt trug. Johannes hinwiederum hatte ſeine medizi⸗ niſchen Prüfungen ſammt und ſonders beſtanden, hatte unfern von dem Hauſe, in welchem Egon mit ſeiner Mutter lebte, ſich eine Wohnung eingerichtet, feine Praxis angefangen, und da er ein geſchickter Spezialiſt war, ſah es aus, als würde er es ſchneller zu einer einträglichen Kundſchaft bringen, als es gewöhnlich zu geſchehenpflegte.

a

Daß zwei ſolche junge Leute fich einer zuvor⸗ kommenden Aufnahme in den Kreiſen der Geſellſchaft verſichert halten durften, verſteht ſich ganz von ſelbſt, aber obſchon ſie Beide nicht gleichgiltig gegen die Reize der Geſelligkeit, und noch weniger unempfindlich für den Reiz der Schönheit waren, ging der Winter mit ſeinen rauſchenden Vergnügungen und gingen die zahlreichen weiblichen Bekanntſchaften an ihnen vor⸗ über, ohne daß Einer von ihnen einen tiefern Ein⸗ druck davon empfangen hätte. Zwar gefiel Johannes ſich darin, vor der Mutter ſeiner Erlebniſſe, ſeiner kleinen Galanterien zu gedenken, er machte auch für ſich und für Egon Heirathsplane, aber Egon liebte ſolche Scherze nicht. Die Liebe war für ihn ein Heiliges, und im Grunde wußte Jeder von ihnen, daß der Andere noch völlig freien Herzens ſei und an das Heirathen vorläufig nicht denke.

Gegen das Frühjahr aber, als die eigentliche Zeit der Geſellſchaften ſchon vorüber war, und die Frem⸗ den und der reiche Adel der Provinzen, den die Ver⸗ gnügungen des Winters in die Reſidenz geführt hat⸗ ten, ſich zur Abreiſe zu rüſten begannen, kam Jo⸗ hannes, der es ſich nach dem Kriege ausgewirkt hatte, mit Frau von Raven und ihrem Sohne alltäglich die

25

Mittagsmahlzeit einzunehmen, um die gewohnte Stunde in das Haus, und fand, daß man in dem erſten Stockwerk, welches während des Winters von der Fa⸗ milie eines Abgeordneten eingenommen worden war, ſich mit einer Umſtellung der Möbel beſchäftigte. Seine gleichmüthig gethane Frage, ob die bisherigen Bewohner das Haus etwa verlaſſen hätten, bejahte Frau von Raven. | |

„Sie find bereits auf ihre Güter gegangen,“ ſagte ſie, „und ein Engländer hat die ganze Etage jetzt auf Jahr und Tag gemiethet. Er muß ein ſon⸗ derbarer Kauz ſein.“

„Sonderbar ſchon dadurch, daß er ſich in dieſem gar nicht vornehmen Stadttheile eingemiethet hat,“ ent⸗ gegnete Johannes.

„Und doch muß er ein reicher Mann ſein,“ meinte Frau von Raven. „Wie die Wirthin mir er⸗ zählte, hat er wenigſtens die Grillen eines ſolchen; auch bringt er nicht nur eine Tochter und mehrere Dienſtboten, ſondern vier Pferde und eine ganze Me⸗ nagerie von Hunden mit. Haben Sie einen Garten? aber einen großen Garten und mit hohen Mauern, daß man nicht darüber fortkann? hat er ſie gefragt, noch ehe er die Wohnung angeſehen. Die Wirthin

26

hat alſo gemeint, daß er vielleicht einen Geiſteskranken unterzubringen habe, und hat ihm den Schatten und die Stille ihres Gartens angeprieſen. Oh, ſie brauchen keinen Schatten! ſie brauchen nur viel Platz, meine

Hunde und ſie dürfen nicht entlaufen können! hat er . ihr geantwortet. Dann hat er ſich erkundigt, wer ſonſt noch im Hauſe wohne? ob jemand Anders in dem Hauſe Hunde halte? ob Niemand in den Garten kommen könne, der keine Hunde liebe? Als er dar⸗ auf über alles dieſes beruhigt worden, hat er ſich eben ſo ſorgfältig nach der Stallung für die Pferde umgethan, ſich eben ſo über deren beſtes Unterkommen zu verſichern geſtrebt, und erſt als er mit der Vor⸗ ſorge für die Thiere fertig geweſen, iſt er hinaufge⸗ gangen ſich die Zimmer anzuſehen, in denen man nun nach ſeiner Angabe Alles umſtellt und umräumt, damit er ſich eine Badeſtube, eine Stube für ſeine gym⸗ naſtiſchen Uebungen, und ich weiß nicht, was noch Alles, einrichten kann. Da ſie ihn endlich gefragt hat, welches Zimmer er für ſeine Tochter beſtimme? iſt er aus dem Hauſe in den Garten und geraden Weges auf das kleine Gewächshaus zugegangen, in dem man Winters die Pflanzen aufbewahrt. „Ich will dies Haus auch haben,“ hat er geſagt, „Miß Ernsby

27

wird hier wohnen! hier iſt's warm, und hier geht die Luft hindurch, das braucht Miß Ernsby. Sie iſt nicht gewohnt an ſolche Häuſer, ſie iſt gewohnt an Sonne und an viele Luft, an ſehr viel Luft!“ Seitdem arbeitet man ohne Unterlaß. Sie legen Tep⸗ piche in das kleine Treibhaus, ſetzen neue Glasſchei⸗ ben ein, und bringen Jalouſieen an. Es werden Pol- ſter hineingetragen, auch ein Vogelhaus mit allerlei Gevögel habe ich hineinbringen ſehen, und es iſt heute eine Unruhe und eine Haſt in dem Hauſe, als ob es brennte und man retten ſollte.“

Johannes und der inzwiſchen heimgekehrte Egon ſahen eine kleine Weile am Fenſter ſtehend, das nach dem Garten ging, der Raſtloſigkeit der Arbeitenden zu, und lachten über den ſteifen Engländer, der in all der Unruhe langſam gemeſſenen Schrittes mit den Armen beſtimmte heilgymnaſtiſche Bewegungen ausführend, den Mittelweg des Gartens hin und wieder ging.

Den ganzen Tag und auch die nächſten Tage blieb man mit der Einrichtung beſchäftigt. Der Eng⸗ länder hatte während deſſen das von ihm gemiethete erſte Stockwerk bezogen, ein Diener in regelrechteſter Klei⸗ dung mit der weißeſten Kravatte, das Haar tadellos geſcheitelt, ging hinter den Glasfenſtern des Corridors

28

einher, während die Tapezierer fie verhingen; ein eng⸗ liſcher Kutſcher, ein engliſcher Reitknecht und ein halb⸗ wüchſiger Burſche waren in der Remiſe und in dem Stalle beſchäftigt, nur von der Tochter, welche das luftige, ſonnige Treibhaus bewohnen ſollte, war noch Nichts zu ſehen. |

Die Nachbarſchaft war völlig in Aufregung ge⸗ rathen durch die Anſiedelung dieſes Engländers. Man war derlei in dem entlegenen Stadttheile nicht gewohnt, in welchem ſonſt Landedelleute oder Offiziere, und überhaupt ſolche Leute ihr Quartier zu nehmen pfleg⸗ ten, welche Wagen und Pferde hielten und für eine verhältnißmäßig geringe Miethe viel Raum zu haben wünſchten. Da aber nichts anſteckender iſt als eine müßige Neugier, fo wurde die Tochter der Luft, oder die Sonnenkönigin, wie Johannes die erwartete Unbe⸗ kannte nannte, für ihn ein Gegenſtand des Scherzes, der durch das Treiben und Handtieren in dem Gar⸗ tenhauſe immer wieder neue Nahrung erhielt. | Nahezu eine Woche war fo hingegangen, als Egon eines Morgens, da er dem Freunde zufällig auf der Straße begegnete, ihn mit dem Ausrufe begrüßte: „Sie iſt dal“

„Nun und was weiter?“ fragte der Doktor.

29

„Weiter Nichts! Geſtern Abend war das Treib⸗ haus ſchon von acht Uhr ab mit allen ſeinen Gas⸗ lampen hell erleuchtet; und gegen elf Uhr iſt ſie endlich angekommen.“ Er lachte dazu, und meinte; „Ich habe es jetzt recht geſehen, wie doch in Jedem von uns ein Stück Phantaſtik ſteckt, und wie wir im Grunde Alle des täglich gleichen bürgerlichen Lebens überdrüſ⸗ ſig ſind.“

Johannes wollte wiſſen, wie der Freund das meine? |

„Sehr einfach!“ entgegnete der Lieutenant. „Es gibt doch kein gewöhnlicheres und natürlicheres Er⸗ eigniß, als daß ein wohlhabender Mann ein paar Hunde hat, Wagen und Pferde hält, es ſich auf ſeine Weiſe bequem macht, und für ſeine Tochter, die wahr⸗ ſcheinlich ein armes, krankes Weſen iſt, ein Treibhaus als Sommerſtube einrichtet. Aber ſolche Philiſter ſind wir, und ſo ſind wir eingezwängt in die Regel⸗ mäßigkeit unſerer Verhältniſſe, in die immergleiche Wohnungsweiſe und Zimmereintheilung in den Häu⸗ ſern, daß uns Menſchen anziehend werden, nur weil ſie ſich die Freiheit nehmen, von dieſer Ordnung ab⸗ zuweichen. Ihr ſpottet manchmal über unſere regel⸗ rechte Front und über das ewige Einerlei der Uni⸗

30

form und unſer ganzes Leben iſt nichts als eine Uniform und eine regelrechte Front. Wer davon auch nur um eine Linie abweicht —“

„Iſt gleich ein Deſerteur, und wird als ſolcher von der allgemeinen Regelrichtigkeit verdammt,“ fiel der Doktor ihm in die Rede, weil ähnliche Erörterun⸗ gen zwiſchen Egon und ſeinen Freunden ſchon öfter vorgekommen waren; „aber,“ fügte er heiter hinzu: „ein armes, krankes Geſchöpf iſt die Sonnenkönigin gewiß nicht. Daß ſie eine wundervolle Schönheit iſt, ſteht für mich feſt.“

„Durchaus nicht!“ meinte Egon, „alle Einrich⸗ tungen ſind wie für eine Kranke.“

„Wetten wir!“ rief Johannes.

„Um was?“ erkundigte ſich der Freund.

„Nun, um was anders, als um die Sonnenkö⸗ nigin ſelber? Wer recht hat, ſoll ſie haben.“

„Thorheit!“ wandte Egon ein, deſſen Ernſt ſich

nicht leicht zu ſolchen Scherzen hergab. 5 „Das würdeſt Du nicht ſagen, wenn der Vor⸗ theil nicht ſo völlig auf meiner Seite wäre; denn iſt ſie ſchön und fällt ſie alſo mir zu, nun, ſo habe ich eben das große Loos gezogen; und iſt ſie ein armes krankes Geſchöpf, und Du bekommſt ſie zugetheilt, ſo

31

gewinne ich eine reiche und intereſſante Kranke an Deiner Frau, und das iſt doch für unſer Einen auch nicht zu verachten. Alſo wetten wir und machen wir die Sache gleich auf friedliche Weiſe ab, denn daß wir uns alle Beide ſterblich in ſie verlieben, das iſt außer allem Zweifel.“

Es kam aber nicht zu einer ſolchen Wette, denn Bekannte, welche dazwiſchen traten, unterbrachen dieſen Scherz, und als Johannes ihn dann wieder aufnehmen wollte, meinte der Andere: „Laß doch die Narrens⸗ poſſen! Ich kann über ſolche Dinge eigentlich nie freien Herzens ſcherzen. Denn die Sache würde mir ſicherlich einfallen, wenn ich vor dem Mädchen ſtände, und der Gedanke würde mir den Verkehr mit ihm verleiden, wenn es überhaupt zu einem ſolchen kom⸗ men ſollte, wozu ja gar kein Anlaß da iſt.“

Viertes Capitel.

Es war aber gerade, als ob die beiden Freunde ſich mit dem Scherz an jenem Morgen ein- für alle⸗ mal genug gethan hätten; denn ſie kamen nicht wieder auf die Engländer zurück und man hörte und ſah auch nicht mehr viel von ihnen. Auf den Treppen und Fluren war die alte Ruhe und Ordnung bald wieder hergeſtellt, Frau von Raven, die überhaupt äußerſt zu⸗ rückgezogen lebte, kannte, wie das in großen Städten meiſt der Fall iſt, von den ſämmtlichen Bewohnern des Hauſes Niemand als die Beſitzerin, mit der ſie einen freundlichen, aber auch nur ſeltenen Verkehr un⸗ terhielt, und die ſie in den letzten Tagen eben nicht geſehen hatte; und die jungen Männer waren von ihren Geſchäften hingenommen. Für Egon hatten die Frühlingsmanöver angefangen, Johannes hatte ein paar ſchwere Erkrankungen in der Armenpraxis, die

33

ihm oblag, und es mochten mehr als acht Tage ver- gangen ſein, als er eines Morgens um die gewohnte Stunde in des Freundes Stube trat, und dieſen, von der Gardine halb verborgen, aus ſeinem dritten Stock— werk in den Garten hinabſchauen ſah.

„Komm ſchnell! ehe ſie fortgeht!“ rief er, ſich zu Johannes wendend, „ſolch ein Mädchen habe ich noch nicht geſehen!“

Im nächſten Augenblicke war der Freund an ſeiner Seite, und auch er glaubte ein Phantaſiegebilde vor ſich zu haben, als er die junge Schönheit ſah, welche in der Hängematte unter den Platanen ruhte.

Die Bäume fingen eben erſt an ihre Blätter zu entfalten, das volle Sonnenlicht fiel alſo auf die ſchlanke Geſtalt der Ruhenden hernieder, und man konnte jeden Zug des reizenden, von langen, ſchwar— zen Locken reich umwallten Geſichtes unterſcheiden. Alle Formen deſſelben waren ſchön, aber fremdartig wie die ganze Erſcheinung ſelber. Man hätte nicht jagen können, daß dies Mädchen eine Brünette ſei, denn ihre Haut war weiß, indeß es fehlte ihren Wan- gen jede Röthe, und die großen, dunklen Augen und das dunkle Haar machten ſie noch bleicher ausſehen. Sie hatte die Arme unter dem Kopfe e die

Fanny Lewald, Neue Erzählungen.

34

Füße zierlich gekreuzt, und ſah ungeblendet von dem hellen Lichte zu dem Himmel empor, an welchem leich⸗ tes ſchimmerndes Gewölk fliehend und ziehend vorüber⸗ ſchwebte.

„Ja,“ rief Johannes, nachdem er ſie eine Weile betrachtet hatte, „das iſt eine Schönheit; aber die iſt nicht in unſerer europäiſchen Welt zu Hauſe; dahinter ſteckt, wenn auch im dritten, vierten Gliede, ein an⸗ deres Blut.“ Und noch einmal hinſchauend und ſie wieder betrachtend, ſagte er: „Wie ſie wohl heißen mag?“ |

„Ich habe mich ſchon die ganze Zeit gefragt,“ entgegnete ihm Egon, „was ſie wohl denken mag? Denn ſo regungslos wie jetzt, lag fie ſchon vor zwei

Stunden da, als ich nach Hauſe kam.“

„Was ſie denken mag?“ fiel ihm Johannes ein. „Nun, ſie wird ſich wohl verwundern über die kahlen Bäume, über den fahlblauen Himmel und den bleichen Sonnenſchein, die man ihr hier für Frühling ausgiebt. Sie ſucht ja mit den ſchönen Augen offenbar nach etwas. Sie ſucht die Lianen und Bananen und die großen Schmetterlinge und die Lory's und die Papa⸗ geien ihrer Urwälder, unter denen ſie aufgewachſen iſt. Wie kann man ſolch ein Weſen auch zwiſchen die

35

Hinterhäuſer und Schornſteine einer großen nordiſchen Stadt einſperren? Was ſoll ſie hier? Für ſolch ein Weſen iſt ja unſer Sommer hier ein wahres Gift! Die hat den Süden und die Alpen nöthig, die muß mindeſtens nach Südtyrol!“

Der Lieutenant konnte ſich des Lachens nicht er⸗ wehren. „Gib doch Deine Conſultationen nicht um⸗ ſonſt!“ ſagte er ſcherzend. „Du ſollteſt kurzen Prozeß machen. Geh' hinunter, ſchicke Deine Karte hinein und ſtelle es dem Vater menſchenfreundlich vor, daß ſeine Tochter im Sommer hier nicht bleiben darf. Du thuſt damit vielleicht ein gutes Werk, und wenn wir den reizenden Anblick auch verlieren, ſo erfahren wir doch, wie ſie heißt, und am Ende nimmt man Dich als Reiſedoktor in die Alpen mit.“

„Wenn ich auch nicht Viſite machen gehe,“ gab Johannes ihm zur Antwort, „ſo brauchen wir doch hier nicht im Verſteck zu liegen. Zieh' die verdamm⸗ ten Vorhänge zurück. Wer im offenen Garten in der Hängematte liegt, muß ſich's gefallen laſſen, daß man ihn betrachtet, und im Grunde ſind wir doch auch ein hübſcher Anblick und beſſer als die leere Wand!“ Er ſchob damit die Gardine fort, legte ſich in das Fenſter und fing, da die Schöne dieſes in ihrer träu⸗

9%

[97

36

meriſchen Verſunkenheit nicht gewahrte, eines der mun⸗ teren Frühlingsliedchen zu ſingen an, deren wir Deutſche ſo gar viele und ſo ſchöne haben.

Die heiter jubelnde Melodie, die friſche Stimme des Doktors überraſchten das junge Mädchen. Es richtete ſich auf, legte die Hände um die emporgezogenen Kniee, und daſitzend wie ein Kind, und arglos wie ein Kind zu dem fremden Manne in die Höhe hinſehend, ſchien es zu erwarten, daß der Sänger fortfahren werde zu ſingen. Aber er verſtummte plötzlich und mit einem kurzen: „Komm, laß uns gehen!“ ver⸗ ließ er das Fenſter und zog den Freund mit ſich hinweg. |

Der günſtige Zufall, welcher meift ein treuer Ge⸗ fährte der Jugend zu ſein pflegt, kam auch der Neu⸗ gier unſerer Freunde ſchnell genug entgegen. Gleich am folgenden Tage, als Johannes Mittags aus der Wohnung der Frau von Raven hinunterkam, traf er auf der Treppe einen ſeiner Univerſitätslehrer, der durch die Behandlung von Bruſtkranken berühmt war. Er hatte einen berathenden Beſuch in der engliſchen Familie gemacht, begrüßte den jungen Doktor, welcher ein beſonderer Günſtling von ihm war, und forderte ihn auf, mit ihm zu fahren, ſo weit ihre Wege dieſel⸗

37

ben wären; und wie ein Wort das andere gab, kam man auch auf die Engländer zu ſprechen.

Der Profeſſor erzählte, daß der Vater gleich nach ſeiner Ankunft bei ihm geweſen ſei und ihn aufgefor⸗ dert habe, die Behandlung ſeiner Tochter zu über⸗ nehmen. Johannes fragte, was ihr fehle, ob fie bes denklich krank ſei?

„Sie iſt eigentlich gar nicht krank,“ entgegnete der Profeſſor, „aber man iſt auf dem beſten Wege, ſie umzubringen. Der Vater iſt ein reicher Mann, der in Weſtindien ſein Vermögen gemacht und dort eine Kreolin von ſpaniſcher Abkunft geheirathet hat. Die Frau iſt, wie er mir ſagt, noch jung an einer Herz⸗ krankheit geſtorben und hat ihm vier Kinder hinterlaſſen. Den einzigen Sohn und die älteſte Tochter hat er bald nach der Mutter Tode verloren, ſie hatten Beide das ſiebzehnte Jahr noch nicht erreicht. Als ihm dann auch die zweite Tochter mit vierzehn Jahren ſtarb, hat er Weſtindien verlaſſen, um ſich womöglich ſein letztes Kind zu retten. In England hat er ſich ſofort an einen ihm empfohlenen Arzt gewendet, und iſt, bei der Manie der Engländer für Wunderkuren, einem Charlatan in die Hände gefallen, einem jener Abhärtungs⸗Wütheriche, deſſen Regime der Vater ſich und die Tochter unter⸗

38

warf. Die robuſte und zähe Natur von Herrn Ernsby hat ſich dabei ſehr gut befunden und er iſt dadurch in ſeinem Glauben an die Unfehlbarkeit des Wundermannes nur befeſtigt worden. Man hat das Mädchen die letzten Winter hindurch auf der Inſel Wight ſchwimmen, reiten, turnen laſſen, es Wind und Wetter ausgeſetzt, es mit Waſſerkuren maltraitirt, und iſt plötzlich höchlich er⸗ ſtaunt geweſen, als es in Ohnmachten und Fieber ver⸗ fallen iſt. Herzkrankheit und Abzehrung! haben die Herbeigerufenen geſchrieen, und da man dem Vater bei dieſer Gelegenheit meinen Namen genannt hat, ſo hat er mir das Kind hierhergebracht.“

„Und Sie meinen alſo, daß es mit ihr Nichts auf ſich habe?“

„Bei vernünftigem Verfahren ganz und gar Nichts. Die ſchöne Ramonna iſt kaum fünfzehn Jahre alt, aber ſie hat die Frühreife der Tropen, in denen ſie geboren und erwachſen iſt, und bei der Fülle und Schönheit eines fertigen Weibes iſt ſie aufrichtig und natürlich wie ein Kind. Nun hatte man ſie plötzlich in eine ihr ganz fremde Welt verſetzt, ſie nach der trägen Ruhe, an die ſie gewöhnt geweſen war, übermäßig angeſtrengt, und ihr dann ſchließlich den Glauben an ihren nahen Tod gegeben. Sie hat mich in der That gerührt.

39

Als ich ihr nach der Unterſuchung Muth zuſprach, Jah ſie mich an, als wolle ſie ſich überzeugen, ob ſie mir wohl glauben dürfe; dann nahm ſie meine Hände, küßte ſie, ehe ich's nur hindern konnte, und ſagte: „Sie ſind alle geſtorben: meine Mutter, mein Bru⸗ der, meine Schweſtern! Es war ſchrecklich, mein theu⸗ rer Doktor! Laſſen Sie mich nicht ſterben, lieber Dok⸗ tor! ich bin ja noch ſo jung!“ Es war wirklich rührend das ſchöne exotiſche Geſchöpf! und es könnte gar nichts Geſcheidteres für das Mädchen geſchehen, als wenn der Vater ſeiner Wege ginge und die Tochter irgend einer verſtändigen Frau zur Pflege und zur Erziehung übergäbe, damit ſie Ruhe und maßvolle Zer⸗ ſtreuung hätte und durch gleichmäßige Beſchäftigung von ſich ſelber abgezogen würde.“

Der Profeſſor befahl darauf dem Kutſcher anzu⸗ halten, weil der Doktor in der Gegend einen Beſuch zu machen hatte. Er ſagte ſeinem jungen Collegen Lebewohl und Johannes ging und dachte an Ramonna.

Es kam ihm vor, als ſei ſie eine ganz Andere geworden, ſeit er ſie mit ihrem Namen zu nennen wußte, ſeit er über ihre Vergangenheit unterrichtet war. Es ärgerte ihn, daß der Feldzug ihn um die Ausſicht gebracht hatte, bei dem Profeſſor als Aſſiſtenz⸗

40

arzt einzutreten. Er hätte dann das ſchöne Mädchen täglich ungezwungen ſehen und ſprechen können, und wie hätte er über ſie wachen, ſie behüten wollen! Er konnte an dem Tage nicht bei ſeiner Arbeit blei⸗ ben, ſeine Phantaſie ließ ihm keine Ruhe. Er ſah Ramonna unter den Palmen ihrer Heimath, an den ſchimmernden Ufern ihres Vaterlandes, dann wieder fiel es ihm ein, der Profeſſor werde dem Engländer vermuthlich zu einem Aufenthalt in dem Süden von Europa rathen und der reiche Mann könne vielleicht einen eigenen Reiſearzt verlangen. Wenn man ihn dazu erwählte! |

Er lachte über fich ſelber, als er ſich in dieſen Luftſchlöſſern erging, aber es war eine Heiterkeit in ſeinem Herzen, als leuchtete mit Einem Male eine an⸗ dere, ſchönere Sonne von dem Himmel nieder, und doch zog es ihn urplötzlich mit einer Sehnſucht, die er nie zuvor gefühlt hatte, nach dem Süden, nach den Tropen hin, in denen die Wunderblume Ramonna auf⸗ gewachſen war. Er fühlte ſich der Proſa des täglichen Lebens ganz entrückt, es war ihm märchenhaft zu Muthe. Er hätte ſich thöricht ſchelten mögen, wäre er nicht ſo heiter geweſen. Aber ſonderbar genug, er hätte von dieſem Zuſtande zu Niemand ſprechen mögen;

41

und als er Abends an dem gewohnten Zuſammen⸗ kunftsorte den Freund nicht antraf, war ihm ſelbſt dies erwünſcht. Die ganze Nacht hindurch träumte er von Ramonna. Bald ſchaukelte er ſie wie ein Kind in ihrer Hängematte, dann ſaß er als Arzt an ihrem Sterbebette und ſie küßte ihm die Hände wie dem Profeſſor, und bat ihn, ihr das Leben zu erhalten, und er ſchloß ſie in ſeine Arme, ſie zu beleben, und als das noch nicht helfen wollte, nahm er das Herz aus ſeiner Bruſt und ſetzte es in die ihre.

Er war ganz wüſt und wirr, als er am Mor- gen aufwachte und er wurde nicht beruhigt, als gleich in der Frühe Egon bei ihm erſchien.

„Stelle Dir vor,“ ſagte Egon, „welch einen ſon⸗ derbaren Antrag man meiner Mutter geſtern noch ges macht hat. Du warſt kaum fortgegangen, als die Ge⸗ heimräthin, der das Haus gehört, zu uns heraufkam und die Mutter zu ſprechen begehrte. Sie ſagte, der Arzt habe dem Engländer den Rath ertheilt, die Toch⸗ ter durch leichte Beſchäftigung zu zerſtreuen und ihr eine fortdauernde, ſanfte und fie nicht aufregende Ge- ſellſchaft zu geben. Nun wolle das Mädchen Unter⸗ richt in feinen Handarbeiten nehmen, möchte auch ein wenig zeichnen, da ſie dieſes in England angefangen

42

habe, und da fie noch kein Deutſch verſteht und zufäl⸗ lig meine Mutter vor einiger Zeit geäußert hat, daß ihr doch bisweilen die einſamen Stunden recht fühl⸗ bar würden, fo iſt die Geheimräthin auf den Gedan⸗ ken gekommen, ob meine Mutter, die ja des Engliſchen völlig mächtig und ein wahres Genie in allen künſt⸗ lichen Arbeiten iſt, nicht täglich einige Stunden bei den Engländern zubringen wolle?“

„Und ſie hat es angenommen?“ rief Johannes mit einer Neidempfindung, die ſeinem Tone etwas Herbes gab.

„Meinſt Du, daß ſie es nicht hätte thun ſollen?“ fragte Egon.

„Sie hat es alſo angenommen?“ wiederholte Jener.

„Noch nicht! Sie hat vorläuſig nur zugeſagt, daß ſie die Familie beſuchen wolle; und finden ſie gegen⸗ ſeitig Gefallen an einander, ſo kann der Verſuch ja gemacht werden. Es erwächſt dann für die Mutter vielleicht eine Zerſtreuung und, was ſie ja immer gern gehabt hat, um mir Freiheit zu laſſen, auch ein vor⸗ übergehender Erwerb daraus. Aber ſie muß erſt zu⸗ ſehen. Der Engländer iſt offenbar ein Sonderling, und mit reichen Sonderlingen muß man doppelt auf ſeiner Hut ſein.“

45

Johannes entgegnete darauf Nichts. Das fiel dem Freunde auf. Er verlangte, daß Jener offen ſeine Meinung ausſprechen ſollte, das konnte Johannes nicht. Er meinte nur, es gefalle ihm nicht recht; und da Egon ihm einwendete, das ſei doch kein vernünftiger Grund, und man müſſe wiſſen, weshalb Einem eine Sache nicht gefalle, wurde Johannes gegen ſeine Gewohnheit ſo verdrießlich, daß er es endlich für nöthig fand, ſich mit einer ſchlafloſen Nacht und mit Kopfweh zu ent⸗ ſchuldigen.

Fünftes Capitel.

Ein paar Wochen ſpäter lagen die Verhältniſſe ganz anders. Frau von Ravens Bekanntſchaft mit der jungen Kreolin war für beide Theile erfreulich ausge⸗ fallen. Ramonna war ohne die Liebe einer Mutter aufgewachſen, die Majorin hatte nie eine Tochter ge- habt, das ſchöne junge Mädchen zog ſie an, und da ſie ſelber eine zarte und leicht erregbare Natur beſaß, wußte ſie am Beſten, wie man eine ſolche zu behan⸗ deln habe.

Anfangs hatte fie dem Vater nichts weiter zuge⸗ ſagt, als Ramonna, wenn ſie könnte, täglich zu beſu⸗ chen und ſie ein paar Stunden dabei zu unterrichten; aber die Zahl dieſer Stunden war allmälig vermehrt worden, Frau von Raven hatte ſich mit der Zeit be⸗ reit finden laſſen, die junge Fremde auf ihren Spa⸗ zierfahrten zu begleiten, Morgens gelegentlich mit ihr

45

einen Gang in das Freie zu machen oder ihr eine der Sehenswürdigkeiten der Stadt zu zeigen, und beiden Frauen that dies äußerſt wohl. Es war unverkenn⸗ bar, daß Ramonna ſich erholte, daß ſie heiterer wurde, und es war daher nur ganz natürlich, daß der Vater auf den Rath des Arztes, daran dachte, der Tochter die ihr zuſagende Pflege und Geſellſchaft dauernd zu⸗ zuſichern, beſonders da ihm ſelber die Möglichkeit dar⸗ aus erwuchs, mit ſeinen Hunden und Pferden Meilen weit in der Gegend herumzuſtreifen. Noch ehe alſo der Monat zu Ende gegangen war, hatte Frau von Raven ſich bereit erklärt, die ganzen Tage mit dem Mädchen zuzubringen, das ihr immer lieber wurde, je länger ſie es kannte.

Eine völlige Veränderung in allen ihren Gewohn⸗ heiten war davon die nächſte Folge, und ihre eigene Häuslichkeit wurde natürlich dadurch umgeſtaltet. Da ſie mit den Engländern auch die Mahlzeiten einnahm, waren Egon und Johannes genöthigt, außer dem Hauſe zu ſpeiſen. Der Lieutenant ſchloß ſich ſelbſtverſtänd⸗ lich der Tafel ſeines Regiments an, Johannes beſuchte ein anderes Speiſehaus, und wie der Erſtere gelegent- lich von ſeinen Kameraden für die Abendſtunden in Beſchlag genommen wurde, ſo kam der Doktor nun

46

auch öfter mit feinem verheiratheten Bruder und deſſen junger Frau zuſammen, und Egon und Johannes waren endlich darüber ganz verwundert, wie die Tage hinſchwanden, ohne daß ſie einander begegneten. Aller⸗ dings hatte man ſich dann nur um ſo mehr zuſagen, aber Johannes fragte gewöhnlich nur nach Frau von Raven, nicht nach der Kreolin; Egon zögerte ebenſo, das Ge— ſpräch auf ſie zu bringen, bis er, in der Regel, kurz ehe man ſich trennte, plötzlich von ihr zu ſprechen anfing.

Eines Tages jedoch, als er vom Dienſt heim⸗ kehrte, trat er eilig und offenbar in angeregter Stim⸗ mung bei dem Freunde ein, und noch ehe er den Helm abgelegt und den Säbel abgeſchnallt hatte, ſagte er: „Geſtern Abend bin ich bei den Engländern geweſen!“

„Du hatteſt alſo vorher einen Beſuch gemacht? Das haſt Du mir nicht geſagt.“

„Nein!“ entgegnete Egon, „ich bin vorher nicht dort geweſen. Ich hatte das eben um der Verhält⸗ niſſe willen, in denen meine Mutter zu den Leuten ſteht, vermieden. Es paßte mir nicht, mich ihnen halb⸗ wegs zwangsweiſe aufzunöthigen. Vorgeſtern hat aber Herr Ernsby meine Mutter gefragt, ob ſie ſich ent⸗ ſchließen könnte, ſeine Tochter nach der Schweiz zu

47

begleiten, wo ſie eine Badekur gebrauchen ſoll, und meine Mutter hat Bedenken gehegt, dies ohne eine Rückſprache mit mir zuzuſagen. Als ſie mich genannt hat, iſt Herr Ernsby plötzlich aufmerkſam geworden, wie wenn er zum erſten Male von mir reden hörte, obſchon Du wohl denken kannſt, daß die Mutter mei⸗ ner auch vorher Erwähnung gethan haben wird.“

„Glauben Sie, daß der Lieutenant dawider ſein könnte?“ hat er mit jener Theilnahme gefragt, die er immer an den Tag legt, wo es die Wünſche ſeiner Tochter gilt.

„Die Mutter hat entgegnet, daß ihre Geſundheit nicht zuverläſſig, daß ſie des Reiſens nicht gewohnt ſei.

„Sie ſollen jegliche Bequemlichkeit haben, und Durward, der ein vorzüglicher Courier iſt, ſoll mit Ihnen gehen!“ hat er erwidert. „Bringen Sie mir den Lieutenant her, ich bitte ſie darum! ich will ſel⸗ ber mit ihm ſprechen. Ramonna muß in dieſes Bad gehen und Ramonna will nicht gehen ohne Sie!“

„Und wollen Sie Ihre Tochter denn nicht ſelbſt begleiten?“ hat ſie ihn gefragt.

„Ich möchte nicht, und der Profeſſor will's auch nicht,“ hat er ihr entgegnet. „Der Profeſſor hat mir gerathen, in den hohen Norden zu gehen und ich möchte

48

den hohen Norden kennen lernen, weil ich den tiefen Süden kenne. Alſo bringen Sie mir Ihren Sohn, Madame! ich will mit Ihrem Sohne ſprechen.“

„Nun?“ fiel ihm Johannes ungeduldig in die Rede.

„Nun?“ verſetzte der Andere, „ich bin denn dort geweſen, und meine Mutter macht im Hochſommer die Reiſe mit.“

„Und das iſt Alles?“ fragte der Doktor noch einmal.

„Was ſoll's denn weiter ſein?“ ſprach Egon mit einer Gleichgiltigkeit, die auffallend gegen ſeine frühere Erregtheit abſtach. „Für meine Mutter wird die Reiſe unter den günſtigen Bedingungen, unter denen ſie ge⸗ macht wird, vorausſichtlich ſehr heilſam ſein, und ich könnte ihr dieſe Badekur nicht bieten. Sie wird alſo mit Ramonna gehen, aber ich hoffe, wenn ſie im Herbſte wiederkehren, hat man meiner Mutter nicht mehr nöthig.“

Er brach plötzlich ab, Johannes wußte nicht, was er davon denken ſollte. Er erkundigte ſich, ob der Freund irgend eine Unannehmlichkeit mit dem Englän⸗ der gehabt habe, Egon verneinte dieſes. So entſtand ein Schweigen zwiſchen ihnen, bis Johannes ſagte: „Du biſt verſtimmt, geſtehſt mir das nicht und kamſt doch heiter zu mir.“

49

„Nun denn ja! ich bin verſtimmt, ich bin unzu⸗ frieden und bin ärgerlich, aber nur auf mich allein. Ich hätte die Mutter nicht reiſen laſſen ſollen und ich gehe auch nicht wieder in das Haus.“

„Man hat Dich alſo irgendwie gekränkt, verletzt?“

„Verletzt? Oh nein! das hätte ich abzuwehren ge⸗ wußt,“ entgegnete Egon, und ſeine dunkeln, tiefliegen⸗ den Augen nahmen den ſtolzen Ausdruck an, der ſein Geſicht oft finſter ausſehen machte; „der ganze Vor⸗ gang war mir läſtig, war nicht nach meinem Sinne.“

„Was war Dir denn entgegen?“ fragte ihn Jo⸗ hannes.

Egon ging im Zimmer auf und ab. Er wollte ſprechen und brachte es nicht zum Wort. Endlich, als er ſich von dem Freunde abgewendet hatte, ſo daß dieſer ſein Geſicht nicht ſehen konnte, ſagte er: „Du kennſt mich, und ich weiß, Du tadelſt die Empfindlich⸗ keit an mir, die Du einmal, ich habe den Ausdruck nicht vergeſſen, die Ueberſpanntheit der Armen genannt, und damals ſpottend als eine beſondere Hyperäſtheſie eine Ueberreizung des Ehrgefühls, bezeichnet haſt. Du magſt Recht haben in dieſer Anſicht; das ändert aber für mich in der Sache nichts. Seit ich denken kann, iſt meine Mutter genöthigt geweſen, einen ir ihres

Fanny Lewald, Neue Erzählungen.

50

Unterhaltes und des meinen, mit der Geſchicklichkeit ihrer Hände zu erarbeiten. Das hat ſie indeſſen nicht abhängig gemacht, und der Nothwendigkeit, für mich zu ſorgen, habe ich ſie enthoben, ſobald ich dieſes nur zu thun vermochte. Jetzt, von dieſen Engländern wird ſie abhängig. So höflich der Vater ſeine Wünſche auch ausſpricht, er rechnet doch darauf, daß ſie als Befehle angeſehen und vollzogen werden; wie kindlich auch Ramonna ſich an meine Mutter anſchmiegt, ſie würde höchlichſt erſtaunt ſein, wenn ſie auf eine ernſte Zurechtweiſung oder auf einen beſtimmten Widerſtand ſtieße; und meine Mutter ſelber hat, weil ſie für per⸗ ſönliche Dienſte Geld von ihnen nimmt, gegen dieſe Leute eine Rückſicht, eine Verbindlichkeit, die mir un⸗ erträglich ſind.“ |

„Deine Mutter iſt ja immer ſehr verbindlich!“ wendete ihn zu beſänftigen, Johannes ein. |

„Nicht in dieſer Weiſe!“ fuhr der Aufgeregte in ſeinem Unmuth fort. „Dem Mädchen iſt nicht zu widerſtehen! ſagt ſie, und es iſt wahr, ſie iſt unwider⸗ ſtehlich, wenn ſie Einen mit der Kindeszuverſicht ihrer wundervollen Augen anſieht. Als ſie mich fragte: Sie werden die Mama gewiß nicht hindern, mit mir zu gehen; denn Sie ſind geſund und ich bin krank! da hätte

51

ich nicht Nein ſprechen können, und wenn ich ſelber wer weiß wie krank geweſen wäre. Aber gerade das macht mir das Mädchen unheimlich. Der Gedanke, einmal von ein paar ſchönen Augen abhängig, von einem ſolchen Kinde um meinen rechten freien Willen gebracht werden zu können, iſt mir ſtets verhaßt ge⸗ weſen. Ich werde froh ſein, wenn ich ſie unter Weges weiß, und froher, wenn dies ganze Abenteuer erſt vor⸗ über ſein wird!“

Johannes lachte hell auf über die Entrüſtung ſeines Freundes. „Wie ſich die Kinderkrankheiten bei Erwachſenen doch in ſonderbaren Formen zeigen!“ rief er. „Verliebtſein äußert ſich bei Dir als eine Art von Grimm!“

„Du irrſt!“ entgegnete ihm Egon ſehr beſtimmt, „und Du ſollteſt mich doch kennen. Wann war ich je verliebt? Es hat mir ein Mädchen beſſer gefal⸗ len als ein anderes, ich habe Dieſe und Jene ſchön. gefunden, im Verkehr mit ihr Vergnügen gehabt; aber verliebt? das weißt Du, das war ich nie; und mich in eine ſogenannte reiche Erbin zu verlieben, um die ich entweder ohne Hoffnung ſchmachten, oder die glauben würde, mir gegenüber um ihres Reichthums

willen die Herrin ſpielen zu dürfen dazu bin 4 *

52

ich nicht gemacht! Dazu taugen meine Elemente nicht.“ N

„Und regnet's Brei, ihm fehlt der Löffel!“ brummte Johannes ſcherzend vor ſich hin.

Der Andere fragte, was er damit ſagen wolle?

„Für Dich nichts! denn wer einmal die Elemente zu einem Cato in ſich trägt, der muß auch danach handeln, das iſt richtig. Glücklicherweiſe habe ich ſie nicht und ich ſinne und ſinne nur darüber nach, ob ich nicht irgend etwas beſitze: eine Tante, oder eine Couſine, oder ſonſt irgend eine gute Fee, die mir, wie Deine Mutter Dir, einen angenehmen freien Eintritt zu der ſchönen Ramonna eröffnen könnte. Leider bin ich in dem Punkte ſolcher lieben weiblichen Angehörigen nur gar nicht gut verſehen. Es wird mir alſo nichts übrig bleiben, als mich einfach durch Deine Mutter vorſtellen zu laſſen, und ich weiß auch ſchon die Form dafür. Der Profeſſor verlangt ja, daß Ramonna Zer⸗ ſtreuung haben ſoll; nun ich will mich gern anbieten, ſie ſo zu amüſiren, daß ſie an nichts mehr denken ſoll, als nur an mich!“

„So thu's, wer hindert Dich daran!“ meinte Egon achtlos, und es hatte damit für das Erſte ſein Bewenden.

