School of Theology

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Theology Library

SCHOOL OF THEOLOGY AT CLAREMONT California

and GEMEINVERSTÄNDLICHER VoRTRÄGE UND SCHRIFTEN AUS- DEM } nn a 2 AS (GEBIET DER THEOLOGIE UND RELIGIONSGESCHICHTE 20

Die wissenschaftliche Lage und ihre Anforderungen an die Theolosie.

Von

..D. Ernst Troeltsch

' Professor der Theologie in Heidelberg

Tübingen :Freiburgi. B. wa Leipzig Verlag von J. ©. B. Mohr (Paul $iebeck) 1900

J. 6. B. Mohr (Paul Siebeck) in Tübingen, Freiburg i. B., Leipzig.

Richard Rotche Gedächtnisrede

2 S ß + gehalten zur Feier des hundertsten Geburtstages in der Aula der Universität Heidelberg von

D. Ernst Troeltsch,

Professor der T'heologie in Heidelberg.

8. MM. —.80.

3eitihrift für Sheologie und Kite Sn Verbindung mit A. Harnad, W. Herrmann, 3. Kaftan, M. ae 8. Sell Herausgegeben von 3. Goftfchick a Hefte: Abommerentspris 9 M. 6—. inzelpreiS der Hefte M. 1.25 bis M. 2.—

au j . äße Brofejjor D. ‚Kran Troeltfdj Beitfcheift für Thöplenie md Kirche:

Die SU A enlömuug und die wifjenschaftlicen Gegenjtrömmmngen. ee

Die Seihftänbigfeit neh Religion. (V, 5; VL Lu 2). Gejchichte und Metaphyfif. (VILL 1)

Theologische Rundschau

in Verbindung mit vielen Fachgenossen ‚herausgegeben von D. W. Bousset und .W. Heitmüller Professor in Göttingen : in Göttingen. : Jährlich 12 Hefte. Abonnementspreis M. 6.—. Der Ill. Jahrgang begann im Januar 1900.

Die Theologische Rundschau ist heute das unentbehrliche Hilfsmittel für , €:

jeden Theologen, der seiner Wissenschaft nicht entfremdet werden will: sie bringt

eine. kurze, aber erschöpfende Uebersicht über die ganze wissenschaftliche Arbeit der ge

Theologie. Vor allem aber will sie die Kluft zwischen der theologischen Wissenschaft

und dem praktischen Amte überbrücken und die Ergebnisse der ersteren dem andem

vermitteln. “Wie die Kritik hervorhebt, ‚wird jeder Pfarrer, der weiter studieren

und darum auf dem Laufenden bleiben. will, die Theologische Rundschau als nes

Naehsehlagebuch immer zur Hand haben müssen‘

Alle. drei Monate wird. eine besonders paginierte Bibliographie beigegeben, IS

welche die theologische Litteratur möglichst vollständig verzeichnet,

Die

wissenschaftliche Lage

und

ihre Anforderungen an die Theologie.

Vortrag

gehalten auf der Versammlung der sächsischen kirch- lichen Konferenz zu COhemnitz am 9. Mai 1900

von

D. Ernst Troeltsch

Professor der !'heologie in Heidelberg

Tübingen Freiburgi. B. wa Leipzig Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1900

Theology Librany "* SCHOOL OF THEOLOGY AT CLAREMONT Califomia

Das Recht der Uebersetzung in fremde Sprachen behält sich die Verlagsbuchhandlung vor.

Druck von H. Laupp jr in Tübingen.

1.

Die europäische Gesellschaft und Oultur, in die wir die von ihr ausgegangene americanische mit einrechnen dürfen, ist seit etwa 150 Jahren in ein deutlich erkenn- bares neues Stadium eingetreten. Die Politik mit ihren neugeschaffenen Staaten, ihren neuen Verfassungen, ihrem Ausblick auf die grössten internationalen Entscheidungen und auf eine Periode der Weltpolitik steht vor völlig neuen Zukunftserwartungen. Das innere Leben des Staates und der Gesellschaft zeigt eine zunehmende De- mokratisirung und zugleich im Zusammenhang mit Mech- nik und Welthandel eine totale Veränderung der Güter- erzeugung und Güterverteilung, die zu den kühnsten Plänen ganz neuer Gesellschafts- und Lebensordnungen geführt hat. In der künstlerischen Produktion ist all- mählich der Bruch mit der Antike und der Renaissance vollzogen worden, und überall herrscht das Programm einer neuen Kunst, die in Form und Stoff modern sein will und bei aller Unfertigkeit jedenfalls aufs deutlichste die gährende innere Unruhe verräth, die grosse Um- wälzungen begleitet. Dass auch im religiösen und kirchlichen Leben, in den moralischen Anschauungen

und Kräften ein tiefer Wandel eingetreten ist, bedarf

keiner genaueren Auseinandersetzung. Die Zukunft der Kirchen, deren Stellung zu Staat und Gesellschaft, Sitte 1lEr

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und Litteratur vollkommen verändert ist, bildet für jeden Nachdenkenden ein ernstes Problem. Der Abfall der weitesten Kreise vom kirchlichen, katholischen und pro- testantischen, Christentum ist eine allbekannte Thatsache. Und nicht bloss die kirchlichen Institutionen, sondern auch die christliche Religion selbst mit ihrem eigent- lichsten Kerne ist in eine unheimliche Gährung einge- treten. Ueber die wesentlichsten moralischen Grundsätze wird in Strafrecht, in Poesie und Litteratur, in Philo- sophie und Feuilleton wie über offene Probleme gehan- delt. Wir haben überall das (efühl, dass sich neue uns unbekannte Zustände vorbereiten, sei es dass wir ihnen mit Stolz und Zuversicht oder mit Bedauern und Angst entgegengehen. Die Aufklärungsepoche des vorigen Jahr- hunderts, in der der Grund dieser Zustände gelegt worden ist, hat sich als ein nur vorläufiger Abschluss erwiesen. Die romantischen und konservativen Gegenbewegungen am Anfange des 19. Jahrhunderts, die Betonung des Geschicht- lichen und der langsamen von innen heraus vorgehenden Umbildung und Entwickelung haben in letzter Linie nur eine Verwickelung und Verschärfung der von der Auf- klärung allzu kurz und optimistisch gelösten Probleme ergeben. Die historische Bildung und der Einblick in den überall herrschenden Wechsel hat im Grunde doch nur der weiteren Erschütterung der bisherigen Autoritäten gedient, indem sie deren eigene historische Bedingtheit und Vergänglichkeit darthat. Andererseits hat die leiden- schaftliche Erhebung politisch und kirchlich konservativer Parteien nur die Gegensätze verschärft und die Folge- rungen radicaler ziehen lassen. Wir sind im allgemeinen überall noch radicaler geworden und haben noch stärker

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die Empfindung bevorstehender grosser Veränderungen.

Woher stammt diese ungeheure Umwälzung? Die Gründe sind natürlich verschieden. Man kann auf das Wachstum des vom Christentum unter kirchlichem Schutze genährten Individualismus hinweisen, der schliesslich die religiöse Begründung und Abzweckung samt der kirchlichen Leitung abwarf und sich seine Ziele inner- halb der Welt und auf eigene Hand suchte. Man kann ferner an die Wirkung der veränderten Weltverhält- nisse, der grossen Entdeckungen, des Welthandels, der Uebervölkerung, der Geldwirtschaft und Oapitalbildung denken, die zu einer neuen Gütererzeugung und Güter- verteillung geführt haben und damit zu einer völligen Umwandelung der Lebensführung und Lebensstimmung, des Staates und der Gesellschaft. Vor Allem kommt jener tiefe Stimmungswechsel in Betracht, der, dem Historiker nicht direkt erklärbar, nach dem Gesetz der Contraste aus den Tiefen der menschlichen Natur her- vorbrach und auf die kirchlich gebundene, zu Jenseits, Gericht und Erlösung gewendete, Armut und Leiden preisende Stimmung des Christentums eine ganz andere folgen liess, die, auf die Welt und das Diesseits gerich- tet, Gesundheit und Kraft, Behagen und gütererzeugende Arbeit, Schönheit und Gewinn wieder vor allem schätzen liess. Das sind vielleicht in der That die letzten Ur- sachen. Aber sie allen würden Umfang und Dauer, Halt und COonsequenz der neuen Zustände nicht geschaf- fen haben, wenn nicht noch etwas hinzugekommen wäre, die fundamentale Umwandelung des mensch- lichen Wissens in Methoden und Resultaten, die Entstehung der modernen Wissenschaft.

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Erst sie hat die Kraft verliehen, die alte Welt zu über- winden und ihr nicht bloss neue Gefühle und Stimmungen, sondern positive und beweisbare, reichster Entwickelung fähige Anschauungen gegenüberzustellen. Erst sie hat durch ihre Naturbeherrschung die alte Scheu vor der Natur überwunden und die moderne Technik mit ihren ungeheuren Wirkungen entfesselt. Erst sie hat dem unbestimmten Kraftgefühl des modernen Individualismus das Mittel gegeben, dauernde Schöpfungen hervorzu- bringen, und ihm die Ueberzeugung eingeflösst, dass er den Schlüssel zu endlosen weiteren Erfolgen in der Hand halte. Alle neuen Lebensordnungen in Staat und Ge- sellschaft sind rational begründet worden, an Stelle des naiv realistischen Weltbildes sind überall mindestens Ele- mente eines wissenschaftlichen getreten, alle Glauben und Leben regelnden Weltanschauungen streben nach wissenschaftlicher Grundlegung, und die grössten modernen Ideen und Mächte, die Freiheit, das Recht, die Huma- nität, die industrielle Arbeit, die Hygiene und Medicin beruhen auf der neuen Wissenschaft. Diejenigen, welche wie der französische Philosoph Aug. Comte die mensch- liche Geschichte in drei Perioden einteilen, eine theolo- gisch-mythologische, eine metaphysisch-spekulative und eine realwissenschaftliche, haben bei aller Ueberschätzung der Verstandesbildung insoferne Recht, als in der That in dem uns bekannten Verlauf der Geschichte die Wis- senschaft niemals so tief in das Gesamtleben eingegriffen und so strenge, überzeugende Methoden ausgebildet hat. Es ist etwas ganz Neues, was sich vor unseren Augen vollzieht: eine durch ein bisher unerhörtes allgemeines Schulsystem in jede Hütte getragene und durch eine

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bisher unerhört freie und bewegliche Litteratur ausge- breitete Wissenschaft, wie viel Fragliches sich unter dieser Flagge auch eingeschlichen haben mag, hat in der That das ganze Leben bis in die innersten Winkel hinein um- gewandelt und zum grossen Teil von sich aus gestaltet.

Die moderne Wissenschaft ist im letzten Grunde auch die Ursache derreligiösen Kri- sis, die alle ernsteren Beobachter mit so tiefer Sorge erfüllt. Man kann zwar auch hier sagen, der Grund liege jetzt wie bei allen religiösen Erschütterungen in der natürlichen fleischlichen, selbstsüchtigen und irdischen Gesinnung. Eine solche hat allerdings im modernen Kampf ums Dasein mehr Versuchung, sich zu bethätigen, und in der modernen Gesellschaft mehr Freiheit, sich zu äussern, als jemals sonst, und so ist derartiges freilich heute vielfach mit im Spiele. Allein für unbefangene und aufrichtige Betrachter der Lage bedarf es keines Beweises, dass das nicht der einzige und nicht der Haupt- grund der Krisis ist. Denn auch da, wo von alledem nicht die Rede sein kann, bei den ernstesten Vertretern der christlichen Theologie, zeigt sich eine merkwürdige Unsicherheit, ein Rückzug auf unkontrolierbare Instanzen, eine Kunst des Ausweichens und Ignorierens, ein Um- gehen gerade der brennendsten Fragen oder ein apolo- getisches Markten, die das Gegenteil von wirklicher Selbstgewissheit sind und die alle ihren Grund in einem unlösbaren Kontlikt der Kirche mit der Wissenschaft haben. Nur, da wo man gegen die Wissenschaft gleich- giltig ist, wie bei den Sekten, oder, da wo man in ihr das Mittelalter konserviert, wie in der katholischen Theologie, zeigt sich heute robuste Selbstgewissheit. Auch der blosse

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Umschwung der Stimmung von der Jenseitigkeit zur Dies- seitigkeit ist nicht die Hauptursache. Denn das sind die beiden Pole menschlicher Lebensstimmung, die immer beide da sind und wo es sich immer nur um Ueber- wiegen der Anziehungskraft des einen oder des andern handeln kann. Die Ursache liegt vielmehr ganz wesent- lich in der wissenschaftlichen Erschütterung der grund- legenden Ideen des bisherigen Christentums, sowohl was seine historischen Elemente anbetrifft, die wunderbare Geschichte der Offenbarung und Erlösung, als was seinen metaphysischen Glaubensinhalt betrifft, den Glauben an Vorsehung und Wunder, an das zur Menschwer- dung herabsteigende göttliche Wesen, an geoffenbarte Moralgebote, an Himmel und Hölle, an die bedingungs- lose Macht des Geistes über den Leib, an kirchliche In- stitutionen und Normen. Hier liegen die eigentlichen Probleme. Das Gedankengerüste, das den bisherigen Glauben seit Beginn der christlichen Theologie trug, und das von der neueren Theologie meistenteils doch nur ausgeflickt worden ist, scheint morsch geworden zu sein.

