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Beransgeber: Maximilian Barden. a

Neununddreißigſter Band,

Berlin. Derlag der Zukunft. 1902,

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Inhalt,

Adtung vor England ..... 189 Agraritaat j. Induſtrieſtaat. Alkoholgährung |. Fermente. Arbeiterfolonie, in der... . . 352 Armee, |. Notizbud 249.

Ausweiſung, meine... . : . 398 Beichtgeheinmiß -. .... - . - 20 Berliner Sezeifion |. Sez eſſion. Bilderbider .. 2... 2.0. 232 Blumenträume . ... 2... 277 Börfe und Prelle ...... . 483

Brandenburger Zeitung |. Notiz buch 248.

Bülow, Graf |. Rotizbud 258, 440. |

Buren, Die > 2 2m 413

Burghers, onze dappern 156, 403 j. a. Notizbud 251, 445.

Centralfartell, da8 . .. .. . . 166 Chryjanders Händel-Ein- thtungen .. 2.2200. 467

Coquelin |. Theaternotizen 171. Darm Üthen ... 22220. 195 Darmitädter Kunftausftellung, ſ. Darm- Athen. Denkmal, das, des alten Fritz für Amerila j. Notizbuch 334, 373. Derjelbe, Diejelbe, Daſſelbe . . 348 Diamantenlönig, der... . .. 1 Dichter, der verehrte... . . . 279 Diktaturparagraph, der |. Notiz bud 329.

Diftelfinfen . .. 2.2.22... 517 Durand, Fräulein f. Theater notizen 171, ſ. a. Notiy

bud 374. England, |. Achtung. Entwidelungsftufen .... . . 139 Erner und Genoflen..... . 322 Erportwirtbidaft....... . 244 Fermente und Alkoholgährung . 471 Finanzen, Rumänifde ... . . . 365 Fitger, Arthur |. Notizbuch 46. Sühling - -.-. 2: 2200. 187 Beigenfpieler und Ylötenbläfer 431 Seneralverfammlungen.. . . . . 33 Gefchäfte, nationale .... . . 409 _ Slofen -.....2... .... 201 Grimm, der Fall. ..... ‘117

Händel- Einrichtungen f. Chry— fander. Herzog Ernſt Günther ſ. Notiz-

buch 248. Hofjuden.......... 213 Hörigkeit, aus der Zeit der .. 499 Humbug & Co...... ... 89 Dymnud... 22220. 19

Induſtrieſtaat oder Agrarjtaat? 375 Sohanniterorden, der ſ. Notiz:

bud 450. Katholizismus ſ. Univerjität. Katholizismus, moderner... . 322 Kauffmann, Stabtrath |. Notiz- buch 256. Sfinderarbeit -. . - 2 222.0. 431

Selingers Beethoven . . . . . . 389

Kinderredte - .- 222200. 26 Kolonialpolitif in den Oſtmarken i. Notizbuch 372. König von Sadjen ſ. Vienx Saxe. Stönig, der, von Spanien. . . . 297 Krach, der, des SKunftgewerbes . 75 ſ. a. Notizbud 489. Kriegsrailon - . 2-2 2 200. 308 Kultur, die, des weiblichen Körpers ſ. Bilderbücher. Rulturarbeiten ſ. Bilderbüder. Kunſt, moderne. Notizbud 331. Kunftausftellung, die große. . . 342 ſ. a. Notizbud 372. Stunftgenuß |. Nervofität. Stunftgewerbe |. Krach. Landtag ſ. Wotizbud 440. Legenden, ZW... 2 2222. 122 Leo XIU. 1. Zauberer. j. a. Notizbuch 251. Lieber, Ernft |. Notizbuch 45. Marten und Hickel ſ. Notiz:

buch 216. Medizinifde Moden, j. Moden . 504 Meiiteripiele. -. . 2 2 2 220. 290 .Medmer. . 2.2 2 2 200 303 Milchfrieg - 22 2 2200. 181 Miranda, Dr., in Stonftantinopel 70 Moden, mediinihe ...... 504 Morip und Hin . 2 22.202. 491 Murom, Ilja von... 2... 133

Nervenheiljtätten ſ.Rotizbuch 410.

Kervojitat und Kunſtgenuß 102, 144.

Wotizbuh 45, 246, 329, 309, 440, 486, 525,

[zeantruft 22 2222er ee 209 Balımodie 2 2 22 220220. 93 Bandynamismis. . 2... 7, 57 Preſſe ſ. Börje.

Prinzenreiſe, Die.» 2 2 200. 82

Nangtlajle, elite 2.2.2200. 464

ö— t— —— —— —r —— ——— GES VE

Rhodes, Cecil John ſ. mantenkönig. Nina ſ. Moriz...... 491 Notbichild-Rombarden. ... . . 128 Rumäniſche Finanzen |. Finanzen. Rußland ſ. Murom. Sanden und Genoflen .. . . . 437 Sciedsgerichte, Kaufmännijche 153,285 j. a. Notizbud 371. Schmoller, Profeflor Dr. Guftav ſ. Rotizbud 369.

Schweningers ahresberidt . .. 37 Gelbitanzeigen 42, 86, 126, 164, 207 210, 361, 395, 435, 480, 518. Sezellion, Berliner ...... 419 ſ. a. Notizbuch 331. Sonnmwendtag |. Theater:

notizen 169.

Zadellofe, die... 2.220. % 320 Theater, Wiener... ..... 112 Theaternotizen. .. 2.2... 169 Zrintgelder . . 20000. 325 Univerfität und Katholizismus . 173 Vereeniging - - - 22200. 335 Vieux Sax .... 2.2.20. 451 Walde: Roufleau ....... 259 Waldgeſicht ....... . 2928

Peg, der, zum Lidt ſ. Theaters notizen 110.

Welt, die, als Zeit . ..... 265 ſ. a. Notizbud 441.

MWohlthätigfeit, moderne ... . . 392 j. a. Notizbud 487.

HBauberer, der, von Rom.... 47

Holltariffommiffion-Sommer- biäten |. Notizbud 257.

Yuderfonvention |. Notizbud 486.

Sulunft, de. . 2200000. .220

Zulunft. Ei >

Berlin, den 5. April 1902. mr

Der Diamantenfönig.

enn eines Tages der große Kolportageroman des Transvaalkrieges

geſchrieben wird und er muß, ſchon weil ein Vermögen daran zu verdienen ift, über kurz oder lang ja gefehrieben werden —, dann wird es Cecil John Rhodes übel ergehen. Er ift für die Rolfe des Ogers gefchaffen, der feiner Habgier Hekatomben ſchlachtet, unermeßliche Schatze hauft und, mit einem Hohnlachen auf fredher Lippe, über Leichen hinwegſchreitet. Ein Uns geheuer wird da der Erdfreis fehen, einen Menſchenfreſſer, der ein ganzes Volt frommer Bauern vernichten, Kinder megeln und Junfrauen ſchänden möchte, um die Wurzeln des Widerftandes gegen die Macht feiner goldenen Geißel aus⸗ zuroden. Und wie fein Leben, ſo wird auch fein Tod die Köchinnen das Fürchten Ichren. Während das Volk, dem erden Untergang fann, fich tapfer noch wehrt und auf den Trümmern feines jungen Staateö neue Zuverficht ſchöpft, ver⸗ töchelt der Gemaltige einfam, nach langer Qual, und nicht für einer Stunde Dauer kann ihm fein Reichthum das arme Leben verlängern. Woraus fich wies dereinmaldie Lehreergiebt, daß unrecht Gut nicht gedeiht, die Tugend ſchon hies nieden belohnt, das Laſter beftraft wird. Der Roman kann ſehr ſchön werden, wenn ein gefchicter Mann die Fieferung übernimmt und Rhodes auf dem Hintertreppenfries nicht gar zu Hein, gar zu jämmerlic) ausficht. Er hat ſich mit drei Freunden ins Lager dervom General Carrington bejiegten, aber nicht entwoffneten Matabelcs gewagt, die eben einen neuen Nachekrieg plans ten, und 2o-Bengula nebft den anderen Häuptlingen durd) feiner Nede Ges walt der britifchen Herrſchaft gewonnen. Er iſt im Reijeanzug vorden Deuts

1

2 Die Zukunft.

ſchen Kaiſer hingetreten und hat ihn überredet, daS vorher über den Jame⸗ fon: Raid gefällte Urtheil zurädzunehmen. Die Matoppoberge und das ber» Iiner Schloß verlieh er als Sieger. Und was heute nur diePhantafie heißer Knaben träumt, was den wachen Sinn der Erwachienen unmöglich dünft, hat er gethan: er hat ein Reich gegründet und auf feinen Namen getauft. Allein; ohne Heer; ein Bürgerlicher; ein Civilift. Ein eich, deffen Flächen- umfang ſechsmal größer ift als der Großbritanieng. Selbſt in emem Kol: portageroman darf der Dann, dem Solches gelang, nicht die Rolleeines ge- wöhnlichen Spefulanten, eines Bontour, Beit oder Barnato ſpielen.

Den Koloffus von Rhodeſia und ben Capnapoleon hat man ihn ge- nannt und damit ben Drang, ber ihn ins Grenzenloje trieb, richtig bezeichnet. Hätte er fich zu beicheiden vermocht, ‚fein Leben wäre ruhig und friedlid) ge- wefen, fo friedlich, wie das Leben eines Diamantengräbers und Börfenbe- berrichers fein fan. Er ftammte von Landpächtern aus Eier ab, wollte Theologie ftudiren und ſuchte in Südafrika Heilung von einem Yungenleiden, Da regte fich fein Kaufmannsgenie; er erwarb die beften Claims, ließ fich von den Rothſchilds, ohne ihr Dienftmann zu merden, mit der ganzen Haus: macht ftüten und entthronte nad) raſchem Erobererzug die Barnato und Joel. Auf fo gebahntem Weg konnte er gemächlich weiterfchreiten, Schätze fammeln und, wenn er genug hatte, in die Heimath zurüdfchren und fein Leben genießen. So hat es Mancher gemacht, der dann Xord oder Marquis . wurde und in der nobility als ein Yugehöriger verkehren durfte. Cecil - Rhodes wollte mehr. Der Reichthum genügte ihm nicht, war ihm immer _

nur Mittel zum Zweck; große Ideen, fagte er früh Schon zu Gordon, find keis

nen Schuß Rulver werth, wenn das Geld zu ihrer Ausführung fehlt. Trieb ihn Ehrgeiz oder die Leidenschaft de8 Patrioten? Der Wille zur Macht oder - der Wunsch, den Volksgenoſſen zu zeigen, daß er nicht ein Millionär wie an- dere Millionäre war? Wahrjcheinlich wirkten viele Irfachen zufammen; und _ hhlieglich handelte er, wie er handeln mußte. Er ſchuf die Chartered Com⸗ pany, fette mehr als einmal fein ganzes Vermögen aufs Spiel, wurde, ohne Auftrag noch Amt, ein Politiker, deifen Diplomatie fid) über die Grenzen des Diafchonalandes, des Betjchuanen: und Matabelegebietes hinaus er— jtrefte, und ftarb im Kampf gegen die zähe Widerftandsfraft der Holländer, Die Sich der britiichen Hoheit nicht unterwerfen wollten. Allred: Das war fein Ziel. Nur der Union Jack durfte über Afrifa wehen. Er glaubte nicht an viele Dogmen; an Großbritanien glaubte er. England, ſagte er in einem Geſpäch mit dem Burenfreund William T. Stead, ift von Gott, defien Exi—

Der Diamantenfönig. 3

ftenz mir zu fünfzig Prozent ficher fcheint, berufen, der Welt das Reich der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens zu bringen, und id) bin ausers wählt, der britifchen Erpanfion in Afrika den Boden zubereiten. Herr Stead hat ihn nicht ausgeladht. Vielleicht dachte er an Walter Aaleigh, an Clive und Warren Hajtings, fühlte, daß England ſolche Männer braucht, und mußte fi), vor dem politifchen Gegner, den er immer bewundert, nie ver- dammt hat, geftehen: ‘Diefer ift größer als die Konguiftadoren, deren Name von dankbarem Stolz durch die Jahrhunderte getragen wird. Er war größer als fie. Wäre er ung nicht fo nah und durch den vom Haß gemwebten Schleier doch unferem Auge verhüllt, wir würden nicht zögern, ihn einen großen Dann zu nennen. Wir werden uns ſacht aber in den Ges danken gewöhnen müjjen, daß jo die großen Männer in der Nähe ausſehen. Als fleckloſe Yichtgeftalten wandelten fie jtet8 nur durch die Märchen» welten der Kinder und Kindervolkheiten; und ein kindifches Vergnügen wars immer, der nad) Moralitäten lüfternen Menge zu zeigen, wie fchlechte Kerle die großen Männer des Handelns geweſen find. "Gerade die feinften Geifter haben ſich weislich gehütet, die im Gewühl des politischen Kampfes Führen den mit idealen Forderungen zu beläftigen. Kant: „Noch fein Philofoph hat die Grundſätze der Staaten mit der Moral in Uebereinſtimmung brins gen und doch aud) Feine beileren, die fich mit der menjchlichen Natur vers einigen ließen, vorjchlagen können.” Goethe: „Der Handelnde ift immer ges wiſſenlos; es hat Niemand Gewifjen als der Betrachtende.” Schiller: „Wärme mir Einer das verdrofchene Märchen von Nedlichleit auf, wenn der Banferott eines Taugenichts und die Brunft eines Wollüftlings das Glück eines Staates entſcheiden!“ Macanlay: „Die Ariome der Politik ind jo beichaffen, daß der gemeinfte Räuber fich fcheuen würde, fie jenem zuverläfjigiten Spießgeſellen auch nur anzudeuten; fich jelbft jogar würde er fie nur in fophiftiicher Verbrämung anzubieten wagen." Wer, als ein Betrachtender, folche Willensmenfchen verabfcheut, ift nicht zu tadeln. ur darf er dann nicht Politik treiben, die Frucht politifcher Arbeit genießen offen, fondern muß ſich in einen fanften Anarhismus bequemen. Die Meilandsreiche find nicht von diefer Welt. Als Bonaparte aufbrüllte, die Geſetze der Sitte und Sittlichkeit feien nicht für ihn gemacht, ſprach er aus, was mancher minder Hochgewachjene empfunden hat. Nicht jeder Stants- mann iſt aus Ajaccio, nicht jeder Lätitias Sohn; zur Fälſchung von Bank: noten und zum Rlan einer Höllenmajchine, die daS Bourbonenhaus in die Luft prengen jollte, hätten fultivirtere Genies fi) am Ende doch nicht fo leich— 1*

4 Die Zuhmit.

ten Herzens entichloffen. Aber auch Bismard, der aus anderem Stoff war als der Korje, bat als Politiker Mittel: nicht verfhmäht, die er als Privat⸗ mann weit von fich gewiejen hätte. Deshalb hat ihn Liebknecht Jahrzehnte lang den Depeſchenfãlſcher genannt. Deshalb ſoll jetzt, wie ein Schandfleckan ſeinem Weſen, "die Thatjache verborgen werden, daß er 1866 Herrn von Bennigfen zum Sandesverrath dingen wollte. Denn wir möchten uns die ehrwürdige Hypokriſie bewahren, daß unfer Streben nad; dem Ziel langt, bie Tugend zur Herrichaft zu bringen. Wir find Chriften, find Altruiften. Nietzſche jagt freilid): „Der ganze Altruismus ergiebt fich als Privatmann» Klugheit; die Gefellichaften find nicht ‚altruiftifch“ gegen einander. Das Ge⸗ bot der Nädhftenliebe ift noch niemals zu einem Gebot der Nachbarliebe er» weitertworden. Der Staat ift dieorganifirte Unmoralität.“ Doc) wirfordern Politiker von evangeliicher Lauterkeit. ordern wir ſie wirklich? Ja. Könnten wir fie brauchen? Nein. Mit Tolftoi als Bräfidenten oder Premierminifter fönnte man feinen Staat machen; nicht einmal eine Sozialiftengejellfchaft, bie doch auch leben müßte und fich fortpflanzen möchte. Wir brauchen Po- Yitifer, die den Muth au unferen Begierden haben und bereit find, ung,bie erantwortung abzımehmen. Doch wehe ıhnen, wenn jie ſich ertappen et, daß jie feine Säulenheiligen ſind! Es ift wie mit den Bankdireftoren. Die follen auch in fchlechten Jahren für fette Dividenden forgen: fonft find fie unfähig; aber nur ganz faubere Gefchäfte machen: fonjt find jie Spigbuben. Und ein Staatsmann joll noch tugend- famer fein als ein Bankdireftor und unferen empfindlichen Nafen Alles er- ſparen, was nad) der Schwarzen Küche des Machhiavellismus ftinft. Früher wars immerhin leichter, Herrn Dypofrit zu befriedigen. Noch war den Menjchen nicht der Eegen der „Deffentlichfeit” gefpendei; der Volkschor wurde erftgerufen, wenn die Bühne abgefegt und blank gefcheuert war; und heroifche Verbrechen entbinden die einbildnerifchen Kräfte und ftimmen aud) harte Herzen zu mitleidiger Furcht: jo großes Gejchehen könne auch fie aus dem rechten Weg drängen. Ein Staatsmann, der mit Blut und Eijen arbeitet, an fein Unterfangen das Leben fegt und mit Helmbuſch oder Degen die Kämpfenden zu fi) winkt, darf, ſelbſt wenn er bejiegt wird, auf mildes Urtheil hoffen. Die napolconiichen Feldzüge haben vier Millionen Menſchen ums Leben gebradjt: fie waren dod) ſchön, fie leben im Heldenlied und die Söhne des vom Kleinen Korporalentvölferten Landes preifen ihn mit Berangers geflügelten Worten. Grauſamkeit kann großartig wirfen; jeder heroifch geführte Kampf wedt die Erinnerung an alte Urftände der Nas

Der Diamantenfönig. 5

tur, wo dem Einzelnen wie ber Geſammtheit das Echwert die Entfcheidung brachte. Aber ein Macchiavellismus, der mit modernen Mitteln arbeitet! Ein in eine belagerte Stadt eingefperrter Politiker, der fi) die londoner Minenkurfe heliographiren läßt... . Doc) auch in den Gedanken müffen wir ung endlich ſchicken, daß die Tage der Ritterfitte vorüber find, vorüber, rief Burke Schon, die Zeiten keuſchen Nitterftolzes, der den Schimpf wie eine Bunde empfand, das rohe Handwerk adelte und dem Verbrechen die Hälfte feiner Schredniffe nahm; Sophiften, Oekonomen, Rechenmeifter herrichen heute, wo einft Helden fochten. Das wurde 1790 gefchrieben und ift nach Hundertundzwölf fahren noch nicht in das Bewußtſein der Böllergedrungen. Gecil Rhodes hat in der Rüftung gefämpft, die ihm die Mode und

das Bedürfniß des Krieges vorjchrieb. Perfönlicher Muth fehlte ihm nicht; - fonft wäre er nicht in8 Matoppogebirge gegangen, nicht von London nad) Kimberley zurücgelehrt. Doc) er konnte nicht als Ritter fechten, mußte die Mittel anwenden, die für feine Zeit und feinen Zweck paßten. Er kam aus einem ganz.auf den Export, auf die Ausbeutung noch unkultivirter Länder angewiejenen Händlerreich, daS, wenn e8.fich nicht im Süden wie im Nor⸗ den Afrikas ftarfe Stützpunkte ſchafft, in Indien bedroht ift. Afrifa mußte englisch werden: Das war fein Ziel. Kein Schleichweg, der dahin führen konnte, war ihm zu ſchlecht, zu ſchmutzig, zu jteil. Aus dem Gold und den Diamanten, die er aus der Erde grub, ſchuf er ſich die werthoolifte Waffe. Er bat die Preſſe beftochen, die Hilfe der Barnelliten, als er ihrer bedurfte, mit baarem Gelde erfauft und nie gezaudert, eine Dienjchheit zu forrums piren, die forrumpirt fein wollte. Er wußte, welche Mächte im struggle heute den Sieg fichern können. Als fteinreicher Mann ift er noch einmal na) Oxford gegangen, um feine hHumaniftifche Bildung zu ergänzen und die Zufammenhänge der Technif beifer erfennen zu lernen. Kapital, Preſſe und Technik braudjte er; und da fein Schlachtfeld ein großer Zeil des bes wohnten Erdfreijes war, mußte er viele Batterien haben und immer willen, wie an den Brennpunften feiner Welt in jeder Stunde die Stimmung war, Die Matabeles hypnotijirte er mit dem Wort und den Geften eines zürnen— den Baters; in Berlin ließ er die Hoffnung auf den Riejfengewinn einer eng» liſch-deutſchen Minengeſellſchaft aufleuchten; und zwiſchen zwei Schlachten ilte er nach) Yondon, um mit Ingenieuren den Bau von Eifenbahnen und Telegraphenlinien zu berathen und alle Becte zu düngen, denen die Er: üllung eines Wunſches entiprießen Fonnte, Seine Mittel waren anders, ber nicht unfittlicher als die von den großen und Meinen Bonapartes

6 Die Zukunft.

aller Zeiten angewandten. Wie fie hat er der prachtvoll freche Brief, den er aus Kimberley an Lord Roberts fchrieb, beweift es die Dutzend⸗ handwerker der Bureaufratie und die fchwerfälligen Troupiers veradhtet. Wie fie hat er geirrt, hat der Ueberſchwang des Willens ihn ins Unheil geriffen. Napoleon wollte bis zum Ganges vorjchreiten und mußte aus Moskau heimmwärts fliehen. Rhodes wollte die Buren, deren Eigenfinn er nicht brechen konnte, zeritampfen und ftarb, ehe ein entjcheidender Sieg an Britaniens Fahne gefettet ward. Er war ein genialer Finanzitratege, Drganifator, Verwalter; aber er hatte die Dienfchen fo Kein gefehen, daß er an Größe nicht mehrglaubte und lachend gemettet hätte, die Buren würden den Kampf wider Englands Uebermacht niemals wagen. Als er am vor⸗ legten Dezembertag des Jahres 1895 ruhelos durd) die Bibliothek feines Landfiges fchritt und auf Nachricht von Jameſon harrte, hat er vielleicht gefühlt, welchen Fehler er begangen hatte, da er den Ritt billigte, dem Eronje ein ruhmlofes Ende machte. Ein einziges Mal hatte er die Mittel der Haub- ritterzeit anzunvenden verfucht und fich die größte Niederlage feines Lebens geholt. Wer haftig aber mit dem Urtheil bei der Hand ift, Rhodes habe im Zransvaalfrieg feinen und Englands ganzen Einſatz verſpielt, Der follte bes denfen, daß unfer größter Staatsmann gejagt hat: „Dem Auge des unzünf⸗ tigen Politikers erjcheint jeder Schachzug im Spiel wie das Ende der Partie.”

An den, Britenfrieg gegen die Buren heftet fich der Haß, weil er der erjte mit den Waffen des Großfapitalismus geführte, der erfte unromantijche Krieg ift und die Händlervölfer erkennen Ichrt, wohin fie gehen. Und Cecil Rhodes wird gejchmäht und beipien, weil die entjett zufchauende Menfchheit fich nicht geftehen will, daß er der Erponent ihres Wünſchens war, ohne wichtiges Amt, ohne hohen Zitel der erfte Politiker, der das Arjenal des Macchiavellismus nach dem Bedürfniß der Induſtriezeit umzugeftalten wagte. Wir werden noch oft Seinesgleichen erſehnen und froh ſein, wenn ſeine Wil⸗ lensart von ſeiner Willenskraft bedient wird. Der Tag wirdfommen, mo man die Handelnden, die ganze Völker von der Verantwortung entbürden und den Muth zu weltgeſchichtlichen Vertragsbrüchen haben, nicht mehr nach ihrer moralischen Beſchaffenheit fragt, ſondern nach dem Nutzen, den fie der Hei« math gebracht haben. Tann werden die Kolportageromane vergeſſen fein und von dem Mann, den man jett, mit einem aus Neid und Beratung gemijchten Gefühl, den Diamantenfönig nennt, wird es heiten: Er hat ſich nicht gejcheut, unpopulär zu ſein, und, mit befleftem Gewand, durch Blut und Koth ſeinem Volk den aufwärts führenden Weg in die Zukunft gebahnt.

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Pandynamismus. 7

Dandynamismus.

Se giebt einen Typus mittelalterlihen Denkens, der den einzelnen, biöher noch fehr wenig erforfchten Abwandlungen mittelalterlihen Denkens überhaupt zu Grunde liegt und für die Auffafjung eben fo jehr noch bed fünfzehnten wie jchon des zehnten Jahrhunderts bezeichnend if. Man kann ihn als Typus des Analogiefchlufjes bezeichnen. Zum genaueren Berftändniß zwei Beiſpiele. Ein Bifchof des zehnten Jahrhunderts in fchon hohem Lebensalter betritt, nach einer Gefchichtquelle diejer Zeit, um einem affetifchen Bedürfniß zu genügen, abends in bloßen Füßen, nur mit einem härenen Gewand angethan, feine Kathedrale und fchläft nachts auf den falten Eteinen des Bodens. Kurze Zeit darauf ftirht er. Wir würden geneigt fein, feinen Tod als Folge einer ſchweren Erfältung zu betrachten. Das zehnte Jahr⸗ hundert fchließt anderd. Wie der Herr Mofe gefagt habe, al3 er ihn: im brennenden Dornbuſch erfchien: Ziehe Deine Schuhe aus von Deinen Füßen, denn der Drt, den Du betreten wirft, ift heilig: fo Habe der Bifchof in prophetifcher Borahnung des Tages, da er zu des Herrn Herrlichkeit eingehen werde, fich barfuß in da8 Haus Gottes begeben, um darauf zu fterben. Das andere Beifpiel aus dem fpäteren Mittelalter. Damal3 war e8 ges wöhnlih, den Papſt mit der Sonne, den Kaifer mit dem Mond zu ver= gleihen. Hieraus fchließen die fanonifchen Nechtslehrer der Zeit und noch der geiftig ſo hoch ftehende Kardinal Wikolaus von Kues wiederholt um 1430 diefen Schluß —, daß der Papft genau um fo viel dem Kaifer on Autorität überlegen ſei, wie die Sonne den Mond an Größe übertreffe.

Was ift das Gemeinfame beider mittelaltexrlichen Schlüſſe? Sie fehreiten von der Parallelifirung zweier Verhältniffe, die einander in gewiſſen Punkten ähnlich oder auch gleich find, Zu deren völliger Identifizirung in allen Bunften fort und entnehmen diefem Verfahren für das eine der verglichenen Berhältniffe gewiſſe, als völlig Logijch betrachtete Folgerungen. Es ift eine Art des Schließens, wie fie auch heute noch bei Kindern und im täglichen Leben oft genug vorlommt. Im Mittelalter aber gehört fie dem wiffenfchaftlichen und überhaupt dem ftreng überlegten Denken an: in unzähligen allgemeinen Zus fammenhängen dieſes Denkens tritt fie zu Tage. So beruht die ganze Art des Mittelalters, geiftreich zu fein, auf ihr. Geiftreih waren im Mlittel- alter Räthfelreden; geiftreich war e8 zum Beifpiel, wenn Kaifer Konrad auf die Meldung des frühzeitigen Todes des Herzogs Ernft von Schwaben, feines erbitterten Gegners, die Antwort gab: „Es fcheint, daß das Geſchlecht bifjiger Hunde nicht alt werde.” Hier wie in verwandten Räthſelreden ift e3 immer das Moment fcharfiinnigen und unerwarteten Analogiefchlufies, das den mittelalterlichen Hörer entzuckt. In diefem Sinne find daher auch

8 Ä Die Zukunft.

bie Predigten angelegt: fie wimmeln von Analogien, die zu beftimmten Schlüſſen benugt werden. So hat noch Luther gepredigt; und noch heute ift auf diefem Gebiet der mittelalterliche Gebrauch des Analogiefchluffes nicht völlig verfchwunden. Uber diefer Schluß reicht viel tiefer in die mittel- alterliche Theologie hinein: Typus und Antitypus des Alten und Neuen Zeftaments, die Gleichſetzung etwa der Aufrichtung der ehernen Schlange in ber Wüfte mit der Kreuzigung Chrifti im vorbedeutenden Sinn und taufend andere Gleichjegungen gehören ihm an. Wie er in das Staatsrecht eingriff, bat Thon vorhin ein Beifpiel gezeigt. Und auch in anderen Wiffenfchaften, fo weit diefe nicht auf der bloßen Weberlieferung der Alten beruhten, zum Beifpiel in dem Phyliologus der Naturgefchichte, den Lehren von ben fonber- baren Eigenſchaften der Thiere, herrichte er in gleicher Weife: er war ber eigentlich charakteriſtiſche Schluß des Mlittelalters.

Auf welcher tieferen Grundlage beruht er nun? Er ift nach unferen Begriffen voreilig, da er aus dem Zutreffen einiger Bergleihsmomente auf das Zutreffen auch der anderen fchließt, und er ift e8, weil er auf der Grund⸗ lage zu geringer Erfahrung gebildet wird. Geringe Erfahrung, enger Hori— zont: Das ift feine eigentliche Vorausfegung. Und von diefer Seite her erflärt ji ohne Weiteres auch fein inniger, in dem erften der vorhin er- zählten Beifpiele klar zu Tage tretender Zufammenhang mit dem das ganze Mittelalter hindurch verbreiteten, wenn auch mit wachfenden Jahrhunderten abnehmenden Wunderglauben.

Dem Wunderglauben fteht gegenüber die Annahme, daß alle Dinge in ihrem Berlauf dur einen unverbrüädlihen Zufanımenhang von Urfache und Wirkung verbunden feien. Wie gelangen wir zu diefer Annahme? Das Bewußtſein und die Anwendung des Zujammenhanges von Urfache und Wirkung ftelt ji bei uns dadurd) ein, daß wir beobachten, wie beftimmten Borgängen des Geſchehens immer wieder und ganz regelmäßig oder gefeg: mäßig andere beſtimmte Vorgänge folgen: eine folche regelmäßige Yolge er— jheint und unter dem Geſichtspunkt der SKaufalität, des Zufammenhanges von Urjahe und Wirkung. Unfer Kaufalitätbewußtfein ift alfo gebunden an die Erfahrung; mit erweiterter Erfahrung nimmt es zu, mit engerer Er— fahrung nimmt es ab. Sit es fo weit durchgebildet, dag es weitaus die meilten und vor Allem aud die wichtigften aller Vorgänge ſich in erfahrung: mäßig ſchon gegebenen Zufammenhängen vollziehen fieht, fo zieht es daraus den Schluß, dag auch für den Reſt der Erjcheinungen ſolche Zufammenhänge, Negelmäpigfeiten oder Geſetzmäßigkeiten des Aufeinander8 vorhanden fein werden: und gelangt damit zur Annahme eines die Welt der Erfcheinungen unverbrüchlich beherrjchenden Zufammenhanges, der das Wunder ausſchließt.

Das abjolute Kaufalitätbewußtfein ift mithin ein langſam gezeitigtes Er-

Pandynamismus. 1%)

zeugniß ausgedehnter Erfahrung, das dem Bewußtſein des Wunders wider: fpricht: und in diefem Sinn verſtärkt 28 fih in der europäifchen Völker gruppe noch heute von Tag zu Tag.

Im Mittelalter aber war ein folches Kaufalitätbewußtfein erft in ſehr geringem Grade vorhanden. Der geiftige Horizont des Einzelnen war eng, die Erfahrungen ſchloſſen fi) auch bei den Höchftftehenden erſt felten zu einer folhen Intenſität des Drudes auf das Denken zufammen, daß jie ein mög- lichſt ſtarkes Kauſalitätbewußtſein vermittelten: alle Welt lebte daher noch im Analogiefchluß und im Bewußtfein der Wunder.

Nun ift gewiß auch heute der Wunderglaube noch keineswegs ausge⸗ ftorben. Gehen wir aber ind achtzehnte Jahrhundert zurüd, fo finden wir ihn noch viel ausgefprochener vorhanden. Männer wie Walh und Wolff, der Hiftorifer und der Philofoph, wie Cruſius und Baumgarten, der Pfycholog und der Aeſthetiker, haben nicht blos an die Realität der Gefpenfter geglaubt, fondern find auch noch öffentlich für fie eingetreten; und -felbft Leſſing hat noch über bie Gefpenfterfeinde den Stab gebrochen. Aber freilich mußten fich im achtzehnten Jahrhundert die Gefpenfter fchon rar machen. Ganz anders dagegen in den beiden vorhergehenden Jahrhunderten. Es ift befannt, daß diefe Fahrhunderte vornehmlich die Zeiten de8 Herenwahnes und der Dlagie waren; und erft der Kartefianer und reformirte Pfarrer Balthafar Bekker, ein Niederländer, ift in feiner „Bezauberten Welt“, die 1691 bis 1693 erſchien, grundfäglich gegen den Herenglauben aufgetreten. Dafür ward er freilich auch des Webermuthes bejchuldigt und feines Amtes entjegt. Und doch ver: neinte ex keineswegs ſchon den Glauben an einen perfönlichen Teufel umd dent Geifterglauben an ſich, fondern behauptete nur, der Teufel jei nur noch in der Hölle zu finden und führe, wie alle Geifter, ein von diefer Welt völlig abgefchiedenes Leben. Gehen wir aber von Bekker nur einige Generationen zurüd, fo flogen wir auf den völlig befangenen Wunderglauben Meland- tbons und die handfeiten Zeufelövorftellungen Luther.

Die neuere Zeit ift alfo keineswegs durch ein abfolutes Aufhören des Wirnderglaubens und damit auch des unvollkommenen Analogiefchluffes vom Mittelalter getrennt: e8 handelt ſich nur um gradweife fühlbare Unterfchiede, und taufend Fäden verbinden das Denken von heute noch mit dem nicht nur des MittelalterS, fondern fogar der Urzeit.

Gleichwohl ging am Schluß des Mittelalter und vornehmlich dann im fechzehnten Jahrhundert eine Veränderung des Denkens vor fich, die von größter Bedeutung ift und unmittelbar hinüberführt in das Denken neuerer Zeiten.

Der Offenbarungsglaube des Chriſtenthums mit feinen Wundern hatte dem mittelalterlihen Denken völlig entfprochen: und darum hatte er auch eine allgemeine und gänzlich unbezweifelte Anerkennung gefunden, mochte man auch

10 Die Zukunft.

die einfahen Erzählungen des Neuen Teftamentes anfangs mehr im Sinne der deutfchen Epen des fechäten bis neunten Jahrhunderts, fpäter in Hiftorifch mehr geflärter Auffaffung verftanden haben. Dem entſprechend war denn auch der Oberbau der chriftlichen Offenbarungtradition, das Syſtem ber Firch- lichen Dogmen, nit nur im Sinne des Gehorfams gegen fie, fondern in dem gläubiger Einfalt hingenommen worden. Und auch am Schluß des Mittelalter8 war man noch weit davon entfernt, diefe geiftige Dispofition zu verlaſſen. Allein trotzdem ftrebte man doch allmählich nach einem Berftändniß der Erfcheinungwelt auch neben dem Kirchenglauben und außerhalb der in aller Fülle nur wenigen Geiftern zugänglichen antifen Ueberlieferung: die erften Triebe einer eigenen Gefammtauffaflung des finnlich wahrnehmbaren Ganzen unferer Umgebung regten fi. Sie traten ein zu der Zeit, da zum erflen Male die äfthetifche Auffaflungsgabe in dem realiftifchen Kontur wie ber Iofalen Farbengebung und “Perfpektive der Malerei des fünfzehnten und fechzehnten Jahrhunderts der Außenwelt als eines dreibimenfionalen Ganzen innegeworden war: war die äußere Anfchauung gewonnen, fo wurde nun der Verſuch gemacht, auch ihre inneren Beziehungen zu Eeherrichen. Es find die erften Anfänge wirklich felbftändigen wifenfchaftlichen Denkens in weiteren Kreifen; und ſie knüpfen nod) an die ausgebildeten Methoden bes mittels alterlichen Denfens an.

Es ift Har, welche allgemeine Auffaffung das Ergebniß fo zufanımen» treffender Umftände fein mußte. Indem man zu jedem Vorgang der inne lichen Erfcheinungwelt eine Analogie im Sinne einer ihn deutenden Thatfache auffuchte und dabei durch faft Feinerlei Erfahrung gebunten war, deren Aus⸗ dehnung ſchon den Nachweis von Geſetzmäßigkeiten erfordert hätte, gelangte man zu der Vorſtellung einer geiftigen Welt als einer Analogiewelt von Kräften, die hinter der fichtbaren Welt ftehe und fie leite: ein grundfäglicher Pandynamismus war die Folge. Sah man fi aber veranlaßt, nun diefen Pandynamismus in ein Ehſtem zu bringen, die Kräfte zu bemeflen und in gegenfeitigen Zuſammenhang zu verfegen, die hinter den Couliffen gleihfam der Erſcheinungwelt diefe beherrichen follten, fo waren in der Entwidelung des fpüteren Mittelalter eine Menge von Thatſachen gegeben, die dieſen Drang, abgefehen von den ihm felbft innewohnenden fachlichen Geſichts⸗ punkten, in beftimmte Bahnen leiten fonnten. »

Aus den Eigenften der deutfchen Entwidelung fam hier vor Allem die Myſtik in Betracht. War die enthuſiaſtiſche Myſtik des vierzehnten Jahr⸗ hundert3 zunächſt darauf ausgegangen, in intelleftueller Verzückung wenigſtens zeitweile eine Bereinigung der Eeele mit Gott herbeizuführen, und fah man fih faft dazu gedrängt, hinter all den Kräften, die fich im der Welt der Ers ſcheinungen auswirkten, im tiefften Grunde eine wieder die Kräfte umfaflenbe

Pandynamismus. 11

und bewegende Urkraft anzunehmen, die da nur ſein konnte Gott: ſo liegt auf der Hand, daß in der myſtiſchen Intuition recht eigentlich die wiffen- ſchaftliche Methode diefes neuen Denkens gegeben war, daß allein durch eine intellektuelle Berzüdung, durch ein Aufgehen in die Urkraft und womöglich deren Beherrfchen die Möglichkeit eines vollen Berftändniffes ber Er- ſcheinungwelt al3 gegeben erſchien.

Wie aber dieſe Intuition, diefe Bezwingung des Geifte8 und der Kraft herbeiführen? Auch Hier ftellte die Tradition, freilich eine folche vor: nehmlich nicht heimifchen, fondern jüdifch:arabifch-Tpanifch-ttalienifchen Charak⸗ ters, die Mittel zur Verfügung: Alchemie, Ajtrologie und vor Allem Mia ie fonnten bier helfen.

Die Hafjiiche Ueberlieferung aber fügte der Intuition, dem myſtiſchen Hebelpunft des Erkennens, und den Methoden, biefer Intuition nahe zu treten, für den pandynamifchen Drang ber Zeit noch ein Weitereö hinzu: ein ganzes Syftem pandynamifcher Auffaffung: die Lehre der Neuplatoniler.

Plato hatte, wie jegt wohl mit ziemlicher Sicherheit feftfteht, ans feiner Lieblingswifienfcaft, der Mathematik, heraus den Begriff der dee entwidelt: die geometrifche Methode, der Beweis durch ein Schema hatte ihm den Gegenſatz zwifchen Idee gleich Urbild und Ding gleich Abbild jenes Urbildes vermittelt.*) Stand aber Hinter der Welt der Erfcheinungen eine Welt der Urbilder diefer, fo trat für diefe jenfeitige Welt alsbald das Problem auf, wie jle denn entſtanden fei umd wie fie auf die Welt der Erfcheinungen wirfe. Es ift eine Trage, die im Neuplatonismus gelöft worden war durch den Aufbau einer geiftreichen Mythologie von Gott al3 der Urkraft von ihr ausgehender Kräfte, die jich in die fichtbare Welt der Erfcheinungen Hineinergießen.

Konnte irgend eine Lehre der Vergangenheit der geiftigen Dispojition des fünfzehnten Jahrhundert? entfprechender erfcheinen als diefe? In Italien zunächſt ftieg der Kult der platonifchen Philofophie zu fo bedenklicher Höhe, daß das Lateranfonzil im Fahre 1512 gegen ihn und bezeichnender Weife nur verftedt einfchritt; und bald folgte ihm da8 Studium der Neu- platoniker; fchon Marlifius Ficinus (1433 bis 1499) hat nicht nur Plato, fondern auch Plotin überfegt. Und von Italien verbreiteten jih Platonismus und Neuplatonismus auch nad Deutichland; überall in den fortfchreitenden Denken des jcchzehnten Jahrhunderts laffen ſich ihre Spuren erkennen. Dennod haben jie dieſes Denken in Deutfchland nicht beherrfcht: ſie waren nur eim überreifer und raffinirter Beitrag des Alterthumes zu diefen, das die Probleme zunächft viel jinnlidher und einfacher aufgriff und daher nicht fo fehr einer pandynamiſchen Metaphyif wie einer pandyramifchen Natur: wiſſenſchaft zujteuerte.

*) Cohen, Platons Ideeulehre und die Mathematik, S. 24.

12 Die Zuhmft.

Freilih geſchah Das in enthufiaftifchen Formen. Wie einft die Ritter- ſchaft der Stauferzeit in poetifcher Begeifterung der neuen, gehobenen Bildung ihres Standes froh geworden war und Vergangenheit wie_ Gegenwart ſich nur in den Formen ber Dichtung hatte nahe bringen wollen, von der Epif von DBeldefed und den Sagen des Artugfreifes an bis zum verfifizirten Steinbuch und zur gereimten Tiſchzucht, fo waren auch die Geifteshelden bes neuen Denkens weit davon entfernt, die Löfung der erften großen Geheimniffe der natürlichen Erfcheinungwelt mit Hebel und Schrauben erzwingen zu wollen. Schauen vielmehr wollten fie, um mit den goethifchen Fauft, biefem herrs lichſten und perfönlichiten Inbegriff ihrer Geiftesverfaffung, zu reden:

Wie Alles fi zum Ganzen webt,

Eins mit dem Andern wirkt und lebt, Wie Himmelsfräfte auf- und niederfteigen Und fi die goldnen Eimer reichen,

Mit fegenduftenden Schwingen

Bom Himmel durch die Erde dringen, Harmoniſch all das All durchdringen.

So allen Hoffnungen einer verftandesmäßigen Verzückung lebend, glaubten fie an Univerjalmittel der Erfenntnig, die den Menſchen über’ fich hinaus zum Genoffen der fchaffenden Kräfte erheben könnten; und indem fie alles Werden von geiftigen, durch fie beeinflußbaren Mächten durchweht dachten, ergaben fie jih im phantaftifhen Bewußtſein erfenntnißtheoretifcher Forſchung den Künften der Magie und ber aftrologifchen “Praxis.

Die Heimath einer auf ſolche Grundlage geftellten Naturwiſſenſchaft ift zunächſt Italien gewefen; und auf dem geiftigen Boden diefer Natur: wifjenfchaft find hier die großen naturphilofophifhen Syfteme eines Telelio, Campanella, Giordano Bruno, Syſteme einer vollen Melaphyſik, erwachſen. Denn den Anhängern diefer Wiffenfchaft erfchien in den Kräften der Natur das geheimnißvolle Walten Gottes wahrnehmbar und als tieffte Voraus— ſetzung ihres Denfens ergab jich ihnen ein naturalijtifcher Pantheismus.

Bon Stalien her ward die Lehre dann auh in Deutichland aufge nommen; eigenes Forfchen, Wirkungen des mittelalterlichen und des täufe— rifhen Myſtizismus, Einflüffe des Neuplatonismus und auch der pytha— goräifchen Zahlenmyitif, Anfchauungen endlid) der Kabbala verknüpften ſich nit ihr in dem Denken Reuchlins (1455 bi8 1522) wie Agrippas von Nettesheim (1487 bis 1535). In eine Tarere Form aber brachte diefe gährende Maffe wohl erft Melanchthon, diefer große kompilatoriſche Beherr⸗ ſcher des Denkens feiner Zeit. Sein Lefebuh der Phyſik, das jih im Uebrigen an Arijtotele8 anlehnt, fcheidet doch die fubitantialen Formen des Stagiriten aus und behält nur ein buntes Gewinmel von Kräften al3 Er=

Pandynamismus. 13

klärungsgrund der Welt der Erſcheinungen zurück: Gott; die Kräfte der Geſtirne; die Gegenſätze, die in den Elementen wirken; die Materie, die vegetativen, die animaliſchen, die vernünftigen Seelenkräfte. Und indem es der Nothwendigkeit der Natur ein Reich der Freiheit in Gott und in allen guten und böfen Geiftern, fowie des Negellofen im Fluß der Materie ent- gegenfett, läßt e8 den Zufall unaufhörlic) aus der Unruhe der Materie und ber Freiheit des Geiſtes quillen und fich in taufend gefonderten Kräften ausftrahlen.

War’ e3 nun möglich, von ſolchen Prinzipien ber die einzelnen Tis- ziplinen der Naturwiflenfcaften verftändig zu entwideln? Je einfachere Grundlagen gefucht wurden, um fo mehr trat ihre Unwirklichleit ans Tages: Gicht. Nur in einer Disziplin daher, die die Ergebniffe der Naturwiſſen⸗ haften jeweilig in® Ganze zuſammenfaſſend nugt, in der Medizin, wurde diefe pandynamifche Naturwiflenfchaft anwendbar und praftifh. Hier wurden vor Allem die verworrenen, abenteuerlichen, mit einer Unfumme von Qual: falbereien durchfegten und dennoch eines großes Zuges nicht entbehrenden Gedantenreihen des Theophraftus Bombaftus Paracelfus von Einfluß, eines unfteten Gefellen, der, 1493 zu Einjiedeln geboren, ein medizinischer Wanders⸗ mann und Allerweltmenfch, eine Zeit lang Profeffor der Chemie in Bafel, 1541 zu Salzburg geftorben ift. Theophraftus erfchien das ganze Weltall don einer göttlichen Weltfeele durchweht, dem Vulcanus; und die phantaftifch gedachten Kräfte dieſes Vulcanus durchdrangen dann da3 Univerfum mie das Einzelne. Der Menfch aber war ihm der mikrokosmiſche Auszug und In— begriff dieſes Univerfums; in ihm fpiegelten ſich und wirkten alle Kräfte des Ganzen; nur trat zu ihnen, wie für jedes Einzelwefen, noch ein befonderes Prinzip der Individuation, ein fpezieller und perſönlicher Seift, der Lebens⸗ geift, der Archeus. So war ihm die Welt, die Heimftätte des Univerfal- geiftes, voll von einzelnen Lebensgeiſtern, die einander fördern, anfechten, zu vernichten drohen; und die Scrankheiten waren Kämpfe folcher fremden Geifter . gegen den fpeziftfchen Geift des einzelnen, perfönlichen Lebens.

Was für eine kraus und abentenerlich hypoſtaſirende Gedankenwelt! Und doch wiederum wie voll großer metaphyifcher und erfenntnigtheoretifcher Ahnungen, wie angefüllt von aufdänmernden Problemen der Philofophie Leibnizend und der Nichfolger Kants! So begreift man, daß die Lehre des Paracelfus noch auf Generationen nachwirkte, ohne eigentlich fortgebildet zu werden. Eine gewaltige Reihe von paraceliiichen Xerzten und Denfern auf naturwiſſenſchaftlichem Gebiet füllt mit Bergen monotoner Schriften, inımer tiefer in Geheimnißkrämerei verjinfend, das fechzehnte und zum Theil noch das jiebenzehnte Jahrhundert; aus ihrer Mitte ift die einflußreiche Roſen— Freuzergefellichaft hervorgegangen; und in den Niederlanden, der Heimftätte bald der größten medizinischen Fortſchritte, haben noch die beiden Helmont,

14 Die Zukunft.

Bater und Sohn, auf der abgeflärteren Gedankenwelt des Paracelfus fortgebaut. Für die empirische Entwidelung der reinen Naturwiflenfchaften freilich blieb das Syſtem des Baracelfus im Einzelnen eben fo unfruchtbar wie die pan= dynamische Naturwiflenfchaft überhaupt. Sie war ein erfter Raufd, der, hervorgehend aus jugendlich emporquellender Ueberichägung der menfchlichen, eben erft zur Freiheit emporfteigenden Erfenntnigfräfte, die neu gewonnene Möglichkeit ungeftörten Naturerfennens begleitete: fie fonnte die nüchterne Theorie allenfall8 anregen helfen; fie zu begründen vermochte fie nicht.

Inzwifchen aber war über das bloße, von den allgemeinen Fragen der Philofophie in diefem Falle freilich befonderd unklar und wirkunglos geichiedene Reich des Naturerfennens fchon etwas Weiteres emporgewachſen: Verſuche der Begründung einer allgemeinen Weltanfchaunung auf Grund des angeblich gewonnenen Wiſſens. Es jind Verſuche von befonderer Wichtig- keit. Denn in ihnen zum erften Male zeigt jich, freilich in hartem Ringen und felbft im beiten Falle ohne vollen Erfolg, das Beftreben, neben der hrift- lichen Offenbarung, deren Weltanſchauung die einzige des Mittelalterd ge— weſen war, eine andere, von ihr unabhängige Philofophie und Metaphyſik zu begründen: es find erſte, ſtammelnde Beftrebungen, die Sprache eines eigenen Geiftes der Zeit zu reden.

Gewiß verlaufen jie noch nicht im ausgefprocdenen Gegenfag zum Chriſtenthum. Anktnüpfend vielmehr an die mittelalterliche Myſtik und wie diefe bis zu einem gewiſſen Grade außerkirchlich, aber nicht außerchriftlich, bleiben fie nur, je länger, je mehr, von den allgemein anerfannten Formu⸗ lirungen der chriftlichen Lehre fern: was fie denn freilich, bei allem Fefthalten an einzelnen chriftlichen Gedanken und an einigen Hauptſtützpunkten der chriſt⸗ Iihen Dogmatik, fchließlich zur Köfung von der Offenbarungtradition und zum Auffuchen eines völlig eigenen Standpunkte hindrängt.

Es ift in diefer Hinficht bezeichnend, dag die Neihe der Hier zu nennenden Philofophen in der erjten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts mit Nikolaus von Kues, einem Kardinal der heiligen römischen Kirche, be- ginnt und mit dem gottfeligen proteftantiichen Edjufter Jacob Boehme zu Sörlig im Anfang des fiebenzehnten Jahrhunderts abſchließt.

In Kues ift, bei alen Verſuchen, im Reihe der Erfahrung auch

empirifch zu forfchen, ein fauftifcher Zug; mehr als Andere leitet er jene Periode des Denkens mit ein, da in ungeſtümem Angriff und mit einem Zuge erfannt werden fol, was die Welt im Innerften zufammenhält. In diefem Sinn fuht Kues, als Sohn der erften Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts nod) an den Gegenfag des Nominalismus und Nealismus anfnüpfend, zus nächſt eine höhere Verſöhnung diefer Gegenſatze. Gewiß, meint er, habe die empirische Forſchung vor Allen das Weſen der einzelnen Dinge fetzuftellen

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Pandynamismus. 15

und damit die Erfahrung in unendlichem Fortgang zu bereichern. Aber daneben ſtehe doch zu gleichem Recht die Aufgabe, das Ganze zu erkennen und die Gegenſätze der Welt dem harmoniſchen Gedanken eines unendlichen Univerſums unterzuordnen; mit etwas klareren Begriffen, als Kues ſie hatte, ausgedrückt: die Induktion müſſe duch Deduktion ergänzt werden. Dies fönne nun freilich nur in dem Gewinn einer höheren erfenntnißtheoretifchen Einheit erreicht werden. Wie aber diefe finden? Hier ift der Punkt, wo die Lehren des Cuſaners ind Myftifche umfchlagen. Nur in unmittelbarer Anfhauung, nur in einer durch höhere Vernunft bewirkten Intuition, in einer comprehensio -incomprehensibilis fünne Das gefchehen. Diefe aber fei nur auf dem Boden der Kirche verbürgt. Und fo ift ſchließlich eine freiere myſtiſche Theologie zu leiten berufen, was der Berftand der PVerftändigen nicht vermag.

Bewegt fih Kues wie eine Heine Zahl unbedeutenderer Nachfolger während des fünfzehnten Jahrhunderts fcheinbar noch ganz auf dem Boden der Kirche und bildet er perfünlich in der vollen Ueberzeugung forrelter Kirch:

fifche Erfenntnigtheorie, nicht aber das myſtiſche Syſtem genauer aus, fd werden die Naturphilofophen bes fechzehnten, des Jahr— hunderts der reformatorifhen Löfung der Geifter, weit fühner. Und es ift fein Wunder, baß wir fie vornehmlich im Lager des Proteftantismus und noch mehr in dem des Wiedertänfertfumes und feiner Abzweigungen finden.

Hier entfalten fie nun zunächſt die Borausfegungen einer fpefulativen panentheiftifchen Theologie. Sie betrachten die gefchichtlichen Heilsthatfachen des Chriſtenthumes wie die ans ihnen entwidelte dogmatifche Begriffswelt nicht mehr als nur einmal gefchehen und als auf finguläre hiftorifche That- fahen aufgebaut, fondern fie nehmen an, dag in ihnen nur der gefchichtlich fombolifirte Ausdrud eines allgemeinen, fich ftetig in jedem Menfchen in feinem Berhältnig zu Gott wiederholenden Zuſammenhanges vorliege, der zeitlo8 und dauernd in der Natur der Menfchen, der Dinge und Gottes begründet

ſei. Dabei ift Chriſtus als der die Welt durchwaltende Logos die Grund—

vorftelung und die Methode de8 Denkens ift die hergebrachte der Myſtik. In der Richtung diefer Vorftellungen hat ſchon Caſpar Echwendfeld gedacht, ein anfangs Luther begeiltert anhängender, fpäter von der proteftantifchen Kirche verfolgter Theologe; mit befonderer Deutlichkeit aber traten jie zum erften Dale in Sebaftian Frand, dem geiftreichen Hiftorifer und Publiziften,

“hervor. Dem Denken Frands ift Gott eine „frei ausgegoffene Güte, eine

wirfende Kraft, die in allen Sreaturen wefet”, und feine Offenbarung ge: ſchieht täglih und ftündlid) in uns. In uns lebt Chriftus und Adanı, gutes und böfes Prinzip; in und wiederholt fich der Eündenfall; in und wird die Selbfterlöfung des Menjchen dur) den ihm einwohnenden Chrijtus und

16 Die Zukunft.

die Gnadenwirkung Gottes zu einer ewig erneuten, gefegmäßigen, typiſchen Thatfahe. So ift denn Brand bie chriftliche Offenbarung als gefchichtliche Thatfache nur Unterlage einer philofophiichen Symbolik; die Heilige Schrift ift ihm eine ewige Allegorie und ihre Deutung in diefem Sinne wird von ihm nach myſtiſcher Methode vom Standpunkte des panentheiftifchen Glaubens an die Eriftenz allwirkender feelifcher Kräfte durchgeführt.

Strand ift, wie faft alle Seinesgleichen, einfam und verlafien bahin- gegangen, in tiefem, entfagungvollem Ringen, in äußerer Unraft und Flüchtig⸗ keit und in verzehrender Sehnfucht nach einem künftigen Zufammenfein mit allen gottfrommen, gutherzigen Menfchen: „in und bei diefer Kirche bin, zu der fehne ich mich mit meinem Geift, wo fie zerftreut nnter den Heiden und Unkraut umfähret.*

Die panentheiftifche Theologie Francks und verwandter Geifter vertrug nur eine Fortbildung: fie mußte durch volle Einführung des pandynamifchen Natuerkennens eines Paracelfus und feiner Nachfolger zu einer allgemeinen fei e8 pautheiftifchen, fei e8 panentheiftifchen Weltanfhauung erweitert werden.

In diefer Richtung brachte die Lehre Valentin Weigeld, eines Sachen, der 1533 zu Großenhain geboren und 1588 als Pfarrer zu Zichopau ges ftorben ift, den erften wefentlicheren Fortſchritt. Vor Allem wird bei ihm

deutlicher als bisher das myſtiſche Erfenntnißprinzip der Verzädung dur

da8 Marere des jubjeftiven Erkennens erfegt: unzweideutig fpricht er es ang, daß man wiſſen und verftehen Fönne nur Das, was man in ich trage; daß mithin die Welt und Gegenftand der Erkenntniß nur fein könne, weil und infofern wir Mifrofosmen find. In der Anwendung biefes erfenntniß- theoretiichen Prinzips aber wandelt Weigel gänzlich die Bahnen des pans dynamischen Naturerfennens: wir erfennen die irdifche Welt, weil unfer Leib die Quinteſſenz aller weltlichen Eubftanzen ift; wir erfennen die Welt der Geifter und Engel, weil unfer Geift fiderifchen Urjprungs und ein Engel it; wir erfennen Gott, weil unfere Seele vom göttlichen Wejen ausgeht und, an Gott theilnehmend, göttliche Nahrung erhält in den Sakramenten. ft in diefer Lehre die Ahnung einer fünftigen fubjektiviitifchen Erfenntnißtheorie, wie fie vol erſt Kant entwidelt hat, durch die Auffaffung ber Saframente als der Hilfsmittel verzüdten Schauens noch mit der myltifchen Erfenntniß= theorie verbunden, während die panentheiftiiche Theologie zu den Grundlagen wenigſtens einer allgemeinen panentheiftifchen Metaphy'if erweitert ift, fo fieht man doch deutlich nod) die Altes und Neues unausgeglichen zufanınenz= haltenden Nähte und die allgemeinen metaphyiischen Prinzipien find noch nicht zu einem Eyiten erweitert. Diefe Mängel übermand und damit den Abſchluß der ganzen theofophiichen Naturphilofophie des fechzehnten Jahrhundert brachte Jakob Bochme. In ihm leben noch einmal alle die Tendenzen auf, die im

Pandynamismus. 17

der ſelbſtändigen Philoſophie des ſechzehnten Jahrhunderts zuſammenſtrömen, und ſie finden in ihm ihren Hauptrichtungen nach auch einen harmoniſchen Abſchluß. Von inniger kirchlicher Frömmigkeit, in der Zeit feiner Wanderungen beim brennenden Holzſpahn abendlicher Unterhaltungen noch in die letzten Reſte mittelalterlicher Myſtik und neueren Wiedertäuferthumes eingeweiht, wie ſie unter Handwerkern und Kleinbürgern da und dort fortglühten, voll regen Wiſſensdranges in jene Bücher des Paracelſus und feiner Genoſſen ein- dringend, die ihm bie fremden Ingredienzien des pandynamifchen Natur: erfennen® jchon in verarbeiteter Form vermittelten, ift Boehme, einem genialen, ihn unabläffig vorwärtstreibenden Schaffenstrieb folgend, zum legten wahrhaft großen Theofophen unferer Nation geworden und damit zugleich zum erften neuhochdeutſchen Klaſſiker der philofophifchen Sprade. Zwar hält er jich noch nicht in dem ftrengen Schranken einer mit unverbrüchlicher Langweiligleit gebrauchten Terminologie; als ein Dichter und ein Prophet wählt er vielmehr feine Worte, wie fie der Geift ihm eingiebt, oft mit höchſtem Schwung ber Phantafie, oft in fehwerem Ringen mit der fprachhaft zu geftaltenden “dee: aber gerade diefem Ringen und diefem Schwung ver- dankt unfere Sprache einen ungemeinen Reichthum neuer Wortbildungen, in- fofern fie Werkzeug höheren Denkens werden follte.

Mas Boehme fachlich zunächſt bewegt, ift das für die ganze Epoche fo überaus charakteriſtiſche Bedürfniß nad Erlöſung. Bon dieſem perjön: lichen Bebürfnig indeſſen ſpringt er alsbald über auf den großen Gegen- fag von Böfe und Gut, und indem er diefen Gegenfag feiner Entftehung nad bi zum Urfprung zuräd verfolgt, wird er der folgenfchweren Frage zugeführt, wie da3 Zufammenfein von Böfe und Gut in Gott als dem Schöpfer aller. Dinge zu bdenfen fei. Und indem er dann weiter biefes Problem kaum anders als in der Form evolutioniftifcher Anfchauung lösbar erfennt, wird er aus den ethifchen Betrachtungen hinübergetragen in kosmo⸗ gonifche: und alsbald verknüpfen jich die Bedürfniffe feines empfindfamen und gemarterten Herzens mit den theofophifchen Spekulationen der Naturaliften. In Gott waren, wie Licht und Finfternig, die als Gegenfäge auf einander angewiefen Sind und deren eines nicht gedacht werden kann ohne die Bor: jtellung des anderen, fo auh Gut und Böfe uranfänglich vorhanden: ja, Gott ift uranfänglich recht eigentlich die Ausgleihung der Gegenſätze, die coincidentia oppositorum. Über aus ihm, den Alles und WichtE, dem weder Licht noch Finfternig, dem weder Böfe noch Gut, haben fich diefe Gegenſätze entwideht. In welcher Form, darüber erdichtet Bochme eine ganze ſpekulative Mythologie, in der jich hriftliche Anihauungen mit anderen Ele— menten wunderfam verjchlingen. Das Ergebniß iſt fchlieklich eine Welt, die als Grenzfaum gleihjam eines Reiches der Liebe, des Himmelreiches, und

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18 Die Zukunft.

eines Reiches bes Bornes, der Hölle, gedacht wird und im ber wir leben, in gleicher Weife theilnehmend an Liebe und Zorn, an Gut und Böfe.

Aber diefe Lage trägt in fi Feine Verheigung der Dauer. a, wir felbft haben, wie das Bedürfniß, fo die Macht, fie zur ändern, dem Himmel- reich zum Siege zu verhelfen, inden wir das Böfe in und vernichten. Das Böfe haffen und ertöten: Das ift darum Ziel menjchliy=jittlihen Lebens. Und dem Frommen gelingt es. Es ift die Stelle, an der Boehme aus dieſem Jammerthal emporfieht zu den ewigen Sternen. Er weiß: die Zeit wird nahen, da der Kampf der Guten diefe Welt überwindet, da fie nicht mehr fein wird, da die Halbheit dem Ganzen gewichen fein wird, da wir eingehen werden in das Kicht der Verklärung, das Gottes Offenbarung verheigen hat. Ein großartiges Bild frommer Gedankendichtung, kehrt Boehmes Philofophie, nachdem fie in einer geiftreihen KFosmogonie die Weiten der pandynamifchen Naturwiffenfhaft durchmeſſen und mit den wejentlichften Beftandtheilen der hriftlichen Offenbarunglehre durchflochten Hat, zurüd zu dem einfachiten fittlichen Bedürfnig der Dienjchenbruft, wie es feine Zeit in dem Begriff der Erlöfungfehnfucht zuſammenfaßte: ihm allein dient im Grunde feine Lehre. Es ift die volllommenfte Durchflechtung erfenntnißtheoretifcher und ethifcher Forderungen, die vom Standpunkte des Pandynamismus unter leifem Felt: halten an den Grundlagen des ChHriftenthumes noch erreichbar war.

So hätte man wohl glauben dürfen, die Philofophie Boehmes werde weite Verbreitung finden. In der That machte fie auch anfangs viel Auf: fehen. Allein eine große und dauernde Wirkung bat jie nicht gethan. Das lag nit nur an der gelegentlich nicht leichten Sprache oder an dem Bhan-

tasma ihrer kosmogoniſchen Partien. Der Grund ift vielmehr, daß die ganze,

gedankliche Grundlage, auf der Boehme ftand, zur Zeit feiner Spekulationen ſchon ſtark erſchüttert zu werden anfing. Boehme iſt der letzte myſtiſche Philoſoph im inneren Deutſchland auf lange Zeit geweſen; nur in den Nieder- landen hat die myſtiſche Spekulation während des fiebenzehnten Jahrhunderts noch fortgeblüht, um dann, unter wejentlich veränderten Umftänden, in Spinoza eine Höhe von außerordentliht Bedeutung zu erreichen. Im Üebrigen aber wich die Myſtik dem Empirismu3, der Pandynamismus der Mechanik, das verzückte Naturerfennen dem Experiment und der mathematischen Analyſe. Jene fpefulative Naturwilfenfchaft, der die naturphilofophifchen Weltanſchau⸗ ungen des fechzehnten Jahrhunderts entjproffen waren, vermelfte; auf Kues war Soppernifus gefolgt und auf Paracelfus folgten Stevinus und Galilei. Man begann, Natur und Welt von ganz anderer Seite her zu betrachten.

Leipzig. Profeffor Dr. Karl Lamprecht.

%

Hymnus. 19

Hymnus.

—8 im Jahr über dem ewigen Rom

In einer tiefdunklen Nacht über den Petersdom Kommen die Kronen der Welt durch die Lüfte gerauſcht. Dort, in der Kuppel verſteckt, hab’ ich ihr Kied erlauſcht:

Wir find die Kronen der Welt,

Uralte und junge Herricherfronen, .

Und find die Kronen über Millionen.

Dor unferm £euchten fällt

So Unecht wie Held

Dehmüthig nieder vor den Thronen,

Denn wir verdammen und belohnen.

Wir find die Kronen der IDelt. So klingen die Kronen der Welt in einer tiefdunklen Yacht über

| dem Petersdom.

Dann aber fchwingen fie fich höher empor in die Luft, höher empor 2 Ä über Rom Und ihr höheres Kied brauft wie eim ferner Strom:

Wir find die Kronen der Welt Und find beftellt, Don einen Haupte zum andern In ewigem Wechſel zu wandern, zu wandern. Auf taufend Häuptern zu Fluch und Segen Sind wir gelegen

. Und haben die Stirnen, die wir beglüdt, Hu Boden gedrüdt. Wann aber, warn fommmt der Held, Der allen Kronen vermag zu entfagen Und alle zu tragen? Wann kommt unfer Held ? Wir find die Kronen der Melt!

So klingen die Kronen der Welt in einer tiefdunflen Yacht über dem ewigen Kom. Dann aber fchwingen fie ſich höher, noch höher empor Und in den Wolfen verraufcht braufend ihr mädhtigfter Chor... 2*

20 Die Zukunft.

Und die Wolfen ziehn

Und die Kronen erglühn,

Taufend Kronen fprühn,

Taufend Sterne erblühn auf dem himmliſchen 3; Und es ftrahlen fern

Im Diademe des Herrn,

In der Krone des Herm

Mond und Ste.

Aber ſchon ſchwindet die Nacht Und die Sonne erwacht. Wie ein fröhlicher Held Tritt fie hervor aus den Selt. Mond und Sterne verglühn Und die Sonne, fie lacht über der ftrahlenden Welt.

Prag. Hugo Salus.

«

& Beichtgeheimniß.

ER gaben zu Ehren des fcheidenden Karnevals eine große Gejellichaft: 9 zuerjt wurden den Gäſten heitere mufifalifche Vorträge geboten, danach folgte daS Souper und den Schluß bildete der obligate Tanz für die junge Welt. Dean war glüdlid beim Tanz angelangt. Hofraths jüngite Tochter, Fräulein Thella, die Einzige, die nod) zu Haben war, wie der hübſche Ausdrud lautet, tanzte nicht. Sie habe ein Bischen Kopfweh, ſagte fie; auch ſchmerze fie ihr linker Zuß. Die Wahrheit aber war, daß fie weder Kopfweh noch Fuß- weh hatte, jondern daß der Tanz ihr fein Vergnügen bereitete. Sie ging auch nicht defolletirt, wie die meiſten anweſenden Damen. Auch Das behagte ihr nit. Vielleiht nur, weil fie mager war. Offiziell behauptete fie, es fei ihr genirlich. Uebrigens war fie eine reizende Erfcheinung mit ihrem überjchlanfen, feingliedrigen Körper, ihrem pilanten dunklen Köpfchen und den verträumten lichten Augen. Und da fie eine beträchtliche Mitgift zu erwarten Hatte, fehlte es ihr natürlich nicht an Verehrern; und e3 waren ausnahmelos Herren „mit erniten Abſichten“: Das Heißt jolche, die fih jogar vor der Ehe nicht fcheuten Mehr kann man nicht verlangen. Dod) Fräulein Thekla verlangte dennoch mehr Sie machte jih aus keinem ihrer Courfchneider Etwas und behandelte alle voı oben herab. Nach der Ehe trug fie fein Begehren.