53

Es war aber gar nicht lange nachher, als der Profeſſor ſeinen Schüler rufen ließ, der ihn unwohl und zu Bette fand.

„Ich habe einen Auftrag für Sie,“ ſagte der Kranke, „Sie ſollen mich vertreten, bis ich wieder auf den Füßen bin. Ich werde genöthigt fein, bis zum Ende der Woche das Haus zu hüten, mein Aſſiſtenz⸗ arzt iſt zu ſeiner Hochzeit fortgereiſt. Ein Verzeichniß von den Beſuchen, die Sie für mich machen ſollen, habe ich geſchrieben; ſetzen Sie ſich her, damit ich Ihnen die nöthigen Mittheilungen mache, dann nehmen Sie meinen Wagen und bringen mir ſpäter den Be⸗ richt!“

Solch ein Auftrag von einem berühmten Arzte kommt jedem jungen Praktiker erwünſcht; aber Johan⸗ nes hatte noch ein beſonderes Vergnügen an demſel⸗ ben, denn nachdem die Reihe der ſchwer darniederlie⸗ genden Kranken, welche als die Erſten auf der Liſte ſtanden, durchgeſprochen waren, gelangte der Profeſſor, mit dem Auge über das Verzeichniß fortgleitend und über die einzelnen Beſuche dem jungen Collegen flüchtige Anweiſungen gebend, endlich auch an den Na⸗ men Ernsby. „Ueber dieſe Leute,“ ſagte er, „haben wir neulich ſchon geſprochen, ſo viel ich mich erinnere.

54

Der Vater hält darauf, daß ich die Tochter möglichſt oft beſuche, und er iſt ein Mann, dem man dieſes Vergnügen machen kann. Fahren Sie hin, bleiben Sie eine Viertelſtunde dort, Sie kennen ja ohnehin, wie Sie mir ſagten, die Geſellſchafterin des Fräuleins, die Majorin von Raven, die eigentlich der wahre Arzt des Mädchens iſt; verſichern Sie dem Vater und der Tochter, daß ſich dieſe ganz wohl befindet, und dieſer Beſuch wird Sie ohne Frage ſchadlos halten für die Langeweile mancher vorher zu machenden Viſite.“

Er ſah dabei nach ſeiner Uhr, draußen ſchlug es zehn Uhr, mit dem letzten Schlage fuhr ſein Wagen vor das Haus, und Johannes verabſchiedete ſich und machte ſich auf den Weg.

Sechstes Capitel.

Es war hoher Mittag, als er durch den wohl— bekannten Hausflur in den Garten ſchritt und an das Treibhaus kam, das in ſeiner jetzigen umgewandelten Geſtalt kaum noch als ein ſolches zu erkennen war. Die Fenſter waren ausgehoben und durch Vorhänge von leichtem farbigem Strohgeflecht erſetzt, blühende Rankengewächſe bekleideten die Pfoſten zwiſchen den⸗ ſelben, ſchöne, ſüdliche Pflanzen verdeckten die mit Ta⸗ peten bekleidete Hinterwand. Ampeln voll Blumen hingen von den Decken nieder, und eine jener Einrich⸗ tungen, wie man ſie in Gartenſälen liebt, war mit dem höchſten Luxus in dem Raume hergerichtet wor⸗ den, den weithin ausgeſpannte Zelttücher vor der zu ſtarken Einwirkung der Sonne wahrten. Alle Möbel, alle Geräthſchaften in dem improviſirten Gartenſaale waren modiſch und doch hatte das Ganze durch die

56

Polſterlager und durch die Art der Aufſtellung und Zuſammenſtellung der einzelnen Dinge etwas durchaus Fremdartiges. Hier ſchaukelten ſich ein paar feuer⸗ rothe Vögelchen, die ſelber wie Blumen ausſahen, in einem von Blumen umſtellten Bauer, dort ſaß ein ganz kleiner Affe auf einem Ständer und verſuchte, mit den klugen Augen neugierig umherblickend, ſeine Zähne an einer großen Nuß, und hart an der Schwelle hatte ſich einer der großen afrikaniſchen Hunde gela⸗ gert. Es ſchien ihm in der Hitze einmal recht wohl zu ſein, gerade ſo wie den beiden Schildkröten, die mit lang vorgeſtrecktem Halſe ſich mühſam aufrichtend und die kurzen, dicken Füße nach Kräften hebend, die Schwelle zu erklimmen und über ſie hinweg in die volle freie Sonne hinaus zu kommen ſtrebten.

Oben an der Seite des Treibhauſes, an welcher ſich ſonſt die eigentliche Eingangsthüre befunden, die man ebenfalls ausgehoben hatte, ſo daß man dort ſich in einem friſchen Luftdurchzug befand, hatte man einen Tiſch aufgeſtellt, an welchem die beiden Frauen ſaßen. Frau von Raven hatte ein Buch in der Hand, Ramonna ſchrieb, was Jene ihr diktirte.

Johannes hatte ſich mit dem Bemerken melden laſſen, daß er in Stellvertretung des Profeſſors käme,

57

und Ramonna's erſte Frage galt alfo dem Befinden des von ihr verehrten Mannes. Als ſein Stellvertre⸗ ter ſie über daſſelbe beruhigt hatte, und ſich nach ihrem Ergehen zu erkundigen begann, kreuzte ſie die beiden entblößten Arme auf dem Tiſche, und ſich weit vor⸗ beugend, ſo daß ſie mit dem ſchönen, feinen Kopfe dem jungen Manne bedeutend näher kam, ſagte ſie: „Ah, ich glaube, der Profeſſor hat Sie nur hierher ge⸗ ſchickt, um nicht mehr ſelber anhören zu müſſen, was er ſchon gehört hat; und es iſt ja auch genug, daß ich der guten Mama und dem Profeſſor Langeweile mache. Ihnen klage ich nicht, mein Herr!“

Johannes entgegnete ihr, daß ſie ihm damit ein Zeichen ihres Mißtrauens gäbe, daß er dem Profeſſor Bericht über ſie zu bringen habe, und daß er ſie alſo bitten müſſe, ihm ſeine Fragen zu beantworten. Auch Frau von Raven redete ihr in dem Sinne zu. Indeß Ramonna hörte nicht darauf. Sie ſah den Doktor lächelnd an, ſchüttelte das Haupt und ſprach ein kur⸗ zes, beſtimmtes: „Nein!“ aus, dem ſie dann noch ein⸗ mal die Worte hinzufügte: „Ihnen klage ich nicht!“

Von jedem andern Kranken würde ſolches Betra— gen dem jungen Arzte unangenehm geweſen ſein, aber Ramonna gegenüber fühlte er Nichts als die Gewalt

58

ihrer fremdartigen Schönheit, und er wußte es ja auch, daß er in dieſem Mädchen weniger einer Kranken, als den phantaſtiſchen Einbildungen eines verwöhnten Kin⸗ des zu begegnen habe. Er konnte ſich nicht ſatt ſehen an der klaren Stirne und den fein gezeichneten Brauen. Der Blick ihrer großen Augen drang ihm mit ſeinem ſanften Glanze bis in das Herz. Sie war in der Nähe noch ſchöner, als aus der Ferne, von der er ſie zuvor geſehen hatte. Alles an ihr war eigenartig und beſonders. Selbſt der loſe, weiße Morgenanzug, der die Arme und den Hals und den zierlichen Anſatz des Halſes an die Bruſt halb verhüllte und halb zeigte, während ein feuerrother Shawl das Gewand um den ſchlanken Leib zuſammengürtete, und eine feuerrothe Salvia mitihren traubenförmigen Blüthen in Ramonna's ſchwarzem Haar erglänzte, gab dem Mädchen durch die Art und Weiſe, wie ſie ihn trug, ein ſo fremdes Anſehen, daß Johannes vor ihr wie vor einem Bilde ſich in ein entzücktes Betrachten verlor, und ſich faſt gewaltſam zu der Frage aufraffen mußte, wie er ſich ihre Weigerung, ihm Rede zu ſtehen, deuten ſolle. „Denken Sie gar nicht darüber nach, und deuten Sie ſie gar nicht; das iſt ja gar nicht nöthig!“ rief die ſchöne Kreolin, als ſie bemerkte, daß Frau von Ra⸗

59

ven mit ihrem Verhalten nicht zufrieden war. „Deus ten Sie meine Weigerung gar nicht denn ich will ſie Ihnen ſelber deuten,“ ſprach ſie mit einem bezaubern⸗ den Lächeln; „Ihnen klage ich nicht, denn Sie ſind fröhlich!“

Frau von Raven ſowohl als der Doktor waren überraſcht von dieſer Antwort. „Iſt das ein Grund, mir nicht zu vertrauen,“ erkundigte ſich Johannes.

„O nein!“ verſetzte ſie, und ſchüttelte das Köpf⸗ chen; „aber es iſt ein Grund, Ihre gute Laune nicht zu ſtören. Sie ſehen fröhlich aus und ſind es auch.“

Ihre Freundin fragte, woher ſie das wiſſe.

„Woher ich's weiß? Ich ſehe es und habe es gehört! —“ und ſich zu Johannes wendend, ſprach ſie: „Ich habe Sie ſingen hören, ein ſchönes Lied, gleich in den erſten Tagen, nachdem wir in dies Haus gekommen waren. Oben an Herrn Egon's Fenſter haben Sie geſungen. Ich habe die fröhliche Melodie behalten und ich ſinge ſie mir oft, obſchon ich damals darüber weinen mußte; denn damals glaubte ich, ich würde noch in dieſem Frühling ſterben, und wenn ich Schönes hörte oder ſah, ſo weinte ich darüber, daß ich's verlaſſen ſolle.“

„Aber jetzt jetzt glauben Sie das hoffentlich

60

nicht mehr?“ rief Johannes, der ſich wie in einem Zauberreiche fühlte.

Ihr Geſicht war ernſthaft geworden, ſie ſah ihn prüfend an. „Am Tage glaube ich es nicht aber in der Nacht, wenn das böſe Herzklopfen mich erfaßt, daß ich nicht ſchlafen kann, da glaube ich doch noch oft, daß ich den Morgen nicht mehr ſehen werde.“

„Scheuchen Sie dieſe Beſorgniß von ſich, wie einen böſen Traum der Nacht!“ rief der Doktor mit großer Wärme. „Sie ſind nicht krank, Sie werden leben —“

Ramonna unterbrach ihn. „Der Profeſſor ſagt das auch,“ verſetzte ſie, „und die Mama hier ebenſo, aber ſie ſehen immer ſo nachdenklich dabei aus!“

Frau von Raven meinte, ſie und der Profeſſor wären eben ernſthaft.

„Das weiß ich!“ ſprach Ramonna, „aber wenn meine letzte Schweſter, wenn Juanita in unſerm Hei⸗ mathlande die Aerzte fragte, ob ſie leben bleiben würde, ſo ſagten ihr die alten Herren auch mit ſolchem ern⸗ ſten Geſichte: „Ja!“ und ſie iſt doch geſtorben. Das kann ich nicht vergeſſen, und darum glaube ich auch dem Profeſſor nicht.“

„Nun,“ rief Johannes, „wollen Sie mir denn

61

glauben, der ich nicht allzu viel älter bin, als Sie, und der das Leben liebt, wie Sie? Wollen Sie mir glauben, wenn ich Ihnen verſichere, daß für Sie nicht das Ge: ringſte mehr zu befürchten iſt? daß Sie leben bleiben, geſund leben bleiben werden, wenn Sie rur gar nicht mehr an Ihr Sterben denken wollen? Ihre Ge— ſchwiſter ſind dem Klima der Tropen erlegen. Hier in Europa iſt die Luft für Sie geſund; Sie müſſen in Europa bleiben, und Sie fühlen ja auch ſelber, daß es Ihnen gut geht und daß es Ihnen alle Tage beſſer gehen wird? Wollen Sie mir das glau⸗ ben?“

„Ja! das will ich!“ gab ſie ihm zur Antwort.

Er war aufgeſtanden und ſchickte ſich zum Gehen an, denn er machte ſich innerlich zum Vorwurf, daß er mit ſeiner Lebhaftigkeit ſeiner ärztlichen Würde zu nahe getreten ſei. Als er ſchon den Hut genommen hatte, rief Ramonna ihn zurück. N

„Melden Sie dem Profeſſor,“ ſprach ſie, „daß ich heute viel beſſer bin! Und ich danke Ihnen, Doktor! Ich bin ſicher, Sie glauben, was Sie ſagen, Sie ha— ben mir ſehr wohl gethan. Ich danke Ihnen!“ Damit reichte ſie ihm die kleine, ſchmale Hand hin, und er mußte machen, daß er fortkam, um ihr nicht

62

zu ſagen, wie fie ihn bezaubert habe und wie fie ihm der Inbegriff aller Holdſeligkeit bedünke.

Was die anderen Kranken von ihm gedacht haben mochten, die er an dem Mittage im Auftrage des Pro⸗ feſſors noch beſucht, das fing er ſich erſt zu fragen an, als der und jener von ſeinen eigenen Patienten ſich bei ihm erkundigte, was ihm denn geſchehen ſei, und weshalb er ſo gar vergnügt ausſähe? Er konnte auch vor dem Profeſſor, als er mit ſeinen Berich⸗ ten bis zu der engliſchen Familie gekommen war, es nicht zurückhalten, wie überraſchend die Anmuth der jungen Kreolin ihm geweſen ſei.

Der Profeſſor hörte das wohlgefällig an. „Meine Praxis,“ ſagte er, „ſcheint unter Amors ganz beſon⸗ derem Schutze zu ſtehen, ſchade nur, daß ich ſelber davon nicht mehr profitiren kann. Mein Aſſiſtent hatte ſich bei dem Beſuch meiner Kranken die reizende Tochter einer ſehr reichen Wittwe aus den Rheinprovinzen an⸗ geeignet, Sie ſcheinen auf die ſchöne Weſtindierin gleich im Sturmſchritt loszugehen, und ich traue Ihnen zu, daß Sie ihr die Todesgedanken zu vertreiben wiſſen würden.“

Zu des jungen Doktors ganz beſonderer Genug⸗ thuung wollte aber der Hüftſchmerz ſeines verehrten alten

63

Lehrers nicht fo ſchnell weichen, als man es erwartet hatte. Die Vertretung bei deſſen Kranken war alſo fortzuſetzen, und noch ehe eine Woche vergangen war, hatte Frau von Raven durch die zufällige Erwähnung, wie Johannes ein Jahr vor dem Feldzuge eine Reiſe nach dem hohen Norden von Schweden und Norwegen gemacht habe, eine nähere Bekauntſchaft zwiſchen dieſem und dem Vater ihrer jungen Pflegebefohlenen herbeigeführt. Herr Ernsby beſaß die ganze unermüdliche Frage⸗ ſeligkeit der reiſenden Engländer, er wünſchte neben ſeinem Murray und ſeinen ſonſtigen Handbüchern noch wo möglich die ſelbſtgemachten Erfahrungen eines ihm bekannten Mannes zu benutzen, und er war alſo augen⸗ blicklich bei der Hand, den jungen Arzt ſeiner Tochter, ſo oft derſelbe in das Haus kam, um alle Dinge zu befragen, die er ſeit einigen Wochen alltäglich in ſeinen Handbüchern nachgeleſen hatte. Da nun der Doktor nicht Zeit hatte, in den Vormittagsſtunden dieſe Reiſe⸗ berathungen zu ertheilen, erſuchte der Engländer ihn, eine Abendſtunde dazu feſtzuſetzen, und was konnte Johannes Beſſeres verlangen, als Abends an dem Theetiſch der Familie neben Ramonna zu ſitzen, mit ihr und Frau von Raven in dem Wege um den Raſen⸗ platz ſpazieren zu gehen, und wenn das ſchöne Mäd⸗

64

chen ihn darum bat, fein Partner für eine Partie Feder⸗ ball zu ſein, oder ihm eines jener deutſchen Volkslieder am Klaviere vorzuſingen, die zu hören die junge Kreolin immer wieder wünſchte?

Egon erfuhr das Alles von ſeiner Mutter ſowohl als von dem Freund, aber er äußerte ſich nicht dar⸗ über. Die Aufforderung der Fremden, ſich ebenfalls zum Thee bei ihnen einzufinden, welche ſeine Mutter ihm brachte, lehnte er unter einem annehmbaren Vor⸗ wande ab, und erſt als der Freund ihn fragte, ob er danach nicht wenigſtens den üblichen Höflichkeitsbeſuch zu machen denke, entgegnete der Lieutenant kurz und abweiſend, er liebe es nicht, ſich benutzen zu laſſen.

Johannes wollte wiſſen, was das heißen ſolle. Egon wich der Antwort aus. Er beneide den Freund um ſeine Unbefangenheit, ſagte er und wolle ſie ihm nicht trüben und nicht rauben. Das machte natürlich den Doktor nur noch dringlicher, und mit jener andauern⸗ den Verſtimmung, welche ſich ſeit einiger Zeit des jungen Offiziers bemächtigt hatte, meinte er: „Ich bin kein Freund von Wiederholen beſonderer Geſpräche, aber es iſt vielleicht nothwendig, daß Du erfährſt, wie Dein eng⸗ liſcher Freund Deinen Verkehr in ſeinem Hauſe an⸗ ſieht, und wie Leute ſeiner Art überhaupt über die⸗

65

jenigen urtheilen, deren Dienſte fie bezahlen.“ Er hielt inne, als überlege er noch einmal, ob er dem Freunde die Mittheilung machen ſolle oder nicht, dann ſprach er: „Ramonna's Vater nennt Dich einen ſehr amüſan⸗ ten jungen Menſchen. Er freut ſich, daß feine Toch⸗ ter in Deiner Geſellſchaft ſo vergnügt iſt, er findet, daß die Anleitung, die Du ihm für ſeine heilgymna⸗ ſtiſchen Uebungen giebſt, eine Extra⸗Bezahlung werth iſt, daß Ramonna von Dir im Deutſchſprechen viel pro⸗ fitiren kann, und er iſt entſchloſſen, Dich für alle dieſe verſchiedenen Dienſte, wenn ſie in drei Wochen reiſen werden, ſo anſtändig zu bezahlen, daß Du die Abend⸗ ſtunden, welche Du jetzt für ihn und ſeine Tochter aufwendeſt, nicht zu bereuen haben ſollſt! Und nun verzeih mir's, wenn ich Dich mit dieſem Bericht in Deinem Behagen etwa ſtöre. Ich meinte aber, daß es gut ſei, wenn Du dies erführeſt!“

Zu des Lieutenants ſichtlichem Erſtaunen blieb aber der Doktor von den Mittheilungen unberührt. „Du ſtörſt mich in meinem Behagen ganz und gar nicht!“ verſetze er gleichmüthig, „und ich begreife nicht, was Dir dabei auffällt. Seine ärztlichen Dienſte be⸗ zahlt zu bekommen iſt jeder Arzt gewohnt, und je höher er ſie ſich von den Reichen bezahlen BL um fo

Fanny Lewald, Neue Erzählungen,

66

freier kann er fie den Armen unentgeltlich leiſten. Will ein ſehr reicher Mann mir einmal ausnahms⸗ weiſe etwas, was mir Vergnügen macht und ihm nebenher erwünſcht iſt, noch beſonders bezahlen, fo kann ich mir das gefallen laſſen, da er mir ſchwer⸗ lich ſagen wird, dies iſt für Ihre Morgenbeſuche und dies iſt für die Geſellſchaft, die Sie mir am Abend leiſteten. Nimmſt Du doch Dein Gehalt vom Kö— nige oder vom Staate, ebenſowohl für die Paraden und die müßigen Wachedienſte im Schloſſe, als für den Dienſt im Kriege; Dienſt iſt Dienſt, und Sold iſt Sold. Das ſchöne Kind der Tropen iſt mir ein Entzücken, der Vater amüſirt mich, Deiner Mutter bin ich angenehm, alle Theile ſind alſo gleichmäßig befriedigt; Du aber biſt ein Thor, daß Du dieſe vor⸗ übergehende anmuthige Geſellſchaft nicht fröhlich mit uns theilſt. Es verlangt ja dabei Niemand von Dir das Opfer irgend einer Ueberzeugung; und drückt Dich, wie Du ſagſt, die Abhängigkeit, in welche Deine Mutter ſich begeben hat obſchon ich Nichts gewahr worden bin, was ſie im Entfernteſten verletzen könnte nun, ſo wäre es doppelt gerathen, daß Du Deinen Säbel, Deine Epauletten und Deine Orden in die Wageſchale leg⸗ teſt, und mit Deiner Ehrerbietung vor der Mutter

67

auch dem Engländer die Achtung vor derſelben einflößeft, die ihr gebührt wenn er es je an ſolcher fehlen laſſen ſollte, was ich nicht befürchte.“

Dieſer letzte Grund machte Eindruck auf den Lieutenant. Er reichte dem Freunde die Hand und meinte: „Dein Verkehr mit Menſchen aus allen Stän⸗ den macht Dich einſichtiger und weniger einſeitig als mich, und die Lebensfreiheit, die Du von jeher genoſ⸗ ſen haſt, hat Dich nicht ſo argwöhniſch werden laſſen, als ich es leider bin. Mir ſtecken die alten drücken⸗ den Erfahrungen noch im Blute; ich ſehe es bei jedem Anlaß, wie mich dies befängt, wie es mich behindert, und die Erfenntniß beſſert meinen Zuſtand nicht. Liebte ich Dich nicht, ich könnte Dich um Deine Seelenfreiheit, um Deine ſtete liebenswürdige Heiterkeit beneiden.“

„So laß denn doch endlich einmal alle Deine drücken⸗ den Erinnerungen zum Teufel fahren!“ rief Johannes. „Grüble nicht über Dich, ſondern freue Dich, daß Du jung biſt. Prüfe die Geſinnungen der Menſchen nicht wie der Bibel⸗Gott bis auf Herz und Nieren, was ihm ſchwer gefallen ſein muß bei dem damaligen Zuſtande der Wiſſenſchaft, ſondern nimm die Leute als das, was ſie ſein wollen, und vor Allem Du kommſt heut' in den Garten.“

5*

68

Die Worte, welche an eine Textſtelle aus dem Mozart'ſchen Figaro erinnerten, machten Beide lachen.

„Um die beſtimmte Zeit!“ antwortete ſingend der Lieutenant.

„Läßt mich nicht lange warten?“ intonirte Jo⸗ hannes.

„Nein!“ ſang Egon; und die Melodie des rei⸗ zenden Duettes vor ſich hinſummend, gingen ſie heiter und guter Dinge von einander.

Siebentes Capitel.

Von da ab ſchloß ſich auch Egon der engliſchen Familie an, und da zwei junge Männer niemals ne⸗ ben einem ſchönen Mädchen leben können, ohne un⸗ willkürlich in einen Wettſtreit der Liebenswürdigkeit zu gerathen, ſo gewann der geſellige Verkehr an Le⸗ ben, ſeit der Lieutenant an demſelben Theil nahm.

Als nach vierzehn Tagen der Profeſſor, von ſei⸗ nem Krankenlager auferſtanden, die ſchöne Kreolin zum erſten Male wieder beſuchte, fand er ſie heiter und von allen ihren melancholiſchen Gedanken ganz und gar geneſen. Er ſtand nicht an, dies in freundlich vornehmer Beſcheidenheit ſeinen Rathſchlägen zuzu⸗ ſchreiben; er erinnerte den Vater, wie er die Prognoſe richtig gemacht und die Geneſung vorausgeſagt habe; unterließ dabei nicht, die verſtändige Sorgfalt ſeines zweiten Aſſiſtenten gebührend anzuerkennen, von dem

70

er, als von einem jungen Manne aus ſehr achtungs⸗ werther und wohlhabender Familie, noch leichthin ein paar freundliche Worte ſagte denn der Profeſſor war ein Mann, der gern lebte und leben ließ und er erklärte darnach, daß jetzt der Reiſe Ramonna's nichts mehr im Wege ſtehe und daß man aufbrechen ſolle, ehe die fortſchreitende Jahreszeit den Aufenthalt in der großen Stadt unbehaglich, und die Hitze das eigentliche Reiſen angreifend machen würde.

Herr Ernsby verlangte es gar nicht beſſer. Seit er der Sorge um das Leben ſeiner Tochter enthoben war, hatte ſie unverkennbar an Intereſſe für ihn ver⸗ loren. Er hatte nicht gewollt, daß auch dieſes letzte Kind ihm ſterben ſolle, er hatte Alles daran gewendet, Ramonna zu erhalten; jetzt war ihm dies gelungen, er hatte ſeinen Willen durchgeſetzt, und er ſehnte ſich nach einem neuen Gegenſtand für ſeine Willensthätigkeit. Die gleichmäßig andauernde Pflege eines jungen Frauen⸗ zimmers war nicht ſeine Sache, eine langſame und begrenzte Reiſe, wie man ſie für Ramonna nöthig fand, würde ihm eine Qual geweſen ſein. Jahr und Tag hatte er für die Tochter gelebt, es war nach ſeinem Empfinden hohe Zeit, daß er jetzt wieder an ſich ſel⸗ ber dachte, und er hatte ſeinen Sinn darauf geſtellt,

71

den längſten Tag am Nordkap zu verleben. Die Bor- bereitungen zu ſeiner Tochter Reiſe waren lange ſchon getroffen worden, und vierundzwanzig Stunden nach dem Beſuche des Profeſſors, geleitete der Vater Ra⸗ monna und ihre Beſchützerin nach der Eiſenbahn.

Draußen in dem Bahnhofe traf man Egon an, der hinausgegangen war, um bis zum Augenblick der Abreiſe bei ſeiner Mutter zu verweilen. Auch Johannes hatte ſich, wie er ſagte, in ſchuldiger Höflichkeit ein⸗ gefunden, und nach ſeiner Weiſe munter, hatte er mit Scherzen und Necken die letzte Viertelſtunde hingebracht. Als man dann aber an den Wagen trat, als der Kou- rier, der die Frauen begleiten ſollte, ihnen die kleinen Handſäcke und ihre Fächer reichte, als Egon die Mut⸗ ter hineinhob, dieſe ſich mit Rührung noch einmal zu ihm wendete und ihre Augen trocknete, da ſchien der Gedanke des Scheidens Ramonna zum erſten Male zu überkommen und gewaltſam zu ergreifen. Mit einer Leidenſchaftlichkeit, welche man bis dahin niemals an ihr wahrgenommen hatte, warf ſie ſich ihrem Vater an die Bruſt, und unter Schluchzen und unter Thrä— nen rief ſie: „Oh, laß mich bleiben! laß mich bei Dir bleiben, Vater! ich kann nicht fort! ich will nicht fort von hier! Ich ſterbe, wenn ich gehe!“

72

Man war in großer Verlegenheit. Die Umſtehen⸗ den wurden achtſam; Herr Ernsby, welchem ſolch ein Vorgang ſehr zuwider war, ſtellte ihr verweiſend vor, daß er ſie doch nicht nach dem Nordkap mit ſich neh⸗ men könne. Frau von Raven gab ihr zu bedenken, daß ſie, die ſo viel älter ſei, ſich von ihrem Sohne trenne, ohne deshalb gleich Todesahnungen zu hegen, Johan⸗ nes gab ihr ſeine Hand und ſein ärztliches Wort dar⸗ auf, daß ſie Alle ſich in kurzer Zeit und in Geſund⸗ heit wiederfinden würden, aber ſie ſah ihn gar nicht an, und weinte leiſe fort, nachdem der Vater ſie in den Wagen hineingehoben hatte. Endlich, als der Zugführer bereits herantrat, die Billete einzufordern, richtete ſie ſich auf, und ſich weit hinausbiegend zu Egon, der ernſt und ſchweigend an dem Schlage ſtand, rief ſie, indem ſie ihm die Hand hinreichte: „Leben Sie wohl, Herr Egon! Sie wiſſen es, was ſcheiden heißt!“ In dem Augenblick ſchrillte aber ſchon die Pfeife ein ſtoßender Ruck das junge Mädchen warf ſich weinend in die Ecke ihres Platzes zurück, und der Zug ſauſte davon.

„Das arme Kind! es hängt zu ſehr an mir!“ ſagte der Vater; „es iſt Zeit, daß ich ſie auf ſich ſelbſt verweiſe. Ein Mann kann nicht blos für ſeine Toch⸗

13

ter da fein!’ Dann ſchüttelte er den jungen Männern feſt die Hand, und ging, den Hunden pfeifend, die ihn ſtets begleiteten, nach ſeinem Wagen. Auch die Freunde machten ſich auf den Weg, aber ſie trennten ſich bald. Keiner von ihnen nannte Ramonna's Namen bei dem Gange; und auch wenn ſie in den folgenden Tagen und Monaten zuſammenkamen, war es, als vermieden ſie Beide von dem Mädchen zu reden, das ſie doch die ganze Frühlingszeit hindurch ſo ſehr beſchäftigt hatte.

Aber auch nach der Entfernung der ſchönen Kreo— lin verlor ſich das Intereſſe für dieſelbe in Johannes nicht. Er hatte ſich gewöhnt, ſie an jedem Tag zu ſehen, er hatte ſeine Stunden danach eingetheilt, mit⸗ ten in ſeinen Berufsgeſchäften hatte er darauf geſon⸗ nen, ihr eine Freude, eine Zerſtreuung zu bereiten; ihr Frohſinn, ihre wiederkehrende Zuverſicht zum Leben, die Anmuth, mit welcher ſie ihm ſeine Fürſorge zu danken wußte, hatten ihn immer neu beglückt; nun war mit Einem Male eine Lücke in ſeinem Daſein entſtanden. Er vermißte das Mädchen mehr als er je zuvor einen Anderen vermißt. Er war unruhig bei aller Arbeit, allem Thun, unruhiger in jeder Muße⸗ ſtunde. Es litt ihn nicht in ſeiner Wohnung, das

74

Wirthshaus, in dem er Jahre lang in fröhlichem Bi- hagen mit ſeinen Freunden zuſammengekommen war, erſchien ihm plötzlich unwirthlich und widerwärtig, und doch mochte er es ſich nicht eingeſtehen, was ihm fehle und was ihm ſeine Ruhe raube. Egon's Mit⸗ theilungen über die Denkungsweiſe von Ramonna's Va⸗ ter wirkten in dem Doktor nach. Daß der Engländer ein Egoiſt, ein Sonderling, daß er hochmüthig und geldſtolz ſei, das hatte Johannes freilich ſelbſt geſehen und gewußt, es hatte ihn aber weiter nicht gekümmert. Ramonna hatte ihm ſo ſehr gefallen, er hatte nur an ſie, nur an den Augenblick gedacht. Bisweilen war es wohl durch ſeinen Sinn gezogen, daß es etwas ſehr Schönes ſein müſſe, eine ſo reizende Frau und mit ihr zugleich ein großes Vermögen zu gewinnen, und wie die thätig gewordene Phantaſie nicht leicht eine Schranke findet, war er dann im Geiſte an Ra⸗ monna's Seite auf dem leuchtenden Uferſande ihrer Heimathinſel unter Palmen und Karuben umherge⸗ wandelt. Es war das aber, ſo lange er neben dem Mädchen gelebt hatte, weiter Nichts als ein flüchtiges Spiel ſeiner Einbildungskraft geweſen; in der nächſten Stunde hatte er nicht daran gedacht, ſein Herz war eigentlich ganz frei geblieben. Jetzt indeſſen war es

75

anders. Jetzt konnte er es ſich nicht mehr verbergen, daß er Ramonna liebte, leidenſchaftlich liebte, und daran zweifelte er nicht Egon hatte von Anfang an in ſeiner Bruſt geleſen, hatte ihn beobachtet, hatte ihn beſſer verſtanden, als er ſich ſelbſt. Deshalb hatte der ernſte, kluge Freund ihn auch gewarnt, deshalb allein hatte er ihn vorſorglich auf den Charakter und die Denkart von Ramonna's Vater hingewieſen. Aber was hatte es ſagen wollen, daß das Mädchen Egon im Moment des Scheidens ſo leidenſchaftlich angerufen hatte?

Sie hatte ſich bei Johannes allerdings zu ver⸗ ſchiedenen Malen nach dem Sohne ihrer Pflegerin er⸗ kundigt; und das war ihm immer aufgefallen, denn was ſie über Egon wiſſen wollte, hätte ſie ja durch deſſen Mutter ſtets erfahren können, die es gar nicht beſſer forderte, als von dem Sohne zu ſprechen. Hatte vielleicht Egons ſtolze Zurückhaltung die Neugier, die Theilnahme des an Zuvorkommenheit gewöhnten Mäd⸗ chens aufgeregt? Hatten die Mittheilungen der Ma⸗ jorin, die in ihrem Sohne den Inbegriff aller Tu⸗ gend und aller Würdigkeit erblickte, vielleicht eine Liebe in Ramonna's Herz entzündet, deren ſie ſich, wie Jo⸗ hannes der feinen, im Augenblick des Scheidens erſt bewußt geworden war?

76

Möglich ift das Alles, ſagte ſich der Doktor, die Herzenslaunen reicher und müßiger Frauen ſind ja unberechenbar! Aber er fand ſich mit dieſer tiefen, durch Ueberlieferung geheiligten Erkenntniß, mit dieſer Einſicht in die weibliche Natur nicht beruhigt, nicht gefördert, er hatte eben nur die Feſtigkeit, dem Freunde zu verbergen, wie aufgeregt er war. Er mochte mit ſeinen ſiebenundzwanzig Jahren und in dem Gefühl ſeines würdigen Berufes dem kalten, feſten Egon nicht mehr wie der leichtfertige Falter erſcheinen, der ſich die Flügel verbrennt im gaukelnden Spiel um die Flamme: und daß Egon ihn gewarnt, das nöthigte ihn erſt recht zum Schweigen. Er ging ſeinen Geſchäften nach, die ſich im Sommer, als die alten Aerzte ihre Erholungs⸗ reiſen machten, ſehr vermehrten; er verkehrte mit ſei⸗ nen Bekannten und mit Egon ganz wie ſonſt, dieſer ſchien die Entfernten gar nicht zu vermiſſen, und nur das Eine fiel dem Doktor auf, daß Jener ihm von den Briefen ſeiner Mutter wenig ſprach, daß er ſie ihm nicht wie in andern Zeiten theilweiſe zu leſen gab.

reilich erzählte er, wo ſeine Mutter ſich befinde, er gab auch Auskunft über dieſes oder jenes Er⸗ lebniß der beiden reiſenden Frauen, und erwähnte eines Tages, daß Ramonna einen Gruß für ſie Beide mitten

77

in den Brief der Mutter hineingeſchrieben habe; als Johannes dieſes Schriftſtück aber zu ſehen wünſchte, hatte Egon es nicht bei ſich, und der Doktor kam auf ſein Verlangen dann nicht mehr zurück, da er keine zu große Theilnahme oder Neugier zu verrathen wünſchte. Wo aber zwei Menſchen, die einſt ein volles und unbedingtes Vertrauen zu einander gehegt haben, aus welchen Gründen es auch ſein mag, ſich zu einem vor⸗ ſichtigen Schweigen gegen einander veranlaßt fühlen, iſt eine Erkaltung eingetreten, die nothwendig und mit Schnelle zunimmt; und Egon ſowohl als Johan- nes waren ſich dieſer wachſenden Entfremdung auch bewußt, obgleich man ſie noch immer als die Unzer⸗ trennlichen bezeichnete.

*

Achtes Capitel.

Es war ſchon gegen das Ende des Sommers und die jungen Männer waren am Mittage länger und Beide in gewiſſem Sinne aufgeſchloſſener als in der letzten Zeit beiſammen geweſen, als ſpät am Abende Egon noch in die Wohnung ſeines Freundes kam. „Gut, daß ich Dich finde,“ rief er, ſowie er eingetreten war, „ich bringe Dir eine wunderbare Neuigkeit.“ a

Er zog dabei einen Brief hervor und reichte ihn dem Freunde hin. Die Aufſchrift zeigte Frau von Ra⸗ vens Hand; und wenn es Johannes auffiel, daß Egon ihm jetzt plötzlich ein Schreiben ſeiner Mutter zum Leſen anbot, nachdem er ihm alle Briefe derſelben ſo lange vorenthalten hatte, ſo war die Dringlichkeit, mit welcher er ihn antrieb, von dem Inhalt Kenntniß zu nehmen, noch viel auffallender und völlig gegen ſeine Art und

19

Weiſe. Indeß fie wurde dem Doktor ſehr erklärlich, als er die folgenden Mittheilungen las.

„Es iſt geſtern ein Brief von Herrn Ernsby in unſere Hände gekommen,“ ſchrieb Frau von Raven aus dem Schweizer Kurorte, „der die arme Ramonna in eine große Aufregung verſetzt hat, und der auch mich nicht zur Ruhe kommen läßt, weil er mich zu einer neuen Entſcheidung drängt, die ich ohne Deine Zu⸗ ſtimmung und ohne reifliches Ueberlegen mit Dir, nicht faſſen kann.

„Herr Ernsby hat ſich mit einer kaum zwanzigjähri⸗ gen Norwegerin verheirathet. Ohne ſeine Tochter vorher auch nur davon benachrichtigt zu haben, meldet er ihr ganz plötzlich dieſe Thatſache in der Weiſe, wie man Jemandem die Nachricht geben würde, daß man ſich einen neuen Diener angeſchafft, oder einen neuen Wa⸗ gen gekauft habe. Er ſagt, da er die ſchmerzliche Er⸗ fahrung gemacht habe, wie wenig verläßlich die Ge— ſundheit der Südländerinnen ſei, wolle er es jetzt mit einer Nordländerin verſuchen. Er habe auf der Rück⸗ kehr vom Nordkap, in Bergen, in dem Hauſe des eng⸗ liſchen Conſuls, die Nichte deſſelben kennen lernen, habe ſich mit ihr verheirathet, und da ſeine Frau, ſo wie er den Norden, den Süden kennen lernen wolle, ſo

80

werde er mit ihr die Hochzeitsreiſe über Deutſchland, Paris und Havre nach Cuba machen. Wolle Ramonna mit ihnen gehen, ſo möge ſie gleichzeitig mit ihm und ſeiner Frau am dreißigſten Auguſt in Berlin eintreffen, um dann in einigen Tagen nach Paris aufzubrechen. Ziehe ſie, wie er vermuthe, es jedoch vor, in Europa län⸗ ger zu verweilen, ſo könne ſie das thun, und er über⸗ laſſe ihr in dieſem Falle die Wahl ihres Aufenthalts⸗ ortes, vorausgeſetzt, daß ich bei ihr bliebe, und ganz und gar die Sorge und Verantwortung für ſie über⸗ nähme. Chriſtina ſei ſchön und geſund, er hoffe Kin⸗ der zu bekommen, die ihn über ſeine gehabten Verluſte tröſten könnten, und da er nun für ſich nach ſeinem Ermeſſen und Bedürfen gehandelt habe, wolle er der Tochter auch die gleiche Freiheit zugeſtehen.

„Das Alles hat er in ſeiner gewohnten gebiete⸗ riſchen Weiſe ausgeſprochen, und Ramonna mußte es fühlen, wie die junge Frau und die neuen Ausſichten in die Zukunft ihn ganz ausſchließlich beſchäftigten, und wie ſie daneben wenig in Betracht kam. Dazu war der Termin des Zuſammentreffens in Berlin ſo kurz anberaumt, daß wir wirklich faſt noch in der Stunde, in welcher der Brief uns erreicht, von hier hätten fort- reifen und Tag und Nacht unter Weges bleiben müſ⸗

81

ſen, um am Dreißigſten in Berlin eintreffen zu können. Das arme Kind täuſchte ſich alſo gewiß nicht, wenn es annahm, daß der Vater es nicht mitzunehmen wünſche; und während er der Tochter nach ſeinen Wor⸗ ten freie Wahl verhieß, war ihr dieſelbe thatſächlich entzogen. Bei dem Schrecken und der Aufregung, in welche der Gedanke an eine Stiefmutter und obenein an eine ihr ganz fremde und ſo junge Stiefmutter ſie verſetzte, konnte man nicht ſofort an die Abreiſe gehen, und Ramonna's Klagen, daß ſie um einer Fremden willen aus dem Herzen ihres Vaters ausgeſtoßen ſei, daß er ſie alſo nie wirklich geliebt haben könne, daß ſie einſam auf der Welt ſei, hatten eine erſchütternde Wahrheit in ſich. Ich bin wie der arme tropiſche Vogel, ſagte ſie, den ein Sturm verſchlagen hatte, und der auf unſer Schiff herniederfiel, als wir ſchon an der Küſte von Europa waren. Ich nahm ihn auf und pflegte ihn und er iſt doch geſtorben! Was ſoll aus mir hier in Furopa werden, wenn Du, mein Mütterchen, nicht bei mir bleibſt?

„Wir haben Herrn Ernsby geantwortet, daß wir bis zu dem feſtgeſetzten Tage nicht bei ihm ſein können; Ramonna hat gebeten, daß der Vater nach feinem Er⸗

meſſen über ſie entſcheiden, daß er bis zum nächſten Fanny Lewald, Neue Erzählungen. 6

82

Schiffe in Europa bleiben möge, und dabei erklärt, fie hoffe, ich würde ſie nicht verlaſſen, wenn er ſie nicht mitzunehmen wünſche. Wir brechen aber natürlich ſo⸗ fort auf, werden ſpäteſtens den Dritten des kommen⸗ den Monats zu Hauſe ſein, und erwarten unter We⸗ ges telegraphiſch von den Entſchließungen des neuen Ehemannes unterrichtet zu werden.