Das kann auch in der That nicht bezweifelt werden. Das zeigt die Kritik, die seit zweihundert Jahren von den besten Köpfen, von Frommen und Unfrommen, an diesem Gedankengerüste geübt worden ist, das zeigt vor allem die Thatsache, dass die Wissenschaft die allgemeine Voraussetzung dieser Theologie, die dualistisch-indeter- ministisch-teleologische Metaphysik, als wissenschaftliche Erkenntnis beseitigt und die besonderen supranaturalisti- schen Grundlagen, die Lehre von einer übernatürlichen, ge- schichtslosen und absoluten Beschaffenheit der kirchlichen oder biblischen Autorität zerstört hat, und zwar durch

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die Konsequenz eben der Methoden, denen im übrigen die unbezweifelbarsten, eindringendsten und wichtigsten Er- kenntnisse verdankt werden und die mindestens ausser- halb der Theologie niemand, auch der Theologe selbst nicht, bestreitet. Das ist aber auch durchaus kein Un- glück, es nötigt uns nur, von der neuen wissenschaft- lichen Lage aus unter ihren Voraussetzungen und mit ihren Hilfsmitteln das Problem neu zu stellen. Wer unerschütterlich überzeugt ist, dass der religiöse Glaube ein Werk Gottes selbst in den Menschenherzen ist, dass er von uns nicht bewiesen, sondern nur im richtigen Zu- sammenhang betrachtet zu werden verlangt, begründet hierauf nur die Forderung, dass eben auch die Theolo- gie umlernen müsse, wie das alle andern Wissenschaften gethan haben, und dass sie entschlossen ohne kleinliche Angst, mit der festen Zuversicht, sich ihrem Gegenstand nur auf anderem Wege zu nähern, die neuen Wege suchen muss, die sie in der neuen Lage zu ihrem Ziel des Verständnisses des Wesens und der Wahrheit der Religion führen können. Diese Wege aber sind längst gebahnt. Mit der grossen Umwälzung der Wissenschaft und seit der Verblassung der konfessionellen Alleinwahr- heiten sind eine Anzahl der edelsten und grössten Denker dem Problem unter den neuen Voraussetzungen nach- gegangen, und, wenn Hume und die französischen Fort- bildner des Sensualismus der neuen Lage Argumente zur Befestigung und Verstärkung antireligiöser Stimmungen entnahmen, so haben Locke und Leibniz, Semler und Gottfried Arnold, Herder und Lessing, Kant und Goethe, Schleiermacher und Hegel eine positive Würdi- gung der Aufgabe der Theologie unternommen, Sie sind

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bald mehr direkt, bald mehr indirekt die Schöpfer der neueren Theologie, und es ist nur die Frage, wie sich von hier aus heute nach längerer Entwickelung und Durcharbeitung der neuen Begriffe die wissenschaftlichen Anforderungen an die Theologie gestalten.

Dabei möchte ich den genauen Sinn dieser Frage betonen. Es handelt sich für die gegenwärtige Darstel- lung lediglich um die wissenschaftlichen Anforderungen an die Theologie, nicht um kirchliche und nicht um re- ligiöse. Dass die Theologie den kirchlichen Zweck nicht ausser Acht lassen darf und dass auch von hier aus eine ganze Reihe von Forderungen zu stellen sein mögen, soll hier ausser Betracht bleiben, so sehr das natürlich anzuerkennen ist. Auch dass an den Theologen und die theologische Thätigkeit religiöse Forderungen ernstester Art herantreten, versteht sich von selbst. Aber das ist hier nur Voraussetzung. Der Theologe thut das als Gläubi- ger und hat hier wie jeder Andere die innere Arbeit zu verrichten, dass er sein Herz immer tiefer für Gott öffne. Hier soll es sich rein um wissenschaftliche, aus der Lage der Erkenntnisse und der Beschaffenheit der Methoden folgende Anforderungen handeln. Um nicht weniger, aber auch nicht um mehr.

Und noch etwas Weiteres möchte ich zur genauen Begrenzung des Sinnes der Frage betonen. Es handelt sich nicht um eine Prophezeiung, wie die Dinge weiter laufen werden. Es wäre möglich, dass die europäischen Völker in wachsender Daseinsnot und Angst vor kom- menden Katastrophen sich dumpfem Aberglauben wieder in die Arme werfen. Es wäre ebenso möglich , dass äussere Interessen und geistige Ermüdung eine irreli-

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giöse Skepsis zur Herrschaft kommen lassen, die nur mehr die Technik und die Maschine als Götter aner- kennt. In der französischen Gesellschaft kann man beide Tendenzen mit einander streiten sehen. Es wäre aber auch möglich, dass bei gesunder Fortentwickelung Ernst und Selbstbesinnung sich wieder auf die Arbeit um die idealen Güter werfen und dass auch eine religiöse Klä- rung daraus hervorgeht. Das alles entzieht sich jeder Berechnung, und wie es wirklich weitergeht, das beweist nichts dafür, wo die innere Wahrheit der Sache liegt. Auch soll nicht ein Programm für die Zukunft ent- worfen werden, wie der Friede zwischen Religion und Wissenschaft geschlossen werden könne, und dessen Regeln dem Staate oder der Kirche anempfohlen werden könnten. Es sieht vorläufig nicht nach Frieden aus, und Staat und Kirche stehen zu sehr unter historischem und politischem Einfluss, zu sehr unter dem Zwange der Masse und der Parteien, als dass ein solches aus verwickeltem Nachdenken hervorgehendes und verwi- . ckelte Resultate enthaltendes Programm ihnen imponieren könnte. Es kann sich lediglich darum handeln, möglichst unbefangen, ohne fertige Voraussetzungen und Vorur- teile die Lage zu prüfen und die innere Wahrheit der sich bekämpfenden Ansprüche auszumitteln. Auf solcher Grundlage mag sich der einzelne dann sein Urteil bilden, so oder so. Das ist überhaupt heute in religiösen Dingen die Lage, dass in der allgemeinen Wirrnis der Einzelne sich durch rechtschaffene Prüfung zurecht finden muss, um dann im eigenen Kreise dieser seiner Erkenntnis und Auffassung Geltung zu verschaffen. Nur so können wir nach und nach zu einem Einverständnis der Ernsteren

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und Besseren kommen und damit dann einmal zu einer

befriedigerenden Gestaltung der allgemeinen Lage.

2,

Ein Verständnis der Lage ist nun aber nur mög- lich, wenn wir das alte Verhältnis von Chris- tentum und Wissenschaft uns klar gemacht ha- ben, wie es bei der Entstehung der christlichen Kirche sich gebildet und 1800 Jahre mit verschiedenen, aber geringen Veränderungen geherrscht hat. Es beherrscht bei Freunden und Feinden heute noch die populäre Mei- nung und übt in der üblichen religiösen Jugendbildung heute noch einen unmittelbaren Einfluss aus. Diese Ord- nung des Verhältnisses ist in der Hauptsache eine sehr einfache, die erste Ordnung nach der erregten Ursprungs- zeit, die dann für immer vorgehalten hat, das Erzeugnis einer fester kirchlicher Ordnung bedürftigen, wissenschaft- lich nicht allzustreng und reich denkenden Zeit. Es beruht auf einer bestimmten Anschauung vom Christentum, die sich zusammen mit der werdenden Kirche ausbildete,. und auf einer bestimmten Anschauung von der Wis- senschaft, die innerhalb der sinkenden spätgriechischen Cultur ausgestaltet worden war. Beide trafen auf ein- ander} als Fremde, bis daher einander Unbekannte, die gleichsam einen Vertrag mit einander schlossen, in dem beide geschieden blieben, aber sich gegenseitig Zu- geständnisse machten und an einigen Punkten ver- schmolzen.

Wollen wir den Vertrag verstehen, so müssen wir die Öompaciscenten kennen.

Das Christentum ist wie jede Religion ur-

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sprünglich jeder wissenschaftlichen Denkweise fremd. Es entstand und breitete sich aus in Volksschichten, die keine wissenschaftliche Denkweise und Bildung besassen ; nur auf solchem Boden kann überhaupt eine religiöse Bewegung entstehen. Es war ein Glaube an göttliche Forderungen und Verheissungen, deren Wahrheit durch Erfüllung alter Weissagungen, Wunder und Heilthaten, innere Erleuchtungen und Erregungen, übermächtige Liebesleistungen und Aufopferungen, und nicht zuletzt durch die geheimnisreiche Autorität Jesu und der ältesten Missionare verbürgt schien. Vernünftige Beweise kannte und brauchte man nicht. Derartiges gehörte zur Welt und ihrem Treiben, zu der Weisheit nach dem Fleisch. Sein Schwerpunkt lag in den erwarteten Ereignissen der Zukunft, die das Gottesreich und damit das Ende der Welt und ihres Treibens bringen sollte. Sem Gedanken- gehalt war feurig und beweglich wie frisch dem Vulkan entquellende Lava; um den einfachen Mittelpunkt der durch Christus verbürgten Zukunftshoffnung herum wogte eine heftig erregte, mannigfach wechselnde, phantastisch belebte Vorstellungswelt. Lehre, Dogma und Kirche gab es noch nicht, und die Gemeinden standen nur erst in losem, durch wandernde Brüder und persönliche Autorität grosser Häupter hergestelltem Verbande. Aber mit der Abkühlung der ursprünglichen Erregung, dem Schwinden der religiösen Produktionskraft, dem Bedürfnis, Ueberlieferung und ächtes Altertum gegen allerhand Ueber- wucherungen hervorzuholen, vor allem mit der Notwendig- keit, die Gemeinden dem heidnischen Staat gegenüber zusammenzuschliessen und das Missionsevangelium für die Verkündigung fest zusammenzufassen, entstand der

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Zwang zu festen Formen schon im Diesseits. So lernten die Gemeinden sich als Kirche anzusehen, als von (Gott gestiftete Organisation mit göttlichen Gemeinschafts- ordnungen, Uultusordnungen, Moralgeboten, Wahrheits- lehren. Was dieser Organisation die Festigkeit verlieh, das war der Umstand, dass man auf sie alle die Eigenschaf- ten des kommenden Gottesreiches und alle Heiligkeit des in der Gemeinde waltenden Geistes übertrug, dass man den Gegensatz von Welt und Gottesreich, von Fleisch und Geist auf die Kirche und die sie umgebende Welt übertrug. Die Göttlichkeit, die unmittelbare und unbedingte Wahrheit und Kraft des kommenden Reiches, kam schon der irdi- schen Gemeinschaft zu und die Kraft des die Welt über- windenden Geistes wohnte in all’ ihren Ordnungen. Der ursprünglich rein innerlich religiöse Gegensatz von altem . und neuem Leben, von Diesseits und Jenseits, von Gegen- wart und Zukunft erschien als der äussere und greifbare (Gegensatz von Kirche und Welt. Die Kirche war die in Israel vorgebildete, von Christus und den Aposteln gestiftete und mit allerhand Gnadengaben ausgerüstete übernatürliche Institution, die in allen Dingen von der Welt und der Weise, nach der in der Welt die Sachen vor sich gehen, geschieden ist. Die Kirche erschien als die Vollendung der vom Sündenfall ab wirkenden be- sonderen göttlichen Offenbarungs- und Erlösungsthätig- keit, und die Zukunft sollte nur mehr ihren auch äusser- lich sichtbaren Sieg und ihre Verherrlichung bringen. Das ist das eigentlich Entscheidende in der Geschichte des ältesten Christentums. Von hier aus ist seitdem der Begriff des Christentums bestimmt. Es ist über- natürliche göttliche Stiftung im Gegensatz

gegen alles Geschehen und gegen alles Wirken Gottes in der Welt, eine Auffassung, die durch die Lehre von der Erbsünde vollendet wurde. Damit ist aber auch die Auffassung seines Gedanken- und Begriftsinhaltes bestimmt. Es ist von Gott mitgeteilte Weisheit und Er- kenntnis im Gegensatz gegen Weisheit und Erkennen der blinden und sündigen Welt. Die religiöse Wahrheit wird zu einem Inbegriff von göttlich mitgeteilten Erkenntnissen, deren Herrlichkeit gerade darin besteht, dass hier alle Un- sicherheit und Ungenauigkeit‘ aller Irrtum und alle Kurz- sichtigkeit fehlen, die das Kennzeichen der Weisheit der Welt bilden. Die Religion wird, soweit sie für Wissenschaft und Denken in Betracht kommt, zu einem Inbegriff von Dogmen, denen alle jene Prädikate der Göttlichkeit zukom- men, die ursprünglich der Geist und das Gottesreich hatten, d.h. alle Prädikate, die auch der Kirche als Ganzem zu- kommen, von deren Bestande die Dogmenja nur einTeil sind.