Ihr Better Fritz, mit dem fie aufgewachlen war und ber blos drei Yahrı mehr zählte als fie, leitete ihr während des langen Kotillons Geſellſchaft. Siı jelbjt Hatte ihn fich zum Partner erforen, um „vor den Anderen und der dummer Hofmadjerei Ruhe zu haben”, wie fie freimüthig zu ihm gejagt hatte. Er war

Beichtgeheimniß. 21

es zufrieden geweſen und bemühte ſich jetzt, ſie nach beſten Kräften zu unter⸗ halten. Das war nicht leicht. Fräulein Thekla war ſchwer zu befriedigen und entſetzlich ſchnell gelangweilt. Er kannte ſie genau.

Sie war ſeine Kinder- und Jugendliebe geweſen: bis vor drei Jahren. Angebetet hatte er feine Couſine. Doc „kühl bis ans Herz hinan“ Hatte fie vor ihm geftanden, fi} feine Inabenhafte Anbetung gleichgiltig gefallen laſſen und ihn wie einen grünen Jungen behandelt. Das ift ſehr unangenehm und pflegt jelbft die Heikeite Liebe zu Löjchen. Eine Zeit lang mied und haßte er Thekla. Dann genas er. Und jeit einem Jahr war er verheirathet und, wie es fich gehört oder doch fein follte, big über die Ohren verliebt in feine junge Frau.

Ad, feine jüße, Feine, faum zwanzigjährige Frau! Da ſaß fie, ihm Ihräg gegenüber, und jandte ihm hinter ihrem Pfauenfächer zärtliche Blicke zu. Wie hübſch fie Heute wieder war: fo weich und rund wie eine Taube, das volle Hälschen wie bei einer Taube nahezu verftedt, die Schultern und Alles, was font noch zu ſehen, blendend weiß und das Geficht jo rund und rofig, das Haar fo blond! Sie unterhielt fi immer mit ihm und er brauchte ſich dabei nicht einmal anzuftrengen. Seine fleine, füße Erny bewunberte ihn. Für fie war er dad Höchſte und Beite auf der Welt. Und wie gejund und flug fie war! Das gerade Gegentheil von feiner Coufine Thekla. Dieſe hatte etwas jo Krank⸗ und Räthjelhaftes in ihrem ganzen Wejen. War unbequem und verdreht. Ya, jie war entfchieden verdreht geworden, wie alle Mädchen werden, wenn fie nicht rechtzeitig heirathen. Das war es.

Dennoh war er ihr gut geblieben und fie that ihm leid. Wie kann man fih dag Leben nur jo muthwillig verhauen! Sie hatte ja immer ihre Muden und Launen gehabt, hatte ftet3 etwas Befonderes haben wollen. Aber daß fie jeit fünf Nahren fromm geworden war, feßte dod allem Boraufge- gangenen die Krone auf. Das war ſchlimmer ala alles Andere. Und dauerte num ſchon fo lange. Nahm immer größere Dimenjionen an. Qanzen wollte fie nicht und defolletiren wollte fie fih auch nicht; über die Männer rümpfte fie die Nafe und fagte, daß fie in ihren Augen nichts Befleres feien als... Nein! Er wollte jich lieber gar nicht erinnern, was für ein Wort fie gebraucht, mit welchem unjauberen Thier fie die Männerwelt verglichen hatte. Es war zu beleidigend. Geradezu aufreizend war es. Nur eine Ausnahme lieh fie gelten; natärlid. Das verdroß ihn am Meiſten. Die Priefter waren anderd. Nur die Briefter. Und als Sonne unter ihnen leuchtete Theklas Beichtvater, ber unvergleichlihe Pater Dar, für den übrigens eine ganze Neihe von Damen Ihwärmte. Fritz kannte diejen Pater Mar nicht, Hatte ihn niemals gefehen. Wollte ihn aud nicht kennen lernen. Ein Bischen Eiferfuht war doch noch ‚ebendig in ihm, troß der erlofchenen alten und der heißen neuen Liebe. Es ar doch zu kränkend, wenn er ſich entjann, wie Thekla gegen ihn geweſen war, nd wenn er ji dann vorhielt, wie fie über diefen Pater Max ſprach. Um e aus ihrer gelangweilten Zethargie aufzurütteln und fie, die immer Theil- ahmeloje und Wortkarge, beredt zu machen, brauchte man blos an diejen Gegen- tand zu tippen: jofort war jie Teuer und Flamme.

Er entichloß fi denn auch jetzt, während des Kotillons, zum Tippen.

hekla jah bereit3 bedenklich adgejpannt aus. Da hieß es, ob wohl, ob übel, dem fatalen Pater Mar feine Zuflucht nehmen.

22 Die Zuhuft.

„Na, was macht denn Dein Pater Mar?" fragte er mit einer leichten Grimaſſe.

Thekla ſah ihn von der Seite an. „Er iſt nicht mein Pater Diar. Er gehört Allen und Keinem. Mir nicht mehr als jedem Anderen.“

„Schön. Alfo: was macht er?“

„Was er immer thut: Seelen leiten und Seelen retten. Ad, Fritz“ und fie richtete fih aus ihrer wie gefnickten Haltung auf „ich bin fo traurig! Denke Dir: Pater Mar fährt zur Faſtenzeit nach Trieft, um dort die Yaften- predigten zu halten.” |

„Ra, gönne ihm die Abwechſelung“, meinte Krib.

„Ich gönne ihn den Trieſtinern“, entgegnete fie, ihn zurechtweijend. „Aber ich werde ihn vermiflen. Er predigt jo wunderbar! Und gerade feine Faftenpredigten waren mir ftet3 die liebiten. Und wenn id; während diejer Wochen beichten will, ijt er nicht da.“

„Beichte mir”, rieth ihr Vetter. „Einmal ift einmal.“

Thekla lächelte. Es war ein miitleidiges Lächeln. „Dir, mein lieber Fritz, würde ich überhaupt nichtS mehr anvertrauen. Niemals mehr.“

„Weshalb denn nicht?" fragte er etwas geärgert.

„Weil Du verheirathet bift und verbeirathete Männer nicht ſchweigen fönnen. Weil fie Alles ihren lieben rauen weiter erzählen. Danach gelüftet es mich nicht. Deine jüße Taube ift mir innerlich fremd und ich babe fein Bebürfniß, fie durch Dich in meine Geheimnifje einmweihen zu lafjen.“

„Aber Thekla!“ Er ereiferte fih. „Halte mid) doch nicht für jo albern! Sch jelbit habe zwar feine Geheimniffe vor meiner Frau. Doc wenn es fi um die Angelegenheiten einer Dritten handelte...“

„sa, ja: jo reden Alle. Aber wenn fie mit der jühen Gattin allem find und die ſüße Gattin recht ſchön bittet...“

„Sch gebe Div mein Wort, daß Dir uns verfennft. Du machſt Dir überhaupt eine ganz falſche Norftelung von ung. Die Männer find unendlich viel bejjer und auch klüger, als Du Dir einbildeft.”

„Wahrhaftig?“ Gedankenvoll jah fie ihn an. „Und wenn ich Dir nun wirklich ein Geheimniß anvertraute: würdeft Du fchweigen fünnen?“ Sie war ſehr ernſt geworden.

„Mein Wort darauf, Thekla.“ Er war ebenfalls ernſt geworden. „Wir ſind doch immer gute Kameraden geweſen. Ich fürchte, Dich quält Etwas. Vertraue Dich mir ohne Scheu an. Vielleicht kann ich Dir helfen.“

Sie ſchüttelte den Kopf. „Helfen kann mir nur Gott. Was ich Die zu jagen habe, weiß nocd Niemand. Nicht einmal dem Pater Max habe ichs gefagt."

„Richt einmal ihn?” Fritz fühlte ſich geſchmeichelt. „Alfo, was ift e3 denn?“

„Ich tauge nicht für diefe Welt, Fritz. Und darum habe ich den Ent« ihluß gefaßt, den Schleier zu nehmen und Nonne zu werden.“

Fritz ftarrte fie an. „m Ernie?”

„sm vollen Ernft. Und ich will mir den ftrengjten Orden ermählen und Karmeliterin werden. Wenn man das Ordenskleid einer Karmeliterin an— legt, ftirbt man für diefe Welt. Man fieht Niemanden mehr auch Bater

Beihtgeheinmiß. 23

und Mutter nit —, jchreibt und empfängt Feine Briefe, ift und bleibt abge- Ichnitten von Allem”...

„Das iſt ja ein ganz entjeglicher Orden, Thekla!“ Er war außer fid. „Und daß jo Etwas im zwanzigften Jahrhundert geduldet wird!

„sn Deinem zwanzigften Jahrhundert werden viel jchlimmere Dinge geduldet: Unzucht, Trunkſucht, alle Laſter,“ entgegnete fie kalt. „Kümmere Dich lieber um bdiefe Dinge. Die find gefährlicher.‘

„Mag fein. Na, ... und was thun fie denn, Deine tarıneliterinnen?“

„Ste beten,” jagte Thekla mit einem nur ihr eigenen unnadahınlichen Augenaufihlag. „Beten Tag und Nacht für die fündige Menfchheit.“

„2a, Ihön müßteſt Du ausfehen im Schleier und Nonnentleid,” fagte

er mit einem bewundernden Blid auf ihr efitatiiches Sefiht. „Aber muß es

denn gerade diefer Orden fein? Und kannſt Du denn nit auch zu Haufe für die jündige Dienjchheit beten? Die Wirkung würde fi) ja wohl gleich bleiben.”

„Rein. Hier verjteht mich Niemand, fühlt Keiner wie ih. Unter Gleich— gefinnten will ich jein. Ad, Fritz, auch Du veritehft mich nicht!“

„Doch, doch,” fagte er eifrig. „Sehr gut veritehe ich Did. Aber warum willſt Du Dich lebendig begraben laffen, um Gottes willen!?”

Sie beugte fich jeinem Ohr ganz nah. „Weil ih mid) vor mir felbit retten mödte, Fritz,“ ſprach fie murmelnd.

„Wieſo denn?" Er war fchon ganz verwirrt. „Was tft denn los, Thella ?“

„In meinem Herzen wohnt eine Liebe, die zu hegen eine Todſünde ift,“ fam es flüfternd über ihre Lippen.

„Ranı ,..!” Er haſchte nad) ihrer Hand. „Das Hatte ich immer ge- fürchtet; und diejfen Pater Dar” ...

Sie machte eine Schweigen heifhende Gebärde. „Still. Solche Dinge ſpricht man nicht fo klipp und klar aus. ch gehe nach Salzburg, wo ein Kar— meltterinnenklofter ijt, mache dort mein Noviziat, nehme den Schleier und fterbe für alle Menfchen. Auch für ihn. Und er für mich. Jetzt weit Du Alles.“

„est weiß ich Alles,” ſprach er wie betäubt nad).

„Und Du wirft jchweigen?‘ fragte fie ſehr eindringlich und legte die Hand auf jeinen Arm. „Noch muß mein Entihluß GSeheimniß bleiben. Du wirt ſchweigen, Fri, nicht wahr? Du haft es mir verſprochen!“

„And ich verſpreche es Dir noch einmal,‘ jagte er. „Aber was Du mir da anvertraut hajt, tit ganz ſchrecklich!“

„Nur Eins ijt Ichreklich: die Sünde,” erwiderte fie ernit.

Verwirrt jah er fie an. Arme, arme Thekla! Ihre Beichte hatte ihn aufgeregt und er hatte jogar verfäumt, zärtliche Blicke mit feiner jungen Frau zu wechleln. Und fo bemerkte er auch jegt nicht, daß Frau Erny in gejpannter

Lauſcherſtellung daſaß und jcharfe Blicke zu ihm und Thekla herüberjandte.

... Eine Stunde fpäter fuhr er ınit feiner fleinen Frau nad) Haufe. Als fie ihr hübſches Heim erreicht hatten und im Sclafgemad) die Cherkleider ab— legten, fragte er fie, wie fie ji) amuſirt Habe.

„Gar nicht,’ antwortete jie in flagendem Ion. „Und ich bin fo müde!“

Sie ſetzte ih auf die Chaiſelongue und hielt ihm die runden Händchen bin. „Bitte, Hilf mir die Handſchuhe ausziehen!“

24 Die Zukunft.

Wie füß fie Das fagte! Und immer war eg fo, wenn fie von einer &e- fellfchaft nach Haufe kamen: ftets war fie fo müde, daß jie fi) allein nicht aus- zufleiden vermochte. Und da man das arme Dienſtmädchen nicht weden mollte, mußte ihr natürlich der Gatte behilflich fein.

Er war ihr aud heute behilflich. Kniete vor ihr und knopfte ihr die Stiefelchen auf. Damit fing man jedesmal an.

„Warum haſt Du Dich denn nicht amuſirt, mein Engelchen?“ fragte er, zu ihr aufſehend.

Sie warf ſchmollend die Lippen auf. „Weil Du jo abſcheulich gegen mich warſt! Mich gar nicht beachtet haft!“

„Wieſo denn abſcheulich und nicht beachtet, Erny?“

„Na, während des Kotillons. Du weißt Schon! Diefe Bohnenjtange von einer Couſine liegt Dir eben noch immer im Sinn.”

„Darum nit gar!” Er war mit den Stiefeletten fertig geworden und ftedte weiche Pantoffelchen an ihre Füße.

„Ja, ja. Sch weiß, mas ich weiß. Und fo verblüht fie iſt befolletirt müßte fie übrigens nett ausſehen —, fie gefällt Dir no) immer. Und wie fie mit Dir Eofettirt hat! ES war geradezu unanftändig.“

„Thekla kokettirt überhaupt mit Niemandem.“

„So? Ich aber ſage Dir, daß ſie eine Erzkokette iſt. Hak' mir doch die Taille auf!“ rief ſie ungeduldig und herriſch. „Ich bin ja ſo ſchrecklich müde!“

Er hakte ihr mit einiger Mühe die enge Taille auf und zog ſie ihr vom Leibe. Ach, wie hübſch ſie im mit Spitzen beſetzten, ſchwarzſeidenen Korſet ausſah! Er wollte ſie auf die Schulter küſſen. Doch Erny wich ihm aus.

„Laß mid in Ruhe“, ſagte fie. „Ih bin böfe auf Dich.“

„Aber weshalb denn, Maus?“

Sie legte die Hände an die drallen Hüften. „Weil Du treulos bift und Tchledt. Alle Männer find fo. Mama fagt es auch. Und fie Hat Redt. Und id) möchte am Liebjten fterben.“

Wahrhaftig: fie fing zu weinen an. Er war jehr bejtürzt und zog fie an fi. „Dein Gott, was hajt Du denn?“

„Unglücklich bin ich!" ſtieß fie Heraus. „Das ſchlechte Mädchen will Dich mir nehmen! Früher dat fie nichts von Dir wiſſen wollen. Aber heute reizeit Du fie, weil Du verheirathet bijt . .. .“

„Hätte id) ihr nur nicht gejagt, daß Thekla meine Nugendliebe war!”

achte er. „Warum fage ich ihr aber auch Alles, ich Ejel!“

„Ich reize fie nicht im Mindeſten,“ antivortete er der erbojten Kleinen Frau.

„Nicht? Und was hatte jie Dir denn in Einem fort ins Chr zu flüftern? Die Hand auf Deinen Arm zu legen? Sich mit dein ganzen berförper auf Did zu legen? Hart genug mag ihre Berührung jein und ich bencide Dich wahrlich nicht darım ... Aber ihre Schlechtigkeit bleibt ſich gleich. Wie jie Did nur angefchmachtet hat! Es Hat blos noch gefehlt, daß fie ſich Dir an den Hals warf... . Und viel hat nicht dazu gefehlt: fie war Dir nah genug!“

„Aber alles Das ijt blanfer Unfinn, Erny. Komm, ich will Dich vollends auskleiden; dann legit Du Did) fchlafen.“

„Ich brauche Dich nicht dazu. So müde ich bin: ich werde mich allein auskleiden. Und Ichlafen magit Du anderswo. Nicht hier, bei mir.”

Beichtgeheimniß. 25

Jetzt wurde er ärgerlich.

„Sei doch vernünftig, Erny. Wenn Du wüßteſt, was wir zuſammen geſprochen haben!“ |

„Ich weiß es aber nicht. Und Du wirſt es mir nicht ſagen. Du wirſt Dich hüten!“ |

„Ih gebe Dir mein Wort, daß fie... . nicht an mich denkt.“

„Ich glaube Dir nicht.” Sie drängte ſich an ihn und weinte aufs Neue. „Wie kann man nur fo graujam jein und feine Frau jo quälen!”

Ihre Nähe machte ihm ganz warm und ihre Thränen marterten ihn.

„Sie liebt ja einen Anderen, Erny,“ entfuhr es ihm in feiner Berliebt- heit und Bedrängniß.

Erny Horte auf. ‚Wen denn?“

„Ad, Einen,den fie nicht lieben darf ... Es ift eineunglüdliche Geſchichte.“

„Und Du jollft wohl ihr Tröfter fein?’ fragte fie, wieder jchärfer.

„Bewahre. Ins Klofter will fie, diefer Gefchichte wegen. Sarmeliterin will fie werden. Und davon haben wir geredet.”

„Davon! Sie late. „Mag fie ins SKlofter gehen! Dortbin paßt jie mit ihrem Augenverdrehen. Und Der, den fie liebt, ift wohl ber Pater Mar?“

„Ja, es ift der Vater Mar.”

Erny lachte noch einmal, fragte no Allerhand und ließ fi, während er ihr willenlog Antwort gab, ohne Widerrede von ihm entkleiden.

Hreilih: am Morgen war ihm katzenjämmerlich zu Muthe. Und nod ſchlimmer wurde es, al8 ihm Erny eine Poſtkarte brachte. Die Karte war von Thefla. Und darauf ſtand in großen, weithin leſerlichen Schriftzügen: „Halt Du geſchwiegen?“

Er Ichämte ſich gewaltig.

Und zwei Stunden jpäter traf eine neue Poſtkarte ein. Wieder von Thekla.

„Es war nur eine Probe,” jchrieb fie ihm. „Ach bin in den Pater Mar nicht verliebt. Ich verehre ihn blos, ohne Sünde. Ich will auch nicht ins Klojter gehen. Nur beweijen wollte ich Dir, daß ich Euch richtig beurtheile und daß hr Ehemänner den Mund nicht halten könnt. Und froh bin ich, daß bie Kirche, Hug wie immer, den Cölibat über ihre Diener verhängt bat. Was würde aus dem Beichtgeheimniß werden, wenn aud die Priefter heirathen dürften!

Thekla.

P. S. Laß Erny beide Karten leſen, wenn ſie es nicht bereits von ſelbſt gethan hat. Aber wie ich die Ehefrauen kenne, hat ſie die Karten vor Dir geleſen.“

So war es auch. Erny wußte die zwei Poſtkarten ſchon auswendig. Und ſo ſchämte er ſich auch vor ihr, ſeines „Reinfalls“ wegen.

Doch die kleine Frau tröſtete ihn. „Laß fie ſchwatzen!“ ſagte fie. ‚Wenn ſie einmal einen Mann hat ich fürchte zwar ſehr, daß ſie Keiner mehr nimmt —, wird ſie es genau eben ſo machen. Darauf kannſt Du Dich verlaſſen!“

Wien. Emil Marriot.

* 8

26 Die Zukunft.

Rinderrechte.

DI mongolifche Kaifer Dſchingis, der die Kindes: und Elternliebe der Shinefen Tannte, dedte, al8 er jie befriegte, feine Vorhut mit den Kindern und Eltern feiner Feinde. So deden die Antifeminiften mit der Mutterfhaft ihre Argumente, um die Invaſion des weiblichen Feindes in ihre Gebiete zu verhindern.

Trotz der Heiligfprehung der Mutterjchaft ift das Kind in der Menſch⸗ heitgefehichte noch nie zu feinem Recht gelommen. Die ungeheure Sterblich- feit der Säuglinge legt Zeugnig davon ab. Und es ift das Necht des Kindes, zu leben. Generationen von Kindern verrohen, entarten im Gifthauch einer entjittlichten Umgebung. Schuß vor Förperliden und geiftigen Mißhand⸗ [ungen ift das Recht des Kindes.

Wer nicht fchaudernd, von grenzenlofem Erbarmen durchglüht, die Berichte über das Kinderelend in den englifchen Fabriken gelefen hat, trägt ein Herz von Stein in der Bruft.

Nur von dem Kleinen Kinde will ich heute fprechen, von dem Baby, für das Andere verantwortlich jind.

Welche Andere?

Die Mutter?

Ja, wenn wir an bie Mutter von Gottes Gnaden glauben. Tie Verheiligung der Mutterſchaft gehört zu den konventionellen Berlogenheiten.

Wie? Diefe Keinen Kinder, die liebende Mütter haben, auch die kämen nicht zu ihrem echt?

Auch jie in der Mehrzahl nidt.

Die Gegner der modernen Frauenbewegung freilich fehen in der Mütter lichkeit des Weibes die Verbürgung der Wechte des Kindes. Daher ihre feindlihe Haltung gegen die umftürzlerifchen Weiber der Emanzipation, die, wie es fcheint, nichts Geringeres planen als einen neuen bethlehemitijchen geiftigen Kindermord.

Daß alle feelifchen und phyſiſchen Kräfte des Weibes nur der Mutter: ihaft zu bienen haben, da auf der Mütterlichkeit ihre Genialität berube, wird neuerding® wieder mit den Zeusgebärden fouverainen Allwiſſens der Melt verkündete. Wie fih in Wirklichkeit daS Leben der Frau als Mutter der Babies abfpielt, will ich zu ſchildern verfuchen.

Tie Mutterliebe ift ein Naturtrieb.

So recht von Herzen kann ich nicht einmal an diefen faum je be= zweifelten Naturinitinft glauben.

Lege ein fremdes Kind ftatt de eigenen der Mutter, die eben geboren hat, in die Wiege und jie wird das untergefchobene Geſchöpfchen falls

Kinderrechte. 27

ſie von der Vertauſchung nichts weiß in ihr Herz ſchließen, als wäre es ihr leibliches Kind. Ich kenne Fälle, wo linderloſe Frauen ein adoptirtes Kind mit der denkbar inbrünſtigſten Mutterliebe umfaßten. Nicht der Natur- inſtinkt ſcheint mir der Grundpfeiler der menſchlichen Mutterliebe; eher iſt es das Schaffen und Wirken an dem Kinde. Die Mutter fühlt ſich als das Schidial des Meinen Hilflofen Gefchöpfes, das ihr anvertraut wurde, wobei allerdings die VBorftellung, daß e8 ihr eigenes Zleifh und Blut ift, mitwirkt. Die Vorftellung fage ich, nicht die Thatſache.

Eın Beifpiel aus meinen eigenen Leben mag das Geſagte erläutern. Aus irgend weichen Anlaß wohnte einmal eine Heine Nichte einige Monate bei mir. In fürzefter Zeit liebte ich das Kind, das ich vorher kaum ge: fannt hatte (die Eltern wohnten in einer anderen Stadt), wie nur eine Mutter ihre Kind Lieben kann. Seine Gegenliebe bereitete mir Entzüden, es war mein Gefchöpfchen, das ich zu behüten, zu verforgen hatte, für das ich verantwortlich war. Als das Kind mir wieder genommen wurde, ent: ſchwand e3 allmählich aus meinen Gedächtniß und aus meinem Herzen.

Ein noch marlanteres Beifpiel, wobei es fich freilich um einen Mann handelt, einen älteren Herren und vielbejchäftigten Kaufmann. Diefer Dann ein naher Verwandter von mir hatte acht Kinder, denen er feinerlei Intereſſe zumandte; höchſtens zeigte er an ihren weltlichen Erfolgen einige Antheilnahme. Die Kinder gehörten ganz der eifrigen, willensftarten Mutter. Der charakterſchwache Vater war eine Null im Haufe. Einer feiner Söhne ſtarb mit der Bitte auf den Tippen, daß der Vater ich feines verlaffenen, unehelichen Meinen Mädchens annehmen möge. Und diefer trodene Gejchäfts- mann, der ji um feine eigenen Kinder nie gefümmert hatte, wurde diefem Kind ein überzärtlicher Vater. Sein ganzes Gemitihsleben fonzentrirte fich auf die Kleine, die wahrſcheinlich ohne ihn geftorben oder verdorben wäre. Es war rührend, zu beobadhten, wie er heimlich, faft mit dem Gefühl einer Schuld, Tag für Tag zu dem Kinde fchlih und fi mit Gefchenten und zarter Fürſorge für die Enkelin nicht genug thun fonnte. Und das Find gab ihm Liebe für Liebe. Taf es ja in der That aus feinem Blute ftammte, hatte mit feiner Liebe nichts zu thun.

Es ift eine oft gemachte Wahrnehmung, dar ein Vater feinem ehelichen Kinde häufig erft dann ein echter fürforgender Vater wird, wenn der Tod ihm die Gattin, dem Kind die Mutter entriffen hat.

Zum Beſtand der Mlutterliebe gehört als wejentliches Element die Segenliebe des Kindes. Denfen wir uns dieje Liebe ausgeſchaltet, fo dürfte die Mutterzärtlichkeit cine ftarfe Abkühlung erfahren. Ich kenne Fälle, wo Meütter mit einer zahlreichen Kinderfchaar diejenigen Kinder, die fie mit der eigenen Milch genährt haben, leidenfchaftlid) Liebten, den Ammenkindern aber,

28 Die Zukunft.

die, von der Mutter fich wendend, nach der Amme fchrien, abhold waren. Kluge und gute Frauen freilich werden es verftehen, fich der Heinen Gefchöpfchen, wenn bie Amme entlafien ift, zu bemächtigen.

Melches aber auch der Grund und Urgrund ber Dutterliebe fein mag: ſie ift da, fie wird immer da fein, felbft wenn Zitaniden der Emanzipation den Himmel diefer Gemüthswelt zu ftärmen ſich unterfangen wollten; eine Liebe mit leichtem Anflingen an Miyftifches, das das Kindchen in Zufammen- bang bringt mit dem „Woher*? „Wohin“? aller Kreatur, und als ob in der Maren Tiefe diefer fragenten Kinderaugen noch ein Abglanz ruhte von einer anderen Welt, aus der fie fommen, EngelSbilder, die irgendwo Flügel verloren. . |

Warum aber foll diefe Liebe eine fo überaus geniale, das Neben der Frau erfchöpfende Leiftung fein? Schlechte und gute Frauen lieben in gleicher Weife ihre Kinder; und fie lieben aud) ihre feelifch mißrathenen Sprößlinge, die vorausfichtlih der Menfchheit Unheil bringen. Und folder Xiebe ein Heiligenfchein? Wir bewundern doch auch den Künftler nicht, der fein mig- lungenes Wert anbetet; eher lächeln wir darüber hinweg, mitleidig, geringjchägig.

Die Zärtlichleitbemweife, die Lieblofungen, die eine Begleiterfcheinung der Liebe für die Babies find, machen offenbar der Mutter mehr Vergnügen als dem Kinde. Diefe Liebe, die ein fo Tleines, hirn- und feelenlofes Ge⸗ ſchöpfchen brünftig umllammert, e8 förmlich in ſich faugt, in efitatifcher Wonne, bezeichnet das Starke finnliche Element in der Mutterliebe. Die Kinder vor Liebe aufeflen, ift eine oft angewandte Redensart.

Diefe zärtlihen Meuttergefühle immer auf dem Präfentirteller, als piece de resistance in der Argumentation gegen die Frauenbewegung, ift aufdringlich, abftogend. Wie man in feinem Kämmerlein betet, fo liebe man daheim fein Kindchen. Aber ich ehe feinen Grund, Gefühle, die einen fo reichen Kohn jchon in ich felbft tragen, als ungeheure, Ehrfurcht gebietende Dualitäten an die große Glode zu hängen, Heiligenfcheine dafür als Dutzend⸗ waare auf den Markt zu werfen, auch für Stirnen, hinter denen nie eines Gedankens Gluth geftrahlt, nie ein Funke von Edeljinn auch nur geglimmt hat. Mir ift dieſes Progen mit der Mlutterliebe eine erweiterte Selbft-

- Liebe widrig. Frauen können ihren Kindern die zärtlichiten Gefühle weihen

umd ji anderen Kindern, ja, der ganzen übrigen Menfchheit gegenüber herz: und gemüthlos erweifen. Das wäre die echte Mutter, die allen Kindern hold ift.

Viele Frauen haben vielleicht feine anderen Vorzüge, aber gar feine; jie können vielleicht nicht einmal kochen: da bleibt ihnen doc immer noch die Mutterliebe. Die foftet feine Arbeit, wird nicht erworben, ift von felbft da, und je heftiger fie da ift, um jo mehr rüdt fie die Mutter in eine ver- Härende Beleuchtung. |

Kinderrechte. 29

Die Mutterliebe entbehrt der Idealität, die man ihr zuſpricht, wenn es mir auch fern liegt, zu leugnen, daß es eine Mutterliebe giebt, die rührend und ergreifend iſt, eine Liebe, die immer tröſtet, immer verzeiht, die immer giebt und niemals nimmt, die ſelbſt an dem entgleiften Kinde, das am Pranger der Menjchheit fteht, in unverbrüchlicher Treue fefthält. In Romanen fommen biefe Mütter noch häufiger vor als im Leben.

In dem Auffaß eines geiftuollen Schriftfteller3 las ich kürzlich, Rouſſeau habe für bie gebildeten Europäer erft das Kind entdedt. „Seitden wurde es Mode, an dem Heinen Ding Etwas zu finden. Bis dahin fand bie Mutter felten den Weg in die Kinderſtube. Der Mutter wurde es bequem gemacht, nicht dem Kinde. Daher die Schaufelmwiege, der Lutfchbeutel, das Stedfiffen. Noc heute ift e8 in der. Normandie Brauch, den Säugling in der Küche an einen Nagel zu hängen. Tie Wilden find fchlechte Mütter.“ Die Gewähr für die Richtigfeit diefer Darftellung überlaffe ich dem Autor.

Es find die Heinen hilflofen Geſchöpfe, die Babies, denen die Mutter die größte Zärtlichkeit widmet. Der Säugling in der That ift von der Natur auf die Mutter angewiefen. Bei der heutigen Beichaffenheit der Frau fommt da3 Säugeamt nur zu oft in Wegfall. Surrogate für die Muttermild mögen in volllommener chemifcher Zufammenjegung nod) nicht vorhanden fein. Sie herzuftellen, bfeibt der Zukunft vorbehalten.

Es ift vorauszufehen, daß die Deutter der Zukunft im Stande fein wird, ihre Nährpflicht beffer zu erfüllen als die jegige Generation. Die Erfahrung widerlegt die Anjicht, daß die Nührthätigfeit auf den geiftigen und förperlichen Zuftand der Frau ungünftig einwirfe. Im Gegenteil: viele rauen fühlen jich in diefer Zeit befonders wohl.

Borfehrungen zu treffen, dag die Mutter ihres Säugeamtes neben einer Berufsthätigkeit walten kann, liegt im Bereich der Möglichkeit.

Eine ausgezeichnete Schriftftellerin weist auf „Die ungeheure pfychologifche Bedeutung hin, die die perfönliche Pflege des Kindes für die Mutter Habe.“ Die perfönliche Pflege und Fürforge . . . Hm! Die Mutter wäſcht, widelt, badet Tag für Tag das Heine Kindchen, ſie giebt ihm das Fläfchchen und kocht ihm das Süppchen, füttert es, trägt oder fährt es fpaziren, jingt es in den Schlaf, näht und-wäfcht feine Kleidchen und bejorgt nacht3, was zu beforgen iſt.

Thut fie Das?

Bewahre! Dazu ift ja die Kinderfrau da.

Ob eine Pflicht für die Frau beiteht, ihr ganzes Leben den Sindern zu widmen, darüber mag man verfchiedener Meinung fein. Daß kaum eine Frau diefer Pflicht nachkommt, ift fiher; fie kann es auch nicht, ohme ihre foziale Stellung, ihre gejelichaitlihen Beziehungen, ihren Gatten an den Kagel zu hängen (id) meine Das bildlich).

30 Die Zukunft.

MWohlgemerkt: ich fpreche hier immer nur von der Mütterlichfeit mit Ausſchluß des Proletariates, bei dem die Nothlage die Kinderfürforge auf ein Minimum herabdrüdt.

Dos Warten der Meinen Kinder ijt auferordentlich angreifend. Eine durch lange Hebung erworbene Gebuld gehört dazu, Ruhe, ftarfe Arme und fogar eine gewilje Freiheit von allzu heftigen Kiebesaffelten. Siehe: Klein Eyolf. Das Heine Kind bedarf der unausgefegten Beauflichtigung.

Ich Fenne eine wahnjinnig zärtliche Mutter, die als jie von einer felt- famen Krankheit hörte, die irgendwo unten im Süden ausgebrodyen fein follte, bei der Vorftelung, daß ihre Lieblinge davon ergriffen werben könnten, in heiße Thränen ausbrad. Die felbe junge Frau aber verficherte, ſie würde lieber Holz haden, als ihre Kinder den ganzen Tag warten.

In Frankreich und Ftalien wurden und werben noch heute vielfach die kleinen Kinder aufs Land gegeben, theils aus hygieniſchen Gründen, theils, weil e3 eben Landesbrauch war. Daß die Diutterliebe in diefen Ländern aus- geitorben ift, bezweifle ih. Die Tage, an denen die Kinder befucht werden, find Fefttage für die Familie. In feinem Lande Europas giebt es zürt- lichere Eltern als in Italien; fogar der Vater nimmt dort im volliten Maße daran feinen Theil. Und find die Engländerinnen etwa Rabenmütter? In England if die Pflege der Heinen und Fleineren Kinder völlig der nurse überlaffen. ‘Die nurse ift eine gründlich und trefflich für ihren Beruf ge: fhulte Berfon, die ihre ganz beſtimmten, weitgehenden Nechte hat, Rechte, die felbft die Mutter nicht anzutaften wagt; und aud) nicht anzutaften braucht. Sa: eine englifche Mutter ſchickt ihre Kinder allein mit der nurse in be- flimmte Seebäder und darf der Ueberzeugung fein, daß ſie ſelbſt nicht befler für die Kinder dort forgen fönnte, al& die nurse «3 thut. Auch bei uns in Deutſchland find die Kinderfrauen Vlachthaberinnen; leider find fie nicht annähernd jo tüchtig und gefchult wie die englifchen nurses. Ihre Unzu: länglichfeit beruht aber doch nicht auf einer Naturnothiwendigfeit. Man wird für Inftitute zu forgen haben, aus denen Sinderpflegerinnen hervorgehen, die den englifchen ebenbürtig jind.

Ich habe verkehrt und verfehre noch in einer großen Anzahl gebildeter und intelligenter Familien. Einige davon find reich, andere arm. In all diejen Familien werden die Kinder zärtlich geliebt, oft über das vernünftige Map. hinaus, und in al diefen Familien ift der Verkehr der Mütter mt ihren Kindern völlig gleih. Die Mutter ift den Tag über zwei, wenn es hoch kommt, drei Stunden mit ihren Kindern zufammen. Die Kinderfrau (fpäter das SKinderfräulein) bringt morgens das Kindchen zum Morgengruß insg Schlaf: oder Wohnzimmer der Mutter. Die koft und fpielt ein hafhes Stündchen mit ihm. Dann zieht ji die Wärterin mit dem Kleinen wieder

Kinderrechte 31

in die Kinderſtube zurück. Iſt das Kindchen noch ganz jung, ſo wird Muttchen wohl zu ihrem Vergnügen als Zuſchauer zum Baden eingeladen. Nach Tiſch zum Deſſert und nachmittags beim Kaffee präſentirt die Kinderfrau abermals das Herzblättchen auf kurze Zeit. Und ab und zu im Laufe des Tages ſteckt Muttchen wohl noch flüchtig den Kopf ins Kinderzimmer, mit dem Heinen Schatz liebäugelnd oder ihn mit vielen, vielen Küſſen erſtickend. Und liegt Kindchen abends im Bett, fo ruft die Kinderfrau ſie zum Gute⸗ nachtſagen und zum Gebet, falls das Muttchen nicht gerade durch Theater, Konzerte oder Gefellfchaften in Anſpruch genommen ift.

Baby ift Muttchend Zeitvertreib und Spielen und Kofen fein Inhalt.

Den größten Theil des Tages gehören die Kinder der Kinderfrau oder dem Fräulein. Die Mutter ftattet nur Beſuche im Kinderzimmer ab, das Kind nur Beſuche im Wohnzimmer. So ift ed. Wer aber meint, dag hier Wandel gefchafft werden müſſe, damit der Mutter allein „der ungeheure pfychologifche Vortheil der perfönlichen Pflege des Kindes” zufalle, Der trete offen für die Abſchaffung der KHinderfrauen ein, ftatt wie es gewöhnlich gefchieht diefe breiten Machthaberinnen in der Sinderftube völlig zu ignoriren.

Die Wärterin meiner Kinder befam Wuthanfälle, wenn ich einmal mein Kind felbit baden, wideln oder im Garten ſpaziren fahren wollte. Das fei ihre Sache. Sie empfand mein Eingreifen als eine Ehrverlegung, eine tötlihe Kränkung. Und id, ich fuchte Heimlich, Hinter ihrem Rüden, meinem Kindchen beizulommen. Die Defpotin an die Luft zu fegen, wäre natürlich vernünftiger geweſen.

Gewiß hat die Mutter immer und überall die Pflicht zur Oberauflicht über die Kinderwärterinnen. Die Wirkfamleit der Oberaufficht aber hängt viel weniger von ihrer Liebe und der Zeitdauer ab, die fie diefer Thätigkeit widmet, als von ihrer Intelligenz und ihrem Charalter.

SM die Mutter al3 Pflegerin und Erzieherin eine abfolute Noth- wendigfeit für das Kind? ft die Umtrennbarkeit von Mutter und Kind ein für alle Ewigkeit geltendes Prinzip? Zwei Gefichtspunfte fommen dabei in Frage. Erftens: die Freude und das Glück der Mutter am Kinde; und zweitens: da8 Gedeihen und das Glüd des Kindes.

Die Freude und das Glüd der Mutter! Ja, wiffen denn die Frauen nicht jelbft, wo ihr Glüd, wo ihre Freuden blühen? Iſt das Kind ihr größtes Glüd, ihre intimfte Freude, fo werden fie e8 ih um feinen Preis der Welt entreigen laffen, am Allerwenigften aber werden jie ſich diefes Glückes freiwillig entäußern. Und e8 ift ein Lurus der Großherzigfeit, wenn die Männer fih fo feurig für das Glück ihrer Schweftern ereifern.

Und: die Wohlfahrt des Kindes. Wie? ft das Herz der Mutter

32 Die Zukunft.

nicht ihr befter Hort? Darauf antworte ih: Das Kind gedeiht da am Velten, wo eine erzieherifch begabte Perfönlichkeit von edler Geſinnung, von Intelligenz und Herzensgüte über ihm wacht, e8 leitet und führt. Beſitzt die Mutter diefe Eigenfchaften: um fo befler. Beſitzt fie fie nicht, dann wird das Kind in ihrer Sphäre das beftmögliche Gedeihen nicht finden.

Und die hellfeherifche Kraft des Meutterinftinftes? Gehört fie doch zu den auswendig gelernten ewigen Wahrheiten, die fi) von Geſchlecht zu Geſchlecht vererben. Erſt kürzlich las ich in der Schrift eines warmen Temi- niften, daß „felbitverftändlich, wie bisher, fo aud in Zukunft die wunderbar hellſeheriſche Kraft des Tiebevollen Mutterinftinttes das Beſte thun wird.“ So lange man fich von diefer alteingefeflener Wahnvorftellung nicht frei macht, wird der milden Engelmacherei der Inſtinktmutter Vorſchub geleiftet. Sch glaube nicht an die Wunderwirkung des Mutterinſtinktes; eher ſcheint mir die Deutterliebe, die nur in Ausnahmefällen nicht blind ift, ein Hemmniß des fruchtbaren Wirkens am Kinde.

Und das Glück des Kindes? Braucht das Kind nicht Liebe? Gewiß. Aber es gilt ihm gleich, von wen die Liebe kommt. Es kann die Mutter fein; fie braucht e8 aber nicht zu fein. Die Liebe des Kindes zur Mutter ift ganz ficher fein Raturinftinkt. Sein inftinktives Bedürſniß nach Liebe und Anhänglichkeit Fällt den Perfonen zu, die ihm Luft bringen, fei e8 durch Nahrung, Spielzeug oder was ihm fonft Behagen fchafft. Der Säugling von ſechs Monaten jauchzt der Amme, nicht der Mutter entgegen. Bei diefer Kindesliebe ift eben auch die Gewohn⸗ heit dauernden Beifammenfeins und da8 Gefühl der Abhängigfeit von der pflegenden Perfünlichkeit ein ftart mitwirfendes Element. Darauf ift zum Theil die merkwürdige Erſcheinung im Kindesleben zurüdzuführen, die mich oft mit Staunen und roll erfüllt hat: daß bie Heinen Kinder ihren Wärter- innen, auch wenn jie fchleht und ungerecht von ihnen behandelt werden, leidenſchaftlich anhängen.

Ich betone hier ausdrüdlih, daß nie und nimmer ein Gewaltakt da Kind von der Mutter reißen fol. Was das Recht des Kindes erheifcht, wird ſich in langſamer, allmählicher Entwidelung zu höheren Kulturftufen von felbft ergeben.

Wenn die Kindehen bei der Aufziehung durch ungefchulte Kinderfrauen und unreife Kindermädchen nicht zu ihrem Recht fommen: der Mutter ift fein Borwurf zu machen. Sie ift eben, wie fie fein kann. Die Babies fommen nicht zu ihrem Recht, weil die Mütter felbit nicht zu ihrem Recht gefommen find. Das heigt, nicht zur Entwidelung der Intelligenz, die ihnen das Verſtändniß für die Pſyche des Kindes erfchloffen hätte, der Kenntniſſe, von denen das leibliche Wohl des Kindes abhängt; wobei natürlich nicht aus— gefchloffen ift, daR auch eine Frau, trog aller Intelligenz und allem Willen,

Generalverſammlungen. 33

wenn ihr die erzieheriſche Begabung abgeht oder ſchlechte Charaktereigenfchaften ihre Geiftesporzüge neutralifiren, eine usgute Mutter fein wird,

Die Deutterfhaft ſoll mehr fein als eine auf felbftifchen Vorftellungen beruhende, undisziplinirte Gefühlsfchwelgerei.

Bisher iſt in dem PVerhältnig von Mutter und Kind die Mutter mehr zu ihrem Recht gelommen als das Kind. Sehr erflärlih. Die Mutter redet, das Kind nicht.

Auch die Umwertdung der Dlutterfchaft fteht auf dem Programm der Zeit. Daß fie eine unvergleichliche Vertiefung und Veredelung erfahren wird, wenn die Frau erft zu Lebens- und Erkenntniß-Höhen geftiegen ift, die ihr bis jegt nicht zugänglid waren, unterliegt für mic) feinem Zweifel. Die Mutter von heute und geftern wird nicht mehr die Mutter der Zukunft jein.

Man vergleicht gern die junge Mutter mit dem Kind im Arm einem Diadonnenbild. Und Das wäre wohl die rechte Mutter, die, gleich der Mutter Maria, mit ehrfürdtiger Inbrunft auf das Kind in ihrem Schoß blickte, in der Erkenntniß, daß das Kind die Zukunft bedeutet. Das heißt: einen Fortſchritt der Menfchheit. Zu folhen Müttern verhelfe die große moderne Frauenrevolution dem Kinde!

Die Emanzipation des Weibes ift das Hecht des Kindes.

Hedwig Dohm.

Beneralverfammlungen.

Sp: alter, erfahrener Börjenmann jagte mir einmal: „Lieber Yreund, Sie mögen gegen unjere Bank jchreiben, was Sie wollen; wenn die Kurſe fteigen, iit doch Alles nicht wahr.” Den Eindrud, da Alles nicht wahr iſt, was früher behauptet und nicht widerlegt wurde, hat man bejonders, wenn man die Generalverjammlungen der Bauten befucht. Namentlich bei der Frühjahrs— parade der Nationalbank für Deutichland konnte man glauben, Alles, was im jahr geihehen war, jei längjt aus der Erinnerung entſchwunden. Fünfzehn Honäre waren anweſend. Freilich waren noch mehr Leute im Saal; aber Eingeweihte erfannte darunter manchen Auch Kournalijten, der jtets, mit er Aktie bewaffnet, in die Verfammlungen zu gehen pflegt. Und unter den ifzehn „echten“ Aktionären, die wenig mehr als 4 Millionen Mark Stapital ‚traten, bejtand der größte Theil noch aus den Angeftellten interefjirter Firmen. ben anderen jahen wir einen Vertreter der Firma Wiener, Levy & Co., deren "tinhaber im Auffitrathe der Banf ſitzt. Da wird uns inmmer jchr feier-

3

34 Die Zukunft.

lich verfündet, daß bei der Dechargirung Auffichtrath und Direktion fich der Ab⸗ ftimmung enthalten, wie e3 das Gefeß verlangt. Gewiß: Herr Levy ftimmt nicht mit; aber der Profurift der Yirma Levy & Co. darf ftimmen. Unſere modernen Aftionärverfammlungen trifft mit bitterer Wahrheit das Wort jencs Leiters einer franzöſiſchen Generalverfammlung, der, als ein Aktionär fich eine Cigarre anzünden wollte, ihm zurief: Ne fumez pas, monsieur! Vous ne voyez donc pas tous ces hommes de paille? Ferner faß unter den „echten“ Aktio⸗ nären ein Profurift der Firma Hardy & Co., deren Inhaber, Herr Andreae, neu für die Wahl zum Auffichtrath vorgejchlagen war. Das Tinterefianteite an biefer Berfammlung war das Auftreten bes Herrn Generalkonſuls Landau, der feierlich erklärte, zwilchen ihm und der Direktion babe e8 niemals irgend welche Differenzen gegeben. Er habe feine Stellung als Aufſichtrath der National» bank für Deutichland aufgegeben, als er merkte, daB ihm die Zeit zur Erledi: gung all jeiner AmtSpflichten fehle; und niemals babe er gegen ben Willen ber Direktion ein Gefhäft bei der Nationalbank durchgefeht. Das wurde vom Vor- ftandstifch her beftätigt und außerdem erklärt, niemals hätten ernftere Dieinung- verjchiedenheiten, als fie unter Kollegen unvermeidlich feien, zwiſchen den ver- fchiedenen Mitgliedern der Direktion geherrſcht. Alles, was über folde Diffe- renzen verbreitet worden jei, gehöre ins Reich des Mythos. Bekanntlich waren aus den Bureaux der Nationalbank Meldungen durchgeſickert, die ſich weniger friedlich ausnahmen. Die Vteinungverfchiedenheiten zwiſchen ben lieben Kollegen Beter und Stern follten nad jenen „unwahren Erzählungen“ mandmal fo ernft ge- wefen fein, daß aus den Tintenfäjlern der ſchwarze Saft erjchredt emporſpritzte. Herr Direktor Peter ging denn auch, wie e8 hieß, „aus Geſundheitrückſichten“. Daß die Demiljion wirklich Feinerlei andere Gründe hatte, wird, nad) den bün- digen Erklärungen vom Borjtandstiih aus, jeßt Niemand mehr zu bezweifeln wagen. Aber gegen andere Erklärungen regen ſich doc Zweifel. Daß Herr Landau gegen den Willen der Direktion feine Gejchäfte gemacht hat, ift Klar. Nur hatte er eben zwei Bertreter in der Direktion und aud die Mehrheit des Auflichtrathes zeigte ich ihm fo gefügig, dab es wahrjcheinlich Teiner bejonberen Energie bedurfte, um die Geſchäfte, die er machen wollte, durdzufegen. Iſt etwa die Nativnalbank nicht von ihm mit der Kleinbahngeſellſchaft hereingelegt worden? Und ift das Kleinbahngeſchäft nicht eins der ſkandalöſeſten Gefchäfte, die in der vorläufig legten Gründungperiode überhaupt gemacht worden find? Auf dieſe heikle Frage ging Herr Landau nicht näher ein. Es war aud nicht nöthig; denn was gejchehen ijt, ift gejchehen. Und cs joll Hier immerhin noch als ein achtbares Zeichen perjönlihen Muthes gerühmt werden, daß er überhaupt in die Generalverſammlung kam, um den Aktionären Rede und Antwort zu ſtehen. Doch hätte er bejjer gethan, diefen guten Eindruc nicht dadurch zu ven

wiichen, daß er ſich plößlich Ipreizte und Werth auf die zeititellung legte, e

habe in den Zeiten der Hochkonjunktur nicht in 37, Jondern nur in 31 Verwaltung

räthen gejejlen. Er hätte auch, wenn e3 ihm irgend möglich war, verhindern joller

daß einer der Aktionäre ein Loblied auf ihn anſtimmte und ihn beinahe flehentlic

bat, doch wieder in den Aufiichtratd zurüczufchren. Ich glaube, der Herr Ge

neralfonful thäte gut, wenigitens erjt etwas Gras über die Dinge, die gefcheher

find, wachſen zu laſſen; und jeine intimften Freunde konnten ihm keinen befferer

Generalberſammlungen. 35

Rath geben als den: vorläufig lieber hinter den Couliſſen Banken zu fuſioniren, als im Licht der Rampe ſchon wieder in Hauptrollen aufzutreten.

Die Nationalbank⸗Verſammlung war inſofern eine Ausnahme von der Regel, als ſich ein paar neugierige Aktionäre fanden, die nach Dieſem und Jenem fragten und ſich ſogar ſehr ſchwer zufrieden gaben, obwohl Herr Direktor Stern auf jede Anfrage Etwas wenn auch nicht gerade viel zu erwidern wußte. Drei Punkte intereſſirten beſonders. Natürlich wurden die Beamtenentlaſſungen berührt. Herr Stern ging mit beneidenswerther Nonchalance darüber hinweg; nur jungen Leuten, die man nicht brauchen konnte, ſei gekündigt worden. Die Sache ſei in der Oeffentlichkeit aufgebauſcht worden. Mehrere Beamte, die zum erſten April keine Stellung bekommen konnten, habe man behalten. Ich habe bier früher über die Beamtenentlaſſungen der Nationalbank genaue, mit Ziffern belegte Angaben gemacht, bie nicht widerlegt worden find. Danach hatte auch die oft gefcholtene Deffentlichfeit alle Beranlaffung, ſich über die Entlafjungen aufzuregen. Sogar Leuten, die feit elf Jahren in ber Bank arbeiteten, war gefündigt worden. Herr Stern fagte ben Aktionären ferner, man werfe ihm vor, Beamte entlaffen zu haben, und finde wiederum dod das Unkoſtenkonto noch immer zu hoch. a, vergißt denn Herr Stern ganz, daß in dem Unfoften- konto für das Jahr 1900 210000 Mark Direktorentantieme fteden? Solde Poſten dürften wohl von den Aktionären bemängelt werden, nicht aber die Beamten- . gehälter, die nach meiner damaligen Aufſtellung recht Färglih waren. Dann wurde das Banfgebäude monirt. Ein Aktionär meinte, ihm fei erzählt worden, einige Räume jeien jo luxurids ausgeftattet, daß fein Beamter fie betreten dürfe. Herr Stern gab zu, das Gebäude fei in ber Zeit der Hochkonjunktur wohl etwas Iuzurtöjer angelegt worden, als e3 in fchlechteren Zeiten geplant worden wäre; $roßdem ſei e8 noch billig und man hätte e8 jchon mit Nutzen verlaufen können. Endlid wurde darauf Hingewiefen, daß noch immer fein dritter Direktor neben Herrn Stern und Herrn Magnus fungire. Dan konnte den Aktionären, ange» fiht3 der Art, wie Herr Stern die an ihn gerichteten Fragen beantwortete, nicht verargen, daß fie Sehnfucht nad) einem dritten Direktor empfanden. Auflichtrath und Direktion verjicherten, man ſuche ſchon lange nach einem tüchtigen Mann, es jei aber ſehr fchwer, einen zu finden. Mit Recht hob ein Aktionär hervor, daß man genug tüchtige Leute finden könne, wenn man endlich der Unjitte ent» fage, immer nach großen Namen Umfchau zu Halten und bie untüchtigiten Direktoren nur wegen ihrer ſchön Elingenden Titel anzujtellen.

Die Nationalbank kann troß Alledem den Ruhm für fih in Anſpruch nehmen, nody immer die „natürlichite” Generalverſammlung gehabt zu haben, Wenigſtens waren Opponenten da, die allerdings, wenn fie etiva den Ehrgeiz gehabt hätten, Anträge zu ftellen, nichts auszurichten vermocht hätten. Doch madt die Anwejenheit ſolcher Aftionäre immerhin nach außen einen guten Eindrud,

Ganz anders ging es bei der Dresdener Bank zu. Trotz Allem, was bei diejem Inſtitut vorgekommen ift und was doch mindeltens zu Fritiichen An— fragen reichlich Anlaß gegeben hätte, fprad Niemand mit der Direktion ein ernſtes Wörtchen. Bertreten war eine jo auffallend kleine Aktienſumme, daß die übliche Sntereffelofigfeit der Aktionäre zur Erklärung nicht ausreiht. Man tuſchelte, die Mehrzahl der Aktien ruhe nicht allzu fern von gewifjen Aufficht-

86 Die Zuhmft.

räthen al3 ſüße Interventionlaft. Yehlten in Dresden die Opponenten, jo gab es dafür begeifterte Lobredner: ein Herr aus Berlin, einer aus Dresden und einer aus Münden. Den Dresdener und ben Münchener kenne ich nicht, dafür defto beiler den Berliner. Er ift Direktor eined großen induftriellen Unter- nehmens, bat mit gewiflen reifen unferer Finanzwelt „Fühlung“ und Hört ſich jehr gern reden. Mit der Dresdener Bank jelbjt will er feine „Fühlung“ haben. Diefe Ehrenretter fanden, al3 artige Aktionäre, nicht einmal nöthig, fi zu er- tundigen, wie es denn eigentlich der Hannoverſchen Straßenbahn und der Firma Orenſtein & Koppel gehe und ob fi die Firmen, die Dresdener Bank- Altien gefauft oder in Report genommen haben, auch recht wohl Dabei befinden. Solche fritillofen Lobhudeleien fchien die Direktion der Dresdener Bank als einen Er: folg anzufehen. Offenbar war ihr das „Forum“ einer fo infzenirten General- verfammlung zum Beweis ihrer Tüchtigfeit recht willluommen; wie Herr But: mann ja auch jüngft das Ehrengericht der berliner Börfe für das „geeignete Forum“ hielt, um ſich gegen angeblich unwahre Beichuldigungen zu wehren.

Einen Erfolg Hatte allerdings die Dresdener Bank: der Geheime Finanz⸗ rath Sende, der am eriten Mat von Krupp fcheidet, und der frühere Minifterial- direftor Micke, jegt Direktor der Großen Berliner Straßenbahn, find in ihren Aufjichtrath getreten. Ich Habe der Dresdener Bank nicht zugetraut, da fie in ‚dieſer Zeit Solche Helfer zu werben vermöge. Der Eintritt Jenckes fol baupt- ſächlich eine Folge der intimen perjönlichen Freundfchaft mit dem Geheimen Cber- finanzratd Müller, dem Direktor der Dresdener Bank, fein.

Zur jelben Zeit wählte die Deutfche Bank in ihren Auffichtrath zwei dresdener Herren: den mit Recht viel angegriffenen Reviſor der Dresdener Kre⸗ ditanftalt, Herrn Kommerzienrath Theodor Menz, und ben Direktor der Sächſiſchen Bank, Herrn Kommerzienrath Mackowsky. Das ift in feiner Art auch ein Erfolg und nicht gerade ein Beweis jehr freundlicher Gefinnung gegen die Dresdener Ban, die ja eigentlich den erjten Anſpruch darauf Haben follte, dresvener Bank⸗ und Induſtriekreiſe an fich zu feſſeln. Damit ſcheints aber einjtweilen, troß allen Be- mübungen, doch nichtS zu fein.

Wie weit die Generalverſammlungmache ſchon gedichen ift, dafür bot ein charakteriftiiches Beiipiel die Generalverfammlung der Deutjchen Genoffenfchaft- banf, wo die Aufgabe, das Lob der Direktion zu fingen, Herrn Kommerzienrath Hubert Claus zugefallen war. Herr Claus iſt Direktor des Eiſenhüttenwerks Ihale, einer Gründung der Genoſſenſchaftbank. Welchen Zweck hatte hier die Made? Der Direktion der fih mühlam ernährenden Genoſſenſchaftbank will und kann Niemand etwas Ernſtliches vorwerfen. Aber Direktionen, die noch ohne Strohmänner auskommen, jcheinen ſich jeßt Schon nicht mehr für voll- werthig zu halten. Sie handeln ungefähr fo wie kleine Knaben, bie glauben, um erwachſen zu jcheinen, müßten fie Gigaretten rauhen. Die Direktionen be Eleinen, foliden Banfen follten jich aber diefe Mätzchen jchnell wieder abgewöhne Anjtändige Frauen brauchen nicht den Chrgeiz zu begen, ihrer auffallendt Kleidung wegen auf der Straße für Cocotten gehalten zu werden.

Blutus. LG |

Schweningers Jahresbericht. 37

Schweningers Jahresbericht.

Offener Brief an Herrn Profeffor Dr. 3. Schwalbe, Redakteur der Deutſchen Mebizinifchen Wochenſchrift.

3— beſprachen in der Nummer 12 der Deutſchen Mediziniſchen Wochenſchrift vom zwanzigften März 1902 den vom Geheimrath Schweninger verdffent- lichten Jahresbericht des Kreisfranfenhaufes zu Groß⸗Lichterfelde. Wenn heute: num ich als Erfter von Schweninger® Schülern es unternehme, auf Öffentliche Herausforderungen Öffentlich zu erwidern, fo tft es wahrlich weber Ihr Titel nod die Stellung Ihres Blattes, die mich bazu reizen. Es gilt vielmehr, einen allgemein beliebten Modus der Parteikritik zu beleuchten, ber darin befteht, kühnlich Behauptungen aufzuftellen, zu denen der Muth aus belannten Verhältniſſen fließt. Ein Feitifirender Redakteur weiß mit einer gewiſſen prozentualen Sicher- heit, daB feine Lejer in den jeltenjten Fällen aus der buchhändlerifchen Fuß⸗ note unter dem kritiſchen Aufſatz Konfequenzen ziehen, um den Gegenjtand der Beipredung aus eigener Lecture Fennen zu lernen., Zum größeren Theil be- ſcheidet der Leſer ich mit dem Arbitrtum feines Leibredakteurs. Selbſt jene Minder⸗ heit, die es wirklich noch für nöthig ober intereſſant hält, das Beſprochene im Original kennen zu lernen, lieft dann meift mit ben Augen des Kritikers. So ift einer beſchrünkten Anzahl von Köpfen ich fage nit: einer Anzahl von beichränften Köpfen carte blanche ertheilt zum Anfertigen von Urtheils« modellen, die bejtimmt find, öffentlich aufgeftellt und zum Privatgebraud) des Einzelnen Topirt zu werden. Nun follte man meinen, dies Vertrauensvotum veranlafje die damit Geehrten, bei Ausübung ihres Amtes bejonders vorjichtig und gewiljenbaft zu verfahren. Leider ift3 nicht immer jo. Gerade diefe Frei— beit von faft jeder Kontrole hat ein Gefühl der Selbftherrlichfeit erzeugt. Wie es fcheint, auch bei Ihnen, Herr Profeflor.

Sie fagen zwar, Sie wüßten fich völlig frei von irgend welchen perjön- lien Motiven, ſowohl von ber Animofität, die viele Aerzte gegenüber Herrn Schweninger befigen jollen, als auch von „dem pridelnden Reiz, eine Perſön⸗ lichleit, die berechtigter oder unberechtigter MWeife im öffentlichen Yeben eine Rolle jpielt, unter die Zupe zu nehmen und fie in ihre morphologischen Beftandtheile aufzulöſen“. Die Höflichkeit gebietet, dieſe emphatiſche Verſicherung Ihnen aufs Wort zu glauben. Die Folgerungen, die ſich aus Ihrer Kritik ergeben, dürfen aljo nur gezogen werden im Hinblid auf Ihre Fähigkeiten und Ihre Eignung, @elejenes zu verftehen und zu beurtheilen. Ich erlaube mir, aus einigen nıir be= merkenswerth jcheinenden Aeußerungen Ihres Auffaßes dieje Folgerungen zu ziehen.

Sie ſprechen mit ftaunenswerther Sicherheit von Dingen, über die Sie ) ber Natur der Sadjlage nichts willen können. Sie meinen, Schweningers ogramm „wurde durch bie Berufung eines jelbftändig urtheilenden und danach h handelnden Chirurgen erfchüttert.” Was willen Sie, Herr Profeſſor, von Modalitäten, unter denen der Chirurg angeftelt Sie jagen: „berufen“ de? Was willen Sie von diejes Chirurgen felbjtändiger Urtheilstraft und idlungfähigkeit und was von Eridütterungen, die dus Konflikten diefer Selb» digkeit mit Schweningers „Programm“ fich ergeben hätten? Was willen ferner. von Echweningers Haltung im Prozeß gegen die Kurpfuſcherin Minna

38 Die Zukunft.

Kube? Nichts! Aus etlichen Berichterftatterzeilen mögen Sie fi zur Noth ein Bild von dem äußeren Gange ber mit Ausſchluß der Deffentlichfeit geführten Verhandlung machen. Ein Intereſſentenblättchen hat aus der Feder eines Arztes, der fih für objektiv genug hält, in einer Klageſache Partei, Zeuge und Gut- achter zugleich fein zu Lönmen, ein Referat gebracht, von deſſen Objektivität und Genauigkeit die wenigen Augen- und Chrenzeugen nicht ſonderlich viel Rühm- liches zu jagen haben. Dazu wieber ein Bischen Kollegen- und Stanbesvereins- klatſch. Das ift Alles. Wenn Ihnen ſo dürftige Anhaltspunkte genügende Grundlagen zu einer Öffentlichen Kritik bieten, jo dürfen Sie c8 beffer Unter⸗ richteten nicht verargen, wenn fie Ihnen Leichtfertigleit nachſagen.

Da aber, wo Sie „des Berichtes zweiten und Haupttheil* jehr rubjmentär und mit |pärlichem Erfaffen citiren, giebt e3 der Entgleijungen noch mehr.

Ad I: Die Statiftit. Ich Habe nichts dagegen einzuwenden, wenn Sie erflären, daß alle verjtändigen Leute übereinjtimmend mit Schweningers cin- leitenden Sägen „je und je” Statiftif getrieben haben. Gegen dte verjtändigen Leute hat Schweninger nie Etwas gejagt. Die, denen feine Zurückweiſung gilt, find jene unverftändigen Leute, Herr Profeflor, bie fi) über das Entftehen und über die Verfchiehungmöglichkeiten von SKranfenhausftatiftilen im Unklaren zu befinden fcheinen und Schweninger implicite des Mordes an unſchuldigen Find- lein bezichtigen. Sie nennen eine „jogenannte Binjenwahrheit”, was Schwe⸗ ninger von der Werthlojigkeit einer ‚‚tendenzidfen, unvorfichtigen, einfeitigen. oder optimiftifchen Statijtit ausführt‘. Nun ift zwar in dem ganzen Bericht nirgends der Anſpruch darauf erhoben, daß Schweninger ſich für den Erfinder ober Entdeder biejer Wahrheit halte. Sie meinen aber, wenn bie zwiſchen den von Ihnen etwas abrupt angeführten Anfangs- und Schlußzeilen liegenden Bemerkungen zutreffend wären, fo wäre der „Statiſtik als Wiſſenſchaft und zu— mal der Medizinalitatiftit überhaupt der Boden völlig entzogen‘. Ste hätten zu beweijen gehabt, daß Schweninger3 Bemerkungen unzutreffend jeien. Das aber baben Sie nicht nöthig, da für Sie „eine Statiftif die Wiſſenſchaft von dei großen Zahlen‘ bedeutet. Ueber dieſe Spezialauffaflung ijt nichts zu jagen.

Ad U: Bemerkungen über Diphtherie und deren Differentialdiagnoje. Unter welchen Gefihtspunften Sie diefen Abjag ‚wiederholt‘ durchgeleſen und für die Möglichkeit Ihres Verſtändniſſes fich zurechtgelegt haben, iſt mir völlig unklar. Nach einem Eleinen, ungemein geiltvollen Seitenhieb auf Schweningers Gelbfteinfhägung als Diagnoftiler extrahiren Sie aus fünf bedrudten Quart⸗ feiten drei Sätzchen, die Ihnen Anhaltspunkte für irgend einen Gedantengang abgeben, deſſen Sclußfolgerung darin zu beftehen fcheint, daß Schweninger be=. ftimmte oder, wie Sie jagen „abjolut fihere Merkmale“ für die Erkennung der Diphtherie zu beißen glaubt, diefe feine Stenntniß aber der Welt voren halte. Wie müſſen Sie gelejen haben, Herr Brofejjor? Auf Seite 13 di Berichtes ſteht klar und deutlih, daß Schweninger von je her nur den breton neauſchen Elinifchen Diphtberiebegriff für annehmbar hielt, zu dem heute bereit eine ‘Zahl jehr bemerfenswerther Männer wieder zurückkehrt, Allen voran Bel ring felbit. Das fteht da. Und Sie brauchten höchſtens in einem Lexikon be Abſchnitt Über Bretonneaus Auffafjungen nadjzulefen, wenn Sie nicht vorzoger Schweningers eigene, im Bericht erwähnte Arbeit zu jtudiren. Dann wäre

Schweningers Jahresbericht. 39

Ihnen aber auch nicht gleich darauf das Unglück paſſirt ich ſetze immer Ihre vollſte bona fides voraus —, zu jagen: „Für Schweninger gilt im All⸗ gemeinen eine Radıenaffeftion als Diphtherie, wenn ihr Befiger ftirbt”. Hätten Sie nämlich aufmerkſam und ridtig gelefen, jo hätten Sie auf eben jener Seite 13 den Sat gefunden: „Es gab eine Beit, wo die pathologiichen Ana- tomen fi gern der Anficht zimeigten, nur jene Fälle als einwandfreie Diph⸗ therie gelten zu lajfen, die mit dem Tode des Individuums enden‘; und weiter: „Wenn wir au nicht diefe Erfennungzeichen als die alleinigen gelten lafjen mollen” u. ſ. w. In der Mitte diejes zweiten Satzes beginnen Sie, wörtlich zu citiren. Schade, daß Sie nicht etwas früher anfingen.

Ad ll: Einiges über Krebskranke und deren (operative) Behandlung. Sie citiren wieder in einer zur Aufklärung fo wenig geeigneten Weife, daß Denen, die fi belehren wollen, nicht Anderes übrig bleiben wird, als den Bericht ſelbſt zu leſen. Soll ich noch ausdrüdlich verfichern, daB Schweninger, ber Feind aller Statijtilen”, nicht ‚‚die abjolute Zahl der Krebsfälle‘ mit der „res lativen Krebsmortalität”’ verwechſelt, da er einfach auf die in letzter Zeit ganz allgemein gewonnene Erfenntniß von der anfteigenden Zahl der Krebserkran⸗ fungen und auf die zahlenmäßige, nicht ftatiltiich berechnete Zunahme der an Krebs Geftorbenen hinweiſt? (S. 20). Sch führe feine Literaturbelege an, da ih mir ja nicht herausnchme, Sie, Herr Profefjor, belehren zu wollen; ich will Sie nur da auf den ridtigen Weg leiten, wo Sie in handgreiflichem Wider⸗ ſpruch mit den Thatſachen ſtehen.