„Daß er die Gelegenheit benutzen wird, ſich für den Augenblick von der Geſellſchaft der Tochter frei zu machen, deſſen bin ich ſicher; daß er mir in ſeinem Briefe mit der großartigen Nichtachtung des Geldes, die wir an ihm kennen, im Voraus alle Bedingungen, die ich nur irgend machen könnte, zugeſtanden hat, brauche ich nicht erſt zu erwähnen. Mir iſt es eine große Herzensbefriedigung geworden, mit dem lieben Mädchen zuſammen zu ſein, mich ſeiner wahrhaft töch⸗ terlichen Liebe zu erfreuen und es zu betrachten, wie ſein Geiſt und ſein Herz ſich bilden und entfalten. Die rückſichtsloſe und dabei unbewußte Selbſtſucht, die ihr durch ihren Vater förmlich anerzogen worden war, iſt in ihr faſt ganz erloſchen. Sie iſt ihrer Na⸗ tur nach anſchmiegend und liebevoll, und das phan⸗ taſtiſche Wünſchen, zu welchem der Reichthum ihres Vaters ſie verleitet hat, weicht in ihr allmälig einer

83

maßvollen und weiblichen Beſchränkung. Es iſt, noch ehe wir die Kunde von der Verheirathung ihres Va⸗ ters empfangen hatte, ſchon zum Oeftern vorgekom⸗ men, daß ſie von ihrer eigenen einſtigen Verheirathung und von dem Glück des Familienlebens, wie ſie es aus meinen Schilderungen kennen lernt, mit mir ge⸗ ſprochen hat. Daß ſie unter den jetzigen Verhältniſſen ſich noch mehr als früher darauf hingewieſen fühlen muß, an ihre Verheirathung zu denken, iſt natürlich; daß ihr Vater dieſelbe wahrſcheinlich gerne ſehen und die Stiefmutter ſie wünſchen wird, iſt eben ſo ſelbſt⸗ verſtändlich, und mein Amt neben meinem Pflegekinde, denn wie ein ſolches iſt Ramonna mir in's Herz ge⸗ wachſen, wird alſo vorausſichtlich nicht lange währen, wenn ſie bei ihren hergeſtellten Kräften dieſen Winter in der Geſellſchaftswelt erſcheint. Es fragt ſich alſo, ob Du mit meiner Abſicht, bei Ramonna zu bleiben, einverſtanden biſt? Ob Du geneigt biſt, unſere Häus⸗ lichkeit für das Erſte zu entbehren? Ein großes Opfer kann es Dich nicht koſten, da ja ohnehin die Mög⸗ lichkeit Deiner Verſetzung nahe liegt; und ich meine, der Gedanke, daß mir in Ramonnga eine töchterliche

Liebe erwachſen iſt, müſſe Dir ſelber eine Beruhigung

ſein für die Zeiten, in denen Deine Liebe nicht mehr 6 *

84

mir allein gehören wird, für Zeiten, die ich ja ſelbſt erſehnen muß.“ |

Die allgemeinen Auseinanderſetzungen des Briefes waren damit zu Ende. Es folgten noch einige An⸗ deutungen, in welcher die Majorin ihren Haushalt aufzulöfen, über die Bedingungen, welche ſie Herrn Ernsby zu ſtellen dachte, und nachdem der Doktor auch dieſe durchflogen hatte, gab er dem Freunde den Brief zurück. 6

„Das ſind allerdings überraſchende Neuigkeiten,“ ſagte er mit ſtrahlenden Augen und mit glühenden Wangen ; „aber Neuigkeiten, die man ſich gefallen laſ⸗ ſen kann, denn den Vater iſt man los!“ Er zog die Uhr heraus und ſah nach der Stunde. „Komm!“ rief er, „laß uns auf die Geſundheit der ſchönen Norwe⸗ gerin trinken gehen, welche das holdſeligſte aller Pa⸗ radiesvögelchen alſo flügge macht und quaſi vogelfrei erklären läßt. Beſſer kann ich's gar nicht wünſchen.“

Aber weit entfernt, auf des Doktors gute Laune einzugehen, ſagte Egon mit einer finſteren Beſtimmt⸗ heit: „Sprich von Ramonna nicht in dieſem Tone!“

Johannes traute ſeinen Ohren nicht. Er ſah den Freund an, es lag etwas ihm bisher völlig Frem⸗ des in deſſen Mienen; indeß, da er nicht gewohnt

85

war, mit ihm zu rechten und da er feine Reizbarkei⸗ ten meiſt ſehr arglos hinnahm, entgegnete er: „Wahr⸗ haftig, Egon! Du wirſt pedantiſch! Du hätteſt Pre⸗ diger werden ſollen! Meinſt Du, weil Du tugendhaft biſt, ſoll es keinen ſüßen Wein und keine Torten mehr geben?“

„Ich bitte Dich allen Ernſtes,“ wiederholte der Lieutenant, „laß Deine Späße, denn Du ſiehſt es, ich bin ſehr ergriffen und nicht in der Stimmung, auf dieſelben einzugehen. Du weißt noch nicht Alles, was geſchehen iſt ich habe eine Unterredung mit dem Vater gehabt

„Mit welchem Vater?“ erkundigte ſich der Dok⸗ tor, dem das Betragen ſeines Freundes immer räth⸗ ſelhafter, ja unheimlich zu werden anfing.

„Mit ihrem Vater! er iſt eingetroffen auf die Stunde, die er feſtgeſetzt hat aber komm! laß uns hinausgehen! es iſt heiß hier innen und die Nacht iſt ſchön!“

Damit griff er nach ſeinem Helm, ſchnallte den Degen wieder um, und ſie verließen zuſammen das Zimmer und das Haus. Als ſie dann hinunter auf die Straße kamen, ſchlug Egon gegen das Erwarten des An⸗ dern den Weg ein, der ſie nach dem Park hinüberführte,

86

und nach wenig Schritten befanden ſie ſich auf dem großen freien Platze, auf deſſen Gartenanlagen der Vollmond Tagesklarheit niederſtrömte.

Wie ſie nun allein und dem Geräuſch der Straße entrückt waren, ſagte Egon:

„Ich habe den Brief meiner Mutter am Nach⸗ mittage erhalten. Als ich Abends nach Hauſe kam, war das erſte Stockwerk erhellt, Herr Ernsby war an⸗ gelangt. Oben in meiner Stube erwartete mich eine Karte von ihm, die mich einlud, ihn aufzuſuchen. Da es noch nicht ſpät war, ging ich hinunter. Er ſaß mit ſeiner Frau beim Thee. Sie iſt groß, ſtark, ſchön, wie man ſich eine junge Brunhilde denkt. Er ſtellte mich ihr vor, und ohne uns Zeit auch nur zu einer Begrüßung zu laſſen, meinte er, es ſei ihm lieb, daß ſeine Tochter nicht gekommen ſei, und daß er dar⸗ aus ſchließen könne, ſie wolle in Europa bleiben und meine Mutter wolle mit ihr leben. Er wiederholte mir, was er meiner Mutter einmal geſagt hatte, wie er viele ſeiner beſten Jahre mit ſeiner kranken Frau und mit der Sorge um ſeine Kinder verloren, nun ſei die Toch⸗ ter geſund, nun wolle er ſeines Lebens wieder froh werden, denn der Menſch ſei um ſeiner ſelbſt willen auf der Welt; danach müſſe man handeln und danach

87

müſſe auch feine Tochter handeln lernen. Sie ſei reich durch das Vermögen ihrer Mutter auch ohne ihn, und er werde ſie ſicher nicht beſchränken. Er ſei beruhigt, wenn er ſie unter der Aufſicht meiner Mutter wiſſe. Er laſſe die Wohnung, laſſe die Equipage zu ihrer Ver⸗ fügung, die Hunde und ſeine Leute nehme er mit, meine Mutter, die er hoch ſchätze, werde die Einrichtung ſicher gut beforgen, dafür kenne er fie. Aber auch mich kenne er; er wiſſe, ein preußiſcher Offizier ſei doppelt ein Ehrenmann, er habe das Zutrauen zu mir, daß ich ſeiner Tochter zur Seite ſtehen würde, als wäre ſie meiner Mutter Tochter und als gehörte fie zu mir, kurz —“

„Kurz,“ fiel ihm der Doktor mit ungeduldiger Heftigkeit in's Wort, „er trug Dir feine Tochter an —“

„Wenn ich ihn recht verſtanden habe ja! Es ſcheint, er will die Sorge für ſie los ſein.“

„Und Du würdeſt Dich trotz all des Mißtrauens, das Du gegen die Reichen hegſt, dann allenfalls er⸗ bitten laſſen, ihm die Erleichterung zu ſchaffen,“ meinte der Doktor mit der gleichen Herbigkeit.

„Spotte nicht! wo es ſich für mich um ein Hei⸗ liges handelt!“ entgegnete der Lieutenant.

„Was willſt Du damit ſagen?“ fragte Jener.

„Muß ich Dir das erſt erklären?“ verſetzte Egon.

88

„Alſo Du, Du liebſt Ramonna!“ rief der Dok⸗ tor und faßte nach Egons Arm.

„Ja!“ ſprach dieſer und ſeine Stimme klang dumpf, weil er ſich zwang, ſeine Erregung zu verber⸗ gen. „Ja! ich habe ſie geliebt von der erſten Stunde an, da ich ſie geſehen; ſie iſt mein einziger Gedanke! und ſelbſt die ganze Kraft meiner Hoffnungsloſigkeit hat nicht ausgereicht, mich vor dieſer Liebe zu bewah⸗ ren. Weil es mir ſo leicht geweſen wäre, ihr unter dem Schutze meiner Mutter zu nahen, habe ich es mir verſagen müſſen, ſie zu ſehen. Mit der leiden⸗ ſchaftlichſten Eiferſucht habe ich Dich darum beneidet, daß Du freien Herzens um ſie ſein, tändelnd Dich an ihrer Geſellſchaft freuen könnteſt. Ich ich hätte das nicht vermocht. Ich mußte ſie meiden, oder vor ihr niederſtürzen und ihr ſagen: Ich bete Deine Schön⸗ heit an!“ |

Er hielt inne, auch der Doktor ſchwieg. So gingen ſie einmal um den Platz herum, Beide unfähig, zu weiterer Rede, bis endlich Egon wieder anhub. „Haſt Du kein Wort für mich?“ fragte er, der mit⸗ fühlenden Theilnahme bedürftig.

„Einen Nachtwandler darf man nicht wecken!“ entgegnete ihm Johannes kalt.

89

„Fürchte Nichts! ich bin des Bodens ziemlich ſicher, auf dem ich mich befinde.“

„Seit wie lange?“ fragte der Doktor ſcharf.

„Ich bitte Dich!“ rief der Andere, „ſprich nicht in dieſem Tone, wenn Du mir nicht den Mund ver⸗ ſchließen willſt; ich bin kein Träumer. Ich hatte mich gefliſſentlich taub gemacht gegen all die lieblichen Zei⸗ chen ihrer Theilnahme, von der die Mutter mir er⸗ zählte; ich hatte es abſichtlich überhört, wenn Du mir ſagteſt, Ramonna habe nach mir gefragt, habe verlangt, daß ich Eure Geſellſchaft theile. Ich habe mir nicht eingeſtanden, wie herzlich ſie mich ſtets begrüßt, wie vertraulich ſie mit mir verkehrt hat. Ich habe das Alles auf die Anhänglichkeit geſchoben, welche ſie für meine Mutter hegt bis zu der Stunde, da im Scheiden ihr Gefühl ſie überwältigte. Von da ab habe ich gehofft! von da ab durfte ich ja hoffen! —“ Er hielt wieder inne und ſagte dann: „Keinem der Briefe, die ich von meiner Mutter empfangen habe, hat ein Zeichen von Ramonna's Hand gefehlt. Es war meiſt nur ein Wort. Ein: Auf Wiederſehen! Auf den Herbſt! oder: Bald ſind wir wieder in Berlin! aber es war immer derſelbe Ausdruck neigungsvoller Sehnſucht, bis ich heute dieſe Zeilen

90

von ihr empfing. Da! höre fie ſelber!“

Er trat an die große Gruppe von Laternen heran, ſuchte aus ſeiner Brieftaſche ein kleines zuſammenge⸗ faltetes Blatt hervor und las mit unverkennbarer Be⸗ wegung die folgenden Worte: „Ich bitte Sie, mein theurer Egon! nehmen Sie mir die liebe Mama nicht fort und ſeien Sie nicht eiferſüchtig, weil ich fie bei mir behalten will. Wir wollen Beide bei ihr bleiben, wollen ſie Beide lieben, Beide ihre guten Kinder ſein, da mein Vater mir die freie Wahl für meine Zukunft

läßt.“

Er las das mit dem Ausdruck wahren Glückes, und es kam ihm offenbar ſehr hart an, daß der Dok⸗ tor keine zuſtimmende, keine glückwünſchende Bemer⸗ kung danach machte. Er ſteckte alſo das Blatt an ſeinen alten Platz, und meinte, um ſich über ſein Miß⸗ behagen fortzuhelfen: „Ich ſehe, Du biſt überraſcht, ich war es ebenſo. Nimmſt Du indeſſen dieſe Zeilen mit den heutigen Aeußerungen des Vaters zuſammen, die nur durch Geſtändniſſe ſeiner Tochter veranlaßt ſein können, ſo wirſt Du begreifen, wie es in mir ausſieht und wie mir ſchwindelt vor der Glücksaus⸗ ſicht, die ſich ſo unerwartet vor mir aufthut!“

Aber noch immer ſchwieg der Andere, und erſt

9

als Egon ihn noch einmal anrief, ſagte er wie zur Abwehr: „Laß mich zu mir ſelber kommen! wir wol⸗ len gehen! wir wollen morgen davon ſprechen!“

„Deine Freundſchaft äußert ſich heute ſonderbar,“ meinte Egon.

„Nicht ſonderbarer als die Deine ſich bewährt hat!“ fuhr der Doktor auf, der ſich bis dahin müh⸗ ſam überwunden hatte; „Du haſt kein ehrlich Spiel geſpielt!““

„Johannes! nimm das Wort zurück!“ rief der Lieutenant ſchwer getroffen.

„Das Wort drückt nur aus, was Du gethan haſt!“ wiederholte Jener; „oder wie ſoll ich es nen⸗ nen, daß Du mich monatelang meine Bewunderung für Ramonna, mein Entzücken über ſie ausſprechen läßt, daß Du es ruhig mit auſiehſt, wie ich mich um ihre Neigung und um ihres Vaters Wohlwollen be- mühe; und Du, der Du mir wie ich Dir die vollſte Brüderlichkeit und das vollſte Vertrauen angelobt haſt, Du verbirgſt es mir, daß Du dieſes Mädchen liebſt. Nur einmal wirfſt Du, um mich abzuſchrecken, einen Stachel des Mißtrauens in mein Herz; aber Du thuſt auch dies nur ſo zu ſagen heimlich. Du biſt in einem beſtändigen Zuſammenhauge mit dem Mäd⸗

92

chen, das ich liebe, und ich erfahre Nichts davon; Du nennſt Dich gekränkt durch die Stellung, in wel⸗ cher Deine Mutter neben der Fremden lebt, und be⸗ nutzeſt dieſelbe doch geſchickt für Deine Zwecke. Soll ich etwa einen großen Akt Deiner Freundſchaft darin ſehen, daß Du mich auf die Zukunft vorbereiteſt? Freilich! Du hätteſt mich ja eines ſchönen Morgens mit der gedruckten Anzeige Deiner Verlobung über⸗ raſchen und mir dabei die Mittheilung machen können, es werde Dir lieb ſein, wenn ich auch ferner Sorge für Deine und Deiner Braut Gefundheit tragen wolle!“

Er lachte dabei laut und bitter auf. Das Echo trug von dem großen Hauſe an dem andern Ende des Platzes den Schall zurück, daß er Beiden unheimlich wiederklang. Der Doktor wendete ſich ab und wollte allein davon gehen, Egon aber hielt ihn zurück.

„Du darfſt ſo nicht von mir gehen!“ ſagte er. „Du haſt mir einen Vorwurf gemacht, auf den ich jedem Andern mit der Waffe in der Hand die Ant⸗ wort geben müßte, und den ich auch von Dir nur er⸗ tragen darf, weil er mich nicht trifft. Ich konnte Dir nicht bekennen, was ich mir ſeloſt nicht eingeſtehen wollte; und auch Du haſt mir es nicht geſagt, daß Du Ramonna liebteſt.“

95

„Aber Du ſahſt es, daß ich mich um fie bewarb!“ entgegnete ihm der Doktor.

„Wie Du Dich auch um Andere in vorüber⸗ gehender Laune, wer weiß, wie oft, beworben haſt, ohne ernſtere Plane daran zu kaüpfen. An Dir wäre es geweſen, mir dies zu vertrauen, denn meine Freund⸗ ſchaft für Dich hätte mich in dieſem Falle vor jedem eigenen Wunſche gewahrt!“

Er ſagte dies mit der ihm eigenthümlichen ern⸗ ſten Einfachheit und Johannes fühlte, daß der Freund die Wahrheit ſprach; aber dieſe Erfenntriß brachte ſie der Verſtändigung nicht näher. Es hatte ſich eine Kluft zwiſchen ihnen aufgethan, in welcher ihre Ju⸗ gendfreundſchaft, ihre ganze ſchöne gemeinſame Ver⸗ gangenheit zu verſinken drohte, wenn das rechte, ver⸗ ſöhnende Wort nicht eben in dieſem Augenblicke ge⸗ ſprochen ward. Sie empfanden das alle Beide; indeß in ihrer Gereiztheit und Verſtörung waren ſie unfähig, es zu ſuchen, oder gar zu finden. Ihre Gedanken ſchweiften rückwärts und vorwärts; ſie erinnerten ſich all des Guten, das ſie einander ſchuldig geworden waren, und gerade aus dieſem Boden zogen die Ge- kränktheit und eine bittere Abneigung ihre helle Nah⸗ rung. Daß ſie, eben ſie, einander grollten, ſchnürte

94

Jedem von ihnen die Kehle zu, und nahm ihnen, die dem Tode feſt in's Auge geſehen hatten, den rechten höchſten Muth, den Muth der Selbſtüberwindung. Ohne weiter ein Wort mit einander zu wechſeln, er⸗ reichten ſie das Thor und trennten ſich mit einem kurzen, trockenen „Gute Nacht!“

Aber die Nacht war keinem von Beiden eine gute; der Schlaf wollte keinem von ihnen kommen. Dafür kamen ihnen wirre, wilde Gedanken; Gedanken in de⸗ nen Liebe und Haß mit einander kämpften, bis das Gehirn davon müde ward und die ſchweren Augen⸗ lieder endlich niederfielen als der Morgen graute. Solche Nacht hatten ſie Beide noch nicht erlebt, ſolche Herzzerriſſenheit und ſolchen inneren Zwieſpalt noch nicht erfahren.

Es war Jedem von ihnen am Morgen zu Muthe wie auf einer Brandſtätte nach einem großen Feuer. Das Haus, in dem ſie von Kindheit an gelebt hatten, war niedergebrannt, rund um ſie her war Alles eine Zerſtörung, ſie ſelber waren entſtellt und geſchädigt durch das Ankämpfen gegen das fremde, wilde Element, Jeder dachte an ſeinen Verluſt und dachte doch auch mit Sorge und mit Mitleid an den Andern. Wäre ein Dritter, ein Unbetheiligter dazu

95

gekommen und hätte ſie bei der Hand gefaßt und zu einander geführt, ſo würden ſie gegangen und einan⸗ der in die Arme gefallen ſein, aber es kam kein ſol⸗ cher Helfer, und ein böſer Zufall fügte es, daß ſie einander in den nächſten Tagen gar nicht ſahen. Der Doktor ward zu einem Kranken über Land gerufen, Egon zu Schießübungen nach der benachbarten Feſtung kommandirt, und während deſſen kehrten Frau von Ra⸗ ven und Ramonna in die Reſidenz zurück.

Neuntes Capitel.

Am Abend des zweiten Tages, als der Doktor vom Bahnhof kommend, an dem Hauſe vorüberfuhr, in welchem die beiden Frauen wohnten, glänzte das Licht ihm durch ihre Fenſter hell entgegen. Das be⸗ lehrte ihn über ihre Heimkehr, und wäre er ſeinem Antriebe gefolgt, ſo würde er geraden Weges, im Reiſe⸗ rocke wie er war, hinaufgeeilt ſein, ſie willkommen zu heißen; aber die Erinnerung an Egon und an den Streit mit ihm, hielt ihn davon zurück.

Zu Hauſe fand er die Nöthigung noch vor der Nacht einen Krankenbeſuch zu machen; am folgenden Morgen hatte er das in ſeiner Abweſenheit Verſäumte nachzuholen, und es war noch einmal Abend geworden, als er endlich vor Ramonna's Thüre ſtehend, mit einem nicht zu über⸗ windenden Zweifel in der Seele ſich die Frage aufwarf: „was willſt Du eigentlich jetzt hier?“ Aber der Die⸗

97

ner, der ihn kommen ſah und ihm die Thüre öffnete, überhob ihn der Antwort auf die ſelbſtgethane Frage und das war ihm grade recht.

Wie er nun bei den Frauen eintrat, kamen ſie ihm mit einem Male wie völlig Fremde vor, obſchon Frau von Raven ihn mit der gewohnten mütterlichen Freundlichkeit begrüßte. Er war nie zuvor in dieſem Zimmer geweſen, hatte Ramonna immer nur in dem phantaſtiſch aufgeputzten Gartenſaal unter ihren Blu⸗ men und Vögeln, in leichter, luftiger Kleidung auf den Polſtern ruhen oder unter den Bäumen des Gar- tens ſich frei bewegen ſehen; nun fand er ſie in einer reichen aber doch gewöhnlichen Umgebung, dunkel und herbſtlich gekleidet wie alle andern Mädchen. Sie hielt eine Häkelarbeit in der Hand, wie andere Mäd⸗ chen auch, und da ſie viel geſünder ausſah und kräftiger und ſtärker geworden war, hatte ſich ſelbſt der Aus⸗ druck ihres Geſichtes verändert. Die Augen ſahen nicht mehr mit dem früheren, kindlich bittenden Aus⸗ druck zu ihm empor, ſie hatte bewußt oder unbewußt von Frau von Raven eine ſichere geſellſchaftliche Haltung angenommen, ihre Verbeugung, ihr Gruß, die Art mit welcher ſie ihm die Hand reichte, waren nicht die früheren. Aus dem tropiſchen elfenhaften Weſen war

Fonny Lewald, Neue Erzählungen. 0

98

ſie ein ſchönes Frauenzimmer geworden, und ihre veränderte Erſcheinung wirkte unwillkürlich auf den jungen Arzt zurück. Er fragte nur oberflächlich nach ihrem Ergehen, da er jetzt nicht mehr als Stellver⸗ treter des Profeſſors bei ihr erſchien, ſie nannte ſich vollſtändig geſund, dankte ihm, daß er früher mit ihren melancholiſchen Grillen fo viel Nachſicht gehabt habe, aber ſie war verlegen, war nicht zutraulich wie ſonſt, es wollte keine rechte Unterhaltung in Gang kommen; nur Frau von Raven ſprach mit heiterer Be⸗ friedigung von ihrer Reiſe. Als er ſich darauf er⸗ kundigte, ob Ramonna ihren Vater hier noch angetrof⸗ fen habe, verneinte ſie das, ohne ſeiner oder ihrer Stiefmutter weiter zu erwähnen. Sie hatte überlegen, ſchweigen, ſich beherrſchen gelernt, ſelbſt ihr Betragen gegen ihn erſchien ihm nicht natürlich. Er wußte ſich die Wandlung nicht zu deuten, die mit ihr vorgegan⸗ gen war. Bisweilen, wenn der warme Blick ihrer Augen plötzlich in die ſeinen fiel, dann ſah er die frühere Ramonna wieder und eine ſelige Hoffnung zuckte in ihm auf; aber kaum empfunden war der ſonnige Strahl auch ſchon erloſchen, ſo daß er ſich ſel⸗ ber und ſeiner Beobachtung nicht mehr vertraute. Seine Leidenſchaft ſteigerte ſich an dieſer Ungewißheit.

99

Er wußte nicht, was er thun ſollte. Er wollte blei- ben, dann wollte er gehen. Er hing an jeder ihrer Mienen und hörte kaum, wovon ſie mit ihm ſprach, weil ihn die Vorſtellung beſchäftigte, daß ſie eben jetzt an Egon denken möchte. Wäre Frau von Raven nicht dabei geweſen, hätte er Ramonna nur wenige Minuten allein geſehen, ſo würde er ihr ſein Herz erſchloſſen und eine Entſcheidung von ihr gefordert haben; aber dazu kam es nicht, und ſchon wollte er ſich entfernen, als Egon ſich melden ließ, und dem Diener aaf dem Fuße folgend in das Zimmer trat.

Beide Frauen erhoben ſich und gingen ihm ent⸗ gegen. Die Mutter umarmte ihn, Ramonna reichte ihm die Hand, die er an ſeine Lippen drückte. Sie nannte ihn bei ſeinem Namen, nannte ihn ihren lie⸗ ben Freund, ſie dankte ihm mit all dem Zauber, den auch Johannes nur zu oft empfunden hatte, für die Selbſtloſigkeit, mit welcher er gegen ſie verfahre, ſie zeigte ſich plötzlich frei, plötzlich munter und aufge⸗ ſchloſſen, und eine ſinnverwirrende Eiferſucht loderte in Johannes Herzen auf, als der freudeſtrahlende Egon ihn mit der heiteren Ruhe des Beſitzenden begrüßte, als wäre er bereits des Hauſes Herr.

Das hatte Johannes nicht erwartet. Die Ge⸗ | 5

160

danken jagten in tollem Wirbel durch fein Gehirn. Er ſchalt ſich einen eiteln Narren, und eine brennende Scham, eine tiefe Empörung trieben ihn von einem Vorſatz zu dem andern. Er wollte ſprechen und fürchtete bei dem erſten Worte zu verrathen, was in ihm vor- ging, dann wieder kam ihm die fröhliche Sicherheit des Freundes wie eine gefliſſentliche Kränkung, wie eine Herausforderung vor, und er beſchloß zu bleiben. Aber je unbefangener Ramonna, je zuverſichtlicher Egon ſich bezeigte, je ſchrecklicher dies Beides dem Doktor war, um ſo mehr glaubte er ſich genöthigt, ſich zu einer Hei⸗ terkeit zu zwingen, die zu fühlen er weit entfernt war. Er ſcherzte, er lachte, er neckte Ramonna, es gelang ihm, ſie an ſich zu feſſeln. Endlich fing man zu muſiziren an, und niemals war des Doktors Stimme, niemals ſein Vortrag ſeelenvoller, hinreißen⸗ der geweſen als an dieſem Abende. Ramonna hing wie gebannt an ſeinen Lippen, er ſah es und es ſteigerte ſein Feuer. Die Furien der Eiferſucht wichen von ihm vor der Gewalt der ſüßen Melodieen, die er anftimmte, und wie Ramonna dann endlich das Liedchen von ihm forderte, das ſie zuerſt von ihm ge⸗ hört hatte, wie er den Schlußvers jeder Strophe, das immer wiederholte: „Du weißt's, ich liebe Dich!“

101

mit all der zärtlichen Gluth emporklingen ließ, die in ihm brannte, da hellten Ramonna's Augen ſich völlig wieder auf, das ſüße Lächeln, das ihn von je bezau⸗ bert hatte, ſchwebte wieder auf ihren Lippen, und Egons Mutter mußte endlich an die vorgerückte Stunde mahnen, denn Johannes war unerſchöpflich im Geſang, weil er ſo unerſättlich war im Anſchauen der Geliebten. Frau von Raven's Weiſung ſchreckte ihn wie aus einem ſchönen Rauſche auf. Die Muſik hatte alle Fibern ſeines Weſens aufgeregt, er hätte nichts Gleichgültiges zu ſprechen vermocht, er nahm plötzlich und mit wenig Worten ſeinen Abſchied und ging raſch davon, von froher Hoffnung belebt. Egon blieb zurück. Indeß Johannes hatte nur eine kleine Strecke ſeines Weges hinter ſich, als Jener ſchon an ſeiner Seite war. |

Es fiel ein feiner kalter Regen, der Herbſt brach an, die Nacht war ſehr dunkel, Johannes konnte Egons Angeſicht nicht ſehen, aber er hörte die Heftig⸗ keit ſeines Schrittes und hörte, daß ſein Athem kurz ging, als er ohne alle Vorbereitung, den in ſeine ſchwelgenden Gefühle verſunkenen Johannes, mit den Worten anfuhr: „Du haſt es kein ehrlich Spiel genannt, daß ich Dir meine Liebe für Ramonna nicht

102

vertraute; wie aber ſoll ich's nennen, daß Du Dich mit Deinen Künſten in ihr Herz zu ſtehlen ſuchſt, da Du's jetzt weißt, daß ich ſie liebe und an ihre Nei⸗ gung für mich glaube!“

Weil der Angriff ſo unerwartet kum und weil er in ſo grellem Widerſtreit mit ſeiner Stimmung ſtand, reizte er Johannes doppelt auf; und in dem⸗ ſelben Tone haſſenden Zornes, in welchem Jener die Frage an ihn richtete, verſetzte er: „Nenn's wie Du willſt!“

„So nenn' ich's ehrlos!“ ſtieß Egon ſeiner ſelbſt vergeſſend, wild hervor.

Johannes fuhr zuſammen, aber ſie ſtanden eben Mann gegen Mann, und kalt, als hätte er einen Fremden ſich gegenüber, ſagte er: „Die Antwort darauf morgen!“ Damit ſchieden ſie.

Zehntes Capitel.

Draußen ſchlug es drei Uhr und Johannes war noch in ſeinen Kleidern. Er trat an das Fenſter und ſah in die Nacht hinaus. Der Regen hatte nachge— laſſen, ein ſcharfer Wind jagte die Flammen in den Gaslaternen hin und her und trocknete die Straße. Es war Alles ſtill, kein Wagen fuhr, kein Menſch ging vorüber, Nichts zog ihn ab, auch nur für einige Minuten ab, von den Gedanken, die ihn wie Furien umdrängten, ohne daß er irgendwo den Ausweg ſah.

Er war beſchimpft! beſchimpft von ſeinem Freunde, von dem Manne, der bis auf dieſe Stunde ſeinem Herzen der Nächſte geweſen war; und Egon, dem er ſich einſt in ernſter Stunde zugeſchworen hatte, dem er gelobt hatte, ſeiner Mutter ein treuer Sohn zu ſein, wenn der Krieg ihr den eigenen Sohn entriſſe, Egon war nicht umgedreht an der Ecke der Straße, war ihm nicht nachgeeilt, ihm zu ſagen: vergieb mir, ich habe wie ein Sinnloſer gehandelt!

104

Je länger Johannes es bedachte, je rathloſer fand er ſich vor dem Ereigniß. Vor dem Gedanken, dem Genoſſen ſeines ganzen Lebens, dem Freunde, denn ein ſolcher blieb ihm Egon trotz allem was zwi⸗ ſchen ihnen vorgefallen war, mit den Waffen in der Hand gegenüber zu treten, ſchreckte er als vor einem Unmöglichen zurück; auch Egon mußte ſo empfinden. Aber leider hatte dieſer von Kindheit an jene unheil⸗ volle Starrheit gefliſſentlich in ſich gepflegt, die von dem betretenen Wege, auch wenn er ein falſcher iſt, nicht laſſen mag, und die Ehrbegriffe der Kaſte und des Standes, denen er angehörte, hatten ihn in der üblen Gewohnheit ſo befeſtigt, daß er dieſe Fehler ſei⸗ nes Verſtandes und ſeines Herzens als Charakterſtärke an ſich ſchätzte. Daß Egon ihm damals vor dem Kriege eingeſtanden, er ſcheue den Tod, weil er für die Mutter leben müſſe, das verſchlimmerte den ge⸗ genwärtigen Konflikt und hinderte, wie Johannes die Sinnesart des Freundes kannte, jede freiwillige Aus⸗ gleichung von deſſen Seite.

Die Stunden ſchlichen langſam an Johannes hin, ſeine Gedanken jagten einander um ſo ſchneller. Es war als wolle dieſe Nacht kein Ende nehmen, als könnten die Gedanken nirgend raſten. Beſonnene

105

Ueberlegungen und wilde Phantaſiegebilde zogen in unaufhaltſamen Wechſel durch ſein Gehirn. Er ſah Egon entſeelt zu ſeinen Füßen dann wieder ſah er ihn in Ramonna's Armen es war Pein um Pein, Verzweiflung um Verzweiflung. Er hatte in den blutigen Schlachten des böhmiſchen Heeres dem Tode in's Auge ſchauen lernen, er war ihm ſeitdem begegnet in dem Gifthauch grauſer Seuchen, und er hatte vor der Möglichkeit eines nahen Endes feſt ge— ſtanden im Bewußtſein ſeiner Pflicht. Aber jetzt von dem Leben zu ſcheiden, da Ramonna in dem Licht der Sonne athmete! zu fallen und ſie dem Manne zu überlaſſen, der ihm das Leben nahm um ihretwillen oder ihn ermorden um ſie zu beſitzen? Und wie⸗ der war er in dem Zirkel, in welchem lauter Unmög⸗ lichkeiten ihn umringten, wo die Verzweiflung und die Reue ihm in's Antlitz ſtierten, wo die Frau, die er wie eine Mutter liebte, händeringend die flehenden Augen zu ihm erhob. Denn wie der Ausgang dieſes von Egon heraufbeſchworenen Kampfes immer ſein mochte, Frau von Raven hatte die Folgen deſſelben mit zu tragen, und ſie fielen ſchwer auf ſie, die Schuldloſe, die vom Leben ohnehin ſo hart Geprüfte.

Mit einem Male ſtieg ein Gedanke in ihm auf,

106

es war ihm als komme er aus einem wüſten Rauſche zu ſich. Er hätte in dem Augenblick darüber lachen können, daß er dieſen nächſten Ausweg nicht gleich geſehen, hätte er ſich nicht immer noch unter dem un⸗ heilvollen Bann befunden, in den die Leidenſchaft ihn und den Freund verſtrickt. Aber er begann wie ein Ernüchterter um ſich zu blicken und ſah plötzlich Alles in ſeinem natürlichen Licht. Was hatten er und Egon denn im Grunde zu entſcheiden? Ja, wie hatten ſie ſich um eines Mädchens willen überhaupt entzweien, ſich bis zu tödtlicher Beleidigung treiben laſſen können? Wie durften ſie daran denken, um die Hand und um den Beſitz eines Mädchens zu kämpfen, deſſen Neigung und deſſen freier Wille doch vor allem Andern in Betracht kam? deſſen Glück, falls ſie Einen von ihnen Beiden liebte, bei dieſem beabſichtigten Zwei⸗ kampf ebenſo wie die Zukunft von Frau von Raven auf dem Spiele ſtand. Ramonna war ja da! Von ihr, von ihrer Neigung hing Alles ab. Beide, er und Egon mußten vor die Geliebte treten, offen wie Män⸗ ner und wie Freunde ſprechen, und ihre Entſcheidung gelten laſſen und ertragen, wie ſie immer fiel.

Er war völlig Herr über ſich geworden, war ge— faßt und freien Sinnes, daß es ihm wieder wohl zu

107

Muthe wurde. Und von dem Zuge feiner offenen warmherzigen Natur zu raſchem Handeln angetrieben, warf er, da es Tag zu werden anfing, den Mantel über ſeine Schultern und verließ das Haus.

Auf den Straßen war es noch leer, auch in den Höfen der Kaſerne, in welcher Egon wohnte, ſeit Frau von Raven im Sommer zu der Badereiſe aufge- brochen war, regte ſich nur der Dienſt in den Stal⸗ lungen und den Remiſen. Johannes verſchaffte ſich den Eintritt, ſtieg ſchnell die Treppen hinan und ge⸗ langte raſchen Schrittes durch die langen Korridore bis an des Lieutenants Zimmer.

Aber wie er nun die Treppe hinaufſtieg und vor der Thüre deſſen ſtand, der ihm das beſchimpfende Wort in's Angeſicht geſchleudert hatte, fühlte er ſich wie angebannt. Das, was er that, verſtieß gegen alles Hergebrachte, verſtieß vor Allem gegen die Re— geln, welche ſeit Jahrhunderten für Ehrenſachen und für Ehrenhändel feſtgeſtellt und durch eine lang und ſtreng geübte Handhabung zu einem geheiligten Geſetz erhoben worden waren. Er, der gefliſſentlich Belei- digte, der in dieſer Stunde ſeinen Sekundanten hätte entſenden müſſen, dem Beleidiger die Ausforderung zu überbringen, er ging ſelber zu ihm, zu dem Be—

108

leidiger, um aufzuklären, was die Leidenſchaft Ver⸗ wirrendes zwiſchen ſie geſtellt hatte, um Frieden zu ſtiften, ehe einem Dritten bekannt geworden war, wohin ſie, die Freunde geweſen waren ſo lange er nur den⸗ ken konnte, ſich verirrt hatten; und von dieſer Erinnerung, wie von dem Bewußtſein das Rechte zu thun, über jedes anerzogene Bedenken fortgetragen, klopfte er an die Thüre und trat bei Egon ein.

Der Lieutenant ſaß am Tiſche und ſchrieb, die Lichter brannten noch, es war kaum ſieben Uhr. Ein Blick auf das Zimmer und den Freund überzeug⸗ ten den zu raſcher Beobachtung gewöhnten jungen Arzt, daß auch Egon eine ruheloſe Nacht gehabt ha— ben mußte. Sein Piſtolenkaſten ſtand geöffnet auf einem Stuhle, eines der Piſtole lag auf dem Tiſch. Als er den Doktor erblickte, fuhr er auf.

„Du hier?“ rief er und ſtrich mit der Hand das lange dunkle Haar hinweg, das ihm wirr die bleiche Stirn verdeckte? „Du?“ und ſtatt dem Freunde an die Bruſt zu fallen, wie dieſer es, ohne ſich deſſen klar bewußt zu fein, erwartet hatte, trat er finſtern Blicks von ihm zurück.

Das ſtimmte auch Johannes um, und machte ihn plötzlich kalt und ſtarr. Er bereute ſeiner Ein⸗

109

gebung gefolgt zu ſein, und ſich gewaltſam zuſammen⸗ nehmend, ſprach er, ſo gemeſſen als er's konnte: „Ich komme Dir zu ſagen, daß ich nicht auf Dich ſchieße im Uebrigen thu' was Du willſt.“

Statt aller Antwort reichte Egon ihm ein Blatt hin. „Lies!“ ſagte er, ohne ihn anzuſehen.

Es lautete: „Ich habe mit mir gerungen die lange Nacht hindurch, mich zur Entſagung zu zwingen um Deinetwillen; ich vermag es nicht. Zwiſchen die Nothwendigkeit geſtellt die Hand zu legen an Dich oder an mich ſelbſt, wähle ich das Letztere!“

Johannes las nicht weiter. Er warf das Blatt von ſich und faßte die Hände des Freundes. Sie waren kalt wie die eines Todten. „Egon!“ rief er und die Angſt ſeines Herzens beflügelte ſeine Worte, „Egon! höre mich. Ein Wahnſinn hat uns in ſeine wirren Strudel geriſſen, daß wir das Nächſte nicht mehr ſahen. Zuſammen wollen wir vor ſie hintreten, ſie ſoll wählen, ſie ſoll entſcheiden!“

Egon ſchüttelte das Haupt. „Nein!“ ſprach er, „auf ihr junges Herz ſoll die Verantwortung nicht fallen! denn ich jage mir die Kugel durch den Kopf, wenn ſie nicht mein wird!“

„Das iſt Wahnſinn!“ ſtieß Johannes hervor.

110

„Möglich!“ entgegnete der Andere, „aber ich habe dieſe Nacht Abrechnung gehalten mit dem Leben und mit mir. Ich weiß, was ich vermag, was nicht!“

Johannes' Beſonnenheit und Geduld hielten vor der egoiſtiſchen Entſchloſſenheit des Lieutenants kaum noch Stand; und mit dem letzten Reſt der Faſſung, über die er Herr war, fragte er: „Du glaubſt Dich ihrer Liebe alſo völlig ſicher?“

„Nein!“ ſprach Egon, „nein! Das iſt's, was mich von Sinnen bringt. Mir fehlen die Eigenſchaf⸗ ten, die Dir von je die Weiberherzen zugewendet ha⸗ ben, und ſie iſt jung! Treten wir vor ſie hin heute in dieſer Stunde Du mit dem Lächeln des Glückes auf den Lippen, ich mit meiner düſtern Stirne wie ſollte ſie ſchwanken zwiſchen Dir und mir? Ich ſah es ja, wie geſtern Dein Blick ihre Sinne erweckte, wie er ihr das Herz im Buſen wan⸗ delte, das ſich mir zugewendet hatte. Und dennoch fühl' ich's, weiß ich's mit unabweislicher Gewißheit, der Gewalt meiner Liebe würde ſie nicht widerſtehen ohne Dich! Zieh' Dich zurück!“

„Um ſie einem Sinnloſen zu überlaſſen!“ fuhr Johannes auf; und ohne ein Wort hinzuzufügen ſchritt er nach der Thüre.

111

Egon vertrat ihm den Weg. „Wohin?“ fragte er gebieteriſch.