Mit diesem festen Panzer umgeben wurde das Christen- tum zu einer Macht, die festen Fuss im römischen Reiche fasste und schliesslich aus den ungebildeten in die ge- bildeten Schichten emporstieg, Hier begann nun die Notwendigkeit, sich mit dieser Bildung auseinanderzu- setzen, teils um sich nach aussen gegen sie zu verteidigen, teils um sie innerlich zu verarbeiten und die von den Christen der gebildeten Klassen selbst geteilte Bildung zu christianisieren. So kam es zu einer wissenschaft- lichen christlichen Litteratur, zu dem Compromiss beider Mächte, bei dem das Entscheidende das ist, dass die Verfestigung der christlichen Ideenwelt zu einer auf heiligen Schriften beruhenden göttlichen Lehrmitteilung sich schon vor diesem Öompromiss vollzogen hatte. Das

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Christentum trat als eine im Wesentlichen fertige und einheitliche Macht in diesen Compromiss ein. Auf der an- deren Seite war aber auch die Bildung und Wissen- schaft, auf die es stiess, eine fertige und selbständige, aus eigenen Quellen sich nährende und eng konzentrirte Macht. Es war keine in zahlreiche Einzelwissenschaften zerteilte, auf möglichst vielen Gebieten konkrete Einzel- kenntnisse suchende Wissenschaft, die gegen religiöse Spekulationen sich verhältnismässig gleichgiltig verhalten und einer neuen religiösen Idee sehr verschiedenartige und wechselnde Anknüpfungspunkte geboten hätte. Die grossen Tage der griechischen Wissenschaft lagen weit zurück, namentlich die strenge Naturwissenschaft, wie sie die Atomisten und Aristoteliker betrieben hatten, und die fein ausgebildeten Spezialwissenschaften, die in Alexan- . drien geblüht hatten. Alles im modernen Sinne Exakte und Technische der Wissenschaft war fast ganz wieder aufgegeben. Das nationale Sitte und Religion zermal- mende Römerreich hatte vielmehr ein brennendes Be- dürfnis nach neuen religiösen und moralischen Normen, nach einer Gesamtweltanschauung hervorgerufen, und dieses Bedürfnis wurde nicht streng fachmässig behan- delt, sondern seine Befriedigung lag in den Händen der sektenartig organisirten, vor allem praktische Ziele ver- folgenden Philosophenschulen und in den Händen der Rhetoren, die das alte klassische Griechisch erneuernd zugleich Moral und Charakter erneuern wollten und das durch eklektische Verbindung der Sätze der alten Dich- ter und Philosophen zu einer ethisch-religiösen Gesamt- weltanschauung zu erreichen suchten. Und auch als sich unter dem Einfluss der mächtigen religiösen Strömungen

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im Neuplatonismus eine gewaltige philosophische Neu- schöpfung erhob, da waren doch auch hier nur die äl- teren platonischen und stoischen Elemente fortgebildet und vor allem auch hier die Absicht nur auf eine reli- giös-ethische Weltanschauung gerichtet. Das Charak- teristische dieser Wissenschaft ıst also, dass sie eine religiös-ethische Weltanschauung darstellte und diese Weltanschauung nicht aus der Verarbeitung der breiten Gebiete der Erfahrungswissenschaften ge- wann, sondern einfach und rasch aus einigen Grundbe- griffen, wie dem des Seins, des Geistes, der Materie, der Natur, durch systematische Deduktion herausspann. Dabei war sich diese Wissenschaft wohl bewusst, dass sie inihrem Kerne und in ihren Antrieben eng zusammen- hing mit der Volksreligion, dass sie nur deren religiöse

und mythologische Grundgedanken begriftlich reinigte und

inihren Ausgangspunkten, den Begriffen des Seins, der Seele, der Materie, letztlich der Volksreligion entstammende (Gedanken verwendete. Sie nahm daher auch deren Mythen und Götter auf in ihre Systeme und suchte ihre Ahnen in den alten Dichterpropheten, einem Orpheus, Pytha- goras und Hesiod. Sie fühlte sich als das wissenschaft- liche Ergebnis von Volksreligion und Volkssitte, und in

dem Gefühl dieses Blutszusammenhanges stand sie mit

Staats- und Volksreligion gegen die Religion der neuen Weltverbesserer und Zukunftsenthusiasten.

Mit dieser Wissenschaft traf der Glaube der Kirche zusammen, sie musste er trotz des von beiden Seiten em- pfundenen und oft bitter betonten Gegensatzes sich as- similiren. Denn aus sich selber eine Wissenschaft zu

erzeugen, hatte das Christentum weder Trieb noch Fähig- Troeltsceh, Wissenschaftliche Lage. 2

Se

keit, und die langsame Herausbildung wissenschaftlicher Begriffe aus der religiösen Vorstellungswelt, die bei den mythologischen Volksreligionen stattgefunden hatte, war bei der Gebundenheit und festen Prägung kirchlicher (Glaubenswahrheiten unmöglich, bei dem Vorhandensein einer bereits fertigen Wissenschaft auch überflüssig. Es nahm die Wissenschaft der Rhetoren- und Philosophen- schulen hin, wie es sie vorfand. In der That erwies sich auch nach der Ueberwindung der ersten Unsicherheiten und der anfänglichen Scheu vor dieser fremden Weis- heit der Welt eine Ausgleichung als nicht allzuschwierig. Denn beide bewegten sich ja in gleicher Richtung auf eine religiös-ethische Weltanschauung, und es galt nur, diese Richtungen möglichst zusammenfallen zu lassen. Auch das war schliesslich nicht allzuschwer. Denn die christlich-jüdische Ideenwelt hatte aus der mit griechi- schen Denkelementen geschwängerten Luft längst eine Reihe von Worten, Begriffen und Meinungen aufgenommen, die der griechischen Bildung entstammten, und umge- kehrt hatte die letztere, die allmählich international ge- worden war, manchen Tropfen semitischen Blutes in sich aufgenommen, namentlich den Ideen mystischer Offen- barungen und wunderbarer Erlösungen sich zugänglich gezeigt. So wurde es möglich, die Wissenschaft mit ihrer Lehre von dem Triumph des Geistes über die Sinnlich- keit und von der diesen Triumph bewirkenden göttlichen Weltvernunft als eine Vorahnung des christlichen Evan- geliums anzusehen, das ja auch die Ueberwindung der Welt lehrte, und derart jedes aus dem anderen zu er- gänzen und zu deuten. Die der weltlichen wie der christ- lichen Wissenschaft gleich geläufige allegorische Erklä-

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rung heiliger Texte machte diese Ergänzung vollends leicht thunlich, und nirgends mehr als in dieser geheimnis- reichen, dem Tiefsinn und der Caprice jeden Spielraum öft- nenden Methode zeigt sich der eigentümliche Charakter der die Weisheit der Welt in sich aufnehmenden Kirchenphilo- sophie: überall der Drang nach unmittelbar gegenwärtiger, absoluter religiöser und sittlicher Wahrheit, für die die heiligen Schriften und die Natur nur Hülle und rätselvolle Form sind, überall die Gleichgiltigkeit gegen den Zwang der Objekte und die an ihnen ausgebildeten Methoden, die Abwesenheit jedes historischen Sinnes und jeder exact na- turwissenschaftlichen Denkweise, dafür überall das Suchen nach den verborgenen Geheimnissen letzter Wahrheiten, in denen das Völkerchaos des römischen Reiches ein neues Zentrum seines erschütterten inneren Lebens finden kann.

Nur in einem Punkte nahm das Christentum eine prinzipielle Veränderung mit der Wissenschaft vor, und diese Aenderung ist eine wesentlich formale und fast un- bewusst vollzogene. Von seiner Voraussetzung aus, dass die wahrhaft religiöse Wahrheit übernatürliche, nur der Kirche gegebene Offenbarung sei, dass sie aller Er- kenntnis der Heiden gegenüberstehe wie die Kirche der Welt und der Geist dem Fleisch, sah es die religiös- ethische Weltanschauung des Spätgriechentums als eine ohne jede Mitwirkung von Religion und Offenbarung zu Stande gekommene, als eine blosse Leistung der Ver- nunft an, die sich selbst überlassen von den göttlichen Dingen auf eigene Faust Erkenntnisse zu gewinnen sucht. Unbekannt mit dem Wort und Begriff „Religion“ und vor allem mit dem Begriff einer Mehrzahl von Religionen kannte es nur den Gegensatz von Kirche und Welt, von

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Öftenbarung und Vernunft, von Gläubigen und Heiden. Es ignorirte den thatsächlichen Zusammenhang jener Welt- anschauung mit der positiven griechischen Volksreligion und betrachtete sie lediglich als eine ausser- und vor- religiöse Erkenntnis. Oder, soweit es den Zusammen- hang anerkannte, betrachtete es dann eben auch die griechische Volksreligion als Philosophie, nicht als Re- ligion. Damit trat ein ganz neuer, ausserordentlich fol- genreicher Begriff in die geistige Geschichte ein, dem freilich die freisinnige jüdische Theologie vorgearbeitet hatte, der Begriff einer Wissenschaft und Weltanschau- ung, die wesentlich Moral und Gottesbegriff mit den ent- sprechenden kosmologischen Folgerungen ist, aber nicht aus Religion und Offenbarung, sondern aus natürlicher Vernunft hervorgeht. Das Wort, mit dem diese Wissen- schaft bezeichnet wurde, das Wort „natürlich“ war selbst aus der griechischen Wissenschaft hervorgegangen, aber indem es die christliche Theologie sich aneignete und es aus dem Gegensatze „übernatürlich“ erklärte, em- pfieng es einen neuen Sinn. In dem pantheistischen Glau- ben an die alles durchwaltende Weltvernunft hatte die Stoa die Gesetze der materiellen Welt und die instink- tiven moralischen Ueberzeugungen als aus der Natur her- vorgehend bezeichnet und im „Natürlichen“ das Kenn- zeichen des Göttlichen und Wahren gesehen. Die Christen nahmen Wort und Gedanken auf, aber, wie ihnen alles ausserhalb der Kirche Welt und Fleisch war, so über- trugen sie auch auf diese natürliche Erkenntnis der Wis- senschaft alle Prädikate der Welt und des Fleisches, den vollen Gegensatz gegen Offenbarung, Erleuchtung, Kirche und Heilisung. Die „natürliche“ Gotteserkenntnis hat

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nichts mit Offenbarung und Religion im eigentlichen Sinne zu thun, sie ist ein Erzeugnis des Verstandes oder der Vernunft, von Menschen und nicht von Gott gewirkt. Und wenn später diese Erkenntnisse als natürliche Offenba- rung oder Religion bezeichnet werden, so heisst das so viel wie uneigentliche Offenbarung und Religion. Beides gab es im eigentlichen Sinne nur in der Kirche. Die Wissenschaft floss daher zwar aus der ausserhalb der Kirche ausgegossenen göttlichen Vernunft, aber diese göttliche Vernunft ist die im sündigen, sich selbst über-. lassenen Menschen wirkende. Die Natürlichkeit der Er- kenntnis ist nicht mehr der Beweis ihrer unmittelbaren Göttlichkeit und Wahrheit, sondern der Beweis ihrer Fehlbarkeit und Getrübtheit, wo nur durch indirekte göttliche Mitwirkung noch einigermassen Wahrheitser- kenntnis möglich ist. Das Wort „natürlich“ tritt als Kunstwort ein für das, was die Sprache der alten Chri- sten Welt und Fleisch genannt hatte, wobei nur die wenigstens relative Schätzung der Weisheit der Welt zeigt, dass die alte schroffe Spannung zwischen Welt und Glaube etwas abgenommen hatte. Von hier aus ist der Begriff der Wissenschaft bestimmt, wie ihn das alte Chri- stentum anerkannte: Die Wissenschaft ist na- türliche Gotteserkenntnisund Moralim Gegensatze zur übernatürlich mitgeteil- ten undwirksamen Öffenbarungder Kirche undihrer heiligen Schriften. Sie beruht auf der indirekten Offenbarung im Denken der sich selbst überlassenen Vernunft, und diese Vernunft verfährt we- sentlich spekulativ und deducirend, indem sie von einigen Grundbegriffen aus eine spiritualistisch-teleologische Welt-

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anschauung gewinnt, in welche die spärlichen Erfahrungs- erkenntnisse locker und ohne besonderes Interesse ein- gereiht werden. Als solche dem Irrtum unterworfene und in die Tiefen der Gottheit nicht dringende Vernunft ist sie der Ergänzung durch die Offenbarung fähig und bedürftig.

An zwei zentralen Stellen der kirchlichen Lehr- bildung tritt das Ergebnis dieser grundlegenden Aus- einandersetzung gewissermassen monumental zu Tage. ‚In ihnen ist der Niederschlag der ursprünglichen Aus- gleichung von Christentum und Wissenschaft, Kirche und Welt, Offenbarung und Vernunft weithin sichtbar ent- halten, und an der Geschichte dieser Begriffe vollzieht sich der ganze Wandel im Verhältnis des Christentums zur Wissenschaft. Die eine dieser Lehren ist daher auch in der Dogmengeschichte immer scharf beleuchtet worden, die andere, weil sie nach der bislang üblichen Scheidung der übrigens noch ungeschriebenen Geschichte der christlichen Ethik angehört, ist meistens ignoriert worden, obwohl sie für die geschichtliche Entwickelung noch RR en ist. Die erste Stelle ist die Chrisigg fenbarmiteshedentäns De der, indem er die göttliche Vernunft oder den göttlichen Logos vollkommen offen- bart und incarniert, zugleich die ausserchristlichen philo- sophischen Spuren der göttlichen Vernunft vollendet und in sich zusammenfasst. Der Christus und Messias des alten Evangeliums, der Verkünder und Bürge des kom- menden Gottesreiches wurde zur Menschwerdung der göttlichen Vernunft, die übernatürliche Offenbarung und Weisheit der Kirche zur Vollendung der natürlichen

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Vernunft, die draussen gewirkt und im Kampf mit den Täuschungen der Dämonen und der Sinnenlust des natür- lichen Menschen gestanden hat. Hier erstrahlt rein, voll und unmittelbar, was als gebrochenes, getrübtes und mittelbares Licht auch schon draussen geleuchtet hatte. Daraus erwuchsen dann die Nötigungen, diese in ‚Jesus offenbare Gottesvernunft oder den Logos zu Gott, dem Vater, in Beziehung zu setzen und das Verhältnis des Menschen Jesus zu der in ihm verkörperten Gottesver- nunft zu bestimmen, und auf diesen Grund mussten dann die übrigen Bestandteile des Jesusbildes, die Liebe des Dulders und das Opfer des Märtyrers, aufgetragen werden. So entstand die kirchliche Trinitätslehre und Christolo- gie als ein Compromiss der kirchlichen Lehre von einer übernatürlichen Gottesoffenbarung im dem Bringer des Gottesreiches mit der philosophischen Lehre des Alter- tums von dem in aller Weisheit und Philosophie wir- kenden göttlichen Logos. In der weiteren Entwickelung trat freilich dieser ursprüngliche lebendige Zusammen- hang der Christologie immer mehr in das Dunkel des Mysteriums zurück und wurde dieses Mysterium durch scholastische Behandlung immer mehr der gefährlichen Nähe rationaler Gedanken entrückt. In demselben Masse aber trat die zweite Lehre bedeutsam hervor. Sie betrifft die praktische Sittlichkeitsforderung, die der Logos-Chri- stus der Menschheit gebracht hat und die bei ihrer schroffen anfänglichen Entgegensetzung gegen Welt, Staat und Kultur mit jedem Schritt der Kirche in die Welt dringender einer Ausgleichung mit der weltlichen Moral bedurfte. Das geschah denn auch in vollkommen analoger Weise, wie die Logoschristologie den natürlichen