Sie ſagen: „Wenn man alſo unſerem großen Zweifler einen Mann vor⸗ führt, dem vor fünf Jahren ein Magenkarzinom durch Pylorusreſektion entfernt iſt und der ſich heute vollkommen geſund fühlt, deſſen Karzinom von Leyden kliniſch diagnoſtizirt, von Bergmann operirt und von Virchow anatomiſch unter⸗ ſucht iſt, ſo wird Schweninger bedauernd die Achſeln zucken und ſagen: Weder die anatomiſche noch die hiſtologiſche Unterſuchung genügt mir für die Krebs— diagnofe;*) und da der Kranke bisher fein lokales oder allgemeines Rezidiv zeigt, auch einftweilen noch nicht gejtorben ift, jo kann er von mir nicht mit Sicherheit als Krebfiger angejehen werden.” Sie find höflichſt eingeladen, Herr Profeflor, gütigft den bewußten Mann Schweninger vorzuführen und Die aus dem exzidirten Tumor von Virchow angefertigten Präparate vorzulegen. Schweninger wird ſich jehr freuen, wieder einmal eine jener interejlanten Raris täten, von denen bie und da berichtet wird, gejehen zu haben. Er wird nicht anftehen, Ihnen zu erflären, daß er, wie gewiß auch die Herren von Leyden und von Bergmann, vor einem Dilemma geftanden hätte, falls er vor fünf Jahren zu dem Kranken gerufen ‚worden wäre. „Denn“ würde er ihnen jagen „zu den Pylorusreſektionen bei Magenfarzinom habe id) wegen der ungeheuren Sterblichkeit in ?yolge der bloßen operation und megen der ber- ſchwindend kleinen Zahl der günjtigen Erfolge nicht viel Vertrauen. Es mag ja jein, daß bei dem Manne damals die allgemein Eonftitutionellen und lofalen

*) Das fagt er. gar nicht, denn wenige Zeilen vorher citiren Sie jelbft; Weder die anatomijchen noch die hijtologiichen Momente „können im Stande fein, uns eine Krebsdiagnoſe unter allen Umſtänden einwandfrei zu erinöglichen”.

40 Die Zukunft.

Berbältniffe am Tumor jo lagen, daß ich ſchließlich doch zur Vornahme einer Operation durch Herrn von Bergmann geraten hätte; denn es ift ein Irrthum, Herr Kollege, wenn bie Leute fagen, ich ließe prinzipiell feinen Krebfigen operiren. Lejen Sie, bitte, darüber in meinem Bericht auf Seite 19 nad. Uber, wie gejagt, es tjt eine verdammt ſchwere Entſchließung!“

Und nun zu IV: Die fogenannten fpezifiihen Mittel. Sie jagen ba in einer Anmerkung zu einem Citat über Schweningerd Stellungnahme gegen bie forcirte Temperaturherabfegung beim Fieber, „er ftreite bier, wie an vielen Stellen, wider Meinungen der Schulmedizin, die diefe ſelbſt bereitS aus eigener Kraft vor Jahr und Tag überwunden hat." Dazu ijt der Schulmedizin nur zu gratuliren. Auf den Standpunkte aber, zu dem bier die Schulmedizin fich aus eigener Kraft vor Jahr und Tag durchgerungen hat, jtand Schweninger Thon vor etiwa zwanzig Jahren und von dieſem Standpunkt ift er nicht abge» wichen, troß allen Untipyreticis und allen Schwankungen in der Auffaffung vom Weſen des Fiebers. Sobald er aber vor Jahr und Tag, als die Schul» medizin noch nichts in dieler Frage überwunden hatte, irgendwo feiner dis— jentirenden Meinung Augdrud dab, wie, meinen Sie wohl, Herr Profeffor, find die Schwalbes von dazumal mit ihm umgeſprungen? Ich will es Ihnen verrathen: genau jo wie Sie in den Tragen, bei denen ſich die Schulmedizin erit nad) Jahr und Tag zu Schweningerd Standpunkt durchringen wird.

Sie jagen, nah Schweninger „könne übrigens Ehinin ſchon aus logifchen Gründen nicht jpezififch wirken.“ Auf Seite 26 des Berichtes fteht zu lefen, daß nah Zuſammenfaſſen des eben Geſagten Alles uns beftimmen muß, „aud) für das Chinin die Srage nad der ihm zugeichriebenen ſpezifiſchen Wirkung mit Nein zu beantworten. Ucbrigens veranlagt uns dazn auch ſchon der Ein- Ipruch der Logik.“ Der Einjpruch der Logik veranlaßt uns, „Nein zu ſagen“, beeinflußt aber die Wirkung des Chinins natürlih nicht im Geringften. Wie fonnten Sie da noch eigens hinfchreiben: „So wörtlid zu lefen in dem ärzt- lihen Berichte Schweningers?“ Sie haben ja, abgejehen von dem verzeihlichen Mißverſtändniß, einen ganzen wichtigen Sab, der den Einſpruch der’ vogik er⸗ läutert, aus ihrem Citat weggelaſſen.

Und jetzt das ſchreckliche Queckſilber! Sie werfen Schweninger mit den Antimerkurialiſten zuſammen und laſſen ihn ex facultate in Gemeinſchaft mit dem befaunten Dr. Hermann abthuı. Auf Seite 32 des Berichtes fteht im dritten Abſatz von oben: ‚Wir find feine Antimerkurialiften im landläufigen

Sinne des unglüdjeligen Wortes‘; und weiter: „Dem QDuedjilber, was bes

Queckſilbers iſt“; und weiter, immer auf der felben Seite: ‚Wir erkennen bes Duediilber3 ausgeſprochene wenn and) unverftandene Wirkung als inten- jiven Reſorbens für alle entziindlichen, von ihm erreichbaren Gewebsveränderun— gen an”; umb weiter: „Derart belehrt, ſteht es unſerem Ermeſſen frei, in ung dringend oder ſonſtwie geeignet erjcheinenden Fällen bis au einer ung richtig bünfenden Grenze an das Queckſilber zu refurriren. Können Cie noch mehr verlangen, Bert Profeffor? Daß Schweninger glaubt, mit jeiner Meinung iiber die Gefahren und die Ueberfhäßung der Queckſilberwirkung nicht hinter dem Berge halten zu dürfen, dieſes Recht geſtehen Sie ihm gütigſt ſelbſt zu, wenn ſie im weiteren Verlaufe Ihres Aufſatzes ſagen: „Wir“ Das ſind doch

Schweningers Jahresbericht. 41

Sie „ſind gewiß die Letzten, die die Freiheit, ja, die Vorurtheilloſigkeit der Wiſſenſchaft antaſten möchten.“ Dann aber glauben Sie, Schweningers perſön⸗ liche Anſchauung einfach von der Tafel alles Lebenden wegzuwiſchen, wenn Sie ihm duch Rudolf Virchow ſelbſt antworten laſſen. Erſtens brauchte Schwe— ninger die Worte Virchows gar nicht auf ſich zu beziehen, denn ſie galten, als ſie vor ſechsunddreißig Jahren geſprochen wurden, den Antimerkurialiſten, zu denen Schweninger nicht gehört. Zweitens aber glaube ich, es thut der ſchuldi— gen Ehrfurcht vor dem Namen Virchow keinen Abbruch, wenn man in aller angemeſſenen Ehrerbietung die Frage aufwirft, wie viele Hundert Syphilitiker Virchow mit und wie viele ohne Queckſilber behandelt habe, um ſich ein ab- ſchließendes Urtheil in der Lues-HG-?yrage erlauben zu fönnen. Ind Das war im Jahr 1859! Rudolf Virchow war damals achtunddreißig „Jahre alt und Hatte fich ärztlich wohl nicht allzu viel praftifch bethätigt. Schweninger jteht heute feit bald dreißig Jahren in einer Praxis, deren großen Umfang wohl ſelbſt Sie nicht bejtreiten werden.

Wie wenig Geift nöthig ift, um über ernfthafte Dinge ſich Luftig zu machen, beweifen Sie, Herr Brofeffor, in reichlichſten Maße. Ich entzog mid) daher der allzu leichten Aufgabe, Sie zu ironifiren, und babe das Schwerere verſucht: Sie ernit zu nehmen. Das war wirkflih manchmal ungemein jchwer. Ihrer Meinung nad dürfte die Unterrichtsverwaltung nicht dulden, daß in der akademiſchen Jugend „Vorſtelluugen und Meinungen gezüchtet werden, die bie willenichaftliche Ausbildung und das daraus entipringende praftifche Handeln der Schüler verwirren und ſchwer beeinträchtigen können.” Unter den berliner jungen Medizinern jollte doch ein forfcher Kerl zu finden jein, der die Kommi— litonen zu einer VBerfammlung einruft, um gegen die Auffafjung zu proteftiren, bie Sie von den geijtigen Gaben der Studentenschaft anden Tag legen. In fünfund: zwanzig Hörfälen wird tagaus, tagein den jungen Leuten die jelbe „Wahrheit“ gepredigt. Und nun erfahren ein paar diejer jungen Leute zivei» oder dreimal wöchentlich in einem fehsundzwanzigiten Hörjaal, daß es neben der „fakulta— tiven“ vielleicht auch noch eine andere Wahrheit geben könne. Denn da wird von Schwenniger nicht gelehrt: „Das ift jo!” „Das muß jo gemacht werden!“ Nein: da heißt es immer: „Das kann aud jo fein” und „Das kann auch jo gemacht werden! Aber, meine Herren, denfen Sie reiflid nad) und werden Sie aus eigener Ueberlegung ſich ſchlüſſig, ob ich Ihnen da nicht vielleicht eine autoritative Meinung aufdrängen will!" Sind die Studenten denn Bapageien, denen man den objeften Lehrſtoff jo lange vorleiert, biß fie ihn am Examens- tage tadellos herplappern können? Bon ſolchen Studenten hätte wohl weder die Wiſſenſchaft noch die Praxis Etivas zu hoffen.

Daß für Sie, Herr Profeſſor, Berichte von Patienten die miljen- "Haftlichen Iteferate einer Himmermannsfrau, eines Särtners, eines Taglöhners, ines Tiſchlers ergänzende Beweiſe bilden für „ihre aus der Lecture des Zerichtes gewonnene Erkenntniß Deſſen, „was im lichterfelder Krankenhaus in ex Strankenbehandlung geleitet wird“, wundert mid nicht mehr. Am Ende ber wäre es duch beſſer geweſen, fi auf dieje Patientenausfünfte nicht zu ver- ajfen, jondern nach Yichterfelde zu fahren und ſich dort aus eigener Anjchauung on den ſchrecklichen Zuftänden zu überzeugen. Dr. Emil Stleim.

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42 Die Zukunft.

Selbftanzeigen.

Laotoon. Kunfttheoretifche Efjays. Hermann Seemann Nahfolger, Leipzig.

Meine Schrift zerfällt in drei Theile: Laokoon oder Gedanken zu einer Lehre vom Kunſtſchaffen; Laokoon und die klaſſiſche Kunft; Laokoon und die

moderne Kunſt. Während die formale Aeſthetik die Kunftgefeße begrifflich zu

entwideln juchte, wird hier von den Gejeßen der Anſchauung ausgegangen. Den da die Kunſt angelchaut wird, muß fie den Gefeßen unjerer Anſchauung unter: worfen fein und die Grenzen unferer Anfhauung mäffen zugleich auch Kunft: grenzen fein. Deshalb werden die Anſchauungformen und die Gejeße der An- Ihauung entwidelt und von bier aus die Gejege für die fünftleriiche Darftellung gefunden. Unfere Anfhauung vollzieht fi) vermöge der Sinne. Für die künſt— leriſche Darftellung fommen in Betracht der Geftchtsfinn und der Gehörsfinn. Man kann alſo unterjcheiden zwiſchen den Künften des Gefichtsfinnes (bildende Kunſt) und denen bes Gchörsfinnes (Dichtkunſt und Mufil). Die Grenzen des Gefichts- finnes gelten für die Grenzen der bildenden Künſte, die Grenzen des Gehörs-

finnes für die der Dichtkunſt und Mufil. In den Zeiten de3 Berfalles der Kunft

wurden dieje Örenzen übergangen und Das, was in das Gebiet der einen Runft gehört, wurde in das ber anderen bezogen. Ferner wird gemäß unferen An: ſchauungformen unterfchieden zwiſchen Naumfünften und Zeitlünjten. Die Raum: fünfte haben e8 mit Ruhe und Zuftand zu thun, die Zeitfünfte mit Bewegung und Veränderung. Das geeignetefte Beiſpiel zur Crläuterung diefer Geſetze bildet die Gruppe des Laokoon. Es Handelt fi) um die Frage, warım Laofoon, wie er in dem berühmten Kunſtwerk dargeftellt ift, nicht ſchreit. Zunächſt fei kurz hingewieſen auf den Stand der Frage. Norausjegung für die Interfuchung des Grundes, warum Xaofoon nicht fchreit, ijt der Umftand, daß ein Menſch, der einen heftigen phyfiichen Schmerz erleidet, zu fchreien pflegt. Laokoon wird von der Schlange in die Seite gebijlen; trogdem aber fchreit er nicht. Windel- mann gab als Grund dafür an: das Schreien fei ein Ausbrud maßlofen Leidens, maßlofes Leiden aber vertrage fi nicht mit der edlen Einfalt und ftillen Größe, aljo mit dem Charakter ber griechiſchen Kunſtwerke. Windelmann feßt das Schreien als Maplofigkeit dem maßvollen griehiihen Wefen gegenüber. Nun ift offenbar, daß, obgleid das griechische Wejen zum guten Theil in der Mäßigung liegt und die griechiſchen Kunſtwerke im Allgemeinen bie Mäßigung zum Aue» drud bringen, dieje Mäßigung das Schreien als einen vorübergehenden Zuftand nicht ausfchließt und daß in ber That andere Kunftwerfe des maßvollen griechiſchen Geiſtes das Schreien dargeftellt Haben. So fchreit Philoktet im ſophokleiſchen Drama. Das aber ift ein poetijches, der Laokoon ein plaſtiſches Kunftwerf. Bielleiht wird alfo der Grund, warum Laofoon nicht, Philoktet aber ſchreit. darin liegen, daß fih das Schreien, der Ausdrud maßlojen Leidens, nicht mi: dem Charakter der plaftifchen Kunftwerfe, wohl aber mit dem der poetijche

Stunftwerfe verträgt. Leljing jagt: Das Schreien ift formlos; das Plaſtiſch

aber ſoll formenjchön fein; deshalb ſchließt das Plaftiihe das Schreien aus

Diejer Grund trifft aber den Nagel noch nidht auf den Kopf. Denn auch das

poetiſche Kunſtwerk joll formſchön fein und doch findet man in Dramen un Epen das Schreien. Meine Gintheilung der Künfte bringt uns dem Grunde

GSelbftanzeigen. 43

näher. Die Plaſtik gehört zu den Künften des Gefichtsfinnes, bie Poeſie zu denen des Gehörsſinnes. Das Schreien fann nur Gegenjtand des Gehörsfinnes, niemals aber bes Geſichtsſinnes fein. Alſo kann das Schreien von einer Kunſt des Gefichtsfinnes nicht zur Darjtellung gebracht werden. Der Schrei wird ge- hört, nicht gejehen, ein plaftifches Kunſtwerk wird gefehen, nicht gehört. Laokoon hätte den Mund noch jo weit aufreißen mögen: man hätte ihn niemals fchreien gehört; dem das Weſen des Schreies liegt im Laut, nicht im Mundaufſperren. Der Laofoon hat den Zweck, angeſchaut zu werden; den Schrei aber kann man nit anihauen; man kann wohl einen offenen Mund anfchauen; ein offener Mund aber ift fein Schrei, wohl aber etwas Häßliches. Achnliches fagt Schopen- bauer im dritten Bande feiner „Welt als Wille und Torftellung”: „Dean fonnte nit aus Marmor einen ſchreienden Laokoon bervorbringen, ſondern nur einen den Mund aufreißenden und zu ſchreien fi} fruchtlos bemühenden, einen Laokoon, dem die Stimme im Halje jteden geblieben: vox faucibus haesit. Das Wejen _ und folglid aud die Wirkung des Schreiens auf den Zufchauer liegt ganz allein im Laut, nicht im Mundanffperren.” Man kann im Allgemeinen fagen: Mas in das Gebiet des Geſichtsſinnes gehört, darf nicht Gegenftand der Kunft des Gehdrsfinnes, und mas in das Gebiet des Gehörsfinnes gehört, darf nicht Gegen- ftand der Kunſt des Gefihtsfinnes werden. Der Laokoon des Birgil, der ben Zwed Hat, gehört zu werden, fchreit, der plaftifch dargeftellte Laokoon nicht. Freilich hatte nun der Stünftler der Laofoongruppe nod die Aufgabe, den Zu⸗ ſchauer begreiflich zu machen, warum der Laokoon felbit, aljo der von der Schlange gebifjene Priefter, den der Stünftler darjtellte, nicht fchreit. Denn der Laokoon jelbit in Perfon, als ihn die Schlange biß, wird doch nicht deshalb nicht ge- Ihrien haben, weil fi) das Schreien nicht mit der bildenden Kunſt verträgt. Nehmen wir an, die Laokoongruppe jtellte dar, wie die Schlange eben den Kopf erhebt, um zu beißen. In diejem all wäre das Natürliche geweſen, daß der

dargeitellt hätte, wie die Schlange eben beißen will, das Schreien des Prieſters aber nicht dargejtellt hätte, jo wäre er unwahr gewejen. Der Künſtler mußte vielmehr aus der Reihe von Momenten, während deren Laofoon mit feinen Söhnen von den Schlangen erwürgt wurde, den wählen, während dejlen Laokoon in Wirklichkeit nicht Schrie oder zu ſchreien feine Urſache hatte oder nicht zu freien vermochte. Nun gab es in der That einen Augenblid, wo Laokoon ſelbſt nicht zu ſchreien vermochte: nämlich den, wo die Schlange ihn in bie Seite biß. Eine nothwendige und unausbleibliche Folge de3 Bilfes ijt, daß der Unter: leib fich einzieht. Sobald aber der Unterleib fich einzieht, iſt es unmöglich, zu Ichreien, denn beim Schreien wird der Unterleib herausgetrieben. In dem Augen» blick des Biſſes aljo wurde der Echrei erjtidt. Diefen Augenblid mußte aljo der Künjtler wählen, wenn es feine Aufgabe war, den nicht jchreienden Laokoon darzuftellen. Und diefen Augenblid hat er auch gewählt... Der zweite Theil der Schrift Heibt: „Laokoon und die Kunjt der NRenaijjance”. Hier werden die im erjten Theil gefundenen kunſttheoretiſchen Geſetze an Beifpielen weiter- erläutert. Das Selbe gejhicht im dritten Theil „Laokoon und die moderne Kunſt“. Co: wohl die bildenden Künſte als die Dichtkunjt und Muſik werden zur Erörterung herangezogen und mein Bejtreben mar, nicht trodene logijch-äjthetiiche Dogmen

44 Die Zukunft.

aufzuftellen, jondern von der lebendigen Empfindung, die von ber finnliden Un- ſchauung angeregt wird, auszugehen und die Kunſt jelbjt als Empfindung aufzufafjen. Dr. Heinrich Pudor.

Philoſophie der Kunſt von Hippolhyte Taine. Erſter Band. Erſte deutſche Uebertragung von Ernſt Hardt. Eugen Diederichs, Leipzig.

Die Kunſtphiloſophie Taines bedeutet den tiefſten Vorſtoß und die größte Eroberung, die bisher die Wiſſenſchaft im Gebiete der Kunſt machen durfte. Sein großer, vornehmer Geiſt, der durch feine ſchöne Logik und reife Männlich- teit ſelbſt äfthetilch berüdend wirkt wie ein Kunſtwerk, hat es vermocht, dieſen wiſſenſchaftlichen Feldzug in einer gedanklichen Klarheit und ſprachlichen Schlicht⸗ heit zu führen, die jedem Gebildeten zugänglich ſind. Die Ueberſetzung iſt mit allem Fleiß und aller Gewiſſenhaftigkeit, die der Ueberſetzer in ſich aufzubringen vermochte, gearbeitet worden. Ihn leitete der Grundſatz, daß eine Ueberſetzung die Aufgabe habe, innerhalb der guten Möglichkeiten ihrer Sprache Inhalt und Form ſo buchſtäblich genau wiederzugeben und nachzuſchaffen, wie es nur denk— bar iſt. Für das Erſte kann er ſich verbürgen. Was das Zweite angeht, möchte er hervorheben, daß, trotzdem er ſich nicht ein einziges Mal geſtattet hat, den Fluß der Gedanken, der ja ſeinen Ausdruck im Fluß der Sprache findet, durch Satzverſchiebungen oder Satztrennungen umzuleiten oder zu unterbrechen, dennoch die Leichtigkeit und Flüſſigkeit der franzöſiſchen Sprache die Vorſtellung, daß es ſich um ein geſprochenes Buch handelt, beſſer aufrecht zu erhalten vermag, als es ihm in der deutſchen Sprache gelingen konnte.

Athen. Ernſt Hardt. Kleines Gottſched⸗Wörterbuch. Berlin 1902, Goltſched-Verlag, Linkſtraße 5. Preis 5 Mark.

Das von den deutfchen Wortforfhern mit Spannung erwartete Büchlein liegt jegt, al Arbeitausbeute eines Jahres, in handlicher Geftalt vor. Zu meiner Freude darf ich fagen, daß es vor einigen Hauptvertretern der Fachwiſſenſchaft die Probe gut beitanden hat. Selbſt der zweifellos bedeutendfte Germanift unferer Tage, Profefſor Dr. Friedrich Kluge, bezeugte mir, daß meine „mühjälige, aber erfolgreiche Arbeit Vieles zur Aufhellung der neuhochdeutſchen Wortchronologie leiftet“, daß ich das „bleibende Verdienft“ für mich in Anſpruch nehmen dürfe, „aus Gottſched eine ganze Fülle von Nachträgen zum grimmfchen Wörterbuche zu Gunſten einer genaueren Altersbejtimmung geliefert zu haben”. Neben feinem fachwiſſenſchaftlichen Werth ſcheint mir das Buch aber auch nod einen allge meinen Werth dadurd zu befigen, daß dur bie Unmaſſe von ſchönen Citaten, zumal aus den Gedichten Gottſcheds, nicht nur die geiftige ‘Berfönlichkeit des einzigen Mannes fcharf gekennzeichnet, ſondern auch ein tlares Bild von dem. Reichthum der Kraft und Schönheit feiner Sprache (in Poeſie und Proja) ge: boten wird. Uns diefem Grunde darf es wohl auch für ein genußreiches Leſe⸗ Buch gelten. Da die Eleine Auflage des Buches bis auf etwa hundert Abdrücke ſchon vergriffen ift, liefere ich daS Buch, dus feine zweite Auflage erleben ſoll, nur noch auf ımmtittelbare Beftellung. Engen Reidel.

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Notizbuch. 45

Notizbuch.

SE Lieber, der in den Beitungen ber Führer des Kentrun genannt wurde, ift geftorben. Ob er wirklich, nrit der Herrſchergewalt, die man ihm zujchrieb, der Führer war? Die Zeit der parlamentarijchen Einzeltyrannis jcheint einftweilen dahin. Richt nur, weil bie ſtarken Perjönlichkeiten fehlen. Auch die Herren Richter und Bebel können heute nicht mehr, wie früher, ihren yraftionen mit Diktatorenmacht ben Weg weiſen. Die wirthichaftlichen Intereſſen find fo ſtark geworden, haben in jeden fraftionellen Verband fo breite Köcher geriflen, daß die Führer, die einft fat unumfcränft herrſchten, jeßt die klügſte Kompromißkunſt aufwenden müflen, um wenigiteng den Schein der Einheit zu wahren. Für die Erfüllung folder Pflicht war der Dr. jur. utr. Lieber geeignet. Eine Dugenbintelligenz, bie jich jelbjt ungemein wichtig nahm. Ein langmweilender Redner, deffen feierlich gejalbter Ton im eigenen Lager oft die Lachluſt reizte. Bon Windthorft hatte er nicht das Strategentalent, aber bie unenblidde Trivialität geerbt, die Freude an allen Spazirgängen, bie iiber Ge- meinplage führen. Das ift nicht zu unterihäßen. Nur Männer von folcher geiftigen Dispofition fönnen Jahrzehnte lang den Hundetrab unferes Barlamentslebens mit« machen, ohne von Ekel aus dem Schattenreich leerer Wortfchälle getrieben zu werben. Lieber hat einunddreißig Jahre lang im Reichstag gefeflen und hätte fi} da noch viel länger ungemein wohl gefühlt. Warum nit? Sein Ehrgeiz war kleinſten Stils; er war zufrieden, wenn Minifter und Staatsſekretäre ihn mit ehrfürdhtigem Eifer grüßten, feinen Rath einholten und ihn die Möglichkeit gaben, vor verfammeltem Kriegsvolk den primus inter pares zu mimen. Im Qauf der Jahre hatte er, der als fleigiger Arbeiter galt, ſich eine taftifche Sejchieflichkeit angeeignet, die vor großen Aufgaben wahrjcheinlich verſagt hätte, immerhin aber ausreichte, um das Alltags» handwerk des Parlamentarismus zu beherrichen. Day „unter ſeiner Führung“ das Gentrum ber Regirung näher rückte und zu größerer Macht kam als je vorher, war nicht fein Verdienſt, fondern die Folge wirthichaftlicher Verſchiebungen und der be- fannten Ereignijje, mit denen die neowilhelminiſche Aera Europa überrafchte. Auch in diefer veränderten Welt wäre Herrn Lieber die VBerftändigung mit überragenden Staatsmännern ſchwer geworden ſchon Miguel haßte er mit der ganzen Inbrunſt eines engen Bhilijterherzeng —, doc) auf dieje Probe wurde fein Barteifinn in leßter Zeit ja nicht mehr geitellt. Sein Tod läßt keine Lücke. Graf Ballejtrem oder, wenns ein Bürgerlicher fein foll, Here Porſch wird die Gejchäfte der Parlaments diplomatie mindeſtens eben fo gut bejorgen wie der Mann der großen Tiraden. Und je Heiner die Schaar der jtreitbaren Protejtanten wird, die nod) laut gegen Nom proteftiren, defto lockerer wird auch das Band werden, das Agrarier, Induſtrie— ‚zubalijten und AAndujtrieproletarier in der Centrumsgemeinſchaft zujammenbält. * *

Die trefflichen Männer, die in der Zolltarifkommiſſion bes Reichstages ſchon ſo Rühmenswerthes geleiſtet haben, ſollen einen Theil des Sommers in Berlin ver— bringen, damit der Entwurf nicht gar zu ſpät ins Plenum kommt. Das wollen Bielevon ihnen nicht umſonſt thun und haben den Bundesrath deshalb aufgefordert, ihnen für die Zeit der Plenarferien Diäten zu gewähren. Zwar wäre e3 viel ver- ftändiger geweſen, den Tarif gleich im Plenum zu berathen. Zwar fünnen die in die Kommiljion Gewählten, jo oft jiewollen, ſich von Fraktiongenoſſen ablöjen laifen.

46 Die Zukunft.

Thut nichts: Tie fordern ihren Tagelohn und die Verbündeten Regirungen follen bereit fein, diefen Wunſch zu erfüllen. Hoffentlich machen die Gegner bes Tarifes durch dieſe Rechnung einen dicken Strid. Ueber Diäten läßt fich ftreiten. Richt ber winzigfte Grund aber fpricht dafür, prinzipiell dein Reichstag Diäten zu weigern und bie Kommiſſion, die Herr ihrer Entſchlüſſe ift, den Sommer lang durchzufüttern. Biel wird in der heißen Zeit doch nicht herausfommen. Und eine bezahlte Parla= nıentöbureaufratie hat uns gerade noch gefehlt. Bejonders nett an der Sade ift, daß der Antrag auf Diätenzahlung nicht etwa von Kleinbauern ober jozialdemofra- tiichen Arbeitern ausging, fondern von dem Rittergutsbefißer Gamp, der biöher als reicher Mann galt und in Berlin eine herrſchaftliche Wohnung hat. * *

*

ALS der Kaifer neulich in Bremen war, begrüßte ihn Herr Arthur Fitger im einem Gedicht, das den kaiſerlichen Feldzug gegen die moderne Kunſt ala eine Helden⸗ that feierte. Auf den Wink Wilhelms des Zweiten feien die Fratzen ins Dunkel ge- wichen. In allen Büchern der Geichichte fei zu leſen, „daß Kunſt im Streit mit Kron’ und Thron, nit Ring und Stab“ nicht gedeihen kann. Das Gedicht ift [pott- ſchlecht; und fiber die Behauptung, Kunft bebürfe höfiſcher Gunit, ift heutzutage fein Bort mehr zu verlieren. Herr Fitger hat al3 Maler und Dichter wenig Anerkennung gefunden, fein Drama „Bon Gottes Gnaden“, das miteinem dem Kaifer heiligen myſti⸗ ſchen Begriff ſehr unfanft umgeht, ift in Berlin ausgelacht worden und fein verjtändiger Menſch kann fich darüber wundern, daß der Bremer Stünftler die erften Keime neuer Kunſtkultur aus ärgerlidem Auge betrachtet. Ueber Fürſtengröße und Fürjten- macht hat er früher andersgeurtheiltals jett. Damals „imponirte ihm fein Thron”, waren ihm „die Gekrönten die Erften, die Natur in Feſſeln zu ſchlagen“, wetterte er gezen „das goldene Zoch“, in dem der Mäcen den Genius hält und ihm Flügel, Fuß und Herz bricht. Doc) darf ihm das Recht, feine Meinung zu ändern, nicht beftritten werden. Er darf auch den Dichter der „Deutſchen Mufe”, defjen trijter Epigone er doch iſt, ander Greiſenſchwelle einen „ſophiſtiſchen Schwätzer“ ſchelten und fi) freuen, wenn irgend ein Eberlein höher im höfiſchen Marktwerth ſteht als Klinger. Nur brauchte er an Devotion doch nicht mit Ceremonienmeiſtern zu wetteifern. OHerr, wirft dein Poeten Du verzeibn, wenn er fi) vordrängt aus des Volkes Reihn, fi) wagt an Deinen Thron und tief bewegt den Zoll des Dankes Dir zu Füßen legt“... Das ijt ein Bischen viel für einen Stadtrepublifaner. Nicht ganz fo viel freilid och wie die Nednerleiftung des. Freiherrn von ARheinbaben, der gejagt hat: „Die Kunſt iſt die Darftellung des Schönen. Es ift ein ermuthigender Gedanke, daß bie düſſeldorfer Kunſt jich genau in der Linie Deifen bewegt, was Seine Mäjeltät der Kaiſer von der Kunſt denkt und wünſcht. Wenn Düffeldorf eine ſolche ideale Kunſt pflegt, dann zeigt es ſich als treuen Diener feines Staifers." Schade. Herr von Rhein- baben ijt ein guter Syinanzıninifter und hat in feiner erſten Budgetrede bewieſen daß ihm die Kunit, dag Gerüjt eines Staatsetats aufzubauen, nicht nur „die Dar» ftelung des Schönen“ ift. Warum redet er über Dinge, die ihm offenbar ganz fremd jind? Der Staifer bedarf feiner Hilfe nicht; er hat die Dichrheit für fi. Und wer Kunſt anders fühlt, von der Kunſt Anderes hofft, Der wird fich jein Gefühl nicht durch den Einfpruch eines verärgerten Romantikers und eines braven Finanzminifters verwirren laſſen, Jondern die Nachprüfung bis zu dem Tage aufjchieben, vo eines Sad) veritändigen < Stimme dem Fehderuf des Deutſ chen Kaiſ⸗ ers weitere Wirkung ig verſchafft.

Herausgeber md verantwortlicher Redakteur: M. darden in "Berlin. Berlag der Zubunft in Berl Drud von Albert Damde in Berlin Schönebrrg.

AN kunft.

Berlin, den 12. April 1902: 7 —⸗— esjm

Der Zauberer von Rom.

ins der Neunte lag auf dem Paradebett. An der Pracht feiner Cere⸗

moniengewänder; die Mitra auf dem Haupt, das Kiffen aus Gold» tuch ftügten, mit rothen Handſchuhen und rothen Pantoffeln, die der Gläubi- gen Inbrunſt zu füffen drängte. Gefchäftig waltete der Kardinal Pecci bes Kämmereramtes. Nie hatte man den Achtundfechzigiährigen fo unruhvoll, den oft als mild Gerühmten fo ftreng gejehen. Nach Antonelfis, feines Feindes, Tod war er von Perugia nad) Rom berufen worden und hatte dort ftill für fich gelebt. Er wollte nicht auffallen. Schon war ihm geweisſagt worden, er werde Pius auf dem Stuhl Petri folgen. Er mar bereit, hatte die Zeit der Verbannung nicht ungenüßt gelaffen und bebte nun dod) im Innerſten, da die Entfcheidung nahte. Pius felbft, deffen ftarke Herrennatur ſich gegen jede Erfenntniß kränkender Wahrheit fträubte, hatte in feinen

"Testen Lebenstagen einfehen gelernt, wie viel, wie Ungeheures dem Papſt⸗

thum verloren und wie nöthig e8 war, der Kirchenmacht neue, feftere Fundamente zu ſchaffen. War foldhe Aufgabe nicht am Ende zu ſchwer für einen hinfälligen Greis, der einmal nur, als Nuntius in Brüffel, in ein Eckchen des Weltgetriebes geblict und fid ftetS mehr als Gelehrten denn als ſtreitbaren Kirchenfürften gefühlt Hatte? Und dennoch; : fonnte nicht ges rade in dem ſchwachen Leib des Carpineters der Herr das Wunder wirken, daß er dem robuften Siegerbemußtfein des neunten Pius verfagt hatte? Der Kämmerer harrte des Herrn. Ringsum wurde eifrig an dem Gefpinnft ges 4

48 Die Zukunft.

arbeitet, das ihn umgarnen, ihn von der Mehrheit im Heiligen Kollegium abiperren jollte. Er ſchien nichts zu merlen und erwiderte ftichelnde Anden: tungen mit dem Hinweis auf feinen nahen Tod. “Die Hand, die des toten Bapites Schläfe dreimal mit dem filbernen Hammer berührte, zitterte nicht und feſt Hang die Stimme, die fragte: Schläfjt Du, Johannes Maſtai? Dann aber erlahmte die Nervenkraft. Joachim Pecct wurde von einer Un— ruhe ergriffen, die nie vorher an ihm gejehen ward. Er ſchlief wenig, tauchte, wo man ihn nicht erwartete, plöglic) auf und hatte einen haftigen Befehls- haberton, der feinem Weſen früher ganz fremd geweſen war. So auf- fällig war die Veränderung, daß, als er vor dem Katafalk in der Sir: tinischen Kapelle nach der Totenmeſſe die Abfolution ertheilte, der Kar- dinal Oreglia dem Kardinal Guibert zutujchelte: „Der rührt die Werber- trommel!" .. Das war am fünfzehnten Februar 1878. Am nädhiten Tage wurde Pius eingefargt; Tannenholz, Blei, Ulmenholz umfingen mit dreifacher Hülle den ruhenden Leib, ſechs Siegel verfchlofjen den Sarg, der Fiſcherring, den der Lebende fo lange getragen hatte, wurde zerbrochen und jedes Stüd, als eine koſtbare Reliquie, einem Würdenträger anvertraut. Wieder verjammelten ſich, al8 die Rede Pro Pontifice eligendo vers Hungen war, die Kardinäle, wieder riefen fie zum Herrn und flehten, ihren Sinn zu erleuchten ; dann ftand jeder, deſſen Name genannt war, auf, fchritt zum Altar hin und legte feinen Stimmzettel in einen Kelch. Acceptasne electionem de te canonice factam in Summum Pontificem? Knieend richtete ein Dechant die traditionelle Frage an den Kardinal Pecci. Er hatte des Herrn geharrt: er folgte dem Ruf des Herrn. Als man ihn wegführte, foll er einer Ohnmacht nah gemefen fein. Doch ehe er ruhen durfte, mußte er den ganzen Pomp der Huldigungfeier hinnehmen. Die Diener Heideten ihn in weiße Gewänder. Diafone warfen vor ihm Kerzen nieder, daß fie er» loſchen, und riefen: Wie diefes Licht, jo vergehe der weltliche Ruhm! Auf Hände und Füße, auf den Saum feines Kleides prepten jich heiße Lippen. Bon der Höhe einer Xoggia herab breitete er die Arme aus und fegnete die Ewige Stadt, fegnete die katholiſche Chriftenheit. Und alsbald ward ver- fündet, der neue Papſt werde fich Yeo den Dreizehnten nennen, um ſich ı"“ einen Verehrer Leos des Zwölften zu zeigen, des ſtrengen Herrn, der wii Freimaurer und andere Ketergemwüthet, im Jubeljahr 1524 eine Bannbr erlajjen und die Jeſuiten zu neuer Macht geführt hatte.

Das gab eine Ueberrafchung. Der Kardinal- Kämmerer hatte | einen milden Dann gegolten und als ein liberaler Papſt, hieß es, würde

Der Zauberer von Rom. 49

das Weihezeichen des Triregnum tragen. Zwar hatte er in heftigen Briefen an Victor Emanuel gegen die Befekung des Kirchenftaates, gegen die Bes läftigung der Kongregationen und gegen die Civilehe proteftirt, Priefter, die pom Papft den Verzicht auf die weltliche Macht zu fordern gewagt hatten, mit der Suspenfion a divinis beftraft und Ratazzi hatte ihn einen bis zur Grauſamkeit unbeugfamen Geiſt genannt. Doch das Alles war unter der Herricaft des unerbittlichen Pius gefchehen, in der erjten Zeit leidenfchaft- lichen Widerſtandes gegen den Ufurpator, und andere Stimmen hatten ge- jagt, diefer Kardinal, der ein Gelehrter und ein Dichter fein wolle, werde, ſobald er ſelbſtändig handeln Dürfe, fich von der natürlichen Sanftmuth eines Wefens leitenlafjen. Und num, wie um jede fchüchternfte Hoffnung zu enttäu- jchen, beider Namenswahl ſchon die Erinnerunganben Mann, der die Gefäng⸗ niffe der Sinquifition wieder geöffnet hatte? Als Crux de cruce hatte Pius der Neunte auf der Kirche gelaftet und abertaufend umerfüllte Wünfche hatten auf Peccis -Wappeniprudy Lumen in coelo jehnend geblidt. Sollte der Strahl dieſes Lichtes die zarten Keime jungen Hoffens wegfengen?.... Die Meinungen blieben getheilt und das Charafterbilb des neuen Oberhirten war, von der Parteien Haß und Gunſt verwirrt, lange nicht klar zu er» fennen. Er wird uns mit Skorpionen peitjchen, fagten die Einen; die An- deren: Auf Petri Stuhl figt ein SXafobiner. In beiden Lagern fuchte man Zroft im Anblic feiner Gebrechlichkeit. Das war nicht Pius, deſſen Geftalt bis ins Greiſenalter ftraff geblieben war und deſſen fleifchiger Herrichertopf boninnerer Gluth geleuchtet hatte. Dieſes längliche, Inochige, bleiche Aſketen⸗ haupt mit den dünnen, biutlofen Lippen würde die Tiara gewiß nur kurze Zeit tragen; diefen dürren, faft diaphanen Leib würden fie bald auf das rothe Totentuch beiten. Raum hielt er fich aufrecht. Und ſchon am Tage der Huldigung, als er, jelbft weiß und Schlank wie eine Wachskerze, ſchwankend durch das Spalier der Kerzenträger jchritt, wurde in allen Winkeln des Ba- tifans geflüftert: Ein fterbender Bapft! Seine Heiligkeit wird nicht lange unter ung wandeln. Ueber ein Kleines erlifcht dieſes blafje Licht.

Non videbit annos Petri... Ein Bierteljahrhundert ift feitdem vergangen; und noch immer hält der nun Zmweiundneungzigjährige in ent- fletichten Händen den Hirtenftab. Noch immer fehwebt er, wie ein weißer ‚Schatten, an hohen Feiertagen über den ftaunenden Häuptern der Gläubigen dahin. Noch immer auch rührt er mit unverminderter Kraft für feine Sache die Werbertrommel. Eben erſt hat er in eindringlichen Worten der Ketzerheit .gerathen, in den wärmenden Schoß der fatholifchen Kirche heimzufehren. 4*%

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50 Die Zukuuft.

Denn nur da lafje fich gut fein. Daß Bernunftlinfinn wird und eine mate- rialiftifche Weltauffaffung das Glück der MenfchHeit nicht mehrt, fei längft doc) offenbar geworden. Was habe die Freiheit genügt, die Forſchung, all der Shöne Wahn, der feit den Tagen der Reformation durch die Hirne fpuft? Die Moral ift zerrüttet, die Grundmauern der Staaten wanfen: fo ftrafe, jo räche der Herr den Abfall vom wahren Glauben. Leo der Dreizehnte hat bie Encyllifa, in die er fo hart rügende Sätze ſchrieb, fein Zeftament ge- nannt. Und der Brei, der an der Schwelle der Emigfeit ſchwachen Menſchen ſolchen Scheidegruß fendet, hieß feit elf Kahren der moderne Papit.

Der Name gebührte ihm und wird ihnt, trog dem Tejtament, bleiben. ALS Antonelli geftorben und der Blick des Pontifer nicht mehr durch trügende Schleier gehemmt war, hatte Pius gefeufzt: „Mein Nachfolger wird von vorn anfangen und eine ganz andere Bolitif treiben müjjen als ih!” Das hatte auch Leo erfannt. Er fand das Papftthum der weltlichen Herrichaft beraubt und war zu Klug, um ſich der Hoffnung hinzugeben, diefen Berluft könne die Beit je wieder aus dem Buch der Gefchichte tilgen. Und diefeinen Nerven des Erben fühltennod) ſchlimmeren Verluft. Die hierarchiſche Zucht war ſtraffer als je; Pius hatte dafür geforgt, daß der Rieſenkoͤrper der Kirche dem leijeften Drud des Zügels gehorchte. Doch diefe Kirche war in der mo⸗ dernen Weltein $remdling geworden ; nicht den Kegern nur, nein: auch vielen Gläubigen. Ueberall mühte fie ſich in Fruchtlofer Willensanftrengung, Fal⸗ lendes zu fügen, war alles Werdenden Feind und nirgends neuen Wün- chen erreichbar. Eine ehrwürdige Ruin, die facht verwittert. Wohl galt nod) immer das ftolzge Wort: Stat crux, dum volvitur orbis. Stand aber das Pontifikat jo feſt wie das Heilandsfreuz, konnte e8 ohne in: nere Wefenswandlung allen fommenden Stürmen trogen? Neo hat ſich oft als Verehrer des Heiligen Thomas befannt und gewiß im Ardiv des Klofters auf Monte Caffino, wo das jcholaftiiche Genie des erwachjenden Neapolitaners gebildet ward, einmal die weifen Worte gelejen, die Cremo⸗ nini, Galileis Freund, fehrieb: Mundus nunquam est; nascitur sem- per et moritur. Niemals iſt eine Welt; in jedem Augenblid wird fie und ftirbt. Ein gutes Leitwort für Einen, der die Menſchenwelt ewig welfender, ewig erneuter Illuſionen beherrichen will. Nicht an Bergehendes darf er fid) Hammern. So aber hatte Pius gethan. Der war zufrieden geweſen, wenn fein higige8 Temperament fich in prachtvollen Unmwettern ausgetobt hatte, Bon keinem Kompromiß, keinem Pakt mit feindlichen Mächten mochte er hören. Sein Fluch, darangabes fürihnleinen Zweifel, drang in den Himmel

Der Zauberer von Rom. 51

und riefGottes Strafgericht auf der Sünder unreine Seelen herab. Wie Dielen hatteer geflucht, die ihr Haupt noch aufrecht trugen und ungebrochenen Muthes vorwärts jchritten! Voneineranderen Methode hoffteXeo Gewinn für die auf allen Seiten bedrängte Bapftfirche. Keine fleiſchliche Wallung fchien über den hageren Greis Macht zu haben; nie ſah man ihn zornig, nie kam aus feinem Munde ein ſchriller Ton. Er nahm das alte Programm der chrift- lichen Platoniter wieder auf und folgte den Spuren des Doctor Angelicus. Wie die Kirchenväter fid) bemüht hatten, die Philoſophie, die Kulturſchätze der Hellenen dem neuen Bedürfniß der jungen Chriftenheit anzupaſſen, wie Thomas von Aquino einen großen Theil feiner Kraft an die Aufgabe ge- fest hatte, den ariftoteliichen Geift in das Bewußtſein der Katholiken hin- überzuretten, fo wollte Leo nun Kirche und Welt, Glauben und Wiſſen ver» jöhnen. Allzu lange war die Kirche ein Hemmniß auf allen Wegen der Ci- viltfation geweſen; fie ſollte fünftig, gerade fie, der Kultur den rechten Pfad weiſen. Was halfen die Flüche gegen den neuen Geiſt? Man muß fid) mit ihm einrichten, ihm Luft und Licht gönnen und, während die Linke ihn ſtrei⸗ delt, mit der Rechten unter väterlichen Zuſpruch ihm die drohende Waffe entwinden. Die Menjchheit muß wieder erfennen lernen, daß auch die Wiſſenſchaft hriftlichen Urfprunges iſt und daß feine unüberbrüdbare Kluft den Forſcher vom Gläubigen trennt. Das war das Ziel des neuen Papftes, mußte das Biel eines Mannes fein, der den Mufen nicht minder eifrig als feinem Gott diente, Dante zärtlich liebte und die ciceronifchen Perioden feiner Hirtenbriefs fo fauber feilte, als lange er nad) dem Ruhm eines Literaten.

Der Kirchenftaat war verloren, ſeit am zwanzigjten September 1870 die italienischen Truppen durd) die Borta Pia in Nom eingedrungen waren und Victor Emanuel gejagt hatte: Ci siamo, ciresteremo. Noch war die Wunde zu frifch, die Gewalt der Tradition zu groß, als daß der Nachfolger des neunten Pius daran denken konnte, mit dem Minderer feiner Macht Frieden zu fchließen. Er blieb der im Vatikan Gefangene und proteftirte, wann die Pflicht es gebot, pünktlid) gegen den Raub. Doch in der Stille mag Yeo ſich oft gejagt haben, daß diefer Raub ein Glüd für die Kirche war. Jede weltliche Herrfchaft wet Haß; und ein leidender Bapft ift ſtärker als ein im Prunf eines Hofftaates thronender. Eine Kirche, die wirklich ecele- siarım omnium mater et caput fein will, braucht feine Hausmacht und wird durch allzu enge Verbindung mit einem beſtimmten Lande in ihrer Propaganda eher gehemmt als gefördert. In einer Beit, wo in den Kanzlcien aller Großmächte die Verträge fich zu Heinen Gebirgen häufen,

592 Die Zukunft.

hat Leo kein Bündniß gefucht; ihm ift zugutrauen, daß er jede Bundess genojjenfchaft abgelehnt hätte, felbft wenn ihm als Preis die Wiederher- ftellung bes Kirchenſtaates verſprochen worden wäre. Wer fi) Heute Einen: ganz hingiebt, hat morgen mindeftens einen Feind; und der Bapft will ſich bie Möglichkeit friedlicher Verftändigung mit allen modernen Dlächten be- wahren. Als am zwölften November 1890 der Kardinal Lavigerie in Al- gier da8 franzöfische Gefchwader in einem Trinkſpruch begrüßte, in dem ge⸗ fagt war, der Katholif könne fich mit jeder Staatsform abfinden, hielt man das auf der Zunge eines Kirchenfürften revolutionär klingende Wort fürdas Bufallsproduft einer Laune. Dan jollte bald erfahren, daß es jehr ernſt ges meint und mehr war als ein Belenntniß perfönlichen Glaubens. Leo hatte fich der Mahnung erinnert, die Toten ihre Toten begraben zu laffen. Sein Biel war nur zu erreichen, wenn die Katholifen unfrucdhtbarem Groll ent- fagten und aufhörten, fich als Gehilfen der Reaktion verhaßt zu machen. Schon vor zwanzig fahren ſchrieb er an die ſpaniſchen Bifchöfe, die Behaup- tung, die Religion fei an das Programm einer politischen Partei geknüpft, müjje als Irrlehre befämpft werden. Das dünkt Manchen banale Weis- heit; wer aber vergangener nicht einmal allzu lange vergangener Tage gedenkt, wird jich hüten, ſolches Urtheil zu fällen. Ueberall waren die Katholiken die Träger oder doch die Schuktruppen der Neaftion. Gegen das Schisma, die Neformation, die Revolution, den Kulturfampf ballten fie die Fauſt und konnten die Entwidelung doc) nicht aufhalten. Rußland war dem römischen Priefterfönig nicht zurüdzugewinnen; in Frankreich zog fein neuer Roy von des Papftes Gnaden ein ; und das politifche Werk Luthers und Bismards fpottete ohnmächtigen Zornes. Ein Zuftand, der die Katholiken zudumpfer Thatlofigfeit verdammte, durfte nicht dauern. Leo Tolftoi, der Hei⸗ land müder Artiften, konnte den Völfern predigen, hinterihnenliege das Heil, und ſie zur Umkehr ermahnen. Ein Papft,der wirken, Welt und Kirche verſöh⸗ nen will, darf nicht daS Dysangelium verkünden laffen, jeder vorwärts füh- rende Schritt fei ein Verbrechen, eine Sünde wider den Heiligen Geift. In den Köpfen, jelbft indenen oft, dieder Glaube noch nicht floh, wacht ein uraltes Mißtrauen ;immerregtfich, wenn von den Lebensrechten der Kirche gefprochen wird, an deren Mauer die drei Worte universitas, antiquitas, unitas locken und fehreden, die Furcht, die Tage der Gregor und Innozenz könnten wiederfehren und die Lähmende Macht der Theofratie, die Gräuel der Sn: quijition zurüdbringen. Diefe Gefpenfter hat der Entjchluß Leos des Drei: zehnten verjcheucht. Er hat die Katholiken zu politifcher Arbeit gerufen und

Der Zauberer von Mom. 53

von ihnen verlangt, fich in die Zeit zu ſchicken, fo ſchlimm fie ihnen auch Scheine. Er hat den Bund gebrochen, der die Schickſale von Thron und Altar an einander fetten follte. Er hat offen und feierlich Tyrieden mit ber Demo: kratie gejchloffen, die fo Lange von der Kirche befämpft worden war.

Der Erfolg hat für ihn entichieden. Als er an Rampolla, ber damals Nuntius in Madrid war, fchrieb, die Biſchöfe follten fich von der farlifti- ſchen Agitation fern halten, als er Monſignore Ezadi, den parifer Nuntius, mit der Miſſion betraute, zwifchen der Republik und der Kurie einen modus vivendi zu fchaffen, fchüttelte mancher Kardinal das Haupt und wijperte, das Jumen in coelo habe ſich als ein Irrlicht erwieſen. Jetzt ift längjt jeder Zweifel verftummt. In Aſien und Afrika find die Quadern des hierarchiſchen Gefüges fefter als je gefügt und in Europa ift die Macht des Papſtthums über alles Erwarten gewachſen; jogar mit Rußland bat der Huge Politiker auf Petri Stuhl ſich verftändigt. Im Karolinenftreit hat Bismard ihn zum Schiedsrichter erfürt und Wilhelm der Zweite hat feinen Rath erbeten, als der Verſuch gemacht wurde, den Arbeiterfchuß durch internationale Gejege zu regeln. So Großes, fo Ungeahntes wurde erreicht, troßdem der Papft offen erflärt hatte, die Kirche werde nicht unter allen Umftänden mehr den alten Dynaftien einen jtügenden Nüchalt bieren.

Den Frieden mit der Demokratie hatten Männer wie Diontalembert und Lacordaire längft empfohlen und mit lauterer Stimme als fie hatte La⸗ mennais geſprochen. Erjchufden Bund zur Bertheidigung derreligiöfen Frei⸗ heit und bemühte fidh, von dem ebbenden Strom der fatholifchen Inbrunſt zu den modernen Lebensmächten einen Weg zu finden. Die Kirche, jo wollte er, jollte im werdenden Bewußtſein des Jahrhunderts fefte Grundlagen fuchen und ihre Diener ſollten ſich ohne Vorbehalt auf den Boden der Charte ftellen; vor allen Dingen aber jollte die Kirche vom Staat, der Staat von der Kirche frei fein. Sn allen Zungen Fangen feine Paroles d’un croyant über die Erde hin und fündeten die Souverainetät der hriftlichen Völker. DerBann- ftrahl, den Gregor der Sechzehnte gegen den unbotmäßigen Priefter fchleu- berte, traf fein Biel nicht; die Encyflifa Mirari vos ift vergeſſen und Lamennais lebt in der Geichichte des Katholizismus als einer der ſtärk— ften Wirfer des neunzehnten Jahrhunderts. Bor ihm fchon hatte Saint- Simon den Papſt als Retter aus fozialer Noth angerufen. Im Nouveau Christianisme jtehen die Säge: „Das wahre Ehriftentyum muß auch für dasirdijche, nichtnur für das himmliſche Glüd der Menfchen forgen. Dem Bapjt ıft die Aufgabe geftellt, die Gefellichaft nach den fittlichen Grundjägen

54 Die Zukunft.

des Heilands zu organifiren. Es genügt nicht, den Gläubigen die Gottes⸗ kindſchaft der Armen zu predigen; die ftreitbare Kirche muß rückſichtlos alle Macht und alle Mittelanwenden, um fchnell die moraliiche und die phyſiſche Lage der Klaſſe zu beffern, der die größte Menfchenzahl angehört." Und ein Schüler Saint-Simons, der jüdifche Bankier Iſaac Pereire, wiederholte den Auf des Meifters, als der Kardinal Pecci zum Papft gewählt war. „Wie konnte”, rief er, „die Kirche bis heute verfennen, daß die Wand» fung der Welt nicht ein ruchlofes, antichriftliches Werk ift, jondern von ber Vorjehung vollendet ward, um den tiefften Gedanfen des Chriften- thumes in feinem göttlichen Glanz zu enthüllen? Nie ward von der Kirche die Erfüllung einer ſchöneren, ihres Stifter8 würdigeren Pflicht gefordert. Ift fie nicht zur Mutter der Waiſen, zur Schügerin der Unterdrüdten beftimmt ? Sie hat die Sklaverei der Heidenzeit befeitigt und das Joch der Feudalherren gebrochen: fie muß auch den modernen Arbeiter aus den Banden der Hörig⸗ feit erlöjen. Nur die ftarfe Organifation der katholifchen Kirche fichert ein foziales Wirken großen Stils. Solche Wirkfamfeit wird erft möglich, wenn über den Geſetzgebern, den Gelehrten, den Fabrikanten Apoftel ftehen, Miijio- nare, die bereit find, ihr Reben dem Heil der Menſchheit zu opfern, unabs hängige Männer, die den Muth haben, Allen die Wahrheit zu jagen. Und wo wären ſolche Männer zu finden, wenn nicht im Bereich der Kirche?“ Wir wiſſen nicht, weldye diefer Stimmen bis ans Ohr Leos des Dreizehnten drang. Doch was fie erfegnten, hat er vorzubereiten verfucht. Am fünfzehn: ten Mai 1891 erging an die ehrwürdigen Brüder im katholiſchen Glauben die Encyllifa De conditione opificum, die mit den Worten begann: Re- rum novarum semel excitata cupidine... Die Neuerungſucht, an der feine Borgänger fich geärgert hatten, war ein Saftor geworden, mit dem der Papft rechniete. Bis zu diefem Tag hatte in Rom nur alte Dlünze gegolten.

Oft ift jeitdem die foziale Aktion verhöhnt worden, die damals jo ge: räufchvoll begann und fo fchnell wieder endete. Bon den überfchwänglichen Hoffuungen, die fi) ans Licht wagten, als der Bapft den Pilgerzug der franzöfifchen Arbeiter im Vatikan empfing, ward feine erfüllt, fonnte feine erfüllt werden. Nur fromme Einfalt verftieg fich bi$ zu dem Wahn, ber Heilige Vater vermöge mit einem Wink feines Bauberjtabes die Nöthe zu lindern, unter deren werhjelnden Formen die Menſchheit ſeit Jahrtauſenden ächzt. Dennoch folkten die Spötter ihren Wig für beffere Gelegenheit ſpa⸗ ren. Es war eine große Stunde, die in einen mit der Ziara gefchmücken Haupt den Entſchluß gebar, „ins Volk zu gehen” und die Dynaftien; den

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ganzen Heerbann der ſich allein legitim dünkenden Mächte ihrem Schickſal zu überlafjen.&inft werden ſpaͤte Thomiſten vielleicht dem aufhorchenden@rdfreis Tünden, daß in diejer Stumde dje Renaiffance der fatbolifchen Kirche begann. . Die Kirche kann warten; und Muge Päpfte waren immer geduldig: patiens quia asternus.. Die Starrheit ift gewichen und in der Gemein- Schaft der Gläubigen neues Xeben erwacht. Schon wagt man, von Reformen zu reden, werben die alten Mauern unterfucht und die Hand, die auf hohle Steffen weift, braucht nicht zu zittern. Wer hat ſich früher um die Send- fchreiben des römiſchen Biſchofs gekümmert? Jetzt werden fie von allen Gebildeten gelejen, von Gelehrten und Politikern Eritifirt und in der afatho: liſchen Preſſe beſprochen. Das Papftthum ift wieder eine geljtige Macht geworden und mählich Löfen ſich num auch die Märchenjchleier, die diefe In⸗ ftitution dem Auge verhüllten. Niemand glaubt heute noch, daß alle Päpſte ein orgiaftifches Schlemmerleben führen; die Borgia find auch im Vati- fan eben fo felten twie die Hildebrand. Als Gutzkow feinen Rationaliſten⸗ roman gegen den römischen Zauberer fchrieb, ſah er den Bapft noch als eine Riefenipinne, die Alles ausfaugt, was ihr flatternd naht, alle regfamen Kräfte zu umſtricken ftrebt. Und viel jpäter noch, da längft fchon der Ruhm des ungen Deuifchland verblichen war, dachten wir, wenn vom Papſt geſprochen wurde, an Benedikt den Vierzehnten, der, während er von der Loggia der Beterstirche den Segen fpendete, fich felbft den größten Betrüger genannt haben foll: „In der Dienge da unten betrügt Einer den Anderen; und id) . betrüge fie Alle!’ Wir find nüchterner geworben, fleptijcher, doch auch ge⸗ rechter. Wir ftellen uns vor, daß es im Vatikan nicht anders zugeht als an anderen Höfen; nur find die Höflinge, ift die Bureaufratie da flüger, nad) vernünftigerer Auslefeaufdie Höhe gelangt. Und dieſes Gewimmelbeherrſcht nicht die Sucht, die Geifter zu knebeln, der armen Menfchheit ihr Bischen Glück zu rauben und alles Licht, alle Lebensluſt auszulöfchen. ES find Menſchen, bie ihre Heinen Gefchäfte machen und meift wohl überzeugt find, daß ihr Wirken der großen Chriftengemeinde frommt. Der Greis, dem fie gehordyen, wird von Todfeinden des Katholizismus bewundert, aber faum don Einem, der ihm nicht unterthan ift, gefürchtet. Mom hat den ſchrecken⸗ ben Nimbus verloren; und Leo der Dreizehnte ift der moderne Papft. Gebührt ihm der Name wirklich, auch nad) der neuften Encyklika? Auch ſie ift von einer gebildeten Mlanne verfaßt. Wie Leo, jo haben größere Peſſimiſten über die „Errungenfchaften der Neuzeit” geurtheilt; nur haben ſie den Enttäuſchten dann nicht dag älteſte Heilmittel angeprieſen: die Reli—

56 Die Zutunft.

gton. Das aber muß jeder Papjt thun, wenn er ſich felbjt nicht aufgeben will. Er kann nur gerade jo modern fein, wie e8 der Rang und der Pflichten- kreis, in den er gebannt ift, ihm erlaubt. Doch foldye Grenzen find in der Welt der Intereſſen und Leidenfchaften nicht nur Päpften gejeßt.

Der Schüler des Heiligen Thomas fpricht heute nicht anders als früher. Schon vor elf Jahren fchrieb er, die Fundamente der Gefellichaft feien erfchüttert, weil fie jich vom rechten Glauben abgewandt habe. Die alte Formel, die jegt nur überrafcht, weil man den Bapft nit moderneren Dingen beichäftigt glaubte. An das Ohr des Zweiundneunzigjährigen dringt von den wirren Geräufchen der Welt längſt wohl nur noch ein fernes Braufen. Er ahnt nicht, welcher Zwieſpalt fi) in den Gemüthern aufgethan hat; und müßte ers: er vermöchte die Kluft nicht zu fchließen. Man könnte einen Bapit träumen, der Jeſu Lehre nachlebte, allem Glanz entjagte und mit den Armen als Armer haufte. Erwäre eine intereffante Geftalt, doch fein Papſt mehr, nicht die weithin leuchtende Spite der Byramide, die in langer Säfulararbeit von den feinjten, erfahrenften Geiftern aufgethärmt worden ift. Ein Bapft mag modern fein, die Zeichen der Beit erfennen und das Schiff⸗ lein Betri vom Ballaft der Jahrhunderte entbürden: er bleibt der Hüter einer Inſtitution, die, um zu dauern, feinmuß, wie jie ift, wie fieimmermwar. Leo der Dreizehnte hat durch Eugen Takt, durch ftille Benugung aller Konjunk⸗ turen erreicht, daß die Gebildeten feiner Stimme wieder laufchen, ihn ohne vorurtheilenden Haß hören lernten. Er hat die ſtärkſte Organijation, die fe erjonnen ward, dem Anspruch des neuen Tages angepaßt. Seine politische Zechnifwar ganz modern, jomodern, daß jeder Staatsmann, jeder Großindus ftrielle fie mit Nugen ftudiren wird. Da aber endet auch des Mächtigften Macht. Das Lebenswerk eines ungewöhnlichen Dienichen reichte faum hin, um das Dafeinsrecht der katholifchen Kirche zu fichern, um zu zeigen, daß in jedem Staat, mit jedem politichen Glauben ein Katholik dem Dogma treu bleiben und felig werden kann. Yun abernahteinanderer Kampf, der nichtkom allein, jondern die tiefften Wurzeln der Chrijtenlehre bedroht. Langſam dämmert der Menjchheit die Erkenntniß, daß fie wählen, neue Sittlichkei juchen, ich eine neue Geiftesheimath Schaffen muß. Das Gebet, das von di Lippe gelallt und vom Handeln auf Schritt und Tritt verleugnet wird, be. leere Kult Eraftlojer Heuchelei Hilft nicht weiter. Der Bapft, der diefen Kamp! zu beftehen und aus den Auinen die Herrfchaft der Kirche ungemindert z: retten vermag, wird das größte Wunder der Chriftengefchichte wirken.

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Pandynamismus. 57

| Dandynamismus.”)

liegen in unſerem Weſen dauernde Vorausſetzungen einer pan= dynamiſtiſchen Betrachtung. Wie unſere Sinnlichkeit der Bereinigung mit einer ergänzenden Natur zuftrebt, um in dieſer Bereinigung die Gattung fchöpferifch fortzufegen, fo ftreden wir fehnfuchtvoll unfere Geiftesarme aus nach den erhabenen Geheimniſſen des Himmel3 und einer jenfeitigen Welt; und wo und das Wiffen hier nicht befriedigt, da möchten wir fo gern unter Annahme übernatürliher Thatſachen beweifen. Und es begreift fi, daß Negungen in diefer Richtung vor Allem bei Anbruch neuer geiftigen Zeiten hervortreten, da man ahnungvoll ertragen will, was an geiftigen Errungen- ſchaften erft einer reichen Abfolge von Geſchlechtern in harten Mühen zum Theil zu erarbeiten vergönnt ift. Und diefe Regungen waren im fechzehnten Jahrhundert, einem Zeitalter diefer Art, doppelt erflärlich, da fie mit den ungeahnteften Erweiterungen des geiftigen Horizontes der abendländifchen Bölker zufammenfielen, Erweiterungen, die dem verzüdten Blick als die Ente fchleierung jedes Geheimniſſes erfcheinen konnten. Da ward zu der befannten geichichtlichen Welt in der Antife eine neue entbedt. Da reihte fi ein geographifcher und ethnographifcher Auffhluß am den anderen; und die Begrenztheit diefer irdifchen Welt und die Kugelgeftalt der Erde erfchienen nit mehr als Hypotheſen, fondern als anfchaulich gewordene Wahrheit. Und all diefe Nevolutionen, bie einer noch niemals möglich gewefenen Weitjichtigfeit des geiftigen Blickes zudrängten, wurben ſchließlich an Wirk: ſamkeit fibertroffen durch die heliocentrifche Lehre de8 Koppernikus. Wer hätte das ptolemäifche Weltſyſtem in feiner finnlichen Anfchaulichkeit be- zweifeln mögen, wie e8 von der ummittelbaren Realität der wahrgenommenen kosmiſchen Bewegungen ausging, zumal alle dagegen möglichen Einwände durch eıne große Anzahl höchſt finnreicher Hilfshypothefen befeitigt fchienen? Und nun erfchien das Buch De revolutionibus orbium coelestium, das zwar nicht auf Grund erafter Beobachtungen, wohl aber von der einfachen Forde— rung ber, daß die erhabenften Schöpfungen Gottes nur von einfachfter Sym— metrie beherrfcht fein Fönnten, dies ganze Syftem über den Haufen warf. Nicht die Erde erfchien jegt mehr als der Mittelpuntt des Weltalls, fondern die Sonne; ein dienendes, in Gemeinfchaft mit anderen Körpern in Doppel- bewegung um die Sonne Freifendes Glied des Ganzen nur war unfer Planet: aufgegeben werden mußte das biäher kaum je bezweifelte Vorrecht einer Be- trahtung der fernen Weltweiten von geocentrifhem Standpunkt. Wie lein war jet diefe Erde geworden, und wie Hein gar der Menſch, daß man feiner gedächte! „Was ging nicht Alles durch diefe Anerkennung in Dunft

*) S. „Zukunft“ vom 5. April 1902.

58 Die Zukunft.

und Rauch auf: ein zweites Paradies, eine Welt der Unfchuld, Dichtkunſt und Frömmigkeit, dad Zeugniß der Sinne, die leberzeugung eines politifcy- religiöfen Glaubens.“ *) Es war eine wifjenfchaftliche Erweiterung und zu= gleich fittliche Begrenzung des menfchlichen Standpunkte von folder Uner⸗ hörtheit, daß es verftändfich ift, wenn fi die Welt nur langjam an ihn gewöhnte. Auf die heliocentrifhe Hypotheſe des Koppernikus haben die Forſchungen ‚Keplers über die Entbehrlichfeit der ercentrifchen Kreife und Epicyklen zu Gunften der Annahme einer einfachen Kurve als. Bahn der planetarifchen Bewegung folgen müffen und auf diefe Galileis Forfchungen über die Schwerkraft, ehe Newton zu jener Hypotheje über die Bewegungen der Himmelskörper gelangte, die, vornehmlich durch die unvergleichlich popularifirende Wirffamkeit Voltaires, der neuen Lehre zur Stellung eines unveräußerlichen Beſtandtheils der europäifchen Bildung verhalf.