„Ich habe mehr als meine Pflicht gethan,“ ent⸗ gegnete der Doktor, „ich bin jetzt meines Handelns freier Herr.“

Da, noch ehe Johannes die Thüre des Zimmers erreicht, hatte Egon die Piſtole ergriffen, und mit einer Kälte, die dem Andern Mark und Bein erſchüt⸗ terte, ſprach er: „In dem Augenblick, in dem Du dieſe Schwelle überſchreiteſt, iſt's gethan! Geh' dann zu ihr, und melde, was geſchehen iſt.“

Johannes ſchleuderte ſeinen Mantel mit heftiger Bewegung von ſich. Egon ſtand noch mit der Piſtole in der Hand, dann ließ er fie ſinken und fiel erſchöpft auf einen Stuhl. Der Doktor hatte ſich nach dem Fenſter gewendet und ſah ſtumm hinaus. Es empörte ihn, ſich auf ſolche Weiſe zwingen und beherrſchen zu laſſen, und doch wagte er es dem Aufgeregten gegen⸗ über nicht, es zum Aeußerſten zu treiben. Ein paar Minuten mochten ſo vergangen ſein und ſie waren Beiden lang geworden. Da raffte Johannes ſich auf und ſagte, an den Tiſch herantretend, an welchem Egon ſaß, und ſich ihm feſt entgegenſtellend: „Laß uns zu Ende kommen! Es ſteht feſt bei mir, frei⸗

112

willig gebe ich Ramonna nicht auf, es wäre Feigheit und gegen meine Ueberzeugung, denn ein Mann von Deiner Leidenſchaft iſt ein Unglück für ein Weib. Entſagen willſt Du auch nicht todtſchießen wollen wir einander nicht aber wenn ſie mich erwählt, willſt Du Dir das Leben nehmen, und ich ſoll das Bewußtſein mit mir durch das Leben ſchleppen, Dich in den Tod getrieben, Deiner Mutter ihren Sohn ge⸗ raubt zu haben. Danach trag' ich kein Verlangen!“ Er brach ab, denn weil er ſich ſo gewaltſam zur Ruhe zwang, ward ihm das Sprechen ſchwer, und erft nach einer kurzen Pauſe, fügte er hinzu: „Sage Du nun ſelber was ſoll jetzt geſchehen?“

Da richtete der Andere ſich empor und ſprach: „Einen Ausweg giebt es, der das Gewiſſen und das Empfinden eines Jeden frei und unangetaſtet läßt. Wir legen die Entſcheidung in eine höhere Hand.“

„Was ſoll das heißen?“

„Wir machen's wie die drüben jenſeits des Ozeans. Wir looſen und der Verlierende erſchießt ſich ſelbſt!“ Er hatte das mit einer Feierlichkeit ge⸗ ſprochen, die Eindruck auf den Doktor machte, obſchon er es verlernt hatte, an eine höhere Macht zu glauben.

Es enttand eine neue Pauſe, der Doktor ging

113

in finſterem Brüten im Zimmer auf und ab, Egon ſchnitt mit der Genauigkeit, die er in allem Thun be⸗ zeigte, zwei Papierſtreifen und ſchrieb in den einen den Namen: „Ramonna“ hinein. Dann faltete er ſie mit höchſter Gleichmäßigkeit zuſammen, legte ſie in eine offene metallene Schaale, die auf feinem Schreib: tiſch ſtand, und an Johannes herantretend, ſprach er: „Wähle!“

Aber dieſe gebieteriſche umuthung gab Johannes ſich ſelber wieder, und mit geſunder Lebensluſt die Schaale von ſich ſtoßend, rief er, als ob ihm eben aus der Fülle ſeiner Lebensluſt und Jugendkraft eine Erleuchtung käme: „Nein! ich will nicht ſterben! aber fort muß Einer. Looſen wir!“

Egon ſah ihn mit ſtarrem Auge an. Die ſchwar⸗ zen Gedanken, mit denen er ſich herumgeſchlagen die Nacht hindurch, lagen noch auf ihm und verengten und verdüſterten ſeinen Sinn. „Ich verſtehe Dich nicht,“ ſagte er, „Du weiſeſt meinen Vorſchlag ab und willſt doch looſen?“

„Um Bleiben oder Gehen!“ fiel Johannes ein. „Der Unterliegende räumt das Feld. Niemand als der Bleibende erfährt wohin der Scheidende ji) wen—

det. Er wählt einen Aufenthalt, der ie dem ge⸗ Fanny Lewald, Neue Erzählungen.

114

wohnten Bereich der Wanderzüge liegt, und kehrt nicht wieder, bis der Andere ihn ruft!“

Wie er die Worte ausgeſprochen hatte, leuchtete ihre Tragweite ihm erſt völlig ein; auch Egon ermaß ſie in ihrer ganzen Bedeutung. Sie zeigten einen Ausweg, aber ſterben war in gewiſſem Sinne nicht ſo ſchwer als dies Verſchwinden, das für den Offizier, wenn es nicht vorbereitet werden konnte, zur Ent⸗ ehrung wurde; auch zögerte er in dumpfem Schwei⸗ gen. Das reizte Johannes auf. „Wähle!“ rief er jetzt von ſeiner Seite dringend.

„Ich kann nicht deſertiren, ich bedarf acht Tage Zeit!“ ſagte Egon.

„Die habe auch ich nöthig!“ entgegnete Ae und ſeine Uhr herausziehend, fügte er hinzu: „Heute in acht Tagen, um dieſe ſelbe Stunde, verläßt Einer von uns die Stadt. Bis dahin ſieht Keiner von uns | Ramonna wieder!“ |

„Sei es alſo!“ ſprach Egon, und hielt dem An⸗ dern die Schaale mit den Looſen hin.

Johannes wählte und entfaltete das Blatt. | Dann wendete er ſich ab und verließ, ohne ein Wort zu ſprechen, das Zimmer und das Haus.

Elftes Capitel.

Volle vierzehn Tage waren ſeitdem hingeſchwun⸗ den, als der Poſtbote dem Bruder des Doktors, während dieſer behaglich mit ſeiner Frau bei ſeinem Frühſtück ſaß, einen Brief von Johannes brachte. Er war aus ihrer Vaterſtadt datirt, wohin der Doktor ſich zum Beſuche ihrer dort lebenden Angehörigen begeben, und von wo er zu ſchreiben verſprochen hatte. Der Rath öffnete alſo das Couvert in aller Ruhe, aber gleich die Kürze des Briefes fiel ihm auf, und der Inhalt deſſelben erregte ihm die höchſte Beſtürzung.

„Wenn Du dieſe Zeilen erhältſt,“ hieß es in dem Schreiben, „bin ich von der Heimath entfernt. Ich war nur einen Tag bei den Unſern. Wohin ich gehe, wann ich wiederkehre, kann ich Dir nicht ſagen; und ich verlange es ausdrücklich, daß Du nicht das nach forſcheſt. Verhältniſſe, die ich Dir vorläufig

8

116

nicht erklären kann, haben meinen Entſchluß beſtimmt. Meine Entfernung iſt nothwendig und freiwillig. Alle meine Angelegenheiten ſind geordnet. Daß keine un⸗ ehrenhafte That meinem Fortgehen zum Grunde liegt, brauche ich Dir nicht zu verſichern. Ein Unglück, das mir zuſtieße, würdeſt Du erfahren, ſei alſo unbeſorgt ſo lange Du ohne Nachricht von mir biſt, und hebe auf was mein iſt für den Fall, daß ich es a oder ſpäter einzufordern käme.“

Der Brief ſollte den Bruder offenbar beruhigen, aber er wirkte das Gegentheil, und was das Uebelſte war, es fehlte demſelben jeder Anhalt auch zu der leiſeſten Vermuthung, über die Urſache eines fo räth⸗ ſelhaften Schrittes; denn Johannes war immer ver⸗ ſtändig und dazu auch leichtlebig geweſen. Wenn er trotzdem einmal in eine mehr oder weniger ernſthafte Verwicklung gerathen war, hatte er ſich mit ſeiner einfachen Wahrhaftigkeit immer bald herausgefunden, und es war nicht abzuſehen, was ihn zu einem ſo folgenreichen und zugleich ſo geheimnißvollen Schritt beſtimmt haben konnte. Natürlich war der erſte Gang des Bruders zu dem Lieutenant. Statt aller Ant⸗ wort aber wies dieſer ein faſt gleichlautendes Schrei⸗ ben vor, das er zu der nämlichen Stunde und von

117

dem nämlichen Orte empfangen hatte, und wie der Rath dann lebhafter in Egon drang, bekannte dieſer, daß in den letzten Wochen eine kleine Verſtimmung zwiſchen ihm und Johannes obgewaltet hätte, und daß er denſelben in den Tagen vor deſſen Abreiſe gar nicht mehr geſehen habe. Auch Frau von Raven, bei welcher der Bruder unter der Hand Nachricht ein⸗ zuziehen verſuchte, erwähnte, daß Johannes in der letzten Woche nicht bei ihr geweſen ſei, fügte aber hinzu, daß der Doktor an dem einzigen Abende, den er nach ihrer Heimkehr bei ihr zugebracht habe, ſich von der heiter⸗ ſten Laune und liebenswürdig wie nur je erwieſen habe.

Es war für den Bruder und die näheren Be⸗ kannten des Verſchwundenen eine ſehr drückende und ſorgenvolle Lage. Johannes hatte bis zur Stunde ſeiner Abreiſe alle ſeine Obliegenheiten erfüllt, mit ſeinen Freunden in gewohnter Art verkehrt, von dem Bruder und deſſen Frau mit der Heiterkeit Abſchied genommen, mit welcher man ſich auf eine Luſtreiſe begiebt. An irgend eine gewaltſame That zu denken, hatte man keinen Grund; ebenſo wenig war eine Spur zu entdecken, daß Johannes in einen Streit oder in einen Ehrenhandel verwickelt worden wäre. Auf einen Liebeshandel, einen Roman, eine Entfüh⸗

1 v4

118 rung zu ſchließen war auch keine Veranlaſſung, und während man ſich unabläſſig mit der Frage beſchäfti⸗ gen mußte: was kann denn geſchehen ſein? wagte man doch nicht die gewöhnlichen polizeilichen Nach⸗ forſchungen zu veranlaſſen, eben weil man Johannes als beſonnen und zuverläſſig kannte, und alſo an die Möglichkeit denken mußte, ihn für die Zukunft zu be⸗ nachtheiligen, wenn man ſeiner Anweiſung, keine Nachforſchungen anzuſtellen, entgegenhandelte. Man wußte nicht, ob man eingeſtehen dürfe, daß man ſeinen Aufenthalt und die Gründe ſeines Fortgehens nicht kenne, daß man ſelber vor einem Räthſel ſtehe, oder ob man die Angabe verbreiten ſolle, der Doktor habe ſich nach erhaltener Eiagladung zur Theilnahme an einer über⸗ ſeeiſchen wiſſenſchaftlichen Reiſe, welche eben damals im Werke war, raſch entſchloſſen; und man entſchied ſich endlich für dies Letztere, weil man dadurch Zeit gewann. Ob dies Vorgeben bei den Leuten Glauben fand, das ſtand dahin, und die Ungewißheit, in welcher die Angehörigen des Doktors und ſeine nächſten Freunde ſich über ſein Geſchick befanden, wurde dadurch nicht vermindert. Niemand aber ſchien von derſelben mehr zu leiden als derjenige, deſſen täglicher und unzertrennlicher Gefährte der Verſchwun⸗

119

dene bis dahin geweſen war, und man hatte häufig Gelegenheit, dies zu beobachten, denn der Lieutenant von Raven lebte in dieſem Winter mehr noch als in dem vorigen in den Geſellſchaften der ſchönen Welt, in denen er ſeine Mutter und deren Pflegetochter zu begleiten hatte.

Es ſah jedoch gar nicht danach aus, als ob Egon Freude an dem Amte oder Luſt an der Gefel- ligkeit empfände, denn ſeine finſtere Schweigſamkeit bildete förmlich einen Gegenſatz zu der ſtrahlenden Schönheit der jungen Kreolin und zu dem Vergnügen, mit welchem Frau von Raven das ihr anvertraute Mädchen als den Gegenſtand einer allgemeinen Be⸗ wunderung erblickte. Er war immer ernſthaft, immer leicht verletzlich geweſen, jetzt war er Beides in erhöh— tem Grade, und die gemeinſamen Bekannten von Johannes und von ihm, bemerkten häufig, wie ſehr die ausgleichende Weiſe des Erſtern ihnen im Verkehr mit Egon fehlte. Daß dieſer eine Leidenſchaft für Ra⸗ monna hege, war Allen deutlich, daß die vielfache Be⸗ werbung, von der ſie überall umgeben war, ihn pei⸗ nigte, war eben ſo gewiß; aber ob er Hoffnung habe, ihre Gunſt zu gewinnen, ob ihm dieſelbe vielleicht ſchon zugewendet ſei, darüber waren weder feine Mitbewer⸗ ber, noch ſeine Freunde, noch gar er ſelbſt im Klaren.

120

Er hatte erreicht, was er gewollt, indeß er fand ſich im Grunde dadurch nicht gefördert, und er durfte ſich nicht fragen, um welchen Preis er ſeines Nebenbuhlers ſich entledigt hatte. Wie oft er es ſich vorhalten mochte, daß es Johannes geweſen ſei, der den Vor⸗ ſchlag zu dieſem Auswege vor dem Zuſammenſtoße ge⸗ macht, daß Johannes das Loos gezogen, und daß er ſelber jetzt in der Ferne ſein würde, wenn die Hand des Andern in dem entſcheidenden Augenblicke glück⸗ licher geweſen wäre, es half ihm nicht über die Reue fort, den Freund zu dieſem Aeußerſten gedrängt zu haben, und doch konnte er es nicht über ſich gewinnen, ihm zu ſchreiben: „Kehre wieder!“ Wenn er in der einen Stunde auf dem Punkte ſtand, den Verbannten zurückzurufen, um ſich ſelber von der Verſtellung und von den inneren Kämpfen zu erlöſen, mit welchen das unſelige Geheimniß ihn belaſtete, ſo warfen ein freundliches ihm Hoffnung gebendes Wort, ein Blick Ramonna's das Alles in der nächſten Stunde wieder über den Haufen. Die Leidenſchaft ſiegte über ſein Ge⸗ wiſſen und er blieb gefeſſelt in dem Banne, den er ſelber über ſich heraufbeſchworen hatte.

Darüber gingen der ganze Winter und die erſte Zeit des Frühjahrs hin, ohne daß in ſeinem Verhält⸗

124

niß zu der Pflegetochter ſeiner Mutter eine Entfchei- dung oder auch nur eine weſentliche Aenderung einge— treten wäre. Er ſah ſie an jedem Tage, ſie hatte ſich mehr und mehr an ihn gewöhnt und ein herzliches Vertrauen zu ihm gefaßt. Sie plauderte mit ihm von den Ga- lanterieen der Männer, die ihr huldigten, und zeigte ihm die Briefe, welche ihr am fünfzehnten jeden Monats von ihrem Vater kamen. Der Inhalt derſelben blieb ſich faſt beſtändig gleich. Einmal wie das andere mel- dete ihr Herr Ernsby, daß er geſund und ſehr zufrieden ſei, daß Frau Ernsby ſich in der Havannah ſehr wohl befinde, und daß es bei Ramonna ſtehe, nach Hauſe zu kommen, wenn ſie dieſes wünſche und wenn ſie glaube, das Klima der Tropen ertragen zu können. Sei dies Beides nicht der Fall, ſo möge ſie in Eu⸗ ropa unter dem Schutze und nach dem Rathe ihrer be— währten Freundin ihr Leben ſo geſtalten, wie es ſie am meiſten befriedige. Es folgten dann noch immer ein paar Zeilen ihrer Stiefmutter, die das Gleiche noch gleichgiltiger wiederholten, und dieſe Briefe warfen regelmäßig einen Schatten über die Seele des jungen Mädchens, aber fie äußerte ſich nie— mals über das, was in ihr vorging, und Frau von Raven hatte Recht gehabt, als fie Ramonna in

122

einem Geſpräch mit ihrem Sohne einft mit jenen lachenden Schweizerſee'n verglichen hatte, deren ſchim⸗ mernde Oberfläche nicht vermuthen läßt, wie tief ſie ſind, und was ſie geheimnißvoll in ihrer Tiefe bergen.

Die Frage, ob ſie ihn mit dieſer Bemerkung warnen wolle, hatte ſich Egon bei dem Gleichniß ſei⸗ ner Mutter nothwendig aufgedrängt, aber er hatte ſie ihr nicht vorgelegt. Sein Ehrgefühl ſträubte ſich dagegen, die Mutter zur Vertrauten ſeiner Wünſche zu machen, eben weil Ramonna ihrer Obhut überantwortet war, und er war ohnehin gewiß, daß der ſcharfſichtigen Frau, die von ſeiner Geburt an in ſeinem Herzen ge⸗ leſen hatte, nicht verborgen ſein konnte, was in ihm vorging, wenn auch ſie in den gegebenen Verhältniſſen es angemeſſen fand, davon zu ſchweigen und die Zeit und die Umſtände gewähren zu laſſen.

In wenig Tagen ſollte es jährig werden, daß Ramonna in das Haus gekommen und mit ihrer Pflege⸗ mutter bekannt geworden war. Man hatte beſchloſſen, zu dieſem Tage das Gartenhaus wieder öffnen und herrichten zu laſſen, wenn man es auch nicht mehr wie in dem verwichenen Sommer dauernd zu bewoh⸗ nen meinte, und weil man vielen Familien für die im Winter empfangene Gaſtfreundſchaft und für man⸗

123

chen geſelligen Genuß zu danken hatte, wollte man mit dieſer Rückkehr in das zur Gartenwohnung um⸗ gewandelte Gewächshaus zugleich ein kleines Feſt für die jungen Mädchen und jungen Männer veranſtalten, mit denen Ramonna näher bekannt, und die ihr ange⸗ nehm geworden waren.

Die Vorbereitungen, welche man zur Aufnahme der Geſellſchaft zu machen hatte, gaben den Frauen viel zu ſchaffen, und führten Ramonna und Egon mehr noch als ſonſt zuſammen. Sie wünſchte dem Garten⸗ ſaale ſo viel wie möglich ein ſüdliches Anſehen zu geben, ſie wollte den Raſenplatz erleuchtet und blumige Schlinggewächſe von einem Baume zu dem andern gezogen haben. Was an natürlichen Pflanzen und Blüthen nicht herbeizuſchaffen war, ſollte durch fünft- liche Blumen, die bei dem Lampenlicht wohl täuſchen konnten, erſetzt werden, ein paar Guitarren- und Flötenſpieler ſollten, während man ſpeiſen würde, einige ſpaniſche Nationalmelodieen ſpielen, welche Ra⸗ monna in ihrer Heimath beſonders lieb geweſen wa— ren, und ſie nahm für alle dieſe Zurüſtungen, welche ſie in der heiterſten Laune und mit einem ihr ſonſt nicht gewöhnlichen Eifer betrieb, die Dieuſte Egon's mit einer ihn entzückenden Zuverſichtlichkeit in Anſpruch.

124

Er mußte dabei fein, als fie die Zelttücher, un- ter denen man den Thee einnehmen ſollte, vor dem Gewächshauſe ausſpannen ließ, er mußte ihr helfen die Zurüſtung der Tafel zu überwachen. Sie hatte Südfrüchte und tropiſche Früchte herbeigeſchafft und ordnete ſie ſelber mit dem ihr eigenthümlichen Schönheitsſinn in den Körben von überſeeiſchem Ge— flecht; ſie hing ſelber die Rankengewächſe um die Vogelhäuſer, die man wieder in das Gartenhaus ge⸗ tragen hatte, und befehlen und ſelber ſchaffen ſtanden ihr gleich natürlich an. Alles gehorchte ihr mit Luſt, man ſah es dem geringſten Arbeiter an, wie ihre Schönheit ihn beherrſchte. Wie auf die Winke einer Feenkönigin fügte ſich Alles ihrem Willen, gelang Alles unter ihrem Gebot, und Egon konnte ſich Fig- weilen der Vorſtellung nicht entſchlagen, daß auch das Wetter ihr gehorſame; denn ſeit fie angefangen, die Vorbereitungen zu ihrem Feſte zu treffen, war die Jahreszeit plötzlich ſo warm geworden und die Witterung ſo beſtändig, daß der frühe Mai dem Sommer glich und die Nächte lind waren wie in des Jahres Mitte.

Alles ließ ſich alſo auf das Beſte an, und gleich— ſam als ob die frühe Wärme des Jahres auch alles Andere verfrühe, traf diesmal ein Brief von

125

Herrn Ernsby bald nach dem Beginn des Monats ein. Er meldete der Tochter, daß er Gelegenheit ge— funden habe, ſeine Beſitzungen in einer ihm vortheil- haften Weiſe zu verkaufen, daß Miſtreß Ernsby Aus⸗ ſicht habe, binnen kurzem Mutter zu werden, und daß er, ſobald dieſe Hoffnung in Erfüllung gegangen ſein werde, die Havannah zu verlaſſen und ſeinen Wohn⸗ ſitz dauernd in dem Landhauſe auf der Inſel Wight zu nehmen denke, das er inne gehabt, als er mit Ra⸗ monna dort verweilt habe. Von dem Wunſche oder auch nur von der Erwartung, daß ſeine Tochter ſich dann zu ihm begeben und unter ſeinem Dache weilen werde, ſtand in dem Brief kein Wort, wohl aber lag ein beſonderes Schreiben an Frau von Raven in dem⸗ ſelben, deſſen Inhalt ſie ihrer Pflegetochter vorenthielt.

Herr Ernsby ſchrieb ihr ganz daſſelbe, was er der Tochter gemeldet hatte, fügte aber, wie er ſagte, ver— trauensvoll und ihrer umſichtigen Verſchwiegenheit ge⸗ wiß, hinzu, daß er nicht die Abſicht habe, Ramonna bei ſeiner Ueberſiedelung nach Europa aus ihrer jebi- gen Umgebung zu entfernen. Er habe darüber mit ſeiner Frau geſprochen und bei dieſer ein Widerſtreben gegen das Zuſammenſein mit der ihr an Jahren faſt gleichen Stieftochter gefunden, die obenein früher der

126

einzige Gegenftand feiner alleinigen Sorge und an ſeine ausſchließliche Beachtung gewöhnt geweſen ſei. Er ſelber verhehle ſich es nicht, daß ein ſolches Ver— hältniß für alle Theile ſeine Bedenken habe, er wünſche deshalb auch nicht, einen Verſuch damit zu machen, um ſo weniger, da er bei dem heirathsfähigen Alter ſeiner Tochter vorausſichtlich doch nur von kurzer Dauer ſein würde. Frau von Raven habe ihm in allen ihren Briefen eine ſo verſtändige und mütterliche Zärtlichkeit für Ramonna an den Tag gelegt, daß er ihr geſtehen dürfe, wie deren baldige Verheirathung ihm willkommen ſein würde, weil ſie ihn der Sorge für ihr Wohlbefinden enthöbe. Er frage Frau von Raven deshalb an, ob in dem Kreiſe, in welchem Ramonna in dieſem Winter gelebt, ſich eine ſchickliche Partie für fie geboten habe? Er wolle ſeiner Toch- ter keinen Zwang anthun, ſie ſelber ſei reich genug, nur ihre Neigung zu befragen, und er ſei reich genug, ſelbſt einem ſehr reichen Manne und den Anſprüchen der erſten Familien ein Gegengewicht in die Schaale zu legen; aber er wünſche dieſe Angelegenheit geord— net zu ſehen, wenn er nach Europa komme, und ein Beſuch ſeiner verheiratheten Tochter werde dann ihm und ſeiner Frau immer und überall willkommen ſein.

127

Er bäte Frau von Raven, Ramonna ihre Lage in die⸗ ſem richtigen Lichte vorzuſtellen, und die Sache mit dem Geſchicke in die Hand zu nehmen, welches kluge Frauen in ſo delikaten Angelegenheiten zu bewähren pflegten. Er werde ſich für dieſe Erfüllung ſeiner Wünſche dauernd als ihren Schuldner betrachten, und es ſich angelegen ſein laſſen, ihr dieſes in zuſagendſter Weiſe zu bethätigen.

Sie hatte den Brief eben zu Ende geleſen, als Egon bei ihr eintrat, und noch unter dem Eindruck, den ſie ſelber davon empfangen hatte, hielt ſie ihn dem Sohne hin. „Lies!“ das war Alles was fie ſa— gen konnte, aber ihre Blicke hingen unverwandt an ihm, und wie ſeine Wange ſich vor ſtürmiſcher Er- regung zu färben, wie ſein Auge zu leuchten begann im Licht der Hoffnung, welches dieſes Schreiben in ſeinem Herzen entzündete, ſtrahlte die Freude auch von ihrer Stirne, und ohne ein Wort zu ſprechen, breitete ſie ihm die Arme entgegen.

„Mutter! Mutter! Du haſt es wohl gewußt!“ rief er, und knieete neben ihr nieder, ſein Haupt wie in ſeiner Knabenzeit an ihre treue Bruſt geſchmiegt, „Du haſt es gewußt, daß ich ſie liebe, ſie liebte, ſeit

128

ich ſie geſehen, ſie bis zum Wahnſinn, zum Verbrechen liebte, und doch weißt Du noch nicht Alles. —“

Er athmete tief auf, als gelte es Bande zu zer⸗ ſprengen, die ihn lang und ſchwer gedrückt, aber er hatte die Worte kaum ausgeſprochen, als er ſie auch ſchon bereute. Wie durfte er ſeine Mutter zur Mit⸗ wiſſerin eines Vorganges machen, den er vor ſeinem eigenen Gewiſſen nie zu rechtfertigen vermocht hatte? Wie durfte er fie mit der Laſt eines Geheimniſſes beſchweren, das ſie nicht bewahren konnte, ohne zu ſeiner Mitſchuldigen zu werden? Oder wie ſollte ſie in dem Falle, daß ſeine Wünſche ſich erfüllten, bei Ramonna's Vater für ihn bürgen, wenn er ihr bekannte, wohin ſein ſelbſtſüchtige Leidenſchaft es zwiſchen ihm und dem Freunde und Genoſſen ſeines ganzen Lebens hatte kommen laſſen? |

Das Geheimniß und ſein Schulobewußtjein jtell- ten ſich zwiſchen ihn und ſeine Mutter, ſie ſchloſſen ihm den Mund; aber arglos und voll Zuverſicht, wie ſie ſich dem Sohne gegenüber fühlte, erſchüttert durch den Ausdruck ſeiner Leidenſchaft, befremdete ſein plötzliches Verſtummen ſie keines Weges, und der Eintritt ihrer Pflegetochter machte ohnehin jede weitere Mittheilung unmöglich.

129

Allein dasjenige, was Egon eben jetzt erfahren, und die Art, wie er davon benachrichtigt worden war, reichten hin, feine Bruſt mit einer Glückesſicherheit zu erfüllen, wie er ſie nie zuvor empfunden hatte. Er zweifelte nicht daran, ſeine Mutter mußte ſich über⸗ zeugt haben, daß Ramonna's Herz noch frei ſei, daß ſie keine andere Wahl getroffen und daß Egon alſo Ausſicht habe, ihre Neigung zu gewinnen, ihre Hand zu erwerben, wenn er ihr ſeine Liebe eingeſtand; und gerade die Freiheit eines Feſtes, wie man es für den Abend vor ſich hatte, verſprach ihm dazu eine Ge⸗ legenheit zu bieten, die er ſich nicht entgehen laſſen durfte.

Fanny Lewald, Neue Erzählungen. 9

Zwölftes Capitel.

Die Geſellſchaft hatte in Scherz und heiterem Ge⸗ plauder, in Spielen, wie die rüſtige Jugend ſie im Freien liebt, ein paar Stunden anmuthig verbracht, dann hatte man ſich in das Gartenhaus begeben, und die fremdartige Einrichtung des Raumes, wie die Her⸗ richtung der Tafel, an der die junge Welt ſich unter dem Schutz von Frau von Raven niederließ, hatte die Stimmung belebt. Man kam ſich in der ungewohn⸗ ten Umgebung ſelber als ein Anderer vor, man be⸗ wegte ſich freier, gab ſich offener als in dem Zwange der geſchloſſenen Säle, und als dann vollends die Muſik erklang, die fremden Weiſen ſchmeichelnd das Ohr berührten, als man die Vorhänge von den ge⸗ fliſſentlich verhängten Fenſtern fortzog, und unter dem milden Licht der monderhellten Frühlingsnacht der Garten mit ſeinen von bunten Lampen vielfarbig be⸗

131

leuchteten Blumen⸗ und Rankengehängen vor den über⸗ raſchten Augen der Fröhlichen in märchenhaftem Zau⸗ ber dalag, da ſprang Alles von der Tafel auf, Alles umringte Ramonna, Alles huldigte ihr, der ſchönen freudeſpendenden Fee. Aber der Anblick des phantaſtiſch geſchmückten Gartens, die erquickende Wärme der Nacht, welche die Anderen berauſchte und alle die jun⸗ gen Herzen fröhlich klopfen machte, übten zum Erſtaunen ihrer Gäſte eine entgegengeſetzte Wirkung auf die Her⸗ rin dieſes Feſtes aus.

Mitten in dem Scherzen und Lachen ihrer Freunde ward ſie plötzlich ſtille, ſie vermochte kaum den Anfor⸗ derungen zu genügen, welche ihre Pflicht als Wirthin ihr auferlegte, ſie verwehrte es unter einem Vorge⸗ ben, zum Tanze anzutreten, da man ein paar Tou⸗ ren im Freien zu machen wünſchte, ehe man ſich trennte; und den beſorgten Fragen ihrer Pflegemutter, wie dem Auge Egon's ausweichend, das jeder ihrer Mie⸗ nen und Bewegungen folgte, ſchien ſie es endlich wie eine Erleichterung zu empfinden, als die letzten Gäſte Abſchied von ihr genommen, und den Garten und das Haus verlaſſen hatlen.

Egon hatte ihnen das Geleit gegeben. Als er in den Garten zurückkehrte, ſtand Ramonna unter der Ve⸗

9

132

randa vor dem Saale. Ihr Kleid ſchimmerte hell im Mondſchein. Sie hatte die ſchwarze Mantille, die ſie nach heimiſcher Gewohnheit trug, über ihr Haupt gezogen, und ſah, den ſchönen Kopf gegen den Pfoſten angelehnt, ſo gedankenvoll in die Nacht hinaus, daß fie Egons Kommen erſt gewahrte, als er ſchon in ihrer Nähe war. Es war noch warm und ſchön, nur der Nachtwind hauchte leiſe durch die Büſche und machte die jungen Blätter an den Bäumen zittern. Leichte weiße Wolken flogen lichtdurchſchimmert über den Mond dahin, ſie waren ſo dünn, daß ſie ſelbſt die Sterne nicht verhüllten. Im Garten war es ſtill, das Geräuſch von der Straße drang nicht mehr hier⸗ her, in dem dichten Buſche auf dem Raſenplatze fin⸗ gen die Nachtigallen zu locken und zu ſchlagen an. Jetzt endlich war der Augenblick gekommen, jetzt war er mit der Geliebten allein! Das Herz klopfte ihm mächtig in der Bruſt, wie er an ſie herantrat. Sie hob den Kopf zu ihm empor und trocknete die Augen. „Sie weinen!“ rief er betroffen aus, und da ſie auf ſeinen Anruf ſchwieg, fragte er ſie mit beſorgtem Dringen: „Was haben Sie? was hat Sie mitten in der Luſt des Feſtes bis zu ſolcher Traurigkeit gebracht?“ „Muß ich Ihnen das erſt ſagen?“ verſetzte ſie.

133

„Nicht meinen Gäſten, mir ſelber habe ich ein Ab⸗ ſchiedsfeſt gegeben. Den ganzen Tag hat's mir das Herz belaſtet, daß ich mein Heimathland nicht wieder⸗ ſehen ſoll; und wie ich dann am Abende hier hinaus⸗ trat in das ach! ſo ſchwache Abbild des Südens, das ich mir hier erſchaffen, da kam die Sehnſucht allgewaltig über mich.“ Sie hielt inne, ſchüttelte traurig das ſchöne Haupt, und ſprach dann leiſe: „Sie wiſſen nicht, was es heißt, unter einem frem⸗ den Himmel leben; Sie können gar nicht ahnen, wie meine Heimath ſchön iſt. Und zu denken, daß ich nie⸗ mals wieder unter dem Dache der Palmen wandeln werde, die unſer Haus umſtanden, daß ich nie wie⸗ der die helle Nacht verträumen ſoll beim Wellen⸗ ſchlage unſeres lichtſprühenden Meeres! Ich kann es noch nicht faſſen, kann's nicht glauben, nicht ver⸗ ſchmerzen!“

Sie ſetzte ſich nieder, das Haupt auf die Hand geſtützt, er nahm an ihrer Seite Platz. Er begriff ſie in ihrem Schmerze, und um ſie von demſelben ab⸗ zuleiten, um ſie auf den Weg zu lenken, auf welchem er ihr von ſeinen Wünſchen ſprechen konnte, ſagte er: „Sie ſchienen ſich aber doch hier wohl zu fühlen und die Ueberſiedelung Ihres Vaters, die Nähe der Ihrigen —“

134

Sie ließ ihn nicht zu Ende ſprechen. „Was wird mit der Ueberſiedelung meines Vaters und mit feiner Nähe für mich anders? Mein Vater? —“ fie machte eine leiſe, abwehrende Bewegung und ſagte dann mit einer Bitterkeit, die ſie nicht beherrſchen konnte: „Mein Vater liebt mich nicht, kann gar nicht lieben. Ihm ſind die Menſchen nur Etwas, wenn er ihnen gebieten, ſie zu ſeinem Willen zwingen kann. Weil meine Geſundheit das nicht zuließ, weil er ſah, daß ich unter der Hand ſeiner gewaltthätigen Liebe hinſtarb wie die Mutter und die Geſchwiſter, die er auch auf ſeine Weiſe liebte, hat er mich aufgegeben, und ſeine junge Frau erſetzt mich ihm, erſetzt uns Alle. Was mich liebte, was ich liebe, das ſchläft Alles dort, jenſeits des Oceans! Alles!“ |

„Alles?“ fragte Egon, dem ihre Klagen wehe thaten bis in's tiefſte Herz. „So iſt Ihnen denn die Liebe meiner Mutter Nichts? So hat meine Er⸗ gebenheit, meine grenzenloſe Ergebenheit keinen, gar keinen Werth für Sie?“

„Ach! Egon!“ rief ſie, ganz erſchrocken über die Wirkung, welche ihre Worte auf ihn hervorgebracht hatten, „lieber Egon! ſagen Sie das nicht wieder!“ und ſeine Hände mit warmer Herzlichkeit ergreifend,

135

fügte fie hinzu: „Sie müſſen es ja fühlen, was Sie mir ſind, wie ſicher ich mich Ihrer fühle, daß ich ſo vor Ihnen ſpreche! Aber ich war ſo unglücklich, den ganzen Tag! ſo unglücklich! Und wie gut die Mutter und Sie auch zu mir ſind einſam bin ich doch! und in der Fremde doch!“

„Und Sie haben nie daran gedacht, daß dieſe Fremde Ihnen eine Heimath werden könnte?“ fragte er und ſeine Stimme klang weich und milde an ihr Ohr.

Sie blickte ihn an, das Licht aus dem Saale fiel hell über ſein Angeſicht, ſie ſah mit welcher Liebe ſein Auge auf ihr ruhte, und ihre Hand auf ſeine Schul⸗ ter legend, während ſie das Köpfchen an ihn ſchmiegte, ſprach ſie leiſe: „Ja! Egon! ich habe daran gedacht!“

„Ramonna!“ rief er mit einer Freude, die alle ſeine Pulſe klopfen machte, „ſprich! ich bitte, ich be⸗ ſchwöre Dich!“ und er ſchloß ſie feſt in ſeine Arme.

„Ach!“ ſagte ſie, indem auch ſie ihn umſchlang, „Du, mein Egon, Du, mein Bruder! Du haſt ihn ja auch verloren! denn jetzt kehrt er nicht mehr zurück!“

Sie weinte bitterlich, Egon preßte ſie krampfhaft an ſein Herz. Er war keines Wortes mächtig, er biß die Zähne feſt zuſammen in grimmem Schmerz. Seine

136

Stirne ſank auf ihr Haupt herab, ſeine bitteren Thrä⸗ nen fielen auf ſie nieder. g

Was er in dieſem Augenblicke erlitt, erlebte, ging faſt über eines Menſchen Kraft. Zum erſten Male hielt er die mit Leidenſchaft Erſehnte in ſeinen Ar⸗ men, und ſie weinte an ſeinem Herzen um den Freund, an dem er ſich verſündigt, ſie weinte um den Gelieb⸗ ten, den er ihr geraubt hatte. Und nicht eine Ahnung, daß er ſelber ſie geliebt mit allem Feuer ſeiner Seele, nicht die Ahnung deſſen, was er jetzt empfand, kam in ihr junges Herz.

Ihm ſchwindelte das Hirn, er konnte keinen Ge⸗ danken feſthalten. Das ganze lange Jahr mit allen ſeinen Freuden und Qualen, mit all ſeinen inneren Vorwürfen und ſeiner Reue, lag wie ein Chaos vor ihm, ein Ganzes und doch Trümmer. Von dem Gip⸗ fel ſeiner Hoffnungen, in dem Augenblicke, als er ſich am Ziele ſeiner Wünſche geglaubt, war er hinabge⸗ ſchleudert worden in die Tiefe eines Schmerzes, dem das Bewußtſein, wie er auch auf das geliebte Haupt Ramonna's durch feine blinde Leidenſchaft und Selbſt⸗ ſucht Gram und Leid gehäuft, den Stachel ſchärfte. Aber der Gedanke an ſie, an ihren Kummer und an des Freundes nahes, ſicheres Glück, das war die Vor⸗

137

ſtellung, vor welcher er ſich endlich zu ſammeln und zu faſſen anfing. Hätte er ſich gefolgt, dem Drange ſeines Herzens nachgegeben, er hätte ihr zugerufen: Johannes lebt, er lebt, er liebt Dich! in wenig Ta⸗ gen wird er zu Deinen Füßen ſein! Aber er hatte es eben jetzt erprobt, wie jähe Wechſel der Empfindung wirken, er durfte Ramonna ſolchem Sturm nicht aus⸗ ſetzen, er hatte auch nicht darüber zu entſcheiden, wann und wie Johannes wiederkehren wollte.

Er richtete ſich auf und hob des Mädchens Haupt empor, das noch an ſeinem Herzen ruhte. „Muth! Muth, Ramonna!“ ſagte er, „und keine Thränen mehr. Ich bin gewiß, er lebt, wir ſehen ihn wieder! —“ Aber er vermochte ſich nicht zu überwinden, er konnte in dieſer Stunde noch nicht zu ihr ſprechen. Er blieb eine Weile ſchweigend ſtehen, dann hüllte er ſie feſter in die Mantille, die ihr herabgeſunken war, und führte ſie ſchweigend durch den Garten.

Wie ſie an den erleuchteten Gehängen vorüber⸗ gingen, fingen die farbigen Lampen zu verlöſchen an und der Thau breitete ſich wie ein feuchter grauer Schleier über den Raſen aus. Der Mond war im Untergehen, es ward kühl und dunkel; von der Feſtesluſt war nichts mehr zu ſehen, als ſie an das Haus gelangten.

138

Auf der Schwelle ſtehend, reichte ſie ihm die Hand. „Egon!“ bat ſie, „ſagen Sie mir es noch einmal!“

„Er wird wiederkommen!“ ſprach er, da ſie's wollte; dann küßte er ihr die Hand und ging davon.

Es war vorbei. Sein Urtheil war gefällt! Was er bisher erſtrebt, was er erhofft hatte, es mußte ver⸗ geſſen, es mußte begraben ſein für immerdar. Er kam ſich wie geſtorben vor; aber ſeine Mutter lebte und Jo⸗ hannes und Ramonna lebten! Es galt, ſich zu erlöſen durch ihr Glück und aufzuerſtehen als ein Gewandel⸗ ter, wenn er des Opfers werth ſein wollte, das er von dem Freunde angenommen hatte.

Dreizehntes Capitel.

Wenige Tage ſpäter ſaß in einem der Badeorte, welche an dem Ausfluſſe der Themſe in das Meer gelegen ſind, ein junger Mann in ſeine Studien ver⸗ ſenkt an ſeinem Arbeitstiſche.