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und geofienbarten Gottesbegriff vereinigt hatte, durch entsprechende bedingungsweise Vereinerleiung eines kirch- lichen Hauptbegriffes, des Begriffes des neuen Gesetzes Christi, mit einem antik-philosophischen Hauptbegriffe , dem Begriff des natürlichen Sittengesetzes, der lex naturae. Die Verheissungen der Kirche waren an die Befolgung ihres Moralgesetzes gebunden, und mit dem Zusammenschluss der Kirche zur göttlichen Stiftung wurde dieses ihr Moralgesetz immer mehr zu fester Form und rigoroser Haltung gebracht. Gerade durch den Besitz dieses strengen heiligen, die innerste Regung der Seele regelnden Gesetzes ragte sie über Juden und Heiden hervor. Aber dieses Gesetz der Kirche musste zu den das Leben in der Welt und Bildung beherrschen- den (sesetzen in dem Masse in Beziehung treten, als die Kirche in der Welt und ihren Lebensformen sich festzu- setzen gezwungen wurde. Hier aber hatte bereits die Stoa von ihrem pantheistischen Grundgedanken aus den Begriff eines natürlichen, aus Anlage, Wesen und Bestimmung der Geschöpfe folgenden und ihre Harmonie mit der Um- gebung bewirkenden Gesetzes ausgebildet, und dieser Be- grift, dem, da er die aus der Natur des Geistes folgenden Forderungen aufstellte, eine spiritualistisch-asketische Färbung nicht fremd war, wurde sodann andrerseits doch auch von den römischen Juristen als philosophisch-ethische Grundlage des Rechtes verwertet. Aus ihm lernte man die Staats- und Gesellschaftstheorie ableiten und beides so- mit als Folgen der menschlichen Natur betrachten. Dieses natürliche Gesetz wurde nun vereinerleit mit dem christ- lichen Gesetz wie der Logos mit der Person Jesu. Es ist in der. Welt getrübt und verdorben, aber im Gesetze

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Mosis von Gott zusammengefasst und im Gesetze Christi wiederholt, der ihm nur noch einige besonders hohe und herrliche Gebote asketischer Moral hinzufügte. So lernte die Kirche ihr Moralgesetz erweichen und ausweiten, Staat und Gesellschaft aus dem natürlichen göttlichen Gesetz ableiten und doch den getrübten Zustand dieser Erkenntnisse aus ihrer eigenen Kraft ergänzen. Sie chri- stianisirtte die Cultur und verweltlichte und ergänzte ihre eigene Moral. Die volle Bedeutung dieser Gleichung aber trat erst hervor als die rationale Bedeutung der Christologie, die die Theologie der alten griechischen Kirche durchleuchtet hatte, zurücktrat, und die abend- ländische Kirche eine von ihr selbst geschaffene Kultur zu leiten unternahm. Hier wurde die Identität des na- türlichen Gesetzes mit dem Gesetz Mosis und dem Gesetz Christi der Eckstein der wissenschaftlichen Ethik und Theologie, das Fundament des Ausgleiches von Vernunft und Welt mit Offenbarung und Kirche. Ja diese Begriffe sind noch grundlegend für die Reformatoren und bilden den Ausgangspunkt der kritischen Zersetzung der kirchli- chen Weltanschauung im 17. und 18. Jahrhundert. Diese beiden Lehrstücke der tausendjährigen christ- lichen Dogmatik sind jedoch nur Beispiele für die Art des grundlegenden Vertrages. Das Entscheidende an ihm sind die ihm zu Grunde liegenden beiderseitigen Begriffe vom Christentum und von der Wissenschaft, und aus dem Wesen dieser Begriffe ergab sich von selbst das Wesen des Compromisses, den die ersten Theologen geschlossen haben. Zum Dank dafür nannte man sie die Väter der Kirche. Es gab zweierlei Wahrheiten, die übernatürliche der Kirche und der heiligen Schriften und die natür-

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liche der Vernunft. Beide sind im Wesen gleichartig, nur im Umfang und der Sicherheit verschieden. Beide stammen von Gott und müssen daher vereinbar sein; alle im Erdenleben hervortretenden etwaigen Gegensätze stammen nur aus der Fehlbarkeit der menschlichen Ver- nunft, Theologische Kunst und Gelehrsamkeit lernte in die heiligen Schriften immer mehr Begriffe und Denk- weisen hineindeuten, die, über die thatsächlich vorliegen- den Berührungspunkte hinausgehend, Grundbegriffe der spätgriechischen Wissenschaft als christlich erscheinen liessen, andererseits gab die Dehnbarkeit und Weichheit einer spekulirenden und nicht streng methodisch an That- sachen gebundenen Wissenschaft die Möglichkeit, ihre Begriffe mannigfach den biblischen anzupassen. Und in allen Confliktsfällen, die sich auf diese Weise nicht er- ledigen liessen, gab schliesslich die kurzsichtige Fehlbar- keit der natürlichen Erkenntnis das Recht, Widersprüche gegen die kirchliche Gedankenwelt jedesmal ins Unrecht zu setzen, sei es dass man diese Widersprüche auf Rech- nung dämonischer Einflüsterung oder dass man sie auf die der natürlichen Schwäche und der Erbsünde setzte. Der ganze Compromiss fügte sich derart trefflich ein in den Compromiss, den die kirchliche Weltanschauung und Tiebensgestaltung überhaupt mit der. Welt schloss: auf der einen Seite die natürlichen Lebenszwecke der Güterer- werbung, die natürlichen Lebensformen des Staates und der Familie, die natürliche Moral der Sitte und des Rech- tes und die natürliche Erkenntnis der Wissenschaft; auf der andern Seite die übernatürlichen Lebenszwecke der Erlösung, die übernatürliche Lebensform .der Kirche, die übernatürliche Moral des Klerus, der consilia evangelica,

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der Mönche und die übernatürliche Erkenntnis der Often- barung. Die wissenschaftliche Behandlung und Bearbei- tung des Christentums bestand daher von da ab immer und überall nur inder Öonfrontation der über- natürlichen und natürlichen Offenbarung als zweier prinzipiell gleichartiger Erkenntnismassen. Das ganze, viel verhandelte Problem des Verhältnisses von (Glauben und Wissen, das durch moderne Umdeutungen beider Termini gegenwärtig einen so schwankenden und un- fassbaren Sinn erhalten hat, beruht auf diesem einfachen (segensatze und bewegt sich in den durch die Entsteh- ungsgeschichte dieses Gegensatzes festgelegten Bahnen. Sie wurden auf einander gestimmt, und dabei wurde bald mehr die Offenbarung nach der Vernunft, bald mehr die Vernunft nach der Offenbarung gemodelt, bald mehr der ‘Widerspruch, bald mehr die Uebereinstimmung betont. Die Formel hatte Raum für den Vernunfthass eines Ter- tullian, Augustin, Occam und Luther und für die Ver- nunftbegeisterung eines Origenes, Thomas und Zwingli. Dabei machte es auch nichts aus, dass die Auffassung des Inhalts der Offenbarung in Katholieismus und Prote- stantismus auseinanderging und auch innerhalb beider Kirchen mannigfach sich wandelte, oder dass der Inhalt der Wissenschaft durch zunehmende Bereicherung mit aristotelischen und empirischen Elementen sich nach und nach stark veränderte. Die Aufeinanderstimmung wurde immer schwieriger, aber damit stieg nur die Preiswür- digkeit der apologetischen Kunst,

3.

Es kam aber die Zeit, wo diese Kunst allzu schwierig

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wurde, weil die Voraussetzungen, auf denen sie beruhte, in dem allgemeinen Bewusstsein zerfielen und aus neuen Voraussetzungen neue Bestimmungen der geistigen Lage erwuchsen. Und zwar änderte sich die Lage nach beiden Seiten. Einerseits zerbröckelte in der langen dialek- tischen Arbeit der Zusammenpassung der von der Spät- Antike geerbte Begriff der Wissenschaft als einer philo- sophischen Ethik und Metaphysik oder als spekulativer Weltanschauung und formte sich der ganze Betrieb der Wissenschaft durch zwei dem späten Altertum wie der Kirche gleich unbekannte neue Wissenschaften um, durch das Aufkommen der empirischen Naturwissenschaft und der kritischen Geschichtswissenschaft. Andererseits zer- setzte sich in den Kämpfen des späten Mittelalters der Begriff von der Religion als einer übernatürlichen Kir- chenstiftung und zog sich das Uebernatürliche der Re- ligion in Mystik, Reformation, und Pietismus von den formalen Merkmalen einer äusserlichen, nur dem Chri- stentum eignenden, besonderen Natur- und Geschichts- kausalität auf die innere Uebernatürlichkeit des religiösen Erlebnisses selbst zurück, das im Verkehr mit Gott die Seele über die Welt erhebt und den tiefen, von einer blossen Betrachtung der empirischen Welt aus nicht zu- gänglichen Grund der Dinge im göttlichen Wesen und Leben aufthut. Der Begriff der Wissenschaft und der Be- griff des Christentums erlebte jeder eine bald allmählich vordringende, bald schroff zu Tage tretende Umwandlung.

Damit ist auch der alte Compromiss in die Brüche gegangen und die Grundlage für eine neue Verhältnis- bestimmung gegeben worden.

Die Wissenschaft nämlich streifte allmählich den

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oben bezeichneten Doppelcharakter des spätgriechischen, von der Theologie angeeigneten Denkens ab. Sie hörte erstlich immer mehr auf, in erster Linie religiös-ethische, aus einigen Grundbegriffen deducirte Weltanschauung zu sein. Sie erfüllte sich seit der ausgehenden Scholastik und der Renaissance immer mehr mit empirischen und realistischen Kenntnissen und Interessen und spaltete sich immer mehr in Einzelwissenschaften, die kaum noch mit einander zusammenhängend einzelne konkrete Gebiete nach den ihnen entsprechenden Methoden und mit rein fachwissenschaftlichem Erkenntnisinteresse bearbeiteten. Sie kehrte zu den atomistischen, aristotelischen und ale- xandrinischen Anfängen der Fachwissenschaften zurück und entwickelte sich von da, diese weit überbietend, zu einer fast unübersehbaren Ausdehnung. So emancipirten sich die Naturwissenschaften und bearbeiteten völlig auf eigene Faust die Erscheinungsgruppen der anorganischen und organischen Welt. Ihnen folgten die Geisteswissen- schaften und erforschten nach neuen kritischen Methoden den Verlauf der menschlichen Geschichte im Ganzen wie bei einzelnen Völkern mit dem Interesse zu erfahren, wie es eigentlich gewesen war. Auf dieser Grundlage ge- staltete sich dann auch die Erforschung der einzelnen socialen Gebilde, des Rechts, des Staates, der Wirtschaft,

der Moral neu und möglichst unabhängig von den Voraus- setzungen einer Metaphysik. Man untersuchte die er- fahrungsmässig vorliegenden Gebilde und erstrebte von hier aus einzelne selbständige Beurteilungsmassstäbe. Die Wissenschaft wurde zur Erfahrungswissenschaft und löste sich auf in Einzelwissenschaften. Freilich hörte damit der Trieb zur einheitlichen Erkenntnis nicht auf, er

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wirkte sogar in den grossen Metaphysikern des 17. Jahr- hunderts der neuen Lage gegenüber mit verstärkter Kraft. Aber es handelte sich dann nicht mehr um nur Phan- tasie und Logik erfordernde Ableitung aus einigen, für evident geltenden Grundbegriffen, sondern um Verein- heitlichung der neuen Erfahrungswissenschaften und um ihre Verknüpfung zum System. Alle diese Systeme zer- fielen wieder. Sie waren bloss individuelle Versuche, das Ganze zu bewältigen, und ihre Hauptwirkung war jedesmal, die Einzelwissenschaften mit neuen Anregungen zu befruchten. Damit zugleich fiel aber auch der andere Grundcharakter der bisherigen Wissenschaft, dass sie na- türliche Gotteserkenntnis oder natürliche Religion sei. Schon die Auflösung in Einzelwissenschaften und die Be- gründung auf Erfahrung und Thatsachen verhinderte, dass eine religiöse Idee m ihr die alles beherrschende Stellung einnehme. Aber auch die einzelnen Gebiete selbst ergaben von sich aus keine religiösen Ideen und blieben gegen solche gleichgiltig. Sie zeigten immer nur einzelne Wirklichkeitsbestandteile in regelmässiger Wech- selwirkung mit andern einzelnen oder die endlos bewegte Mannigfaltigkeit des historischen Lebens. Weder die Astronomie, noch die Physik oder gar die Ohemie brach- ten unmittelbare religiöse Ergebnisse. Nirgends verwen- dete die Geschichtswissenschaft unmittelbar religiöse Er- klärungsgründe oder ergab sie unmittelbar religiöse Be- griffe. Wo man aber zu der Zusammenfassung fortschritt und die letzten Endbegriffe der Einheit und des Grundes der Dinge suchte, da empfand man schliesslich, dass diese Begriffe ganz anderer Art sind als der wirkliche religiöse Gottesgedanke, dass hier das theoretische Interesse der

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Einheitlichkeit und Zusammenordnung der Wirklichkeit herrscht, während der religiöse Glaube praktische und per- sönliche Beziehung der Seele auf Gott ist. Und diese Er- kenntnis behauptete sich auch da, wo man beide verschmolz und die wissenschaftlichen Endbegriffe religiös deutete und ausfüllte. Immer stammten die religiösen Ideen aus der Religion und nicht aus der Wissenschaft. Die Wissen- schaft hat keine religiös-produktive Kraft, sie findet die Religion und den Gottesglauben als Thatsache vor und ist selbst erst dann religiös, wenn sie durch die eigen- tümliche Macht der Religion selbst sich zu einer reli- giösen Deutung ihrer Begriffe bestimmen lässt. Wer sich so bestimmen lässt, thut das durch eine persönliche und praktische Stellungnahme zu _der erfahrungsmäs- sigen Thatsache der Religion. Indem er den Gottes- glauben und die in ihm erschlossenen Werte und Zwecke des geistigen Lebens derart als in objektiver Wirklichkeit begründete Bestandteile der Wirklichkeit anerkennt, nimmt er sie als die wesentlichste Thatsache des Geisteslebens mit in den Ansatz auf, aus dem er das Ergebnis einer einheitlichen Zusammenordnung ziehen will und ordnet und deutet von ihr aus den Zusammenhang der Dinge.