Indem aber diefe gewaltige Ausdehnung des menjchlihen Horizontes eintrat, wirkte fie fehließlich doch weniger auf die Erweiterung der Phantafıe al8 auf die Ermeiterung der Erfahrung. Und fo fam das Ergebniß doch am Ende nicht pandynamiſtiſchen Anfchauungen zu Gute, wie jie im Tiefften noch auf der Zulafjung des Begriffes des Wunder und damit wieder auf dem Vorherrſchen einer Denkmethode ungenügender Analogie fchlüffe beruhten, fondern vielmehr einer ganz anderen Yuffaffung der Welt. Je mehr jeßt, unter den verfchiedenartigften Anregungen, die Erfahrung ſich berdichtete und zugleich befchied, um fo mehr erweiterte ſich das Kaufalität- bewußtſein: nicht mehr nad) nur zum Theil zutreffenden Analogien, Produkten oberflächlicher Beobachtung und unzureichender Erfahrung, fondern nad) der Kenntnig möglichft ausgedehnter regelmäßiger Zufammenhänge von Urſache und Wirkung begann man, bie Welt der Erxfcheinungen zu ordrren. So wurde das Beitalter einer pandynamiftifchen Naturbetrachtung abgelöft durch ein Zeitalter, das vermöge der Induktion und Abftraftion im den einfachlten Naturvorgängen vor Allem einfachfte Regelmäßigfeiten und Gefege aufzu⸗ fuchen beftrebt war, in der Hoffnung, gerabe in ihnen, gleichgiftig, welchen tiefften hinter den Pforten der Natur ftehenden Wirkungen jie verdankt oder nicht verdankt würden, den Schlüffel zum Verſtändniß auch der größten Er- fcheinungen zu finden. Ein Saufalitätbewußtfein, das fein Wunder mehr zulieg, begann, uranfänglich, unbeholfen noch und ahnungvoll, das Kleinſte und Größte unmittelbar zu verbinden, unb gab fi) der frohen, durch die Thatfachen ſchließlich beftätigten Heberzeugung Hin, daß e8, indem es ben Bufammenhang eben de3 Gewöhnlichen erforfche, auch das bisher als unge: wöhnlich Betrachtete zu erklären im Stande fein würde. Das Zeitalter

naturaliftifcher Naturforfchung 309 herauf.

*) Goethe, Zur Farbenlehre.

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Borläufer diefes Zeitalter reichen allerdings big ins dreizehnte Jahr⸗ hundert zurüd. In dieſer Beit bat ſchon der große Scholaftifer Albertus Magnus im Kloſter der kölner Dominikaner feine botanifchen Verſuche gemacht; und neben ihm bereits ift der Engländer Roger Baco dem Gedanken vorausfegunglofer Naturwiſſenſchaft nahe getreten. Bahnte dann Heinrid) von Zangenftein, ein Hefle, der fett 1383 in Wien wirkte, Durch Bekämpfung des aftro- fogifchen Wunderglaubens den großen vorkoppernilaniichen Aftronomen, einem Peurbah und Regimontan, den Weg, fo bat der Kardinal von Kues, in feinen erakien Forſchungen nicht minder bedeutend als in feinen müftifchen Spekulationen, recht eigentlich eine Janusgeſtalt zwiſchen Mittelalter und Neuzeit, neben weſentlichen Berbefjerungen des Kalenders im Sinn ber jpäteren gregorianifchen Reform vor Allem ſchon unmittelbare Borahnungen der kopper⸗ nifanifchen Hypotheſe gehabt.

Allein diefe Männer ftanden doch fehr vereinzelt; fie fchufen noch nicht aus einem fich aufbrängenden Gefammtbewuptfein der Forfchung ihrer Zeit heraus, wenn auch ftärfere intelleftualiftifche Neigungen des fpäteren Mittel: alter8 in keiner Richtung des Geiſteslebens zu verkennen find; und fo drängten fie mit ihren meift nur in unreifen Vermuthungen beftehenden Ergebniffen doch mur gegen die Pforten eines Zeitalter an, das noch nicht eröffnet war. Erſt der Individnalismus des fechzehnten Jahrhunderts, die Freiftellung des Individuums gegenüber dem endlofen Detail des mittelalterlihen Offen⸗ barungsglaubens und der Unterwerfung, die der dogmatifchen Faſſung biefes Glaubens gefchuldet ward, hat die meue Anfchauung völlig entbunden.

Aber in dem Charakter der neuen Zeit lag freilich zugleich aud) der

Charakter des Verlaufes der neuen Studien beſchloſſen, wenigſtens ſo weit fie auf das philoſophiſche Gebiet führten und von dieſem aus in die wiſſen— ſchaftliche Praris hinein getrieben wurden. Die Perfönlichkeit des fechzehnten Jahrhunderts zeigte in den Zeiten ihrer vollen Durchbildung, vornehmlich feit der Wende bes fechzehnten Jahrhunderts, den Typ des Ifolirten, für ſich Stehenden, in jih Genügſamen: fie war eine abgefchloffene Welt im Stleinen. Es verfteht jich, daß dieſe Auffaffung ihres Weſens nun aud an den Malro- fo8mo8 herangeholt wurde: ohne daß darüber weiter ein Wort verloren wurde, erſchien diefen Zeiten die große Welt al3 eine Einheit gejchloffenen Charakters, als ein Kunſtwerk des Schöpfers. Das war die Vorausfegung der pandy- namiftifchen Naturwiffenichaft geweien. Das blieb auch die Vorausſetzung des neuen Realismus.

Traf fie aber zu, fo mußte e8 aud nad der neuen naturaliftifchen Auffafjung doch wieder eine Methode der Ableitung al ihrer Geheimnifle von einem oberften Prinzip, von einem Punkte aus geben. Und nachdem eine folche Ableitung aus der ftofflichen Hypothefe eines allgemeinen Kräfte:

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80 Die Zukunft.

zufammenhanges im Pandynamismus geicheitert war, ſchien es auch nicht mehr zweifelhaft fein zu fünnen, wo fie nun zu fuchen war. Wohin man and in den einzelnen Gebieten der Natur und der Geſchichte den Blid warıbte, da ergab fi der Erfahrunginhalt in die Begriffe des Raumes und ber Zeit gebettet. Raum und Zeit alfo mußten vor Allem in ihren empiriſchen Be ziehungen in fih und unter einander begriffen werben, wie fie am Ende ſich auf den noch einfacheren Oberbegriff der Größe reduziren ließen: erft durch dieſes Begreifen hindurch, auf einem folchen, rein formalen Wege glaubte man, aus dem Ganzen der Erfcheinungen zum Verſtändniß des Einzelnen ge— langen zu können. |

Als Wiſſenſchaft der einfachen Größe aber, des Raumes und der Zeit, erichien die Mathematil. Sie fonftituirt, fo wurde ber Zufammenhang an-= gefehen, über dem bumten Getriebe des Konkreten und Veränderlichen Die Lehre von Raum und Zeit als eine exakte und abfolute Wiffenfchaft, wie fie in ihrem Fortfchritt der Berichtigung durch die Kontrole erneuter Wahr⸗ uehmungen der Erfcheinungwelt in feiner Weife mehr bedarf; fie enthält | damit die Prinzipien einer wahren deduftiven Methobe, mit deren Hilfe 8 gelingen muß, von ihrer volljtändigen Entfaltung aus aud) das Reid) des finnlih Konfreten zu erflären. Mathematif alfo und dur fie hindurch Ver— ſtändniß der Erfceheinungmwelt: Das wurde zunächlt die Loſung.

Aber auch diefer Gedankengang war im fechzehnten Jahrhundert nicht völlig neu. Es ift ſchon an dem Beifpiel Platos zu erkennen, von welchem Einfluß die Mathematik bereit3 auf die Philoſophie der Alten gewejen iſt. Freilich blieben die Alten dabei in der Mathematik der Hauptſache nad) in das Reich der Dinglichkeit und Anſchaulichkeit gebannt: aus feiner weiteren Durchdringung Prinzipien einer rein begrifflichen Lehre von Raum und Zeit abzuleiten, lag nicht in der Richtung ihres Denkens. Dafür war dann aber das Mittelalter in der Entjinnlichung der Vorftelungen von. Raum und Zeit ziemlid, weit über fie hinaus gegangen.

Das mittelalterliche Denken, fo weit e3 ſich auf höhere Probleme ein- ließ, war eine Folgeerfcheinung Defien, was man zu diefer Zeit wiffenfchaft- fiche Theologie nannte: nicht eigentlich aus der nationalen Geiftesbemegung, fondern aus der chrililichen Leberlieferung der fpäten Griechen- und Römer— zeit, unter Einfchlug gewiffer Einwirkungen der heidnifchen Bhilofophie t Alten, erhielt e3 feine Impulfe. Es war alfo eine Erfcheinung nicht ſelbſ gewachjener Kultur, Sondern zeitlicher Rezeption aus weltgefchichtlicher V gangenheitt. Dem entfprechend, war e8 im höchften Grade abgezogen, of. ftärfere Berührung mit den lebendigen Strömungen der Öegenwart; un Dem entfprechend, bildete e8 mit Vorliebe virtuofe Methoden und gänzli abftrafte, uniinnliche, gleihfam dännfchliffige Begriffe aus. Und indem r

Pandynamismus. 61

wirklichkeitfremd nur in dieſen Begriffen lebte, ſchrieb es der ſyllogiſtiſchen Methode allmählich Schöpferkraft und den Begriffen an ſich Nothwendigkeit des Seins zu. Die ontologiſche Anſchauung, die Auffaſſung, daß gedachte Begriffe allein wegen der Thatſache, daß ſie gedacht werden, auch wirklich ſeien, iſt das originellſte Erzeugniß, das von dem ſcholaſtiſchen Denken in der Geſchichte der Philoſophie hervorgebracht worden iſt.

Eine geiſtige Dispoſition, wie die der Scholaſtik, mußte nun ſchon dazu führen, den Vorſtellungen von Raum und Zeit denjenigen begrifflichen Cha- rafter zu verleihen, deſſen das fechzehnte bis achtzehnte Jahrhundert für die Anwendung der Mathematit als Dentmethode der Philofophie und, wie es anfangs fchien, auch der Naturwiffenfchaften beburften. In der That findet man bei den mittelalterlichen Borläufern der realiftifchen Naturwiflenichaft des fiebenzehnten Jahrhunderts fchon die Verwendung der Mathematik, wenn auch noch nicht in der vollendeten Art eines Galilei oder Newton. Seiner diefer Vorläufer ift aber in biefer Hinjicht wohl charafteriftifcher als Roger Baco; und feiner ift in diefer Stellung wohl zutreffender gefchildert worden als eben Baco von Goethe.*) Baco erfcheint die Mathematif in ihrer reinen Form ſchon ausdrücklich als Hauptfchlüffel aller wiſſenſchaftlichen Ber: borgenheit, ja, auch aller metaphyfifchen Fragen: „Es giebt Mancherlei, das wir geradehin und leicht erfennen; Anderes aber, da8 für uns verborgen it, welches jedoch von der Natur mohl gelannt wird. Desgleichen jind alle höhere Weſen, Gott und die Engel, als melde zu erkennen die gemeinen Sinnen nicht Hinreichen. Aber es findet fich, daß wir auch einen Sinn haben, dur den wir Das gleihfalld erkennen, mas der Natur bekannt ift, und diejer ift der mathematische: denn durch diefen erfennen wir auch die höheren Wefen, als den Himmel und die Sterne." Bon diefer Auffaffung ausgehend, wendet Baco die Mathematik als eine der Logik weit üherlegene Methode an, um nicht blos die Naturerfcheinungen im engeren Sinn, nein, auch die pfycholos gifchen Erfcheinungen deduftiv zu begreifen: jo wird ihm, zum Beifpiel, die Grammatik zur Rhythmik, die Logik zur Mufil. Ya, damit nicht genug: * auch dem moralifchen und religiöfen Gebiete nähert er fich auf mathematifche MWeife, indem er die Beziehungen diefer Gebiete mathematischen Beziehungen ſymboliſch gleichjekt.

Man fieht fogleih: Das find feinfinnige Betrachtungen, feine Schlüffe; die Wirkung ift erbaulich, nicht überzeugend. Aber was Baco und fein Nachfolger im Mittelalter ahnend verfucht haben: das Begreifen der Welt bermöge und freilich zum größten Theil noch nach Analogie der Methode

*) Zur Farbenlehre (Werke Weim. Ausg. II 3, S. 151). Der hiftorijche Theil der goethijchen Farbenlehre bietet noch heute die am Tiefſten durchdachte Geſchichte der Naturwifjenfchaften bis ins achtzchnte Jahrhundert, die wir befiten.

62 Die Zukunft.

der Mathematik: Das unternahm das Zeitalter realiftifcher Naturwiſſenſchaft, wie e8 dem Panpſychismus folgte, in feinem allgemeinen Denken num wirf- fi ernfthaft durchzuführen und zu vollenden.

War die Mathematik diefer Aufgabe gewachſen? Sie war e8 höchſtens dann, wenn jie thatfächlich rein begrifflichen Charakters war und wenn, Dies vorausgefegt, ihre fpezielle Ausbildung im fechzehnten und fiebenzehnten Jahr: hundert auf der Höhe der Forderungen ftand, die man an jie ftellte.

Nun hat die Entwidelung des Denkens im neunzehiten Jahrhundert gezeigt, daß die Mathematik Feineswegs die rein begriffliche Wiſſenſchaft ift, als die fie eine frühere Zeit anfah, daß jie vielmehr "in ihren Grundveſten anſchaulich verankert ift. Die Mathematik konnte alfo die ihr im fiebenzehnten und achtzehnten Jahrhundert zugewieſene Aufgabe felbft dann nicht erfüllen, wenn fie im Uebrigen, in ihren einzelnen Fortfchritten, den Anforderungen des allgemeinen Denkens entfprechend entwidelt gewejen wäre. Aber wenn nun auch die Hauptabjicht bes fiebenzehnten und achtzehnten Jahrhunderts: die volle deduftive Ableitung der Welt und zunächſt der Naturerfcheinungen in mathematifcher Methode, nicht erreicht ward und nicht erreicht werden konnte, fo war doch der in den eben befprochenen Zufammenhängen liegende Impuls zum mathematifchen Verſtändniß der Welt fo überaus gewaltig, daß ihm die größten Errungenfchaften auf naturwifjenfchaftlichem, philoſophiſchem und auch geiſteswiſſenſchaftlichem Gebiete zu verdanken find: die Mathematik hat ſich thatſächlich als eins der ſtärkſten, wenn nicht als das ftärkite Gährung- element im Denen vor Allem des fiebenzehnten und achtzehnten Fahrhunderts erwiefen. Darum bedarf e8 zum Verftändnig des Geifteslebens diefer Zeit überhaupt einer eingehenderen Betrachtung ihrer Entwidelung.

Die Mathematik war bei den Alten wohl, wie überall, aus praktiſchen Bedürfnifien entitanden. Jedes Volk, das voll ſeßhaft wird, bedarf für die Auftheilung des Grundes und Bodens einer primitiven Feldmeßkunſt; Feine Zeit der Naturalwirthſchaft entbehrt fie: es jind die Anfänge der Geometrie. Ihnen aber fügen ſchon die erften entwidelten Zeiten der Tauſchwirthſchaft die Arithmetik hinzu; denn wie könnte felbft ein primitiver Handel, nament⸗ [ich fo weit er fih ſchon eines Geldes bedient, ohne die Negeldetri bes trieben werden?

Waren fo die Anfänge der mathematifchen Wifjenfchaft bei den Alten wohl durchaus praftifcher Natur, fo liegt e8 im Charakter der antiken Kultur, daß auch ihrer vollendeteren Mathematik noch ein in hohem Grade anjchau: licher Charakter geblieben ift. Gewiß find die Bemweife Euklids durchaus deduftiv; jedes induktive Moment, das etwa gar auf die Entitehung bes zu beweifenden Sages hinmiefe, ift umterdrüdt; aber doch ift hier, wie fonft in der Mathematik der Alten, die Abftraktion niemals fo weit getrieben, daß

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Pandynamismus, 63

über den abſtrakten Raumformen die Körper, über den abfirakten Zahlformen die Zahlen vergeffen worden wären, geſchweige denn, daß aus abitraften Be- griffen von beiderlei Art bereitS der allgemeine Größenbegriff entwidelt worden wäre. Und ferner iſt bei den Alten für jederlei Größe, wie der Raum-, fo der Zahlenwelt das Moment der Stetigfeit feitgehalten worden; von der Anſchauung, daß die mögliche Zahl der Brüche zwiſchen zwei Zahlen unendlich und mithin der Charakter jeder Zahl unftetig fei, finden wir eben fo wenig Gebrauch gemacht wie von der anderen, daß jeder Körper als Träger von Raumformen in Bewegung begriffen und Ruhe nur eine ins Sleichgewicht gefegte Summe von Kräften fei, die in Bewegungen zur Ere fcheinung gelangen. ALS die Xehre von ftetigen Größen und als ſolche aller- dings reich entfaltet, ging mithin die Mathematik der Alten an die abend: ländiſchen Nationen über. Wie aber hätte fie hier, in beren Mittelalter, mehr als allenfalls begriffen, wie hätte fie erweitert werden follen? Wir kennen für die deutfche Gefchichte die Entwidelung des äſthetiſchen Sinnes von der Urzeit bis in die Jahrzehnte der Reformation: von der robuften, noch rein ornamentalen Bewältigung des Umriſſes der Gegenftände der Erjcheinung- welt war man langſam bis zu deſſen zutreffender Wiedergabe fortgefchritten. Wie hätte eine Zeit, die auf Ajthetifchem Gebiet noch um die Wiedergabe des Umriſſes rang, auf intelleftwellem Gebiet aus eigener nationaler Kraft durch das Aeußere der Erfcheinungmwelt zu dem Begriff der ihr zu Grunde liegenden reinen Größe vordringen follen? Es war faum denkbar, daß von diefem Standpunft aus auch nur die Errumgenfchaften der Alten in genügender Tradition fortgepflanzt wurden.

Aber wir haben ſchon gefehen: neben dem nationalen Denken ftand die Denkkunſt der Scholaſtik; und die fcholaftiichen Kreife haben die Mathe: matik der Alten feit vornehmlich dem dreizehnten Jahrhundert nicht nur bes wahrt: jie haben auch die Vorftellung der mathematifchen Größe ald Ober- begriff über Raum: und Zahlengröße ſchon leife dDurchzubilden verfucht. Ganz gelungen iſt dann diefe Durchbildung freilich erft im fechzehnten und fieben- zehnten Jahrhundert.

Dagegen erfchien noch dem ganzen Mittelalter im Allgemeinen die Größe als ftetig. Hier befonders, in diefem Punkt, mußte daher die weitere Entwidelung des individualiftifchen Zeitalterd einfegen; und in der That verläuft fie von hier aus hinein in die glänzenden Errungenschaften der Funk— ion= fowie der Differential: und Integralvehnung. Zu Grunde aber liegt diefer Sntwidelung zunächſt im fechzehnten Jahrhundert noch die allgemeine Vor: tellung der pandynamiftifchen Naturanfchauung, die hinter jeder Erfcheinung in Spiel lebendiger Kräfte fah, alfo dem Begriff der Uinftetigfeit der Größe

yr leicht unmittelbar und intuitiv nahe treten konnte; und im fiebenzehnten

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64 Die Zutunft.

Jahrhundert wird für fie die MWechjelbeziehung mit den Forfchungen auf dem Gebiete der Mechanik wirkfam, die wiederum von der Statik, wie jie die Alten faft allein gelehrt hatten, fehr früh zur Dynamik überging und damit ben Begriff der Bewegung in abgellärterer Form zur Verfügung ftellte. . Den entfcheidenden Schritt zur Ausbildung ber Funktionrechnung und damit zur Xöfung des Problems, das gegenfeitige VBerhältnig von Größen gleihmäßiger Unſtetigkeit auf eine für jeden Moment diefer Unftetigfeit zu- treffende Formel zu bringen, hat Descartes gethan. Er ging dabei von den auch den Alten fchon befannten Gleichungen aus. Zunächſt war es bier Har, daß die Unbelannte jeder Gleichung, da fie unbenannt ift, ſich eben fo fehr als Raum: wie ald Bahlengröge erweifen konnte: in diefer Unbelannten war affo von vorn herein der Ausdrud der allgemeinen Größe gegeben. Wie aber konnte man nun darüber hinaus, unter der Annahme der gleich- mäßigen Unftetigfeit der Größen, zu der Möglichkeit kommen, das Ber- hältniß diefer Unitetigkeit der Größen zu einander einfach darzuſtellen unb zu berechnen? Auch hier half die Gleichung. ,

In Betracht kommt hier der erfenntnißtheoretifche Charakter der Gleichung. In der Gleichung wird von der Annahme ausgegangen, daß die zu findende Unbelannte eigentlich, wenn auch unter den VBerhüllungen der Gleichung, befannt fei; und der Beweis für die Richtigkeit diefer Annahme und damit auch für Die Richtigkeit der Gefanımtbehauptung wird dadurch geführt, daß in der Auflöfung ber Gleichung gezeigt wird, wie diefe Annahme in allen Folgerungen, die ſich aus ihr ergeben, mit fonft allgemein al3 wahr befannten Sägen übereinftimmt. Die Beweisführung ift alſo indireft. Weil Das aber der Fall ift, weil das in der Gleichung angewandte Beweisverfahren von der Folge auf den Grund ſchließt, fo läßt 8, wie jeder Schluß von der Folge anf den Grund, eine mehrdeutige Loſung zu. Diefe Eigenart der Gleichung, ſolche mehrdeutigen Löſungen zu ergeben, iſt ja befannt genug. Dieſe Thatfache bringt es num aber mit jich, daß nur auferhalb des Beweisverfahrens Liegende Betrachtungen ergeben können, welche ter denkbaren Köfungen die vorzuziehende if. Und die Folge dieſes Umftandes wiederum ift e8 lange Zeit hindurch gemwefen, dag man allgemein gefaßte, alfo wiflenfhaftliche Aufgaben einem fo mehr: deutigen Beweisverfahren nicht hatte überlafien fünnen. Und fo hatte bie Gleichung bisher auf dem Gebiet allgemeiner, namentlich auch naturwiffenfcha| licher Beweife Feine große Nolle gefpielt.

Wie aber, wenn es num gelang, den verfchiedenartigen Bebingungı innerhalb der Aufgabe, deren Dafein die Mehrdeutigkeit der Löſung ergal für den Verlauf der Löſung der Aufgabe einen ſolchen Ausdrud zu ve Ihaffen, da die in ihnen beruhenden verfchiedenartigen Meöglichfeiten de Löfung im Schlußergebnig der Rechnung zu volltommenem Ausdrud gelangter

Pandyhnamismus. U 65

Dann war offenbar die wiſſenſchaftliche Brauchbarfeit des Gleichungverfahreng erreiht. Da war es nun Descarted, der den Weg zu diefem Ziele zeigte, indem er. die algebraifche Symbolik einführte: womit den verfchiebenartigen, der Aufgabe einverleibten Bedingungurtheilen für den Verlauf des Beweifes duch Buchftabenfgmbole ein allgemeiner Ausdrud verjchafft wurde, vermöge deren die Bedingungurtheile wieder in Gleichungen umgewandelt wurden. Damit fiel jede Mehrdeutigkeit der Ergebniffe: denn nun war durch bie allgemeine, den verfchiebenen denkbaren Bedingungen entfprechende Bedeutung der Zeichen diefer Symbolik das generell Bedingte den Schluffolgerungen felbft einverleibt, fo daß diefe eine an fich eindeutige Form erhielten. Was aber- bedeutete num dies Alles für das Verftändniß der fletig veränderlichen Größe? Es war Kar: mit biefem Ergebnig war ein bisher noch fehlendes Mittel gewonnen, um Aufgaben zu löfen, in denen beftimmten, in beftimmter Weife veränderlichen Faktoren beftimmte, in entfprechender Weife veränderliche Er- gebniffe entfprachen; ober mit anderen Worten: e8 war dad Mittel gewonnen, dem Begriff der fetig veränderlichen Größe in ihrem Verhältnig zu anderen ftetig veränderlichen Größen gerecht zu werden. Es war jegt möglich, jede Mehrheit mathematischer Größen, vorausgefegt, daß deren Verhältniß ſich unter beftimmten Bedingungen änderte, in der durch diefe Bedingungen auf bie einzelnen Größen ausgeübten Wirkung zu verfolgen und für die Durch— führung dieſes Verfahrens eine allgemeine Rechnungform man nannte ſie ‚eine Funktion aufzuſtellen.

Aber verwandelte ſich damit, daß Dies möglich wurde, nicht das bis⸗ herige Beweisverfahren in eine Methode der Unterſuchung? Gewiß: eben Das geſchah; und daß es geſchah, war vielleicht das folgenreichſte Ergebniß der durchgeführten Neuerung. Denn jetzt war das neue Verfahren nicht mehr blos ein Werkzeug des Beweiſes, ſondern es wurde zur Analyjis, zur Sorfchungmethode, die bei dem ihr innewohnenden Zuge vom Zufammen- gejeten zum Einfachen, vom Befonderen zum Allgemeinen eine Fülle von Beobachtungen über das Verhalten mathematifcher Größen zu einander ver- anlaffen mußte: womit der Anftoß gegeben wurde zur Wufftellung der wichtigften Gefege über das Verhalten von Größen überhaupt in Raum und Zeit. In diefem Sinne wurde die neue Mathematik jegt dem erweiterten Raufalitätstriebe, dem Grundzuge der neuen Beit, für das Zufällige Aberhaupt ‚feinen Raum zu laffen, fo weit gerecht, wie es jih um die Bearbeitung von Gröpenverhältniffen handelte: mit der Ducchbildung der Funktionrechnung be= gannen alle Größenbeziehungen, unferem Denken in der felben Weife erfchlofien zu werden, wie das AU immer mehr dem Kauſalgeſetz als einer nun ftet8 weniger abweisbaren Forderung unferes Denkens unterworfen erfhien. Doc) bedurfte es zur vollen Verwendbarkeit der Yunktionrechnung in dem foeben

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66 Die Zukunft.

befchriebenen Sinne noch eines weiteren Hilfsmittel. Indem man nämlich die Abhängigkeit einer Größe von einer anderen ober von einer Mehrheit anderer Größen auf dem Wege der Funktion umterfuchte und zu dieſem Zwecke zunächſt eine oder mehrere biefer Größen beliebig veränderlih annahm, kam man zu einem Begriff, der rechnerifch zunächſt kaum faßbar erichien, zu dem ber ftetigen Veränderlichkeit. Und doch kann, ba die Dinge aufer ung nicht minder wie unfere Borftelungen in ftetigem Fluß von Veränderungen begriffen find, keine größere Beſtimmung gedacht werden, die jich diefem objektiv wie fubjeltiv gleich zweifellofen Moment entzöge!

Die Mathematif kann feiner in der That nicht reſtlos Herr werben. Aber jie kann e8 im ihre Unteriuchungen in den denkbar Heinften Fehlergrenzen mit einbeziehen, indem jie fich die veränderliche Beziehung in Fleinfte Elemente zerlegt denkt, in denen diefe Veränderung aufgehoben erfcheint, und dieſe Elemente mit beachtet. Die Mittel hierzu Tieferte in der zweiten Hälfte des fiebenzehnten Jahrhunderts die Imfinitefimalmethode (Differentialrechnung), - wie fie Newton in feiner luriontheorie, die in den Acta eruditorum des Yahres 1684 erfchien, vom Geſichtspunkte der Bewegung biefer kleinſten Elemente, Leibniz von geometrifchen, Euler von arithmetifchen Betrachtungen ber entwidelt haben: bis Lagrange in feiner derivirten Funktion die vollen- detfte der hierher gehörigen Methoden ſchuf. Nun war es in der That möglich), die gegenfeitigen Beziehungen ftetig veränderlicher Größen in jeder Hinficht zu verfolgen, wie aus der Kenntniß eines Theiles diefer Beziehungen oder auch einer aus ihnen abgeleiteten Relation daS ganze Verhältni ihrer gegenfeitigen Beziehungen durch Integration, Das heißt: durch eine Umfehrung des Differential- verfahrens, herzuftellen; und damit war überhaupt da8 Geheimnif des Ber: baltens der Größen, mithin auch der Körper zu einander enthüllt: grundfäglich hatte jegt die Mathematik ald die Wiffenichaft der Größen alle Gebiete der erfenntnißtheoretiichen Grundlage durchmeflen und erobert.

Halten wir hier inne und fragen uns, was denn damit für die philo- jophifchen und naturwiſſenſchaftlichen Probleme erreicht war.

Die PHilofophie mußte bei der ganzen Veranlagung des feelifchen Lebens diefer Jahrhunderte jo viel wie möglich an der Deduktion feſtzuhalten ſuchen: das AU erſchien ihr al3 Eins, wie das Individuum; und ala N-* Eine, in fi klar Zufammenhängende, mußte e8 von einem Bunfte aus ı möge einer einzigen Methode begriffen werden können. War nım in Mathematik diefe Methode gefunden?

Die Entwidelung der Mathematik hatte vom fechzehnten bi8 zum E des fiebenzehnten Jahrhunderts aus den deduftiven Beweisformen Euf‘

- zur Analyis, zur reinen Induktion geführt; immer mehr hatte gerade d Wiſſenſchaft von ihrem debuftiven Charakter verloren. So war an

Pandynamismus. 67 Berwendung zur philofophifchen Deduktion der großen Probleme von Gott und Welt je länger, um fo weniger zu denken. Uber doch galt die mathe: matifche Beweisform feit dem fechzehnten Jahrhundert, ja, zum ‘Theil ſchon aus dem Mittelalter heraus als allen Syllogismen weit überlegen! Und ihr Ruf als ſolche, auf ihre alten beduftiven Elemente begründet, erſtreckte fich noch weit bis in das achtzehnte Jahrhundert. Die Folge war, daß die Philofophie dieſes Zeitalters fie als Arbeitwerkzeng nicht aufgab, aber freilich je Länger,

je mehr mit einem Inſtrument arbeitete, da8 bei firenger Anwendung zer= .

brach, oder, anders ausgedrädt, daß fie die mathematische Beweismethode in einem Sinne anwandte, die dem Charakter biefer Methode und der ihr zu Grunde liegenden Wiffenfchaft je länger, je weniger entſprach. Schon Roger Baco hatte fich dieſer Methode in einer für unfer Denken fonderbaren, bei ihm fehr Har zu Tage tretenden Weife bedient: nämlich nad) der Art des mittelalterlichen Analogiebeweifes. Er hatte, darin dem Pythagoras und feinen Schülern ähnlich, gewiſſe mathematische Verhältniſſe in gewiflen meta- phylifchen, pfychifchen, ja auch phyſiſchen Verhältniſſen im ſymboliſchen Spiegel- bild wieder gefunden: und Das hatte ihm genügt, um dieſe Berhältniffe jo weit zu identifiziven, daß aus diefer Fdentififation heraus die Wirklichkeit der metaphyſiſchen, piychifchen, phyſiſchen Verhältniffe behauptet werden Tonnte, weil die Wirklichkeit der analogen mathematischen Verhältniſſe feftftehe.

Das war nun freilich ein Verfahren, das die Philofophie des Descartes, wie fie zunächft den pandynamiſchen Syſtemen des fechzehnten Jahrhunderts fofgte, im gleich ſonderbarer Naivität des Analogiefchluffes nicht mehr ein- ſchlug. Aber gleichwohl gilt für ihr Verhältnig zur Mathematik noch etwas Aehnliches. ES ift faſt jelbitverftändlich, daß der felbe große Geift, der der Mathematik den Weg zur induftiven Analyfis wies, fie nicht gleichzeitig als tiefer konſtituirende methodologifche Triebkraft einer deduftiven Philofophie gebrauchen konnte. Galt dem Descartes wie feinem ganzen Zeitalter die Mathematik gleichwohl al3 Hebamme jeder Metaphyſik, fo konnte ihre Hilfe im Grunde doh nur noch äußerlich und formell beanſprutcht werden: nämtich fo, daß ihrer Methode die äußere Art der Beweisführung und ihren Ergebniffen gewiſſe Analogien der philofophifchen Gedankenbildung entnommen wurden. Und über ‘Descartes hinaus ermöglichte diefer befondere Charakter er philofophifchen Benugung der Mathematit es noch Spinoza, mit ans eblicher Hilfe der Mathematik ein gemwaltiges, im Grunde myſtiſches Lehr-

bäude der Metaphyſik aufzuführen.

Im Grunde war alfo auch der Verſuch, nad) dem Scheitern des Pan- ynamismus mit Hilfe der Mathematik als eines Univerfalfchlüffels deduktiv ine Kenntniß der Welt generell zu gewinnen, gefcheitert. Die materielle Borjtellung von allgemein bewegenden Kräften und Größekomplexen hatte eben

verfagt wie die formal logifche Methode der Mathematik.

68 Die Zukunuft.

Kann man unter diefen Berhältniffen fagen, beide große Bewegungen, Pandynamismus und Metaphyſik unter dem Einfluß der Mathematik, feien vergebens geweſen? Wie fehr hieße Das Bedeutung und Einfluß großer geiftiger Strömungen verfennen! Mit dem Pandynamismus war eine erfte, allgemeinfte Hypotheſe des Naturzufammenhanges gewonnen, die in den Naturwiflen- fchaften bis heute befruchtenb gewirkt hat. Und die Mathematik gab eben, indem fie fi) aus einem Werkzeug der Debultion in ein folches der Induktion verwandelte eine Ummandlung, die nur unter dem allgemeinen philo- fophifchen Intereffe an ihr fo rafch und entfcheidend einfegte —, den Anlaß zur Maren Entfaltung der Mechanik als der Wifjenfchaft von der thatſäch⸗ lichen Bewegung der Körper: und damit den Anftoß zu der unabläffigen, bi8 heute fortgefegten Entwidelung der pofitiven Naturwifjenfchaften. Denn indem die neue Mathematit das allgemeine Verſtändniß ftetiger Bervegungen an fih wie in beftimmten Berhältniffen zu einander lehrte, war damit die Möglichkeit gegeben, in die Bewegungen der Körperwelt und die ihnen zu Grunde liegenden Gefege forfchend einzubringen: in ber Mechanik wurde durch Stevin und Galilei neben der Statik der Alten jet die Dynamik entwidelt; und Newton verwandte die Kenntniß der nen errungenen Geſetze diefer Dynamik zur Erklärung der kosmiſchen Bewegungen. Und alsbald brachte die Kenntniß diefer Geſetze auch ein neues Reben in die bis dahin willfürlichen Phantafien anheimgegebener Wiffenfchaften der Phyſik und Chemie, deren Aufblühen dann fpäteren Zeiten die Möglichkeit gewährt hat, unter anderen Vorausfegungen in die Erforfchung auch der biologifchen Geheimniffe der Natur einzutreten.

Die Mathematik aber hatte mit diefer außerordentlichen Befruchtung, die von ihr auf die Behandlung der philojophifchen Probleme wie die natur- wiſſenſchaftliche Forſchung vornehmlich des fiebenzehnten und achtzehnten Jahr- hunderts ausging, bie ftoßzeften Aufgaben allgemeiner Art, die ihr zufallen konnten, erfüllt. Sie wurbe feitden langſam immer mehr zu einer Wiſſen⸗ Schaft neben den anderen Wiffenichaften und fpielte Daneben eine befondere Rolle zunächft nur noch in dem Bereich der Naturwiffenfchaften. Es ge: ſchah, indem fie ihre generellen Probleme immer mehr denen der allgemeinen Logik annäherte, ihre Grundlagen erfenntnißtheoretifcher und pfychologiſcher Bearbeitung unterwarf und fie in diefer fchlieklich als nicht in dem Sinne abfolut erkannte, in dem fie die früheren Zeiten des Individualismus ı abfolut betrachtet hatten.

Diefe zweite Bervegung begann ſchon früh. Während nämlich fpeziellen mathematifchen Studien ganz in der zunächſt von der Arithm her erfolgenden Ausbildung der Analyſis aufgingen und darunter die Er widelung der konſtruktiven Methoden der Geometrie vernacdjläffigt wurt begannen die Philofophen allmählich eingehendere Unterfuchungen über b

Pandynamismus. 69

Begriff des Raumes. Und hier hielt man nun anfangs allerdings im Ganzen noch an jenen Vorſtellungen feſt, aus denen heraus ſich die Auffaffung ge: bildet .hatte, daß die Mathematik das Vorbild einer deduktiven Wiſſenſchaft fei, weil in ihr alle elementaren Borausfegungen abfolut gegeben feien: fei e8 nun, daß diefe Elemente, wie Punft, Linie und begrenzter Raum, als eingeborene, ja transfzendente Beſtandtheile unferes Geifles, al3 eine myſtiſche Ideenwelt Hinter der entfprechenden Welt der Erfcheinungen gedacht wurden, fei e8, daß man fie als erfahrungmäßige, durch willfürliche Annahmen ent= ftandene, doh nun fonftant gewordene Abitraktionen aus ben Dingen ber finnlichen Welt entwidelt betrachtete. - Co hat Descartes auf diefem Gebiete noch einen faft platonifchen Realismus gelehrt. So hat Hobbes noch ganz an der Meinung von der willfürlichen Feltftellung der Begriffe feftgehalten. Allein darüber hinaus ging dann fchon Kant. Indem er die Zeit dadurd) in den Bereich diefer Betrachtungen mit einbezog, daß er die Zeitanſchauung durch ihre Verbindung mit der Sategorie der Quantität den reinen Begriff der Zahl vermittelnd dachte, verfuchte er, das angeborene Beſitzthum des Geiftes anf die reine Raum⸗ und Zeitanſchauung zu befchränfen. Inner halb diefer Auffafjung waren ihm die mathematifchen Begriffe dann an fich Ergebnifje reiner Anfhauung, aber zur Evidenz gebracht doch erft durch die Gelegenheiturfachen der äußeren Objefte: fo daß die Anfhauung de3 geomes trifchen Dreied3, an fich apriorifch, doc) erſt durch Anfchauung eines ſinnlich gegebenen Dreied3 ‚in uns hervortreten kann.

"Was bei Sant gegenüber früheren Theorien gewonnen war, war die Auffaffung, daß die mathematiſchen Grundvorftellungen nicht al3 begrifflich im Sinne etwa von Tescartes oder auch Leibniz, fondern als anſchaulich zu verftehen feien. Freilih war diefe Anfhauung nah Sant aprioriſch. Aber bie ſpätere Zeit hat ſehr bald auch dieſen aprioriſchen Charakter aufs gelöft. Auf Grund der Lehren Humes, unter gelegentlichen Zurüdgreifen bis auf Hobbes, wurde der rein empiriiche Charakter der Anihanungen behauptet in der Urt, dag man fie als aus den finnlichen Dingen abftrahirte Hypo⸗ thefen, nicht als Gewißheiten betrachtete. Und der Nachweis hierfür wurde auf unmittelbar anfchaulihem Wege verfucht, inden man jich zu zeigen befivebte, mie im primitiven Bewußtſein durch gedachte Bewegungen eines Bunfteß, "zer Linie, einer Ebene zunächft die geometrifchen Gebilde, auf Grund anderer

orftellungsgänge auch die BZahlenbegriffe als allgemein einleuchtende Hypo— efen entftanden feien. |

So erfhien denn der Charakter der Mathematif als einer abfoluten

ziſſenſchaft gründlich zerftört. Und gleichzeitig begann auch ihre Auffaffung 3 einer befonder3 ficheren, über die Logik hinaus abfoluten Methode dadurch eitigt zu werden, daß man fie immer mehr der Logik felbft einverleibte.

68 Die Zukunft.

Kann man unter diefen Berhältniffen fagen, beide große Bewegungen, Pandynamismus und Metaphyſik unter dem Einfluß ber Mathematik, feien vergebens gewejen? Wie fehr hieße Das Bedeutung und Einfluß großer geijtiger Strömungen verfennen! Mit dem PBandynamismus war eine erfte, allgemeinfte Hypothefe des Naturzufammenhanges gewonnen, die in den Naturwiflen- fhaften bis heute befruchtend gewirkt hat. Und die Mathematik gab eben, indem fie fi aus einem Werkzeug ber Debuktion in ein folches der Induktion verwandelte eine Ummandlung, die nur unter dem allgemeinen philo- fophifchen Intereſſe an ihr fo raſch und entfcheidend einfegte —, den Anlaß zur Maren Entfaltung der Mechanik als der Wiſſenſchaft von der thatſäch⸗ lichen Bewegung der Körper: und damit den Anftoß zu der unabläfiigen, bi8 heute fortgefegten Entwidelung der pofitiven Naturwifjenfchaften. Denn indem die neue Mathematit das allgemeine Verſtändniß ftetiger Bewegungen an fih wie in beitimmten Berhältniffen zu einander lehrte, war damit die Möglichkeit gegeben, in die Bewegungen der Körperwelt und die ihnen zu Grunde liegenden Gefege forfchend einzubringen: in der Mechanik wurde durch Stevin und Galilei neben der Statif der Alten jegt bie Dynamik entwidelt; und Newton verwandte die Kenntniß der nen errungenen Gefege diefer Dynamit zur Erklärung der fosmifchen Bewegungen. Und alsbald brachte die Kenntniß diefer Gelege auch ein neues Leben in die bis dahin willfürlichen Phantaſien anheimgegebener Wifjenfchaften der Phyſik und Chemie, deren Aufblühen dann fpäteren Zeiten die Möglichkeit gewährt bat, unter anderen Vorausfegungen in die Erforfchung aud der biologifchen Geheimniffe der Natur einzutreten.

Die Mathematit aber hatte mit diefer auferordentlichen Befruchtung, die von ihr auf die Behandlung der philofophifchen Probleme wie die natur— wiſſenſchaftliche Forſchung vornehmlich des fiebenzehnten und achtzehnten Jahr⸗ hundert3 ausging, bie ftolzeften Aufgaben allgemeiner Art, die ihr zufallen konnten, erfüllt. Sie wurde feitden langjam immer mehr zu einer Wiſſen⸗ haft neben den anderen Wiffenfchaften und fpielte Daneben eine bzfondere Rolle zunächft nur noch in dem Bereich der Naturwiffenfhaftn. Es ge: fchah, indem jie ihre generellen Probleme immer mehr denen der allgemeinen Logik annäherte, ihre Grundlagen erfenntnißtheoretifcher und pfochologifcher Bearbeitung unterwarf und fie in diefer fhlieglich al3 nicht in dem Sinne abfolut erkannte, in dem fie die früheren Zeiten des Individualismus als abfolut betrachtet hatten.

Diefe zweite Bewegung begann jchon früh. Während nämlich die fpeziellen mathematifchen Studien ganz in der zunächſt von der Arithmetit ber erfolgenden Ausbildung der Analyfis aufgingen und darunter die Ent- widelung der konſtruktiven Methoden der Geometrie vernachläffigt wurde, begannen die Philofophen allmählich eingehendere Unterſuchungen über ben

Pandynamismus. 69

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Begriff des Raumes. Und hier hielt man nun anfangs allerdings im Ganzen noch an jenen Vorſtellungen feft, aus denen heraus ſich die Auffaffung ge: bildet ‚hatte, daß die Mathematif da8 Vorbild einer debuftiven Wiſſenſchaft fei, weil in ihr alle elementaren Borausfegungen abfolut gegeben feien: fei es num, daß diefe Elemente, wie Punkt, Linie und begrenzter Raum, als eingeborene, ja transfzendente Beſtandtheile unſeres Geiſtes, al3 eine myſtiſche Ideenwelt hinter der entfprechenden Welt der Erjcheinungen gedacht wurden, fei e8, daß man fie als erfahrungmäßige, durch willlürliche Annahmen ent⸗ ftandene, doh nun fonftant gewordene Abitraktionen aus den Dingen der finnlichen Welt eutwidelt betrachtete. . So hat Descartes auf diefem Gebiete noch einen faft platonifchen Nealismus gelehrt. So hat Hobbes noch ganz an der Meinung von der willfürlichen Feltftellung der Begriffe feitgehalten. Allein darüber hinaus ging dann ſchon Kant. Indem er die Zeit dadurch in den Bereich diefer Betrachtungen mit einbezog, daß er die Zeitanichauung durch ihre Verbindung mit der Kategorie der Quantität den reinen Begriff der Zahl vermittelnd dachte, verfuchte er, das angeborene Beſitzthum des Geiftes auf die reine Raum» und Zeitanſchauung zu befchränfen. Inner⸗ halb diefer Auffafjung waren ihm die mathematischen Begriffe dann an’ ji) Ergebnifje reiner Anſchauung, aber zur Evidenz gebracht doch erft durch bie Gelegenheiturfachen der äußeren Objekte: fo daß die Anſchauung de geomes trifchen Dreiecks, an jich apriorifch, doch erft durch Anschauung eines finnlich gegebenen Dreieds in uns hervortreten fann.

"Was bei Kant gegenüber früheren Theorien getvonnen war, war bie Auffaffung, daß die marhematiichen Grundvorftelungen nicht als begrifflich un Sinne etwa von Tescartes oder auch Leibniz, fondern als anſchaulich zu verjtehen feien. Freilich war diefe Anfhauung nah Sant aprioriſch. Aber die fpätere Zeit hat fehr bald auch diejen aprioriichen Charakter auf: gelöſt. Auf Grund der Lehren Humes, unter gelegentlihen Zurüdgreifen big auf Hobbes, wurde der rein empirische Charakter der Anfchauungen behauptet in der Art, dag man jie ald aus den finnlichen Dingen abftrahirte Hypo— thefen, nicht al8 Gewißheiten betrachtete. Und der Nachweis hierfür wurde auf unmittelbar anjchaulihen Wege verfucht, inden man jich zu zeigen beftvebte, wie im primitiven Bewußtſein durch gedachte Bewegungen eines Punttes, einer Linie, einer Ebene zunächft die geometriichen Gebilde, auf Grund anderer Vorftelungsgänge auch die Zahlenbegriffe als allgemein einleuchtende Hypo: thefen entftanden feien.

So erfchien denn der Charakter der Mathematik als einer abfoluten Wiſſenſchaft gründlich zerftört. Und gleichzeitig begann auch ihre Auffaffung als einer beſonders jicheren, über bie Logik hinaus abfoluten Methode dadurch befeitigt zw werden, dag man fie immer mehr der Logik felbft einverleibte.

70 Die Zukunft.

Die Entwidelung vollzog ſich hier fehr einfach von dem Momente her, daß bie Geometrie und Arithmetik feit dem fechzehnten und jiebenzehnten Jahr— Hundert in die eine allgemeine Mathematik der Größen verwandelt worden waren. Bon hierher war es leicht, falls die allgemeinen Borausfegungen dazu fonft ſchon im Denken ber Zeit enthalten waren, aus der intinften Ber— ſchmelzung der Zahlen: und Ausdehnunglehre eine abjtrafte Mannichfaltig- teitlehre oder Lehre von den Formen hervorgehen zu laffen. Es geihah im neungehnten Jahıhundert, nachdem feit der verhältnigmägigen Volendung der Analyis im achtzehnten Jahrhundert und in Folge ber Impulfe der philo— ſophiſchen Studien über den Charakter des Raumes eine neue Blüthe . der Geometrie eingetreten war: fo daß Analyſis und Geometrie, nun etwa auf gleicher Höhe der Entwidelung ftehend, ganz beſonders wiederum zu eimer weiteren Integration der ihnen zu Grunde liegenden Begriffe aufforderten. Zudem aber, feit ben vierziger Jahren etwa des neungehnten Jahıhunderts, diefe abitrafte Mannichfaltigkeitlehre durchgebildet ward, erſchien der Ueber— gaug der mathematifhen Wiffenfchaft in den formalen Theil der Logik vollzogen. Reipzig. Brofefjor Dr. Karl Lampredt.

I), 2

Dr. Miranda in Ronftantinopel.

Ss Sultan, Barend, it zweifellos der ärgite aller Tyrannen. Verſuche nicht, ihm zu vertheidigen. Wenn Du erfahren haben wirft, wie er mid verfannt und erniedrigt hat, wie er Du magſt Did) darüber wundern, aber ich I hwöre Dir, daß es die Wahrheit ift ſich geweigert hat, mir die dreitauſend türkischen Pfund auszuzahlen, die wir als Honorar vereinbart hatten, bann wirft Du fiherlid meine Verachtung teilen.

Es war im Jahr 18.., als mid) die Hohe Pforte aufforderte, eine Woche vor den großen Faſten nad) Yildiz-Kiosk zu kommen, um mich dort mit dem Leibarzt zu berathen. Ich hatte mid in Konftantinopel in dem europäiſchen Biertel als Arzt niedergelafien, aber ic kümmerte mich wenig um meine Praxis, da ich es mir zur Aufgabe geftellt hatte, die Hunde zu ftudiren. Die Hunde find dort die großen Stadtreiniger; allen Schmug und allen Abfall, ber auf die Straße geworfen wird, ſchlingen dieſe Thiere herunter; und ich begann : zu unterfuchen, wie es kam, dag fie nicht frank wurden durd Stoffe, die, in menſchlichen Magen verpflanzt, unmittelbar tötli wirken würden. Nach vi Experimenten entdedte id, daß nicht der Magen, jondern die Yeber und nameut die größere Abſcheidung der Galle bei den Hunden die Urſache Hiervon ift. Galle ift ein antifeptifches Mittel, die Gallenblafe ber große inwendige T infeftion-Apparat in den thieriſchen Irganismus und nad) meiner Erfah

Dr. Miranda in Konftantinopel. 71

find bie meiſten Magenkrankheiten auf eine ſchlecht funktionirende Leber zurüd: zuführen. Die offizielle Wiffenfchaft erkennt Das nit an. Das ift ja auch nicht weiter wunderbar. Du verftehit: werm die Aerzte die Magenkrankheiten in ein paar Wochen durch eine rationelle Leberbehandlung Furiren könnten, fo müßten fie auch ihre Liquidation entſprechend verringern; und Das kannſt Du mir glauben, mein lieber Barend: die gewöhnlichen Aerzte jind kaum etwas Belleres als Nezepthändler. Je mehr Die Einem anfchmieren können und je theurer, deſto beſſer. Mein großes Werk über die Galle wirft Du in meinen Papieren finden, wenn ich mich dem großen, ftillen Freunde Aeskulaps, dem Bruder Tod, anvertraut haben werde, und ich denke ſchon jeßt mit Freude an all die Seniffe, die der Verleger anwenden wird, um meinen Erben das Honorar zu kürzen. Barend, Dir ertheile ich den Auftrag, einen Verleger ausfindig zu machen, ber jein ach durch und durch verfteht. Welche erhabene Rache nehme ih dann an meinen Erben, indem ich fie einem Verleger ausliefere! Sie follen wiſſen, daß fie mich Zeit meines Lebens verkannt haben all die lieben Nichten und Neffen! Sie jollen von meinem Ruhm hören und doch nicht den geringiten _ materiellen Vortheil daraus ziehen können.

Alſo ich ging nad Yildiz Kiosk und wurde vom Sultan in perfönlicher Audienz empfangen. Der große Herr am Goldenen Horn hatte erfahren, mit wie leb- haften Intereſſe ich das Treiben der Hunde beobachtete, und darauf den Wunſch geäußert, mit mir über den Gejundheitzuftand der Frauen feines Harems zu ſprechen. Drei feiner Favoritinnen waren an den Pocken erkrankt, und obgleich es jeinem Leibarzt ZI Mahommed Gazan gelungen war, ihnen das Qeben zu erhalten, waren die drei Frauen doc pocdennarbig geblieben. Wie fehr der Sultan auch bie Heilfunft feines Leibarztes bewunderte: er wollte die drei Favoritinnen nicht mehr im Harem dulden und Hatte fie deshalb an feinen erjten Dinifter, feinen Stantsrath und feinen zweiten Schapmeifter verheirathet. II Mahommed Gazan, der neue Pockenfälle und befonders auch neue Verheirathungen fürchtete, da er fetbft noch unverheirathet war, hatte dem Sultan von meinem großen Wiſſen ge» iprocden. Das hatte mir die Ehre der Audienz verichafft.

Ich ſchlug dem mächtigen Beherrjcher der Gläubigen vor, die Frauen in jeinem Harem impfen zu laſſen. Dieſer Vorſchlag leuchtete FI Mahommed Bazar ein und der Sultan gab feine Zuftimmung. Bis jebt hatte aber noch niemals ein Giaur, ein verächtlicher Franke, die Schwelle des Harems überjchritten und der Sultan wollte mir den Zutritt nur unter einer Bedingung geftatten, die ich nicht zu erfüllen wünſchte. Ich beitand darauf, zu den Frauen gelaffen zu werden. Ich will es nur ehrlich geftchen: meine Neugier trieb mich dazu, dieſe »ußergewöhnliche Gelegenheit nicht unbenutzt vorübergehen zu laſſen. Langwierige Interhandlungen folgten. Die türkifche Diplomatie, die wegen ihres pajjiven

iberftandes berüchtigt ift, wandte alle Mittel an, die ihr zu Gebote ftanden, a mich zu bewegen, die ‚srauen zu impfen, ohne den Harem zu betreten. nfangs wünfchte man, ich olle einen der Eunuchen das Impfen Ichren, ihm e Lymphe verjchaffen und dann die Impfung überwachen. Ich antwortete, daß h mich alg Arzt weder für die Zolgen noch für die günftige Wirkung der Impfung nerbürgen fönne, wenn ich die Patientin nicht felber fähe und unterjuchte. Darauf teilte man mir mit, die rauen würden verjehleiert und mastirt, jede unter

12 Die Zulunft.

der Aufficht von zwei Eunuchen, eine nad der anderen zu mir fommen, um ım meinem Haufe geimpft zu werden. Den rauen follte bei Todesitrafe verboten fein, vor, während oder nad der Operation ein Wort zu fpredden. Ich weigerte mid) abermals und betonte, daß ein Arzt, der keine Gelegenheit habe, ſich mit feinem Patienten zu unterhalten und ihm Fragen zu ftellen, auch nicht berechtigt fei, irgend eine Berantwortlichfeit zu übernehinen.

Endlid wurde mir die Erlaubniß ertheilt, ragen zu jtellen; aber die rauen follten verfchleiert bleiben. Ich antivortete höflich, aber beftimmt, daß ich ihre Zungen ſehen müffe, um mich von ihrem allgemeinen Geſundheitzuſtand zu überzeugen und die Stärke und die Quantität der Lymphe danach einzurichten.

Die Zunge wurde geitattet. Man würde in den Schleier eine kleine Oeffnung maden, durch die fie die Zunge jtreden könnten. ch antwortete, Das genüge mir nicht; ich müfje den Puls fühlen und, falls es fi als nöthig erweife, die Patientin auch auskultiren. Deshalb erbäte ich die Erlaubniß, die Patientin ji) fo weit entkleiden zu laflen, wie e8 mit den Forderungen Der Wiſſenſchaft, der jtrengen, ernjten, heiligen Wiſſenſchaft, die nicht ınit beichräuften Begriffen von Sitten und Sittlichkeit rechnen fönne, in Einflang zu bringen jei. Darauf wurden die Unterhandlungen abgebroden. Aber nur ſcheinbar. Ich kannte die türkifche Diplomatie, that, als müſſe ich auf meinen Yorderungen beftehen, und fuhr fort, Hunde zu vivifeziven.

Da bekam ich, nad) Ablauf von zwei Monaten, ben Bejud des Groß—⸗ veziers, der mir hundert türkifche Pfund bot, falls ich die Unterhandlungen wieder aufnehmen wolle. Entrüſtet fchidte ich den Dann fort, nachdem ih ihm mitgetheilt hatte, daß wir europäifchen Aerzte zu hoch ftänden, um uns anf „Bakſchiſch“ einzulaffen. Acht Tage darauf kam der erfte Schagmeifter zu mir und bot mir dreihundert türfiiche Pfund, falls ich mich zu der Impfung ent- Ichließen wolle. Auch diefen Großwürdenträger feßte id an die Luft, wo er feinen Bakſchiſchantrag noch auf fünfhundert Pfund erhöhte. _ ch wunderte mich nicht über diefe Freigebigkeit, da ich wußte, daß es einem türkiſchen Cchaß- meifter auf ein paar hundert Pfund mehr oder weniger nicht anfommt; er ftedt feine Hände eben ein Bischen tiefer in die Tajchen der Steuerpflicätigen. Aber ihon am nächſten Tage erſchienen brei andere Großmwürdenträger bei mir, der Reis Effendi, der Kiafa Bey und der Terjom Emini, die mir Bakſchiſch an- boten, wenn ih nur impfen wolle.

- Bis jeßt Hatten fie mir Alle bei dem Barte des Bropheten geſchworen, fie fümen aus eigener \\nitiative; doch der Bart des Propheten ijt lang und ſtark und bei dem erjten Meineid eines Gläubigen fällt ihm noch fein Haar aus. Ich vermuthete, der große Padiſchah habe feinen ganzen Divan beauftragt, mir cinmal tüchtig auf den Zahn zu fühlen. Dann, nach drei Monaten, befam ich ben Befuch von Il Mahommed Gazan ſelbſt und der würdige Gelehrte ſagte mir, warum al die hohen türkiſchen Autoritäten ſich um ein ſo verächtliches Weſen, wie ein fränkiſcher Arzt es iſt, ſo eifrig bemüht hatten. Die Pocken waren wieder im Harem ausgebrochen. Il Mahommed Gazan hatte die Patientinnen geheilt, aber fi waren pockennarbig geblieben und wiederum hatte der Sultan fie an feine Staat$ beamten verheirathet, Die aber waren von ber hohen Ehre nur halb entzüdt. Eine Schönheit aus dem Harem des Großherrn war ihnen in normalen Beiten

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Dr. Miranda in Konftantinopel. 73

höchſt willkommen; jeßt aber jchien es fait, al3 jollten alle eriten Staatsbeamten mit einer blatternarbigen befjeren Hälfte beglüdt werden. Die Bejuche der Be- Stecher waren die legten Verſuche Verzweifelnder gewejen, die der bedenklichen Ehre, Gatte einer blatternarbigen Sultan⸗-Favoritin zu werben, gern entgehen wollten. Jetzt würde Il Mahommed Sazan jelbjt an die Reihe fommen. Cr hatte den furchtbaren Augenblid jo lange wie möglich hinausgeſchoben, denu in dem Reich des Bosporus weiß ınan nichts von platonijcher Philofophie und der . Sultan verlangt, daß man dur eine große Nachkommenſchaft beiweife, wie un- gemein man die hohe Ehre ſchätze, eine Frau zu befißen, die er einjt in Gnaden auserlor. Il Mahommed Gazan, der rathlog war, hatte ſchon ſechs an ben Boden erfranfte Harenisfrauen, die, falls fie geheilt würden, ihm al3 Gattin zugewiejen werden follten, dem großen ſtummen Freund aller Aerzte als ewige Braut ge: ſchenkt; fo aber ging es nicht weiter. Man ift nämlid im Reich des Halb: mondes praftifcher al3 in dem angeblich praftifchen Abendlande. Für jeden Patienten, der unter den Händen des Leibarztes bleibt, wird ihm ein Theil jeines jährlichen Gehaltes abgezogen; und wenn in einem „jahr fieben Batienten fterben, verliert der Arzt feine Stellung und ihm wirb verboten, künftig über- haupt noch zu praftiziven.. Es wäre im Intereſſe des Allgemeinwohles zu wänfchen, daß diefe nüglihe Einrichtung auch in Europa Eingang fände, Der Leibarzt fiel mir zu Füßen und fichte mich an, id; möge doch nachgtebig jein und ihm helfen. Als äußerſte Konzejfion ‚würde der Sultan mir die Erlaubniß gewähren, die Operationen in den Räumen des Harems zu vollziehen. Die Frauen würden hinter einem Vorhang jtehen und mir ihre Arne, Beine und was ich fonft noch zu fehen für nöthig eradhtete, durch eigens dazu angebrachte Oeffnungen zeigen. Der Arzt folle meine Fragen und ihre Antivorten übermitteln und mic über den Allgemeinzuftand der Patientinnen unterrichten.

‚Und wenn ich mich weigere?‘ -

Der türkiſche Arzt feufzte tief und fagte dann: Nur eine Frau ift noch übrig, die ich zu behandeln habe; wenn ich troß allen Hilfsmitteln meiner Wiſſenſchaft auch Diefe der graufamen Umarmung bes Todes nicht zu entreißen vermag, aljo aud nicht der hohen Ehre theilhaftig werden kann, fie zu um— armen, die einft die Ehre hatte, vom Sultan mit Wohlgefallen angejchaut zu werden, dann werde ich ſchmählich weggejagt und die erfte geheilte Rodenfrante der neuen Siebenzahl wird meinem Nachfolger als Gattin zugemwiefen. Und ich fürchte fehr, daß es mir nicht glüden wird, die fiebente Patientin zu heilen.‘

Hier Stand aljo das Leben einer rau auf dem Spiel. ch habe, troß meinem Beruf, wie feltfam es Dir auch erjcheinen mag, mir eine große Ehrfurcht vor dem menjchlichen Leben bewahrt und glaube, daß meine Stollegen mir gerade deshalb immer einen Stein in den Weg gelegt und mich gefchmäht haben. Hier galt e8, ein Menschenleben zu retten, und jo gab ich denn nad).

Wiederum arbeitete ich einen Bericht an den Sultan aus und erhielt darauf die Erlaubniß, unter den Bedingungen, die SI Mahommed Gazan mir mitgeteilt hatte, die srauen im Harem zu impfen. Am fejtgefeßten Tage ers ſchien ich iu Yildiz Kiosk, wurde nach den Daremspaläften und dort in einen Raum geführt, wo ein großer Teppich hing, der mit Löchern der verfchiedenjten Größe verjehen war. Die erfte Frau ftedte ihre Zunge durch eins der Fleinften

174 Die Zukunft.

Löcher. Es war eine große, ſchwarze, dide Zunge und id empfand nicht die geringfte Neigung, noch mehr von einer Frau zu fehen, die eine ſolche Zunge Batte. Durch das felbe Loch zeigte jie mir einen Fleinen Theil des Armes; td ſtach mit meiner Yancette die nöthige Anzahl Köcher hinein und impfte dann. Die zweite Frauenzunge und der Zweite Frauenarm waren nicht weniger häßlich. Bei der dritten Frau wünfchte ich, einen Theil der Hüfte zu fehen. Bor einem ber größeren Löcher wurbe ein kleiner Theil der Hüfte gezeigt, einer fehr plunzpen Hüfte; ich lernte die Verzweiflung der unverheiratheten Staatsbeamten all» mählich begreifen. So häßliche, ungrazidfe Weiber, und noch podennarbig dazu: die Ehre einer ſolchen Verbindung ward wirklich) gar zu theuer bezahlt.

Sp wurden mir zwölf Frauen gezeigt; richtiger: zwölf Zungen, zwölf eine Theile des Oberarms oder der Schulter oder der Hüfte, Fl Mahommed Gazan wandte den Blick nicht von mir. Er verfolgte alle meine Bewegungen; und als ich fpäter heimkam, bemerkte ih, daß man mir vier mit Lymphe ge- füllte Glasröhren entwendet Batte.

Am nädjiten Morgen theilte mir Sl Mahommed Gazan mit, daB meine Dilfe nicht mehr verlangt werde, da er Tünftig bie erforderlichen Operatiouen felbft vornehmen werde. Der Schurke Hatte mir die Handgriffe abgefehen und meine Lymphe geftohlen. Sofort eilte id zum Sultan und befchwerte mid.

„Hm', fagte der Sultan; ‚glaubft Du denn, daß Du mit Deinen Augen, den Augen eines fittenlofen Franken, jemal3 meine Frauen anjchen burfteft? Deine Blide würden fie entmeihen.‘

‚„Großmächtiger Herr‘, antwortete ih, „ih Habe do ſchon mehr von ihnen gefehen als jemals ein Franke vor mir.‘

‚Du irrſt! Du haft hinter den Teffnungen des Teppich® nicht meine Frauen gejehen, nicht einmal ein Atom ihrer jchönen weißen Leiber. Hinter dein Teppich ftanden meine Eunuchen. Du Haft ihre Zungen gejehen, in ihre Hüften, Arme, Schultern gejtochen ... Lind jegt gehe Hin, verlaffe diefe Stadt binnen des Etmals oder der neue Mond wird Dich jehen, wie Du Dich felbft noch nie geichen haft: ohme Kopf. Du verdientejt eine harte Strafe, Unmilfender Tu, der eine Mänmerzunge nicht von einer Frauenzunge zu unterjcheiden vermag. So hat doch endlich eine vsrauenzunge etwas Gutes bewirkt, freilich nur, weil fie eben nicht da war: fie hat Deine Unwiſſenheit offenbart. Aus meinen Yugen, der Du glaubjt, ein Sultan könne Frauen lieben mit Zungen, Arınen, Schultern und Hüften, wie die find, die Du geimpft haft!“

Das ift der Grund, Barend, warım ich Konjtantinopel verlaffen mußte. Wahrlih: die türkiſche Diplomatie ift ducchtrieben; denn glaube mir, die eigent- liche Urfade, warum der Sultan mich fortjagte, war nicht meine geringe Meinung von jeinem Geſchmack im Punkte der Liebe, nein: da er mich fo ſchmäpte aus feinem Neid) trieb, Fonnte er viertaufend Pfund Honorar in der Tafche halten. Nicht bezahlen, was man ſchuldig ijt: Das, mein junger Freund,

im runde der Endzwed aller Diplomatie..."

An jenem Abend jprachen wir nicht mehr viel, fondern leerten nur fchmei,

unſere Gläſer, er, der große Verkannte, und ich, der große Vertraute. Paris. Bernard Canter

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Der Krach des Kunſtgewerbes. 75

Der Krach des Kunſtgewerbes.

SL: harten und ehrlichen Worten foll eine Angelegenheit deuticher Kultur hier angefaßt werden, die von der allergrößten Bedeutung für die Ent- widelung unferer Lebensformen ift: die Zukunft des deutfchen Kunſtgewerbes. Allzu Tange haben fih die Kritifer begnügt, Ausstellungen und den Darbietungen einzelner Künftler gegenüber ihre Stimmungen jpielen zu laſſen, Agitatoren eines neuen Stils zu fein, Propheten, die um der Zukunft willen die Gegen- wart vergefien. Nun hat fi ein Schickſal erfüllt, das zwingt, die vagen For— men des Aefthetifirens zu verlaffen und fid, auf die Gefahr, dem Einen oder .bem. Anderen ein flüchtiges Unrecht zu thun, mit den unerhörten Schäden der neuen Bewegung zu befaſſen. Denn nur fo jcheint es möglich, ben großen Banferott der beutjchen deforativen Kunſt, der in einigen Jahren nicht mehr zu verhüten wäre, abzuwehren. Daß unfere neuen Lebensformen cinen neuen Rahmen brauden, daß wir bie Hiftorifchen Masteraden unferer Woh— nungen nicht mehr ertragen können, daß die Errungenjchaftern der Maler: revolutionen in ben legten Jahren auch im Hausgewerbe wirkſam, daß nad japaniſchem Borbilde die Gegenftände täglichen Gebraudes von Kunſt durd) fegt werden müſſen, daß es Feine Kluft mehr zwifchen Kunft und Leben geben darf: das Alles Hat Jeder von uns unendlich oft gejagt. Schon ift man vers fucht, fich wieder auf den ariftofratifchen Charakter der Kunſt zu befinnen und, wie es ja auch in England gefchieht, mit einiger Geringihägung auf Ruskins Ideen von einer Veredlung des ganzen Lebens, des ganzen Volfes herabzujehen. Es ift betrübend: nun, da aus dem großen Gelächter, das die herrfchenden Keünftler dem neuen Kunſthandwerk noch vor einigen Jahren entgegengejegt haben, nur eine große Mode geworden ift, da der neue Stil, l’art nouveau, new style, Sezejlion oder wie man das Ding beim faljchen Namen nennen nennen will, „in den allerweiteften Streifen“ ſich durchgeſetzt hat, nun find wir glüdlich jo weit, daß die Beſten des Volkes, die Beten der Künftlerichaft fi) von dem Unfug zurüdzuziehen beginnen, den Snobs, der Mode das Feld überlaffen; und in wenigen jahren werben die grünen Möbel, bie hellfarbigen Stoffe, die neuen Metallgeräthe in den Minfeln der Ramfchbazare ftehen. Geht man heute durch die Fäden, die fi mit beim neuen Gewerbe be- faflen, fo Friftallifirt fi bald aus dem erſten Eindrud einer übermältigenden Fülle die Erfenntniß heraus, daß unter all den ſchönen Dingen nichts Deutjches ift. Ich weiß: folche Berallgemeinerung ift ungerecht. Ich weiß, daß Männer wie Otto Edmann, Hermann Ohrift, Berlepfch, Pankok und Riemerſchmied nicht eins al die Einzigen find, mit denen man zu rechnen hätte. Aber ich weiß aud), daß ie Werfe diefer Männer im Betriebe nicht3 bedeuten gegen die IImmenge aus: ‚ezeichneter franzöfiicher, englifcher, amerifanifcher und öfterreichiicher Chjekte md gegen den ungeheuerlichen Sram deutſcher Ramſchwaare, imitirten und ge tohlenen Zeugs, das die minder Bemittelten als „neue Kunft“ kaufen. Die Dinge liegen heute fo, daß dem Bedürfniß des Publikums, ſich mit Objetten, ie aus der neuen Bewegung hervorgegangen find, zu umgeben, eine ſtarke Zahl on Rünftlern entfpricht, daß eine Luft am Neuen amd, fchäßt man nach manchen Infängerarbeiten und dem Andrang zu den Gewerbeihulen, auch eine pro: ktive Zeit für teimende Talente gefommen iſt; und dennoch der Zuſammenbruch.