Es waren nahezu acht Monate ſeit ſeiner An⸗ kunft hingegangen. Im verwichenen Spätherbſt, ge⸗ rade als die letzten Badegäſte den Ort verlaſſen hatten, war er eingetroffen, hatte ſich in einem der beſten Häuſer eine Wohnung genommen, und an der Thüre ein Schild befeſtigen laſſen, das ihn als einen Arzt bezeichnete. Als einen ſolchen, und zwar als einen ſehr geſchickten Arzt, hatte er ſich denn auch kurz dar- auf bei einem Unglücksfall erwieſen, der ſich auf der Straße zugetragen, und das hatte ihm bald zu einer Kundſchaft verholfen, die ohne dieſen Umſtand vielleicht lange hätte auf ſich warten laſſen. | Er hatte Bücher und allerlei Apparate mitgebracht; die Wirthin, die im Laufe der Jahre Leute aller Art in ihrem Hauſe aufgenommen hatte und ſich als eine große Menſchenkennerin betrachtete, merkte alſo bald,

140

daß er ein Gelehrter ſei; und da er ein ruhiger Ein⸗ wohner war, der ſeine Miethe wie alle Auslagen für ihn auf das Pünktlichſte bezahlte, und die Wirthin obenein bei ihren Rheumatismen unentgeltlich behandelte, hegte ſie eine vortreffliche Meinung von ihm und von ſeinem Charakter, obſchon er, deſſen hielt ſie ſich verſichert, nicht aus freiem Antrieb in dem Ort verweilte. Er mußte ein Verbannter fein, und das gaſtliche Eng land hatte ja zu allen Zeiten Flüchtige aus fremden Ländern ſchutzſuchend an ſeinen Ufern landen ſehen. Sie durfte alſo ihrem Vaterlande auch nicht Schande machen, durfte nicht fragen, was zu fragen nicht ihres Amtes war; und doch fiel es ihr auf, daß der Doktor niemals einen Brief erhielt, ſich niemals er⸗ kundigte, ob Briefe für ihn angekommen ſeien, während er, ſie hatte ihn beobachtet, doch jedesmal ſehr achtſam wurde, wenn der Poſtbote ſeine regelmäßigen zwei Schläge mit dem Thürklopfer gegen die Hausthüre that.

An dem Tage, deſſen wir vorhin gedachten, ſaß der Doktor am Mittage, nachdem er ſeine Kranken⸗ bejuche beendet hatte, ſchon eine geraume Zeit bei den mikroſkopiſchen Unterſuchungen, mit denen er ſich in den hellſten Stunden zu beſchäftigen pflegte, als auch wieder der Poſtbote ſich vernehmen ließ. Die Wirthin,

141

welche ihm eben einen Auftrag von einem Kranken aus⸗ gerichtet hatte, war noch in ſeinem Zimmer und ſie ſah es wieder, wie er emporblickte, nach dem Schalle horchte und zu warten ſchien, obgleich er gar nichts ſagte. Dies⸗ mal aber mußte es wirklich mit dem Briefträger etwas Beſonderes ſein, denn er klopfte wieder und noch einmal.

Die Wirthin ging hinaus, die Thüre zu öffnen, aber das Mädchen hatte es bereits gethan, und von dem Briefträger gefolgt, trat ſie mit den Worten in das Zimmer: „Sir! der Poſtbote hat Sie zu ſprechen.“

Der Doktor ſtand auf, das Mädchen und die Wirthin merkten es alle Beide, daß er ſich verfärbte.

„Ein empfohlener Brief für Sie, Sir!“ ſagte der Bote.

„Wohl!“ entgegnete der Doktor und nahm ihn ab; aber wie ruhig er ſich auch zu zeigen ſtrebte, die Hand zitterte ihm, mit der er den Empfangsſchein unterſchrieb. Der Briefträger ging hinaus, die Magd ging ebenfalls. Die Wirthin wäre gern geblieben, hätte es ſich nur machen laſſen, aber ſie wußte, was ſich ziemte, und räumte endlich auch das Feld. Nun war Johannes allein; allein vor der Entſcheidung ſeines Schickſals.

Der Brief kam ihm von dem Einzigen, der von ihm und ſeinem Aufenthalte wußte.

142

„Ramonna hat entſchieden und für Dich!“ fo ſchrieb ihm Egon. „Sie hat Dich von je geliebt. Vor wenig Augenblicken hat ſie ſelbſt es mir geſagt. Dich und ſie habe ich Unſeliger, in der Verblen⸗ dung meiner Selbſtſucht, um eine lange Zeit des Glücks betrogen. Vergebt mir wenn Ihr's könnt! Vergieb Du mir vor Allem, Du, den ich kaum noch daran zu erinnern wage, was wir einander bis zu dem unheilvollen Augenblick geweſen ſind.“

„Morgen werde ich um meine Verſetzung aus der Hauptſtadt einkommen; aber ich werde nicht fortgehen, ehe ich von Dir die Anweiſung empfangen habe, wann Du zurückzukehren gedenkeſt und in welcher Weiſe Deine Wiederkunft in Ausſicht geſtellt und vorbereitet werden ſoll! Ich habe Dir gegenüber nur Pflichten zu erfüllen, und es Dir womöglich durch die vollſte Hingebung zu vergüten, daß ich Dich gezwungen habe, ſo groß zu handeln als Du es gethan haſt.“

Johannes ließ das Blatt herniederfallen auf den Tiſch. Er hatte die lange, lange Zeit hindurch ſein Herz in feſten Banden gehalten, hatte mit der ſtillen Pflichttreue, zu welcher ſein erhabener Beruf den Arzt erzieht, an jedem Tage ſeine Schuldigkeit gethan, ohne viel zurückzublicken, ohne ſich an unbeſtimmte Hoffnun⸗

143

gen zu klammern, wie ſehr ihm wünſchende Sehnſucht bisweilen auch das Herz bewegte. Jetzt aber drängten ſich all ſein Leben und ſein Wünſchen, ſein Leiden und die Glückshoffnung, die ſich vor ihm aufthat, in ein gewaltiges Empfinden zuſammen. Es war ſtärker, als er es ertragen konnte; er ſchlug die Hände vor ſein Angeſicht und weinte! Und wie er dann das Haupt emporhob und ſich fragte: weshalb denn dieſe Thränen? da fand er, daß es der Freund ſei, dem ſie floſſen, daß es Egon ſei, den er beweinte.

Aber draußen vor ſeinem Fenſter breitete ſich unter dem Schein der Frühlingsſonne die prachtvolle Weitung des Meeres aus, und leicht getragen von feinen Fluthen zogen die weißen von friſchem Weſt⸗ winde geſchwellten Segel der Schiffe hin, winkten die langen, ziehenden Dampfesfahnen ihn nach der Hei⸗ math zurück, wohin ihn Alles rief, Alles, was dem Menſchenherzen theuer iſt: Liebe, Freundſchaft und ein ehrenvoll begonnener Beruf. Und voll von der bele⸗ benden Ausſicht auf dies Glück ſchrieb er an Egon:

„Es iſt überſtanden und es iſt Alles vergeſſen, was uns trennen könnte. Ich habe meine Zeit hier nicht verloren. Ich bin fleißig geweſen und komme

144

mit wiſſenſchaftlichen Reſultaten zurück, die, wie ich glaube, nicht unbedeutend ſind.“

„Wie mein Fortgehen erklärt, wie meine Rück⸗ kehr eingeleitet werden ſoll? Durch das einfache Ge⸗ ſtändniß der Wahrheit, durch das Bekenntniß, daß wir uns lieber für eine Weile trennen, als Einer dem An⸗ dern das Leben nehmen wollten.“

„Was ich Ramonna zu ſagen habe, enthält das Blatt, das ich dieſem Briefe beifüge. Gieb Du es ihr. Es iſt der erſte Dienſt, den ich wieder von Dei⸗ ner Freundſchaft fordere. Sobald ich der Sorge für ein paar Schwererkrankte, deren Behandlung ich übernommen habe, ledig bin, kehre ich heim. Von Dir und Deinem Bedürfen und Empfinden allein hängt es ab, ob ich Dich bei der Rückkunft treffe oder nicht; aber ich hoffe, die Zeit wird nicht auf ſich warten laſſen, in der auch wir uns wiederſehen. Bis dahin grüße Deine Mutter, und ſage ihr, ihre beiden Söhne hät⸗ ten wieder einen neuen Feldzug, einen Feldzug gegen ihre Leidenſchaft beſtanden, und wären nach hartem Kampfe Beide wieder mit dem Leben davon gekommen. Das ſei uns eine Bürgſchaft für ein langes Beiſammenbleiben, und für eine helle Zukunft in unwandelbarer Freundſchaft.“

Ende.

Yflegeeltern.

Fanny Lewald, Neue Erzählungen. 10

Erſtes Capitel.

Unter den bedeutenden Männern, die mir auf meinem Lebenswege begegnet find, iſt mir Boris Kru⸗ pinin immer einer der anziehendſten geweſen. Er war der einzige Sohn einer alten und reichen Bojarenfa⸗ milie und hatte nur eine viel ältere Schweſter gehabt, deren Mann unter dem Kaiſer Nikolaus einen hohen Poſten in der Armee bekleidete. Die Schweſter ihrer- ſeits verſah das Amt einer Palaſtdame, oder eine ähn⸗ liche Stelle bei der Kaiſerin, und Beide hatten ſehr in Anſehen geſtanden.

Scchon ſeit den Zeiten Peters des Großen waren die Krupinins in Aemtern und Würden geweſen, aber obgleich ihr Ehrgeiz ſie der Reihe nach in die Dienſte der Czaaren geführt, hatten ſie ſich immer viel damit gewußt und es hervorzuheben geliebt, daß ſie in dem

heiligen Rußland ſchon eine Bedeutung gehabt hätten, 10%

148

ehe noch von den Romanows die Rede geweſen wäre, und daß fie ſich nur entſchloſſen hätten, ihren mos— kauer Stammſitz in der Nähe des Kreml zu verlaſſen und Peter dem Erſten nach feinem ſumpfigen Peters⸗ burg zu folgen, weil er ein Kaiſer aus ihrer Fabrik geweſen ſei, weil ſie dazu mitgewirkt und ihren Ein⸗ fluß dazu verwendet hätten, ihn aus der Gewalt der Strelitzen zu befreien und ihn zum Kaiſer zu erheben. Sie führten ihre Stammtafeln bis in die fernſte Zeit zurück, hatten von ihren Hauspopen ſeit Jahrhunder⸗ ten Familien⸗Chroniken ſchreiben laſſen, indeß die Fa⸗ milien⸗Tradition bewahrte daneben noch eine Menge von Erinnerungen auf, von denen in den geſchriebenen Chroniken nichts zu leſen ſtand, von denen aber auf den Gütern in den Spinnſtuben, bei dem flackernden Kienſpan, deſto mehr geſprochen wurde, und von denen die leibeigene Amme und die leibeigenen Wärterinnen, welche die Kindheit meines Freundes bewacht, auch zu ſagen gewußt und mehr geſagt hatten, als für die leb⸗ hafte Phantaſie und die zärtliche Natur des Knaben vielleicht gut geweſen war.

Der Knabe hatte mit blitzenden Augen zugehört, wenn ſein Vater ihm erzählt, welche Heldenthaten Gleb Krupinin einſt bei Pultawa unter den Augen

149

Peters verrichtet habe, und wie er nachher, als die Czaarewna einmal auf feinem Gute fein Gaſt gewe— ſen ſei, ſie den einen Tag mit vier gezähmten Bären, den andern Tag mit Kameelen, und den dritten Tag mit den ſchönſten arabiſchen Schimmeln gefahren habe, die er alle mit ihrem koſtbaren Geſchirr der Kaiſerin zum Geſchenk gemacht. Es gab in der Familie reiches Silbergeſchirr und Ehrenſäbel mit Brillanten, welche der ſchöne Jegor Krupinin von der zweiten Katha⸗ rina erhalten hatte, und eine Ausgabe von Voltaire's Schriften, welche dieſer Dichter ſelbſt dem erklärten Günſtlinge der Kaiſerin verehrt. Ein Krupinin war Roſtopſchins rechte Hand geweſen, als derſelbe Mos⸗ kau in Brand geſteckt, und war in dem Gefolge Alexan⸗ ders mit den alliirten Fürſten eingezogen in Paris. Auch auf dem Wiener Congreſſe war er dabei gewe⸗ ſen, während ſeine ſchöne und geiſtreiche Schweſter bis an den Tod des Kaiſers Alexander in deſſen höch⸗ ſter Achtung geſtanden hatte, nachdem in ihrer Ju- gend ein weit innigeres Verhältniß zwiſchen ihnen ob⸗ gewaltet haben ſollte. So weit man zurückdenken konnte, immer hatten ſeit dem erſten Peter der Glanz und die Gunſt der Kaiſer und der Kaiſerinnen über den Krupinins ge⸗

150

leuchtet. Sie waren mit den mächtigſten Familien des

Landes verwandt und verſchwägert; nicht nur am Hofe zu Petersburg, ſondern an allen Höfen Europa's waren ſie wohl gelitten, denn ihnen hatte die Erlaub⸗ niß, in das Ausland zu gehen, nie gefehlt, und ſie hatten, die Frauen ſowohl als die Männer, ſich denn auch mit der ausgedehnteſten Sprachkenntniß jene glat⸗ ten, bequemen Umgangsformen angeeignet, in denen die Ruſſen, wenn ſie ſie an den Tag legen wollen, vollendete Meiſter ſind. Das ſchloß nicht aus, daß das wilde tartariſche Blut, das von ihrem Stamm⸗ vater her in ihren Adern floß und durch die gelegent- liche Vermiſchung mit den armeniſchen Lazajarews nicht fanfter geworden war, gelegentlich) in heftiger Gluth und blindem Zorne aufflammen konnte; und es waren in der Familie gewiſſe Todesfälle vorgekommen, über die man gerne hinwegging, wie daneben Gerüchte von einer Menge Liebeshändel in Umlauf waren, mit denen man auch nicht an die große Glocke ſchlug. Einen Sohn des Hauſes hatte man einſt in der Nacht vor ſeiner Hochzeit erdroſſelt gefunden, und am fol⸗ genden Morgen hatte man die ſchönſte Leibeigene der Herrſchaft bei einer fürchterlichen Kälte im Garten entkleidet und ſie ſo lange mit Waſſer übergoſſen,

151

bis ſie erfroren war. Weshalb das fo geſchehen war, ſagte man nicht. Geſchehen aber war es; und daß der Großvater meines Freundes einen ſeiner Muſiker hatte zu Tode peitſchen laſſen, weil er ſeine Blicke zu des Herrn Schweſter erhoben, die er zum Geſange ſtets begleiten müſſen, das hatte die Leibeigene, welche Bo⸗ ris in ſeiner Kindheit gewartet, noch mit eigenen Augen angeſehen und entſann ſich deſſen ganz genau, obſchon ſie damals noch ein kleines Ding geweſen war. Bei dem Vater unſeres Freundes, bei Michael Krupinin, hatten die Leute es jedoch verhältnißmäßig gut gehabt. Er hatte es ihnen an keinem Nöthigen mangeln laſſen, ſie nicht mißhandelt, nicht an Fremde in die Städte vermiethet, und ſie auch nicht verkauft. Sowohl auf den Gütern als in dem Hauſe in Mos⸗ kau, das inmitten ſeiner Gärten mit ſeinen grünen und vergoldeten Thürmen wie ein Palaſt da lag, war die zahlreiche Dienerſchaft mit dem Herrn alt gewor⸗ den, und ſie hing an ihm und an dem Hauſe, obſchon nicht viel Freude in demſelben zu finden war. Michael

| Petrowitſch, der Herr fo nannte ihn alles, was ihn umgab hatte ſeine Jugend ſehr genoſſen; da⸗ für war er im Mannesalter finſter und ſtreng gewor⸗ den, und da obenein ſeine Geſundheit nicht die beſte

152 war, hatten feine Frau und fein Sohn immerfort von ihm zu leiden gehabt. Je älter er geworden war, um ſo mehr hatten ſeine hypochondriſchen Grillen ſich ent⸗ wickelt, und mit der Hypochondrie war ſeine Selbſt⸗ ſucht gewachſen. An jedem Morgen hatte er es be⸗ klagt, daß er ein Kranker ſei, und mit Mißgunſt auf diejenigen geblickt, die ihres Lebens froher waren, als er ſelbſt. Er neidete ſeinen Leuten ihren guten Appe⸗ tit, er neidete ſeiner bedeutend jüngeren Frau die er⸗ gebene Gelaſſenheit, mit welcher ſie ihre Tage hin⸗ fließen ſah, und er fühlte eine unbeſtimmte Eiferſucht

gegen den Sohn, der ſo viel länger zu leben hatte,

als er, und der nach ihm genießen ſollte, was er ſelbſt nicht mit ſich nehmen konnte, wenn er einmal ſtarb. Vor Allem aber war ihm die Zärtlichkeit zuwider, mit welcher der Sohn und die Mutter an einander hin⸗ gen. Er konnte ihnen nicht verbieten, ſich zu lieben; indeß er wollte nicht daran erinnert werden, daß er ſelbſt ihnen nicht die gleiche Liebe einzuflößen ver⸗ mochte. Er konnte es nicht ſehen, wie glücklich ſie mit einander waren, und deshalb mußte er ſie trennen. Boris wurde unter dem Vorwande, daß die Mutter ihn verwöhne, frühzeitig einer Erziehungs⸗Anſtalt in Moskau übergeben, in der er ſich für die Univerſität

a

153

vorbereiten ſollte, und ſeitdem brachten ſeine Eltern die Winter nicht mehr in der Stadt zu. Der Vater behauptete, er könne die Geſellſchaft nicht wie ſonſt ertragen; im Sommer aber mußte man nach Deutſch⸗ land in die Bäder gehen, und Boris und die Mutter ſahen ſich auf dieſe Weiſe immer ſeltener wieder. So lange er auf der Schule geweſen war, hatte der Sohn die Entfernung von der Mutter ſchwer empfunden; auf der Univerſität aber hatten ſich neue Bekanntſchaften für ihn geknüpft, die ſeinem Geiſte eine neue Richtung gegeben hatten. Er war in die wiſſenſchaftlichen und politiſchen Beſtrebungen des jun⸗ gen Rußlands hineingezogen worden, und es focht ihn nicht eben an, als er von ſeiner Mutter aus Deutſch⸗ land die Nachricht erhielt, wie die Geſundheit des Va⸗ ters einen Winteraufenthalt in den Pyrenäen noth⸗ wendig mache, und daß man alſo erſt im nächſten Frühjahr wieder in die Heimath zurückkehren werde. In der Lebensweiſe des Sohnes änderte das ſo gut wie nichts. Der Winter ging ihm in der glän⸗ zenden, üppigen Geſellſchaft von Moskau, in dem Kreiſe ſeiner Freunde ſchnell vorüber, und die Gefahr, welche über all den Männern und Jünglingen ſchwebte, die auch für Rußland den Eintritt in die Bahnen

154

eines freieren Staatslebens für nothwendig erachteten, ſteigerte die Haſt, mit der man ſich dem Genuſſe des Lebens überließ. Den und Jenen hatte die Hand des Czaaren ſchon erreicht; der und Jener, der noch vor wenig Wochen die Herzen der Jünglinge mit ſeinen feurigen Worten erhoben hatte, wanderte jetzt in Ketten die eiſige Straße, die ihn nach den Bergwerken führen ſollte, und jeder der Zurückgeblie⸗ benen mußte ſich ſagen, daß ihn heute oder morgen das gleiche Schickſal ereilen könnte. Man war mit dem Allgemeinen beſchäftigt und hatte mit ſich ſelber zu thun. Man war der nächſten Stunde niemals ſicher, und entwarf doch weite Plane für die Zukunft; man lebte mit großem Bewußtſein und doch wie in einem Rauſche. In dieſem Zuſtande erhielt Boris von ſeinem Vater gegen das Frühjahr hin plötzlich die Nachricht, daß die Mutter nach einer Krankheit von nur wenigen Stunden in den Eaux bonnes geſtorben ſei.

Die Kunde traf den Jüngling in das Herz, und die eiſige Kälte, mit welcher ſein Vater ihm, als ob er ein Fremder wäre, dieſe Mittheilung machte, hatte noch etwas ganz beſonders Beäugſtigendes für ihn. Der Vater ſchrieb ihm nicht, woran die Mutter ge⸗ ſtorben ſei, es war in der ganzen langen Zeit nie

*

155

die Rede davon geweſen, daß fie ſich weniger gut als ſonſt befunden habe, man ſagte dem Sohne auch nicht, ob ſie mit Bewußtſein verſchieden ſei, ob ſie ſeiner noch gedacht habe. Die ganze Art und Weiſe war grau⸗ ſam. Sie behielt daneben etwas Geheimnißvolles für den Sohn, und doch konnte er auf alle ſeine beſtimmt geſtellten Fragen keine aufklärende Antwort von dem Vater erlangen. |

Gegen den Sommer hin kam derſelbe von der Reiſe heim. Er hielt ſich jedoch kaum einen Tag in Moskau auf, und ſah den Sohn nur im Beiſein an⸗ derer Perſonen. Von dem Tode der Mutter wurde nur in den allgemeinſten Ausdrücken geſprochen; Michael Petrowitſch war ein Feind unnöthiger Gemüthsbewe⸗ gungen, und ſein ohnehin finſteres Geſicht verdüſterte ſich noch mehr, als er im Laufe dieſes Tages den Sohn im einſamen Geſpräche mit der alten Kammer⸗ frau der Todten fand. Er wußte, wovon die Beiden mit einander zu reden hatten. Es waren aber nur lauter vereinzelte Bemerkungen, welche die Alte dem jungen Manne mittheilte, und doch erbebte das Herz des Sohnes, wenn er es unternahm, ſie zuſammen zu reihen. Er hatte die Mutter geliebt und verehrt, er konnte ſich nicht entſchließen, an ihr zu zweifeln;

156

was aber hatte es mit dem Franzoſen auf ſich, der beſtändig neben ſeiner Mutter geweſen war, ſeit die Eltern in Paris mit ihm zuſammengetroffen, und was war geſchehen, das ſeine Mutter bewogen hatte, ihr Leben freiwillig zu enden? Er hat es nie erfahren.

Der Vater vergrub ſich von dem Zeitpunkte ſei⸗ ner Rückkehr ab, ganz auf ſeinen Gütern, er mochte Niemanden von ſeinen Verwandten und von ſeinen Freunden ſehen. Die leibeigene Wirthſchafterin, die immer Einfluß auf ihn gehabt hatte, eine ſchöne und entſchloſſene Perſon, war bald ſeine einzige Geſell⸗ ſchaft, und wurde mehr und mehr völlig ſeiner Meiſter. Sie beſtimmte Alles, was geſchehen ſollte, und ſie war es, welche noch weniger als ihr Herr des Sohnes Nähe wünſchte. Seine Verbindung mit den jungen, revolutionairen Männern, die Verhaftung eines ſeiner Freunde boten der umſichtigen Leibeigenen den Anlaß, ſeine Entfernung durchzuſetzen. Ohne daß man ihn davon auch nur unterrichtet hatte, erhielt der junge Mann eines Tages mit einem Briefe ſeines Vaters eine Geldanweiſung auf den Banquier der Familie nebſt dem Gouvernementspaß, der ihm die Erlaubniß zu einer Reiſe in das Ausland ertheilte, und daneben

157

den väterlichen Befehl, von dieſer Erlaubniß einen ſo⸗ fortigen Gebrauch zu machen.

„Ich kann Dich nicht länger in der ſchlechten und gefährlichen Geſellſchaft leben laſſen, in welche Du in Moskau hineingerathen biſt,“ alſo ſchrieb ſein Vater ihm, „und ich erwarte von Dir umgehend die Nachricht, daß Du ſo ſchnell wie möglich außer Lan⸗ des gehſt. Wohin Du gehen willſt, überlaſſe ich Dei⸗ ner Wahl, den Zeitpunkt Deiner Heimkehr werde ich beſtimmen.“

Boris ging. Seine Freunde ſelber riethen ihm dazu und es währte lange, bis er wiederkehrte.

Er war einundzwanzig Jahre alt, als er Moskau verließ, und er mochte etwa fünfunddreißig Jahre zählen, als ich ihm zuerſt begegnete. Damals war er noch ein ſchöner Mann, obgleich man ihm anſah, daß er einer Familie angehörte, welche ſich durch viele Geſchlechter in üppigem und raſchem Lebensgenuſſe verweichlicht hatte. Er war hoch gewachſen, aber ſeine Bruſt war nicht breit, und er trug ſich ein wenig ge⸗ bückt, was ihm bei feiner auffallenden Kurzſichtigkeit für den erſten Moment etwas Schwächliches gab. Betrachtete man ihn dann näher, oder fing er zu ſprechen an, ſo entwickelte ſich aber ein ſolcher Aus⸗

158

druck von Kraft in feinen beweglichen Mienen, der Ton ſeiner Stimme war ſo voll und klangreich, und ſeine Augen leuchteten trotz der Brille, die er niemals von ſich that, in einem ſo ſchwärmeriſchen Glanze, daß man ihn tiefen Gefühles und einer großen Ent⸗ ſchloſſenheit fähig halten mußte, und ſich zu ihm hin⸗ gezogen fühlte, noch ehe er ſich die Mühe machte, ir⸗ gend welchen Antheil für ſich zu erregen. g Ein eben ſolcher Gegenſatz, wie in ſeiner äußeren Erſcheinung gab ſich, wenn man ihn näher kennen lernte, auch in ſeinem geiſtigen Weſen kund. Ich vermochte mich Anfangs gar nicht in ihn zu finden und meinte oftmals, die eine oder die andere ſeiner Aeußerungen könne nicht aus ſeiner wahren Ueberzeu⸗ gung kommen, müſſe Folge einer unwillkürlich ange⸗ nommenen Maske ſein. Ich hatte mich jedoch darin getäuſcht, es war wirklich ein ſolches Doppelweſen in ſeinem Charakter entwickelt. Das lange Reiſeleben, die Bekanutſchaft mit jener ausſchließlich auf den Ge⸗ nuß geſtellten Geſellſchaft aller Nationen, hatten ihn ſelber überſättigt, und ihm von den Menſchen in der Maſſe eine ſchlechte Meinung gegeben. Er verſpottete ſie und ihr Thun und Treiben und ſich ſelber mit, und hegte dabei in ſeinem tiefen Inneren das erha⸗

159

bene Ideal einer edeln, neugeborenen Menſchheit. Er nannte ſich blafirt, verſicherte, daß er an nichts mehr glaube, daß ihn nichts mehr freue, und konnte von einem freundlichen Worte, von einem ehrlichen Ge⸗ ſichtsausdrucke zu großen Opfern und Dienſten hin⸗ geriſſen werden, konnte ſich an die Spiele von Kin⸗ dern mit einem Eifer und einer Fröhlichkeit hingeben, daß man ihn ſelber hätte für einen Knaben halten mögen. Wenn er heute mit der größten Erbitterung von der ruſſiſchen Regierung, und mit wahrhaftem Zorne von den in ſeinem Vaterlande herrſchenden Zu⸗ ſtänden geſprochen hatte, konnte er ſich morgen mit inbrünſti ger Hoffnung in den Gedanken verſenken, daß in ſeiner Heimath ſich aus dem kräftigen, von der Entartung der höheren Stände nicht berührten niede⸗ ren Volke ein neues Rußland erheben werde; und während er mit einem ganz ariſtokratiſchen Sinne auf die Erhaltung ſeines Namens und Hauſes Gewicht legte, hörte man ihn ſagen, daß alle dieſe alten Adels⸗ geſchlechter entartet und eben deshalb dem Untergange geweiht wären, und daß ſie auch untergehen müßten, damit ihre dem Gemeinwohl ſchädlichen Vorurtheile mit ihnen aus der Welt verſchwänden. Man wurde nicht leicht fertig mit ihm. Denn da er geiſtreich

160

war, wußte er mit großer Lebhaftigkeit die eine wie die andere ſeiner Behauptungen zu vertheidigen und auszuſchmücken, und wie die Mehrzahl ſeiner moskauer Freunde in Hegel'ſcher Dialektik geſchult, war er im⸗ mer bereit, das „ſowohl als auch“ aufrecht zu erhal⸗ ten, und mit ſich ſelber im entſcheidenden Augenblicke jene Vermittlungsverſuche zu machen, welche ſeine na⸗ türliche Liebenswürdigkeit und Güte zwiſchen ihm und den Dritten immer leicht zu Stande kommen ließ.

Zweites Capitel.

Unſer erſtes Beiſammenſein hatte nicht lange ge⸗ währt; wir hatten jedoch gegenſeitig eine angenehme Erinnerung davon bewahrt, und als wir uns dann nach einer Reihe von Jahren bei einem Sommeraufent⸗ halte im Hochgebirge zufällig wieder fanden, traten wir uns wie alte Bekannte und wie Freunde entgegen.

Boris war diesmal nicht allein, ſondern hatte einen ſchönen, jungen Menſchen mit ſich, den er uns als ſeinen Sohn vorſtellte, und es fiel uns gleich beim erſten Anblicke auf, daß derſelbe nicht die ent⸗ fernteſte Aehnlichkeit mit ſeinem Vater hatte, ja, daß er gar nicht wie ein Ruſſe ausſah. Wo man dem jungen Manne auch begegnet wäre, überall hätte man in ihm den Bergbewohner aus dem ſüdöſtlichen Deutſch⸗ land, den Steiermärker oder Oberbaiern erkannt, und

wenn ſchon er wie ſein Vater das nillae Fran⸗ Fanny Lewald, Neue Erzählungen.

162

zöſiſche und Engliſche mit großer Leichtigkeit hand⸗ habte, hörte man ſeinem Deutſch einen Provinzial⸗ Dialekt und gewiſſe Kehllaute an, die nur den deut⸗ ſchen Bergbewohnern eigenthümlich zu ſein pflegen.

Der Vater hing mit der größten Zärtlichkeit an Joſef, und es war auch gar nicht möglich, ſich an der prachtvollen, breitbrüſtigen Geſtalt des dreiundzwanzig⸗ jährigen jungen Mannes nicht zu erfreuen oder nicht mit ihm heiter zu werden, wenn ſeine hellbraunen Augen vor Lebensluſt und Frohſinn blitzten, und ſein Lachen die ſchönen Zähne zwiſchen den vollen Lippen ſichtbar machte. Dazu hatte er einen ſchnellen und ſcharfen Verſtand, eine unbefangene Gradheit des Urtheils, und wie der Vater früh überſättigt und ein Zweifler geweſen war, ſo hatte der Sohn eine Zutraulichkeit und eine Urſprünglichkeit bewahrt, welche ihm bei dem Leben in der großen Welt nur eine beſonders glückliche Natur oder die größte Achtſamkeit des Vaters erhalten ha⸗ ben konnte.

Joſef war offenbar des Vaters größter Stolz und ſeine ganze Freude. Er ſprach gern von ihm, gedachte freiwillig der Art und Weiſe, in welcher er ihn er⸗ zogen, wie er es angefangen habe, ſeines Sohnes volles, unumſchränktes Zutrauen zu erwerben und zu

163

erhalten; und er hob es gegen uns beſonders noch hervor, daß der junge Mann die Geſellſchaft des Va- ters ſelbſt der von ſeinen Altersgenoſſen vorziehe.

Und hängt er denn auch an ſeiner Mutter mit gleicher Zärtlichkeit? fragte eine junge Dame, die ſich zufällig dabei befand, als unſer Freund einmal eben jene Bemerkung machte.

Boris blieb die Antwort ſchuldig. Das würde mir nun an und für ſich nicht aufgefallen ſein, da es einem Fremden gegenüber eine von den müßigen Fra⸗ gen war, in denen eine große Anzahl von Frauen ihrer taktloſen Zudringlichkeit den Zügel ſchießen laſſen; aber wir hatten ſchon früher bemerkt, daß ſowohl der Vater als der Sohn der Mutter nie erwähnten, und wir hatten uns daraus die Lehre gezogen, ihrer und ihres Daſeins gleichfalls nicht zu gedenken.

Unſer Verkehr war im Uebrigen durchaus be— haglich; wir waren beſtändig zuſammen, wenn ſie nicht Partieen in das Gebirge machten, auf welchen Boris ſeinen Sohn regelmäßig begleitete, obſchon ſolche angreifende Märſche ihm nicht grade heilſam ſein konnten. Er hielt aber darauf, es dem Sohne noch gleich zu thun, und dieſer war wiederum ſo beſorgt für ſeinen Vater, ſuchte fo gefliſſentlich ihn zu ſchonen, daß man ſich

41°

164

wirklich ein ſchöneres Verhältniß zwiſchen Vater und Sohn nicht vorſtellen konnte. Trotzdem behandelten die Landsleute von Boris den jungen Mann mit einer wunder⸗ lichen Art und Weiſe, die ihm nicht entgehen konnte und die es machte, daß er ſie vermied. Von Boris Krupinin jedoch ſprachen ſie immer, wenn nicht mit Zuneigung, ſo doch mit Anerkennung und mit Bewunderung ſei⸗ ner großen geiſtigen Begabung und ſeiner Klugheit.

Sie erzählten, Graf Boris habe nach dem Tode ſeines Vaters gleich ſeinen ganzen Grundbeſitz ver⸗ kauft und ſein Vermögen aus dem Lande gezogen; dadurch ſei er ein Millionär geblieben, während ſeine Standesgenoſſen durch die Emanzipation der Bauern an den Rand des Abgrundes gebracht worden wären; und wenn die Ruſſen ſich erſt auf dieſem Meere der Klagen eingeſchifft haben, bringt man ſie nicht ſo bald davon zurück. Reich ſchien Graf Boris aller⸗ dings zu ſein, und er ſelber erwähnte einmal, daß er ſeine Güter in Rußland aufgegeben habe, aber er dachte daneben an die Möglichkeit, daß ſein Sohn ſich einmal in den ſüdöſtlichen Provinzen von Rußland ankaufen könne, deren Klima der Vater für eines der ſchönſten heilſamſten der Welt erklärte.

Eines Tages, als wir, ich weiß nicht wie, auf

165

dieſe mögliche Niederlaſſung am Schwarzen Meere zu ſprechen kamen und ich den Grafen fragte, ob er für die Ausführung dieſes Planes einen Zeitpunkt feſt⸗ geſetzt habe, rief er mit einer ihm nicht gewöhnlichen Lebhaftigkeit: Einen Zeitpunkt feſtſetzen? Plane machen? Ich mache niemals Plane, die über mehr als ein paar Tage hinausgehen! Ein Plan iſt ein Tyrann und beruht doch in der Regel nur auf einem augenblick⸗ lichen Einfalle, auf einem Tone, der in unſerem Ge⸗ hirne anklingt. Wie kann man ſich alſo zum Sklaven einer Blutwelle machen? Ich mache niemals Plane, wiederholte er lebhaft, denn ich habe es an mir ſelbſt erfahren, wie unzuverläſſig unſer Wünſchen und wie unbeſtändig unſer Wollen iſt. Was uns heute als das höchſte Glück erſcheint, hat vielleicht ſehr bald all feinen Reiz für uns verloren, und was uns heute ge— ringfügig erſcheint, wird uns morgen wichtig. Mit ſechszehn Jahren war ein hervorragendes Amt im Staatsdienſte mein Ideal, mit zwanzig Jahren lechzte ich nach Unabhängigkeit und Freiheit. Nun, ich habe ſie genoſſen, die allervollſte Unabhängigkeit und Frei⸗ heit faſt ein Menſchenleben lang. Meine Mutter war todt, mein Vater verlangte nicht nach mir, ich fühlte keinen Zug zu ihm. Werthe Bekannte, ange—

166

nehme Verbindungen hatte ich, wohin ich kam, ich war mit meinem Looſe ſehr wohl zufrieden. Als mein Vater ſein Ende nahen fühlte, rief er mich an ſein Sterbebett. Ich kam noch vor dem letzten Augenblicke. Wir waren einander ſehr fremd geworden, das laſtete in den Tagen furchtbar ſchwer auf ihm und mir, und war doch unabänderlich. Boris fuhr ſich mit der Hand über die Stirn, ſchwieg eine kleine Weile und ſetzte dann in derſelben, kurz erzählenden Weiſe ſeine Mittheilungen fort. Ich hatte nicht die Abſicht, in Rußland zu bleiben, ſagte er; ich wünſchte meine Güter zu verkaufen, und das zwang mich zu einem längeren Verweilen. Damals ſchätzte man noch bei uns den Landbeſitz nach der Zahl der Seelen, die auf der Scholle lebten, und ich konnte nur mit großen Schwierigkeiten Käufer für die Güter finden, auf de⸗ nen ich den Leuten ihre Freiheit und ſo viel Grund und Boden gegeben hatte, daß ſie ſich ſelbſt erhalten konnten. Man hielt mich deshalb für einen Thoren, man ſagte mir meinen Ruin voraus. Jetzt bewun⸗ dert man meine Klugheit und ſieht noch heute nicht ein, daß ich in jenen Tagen nur meinem Gewiſſen genug thun wollte, ohne auf die künftige Geſetzgebung des Kaiſers zu ſpekuliren. Als ich damit zu Stande gekom⸗

167

men war, ging ich aus Rußland fort. Ich war nun freier als je zuvor. Mich band kein liegender Beſitz, keine Familienrückſicht, ich ſagte mir, daß ich mich jetzt in dem erwünſchten Zuſtande befände, und ſtatt nun dieſes glücklichen Zuſtandes froh zu werden, fühlte ich mich plötzlich von einer Melancholie, von einer Traurigkeit ergriffen, die durch keine Zerſtreuung zu beſiegen waren. Ich fing an, mich zu fragen, was ich denn mit dieſer Ungebundenheit vor den Anderen voraus hätte, was ich thun oder erreichen könnte, das ihnen nicht eben ſo erreichbar und möglich wäre. Und zu meinem Erſtaunen wurde ich es inne, daß ich nicht freier als die anderen Menſchen ſei, und daß ich Niemanden hätte, der mich liebte, den ich liebte. Tage und Wochen quälte ich mich mit dem Gedanken ab, etwas auszufinden, das mir Freude machen, das mir einen neuen Genuß bereiten und mich das Glück meiner Freiheit fühlen laſſen könne. Es reizte mich nichts, ich hatte Alles gehabt und genoſſen, ich lang— weilte mich, wo ich war und was ich auch that; und mitten in den Kreiſen, in denen ich zu leben gewohnt war, und in denen ich mich bis dahin wohl befunden hatte, überfiel mich der Gedanke, daß keiner dieſer Menſchen in meinem Herzen eine weſentliche Lücke

165

laſſen würde, wenn er von der Erde ſchiede, und daß man an dieſen Kartentiſchen eben ſo eifrig ſpielen, auf dieſen Divans gerade ſo verlockend liebäugeln, in die⸗ ſen Sälen ganz ſo reizend tanzen und dieſelbe geiſt⸗ reich heitere oder frivol leichtſinnige Unterhaltung führen würde, wenn man mich auch eben an dem Tage zur Ruhe beſtattet hätte. Das Gefühl meiner Einſamkeit wuchtete ſich lähmend und erdrückend auf mich nieder, und der Gedanke, daß unſer alter Name mit mir untergehen, daß nicht einmal dieſer Schatten mei⸗ nes Daſeins zurückbleiben würde, vergällte mir die Tage.

Er brach plötzlich ab. Verzeihen Sie, ſagte er,

daß ich Sie ſo lange von mir ſelber unterhalten habe.

Es iſt das auch eine häßliche Selbſtſucht, aber man wird dieſe böſe Eigenſchaft nicht mehr los, wenn man ſich ihr durch lange Jahre überlaſſen hat. Sprechen wir nicht mehr davon. Es ſind alte traurige Erin⸗ nerungen. Ich mag nicht rückwärts denken, ſeit ich mich alltäglich an der fröhlichen, blühenden Jugend meines Joſef erfreue.

Er erhob ſich, drückte mir die Hand, als wolle er ſich für mein Zuhören bedanken, und ging ſeinem Sohne entgegen, der eben zum Hauſe herauskam, den gewohnten Abendſpaziergang mit ihm zu machen.

Drittes Capitel.

Ich konnte in den folgenden Tagen die Erinne⸗ rung an dieſe Mittheilungen nicht los werden, ſie be⸗ ſchäftigten mich ſehr lebhaft, und ich ſtellte mir im erſten Augenblicke vor, das Boris Michailowitſch ſich eben in jener Zeit, von der er zuletzt geſprochen, ver— heirathet haben werde. Aber je mehr ich darüber nach- dachte, um ſo unwahrſcheinlicher wurde mir dies. Boris war höchſtens fünfzig oder einundfünfzig Jahre alt, ich hatte ihn als einen Fünfunddreißigjährigen und als einen Junggeſellen kennen lernen, und Jofef ſtand, wie er mir ſelbſt geſagt hatte, im vierund⸗ zwanzigſten Jahre. Er konnte alſo in keinem Falle ſein rechtmäßiger Sohn ſein, und der Umſtand, daß, wie ich ſchon bemerkte, von der Mutter nie die Rede war, beſtärkte mich in dieſer Ueberzeugung. Indeß während dieſes ganzen Beiſammenſeins erwähnte un⸗

170

ſer Freund ſeiner Vergangenheit nicht wieder, und erſt ein paar Jahre ſpäter, als er uns in unſerer Hei⸗ math aufſuchte, kam er einmal auf dieſelbe und über⸗ haupt auf ſeine Erlebniſſe zurück. Sein Sohn war nicht mehr bei ihm, und gleich am erſten Tage, als wir uns nach demſelben erkundigten, erfuhren wir, in welcher Weiſe das Verhältniß zwiſchen dem Vater und dem Sohne ſich ſeitdem entwickelt hatte. Da die Vor⸗ gänge eigenartig ſind, will ich im Zuſammenhange nacherzählen, was ich in einzelnen Bruchſtücken da⸗ mals von unſerem Freunde mit jenem Anfluge von Ironie zu hören bekam, die grade ihn ſo vortrefflich kleidete, weil die Herzensgüte und Kraft ſeiner Natur ſich darin gleichmäßig offenbarten.