Damit ist dann freilich nicht ausgeschlossen, dass die Religion zum Gegenstand wissenschaftlicher Betrach- tung gemacht werde. Aber diese Betrachtung ist dann nicht eine Confrontirung natürlicher und übernatürlicher Erkenntnisse, sondern eine wissenschaftliche Untersuchung der Religion als einer historisch-psychologischen That- sache, die Einzelwissenschaft von der geschichtlichen Er- scheinung des religiösen Lebens gleich den Einzelwissen- schaften von Recht, Staat, Gesellschaft und Moral. Die

Ergebnisse dieser Einzelwissenschaft können dann erst übergeführt werden in die Zusammenordnung der Er- gebnisse aller Einzelwissenschaften, wobei dann durch diese Zusammenordnung ihre Ergebnisse neue Beleuch- tung und mannigfache Modification erfahren werden. So stellt sich also von dem neuen Begriffe der Wissen- schaft aus das Verhältnis der Wissenschaft zur Religion ganz anders dar. Die Wissenschaft in ihrer höchsten Thä- tigkeit als Gewinnung einheitlicher Erkenntnis ist Verar- beitung der Ergebnisse der Einzelwissenschaften und setzt die Einzelwissenschaft von der Religion voraus. Damit hat jener Begriff von der Wissenschaft als der natürlichen Theologie endgiltig seine Bedeutung verloren. Die Wissen- schaft produciert nicht die Religion, sondern begreift sie. Sie ist keine Parallele zur Religion, eine andere Art des (rottesglaubens, sondern eine begrifiliche Vereinheit- lichung der Wirklichkeit, zu welcher neben zahllosen andern Wirklichkeitsgruppen auch die Religion gehört.

Von dieser neuen Stellung des Problems begreift sich aber auch und das ist einer der stärksten Be- weise ihres Rechtes wie es zu der alten hat kommen können und müssen. Das wissenschaftliche Denken ist immer, wie sehr es sich auch darüber in der Theorie getäuscht haben mag, thatsächlich von der Anschauung der konkreten Wirklichkeit in Natur und Geistesleben ausgegangen, hat aber bei dem natürlichen Bedürfnis fester, selbstverständlicher Ausgangspunkte und seinem natürlichen Drang nach raschen Abschlüssen herrschen- de Lebens- und Denkinhalte für unmittelbar sichere Voraussetzungen gehalten. Der stärkste unter diesen Inhalten war je und je Religion und Mythologie. Von

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ihnen ausgehend und sie kritisch bearbeitend, von ihren Einheitsbegriffen aus die Dinge deducierend erhielt es den religiösen und spekulativen Charakter. Es empfand sich als höhere Form der Religion. Mit der zunehmen- den Differenzirung, die es im der griechischen Wissen- schaft erfuhr, begann es sich allmählich von diesem Cha- rakter zu befreien. Aber die Bedürfnisse der sinkenden antiken Cultur und der mächtige Stoss der neuen reli- giösen Ideenwelt des Christentums hielten diesen Los- lösungsprozess auf und schufen eine neue Mischung von Religion und Wissenschaft, in der die Religion als Inhab- erin der höchsten Erkenntnisse zur Deduktion der Wirk- lichkeit aus religiösen Begriffen einlud und die Wissen- schaft umgekehrt die religiösen Ideen mit philosophischen Interessen bis zur völligen Selbstentfremdung durchsetzte. Die Religion erschien als Wissenschaft höchsten Grades und die Wissenschaft als Religion niederen Grades. Aber in den beständigen gegenseitigen Reibungen vollzog sich die Ablösung der Wissenschaft, die Befreiung der Ein- zelwissenschaften von allen religiösen Normen und die Ausbildung selbständiger Methoden in dem Verkehr mit dem jeweiligen Objekt. Nur die Metaphysiker des Ab- soluten hielten an dem Abschluss der Wissenschaft in einer natürlichen Theologie fest, aber nur um schliesslich inne zu werden, dass ihre Endbegriffe, soweit sie wirk- lich wissenschaftlichen Charakters sind, nur bedingt re- ligiösen Wert haben, und soweit sie wirklich religiösen Inhaltes sind, nicht aus der Wissenschaft, sondern aus der persönlichen Religiosität des Denkers stammen. So ist die Aufgabe einer wissenschaftlichen Behandlung der Religion von der Gewinnung einer metaphysischen na-

Troeltsch, Wissenschaftliche Lage. 3

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türlichen Theologie wegverlegt in die Einzelwissenschaft von der&Religion, eine historisch-psychologische Erfah- Yungswissenschaft, die sich die als Religion bezeichneten Erscheinungen des menschlichen Bewusstseins zum Gegen- stand ihrer Forschung macht und auch hier ihre Methode möglichst unbefangen und selbständig im Verkehr mit dem Objekt ausbildet. Es ist die Methode, die auf der Grundlage des Deismus Lessing, Kant und Herder an- gebahnt haben und die Schleiermacher und de Wette mit unbefangenerer Würdigung des spezifisch Religiösen fortgebildet haben. Aber auch die grosse Konstruktion Hegels entzieht sich nicht dieser Grundauffassung. Auch sie behandelt die Religion als ein spezifisches, durch be- sondere psychologische Erscheinungen charakterisiertes Bewusstseinsgebiet, dessen Inhalte er nicht mit einer na- türlichen Theologie des Absoluten konfrontirt, sondern dessen Entwickelung er nur in den allgemeinen Zusam- menhang der Entwickelung der Idee einstellt und dadurch in ihrer Notwendigkeit zu begreifen sucht. Je mehr aber die bei diesen Forschern immer noch wirksamen Bezieh- ungen auf eine rationale Metaphysik oder auf die Nach- bargebiete der Moral und Kunst zurücktreten, je mehr sich im Vergleich zu ihnen der Beobachtungsstoff aus- gebreitet hat, um so mehr nähern wir uns einer wirk- lichen Einzelwissenschaft von der Religion, die der Eigen- tümlichkeit und Selbständigkeit dieses Leebensgebietes gerecht wird und dadurch auch der wissenschaftlichen Verständigung über die Frage unseres gegenwärtigen re- ligiösen Lebens dienen kann.

Damit es aber hierzu kommen und damit diese Wen- dung der Wissenschaft für die Theologie Früchte tragen

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konnte, bedurfte es auch einer Wandelung auf der an- deren Seite des alten Verhältnisses, des altkirch- lichen Begriffesvom Christentum. Dieser Begriff mit seinen drei Merkmalen einer ausschliessenden und allen anderen Lebens- und Geschichtsgebieten ver- sagten übernatürlichen Kausalität, der Beschränkung der eigentlichen Religion auf die Zugehörigkeit zum überna- türlichen Kircheninstitut und der Zusammenziehung der Religion in kirchliche Moralgesetze und Dogmen löste sich auf, und zwar nicht bloss durch äussere rationali- stische, sondern vor allem durch innere, religiöse Kritik. Hier bedeutet in erster Linie die Reformation einen be- deutenden Schritt. Sie löste das fromme Individuum wieder von dem übernatürlichen Kircheninstitut und stellte die Frömmigkeit auf den freien persönlichen Ver- kehr mit Gott. Nicht Dogmen galt es anzuerkennen und Gesetze zu erfüllen, sondern Gott in Christus zu finden und damit die Freiheit, die zu dem freiwilligen Dienst einer unbegrenzten Liebe und doch zu einer völ- ligen Unabhängigkeit von der Welt führt. Nicht Staat, Gesellschaft und Cultur galt es von den Normen eines absoluten Kircheninstituts aus zu reguliren, sondern der aus der Natur der Dinge folgenden Entwickelung dieser Lebensformen einen tiefen religiösen Ernst einzuhauchen und dem mit ihnen verbundenen Hang zur Welt ein (Gegengewicht des inneren Lebens entgegenzustellen. Freilich hat der Augustinismus der Reformatoren den alten Protestantismus bei einer Sünden- und Gnaden- lehre festgehalten, welche die nichtchristliche Welt der christlichen in der alten Weise als die natürliche, d.h.

verfinsterte, sündige und auf bloss uneigentliche Gottes- Er

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erkenntnis angewiesene entgegensetzt, und so hat er schliesslich doch selbst ein Kirchentum erzeugt, das nur ein Nachbild des katholischen ist. Aber schon der Pie- tismus trennte wieder die subjektive persönliche Fröm- migkeit von dem übernatürlichen Gnadeninstitut der Kirche und verselbständigte sie auch der Bibel gegenüber zu einem durch sie nur angeleiteten persönlichen Ver- kehr mit Gott. Ja die radicalen Pietisten verlegten das Uebernatürliche so sehr in die religiöse Erhebung selbst, dass nur noch ein Schritt zur Anerkennung der gleichen Uebernatürlichkeit in allen religiösen Erlebnissen, auch den ausserchristlichen, übrig blieb und die prin- zipielle Kluft zwischen Christentum und Nicht-Christen- tum überwunden wurde.

In der gleichen Richtung wirkte die Kritik an den historischen Ueberlieferungen der Kirche, die schon von den Reformatoren begonnen worden war, um die Fik- tionen aufzudecken, durch die sich die Kirche als absolut unveränderliche, göttliche Stiftung zu beweisen und die freie persönliche Frömmigkeit an übernatürliche Auto- ritäten zu fesseln gesucht hatte. Der Fortschritt auf dieser Bahn führte zu einer noch weitergehenden Kritik, die nicht bloss die Geschichte der katholischen Kirche, sondern auch die der Bibel, des Volkes Israel und des Urchristentums mit den Massstäben einer allgemeinen historischen Kritik bearbeitete und hier überall ein Ge- schehen aufdeckte, das dem sonstigen Geschehen in der Welt analog ist. Damit fiel nach und nach. auch von der historischen Seite her die Trennung christlicher und. nicht-christlicher Religionsgeschichte, und es ergab sich schliesslich ein Verständnis der jüdisch-christlichen Re-

ligionsgeschichte, das diese mit der allgemeinen Religions- geschichte aufs engste verflochten zeigte. Was in Wirk- lichkeit so eng zusammenhing, konnte nicht absolut ver- schiedenen Sphären angehören, sondern musste seine Stelle im Zusammenhang eines gleichartigen Ganzen haben, und der einmal von Dogmen, Gesetzen und Insti- tutionen auf deren hervorbringenden Grund, auf die Frömmigkeit selbst, gerichtete psychologische Blick ent- deckte in allen religiösen Bildungen des Christentums und auch in denen der sogenannten Heidenwelt die gleiche psychologische Art des religiösen Bewusstseins.

Damit war aber auch dasjenige Element, das den alten Kirchenbegriff vor allem bedingt hatte, aufgelöst, die Meinung, die Religion bestehe in Lehrsätzen, "Wahr- heiten und Erkenntnissen untrüglicher Art, die ebendes- halb in einer streng supranaturalistischen Lehre von der Kirche oder der Bibel das Fundament und den Beweis einer solchen Geltung erhalten mussten. Was die christliche Urzeit instinctiv gewusst hatte, und was Allegorese wie My- stik immerdar anerkannt hatten, dass nämlich alle Begriffe und Worte auf religiösem Gebiete an den Gegenstand nicht heranreichen und höchstens ein trübes Abbild sind, das lehrte die Selbstbesinnung der von Reformation und Pietis- mus befreiten religiösen Innerlichkeit prinzipiell verstehen und schliesslich mit psychologischer Einsicht begründen. Vorstellungen, Gedanken und Begriffe sind auf dem Ge- biete der Religion nur Symbole, die einen religiösen Ge- ‚fühlsgehalt ausdrücken und die ebendeshalb dem Wandel der Zeit und der Verschiedenheit der Individuen unter- worfen sind. Alte Symbole können mit der Sprache und der allgemeinen Begriftswelt verschwinden. Eine neue

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religiöse Sprache kann sie umbilden oder durch neue er- setzen ; von neuerschlossenen Begriffen und Erkenntnissen aus können sich neue Symbole für die durch sie erregten religiösen Stimmungen gestalten. So sehr Trägheit und Gleichgiltigkeit oder Aengstlichkeit und Kurzsichtigkeit einerseits, Bedürfnis nach Halt und Stärkung oder kle- rikale Klugheit andererseits solche Symbole immer und überall zu Glaubens- und Moralgesetzen, zu göttlichen Mit- teilungen und Orakeln zu versteinern streben, so sehr weicht sie doch die lebendige religiöse Erregung immer wieder auf und so scharf erkennt die psychologische Analyse den sekundären Charakter aller dieser Erscheinungen. Dann aber haben die religiösen Vorstellungen des Christen- tums vor denen aller anderen Religionen keinen beson- deren Vorzug einer untrüglichen Formulierung und einer übernatürlichen Gewissheit. Dann sind sie Symbole wie die Vorstellungswelt anderer Religionen auch, und es kommt nur auf die Tiefe und Kraft des in ihnen symbolisirten religiösen Gehaltes an. Was die Entwickelung der Phi- losophie gelehrt hatte, dass ihre letzten Einheitsbegriffe logischer Natur sind und nur bedingt und unmittelbar religiösen Wert haben, bestätigt sich von Seiten der Ana- lyse der religiösen Vorstellung, die nur als übernatür- liche göttliche Lehrmitteilung und kirchliches Dogma mit einer philosophischen Lehre gleichartig rivalisiren konnte, die aber, in ihrem wahren Verstande sich erkennend, nunmehr ihren subjektiv-persönlich bedingten, individu- ellen und symbolischen Charakter versteht und daher auch von ihrer Seite aus nicht mehr mit einer wissen- schaftlich bewiesenen natürlichen Theologie konfrontirt zu werden verlangt.