76 Die Zufunit.

Ich Ipreche hier namentlich von Berlin. In anderen Yändern und Städten find die Entwidelungen langſam vor fich gegangen. Die amerikaniſche Betrieb ſamkeit der großen Stadt hat viel verſchlechtert; fie hat aber au das Gute, daß man mit Elaren Augen die Gefahren ber Entwidelung vorausfegen Tann. Bor’einigen Wochen hat ein flinfer münchener Zournalift ein Bud über Münden als Kunftitadt von den verjchiedenften Berufenen und Unberufenen zuſammen interviewt und ſich darüber Belchrung zu Ichaffen bemüht, ob denn Berlin nun wirklich nächitens den Rang Münchens einnehmen werde. Aus den verjhiedenen, mehr oder weniger ımehrlichen Antworten jcheint mir nun das Eine herauszu⸗ Elingen: es ift unleugbar, dat Berlin eine Centrale des Berfaufes und aljo bes Berfehres wird. Das darf man nicht unterfchägen. Die Vereinigten Werk⸗ ftätten in München, die bei allen Fehlern der Organijation und bei aller Aermlich- feit und Einfeitigfeit mancher ihrer Bemühungen bennoch eın gutes Nivean halten konnten und vor Allem einen Künftler wie Hermann Obrift eine wenn auch beichräntte Schaffensiphäre gaben, find doch ſchon dadurch an einer weiten Wirkjamfeit gehindert, daß gar fein Kaufbedürfniß vorliegt, daß einer Produktion von anftändigem Rang ein lächerlich geringer Verbrauch gegenüber steht. In Berlin liegen die Dinge jet nody anders. Noch leben wir in der Beit, da die Rahmenmacher und Blumengeichäfte mühlame Modernität zur Schau tragen und die Staufhäufer von Keller & Reiner und Hirſchwald mit riefigen Umlägen arbeiten. Fragt man aber nad den Erzeugern der Waare, die ba verſchleißt wird, fo fehlen die Berliner. Niemand bemüht ſich um fie; die wenigen guten Leute, die da find, befommen feine Aufträge und der vielgerühmte deutſche Patriotismus drüdt ſich Hödjiteng darin aus, daß man das Fremde beſchimpft, während im Lande ſelbſt nichts geichaffen wird.

Steht man nun aber davon ab, daß in Berlin ſelbſt wenig Seit Eckmann ſchwer darniederliegt, fajt gar nichts geleiftet wird, fchiebt man überhaupt für einen Angenbli die ganze Frage des Urfprungs bei Seite und befümmert fih nur um den abjoluten Werth Deffen, was in Berlin gefauft wird, fo faltet man traurig die Hände. Ich fürdite, Alle, die jeit Jahren im Kampf um bie neue Kunſt ftanden, werden die Beit noch erleben, da die Geſchmackvollſten fi wiederum italienijche Rengiſſancezimmer nad) hiftorifchen Vorbildern getreu fopiren laffen werden, weil es unmöglich wird, ohne den ftärkften Aufwand von eigener Zeit und Kraft ein anftändiges Stüc neuen Kunſthandwerkes zu erlangen. Eine erichredende Armjäligkeit der Horınen und Motive beginnt einzureißen. Jede Linie wird totgeheßt, jedes DOrnament, das aus dem Charakter der tertilen Kunſt, um ein Beilpiel zu nennen, herausgewachien ijt und da feinen Werth Hat, wird von plumpen Händen aufgegriffen, äußerlich als Ornament Erzeugniffen fremdr- Techniken aufgeklebt, und jo geht das Werthvollſte an ber ganzen netten Sun allmählich verloren: die Ehrlichkeit. Yählt man dann aber zufammen, was Europa und Amerika in den legten Jahren geleiftet worden ijt, jo kommt me zu dem Ergebniß, es fei ungentein viel. Fragt man im Beſonderen nad) be Entwickelungfähigkeit, To Icheint eine reiche Möglichkeit gegeben. Doch forſch man in ſich nad den Doffnungen, die, wird es nicht anders, in Deutjchlend fü. den neuen Stil vorhanden find, fo wird man recht traurig.

Hier fünnte man mir einen Widerſpruch vorwerfen; die Leute vom Fa

Der Krach bes Kunftgerverbes. 77

fogar einen doppelten. Sie werden fagen: das Alles find ja nur die Ergebniffe ‚einer mangelnden Straft, die Kampfzeit zu überftchen, einer Unficherheit. AU dieſe Schredinifje gab es in jeder Zeit neuer Stilbildung. Und mit einem Lächeln über den Thoren, der jo pejjimiftifcde Töne anfchlägt, werden fie mir entgegen- - Halten, daß ich ſelbſt jehr oft in den vergangenen Jahren von ber fünftlerifchen Kraft diejes oder jenes Menfchen geſprochen Habe und dab ich auch zu Denen gehöre, die immer: wieder den neuen Stil propagiren. Der Schein des Wiber: ſpruches ift ſchnell befeitigt. Die Künſtler unterfchägen die Wichtigkeit öfonomifcher Bragen. So lange es galt, Forderungen zur allgemeinen deenntniß zu bringen, Borurtbeile zu zerjtören, konnte der Stritifer jeden Anſatz freudig begrüßen und über Abweichungen vom Wege mit leifen Worten hinweggehen, da ja das erfte Biel war: die Grundzüge der neuen Art zur Geltung zu bringen. Das ift nun geichehen. Test aber bedrängen uns neue Sorgen.

Es war von Anfang an ein Irrthum einiger Künftler, zu meinen, baß man einen tienen Stil aug einer Erfenntniß des Intellektes, aus einer fünft- leriihen Sehnſucht heraus mit Bewußtſein jchaffen könne. Ein Stil bildet ſich; aus taufend Darbietungen, aus hunderttaufend Emanationen ber Fünjtlerifchen Kräfte einer Zeit bleiben die ftärkiten beftehen, werden die Träftigften in den alten Formenſchatz einverleibt, ſetzen fih durch. Was das Weſen eines Volkes in einer beſtimmten Zeit am Stlariten ausdrüdt, Das gilt al8 der Stil biefer Beit und herrſcht dann weit über dieje hinaus durch feine fünftleriichen Potenzen. Deshalb find die franzöfiiden Stile fo lange auch in anderen Ländern herrſchend geblieben. Richtig Hatte man erkannt, e3 jei widerjinnig, ein Leben von elektrijcher Behendigkeit und moderner Nervofität in einem Zimmer zu verbringen, deſſen Zuft der Hauch vergangener Jahrhunderte ummwitterte. Das wußte Goethe hun, als er zu Ederinann jagte, daß die Mummereien folder ardaijirenden Wohnungen von der verderblichften Wirkung jeien; denn da fi der Menſch au eine falfche Umgebung gewöhnt, neigt er auch dazu, feinem Gharafter Masferaden zu ge: ſtatten. So war es ficherlich gut, daß wir am Ende des neunzehnten Jahr— hunderts jagen durften: Jedes Land muß feinen Stil haben, jede Generation ihren bejonderen künſtleriſchen Ausdrud, das Leben jedes Standes feine Räume und jeder eigene Menſch fein eigenes Interieur, das fein Weſen, feine Stimmung, feine Bejchäftigung eben verlangt. Und zu dieſer Forderung faın eine zweite: der Anſpruch auf Ehrlichkeit des SKunfthandmwerkes. Der Bau eines Geräthes follte fihtbar, fein Diaterial mehr verfälfcht werden, aud im Detail jollte nichts Unehrliches mehr den Menſchen umgeben. So entjtand die Schönheit der Werkform; und Künftler, deren Weſen fonft den größten Gegenfaß bildeten, idealiſtiſche Engländer und ſchwärmende Franzoſen, reichten dem fanatijchen Belgier Ban de Belde die Hand. Die Entdedung der Farbe war das dritte Clement der Frucht: barkeit. Wir wagten, eine Volkskunſt zu fordern. Wir wollen fic noch Heute. Bücher über die Nenaiffance unjerer Zeit wurden geichrieben; vage Prophezeiungen ohne das leiſeſte Fragezeichen. Von Zeit zu Zeit ficht man die Abbildungen bortreffliher Wohnräume von dem und jenem Architekten und Maler für einen anderen Architekten und Maler oder einen Millionär angefertigt. Cine populäre Kunſt aber giebt es nicht. Aber jelbft wenn man die nur allzıı beredtigte

78 Die Zukunft.

Forderung nad} einem Stil für den Arbeiter unb den Fleinen Dann einen Augen- blick lang vergißt und nur fragt, ob wir denn auf dem Wege find, ein neuer Kunfthandwerk für den Bürgerftand zu befommen, fo fällt die Antwort vers neinend aus. Man gehe nur einmal in die Gefchäfte, die in Berlin moderne Möbel ausftellen, und frage nad) den Preifen. Man erkundige fi bei irgend einem Meuſchen mittleren Vermögens nad den Erfahrungen, bie er gemacht Bat, als er ein modernes Zimmer haben wollte. Ungeheure Preife wurden ihm abver- langt; und ſchließlich hat er beim guten Fabrifanten ein Kompromißzimmer beſtellt.

Das Weſentlkchſte an der ganzen neuen Bewegung war, daß aus billigem Material durch Fünftleriiche Linien und formen, durch lichte Karben Gutes ge ſchaffen werden follte. Die beften Werke diefer neuen Bewegung zeichnen ſich dadurch aus, daß jie einfach und fpottbillig erzuftellen find, Die neue Bau- form hat in vielen Fällen die Kiftentifclerei zum Vorbild genommen. Man arbeitet nicht mehr mit ſchweren Füllungen, fondern mit leichten Wänden; bie neue fonftruftive Technik hat nicht nur gragidfe Linien gebracht, fondern auch die Möglichkeit, der Berjhwendung bes Material ein Ende zu machen. Und hier fing bie Unehrlichkeit an. Diefe mit ben Billigften Mitteln berzu- ftellenden Objekte wurben fünftlich vertheuert. Die dünnen Seffel kofteten mehr als die ſchweren Renaiffance-Stühle, die leichten Papiertapeten, in unferer Zeit des vervollfommneten Yarbendrudes um ein paar Pfennige herzuftellen, mett- eiferten im Preis mit den ſchwerſten Erzeugniffen ber Renaiſſance. Die Folge blieb nicht aus. Die Händler felbft, von der Unſicherheit der Preife, die der Erzeuger forderte, beirrt und verleitet, nannten ihren Kunden wieder Märchen preife. Das Publitum verlor vollftändig die Schägung, wußte nit mehr, ob es übervortheilt fei oder nicht, und kam ſchließlich man Tann es ihm nicht verübeln auf den Verdacht: Das Alles fei Spielerei, ein Luxus, nichts, was wirklich mit der Geftaltung unſeres Lebens zu thun hat.

Ich will die Schuld nit den einzelnen Fabrikanten und, Händlern zu« ſchreiben, trogdem die Meiften von ihnen ſchlimm gefünbigt haben. Die un- folide Preisbildung ift nicht nur die Folge maßlofer Gewinngier, fondern auch einer thorichten Axt, zu probuziren und Geſchafte zu machen. Die wigtigften Grunb« füge des modernen Kunſthandwerkes wurden mißverftanden und mißbraudt. Die Maſchine wurde verachtet; und gerade fie follte dod dem neuen Stil den Sieg erobern. Zu allen Zeiten gab es eine Amatenrleidenfchaft, bie bie plöco unique, den nur in einem Cremplar vorhandenen Gegenftand, befonbers hoch fdäpte. Solche Schätzung eines Kunftgegenftandes, an bem noch die Hand des Meifters ſichtbar ſcheint, iſt durchaus berechtigt. Es hatte feinen guten Sinn, wenn man einem Glas Tiffanys oder Gall&s nachrühmte, fein zweites habe die felbe Form. Denn damit war gefagt: nur durch eine befondere Verbindung von Kunſtfertig - feit und Zufall entfteht ein bejonderer Gegenftand, Es ift auch nit un nünftig, wenn Einer jagt: Ich will nicht, daß meine Einrihtung in cin ‚zweiten Eremplar angefertigt wird und irgend einen anderen Menſchen die denn mein Zimmer iſt ein jo getreuer Ausdrud meines Wejens, daß es eir Anderen gar nicht dienen kann, daß es für ihn eben fo fehr Mummenfchanz ı Viaskerade ift wie für unfere Zeit im Allgemeinen der Rokokoſtil. Eine T beit aber ift es, dieſes Prinzip aus Geſchäftsgründen, um bie Preife zu ftci,

Der Krach des Kunſtgewerbes. 9

nun auf jeden‘ Gegeinftand anzuwenden. Wenn c8 von einer Bronze, die nad einem fertigen Modell gegofjen und faft immer von fremder Hand cijelirt wird, heißt, fie müſſe mehr foften, denn fie folle nur in zehn Exemplaren vorhanden fein, fo wird die Inwifjenheit des Käufers mißbraucht und nicht Kunſtgeſchmack, ſondern Proßerei gezüchtet. Aber jeder Händler verfichert, er müſſe, wenn zwei oder drei Stüde verfauft find, ein neucs Modell haben; und jo wirb ber Preis, da ja bie Herſtellung des Objektes fehr theuer ift, unfinnig hoch. Und eine zweite Folge ergiebt fich fofort. Der Erfinder ift nicht reich genug, um immer Neues produziren zu lünnen. So wird ein Motiv unzählige Male verwerthet; geringe Barianten werden gemacht, die Koften zwar erhöht, das Ergebniß aber nicht verbeflert und jtatt einer guten Form beherrſchen den Markt zehn fchlechte. Das ift der Nachtheil für das Publikum; auch für den Künftler bleibt er nicht aus. Der Yabrifant fommt allmählich zu der Anficht, daß es mit ber Phan- tafie und den Einfällen ber Künftler nicht jo weit ber ift; er läßt fi, mit ber eigenthümlichen Gefchäftsmoral, die wir troß Patenten und Muſterſchutz nod immer haben, von irgend einem kleinen Zeichner feine Vorlagen und Modelle rubig weiter variiren und entwöhnt fich nach und nad, ein Original zu bezahlen. Er hält den Studio oder eine deutiche Kunjtzeitichrift und Fopirt nun Engliſches oder Dejterreichilches, wie er früher NRenaiflance, Barod und Empire aus den Borlagebüdern abpaufen ließ. So werben die Preife, die mar dem Künſtler zahlt, immer geringer; ſchließlich ift gar fein Verhältniß mehr zwiſchen dem Preis des Chjeftes und dem Werth des Entwurfes. Die jungen Künftler werben jämmerlich bezahlt, gerathen allmählich entweder als Yabrifzeichner ins Kitjchen oder wenden ſich von dem fchlecht lohnenden Kunfthandwerf ab. Die Welteren helfen fich auf andere Reife. Da ein Arditeft nicht darauf rehnen Tann, jeinen. Entwurf mehr als einmal ausgeführt und bezahlt zu jehen, diefer Entwurf troß- dem aber ſehr oft benußt wird, fo forbert der Stünftler gleich für die erfte Skizze fo viel, daß dur das Arditektenhonorar das Original zu einem Kaufpreis tommt, der weder dem Materialwerth noch dem Kunſtwerth entipricht. Diele Behauptung wäre lei) zu erweifen. Die Sünftler ſpüren auch fchon die Wirkung; jie find auf eine Fleine Käufergruppe angewiejen. Nicht Kunſt fürg Bolf, jondern höchſtens Kunft für Millionäre. Und diefes Ergebniß ijt tragi- komiſch. Denn für fo reiche Leute ift noch heute bie italienijche Renaiſſance oder einer der franzöfiichen Prunfitile ein eben fo paſſender Ausdrud ihres Wejend und Rahmen ihres Lebens wie manche Neuheit eincd Architekten, der ih nur mühſam in folde Sphäre hineinverfegen kann, da er von den Koimfort« anſprüchen diefer Menfchen nur wenig weiß. So entwidelt fi der Stil der Farvenus. Dazu aber braucdten wir wirklich feine Revolution. Wie fieht es in Berlin aus? Ich habe Feine Neigung, einen Kampfzug gegen die Händler Keller & Reiner und das Hohenzollern-Kaufhaus von Hirfch- wald zu führen. Erſtens babe ich gegen den Großbetrieb gar nicht. und zweitens ſcheint es mir immer unflug, von einem Gefhäftsmann zu verlangen, er folle die Kunft fördern. Er will natürlich Geld verdienen; mit Runtelrüben oder mit ſezeſſioniſtiſcher Ramſchwaare. Dod) die beiden genannten Firmen beherrichen den berliner Runftgewerbemarkt; und da ihr Einfluß mir höchft ſchädlich fcheint, fo überwinde ich den Widerwillen, in fremde Geſchäfte Hineinzureden. Die Herren

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80 Die Zukunft.

ftellen aus, laden Kritifer zur Belihtigung und dürfen deshalb nicht Hagen, wenn fie rücjichtlos Fritifirt werden. Sie find Zwiſchenhändler; nicht ınehr von ‘der guten alten Art der Kunſthändler, die fauften und verkauften, auch nicht nach dein Muſter des Pariſers Bing, der mit jeinem Daufe L’art Nouveau Ah ganz in den Dienft ber neuen Bewegung ftellte, nein: fie find Stom- miffionäre. Was irgendwo gefchaffen, von irgend einem Nezenfenten beſprochen wird, Das wird als Fracht- oder Eilgut in die Botsdamer- oder Leipzigeritraße geliefert, da nach mir unbefannten Methoden mit irgend einem Preis ver- fehen und wartet nun des Käufers, den die Mode treibt, Die ganz imaginären Kojten folden Zwiſchenhandels zu zahlen. Kommt diefer Käufer nicht, jo wird, wenn der Erzeuger noch ein Anfänger ift, es ſich alfo gefallen laſſen muß, der Gegenftand, nachdem er Monate lang herum geitanden und allen Reiz der Neuheit verloren hat, einfach zurückgeſchickt; iſt die Waare nidt in Kommiſſion genom- men, fondern feft gekauft, dann freilich muß man noch weiter warten. Vielleicht hilfts, wenn man den Preis abermals erhöht und es mit dem Syften des Ter- rorifirens verfucht; in einer Großſtadt giebt es immer Yeute, die kaufen, weil fie fürchten, für Idioten gehalten zu werden, jobald jie zeigen, daß ein jehr theurer, ſehr moderner Gegenjtand ihnen nicht gefällt. Ich Habe erlebt, day ber jelbe Segenftand bei Keller & Heiner ſechs, bei Hirſchwald fünf oder unt= gefehrt und bei Wertheim nur vier Mark Eoftete.e Ich Habe unfinnig theure Bronzen gejehen, für die dem Erzeuger recht beicheidene Summen gezahlt waren. Bei Seller & Reiner wurden 250 Mark für eine wiener Bronze gefordert, Die in vielen Exemplaren hergeftellt wird und bein wiener Detailyändler, ber ja auch ſchon feine Koſten decken und verdienen will, für 200 Marl zu haben war; dem Künftler felbft wurden für das fertige Exemplar knapp hundert Mark be— zahlt. Mit den Möbeln ijts nicht anders. „Immer wieder die Einbildung, gleicd) das erjte Eremplar müſſe Auslagen und Berdienit hereinbringen. Der Einwand: Wir verlaufen eben nicht mehr als ein Exemplar, beweift rein gar nichts; denn man verfauft eben nicht mehr, weil die PBreife zu Hod) find. Das Alles iſt nicht perfönliches Verfchulden der Händler, ſondern Ergebniß ungejunder Berhältniffe. Wenn wir heute fein berliner Kunftgewerbe haben, fo liegt es nicht daran, day die Fähigkeiten fehlen, fondern daran, dag die Möglichkeit zur

Ausführung und zum Vertriebe nicht gegeben ift.

Drcroch ich wollte feinen Grabgejang anſtimmen. Noch feheint Hilfe mir

möglich ; aber nur nad) Ausfchaltung des Zwifchenhandels. Die Schägung der

piece unique foll bleiben, doch da nur, wo ſie am Platz iſt. Vor allen Dingen

ift zu bedenken, daß es jich nicht darum handelt, einen Stil für die Wohnungen

der reichten Leute zu finden. Wenn die dekorative Kunſt auf unjer Leben einen

beiljamen Einfluß gewinnen joll, müſſen gute Gegenftände billig hergeſtellt

werden, Noch giebt es feine Kaffeetaſſe und Fein Meſſer, kein Tiſchtuch und

feinen Sefjel neuen Stils zu mähigem Preis; und doch ijt modernes Geräth

viel billiger als altmodiiches herzuitellen. Man muß die Mafchinentechntl ber

nußen und eine neue Schönheit auch für die Möbel und Ziergeräthe finden

fernen, wie man fie bei den Pochbahnbauten und eleftriichen Betrieben gefunden

bat. Dian darf audy Theorie und Prazis nicht länger trennen, nicht den Zeichner

zeichnen und den Fabrikanten ansführen laffen. Trotz allen ſchönen Worte

Der Krach bes Kunftgewerbes. 81

wird noch heute am Reißbrett gearbeitet und den Eingeweihten klingt es oft komiſch, wenn .er im illuftrirten Blatt lieft, daß nun der Künjtler dem Hand— werfer verbündet jei. Wie häufig fieht der Architekt ftaunend, was für ein felt- ſames Ding aus feinem Entwurf geworden ift! Gemeinfam muB gearbeitet. gemeinfam muß verdient werden, nicht nur am Original, fondern an jeder Kopie. Die Wirkung wird jein, bag nicht mehr ftetS das felbe Thema rein äußerlich variirt wird umd. daß bie Liebe zum Objekt, die alle guten Kunſthandwerker ver gangener Beiten auszeichnete, wieder erwacht.

Wer' von individueller Auswahl fpricht, kann nicht meinen, der Künſtler folle ſich Hinfegen, die Seele des Käufers ftudiren und ihm dann erft einen Raum bauen und [hmüden. Die individucle Prägung wird ja ſchon dadurch Heftimmt, daß Jeder fi den Architekten und die Möbelform mählt, die feinem Weſen angemeſſen find, und daß er innerhalb des gegebenen Rahmens durch den Zumads, den jeder Tag bringt, feinem Zimmer den Duft des Lebens und feines Scidjald mittheilt.

Mir fcheint eine Organijation auf nener Wirthſchaftgrundlage nöthig. Ich bin für den Großbetrich, weil er allein die Möglichkeit zu Erperimenten Hirtet und es ohne Experimente nicht geht. Man könnte an eine Kooperativ- genofjenfchaft von Künſtlern und Kunftinduftrichen denken, die das ganze weite Feld zu bebauen hätte. Nur fürdte ich, daß der heute, in der Kampfzeit, noch herrichende Fanatismus ein gemeinjfames Urbeiten ſchaffender Künftler erfchweren, wenn nicht unmöglich machen würde. Am Ende fäme nichts heraus als eine

* Bereinigimg von Künftlern und Gejchäftsieuten, die dag mir vorſchwebende Ziel nie erreichen könnte. Das Beilpiel der Münchener Werkftätten tft ungemetn lehr- reich. Gelingt es aber, die Leiltungen der jüngeren Künſtler, die jet faſt immer weit vom Weg abirren, mit den Bedürfniſſen des Publifums in Einklang zu bringen, dann werden wir eine jet noch ungeahnte Erneuerung der Formen erlchen.

Der Plan der Organifation, die ich erſehne, könnte am Bejten von einer tapitaliftifchen Genoſſenſchaft ausgeführt werden, die weitherzig alles künſtleriſch Werthoolle aufnimmt, den Künſtler anftändig honorirt und am Gewinn be- theiligt und dem Publifum, ohne den falſchen Nimbus eines ideal gedachten Unter- nehmens, zu angemejjenem Preis Gutes liefert. Gerade jeßt ift eine neue Maſchine erfunden worden, die ſolches Planes Ausführung erleichtern kann.

Ich fehe alle Einwände voraus, die man mir maden wird. Idealiſten und Realiften werden um die Wette den Plan tadeln die Idealiſten namentlid), dab er Kunſt und Gefchäft verquiden will und Kunſtverſchleißer werden in ihm nichts Anderes fehen als ein Manöver mehr oder minder ſchmutziger Kon— kurrenz. Einerlei. Mir lag vor allen Dingen daran, einmal offen auszusprechen, wie der Ekel am „modernen“ Kunſtgewerbe zu erklären ift, der gerade die ge: ſchmackvollſten Leute ergriffen hat; er hat nicht äjthetiiche, ſondern öfonomifche Urſachen und kann deshalb auch nur überwunden werden, wenn es gelingt, dieſem Gewerbe eine neue Wirthichaftbajis zu jchaffen, die dem Künſtler giebt, was des

_ Künftlers, dem Käufer, was des Käufers ift. Wird der Verfuch nicht gemadt, dann, fürchte ich, wird man bald allgemein von einem Krach des Kunſthandwerks reden.

W. Fred. N

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82 Die Zukunft.

Die Drinzenreife”).

SR des jpanijchen Krieges hatte Deutichland allein von allen Mächten eine große Schlachtflotte nach den Philippinen gefandt. Admiral Diederids führte ben Oberbefehl mit großer Schneidigfeit und naym feine fonderliche Rück ficht auf amerikaniſche Hühneraugen. Diefe und andere Vorfälle erzeugten in Anerifa Berftimmung. Für die englifhe Diplomatie war Das eine pradt- volle Gelegenheit, nad) altbewährter Methode gegen den verhaßten Konkurrenten Michel zu hetzen. Der Erfolg war jo überrafchend, daß die englifche Diplomatie ihren hetzeriſchen Wirkungskreis über die ganze Welt ausdehnte. In Südameriko und China malte fie dem leichtgläubigen und eitlen Onfel Sam den braven Michel in ſchwärzeſten Farben als den Störenfried, deſſen Dauptvergnügen darin beitehe, Ontel Sanı fortgefegt Knüppel zwiſchen die dünnen Beine zu werfen. Auch damit hatte England Erfolg. Das Feuerchen, das ınanin Londoneifrig gefchürt hatte, begann langſam, zu brennen, fladerte danı aber Iuftig. In Waſhington ſaßen brave Dandlanger, die mit Inbrunſt Tel in das Feuer goffen. Da war zunächſt der trefjliche Lord Vauncefote, der engliihe Gejandte. Um ihn ſchaarten fich dienſteifrig ſaämmtliche Jingos und Deutjchenfeinde ber republifaniichen Partei, Kriegsſekretär Root, Staatsjckretär Hay, Senator Hanna, Senator Depem, Senator Lodge und die jogenannte Marines Koterie, die nad) neuem und ihrer Meinung nad) eben fo wohlfeilen Lorber lechzte, wie ihn der Krieg gegen Spanien gebracht hatte. Ihnen gejellte ſich noch Der. Choate, der amerifanijche Geſandte | in London, ein erprobter Anglomane. Gegen dieje deutjchfeindlicde Koalition | hatte Herr von Holleben, der deutfche Geſandte in Wafhington, einen fchweren Stand. Schon taudte das unheimliche Wort Krieg in den deutjchfeindlichen amerifaniichen Zeitungen auf. Da entihloß man fich in Berlin zu den befaunten Beröffentlichungen und Prinz Heinrich ging auf die Reife. Es jollte ein politiihes Ausftattungftüc von blendender Pracht werden. In Deutichland arbeitete die

*) Als der Herausgeber hier zuerft fagte, er glaube nicht, daß die Reife des Prinzen Heinrich die Beziehungen zwiſchen Deutichland und den Vereinigten Staaten in irgend einem wejentliden Punkt ändern werde, da wurdbe-ihm un- heilbare Zweifeljuht vorgeworfen und er ein Schwarzjeher geicholten, der die erhabenen Intentionen deutſcher Weltpolitif nun einmal nicht zu würdigen wilfe. Die bitterböjen Dinge, die gerade in den größten amerifaniichen Blättern, beionders im Herald, über den politijchen run gejagt wurden, las man ent- weder nicht oder ging mit etlihen Schimpfreden wider die Jingopreſſe darüber hinweg. Und nun vergleihe man, was eigene Anſchauung Deren Urban gelchrt | bat und was aud in diefem Heft wieder Plutus über die amerifaniiche Gefahr | ſagt. Beide Herren befennen fih zu ganz anderen politifchen Anfichten als | Derausgeber, denken aber nicht daran, der Reife eine irgendwie weiter reichende % | deutung zuzuschreiben. Auch die vor ein paar Wochen noch Beraujchten find allmähl wieder nüchtern geworden, bis zum nädjten Rauch, in den fie das när Spektakelſtück fiher verfegen wird. Iſt es denn wirklich jo ſchwer, einzufehen, „politische Beziehungen‘ dur wirthichaftliche Intereſſen, nicht durch perſöm Artigkeiten noch durch allerlei liebenswürdige Launen determinict werben?

Die Pringzenreife. 83

offizielle Preſſe mit löblihftem Eifer. In Amerifa lag die Negie in den bes . mwährten Händen des Herrn von Holleben. Ihn unterjtüßte begeiftert Profeflor Hugo Müniterberg von der Harvard>Univerfität, der feit Jahren als offizidfer Friedensengel zwifchen Berlin und Wafhington ſchwebt und als politifcher Schrift« fteller von anjehnlichem Talent bie Freundſchaft zwilchen beiden Völkern zu Kitten fi) bemüht. Die Staats: Zeitung war von vorn herein ficher; dieſes wichtigjte deutſchamerikaniſche Blatt gehört ja längft zu ber Preſſe, die mit Hilfe ihrer berliner Vertreter aus dem Auswärtigen Amt „Snformationen‘ bezieht. Die übrigen großen Zeitungen, namentlich im Weften, würden Das wußte man mit Freude Heeresfolge leiften. Raſch wurden noch alle Skeptiker als unver« beſſerliche Nörgler und alle Kenner des braven Onkels Sam als Turzfichtige ober böswillige Amerifafeinde angeſchwärzt; und nun konnte Brinz Heinrich fommen. Sein Aufenthalt hat Mancherlei zu Tage gefördert, was nur in Amerika möglid iſt. Für den Durchſchnittsamerikaner ift es von höchſter Wichtigkeit, bei bejonderen Feſtlichkeiten immer zu willen, was fie gefoftet haben. Kaum hatte Prinz Heinrich die eriten Feſte mitgemadt, fo hatte ein Blatt ſchon aus— gerechnet, wie hoch fi) die Ausgaben beliefen. Die Galavorftellung im Opern: Haus, der Yund mit den Dollarfönigen, das Diner mit den Seneralen der Preſſe, das Bürgermeilter- Diner, der Yadelzug der Deutſchen, die Yadt-Taufe, die Kavallerie: Esforte, der Sonderzug der Pennfyloania- Eifenbahn und allerlei Dekorationen hatten zufammen ungefähr 109000 Dollars verfhlungen. Damit Tieß ſich ſchon proßgen. Maurice Grau, der Direktor der Oper, . geftand mit fattem Lädeln, daß er mit feiner Galavorftellung über 40000 Dollars „am Prinzen gemadt habe’. Auch andere Leute haben „an dem Prinzen Geld ge- macht“; und dafür waren fie ihm natürlich dankbar. Bob Evans, einer der Sieger von Santiago, erklärte einem Reporter: „Der Prinz. ijt ein urgemüth- tiher Menſch (a royal good fellow). Er ift Amerikaner, jo weit ein Fremder es überhaupt fein kann“. Das ift nach der Anficht des richtigen Amerikaners, der ſich bekanntlich für die Blüthe der Menſchheit hält, das höchſte Yob. Und der chren- werte Bürgermeijter von New-York, Scth Low, fagte zu feinen politijchen Freunden: „Ich bin während der Ichten Tage fo viel in prinzlicher Geſellſchaft geweſen, daß e3 für mich ordentlich erfrifchend ift, wieder mal unter Vertretern eines freien Bolfes zu fein. Und doch: hätte der Prinz das Glück gehabt, in dieſem Lande geboren zu werden, fo würde er die Bezeichnung eines höchſt ge müthlichen Menfchen (a jolly good fellow) verdienen.“ Diefes höchſte Glück blieb dem Prinzen nun leider verfagt; wenn der Menſch Pech haben ſoll ... Dein Gouverneur von Minneſota wird nachgefagt, er habe den ‘Prinzen nad) “er Vorftellung auf deu Rücken geflopft und ihm fordial zugerufen: „Es würde sih freuen, wenn Zie mal nad Minnefota kämen, Sie uud Ahr Bruder!” Der Prinz iſt, als star des Ausſtattungſtückes, enthufiaftiih begrüßt sorden; bejonders im Weiten, wo das Deutſchthum dichter, jtolzer und mäd)- ger iſt als in NewYork. Die in Berlin „Maßgebenden“ jcheinen eine Heiden— igſt dor einem allzu impoſanten Dervortreten des deutjchen Elementes gehabt u Haben. Tas konnte die „reinen“ Yankees ja verichnupfen! Prinz Deinrid) at aber wohl gemerkt, daß die Dentichen in den Vereinigten Staaten feine "antitö negligeable find, und darüber hoffentlich auch feinen Bruder aufgeklärt.

84 Die Zukunft.

Seine Mahnung, die Pflicht gegen bie neue Heimath nicht zu vergejjen, war überflüffig; oft wäre es leider nöthiger, an die Pflicht gegen die alte Heimath zu erinnern. Jedenfalls: die Neife hat dazu beigetragen, die Madtitellung der bier lebenden Deutichen zu ftärfen. Und fie Bat ferner gezeigt, da Deutſchland den beiten Willen hat, mit Anıerila in Freundſchaft zu leben.

Mehr Hat von der Reije Niemand erwartet, der ben Umerifaner wirklich fennt. Nur fromme Kindergemüther und die im Solde der Exporteure ftchenden Hurrafchreier befamen das Kunftitüd fertig, als Hauprergebniß der Reife eine dide Freundſchaft wilden Sam und Michel zu propbezeien.. Sie weilen immer wieber auf die glänzende Aufnahme hin, bie der Prinz gefunden habe. Dem Kenner von Land und Leuten ift damit gar nichts gelangt. Zunädft ift ber Amerifaner ungemein gaftfreundlich und fiets bereit, fein Haus auf den Kopf zu Stellen, um einen Bejucher zu ehren. Wie begeiftert wurben 1893 die in: fantin Eulalia von Spanien, die Tante Alfonjos des Dreizchnten, und der Herzog von Beragua, der Nachkomme des Columbus, aufgenommen! Dem Herzog wollte man, vor Rührung darüber, daß fein Ahnherr jo freundlich ge- wejen war, Amerika zu entdeden, fogar die Schulden bezahlen. Und doch hegte man jchon damals gegen Spanien unfreumdliche Gefühle wegen der Mißwirth— haft auf Kuba. Nicht minder begeijtert wurde 1860 der Prinz von Wales, jegt König Eduard VII. von England, aufgenommen. Robert B. Roofevelt, eim Berwandter des Präfidenten, ſpäter ameritanilcher Gejandter im Haag, war damals Wiitglied des Empfangsausſchuſſes und hat neulich erſt erzählt, die jungen Amerifanerinnen feien beim Anblid des Prinzen von Wales außer Rand und Band gerathen; der Barbier, der ihm die Haare ſchnitt, verkaufte ihnen hie Loden des Prinzen für ſchweres Geld; auch das Wafler, in dem Albert Eduard fih gewajchen hatte, wurde auf Flaſchen gezogen und an bie Danıen verfauft. Alles war entzüdt von ihn, genau fo entzüdt wie jegt vom Prinzen Heinrich. Und dod blieb die Stimmung der Amerikaner gegenüber England feindſälig bis zum Sriege gegen Spanien. Auch durch die Leiftungen amerifanijcher Nach⸗ tiſchredner läßt fi) der Kenner nicht täufchen. Die Loblieder auf Alle, was Amerika Deutichland jchuldet, Haben wir oft genug lächelnd gehört: am Morgen nah dem Feſtmahl find fie wieder vergeflen. Der Befuch des Prinzen war für die Dienge eine offizielle Unerfeunumg Amerifad als jüngfter Großmacht unb wurde als Huldigung gern hingenommen, Und die hieſige Plutofratie fonnt ſich mit Vorliebe in königlicher Gunſt und glaubt, durch den Verkehr mit Prinzen zu Wirfliden Geheimen Ariftofraten werben zu können. Den Zeitungen aber war der Prinz in erfter Yinie news, etwas Neues; die amerilanifhe Zeitung heißt nicht umſonſt newspaper. Er war ihnen Leſeſtoff, und zwar allerfeiniter, für eine ganze Weile. Ein Schiffbrud, ein Brand giebt höchſtens zwei oder drei Ertrablätter, allenfalls noch einige Spalten in der Morgenausgabe; Prii Heinrich: Das reichte für zahllofe Ertrablätter. Das füllte jelbit an Son tagen die Spalten und bot Gelegenheit zu unzähligen Uuftrationen. glänzendes Geſchäft. So Etwas jtimmt auch das wildeſte Singo-Blatt mil und faft deutichfreundlih. Als dag Geſchäft nachließ, Hatte der Prinz ſei Arbeit gethan und konnte gehen. Statt der „Wacht am Rhein“ übte man wich: die deutſchfeindliche Jingo-Melodie The Dutchmen be damned! Der Prinz w‘

Die Prinzenreife, 85°

noch nicht in Piymouth angefommen, da begann die fröhliche Deutfchenhege von Neuem. Herr von Holleben und Profeſſor Münfterberg wurden vom „Herald“ al3 Spione ber deutſchen Regirung gebrandinarft und das „Journal“ hetzte fleißig mit. Des Prinzen Liebenswürdigkeit, dieß es, ei nur Komoedie geweien; au Bord der „Deutſchland“ fei er gleich wieder unnahbar geworben. In Deutſch⸗ land hat man auf dieje nenen Ausbrüche des Haſſes nicht viel Gewicht gelegt. Sehr mit Unrecht. Hier ift gerade der Einfluß der jchledten, der „gelben“ Preſſe bejonders groß. Die Politif wird Hier mehr als anderswo von der großen Maſſe gemadt und die große Maſſe ſchöpft ihre weltpolitiihe Bildung bauptjädhlid aus ben fchlechten Zeitungen, die unter allen Umſtänden einer europafeindlichen Jingo Politik das Wort reden. In den Times lad man am ſiebenten März: „Als Nation haben wir den Prinzen gern; und wenn unfere Gefühle einer Analyfe unterzogen würden, }o ergäbe ſich die Thatſache, daß wir ihn perfönlich höher ſchützen als Das, was er repräſentirt.“ Das ift doch deut- lich genug. Wicht weniger bezeichuend ift, was Poultney Bigelow am neum- zehnten Diärz bei feiner Rückkehr aus England jagte: „Amerita kann fih auf manche Unannehmlichkeiten gefaßt machen. Der Beſuch des Prinzen Heinrich ift ohne Bedentung. Er wird in feiner Weife unfere Beziehungen zu Deutjchland ändern und keinerlei Einfluß auf irgend eine Möglichkeit eines Krieges mit Deutſch⸗ land haben.“ Dann wies cr auf die Gefahren beutfcher Kolonifirung in Süd— amerifa Hin und betonte die Freundſchaft Amerikas mit England, deren Inter⸗ effen eng mit einander verfnüpft feien. Und Herr Bigelow ift ein befannter Bubliziit, der mit Wilhelm dem Zweiten in Bonn ftudirt hat und fid mit Borliebe den Freund des Kaiſers nennen läßt. Seine Auffaflung wird hier allgemein getheilt. Des Prinzen Beſuch war ein perjönlicher Erfolg; politifch Hat er nicht das Geringite geändert. Die Blos— ftellung des gelichten Sohn Bull durd) Holleben und Bülow hat in Amerika gar keinen Eindrud gemadt. Der Plan eines Angeljachjen Irufts, der den übrigen Völkern die Taſchen leert, verheißt große PBrofite; und er müßte ſich zuerſt gegen Deutfchland richten, den unangenehmften Konkurrenten beider Angels jachfen, der den Engländer auf allen Märkten unterbietet und fi) zugleich mit ber Frage bejchäftigt, wie er der amerifanifchen Gefahr durch Einfuhrzölle die Thür jperren fann. Man darf auch nicht vergejfen, daß der „\mperialigmug in Amerika nicht nur bei den Nepublifanern, fondern beim ganzen Volk populär it. Und diefer Imperialismus ift ausgelprochen bdeutjchfeindlich, gerade wie jene hervorragendſten Vertreter im Kongreß und im Kabinet. Ferner ift troß allen amtlichen Erklärungen das Mißtrauen gegen Deutſchlands Abjiht, Süd» amerifa zu Eolontfiren, nicht gejchwunden. Nach langjährigen Erfahrungen wird es mir überhaupt ſchwer, an freundichaftliche Gefühle des „ſuperioren“ Angel: fachfen, jei er ein Engländer oder Amerikaner, für den Deutfchen zu glauben. Trotz der Verwandtſchaft find der Angelfachfe und der Teutone von heute einander innerlich fremd. Ein Franzoſe und ein Deutjcher befreunden fich eher als ein Angelfachfe und ein Deutjcher. Nur Eins könnte vielleicht etwas angenchnere Beziehungen zwiſchen Amerifa und Deutfchland herbeiführen: der Sturz det republifanifchen Bartei, die von deutjchfeindlichen Jingos beherrfcht wird.

New Hort, Ä Henry F. Urbar.

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86 Die Zuhmit..

Selbitanzeigen.

Grundriß des Feſtungskrieges. Sondershaufen. Verlag von Fr. Aug. Eupel

Napoleon hat einmal gejagt: Je demanderai s'il est possible de eom- biner la guerre sans des places fortes et je d&elare que non. Diejer Aus fpruch gilt Heute in hödften Maße. Der fteigende Reichthum aller Länder drängt troß der von einer Großmacht ſtets anzuſtrebenden offenfiven Kriegführung mehr als je darauf, feindliche Einfälle mit fünftliden Mitteln zu erfchweren, fi felbjt die cigenen Operationen zu erleichtern. Auch muß mit der Möglichkeit taftifcher Rüdichläge gerechniet werden, bejonders im Kampfe gegen einen über: legenen Gegner. Nichts erleichtert aber den Kampf einer Diinderbeit gegen eine Mehrheit jo fehr wie zweckmäßig angelegte und verwendete ftändige Befeitigungen. Was deren Anlage betrifft, jo wird fie, weil fich ber Verlauf eines Krieges sicht vorausfehen läßt, nicht auf einzelne Fälle zugefchnitten fein dürfen. Der Gegner fönnte anch dann unfere Abfichten vorzeitig errathen und durchkreuzen. Biel: mehr muß eine Landesbefeftigung auf große, dauernde, nit der Grundlage bes Staates unmittelbar verbundene Berhältniffe aufgebaut werden. Schon um den offenfiven Geiſt von Volk und Heer nicht zu lähmen und die Tyeldarmee zu ſchwächen, werden wenige große Stüßpunfte, wenigitens in Deutfchland, zu fuchen fein. Aus den Weröffentlichungen Bismarcks, Blumenthals, Hohenlohes, Schlichtings und Anderer weiß man Heute, wie wenig gerüjtet wir 1870 zum Feſtungskrieg waren. Eine Unterfhägung des Merthes der Feſtungen und ein erheblider Mangel an Berftändniß für den Feſtungskrieg war an allen Stellen des Heeres zu finden. Ungenügend vorbereitende Strategie im Frieden war die Folge folder Auffaflung, die fi dann rächte und nur dank unferen aber nicht immer zu erwartenden Erfolgen im freien Felde feinen ſchlimmen Ausgang nahm. Noch heute find die Anfichten wenig geklärt, zumal erhebliche neuere Kricgserfahrungen fehlen. Generaljtäbler, Artillerijten, Infanteriſten und Pioniere haben oft ihre eigene Anfchauung, in der fie natürlich der Maffe, zu der fie gehören oder aus der fie hervorgegangen find, den entſcheidenden Antheil meist einfeitig zumeſſen. Auch ein jo dringendeg Problem wie die Neuordnung des Ingenieur- und Pionier: corps, deifen Yöjung ſehr weleutlid) von der Auffajlung des Feſtungskrieges ab» hängt, wird durch ſolchen Widerftreit der Meinungen ungünstig beeinflußt. Cine „Lehre des Feſtungskrieges“, die durch Fritiiche Solgerung aus den zuſammen⸗ hängenden Erfahrungen aller, namentlich der neueren Zeiten, allgemein giltige Wahrheiten und Srundfäge für die Truppenführung ableitet, um einen geeigneten Anhalt, fein Schema, zum Dandeln zugeben, darfdeshalb wohl auf Beachtung rechnen.

W. Stavenhagen. * Lenaus Frauengeſtalten. Verlag von Karl Krabbe in Stuttgart. 5 M

Das Bud) zeigt das Verhältniß Lenaus zum weiblichen Geidledt. : Frauen, die in des Dichters Werdegang bedeutſam eingegriffen haben, we. gezeichnet: Lenaus Mutter, die unmürdige Bertha Hauer, Lenaus anmutbi Schilflottchen Lotte Gmelin), jo genannt, weil der Dichter jeine „Schilflied an fie richtete, die wadere Sophie Schwab (Gattin des Dichters Guſtav Schw: die treue Emilie Reinbek, die leidenjchaftlihe Sophie Löwenthal, die fd

Selbſtanzeigen. 87

ſpielernde Karoline Unger, die ſanfte Marie Behrends, Leuaus „ewige Braut”. Der Lefer wird in dieſem Buch eine Reihe ungebrudter Lenau- Briefe und ein reichhaltiges neues biographiiches Material über den Dichter und über die Hier geiilderten Frauen finden. So werden mande neue Beziehungen aufgebecdt und Perſonen, die bisher in den Lenau- Biographien nur im Dämmerlicht der Epijode auftraten, werben mın als bedeutfome Faktoren in Dem Leben und Dichten Zenaus erkannt. Nicht bei vielen Poeten ftanden Leben und Dichten in einem fo innigen Wecdjelverhältniß wie bei Lenau.

Hamburg. ' Adolf Wilhelm Ernft. J

Der wirthſchaftliche Ruin des Aerzteſtandes. Zweite Auflage. Verlag von Dr. Eduard Schnapper, Frankfurt a. DM. 1902.

Die Inſzenirung von Lohnkämpfen, deren Schauplag unjere Induſtrie⸗ und Berfehrscentren in den legten Sfahren oft waren, legt dem abſeits ftehenden Beobadter die Frage nahe, welche vis a tergo hier elementarifch gerwaltet bat, ob rückſichtlos auf materiellen Erwerb gerichtete Geldgier vder ein fhatfächliches wirthichaftliches Elend den ärztlichen Berufsitand zur fuzialen Selbithilfe zwang. Das erite Motiv wird felbft der größte Sfeptifer leugnen müſſen, wenn bie amtlichen Steuerlijten ihm das wirkliche Bild von den traurigen Einfommen- verhältnijfen des ärztlichen Praktikers entrollen. Bon 1747 im Jahre 1892 in der Neichshauptitadt thätigen Aerzten hatten '%/,, ein Einfommen von nicht über 3000 Darf; und in Charlottenburg erreihten im Jahre 1900 von 307 anfäjligen Uerzten nur etwa 50 nad zehnjähriger, mühfäliger Praxis ein ſolches von 5000 Mark. Wenn fi. unter diefen Umſtänden ein Stand endlich auf jich felbit befinnt und zeigt, daß er, geeint, eine rejpeftable, wirthichaftlihe Macht darftellt, dann wird es ihm Niemand verargen können. Aber woher ftammt denn nun bie offenbare materielle Nothlage? Indirekt aus der großen Zahl der Aerzte, deren prozentuale Zunahıne allerdings in gar feinem gejunden Ver—⸗ bältnig zum Wachſen der Bevölkerung fteht. Der wirkliche Grund aber für den Rückgang liegt in der beijpiellojen Verſchlechterung der ärztlihen Erwerbsver— bältniffe, wie fie die Staatägejeßgebung der legten Jahrzehnte geſchaffen hat. Die Heichsgewerbeordnung vom Jahre 1869 mit der Novelle vom Jahre 1883 und das Stranfenverfiherungsgeich vom felben Wahre mit der Novelle vom Jahre 1892 haben den fat vollendeten wirthichaftlihen und drohenden ethiſchen Ruin des deutjchen Uerztejtandes herbeigeführt. Das Kurpfuichereiverbot wurde durch vollitändige Syreigabe des Heilgewerbes aufgehoben. Hierdurch erwuchs der

Jenſchaftlichen Medizin eine Konkurrenz, die gar feines Befähigungnachweiſes iırf und mit Mitteln arbeitet, die ber ärztlichen Ethik zumiderlaufen, Die ndlie Bejeitigung dieſes Auswuchſes wird aber zum Fategoriichen Imperativ, un man fich die Semeingefährlichfeit der Kurpfufcer für die hygieniſch ſani— ren Intereſſen der Allgemeinheit an der Hand gerichtsitattjtiicher Nachweiſe rt Augen hält und außerdem bedenkt, welche Lücken im Strafigeſetz ihre Ver- en ftraffrei laffen. Der zweite Hauptfaktor für den finanziellen Ruin des rzteftandes, das Seranfenverfiherungsgejch, hat ihm bei mitunter marimalen “ungen der Krankenkaſſen eine minimale Bezahlung eingebraht und ſchuf

88 Die Zukunft.

außerdem durch die Zwangsarzt Kaſſenpoſten cin Anftitut, das auch in ethiſcher Hinſicht durch Erfhwerung der freien Konkurrenz höchſt verderblich werben ſollte Wenn nun aud als Radikalheilmittel nur gejepgeberifche Abänderunginaßregelu in Frage fommıen fönnen, fo ift doc vorher der einmäthige Zuſammenſchluß aller ärztlichen Vereine zu einem großen Berbande behufs Wahrung der Standes interefjen auzuftreben. Bei der berrichenden modernen Staatsdoltrin wird nur eine. „ärztliche Gewerkſchaft“ nachdrüdlich die berechtigten Wünjche eines Standes zur Geltung bringen, der in Folge der heute giltigch Geſetzgebung von ınatericlier wie ideeller Proletariſirung bedroht ift.

Nebra a. U. . Dr. Adolf Haejeler. Jahrbuch der bildenden Kunft. Früher „Almanad für bildende Konſt

und Kunſtgewerbe“. Verlag der deutſchen Jahrbuch-Geſellſchaft m. b. H.

Berlin S.W. 48. Gebunden, Kunſtzeitſchriften- Format, 8 Mark.

Was ich im vorigen Jahr zur Entſchuldigung des „Almanachs für bildende

Kunft und Kunftgewerbe" hätte jagen follen: daß er nur erft ein Anfang ſein fann zu einer Regiftratur des lebenden und toten Inventars aller gegenwärtigen bildenden Kunſt, von Vollkommenheit und Zuverläffigfeit, die nur durch „Jahre lange Mitarbeit aller Ir tereſſenten erreicht werden kann, nodj jehr weit entfernt: Das brauche ich in dieſem Jahre von dem nicht nur zum „Jahrbuch“ umge» tauften, fondern auch wirklich umgewandelten Buch nicht zu verfchweigen. Bin ich doch fiher, daß die Lückenhaftigkeit der Arbeit durd die Fülle des ſonſt Ge: botenen reihlid) aufgewogen wird und daß in feiner neuen Form das Bud die Hoffnung rechtfertigt, durch feine kunſthiſtoriſche Rüdichau auf das abgelaufene Jahr, an der die beften Sträfte unferer Fachſchriftſteller fi) betheiligen, durch die praktiſchen Fragen gewibmeten Aufläße, durd die Nefrologie und Biblio graphie des Jahres und endlich durch feine reichhaltigen Berzeichniffe und fein Ktünftlerlexiton eine bleibende und der Bollftändigkeit immer näher kommende Einrichtung unjeres die bildenden Künſte umfaſſenden öffentlichen Lebens werden zu fönnen. Dem nicht geringen Aufwand an theils erfreulicher, theil8 aber überaus mühſäliger, trodener Arbeit gefellte fi) der andere: ohne Rückſicht auf matericle Opfer dem Bud) einen reihen Schmud zu fchaffen, jo daß es in feinen füuf- zchn Kunſtbeilagen und in zahlreichen Jlluftrationen auch anſchaulich eine Fülle hervorragender Werfe des legten jahres darbietet. Dabei iſt nicht nur auf das künſtleriſch Weſentliche, ſondern aud auf die verfchiedenen Arten der reprodu- zirenden Ichnif Werth gelegt worden. So dürfte das Buch jedem Freunde der Kunft, aber aud jedem Schaffenden auf einem ihrer Gebiete Das bieten, was er jucht: die Erinnerung an die burchlaufene Beitftrede, die Anregung zu weiterer Entfaltung und als Handbuh die aud) jest ſchon zuverläffigen, ı Jahr zu Jahr durd; Umfragen berichtigten Aufjchlüffe über unfere der Ku dienenden Einrichtungen, über Künftler und Kunſtgewerbe aller Art. Herr © heimer Negirungrath Dr. Woldemar von Seidlig in Dresden hat mir als Fünf lerifcher Berather und Mitarbeiter die dankenswertheſte Unterftügung bei de Bemühen geleiftet, dag Buch in feine jegige Geftalt umzuſchafſen.

Schmargendorf. Mar Marterjteig.

Ss

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Humbug & Co.

S; Arten, fih ein Haus zu baun, find zwei. Man kanns anf Illuſion⸗ u fredit hin wagen, auf Wechfel feljenfefter Zuverſicht. Man kanus auf ftimmungvolle Träume gründen, Quftipiegelungen und Sirenenfang. Dieſe Worte, die Goldſtadt, ber nüchterne Großkaufmann, in Ibſens „Komoedie der Liebe“ ſpricht, fielen mir oft ein, wenn ich während ber legten Wochen bie Börjenberichte las. Die Händler nehmen den Illuſionukredit wieder einmal ein Bischen reichlich in Anſpruch. Dieſe Art, fih Häufer aus Hoffnungen zu bauen, erinnert recht unangenehm an Tage, die man nach der großen Krifis für ent- ſchwunden halten durfte. Heute giebt man ſich weder Mühe, bie Fundamente der deutfchen Wirthſchaftlage gewiſſenhaft nachzuprüfen, noch verfucht man, die Zukunftausſichten mit klarem Blid zu erforfhen. Man belügt ſich felbft.

Ueberall, nicht nur an der Börſe, hört man die Behauptung aufſtellen, bie ärgften Tage der Kriſis ſeien vorüber und die völlige Gefundung unferer Berhältniffe jei ſchon für die nächite Zeit zu erwarten. Mit folden Erzäh- Lungen aber find leider die Thatſachen nicht zujammenzureimen. So hat chen erſt das fiegerländer Roheiſenſyndikat jeine Produktion abermals um E0 Prozent eingeichränft. Die Folge war denn auch zunächſt eine ziemliche Berblüffung. An dem überrafchenden Eindrud diefer Meldung kann auch der Umſtand nichts ändern, baß es fich nicht um eine neue Maßregel handelt, jondern die ſchon lange beſtehende Produktioneinſchränkung jetzt nur von der Kartellbehörde ſanktionirt worden iſt. Die Frage iſt, ob man dieſe Einſchränkung vorher in weiteren Kreiſen gekaunt und in die Kalkulation der augenblicklichen Wirthſchaftlage als einen wichtigen Faktor miteingeſtellt Hat. Ich glaube es nicht.

Selbſt von Leuten, die im Allgemeinen geneigt find, Warnungzeichen zu beachten, ijt die große Bedeutung der für die fiegerländiichen Hochöfen beſchloſſenen Produktioneinſchränkung nicht genügend gewürdigt worden; die Wirkung erjtredt fi in diefem Fall ja nicht nur auf die Eilenwerfe, jondern auch auf den Kohlen bergdbau. Erſt furze Zeit ift vergangen, feit die Hechendireftoren die Inter⸗ eſſenten mit der Hoffnung tröfteten, die Thätigkeit der Hochöfen werde fich wieder beleben und natürlich” auch den Kofsabja jteigern. Damit ift c8 jedenfalls vor- läufig noch nidis. Und wie fchledht es auch fonjt gerade im Bergbau ausjchen muß, merkt man aus gewiſſen Anzeichen allgemeiner Natur. Ein Beifpiel: im Rheinland fcheint man die Arbeiterichaft geradezu in den Ausftand drängen zu wollen. Kortwährende Entlafjungen und Herabjeßungen der Löhne müfjen die Leute ja unzufrieden machen und aufreizen. Wenn man fich erinnert, mit welcher fubtilen Rüdficht die Arbeiter in der guten Zeit von den SKohlenbaronen ber handelt wurben, fo kann man wirklid auf die Idee kommen, dap ein Strike den weſtdeutſchen Grubenbefikern jetzt ſehr willlommen wäre. Solder Strife böte immerhin die Möglichkeit, die Preije hoch zu Halten und die Schuld daran und an ſchlechten Förderreſultaten auf andere Schultern abzuwälzen als auf bie, denen man fonft die Rerantwortung aufzubürden pflegt. Bon den vielen Tleinen Chicanen, mit denen man bie Arbeiter ärgert, dringt nur felten Etwas in bie Oeffentlichkeit. So hat man in manden Gruben von Krupp wird es be= ftimmt behauptet den Abbau der alten ertragreichen Flöze vorläufig aufge-

90 Die Zukunft.

geben und ift dazu übergegangen, werthlojere anzufchlagen. Natürlich Fördern die Arbeiter, troßdem bie Arbeitzeit nicht verringert ift, nun viel weniger als früher, fo daß der Gedingelohn beträchtlich finft. Diefe Methode, am Log zu knauſern, hat für die Verwaltung dabei nod den Bortheil, daß man nad außen bin die alten Lohnſätze aufrecht erhalten Fann.

Wer aljo genau zufieht, merkt fchnell, daß die Berhältniffe im rheiniſch⸗ weſtfäliſchen Kohlengebiet und in den um dieſes Centrum gelagerten Eifenbe- trieben ungünſtiger ſind als jemals ſeit langen Jahren. Dagegen ſoll nicht beſtritten werden, daß in einzelnen Bezirken der Textilbranche eine kleine Beſſerung zu verzeichnen iſt. Es ſcheint ſich aber immer mehr herauszuſtellen ſchon früher habe ich es hier einmal gegenüber den optimiſtiſchen Hoffnungen des Reichsbankpräſidenten behauptet —, daß dieſe Beſſerung einzig und allein auf die geſtiegene Ausfuhr nach Amerika zurückzuführen iſt. Auch über dieſe That- ſache täuſcht man ſich an den Börſen hinweg. Und da man annimmt, daß die Geſundung im eigenen Lande fortſchreite, fo hält man natürlich auch nicht für nöthig, bie amerikaniſchen Verhältniſſe etwas fchärfer unter die Lupe zu nchmen. Ich bin der Anficht, daß die Beobadytung der amerikanischen Berhältniffe Heute bie allerwichtigfte Aufgabe der Börjenwetterwarte jein müßte. Doc fogar von Leuten, die grundfäßlid) der felben Meinung find, hört man vielfach noch ſehr optimiſtiſche Auffalfungen, die das Reſultat ſolcher Beobachtungen ſein follen. Einzelne geben zu, daß die Berhältniffe in Amerika nicht unbedenklich ausjehen, hegen aber die Hoffnung, big zum Ausbruch des Sturmes werde noch viel Zeit vergchen. Die fibliche Phraſe, die wir über deutjche Verhältniſſe vor der legten Krifis fo unendlich oft hören mußten, wird uns auch jegt wieder aufgetilcht: Alles ftroge doch geradezu von Gefimdheit; damals in Deutfchland, jeßt in Amerika. Und gewiß ficht e8 wie ein Symptom fefter Gejundheit aus, da Amerika aus Deutfchland Roheiſen beziehen muß und dab ber Direktor ber Kanadabahn zu Krupp kommt, un Schienen zu befichtigen. Aber haben wir denn nicht vor dem Zuſammenbruch genau die jelben Erjcheinungen aud im deutichen Wirthfchaftleben gehabt? Gab es damals Roheiſen genug? Es iſt luftig, zu beobachten, wie genau üben und drüben die Symptome einander gleichen. Viele erinnern fi) wohl noch, wie wejentlich, unmittelbar vor der ge waltjamen Löſung der deuiſchen Ueberſpannung, zur Unterſtützung ber Haufe orgie der Umſtand beitrug, daß altes Eiſen zum Umſchmelzen benugt werden mußte, weil die Eifenvorräthe ſonſt für die Fabrikation nicht auegereicht Hätten. Die Preife von Alteifen erreichten damals befanntlich eine ungeahnte Höhe. Genau das ſelbe Schauspiel erleben wir jegt in Amerika. Beträchtliche Poften alten Eijens find von uns über den Ozean verfradhtet worden.

Doch aus diejfen rein wirthichaftliden Momenten gewinnt man nod fe richtige Borftellung von den amerikanischen Perhältnijfen. Die Truftvorgä muß man beachten, um flar zu jchen. Der Supfertruft, Thon lange e Sdmerzenstind’aller Daujjiers, hat wieder bedenklich zu Ipufen begonnen. Se Verluſte bei dem legten Preisfturz des Kupfers werden auf etwa 10 Millie Dollars geihägt. Man war gejpannt, zu hören, welche Dividende nach die herben Berluft ausgefchüttet werden würde. Aber fiehe da: die Herren Direktd hatten für angebracht gehalten, die Situng vorläufig einmal zu vertagen. 9

Sumbug & Co. 91

ſolche Bertagung kein Zeichen eines beſonders guten Gewiſſens ift, brauchte ich kaum erſt zu jagen. Nod viel jchlimmer aber find die Verhältniſſe beim Stahl: truſt. Man will die fiebenprozentigen Vorzugsaktien in fünfprogentige Bonds ummandeln und motivirt diefen Plan mit der Zinserſparniß. Einen allzu günftigen Eindrud kann aber der Verſuch .nicht maden, die knapp zur Ruhe gefoinmene Morganijation ſchon wieder zu beginnen.- Merkwürdiger noch iſt, daß man unter der Hand ſchnell 50 Millionen Markt Bonds mehr ausgiebt, als Borzugsaktien vorhanden waren. Woraus aljo zu fchlicken ift, daß die Gejell- Ichaft neues Kapital braudt. Was nützt angelichts ſolcher Beklemmungen ein Gerausgeredjneter Buchgewinn von 111 Millionen für das letzte Jahr?

Diefe allgemeine Unficherheit der amerifanifhen Truftpolitif läßt den baldigen Eintritt einer Kataftrophe fürchten. Und dieje Unficherheit fcheint mir um jo gefährlicher, als allerlei Vorgänge erjt eben wieder gezeigt haben, auf wie brüchiger Baſis all dieſe Truſts aufgebaut jind. Ich fehe noch davon ab, daß die Echaffung von 50 Millionen neuer Bonds bein Stahltruft, für bie gar fein Gegenwerth vorhanden ift, eine Berwäflerung des Kapitals bedeutet. Alle ZTruftlapitalien find fchon im Augenblick der Gründung außerordentlich ver- wäjlert. Wie nah diefe Unfitte, das Kapital zu verdünnen, nad) unjeren Moral⸗ grundjägen ans Verbrecheriſche grenzt, beweift der Schadenserjaß, der jegt von einem der profeljionellen Gründer von feinem Kumpan Gates verlangt wird. Aus den Zeugenausfagen diejes Prozeſſes geht hervor, daß bei der Gründung des Stahl: und Drahttruftes das jelbe Werk dreimal in jeden der verjchiedenen Verbände eingebracht worden ift, und zwar jedesmal mit einem recht erheblichen Nugen ‚für den Borbefißer. Daß ein auf folcher Grundlage ruhendes Kredit- ſyſtem dem Bujammenbruch entgegentreiben muß, ift klar und fünnte auch den deutſchen Börfenleuten nicht zweifelhaft fein, wenn fie fi) überhaupt einen richtigen Blid für die Lage der Dinge bewahrt hätten. In Amerika jcheint man ſich übrigens auch jchon auf den Krach vorzubereiten. Herr Schwab, der Stahltyrann, bat in einer Unterredung mit bem Berichterftatter der Kölnifchen Zeitung rund heraus erklärt, es fei natürlich und ficher, daß auch fchlechte Zeiten kommen müſſen; in diefen Zeiten geringeren Inlandsbedarfes werde der Stahltrujt feine Veberproduftion in den deutichen Abfaßgebieten unterzubringen verfuchen.*)

*) Die Unterredung, die Blutus hier jtreift, muß, nach den Andeutungen, die wir lajen, allerliebjt gewejen fein. Nicht nur, weil der Interviewer an den rechten Mann kam, der alle unbequemen oder langweiligen Fragen ohne Zeitverluft wegwilchte und ihn mit der ganzen Hoheit des Herricherd von Goldes Gnaden hehandelte. Auch die Thatjachen, die Herr Schwab reden ließ, waren ungemein ehrreid. Unſer Sejammtfapital, alfo jprad) er, beträgt 1374 Millionen Dollars. Bir brauchen jährlih nur 70 Millionen zu verdienen, können aljo mit einem Profit von 6 Dollars auf die Tonne gut ausfommen; übrigens verdienen wir ta nicht nur am Stahl, jondern auch an der Kohle, dem Eijen und an einem usgebehnten Dampferverfehr, der die Binnenjeen ſchon beherricht und die Welt- neere beherrſchen foll. Vorläufig ift bei uns der Bedarf fo groß, daß wir nicht

ıf Erport angewieſen find und jogar viel Nohmaterial aus Deutjchland bezogen aben. Diejer Zuſtand wird natürlich nicht dauern. Läßt der Inlandsbedarf

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Aber die Börfe hat jeßt viel wichtigere Dinge zu thun. Sie muß be wundern, wie ſich die Plebs um den Zeichentijch der neuen Ruſſenanleihen brängt. Wirklich: viel Pleb3 war dabei. Die hundertfache Ueberzrihnung ijt nicht alzn feterlich zu nehmen. So mander Schnorter verzeihen Sie, lieber Leſer, das harte Wort hat ſich weit Über feine Verhältniffe hinaus betheiligt. Ich börte, wie Einer zum Anderen fagte: „Neich möcht’ ich fein, was ich gezeichnet Hab’!”