Ich habe Ihnen einmal von dem Trübſinne ge⸗ ſprochen, ſagte er, von welchem ich befallen ward, als ich merkte, daß ich nicht beſſer wäre als die Anderen auch, und daß das von mir ſo oft verſpottete bibliſche Wort: „Es iſt nicht gut, daß der Menſch allein ſei!“ wirklich auch auf mich ſeine Anwendung finde. Natürlich ſagte ich mir: Du mußt ein Ende damit machen, mein

Lieber! Steige von dem Throne Deiner freien Selbſt⸗ 4

herrlichkeit hernieder, ſieh Dich in der Geſellſchaft um und nimm Dir eine Frau, damit Du zu einer Familie

171

kommſt und Dein Name fortterbe unter den Gefchlechtern der Menſchen! So etwas iſt aber bei Weitem leichter ge⸗ ſagt als gethan, wenn man ſiebenunddreißig Jahre alt geworden iſt, und die Welt und die Frauen kennen gelernt hat. Man vernichtet, man erſchießt ſich in einem An⸗ falle von Raſerei, man ſtürzt ſich in einer Aufwallung von großmüthiger Menſchenliebe in die Flammen, aber man legt ſich nicht mit ruhiger Ueberlegung auf einen Roſt, um bei kleinem Feuer allmälig gebraten zu werden und ſelbſt in der Hitze des Hazard— ſpiels habe ich immer zu viel kaltes Blut gehabt, um einen unverhältnißmäßigen Einſatz auf eine Nummer zu riskiren. Stand ich am Morgen auf und ſaß vor meinem einſamen Frühſtücke, mir gegenüber ſtehend der Diener, der nur darauf wartete, wann ich gehen würde, um ſein eigener Herr zu ſein, ſo ſagte ich mir: eine kleine hübſche Frau, die Dich zärtlich bäte, bei ihr zu bleiben, und Kinder, die ſich an Deine Kniee klam⸗ merten, um Dich zurückzuhalten, würden Dir den Mor- gen angenehmer machen. Mittags jedoch, wenn ich ein⸗ ſam auf meinem Spaziergange meinen Gedanken nach— hing, und Abends, wenn ich mich, ſo wie es mir be— liebte, in meinem ſtillen Zimmer meinen Studien überließ, ſprach eine geheime Stimme in mir: Jetzt

172

würde Madame in das Bois de Boulogne zu fahren wünſchen! Jetzt würde Madame noch auf dem Balle oder in der Soirée zu bleiben begehren, Du aber würdeſt ihr dabei Geſellſchaft leiſten müſſen, wollteſt Du Dein Glück und Deine Ehre nicht auf's Spiel ſetzen, wie jo mancher Andere! und bei der bloßen Vor— ſtellung an dieſen Zwang fing Madame an, mir äußerſt unbequem zu werden. Zudem wußte ich, die Wahr- heit zu geſtehen, ſelbſt nicht, was für eine Frau ich wünſchte. Die guten häuslichen Frauen und ich hatte deren verſchiedene gekannt hatten nicht nur mich, ſondern in der Regel auch ihre Männer mit der Wichtigkeit gelangweilt, die ſie auf das Alltägliche und Geringfügige legen zu müſſen glauben. Die Frauen von Geiſt und von weitem Blicke hatten nur zu häufig das ihnen Zunächſtliegende überſehen und verabſäumt und waren für alle Welt thätig und angenehm ge⸗ weſen, nur nicht angenehm für ihren Mann und nicht thätig für ihre Kinder; und die Frauen der ſogenann⸗ ten großen Geſellſchaft hatte ich vielfach ſoll ich ſagen zu meinem Vortheil oder zu meinem Nachtheil? von ſo leichtlebigen und fo gefälligen Manieren gefunden, daß ich mich nicht geneigt fühlte, andere Männer die gleichen angenehmen Erfahrungen auf

173

uteine Koſten machen zu laſſen. Darüber ging ein Tag nach dem andern hin, meine Geſundheit und meine Stimmung wurden nicht dadurch gebeſſert, und weil mein Leben mich nicht freute, fing ich zu glau⸗ ben an, daß es auch nicht mehr lange damit währen würde. Um ſo beſſer für Dich! ſagte ich mir, bis die alten Erinnerungen wieder einmal über mich kamen und der Untergang des alten, ſchönen Namens mir Bedauern erregte. Es half nicht, wenn ich mir vor⸗ hielt, was dieſer und jener meiner Ahnen gegen Ge⸗ ſetz und Recht und gegen alle Menſchlichkeit ver⸗ brochen hatte. Es war ein alter Name, es war ein ſchöner Name, es war mein Name und ich wollte ihn erhalten wiſſen, weil es mich dünkte, als dauerte ich in ihm ſelber fort. Aber wie das? und durch wen?

Ich konnte nicht fortleben in der gewohnten Weiſe. Paris, ſeine Geſellſchaft, die große Welt waren mir unerträglich geworden. Ich vermochte nicht mehr die Luft auf den Boulevards und auf den Promenaden zu athmen, auf denen der Leichtſinn und das Unglück ſich feilbieten und das Laſter ſie kauft. Ich ließ mir einen Koffer packen und reiſte fort, ohne Bedienung, allein.

Zum erſten Mal entzückten mich die Eiſenbahnen.

174

Ich fand fie poetiſch, weil ſie mich mit Zauber⸗ ſchnelligkeit von allem demjenigen entfernten, das mir zuwider geworden. Ich flog an den Orten vorüber, an denen ich ſonſt mich zu erholen und zu zerſtreuen gewohnt geweſen war. Baden und Frankfurt, Heidel⸗ berg und München blieben hinter mir zurück, bis ich mich endlich fragen mußte; Wohin nun? Ich hatte keinen Plan, keinen Zweck, keine Pflicht! Ich ſtand vor meiner Freiheit wie vor einem dunkeln, boden⸗ loſen Abgrunde, und das Einzige, was deutlich aus ihm emporſtieg, war die Reue, die mich ergriff. Ich bereute es, mein Vaterland verlaſſen zu haben, ſtatt mich für daſſelbe nützlich zu machen und mitzuwirken, wo noch ſo viel zu ſchaffen war. Aber wenn ich an die Möglichkeit einer Heimkehr, an die Arbeit dachte, die dort zu leiſten war, fühlte ich in mir nicht mehr den Muth dazu. Es waren dort jüngere, friſchere Kräfte, urſprünglichere Naturen nöthig, als ich; Naturen, die das Glauben und Hoffen noch nicht verlernt hatten, die noch voll Zutrauen und voll Liebe zu den Men⸗ ſchen waren, an deren Erhebung ſie arbeiten ſollten. Wie konnte ich, deſſen Vorfahreu ſeit anderthalb Hundert Jahren nur ihrer Selbſtbefriedigung gelebt und Enttäuſchungen und Menſchenverachtung als Lohn

175

ihres Servilismus und ihrer Tyrannei geerntet hatten, ich, der ich ſelbſt meine ſchönſten Jahre in geſchäfti— gem Müßigange verträumt hatte, herniederſteigen in die Reihen des Volkes, aus deſſen Erhebung wir allein die Wiedergeburt der Menſchheit erwarten kön⸗ nen? Ich war allein mit meinen Gedanken noch unglücklicher als in der großen Welt; ich war völlig gemüthskrank, und überſättigter und zugleich leerer als ich, hat ſich ſchwerlich ein Menſch gefühlt.

So kam ich im Beginne der guten Jahreszeit in den tiroler Alpen an, nahm einen Führer und ſtrich planlos von Berg zu Thal, von Thal zu Berg. Die Größe der Natur, die belebende Luft thaten mir gut. Ich ward müde am Tage, ich ſchlief in der Nacht, ich hörte auf, über mich ſelbſt nachzudenken, ich lebte, wenn ich ſo ſagen darf, ein körperliches Leben, und zu meinem eigenen Erſtaunen befriedigte es mich. Die Gebirgsreiſe, welche ich mit meinem Führer zurücklegen wollen, war beendigt, und ich mochte mich weder von dieſer Natur, noch von dieſem Menſchen trennen. Sein einfaches Pflichtgefühl, ſein grader Verſtand und die Klarheit, mit welcher er die Menſchen aus unſeren Lebenskreiſen beurtheilte, mit denen er ſeit langen Jahren zu verkehren gehabt hatte, machten ihn mir

176

werth. Er war bedeutend älter als ich und war un⸗ verheirathet wie ich. Ohne daß ich ihn darum fragte, erzählte er mir ſein einfaches Geſchick. Er hatte ſeine Eltern verloren, als er in den erſten Zwanzigen ge⸗ weſen war. Der Vater und die Mutter waren raſch nach einander geſtorben und hatten ihm einen ſpät nachgeborenen Bruder hinterlaſſen, der bei dem Tode der Eltern ein ganz kleiner Junge geweſen war. Den hatte er aufgezogen, und mit dem hatte er, wie er es nannte, für ſein Theil genug gehabt. Der Bruder war aber ein ſchöner, friſcher Junge geweſen, der bei Zeiten nach einer Frau verlangt und ſich denn auch ſehr jung verheirathet hatte. Kind auf Kind waren ihm geboren worden, und er hatte deren bereits fünf gehabt, vier Mädchen und einen Buben, als er zu⸗ ſammen mit einem Fremden, der in zu ſpäter Jahres⸗ zeit noch eine Bergbeſteigung hatte machen Wake um's Leben gekommen war.

Nun ſaß das arme Weib mit all den Kindern und ich konnte ſehen, wie ich mit ihnen durchkam! ſagte Gaſſer einfach. Sie ſind aber alle geſund und ſtark, und weil ich ihren Vater wie mein Kind ge⸗ halten, hab' ich nun an ihnen, ſo zu ſagen, das Haus

177

voll Enkel, und habe doch mein Lebenlang kein Weib gehabt! a

Er lachte bei den Worten herzlich, und da er ſah, daß ich ihm mit Antheil zuhörte, ſprach er von den Kindern mit einem Vergnügen und mit einer Liebe, als wenn es wirklich ſeine Enkel geweſen wären. Ich wurde neugierig, ſeine Familie kennen zu lernen. Kann ich bei Euch ein Unterkommen finden für die Nacht? fragte ich. Wir haben's nicht im Brauch, entgegnete er; unſere Betten reichen auch eben nur für uns und werden Euch zu ſchlecht ſein! Aber wenn Ihr in der Oberſtube die Nacht auf einer guten Streu zubringen wollt Betttücher haben wir und Brod und Kaffee iſt im Hauſe. Wollt Ihr mehr, ſo wird's zu ſchaffen ſein. Ich erklärte mich mit Allem im vor⸗ aus zufrieden, und als die Sonne ſchon ſtark im Sinken war, ſtiegen wir von der Höhe in ſein Thal hinab.

Das Haus lag mit dem Rücken hart am Berge an. Ein paar alte Bäume ſtanden zur Seite. Ihr breites Laubdach hielt das Waſſer in der Quelle friſch, die aus dem Fels hervorkam. Es war Nie⸗ mand zu ſehen. Als der Hund zum Haufe heraus- ſprang und anſchlug, ſteckte eine Frau, die nahezu

Fanny Lewald, Neue Erzählungen. 12

178

vierzig Jahre haben mochte, den Kopf durch das kleine Fenſter und trat in die Thüre, da der Alte ſie darauf anrief. Setze Kaffee zum Feuer und ſchicke mir den Joſef her, ſagte er, der Herr bleibt zu Nacht! Die Frau ſah ihn verwundert an, that aber keine Frage und keine Einwendung; ſie wies mit den Wor⸗ ten: Gefällt's Euch? nach dem Hauſe, mich zum Eintritte einzuladen, und nahm dem Alten mein Ge⸗ päck ab. f

In der Stube war's, wie's in allen ſ olchen Stuben iſt: trübe Fenſterſcheiben, eine unerträgliche Hitze, Schwärme von Fliegen, eine rieſige Bettſtelle, Tiſch und Bank; und ſchon fing meine romantiſche Aufwallung mich zu reuen an. Indeß weiter fortzugehen, war ich zu müde, und ich mochte auch der Gaſtlichkeit meines Führers nicht die Kränkung anthun, ſie zu verſchmähen, nach⸗ dem ich ſie gefordert hatte; als ich aber erſt die Nacht geblieben war, blieb ich auch noch länger.

Was mich feſthielt? Zunächſt das feierliche Schweigen, in welchem am Morgen unter dem leiſen Hauche des Windes der Thau von den Aeſten der Bäume niederträufte; und dann die ſanfte Stille der Menſchen unter die ich gerathen war. Die Mutter und ihre vier Töchter, Mädchen von vierzehn bis zu

179

achtzehn Jahren, lauter ſchöne und ſchlanke Geftalten, gingen bei all ihren Geſchäften ſtill und ohne Haſt umher. Sie fragten auch mich nicht, was ich wolle und begehre; ſie brachten mir alles Beſte, was ſie hat- ten und zu ſchaffen wußten, und ſahen ſie, daß ſie mich damit zufrieden ſtellten, ſo ſtrahlte eine Genugthuung aus ihren hellen Augen, daß ich ſelber mich zufrieden fühlte. Nur Einer machte eine Ausnahme von der übrigen Familie, aber es war ihm nicht zu widerſtehen in fei- ner feurigen Lebendigkeit. |

Boris Michailowitſch unterbrach ſich, und fagte dann mit einem Ausdrucke, den ich mir damals nicht gleich zu deuten wußte: Nun, Sie haben den Bur⸗ ſchen ja vor drei Jahren kennen lernen und mögen Sich vorſtellen, was er in ſeinem eilften Jahre geweſen iſt! Das Ideal eines knabenhaften Antinous! Die freie, breite Bruſt, der ſchlanke und doch ſtarke Bau des ganzen Leibes, die weit offenen, blitzenden Augen und das damals noch goldbraune Haar bei der ſatten Farbe ſeiner Haut waren auffallend ſchön. Nicht mit zu lachen, wenn er die vollen Lippen öffnete und ſeine Zähne ſichtbar wurden, hätte man ein Cato ſein müſſen, und er hörte nicht auf zu lachen, wie er nicht

aufhörte, zu fragen. Alles erregte ſeine Verwunde— 12*

180

rung: von meinem Reiſeplaid bis zu dem kleinſten Geräthe in meiner Reiſetoilette. Er ging nicht von meiner Seite, ich war der erſte Fremde, der in's Haus kam, ich war ein Wunder für ihn; und da die Frauen ihm, als dem Jüngſten und dem einzigen Sohne, ſei⸗ nen Willen thaten, drängte er ſie bald alle auf die Seite, um mich ausſchließlich zu bedienen, ſoweit ſeine Kraft und ſein Geſchick dafür ausreichten. Von früh bis ſpät war er an meiner Seite. Er kannte weit herum die Wege, und Gaſſer ſelber hatte mir geſagt, daß ich mich, wenn es nicht eben hoch hinauf gehe, der Führung des Burſchen unbedenklich über⸗ laſſen dürfe. So ſtrichen wir denn die Tage hindurch in der Gegend umher, und ich fand mehr und mehr Gefallen an des Knaben Geſellſchaft. Ich hatte mich niemals mit einem Kinde andauernd beſchäftigt, nie ein Kind genau beobachtet. Zum erſten Male trat mir die urſprüngliche Menſchennatur, wie ſie ſich in einem gutgearteten Kinde offenbart, rein und unver⸗ fälſcht entgegen. Die unſchuldige Freude, die auf⸗ richtige und ſtets ſchnell vorübergehende Traurigkeit des Knaben bewegten mich zu einer Theilnahme, welche die größten Kunſtleiſtungen der erſten Bühnenkünſtler mir nicht mehr erregen konnten. Ich lachte mit

181

Joſef, wie ich ſeit meiner eigenen Kindheit nicht mehr gelacht hatte; ich lehrte ihn Knabenſpiele, ich empfand ſelbſt wieder ein Vergnügen an ihnen, und als er an einem Mittage im Walde, während wir raſteten, an meiner Seite auf dem Raſen einſchlief, kam eine ganz neue und mir völlig fremde Empfindung über mich. Ich zog den Buben an mich heran, ich legte ſein Haupt auf meine Kniee, ich genoß an dem Anblick dieſes ſanft ſchlafenden Knaben, den ich bewachte, eine Freude, ich fühlte eine Wärme in meinem Her⸗ zen, deren ich mich gar nicht mehr für fähig gehalten hatte.

Meine Abreiſe war für den nächſten Tag beſtimmt. Gaſſer ſollte mich zurückführen bis zu dem Punkte, von welchem ich mit Fuhrwerk in den Bereich der Eiſenbahnen gelangen konnte; aber als der Morgen aubrach, als mein Gepäck zuſammengenommen wurde und ich Allen Lebewohl geſagt hatte, umfaßte Joſef mit beiden Armen meine Kniee und verſicherte wei- nend und ſchreiend: ich dürfe nicht fortgehen, ich dürfe durchaus nicht fortgehen, oder er wolle mit mir gehen. Die Mutter, der Onkel ſuchten ihn zurückzu⸗ halten, ihn mit tröſtenden Vorſtellungen und endlich mit drohendem Schelten zu beruhigen. Scheltet's

182

nur, rief er, ich find' ihn ſchon aus! Wenn Ihr mich auch zurückhalten thut, ich find' ihn ſchon aus!

Dieſe Anhänglichkeit, ja, ſelbſt ſeine leidenſchaft⸗ liche Wildheit entzückten mich. Laßt ihn noch bis morgen Abend mit uns gehen, ſagte ich, und ſchon in der Stunde dämmerte in mir der Gedanke auf, den Knaben bei mir zu behalten; aber erſt die Lebhaftig⸗ keit, mit welcher er von dem Neuen ergriffen wurde, das ihm entgegentrat, ſobald er ſeine nächſte Heimath verlaſſen hatte, beſtimmte meinen Entſchluß. Ich hatte auf Reiſen mitunter ſehr unterrichtete Freunde, ſehr liebenswürdige Frauen zu Gefährten gehabt: Keiner von ihnen allen hatte mich in ſo beſtändiger Anregung erhalten, als dieſer von Natur begabte und wißbegierige Knabe. Genug, um es kurz zu machen L als wir die Berge hinter uns hatten und Gaſſer mit ſeinem Neffen, nachdem ſie die Nacht mit mir im Gaſthofe zugebracht, den Heimweg antreten wollte, machte ich ihm den Vorſchlag, Joſef bei mir zu laſſen, ſo lange ich im Lande bliebe, und verſprach, ihn, ehe ich weitergehen würde, ſelber bei der Mutter abzulie⸗ fern oder dem Oheim anzuzeigen, wo ich ſei und von wo er den Knaben abzuholen habe. 1

Nach kurzer Ueberlezung ging der Alte auf mein

183

Anerbieten ein. Er fand Fremde, die er in das Ge— birge zu führen hatte, Joſef blieb bei mir, und jenes Wohlbehagen, das ich zuerſt empfunden hatte, als ich ihn ſchlafen ſehen, ſteigerte ſich, nun er mir allein überlaſſen war und gleichſam mir gehörte, mit jedem Tage. Ich hatte bis dahin nur Dienſte gefordert und empfangen, nun fing ich an, mich in der Sorge um den mir anvertrauten Knaben ihm unwillkürlich dienſtbar zu machen. Ich dachte nicht mehr ganz ausſchließlich an mich, ich hatte auch für ihn zu den⸗ ken, und während ich mir ſagte, daß es ein rein ſelbſt⸗ ſüchtiger Beweggrund geweſen ſei, der mich bewogen habe, mir Joſef's erheiternde Geſellſchaft für einige Tage zu ſichern, war zum erſten Male eine Zuneigung in meiner Seele erweckt worden, die wie die Liebe beglückte, ohne wie fie aufzuregen und zu beunruhigen.

Viertes Capitel.

Ich blieb in dem kleinen Curorte, den ich beſuchte, länger als ich es irgend beabſichtigt hatte, und mußte mir ſchließlich geſtehen, daß die Scheu, mich von dem Knaben zu trennen, mich noch immer in dem Bade feſthielt, als die ganze übrige Geſellſchaft es ſchon zu verlaſſen begann. Ohne es zu wiſſen und zu wol⸗ len, hatte Joſef mit ſeiner Lernbegierde mich zu ſei⸗ nem Lehrer gemacht. Er wurde nicht müde zu fragen, und jede meiner Antworten führte ihn vorwärts, wie meine Sorgfalt für ihn neue Quellen der Zärtlichkeit in ſeinem Gemüthe eröffnete; denn es iſt ein großer Unterſchied in der Art und Weiſe, in welcher unſere Liebe und die Liebe der weniger gebildeten und ver⸗ feinerten Menſchen ſich ausdrückt. Joſef war Anfangs völlig verwundert, wenn ich ihn mit einem Liebesworte nannte, aber es machte ſein ganzes Antlitz doch vor

185

Liebe ſtrahlen; und ſchneller noch als fein Verſtand, entwickelte ſich in meiner Pflege ſein Herz, ſo daß ich nicht mehr daran denken mochte, ihn von mir zu thun oder ihn zu entbehren, denn ſeine Liebe für mich, die ſich ganz leidenſchaftlich zeigte, war mir zu einem wirklichen Troſte geworden.

Ich ſchrieb denn endlich an ſeinen Onkel, ob er und die Mutter damit einverſtanden wären, mir den Knaben zu überlaſſen, für deſſen Erziehung und für deſſen Fortkommen ich zu ſorgen verſprach. Man machte Anfangs Einwendungen. Nicht, daß die Mut⸗ ter ihre Liebe und ihre Scheu vor der Trennung eben hoch angeſchlagen hätte! Man iſt es in jenen Stän- den gewohnt, daß die Kinder ſich früh auf die eigenen Füße ſtellen und ihres Weges gehen; aber ſie gab es zu bedenken, daß Joſef ihr einziger Sohn ſei, und daß ſie alſo darauf gerechnet habe, in ihm ein⸗ mal ihre Stütze zu finden. Gehe er mit mir, ſo werde ihm natürlich gar nichts fehlen, er werde jedoch die Seinigen vergeſſen und die Mutter bleibe dann auf die Töchter angewieſen, die doch wohl heirathen und alſo auch nicht ewig bei ihr bleiben würden. Gegen dieſe Einwendungen war nun leichtlich Rath zu ſchaf⸗ fen. Ich legte bei den Gerichten eine mäßige Summe

186

nieder, deren Zinſen Joſef's Mutter lebenslang genie⸗ ßen ſollte, und ohne von den Seinen irgend eine feſte Zuſage zu verlangen, nahm ich nach erhaltener Zu⸗ ſtimmung ihn dann weiter mit mir fort. Ich hatte noch keine beſtimmten Abſichten mit ihm, und hatte ich etwa einen dunkeln Plan für ſeine Zukunft, ſo war es der, ihn in eine Erziehungsanſtalt zu thun, wenn es mir nicht mehr Vergnügen machen würde, ihn um mich zu haben, und ihm dann ſpäter einen ihm an⸗ gemeſſenen Lebensweg zu eröffnen.

Indeß gleich von dem Augenblicke an, in welchem ich mich mit ihm aus ſeinem Heimathlande entfernte, fing die Sorge für ihn, beſtimmend auf mein eigenes Leben einzuwirken an. Ich hatte einige Zeit in Oeſterreich zu bleiben gedacht, aber weil ich wollte, daß er mit der Landestracht auch den Dialekt ſeiner Berge baldmöglichſt ablegen ſollte, ging ich mit ihm nach dem Norden von Deutſchland und zwar zunächſt nach einer kleineren Stadt, damit die Maſſe der neuen Eindrücke nicht zu überwältigend auf ihn eindringen ſollte.

Es war der erſte Winter meines Lebens, den ich in einer faſt vollſtändigen Einſamkeit zubrachte, allein mit meinen Studien und mit der Erziehung meines

187

Joſef beſchäftigt, und dieſe Ruhe that mir ungewöhn⸗ lich wohl. Ich fühlte nicht mehr die Raſtloſigkeit, welche mich ſonſt von einem Orte nach dem anderen getrieben hatte; ich ließ meinen Diener, ließ einen Theil meiner Sachen kommen und richtete mich auf ein längeres Verweilen ein, weil mir dies für meinen Pflegling als das Gebotene erſchien.

Wie mir der Knabe durch ſeine Hingabe an mich in das Herz gewachſen iſt, wie die ſchöne Entwicklung ſeiner Eigenſchaften mich an ihn gefeſſelt hat, will ich Ihnen nicht ausführlich beſchreiben. Ich konnte bald nicht mehr ohne ihn ſein, denn ich dankte es ihm, daß ich eine uneigennützige Liebe kennen lernen und daß ich um ſeinetwillen wieder mit lebendigen Hoff⸗ nungen in die Zukunft ſah. Je älter er wurde, je jünger fühlte ich mich in ihm und mit ihm werden. Ich konnte es vergeſſen, mit welch verachtendem Zwei⸗ fel ich die Menſchheit betrachtet, wenn ich ſah, wie vertrauensvoll er glaubte; und weil ich mich erinnerte, wie die finſtere, launenhafte Herbigkeit meines Vaters meine Jugend verbittert hatte, fing ich an, mich zu einem Gleichmuthe und zu einer Gemeſſenheit zu ge— wöhnen, die zu erreichen ich früher nicht für möglich, oder auch nur für nöthig erachtet hatte.

183

Weil ich den Körper meines Pfleglings anszubil⸗ den wünſchte, wurde ich ſelbſt zu Uebungen und An⸗ ſtrengungen geführt, die ich ſeit Jahren aufgegeben hatte. Ich machte ſtarke Wege mit ihm, ich ritt, ich ſchwamm mit ihm, ich kräftigte mich auf's Neue, wäh⸗ rend ich ihn geſund zu erhalten ſtrebte; und wenn ſich in ihm mit jedem Jahre mehr die Dankbarkeit gegen mich ſteigerte, ſo wußte er nicht, ja, er konnte es nicht einmal ahnen, was ich ihm zu danken hatte. Wäh⸗ rend er mich als ſeinen Wohlthäter betrachtete, war er thatſächlich der meinige geworden, denn der Hin⸗ blick auf ſeine reine und ſchöne Natur hatte mir die Liebe und das Vertrauen zu der Menſchheit wieder⸗ gegeben. }

Als er achtzehn Jahre alt geworden war und ich ihn in die Geſellſchaft der großen Hauptſtädte ein⸗ führte, von der ich ſelbſt mich um ſeinetwillen lange fern gehalten, genoß ich das Wohlgefallen, welches er erregte, wie einen eigenen Triumph, denn ich durfte mir ſagen, ſo wie Joſef jetzt iſt, iſt er mein Werk und mein eigen; und da man ihn überall für meinen Sohn hielt und ihn wie einen ſolchen liebte, beſchloß ich nach reiflicher Ueberlegung endlich, ihn auch als ſolchen anzunehmen. Ich that mir ſelber genug da⸗

189

mit, ich dachte gern daran, in ihm und durch ihn meinen Namen erhalten und fortgepflanzt zu ſehen, und von einem Geſchlechte fortgepflanzt zu ſehen, deſſen Vergangenheit nicht von den ſchwarzen Erinnerungen befleckt war, welche an dem Andenken meiner Ahnen hafteten.

Ich war faſt achtundreißig Jahre alt geweſen, als ich den Knaben mit mir nahm, und es ſtand bei mir feſt, daß ich mich nicht mehr verheirathen würde, als ich ihn in ſeinem zwanzigſten Jahre in aller Form adoptirte. Dieſe Wendung ſeines Geſchickes hatte Joſef natürlich nie erwarten dürfen, und ich werde es nicht vergeſſen, wie er, als ich ihm mein Vorhaben kund gab, in dunkler Röthe aufflammte, einen Augen⸗ blick ſprachlos vor mir ſtehen blieb, um ſich mir dann unter hervorbrechenden Freudenthränen mit dem Ausrufe: Ich werde Dir keine Schande machen, mein Vater, mein geliebter Vater! an die Bruſt zu werfen. i 8 |

Boris Michailowitſch nahm die Brille ab und putzte ihre Gläſer mit dem Taſchentuche. Es mochte ein feuchter Hauch die klaren Kryſtalle getrübt haben.

„Wenn es einen Gott gäbe,“ ſagte er, indem er die Brille wieder aufſetzte und mich betrachtete, als

190 |

ob ich feine Gefühlswallung etwa wahrgenommen hätte, wenn es einen Gott gäbe, allgütig und allmächtig, wie der Glaube ihn ſich vorſtellt, müßte er zugleich der Inbegriff des höchſten Glückes ſein; denn es iſt

ein wundervoll erhabenes Gefühl, ein Weſen vor ſich

zu ſehen, deſſen Glückesſchöpfer man durch ſeinen freien Entſchluß geworden iſt. Und ich habe dieſes Glück genoſſen, völlig ungetrübt. Sie haben es wohl ſelbſt geſehen, als wir damals im Gebirge ſo uner⸗ wartet zuſammentrafen. Es konnte kein beglückenderes Verhältniß zwiſchen Sohn und Vater geben, und es war nicht meines Sohnes Schuld, daß es für eine gewiſſe, für eine ganz kurze Zeit einmal getrübt ward.

Vielleicht, ſo hob er mit ſeinem feinen Lächeln an, vielleicht wiſſen Sie von den Dingen, die ich Ihnen jetzt zu erzählen habe, eben ſo viel, als ich ſelbſt, denn Sie ſind ſcharfſichtig, und Joſef hatte ſich ſehr an Sie angeſchloſſen; aber hätte ich nicht immer begriffen, welch ein mißlich Ding es um das Plane- machen iſt, ſo hätte ich es damals lernen können, als ich eben wieder einmal angefangen hatte, mich jener unfruchtbaren Beſchäftigung zu überlaſſen.

Es war nämlich von dem Tage ab, an welchem

191

ich Joſef als meinen Sohn erklären laſſen, ein neues Bedauern über die Heimathloſigkeit in mir rege ge- worden, zu der ich mich freiwillig verdammt hatte. Ich hatte den Unſegen dieſer Vogelfreiheit, welche uns zu Egoiſten macht, weil ſie uns von jedem dauernden und langſam fördernden, auf ein beſtimmtes Ziel ge⸗ richteten Zuſammenwirken mit Anderen entbindet, an mir ſelber kennen lernen; ich wünſchte alſo meinen Sohn davor zu wahren, und da ſich eben in dieſer Zeit bei uns in Rußland die Aufhebung der Leibeigen⸗ ſchaft vorbereitete und vollzog, wendete ſich mein Blick dorthin zurück, wo jetzt tüchtigen Kräften und einer einſichtigen Menſchen⸗ und Vaterlandsliebe plötzlich ein Feld für eine erſprießliche Thätigkeit eröffnet zu werden ſchien. Die Güter waren in dem Augenblicke billig, meiner Rückkehr ſtand nichts mehr im Wege, meine Schweſter mahnte unabläſſig an dieſelbe, meine Reiſeluſt und mein Wohlgefallen an meiner ſogenann⸗ ten Freiheit waren gering geworden, und ich betraf mich zum Oefteren auf Träumereien, die ſich heimwärts wendeten. Es war häufig zwiſchen mir und meinem Sohne die Rede davon geweſen, daß ich ihm Rußland, daß ich ihm die Orte einmal zeigen würde, in denen ich meine Kindheit und Jugend verlebt hatte; des

192

Ruſſiſchen war er völlig Herr, und da er eine ange⸗ borene Neigung für das Leben in der freien Natur beſaß und immer gewünſcht hatte, eine Gutswirth⸗ ſchaft zu führen, hatte ich ihn die dahin einſchlagen⸗ den landwirthſchaftlichen Studien auf NE Aka⸗ demieen treiben laſſen.

Fünftes Capitel.

So ſtanden die Sachen, und ich war noch zu keiner Entſcheidung gelangt, als die Gräfin Alderberg oben bei uns im Gebirge erſchien. Sie erinnern ſich des Morgens vielleicht. Wir ſaßen vor dem Hotel unter der Veranda beim Frühſtück, als der ſchwer bepackte Wagen vor dem Hauſe hielt und die Gräfin, ſo wie ſie nur den Fuß zur Erde geſetzt und mich er⸗ blickt hatte, mit der Verſicherung auf mich zueilte, daß ſie nur hinaufgekommen ſei, um mich einmal wieder⸗ zuſehen, und um mir die Grüße meiner Schweſter zu bringen, die vor Sehnſucht nach mir gar nicht mehr leben könne.

Noch ehe ſie in das Haus getreten war, hatte ich von ihr eine Reihe der auffälligſten Anekdoten er⸗ fahren, die zwiſchen dem Bottniſchen Meerbuſen und dem

Schwarzen Meere von ſchönen Lippen aus einem Saale Fanny Lewald, Neue Erzählungen. 13

194

in den andern getragen wurden, und ich konnte mich ſchon in dieſer erſten Viertelſtunde überzeugen, daß ich bei dieſer Colportage nicht zu kurz gekommen ſei. In⸗ deß ich kannte die lebhafte Phantaſie meiner reizenden Landsmännin; ich wußte auch, daß ſie meine Schweſter ſeit Jahr und Tag nicht mehr geſehen hatte, und durfte überzeugt ſein, daß meine Anweſenheit in dem Gebirge unmöglich ein Grund nn fein fonnte, fie dorthin zu führen.

Ich war froh, als wir ſie unter Dach und Fach gebracht hatten, was bei ihren nicht geringen An⸗ ſprüchen für ſich und die ſie begleitende Nichte, und für ihre Dienerſchaft und für ihre beiden Hunde, in dem überfüllten Hauſe keine Kleinigkeit war; und erſt als ich im Fortgehen aus ihrem Salon die Augen noch einmal auf ihre Nichte warf, fiel es mir auf, welche vollendete Regelmäßigkeit die Geſichtsformen des ſchweigſamen jungen Mädchens hatten, das ich bis⸗ dahin vor der phantaſtiſchen Lebendigkeit der Gräfin kaum gewahr worden war.

Ich mußte unwillkürlich lachen, als ich die Treppe aus dem erſten Stockwerke zu meiner Wohnung hin⸗ abſtieg, denn die Herzlichkeit, mit welcher die Gräfin mich, weil es ihr eben jetzt bequem war, ihren Vetter

195

nannte, beluftigte mich, da fo gut wie gar feine Vers wandtſchaft zwiſchen uns vorhanden war. Anna An- drajewna war eine Tochter von meines Schwagers Schweſter und dadurch allerdings die Nichte meiner Schweſter; aber wenn ich hülfsbedürftig oder in übler Lage zu ihr gekommen wäre, hätte fie ſich unſerer ſo⸗ genannten Verwandtſchaft vielleicht weniger ſchnell er⸗ innert. Die mehr oder weniger günſtigen Umſtände, in welchen wir uns befinden, üben nun einmal häufig einen großen Einfluß auf das Gedächtniß vermögen und auf den Familienſinn der lieben Unſeren aus. Ich hatte indeß gar nichts dagegen, mit der Gräfin, die ich kurz nach ihrer Verheirathung einmal im Auslande flüchtig ken⸗ nen gelernt hatte und die ich dann in Rußland ver- ſchiedentlich wiedergeſehen, auf das Neue zuſammenzu⸗ treffen, und die Gefahr eines zu langen Verweilens an demſelben Orte hatte man im Allgemeinen nie von ihr zu fürchten.

Die Gräfin war eine geborene Fürſtin Agarew und die Jüngſte von einem Corps von Schweſtern. Ihr Vater war ein vortrefflicher Soldat geweſen und frühzeitig geſtorben, ohne ſeiner Frau etwas Anderes zu hinterlaſſen, als einen glänzenden Namen und die Sorge für ihre Schaar von Töchtern. Man hatte

13*

196

der Wittwe alſo ein Palaſtamt bei einer der Groß⸗ fürſtinnen ausgemittelt und die ganze Schweſterſchaft in die Krons⸗Inſtitute zur Erziehung untergebracht. Aber in den Erziehungs-Anftalten kann man nicht f ewig bleiben, und Anna Andrajewna, die lebhafteſte

der Schweſtern, die das regelmäßige Leben in dem Inſtitute vermuthlich ſehr wenig nach ihrem Geſchmack fand, wird ſich wohl bei Zeiten die Frage aufgewor⸗ fen haben, was aus ihr werden ſolle, wenn ſie ein⸗ mal mit all den glänzenden Zeugniſſen, die ihre leichte Auffaſſungsgabe ihr eintrug, und mit ihrem großen Namen aus dem Inſtitute werde ſcheiden müſſen. Die älteren Schweſtern waren als Hofdamen einge⸗ ſchrieben, und damit war ihnen eine kleine Warte⸗ Penſion und eine mäßige Mitgift für den Fall ihrer Verheirathung geſichert worden. Eine und die An⸗ dere hatte man allmälig auch an den Mann gebracht; die übrigen hielten ſich unterdeſſen bei verſchiedenen Verwandten auf dem Lande auf, des Augenblicks ge⸗ wärtig, der ſie bei einer eintretenden Vacanz in eine Hofdamenſtelle und nach Petersburg rufen ſollte. Aber weder die Briefe, welche die verheiratheten Schweſtern aus den entlegenen Garniſonen und Stationsorten ihrer Männer ſchrieben, noch die Schilderungen jener ande⸗

197

ren, die im Inneren des Landes auf den Gütern bei den Verwandten wohnten, machten Anna Andrajewna Luſt zu einem gleichen Looſe. Sie war bei all ihrer Jugend und Lebhaftigkeit klug und eine Beobachterin; ihr Spiegel gab ihr daneben guten Muth, und ſie hatte es ſehr bald bemerkt, wie der alte Graf Alder- berg, der Präſident der Prüfungs⸗Commiſſionen für die weiblichen Erziehungs⸗Anſtalten, ſie achtſam durch ſeine Lorgnette anſah, ſo oft er ſich zu den Examen in dem Inſtitute einfand. Ihr gefälliges Organ, ihre belebte Declamation, die ſie beſtändig und vorzugs⸗ weiſe an ihn richtete, erhielten jedes Mal ſein beſon⸗ deres Lob; die Dankbarkeit, mit welcher ſie dieſes auf⸗ nahm, gab dem alten Herrn eine gute Meinung von dem Charakter des jungen Mädchens, und als Anna die Claſſen durchgemacht hatte, war es die Vermitt⸗ lung des Generals, welche ſie als Geſellſchafterin in das Haus ſeiner verwittweten kranken Schweſter brachte, bei der er allabendlich ein Plauderſtündchen abzuhal⸗ ten pflegte, ehe er in die Welt und in die Theater fuhr. Anna Andrajewna machte dort die Honneurs, und anderthalb Jahr, nachdem ſie die Stelle bei der Gräfin angetreten hatte, verließ das achtzehnjährige Mädchen das Haus derſelben, und erſchien plötzlich

198

als Gräfin Alderberg an der Seite ihres hochbetagten Gatten in der Geſellſchaft und am Hofe.

Der gute Graf, wie Anna ihn beſtändig nannte, war das Muſter eines greiſen Ehemannes. Seine junge Frau hatte eine völlige Herrſchaft über ihn, Alles geſchah, wie ſie es wünſchte; man war viel auf Reiſen, und er trieb die Rückſicht für ſie ſo weit, mit einem plötzlichen Tode von dem Leben zu ſcheiden, noch ehe er angefangen hatte, ſeiner reizenden Gattin beſchwerlich zu erſcheinen. Nun hatte die ſchöne junge Wittwe, der das ganze, ſehr bedeutende Vermögen ihres Mannes zugeſichert worden war, völlig freie Hand, und ſie benutzte das auf ihre Weiſe. Sie hatte niemals lebhafte Sinne oder ein beſonders war⸗ mes Herz gehabt; ſie war alſo vor Liebeshändeln, welche ihr und ihrem Rufe gefährlich werden konnten, ein⸗ für allemal ſicher. Sie verlangte nach Anbetern, nicht nach Liebhabern; man brauchte ſie nicht zu lieben, man mußte ſie nur unterhalten, von ihr ſprechen, mit ihr allein beſchäftigt ſcheinen und ſich ihr anſchließen, während man ihr ihre Freiheit ließ; denn jeder Zwang und jede Gebundenheit waren ihr, wie ſie es einem Jeden verſicherte, ein- für allemal verhaßt, nachdem ſie den Reiz der Freiheit erſt gekoſtet hatte. Sie

199

ſchien nur Eine Leidenſchaft zu haben: eine gewiſſe fröhliche Eitelkeit. Sie wollte auffallen, von ſich re⸗ den machen, überraſchen, und um dies zu thun, ver⸗ fiel ſie auf einen Geiſt des Widerſpruches, der ſie weiter und weiter trieb und ſie vielleicht zu großen Thorheiten verleitet haben würde, hätte man ſie für ein Muſter der Tugend gehalten, was ſie im Grunde war. Man hatte vorausgeſagt, daß fie ſich bald wie- der, und gewiß ſehr vortheilhaft, verheirathen werde; das war genug für ſie, um ſie die glänzendſten Ver⸗ ehrer abweiſen zu machen. Man nahm an, daß ſie ſich in das Leben der großen Welt ſtürzen, wieder auf Reiſen gehen und ſich fraglos compromittiren werde und ſie zog ſich in Begleitung eines betagten Gelehrten auf eines ihrer Güter zurück, um ihre Bildung zu vervollſtändigen, die durch ihre zu frühe Heirath unterbrochen worden war.