Mit alledem aber sind von Seite des Selbstverständ- nisses des Christentums die Voraussetzungen für die Ein- reihung des Christentums in die Einzelwissenschaft von der menschlichen Religiosität, in die allgemeine Religions- wissenschaft, gegeben. Der Gegensatz von „natürlich“ und „übernatürlich“, von Kirchenoffenbarung und blosser Welt- weisheit ist aufgehoben, weil seine Voraussetzungen in der Anschauung von der Wissenschaft und vom Christen- tum hinfällig geworden sind. In aller Religion giebt es „Natürliches“ im alten, religiösen Sinne des Wortes, den bloss vorgefundenen Seelenzustand, der durch reli- giöse Erhebung und That erhöht und überwunden werden soll. In allen giebt es Uebernatürliches, nämlich das Wirken Gottes, das überall aus der blossen Natur em- porhebt in ein Reich geistiger und notwendiger Werte und das überall mit Sünde, Trägheit und Irrtum kämpft. Die grosse Frage ist nur, wie in der religiösen Entwi- ckelung des menschlichen Geschlechtes Ziel und Rich- tung eines Fortschrittes aufzuweisen ist. Hier ist es die grosse Aufgabe zu zeigen, wie das Christentum in seinem allgemeinen und prinzipiellen religiösen Sinne in den Mittelpunkt der religiösen Gesamtentwickelung getreten ist und wie in dieser Richtung jeder weitere Schritt zu gehen haben wird. Wenn aber die Aufgaben sich so stellen, dann ist der von der Ausbildung der neueren Wissenschaft geforderte Begriff einer Einzelwissenschaft von der Religion thatsächlich gewonnen. Eine umfas- sende Wissenschaft von Wesen und Entwickelung des religiösen Bewusstseins der Menschheit ist. zu Stande ge- "kommen, und sie bildet das Fundament aller wissen- schaftlichen Theologie.

409°

So münden beide Wege zusammen, und an ihrem Kreuzungspunkt verschwindet der altkirchliche Compro- miss einer natürlichen und übernatürlichen Gotteser- kenntnis sowie die auf ihm aufgebaute Kirchenphilosophie und -theologie des spätantiken Völkerchaos. Diese Kir- chenphilosophie und -theologie hat ihr grosses Werk ge- than. Sie bedeutet nicht eine blosse ungeheure Lücke zwischen Altertum und Neuzeit. Sie hat vielmehr durch Analyse der geheimsten Beziehungen und Bedürfnisse des Seelenlebens von Augustin’s Soliloquien und Oonfes- sionen bis zu Dantes Vita nuova und Divina comedia die Erkenntnis der inneren Welt unendlich vertieft, eine Kunst und Dichtung inspirirt, in denen sich die Tiefe des Seelenlebens in einer die Antike weit überbietenden Weise offenbart, und sie hat durch ihre Idee des all- umfassenden Gottes- und Weltreiches der Kirche die Idee einer Geistesgemeinschaft der Gesamtmenschheit, einer in Wissen, Glauben und Sittlichkeit geeinigten Humanität, stärker und gehaltvoller eingeprägt, als es die Versuche der Stoiker und Cyniker je vermocht hätten. Aber ihre Grundlage in dem einfachen Compromiss von Antike und Kirche, von Vernunft und Autorität hat sich unwider- sprechlich aufgelöst durch die Wandelung sowohl dessen, was sie als Autorität, als auch dessen, was sie als Vernunft bezeichnete. Die Wissenschaft ist nicht mehr natürliche Theologie mit gelegentlicher Reflexion auf das Wirkliche der Erfahrung und mit der Bereitwilligkeit, auf die Konsequenz ihrer Methoden vor dem Ueberna- türlichen zu verzichten, sondern sie ist vergleichende Zu- sammenfassung, Gesetze und Wertmassstäbe suchende Durchforschung_ der Erfahrungswirklichkeit, wie sie als

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materielle und seelische Wirklichkeit vorliegt, sicher in- nerhalb der von ihr gebildeten Einzelgruppen, weniger sicher in der Zusammenfassung dieser Gruppen zu über- geordneten Begriffen und noch unsicherer in der Gewin- nung letzter Einheitsbegriffe, die sich nur undeutlich am Abschluss logischer, erkenntnistheoretischer und ethischer Erwägungen ergeben, dafür aber um so sicherer in der Gewissheit, dass bewährte Methoden vor keinem Einzel- gebiete zurückschrecken dürfen, das sich unter dem Vor- wand der Uebernatürlichkeit ihnen entziehen will und doch thatsächlich lauter ihren sonstigen Ergebnissen widersprechende Aussagen über angebliche Wirklichkeits- bestände enthält. Andererseits ist das Christentum nicht mehr eine Kirchenautorität, die den Nachweis für ihren Autoritätscharakter in der Aufzeigung einer sie bewir- kenden und bezeugenden besonderen Natur- und Ge- schichtskausalität führt, sondern die innere Selbsthingabe an die zu uns aus der Geschichte sprechende und in un- sern Herzen wirkende Gottheit, eine im Zusammenhang

der gesamten Religionsgeschichte zu verstehende That-

sache des inneren Lebens, die sich in symbolischer Sprache mannigfach äussert und für diese Symbole mög- lichste Tiefe, Kraft und Einfachheit erstrebt, deren ge- schichtliche Vorbereitung und Entwickelung man unbe-

fangenster historischer Arbeit preisgeben darf, weil ihr

Inhalt, der Glaube an Gott, kein Gegenstand wissenschaft- licher Beweise, sondern ein inneres Erlebnis ist, das man

‚entweder hat oder nicht hat, dem man sich hingeben ‘oder sich entziehen kann.

Die Wissenschaft strebt die gesamte Wirklichkeit zu ordnen, zu formen, zu vereinheitlichen und zu beurteilen,

ei, yore

aber sie erzeugt hierbei niemals neue Wirklichkeit und ver- nichtet niemals gegebene, weder in der materiellen, noch in der geistigen Welt. Sie mag hierbei das Einzelne, indem sie es in neue Verbindung setzt, noch so sehr neuen, die naive und unmittelbare Auffassung berichtigenden Be- leuchtungen unterwerfen, sie mag in ihrem Suchen nach Verbindungen und Zusammenhängen Neues entdecken: immer ordnet, findet und beurteilt sie eine von ihr nicht geschaffene Wirklichkeit, und, was sie zu Unrecht im Eifer für Täuschung erklärt, wird, wenn es Wirklichkeit ist, sich wieder als solche ebenso sicher erweisen, wie | Beleuchtungseftekte, die oft als eine neue Wirklichkeit erscheinen, sich nur als neue Auffassung gegebener Wirk- lichkeit erzeigen werden. Und dabei giebt es für ihre Arbeit keine Grenze. Ueberall, wo die Analogie eines auf das andere zurückzuführen und eines mit dem an- deren in dauernde gleichartige Verbindungen zu bringen gestattet, da hat sie ihren Weg zu verfolgen ohne Scho- nung irgend eines Vorurteils. Nicht minder ist sie bei der Bildung ihrer Wertmassstäbe angewiesen auf die _Beob- achtung, "Analyse und Verbindung der gegebenen thatsäch- lichen Werte. Sie kann nicht neue erfinden, aber sie kann die gegebenen und werdenden in eine aus ihrem Verhältnis sich ergebende Skala bringen und darnach die einzelnen thatsächlichen Werte auf ihre Stufenhöhe be- urteilen. Aus allen diesen Gründen hat sie auch das Gebiet der christlichen Religionsgeschichte nach Beob- achtung der ersten Gleichartigkeiten und Analogien pro- faner und ausserchristlicher Religionsgeschichte immer vollständiger in den Bereich der bewährten allgemeinen historischen Methoden gezogen und ist dabei so siegreich

gewesen, dass auch diejenigen Theologen, die das Chri- stentum diesen Methoden entziehen wollen, ihnen doch eine unermesslich breite Peripherie haben preisgeben müssen und den ihnen entzogenen Rest übernatürlicher Stiftungen und Mitteilungen immer dunkler, unsicherer, parodoxer und verschwommener darstellen mussten. Und gerade so ist die Würdigung des Christentums immer mehr abhängig geworden von der bei seiner Einreihung in die geistige Geschichte sich ergebenden Wertbeurtei- lung. Eine Geistes- und Oulturphilosophie, die die grossen Inhalte des geistigen Lebens nach ihrer Bedeutung ab- zustufen strebt, bestimmt seinen Ort, und auch die Theo- logen, die seinen absoluten Wert nur durch den Auf- weis seiner übernatürlichen Begründung und Verursachung sicher gestellt glauben, verzichten doch nicht darauf, nachträglich und hilfsweise solche geschichtsphilosophische Bestimmungen einzuführen, die in der That zur Ergän- zung der gegen früher immer unbestimmter gewordenen Autoritätsbeweise unentbehrlich sind. All das sind un- umgängliche Folgen der wissenschaftlichen Methode. Ihre Grenze findet die Wissenschaft erst da, wo die Analo- gien und Gleichartigkeiten aufhören und sich grosse Ge- biete sondern, die nicht mehr aufeinander zurückzuführen sind. Deshalb sind auch die alten Fragen des Verhält- nisses von Leib und Seele, von Natur und Geist für sie bis heute dunkle Rätsel geblieben, zu denen sich als ähnliche Rätsel bis heute alle diejenigen Fälle gesellen, wo die ein Wirklichkeitsgebiet beherrschenden Ordnungs- prinzipien sich auf ein anderes mit eigenen andersartigen nicht oder noch nicht haben übertragen lassen.

Auf der andern Seite aber gehört die Religion als

seelisches Erlebnis der Gemeinschaft mit Gott zu den ursprünglichen Erlebnissen der Seele, die keine Wissen- schaft schaffen und keine zerstören, die sie höchstens erleichtern oder erschweren kann. Sie kann es nur als ein solches Gegebenes und Thatsächliches untersuchen, seine einfachsten Formen aufsuchen, seine Zusammen- hänge mit dem übrigen seelischen Leben erleuchten, seine Complikationen und geschichtlichen Wandelungen auf- decken und seine Bedeutung für das geistige Leben wie die Bedeutung und den Wert seiner geschichtlichen For- mationen feststellen. Sie wird hierbei freilich feste For- men, die Tradition und Meinung geschaffen haben, auf- lösen und hierdurch Raum für neue Complikationen schaffen, aber sie wird es niemals selbst hervorrufen oder vertilgen können. So tiefgreifend ihr Einfluss auf Art und Weise, Geschlossenheit und Sicherheit oder Zer- fahrenheit und Aengstlichkeit der Religion hierbei auch sein kann, so starken Wandel sie in der religiösen Lage wie in der Stimmung ganzer Generationen herbeiführen mag, so bleibt die Religion doch immer, was sie war, was sie in den Fesseln der Naturreligion unsicher und unfertig gewesen ist und was sie im Christentum aufs Tiefste und Deutlichste geworden ist, der Glaube an den lebendigen Gott, mit dem die Seele im Gebet sich heiligend und läuternd verkehrt und in dem sie den Halt findet für die menschliche Gemeinschaft wie für den Kampf mit der Natur. Es handelt sich nicht mehr um den Compromiss zwischen zwei fertigen Grössen, sondern um die beständig schärfer unterscheidende und umfassender beziehende wis- senschaftliche Auffassung und Beleuchtung eines selbst

werdenden und wachsenden inneren Lebens. Darum ist die neue Fassung des Verhältnisses weiter und gross- artiger als die alte. Eben deshalb sind aber auch mo- derne Versuche der Umdeutung des alten Compromisses abzulehnen, wie die nur scheinbar an Kant angelehnte Unterscheidung der Wissenschaft als der theoretischen, gesetzmässig-mechanisch verknüpfenden Vernunft und des (Glaubens als der praktischen, in Werturteilen sich be- wegenden Vernunft. Auch hier wird wenigstens bei dem gewöhnlichen Gebrauch dieser Formeln die „Wissenschaft“ auf die natürliche Welt eingeschränkt und ihr nur der Kopf der natürlichen Theologie abge- schlagen, während andrerseits die „praktische Vernunft“ oder der „Glaube“ sofort zu einem Werturteil über das Christentum als übernatürliche Offenbarung wird, wodurch es aus dem Zusammenhang der übrigen „menschlich und natürlich“ zu erklärenden Geschichte ausgeschaltet wird. Damit stehen wir nur wieder an dem alten Fleck, nur dass wir keine natürliche Theologie mehr haben, die die aus der Wirklichkeit sich ergebenden grössten Anstösse gegen eine religiöse Lebensanschauung beseitigt, und dass wir keine strenge Autoritätslehre mehr haben, welche diese Autorität wirklich umschreibt und begründet. Da- mit kehren aber auch alle die alten Schwierigkeiten wieder. In Wirklichkeit ist das ja auch natürlich nicht der Sinn der Kantischen Lehre und entspricht ihr Sinn vielmehr dem, was als der Charakter des neuen Ver- hältnisses bisher von mir bestimmt worden ist. Die Wissenschaft beschränkt sich nicht auf das Gebiet exakter kausaler Erklärung, sondern ist das Prinzip wissenschaft- lichen Denkens überhaupt, das allen seinen Gegenständen

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übergeordnet bleibt und sie zu ordnen und zu beziehen strebt; und, wenn sie bei diesem Geschäft der Ordnung psychologisch und erkenntnistheoretisch genötigt wird, zwei verschiedene Sphären, die eines streng exakten na- turwissenschaftlichen und die eines historischen, zugleich erklärenden und wertenden Denkens zu unterscheiden, so bleibt doch auf jedem Gebiete die Einheitlichkeit der Methode das unbedingte Ziel und bleibt den Ergebnissen beider Gebiete gegenüber die Aufgabe, sie nach Kräften zu vereinheitlichen oder doch die Stellen und die Gründe zu bezeichnen, wo die Möglichkeit einer Vereinheitlichung aufhört. Daher hat auch Kant das Christentum in die allgemeine Religionsgeschichte und in den allgemeinen Religionsbegriff eingestellt und hat auch er die von seiner Moralphilosophie, Kunstphilosophie und Religionsphilo- sophie festgestellten höchsten Werte mit den Ergebnissen und Problemen seiner Naturphilosophie in ein festes Ver- hältnis gebracht, bei dem schliesslich kein anderer Wider- spruch übrig blieb als der zwischen empirischer Kausa- lität und intelligibler Freiheit.

4.