Ferner hält es die Börſe für nöthig, Kleine jpefulative Haufen in Szene zu feßen; vieleicht mux, um ſich zu zerftreuen und auftauchende Sorgen zu ver: geilen. Bejonders auffällig war die Sturgfteigerung des Bergwerfs „Nordftern“, von befjen Aktien man zunächſt behauptete, fie würden in Paris eingeführt werben. Dann, als Das noch nicht genügte, verftieg man ſich jogar zu der immerhin fühnen Behauptung, der Norbdeutfche Lloyd gedenke, den „Nordftern” anzufaufen. Aus einer Stelle des lebten Gejchäftsberichtes könnte man allerdings ſchließen. daß der Lloyd nicht abgeneigt ift, durch Ankauf einer Kohlengrube fi) vom Syndikat zu emanzipiren. Recht zweifelhaft fcheint aber, ob er zu diefem Zweck fi gerade das Bergwerk „Nordſtern“ ausfuhen würde, das 20 Millionen Tonnen jährlich fördert und etwa 35 Millionen Mark foftet. Denn wenn ji der Pond auh vom Kohlenſyndikat emanzipiren will, jo will er ihm doch ſicher Feine Konkurrenz machen und ſich als Kohlenhändler auftgun. Die phantaſtiſchen Gerüchte erinnerten bedenklich an die vor kurzer Zeit über Gelſenkirchen in bie Welt gejegten Lügenmären. Wahricheinlich Handelt c3 ſich wieder um ein kleines Spielen, das am Ende gar in beiden Fällen von ben jelben Leuten’ begonnen war. Im Auffichtrathsregiiter des Bergwerks Norditern finden wir die Herren | Leo Hanau, Thyſſen und Kappel. Wie der Zufall ſpielt ... |

An ſolche Scherze verfchwendet die Börfe jeßt ihre Beit. Das ift ber | Illuſionkredit, von dem fie zchrt und Yuftichlöffer baut. „Wie nennt man Doc Geſchäfte jo betrieben? Man nennt fie Humbug, Humbug, meine Lieben.“

Plutus.

| - bei und nad), dann werden wir den Ueberſchuß unferer Produktion auf die fremden | Märkte bringen. Wir find entichlojlen, jedes mögliche Mittel anzuwenden, um | diefes Ziel zu erreihen. Und wir werden es erreichen, weil fein anderes Land | fo billig zu liefern vermag wie wir. Nach Rußland tollen wir Hinein; und | wein Sie in Deutichland uns durch hohe Zollmauern den Weg jperren, dann werden wir ‚sonen mindeltens die Eifenausfuhr abjchneiden, zunächft nad Oftafien

und bald hoffentlich) au nad} anderen Richtungen. So ungefähr ließ die jtählerne | Majeſtät fich vernehmen. Die immer läcjelnde Excellenz aber, die Deurjchlands Politik leitet, Hat neulich erit dem Erdfreis verfündet, nirgends ſei ein Punkt

zu finden, wo in abjehbarer Zeit die deutfche und die amerikaniſche Politik feir*

fälig zufammenftoßen könnten. Das konnte nur ein Diplomat ulter Schule L baupten, der die Bedentung wirthichaftlicher Kräfte und Zuſammenhänge nid

ahnt und zufrieden ift, wenn er von der Dand in den Mund leben und alle paa Moden fein Appläuschen einheimſen kann. Die Worte des Herrn Schwab müßte: verftändigen Jeitungjchreibern für Monate Stoff bieten; fie zeigen, welches U: gemitter heraufzicht, und jollten erfennen lehren, daß es zwischen den Vereinigte Staaten und dem Deutfchen Neid wichtigere Dinge zu erörtern giebt als die Fraç

ob ein Prinz drüben mit ber nöthigen Begeifterung aufgenommen worben ift.

Herausgeber und beranttwortlicher Redateur: Mn. Sardem in Berlin, Verlag der Bukunft mr _Drud_don Albert Damde in Berlin⸗Schöneberg.

Berlin, den 19. April 1902. 777

Palinodie.

FR Lehmann wurde wüthend, wenn man ihn einen Achtund⸗ vierziger nannte. Er war im rothen Lenz geboren worden, am Abend des Tages, wo Friedrich Wilhelm vor der Leichenparade den Hut ziehen mußte. Deshalbaber ift man noch kein Achtundvierziger. Das klingt heute fo hoͤhniſch, fo nach einer Ehrfurcht, die mühfam das Lachen verhält. Man denkt an einen zottigen Graubart, an Schaftitiefel, Havelod, Schlapphut, an ver⸗ witterte Ideale. Und Friedrich Lehmann hielt ſich für Höchft modern. Seit er inEngland geweſen war, ging er nie ohne Cylinderhut aus, trug Schnüre

ftiefel und Kleider nad) modiſchem Schnitt, den Bart, der erft facht ergraute,

aſſyriſch, ganzFurz gefchnitten. Eineleganter Herr in den beften Jahren. Auch ſchalt er die neue Zeit nicht. Manches war freilich anders gelommen, als er „gewünscht hatte, und mit den Bismärdern konnte'er ſich nie befreunden; zu wenig Ethos; fein Gefühl. für die Bedeutung fittlicher Mächte im Völfer- leben. Damit ward nun ja aber aus und nach langer Noth der Geift der Nation der Lehre ewiger Wahrheiten wieder offen. Die Zeit des Liberckis⸗ mus nahte und Herr Friedrich Lehmann erbat vom Schidfal nur das eine Gejchent: diefe Morgenröthe ihn noch fehen zu laffen. Auf jedes Symptom achtete er und Fam in Wallung, wenn irgendwo in der Welt ein Kampf für die Freiheit verkündet wurde. Dabei warer einguter Kaufmann; Bolitit und Gejchäft aber waren für ihn getrennte Gebiete, deren Grenzen ein Ehrenmann refpeltiren müffe. Nichts fonnte ihn fo ärgern wie die Nei— 7

94 Die Zukunft.

gung jüngerer Leute, bei der Politik ans Geſchäft, beim Geſchäft an die Be- Titit zu denten. Da war ſein Neffe Ernft Meyer. Ein gejcheiter Menſch, ders in der Großinduftrie früh zu einem Direltorpoften gebradht hatte und mit bem ſich angenehm plaudern lich. Wenn er nur nicht gar jo nüchtern wäre, fo unfähig jeder Begeifterung! Immer die jelbe Stepfis, die jelbe fühle Ab- lehnung aller Emphafe. Ein Junggeſelle, ber fchon ein hübjches Vermögen erspart hat und doch für Öffentliche Angelegenheiten nicht mobil zu machen ift, troßdem er am eigenen Leibe bie Wirkung unjerer Rüdjtändigfeit ſpüren mußte. Nicht einmal Reſerveoffizier war er, al8$udenjohn, geworden ; umb hatte jich im Dienft dod) redlich geplagt. Wenn in Gefellichaft die Rede auf Militärverhältniſſe und Uebungen fam, wurde er verlegen und ſuchte dem Geſpräch eine andere Wendung zu geben. Für den nothwendigen Kampf gegen die Reaktion aber war er nicht zu Haben. Politik ift Rokoko, fagte er und war ſtolz darauf, daßer ſeit zehn Jahren feinen Barlamentshericht mehr gelefen habe. Ihre Blauderftunden endeten faft jedesmal mit einer Disfo- nanz. Dod) der Onkel mochte diefe Seele nicht aufgeben. Nach der erften Flasche Perrier-Jouct ging es gewöhnlich los. Und heute konnte Herr Friedrich Lehmann jo lange nicht warten. Sein Herz war zu voll, die Ge⸗ legenheit zu günftig, einem Verirrten endlich den richtigen Weg zu weiſen. „Ka? Wie denken wir denn über Belgien? Dein Lieblingſatz war je immer: Induſtrie ift Freiheit. Damit bohrteft Du fämmtliche Fracht- dampfer meiner Hoffnungen in den Grund. Induſtrie ift Kultur. Nur feine politifche Aufregung; Alles fommt von felbft. Enrichissez-vous! Die Neichften find die Stärkften. Eine neue Maſchine ift wichtiger als ein Dutend Geſetze. Und jo weiter. Ich könnte das ganze Penjum herunter: leiern. Fürchte aber, daß die reifere Jugend nicht Necht behält; oder hoffe vielmehr, denn ich möchte in Deiner Buſineßwelt nicht leben. Yaduftrie giebts in Belgien doch genug. Auch an Geld fehlt e8 nicht; die Staatseinniahmen haben fid) in den letten zwölf Sahren verdoppelt. Von Freiheit aber merke ich nicht viel. Wer Augen hat, muß diesmal jehen. Nicht für höheren Lohn kämpfen die Leute. Sie legen die Arbeit nieder, Hungern mit Weib und Kind, feßen fic) auf der Straße den Uebergriffen der bewaffneten Macht aus, m" fie nicht länger in Unfreiheit leben wollen. Sie fordern ihren Theil ar Negirung. Ind trog allem Gerede von Klaſſenkämpfen marfchiren Bi. und Arbeiter hier vereint. Der Drud der klerikalen Herrſchaft laſtet fo ſch auf dent Yande, daß der Wunſch, von ihm befreit zu fein, alle Parteiun ſchiede verwiſcht. Lange genug hat man diejen arınen Deenfchen den Him

Palinodie. 95

mit Kutten verhängt. Jetzt wollen ſie endlich wieder die Sonne ſehen, frei denken und die idealen Güter, für die einſt die Väter ihr Blut vergoſſen, wenigitens ben Kindern ſichern. Noch ift nicht vorauszufagen, was fie er⸗ reichen werden und ob aus den Putfchen eine Revolution wird. Die Führer predigen ja Mäßigung. Aber es ift ein großes Beifpiel und der befte Beweis, daß die Intereſſenpolitik noch nicht unumſchränkt die Köpfe beherrfcht.”

„Ja ... Die Gefchichte hat uns auch befchäftigt. Zuerſt zogen Kohlen an und man glaubte, Sriedländer und Arnhold gratuliren zu können. Wenn im Borinage acht oder vierzehn Tage nichts gefördert wurde, mußten die Breife ordentlich Hettern. Mir ſchien die Rechnung gleich falfch. General⸗ ftrife hin oder her: der Ausſtand fonnte nicht aufdie Kohlengruben beſchränkt bleiben. Und fobald er andere Induſtrien ergriff, war wieder feine Kohlen» aothzuerwarten. Das hatdie Börfe auch bald eingejehen und den Hanifiers die Mahlzeit verborben. Immerhin warens eflige Tage. Der Gedante, Belgien könne Wochen lang feiern und ein Bischen Geerminal fpielen, ift nicht leicht auszudenfen. Gerade vor den franzöfischen Wahlen. Ein Funte, der über die Grenze fliegt, würde ben fchönften Brand anfachen. Natürlich hatte die Sache auch ihre guten Seiten. In Gejchäften gilt ja faft immer das martialifche Wort:Sunt mala,sunt quaedam bona, sunt mediocria plura. Je fauler e8 den Belgiern geht, die als Konkurrenten mit allen Hun⸗ den gehegt find, um fo beffer für uns. Heutzutage aber fürchtet man jede Ueberraſchung und ift ſchon zufrieden, wenn Alles ruhig bleibt. Wir fchlep- pen noch zu viele Reichen mit, um Sprünge wagen zu können. Namentlich jest, wo SJeder nur nad) London und Pretoria horcht und die Entfiheidung über den Krieg und die füdafrifanische Zukunft fallen muß, brauchten Cleo⸗ polds Unterthanen uns nicht noch nervöfer zu machen.“

- „Und fonft hat Did) an der Sache nichts interejjiert ?”

„Do. Zum Beifpiel der amujante Unfug, der mit der Forderung des Frauenſtimmrechtes getrieben wurde. Stoff füreinepolitifche Komoedie. ALS ich noch öfter nad) Belgien kam, hörte ich immer, die Arbeiter verlang-

en das Wahlrecht, fogar das paffive, auch für die grauen, die in Flandern, :jonders in Gent, in den Gewerfichaften vertreten find, überhaupt in der zialdemofratifchen Organifation eine Rolle ſpielen. Le suffrage uni- ersel sans distinction du sexe: wie oft bin id) damit gelangweilt wors nl Nun find die Konfervativen Du kannſt fie, wenns Dir Vergnügen acht, auch Klerikale nennen da drüben nicht auf den Kopf gefallen. achdem ſie den erften Schreck überwunden hatten, fahen fie ſich den radi- 7*

96 Die Zukunft.

falen Vorfchlag genauer an; und die Herren Eolaert und Woefte fanden, er fei nicht zu verachten. Schließlich find die organifirten Genoffinnen dad nur eine Heine Minderheit und die anderen Wahlweiber, die ‚bürgerlichen‘, gehören ber Partei, die über die Beichtväter verfügt. Vorläufig wenig- ftens. Dürfen die Frauen erft wählen, dann wird man fie natürlih dem Prieftereinfluß zu entziehen und unter bie Herrihaft modernerer Parteibonzen zu bringen fuchen. Das dauert aber eine hübfche Weile und inzwifchen ſitzt fich8 vor vollen Schüffeln ganz bequem. Weißt Du, was bie Theaterleute eine Verwandlung bei offener Szene nennen? So wars ir Belgien. Die Sozialdemokraten haben die Forderung des Frauenſtimm⸗ rechtes bis auf Weiteres vertagt und die drohenden Bucdhftaben S. U. be beuten ihnen nur noch das suffrage universel des hommes. Grund: wenn die Frauen mitwählen, bleiben die Konfervativen am Steuerruder. Deine ehrenwerthen Parteigenofien, die weder bie Proletarierinnen noch die frommen Beidhtfinder für ſich Hätten, haben erft recht FeineRuft, den Frauen politifche Rechte zu geben. So treten denn nur die ‚Realtionäre‘ für die holde Weiblichkeit ein. Bleibts bei der Proportionalwahl mit Bluralvoten: ſchön; wird aber das allgemeine und gleiche Stimmrecht durchgefekt, dann werden die Konfervativen fich alle Mühe geben, e8 auch den Frauen zn fihern. Das haben fie offen erflärt. Famos, nicht wahr?”

„Hm... Die Macht der Verhältnijje kann auch dent Tiberalften zwin- gen, eins feiner Ideale zurüdzuftellen. Darin fehe ich nichts, was Tadel oder gar Spott verdiente. Das Frauenſtimmrecht ift nicht fo wichtig wie die Befreiung vom Pfaffenregiment. Deine Gloſſen treffen die Hauptfadhe nicht. Dem großartigen Schaujpiel, das ein für Freiheit und Recht fech— tendes Volf bietet, kann ich mich nicht entziehen. Das aber haben wir hier vor ung. Es handelt fi) um den Kampf zweier Weltanfchauungen ... .“

„Gewiß. Das fagen jeit zwanzig Jahren und länger die beiden Bars teien, die um den Futtertrog ftreiten. Wenn die Tiberalen herrſchen, ift der BäterehrmwürdigerÖlaubein Gefahr ; und wenn, wie jetzt ſeit achtzehn Jahren, die Frommen regiren, wird jchon in der Schule des Volkes geiftige Freiheit vernichtet. Mit diefen Späßen haben die verfchiedenen Gruppen ber Bo geoifie überall der Maſſe langedie Zeit vertrieben. Das zieht nunnichtme Hungernde werden von den wundervolljten Ideologien nicht fatt, Onkel . Sich Dir mal Meuniers Bilder und Bronzen aus dem ſchwarzen Landr 1 und frage Did) dann, ob diefe Schlecht gefütterten Puddler, diefe in härtı, : Männerarbeitfaftaller Gejchlechtsreizeberaubten Frauen Lufthabenwer ,

Baltnobie. 97

für den Holuspofus Eurer Ideale ihr armes Leben aufs Spiel zu jegen. Ihre Lage bleibt unverändert, ob Klerikale, ob Liberale die Staatspfründen an fich reißen. Sie önnen nur felbft ſich helfen. Das -haben fie erfannt und fich deshalb organifirt. An pofitifcher Freiheit ift in Belgien kein Mangel. Du kannſt da ungefährdet Reden Halten und Artikel ſchreiben, für die Du bei ung. verdonnert würdeft, daß es nur fo frachte. Doch was nützen alle Freiheiten, wenn man ſich kaum alle acht Tage ein Stüd Fleiſch Leiften Tann? Wer in fotcher Noth fitt, giebt die Sydeale unter dem Selbftloftenpreis hin. Die nm die Beute raufenden Parteien müſſen thun, als handle ſichs um die be⸗ rühmten heiligften Güter. Wenn wir irgend einen Magiftrat beftochen und der Konkurrenz einen Auftrag weggefchnappt haben, jagen wir auch der Seneralverfammlung, daß wir ftolz darauf find, der nationalen Arbeit neuen Boden erobert zu haben. Ohne Bhrafenichleier mag Keiner in bie Sonne gehen... In Jedem von ung ftedt ein Snob; und ich leugne gar nicht, daß die Hoffnung, eine richtige Revolution erleben zu fönnen, mich angenehm fitelte. So was aber machen höchftens noch die Franzoſen; Wal⸗ onen und Vlamen find, glaube ich, dafür nicht zu haben. Der belgiſche Ar- beiter fordert das Wahlrecht, weiler eingefehen hat, daß nur politifche Macht - ihm zu befferen Arbeitbedingungen helfen kann. Strifesfind zu ofterfolglos geblieben. Eine Partei, mit der die Negirung rechnen muß, Tann Allerlei durchiegen. Und über kurz ober lang werden die Leute ihr Ziel erreichen!“

„Das aljo giebft Du wenigftens zu?”

„Nicht erſt feit geftern. Wenn ich das Geheul über die Laften ber Arbeiterverficherung, über den wachienden Anfpruch auf Lohn und Gefund- heitfchuß hörte, habe ich immer gejagt: Abwarten ; fommt überall. Ich bin vom Segen der Demofratie nicht allzu feft überzeugt ; aber auf perjönlichen Geſchmack kommt e8 fa nicht an. Die Entwidelung ift nicht aufzuhalten. ‚Daher der Sat, ben Du mir vorwirfft: Induſtrie ift Freiheit. Allerdings erft nach einer Epoche der Sklaverei. Ich könnte auch fagen: Induftrie ift Revolution. Die auf der Straße errumgenen Siege können unbelohnt, die fchönften Geſetze auf dem Papier bleiben: der dicht zufammengepferchten, mit bem für ihre Arbeit nöthigen Bildungminimum ausgejtatteten Dienge Tann Beine Macht ber Erde auf die Dauer ihr Recht vorenthalten. Das tröftet mid manchmal, wenn jich die Scham meldet. Sie vos non vobis nidifi- catis'aves. Eines Tages werden wirja doch entthront. (Hoffentlich dauerts noch ein Weilchen, denn mein Altruismus ift an gute Nahrnng gewöhnt.) Ein Staat von ber ausichließlich mduftriellen Kultur Belgiens kann nicht

98 Die Zutunft. |

lange oligarchiſch vegirt werden. Ich fehe nur zwei Möglichkeiten. Entweder wird die Verfaffung geändert und das allgemeine Stimmredk gewährt: dann giebt es ftatt dereinunddreißig bald ſechzig Sozialdeımofrateu in der Kammer, ber Lohn fteigt, die Arbeitzeit wird verfürzt und wir find eine Konkurrenz los, die ung oft genug unterbot. Oder die berrichenden Kapitaliften, fromme und gottlofe, find blind und fträuben fich, bis e8 zu ſpät ift: dann fommt e8 zur Revolution und die Koburger lönnen Die Koffer paden. In feinem Fall jieht die Zukunft heiter aus. Ueberall verringert ſich die Zahl der Auszubeutenden. Weite Abjaggebiete, deren Bewohner wir die Maſchinentechnik gelehrt haben, verjchließen ſich unſeren Produkten und der Arbeiter erhebt den unerhörten Anſpruch, wie ein Menſch zu leben. Neue Märkte? Profit Mahlzeit! Diefe Wonnen fpüren wir ſchon in den Gliedern. Das wird ein Hauſirgeſchäft ſchlimmſter Sorte,bei dem Europa nicht auf die Koften fommen wird... Und da wunderft Du Dich und zürnft, weil ich für Eure Politif nicht zu haben bin, Ich könnte mir eine Politik denken, der ich meine Bequemlichkeit opfern würde. Weltbund gegen Norbamerifa, das uns fonft auffrißt. Rußland muß mit der Furcht vor der aſiatiſchen Kon⸗ furrenz für die Sache gewonnen werden. Frankreich kann über bie Pyrenäen gehen. Da ift gloire und revanche zu finden. Es ift Doch zu dumm, daf auf dem Heinen europäißchen Feſtland der verfaulende Staat der Spanier geduldet wird. Die würden fich irgend einen Loubet mindejtens eben fo gern gefallen laffen wie einen Alfonjo oder Don Karl, wenn nur Geld ins Land fäme; zu ernfthaftem Widerftand reicht ihre Kraft auch nicht. Und bie Franzoſen wären für hundert Jahre beſchäftigt und könnten die guten Bilder, die jetzt in Madrid vergraben find, mit nad) Paris nehmen. Und dann...“ „Dann ſchicken wir die verbündeten Flotten nad) New-⸗York, bom⸗ -bardiren und vermwüften, was zu erreichen ift, und laffen uns jo ungefähr fünfzig bis fiebenzig Milliarden als Kriegsentichädigung zahlen. Daswärde ſelbſt die Yankees für ein Menfchenalter unfchädlich machen. Nicht wahr: fo etwa denkſt Du Dir die Politik, die Dich reizen fönnte? Daß Du Ideale haft, ijt danad) jedenfalls unbeftreitbar. Nur find fie ein Bischen... Bischen urwüchfig, mein Junge. Das Heine Wörtchen ‚Recht‘ fehl 1 Deinem Katechismus. Macht! Macht! Ob die einfachften Pflichten der. manität verlett, die Rechte fremder Völker gebrochen werden, ift gleichgil der Zweck Heiligt die Mittel. Sn meinem ganzen Leben bin ich mir nid rücjtändig vorgelommen. Alfo Straßenräuberpolitil, Sid) zufamı rotten und Jedem, der vorüberfommt, die Werthjachen abnehmen. Dr

Palinodie. | 99

Die neue Schule. Meinetwegen. Dann aber weiß ich wirklich nicht, was wir den Engländern vorwerfen. Auch Herr Chamberlain hat dann Recht.“ „Natürlich, wenn er die Macht hat, fich fein Recht zu prägen. Damit haperte e8 aber bis jett. Du thuft, als gäbe ich mich für den Erfinder einer neuen Methode oder Schule aus. Keine Spur. So ift immer Politik ges trieben worden. Zuerſt für Fürften, für eine Heine Schaar Privilegirter, dann für ganze Nationen. Das ift doch ein Fortfchritt. Zeige mir einen Staat, der unter Wahrung ermorbener Rechte entitanden ift. Das Recht Hat Sich nachher gefunden. Selbſt Deine geliebten Buren haben den Kaffern erft ihr Land geraubt und die Heimathlofen dann zu ihren. Sklaven ge macht. Mit dem Necht der höheren Kultur? ‘Darauf berufen fich auch die Engländer. Ohne Rügen gehts in großen Öefchäften nun einmal nicht. Der alte Salisbury hat feierlich erflärt, Großbritanien wolle in Südafrika weder Gold noch Land erobern. Die Buren haben hundertmal-gejagt, fie würden bis zum legten Mann fürihre Unabhängigfeitfchhten. Das erjchwert jett den Friedensſchluß. Die Briten wollen Land und Gold, die Buren haben den begreiflichen Wunſch, die Reſte ihrer Freiheit möglichft theuer zu verlaufen; . fie werden nicht tot de bitter end fämpfen, ſondern zufrieden fein, wenn fie für ihre Farmen und Biehverlufte reichliche Entichädigung befommıen. Beide Bölfer möchten ‚das Geficht wahren‘, wie die flugen Chineſen jagen, und deshalb ziehen die Verhandlungen fih Hin. Wenn fie beendet find, können wir die Bilanzen prüfen. Vielleicht fchließen die Engländer ſchlecht ab; dann dürfen fie fich bei ihrem Eduard bedanfen, der nichtS im Kopf hat als feinen Ceremonienkram und als Friedensfürft gekrönt fein will.“ „Mir Scheint der Schlechte Abſchluß Schon Heute nicht zweifelhaft. Bon den moraliichen Einbußen will ich gar nicht reden; fonft würdeft Du mid) am Ende wieder einen Achtundvierziger jchelten. Aber fieh Dir die Ziffern der Kriegsfoftenrechnung an. Schon war das Barlament gezwungen, einen Zoll auf Korn und Mehl zu bemilligen. Schutzzoll in England! Wer dieſes Hägliche Ende der Bolitif Peels vorausgejagt hätte, wäre nod) vor drei Jahren ins Narrenhaus gewiejen worden. Aber Reaktion und Schutzoll gehören nun einmal zuſammen. Das weiß der fchlaue Chamberlain; deshalb war er für eine größere Anleihe und gab erſt nad), al8 er fühlte, daß Hicks Beach die Mehrheit der Regirungpartei hinter fich Hatte.” „So jtands in der Zeitung. Aber wir find doch Kaufleute und können rechnen. Erreicht England fein Biel, dann fommt ein boom, wie wir Beide noch feinen fahen; alle Börfen des Kontinentes freuen fid) jeit zwei Jahren

100 Die Zukunft. darauf und die hohe Miinenfteuer, die Rhodes jetzt nicht mehr hindern Tann, wird den Naufch faum ftören. Damit aber ift die Sache nicht abgethan. Wenndiebeiden Holländerrepubkilen englifche Krontolonien werden einer- fei, welchen Namen man dem Rinde giebt —, fo ift Afrika englifch. Dos will Etwas fagen. Was bedeutet daneben das Bischen Finanzzoll, das im nächften oder übernächiten Budget wieder bejeitigt werden fann? Ich will uns mit dem Beweis, daß politifche Freiheit und Freihandelnurden Namens» Hang gemeinfam haben, nicht den Abend verderben; Franzoſen und HYankees find, trog den Schußzöllen, ja wohl nicht gefnechtet. Warum aber brauchen wir überhaupt fo große Worte? Peelund Eobden könnten wir ruhen lafſen. Jeder Engländer wußte, daß der Krieg theuer wird, Das Land ift reich genug, um ihn zu bezahlen, und die überwiegende Mehrheit würde auch doppelt fo hohe Koſten ohne Murren tragen. Chamberlain, ein Niberaler, dem ohnehin fchon die Verleugnung der wichtigiten Parteigrundfäge vorge⸗ worfen worden ift, ſcheute natürlich das onus, den Nebensmittelzoll vorzu- ſchlagen. Das paßt beifer für die alten Zorics. Wenn Joe ſich Rofebery, dem Kandidaten des Königs, verbündet, kann ihm Keiner nachſagen, er habe, als demofratifcher Staat3jozialift, da8 Brot des armen Mannes vertheuert. Das ift der Zweck der Uebung. Er ift überftimmt worden. So madjen wirs

doch auch; nur ift für uns, da wir Alles dem Aufjichtrath zufchieben fönnen,

die Sache nod) viel bequemer... Siehft Du: diefe Umftändlichkeiten verlei-

den mir die Politik. Ich will mich wahrhaftig nicht aufipielen. Mer Jahre

lang gereijt ift, um Aufträge zu befommen, und mit talienern verhandelt

bat, ftolpert nicht über eine Yüge. Aber das dumme lügen, das Keinen täufcht,

diefe gräßfiche, finnlofe Wortmacherei: da kann ich nicht mit.“

„Und unter diefem Vorwand entzichft Du Did) der Staatsbürger: pflicht und läßt die Dinge gehen. Bis Dein Kricgsplan gegen Anterifa aus- geführt wird, wirft Du nod) cin paar Tage warten müjfen. Giebt ed m: zwijchen nicht zu Haufe Einiges zu thun? Du merlſt doch felbft, wie die Reaktion und bedroht. Deutichland ftcht vor einer Kriſis, die zur Bernidj: tung ſeines Wohljtandes führen faun. Siegen die Junker diesmal, dan werden jie fi) ar die Macht Hanımern, mit ihrer befannten brutalen Nüd fichtlofigkeit den Erfolg ausnügen, dem gefeffelten Bürgerthum den Fuß an den Naden fegen und ung den Reſt von Freiheit nehmen, der uns noch blieb.

„Uber fie ſiegen ja nicht. Site jind ja ſchon befiegt. Du denkſt an de

- 2 ®. Bolltarif. Ich muß geftehen, daß die Sache mic) nicht ſehr interefjirt: Ser

einem Jahr mindeftens wiſſen wir, daß der Export nad) manchen Pänderr

Palinodie. 101

erſchwert wird. Das iſt unangenehm, aber nicht ſo ſchlimm wie andere wirth⸗ ſchaftliche Vorgänge, gegen die wir auch nichts machen können. Wir haben uns, wie bie ganze Induſtrie, darauf eingerichtet, und warten nun ab, wie die neuen Handelsverträge ausſehen werden. Bei Euch dauert Alles fo furchtbar lange. Ein Sieg der Leute, die Du Junker nennft, ift ganz aus- geichloffen. Das wiſſen fie jelbft. Dan will ihnen nur ben Uebergang er- leichtern. Reichthümer werben fie auch unter dem neuen Tarif nicht ſam⸗ meln. Was joll ich num thun? In Bezirksvereinen gegen ben Brotwucher reden, die Vortheile des fchlecht reftanrirten Dreibundes preifen oder zu er» rathen fuchen, warum ber eine Minifter dahin, der andere borthin gereift ift? Den Buren ein langfames Verbluten wünfchen, trogdem jede Verlänges rung des Krieges uns Schaden bringt? Don foldher Thätigleit kann ich mir feinen Nuten veriprechen. Ihr wollt den Adel aus feinen Privilegien jagen und fucht ihm deshalb die Lebensmöglichkeit zu jchmälern. Das ift nicht ımfer Ziel. Wir wollen die Anderen nicht ärmer machen, fondern uns bereichern. Schon der guten Raſſe wegen möchte ich die Junker nicht entbehren. Du haft num mal die Antipathie. Achtundv ... Bardon! Schließ- lich mußt Du Dich aber doch fragen, was Ihr biöher erreicht habt. Nichts, fheint mir. An Euren Reden liegt es nicht, daß die Bourgeoijie ftark ge: worden ift. Das ift die Folge der großfapitaliftiichen, großinduftriellen Ent- wictelung, die heute längft viel zu weit gediehen iſt, als daß irgendeine Partei oder Gruppe fie dauernd hemmen könnte. Siehe Nordfeefahrt. Schwanf- ungen find möglich; einen Stillitand kann e8 auf dem Wege nicht geben, der nad) England oder wahrjcheinliher nad) Belgien führt. Nehmen wir an, wir wären ſchon am Ende. Belgien zwijchen Oder und Eibe, mit ſcharfer Konkurrenz, ungeheurem nduftrieproletarigt und dem berüchtigten ‚plutofratifchen Wahliyften‘. Würdeſt Du Did) dann für das allgemeine Stimmrecht begeiftern? Ich nicht; und Deine Parteigenoffen thun es da, wo fte nicht zu gewinnen, nur zu verlieren haben, auch nicht. Wir Alfe halten eben nur die Güter für heilig, deren Genuß ungficher ift. ALS ich nicht Rieute- nant wurde, habe ich mich ſchmählich geärgert und aufdie Neaftiongefchimpft, das Du Deine Freude dran hatteft. Doch man wird älter; und wenn man die Maſſen nicht hinter, fondern gegen fich hat, muß man eine befondere Taftif erſinnen. Wir find Kleifch von Eurem Fleiſch und haben die gute Sache nicht ſchnöde verrathen. Aber wir haben von einem Sänger gehört, der, weil er eine ſchöne Königstochter beleidigt hatte, mit Blindheit beftraft ward und das Angenlicht erſt wieder erhielt, als er in einem neuen das alteXied wider- rief. Wir fummen nur und haben Eure Sünde dennoch jchon gefühnt.‘ s

102 Die Zuhmtt.

Nervoſität und Runftgenuß.*)

SD" Werthung de3 Kunftgenuffes pendelt feit einiger Zeit zwifchen zwei deutlichen Extremen. Auf der einen Seite if, wie Kurt Breyſig gelegentlich mit Recht bemerkt, der Tozialpädagogifche Eharalter der Kunſt felten fo ftark betont worden wie in unferen Tagen. Die Nutzkunſt nimmt immer breiteren Raum für ji in Anſpruch. Man will dad Leben, auch das ber Einfachen, flilijiren; und beim Kinde fol angefangen werden. Was das Kind heute umgiebt, fo hörte ich einft den Darmftädter Georg Fuchs empört rufen, ift häßlich, nur häflich, und wir wollen, daß unfere Finder in Schönheit aufwachſen. Die erften Künftfer dichten und malen Bilder- bücher, in Hamburg werden Kinder in Galerien und Theater geführt und man entwirft ftilvolle Kinderftuben. Berlin folgt darin nad. Auf der anderen Seite aber wird lauter und nadhdrüdlicher als je auf die Gefahren einer Aeſthetiſirung der Erziehung und Lebensführung hingewiefen. Wir denfen dabei nicht an das Urtheil des Philifters, der nach der offiziellen Salerienjagd im feinem brummenden Schädel den Schluß zieht, die Kunſt mache doch auf die Dauer die Nerven faput; wohl aber ift e8 ein bedent- fame8 Symptom, wenn Nervenärzte vom Range eine® Oppenheim, eines Binswanger dringend ihre Stimme erheben und die Nervojität der Zeit in nahe Beziehung zum äfthetifchen Genuß fegen.

Man darf ja das Urtheil diefer Männer nicht als unbedingt uman= taftbar hinftellen. Seit Dubois:Reymond Goethe und Bödlin vernichtete, wird man im Gegentheil dem Öutachten medizinischer Autoritäten über Kunft recht ffeptifch gegemüberftehen dürfen. Es kann Einer ein hochbedeutenber Neurologe fein, ohne ein inneres Verhältniß zur Kunſt zu haben; wer Das aber nicht hat, wird über Kunftdinge ſtets fchief und ungerecht urtheilen. Aber freilich: nicht Feder gefteht Das fo freimüthig ein wie Bismard; ein Bischen Zamilienanfhluß an die Kunſt will Keiner fo leicht miffen. Ob ihre DVerhältnig zur Kunſt aber enger oder Lofer fei: Männer von folder Bedeutung und folcher geiftigen Macht über ihre Sphäre, wie die genannten Nervenärzte es jind, wollen und müfjen gehört werden. Nichts hindert ung, ihre Anſicht, thuts Noth, ſcharf abzulehnen, Alles aber, fie zu ignorire

Eid mit ihr zu befhäftigen, it jchon darum befonders interefi. weil die beiden Warner auf ganz verfchiedenartige Wirkungen des Kun genufjes abzielen. Oppenheim hat vornehmli das finnficde Subftrat

*)Der Berfaffer hat bisher feine literarijchen Arbeiten unter bem Pſeudon Ernſt Gyſtrow veröffentlicht; er wird fie fortan mit feinem bürgerlichen Namı zeichnen und legt Werth darauf, die Identität beider Namen feitzuftellen.

nn T

Mervofität und Kumftgenuß. 103

äfthetifchen Genüffe im Ange: die Töne, die Farben, die Formen auch, fo weit fie elementar jinnlih, etwa ſexnell aufreigend wirken. Wir Alle wiſſen, daß jede intenfive und lange dauernde, dazu häufig wiederholte Inanſpruch⸗ nahme de3 gleichen Sinnesorgans zunächft dieſes und ſekundär uiferen ganzen Drganismus in den Zuftand der Ermüdung verfegt. An und für ſich kenrnu alfo diefe Wirkung auch jedem Kunſtwerk zu, wenn es eben zu lange, zu ftart und zu oft genoffen wird, welcher Gattung und Zeit es auch ange- hören mag. Und nur der Beweis, daß bie moderne Kunft mit befonders ftarfen und zeitlich ausgedehnten finnlichen Mitteln arbeite, daß fie unfere Sinnesorgane Iebhafter und länger befchäftige, könnte den Vorwurf recht- fertigen, daß fie mehr als die Kunft vergangener Zeiten unfer Nervenſyſtem zu ermüden geeignet fei. Dann würde auch zu folgern fein, daß jie neu— ropathiſch wirle. Denn, ob es nun theoretifch richtig oder philiſtrös oder fonft mas ift, praftifch fuchen wir unleugbar Alle mit Ausnahme der Künftler und der NRezenfenten von Beruf in der Kunft ein Gegengewicht zur Alltagsarbeit. Dieſe aber hat für weite Kreife heute einen Charakter angenommen, der das Nervenfyitem ftärfer denn jemals beeinflußt, abuntzt und fchädigt; beſonders durch bie unendlichen Verfeinerungen und Verwides lungen, die die perfönliche Berantwortlichfeit in ber kapitaliftifchen Gefell- fhaftform erfahren mußte. Füllt alfo, nach folcher Berufsarbeit, unfere Exholungftunden ein Kunſtgenuß aus, der erweislich die Abnugung der nervöfen Kräfte fortjegt, ftatt fie zu paralyſiren, jo kann er von fchwerfter Mitfhuld an der Neruofität unjerer Zeit nicht freigeiprochen werden, zumal er, im Gegenſatze zum Beruf, der vermeidliche Faktor in ber Urfachengruppe diefer Nervoſität ift.

Ganz andere Seiten des äfthetifchen Genuſſes aber will Binswanger mit feiner Anflage treffen. Er nimmt die moderne Kunft im Befonderen aufs Korn. Nicht ihre finnlichen Ausdrucksmittel, fondern ihr intellektueller Gehalt erregt feine Beforgnig. Ihre Sucht, das Krankhafte zum Problem . zu nehmen, der Seele bis in die perverjeften Verirrungen nachzugehen, das Jämmerliche intereffant und heldenhaft zu machen, endlich, den fchlichten Löfungen im komischen oder tragifchen Sinne auszuweichen, um ftatt Deſſen ihre Schöpfungen in dumpfe Schwüle oder in fehrille Miktöne ausklingen zu laffen. Auch hier ſetzt alfo die Kunſt in bedauerlicher Weife Alles fort, was das moderne Leben im Beruf als ſchwerſte und bedenklichite Schäden uns zufügt; dad Schwanfen aller Normen, der bodenloje Relativismus, ber das Widrigſte erklärlich, entichuldbar, ſchließlich berechtigt finden will, alle8 Das quält und zernagt unfere Hirnzellen nun auch noch in den Stunden, die dem Ausgleich diefer Schädigungen, der Erholung von den Berufs: attaden, der Herftellung des feelifchen Gleichgewichtes dienen follten. Wie

104 Die Zukunft.

es begreiflich ift, feſſelt Binswanger, ben Pſychiater, mehr die rein pfychiſche Seite des äfthetifhen Genuſſes; während Oppenheim, dem Neurologen, bas Nervenſyſtem in feiner phyitologifhen Widerftandsfraft bebroht fcheint. D.penheim bezieht jich bei feiner Beweisführung vor Allen auf das moderne Mufifdrama. Ihm ift eine Dper von Wagner Yweierlei: zuerft wohl ein äſthetiſcher und inteleftueller Genuß, dann aber die Quelle eier tiefen Erfchlaffung des Nervenſyſtemes. Was aus einer ſolchen Auffaffung, die wohl ziemlich Jeder theilt, folgt, ift an fih Har. Sein Kunſtbedürftiger wird wegen der Ermüdung auf den Genuß Verzicht leiten wollen; wer fidh zu ſolchem Berzicht entfchlöffe, hätte eben kein zwingendes Kunſtbedürfniß. Aber Jeder wird fich fagen, daß e8 eine Grenze giebt, wo die Ermübung den Genuß vernichtet, und daß e8 dieſe zu reſpektiren gilt. Zunächſt follte man hier immer ganz frifh an den Genuß herantieten können. Das if ganz im Geifte Wagners, der feine Muſikdramen als Feftipiele dachte. Einen Beiertag, an dem Leib und Seele gerubt haben, jollen diefe Schöpfungen krönen, nicht aber einen Werktag abjchliegen, wo man abgehegt und müde vom Arbeitzimmer ins Theater rennt. Zweitens muß der Genuß felten fein. Die Nerven und Sinneöwerkzeuge bedürfen immer einiger Zeit, um aus ber Ermüdung zur vollen Empfänglichkeit zurüdzufehren. Ich entiinne mich, daß ich in Leipzig als älterer Student einmal eine Konzertwoche „ausgekoſtet“ habe. Am zehnten Tage überfam mich ein wahrer phyjifcher Efel vor der Muſik; ich war unfähig, Nicolais „Luſtige Weiber“ mit anzuhören; ihre von mir über Alles geliebte Duverture, meifterhaft gefpielt, trieb mid) aus dem Theater. Ich war vernünftig genug, mir eine völlige Abftinenz von bier Wochen aufzuerlegen. Da erfaßte mich von ſelbſt wieder das Bedürf⸗ niß nad) Muſik und mit frifher Kraft genoß ich ben „Eulenfpiegel" von Strauß, der doch dem Ohr ſchon mancherlei Zumuthungen ftellt. Aber ein vernünftiges Haushalten in äfthetifchen Dingen, wie ich es ſeitdem ftreng geübt Habe, wird bei uns in hohem Mafe erfchwert durch die Abonnements auf Theater und Konzerte. Selbſt mo es fi, wie ja meift, nur um Zheilz Karten handelt, bleibt doch der Llebelftand, dag man fich den Tag des Kunſt⸗ genuffes nicht frei wählt, fondern an die regelmägige Abfolge gebunden it. Und diefe freie Wahl gerade erfcheint mir fo bebeutfan, daß ich am Liebſten fogar den Vorverkauf der Billet8 abgefchafft fehen würde. Es foll eben ein leichter, harmonifcher Tag fein, den der Genuß eines Kunſtwerkes abſchließt: ob er Das fein wird, vermag ich nad einem alten Sprichwort am Morgen noch nicht zu beurtheilen. Höchſtens, wenm ich meinem alltägliden Milten entrüdt bin: in Bayreuth etwa. Aber ein Alltag im Haufe fihert uns, er mag noc fo vergnügt ſich anlaflen, für den Abend noch Feine Feſtſtimmung. Einer unbefchäftigten jungen Vourgeoistochter vielleicht; dem modernen Kanuf⸗

Mervofität und Kunftgenuf. | 108

marm, Arzt, Politiker nicht; eher noch dem Beamten. Wer jeden Tag um die felbe Stunde eine beftimmte Zeit in der Galerie zubrächte, Deſſen Ber- hältniß zur Kunft würde man wohl als fehr offiziell beargwöhnen; beim Theater gehört das Selbe, namentlich in den Mittelftädten, in ben Reſidenzen befonders, zum guten Ton. Und nun als Legtes: die Ermüdung darf nicht tisfirt werben, wo wir des Genuffes nicht Sicher find, und vor Allem nicht da, wo ficher fein Genuß fie ausgleicht: beim Kinde. Wefthetiiche Ueber⸗ anjtrengung ift Mord am findlichen Nervenſyſtem, alfo an der Kinder feele. Denn mehr, viel mehr als beim Erwachſenen ift die Pſyche beim Kinde ein Spielball nervöfer Einflüffe. Noch fehlen die reich entwidelten Hemmungen, durch die wir unferer Nerven oft Herr werden; noch fehlen die konſtanten MWillensrichtungen, wie Wundt e8 nennt, nocd giebt fich der Organismus jedem finnlichen Eindrud ohne Widerfland und ohne Schmälerung hin. Aber num fpigt fih unfer Thema eben zur entfcheidenden Frage zu: Mas ift äfthetifche Ueberanftrengung fürs Kind? Was dürfen wir ihm an Kunft- genug zumuthen? Welche äfthetifchen Dofen können, ſollen wir ihm viels feicht gar verabreihen? Oppenheim hat die Frage radikal beantwortet; überhaupt feine. Das Sind bleibe der Kunft fern. Es ift unempfänglic für ihre äfthetifchen und intelleftuellen Schönheiten, empfänglich nur für ihre Schäden. Er fagt Das nicht ganz fo unverblümt, aber er meint es fo; Dos fühlt man. Theater, Galerie, Konzertfaal: jie feien dem Kinde eben fo verfchloffen wie Kneipe, Zingeltangel und Ball.

Damit wäre alfo einer altmodifchen, Heinbürgerlich-Fleinftädtifchen An- fiht die Approbation einer vornehmen Autorität der Nervenheilkunde ge wonnen. Die Erziehung der Kinder zur Kunft wire offiziell verurtheilt: al3 im beiten Fall zwedlos, als meiftens ſchädlich. So hat man in guten, mittleren Burgerkreiſen bis Heute auch gedacht; und ich meine, nicht ohne einigen Grund. Es fteht doch wohl außerhalb jeder Debatte, daß man ein Kind nicht vor Probleme fielen wird, die es einfach noch nicht fallen kann. Probleme aber find fo ziemlich alle Inhalte der großen künſtleriſchen Echöpf- ungen. Denn felbft mo die Liebe, die fonft dominirende, eine mebenfächliche Rolle fpielt, wie bei Schiller, der doch vor Allem bie großen fozialen Leiden— haften in Handlung treten läßt, felbit da vermag das Sind vielleicht on der Darftellung diefer Leidenfchaften fich zu beraufchen, für ihre innere

* Größe oder Niedrigkeit aber fehlt ihm noch jeder Maßſtab. Der eigentliche intellektuelle Gehalt diefer Werke wird fpurlo8 am findlichen Berftändniß borübergehen und nur ihre jinnlichen Beftandtheile werden zu Ausſchlag gebender Wirkung gelangen.

Die Berechtigung der Antwort Oppenheim aber liegt in der That— fache, daß die Entfaltung des äfthetifchen Sinnes im Menſchen durchſchmitlich

106 Die Zutunft.

mit der der geichlechtlichen Reife Schritt hält. Durchſchnittlich: es giebt Aus- nahmen; beſonders die Muſik bat feit je her Wunderfinder geliefert; aber was bedeuten fie gegen die Mafle! In der Regel ift das Kind vor ber Pubertät äfthetifch gleichgiltig.. Nur Grelles und Lautes, Glänzende8 und Rauſchendes vermag feine Inbdifferenz zu flören. Eine Militärkapelle, eim brennender Kronleuchter, ein buntes Bühnenbild erregen vielleicht fein Ent= zäden, Kammermuſik, Gemälde, ein WallenfteinMonolog verurfachen ihm Zangeweile. Aeſthetiſch, wohlverftanden; daß es vielleicht an allerhand Nebenumfländen Intereſſe finden kann, ift davon zu trennen. Erſt mit dem anwefenden Gefühl fürd andere Gefchlecht erwacht auch das eigentliche äfthetifche Empfinden, beginnt die Entfaltung der dauernden Affelte und Willens- äußerungen. Alles, was voranging, war proviforifch; wie oft wandeln ſich nun ftille, verfchüchterte Finder in aufgeweckte, ſelbſtbewußte, wie oft werden laute, ungezogene ſcheu und in ſich gelehrt. Vor ber Pubertät läßt Feine Individualität fih mit Sicherheit prophezeien. Auch na der Seite ber intellettuellen Begabung Hin nicht. Jeder Lehrer weiß, welche überrafchenden Wendungen in bdiefer Zeit fich oft vollziehen; und die moderne Pfychiatrie zeigt ung in dem trüben Sfrankheitbilde der Jugendverblödung, der dementia praecox, wie die heidelberger Schule fie nennt, eine nur allzu häufige Ers fcheinung, bei der die Wirkungen der gefchlechtlichen Entwidelung hoffnung: vollfte geiftige Anlagen dem langiamen, aber rettunglofen Verfall preisgeben.

Bor diefer entfcheidenden Wende dem Kinde mit Gewalt äfthetifchen Sinn einpflanzen zu wollen, wäre grenzenlofe Thorheit. Dieſes Frühbeet würde, grob gejagt, ein Miftbeet werden. Man müßte zur Entfaltung bes äfthetifchen Empfindens das gefchlechtliche vorzeitig aufrütteln und ich beneide Keinen, der vor diefen Unterfangen nicht zufchredt. Ueber die Fälle des außergewöhnlich früh erwachten Gefchlechtstriebes öffnet der Nervenarzt feine Journale nicht gern. Auch de3 normalen Ceruallebens Borboten, wie fie vereinzelt vom elften Fahre an aufzutreten pflegen, find, ftreng genommen, Perverjitäten, Regungen ntafochiftifcher, fetiſchiſtiſcher, fadiftifcher Nuance; fo weit fie in der Öefundheitbreite liegen, pflegen fie mit dem eigentlichen Beginn der Pubertät, alfo zur Zeit der Bildung und Ausſtoßung ber Geſchlechtsprodukte, zu verfhmwinden und der natürlichen, auf ben Berfehr mit den anderen Geſchlecht gerichteten Sinnlichkeit zu weichen. Wer ab diefen dunklen Gefühlsbewegungen ſyſtematiſch Vorſtellungskreiſe fchaff wollte, an die fie ſich Heften, an denen fie jich ausleben könnten, Der wär. feine Schrecken erleben und gar bald erkennen, daß er die Welt un r Anzahl der ohnehin ſchon Zahlreichen vermehrt Hat, die den 8 175 ff... Reichsftrafgefegbuches zu fürchten haben. Das wäre die jichere Frucht eiı in dieſem Sinne geübten Kunftpädagogif. |

Nervofität und Kunftgemuß. 107

Aber die Sache läßt doch auch eine andere Betrachtung zu. Jeder Kunſtgenuß fest ſich, aud rein ſinnlich betrachte, wieder noch aus zwei Komponenten zufammen. Bon denen ift die eine angeboren, die inftinftive Afthetifche nämlich, umd ihre Grenzen vermag unfer Zuthun überhaupt nur fehr wenig zu verrüden; von. den drei hier vorliegenden Möglichkeiten wird am Cheften noch die zutreffen, daß der Geſchmack verborben wird. Weniger fchon ift feine Verküummerung zu fürchten und faum fann er überhaupt ge- fteigert werden. Die andere Komponente aber will erlernt fein, fie verlangt Schulung; es ift die technifche Ausbildung unferer Sinne. Das Bermögen, zu hören, zu ſchauen. Und diefe Schulung follte wohl bie eigentliche Kunft- pädagogifche Aufgabe fein: Kinder follen Iefen, betrachten, hören lernen.

Für diefe Aufgabe fcheinen mir unübertroffen und unübertrefflich die programmatifchen Keitfäge fich zu eignen, die Mar Liebermann in feine Anfprache bei ber Eröffnung einer berliner Sezefjionansftellung eingeftreut hat: „Kunft ift, was die großen Kunſtler gemacht haben." Ein Sap, den Tiebermann dem Heiligen Auguftin entlehnte, kunſtgeſchichtlich und kunft- pſychologiſch fo anfechtbar wie nur möglich, leicht aus allen Perioden der Kunftentwidelung heraus zu widerlegen; pädagogifh aber und agitatorifch von eminenter ZTreffjicherheit und dauerndem Werth. Durch ihn fcheidet ſich die nene Kunftpädagogit verföhnlich von der alten. Unfere Schulen haben als Kunft bisher mejentlih nur Sunftgefchichte getrieben. Kunft war für fie: wann die Künſtler große, mittlere, Eleinere und ganz Heine ges boren und geftorben, vermählt und preisgefrönt oder verhungert waren; war ein Haufe von technifchen Bezeichnungen für fogenannte Stile; war am Allerfchlimmften! oft nur ein Lobpreiſen der Fürften, unter denen die Kunft gefördert oder doch wenigftend was auch ſchon Etwas ift ges duldet wurde. Das Alles bat gewiß auch fein Feſſelndes, aber es fommt doch zulegt in Betradht; und wenn die Kinder nicht gerade Kunſthiſtoriker werden jollen, ift es gut, wenn fie e8, Gott fei Dank, bald wieder vergeflen. Dafür fordern wir, daß die Schule von heute dem Kinde vor Allem die nolhdürftigften technifdyen Fertigkeiten beibringe, ohne die auch der ftärkfte äfthetifche Inſtinkt jedem Kunſtwerk gegenüber hilflos bleibt. Nur dann wird ihm fpäter aufgehen können, „was die großen Künftler gemacht haben." Auf dem „gemacht“ Liege der Ton. Denn auf die Rolle, etwa über die Künſtler— größe zu entjcheiden, wollen wir die Kinder Lieber nicht vorbereiten.

Jedes gefunde Kind hat an der einfachen Farbe ſchlechthin ein folches Wohlgefallen, dag man ihm gar nichts Schöneres bereiten kann, als e3 mit diefem Subftrat der Malerei zu befchäftigen. Seine Empfindlichfeit für Unterfchiede muß gefchärft, fein Kontraft: und Komplementärgeſühl geftärkt werden. Und vor Allem jenes höchſte Problem, das erſt von den Pleinairiften

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108 Die Zukunft. uns deutlich zum Bewußtſein gebracht worden ift: das Verhältniß zwiſchen Farbe und Form, zwifchen Farbengrenze und Kontur, die Wirklichfeit ober Unwirklichkeit der Linie. ch vermag nur anzubeuten, denn nicht Aber Die technifche Ausgeftaltung, fondern über den neurologifchen Werth diefed Unter- richtes will ich Einiges beibringen. Und da benfe ich befonderd an Eins: laßt die Kinder das Alles dort nachentbeden, wo die Meiſter aller Zeiten es entdedt haben. Plein air! Hinaus ins Freie! Tafeln zur Erziehung des Farbenfinnes, Stidwolle, Speltraltafeln: Das find gewiß ſchöne und gutgemeinte Sachen. Über die Beichäftigung mit ihnen hält einen der grimmigften Feinde unferer Nervengefundheit im beitändiger Thätigfeit: die Alkomodation des Auges. Sehen wir bier ganz von der anderen Folge dieſer Anftrengung, der zunehmenden Kurzſichtigkeit, ab, fo giebt e8 doch kaum noch eine Art der Ermäbung, die fo unerquicklich, fo mißbehaglich wäre wie die durch fortwährendes Nahfehen erzeugte. Draußen im Freien aber ruht da8 Auge: und gerade wo es die köſtlichſten Farben⸗ wunder ftubiren fanıı, in den entfernteren Streden der Landſchaft, am Horizont, da hat e3 die ficherfte Ruhe. Es fei denn, daß Glitzern oder allzu ſtarkes Sonnenlicht im Spiele wären; fonft ruht e8 im fatteften Grün, im tiefften Blau, im glühendften Roth. Ein Nervenleidender erzählte mir einft, in Skodsburg fei er gefund geworben: das Blau des bänifchen Sunds habe feine Nerven geheilt. Und warum follten wir zu HMäglichen Surrogaten bon Menfhenhand greifen, die nicht entfernt den Nuancenreichthum auch der ſchlichteſten Wiefen- oder Haidelandfchaft erreihen? Die Maler haben auf die Akademien gepfiffen, Barbizon und Worpswede find zwei große Stationen auf dem Wege zur Entdelung der Natur; follten wir unfere Kinder in der Stube zum Farbenfehen erziehen? Und mit den Formen ift es nicht anders. An einer einzigen möärkifchen Kiefer ift mehr Stil und Linie zu fehen als an hundert Ornamenten. Bon der Fichte, der Birke gilt das Selbe. Da draußen werden die Kinder fpielend Iernen; in ber Schulftube mwiderwillig. Und wenn fie alle Farben zufammengepanticht haben und alle Kapitelle, Kanellirungen und Bogenformen auswendig können: dann werden fie noch etwas mehr Faput, noch etwas ftärfer überbürdet, noch etwas voller mit Halbbildung geitopft fein als heute; durch die Natur werben fie blinb mandern und vor Dem, was die großen Künftler gemacht haben, werden fie hochmüthi jpötteln: „So was giebt8 nicht”; und dem blöden Schlagwort, das gerad Mode ift, rettunglo8 verfallen. Und jehr viel Nervofität, fehr wenig Kunft genuß würde folcher äfthetifchen Stubenerzichung Folge fein. Unfer Klima bannt und fchon lange genug ins Zimmer. Wie fol

nun hier fortgefett werden, was draußen begonnen wurde, wie follen di Gegenftände unferer Umgebung dem bewußten Schauen unterworfen werben?

Nervofität und Kunſtgenuß. 109

Die wichtige Frage, wie die Nutzkunſt zum Kinde ſich ftellen müſſe, rollt ih auf. Seit Darmftadt ift die Frage fo brennend, daß Seiner mehr um jie herumlommt. Die Arbeit der Ban de Velde, Chriftianfen, Olbrich, Eckmann: unfere Wohnung der Gefchmadlofigkeit zu entreißen, ift gewiß eine große und verdienftliche. Aber es ift doch nicht zu verfennen, daß dieſe „Heimkünftler“ weit über8 Ziel binausfchiegen. Ich Iaffe alles Aefthetifche bei Seite und zebe immer nur vom Geſundheitlichen. Daß Palaftfenfter und Flügelthür in unjeren Bonen unhygieniſch find, daß das einthärige Zimmer mit dem breiten, breiglichrigen Fenfter das Notürlichere und Geſündere ift, verfteht ih. Auch gegen Olbrichs ſchmale Treppen wird ſich nichts Ernſtliches fagen laſſen. Mit der körperlichen Gefunbheitpflege lebt die moderne Zimmer: funft in gutem Einvernehmen. Aber auch mit der nerbös-feclifchen? Wir haben Stuben, um in ihnen zu ſchlafen, zu effen, zu arbeiten. Fürs Schlaf: und Eßzimmer fei immerhin Stilfchönheit geftattet. Aber das Arbeit:, das Wohn-, das Kinderzimmer? Ich denke, bie follten möglichft indifferent fein. Nicht fo gefchmadwidrig wie bisher, aber auch möglichft ohne abfichtfiche Stimmung. Denn diefe ewige Stimmung fällt fchwer auf die Nerven. Ja, in unferer Zeit Tann ich mir gar Fein bedenflicheres Unternehmen denken al8 das, dem Menſchen noch während feiner Arbeit mit Stimmung zu fommen. Entweder wird vollends damit fein Gehirn ruinirt oder man löſt die zunächft gefunde, aber für die Kunſt fehr folgenfchiwere Reaktion aus: er wird ärgerlich und gegen Alles, was an Stimmung erinnert, gleichgiltig. Unfer Leben ift doch zu zwei Dritteln ehrliche Profa, aus der keine Macht der Welt je Poefte machen wird. Nehmt der Kunft ihre außergewöhnliche, ihre Kontraftftellung, und Ihr nehmt fie ung bald ganz. Das gilt aber vom Kinde doppelt und dreifach, denn das Kind lebt in und von Kontraften. Alles, was es dauernd bejigt, wird ihm langweilig, gleichgiltig.. Und wenn wir Das erft erreicht haben, können wir die äfthetifche Kultur, von der wir fo viel reden, ganz und gar zu Grabe tragen. Es iſt mindeftens nuglos, die Kinderſtube zu äfthetijiren. Und es könnte wirklich auch recht ſchädlich werden. Suggeftiblen Kindern fünnte da8 Schöne, auf das fie ohne Unterlaß geftoßen werden, zur firen Idee ſich auswachſen. Denn bei der bloßen Technik des Sehens kann man es im Zimmer nicht bewenden lafien. Im Freien fefjelt dag Kind fo ziemlich Alles, in feiner Stube fo gut wie nichts. Es würde boh nur auf Tafeln zur Erziehung des Sinns für Farben und Mufter, furz, auf Drill ftatt auf Freude hinauslaufen. Wer es wagt, dem Kinde damit die Spielitunden zu verfümmern, mag die Verantwortung für das junge Nervenfyften mit auf ſich nehmen. Zweierlei wird er erreichen können: er verleidet dem Kinde das Betrachten, meil er es zwingt, Gleich— giltige3 zu muſtern; oder er lonzentrirt den kindlichen Sinn auf eine einzige

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110 Die Zukunft.

Neigung und fchädigt damit Nerven und Eeele, die Zerſtreuung brauchen Denn Blatterhaftigfeit, Unachtſamkeit find jihere Eymptome bed gefunden tindlichen Organismus.

Dagegen plaibire ich mit Wärme für die Galerie. Nur fcheint mir, daß diefer Zortfegung des in der Natur Begonnenen verhältnigmäßig wenig praktische Bedeutung zufommt. Es find ja nur ein paar Grofftädte, die da mitzählen. Denn Reproduftionen, Kupferſtiche, Holzfchnitte oder Fhotogrophien, bereiten in ihrer Farblojigfeit doch ganz andere Schwierigkeiten als Original: gemälde. Aber Schwierigleiten find Angelegenheit des Lehrers, nicht Des Nervenarzted. Das Anfchauen der graphifchen Kunſtwerke zu Ichren, it wohl des Echweißes der Edlen werth. Und wir Deutfchen find fo glücklich, Meifter der graphifchen Künfte zu befigen, die Jedem Etwas zu fagen haben, die nicht blos dem raffinirten Feinfchmedertfum entgegenlommen. Bon Dürer bis Klinger. Neurologifch ift bei ſolchem Unterricht wenig zu ri firen. Iſt der Lehrer ungeeignet, fo werden die Kinder fchlafen. Das ift ja ihr göttliches Vorrecht. Ganz anders freilich in der Galerie. Hier if die Auswahl der Gemälde von entjcheidender Bedeutung. Und die Art des Lehrer dazu. Denn verfteht Der feine Sache nicht, nämlich, die Linder ans Bild zu feffeln, fo werden fie die Zeit benugen, um andere Gemälde anzufehen: Verhängen fann man doch nit alle. Aber Oppenheim deuft ja an einen ganz anderen Galeriebefuh: die Kinder mit den Eltern, auf der Reife etiva. Reifen ift für die Eindliche Pfyche an fi Gift. Die taufend raſch vorbeieilenden Eindrüde machen das Sind oberflächlich, die Gefpräche und Urtheile im Eifenbahnwagen geben den Reft dazu. Aber die Jagd durch die Galerien grenzt an Mord. Totmüde und in den geheimften, verbotenen Winfeln der Seele gefigelt, fommen die Aernıften heraus. Ih fah in Dresden Eltern ihren elfjährigen Knaben in der Galerie ſuchen; er hatte ih von ihnen verloren. Kurz danad) fanden fie ihn vor Mafarts „Sommer“. Eine Schöne, ftille Ede befanntlih. Seit einer halben Stunde war er dort... Sol ein vorzeitiger Eindrud ift oft genug für die Wendung der eben fich regenden Gefchlehtsahnungen zum Allerfchlimmften entjcheidend geworden. Und laßt felbjt die Nerven eine folche Klippe glücklich pafjiren: die Seele trägt immer Schaden daran. Um fo jicherer, je aufgewedter das Kind ift. Dann merkt e8 ſich allerhand Namen und Eindrüde, redet ſchon über Allke Flug, fennt Alles, kurz, ift blafirt. Sein Blalirter aber heutzutage, der nich der Neurafthenie verfallen wäre. Da kann man mit Oppenheim nur radilal fein: fort aus der Galerie. Ich wage, die Polizei anzurufen: Berbietet ben Kindern die Galerien. In unferer fozialen Zeit follte Reiner fid) einbilden, ein Necht auf Krankheit zu haben.

Bisher war nur immer vom Schauen die Rede; und in der That, von

Nerpofität und Kunſtgenuß. 111

Hören ift viel weniger zu fagen,. denn das Ohr ift minder bildungfähig als das Auge. Ich halte den Gefangsunterricht von heute im Allgemeinen für ausreichend und eine allzu fubtile Erziehung zur Mufif für gefährlich. Als Damm dagegen möchte ich dem Xehrer ein Recht gegeben fehen: den häus— lichen Muſikunterricht allen muſikaliſch nicht befonder8 Begabten zu unter: fagen. Die Eltern find leider in dem Punkt die unvernünftigften Quäler der Kinder und die thörichten Plünderer bed eigenen Geldbeuteld. Wie viele gute Holzfchnitte gäbe e8 für diefe unnügen Mufifftundengelder! Wie viefe gute Bücher, Freunde fürs Leben! Um den Preis für einen Flügel hätte man fat eines jungen Malerd Original! Und gefunde Sinder. Denn die Klavierſeuche ſchädigt die Nervenfyfteme unheilbar.

Das Prinzip bleibt bier wie da: nicht zu äfthetifiren, nicht das Kind gewaltfam zum Gefühl für Schönheit aufzurätteln, fondern die Sinne zu entwickeln, möglichft unter dem Lachen der naiven, Findlichen Fröhlichleit. Das Afthetifche Erwachen muß, wenn e8 kommt, Etwas vorfinden, an das lich die neu hervorbrechenden Gefühle fofort Kammern fünnen. Sonft kehren fie fich unfehlbar nad innen. Nun wollte ich nicht etwa einer Moderichtung da8 Wort reden, die dem Knaben insbefondere gefchlechtliche Kämpfe mit ſich felbft bi8 zur Zerquälung zumuthet, um „rein“ zu bleiben nebenbei gefagt: das gefunde Weib hält nicht einmal viel von folcher Reinheit des Mannes —, auch nicht einer anderen, die ohne Kampf dem erwachenben Trieb fofort Befriedigung fihern möchte: in gefchlechtlichen Kämp en erwächlt ein gutes Stück kräftiger Perfönlichkeit. Aber fie müffen auf Dinge ber Melt gerichtet fein und nicht im ftilen Zimmer nur auf das eigene Ich. Sie fo zu dirigiven, fol die Erziehung zum Schauen, die ich fehilderte, mit= helfen. Sie fol, wenn man e8 fo nennen darf, das Nervenſyſtem trainiren für diefe fchweren Jahren der Pubertät. Wie Viele dann der Kunft treu bleiben, ift eine andere Frage. Uns iſt ed genug, wenn die Getreuen auch gefund dabei bleiben. Ob der alte Fontane Recht hat, wenn er meinte: bie Kunft fei für die Wenigften und es würden ihrer immer weniger, oder jene Dptimiften, die von äfthetifcher Erziehung der Millionen träumen, von ber großen äfthetiichen Kultur: Das ift nicht die Frage, die ung kümmert; deſto mehr die andere, ob wir eine äfthetifche Kultur mit der fozialen Geſundheit zu erkaufen genöthigt und berechtigt ſind.

Was an neuropathiſchen Wirkungen der rein ſinnlichen Subſtrate der Kunſt denkbar iſt, wirkt durchs ſexuelle Medium der Pubertät hindurch. Tauſend Rathſchläge werden täglich ertheilt, wie die kindliche Seele durch die Klippen dieſer Jahre zu ſteuern ſei; man redet da der rüdjichtlofen Ent— ſchleierung aller geichlechtlichen Dinge eben fo oft da8 Wort wie der ftrengjten Verhüllung. Mir Scheint aber durch alle Serualpädagogif doch ein rother

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112 Die Zutumft.

Saben ſich zu winden: da8 Streben, den Gefchlehtögenuß im weiteſten Su nicht geſchmacklos und nicht gedanlenlos werben zu laſſen. In dieſer Ak: tung bewegt fi) Alles, was auf diefem Boden überhaupt diskutabel ik Denn es wird faft noch mehr Undiskutables gefchwagt. Und ich meine, bei hier Gedanken und Gefchmadlofigfeit gar eng zufammenhängn. Man wir die eine nicht ohne die andere, die fchlimmen Folgen der einen nicht ober bie der anderen erörtern können. Sie fließen vor Allem auch in einander im Genuß der Kunſtgattung, deren Subftrat daB Glüd oder Unglüd Bat, ‘von born herein auch immer einen Gedanken auszudrüden: der Dichtung. Bei ihr wird das finnliche Problem des Kunftgenufles vom intefleftuelie untrennbar. Und davon wäre alfo noch befonder8 zu reden.

Heidelberg. Dr. Billy Hellpad.

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Wiener Theater.