Als die Gräfin ein Jahr nach vollendeter Trauer⸗ zeit vom Lande wieder in die Stadt zurückkam, hatte ſie ihr prächtiges, viel bewundertes und beſungenes Haar abgeſchnitten, weil, wie ſie ſagte, das Ordnen ihrer langen Flechten ſie in ihren Studien geſtört hatte; aber die unzähligen Löckchen, die ſie noch heute trägt, ſtanden ihr bei ihrer kleinen Statur weit beſſer, als die großen Friſuren, und zu ihrem kindlichen Ge—

200

fichte bildeten die paradoxen Einfälle, die jetzt, nach⸗ dem ſie ſich als eine gelehrte Frau betrachtete, auf dem Boden ihres unvollſtändigen Wiſſens immer blitz⸗ ſchnell in die Höhe ſchoſſen, einen ſo beluſtigenden Gegenſatz, daß man ſie noch reizender fand, als vor⸗ dem. Ohne daß ſie etwas Gründliches gelernt hatte, ohne eigentlich geiſtreich zu ſein, gelangte ſie in un⸗ ſerer nur auf den Schein geſtellten großen Welt, zu dem Rufe einer genialen Frau, weil ſie ihre wunder⸗ lichen Fragen und ihre noch wunderlicheren Behaup⸗ tungen den Leuten wie Raketen und Schwärmer ſo plötzlich an den Kopf warf, daß grade die Ernſthaf⸗ ten und Beſonnenen, davor erſchreckend, ihre Faſſung verloren und oftmals etwas Verſtändiges gehört zu haben glaubten, wo im Grunde nur eine Grille aus⸗ geſprochen worden war. Aber Niemand trug ihr dies nach, denn trotz ihrer Eitelkeit war die Gräfin keine Egoiſtin, und ſo unvorſichtig ſie ſich, um aufzufallen, in ihren Aeußerungen über ſich ſelbſt bisweilen gehen ließ, war ſie unter Verhältniſſen fähig, eine gute und ſogar eine ſehr verläßliche Freundin für Frauen und für Männer zu ſein. Sie konnte ſich für die Schön⸗ heit einer Frau neidlos begeiſtern, und da die Gelehr⸗ ten, die ſie gefliſſentlich an ſich zog, ſich von ihr gern

201

ein Stündchen unterhalten ließen, wenn fie vom Den⸗ ken müde waren, fo fanden ſich bald auch die Geijt- reichſten unſeres Adels und unſerer Hofleute bei Anna Andrajewna zuſammen, bei der man ſicher war, ſchöne Frauen und berühmte Männer anzutreffen. Es währte denn auch gar nicht lange, bis die anſcheinend nur ihren augenblicklichen Einfällen nachgebende junge Frau einen der beſuchteſten Salons um ſich verſammelt, einen gewiſſen Einfluß gewonnen hatte und zu den Tonangeberinnen von Petersburg gezählt ward. Das ſteigerte ſich noch, ſeit einer ihrer Anbeter ihr den Namen einer „Göttin des Unerwarteten“ gegeben hatte. Mit ſolchem Beinamen gewinnt eine Frau, wenn ſie ihn anzunehmen und auszunutzen verſteht, eine be⸗ ſondere Stellung, und die Gräfin war geſcheidt genug, dies einzuſehen. Indeß eine ſolche Auszeichnung hat auch ihr Beſchwerliches und ihre Gefahren. Sie mußte jetzt um ſo gefliſſentlicher immer etwas Neues, etwas Unerwartetes in Scene ſetzen, um ihrem Bei⸗ namen zu entſprechen, und ſo kam ſie denn auch eines Tages, als man grade mit Gewißheit ihre Heirath mit dem damaligen franzöſiſchen Geſandten erwartete, plötzlich mit einem zwölfjährigen, mageren und finſter ausſehenden Mädchen, der Tochter ihrer älteſten Schwe

202

ſter, angefahren, die fie zu ſich genommen hatte, und an der ſie ſich, wie ſie aller Welt erzählte, eine Stütze für ihr einſames Alter erziehen wolle. Das hatte natürlich in dem Munde einer achtundzwanzigjährigen und ſehr lebensluſtigen Schönen äußerſt komiſch ge⸗ klungen, und meine Schweſter hatte mir davon einmal als von einer Thorheit der Gräfin geſchrieben. Da ich für dieſe aber keine beſondere Theilnahme hegte, hatte ich der Thatſache nie weiter gedacht. An dem Tage jedoch, als Anna Andrajewna mit ihrer Beglei⸗ terin bei uns oben ankam, erinnerte ich mich daran, und als wir an dem Abende an ihrem Theetiſche ſaßen und das ſchöne Mädchen uns den Thee bereitete, fragte ich die Gräſin, wie man ſolch eine Frage mit gleichgültiger Neugier einmal hinwirft: Sagen Sie mir, ich bitte, man hat mir vor Jahren einmal geſchrieben, Sie hätten ein häßliches und unangenehmes Mäd⸗ chen zu ſich genommen, was iſt daraus geworden? Die Gräfin, die, ihre Cigarette rauchend, in einem | Ruheſeſſel lag, warf den Kopf nach hinten und rief mit lautem Lachen: O, das ſind Sie! Das bringt Niemand zu Stande, als Sie, der Sie bei all Ihrem Geiſte mit Ihrer himmliſchen Naivetät nicht umſonſt das enfant terrible des Salons geheißen haben!

203

Darja Feodorowna, ich bitte Dich, mein Engel, be— danke Dich bei Boris Michailowitſch! Das ift un— vergleichlich, unvergleichlich und obenein ſo ex abrupto, und obenein gleich zum Debut! Das iſt wahrhaft unvergleichlich!

Sie konnte der Ausrufe und des Lachens kein Ende finden, denn das Lachen ſtand ihr ganz vorzüg⸗ lich; aber Darja Feodorowna blieb ganz gelaſſen bei ihrer Beſchäftigung und ſagte, ihre ernſthaften Augen ruhig auf die Tante richtend: Warum lachen Sie dar⸗ über, liebe Tante? Haben Sie doch ſelber mir oft geſagt, daß ich ein ſehr häßliches und ſehr unliebens⸗ würdiges Kind geweſen ſei, und daß man mich ſogar in meinem Elternhauſe deshalb hintenangeſetzt habe.

Weil man keine Augen hatte, weil man keinen Schönheitsſinn beſaß! rief die Gräfin. Aber mit et⸗ was Scharfblick, mit etwas phrenologiſchem Scharfblick iſt es nicht ſchwer, vorauszuſagen, was aus einem Kinde werden wird; und wenn man dazu die richtige Pädagogik anwendet, wenn man alle Kräfte eines Kin⸗ des gleichmäßig entwickelt, kann man nebenher eine förmliche Umwandlung der Naturanlage bewirken. Ich habe Darja ohne alle Verweichlichung wie einen Kna⸗ ben erzogen, und fie hat eine anbetenswerthe Geſund—

204

heit dadurch bekommen. Sie weiß nicht, was Nerven ſind, ſie kennt im Gegenſatz zu ihrer armen, klei⸗ nen Tante keine Ermüdung und keinen Schwindel, keinen Schreck und keine Ahnungen. Sie iſt wie ge⸗ feit, und ich könnte gar nicht leben ohne ſie, die überall für mich mit ihrer Stärke eintritt, wo meine unglück⸗ lichen Nerven mich im Stiche laſſen. Komm, meine Darja, küſſe Dein altes Kind! Ach, Sie glauben nicht, Boris, wie wir die Rollen getauſcht haben; Darja iſt jetzt die Frau im Hauſe und ich bin das Pflegekind!

Die Gräfin ſtreckte dabei ihre Arme nach Darja aus, und ich war nahe daran, die Art und Weiſe, in wel⸗ cher die Gräfin ſich gehen ließ, geſchmacklos zu fin⸗ den; aber Darja's Gleichmuth bei der ganzen kleinen Komödie hatte etwas Auffallendes und Anziehendes. Sie ließ das Gebahren ihrer Pflegemutter ruhig über ſich ergehen, wie einen Luftzug, der an uns vorüber⸗ ſtreicht. Sie wurde nicht verlegen, nicht geſchmeichelt | durch die Erwähnung ihrer guten Eigenschaften, ſie ſah freundlich nach der Gräfin hin, reichte Jedem von uns ſeine Taſſe Thee, und fing an, mit mir und mit Joſef von dem Wege zu ſprechen, den man einſchla⸗ gen müſſe, um am bequemſten den Ort im Gebirge

205

zu erreichen, nach dem die Gräfin eigentlich zu gehen beabſichtigte. |

Als wir die Frauen dann verließen, erkundigte ſich Joſef, für wie alt ich die Beiden hielte.

Die Gräfin muß in der Mitte der dreißiger Jahre ſein, und danach würde Darja im neunzehnten Jahre ſtehen, ſagte ich.

Darja iſt ſchön! meinte er; und ſie hat eine ſo beſondere Schönheit, daß man ſie immerfort anſehen muß, um es ſich einzuprägen, wie ſie denn eigentlich ausſieht, um es ſich klar zu machen, worin ihre Be— ſonderheit beſteht.

Er ſprach lange von ihr, ſie hatte offenbar einen großen Eindruck auf ihn gemacht; auch mir war ſie ſehr anziehend erſchienen, aber wie ausſchließlich ſie mich beſchäftigt hatte, bemerkte ich erſt, als Joſef an⸗ fing, von all den kleinen Geſchichten zu ſprechen, mit denen die Gräfin uns unterhalten und die ich voll⸗ kommen überhört hatte. Sie erinnern ſich Darja's zu⸗ verläſſig, denn Sie haben einmal ſelber die Beobachtung gemacht, daß ſie wie das ideale Urbild einer byzantiſchen Madonna ausſähe. Die ſcharf gezeichneten Brauen, die feinen Linien der Naſe und des kleinen Mundes, die großen Augen mit den breiten Lidern, ſelbſt ihre Hautfarbe

206

hatten etwas durchaus Fremdartiges; und dieſer Ein- druck der Fremdartigkeit ſteigerte ſich, wenn man ſie die Obliegenheiten des täglichen Lebens vollbringen ſah. Mehr noch, als ihre Schönheit aber hatte ihre ſanfte, volle Altſtimme mich entzückt. Jeder Ton der⸗ ſelben drang tief aus ihrer Bruſt empor. Sie ſprach dabei gegen die Gewohnheit unſerer ruſſiſchen Frauen langſam, als wolle ſie der Stimme Zeit laſſen, bei jedem Worte in dem Ohre des Hörers auszuklingen, und weil ſie wenig ſprach, achtete man auf dieſes We⸗ nige und konnte bemerken, daß ſie immer etwas Ver⸗ ſtändiges ſagte, immer das Schickliche und das Rich⸗ tige traf.

Sechſtes Capitel.

Wir ſahen die beiden Frauen in der Regel nur an der Mittagstafel und wenn wir Abends den Thee bei ihnen tranken, denn die Gräfin kam wenig in das Freie. Es war mit ihrer leidenſchaftlichen Naturbe⸗ wunderung wie mit allem, was ſie leidenſchaftlich zu wünſchen oder zu lieben vorgab. Sie war gewöhnlich damit fertig, wenn fie es ausgeſprochen hatte. Es ge- nügte ihr alſo vollkommen, zu wiſſen, daß ſie ſich in einer Gegend befände, die von Anderen bewundert wurde und die ſie daher auch zu bewundern habe; ſie wich um deshalb von ihren petersburger Lebensge⸗ wohnheiten nicht ab. Sie wachte in ihren Zimmern bei ihren ſogenannten Studien und einem höchſt aus⸗ gedehnten Briefwechſel bis tief in die Nächte hinein, erhob ſich am Morgen erſt, wenn es Zeit war, ſich für den Mittagstiſch anzukleiden, und zog ſich nach

208

demſelben in ihre Zimmer zurück, weil fie die Sonne nicht ertragen zu können behauptete. Darja mußte natürlich dieſe Lebensweiſe theilen, und ſie that das, ohne ſich im geringſten darüber zu beſchweren. Sie war immer gleich rückſichtsvoll für die Gräfin, gleich zutraulich mit Joſef wie mit mir, ſtets bemüht, es uns neben ihrer Tante bequem zu machen, und völlig ohne jeden Anſpruch für ſich ſelbſt. Die Folge davon war, daß man ſich bald gewöhnte, mit ihr wie mit einem Freunde oder wie mit einer weit älteren Frau zu ver⸗ kehren, und ſie ſchien es denn auch nicht auffallend zu finden, daß man ihr nicht wie anderen jungen Mädchen begegnete, ihr nicht ſo huldigte, wie ihre Schönheit es verdiente. Das war aber im Grunde ſehr natürlich, weil die Gräfin alle Aufmerkſamkeit für ſich begehrte, und Jeden, der in ihre Nähe kam, völlig für ſich in Beſchlag nahm. Sie hatte deß auch gar kein Hehl, wie denn überhaupt ihre kluge Taktik darin beſtand, allen nachtheiligen Bemerkungen, die man etwa über ſie hätte machen können, im voraus die Spitze abzubrechen, indem ſie ihre Fehler lachend eingeſtand, und alles dasjenige von ſich offen ausſagte, was andere Frauen, wenn ſie es empfinden, vorſichtig verbergen. Sie gab damit dem Ungewöhnlichſten und

209

Gewagteſten den Anſtrich des Unbedachten und des Harm— loſen, während ſie ihre Rechte doch ſtets im Auge hielt.

Wiſſen Sie, Boris, ſagte ſie plötzlich eines Abends, nachdem wir etwa vierzehn Tage beiſammen geweſen waren, ich wundere mich an jedem Morgen, daß ich es immer noch hier oben, in dieſem abſtracten Natur⸗ genuſſe aushalte, und jeden Abend, daß ich Sie wieder an meinem Theetiſche ſehe; denn Beides iſt ſo durch— aus planlos.

Ich fragte ſie, was ſie damit meine.

Ich denke, das iſt leicht verſtändlich! entgegnete fie. Als ich hier herauf kam, geſchah es aus Neu⸗ gierde. Ich wollte ſehen, was aus Ihnen geworden wäre; denn Sie werden es wiſſen, als ich bei Ihrer letzten Rückkehr nach Rußland mit Ihnen zuſammen⸗ traf, hatte ich eine Leidenſchaft für Sie, und wir Frauen vergeſſen den Mann nicht leicht, der uns ein⸗ mal Liebe eingeflößt hat.

Sie ſagte das hin mit dem Tone und der Miene, mit welcher man erzählen würde, daß man einmal ein Klei⸗ dungsſtück beſeſſen und aufgehoben oder fortgethan habe, und ſie ließ mir auch gar keine Zeit, ihr meine große Ueber⸗ raſchung auszudrücken, denn von dieſer vorgeblichen Leiden⸗ ſchaft hatte weder ich noch ſonſt Jemand e gehabt.

Fanny Lewald, Neue Erzählungen.

210

O, Sie haben einen weit größeren Einfluß auf mein Leben ausgeübt, als Sie wiſſen! fuhr ſie fort; denn nur Ihr Beiſpiel hat mich, da ich fühlte, daß ich Ihre Neigung nie für mich gewinnen würde, ſpä⸗ ter dahin gebracht, Darja Feodorowna zu mir zu nehmen und mir eine Tochter zu erwerben, wie Sie Sich einen Sohn erworben hatten durch freie An⸗ eignung. Ich glaube aber, wir haben damit Beide eine Dummheit gemacht und ohne Vorausſicht für uns ſelbſt gehandelt.

Dieſe Art der vertraulichen Mittheilung war mir keinesweges angenehm. Ich weiß nicht, Anna Andra⸗ jewna, entgegnete ich, ob und wie Sie Sich in Ihrer Wahl und in Ihren Erwartungen getäuſcht haben mögen; ich kann Ihnen aber verſichern, daß ich mich meines Joſef's noch an jedem Tage freue.

Ihres Joſef's! Ihres Joſef's! wiederholte ſie, das Wort betonend. Thun Sie, Sie, der einftige Vorkämpfer für die Emanzipation der Leibeigenen, doch wirklich, als ob Joſef Ihr Leibeigner wäre! Wie lange denken Sie denn, daß er noch Ihr Joſef blei⸗ ben wird? Glauben Sie, daß die Frauen keine Augen haben, daß Sie keine Empfindung mehr haben, weil Sie ſelbſt jetzt keinen Anſpruch mehr an dieſe

211

Empfindung zu machen belieben? Ich gebe mich in Bezug auf Darja keinen ſolchen Einbildungen hin. Meine Darja wird mich verlaſſen, ſobald ſich ihr die ihr zuſagende Gelegenheit dazu bieten wird, eines Anderen Darja zu werden, und Ihr Joſef wird das Gleiche thun. Was wollen Sie denn auch mit ihm machen? Sie werden alt, Boris, ſo gut wie ich. Ihnen wird auch in nicht zu ferner Zeit die weiche, weibliche Hand fehlen, die Ihnen die Kiſſen zurecht legt, wenn Ihre jetzigen Rheumatismen ſich in Gicht verwandelt haben werden. Das iſt keine Lebensaufgabe für einen Mann, kein Amt für einen ſolchen Antinous wie Joſef. Dazu wäre ich gut geweſen, die es früh gelernt hat, einen alten Mann zu pflegen, oder auch eine ſo gelaſſene Seele wie Darja. Und auf der anderen Seite bin ich auch nicht beſſer daran. Was nützt mir Darja eigentlich? Ein junger Mann wie Joſef würde mir ein weit ange⸗ nehmerer, weit zweckmäßigerer Reiſegefährte ſein, als dieſes Mädchen mit all ſeiner Liebe und Geduld. Der lebhafte Frohſinn eines jungen Mannes hat etwas Verjüngendes; ich bin entzückt von Joſef, ich beneide Sie um ihn. Ich bin überzeugt, wir haben Beide

eine falſche Wahl gethan: Ihnen fehlte eine Tochter, 14*

212

mir der Sohn! Und um vor dem letzten ehrlichen Worte nicht zurückzuſchrecken, Ihnen fehlt jetzt mehr als je die Frau, und ich hätte vielleicht auch klüger daran gethan, mir nach dem Tode meines alten, guten Grafen einen jungen Mann zu nehmen. Aber man hat die Einſicht eben nie zur rechten Zeit!

Sie brach plötzlich, und wie immer lachend, in den ſonderbaren Bekenntniſſeu ab, nahm eine Cigarette aus der kleinen Schachtel, die beſtändig auf ihrem Tiſche ſtand, zündete ſie an und ſagte, während ſie den leich⸗ ten Rauch durch die feinen Naſenlöcher blies: Sehen Sie, mein Lieber, ich tröſte mich! Man muß ſich tröſten, wie man kann.

Sie hätte noch lange ſo fortſprechen können, ohne von mir unterbrochen zu werden, denn ſie hatte mich in doppeltem Sinne nachdenklich gemacht. Es lag etwas ſehr Richtiges in ihren Worten. Ich ſel⸗ ber hatte es mir zum Oefteren vorgehalten, daß mein bisheriges Zuſammenleben mit meinem Sohne nicht ewig währen könne und würde. Ich hatte bei manchen Anläſſen an ſeine einſtige Verheirathung gedacht, aber dieſelbe bei ſeiner Jugend und ſeiner ausſchließlichen Liebe für mich nicht eben nahe geglaubt, und grade in dieſem Beiſammenſein mit der ſchönen Darja Feo⸗

213

dorowna hatte die Ruhe, welche er trotz feiner Be— wunderung für ihre Schönheit ihr gegenüber bewahrte, mich in der Beziehung ſicher gemacht. Ein paar Ge— ſchwiſter konnten nicht zutraulicher, nicht harmloſer mit einander umgehen, als dieſes ſchöne junge Paar. Es hatte zu verſchiedenen Malen mich höchſt angenehm berührt, wie fie einander in den kleinen Mühewaltun⸗ gen für die Gräfin und für mich behülflich waren, wie ſie mit einander in dem guten Willen und der Rückſicht für uns zu wetteifern ſchienen. Es hatte ſich ganz unmerklich eine Art von Familienleben und von Häuslichkeit zwiſchen uns ausgebildet, und ich ertappte mich bisweilen auf dem Wunſche, daß dieſes Beiſammenſein ſich zu einem dauernden geſtalten möge. Mein Wohlgefallen an Darja wuchs mit jedem Tage; die Gräfin behauptete, nie heiterer geweſen zu ſein, als hier oben im Gebirge, Darja war die Anmuth ſelber, und Joſef ſchien mehr und mehr von ihrer Schönheit und von ihrem ſanft entſchloſſenen Weſen hingenommen zu werden. In dieſer ruhigen Weiſe noch ein paar Jahre auf Reiſen zu verleben, danach Darja mit Joſef zu verheirathen und mit ihnen zu⸗ ſammen mich in der Heimath niederzulaſſen, das er— ſchien mir eben ſo wünſchenswerth als verſtändig und

214

ausführbar; aber mitten in dieſen angenehmen Zuſtänden fingen die Verhältniſſe zwiſchen uns ſich in einer Anfangs kaum merklichen Weiſe zu wandeln und zu verſchieben an. |

Die Gräfin beſaß im höchſten Grade jenes Sich- gehenlaſſen, in welchem reife Frauen ſich jüngeren Männern gegenüber ſo wohl gefallen, und übte dieſes auch gegen Joſef aus. Sie ſtellte ſich damit über ihn und gleichſam außer den Bereich ſeiner freiwilli⸗ gen Huldigungen, um dadurch doppelt begehren zu können, was ihr gut dünkte. Sie nannte ihn bei ſei⸗ nem Taufnamen, nannte ihn bisweilen auch „mein Kind,“ und wäre er ihr Pflegeſohn wie Darja ihre Pflegetochter geweſen, ſo hätte ſie die Beiden nicht auf gleicherem Fuße behandeln können. Ich bemerkte das natürlich, aber von meinen Wünſchen beherrſcht, erregte die wachſende Vertraulichkeit zwiſchen Joſef und der Gräfin in mir nur die Vermuthung, daß auch Anna Andrajewna an eine Verbindung zwiſchen unſeren Pflegekindern denke, und ich fand es in der Ordnung, daß Joſef ſich ihr eben deshalb angenehm zu machen ſuchte.

Indeß je länger wir beiſammen waren, deſto ausſchließlicher nahm ſie ihn für ſich in Beſchlag;

215

ſie fing an, ihm das Gute, das fie von ihm dachte, in das Geſicht zu ſagen, ſie ſchmeichelte ihm wie einem Kinde und reizte ihn doch wie einen Mann, ſo daß die Aeußerungen, welche ſie damals gegen mich über ihr verfehltes Leben und über Joſef ge⸗ than hatte, mir allmälig in einem bedenklichen Zu⸗ ſammenhange mit ihrer jetzigen Handlungsweiſe zu erſcheinen begannen. Ich hatte bis dahin geglaubt wir Männer ſind ja alle eitel, ſobald wir den Frauen gegenüber ſtehen Anna Andrajewna habe ein Doppelſpiel im Sinne, und des Wittwenſtandes wie der Geſellſchaft Darja's müde, hege fie die Ab- ſicht, unſere Pflegekinder mit einander zu verheirathen, um dann vielleicht ihre Freiheit mir zum Opfer zu bringen; und ſie gefiel mir in der That jetzt beſſer, als in früheren Zeiten, denn der Grund ihres Charakters war ein durchweg guter. Nun aber wendeten ſich meine Vermuthungen nach einer anderen Seite, und einmal aufmerkſam geworden, fand ich täglich Beſtätigungen dafür, daß nicht ich es war, auf den die Gräfin ihr Augenmerk gerichtet hatte. Sie ließ Joſef kaum mehr von ſich, und mit ihrem unverkennbaren Wohlgefallen an ſeiner Geſellſchaft ſchien ihr Darja's Anweſenheit unbequem zu werden. Sie klagte darüber, daß ihre

216

Nichte ſchwerlebig ſei, daß Darja durchaus nichts mit ſich ſelber anzufangen wiſſe, daß ſie keine eigenen Einfälle, keine eigenen Lebenszwecke habe, und daß ſich an ihr eine Uebellaunigkeit bemerklich mache, die ſich wie ein erkältender Nebel auf jede gute Stim⸗ mung der Anderen lege. Sie meinte, Darja ſei krank, ſprach davon, ſie nach einem Curorte zu ſchicken, und auch ich und Joſef hatten die Veränderung wahrge⸗ nommen, welche mit dem ſchönen Mädchen vorging; aber wir hatten ſie Beide auf die ſitzende Lebensweiſe geſchoben, zu welcher Darja neben ihrer Tante ver⸗ dammt war. Joſef hatte ſogar verſchiedene Verſuche gemacht, Darja zu unſeren Spaziergängen heranzuzie⸗ hen; ſeine Vorſchläge waren jedoch beſtändig mit einer auffallenden Kälte, ja, in einer höhniſchen Weiſe zu⸗ rückgewieſen worden. Er hatte das ſchwer empfunden, hatte ſich fern von ihr gehalten; das war Darja nicht entgangen, und es war eine Verſtimmung zwiſchen den jungen Leuten eingetreten, die ſchnell zunahm und nur noch ſelten durch eine Rückkehr zu dem früheren guten Einvernehmen unterbrochen wurde. Darja wurde immer abgeſchloſſener, die Gräfin, immer hei⸗ terer. Es war natürlich, daß Joſef ſich beſſer mit der Tante als mit der Nichte unterhielt, und eben fo na⸗

217

türlich, daß dieſe meine Gefährtin wurde, wenn bie beiden Anderen ein ſo vollkommenes Genüge an einan⸗ der fanden. Joſef fing über Darja im Tone der Gräfin zu klagen an; auch er nannte ſie launenhaft und ge⸗ müthlos, auch er behauptete, daß es mit ihr ſchwer zu leben ſein müſſe, ja, er warf ihr endlich vor, daß ſie ihn gefliſſentlich kränke und verletze und ich ſah in dem Allem nur den Einfluß, den die Gräfin über ihn gewonnen hatte, und dem ich ein Ende machen mußte.

Es iſt jedoch immer ein ſehr bedenkliches Ding, ein ſolches Abenteuer durch eine plötzliche Trennung zu unterbrechen, wenn die Fluth gerade im Steigen iſt; ich verſuchte alſo, durch ein geſchicktes Laviren den Planen der Gräfin entgegen zu ſteuern, und Joſef's Freude an allen Bergpartieen bot mir dafür eine gute Handhabe. Wir waren oft mehrere Tage abweſend, und einmal eben erſt aus dem Hochgebirge heimge— kehrt, als wir uns vorſetzten, eine der herrlichen Mondſcheinnächte zur Beſteigung der nahen Felſen zu benutzen und dort oben die Sonne aufgehen zu ſehen. Als wir vor den beiden Damen davon ſprachen und es erwähnten, wie wir danach am Morgen unſer Frühſtück in dem Baumesſchatten des Quellgrundes einnehmen, und zur Mittagstafel wieder zurück in un⸗

218

ferem Gafthofe fein wollten, rief Darja, einmal aus ihrer Verſchloſſenheit hervorgehend, lebhaft aus: Ach,

eine ſolche Nacht, ein ſolcher Morgen im Freien, wie

beneide ich Sie darum!

So kommen Sie mit! fiel Joſef augenblicklich ein.

Sie aber ſchüttelte verneinend den ſchönen Kopf und meinte, das ſei nichts für ihre Tante, ſolche An⸗ ſtrengungen ertrage und liebe ihre Tante nicht.

Machen Sie die Partie ohne die Gräfin mit! ſchlug ich vor, weil das arme Mädchen wirklich in der herr- lichſten Gegend wie eine halbe Gefangene lebte. Wir brechen eine Stunde vor Mitternacht von hier auf, und ehe die Gräfin ſich erhebt, ſind wir wieder hier an Ort und Stelle.

Darja ſah die Tante fragend an; dieſe behauptete, daß ſie nichts dawider habe, ihre Nichte mit uns gehen zu laſſen, wenn ich und Joſef ſie betonte dieſes Letzteren Namen ganz ausdrücklich die Be⸗ gleitung ihrer Nichte wünſchten; aber ſie war offenbar empfindlich, und da Joſef bereits gewöhnt war, ſich ihr zu fügen, ſagte er ſchnell entſchloſſen:

Laſſen Sie das Fräulein mit meinem Vater gehen, ich will bei Ihnen bleiben, Frau Gräfin, wenn

ͤ— EEE

219

Sie es nicht vorziehen, was noch viel ſchöner wäre, uns mit dem Fräulein zu begleiten.

Die Gräfin lächelte. Sie vergeſſen, mein Kind, entgegnete ſie, daß ich nicht jung bin, wie Sie und Darja, und nichts weniger als abgehärtet. Ich würde auf halbem Wege liegen bleiben.

Aber wer denkt daran, daß Sie gehen ſollen! wendete Joſef ihr mit Eifer ein. Wir nehmen vier Träger, die Sie abwechſelnd tragen...

Und auf dem Trageſeſſel, in dem Halblichte des Mondſcheins, komme ich vor Schwindel um! verſicherte die Gräfin.

Sie ſollen keinen Schwindel fühlen, Gräfin! be⸗ theuerte er. Ich werde mich immer neben Ihnen an der Seite des Abhanges halten; und wollen Sie Sich denn nicht tragen laſſen, ſo will ich vor Ihnen her⸗ gehen, daß Sie Sich in jedem Augenblicke auf mich ſtützen können, während die Führer Sie halten. Der Weg iſt obenein ohne alle und jede Gefahr. Sie müſſen durchaus dabei ſein! Sie und Darja Feo⸗ dorowna wiſſen ja noch gar nicht, was eine Mond- nacht in den Bergen iſt, und wenn Ihnen dann da oben die Elfenkönigin erſcheinen wird, jo...

Nun, was dann? unterbrach ihn die Gräfin,

220

welcher feine dringenden Bitten eben fo wohl zu ge= fallen ſchienen, als fie mir überraſchend waren. Sie ſah ihn dabei mit ihren ſchönen, halb geſchloſſenen f Augen langſam taſtend an, ſo daß er die Farbe wech⸗ ſelte, und ſich zu ihr neigend, um dieſem Blicke zu entgehen, ergriff er ihre Hand, führte ſie an ſeine Lippen und ſagte haſtig: Wenn ſie Sie ſieht, wird die Elfenkönigin ſagen: Ich danke ab!

Er war dabei wie erſchrocken über ſich ſelbſt und trat ſchnell von der Gräfin wieder fort. Sie war aber in allerbeſter Laune. |

Das iſt nicht übel für einen Anfänger! meinte ſie. Man merkt es, Ihr Joſef iſt bei Ihnen in einer guten Schule geweſen, Boris Michailowitſch! Nun, Sie ſollen ſehen, daß ich nicht leicht ein Spiel ver⸗ derbe. Ich gebe mich gefangen; machen Sie mit mir, was Sie wollen! Beſtellen Sie Führer, Träger, wie es Ihnen gut ſcheint! Mein Teſtament iſt längſt gemacht!

Sie erhob ſich mit den Worten von ihrem Ruhe⸗ bette, reichte ihrer Nichte die Hand und fragte, ob ſie nicht eine kleine, willfährige Tante ſei. Indeß Darja verzog keine Miene, ſagte kein Wort des Dankes, und auch Joſef's Verſicherung, daß er ſich auf die nächt-

221

liche Wanderung von Herzen freue, fand bei ihr fei- nen Wiederhall. Es war nach der heiteren Erregung plötzlich eine noch größere Geſpanntheit in unſeren Anfangs ſo gut geſtimmten Kreis gekommen, und dieſe gab ſich auch am nächſten Tage dadurch kund, daß Darja ſich ausſchließlich zu mir hielt, während die Gräfin Joſef gar nicht mehr entbehren konnte. Sie hatte ſich unabläſſig bei ihm über die höchſt all⸗ täglichen Vorkehrungen zu erkundigen, die für ſie und ihre Bequemlichkeit getroffen würden, ſie nahm ihn ſo⸗ gar einmal allein in ihre Zimmer mit hinauf, um ihm von ihrer Kammerfrau die Bergſtiefel zeigen zu laſſen, die ſie mit ſich führte, und Joſef gab ſich mit einer Gefliſſenheit ihrem Dienſte hin, der viel zu auffallend war, um mir völlig natürlich zu erſcheinen.

Siebentes Capitel.

So kam denn der Vollmond und mit ihm unſere Mondſcheinpartie heran, und ich brauche Ihnen nicht zu ſagen, wie die Gräfin auf dem Wege meinen Sohn für ſich in Anſpruch nahm. Anfangs verſuchte er ſeine Aufmerkſamkeit zwiſchen ihr und uns beiden An⸗ deren zu theilen. Er war gewohnt, mir ſeinen Arm zu bieten, wenn die Pfade ſteil anſtiegen; ich bemerkte auch, daß er plötzlich von der Seite der Gräfin, welche ſich tragen ließ, fortſprang, um Darja die Hand zu reichen, ſo oft irgend ein Hinderniß auf dem Wege oder ein tieferer Abhang bedrohlich für ſie ſein konnte, aber ſie wies ſeine Hülfe kurz zurück.

Kümmern Sie Sich nicht um mich, ſorgen Sie für die Gräfin, die Ihnen zu Liebe ſich überwunden hat und mitgekommen iſt. Ich bedarf keiner Hülfe, ich bin meiner ſehr gewiß! ſagte ſie und eilte bei den

223

Worten, da der Weg ſich eben ſenkte, mit der Xeich- tigkeit des Rehes den ziemlich ſchmalen Pfad hinab. Inzwiſchen hatte auch die Gräfin ſchon ängſtlich nach ihrem Ritter gerufen, und da ich zu fürchten anfing, daß Darja, um ihre Selbſtſtändigkeit zu be⸗ weiſen, eine Unvorſichtigkeit begehen möchte, die ihr gefährlich werden konnte, eilte ich, ihr nachzukommen. Als ich ſie erreichte, ſtand ſie auf der Balkenbrücke, welche die beiden Felswände überſpannt, zwiſchen de⸗ nen der Kaltenbach zu Thale ſchießt. Sie hatte ihren Mantel über das Geländer geworfen und ſah, den Kopf auf den Arm geſtützt, in die flimmernde, webende Nacht hinaus. Erſt als ich die Brücke betrat, bemerkte ſie mein Kommen, und da ſie ihr Antlitz zu mir wen⸗ dete, jo daß das Mondlicht jeden ihrer Züge hell be- leuchtete, fiel mir der ſchwermüthige Ausdruck in den⸗ ſelben auf. Ich ſagte ihr, daß ſie Unrecht thue, in dem unſicheren Lichte auf dem ihr fremden Wege ſo weit voraus zu gehen, und daß es gefährlich ſei, eine Höhe hinab zu laufen, deren Abhang man nicht kenne. Sie konnten Schaden nehmen, konnten ausgleiten, in eine falſche Richtung kommen und, nicht Herr über Ihren Lauf, elend zu Grunde gehen! warnte ich. Was thäte das? meinte ſie. Aber mir wird nichts

224

geſchehen. Menſchen wie ich haben Glück! e ſie ſchnell darauf hinzu.

Was ſoll das heißen? fragte ich.

Sie zögerte eine kleine Weile, dann ſagte ſie: Meine Mutter pflegte immer zu behaupten, die Ein⸗ ſamen hätten es am beſten, deren nähme Gott ſich an.

Sind Sie denn einſam, Darja?

Sie antwortete mir auf dieſe Frage nicht, ſon⸗ dern machte ablenkend eine Bemerkung über eine Wolke, welche in dem Augenblicke, phantaſtiſch geſtal⸗ tet, über den Mond hinwegglitt, und ich mochte ſie nicht zu Geſtändniſſen verleiten, die gethan zu haben ſie ſpäter bereuen konnte; aber ich nahm ihren Arm in den meinen, und wir ſchritten nun wieder, langſam em⸗ porſteigend, die Höhe hinan. Eine Weile ſprachen wir Beide nicht, dann, als wir einmal raſtend ſtehen blieben, ſagte Darja plötzlich: Ich möchte nicht, daß Sie übel von mir dächten, daß Sie mich für undank⸗ bar halten könnten; ich habe vorhin Niemandem einen Vorwurf machen wollen; aber ich weiß ſelbſt nicht, worin es liegt, ich bin ſeit einiger Zeit von einer Schwermuth, von einer Traurigkeit befallen, in der ich mich ſelbſt nicht wiederkenne. Ich glaube, die Landeskrankheit, das Heimweh, hat ſich meiner bemächtigt.

225

Ich habe eine Sehnſucht, nach Rußland zurüdzufom- men eine Sehnſucht, als ob ich dorten eine Hei- math hätte.

Und haben Sie die nicht? fragte ich, um ſie jetzt im Strome ihrer Mittheilungen nicht ſtocken zu machen, da ich fühlte, daß ſie ihr Bedürfniß waren.

Wo ſollte ich ſie haben? entgegnete ſie. Meine Eltern haben mich zu meinem Beſten ſo glaubten ſie gewiß aufgegeben. Mein Vater iſt ſeitdem geſtorben, meine Mutter hat ſich wieder verheirathet, ich kenne ihren Mann nicht, ich bin nie an dem Orte geweſen, an welchem ſie jetzt mit ihm lebt. Und die Tante? Nun ja, ſie beſitzt ein Haus in Moskau und hat ihre Güter, aber ſie iſt heimathlos, heimathlos in einem Grade, der mich, an ihrer Stelle, auf die Dauer zur Verzweiflung bringen würde. Ewig in Geſellſchaft, ewig auf Reiſen, immer unter Fremdenzu ſein das iſt gar zu öde. Sie denken es nicht aus, wie ich ſie müde bin, dieſe großen Portale der Gaſthöfe mit den kalten, die Rei⸗ ſenden gierig prüfenden Geſichtern ihrer Wir“ he und Kellner! Wie ich ſie müde bin, die Säle der Bade— orte und der Reſidenzen, und die Speiſezimmer der Hötels, und die neuen Bekanntſchaften, und alle die

Mühe und Unruhe, mit der wir uns zu entfliehen Fanny Lewald, Neue Erzählungen. 15

226

trachten! Ach, nicht das kleinſte Haus hier ſehe ich an, ohne zu denken: dieſe beiden Stuben unter dem niederen Dache, dieſer Baum vor der Thüre in dem kleinen Gitter wie würde ich ſie lieben, wenn ich da bleiben, wenn ich ſie alle Tage und alle Tage ſehen, wenn ich ſie mein, meine Heimath nennen könnte, und ſicher wäre, hier Ruhe zu finden, endlich einmal Ruhe! Ruhe und ſtille Einkehr in mich ſelbſt!

So plötzlich wie ſie zu ſprechen angefangen hatte, brach ſie in ihrer Rede ab. Sie war offenbar er⸗ ſchrocken über ſich ſelbſt und über den Einblick, den ſie mir unaufgefordert in ihr Inneres und in ihr Verhältniß zu ihrer Tante gewährt hatte, und in der That war ich durch dieſen Herzenserguß ſeltſam über⸗ raſcht worden. Daß die beiden Frauen ſehr verſchie⸗ den geartet waren, darüber konnte Niemand ſich täu⸗ ſchen, daß aber Darja ſich unglücklich neben ihrer Tante fühlte, hatte ich lange zu glauben angeſtanden. Andererſeits lag in des Mädchens Verlangen nach Raſt und Ruhe ein Etwas, das ich ſehr wohl nach empfinden konnte, wenn ſchon dieſes Bedürfniß ſich erſt jetzt, erſt ſpät bei mir geltend zu machen begann. Ja, wenn ich mich in meinem tiefſten Innern fragte, ſo war der Wunſch nach einer gleichmäßig ruhigen

227

Häuslichkeit in mir nie ſo lebhaft geweſen, als ſeit der Anweſenheit der Gräfin, als ſeit wir die Abende an ihrem Theetiſche in der ſanften Geſellſchaft ihrer Nichte zubrachten. Selbſt jetzt, da ich an Darja's Seite durch die zauberhaft ſchöne Nacht hinging, that es mir leid, ſie nicht in ihrem ſtillen, häuslichen Walten vor mir zu ſehen; doch hatte auch dieſer einſame Gang mit ihr ſeinen großen Reiz für mich. Ich fand einen beſonderen Genuß daran, ſie zu führen, ſie vor den Unebenheiten des Weges zu warnen, es zu empfin⸗ den, wie ihr Arm ſich feſter auf den meinen zu ſtützen begann, je weiter wir gingen; und als dann der Weg immer ſchmaler und ſteiler wurde, als ſie ſtark anſteigend vor mir einherſchritt, weil man nur einzeln vorwärts kommen konnte, entzückten mich die Schönheit ihrer Geſtalt und die anmuthige Sicherheit ihrer Bewegun— gen auf das Neue. Ich wartete mit Spannung dar⸗ auf, ob ſie ſich nicht umwenden, ob ich ihr Antlitz nicht wieder im Glanze des Mondſcheines vor mir leuchten ſehen würde, und wenn ſie ſich dann mit irgend einem Ausrufe ihrer weichen Stimme an mich richtete, dachte ich unwillkürlich: die Gräfin hat Recht gehabt Die Adoption eines Mädchens wäre beglückender für mich geweſen, als die eines jungen Mannes! 15

Achtes Capitel.

Es war ein köſtlicher Augenblick, als ich mit Darja endlich die Höhe des Berges erreicht hatte. Die Träger mit der Gräfin, und Joſef, der ſie nicht verlaſſen durfte, waren noch weit hinter uns zurück⸗ geblieben, wir hatten die ganze Feier des erſten Ein⸗ druckes für uns allein. Der Mond ſtand hoch im Zenithe über uns, die Luft war ſo durchſichtig klar, daß man die Sterne in ihrem verſchiedenen Lichte deutlich brennen ſah, und ſelbſt auf der Höhe regte kein Windhauch ſich. Von dem einſamen, nackten Grat des Felſens ſahen wir hinüber zu den ſchnee⸗ bedeckten Berggipfeln jenſeit des Waſſers, und aus dem Waſſer glänzten in zauberhaftem Wiederſcheine die Sterne des Himmels, und die Brücke, welche die gol- denen Mondesſtrahlen von einem Ufer nach dem an⸗ deren ſpannte, noch einmal wieder zu uns empor.