Das ist die Lage der Gegenwart, wie sie zwar nicht die populäre Meinung oder die Durchschnittstheologie beherscht, wie sie aber aus der Consequenz der ganzen geistigen Entwickelung unweigerlich sich ergiebt. Aus ihr folgt das neue Verhältnis von Religion und Wissen- schaft ganz von selbst, wie aus den alten Begriffen von Christentum und Wissenschaft der Compromiss ganz von selbst sich ergab. Damit sind die alten Schwierigkeiten, Rätsel und Probleme, wie der religiöse Glaube mit un-

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serer Kenntnis der Sinnenwelt und ihrer scheinbar gleich- giltigen Naturgesetzlichkeit zusammenbestehen, wie der Geltungsanspruch des Christentums gegen ähnliche An- sprüche anderer religiöser Mächte sich behaupten, und wie sein alles Irdische überwindender Spiritualismus die Oultur und die weltgestaltende Moral in sich aufnehmen könne, freilich nicht auf einmal siegreich aufgelöst. Sie sind nur an eine andere Stelle gerückt, aber an eine Stelle, wo sie weniger drückend sind als in dem allmäh- lich unhaltbar gewordenen alten Compromiss. Sie be- treffen nicht gleich die erste Grundlegung, und ihre Be- antwortung muss nicht zum voraus hinter Autoritäts- theorien verschanzt werden. Sie sind Folgeprobleme, die erst dann zu erledigen sind, wenn der feste Grund in einer streng wissenschaftlich durchgeführten Religions- wissenschaft ohne jedes kunstreich privilegirte Vorurteil gelegt worden ist.

Hieraus ergeben sich dann auch die einzelnen For- derungen, welche die wissenschaftliche Lage an die Theo- logie stellt.

Die erste und grundlegende ist mit der bisherigen Darstellung von selbst gegeben: die Auffassung und Er- forschung des Christentums ist in den Zusammenhang der allgemeinen Religionswissenschaft als der mit der Religion sich beschäftigenden historisch-psychologischen Einzelwissenschaft einzustellen. Hier ergiebt sich in einer völlig selbständigen Weise der Grundbegriff dessen, was Religion ist, und das Kriterium, das ihre grössere oder geringere Stärke, ihre grössere oder geringere Reinheit festzustellen gestattet, die Einsicht in die Art ihrer Ver- bindung mit den anderen grossen Culturmächten, die nie-_

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mals ein absoluter Gegensatz und niemals eine vollkom- mene Einheit ist, die Erkenntnis ihres Fortschrittes und ihrer Entwickelung, die sich m der Betonung der Ein- heit, Geistigkeit, Ueberweltlichkeit, Heiligkeit und Leben- digkeit Gottes und eben damit in der ansteigenden Be- tonung ihres Erlösungscharakters kund thut. Deshalb ist auch nicht die Gefahr eines unbegrenzten Relativismus und damit die Auflösung jeder christlichen Theologie zu fürchten. Die Unterschiede sind nicht so gross und so mannigfaltig, als es dem an den äusseren Formen der Religion Haftenden erscheint, und eine aufsteigende Linie der Conzentration und Klärung ist deutlich zu beob- achten. Für jeden, der die Religion überhaupt an dem ihr eingeborenen Triebe und nicht nach ihrer Anpassung an fremde Lebensgebiete zu messen versteht, ist es völlig deutlich, dass in der grossen Jüdisch-christlich-islamischen Gruppe der religiöse Glaube seinen energischesten Aus- druck gefunden hat und dass in dieser wiederum das Christentum die Zusammenfassung der tiefsten, zartesten und kräftigsten Triebe ist, die aus ihrer gemeinsamen Wurzel, dem Prophetismus, hervorgegangen sind. Eben deshalb hat es sich auch als das mächtige Zentrum einer neuen Gedankenwelt zu erweisen vermocht, das nicht bloss verwandte und entgegenkommende religiöse Gre- danken des Altertums an sich zog, sondern trotz seiner ursprünglich rein religiösen Haltung auch dessen weltliche Kultur in seinen Geist hineinzuziehen, zu bereichern und fortzubilden vermochte),

1) Das Nähere habe ich ausgeführt in meinen Abhandlungen: „Die Selbständigkeit der Religion Z.f. Theologie u. Kirche 1895, „Geschichte und Metaphysik“ Ebd. 1898, „Christentum u. Geschichte*

Aber die historisch-psychologische Religionswissen- schaft ıst zunächst nur eine Einzelwissenschaft neben an- deren und muss als solche schliesslich auch auf die Fragen antworten, die aus dem Zusammensein mit den anderen Einzelwissenschaften erwachsen. Hierin liest die zweite Anforderung an die Theologie, die sich rasch von ver- schiedenen Einzelproblemen zu den grossen letzten und umfassenden Problemen erhebt und die Theologie in Be- rührung mit der Philosophie als der vereinheitlichenden Verarbeitung der Ergebnisse der Einzelwissenschaften bringt. Es handelt sich hierbei nämlich nicht bloss um vereinzelte Kollisionen mit Nachbargebieten, sondern, da der religiöse Glaube in seinen reinen und konzentrirten Gestalten eine Gesamtauffassung der Wirklichkeit be- deutet, um eine Stellungnahme gegenüber den Endbe- griffen, die sich aus der Zusammenarbeitung der wissen- schaftlichen Ergebnisse und ihrer Richtung auf ein Ge- samtbild der Welt ergeben. Hier ist es die Aufgabe zu zeigen, wie jede solche Zusammenarbeitung auf logische, erkenntnistheoretische und ethische Untersuchungen hin- ausführt und wie diese Untersuchungen ihrerseits wieder auf das Grundproblem des Verhältnisses von Denken und Sein, von Teleologie und Kausalität, von Sollen und Thatsächlichkeit hinausführen. Bei all diesen Problemen aber erscheint als letzter notwendiger Gedanke der Be- griff eines absoluten Bewusstseins, in dem der ganze Zwie-

Preussische Jahrbücher 1897, wozu die Auseinandersetzungen in dem Abschnitt „Religionsphilosophie* des Theologischen Jahres- berichtes 1895—1899 sowie mein Aufsatz „Ueber historische und dogmatische Methode der Theologie“ Z. d. Rheinischen Prediger- vereins 1900 zu vergleichen sind.

Troeltsch, Wissenschaftliche Lage. 4

50°

spalt und die Mannigfaltigkeit der gegebenen Wirklich- keit zugleich mit ihrer Einheit in einer uns unfassbaren, aber aus logischen und ethischen Gründen zu postuli- renden Weise gesetzt ist. Der unumgänglich zu bildende Begriff einer transszendenten Ordnung, in der die Gültig- keit des moralischen Gesetzes und um dieses willen die des logischen zugleich mit ihrer Realisirbarkeit begründet ist, zerstört den einzigen ernstlichen, philosophischen Feind der Religion, den Naturalismus, wenn er auch den Grundgegensatz der Wirklichkeit, den Gegensatz zwi- schen dem bloss Thatsächlichen und dem Sein-Sollenden nicht aufheben kann, sondern einschliesst. Bei diesen Begriffen, die für die strenge Wissenschaft approxima- tive Endbegriffe bedeuten, hat die Theologie einzusetzen. Sie hat zu zeigen, wie der religiöse Glaube nicht bloss eine seelische Thatsache ist, die der Skeptiker als ein grosses Rätsel auf sich beruhen und mit dem Hang des Menschen zum Ausserordentlichen und Grenzenlosen in Verbindung bringen dürfte, oder die der entschlossene Materialist als reine Illusion wegerklären könnte, son- dern dass ein Analogon zu ihrem Gegenstand überall am Schnittpunkt der verschiedenen Einzelwissenschaften und am Ende der abschliessenden logischen und ethi- schen. Untersuchungen auftaucht. Dieses Analogon ist nur ein Grenzbegriff, es ist nicht selbst Religion oder Ersatz für die Religion oder natürliche Religion. Es ist nur der geometrische Ort für alle wissenschaftlichen Be- ziehungen der Religion zu den Ergebnissen zusammen- fassender menschlicher Erkenntnis. Der Begriff eines schöpferischen, logische Einheit und ethische Werte sowie eine thatsächliche von ihnen zu gestaltende Wirklich-

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keit setzenden Geistes ıst das letzte Ergebnis, und zu diesem Ergebnis hat die von der Religion selbst genährte Selbstgewissheit des Geistes beigetragen. Aber es liegt als solches ausserhalb der Religion, die in ihrer eigenen Entwickelung aus eigener Kraft allein offenbaren kann, was sie sel. Um so energischer aber hat zwar nicht die Religion selbst, aber die Wissenschaft von ihr, die Theo- logie, auf diesen Beziehungspunkt hinzuweisen und ge- 'genüber jedem Materialismus und Positivismus ihr Fun- dament in der diese Betrachtung begründenden kritischen Philosophie auszubauen').

1) Der Durchführung dieses Gedankens war meine Abhand- lung „Die christliche Weltanschauung und die wissenschaftlichen Gegenströmungen* Z. f. Theologie u. Kirche 1893/94 ‚gewidmet. Allein ich kann mich auf diese Abhandlung bei ihrer dogmatischen Befangenheit, die sich schon in dem Titel ausdrückt, nur mehr sehr teilweise beziehen. Wie ein solcher Regress auf ein absolutes Bewusstsein von der logischen Seite her unumgänglich ist, habe ich aus Anlass einer Besprechung von Häckels Welträtseln ge- zeigt vgl. „Häckel als Philosoph“ Christliche Welt 1900, vol. auch den gesen Baumann gerichteten Aufsatz „Moderner Halb- materialismus“ Ebd. 1897. Das gleiche liesse sich von der ethi- schen und von der ästhetischen Seite her zeigen. In allen diesen Stücken sind die Grundgedanken Kants meines Ermessens bis heute vollkommen massgebend, wobei man sich freilich mit Nutzen der Zuspitzung der Kantischen Lehre in der Fichteschen Lehre vom Bewusstsein erinnert. Von diesem letzteren Fichte’schen Standpunkt aus hat H. Rickert „Fichtes Atheismusstreit und die Kantische Philosophie“ 1899 (auch in „Kantstudien“ 1899) die oben bezeich- nete Frage in einer Weise behandelt, der ich in Bezug auf den Hauptpunkt S. 22 und 25, den rein philosophisch-theoretischen Cha- rakter des Begriffes eines absoluten Bewusstseins und die Bezeich- nung dieses Begriffes als des geometrischen Ortes für die religiöse Gotteserkenntnis der historischen Religionen, völlig zustimme, wenn ich auch sowohl über die Art der Gewinnung des philosophischen ' Endbegriffes als über den metaphysischen Gehalt der historischen

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Dazu kommt noch eine dritte Forderung. Die übrigen Einzelwissenschaften erheben nicht bloss etwa Schwierigkeiten und Probleme gegenüber dem Glauben an Gott, die dann eine eingehende Prüfung der logischen und ethischen Begriffe zu überwinden hätte. Sie ergeben nicht bloss bei dem Versuch einer abschliessenden Zu- sammenfassung die Möglichkeit materialistischer und po- sitivistischer Doctrinen, in denen der einzige prinzipielle Gegner der Religion zu bekämpfen ist. Sie enthalten vielmehr auch grosse durchgreifende positive Erkenntnisse, die unser Weltbild bestimmen und die eine positive Fest- stellung ihrer Bedeutung und Wirkung für den religiösen Glauben verlangen. Es sei hier nur an die Hauptsachen erinnert: an das Öopernicanische Weltbild, das unsere Erscheinungswelt unermesslich erweitert und den alten Geocentrismus und Anthropocentrismus zu Fall gebracht hat; an die Abstammungslehre, die den Ursprung der

Religionen anders urteilen muss. Im Grunde ist die so bestimmte Fassung des Problems doch auch der wissenschaftliche Kerngedanke der Theologie Ritschls, wenn auch freilich sich Ritschl nicht dem Ausbau dieses wissenschaftlichen Gedankens zugewandthat, sondern dem praktisch-kirchlichen Interesse, die gegebene dogmatische Ideen- welt an seine kantisierende inhaltliche Auffassung des Christentums zu adaptiren und für diese Adaptirung den biblischen und dog- menhistorischen Traditionsbeweis zu liefern. Vor Ritschl und ausführlicher hat aber schon Schleiermacher diesen Standpunkt begründet. Die Lehre seiner Dialektik von dem die Beziehungen zwischen Denken und Sein im Erkennen wie im Handeln er- möglichenden Absoluten ist nichts anderes als der philosophische geometrische Ort für die historischen Gestaltungen seines specifisch religiösen Gefühls. Wenn seine Darstellung des Christentums die bekannte, aber doch sehr wenig konsequent festgehaltene panthe- istische Färbung erhalten hat, so ist daran weniger dieser Grenz- begriff des Absoluten als sein ethischer Determinismus und die romantisch-ästhetische Stimmung die Ursache.

gesamten organischen Welt von dem ersten Protoplasma- klümpchen bis zum Menschen aus der Zelle ableitet; an das Gesetz der Erhaltung der Kraft und der Einheit der Weltmaterie, das bei aller Dunkelheit seiner Deutung doch eine ungeheure, sich überall durch das Verhältnis aller Kräfte bestimmende Einheit der Natur zeigt; und schliesslich an das Gesetz des Kampfes ums Dasein, das auch bei strengster Fernhaltung aller mechanistisch- darwinistischen Deutung doch die Entstehung und Stei- gerung aller Gattungswerte im Kampf und durch schwere Leiden und Opfer der Individuen als ein Grundgesetz aller lebenden Wirklichkeit klar gemacht hat. Das sind nicht Theorieen, die man bekämpfen könnte oder müsste. Sie besagen, wenn irgend etwas Erkenntnis genannt werden darf, im Prinzip unerschütterliche Wahrheiten. Sie sind auch nicht mit einer versteckten, ignorirenden oder abschwächenden Duldung zu erledigen. Sie be- deuten, wenn irgend etwas Einfluss auf die Religion hat, den Ausgangspunkt starker, neuer und eigentümlicher religiöser Gefühle, in denen Ergebung und Demut mit der Bewunderung der Grösse und Harmonie des gött- lichen Wirkens verbunden sind. Es ist nicht an dem, dass dadurch, wie viele meinen, das Individuum über- haupt vernichtet, zu einem gleichgiltigen Rad in der Maschine oder gar zu einem zufälligen Nebenprodukt der Massenvorgänge gemacht würde. Im Gegenteil, das all das erkennende und denkende Individuum stellt sich durch dieses Begreifen der Wirklichkeit ihr noch schärfer gegenüber als früher, der Kampf mit einer im Einzelnen gegen die Zwecke des Geistes gleichgiltigen Natur hat das Gefühl des Unterschiedes von ihr und der Bestimmung