SE ift noch gar nicht lange her, da war der Glaube verbreitet, die Jour

nalijtit bedürfe Feiner VBorbildung. Wenn Einer mit fi nichts Rechtes anzufangen wußte, aber zu Allem Talent zu haben glaubte, ging er zur „Zeitung“. Diefe Bohôme-Journaliſten fterben aus. Heute ift man längft zu der Erfennt- niß gefommen, daß man eine befondere Schulung und Kenntniffe aller Art braudt, um ein brauchbarer Journaliſt zu werden. Un den Hochſchulen werben Kollegien über Zournaliftif und Kritik gehalten und da und bort find auch ſchon die Verfuche gemacht worden, eigene Journaliſtenſchulen zu gründen. Es find allerdingd nur Berfuche, aber fie gehen von der richtigen Annahme aus, daß man Journaliſt nur dann werden fol, wenn man es fann, nicht nur, wenn man es will. Mit den Theaterdireftoren geht e8 uns aber heute noch fo wie der früheren Generation mit den Journaliſten. Wer mit dem Theater zu thun gehabt hat, fei es nun als Scaujpieler oder als Sritifer, glaubt fi zum Theaterlenfer berufen. Gewiß kommt es vor, daß Einer, ber ſich berufen fühlt, auch wirflid) berufen iſt; aber in den meiſten Fällen war ber Glaube an fidh felbjt ein böfer Irrthum. Zur Theaterdireftion gehören alle mögliden €’ ın- ſchaften: ein unbetrrbares Urtheil, Negietalent, tüchtige kaufmänniſche Bill ,, Energie, Phantafie, Rüdjichtlojigfeit, diplomatifche Kunft, fchaufpielerifche Hi keiten und noch vieles Andere mehr. Nur die richtige Miſchung giebt den 1 tigen Mann. Diefer richtige Mann wird die wundervolle Babe haben, I 't feiner Phantaſie ein Stüd beim Lejen fo zu beurtheilen, ala fähe er ek n feinen Schauspielern, auf feiner Bühne, vor feinem Publifum gefpielt. Cr d dieſes Stüd auch ſelbſt infzeniren oder mindeſtens bie njzenirungarbe‘ 3

Wiener Thenter. 113

Regiſſeurs beurtheilen können. Er wird im Stande fein, einem Scaufpieler, der Etwas jchleht macht, zu jagen, warum e3 jchledht ift, und er wirb ihm eine Andeutung davon geben, wie er, der Direktor, die Sache meint und aufgefaßt wiflen will. Er wird mit dem Dichter Aenderungen und Kürzungen vornehmen . und durch feine dramaturgifhe Thätigfeit gefährdete Stüde retten. Daß er die Energie haben muB, feine Kunſtanſchauung durchzuſetzen, veriteht ſich von jelbft. Beim Theater giebt e8 nur eine Regirungform: die Tyrannis.

. Warum ich das Alles einem wiener. Theaterbrief vorausſchicke? Weil der Mangel an guten Direktoren in leiner Theaterftadt fo fühlbar ift wie in Wien. alt überall fiten Dilettanten auf ben Thronen, Leute, die ihre Bühnen gehen laſſen, wie alle möglichen Winde e3 eben wollen, und denen der Zufall, nicht ihre Einfiht die Erfolge beichert. Sie haben Glüd oder Unglüd; aber die Kraft, das Glück zu zwingen, haben fie nicht. Und diefe Kraft ift beim Theater nicht nur möglich, jondern nothwendig. Ein gut gezogenes und erzogenes Publitum, das der Direktor feit in der Hand Hat, wird ihn auch dinen Durd- fall oder ein mageres Novitätenjahr nicht entgelten laſſen. Ein Publikum, mit dem der Direktor nicht in fefter Fühlung fteht, mit dem ihn Teine geiftigen Bande verfnüpfen, iſt unverläßlich und treulog. Hat ein Direftor genug gute Eigenſchaften, fo ſchaden ihm auch ein paar ſchlechte nit. Die beiten Direktoren der deutihen Bühne hatten recht ſchlimme Eigenjchaften. Wenn man wiſſen will, wie ein wirklicher Direktor ausfieht, braucht man nur die Thätigleit Mahlers bei der wiener Hofoper zu verfolgen. Auch an Mahler ift Manches auszuſetzen; aber er hat verjtanden, die Oper in den Mittelpunkt des künſtleriſchen Intereſſes zu rüden, feine Perſönlichkeit Lenntlich zu machen, das Publikum energiſch bei der Dand zu fallen.

Seit ich Ihnen zulegt einen wiener Theaterbrief fchrieb, Haben fich die Dinge bei ung gründlich geändert. Das Burgtheater madt glänzende Geſchäfte, das Bollötheater ift längſt von der Höhe feines Glückes herabgeglitten. Herr Dr. Schlenther hat in den Jahren feiner Direktion, nachdem er Fehler über Fehler, Unſinn über Unfinn gemacht, nachdem er unmögliche Schauspieler engagirt, bei der Annahme und Ablehnung von Stüden die unficherfte Hand bewieſen hat, offenbar eingefehen, daß er nicht die Fähigkeit befitt, ein felbftändiger, eigen- artiger Direktor zu fein. Uber er ift Hug; namentlich ſchlau. Er wagt ſich nit mehr ing offene Meer hinaus, fondern lavirt geſchickt an wohlbefannten Küften entlang. Er Hört auf verftändige Männer und läßt ſich fihere Sachen, die „draußen im Reich” ihre Schuldigfeit gethan haben, nicht entgehen; von allen direlftorialen Künften Hat er die Diplomatenfunft am Schnellften erlernt. Mit der „Zwillingsſchweſter“, „ee Caprice“, „Es lebe das Leben!” füllte er bie Häuser und die „Rothe Robe“ that auch in diefem Jahr noch ihre Schuldig- feit. Aber auch Neues brachte er, Funkelnagelneues: drei Stüde von höchſt verfchiedenem Werth: den „Schatten“ von Marie Delle Grazie, den- „Apoftel” von Bahr und Shakeſpeares „Troilus und Erejjida” in Gelberd Bearbeitung.

Die Aufführung don ‚„Troilus und Creſſida“ war feit vielen, vielen Jahren die erfte wirkliche That des Burgtheaters. Ein Stüd Shakeſpeares ift der Bühne wiedergemonnen, nein: neu gewonnen worden. Es hat die wider- Ipredendften und wunberlichiten Beurtheilungen und Deutungen erfahren. Die Einen bielten und halten es für eine Parodie, für einen grotesfen Scherz, für eine

114 Die Zukunft.

Berhöhnung der trojanijchen Helden, faft für eine Vorahnung Offenbachs. Te Anderen fehen darin ein gewaltiges Trauerfpiel vol Heiligen Ernfteg. Zu dic Auslegern gehört audy Adolf Gelber, der mit höchſter Begeifterung, mit einem wahren literariſchen Furor ſeit Jahr und Tag für die Aufführung dieſes Dreams ſchwärmt und fämpft. Man kann nicht fcharfjinniger, aber auch nicht ſpitzfindige: feine Anſichten oft gegen den Dichter felbjt vertheidigen und durchzujeker ſuchen, als e8 Selber that. Er hat gekürzt und zufammengezogen, einen news Schluß gedichtet (er läßt Troilus fterben), er hat die Stellen, die feinem Bild⸗ von den Helden nicht entipracdhen, gejtriden, Alles nur, um Darmontie u das Ganze zu bringen. Aber ein harmoniſches Stüd zu fehreiben, lag in dieiem Fal durchaus” nicht in Shafejpeares Abjicht, der die Menfden und Die Wer die Liebe und den Ruhm nie jo verachtet Hat wie in der Zeit, da er „Troile⸗ und Creſſida“ jchrieb. Ilm eines Weibes willen kämpfen und bluten zwei Bölfe ‚jahre lang. Was aber tft ein Weib werth? Un der Parallelhandlung Ereifide wird es gezeigt. Schwachheit: Dein Nanıe ift Weib! Uber Schwachpeit ik nur eine freundliche Umſchreibung für Zreulofigfett. Mit grimmigerem Soks ward nie über das Weib der Stab gebrochen. Und bie großen griechiſcher Helden, die Hochberühmten! Wenn man fie näher betradjtet: weldy cin elenbdes Pad! Bon fern gefehen, mag der Krieg etwas Heroildes an ji Haben. Sie der Nähe fieht man die Betrügereien, die Roheit, den Meuchelmord, die Gemein: heit am Werl, Wer das Leben aus der Nähe betrachtet, fieht das Groteste und das Traurige, die Komik und die Tragif hart an einander grenzen und der wahre Nealift wird das Leben nur tragikomiſch ſchildern können. Shakeſpeare ichrieb ein realiftifches Stüd und nahm fich einen Stoff, den wir gewohnt jind, idealiftifch verflärt zu jehen. Daher unfer Befremden. Troilus ift ein Stüd voll Disfonanzen, voll der wiberfprechenditen Stimmungen und gerade in feiner Disharnionie liegt feine Lebenswahrheit und feine Stärfe. Es iſt nicht bloßer Bufall, daß gerade jebt dieſes Stüd auf die Bühne ftrebt. Wir find im ber Mufit und in anderen Künften für die Aefthetil der Disharmonie reif geworden und fangen an, zu begreifen, daß die Tragitomoedie das Stüd der Zukunft ift. Unſere Dichter ſuchen die neue Form. Und da kommt nun Shakeſpeares Stüd zur rechten Zeit als leuchtendes Beiſpiel. Es wird Einfluß üben, vielleicht unſerer dramatiſchen Kunſt, die zu ſtagniren droht, neues Gefälle bereiten. So iſt die Aufführung von „Troilus und Creſſida“ am Burgtheater fein bloßes lokales Ereigniß, fordern eine That von literarhiſtoriſcher Bedeutung. Bei der Auf- führung wurde Gelbers Benrbeitung zu Gunſten Shafefpeares- ftarf modifiziert Schlenther hat viele Striche wieder aufgemadjt und ein Fluges Kompromiß zwiſchen der Urforin und der Bearbeitung bergeftellt, ſo daß der tragifomiiche Charafter zur Geltung kam, ohne unfer Gefühl dur allzu heftige Sprünge zu beleidig n. Der Erfolg der vier eriten Alte war außerorbentlid. Der letzte wirktt a rc dings nicht. Aber ich bin überzeugt daß auch er feine Schuldigfeit thun e, wenn man, Statt kommentatoriſch zu ftreihen oder hinuzuzufügen, einfach : ie Urform wiederheritellt und dem Baar Pandarus-Troilus die dag Stüd beginn ı, au die Schlußmworte läßt. Im Borwort zu jeiner Bearbeitung jpricht Gelber jehr Fluge Worte ü r die Maſſen auf der Bühne. Weit mehr Maffenftük als „Troilus und Ereffi war aber Hermann Bahrs „Apoftel”, mit dem Schlenthers alter Fritiider $ db

Wiener Theater. 115

feinen Einzug ins Burgtheater hielt. Es war durchaus nicht der Einzug eines Siegerd, Bahr wollte für einen Schaufpieler für den von ihm glühend ver: ehrten Novelli eine Bombenrolle fchreiben; jo entftand fein Stüd. Es war als Tragikomoedie gedacht, denn der Dichter hatte die Abficht, den Helden, den Apoſtel, den ſchwärmeriſchen Verkünder und Verfechter der dunkelſten politifchen Phraſen, den wohlgemuth auf allen Semeinplägen der Menjchenliebe und Brüber- lichkeit grafenden Stantshengft ſatiriſch zu beleuchten, mit überlegenem Humor dem Gelächter preiszugeben. Nie aber ift eine Abficht ſchmählicher mißlungen. Dan nahm den Apoitel leider ernft, und lachte ihn aus. Und als dann fpäter Bahr verficherte und duch Geſpräche mit Freunden, die es bezeugten, erbhärtete, da8 Ganze fei nur fatirifch gemeint gewelen, konnte, wer das Stüd nachprüfte, beim bejten Willen nur darüber ftaunen, baß ein Dichter ſich über feine Tyähigkeiten fo täufchen fanı. Weder die gänzlich miblungene Figur bes Apoſtels noch die fadenfcheinige Handlung, eine ungeſchickte Variation über das Nora⸗ Motiv, noch der haſtige, unintereſſante, ſaloppe Dialog vermochten zu intereſſiren. Wohl aber intereſſirte der zweite Akt, der ein Parlament in voller Thätigkeit zeigt. Dieſer Akt bot der Regiekunſt Thimigs Gelegenheit, alle Regiſter zu ziehen, und war ein Meiſterſtück der Maſſenbewegung. Um dieſes Aktes willen ging man ins Theater. Schade, daß Bahr mit dieſem lächerlichen und elenden Stück und nicht mit feinen „Krampus“ im Burgtheater zu Worte kam. Wie ich den „Apoſtel“ für das fchlechtefte Stüd Bahrs halte, jo den ‚‚Srampus‘' für fein beftes. Weber Mangel an Handlung, über Kurzathinigfeit des Stoffes bei aller Breite der Ausführung Hilft die Liebenswürdigkeit hinweg, mit der Menfchen, Zeit und Milieu gejchildert find. Das ift das echte Burgtheaterftüd, das vielleicht nur auf dem Burgtheater Erfolg haben fünnte. Mußte Schlenther aber jujt Bahrs ſchlimmſtes Produkt zur Aufführung annehmen?

Auch Marie Eugenie Delle Grazie wollte mehr und Anderes in ihrem „Schatten“ geben, al3 ihr zu verkörpern gelang. Wie ein Schatten Hujchte das Drama über die Bühne und man erweift der Dichterin, Oeſterreichs größter Epikerin, feinen Gefallen, wenn man auf bas dunkle, unklare, im Gedanken— chaos fteden gebliebene Stüd noch zurüdtommt. Wie ein unangenehmer Traum fajtet e8 in der Erinnerung. Sein PVernünftiger wird Schlenther einen Bor: wurf daraus maden, daß er dieſes Stüd, deſſen geringe Bühnenlebensfähig- keit jelbft ihm von vorn herein klar jein mußte, aufführte. Es war einfad jeine Pflicht, denn Fräulein Delle Grazie bat unter allen Umſtänden das Recht, gehört zu werden. Aber man fragt fich verwundert, warum Schlenther diejes Recht ihr zugefteht und Schnigler entzieht. So gut wie den „Schatten“ hätte er auch den „Schleier der Beatrice” aufführen können, aufführen müjlen.

Das Deutſche Volkstheater ift in fohmwieriger Lage. Sein Etat iſt außer- ordentlich Hoch, und da es ein Privattheater ift, muB es an Berdienft denten. Darin liegt gewih fein Vorwurf. Vorwerfen könnte man der Bühne nur die furdtbaren Laſten, die fie fich aufgeladen hat und die fie nun zwingen, den Er: folgen um jeden Preis nachzujagen. - Das Repertoire ift jo buntjchedig wie möglih. Nun it gar der verjchämte Verſuch gemacht worden (mit Buchbinder: Meinberger3 „Spab ‘), der Operette ‚Zutritt zu gönnen. Aber dieſes Kofettiren mit allen Stilen und Gattungen verdirbt Schaufpieler und Publilum. Dabei haben die Berather des Direftord Bukovices eine merkwürdig unglüdliche Hand.

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116 Die Zuhmft.

Bor zwei Tahren wurde der „Brobelandidat” zurückgewieſen unb in dieſen ‚Jahr ließ man fich das „Große Licht” entgehen. Fern ſei es von mir, für den Brobe- fandidaten oder gar für dag „Große Licht“ eine Lanze einzulegen. Aber bier Handelt e3 fi um ein Gejchäftstheater, das ſolche Kaflenjtüde im eigenjten Intereſſe nicht zurückweiſen darf. Literarische Bedenken können nicht in Betracht gekommen fein, da das Volkstheater Stüde, die noch tief unter dem Niveau des Herrn Philippi ftehen, wie „Das Ewig-Weibliche" des Herrn Milch, unbedenkli und mit größtem Vergnügen annimmt und fpielt. Einzelne intereffante Stüde, Saltens „Der Gemeine’, Sranewitters ‚Andre Hofer”, Ludaſſys „Goldener Boden”, wurden dem Theater von der Cenſur verboten. So bleibt denn von Stüden, die den Berlinern unbelannt find, nichts übrig als der „Neue Simjon“ von Karlweis. Ueber diefen Dichter werden wir ich meine Wien und Berlin uns faum verftändigen. Seine liebenswürdige Satire, fein gutmüthiger Spott, die herzliche Vertraulichkeit, mit der er zu feinem Publikum jprad), kurz Alles, was ihm in Wien Freundſchaft und Liebe eintrug, verjagt in Berlin. Ein wißiger deutjcher Theatermann fagte einft, Karlweis' dramatifche Yaufbahn ende bei Bodenbach. Wien aber trauerte ehrlich am Grab diefes Dichters.

Befonders ſchlimm ift, daß im Volkstheater die nerndfe Unruhe des Ne pertoires das Enjemble Iodert und dad Publitum verdirbt. Ich bin nämlich überzeugt davon, daß ein Direktor mit ausgeprägter Vhyfiognomte, mit be jtimmten Geſchmack und mit der nöthigen Willenskraft, dieſen Gelhmad in Thaten umzufegen, fein ungeberdige und unverläßlices Publikum in feinem Haufe hätte. Dem Direktor ‚gehts jchlieglih wie einem Dichter. Er arbeiter für das Publifum, aber er verliert fofort Halt und Richtung, wenn er, auf bie iwirren Neußerungen von da draußen hinhorchend, ein treuer Diener diefes lau- niſchen Herrn fein will. Das Publikum läßt ſich gern führen, wenn eine Per- jönlichkeit da ift, die zu ihm jpricht. Vielleicht wäre Herr Jarno an einem großen Theater ein folcder Direktor. Im Theater in der Joſefſtadt kann er feine Tähigfeiten nur von Beit zu Zeit, wenn er fi den Luxus eines literarifchen Abends geftattet, entfalten. An diefen Literarijchen Abenden bringt er inter: ejlante Werke ganz muftergiltig heraus. Das werthvollſte biejer Werke war diesmal ein Volksſtück, „Frauzla“ von Tito Fuchs Talab, das in der Milien- ſchilderung und Charafterijtif, in feinem kräftigen dramatiſchen Leben von ftarfer Begabung zeugte. Gin gewiller Hang des Berfafjers zu melodramatifchen Wirf- ungen und die Ueberſättigung des Publikums mit Elendftüden beeinträchtigten den Erfolg. Jedenfalls aber zeigte Fuchs ſich darin als einen Mann, mit.dem unjere Bühnen rechnen dürfen. Im Joſefſtädter Theater fahen wir- auch die Matineen des Akademiſch-Dramatiſchen Vereines: Kleifts „Guiskard“, Werners „Bierundzwanzigfter Februar", Goethes „Satyros“ und den „Herakles“ Euripides. Der Erfolg überftieg alle Erwartungen. Es ift jehr Klug von 6 Beranftaltern, daß fie fich bei ihren Darbietungen auf Werke bejchränfen, i jenfeit® der Tageskritik ſtehen. Kine freie Bühne, die moderne Stüde a führen wollte, wird in Wien durch die Cenſur unmöglich gemadt. Ueber un], Zuſtände und Verhältniſſe, über Alles, was uns am Nächiten angeht, was u ins Fleiſch fchneidet, darf man auf unferen Bühnen weder lachen noch wein

Wien. Dr. Rubolf Xothar. *

Der Yall Grimm. 117

Der Fall Grimm.

FAR immer befchäftigt ſich die Preſſe, beſonders die des Auslandes, mit 9 der fogenannten Landesverrathsaffaire des Dberftlieutenants Grimm und ſucht unter Enthüllung fenfationeller Einzelheiten das Laienpublikum über das Ungeheuerliche des begangenen Verbrechens und über eine Reihe wichtiger militärifcher Maßnahmen aufzuklären und zu belehren. Das Merk: würdigte an diefen Beröffentlichungen ift, daß fie ſelbſt bei verftändigen Leuten vollen Glauben finden, während doch auf der Hand liegt, daß über ben wahren Thatbeſtand al diefer Dinge nur ein fehr enger Kreis von Eingeweihten genau informirt und in der Lage fein kann, zuverläfjige Angaben zu machen. Ich will den Kreis Derer, die in das Dunkel des begangenen Verraths ein= zudringen verfuchen, nicht durch ein vergebliches Forſchen nach vermeintlicher Wahrheit vergrößern, fondern mic) darauf befchränten, mit objeltiver Prüfung an die befannt gewordenen Ereigniffe heranzutreten und namentlich den Werth der „Teldzugspläne” feftzuftellen, die im Zufammenhang mit der vorliegenden Affaire auf Grund unzuverläffigen Materials über die Verwendung der rnffifchen Armee im alle eines Krieges gegen Dentfchland und Defterreich in der deutichen und franzöfifchen Preſſe verbreitet worden find.

Was Grimm thatfächlic) verrathen und an wen er im Einzelnen feine Dofumente weitergegeben und verfauft hat: darüber bürften authentifche Mit- theilungen wohl ſchwerlich je in die Deffentlichkeit dringen. Aber die Schluß: folgerung fcheint doch berechtigt, nachdem die Verordnung des ruffifchen Kaiſers über die Außerdienftftellung des Angellagten „unter Belafjung in den Liften der Rinteninfanterie” befanıt geworden ift, daß es fich bei jenem Verrath nicht um fo ungeheuerliche Geheimniſſe gehandelt haben Tann, wie ein Theil der Preſſe ihre Lefer glauben machen will. So gewinnen denn aud) die Auslaſſungen des General Puzyrewski, der Grimms direkter Vorgefegter unb Generalftabächef des warſchauer Militärbezirtes war, mehr und mehr an Wahrfcheinlichkeit. Diefer ansgezeichnete Generalftabsoffizier fagt, daß Grimm bei der Art feiner Funktionen gar nicht in der Lage geweſen fei, die Mobilmachungpläne der Armeecorp8 des warfchauer Militärbezirtes oder Dokumente über den ftrategifchen Aufmarfch der rufjiihen Armee an der yenstichzöfterreichiichen Grenze zu kennen, gefchweige denn, jie an eine fremde Macht auszuliefern. Zugegeben wird nur, dag dem Angeklagten in Zolge der Berichte, die er alljährlich über die materielle Lage der im warſchauer Bezirk dislozirten Truppen auszuarbeiten hatte und die, weil jie dem Kaiſer vorgelegt wurden, einer befonderen Sorgfalt und eingehender Sachkenntniß sedurften, eine Reihe wichtiger Schriftitüde zur Verfügung geftanden haben, aus denen Maßnahmen der Vertheidigung und ſekrete Anordnungen inner:

118 Die - Zunft.

halb einzelner großer Grenzbefeſtigungen für den Fall eines Eindringens ein x deutſchen und öfterreichifchen Armee in Polen erjichtlih waren. Wenn nun namentlich die polnifche Preffe- in Defterreich ji) der ganzen Angelegen- heit noch heute befonder8 warnt annimmt und faft täglich ihre Spalten der na hgerade lächerlichen Mär öffnet, e8 fei erwiefen, dag nur Deutihland in den Beſitz der Geheimpapiere gekommen fei und daß die an der deutfchen Grenze gegen Rußland getroffenen militärifchen Maßnahmen den rufitfchen Generalſtab zuerft auf die Spur des Verräthers gebracht hätten, fo mu, ohne auf Detail einzugehen, doch feitgeftellt werden, daß zuverläffige Nach- richten darüber vorliegen, der ruſſiſche Militärbevollmädtigte in Wien, Oberft MWoronin, fei es gemefen, der auf Grund auffälliger und wiederholter Zrirppen- verfchiebungen im frafauer Militärbezirt zuerft Verdacht auf Preisgabe mili- täriſcher Geheimniſſe gefchöpft und feine Wahrnehmungen der vorgefepten Behörde mitgetheilt habe. Die polnifche Preſſe ift bei ihrem lauten Gefchrei augenscheinlich berühmten Muftern gefolgt und hat verjucdht, das im Fahr 1894 in einem ähnlichen Fal verlorene Spiel wiederzugewinnen; denn als in jenem Jahre der in Kiſchenew garnifonirende Oberftlieutenant Gregoriew Detail3 über den Aufmarfch rufjischer Truppen an der Grenze der Bulowina und an Galiziens Grenze fir 20000 Gulden an Defterreich verrieth, ver- ſuchte die ſelbe Preſſe, von der hier die Rede ift, wenn auch vergeblich, bie Schuld auf Deutfchland abzuwälzen und es fogar verantwortlich zu machen für die Störung gut nadhbarlicher Beziehungen zwifchen dem öfterreichtjch- ungariſchen und dem ruſſiſchen Reich.

- Hätte nun aber der Oberftlieutenant Grimm wirklich Mobilmachung⸗ und Feſtungpläne an eine fremde Macht auszuliefern vermocht: wäre damit dom rein mititäriichen Standpunkt aus Rußland ein ſchwer wieder gut zu machender Schade zugefügt und dem Staat, der die Papiere erhielt, ein außergewöhnlicher Bortheil gefichert worden? Ich glaube, diefe Frage ver- neinen zu müffen, felbft auf die Gefahr hin, mich mit vielen „Strategen“ in Widerſpruch zu fegen, die meinen, daß der Gewinn auf der Hand liege, da „die Grundlinien des ftrategiichen Aufmarfches der ruffifchen Heerestheile nicht mehr verſchoben werden könnten, jelbft wenn man die Mobilmadhung- pläne jest nach Aufdeckung des Verrathes verändern wollte; denn Bahn: finien, Feftungen und Dislolation der Truppen ließen fi nicht unfichtba. machen und müßten für alle Zeiten eine feititehende Bajis für die Operation: pläne bilden“. Zunächſt kann ich diefen Sag, lediglih auf die ruſſiſchen Berhältniffe angewandt, nur für die Feltungen -unterfchreiben. Der Verrath von Feltungplänen fehädigt in jedem Fall die Landesvertheidigung, da fid dieje Pläne nicht mit einem Federſtrich, oft überhaupt nicht weſentlich ändern laſſen. Ermwähnen möchte id dabei, daß, trogbem alfo der Macht,

Der Fall Grinm. | 119

die die Pläne der großen Grenzfeflungen von Grimm erhielt, ein werth: voller Dienft erwiefen worden ift, nicht nur neue und unbelannte Daten verrathen wurden; denn viele wichtige Detaild waren ja längft bekannt und haben einer feindlichen Heereleitung die Möglichkeit gegeben, ihre Dispofitionen danach zu treffen. Um nur ein Beifpiel herauszugreifen: von

der Stärke der bie Baſis der ruſſiſchen Kandesvertheidigung bildenden

befeftigten Linie Nowogeorgiewsf- Warichau mit Segrſh-Iwangorod konnte man ſich aud) bisher ſchon eine ungefähre Vorftellung machen, denn man weiß, daß bie Auferfte Grenze der Vertheidigung Warfchaus eine Ausdehnung von 55 Kilometern hat, daß 5 Forts und 3 Zwifchenwerfe in einer Ent- fernung von 21/5 Kilometer von der Stadt deren Ummallung bilden und daß dann auf weitere 5 Kilometer hinaus fi ein Gürtel von 16 Forts und 5 Bwifchenwerten um bie Gentrale der ruffishen Defenfivpofitionen legt. Auch Nowogeorgiewsk, das, am Zufammenflug von Bug⸗-Narew und MWeichfel gelegen, für den Uferwechfel von der allergrößten Bedeutung ift und deshalb auf bem rechten Meichjelufer 3, auf dem linfen 4 Forts vor: geichoben hat, erreicht in feiner vorderſten Vertheidigunglinie einen Umfang von annähernd 33 Kilometern. Iwangorod ift die kleinſte Feſtung der er- wähnten Bertheidigungbafis; aber wenn auc der Fortsgürtel nur eine Aus: dehnung von 19 Kilometern hat und im Ganzen nur 7 Forts zu beiden Seiten der Weichſel den Schuß dieſes Plages bilden, fo ift doch feine Ver⸗ theidigung außerordentlich ſtark zu nennen, weil, namentlic) auf der Weftfront, ungangbares Gelände die Feftung umgiebt. Auch über Breſt-Litowsk, Bieloftof und Kowno, das, am Niemen gelegen, einen der ftärkjten und modernften Stügpunfte des nordmweftlihen Rußlands bildet, fehlt es nicht an Details und felbft itber daS gegen Defterreich gerichtete Feſtungdreieck Ludsk- Dubno- Rowno find mehrfach zutreffende Angaben in die Deffentlichfeit gedrungen.

Gaanz ander8 liegen die Verhältniffe bei den ruffifchen Eijenbahnen, die für den vorliegenden Fall zunächft in Betracht kommen, und, im Zuſammen⸗ bang damit, auch bei der Vertheilung der Truppen, anf bie im Kriegsfall für eine Mobilmahung und den Aufmarfh in erfter Linie zu rechnen ift. Kein europäifcher Großſtaat ift zur Zeit mehr damit befchäftigt, fein Eifen- bahıneß, befonder8 für militärifhe Zwecke, auszudehnen, als Rußland; und wenn in der Preſſe verbreitet wird, Deutfchland fer für einen Aufmarſch an der ruſſtſch⸗ polnischen Grenze mit 9 Haupteifenbahnlinien und zahlreichen Duerbahnen den 3 bis 4 großen Bahnen Rußlands, die nad) der Grenze führen, erheblich überlegen und die ruſſiſche Armeeleitung fei für lange Zeit durch die geringe Zahl diefer Bahnen an die uriprünglichen Orundfäge ihres Rrategifchen Aufmarfches gebunden, fo beweiſen die Mitarbeiter diefer Blätter eine gefährliche Unfenntnig der thatfächlichen Verhältniſſe und ein völliges

120 Die Zukunft.

Verkennen der Gefammtfituation. Das Barenreich verfügt zur Zeit über fünf große, aus dem Innern Rußlands fommende und die Truppen nad Warſchau führende Bahnlinien, die mit ihren fech3 Abzweigungen und Neben⸗ gleifen unftreitig ein ganz bedeutendes Verkehrsnetz für militärifche Zwecke bilden und die rufftfche oberfte Heeresleitung in die Lage verfegen werden, weit fchneller mit größeren Maſſen au den Grenzen zu erfcheinen, als es in früheren Feldzügen möglih war. Dazu werden auch die an bie öſterreich⸗ galizifche Grenze durchgehenden drei Kinien beitragen, bie mit ihren weiten Verzweigungen ein forgfältig angelegtes Bahnfyftem bilden. Nun begnügt ſich aber, wie ich zuverläfig weiß, die ruffifche Regirung nicht etwa mit den vorgenannten Eifenbahnen, fondern baut im &egentheil mit unermüdlichem Eifer weiter, fo daß, mit Ausſchluß zweiter Gleife auf fchon vorhandenen Bahnen, zur Zeit die ungeheure Strede von 11000 Kilometern im Bau ill. Unter diefen Linien, die für unfere Betrachtungen von Werth find, ift vor allen Dingen die von Warfchau über Lowitſch-Lodz nad Kalifch Führende Bahn zu nennen, die eine direfte Verbindung zwifchen der preufifchen Grenze und Warſchau herſtellt und mit ſolchem Eifer gefördert wird, daß ihre Boll: endung noch vor dem Fontraftmäßigen Termin des Jahres 1903 zu erwarten if. Welche militärifche Wichtigleit diefer Bahn auch in Rußland zu: gefchrieben wird, lehrt der Umstand, daß man fich entfchloffen Hat, fie, im Hinblid auf die Möglichkeit eines für Deutfchland erfolgreichen Krieges, mit ruffifcher Spurweite zu bauen, trogdem die Warſchau-Wiener Bahn nebft ihren beiden Zweiglinien Skierniewice-Alexandrowo und Koluszki⸗Lodz die einzigen rufjifhen Bahnen mit wefteuropäifcher Spurmeite find.

Bon großer Bedeutung für die Konzentration ruflifcher Truppen an ber öfterreichifchen- Grenze ift die 440 Kilometer lange Staatsbahn Kijew- Komeit, die fehon zu Beginn des nächiten Jahres fertig fein foll und die befonder8 den nördlich des Azowſchen Meeres dislozirten Hecrestheilen nüten wird. Diefe Bahnlinie führt durch ſchwach bevölferte Gegenden, fo daß von ihr für Handel und Verkehr wenig Bortheile zu erwarten find unb ber ſtrategiſche Zweck immer im Vordergrund bleiben wird.

Das legte Glied in den militärifchen Bahnprojekten Rußlands bilbet die in jüngfter Zeit vielgenannte Strede Bologoje-Siedlce. Es heißt, daß diefe 1100 Kilomeier lange Eifenbahn, die eine Fortfegung der bereit3 vor: handenen Linie Koftrona: Aybinsf-Bologoje fein und zur Entlaftung t beiden großen Bahnen Peteröburg: Warfhau und Mostau: Warfchau diene fol, nit nur mit franzöfifchem Gelde, fondern angeblich auch auf dringenbes Betreiben des franzöfifchen Generalftabes gebaut wird.

Schon diefe Betrachtungen zeigen, daß Rußland mit feinem ftetig fid erweiternden Eifenbahnneg nicht nur leicht Truppenverfchiebungen innechal*

Der Fall Grimm. 121

wie außerhalb feiner. Grenzgebiete vornehmen, fondern auch Mobilmachung, Aufmarſch und Verwendung der Armee nach ganz anderen Erwägungen als bisher anorbnen laffen fanı. Damit aber wäre den von Grimm etwa aus- gelieferten Papieren diefer Art jeder Werth genommen.

.In der Erörterung rufjifcher Operationpläne wurbe auch gefagt, ‚die ftrategifche Gefammtlage weife die ruffifchen Armeen bei Ausbruch eines Krieges Deutichland gegenüber zunächſt auf die Defenfive an der ftarfen MWeichjelbarriere und auf die Vertheidigung des polnischen Yeftungfünfeds Nowo =: Georgiewst- Warfhau-Fwangorod- Breft-Litowsf. Diefe Votausſicht fcheint mir, in Verbindung damit, daß Oberfilientenant Grimm, wenn er überhaupt wichtige Altenftäde ausgeliefert hat, im Weſentlichen nur folche über einzelne Grengbefefligungen im warfchauer Militärbezirk verrathen konnte, fo bemerfenswerth, daß ich auf Grund zuverläffigen Materials, ohne auf das Gebiet der Strategie vom grünen Tifh aus überzugehen, noch ein paar Worte darüber fagen möchte. Daß Rußlands Eifenbahnneg heute noch nicht fo Teiftungfähig ift wie unfere8 und daß deshalb die Mobilmachung des ruffifchen Heeres nicht fo glatt verlaufen wird, wie wir es bei uns erwarten, dürfte fih auch aus meinen Betrachtungen ergeben haben. Immerhin fleht es jedoch mit der Schnelligfeit de8 Aufmarſches der rufjifchen Armee nicht fo ſchlecht, wie man vielfach anzunehmen geneigt ift, denn ein mit den Berhältniffen des verbündeten Zarenreiches vertranter höherer franzdjifcher Dffizier Hat ausgerechnet, ein ruſſiſches Armeecorps brauche mit allen Traing vierzehn Tage zu feiner Beförderung auf eine Entfernung von 1000 Werft und es fei anzunehmen, daß drei Fünftel der europätfchen Streit- fräfte des ruſſiſchen Heeres in achtzehn bis zwanzig Tagen mobil gemacht und dem SKriegsplan gemäß fonzentrirt werden könnten. Nun aber bat außerdem die ruſſiſche oberfte Heeresleitung, in richtiger Erkenntniß ihrer heute noch nicht hinreichend entwidelten Eifenbahnen, um diefen Nachtheil auszugleichen und um Bahntransporte größerer mobiler Truppenmaſſen im legten Augenblid möglicht zu vermeiden, mehr als zwei Drittel des Friedens- ftandes der Armee längs der Weltgrenze dislozirt und dadurch erreicht, daß 51/, Armeecorps mit allem Zubehör an Kavallerie und Artillerie, 2 Schügen- brigaden nebſt 2 Kavalleriecorpd in centraler Stellung im Militärbezirk Warſchau bereit ftehen und nur auf die Marfchordre warten. Ferner ftehcn dann je 5 Armeecorps in den benachbarten Militärbezirken Wilna und Kijew längs der preußifchen und öfterreichifchen Grenze; und an den Außerften Flügeln diefer Aufitelung find im Militärbezirk Petersburg 3, im Militär: bezirk Odeſſa 2 Armeecorps nebit Refervetruppen zum Eingreifen verfügbar. Die weiter öftlich liegenden Militärbezirfe Moskau mit 3 Armeecorps und Kaſan haben dabei zur Aufftelung der Reſervearmee und als Haupt-

122 Die Zukunft.

baſis für den Nachſchub zu dienen. Auf diefe Weife find die an den Weite grenzen untergebrachten Truppen in der Lage, ſelbſt in nicht vollfländig mobilen Zuftande dem Gegner in kürzefter Zeit nicht nur defenſiv, fondern auch offeniio entgegenzutreten. Und gerade diefe zweite Möglichfeit möchte ih, im Gegenfag zu dem vorhin bezeichneten Gedanfengang, in den Border: grund ftellen. Nach meiner Anlicht fpricht die Wahrfcheinlichfeit dafür, dag die auf fo verhältnigmärig eugem Raum fonzentrirten Maflen der ruſſiſchen Armee ſich bei Ausbruch eines Krieges durch eine Dffenjive Luft zu machen fuchen werden, um dadurch die feindliche Mobilmahung nad Möglichkeit zu ftören und ſich den Unterhalt für ihren ungeheuren Bedarf in Feindes Land zu beichaffen. Unterftügt würde ein folcher Angriff durch die auch als Depot- pläge eingerichteten großen Weichielfeftungen und durch die fumpfige Flußlinie des Bobr-Narew mit feinen von Offowjeg bis Pultusk reichenden Befeftignngen. Ganz befonders aber fcheint mir für die Nothwendigkeit rufüfcher Offeniv- bewegungen das mit Frankreich gefchloffene Bündnig zu Sprechen. In welcher Weiſe jich dieſes Bündniß militärifch im Einzelnen bethätigen wird, entzieht ih unferer Kenntniß. Sicher müßte aber Franfreih im Fall eines Krieges wünfchen, daß Rußland möglichft viele Kräfte des deutfchen Heeres auf ſich zu ziehen verfudt. Das kann nur durch eine thatlräftige und rüdjichtlofe Offenſive der rufiifchen Armee und nicht durch defenfives Verhalten an der Weichfellinie gefchehen.

Dem Fall Grimm wird wohl allzu große Bedeutung beigelegt. Unfere Heeredleitung Das mögen au unfere Feinde jich merken bedarf nicht geitohlener Papiere, um Wacht an unferen Grenzen halten zu können.

Köln. Erik von Witzleben.

7

Zwei Legenden. Die Delferin.

SI Pforte des Paradieſes fiel dröhnend zu. Der Engel mit dem feurigen Schwert trat vor fie hin; von der breimenden Wehr ſprangen nod ein paar gligernde Lichter in den Himmlifchen Garten, der fi langjam in abend» lie Schatten hüllte. Adam lag, vom Schmerz hingeworfen, zu den Füßen des Engeld. Stirn und Hände grub er in die Erde, krampfte fich ſchluchzend an die Schwelle jeiner verlorenen Seligfeit. (Eva jtand abjeits, da, wo niedrig gewachſene Herten einen legten Abjchiedsblid auf die eutſchwundene Seligfeit veriprachen. Sie hob ſich auf die Zchenjpigen, um noch einmal ihren ſüßen Garten zu jefftu, aber die Heden hatten jie nur gehöhnt und waren dem Gebote Gottes gehorjam.

Zwei Legenben. 123

Meinend wollte fie zu ihrem Manne treten, als es in den Heden rafchelte .. Enijterte . . Sie erſchrak. Sie wußte, wer da raſchelte und kniſterte. Ste wollte fliehen. Sie wollte, aber fie blieb. | Es war die Schlange.

Mühſam war fie durch Büſche und Geftrüpp gefrochen, heimlich, damit Die anderen PBaradiefesthiere ihrer Schande nicht fpotten jollten. Nun richtete fte fid) empor, Bing ihren ſchimmernden Leib über die Heden herab, wiegte ihn in den abendliden Schatten. Dit ihrem Falten, Eugen Blid jah ſie auf bie weinende Dtenjchenmutter.

„Eva!“

Eva ſchrie auf.

„Verführerin, weiche von mir! Hätteſt nicht Du mich bethört, nimmer hätt' ich den Apfel gegeſſen. Weiche von mir, Verfluchte, weiche von mir!“

Die Schlange wand fid) noch näher zu ihr heran. ihre Stimme Hang leife und Iodend, wie der Abendwind, der über das paradiefifche Gefild jtrich.

„Eva, Keiner hört Dich! Hier brauchſt Du nicht zu lügen! Hätteft Du ohne mich den Apfel nicht gegeflen?“

" Schweigen.

„War Dein Sinn nicht fo trächtig von diefer Begier, daß fie auch ohne mich an3 Licht geiprungen wäre?“

Eva trat einen Schritt zu der Schlange hin. Sich ſcheu nad) allen Seiten umſehend, flüfterte fie mit Beißen Augen und Wangen: „Ich wäre an ihr geftorben, hätte ich fie noch länger tragen müſſen, hättejt nicht Du das Wort geſprochen . .“

Wieder Schweigen.

„Du gebt in die Weite, Eva! Du follft draußen Mienfchen gebären.. .*

Ein füßes Lächeln huſchte über das verweinte Geſicht der erjten Mutter.

„Auch draußen werden verbotene Früchte wachſen .. Ob Deine Menſchen— finder niemals Begier nad) ihnen ſpüren?“

Eva rang die Hände. In weinender Selbitfhmähung:

„Es find ja meine Kinder!“

„Werden fie jo jtarf fein, daß ihre Begier zum Lichte drängt oder wird fie ihnen ungeboren im ſchwachen Schoß verkümmern?“

„Es find ja meine Kinder!“

Adanı erhob fi von der Erde umd rief jeinen Weide. Einen Athen: zug lang bejany fih Eva, dann flüfterte fie in die Heden: „Komm!“

Sie lüpfte ein Wenig ihr Blättergewand, das die Yenden deckte. Laut— [08 glitt die Schlange hinein, legte ſich um ihren Leib wie ein wierfacher Gürtel.

.. Das Menjchenpaar zieht in die Nacht hinaus. Düfter Ichreitet Adam, in verzweifelter Xiebe die Hand jeines Weibes haltend, Sein Sinn denkt an

. Berlorenes und an bei heißen Wrbeitstog, für den feine Fauſt erit die Waffe ihaffen muß. Roſig, lächelnd geht die junge Menfchenmutter. In ihrem Schoß, unter dem dunkel geringelten Cmigfeitbilde, wächſt er, dem die Welt gehören fol, mit all feiner Kraft und feiner Schwäche, mit feinen Drängen und feinen Ent- fagungen. Seinen erften Herzichlag fühlt die Schlange, die Werführerin-Erlöferin, die fegenreiche, verfluchte Wehmutter aller Sehnjüchte und aller Erfenntniffe . . .

124 Die Zukunft.

Die Eijferne Maske.

Der Dauphin hatte Gefchichtitunde. Ein junger Prälat, mit ernitem, blaſſem Geſicht ertheilte fie. Er ftand am Fenſter, bog den Kopf ein Wenig zurüd, ald ob er binter den grauen Wollen draußen die Sonne ſuchte. Er biftirte; und ber Dauphin jchrich gehorſam:

Romulus 753 bis 716.

Numa Pompilius 715 bis 672.

Tullus Hoftilius 672 bis 640.

Ancus ...

Der Dauphin legte plötzlich den Kiel weg und fragte ganz unvermittelt:

„Herr Abbé, wer war. die Eiſerne Maske?“

„Ich weiß es nicht, Monſeigneur.“

„Doch! Sie wiſſen es!“

„Wie ſollte ich, Monſeigneur? Weiß es doch Keiner!“

Der Dauphin beharrte: „Sie wiſſen es doch! Ich habe jeden meiner früheren Lehrer danach gefragt und jeder iſt roth geworden, bat jo verworren ge» redet, daß ich genau merkte, er wiſſe es wirklich nicht. Sie aber find nicht roth gervorden. Nicht einmal gezudt Haben Sie. Sie lächeln mur, lädjeln gerade jo wie Tante Montpenfier, wenn ich fie frage, ob fie mir Bonbons mitgebracht bat, und fie dann jagt: Ich weiß nicht . .“

„Ste find jehr fcharffichtig, Monſeigneur.“

„Herr Abbe, laſſen Sie mich nur zehn Minuten lang mit den römifdhen Königen zufrieden und erzählen Sie mir fchnell, wer die Eiferne Maske war. .”

„Ich weiß es nicht, Dionfeigneur. Ich wage auch, zu bezweifeln, baß Seine Majeftät fehr entzüdt wäre, wenn cr den Geſprächsſtoff Tennte, ben . Deonjeigneur joeben wählten.”

Seine Majejtät hört uns ja nicht,“ fagte der Dauphin und Frigelte etliche zufammenhangloje Schnörfel unter die Könige Roms. „Es muß eine jchr mächtige Perfon gewelen fein, diefe Eiſerne Maske“, ſprach er aus feinen | Gedanken weiter, „Sonſt wäre nicht ſolches Geheimnig um ihn gewejen und | man redete nicht noch fo lange nach jeinem Tode von ihm.“ |

Er ſchien Antwort zu erwarten; aber der Prälat ſchwieg. Er jah immer noch in die Wolfen hinein, hinter denen die Sonne ohnmädtig kämpfte.

„Denken Sie, Herr Abbe, der König felbft, mein verjtorbener Großvater, ilt einntal bei Nacht heimlich in der Baltille gewelen, um ben Gefangenen mit der Eifernen Maske zur ſehen.“

„Monſeigneur, ich bin entjegt, daß folcher Tafaienklatfh den Weg zu Ihnen fand!‘

„Das tjt Fein Lakaienklatſch, ſondern Wahrheit. Der König, mein ! jtorbener Großvater, wollte eben einmal das Geſicht des räthielvollen Dan feyen, der fchon in Sainte-Marguerite gefangen jaß, al3 mein Großvater m ein Kind war. Ob er jein Gefiht dann wirklich) gejehen hat, weiß id) niq Aber man durfte den Gefangenen niemals wieder vor ihm erwähnen.“ D Dauphin fenkte die Stimme und Jah ſich jcheu nach allen Seiten um. „, fürchtete ihn vielleicht ... Denken Sie mur: mein tapferer Großvater fürdhtete I vor dieſem Gefangenen!’

——

Zwei Legenden. 125

Die Sonne kämpfte fich eben durch die Wolfen und warf zwei leuchtende Funken in die Augen des Prälaten. |

„Wiffen Sie, Herr Abbe, was ich nicht begreife? Daß man wirklich nie, nie jein Geſicht gejehen haben jol. Man konnte ihn doch im Schlaf belaufchen.”

„Er trug die Maske auch im Schlaf.”

„Der König hätte fie ihm abreißen können.“

„Nein, aud) der König war dazu nicht im Stande.“

„War fie denn feſtgeſchmiedet?“

„Isa. Nur Einer Tonnte fie löſen. Er felbft.“

„Er wollte fein Geſicht nicht fehen laſſen?“

„.. Hören Sie mid an, Monfeigneur: ch Habe den Mann mit dem Eijernen Antlitz gefehen; denn was die Anderen Maske nannten, war fein GSefdt.. Er wollte nit, dab die Menſchen ihn erkennen, fein Weſen faflen und :mit Namen nennen jollten, wie auch er thnen nicht nadjfragte und feine Gemeinjhaft mit ihnen begehrte. Darum Hatte er Unbeweglichleit über feine Züge gebreitet, gleich einer Larve, und Schweigen umfing ihn, wie ein Tugel- fiherer Panzer. Sie denken nun vielleicht, Monfeigneur, daß er ftumm war oder irren Geiſtes; aber in feinen Augen lebte Alles, was fein Mund und fein Antlitz verſchwiegen. Ein ſeltſam drangvolles, forfchendes Leben, da8 mit ben Gejtirnen des Tages und der Nacht Zwieſprache hielt. Was fie ihm kündeten, was er ihnen vertraute: Keiner hat es je gewußt. Einfam, von den Anderen durch Maske und Panzer getrennt, lebte er die Jahre dahin. Was fie zu ihm berjpülten, was er ihren mitgab: Seiner hat es je erfahren. In Panzer und Maske iſt er dann auch geftorben und mit ihm fein Geheimniß. Wie glänzend oder wie blutig e8 war: Steiner wird e3 je. fünden.

.. Er dat Söhne Hinterlafjen, weit draußen, in der Welt verftreut, ein ftolzes, finſteres Geſchlecht, das die Maske im Wappen und vor dem Geficht trägt und mit den Gejtirnen Zwieſprache Hält. Ohne Freunde, ohne Belenner ziehen fie ſchweigend ihre einſame Straße, Aber wo ihr gepanzerter Fuß auf- Elirrt, gafft die Menge. . flüftert . . fchicht ihnen Fiebermärchen nad). Und bie Könige bliden unruhig...

Denn gefährlicher als feindliche Heere find die großen Einfamen. Sie hüten ihr Geheimniß zu gut. Man weiß nie: find es Fürften, die zur Richtjtatt gehen, oder Berbrecher, die zum Throne fchreiten ..“

Die Sonne jchien jebt hell ind Gemach; fie legte ihren Glanz wie eine Königsbinde um die Stirn des jungen Prälaten. Der Dauphin ftarrte ihn an und ſchrie auf: „Sie.. Sie felbjt find der Mann mit der Eifernen Maske!“

Der Abbe regte fih nit. Er legte die Hand an die Stirn, als wolle er die Königsbinde bergen. Und mit ruhiger, kalter Stimme fprad er: „Mon— feigneur, Sie fiebern! Sie fehen, wie Necht ich Hatte, als ich nicht mit Ahnen von folden Dingen jprechen wollte. Ihre lebhafte Bhantafie verträgt es nicht. Ich muß Sie bitten, zu fich zu kommen; oder wir fchließen die Stunde und ich rufe den Leibarzt Seiner Majeftät.“

Der Dauphin befann fi, rich fich die Augen, ſah feinen Lehrer an, lachte gin verlegenes Kinderlahen, und das Diktat wurde bei Ancus Marcius fortgejegt.

Münden. Carry Bradpvogel.

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126 Die Zukunft

Selbftanzeigen.

Aufgaben der Gemeindepolitit. (Vom Gemeindeſozialismus). Bierte Auflage. Jena, Verlag von Guſtav Fiſcher. 220 Seiten, Preis 1,50 Mark. Miguel bat in einem feiner lebten Briefe darauf hingewieſen, daB bie Gemeinde viel mehr al3 bisher zur Trägerin einer vernünftigen Sozialpolitik werden müßte. Und der vielerfahrene Dann bat damit einem Gedanken Aus- druck gegeben, defien Bedeutung in immer weiteren Streifen erfannt wird. Aller- dings: die billige großtönende Phraſe, das bequeme Schlagwort find in ber Gemeinbepolitif nicht fo leicht mobil zu maden wie in der Reichspolitif. Hier itoßen art im engen Raum fi die Sadıen.

In bem bier angezeigten Bud, beifen frühere Auflagen in der Breffe aller Richtungen, vom „Reichsanzeiger" bis zu den „Sogialiftifchen Dtonats- beften”, freundliche Anerkennung gefunden baben, tft nun verfucht worben, alle ragen, bie heute innerhalb der deutichen Gemeindepolitif ein Gegenitand des Streites find, kurz barzuftellen und, darauf ift der Hauptwerth gelegt, durch Wiedergabe praktiicher Verſuche zu erläutern. So find behandelt: die Bildung- fragen, Wrbeiterfragen, Mitteljtandsfragen, Steuerfragen und Gemeindebetriebe. Eine befondere Bedeutung aber meſſe ich der Behandlung des Bodenproblems innerhalb der Gemeinde zu, die in den Kapiteln: „Die Zuwachsrente“, „Bom Semeindegrumdeigenthun”, „Zur Wohnungfrage” gegeben it. Auch bier tft feine Forderung erhoben, die nicht an irgend einer Stelle fchon in deutſcher Praxis durchgeführt ift, feine Forderung alfo, bie leihthin als „graue Theorie" abzu- weilen wäre. Es iſt meine Abficht, die ich gern offen zugebe, durch dieſes Bud) wie durch meine gefammte TIhätigfeit als Vorfiender des Bunbes der Deutichen Bodenreformer in unferen Induſtrieſtädten den Kampf um die „Zuwachsrente“ zu entfachen. In ihm liegt ein Stüd Entfheidung über alle anderen Probleme des wirthichaftlihen Lebens. Gelingt es, die ungeheuren Werthe, bie alle Tage in unferen aufblühenden Gemeinden durch die Kulturarbeit der Gefammtheit er- zeugt, aber heute faft überall noch von Zerrainipefulanten ohne jede Arbeit. leiftung für fi beichlagnahmt werden, für die Gefammtheit zurückzugewinnen, jo ift Steuerdrud, Bodenwucer und Wohnungnoth befeitigt und der Weg zu jeder durchgreifenden Neforn geöffnet. Ob das Ziel erreicht werden wird? Ob fich genug ernjte Menjchen finden, die die fittliche Reife haben, für ernfte Fragen ein ehrliches Intereſſe auch wirklich zu bethätigen? Ich will nur eine einzige Zahl aus dem Buch wiedergeben: Am zweiten Dezember 1895, als von einer akuten Wohnungnoth noch gar nicht die Rede war, wurden in Berlin gezär'*- 4718 Wohnungen ohne jeden heizbaren Raum, 27160 Wohnungen mit einem einzigen heizbaren Raum, die von ſechs und mehr als ſechs Perſt dauernd bewohnt werden. Mehr als 200000 Menſchen haufen aljo alleir. unferer glänzenden Reichshauptſtadt in Verhältniffen, in denen ein gefur Familienleben fat unmöglich erſcheint. In anderen deutſchen Gemeinden [ es noch ſchlimmer als in Berlin; und feine Lohnerhöhung, die bie Arbeiter oft mit fchweren Opfern erfämpfen, verinag ihre Lebenshaltung wirklich zu ı beflern, jo lange die Miethfteigerungen die Lohnerhöhungen aufzehren. M

Selbftanzeigen. 127

e8 doch erft als felbftverftänbliche Pflicht für eben, der von der Geſellſchaft als gebildet anerfannt werden will, gälte, wenigſtens ſolche Elementarzahlen ber deutſchen Bollswirthichaft zu willen! Dann würden wohl nur noch wenige Menſchen fi der allerdings bequemen Täufhung hingeben fönnen, mit Ver- einen zum WUlmofengeben, zur Hebung ber Ethik, zur Förderung der Kunft unter dem Boll, zur Belämpfung des Alkoholismus u. f. w. ihrer ſozialen Pflicht völlig zu genügen. Das Wohnungproblem, dem allein durch verjtändige Gemeinde- politif begegnet werden Tann, führt wirflih bis zum Grunde bed fozialen Problems hinab, Mögen meine „Aufgaben der Gemeindepolitif” Helfen, bier Wege zur Beflerung zu zeigen. Der Verleger, der ja auf nationalökonomiſchem Gebiet zu den Kundigiten in Deutichland gehört, muß wohl gutes Yutrauen haben, fonft Hätte er nicht den Preis des Werkes auf anderthalb Mark feſtgeſetzt, alfo auf etwa ein Drittel des Preijes, der fonft für ein nationalölonomijches Wert gleichen Umfanges üblich ift. Adolf Damafdke. * Die Thliren des Lebens. Prag. Verlag Sympoſion. Diefes Buch erzählt die Gefchichte der Veronika Selig, Wie ihr das Leben die Marter bringt, für die ihr Herz zu eng und zu gütig ift. Wie fie fi verfriecht vor dem Leben und dennoch den Ton feiner Schritte immer wieder Hört, wenn ed an ihren Fenſtern vorübergeht. Und wie fie am Ende fih nicht mehr helfen kann und ihre ungebändigte Tiebe, ihre erftarrten Wünfche und ihre verlorenen Tage noch einmal zu einem Abenteuer ſich zufammenfinden, das fie doch nun zum Schluß wieder heimkehren läßt in das verrufene Haus, in dem das Leben und das Schidjal geftorben jind. Es iſt der Roman der paifiven Menſchen. Es tft ein Gleichniß und die Legende von ber Wiederkehr: die Sage von den Thüren des Lebens, hinter denen die Schauer und das Wunder wohnen und hundert Dinge, die auf ung laften, die Träume und die Traurigkeit, der Hohn und die Gebete eines hyſteriſchen Herzens. Prag. . Paul Leppin.

Berfäumter Frühling. Hugo Steinig, Berlin 1902.

Weh, daß ich meinen jungen Lenz verträumt,

In Labyrinthen pfadlos mich verfäumt,

Indeß der Frühling blühte ! .. Und daß ich meinen Sommer nicht genofjen Und thöricht meine Sinne hielt verfchloffen, Indeß die Noje glühte ...

In ſpät entfachter, bunter Herbſtespracht Iſt meine arme Seele aufgewacht,

Nun, da die Nebel wallen ... Was ſoll mir jetzt das goldne Purpurlaub! Den Farbengluthen fehlt der Blüthenſtaub

Die Blätter fallen...

Jenny Schnabl. $ g*

128 . Die Zuhmft.

Rothichild-Sombarden.

Br ben legten Wochen ift wieder viel Druderjchwärze für Meldungen über die Oefterreichtfehe Südbahngeſellſchaft verbraucht worden. Zwei Millionen Kronen Betriebsverluft, Deckung der Obligationenzinfen aus der ohnehin ſchon geringen Obligationenreferve, Ernennung eines Qurators für alle vorhandenen Prioritäten, Vorſchläge zur Hinausfchiebung der Tilgung: Das ungefähr war ber Inhalt ber Nachrichten, die aus Wien Hier eintrafen. Daß die Obligationen- befißer darüber nicht gerade ſehr erfreut waren, iſt begreiflid; noch näher an die Haut ging die Sache aber den Aktionären. Die Ausſicht auf eine lange dividendenlofe Zeit ift Teinem Aktionär angenehm; ganz befonders ärgerlich mußte fie aber ben Sübbahnaftionären fein, die die Entwidelung fommen jahen und feit Jahren in allen Generalverfammlungen das Beſchreiten neuer Wege empfahlen, um dem drohenden Unheil zu entgehen. Jetzt endlich hat die Ber- waltung fi zur Unnahme eines Theiles diefer Vorjchläge bequemt.

Wenn Ultionäre gegen Obligationenbefiger fämpfen, jo wendet bie Sympathie gemüthvoller Menſchen ſich meift den Obligationären zu. Der Aktionär ift Teilhaber des Unternehmens. In ben fetten Jahren ſieht er mit Verachtung auf die dummen foliden Leute herab, die fich begnügen, gegen lumpige Zinsverſprechungen ihm bie Gelder zu leihen, die nöthig find, um das Unter: nehmen zur Blüthe zu bringen. In fchlehten Jahren iſt der Aktionär ver- pflichtet, den Obligationenbefigern Tribut zu zahlen, denn fie find feine Gläu- biger, vor benen er, wenn er fie braucht, höflich den Hut ziehen muß. Aber wer denkt in den Jahren bed Glüdes und Glanzes an das traurige Ende? Kommt dann bie Schlechte Zeit, muß Jahr vor Jahr der Aktionär zufehen, wie feine Gläubiger, behaglich ſchmunzelnd, die Zinfen in die Tafchen fteden, jo tft er nur allzu leicht geneigt, jet plöglich mit Anſprüchen an bie Obligationen- befiger beranzutreten und von ihnen zu fordern, fie möchten, bamit er Dividende befommt, auf einen Xheil ihrer Rechte verzichten. Dieſe Neigung ift menfchlich, allzu menfhlid. Unfere Sympathie aber gehört den Leuten, bie fih in ben glänzenden Jahren mit dem niedrigen Binsfuß abfinden ließen, um fich dafür das Recht der Gläubiger zu fihern. Nur find folde Sympathien an gemiije Vorausfegungen gebunden. Den Juriſten ift jeder Vertrag heilig. Fiat justitia, pereat mundus. Doch der Laie denkt nicht in fo ftarren Sägen. Er fragt auch nach dem Inhalt und der Genefis der Verträge. Der Obligationär bat mühſam erjparte taufend Mark der Gejellichaft geborgt. Diefer Betrag, fo ward verjproden, ſoll ihm verzinft und nach Ablauf einer beftimmten Beit zurückbezahlt werben. Plöglich bietet man ihm nur die Hälfte, vielleiht gar noch einen niedrigeren Zinsfuß. Das empört und. So etwa lagen die Dinge bei ber Reorganiſatic der Hypothefenbanfen. Da war das Vertrauen ber Eleinften Sparer mißbrauc worden. Deshalb ftellt das Volksbewußtſein die Sanirung der Hypotheker banten in eine Reihe mit anderen groben Bertragsbrüchen der Tyinanzgeichichte

Der Kampf zwiſchen Obligationären und Aktionären der Südbahn b ruht auf einer ganz anderen Vorausfegung. Die Bahngeſellſchaft tft von di Rothſchilds ausgemuchert worden. Das Obligationengejchäft gilt jonft mit Rec al3 jolid; doch bei der lombardiſchen Bahn wurde diefe Solidität immer nı.