229

Die lautloſe Stille, das Alleinſein in der Natur haben etwas Ueberwältigendes. Der Menſch ſinkt davor in ſich zuſammen und fühlt ſich doch gleich wieder weit über ſich hinausgehoben. Mir war dieſer Eindruck ein vertrauter; Darja aber, die ihn zum erſten Mal erlebte, ward davon tief erſchüttert. Sie war keines Wortes mächtig, ſie breitete ihre Arme wie vor Ent⸗ zückung aus und ließ ſie dann leiſe niederſinken, um die gefalteten Hände an die Bruſt zu drücken. Die tiefe Innerlichkeit ihrer Natur gab ſich auch diesmal wieder kund, und wie ſie ſo daſtand in anbetendem Schauen verſunken, regten ſich in meinem Herzen eine ſolche Zärtlichkeit und Bewunderung für ſie, daß ich die Gräfin um ſie beneidete. Weshalb hat das Schick— ſal mir die dauernde Nähe dieſes Mädchens verſagt, weshalb iſt mir nicht eine Tochter wie ſie zu Theil geworden? fragte ich mich, und wie ich meine Hand auf ihre gefalteten Hände legte, war es, als errathe ſie, was in mir vorging, denn ſie ergriff ſie und drückte ſie an ihre Lippen.

Darja, ſagte ich betroffen und gerührt, Darja, was thun Sie?

Ach, rief ſie, es iſt zu groß, zu viel, das Herz iſt

230

mir zu voll! und in Thränen ausbrechend, warf fie ſich an meine Bruſt.

Da lachen Sie immerhin über den Phanta⸗ ſten, über den Phantaſten, der ſich ſeiner Wärme auch heute noch nicht ſchämt da zuckte ein Feuer, ein beſeligendes Feuer in meinem Herzen auf; lange, lange Jahre verſanken vor mir, als wären ſie niemals da⸗ geweſen, ich ſchloß das ſchöne Mädchen in meine Arme, ich küßte ſeine Stirn, ſein Haar, ich war ſprachlos wie Darja ſelber, ich war ſo jung wie ſie, und ich hätte, ich weiß nicht was dafür gegeben, hätte in dem Augenblicke nicht Joſef's lauter Anruf zu uns emporgeſchallt, wäre nicht eben jetzt die ganze Kara⸗ wane der Gräfin auf der Höhe angelangt.

Darja richtete ſich ſchnell empor, aber ich hielt ihre Rechte noch in der meinen, und ich ſah es, wie weich ihre Züge waren, wie liebevoll ihr Auge ſtrahlte, als Joſef mit der Frage an ſie herantrat, ob er ihr von der Herrlichkeit hier oben zu viel geſagt habe.

O, nein, rief ſie und reichte auch ihm die Hand, ſo daß wir durch ſie verbunden waren, o nein! und ich danke Ihnen, denn Ihnen ſchulde ich es, daß mir dieſe Offenbarung der erhabenſten Natur zu Theil

231

wird! Ihnen Beiden, fette fie hinzu, und ich werde Ihnen das auch nie vergeſſen!

Und mir dankſt Du nichts, Du Undankbare? fiel die Gräfin ihr in die Rede. Mir, die vielleicht mit Tagen und Tagen voll Nervenleiden dieſe tolle Unter⸗ nehmung büßen wird, die ich höchſt unnöthig und gar nicht lohnend finden würde, hätte mir Joſef nicht ſo gute Geſellſchaft geleiſtet. Ihren Arm, Joſef! rief ſie, indem ſie, ſich auf ihn lehnend, einige Schritte gegen die Vorderſeite des Felſens that. Laſſen Sie uns ſehen, was es hier zu ſehen giebt, und gönnen Sie Ihrem Vater und Darja, die wie für einander geſchaffen ſind, ſich in Empfindſamkeiten zu berau⸗ ſchen. Sie hielt ſich dabei ihr Glas vor die Augen und ſagte, nachdem ſie ein wenig umgeblickt hatte: Was iſt denn hier zu ſehen? Nebel, Nebel! und der See und ein paar unbeſtimmte Berglinien, die man am Tage weit beſſer unterſcheidet, ein klarer Himmel, den man von unten eben ſo gut bewundern kann, und Mondſchein, der auch überall derſelbe iſt! In der That, das Spiel iſt den Einſatz nicht werth, und dazu wird es kalt! Ihre verheißene Elfenkönigin läßt ſich nicht ſehen, Joſef, und Darja's Sentimen⸗ talität fängt Sie Alle zu erfaſſen an! Das iſt lang⸗

232

weilig, meine Freunde! Laſſen Sie die Körbe öffnen, Joſef! Gießen Sie uns von dem Milchpunſch ein, den ich proſaiſches Weſen glücklicher Weiſe mit hinauf beordert habe! Darja, hilf unſerm jungen Freunde, ich bin müde, ich bin hungrig, und mich dürſtet!

Sie war offenbar höchlich zufrieden mit ſich und der Partie, aber zum erſten Mal ſeit unſerem dies⸗ jährigen Zuſammentreffen war ſie mir nicht angenehm. Jeder Ton, jedes ihrer Worte beleidigte mich in mei⸗ ner Stimmung. Es that mir förmlich weh, daß Darja ihr gehorchte, ihr gehorchen mußte, und grade heute ſchien die Gräfin ein Vergnügen daran zu haben, ihrer Pflegetochter die Abhängigkeit fühlbar zu machen. Sie litt es nicht, daß ich oder Joſef ihrer Nichte bei dem Auspacken der Körbe Hülfe leiſteten, ſelbſt den Bei⸗ ſtand der Träger wies ſie mit der Bemerkung zurück, daß ſie etwas zerbrechen könnten, daß Darja ſolche Arbeit gut verſtehe; und ſie wußte dabei Joſef in einer ſo berechneten Weiſe neben ſich feſtzuhalten und an ſich zu ziehen, daß mir in dem Augenblicke kein Zweifel über die Art ihrer Gefühle für ihn und über ihre Plane bleiben konnte. Als dieſe Vermuthung zuerſt in mir emporgeſtiegen, war mir die Angelegen⸗ heit ſehr mißfällig geweſen, nun erſchien ſie mir in

298

einem veränderten Lichte, und die Aeußerung der Gräfin, daß Darja und ich wie für einander geſchaffen mwä- ren, gewann für mich eine tiefere Bedeutung. Die Gräfin wußte, trotz ihres beſtändigen Anſtrichs von achtloſer Laune, in jedem beſonderen Falle ſehr wohl, was ſie ſagte, und daß ſie bei einer ſehr feinen und ſcharfſichtigen Beobachtungsgabe weitgreifender Plane fähig ſei, das hatte ſie von ihrer früheſten Jugend an bewieſen. Ich, ich allein, das fing ich jetzt zu merken an, war ihr gegenüber bisher nicht achtſam genug geweſen, ich hatte in einer mir jetzt ſelbſt un⸗ begreiflichen Verblendung den Eindruck, den Joſef's Schönheit gleich von der erſten Stunde an auf fie ge⸗ macht hatte, nicht hoch genug angeſchlagen, nicht auf ſeinen richtigen Grund zurückgeführt. Die Gräfin war noch jung, noch blühend genug, eine Leidenſchaft zu fühlen, die ſie für ihren greiſen Gatten nicht ge⸗ hegt haben konnte und die, durch ihre Eitelkeit und ihre Grillen zurückgedrängt, vielleicht bis jetzt in ihr geſchlummert haben mochte. Jetzt aber war ſie in dem Beiſammenſein mit Joſef, deſſen kraftvolle, un⸗ entweihte Jugend für alle Frauen etwas doppelt An⸗ ziehendes beſaß, erweckt worden und erwacht, und es war kein Grund vorhanden, der Anna Andrajewna

234

abhalten konnte, an eine neue Ehe mit einem ſolchen jungen, ſchönen Manne zu denken. Sie war völlig unabhängig, war eine unſerer reichſten Frauen, ſie galt allgemein noch für begehrenswerth, für eine glänzende Partie, und ſelbſt ihre Gegner mußten ihr dies zu⸗ geſtehen trotz aller ihrer Wunderlichkeiten und trotz der Anekdoten, die über ſie umhergetragen wurden, war ihr Ruf niemals angetaſtet worden. Freilich, ſie war älter, zehn, eilf Jahre älter als mein Pflegeſohn aber was thut das Alter zu dem Glück der Ehe? Eine Frau iſt immer jung, ſo lange ſie zu gefallen weiß, und wenn ich Joſef's Vortheil im Auge haben wollte, ſo war auch dieſer bei dem Plane wohl gewahrt; denn in Ehen, in denen eine beträcht⸗ liche Altersverſchiedenheit obwaltet, pflegt der jüngere Theil gewöhnlich das Heft in die Hand zu bekommen, und um ſo ſicherer, wenn der Mann der jüngere der beiden Gatten iſt. Freilich, in zehn, in fünfzehn Jah⸗ ren mußte der Unterſchied des Alters zwiſchen Joſef und der Gräfin ſich ſehr bemerkbar machen; aber wenn er an ihr Gefallen fand, wenn ſie ihn liebte, wenn ſie in Bezug auf ihr Vermögen ſich freigebig gegen ihn erwies, den ich natürlich ebenfalls ange⸗ meſſen auszuſtatten dachte, ſo war vom Standpunkte

der Geſellſchaft und des Herkommens gegen dieſe Ver— bindung kaum etwas Anderes einzuwenden, als Joſef's bürgerliche Herkunft, und das war der Gräfin Sache. Was Joſef anbelangte? Dieſer und Jener hatte eine ältere Frau geheirathet und man hatte eine gute, ſchickliche Ehe mitſammen geführt. Mochte die Gräfin zuſehen, wie ſie mit ihrem Erwählten auskommen würde. Nur freilich die ſchöne Pflegetochter, Darja, durfte nicht im Hauſe bleiben und Darja wußte um der Tante Leidenſchaft und Plan.

Daher des Mädchens Gereiztheit gegen meinen Sohn, daher ihre Kälte gegen ihre Tante, daher ihre Klagen über das Wanderleben, ihre Sehnſucht nach Ruhe, ihr Verlangen, irgendwo, wenn es auch in der Fremde wäre, eine eigene Heimath zu finden. Nun verſtand ich Alles, und Alles ſtimmte mit meinen Ab⸗ ſichten gar wohl zuſammen. Wenn Joſef ſich wirk- lich mit Anna Andrajewna verheirathete, konnte ich nicht daran denken, den Dritten in ihrem Bunde zu machen; ich blieb alſo allein falls Darja ſich nicht entſchloß, bei mir zu bleiben und meine Frau zu werden.

Es war mir wunderbar zu Muthe, als ich dieſen letzten Gedanken zuerſt in meinem Innern aufkommen fühlte. Ich ſagte mir vergeblich, daß es etwas ſpät

236

für ſolchen Vorſatz ſei, daß ich mein einundfünfzigſtes Jahr bereits vollendet hatte, aber ich fühlte in dieſem Augenblicke die vergangenen Jahre nicht. Ich fühlte nur ein freudiges Hoffen in meinem Herzen, das mich belebte wie in den Tagen der Jugend, das Blut rollte fröhlich klopfend durch meine Adern, ich war wieder jung, ich war glücklich, ich ſah mit wonnigem Ver⸗ trauen in die Zukunft, ich liebte Darja, weil ſie mir dieſe Jugend wieder gab, und auch die Gräfin liebte ich. Weshalb ſollte ſie nicht empfinden, was mich ſo beſeligte? Weshalb ſollte ſie nicht ſo gut wie ich ihre Neigung an die Jugend, an die Schönheit knüpfen? Weshalb ſich nicht die Stütze einer jüngeren Kraft für die ſpäteren Lebensjahre ſichern? Sie war dem Grafen Alderberg einſt eine liebenswürdige Gefährtin geweſen; ich? nun ich war fünfzehn Jahre jünger als der Graf, und Darja war älter als die Gräfin es einſt am Tage ihrer Hochzeit geweſen war. Mit einem Worte ich war nicht der Erſte, der die Welt und alles in und anf ihr wieder einmal in roſenfarbenem Lichte ſchaute und fie als die beſte Welt betrachtete, weil er fie mit dem Sonnenſcheine ſeines Herzens be⸗ leuchtete.

Das Vertrauen, das wir einem Menſchen ſcheu⸗

237

ken, bindet uns an ihn; das mochte Darja auch empfin⸗ den, denn ſie nahm jetzt von ſelber meinen Arm und ihre Augen blickten mich oftmals fragend an, als wolle ſie meine Gedanken errathen. Sie waren nur mit ihr beſchäftigt, und ich dachte mit großer Zuverſicht an ſie. Ihre Wahrhaftigkeit war unbedingt. Gab ſie mir ihr Wort, ſo durfte ich ihrer ſicher ſein; aber wie warm mein Herz ihr auch entgegenwallte, mir fehlte eine der herrlichſten Eigenſchaften der Jugend der unbedingte ſelbſtvertrauende Muth.

Ich konnte mich nicht entſchließen, gleich jetzt ihr die entſcheidende Frage vorzulegen, ich wollte kein Wag⸗ niß beſtehen, mich nicht der Möglichkeit einer Zurück⸗ weiſung ausſetzen, ſondern erſt wenn die Gräfin und Joſef mit einander einig geworden waren, wenn Darja auf ſolche Weiſe von ihren bisherigen Verhältniſſen losgelöſt und ſich ſelber überlaſſen ſein würde, wollte ich mit meinen Anſprüchen vor ſie hintreten, und das unverkennbare Zutrauen, die achtſame Neigung, die ſie mir erwies, machten mich das Beſte hoffen.

Weuntes Capitel.

Ein Tag ging fo nach dem anderen hin, die drei Wochen, welche die Gräfin, und auch die Zeit, welche wir noch im Gebirge zu bleiben gedacht hatten, waren bereits lange überſchritten. Die Mehrzahl der Gäſte waren abgereiſt oder mit Zurüſtungen für die Abreiſe beſchäftigt, es fing an, leer in dem Gaſthofe zu wer⸗ den, die Spaziergänge mußten wegen der Morgen- und Abendkühle auf die paar ſonnigen Mittagsſtunden eingeſchränkt werden, die Feuer brannten in den Ka⸗ minen, die Tage wurden kurz, man hatte Abends be⸗ reits viele Stunden bei der Lampe zuzubringen. Lange konnten wir nicht mehr auf dieſer Höhe bleiben, die ſcharfe Luft war bisweilen ſchon empfindlich, die Un⸗ gewißheit, in welcher ich mich befand, ward mir zur Qual, und da die Anderen zu keiner Entſcheidung zu kommen ſchienen, mußte ich endlich ſelber daran gehen, unſere Angelegenheiten aufzuklären.

Ich hatte mir den Sonntag Morgen dafür feſt⸗

239

geſetzt, weil Darja dann immer einen einſamen Spa⸗ ziergang als Morgenandacht zu unternehmen pflegte. Ich kannte den Weg, den ſie zu machen gewohnt war, und wollte ſie auf demſelben treffen, um ihr meine Wünſche auszuſprechen. Es war mir alſo ſehr will- kommen, als eben in der Stunde die Gräfin zu uns ſchickte, um Joſef zu einer Fahrt in die Stadt auf⸗ fordern zu laſſen; aber zu meinem Erſtaunen lehnte er den Vorſchlag ab. Er ſagte, er habe mit einem jungen Engländer eine Partie verabredet, und ohne mich zu fragen, ob ich dieſelbe mitmachen oder was ich unternehmen würde eine Rückſicht, die er ſonſt niemals aus den Augen ſetzte, nahm er Hut und Handſchuhe und verließ mich gleich nach dem Früh— ſtücke. Ich ſah ihn fortgehen aber allein.

Es war eilf Uhr, die wenigen Engländer, die noch in dem Hauſe und den benachbarten Penſionen lebten, kamen wohl friſirt, mit regelrecht geknüpftem Halstuche aus ihren verſchiedenen Wohnungen hervor, um ſich in den Speiſeſaal zu begeben, in welchem einer ihrer geiſtlichen Landsleute den Gottesdienſt ab- hielt. Es fehlte keiner von der kleinen Kolonie, die von Joſef vorgegebene Verabredung war alſo eine Ausrede geweſen. Ich ſann aber weiter nicht dar-

240

über nach, ſondern verließ ebenfalls das Haus, um Darja aufzuſuchen, die, wie ich wußte, bereits ausgegangen war.

Der Morgen war bis dahin bewölkt und kühl geweſen. Als dann aber die Sonne hinter dem Schnee⸗ gebirge hervorkam, das unſeren Horizont nach Oſten abſchloß, fingen die Nebel ſich unter ihrem Zauber zu lichten und ſich, verſchwebend, zu zertheilen an, daß die Kühle ſich plötzlich in ſanfte, erquickende Wärme und die Trübe in ein klares, goldiges Licht verwan⸗ delten, das fröhlich belebend in mein Herz drang. Bergauf und hinan! ſagte ich mir mit freudigſter Zus verſicht, während ich deu Weg hinaufſtieg, an deſſen Ende ich Darja zu finden hoffte; aber wie lebhaft meine Sehnſucht, ſie zu erreichen, mich auch vorwärts trieb, ich hatte nicht mehr den raſchen ungehemmten Schritt und die vollathmige Bruſt der Jugend. Ich mußte zum Oefteren ſtehen bleiben, mußte ruhen; und dieſer Abſtand zwiſchen meiner Empfindung und meiner Kraft war mir eine unangenehme Mahnung, eine un⸗ willkürliche Einſicht und Erkenntniß, welche ich eben jetzt mir gern ferngehalten hätte. Ich wollte ſie mir verſcheuchen, ich ſuchte zur Rechten und zur Linken nach dem erſehnten Gegenſtande. Auf jeder Matte hoffte ich ſie zu ſehen, ſo oft ich um eine Ecke bog,

241

meinte ich ihrer anfichtig zu werden; aber Darja war weit früher als ich von Hauſe fortgegangen, und ſie war jung. Ich hatte keine Ausſicht, ſie noch auf dem Wege zu erreichen. Unwillkürlich blieb ich hier und dorten ſtehen, um von den ſchönen Zeitloſen, von de⸗ ren röthlichen Blüthen die grünen Abhänge ſchimmernd bedeckt waren, einen Strauß für Darja mitzunehmen, den ich mit dem noch friſchen Eichenlaube vermiſchte. War doch meine Liebe für dieſes Mädchen auch ſolch eine zeitloſe Herbſtesblume, aufgeblüht in einer Nacht, um zu dauern? um zu welken? Die nächſte Stunde mußte das entſcheiden.

Ich ging vorwärts und vorwärts. An den baum⸗ loſen Stellen des Weges brannte die Sonne heiß; dann wieder, wenn der Baumesſchatten ſie mir barg, ſah ich die Tropfen des Nebels noch an den Aeſten funkeln, und ein leuchtender Sprühregen fiel auf mich Eilenden herab, wenn ein Vogel ſich auf die Zweige niederſenkte, oder ein Windhauch ihre Blätter zittern machte. Je näher ich der Stelle kam, an welcher Darja gewöhnlich zu raſten pflegte, um ſo unruhiger klopfte mir das Herz. Ich hörte ſchon das Murmeln der Quelle, die von der Höhe niederrieſelnd mir ent- gegenkam. Schon ſah ich die Gruppe der Es mäch-

Fanny Lewald, Neue Erzählungen.

242

tigen Edeltannen ſtolz und freudig aus dem niederen Gehölze emporragen. Alt wie ſie waren, lag doch nirgends das Licht ſo herrlich ausgebreitet wie über ihren friſchen Häuptern, denen das Schneegebirge und der blaue Himmel einen herrlichen Hintergrund bil⸗ deten; und wie die Sonne ihnen Dauer und immer neue Jugend verlieh, ſo hoffte auch ich auf eine lange Zukunft und auf ſchöne, von Liebe erhellte und er⸗ wärmte Tage. Alles wurde mir zum Symbol, Alles zum Gleichniß, denn die Liebe iſt ſo allmächtig, daß ſie ſich Alles zu eigen macht. Die ganze Schöpfung iſt ihr nur der Spiegel, aus dem ihr eigenes Bild ihr wiederſtrahlt.

Oben unter den Tannen, wo aus der mooſigen Felswand die Quelle klar hervordrängt, hatte man ein Rohr eingelegt, welches das Waſſer in einem zum Troge ausgehöhlten Baumſtamm leitet. Ein anderer Baumſtamm lag daneben. Wir hatten dort nach einem warmen Tage einmal zu Vieren im Sonnenuntergange geſeſſen und hinabgeſehen in die Thäler und über den See hinweg nach den fernen Bergen und in die Lande hinaus. Es waren ſchöne Stunden geweſen, aber ſie erſchienen mir in der Erwartung des nächſten Augen⸗ blickes blaß und kalt. Und doch bangte mir vor der Entſcheidung, die ich heraufbeſchwören wollte. Ich

243

blieb zögernd ſtehen, zögernd bog ich um die Ede; dort mußte ich Darja finden und ſie war auch da aber ſie war nicht allein.

Das Bild, das ich erblickte, war der lieblichſten Eines. Kein Maler konnte es reizender, konnte es an⸗ muthiger denken; mir aber that es weh, weher, als ich es mir eingeſtehen mochte, und ich durfte meinen Schmerz nicht zeigen, durfte dem Worte, das ſich auf meine Lippe drängte, den Laut nicht einmal geben. Um⸗ leuchtet von der goldigen Mittagsſonne, die den ganzen Platz überfluthete, ſaß Darja an der Quelle auf dem Baumſtamme, ſelber wie von einer Glorie umfloſſen. Aber ſie ſah mich nicht, ſie hatte meinen Schritt auf dem weichen, mooſigen Grunde nicht gehört. Joſef lag zu ihren Füßen. Er hatte ihren Leib mit ſeinen Armen umſchlungen, ihr Kopf barg ſich an ſeiner Bruſt Jugend und Schönheit hatten ſich zu einander gefunden, wie es ſich gehörte. Es war gut, es war natürlich, wie es war, und es iſt nicht der erſte Selbſtbetrug, nicht die erſte Enttäu⸗ ſchung meines Lebens! ſagte ich mir und hätte mich meiner Schwachheit gern geſchämt, wäre ich die Zeit her weniger glücklich in meinen hoffnungsreichen

Träumereien geweſen. 16*

Zehntes Capitel.

Was nachfolgt, ſagte Boris, tief Athem ſchöpfend und mit einem Lächeln, das nicht ganz ungezwungen war, was nachfolgt, können Sie ſich leichtlich denken. Ich rief die Kinder an; ſie erhoben ſich und warfen ſich Beide, ſo wie ſie mich gewahrten, in meine Arme. Sie nannten mich ihren Vater, ſie küßten in Freuden⸗ thränen meine Hände; ich weinte auch aber in dem Augenblick galten meine Thränen nur mir ſelbſt und meiner lang entſchwundenen Jugend, die ich nicht in ſolcher Liebe genoſſen hatte und die verſunken war für immer.

Darja gewann am erſten Sprache. O, mein Vater, mein theurer Vater! rief ſie; Sie waren mein Troſt und mein Hoffen, denn Sie wußten es ja ſeit jener Nacht auf der Brücke. Ich habe es wohl empfunden, Sie wußten, was mich von dannen trieb, und wie ich den Gedanken gar nicht faſſen konnte, ihn

245

zu verlieren, ihn von einer Anderen geliebt zu ſehen! Aber warum ſagten Sie es denn dem armen Joſef nicht, daß ich ihn liebte und daß ich Alles, Alles er- tragen könne nur nicht ohne ſeine Liebe neben ihm zu leben?

Sie blickte mit überwallender Zärtlichkeit zu dem Geliebten auf; er ſchloß ſie auf's Neue in ſeine Arme. Sie ſprachen Beide mit einer Erregung, die ſie völlig achtlos dafür machte, wie ſehr ich durch ſie überraſcht und wie ſehr ich erſchüttert worden war.

Der Erzähler machte eine Pauſe. Er war wär⸗ mer im Ausdrucke geworden, als er es beabſichtigt haben mochte; nun änderte er plötzlich ſeinen Ton.

Es iſt ſonderbar und nicht eben angenehm, ſagte er ſcherzend, ſich „lieber Vater“ von einem Munde nennen zu hören, dem man ein weit ſüßeres Wort zu entlocken erwartet hatte; aber ein erfahrungsreiches Leben und die Gewohnheit der Selbſtbeherrſchung, welche man in unſerer Geſellſchaft annimmt, ſind treue Bundesgenoſſen und gute Stützen in ſolchen Le⸗ benslagen, und die jungen Liebenden vermißten es nicht, daß ich ihnen meinen Antheil an ihrem Glücke nicht mit größerer Wärme ausſprach. Sie hatten ſo viel zu erzählen. Joſef ſagte, wie ihn Darja bezau⸗

246

bert von der erſten Stunde an, wie ihr Zutrauen ihn ſicher über ſie gemacht habe, und wie er bemüht geweſen ſei, die Freundſchaft und die Gunſt der Gräfin zu gewinnen, um ſie ſeiner Werbung geneigt zu machen. Nicht eine Sekunde habe er geſchwankt in ſeiner Liebe, aber Darja's plötzliche Uebellaunigkeit und die Art, in der ſie ihn gemieden, hätten ihn verdroſſen. Er habe ſie beſtrafen wollen für die Qualen, die ſie ihm bereitet; fröhlich und glücklich habe er ſich geſtellt, weil er zu ſtolz und zu thöricht geweſen ſei, ihr zu ſagen, wie ſie ſein Herz in Händen habe. Und Darja lachte und klagte ſich an, und ſprach von ihrem Glücke und weinte, und fragte, ob ich ſie denn auch leiden könne, weil ſie mir doch ein Stück von meines Soh⸗ nes Herz entzöge? Und Joſef ſagte: Das ganze Herz! Und ſie umarmten mich wieder und wieder und die Sonne ſchien ſo hell auf uns herab, und die Weindroſſeln ſchoſſen an uns vorbei zu Thal, und die neugierigen Eidechſen auf den warmbeſonnten Steinen hoben die klugen Köpfe empor und guckten das ſchöne Paar an, als wollten fie ſich an dem Anblicke ſolch junger Liebe freuen. Und ich alter Geſell, was wollte ich am Ende machen, als mich auch an ihrer Schönheit freuen und lieben, was ſo liebenswürdig

247

war. Hatte ich es doch am Anfange ſelber ſo gewollt, wenn ich Darja und Joſef beiſammen geſehen hatte! War es ihre Schuld, daß ich ein paar Tage lang vergeſſen, wie der Jugend die Welt gehört?

Joſef ließ mir keine Ruhe, ich ſollte gleich, gleich bei unſerer Heimkehr Darja's Hand für ihn erbitten. Das war kein leichter Auftrag, aber ich konnte es den Kindern nicht verdenken, daß ſie der Gräfin nicht zu nahen wünſchten, ehe ſie von dem Vorgefallenen un⸗ terrichtet war. Wie ſeelenruhig Joſef ſich auch zeigte, er mochte in ſeines Herzensgrunde ſich doch wohl ſagen, daß er in ſeinem Beſtreben Darja für ihre Ei⸗ ferſucht zu ſtrafen, weiter gegangen und befliſſener geweſen ſei, als er es nöthig gehabt hatte; und wenn Darja eben aus Eiferſucht es nicht verrieth, wie leidenſchaft⸗ lich ihre Tante ſich zu Joſef hingezogen fühlte, ſo hegte ſie doch ſelber keinen Zweifel daran, daß die Gräfin bisher von Joſef's Liebe für ihre Nichte keine Ahnung gehabt hatte.

Aus einem zärtlichen Bewerber war ich alſo im Hand⸗ umdrehen zu einem Freiwerber geworden, und wollte ich mir ſelber nicht lächerlich werden, ſo mußte ich das Gefühl der Enttäuſchung, die Wehmuth, die ge⸗ heime Scham und den Schmerz über das Verlöſchen

248

dieſes Alpenglühens meiner Jugend ſtill in mir ver⸗ ſchließen, mußte gute Miene zu dem guten Spiele machen, und mich in meine neue Würde ſchicken.

Ich ließ mich bei der Gräfin melden und wurde angenommen. Sie war bereits für die Mittagstafel angekleidet und lag leſend in einem Lehnſeſſel unter dem aufgeſpannten Zeltdache ihres Balkons. Das weiße Kleid und der voll erblühte Roſenſtrauß an ihrer Bruſt kleideten ſie ganz vortrefflich; ſie ſah ſel⸗ ber noch wie eine Roſe aus.

Gut, daß Sie kommen, rief ſie mir entgegen; ich habe es heute wieder den ganzen Morgen bitter⸗ lich bereut, nicht kirchlich zu ſein. Wie glücklich ſind alle dieſe Gläubigen, die jeden Sonntag eine neue, ſie erhebende Herzensbefriedigung genießen, während wir ſtarken Geiſter uns doch nicht von der Grille be- freien können, daß der Sonntag etwas Beſonderes ſei, uns etwas Beſonderes leiſten müſſe und weil er dies nicht thut, gerade am Sonntag immer einer ganz beſonderen Langenweile anheimfallen. Und dazu Darja's ſonntägliche Naturſchwärmerei und Joſef's ſonntägliche Wanderluſt! Ich hätte einem Menſchen, der mich heute gut unterhalten oder der mir auch nur

249

eine Neuigkeit erzählt hätte, gleichviel welche, vor Dankbarkeit um den Hals fallen können!

So fallen Sie mir um den Hals, Anna Andra⸗ jewna, ſagte ich denn ich bringe Ihnen eine Neuigkeit; und da Sie eine Frau von Wort ſind, ſo freue ich mich über mein Glück, denn Sie ſehen heute reizend aus!

Bravo, bravo! fiel Sie mir ein. Sie nehmen Sich als fahrender Ritter einer Verlaſſenen an, Sie haben Mitleid mit einer in der Wüſte der Langen⸗ weile Verſchmachtenden. Aber reden Sie, erzählen Sie! Was wiſſen Sie?

Errathen Sie es!

Wie kann ich? meinte ſie.

Ich werde ſagen, wie Frau von Sévigny, unſer aller Meiſter es an ihre Tochter ſchrieb: Je vous le donne en un, je vous le donne en deux, je vous le donne en dix, je vous le donne en cent!

Ah, rief die Gräfin, alſo handelt es ſich um eine Verlobung? Denn auf eine Verlobung bezieht ſich jener der Brief der Sévigny.

Um eine Verlobung, allerdings! beſtätigte ich.

In Petersburg oder im Auslande?

Wie Sie das nehmen wollen.

250

Alſo es find Landsleute?

Ja und Nein.

Bekannte von uns?

Nahe Bekannte, ſehr nahe Bekannte.

Die Gräfin richtete ſich in ihrem Seſſel in die Höhe und wurde achtſam. Sie blickte mir ſcharf in's Auge.

Der Poſtbote iſt noch nicht gekommen, ſagte ſie, plötzlich ernſthaft werdend. Nachrichten aus der Welt können Sie heute noch nicht erhalten haben. Ihre Neuig⸗ keit muß alſo hier geſchehen ſein. Sie hielt mit einer Art von Schrecken inne; aber den Ernſt aus ihren Mienen ſchnell verſcheuchend, ſagte ſie mit großer Anmuth: Haben Sie ſelber mir etwa eine Ueberraſchung bereitet, lieber Freund? ſo ſagen Sie es nur heraus, denn hier errathen zu wollen, wäre indiscret. Sie waren in letzter Zeit ſehr um Darja bemüht.

Sie vollendete nicht, und ich wollte ſie nicht vollenden laſſen. Sie haben es errathen, fiel ich ihr in's Wort, und Ihr Scharfblick hat ſich nicht getäuſcht. Ich wünſchte Darja kennen zu lernen, wie Sie ja auch Joſef beobachtet haben, um zu ſehen, ob er Ihren Anſichten entſpräche, ob er der Mann ſei, dem Sie Ihre Nichte anvertrauen könnten, und ob er Ihnen

251

die Stütze zu werden vermöchte, die man in ſeinem Schwiegerſohne zu finden hofft, wenn man keinen eigenen Sohn beſitzt.

Die Gräfin war ſehr blaß geworden; ich ſah ihre Lippen leiſe beben, und die kleine Hand zitterte, als ſie den Roſenſtrauß von ihrem Buſen nahm und ihn achtlos zu entblättern anfing.

Ich that, als bemerkte ich ihre Ueberraſchung nicht, aber ich bedauerte ſie, denn ich hatte ja eben erſt den gleichen Kampf durchkämpft. Um ſie der Nothwendigkeit einer Antwort zu entheben, fuhr ich fort zu ſprechen. Darja und Joſef ſind mit einander einig, ſagte ich. Der Zufall ließ mich ſie finden, als ſie eben unter den ſieben Tannen einander ihre Liebe geſtanden hatten. Ich wollte, Sie hätten ſie geſehen, wie ich. Ein ſchöneres Paar iſt kaum zu denken, und ich komme nun, Sie in aller Form um Ihrer Nichte Hand für meinen Sohn zu bitten!

Die wenigen Minuten hatten der Gräfin genügt, ſich zu ſammeln und zu faſſen; ſie war wieder Herr über ſich geworden. Mit ihrem gewohnten ſilberhellen Lachen ſchlug ſie die Hände in einander. Wenn Sie Sich ſehen könnten, Boris Michailowitſch, wenn Sie ſehen könnten, wie dieſe feierliche Werbung Ihnen

252

komiſch ſteht, Sie würden lachen, wie ich! rief fie. Und ſie lachte wieder und wieder, und dieſes Lachen wurde ſo nervös, daß es mich zu beänſtigen anfing. Aber mitten in demſelben hielt ſie plötzlich inne.

Nun, ſagte ſie, und ihr Blick und ihr Ton waren weit ſchärfer, als ſie wollte und wußte, nun, Boris, habe ich nicht Recht gehabt, als ich neulich gegen Sie be⸗ hauptete, wir hätten beide eine Thorheit begangen, als wir dieſe Adoptionen machten, ſtatt uns ſelber zu ver⸗ heirathen? Ihr Joſef und meine Darja werden von uns gehen und uns das Nachſehen laſſen; denn, ich mache Ihnen gar kein Hehl daraus, ich bin nicht ſo ſelbſtlos, mir daran genügen zu laſſen, daß zwei An⸗ dere glücklich ſind. Aber kommen Sie, Boris, kom⸗ men Sie, umarmen Sie mich! Ich bin Ihnen die Bezahlung für die Neuigkeit noch ſchuldig, und wir werden ja noch nähere Verwandte werden, wenn wir die gemeinſamen Enkel auf unſeren Knieen ſchaukeln werden! Mein Gott, Enkel, wie das garſtig klingt!

Sie ſchüttelte ſich wie im Widerwillen und reichte mir ihre Hand hin. Als ich ſie küßte, küßte ſie mir die Stirne und drückte mir feſt die Hand. Wir ver⸗ ſtanden einander ohne Worte.

Am Abende ſchrieben wir unſeren gemeinſamen

253

Bekannten von der Verlobung unſerer Pflegekinder; zwei Tage ſpäter trennten wir uns. Die Hochzeit des jungen Paares ſollte nach Neujahr in Paris voll⸗ zogen werden; dann ſollten die Neuvermählten nach Italien gehen, und inzwiſchen wollten wir für ihre ſpätere Niederlaſſung Sorge tragen. Und ſo iſt es auch geſchehen.

An dem Abende, an welchem die neuen Eheleute ſich in Paris von uns getrennt hatten, ſaß ich allein an dem Theetiſche der Gräfin. Sie und ich fühlten die Einſamkeit recht ſchwer. Ich hatte Anna Andra⸗ jewna nie ſo ernſt geſehen. Wir ſprachen von Dem und Jenem; es wollte aber mit keiner Unterhaltung glücken, und doch ſchien die Gräfin etwas auf dem Herzen zu haben. Endlich als ich mich von ihr ver⸗ abſchiedete, fand ſie das Wort dafür.

Ich bin in Ihrer Schuld, Boris Michailowitſch, ſagte ſie zu mir. Sie haben mir einmal einen Freundſchaftsdienſt geleiſtet, den ich Ihnen nicht ver⸗ geſſen werde; Sie haben es mir geſchickt erſpart, vor Ihnen zu erröthen. Ich danke Ihnen dafür. Den⸗ ken Sie gut von mir, ich bin vielleicht beſſer, als Sie glauben; und wenn mir auch jede andere gute Eigen⸗ ſchaft gebrechen ſollte eine habe ich für Sie ich

254

bin Ihre Freundin und ich verehre Sie! Bedürfen Sie meiner, ſo rufen Sie mich, und ich werde ſtolz darauf ſein, Ihnen vergelten zu dürfen!

Damit trennten wir uns. Ich hatte das in Anna Andrajewna nicht geſucht, ſie hatte mir zum erſten Male eine große und wahre Theilnahme abge⸗ wonnen. Im Herbſte, als Joſef mit ſeiner Frau nach Rußland ging, um die Bewirthſchaftung der Güter zu übernehmen: die ich im Süden für ihn ge⸗ kauft hatte, traf ich mit den jungen Leuten und mit der Gräfin in Moskau zuſammen, und im verwichenen Frühjahre haben Anna Andrajewna und ich gemein⸗ ſam den ſchönen Knaben aus der Taufe gehoben, den Darja ihrem Manne geboren hat. Der Name Kru⸗ pinin hat alſo alle Ausſicht, von einem ſtattlichen Geſchlechte weiter fortgeführt zu werden, und es be⸗ reitet ſich für uns ein freundliches Familienleben in der Kinder Haufe vor aber wir find des Land⸗ lebens beide nicht gewohnt, wir wollten das junge Paar auch ſich ſelber überlaſſen, und nach einem län⸗ geren Verweilen in dem Schloſſe ſchickten die Gräfin und ich uns zum Fortgehen an. |

Darja und Joſef zeigten ſich darüber ſehr be⸗ trübt. Der Gedanke, Dich, mein Vater, und die Tante

235

fo einſam in der weiten Welt zu wiſſen, ſagte die junge Frau, läßt mir keine Ruhe. Du haſt die Tante oftmals eine verläßliche Freundin genannt; ihr Sinn iſt auch gewandelt in den letzten Jahren, ſie iſt ernſt⸗ hafter geworden, und ſie ſchätzt Dich mehr als irgend einen Anderen. Darja ſchmiegte ſich mit ſchmeicheln⸗ der Verſchämtheit an mich an. Wenn Du dich mit der Tante verbinden wollteſt, lieber Vater, ſagte ſie, ſo brauchten wir uns kein Gewiſſen daraus zu machen, daß wir jungen Leute es beſſer haben, als Ihr Beide. Du haſt für Joſef um mich gefreit, laß mich Deinen Freiwerber bei der Tante machen!

Darja hat Recht, bekräftigte mein Sohn, der ſich höchſt erfahren und weiſe vorkommt, ſeit er von ſei⸗ nem Sohne ſprechen kann, und der von Darja's Ein⸗ ſicht die allerhöchſte Meinung hat, weil ſie immer ſeiner Anſicht iſt Darja hat Recht. Du ſelber pflegteſt es ja ſtets zu ſagen, lieber Vater, das Verſtändige zu thun ſei es nie zu ſpät; und wenn die Tante liebt, kann ſie unwiderſtehlich ſein.

Sprichſt Du das aus Erfahrung? fragte ich und wir blieben einander, wie es ſich von ſelbſt ver⸗ ſteht, die Antwort ſchuldig; denn die Phantaſie der

296

Gräfin für den jungen Mann war eine ihrer müßigen Launen geweſen und nichts mehr.

Damit endete unſer Freund die Mittheilungen, die ich ihm nacherzählte.

Wenige Monate ſpäter erhielt ich einen Brief von ihm. In ſchönen franzöſiſchen Lettern ſtanden mitten auf dem Blatte die Worte: „Anna Andra⸗ jewna Krupinin, geb. Fürſtin Agarew und Boris Michailowitſch Krupinin.“

Darunter aber hatte die Gräfin mit feiner Hand geſchrieben: Die alten Pflegeeltern als junge Ehe⸗ leute, oder ſpätes Finden, treues Halten! Klingt das nicht wie der Titel eines Schauſpiels, wie die Ueber⸗ ſchrift einer Novelle? Ich bitte Sie, liebe Freundin, machen Sie eine Novelle aus all unſerer Thorheit und Vernunft, aus unſerem eingebildeten Leid und aus un⸗ ſerem wahren Glück. Das ſoll meine Hochzeitsgabe von Ihnen ſein, denn man genießt ſein Leben und deſſen Freuden noch um viel bewußter, wenn ſie uns in der Verklärung der Dichtung gegenüber ſtehen.“

Sollte ich der Bitte nicht willfahren, den Freunden nicht den Willen thun? Und ſo gehe dieſes Spiegelbild ihrer Vergangenheit denn zu ihnen und auch in die Welt.

Ende.

DATE DUE

3

2 [2 8

e e eee Din a Erich ee eee ng e tn) rn Wand ae le e e Tender na eat ee are ei rer 2 e NE nee % S le eee b e b. . en j a 5 7 Te ir ee 8 Pr ER g * W Se x 5 3 8 RE 5 E * 3 j 1 4 x i SE . 3 5 * * R * h i t ö ne 2 4 * A 5 * * u 4 \ * * RB * 5 25 re = rr 5 j . . ja 3 9 4 j Er . 5 g 7 a * 1 2 8 j 2 ; z 2 * 3 4 1 ö ; . x 7 3 ir * *

*