über sie hinaus noch verstärkt, und die Beobachtung einer im Kampfe aufsteigenden Entwickelung hat den Menschen nach Vernichtung des alten kosmischen Anthropocentris- mus doch wieder, wenn auch in neuer Weise, in den Mit- telpunkt und auf die Höhe der irdischen Lebewelt gestellt mit erneuter Betonung der Notwendigkeit abschliessender, - absolut wertvoller , geistiger Ziele dieser Entwickelung. Eben deshalb ist auch durch all das der Gottesglaube mit seiner Gewissheit des Wertes der Seele für Gott und vor (ott nicht vernichtet, sondern zu noch höherer Be- deutung für die Behauptung im Weltgetriebe und für die Gewissheit absoluter Werte gelangt. Aber freilich müssen wir Wert und Bedeutung des Individuums in vieler Hinsicht anders fassen und immer im Zusammen- hang mit den das Individuum einschränkenden Bedin- gungen des Zusammenhangs des Ganzen empfinden. Ehr- furcht vor der Grösse Gottes, Ergebung in die Uner- forschlichkeit seiner Wege, Bereitwilligkeit zum Opfer für das Ganze und Resignation in Bezug auf vermeint- liche Sonderzwecke und -wünsche unseres Einzellebens werden immer ernstlicher von uns verlangt. Zugleich werden wir immer stärker empfinden, dass dieser Wert nicht der gegebenen, unmittelbar vorgefundenen Seelen- Natur zukommt, sondern nur dem in der That des Willens und im der Hingabe an Gott geläuterten und geheiligten Geiste und dass wir gerade in diesem Glau- ben mit seinen sittlichen Folgen den eigentlichen Wert des individuellen Lebens haben, der auch gegenüber aller scheinbaren Unvernunft der Natur unserem Wesen und Leben einen göttlichen Sinn giebt und als das einzige unvergängliche Fundament der Liebe die Gattung zu den

höchsten Zielen verbindet. Ueber die Schicksale aber des Individuums jenseits der Sinnenwelt werden wir we- niger spekuliren dürfen als früher, wenn wir auch den Glauben nicht fahren lassen können, dass das scheinbare Chaos dieser Welt sich auf irgend eine ungeahnte Weise uns noch entwirren werde. Alles das sind religiöse Ein- drücke und Stimmungen, die von dem modernen Welt- bild sich ablösen, und die in der nicht theologisch ge- bundenen Litteratur deutlich genug bezeugt werden, die insbesondere indirekt bestätigt werden durch die ab- grundtiefe Skepsis derjenigen, die das Feuer christlichen Gottesglaubens nicht mehr im Herzen aufblassen können oder wollen. Es ist daher die Aufgabe der Theologie, die von diesen grossen Umwälzungen unseres Weltbildes ausgehenden charakteristischen religiösen Stimmungen in den christlichen Gottesglauben einzuschmelzen, den engen und kleinlichen Anthropocentrismus zu überwinden und die heilige göttliche Liebe auch in diesem so unendlich vergrösserten Weltall zur Empfindung zu bringen. Die Religion ist nie todt und fertig, sondern hat auf immer neue Probleme Antwort zu geben, auf immer neue Zu- stände oder Erkenntnisse zu reagiren, und sie wird das um so energischer und lebendiger thun, je tiefer und um- fassender sie das ganze innere Leben ergriffen hat. Was daher im praktischen Leben beständig aus dem Stegreif oder unter der Nötigung persönlicher Erfahrungen ge- schieht, die Einschmelzung der vom modernen Weltbild sich ablösenden religiösen Stimmungen in die uns über- kommene Frömmigkeit, das muss die Theologie prinzi- piell unternehmen. Dabei hat sie nicht mehr den alten Streit zwischen Perfektibilität und Absolutheit oder Suf-

ficienz, wie die dogmatischen Termini bezeichnend hiessen, zu fürchten. Das gehört der Periode der dogmatischen Auffassung der Religion an, die im Christentum eine entweder genügende oder noch zu vervollständigende Summe absolut giltiger Lehrbegriffe sah. Heute gilt es weder das eine noch das andere, sondern es gilt nur den religiösen Sinn aller grossen Veränderungen des neuen Lebens rein und innig zu begreifen und damit den christlich-religiösen Gedanken in seiner lebendigen Be- wegung zu erhalten, vermöge deren er in allen Lagen, Culturzuständen und Erkenntnisrichtungen die Seelen in Beziehung zum lebendigen Gott erhält!).

In diesen drei Sätzen sind die Anforderungen der wissenschaftlichen Lage an die Theologie ausgesprochen.

1) Einen Versuch, die Ablösung solcher religiöser Stimmungen von demneuen Weltbild darzustellen, habe ich in einer Charakteristik Leibnizens gemacht, die demnächst in dem Sammelwerk „Der Pro- testantismus der Gegenwart“ erscheinen wird. Ich hoffe diese Un- tersuchungen demnächst noch weiter ausdehnen zu können. Ue- brigens ist das nichts viel anderes, als wenn Goethe sich scherz- weise zur Sekte der Hypsistarier bekennt. Er meint damit nur die Modificationen des überlieferten christlich religiösen Gefühls, die sich gerade unter den religiösen Eindrücken des neuenWeltbildes erzeugen. Ueberhaupt will ich nicht verhehlen, dass das hier Vor- getragene in vieler Hinsicht an Gedanken Goethes orientiert ist. Goethe war freilich selbstverständlich kein führender religiöser Genius, aber er hat in seiner Altersweisheit auch über diese Dinge in einer erstaunlich tiefen, umsichtigen, zurückhaltenden und klaren Weise gedacht. Vgl. Otto Harnack „Goethe in der Epoche seiner Vollendung“ 1887 und Sell „Goethes Verhältnis zum Christentum“ 1899.

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Sie sind kurz und knapp, aber einschneidend und folgen- reich genug. Gleichwohl glaube ich nicht, dass sie der blosse Ausdruck einer ganz persönlichen Ansicht sind. Sie erscheinen mir vielmehr mit strengster Notwendig- keit aus der Lage zu folgen, und zur Hälfte oder irgend einem andern Bruchteil steht nahezu alle vorhandene Theologie, wenigstens der allein produktive Zweig der- selben, die historische Theologie, auf diesem Programm. Es gilt nur diese Grundsätze entschlossen und reinlich durchzuführen. Und wir brauchen dabei nicht zu ver- zagen, so wenig Gunst eine solche Arbeit gegenwärtig geniesst, wo man zur Rechten wieder Autorität um jeden Preis, auch um den einer ganz widerspruchsvollen, ge- flicekten und künstlichen Theologie, .erstrebt und zur: Lin- ken die Religion bestenfalls für ein diskutables Problem hält, beidem man aber sorgfältig vermeidet, persönliche, eigene Stellung zu nehmen. Das kann alles auf die Dauer nicht so bleiben. Das religiöse Problem, das gegenwär- tig freilich für den modernen Geist zu einer Frage unter den vielen grossen Fragen geworden ist, wird immer deut- licher und brennender hervortreten und immer mehr unbe- fangene, aufopfernde Arbeit auf sich ziehen. Dann wird auch die Zahl derer wieder wachsen, denen es eine Freude und ein Stolz ist, Theologie zu treiben auf Grund einer umfassenden einheitlichen historischen Methode, mit rein- licher Abgrenzung gegen die Endbegriffe der Philoso- phie und mit unbefangener religiöser Wertung dessen, was das moderne Weltbild an unwidersprechlichen neuen Zügen gegenüber dem des Altertums angenommen hat.

Dabei wird sich aber auch zeigen, dass diese Arbeit nicht

dem Chinesentum einer nur die blassesten Reste der Re-

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ligion stehen lassenden ethischen Cultur oder dem para- doxen, erlösungsgläubigen Atheismus des Buddhismus, noch einer angeblichen, nur in der Phantasie moderner Dichter, aber nicht in der alten Wirklichkeit existieren- den heiteren Kunstreligion der Antike zu Gute kommt, sondern dem christlichen Glauben an den heiligen, le- bendigen Gott, den die Kirche seit zwei Jahrtausenden verkündigt. Es kommt nur darauf an, durch eine wirk- lich auf die lebendigen methodischen Grundbegriffe der Gegenwart eingehende Arbeit die Theologie frei zu machen von aller apologetischen Not und Kunst, von dem Wirr- warr angefaulter Beweise, von den Halbheiten der Ja und Nein verwischenden Begriffsdämmerung und von der advokatenhaften Schlangenklugheit, bei der es an der Taubeneinfalt nur allzusehr fehlt. Dann wird auch die praktische Verkündigung freier und lebendiger aus der Subjektivität des Predigers hervorströmen können, der, was Ueberlieferung, Gemeinde und eigene innere Arbeit in seinem Wesen geformt hat, ohne allzu viel Seiten- "blicke und Beweiskünste verkündigen soll. Kann er doch mit allem, was er sagt und erläutert, im Grunde nichts anderes versichern, als was aufs einfachste und schlich- teste Conrad Ferdinand Meyer in einem seiner schönsten Verse ausspricht:

Was Gott sei wird in Ewigkeit,

Kein Mensch ergründen.

Doch will er treu sich jeder Zeit

Mit uns verbünden.

THEOLOGY LIBRARY CLAREMONT, CALIF.

VERLERG

3. 3. Mohr (Naul Siebe) in Tibingen, Freiburg i. B., Leipzig,

Die Möglichkeit des Ebhriffentums in. der modernen Welt. Von Eridj Foerfter,

Pfarrer in Fankfurt-a. M.

8. M. 1.20.

Die Wabrbeit der hriftlien Religion. Von D. Martin Wade. Klein 8. 1900. M.1.—. Gebunden M. 1.60.

ER Die Religion im modernen Geiftesleben. Altt einem Anhang: Meber das Märden von den (a Bingen in Lelfings Hathan.

D. Martin ade. Klein 8... M. 1,40. Gebunden M. 2.—.

i E Die wiffenfhaftlige und die Eiratine | Methode in der Theologie. |

"Ein encycelopädiiher Berjud. : Bon Carl Albredit Bernoudli. Groß 8. M. 3.20.

Die

I (wenige und Selalt einer kirh iden form, 2

ei Kirche der Reformation geroidmet ; vom Dr. Bofjantes Kreyenbühl, Privatdozent der Nhilofophie an der Univerfität Zitrich.

GroB 8 M. L—.

I C. .B. Mehr, (Paul Siebeck) in ‚Tübingen, Freiburg i. Bu, Leipzij

Sammlung gemeiny erständlicher Vorträge und Schrifte

aus. dem

Gebiet der Theologie und Religionsgeschichte.

4) Bernoulli, C. A., Das Konzil von Nicäa. 3) Bertholet, A., Der Verfassungsentwurf. des Hesekiel in - seiner religionsgeschichtlichen Bedeutung. 16) Bertholet, A., Die ısraelitischen Vorstellungen vom Zustand nach dem Tode; 1) Duhm, B., Das Geheimnis in der Religion. 6) Duhm, B., Die Entstehung des Alten Testa- ments. 9). Fries, 8. A., Moderne Darstellungen der (eschichte Israels. 2) Krüger , @., Die Entstehung .des Neuen Testaments. - 5) Löhr, M., Der Missionsgedanke im Alten Testament... Em Beitrag zur alttestament- lichen Religionsgeschichte.

12) Martensen Larsen, H., Jesus und die

Religionsgeschichte. 8) Meyer, A., Die moderne Forschune über a BL ‚Geschichte ‘des. Urchristentuns.. ‚13) Michelet, S., Israels Propheten als Träger der Offenbarung. 11) Sabatier,A,,DieReligion u.d. Inden Kaltür,

7) Saussaye, P. D., Chantepie de la, Die ver- =... 3, gleichende Religionsforschung und der. rei.

‚giöse Glaube.

19) Sell, K., Zukunftsaufgaben des deutschen ne Pr nie im neuenJJahrhundert. 1900. x 10) Soederblom, N., Die Religion und die soziale

Entwickelung.

ES 20) Troeltsch, E., Die wissenschaftliche Lage. N und ihre Anforderungen an die Theologie. Ri

ö 1900. 18) Vischer, E., ‚Albrecht Ritschls Anschauung

127 von evangelischen Glauben u. Leben. 1900. M 17) Weinel, H., Paulus als kirchlicher Organi- sator. NY ara

: 19) Wernle, P., Paulus als Heidenmissionar.

“. 16) Wildeboer, G., Jahvedienst und Volks- religion ‘in Israel in ShreM Begensatugen ?

Verh ältnis,

M. —.8 M. 8 MS M. —6 M. —:6 M. 0) Mid Ms Me f M. 22 MN 8 M. 8 M. —.6) M. 7 M 16 M.12 Mm Mmun M. zu .M. —&

. Drud von 9, Laupp jr in Tübingen,

Troeltsch, Ernst, 1865-1923. _

Die wissenschaftliche Lage und ihre Anforderungen an die Theologie; Vortrag

gehalten auf der Versammlung der sächsischen

kirchlichen Konferenz zu Chemnitz am 9. Mai 1900. Tübingen, Mohr, 1900.

58p. 2lcm. (Sammlung gemeinverständlicher Vorträge und Schriften aus dem Gebiet der Theologie und Religionsgeschichte, 20)

l. Religion and science--Addresses, essayS, lectures. I. Tit le. II. Series; Samm- lung gemeinverst- ändlicher Vorträge, 20.

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