Rothſchild⸗Lombarden. 129

vorgetäufcht. Charakteriftifch ift ſchon ber Spigname der Bahn; ihre Altien find unter dem Namen Lombarden ein allen Börfen Europas mohlbefanntes Spielpapier. Lombarden: fo nannte man, ihrer Herkunft nad), im Mittelalter die Wechsler, die auf den Meilen umberzogen. Bon ben einfachen Holzbänfen, auf denen te faßen, war ein weiter Weg zu burchmejlen, bis der Kunftbau des modernen Bankgefchäftes erreicht wurde. Diefe Lombarden, die auf ihre Weiſe ber Kultur dienten, waren Leute, die das Vertrauen ihrer Kunden felten mit nüßlicher Leiftung recdhtfertigten. DerName Lombardifche Bahn ftammt von Linien ber, die der Südbahn ſchon lange nicht mehr gehören. Als Oeſterreich noch über die Lombardei berrfchte, war das lombardiſche Schienenneß der Suüdbahn auch ein Wahrzeihen von Oeſterreichs Oberhoheit. Als dann aber die italies nifche die oſterreichiſche Herrichaft ablöfte, wurden bie lombardiſchen Streden an bie italienifche Negirung verlauft. Es ift wohl nur ein Zufall, daß gerade in diefen Jahren, von 1875 bis 1880, die Altien zum eriten Dial feine Dividende brachten. Bis dahin waren gang anjehnliche Dividenden vertheilt worden. Schon vorher aber war das Unheil gelät, das feitbem die Aktionäre fo oft ſchmerzlich ſpüren follten. Es gab 150 Millionen Gulden Altien. Das weiter nothwen⸗ dige Kapital wurde nad und nad dur Ausgabe von breipronzentigen Obli- gationen bejchafft. Ich weiß nicht, ob die Aktionäre in diefem niedrigen Zinsfuß einen Bortheil ſahen. Das würde der länbläufigen Anficht entfprecden. Selbit Miguel war ja ftolz darauf, daß er in den finanziell fchwierigften Zeiten drei— prozentige Anleihen aufzunehmen vermodte. Gerade das Beifpiel der lombar- difchen Bahn lehrt nber, daß billig verzinfte Anleihen mit ihrem niebrigen Aus— gabefurs einer Gefellichaft verhängnißvoll werben können und nur den Stapitaliften nüßen, die den Kursgewinn einftreichen. Die lombarbifche Bahn häufte im Lauf der jahre eine Obligationenichuld von über 900 Millionen Gulden, für bie fie in Wirklichkeit knapp 450 Millionen Gulden erhielt, weil im Durchſchnitt der Uebernahmekurs auf etwa 48 ftand. So mußte eine drüdende Laſt ent- ftehen. Ein Kapital von mehr als einer Milliarde Gulden war, dem Nennwert nad, in der Bahn inveftirt. Die Zinſen aber mußten von dem relativ kleinen Aktienkapital 150 Millionen aufgebracht werden. Es war aljo nöthig, für rund 450 Millionen Gulden eine jechsprozentige Berzinfung zu ſchaffen. Gewiß giebt e8 Bahnen, die das Anlagefapital viel höher verzinfen, namentlich ſolche, deren Linien durch reiche Tinduftriegebiete gehen. Aber im Allgemeinen ift bei Bahnen eine jechsprogentige Verzinfung nicht zu erreihen; am Wenigiten bei der Südbahn, deren weites Schienenneg viele unrentable Streden umfaßt. Noch ſchwerer als die Berzinfung war in diefem Fall der Tilgungmodus zu ertragen. Das Berſprechen, einen Betrag, der höher als der empfangene ift, zu verzinjen, Fann ohne allzu große Bejchwerde erfüllt werden, wenn auch mit der Höhe der Schuldfumme natürlich die Laſt wächſt. Ganz anders liegen die Dinge aber, wenn man verpflichtet ijt, mehr, als man erhalten hat, zurüdzu- zahlen. Solche Bürde kann ſelbſt der rentabelfte Betrieb kaum tragen. Der Staat, der fi aus irgend einem Grunde genöthigt glaubt, billig verzinfte An— leihen zu niedrigem Kurs auszugeben, kann den Ausweg ber ewigen Renten: ſchuld wählen; dann ift er von der Rüdzahlungpflicht befreit. Wer aber die Ausgabe einer Bahnobligationenjchuld vermittelt, muß willen, daß die lombar-

180 ‚Die Zukunft.

diſche Methode die Geſellſchaft ins Verderben führt. Das war bie Schuld der Rothſchilds, deren Wucherjoch die Aktionäre abzuſchütteln fuchen. _

Als diefer Verſuch, zuerft von den deutſchen Altionären, unternommen wurde, empfing ihn in Oeſterreich höhnijches Gelächter. Die Herren der Süd- bahnverwaltung waren wohl nur an die ſchlaffe Oppofition ihrer weichmüthigen Landsleute gewöhnt und rechneten nicht mit norddeutfcher Zähigkeit. In Ham⸗ burg entitand ein Aktionärausſchuß, ber unter der Führung des Rechtsanwaltes Dr. ©, Heymann kräftig zu agitiren begann. Und nun wiederholte ſich "all- jährlih in den Maiverfammlungen der Südbahn das felbe Schaufpiel. Die deutſchen Aktionäre trugen ihre Pläne vor, begründeten fie ausführlihd, und die Sübbahnherren wieſen alle Vorſchläge ab und beriefen ſich emphatiſch auf Recht und Billigfeit. Sind denn aber die Forderungen ber Aftonäre fo ungeheuer- U? Das von ihnen herbeigefchaffte Gutachten eines öſterreichiſchen Anwaltes beweift haarſcharf, daß von ber Verwaltung ben Obligationären freiwillig mande Konzeffionen gemacht wurden, auf bie fie Leinen unbebingten Unfpruch hatten, deren Rechtsgrundlage vielmehr höchſt zweifelhaft iſt; ich will zunächſt mir von denen reden, die fich auf Tilgung und Verzinfung beziehen. Die dreiprozentige Obligationenſchuld der Bahn war in Silber bezahlt worden, die Bahn aber zahlte auch in letzter Zeit, troß ben veränderten Werthverhältniffen, die Zinfen in Gold. Auch bei der Auslofung wurde der Gegenwerth ber ganzen Stüde in Gold bezahlt. Das Gutachten des Advokaten Dr. Weißhut läßt gewidhtige Zweifel barüber beftehen, ob die Geſellſchaft verpflicdtet war, in Gold zu zahlen. Die Südbahndirektion hat fich entfchieden geweigert, den Auszahlungmobuszu ändern; die Menderung, hieß es, tönne den Kredit der Gejellichaft gefährden. Diefem Argu- ment haben fich die Aktionäre gefügt. Sie wollen nur noch) die drüdende Tilgung- pflicht erleichtern. Aber auch bier dachten die deutichen Aktionäre nicht an einen Nechtsbrud. Weißhuts Gutachten zeigt, daß für eine ganze Reihe von Serien der dreiprozentigen Obligationen die Verpflichtung ber Auslofung zum Nennwerth nad einem feiten Plan gar nicht beiteht. Die Konzeffion der Südbahn Läuft 1968 ab. Bis bahin müffen alle jegt umlaufenden Obligationen in Höhe von 1,91 Milliarden Franes getilgt fein. Doch ift nicht etwa für die Tilgung der ganzen Summe ein einziger Schlußtermin vorgejehen. 82 Millionen müffen bis 1949, eine Milliarde bis 1954, etwa 800 Millionen bis 1968 getilgt fein. Natürlich . wäre ſchon viel gewonnen, wenn die Endfrift der Tilgung für die ganze Summe bi3 1968 hinausgeſchoben werden könnte. Das verlangen die Aktionäre. Und jie berufen fich darauf, daß ein Schade dadurch nicht entftehen könnte, weil an der Börfe die zu verjchiedener Zeit rüdzahlbaren Serien die felbe Kursnotiz haben. Das beweiit, wie wenig Werth das Sapitalijtenpublitum der früheren oder fpäteren Nüdzahlung beimißt. Ferner fordern die deutihen Aktion der Geſellſchaft folle erlaubt werden, einen Theil ihrer Obligationen durch R. fauf zum Tageskurs zu tilgen. Dadurch wäre bie Gejellihaft beträchtlich « lajtet, benn die dreiprozentigen Obligationen ftehen jet etwas unter 70. 7 jede einzelne Obligation würbe der börſenmäßige Rückkauf aljo ein Erträg von rund 150 Franes gegenüber der Auslofung zum Nennwerth liefi Auch hier ſoll Niemandgeſchädigt, fein Hecht verlegt werben ; die wenigen Börfenlei die ihre Chligationentheurergefauft hatten, waren ja nicht zum Verkauf gezwung

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Rothſchild⸗Lombarden. 131

Wer den Pariwerth erhalten will, muß eben bis zum Verloſungtermin warten. Auf Obligationäre, die zu niedrigemſturs gekauft hatten, war keineRtückſicht zu nehmen; und erſt recht nicht auf die erſten Beſitzer, bie ihre zum wucheriſchen Uebernahmepreis er» morbenen Obligationen noch liegen hatten. Allen Bernunftgründen wurde in den Generalverfammlungen ſtets mit nichtsfagenden Ausflüdhten begegnet und allen Warnungen zum Troß blieb die Verwaltung bei ihrem ruchlofen Opti- mismus. Jetzt plöglich ift fie zu Vorfchlägen genöthigt, die den früher abge: lehnten jehr ähnlich find. Mit einigen Abweichungen im Detatl werben bie Forderungen der deutſchen Aktionäre nun aud) von ber Verwaltung aufgenommen. Sie verfagte ihnen die Anerkennung, jo lange e3 fih nur um das Intereſſe der Aktionäre handelte, und fügte fih erſt, als die Obligationäre vor der Gefahr des Binsverluftes ftanden. Wäre die Sübbahnverwaltung nicht fo kurzfichtig gewejen, hätte fie fich jchon vor fünf Jahren zu Reformen entihloffen, dann hätten die Aftionäre allerdings vielleicht eine um 1 oder 2 Prozent höhere Die vidende befommen, die Beunrubigung der Obligationäre wäre aber vermieden worden, bie den Kredit der Geſellſchaft mehr geſchädigt hat, als irgend eine re- formirende Maßregel vermöchte. In ben Publikationen der Südbahn werben faſt wörtlich die Gründe ber Oppofition nach Weißhuts Gutachten angeführt. Haben bie weifen Herren. wirklich erſt jet eingefehen, daß diefe Gründe ftichhaltig find? Der lange Widerftand der Direktion ift darüber täufcht fi) wohl Niemand darauf zurüdzuführen, dab die Rothſchilds in Wien, Paris, Lon- don nicht Luft Batten, die Sünden ihrer Bäter an der Lombardenbahn gutzu⸗ maden; jie wollten die alte Beutepolitit weitertreiben.. Aus diefem Lager itammt auch ſicher der Satz, den ich in einem berliner Börfenblatt fand: „In den Verhandlungen, die im verfloffenen Herbſt zwijchen dem wiener Verwaltung⸗ rath der Südbahn und den Mitgliedern des parijer Kommitees in Paris ge pflogen wurden, ift die Vereinbarung getroffen worden, eine von ben deutjchen Altionären ſchon lange betriebene Auseinanderjegung mit den Brioritätenbefigern erit dann anzubahnen, wenn bie ziffernmäßigen Erträgnifle der Bilanz für das abgelaufene Geſchäftsjahr vorliegen und aus bdiefer Bilanz die unabweisliche Nothwendigkeit folder Schritte fich ergiebt.” Das heißt: wir haben bejchlofien, bis zur allerleßten Stunde, fo lange, wie es irgend möglich ijt, bie Kräfte der Geſellſchaft für die Obligationenbefiger anszunußen, mag dabei aud die Gefell- Ichaft zu Grunde gehen. So lange nur die leijefte Hoffnung auf vollen Zins genuß der Obligationäre blieb, fträubte manfich mit Händen und Füßen gegen jede Re⸗ form. In dem Bericht des erwähnten Börjenblattes, das ein vielleicht ahnungloſer Schmock von Wienaus bedient, ftehtabernod) Schöneres. Zunächſt wird verjichert, die Transaktion feinatürlich im vollſten Einverjtändniß mit den wiener und parijer Häu— ern Rothſchild erfolgt. Dann aber heißtes: „Doch mag bei diefem Anlaß den mider- migen Unterftellungen entgegentreten werden, daß das Haus Rothſchild wegen ies Prioritätenbeſitzes die Intereſſen der Aktionäre denen der Prioritätenbes iger hintanſetzt. In dieſer Beziehurg ift Ihr Korrejpondent von maßgeben- ? Stelle autorijiert, mitzutheilen, daß ſeit Jahren ber Beſitz ber beiden Häuſer sthihild an Obligationen der Südbahn ein ganz geringer ift, während die iden Welthäufer allerdings einen jehr bedeutenden Aftienbefig in jich ver- “en, durch den fich kaum wieder einbringliche Verlufte von vielen Millionen

182 Die Zukunft.

ergeben. Ich kann natürlich feine pofitiven Angaben über den Prioritätenbefig ber Herren Rotbfchild machen, da ich leider zu ihnen gar feine perſonlichen Be- ztehungen Habe. Ich kann auch nicht für bie Richtigkeit der Darftellimg bürgen, die ein freundlicher Zufall mir zugetragen bat. Danach hat das Geſchick der breiprozentigen Sübbahnobligationen ben inhalt einer Tragifomoedie im Haufe Rothſchild geliefert. Zur Ausftener einiger Töchter aus diefem Haus Hatten starte Voften öſterreichiſcher Südbahnobligationen gehört und jede Binsverfürzung könnte recht böfen Yamilienzwift herbeiführen. Das mag eine der vielen Le- genden fein, bie wiener Phantafie erfonnen hat, meinetwegen auch ein jchlechter Wit. Die Methode aber, die von den Rothſchilds und ihrer Preſſe angewandt wirb, verdient Beachtung. Der Aktienbefi der Familie Rothſchild ſoll Millionen betragen. Das glaube ich; auch, dab auf diejen Aktien vielleicht Berlufte ruhen, deren Höhe minder bemittelte Qeute in den Konkurs treiben könnte. Die Frage ift nur, ob es fi Bier nit am Ende un Berlufte Handelt, die man durch Ge- winne auf der anderen Seite, namentlich bei der Verzinſung und Tilgung der Obligationen, wieder einzubringen hofft. So ober Ahnlid muß es fein; fonft wäre der Verlauf der bisherigen Generalverfammlungen, die ganz unter Roth: ſchilds Einfluß ftehen, überhaupt nicht zu begreifen. Dan braucht übrigens nur einen Blick auf die Statuten der Sübbahn zu werfen, um das Streben zu merfen, den Aktionären alle Rechte zu verfümmern. Erft der Befig von vierzig Aktien gewährt das Recht auf eine Stimme. Niemand darf mehr als höchſtens zehn Stimmen für ſich und zehn Stimmen mit Vollmacht vertreten. Nur Aktionäre dürfen _ bie Vertretung frember Wltien übernehmen. Diefe Beitim- mungen haben das Gros der Aktionäre völlig ausgeſchloſſen und den Rothſchilds und deren Strohmännern alle Macht gefihert. Thatſächlich ift man von je ber übel mit den Aktionären umgegangen. Wegen einer geringfügigen Konzeffton? verlängerung bat man bie fünfprogentige Dividendengarantie in die Garantie eines Bruttoerträgnifles umgewandelt. Und 1899 Hat die Generalverfammlung befchlojjen, die bis dahin beftehende Pariausloſung für die Aktien zu juspen- diren; dieſer Beihluß brachte die Aktien um ihre legten Chancen. Wer fol denn glauben, eine unbeeinflußte Generalverfammlung, die wirklich nur Aktionär interefjen vertritt, könne ſolche Beſchlüſſe fallen? Nein: im Berwaltungrath figen Leute, die Rothſchild am Draht lenkt, und die Generalverfammlungen find von Rothſchild injzenirte Komoedien. Der Betriebsleiter, Herr Eger in Wien, trägt zwar den Titel eines Generalbireftors, hat aber nach den Statut gar nichts zu jagen. Der Berwaltungrath herrſcht und der Berwaltungrath tft Rothſchild.

Aud im Gefchäftsleben ift Macht des Rechtes Schöpferin. Wenn aljo die Rothſchilds eine durch ihre Fyinanzpolitif an den Rand des Abgrundes ge brachte Geſellſchaft noch weiter ausbeuten wollen, ſo wird ſchwerlich Jemand fie hindern können. Nur jollen fie uns dann wenigftens mit ihren ethifchen Redens arten verfchonen und uns nicht vorjammern, wie viel-fie an den Lombarden aftien verloren haben. Der Egoift, der den Muth jeiner Skrupelloſigkeit hat, ij zu ertragen; jentimentale Wucherer aber find kaum noch in Melodramen möglich.

Plutus.

Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: M. Harden in Berlin. Verlag ber Zutunft in Berlir Drud von Albert Damcke in Berlin &chöneberg.

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Berlin, den 26. April 1902. —ñ——

Ilja von Murom.

urch die Bylinen, die Vollsepen der Moskowiter, ſchreitet mit ſchwerem Tritt ein frommer Held, dem im Rieſenkörper das Herz eines Kindes

ſchlägt: Ilja aus Murom, eines Bauern Sohn. Dreißig Jahre lang ſaßer ge⸗

lãhmt auf einem Fleck und die Eltern fürchteten ſchon, ihr großer, ungeſchlachter Junge werde Arme und Beine nie mehr rühren lernen. Eines Tages aber,

da er allein in der Hütte war, klopften zween Pilger, baten um Einlaß und

riethen ihm, der ſich auf die Lähmung der Hände und Füße berief, ruhigen Muthes nur aufzuſtehen und ihnen das Thürchen zu öffnen. Er tuts, wird von den Pilgern mit Wein gelabt und ift von diefer Stunde an der ſtarke Mann, dem die Gewaltigften nicht widerftehen können. Selbſt ſchmiedet er fich die Waffen, badet nächtens fein plumpes Bauernfüllen im Thau, daßes eines Ritters würdiges Streitroß werde, und zieht, mit der Eltern Segen, der Häufer bauet, dann hinaus in die weite Welt. Des Landes Bedränger wirft er in den Staub, Räuber und böfe Rieſen, ſchlägt ein Tatarenheer in die Flucht und wird der Schüter der Schwachen. Kronen und Schätze und jchöner Frauen Gunft verſchmäht er, der nicht Macht noch Genuß fucht, fondern im Dienft des gequälten Volkes hriftlich handelt und wandelt. So ofter die Erde berührt, wächſt feine Kraft; und faft vierhundert Jahre währt ſchon jein Leben, als Engel ihn vom Noß heben und nad) Kiew ins Höpfenklofter tragen, auf daß er an Heiliger Stätte fterbe. Lange wurde den Neifenden dort fein Grabgezeigt. Im Lied aber Iebt noch heuteder nationale 10

134 Die Zuhuft.

Held, den nicht Hang zu Abenteuern, nicht Rachſucht nod) Muchtbegier aus der Enge trieb. Alte und neue Dichter haben ihn als den Mythengenius des ruſſiſchen Volfes verherrlicht, das nicht zu bejiegen fei, wenn es zur rechten Stunde widerdie Herrſchaft der Bosheit aufiteheund dem Gebot desChriften- gottes gehorche. Und immer, wenn im finiteren Ruffenreich der Drud mer⸗ träglich wurde und gebundene Kräfte die Eiſenketten zu fprengen drohten, bujchte ein Flüſtern über die ſchwarze Erde, ein angftnolles Hoffen: Iſt Ilja, der Muromer, von der Lähmung erlöft und wird er die ungelenten Rieſenglieder endlicd) nun, endlich zur Befreierthat regen ?

Wieder geht, feitaus den Hauptftädten ſchlimme Kunde in die Dörfer drang, die alte, oft in fternlofe Naͤchte geſeufzte Frage durch das Land. Oben, in der dünnen Schicht der ©ebildeten, gährt e8; und die afademijche Jugend Icheint zum äußerſten Wagniß entjchloffen. Vor einem Jahr wurde der Chef ber Unterrichtsverwaltung von einem Studenten getötet; und jegt iſt Sjip- jagin, der Miniſter des Inneren, von einem Studenten ermordet worden. Zwiſchen den beiden Thaten liegen Studententrawalle und Straßenfämpfe. Man hat die jungen Leute niedergeſchoſſen, nach Sibirien verſchickt, ausge⸗ peiticht und unter die Soldaten geftedt: nichts hat geholfen. Schon wird in Europa von dem nahen Ausbruch) einer ruſſiſchen Revolution geſprochen und der Weiße Zar beſchworen, ehe es zu ſpät wird, fein Selbftherrfcher- recht zu opfern; er fei jung, offenbar guten Willen! und könne die Nothwen⸗ digkeit liberaler Reformen nicht länger verlennen. Was er thun foll, ward ihm bisher nicht gefagt. Einem Bolfvon hundert Millionen Analphabeten, das auf einem Gebiet von mindefteng zweiundzwanzig Millionen Quadratfilo: metern lebt, eine Berfaffung nach europäifchem Muſter geben ? Zwei Jahr⸗ zehnte find vergangen, feit Nikolais Großvater auf denn Wege zu diefem Ziel den eriten Schritt that. Am dreizehnten März 1881 alten Stils hatte Alerander der Zweite, bevor cr zur Parade fuhr, dem von ihm zum Minister des Innern ernannten General Loris Melikow befohlen, im Re— girungboten am nächſten Morgen den Ufas zu veröffentlichen, der die Ver: treter der Provinzialftände und der Stadtgemeinden zu einer Nepräfentan: tenverfammilung in die Hauptftadt rief. Während der Erlaß, der zwar feine Verfaſſung, doc) den Beginn eines politischen Lebens brachte, in der Reichs: druckerei gejeßt wurde, warfen Kibaltichifch und Sofie Perowskij am Katha⸗ rinenfanal ihre Bomben und der Zar wurde fterbend ing Winterpalais ge: bracht. Loris Melikow ließ nachmittags dentrauernden Sohn des Gemorde⸗ ten fragen, ob der Ukas erſcheinen ſolle; gewiß, war die Antwort: gleich morger

Ilja von Murom. 135

ſoll das Volkdas Teſtament meines Vaters leſen. Mitten in der Nacht kam der Gegenbefehl: die Veröffentlichung ſei aufzuſchieben. Ein paar Tage ſpäter war Katlow in Petersburg und Alerander der Dritte erklärte in feinem erften Erlaß, er werde die Autofratie, der Rußlands Größe zu danken fei, unge- ſchmälert auch ferner wahren. Diefes Gelübde des Vaters hat der Sohn er- nent. Er könnte, nad) der Ermordung Carnot3, Umbertos, Mac Kinleys, fragen, ob der Mobdeparlamentarismus denn ein ſpezifiſches Mittel gegen Attentate fei, und die aufdringlichen Mahner an Goethe weijen, der gejagt hat: „Für eine Nation ift nur Das gut, was aus ihrem eigenen Kern und ihrem eigenen allgemeinen Bedürfnig hervorgegangen ift, ohne Nachäffung einer anderen. Denn was dem einen Volk aufeiner gewiſſen Altersftufe eine wohlthätige Nahrung fein kann, erweift fich für ein anderes vielleicht als ein Gift.” Eine Konftitution ift in Rußland nicht nur unmöglid): fie wird von der Maſſe der Muſhiks auch gar nicht erfehnt. Heute nod) find die Worte aus der Denkſchrift Karamſins wahr, die der Ausgangspunft der jlavo- philen Bewegung wurde, und jeder gemijjenhafte Würdenträger im Zaren⸗ reich muß die Warnung beherzigen, Fünftlic) im Yande des Palaeologen- adlers Bedürfniffe zu fchaffen, die der befte Wille nicht befriedigen kann. Die Gcbildeten, die Europas Kultur beledt hat, haben dieſer Mah— nung nie gelauſcht. Auf dem Thron der alten Khane vertrat fie der erfte Alerander, der befanntefte Typus des gebildeten Ruſſen: weich und dennoch brutal, eifrig im Erjinnen ausgreifender Pläne und jchlaff in der Ausfüh— rung, eigenfinnig und doch leicht beftimmbar, wie alle Dienjchen, die ihres Wollens Ziel niemals Har vor fich fahen. Wer weiß, was aus Rußland ges worden wäre, wenn Speransfijs genialifcher Sprudelgeift länger den fchwan- fenden Sinn des Kaiſers gelenft hätte, der Laharpes Schüler bleiben und der Fran von Krüdener doch die Treue halten wollte? Ohne Karamſins rauhen Eingriff, der neue gefährliche Proben hinderte, hätten die Defabrijten viel- Teicht mehr Anhang gefunden. Yange blieb auf der Oberfläche dann Alles rubig. Nikolaus herrfchte, ein Ruſſe vom alten Schlag, ein Mann ohne Kerven, ohne flatternde Phantajie, doch unbeugſamen Willens, der nie weit orausſchaute, das nächſte Ziel aber deutlich erkannte. Schon regte ſichs iberall in Europa; Rußland nur fchien nod) zu jchlafen. Wie in den nor- diſchen Flüſſen unter der diefen Eisfrufte aber das Leben aud) im tiefiten Winter fortjtrömt, fo zuckte es unter dernifelaitiichen Uniform aud) durd) die Mfieber bes Riefenreiches. Sacht wurden neue Gedanfen, neue Zwangsvor⸗ »llungen im Dunfel über die Grenze gefchmuggelt. Das war die Zeit, wo 10*

136 Die Zukunft.

der Student ing politische Reben trat. Puſchkin hat Einen aus diefer Schaar geichildert: Wladimir Lenskij, Onjegins Freund, den fchönen SYüngling mit den langen Locken und der Göttingerfeele, der im deutjchen Nebellande die Freiheit lieben und Kant bewundern gelernt hat. Diefer Lenskij ift noch um« gefährlich, ein Enthufiaft, der ſich an Schillers Dichtung beraufchte und den Ehrgeiz des Poeten heimmärts trägt. Nach ihm aber kommen Andere, beren Leidenschaft fich nicht in Gedichte Löft. Die Werke von Hegel und Feuer⸗ bad, Proudhon, Fourier, Saint-Simon werben eingefchleppt, die jungen Leute fangen an, die Nationalöfonomie des Weftens zu ftudiren, das Ge⸗ ſchlecht reift, da8 Turgenjews Novellen die Helden gab. Bazarom fieht anders aus als Lenskij. Er liebt nicht, ſchwärmt und bewundert nicht; feiner Autorität beugt er fid), fein Dogma, kein Sittengefet ift ihm Heilig. Staat, Bolf, Religion? Nitshewo. Alles Unfinn. Alles muß anders werben. Das neue Evangelium hatte gewirkt. Der demofratifche Sozialismus wurde bier, wo er einem Herzensbedärfnig und dem Trieb der Raſſe entfprach, mit heißerer Inbrunſt aufgenommen als in Europa. Bjelinskij wurde zum un- erbittlichen Kritiker des Hiftorifch gewordenen Rechtszuſtandes, Herzens „Glocke“ Läutete mit weithin fhwingendem Ton durd) das Yand, Bakunin predigte die Propaganda der That und pries, als commis voyageur der Revolution, die Zerſtörerwuth als eine Schöpfermacht. Die ganze gebildete Jugend war mit den Empörern. Natürlich: fie jah ein geiftig Hilflofcs, in wirthfchaftlicher Noth verfümmerndes Volk, fühlte den furdhtbaren Drud einer unbarmberzigen Theofratie auf fich laften und wähnte, nur der Re- girenden böfer Wille halte das Reich in den Lähmenden Banden der Knecht: Schaft zurüd... Dem verhaften Zarismus wurde damals der nahe Zu- ſammenbruch prophezeit. Aber der Rieſe aus Murom rührte fich nicht. Wie oft hat ſich im Lauf der ruffifchen Gefchichte dieſes Schaufpiel wiederholt! Das Land, das drei Kahrhunderte lang das Zatarenjoch trug und deſſen Mittelalter noch fortwährte, als in Preußen das Frigenregiment zu Ende ging, Sollte mehr als einmal fchon von einem zum anderen Tage mit Europäcrtündhe geftrichen werden. Die Schlimmiften Folgen hatte Peters hajtiger Verſuch, mit afiatifchen Deitteln nad) Koſtomarows den Kern treffendem Wort fein Reich zu europäiſiren. Dieſem Selbjtherrjcher, den man nicht unter die großen Negenten rechnen follte, fehlte jedes intime Ber: ftändniß für die Lebensbedingungen ſeines Volkes; er glaubte, die Mobernis firung werde vollendet fein, wenn er das halb priefterliche Gewand feiner Ahnen mit einem bunten Militärrod und den biblifchen Barentitel mit dem

la von Murom. 137

Namen eines Kaiſers vertaufche, den Männern den Kaftan, den Frauen den Schleier verbiete und dem Land eine neue Hauptitadt aus den Süm- pfen zaubere. Bon tatariichen und byzantinischen Traditionen hat er das Reich befreit, doch es im Innerſten gejchwächt und den Keim des gefähr- lichſten Dualismus in die ruhig hindämmernde ſlaviſche Seele geſenkt. Jo⸗ ſeph de Maiftre hat diefen verhängnißvollen Fehler richtig erlannt, als er an einen ruſſiſchen Freund fehrieb: Pierre vous a mis avec l’etranger dans une fausse position. Nec tecum possum vivere nec sine te: c’est votre devise. Noch heute ift die Nachwirkung diejes glänzenden Irr⸗ thums zu fpüren. Dem gebildeten Ruſſen bringt.jeder Tag unbequeme Be- läftigung. Die Zeitungen werden gefchwärzt, verdächtige Bücher von will⸗ fürlich jchaltenden Genforen dem Käufer vorenthalten. Jedes unbedachte Wort, jede Denunziation eines Feindes kann zu adminiftrativer Maßregel⸗ ung führen. Und nirgends, fo weit man das Auge fchickt, das Frühroth hellcrer Zeit. Selbſt die Sapadniki, die Bewunderer weftlichen Weſens, wiſſen keine ausreichende Antwort auf die Frage, was denn geſchehen ſolle. Sie ſchämen ſich vor Europas ſpöttiſchem Blick, aber das Land iſt zu groß, die Bedürfniſſe der Maſſe find von denen der ſchmalen Oberſchicht zu ver- ſchieden, als daß man hoffen dürfte, eine Allen genügende Wandlung zu er- leben. Der Zuſtand wäre unerträglich, wenn das nationale Temperament ihn nicht ertragen hülfe. Der Ruſſe ift reich ann Ideen undeinbildnerifcher Kraft, aber fein müder Wille rüftet jich felten zur That; er nimmt fich viel vor und führt wenig aus, taumelt von tieffter Melancholie in dionyſiſche Luft und vergißt morgen, was er heute fein Lebensziel nennt. Er jchätt den Werth de8 Dafeins fo gering, ift fo gewöhnt, im Rauſch der Sinne oder des Intellektes um Kopf und Kragen zu ſpielen, daß der Gedanke an den Zod ihn kaum noch ſchreckt. Kein Anderer, fagt Anatole Leroy-Beaulien in feinem Buch über das Zarenreich, weiß zu leiden und zu fterben wie der Ruſſe; dans son tranquille courage devant la souffrance et ja mort il y a de la resignation de l’animal blesse ou de l'Indien captif, mais relevee par une sereine conviction religieuse.

-Daber die Fülle der jungen Menſchen, denen die Wimper nicht zuct,

während fie dem Henker entgegenjchreiten. Rußland ift Falter Orient. Das Gehirn diefer Menschen arbeitet nicht fo ruhig und pünktlich wie das wohltemperirter Europäer. Ein Fünkchen, ein über Nacht hereinbrecjender ruſſiſcher Frühling, der den eben noch ſtarren Boden mit Blumen beſtickt: und Jünglinge und Mädchen werfen Alles weg, was ihnen das Leben bisher

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138 ‚Die Zukunft.

jhmücdte, rennen ins Klofter oder ins Lazareth, fchneiden ſich die Pulsadern auf oder morden einen Diinifter, werden Bauern oder Straßenfänger, Sama- riterinnen oder Broftituirte. Warum? Aus Verzweiflung, aus Alltagsefel, in elſtatiſcher Sehnfucht nach unbelannten Wonnen, und wären es die ſchmäh⸗ lichfter Erniedrigung ... Nietzſches Piychologengenie hat in Doſtojewskijs Werk die Achnlichkeit mit der Tabilen Welt ber Evangelien gefühlt.

Der Herr aller Reußen mag oft jet des Wortes denken, das Puſchkin den Ujurpator Boris Godunow Sprechen Tieß: Schwer drückt die Krone des Monomahos! Nikolai Alerandrowitich ift vor die Aufgabe geitelit, ein Millionenvolf zu Selbftändigfeit und geiftiger Reife zu erziehen. Er möchte helfen und muß auf Schritt und Tritt doc; die Ohnmacht des Autofraten empfinden. Ein Jahr ift vergangen, feit er den alten General Wannowskij zum UnterrichtSminifter ernannte und ihm auftrug, das ganze Schulweſen im Sinn liebevoller Fürforge zu reformiren. Die Jugend hat fi) der guten Abſicht nicht dankbar gezeigt; zu hart ift der Druc der Ketten, zu eindring⸗ lich mahnt der in die Ferne ſchweifende Bid, den Kampf für die Befreiung der Geiſter zu wagen. Die revolutionäre Wuth der Akademiker wird, wie fo oft ſchon, nad) kurzem Auffladern wieder verglimmen. Unten aber Hungert das Bolf, hungert und ſtöhnt undkann Die Glieder nicht regen. Das iſt die Gefahr. Der Europäerhochmuth, der ſeinen engen Verhältniſſen die Norm für fremde Kulturen entlehnt, vergißt immer wieder, daß Rußland ein von der Wurzel unlösbarer Iſlam iſt, der ſeine Zukunft in Aſien zu ſuchen hat und dem der modiſche Firniß nicht nützen kann. Die winzige Minderheit, die nad) poli⸗ tiſcher Freiheit langt, iſt heute noch leicht zu bändigen und gegen ſie würden, auf Batjuſhkas Ruf, die Bauern in Schaaren aufſtehen. Doch dieſe aſiatiſche Großmacht braucht Geld, braucht, um endlich die ungeheuren Bodenſchätze zu heben, eine Induſtrie, der die Technik Entbinderdienſt leiſten muß. Dieſe Revolution iſt zu fürchten, ſie ganz allein. Wenn die Wiſſenſchaft ſich dem

von der Scholle geriſſenen, in Stadthöhlen gepferchten Muſhik verbündet,

ihm von Menſchenrechten ſpricht und die kommuniſtiſchen Inſtinkte der Raſſe aufſtachelt, kann der Palaeologenthron leicht ins Wanken gerathen. N " ſitzt, ob es im Dachgebälk auch ſchon kniſtert, IjIja aus Murom regungu auf feinem Pla, ein gelähmter, zum Kampf unfähiger Riefe. Nicht der Bil, Bitte wird ihn diesinal erlöfen ; aber die Stunde wird kommen, wo die Ne ihn aus der morſchen Hütte in die Fabrik treibt. Und dann wird ber täppii Held jchnell das Gehen und des Waffenichmieds Handwerk lernen.

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Entwidelungftufen. | 189

| Entwidelungftufen.

ab ich den im vorlegten Heft abgeſchloſſenen Hiftorifchen Ausführungen noch einige methodologilche Worte hinzufügen? ch glaube, daß ich meine ers fenntnigtheoretifche Mauſerungzeit hinter mir habe, wenn folche Zeiten nicht etwa den Charakter der Periodizität aufweifen. Wie Dem nun auch fei: mein Freund Breyfig ift jest augenfcheinlich in einem Entwidelungmoment begriffen, in dem er das lebhafte Bedurfniß der Erörterung gefchichtlich: methodologifcher Kontroverjen hat und auch öffentlich zur Geltung bringt. Das ift fein gutes Recht und ich bin der Letzte, e8 nicht anzuerkennen; folgen aber möchte ih ihm auf feine wieberhoft gegebene Anregung hin doch nur bis zu ber Grenze, daß ich feinen Ansführungen in diefer Zeitfchrift gegenüber hier einige Säge zufammenftelle, die mir das Ergebniß langer Erfahrung find.

Das Beflreben, gejchichtliche Thatſachen und Thatfachenreihen zu ver- gleichen, ift fo alt wie das Beitreben, den gefchichtlichen Verlauf überhaupt wiſſenſchaftlich zu erfaſſen: beide Berfuche find im Grunde identifh und reichen bis im bie erfte Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts zurüd. Seitdem beginnt ein neues Zeitalter oder vielmehr das Zeitaltet ber Geſchichtforſchung; und die Unterfchiede jind bis auf den heutigen Tage nur gradmäßig, fo ſehr jie, von dem Standpunkte eines engeren Zeitabjchnittes aus betrachtet, als abſolut empfunden werden mögen.

Im Berlauf diefer vergleichenden Beitrebungen tritt nun ber Gebante, die Entwidelungsgänge der einzelnen Völker an fich, alfo abgefehen von ihrer Stellung in dem Beitablauf der abfoluten Chronologie, in ihren gegenfeitigen Verlaufsſtufen zu parallelifiren, jhon früh auf. Der Moment diejer Auf- faſſung ift gegeben, fobald die Verfuche der Fdentitätphilofophie aufhören, den Gang der menfchlichen Geſchicke als einen in ſich ftetig fortentwidelten, ohne Unterbredung höhere Stufen erreichenden zu begreifen. Wer dann zum erjten Mal ein griechifches Meittelalter mit einem germanifch-romanifchen, eine Neuzeit des römischen Kaiſerthumes mit der Neuzeit der modernen Sahrhunderte verglichen hat: ich weiß es nicht. Perſönlich ift mir erinnerlid), daß jich Roſcher diefer Vergleiche in feinen Vorlefungen der zweiten Hälfte der fiebenziger Jahre als eines gewöhnlichen Darftellungmittel$ bediente.

Handelt es ji) hier um die Vergleihung von Zeitaltern als Ganzes,

ft die im engeren Sinn fo genannte vergleichende Gejchichte andere Wege gen. Bekanntlich) wird ſeit Beginn de3 neunzchnten Jahrhunderts die "farbeitung des ungeheuren Etuffe3 der gejchichtlichen Ueberlieferung immer br geiheilt: an die damals vorhandenen praftifchen geifteswiffenfchaftlichen 'ziplinen der Theologie und Jurisprudenz hatten ſich fchon längit Kirchen- tichte und Rechte: und Verfaſſungsgeſchichte angeichlofien; darauf famen

140 J Die Buhmft. in buntem Reigen Literatur- und Kunſtgeſchichte, Wirthſchaft⸗ und Literatur⸗ geſchichte u. ſ. w. Dieſe Entwickelung hat ihre großen Vortheile gehabt und hat ſie noch; daß ſie volle Erfolge nur erreichen kann, wenn die Theilung

durch eine rationelle Arbeitvereinigung ergänzt wird, ſieht heute erſt eine

Minderzahl der Forſcher ein. Einſtweilen alſo beſtand und blühte die Theil- forſchung. Und in ihrem Bereich wurde man nun vergleichend: es entſtand eine

vergleichende Verfaſſung⸗ und Rechtsgeſchichte, eine vergleichende Religion⸗

geichichte, eine vergleichende Literaturgeſchichte u. |. w.

Die Frage ift, was damit geivonnen war.

Mit Nugen vergleichen kann man nur einfache Erfeheinungen; bei tomplexen Erſcheinungen ftehen die identifchen Momente neben nicht identi⸗ chen; und fo liefert die Vergleichung wohl vage Analogien, aber feine wiſſen⸗ ſchaftlich Haren und brauchbaren Ergebniffe. Iſt die Vergleihung ein Moment des induftiven Schluffes, fo muß zu der Jnuduktion die Abftraftion, die Iſolirung kommen, fol fie wirklich fördern. in Beifpiel; und eins ber einfchneidenditen. Im fechzehnten Jahrhundert, als Neigungen wirklich eigenen wiffenfchaftlihen Denkens, nicht nur das gelehrte Beftreben, die antile Tra⸗ dition weiter zu überliefern, bei den europäifchen Völkern erwachten, trat ſofort das Bedürfniß auf, die natürliche Welt der Erfahrungen einheitlich zu ver> ftehen. Wie faßte man die Aufgabe an? Man fuchte das Fdentifche in der Summe der Einzelerfcheinungen und man fand die Kraft. Gewiß ein ſchon recht hochftehendes Vergleihungrefultat. Aber half es wifjenfchaftlich weiter ? Die Ergebnifje waren, wie ich zeigte, die naturphilofophifchen Pantheismen eine3 Telefio und Giordano Bruno, eines Weigelt und Boehme und die natur= wiffenfchaftliche Methode eines Theophraftus Bombaftus Paracelſus. Geblieben ift und aus der ganzen Bewegung als dauernditer Niederfchlag bis heute nur das Wort Bombaft. Aber auf die Alles auf einmal umarmenden Enthu⸗ jiaften folgten Stevinus und Galilei: fie gingen auf die Elemente, die den fompleren Naturerfcheinungen zu Grunde lagen, und die Lehre von der ſchiefen Ebene und die Fallgefege forcirten den Eingang zur modernen Mechanik, Phyit, Naturwiſſenſchaft überhaupt.

Das Beifpiel giebt gegenüber den Alles vergleichenden einzelnen Gefdidt: disziplinen zu denfen. Wie follen bei der Bergleichung fo fomplerer Erfcheinungen, wie es jede Religion, auch die niedrigfte, und jeder Staat, auch der elendej find, einfache Ergebniffe herausfpringen? Nur vage, oft gewiß fehr gei reiche Analogien’ werden zu Tage gefördert. Und das Selbe gilt von ven gleichender Riteraturgefchichte und einigen verwandten Disziplinen: der Kultu ausfchnitt, den fie als Objekt haben, ift in feinen Berurfachungen un Motivirungen viel zu verwidelt, als daß ein Vergleih vom Ganzen her wirklich genügende Ergebnifje liefern könnte.

——

Entwidelungitufen.

Den Elementen muß fich die vergleichende Geſchichtwiſſenſchaft zumenden, will fie Erfolge jeher. Den Elementen, wie fie in den einfachſten pſycho⸗ logiſch⸗ gefchichtlichen Thatfachen, der Anfchaunng, dem Begriff, dem Trieb zur Erhaltung und der Förderung der Lebensluſt u. f. w. gegeben find.

Auf der Unterfuchung der gefchichtlichen Entwidelung diefer Elemente ift meine Deutjche Gefhichte von Anbeginn Das heißt: feit den aus: gehenden jiebenziger Jahren aufgebaut worden. Der Frage zugewandt, in= wiefern fi die Entwidelung der angegebenen Elemente induftiv werde auf: finden Tafjen, begriff ich jehr bald, Das werde nur in der Durcharbeitung der bijtorifchen Weberlieferung einer ganzen Nationalgefhichte möglich fein und hierfür biete die deutfche Gejchichte bei ihrer überaus weit zurüdreichenden Heberlieferung beſonders günftige Ausfichten. Und ſchon früh habe ich aud) induktiv die Stufen diefer elementaren ſozialpſychiſchen Entwidelungen ge: funden: bereit3 der erite Band meiner Deutfchen Gefchichte (1891) fpricht völlig Kar und unzweideutig von einem ſymboliſchen, typischen, konventionellen, individualiftifhen und fubjektiviftifchen Zeitalter und theilt nach ihnen den ganzen Berlanf der Entwidelung ein.

Man fieht aus dem bisher Erzählten, daß «8 in ber ganzen Intention dieſer Vorgänge von vorn herein beichlofien war, Entwidelungftufen bes Seelenlebens aufzufinden, die jeder großen menfchlichen Gemeinfchaft, jeder Nation gemeinfam waren. Ganz etwas Anderes aber war die Frage, wann es möglich fein würde, für bdiefes Problem den induftiven Nachweis einer günftigen, bejahenden Löſung zu führen. Ich jedenfalls habe die für die Ge— ſchichte des deutſchen Seelenlebens gefundenen Entwidelungftufen nicht als allgemeine hinſtellen wollen, ehe ich dafür nicht den abfolut ſicheren Beweis in der Hand hatte: und fo verhielt ich mich zu dem Problem, inwiefern etwa die in ber deutfchen Geſchichte gefundenen piychifchen Entwidelungftufen allgemein giltig feien, nach außen hin in der Hauptjache indifferent.

Aber innerlich und in zunächſt privaten Studien hat es mich fortwährend beichäftigt. Und da ergaben ſich für die Löſung Schwierigkeiten, die in der Hauptfache denn doch nicht blos in der richtigen Stollenführung hinein in die enormen Stoffmaffen der gefchichtlichen Ueberlieferung begründet Tagen. Enthielt denn die deutsche Gefchichte alle Entwidelungftufen? Bekanntlich "richt fie, wenn fie auch in hohes Altertum Hinaufführt, doch ſchon in den ‚iten ber relativ weit entwidelten Kultur der caefarifchen und taciteifchen Beriode ab. Was lag vor ihr? Die Antwort auf diefe Frage konnte in der Öefchichte feines anderen fogenannten Kulturvolfes gefunden, jie mußte vielmehr dölferfundlich gefucht werben. So fam es darauf an, den ungeheuren Stoff der Ethnographie in Perioden relativer Chronologie, in Stufenfolgen feelifcher Lebensäußerungen zu zerlegen. Und wenn Das gelang: Wie weit führte wieder

11

142 Die Zukunft

die Völkerkunde? Bis zum „Anfang“? Man kennt die Kontroverſen zwifchen Baſtian und Kagel und das Problem primitiver Berfallsfulturen: war hier zu einem Ende zu gelangen? Nur die Kinderpfychologie ſchien die Möglidh- feit einer ungefähren und bypothetifchen Entfcheidung zu bieten.

So waren es mannichfache Studien, die hier allein fördern Tonnten. Ic habe fie, in einigen entfcheidenden Zügen, aber keineswegs vollendet, hinter mir; und e8 wird noch Jahre dauern, ehe ich mit ihnen an die Deffent- fichfeit treten fann. So viel aber erlauben fie mir doch fchon mit Sicherheit zu jagen: die gefundenen Zeitalter feelifcher Entwickelung find nad vorn nur noch durch ein einziges neue8 ich hatte viel mehr erwartet zu ergänzen, das ich das phantaftifche nennen möchte; und ihr Verlauf wiederholt jich ausnahmelos in den großen menjchlichen Gemeinjchaften der Geſchichte. Dies aber auszufprechen, lag mir bei der Ausgabe einer neuen Auflage meiner Deutfchen Gefchichte deshalb am Herzen, weil mir erft von diefem Stand- punkte aus die Nennung der ſozialpſychiſchen Zeitalter auf dem “Titelblatt der neuen Auflage und damit die unmittelbarjte Einführung der denfenden Zeitgenofjen in die neue Eintheilung gerechtfertigt erfchien.

Wie ftelt fih nun zu Alledem Breyſigs Syſtem? Ich denke, es läßt fih, wenn auch mit unvermeidlicher Verfchärfung und Vergröberung ber Hauptlinien, mit wenigen Worten fagen. Denn wiederholte, höchſt lehr⸗ reihe Auffäge Breyſigs haben die Leſer gerade diefer Zeitfchrift ſchon nicht wenig in das Verſtändniß ber Ideenwelt Breyfigs eingeführt. Breyſig wendet die vergleichende Methode nicht auf die elementaren, fondern auf die fompleren Erfcheinungen der gefhichtlichen Entwidelung noch neuerdings fogar auf die komplexeſte von allen, die politiſche an. Er thut Das mit Scharfjinn und Geift und die Ergebniffe find nicht gering. Aber es läßt fich nicht leugnen: bei dem einmal gewählten methodologifchen Standpunft bleiben dieſe Ergebniffe im Ungefähren, nicht völlig Umfchriebenen fteden: fie liefern nur Näherungwerthe. Und noch mehr. Wer bis in die Erforfhung ber Ent: widelung der elementaren pſychiſchen Werthe vorgedrungen ift, überzeugt ſich bald, daß e8 auf ſeeliſchem Gebiete Zweierlei giebt, nämlich erſtens Geſetze einer pſychiſchen Mechanik, die zu allen Zeiten gelten, wie das Geſetz des Kontraftes, wonach Luft und Unluft, Freude und Leid, Enthuſiasmus und Niedergefchlagenheit ftändig in ung wechfeln, und zweitens Entwickelun geiege, wie das Geſetz der Entwidelung der Anfchauung aus ornamental Wiedergabe der Erfcheinungmwelt zu deren typifchem, Tonventionellem, ind vidualiftifchem, fubjektiviftifchem Erſaſſen. Es ift genau wie in der Biolog überhaupt: neben den Entwidelungsgefegen des pflanzlichen oder animalifche Lebens ftehen, jie bedingend, aber nicht beherrfchend, die Gefege der ſich ir diefen abfpielenden phyiifalifchen und chemifchen Prozefi. Und wer T

Entwidelungftufen, 143

findet, Der wird fich auch alsbald Har: nicht die Geſetze der pſychiſchen Mechanik, wie das Sontraftgefeg, find die eigentlichen Erponenten des hiftorifchen Lebens, fondern die Gefege der Anſchauung-, Begriffs- und Triebsentwidelung u. f. w.

Wie ftellt ih nun Breyſig zu diefen Dingen? In der Durchdringung der komplexen Erfeheinungen ift ihm der Unterfchied der pfychiich-mechanifchen und pfychifch-biologifchen Gefege nicht Mar geworden; und er wenbet die piychifch- mechanifchen Gefege, vor Allen das Geſetz des Kontraftes, zur Periodenbildung an: durch eine bald mehr individnaliſtiſche, bald mehr fozialiftifche Haltung foll der Wechjel der einzelnen Zeitalter gekennzeichnet werden. 8 ift die Stelle, wo nach meiner befcheidenen Auffaffung Breyſig ſterblich ift: Hier liegt ein fchwerer logischer und alſo methodifcher Fehler vor. Denn jo richtig es ift, daß der Uebergang von einer Entiwidelungitufe zur anderen jih ganz aber keineswegs immer unter den Erfcheinungen des piychifchen Kontraſtes vollzieht man wird des alten Zuftandes müde und ſturzt ſich unter deutlicher Abweiſung des alten in ein neues Seelenleben —, fo wenig wird durch diefe Begleiterfcheinung der biologifche Fortfchritt an ſich erf.ärt oder motivirt oder in irgend einer Weiſe bem Verftändniß näher ge- bracht. Es ift, al3 wollte man auf naturgefchichtlichem Gebiete die Wachs- thumserſcheinungen rein nur aus Gefegen der Phyſik und Chemie erklären.

Mar jieht hier, was Breyfig und mid) trennt: Differenzen der Methode. Dieſe Differenzen aber bleiben nicht ohne ſchwere Folgen, fobald das metho: difche Werkzeug zu arbeiten beginnt. Die Ergebniſſe find ſchließlich außer— ordentlich verfchieden; und fchon aus diefem Grunde fann von einem prius oder posterius unferer Ergebniffe nicht wohl die Rede fein: fie find an ſich intommenfurabel.

Wer von uns Beiden „Recht“ hat? Nicht wir haben e8 zu entfcheiden, fondern der fpätere Verlauf der Forſchung. Wir tragen unfer Tröpflein in das große Meer der wifjenfchaftlichen Entwidelung: es vereinigt fich mit ihren Wäflern; und wer weiß, an welchem Orte, unter welchen Bedingungen e3 wieder auftauchen und wirkjam werden wird? Es fteht nicht in unferer Hand: in der fteht nur, ehrlich und wahrhaftig zu arbeiten: Caetera deus pro- videbit. Das aber mag, namentlich für ferner Stehende, betont fein: in

eſer Weife wahrhaftig zu arbeiten, ift nicht fo ganz leicht; denn über Dinge, : die bier vorgetragenen, nachdenken und urtheilen, heißt an fich fchon, [ angeftrengter arbeiten, als der gewöhnliche Hiftorifche Studienbetrieb es rlangt; und Die ſich auf dieſes Gebiet wagen, find vorläufig noch Kämpfer ne Ruhe und Raft; fie fichen jeden Diorgen von Neuem auf dem Schladt- de; und für jie giebt e8 feine Manövertage, fondern nur den unabläfiigen nft des Kampfes.

eipzig. Profeſſor Dr. Karl Lamprecht. 11*

141 Die Zukunft.

Nervoſität und Runftgenuß").

Arten Inhalte find der urfprünglichiten Kunftentwidelung fremb. Dihtung und Muſik gingen hervor aus dem Arbeitgefang, den die rhythmiſchen Bewegungen der arbeitenden Glieder und der daraus folgende Rhythmus der Arbeitgeräufche wedten. Bis zu Sophofles fteht der Rhythmus im Vordergrunde der Poeſie. Längft zwar find nun Gefühle und Leiden: ſchaften Gegenftand ihrer Schilderung geworden; aber der befondere Gedanke, die grübelnde Frage, das Problem fest eigentlich erft mit der Auflöjung ber „klaſſiſchen“ Tradition, mit Euripides, ein. Der Träger des Rhythmus, der Chor, tritt zurüd und fpäter finden wir als feinen Erben eine andere Macht, die Muſik. Sie ift die Negation des Gedankens in der Kunſt. Mit einem Zufammenklang oder einer Abfolge von Tönen verbindet ſich zunächſt niemals etwas Intellektuelles. Was jene hervorzurufen ver- mögen, ſind Gefühle, Stimmungen. Alles Weitere iſt ſekundär. Indem die Gefühle eingegliedert ſind ins Temperament und dieſes eine gewiſſe fon- ftante Richtung unferer Affelte bedeutet, indem bie Affekte wiederum Kom— plere aus Gefühlen und Vorftellungen find, leitet jede Stimmung fchlienlich zu gewiſſen Affoziationfetten hinüber. Uber zu welchen? Das häugt, um mich eines Wortes von Wundt zu bedienen, von der gefammten Bewußtſeins- ‚lage ab, die für jeden Einzelnen eine befondere if. Daher fommt «8, daß Tolftoi vor dem Unberechenbaren der Muſikwirkung graut und Hanslid gegen über der Veredlung durch die Tonkunſt auf deren „weites Gewiflen“ hinweiit. Die neuropathifche Wirkung der Muſik könnte alfo fofern wir von der rein finnlichen Zerrüttung abjehen nur darin liegen, dag bei Dem ober Jenem durch fie Stimmungen erzeugt werden, bie immer wieder auf- regende Problemftellungen, Gedankenreihen nach fich ziehen. ch kann mir vorstellen, dat die Eroika einen grübelnden Geift ind Nachdenten über den Kontraft und Konflikt elementarer Größe mit leichter Alltäglichkeit förmlich hineinzwängt; und ich kann mir nicht nur vorftellen, fondern es ift einfach Thatfahe, das Einer mit ſolchem Grübeln jeine Nerven ruiniren Tann. Aber an Alledem ift die Eroika, ift überhaupt jede Muſik unſchuldig. In Hunderten wird diefe Symphonie ganz andere Gedankenreihen auslöjen; unt der heute noch unentfchiedene, eben nothiwendig unentfchiedene Streit über de Sinn des uniterblihen Scherzo beweift, wie verfchieden auch die Kunfi empfänglichften hier reagiren. Auch die Tannhäufer-Ouverture, der Lieber tod, der Zarathuftra vermögen nicht darüber hinaus. Die zu ihnen g. hörigen Interpretationen, Texte, Programmbücher wohl; nicht aber fie fetbi

*) S. „Zukunft“ vom 19. April 1902.

Nerbofität und Kunftgenuß. 145

Es giebt feine intellektuellen Reihen, die unbedingt an ihren Genuß fih tnüpften; umd die ganze Muſik, von ben hebräifchen Eymbeln und griechiſchen Flöten über Paleſtrina und Beethoven und Wagner bis zu ben Jüngften und Problematiſcheſten herab, ift an fich neuropathiſch völlig indifferent, wird es für ewige Zeiten fein.

Dagegen ift die Poefie feit ihrer Löfung aus dem Rahmen des religiöfen Tanzes die eigentliche Trägerin der Gedanken geworden; und bie germanifchen Voller haben ihr, nicht feit Shafefpeare erft, fondern feit Wolfram von Eſchenbach mindeftens, die endgiltige Richtung aufs Grübelnde, Problematifche, aufs im tiefften Sinn Jutellektuelle gegeben. Nicht, als ob alle Dichtungen der lateinifhen Stämme in geaziöfer Epif ihr Höchftes ge: leiftet hätten; Ausnahmen find überall zu finden; aber wenn es wahr bleiben folte, was die neufte Forſchung nahelegt, daß Dante einer ziemlich raſſe— reinen langobardiſchen Familie entftammt, fo wäre eine der größten Aus— nahmen ſchon befeitigt. Für die Germanen hat ein ſchöner Zufall es gefügt, daß von ihren drei großen Stammeseinfeiten jede einen ummälzenden Dichtergeift hervorbringen durfte. Die Angelfachien gaben Shafefpeare; aus dem beutfchen Bolt ftieg Goethe empor; vom ftandinavifchen Norden aber rüttelte das träge gewordene Jahrhundert Ibſen.

Und Ibſen, der unergrundliche Räthfeliteller, ijt immer wieder als bie vollfommenfte Berförperung Deſſen angegriffen worden, was in ber modernen Dichtung ungefund, verwirrend, neuropathiſch fein fol. Von Nerven Ärzten ift am ſchärfſten Möbius, auch wieber einer unferer Allereriten, gegen ihn aufgetreten. Einmal fpricht er von „gräulicher Problemfchriftftellerei“ ; an einer anderen Stelle apoftrophirt er ben Norweger al3 „Apothefer-Dichter“, bei dem man nie wiffe, was er wolle, und gar bis zu der Bitte verfteigt er ſich, ein gütiges Geſchick möge und von ber „nordiichen Lazarethpoefie” erlöjen. Das find feine Driginalitäten; wir haben Dies und Aehnliches taufendmal unterm Strich funfttonfervativer Zeitungen und Journale gelefen; bezeichnend ift nur, daß ein Nervenarzt von Möbius' Range, der oft genug bizarr wird, nur um nicht die außgetretenen Wege, ſondern feine eigenen zu gehen, diefe Beſchuldigungen einfach wiederholt. Daß er es nicht gedanken— 108 hut, fondern nad) guter Ueberlegung, fegt wohl ein Jeder vom Verfaſſer des „Pathologiſchen bei Goethe“ voraus.

Ibſens Lebenswerk ift die Darjtellung jener fchrillen Disharmonie, ie im Menfchen unferer Zeit durch die Zerftörung der alten Welt: und ebensanſchauung erzeugt wird. Einſt hatten wir Normen; mit denen ift I nun aus. Der Traum vom Ewige Menfchlihen ift vorüber. In ung, um und, vor uns: Alles ift relativ; und an bie Stelle de3 frommen Abhängigfeitgefühles tritt daS kritiſche, ins Einzelne fpitrende Abhängigfeite

146 Die Zuhmft.

wiſſen. Die „Verhältniffe“ werben zu einem erbarmunglofen Ungeheuer, das Alles erdrüdt. Wir vermeinten, bie flärfften Naturfräfte gebändigt zu haben; aber indem wir fie beherrfchen lernten, verfflapten wir ung täglich mehr den wirthſchaftlichen Kräften, die aus ihnen hervorwuchſen und deren Leitung und immer vafcher entgleitet. Diefe Erfüllung des trübften Goethe⸗ worted, daß wir „jcheinfrei denn, nad) manchen Jahren, nur enger dran, al8 wird am Anfang waren“, find, fie ift des großen Riſſes Urſache, der durch unfer Empfinden gebt.

Dazu kann die Dichtung in zweierlei Weife Stellung nehmen. Sie fann fich flüchten ı in vergangene Zeiten oder in eine Welt des jchönen Scheines, der ſchmeichelnden Gefälligkeit; romantiſch Tann fie fein oder akademiſch⸗ äfthetifh. Sie kann fih aber auch mit beiden Füßen in die Zeit hineinftellen, den Kampf fchüren, den wir im Reben kämpfen, all dies Smeifeln und Ringen fi zu eigen machen. Wie wirft Jenes, wie Diefes auf unfere Nerven?

Der Angelpunkt unferer Nervofität ift das durch die Fapitaliftifche Wirthſchaftordnung unermeßlich verfchärfte Gefühl der Verantwortung; oder noch richtiger: der Kontraſt zwiſchen dem Gefühl, daß man als ver- antwortlich gilt, und dem Gefühl, daß man gar nicht verantwortlich fein fann, weil die „Berhältniffe* herrichen. Die Zunft feflelte, aber ſie fhügte auch. Heute fpült mich vielleicht die Welle mit fort, die irgend ein geringfügige8 Creigniß in einem entfernten Erbtheile wirft. Mit folhen Gedanken den Kampf ums Dafein zu führen: Das reibt auf. Und darum find auch Alle, denen dies Loos gefallen ift, die typifchen Neuraftheniker unferer Zeit. Nicht etwa, wie ber Laie oft glaubt, bie Geifteßarbeiter im engeren Sinn, die Gelehrten. Uebermäßige Gedanfen- arbeit führt zu piychiatrifchen Bildern, die von der Nervofität fich fcharf unter: ſcheiden. Die Erſchöpfungpſychoſen, war Allem das Kollapsdelirium, jind die Folge folcher Weberanftrengung; fie laſſen jich experimentell durch Uebermüdung fortgefetttes Addiren einen Tag und eine Naht lang leicht nachahmen. Wo Gelehrte eigentlicd) nervös werden, da find, fieht man ‚genauer zu, faft immer gemüthliche Aufregungen mit ihrer Arbeit verfnüpft: übermäßiger Ehrgeiz, Enttäufchungen, Zurüdfegungen, folgenfchwere Irrthümer. Sobald jedoch die Berantwortung, vor Allem in der Geftalt jener befchrie benren zwiejpältigen Regungen, in den Vordergrund tritt, da heftet fich die Nervofität an ihre Ferſen. Der Arzt, der Richter ift feit je ber leicht nerv geworden. Aber erjt die befonderen Formen des modernen wirthfchaftlich Kampfes mit ihren befonderen Variationen der Verantwortung haben d eigentlich moderne Nervofität geſchaffen. Und die ıft eben darum aud | den Ständen am Größten und am Meiften verbreitet, in deren Händen ! wirthichaftlichen Funktionen, Produktion und Austauſch, liegen.

Nervofität und Kunſtgenuß. 147

Wer von quälenden Kämpfen ſpricht, wird vielleicht al Antwort hören, daß die weitaus meiften Mitglieder biefer Klaſſen ſich des tieferen geiftigen Inhaltes ihrer wirthſchaftlichen Rolle faum bewußt find. Sie wollen Geld verdienen, um gut zu leben. Das Kette trifft aber gar nicht zu; am Wenigften auf die Großimternehmer. Solide Lebensbehaglichkeit war das Ideal des alten, heute faft ausgeftorbenen Patriziers: T. O. Schröter in Freytags Kaufmannsroman. Luxus, Komfort ift dem modernen Unternehmer längft eine Selbftverftändlichfeit, auf bie er faum je achtet. Was ihn zu einer Arbeit von ſolcher Intenfität, daß fein Gelehrter und fein Proletarier fie ihm abnehmen würde, anfpannt, ift ein Komplex ganz verworrener, halb= dunfler Gefühle; vor Allem die Hinter ihm lauernde Unficherheit, der er ſich nur durch fortgefegte Steigerung feines Betriebes entwinden zu können meint. Wie weit alles Das unter den philofophifchen Begriff des Relativismus fällt, darüber ftellt er natürlich feine Betrachtungen an. Aber nun kommt er ins Theater; und wie ein Funke ins Pulverfaß ſchlagt da in fein Gefühlsdunfel ein, was die moderne Dichtung ihm fagt. Bon ganz anderen Dingen zwar ift dort die Rede; aber die Gefühlstöne, die fie begleiten, treffen un: mittelbar mit denen zufammen, bie fein Sorgen und Haften fennzeichnen. Es jind im Grunde die felben Konflikte; nur werben jie hier rüdjichtloß ausgefprochen, Yonfequent abgemidelt.

Und Das foll den Nerven den Reſt geben. Wirklih? Wenn der ſelbe Mann nicht Ibſen, fondern Fulda hört; wenn in graziöfen Verfen ein leicht— geihürztes Gefändel ihm zwei Stunden lang gezeigt wird, mein Gott ja, c8 werben vielleicht zwei Stunden der Erholung, des Vergeſſens für ihn fein. Vielleicht, wenn wohlklingende Grazie die Gefühle einzufchläfern ver- mag, die einen ganzen Tag, vielleicht auch ſchon eine Nacht und einen Tag lang das Gehirn zerarbeitet haben. Hoffen wir, daß fie e3 vermag. Aber bei der Heimkehr? Glaubt Jemand an Nachwirkungen? Dem Zubettgehenden ſtellt ſich fchon wieder der nächſte Tag vors Auge. Um zu vergeffen, brauchte er feine Kunft, wenigitens feine, die ernfthaft genommen fein will, Vor— ſtaditheater, Wintergarten, Weinftube, Cafe, ein üppiger Frauenleib: Das ift Vergeſſen. Man fagt: Ganz richtig; aber bas Alles geht noch viel mehr auf die Nerven. Gut denn; jo kann der nervenheilende Werth der ſchönen Scheindichtung mit ihren vergangenen oder erfundenen Leidenschaften, Kollis

men und Löfungen über Null doch nie hinaustommen. Diefe Kunft ift auropathifch indifferent.

Die andere aber ift ber Weg von der Dunkelheit zur Klarheit. Eine illtagsweisheit fagt, nichts fei aufreibender als die Ungewißheit. Nichts ift "älenber als das Erleben von halblichten Gefühlen, über deren Urfprung id Grundlage wir uns eigentlich feine Rechenſchaft zu geben vermögen.

148 Die Zukunft.

Sch habe einmal bei verfchiedenen Menfchen, die fonzentrirte geiftige Arbeit leiften, gefragt, welche Störung ihres Schaffens fie am Meiſten fürchten. Und bei Allen kam e8 auf das Selbe hinaus: jene Verftiimmungen, bie ung plöglich befallen, ohne dag wir zunächft ihre intellektuelle Grundlage feftitellen können. Sie lähnen fchledhthin, fie koſten Tage und Nächte, fie zerrütten, wenn fie von langer Dauer oder häufig find. Und darum kann ich mif für den modernen Menfchen gar nichts Heilfameres denken, als ihn heraus- zureißen aus dem Dunkel disfonirender Gefühle ins Fare, wenn auch kalte Kicht der Erkenntniß. Daß er als Glieder in Zufammenhängen erblidt, wa3 er für unberechenbare Launen hielt, ift ber erſte Schritt, ihm zu einer Weltanſchauung zu verhelfen. Und wer die erft befist, braucht die Nervo⸗ tät nur noch halb zu fürchten.

Diefe Aufgabe aber Töft gerade Ibſen durch jenen Charakter feiner Kunft, den man ihm als „ſymboliſtiſch“ bald vorgeworfen, bald gepriefen bat. In feinen Dienfchen Ieben und wirken Mächte, die Mächte unferer Zeit, leben und wirken in ihrer ganzen Größe. Ober erhebt fi nicht in John Gabriel Borkman der Kapitalismus zu hinreißender Gewalt? Wo wäre die Brutalität des Iuduftrieherren je fo erhaben geadelt worden wie bier? Um: fließt ihn nicht die Glorie des Tragifhen? In al dem Ringen und Unterliegen, das uns jo Hein und peinlich bünft, die große Tragik aufs zuzeigen, es damit aus dem Beitlichen ins Emige zu heben: Das tft bie Großthat der modernen Dramatik, der nordiſchen in erfter Linie. Den, der in den „Gefpenftern“ nur die paralgtifche Demenz fieht, mag Lazarethluft daraus anmehen; aber ift nicht dag Stüd, im Ganzen genommen, ein furcht⸗ bares Mene Tekel von der erbarmunglojen Tendenz“ zur Gefundheit, die in der Raſſe lebt und alles Angefaulte auszujäten drängt?

Freilich: um Das zu fühlen, muß man Dichtungen hören gelernt haben; fonft werden fich leicht die dunfelfarbigen Einzelheiten, aus dem großen Ganzen herausgelöft, bedrüdend aufs Gemüth legen. Und hier iſt eben der Angelpunft unferer ganzen Frage. Wenn auf viele Menfchen die moderne Dichtung neuropathifch wirkt, fo liegt e8 meift an ihnen, oder beſſer: an ihren Erziehern, die nicht verftanden haben, ihren Geift auf ſolche Kunſt hinzulenken. Es ijt der ganze unlinnige Klaſſikerkultus unferer höheren Schulen mit feinem bodenlos verlogenen Pſeudo-Idealismus, wie er üı Gejchicht: und im Deutfch-lnterricht feine famofejten Blüthen treibt, der di nervöfen Berrüttung umferer beften Perfünlichkeiten die Wege ebnet. Bor Darwin und Taine darf auch in Oberprima noch nicht gefprochen werben, wohl aber von Scherer und Ranke, deren Auffaffungen als die giltigen feit gelegt find. Und es fteht zu befürchten, daß die Sache noch ſchlimmer wird Noch mehr als bisher follen in Gefchichte und Deutſch Kirchlichleit un

Nervofität und Kunftgenuß. 149

Dynaſtizismus, Jambenbegeifterung und Vergangenheitkuft gepflegt werden. Tote Welt: und Tebensanfhauungen find es, die den ibeellen Gehalt einer fo verbildeten Junglingsſeele ausmaden; woher fol da die Möglichfeit Kommen, die harte Lebenswirklichkeit ideell zu begreifen? Mit der Bibel und dem Lied "von der Glocke läßt ſich unfere Zeit nicht mehr fafien, fo wenig wie unfere Kunft mit dem Laofoon und der Hamburgifchen Dramaturgie. Das Einzige, was der ind Leben Tretende mit diefem geiftigen Befig an— fangen Tann, ift, ihm möglichft bald zu vergeffen, fammt den ſchwülen Sonn— tagsabenden, an benen er Auffäge darüber fehreiben mußte. Aber gelingt dies Vergeſſen auch noch fo raſch, fo ift Eins vorher ſicher erreicht: der Weg zum Berftändniß des modernen Lebens ift verſperrt.

Wie wenig aber diefe Tanfale Berkettung erfannt ift, zeigen die End- forderungen einer an ſich höchſt verdienftlihen Bewegung, die wir in jüngfter Zeit erlebt haben. Die geiftige Nahrung, vor Allem die literarifche, unferer Jugend ward unterfugt und ein vernichtende® Urteil über die verflachende und verfimpelnde „Zugendfchriftftellerei“ der Hoffmann, Nierig, Karl May und Genofien gefällt. Ihre Machwerke follten jeden Höheren geiftigen Flug von vorn herein lähmen. Zwiſchen gehaltlofen, unwahren Rübrfäligfeiten, mit forupdider Moral verfüßt, und den rohen Schaudergefchichten der ameri= Yanifchen Prairie pendle hin und her, was unferen heranwachfenden Kindern geboten, von der Schulbibliothek eingehändigt, von den Eltern auf ten Weihnachtstiſch gelegt werde. Bis dahin war die Sache fehr beachtenswerth. Aber num fam bie Kehrfeite. Man verlangte die Abſchaffung der befonderen Iugendfecture überhaupt. Für das Kind fei das Vefte gerade gut genug und ihm dürfe nichts Anderes gereicht werden als die Perlen ber Dichtung; freilich nicht alle, fondern eine „Auswahl“.

Ich geftehe, daß ich nicht recht weiß, wer durch diefe Forderung mehr verhöhnt wird: die Jugend oder die Hafjifche Dichtung. So lange wir es nicht fertig kriegen, gefchledhtöreife Kinder auf die Welt zu bringen, wird auch nichts daran zu ändern fein, daß erft die Pubertät der Schlüffel zu den höchſten affeftiven und intelleftuellen Erlebniſſen der Menjchenfecle iſt, wie doc unfere weimarische Dichtung gerade jie zum Gegenftande hat. Ich bin wirklich fein Optimift in der Beurtheilung unferer Schulen, aber die Rejebücher für die unteren Klaſſen, aud noch für die mittleren, fcheinen mir laum einer Verbeſſerung bedürftig. Der unheilvolle Abrutſch zum Klaſſiker— monopol vollzieht fich erft oben in Sefunda und Prima. Und Nierig, May und Genoffen in allen Unehren: aber ich gedenke hier eines Knabenjahr- buches, defien Anregungen mich bis heute begleiten; Franz Hofimanns „Neuer Deutſcher Jugendfreund“ ift e3, in dem freilich auch manches Werthlofe jteht, aus dem ich aber geradezu Perlen einer für die Jugend geeigneten Dichtung

150 Die Zutunft.

bervorfuchen könnte. Die kosmopolitiſche Ahgeklärtheit der weimariſchen Zeit ift für einen Knaben einfach unfaßbar und darum langweilig bis zur Dual; taufend Reſonanzen aber finden wir in der jungen Seele für die Romantik deutfcher Vergangenheit; und diefe Reſonanzen zu weden, halte ic) gerade gegenüber dem unerquidlichen neupreußifchen Sedanchauvinismus für eine erzieherifche Pflicht erfien Ranges. Denn find erſt diefe Töne angefchlagen, dann können wir dem Fünfzehnjährigen die Akkorde der Freytag und Fontane bieten und dem Primaner werden Kleift und Hebbel fchon genug zu Tagen haben; und dba find mir ja im Borzimmer der modernen Dichtung, einen Schritt vor Ibſen. Wer verläßt denn heute die Schule mit Tiehe im Herzen für die Klaſſiker? Daran ift aber nicht die vielgefcholtene Methode ſchuld, fondern die Hafjifhe Dichtung an fich, eben weil fie niemals eine deutiche achtzehnjährige Seele ausfüllen kann. Aber theilt fie fi in den Play mit Kleiſt, Freytag, Hebbel, Fontane, dann wird auch die Liebe nicht außbleiben, und it dem Jüngling eine Ahnung aufgedämmert von der wundervollen Linie, die von Gellert und Claudius über Goethe bis zu Hebbel und zur Gegenwart führt, dann wird er den Faden nicht fo leicht verlieren, der ihn auch im Leben an die Kunft nüpft. Dazu gehört noch ein Gefchichtunterricht, der nicht dynaftifche Jahreszahlen, fondern Kulturquerfchnitte giebt, der bie Zufammenhänge zwifchen den wirthfchaftlichen Grundlagen und den feiniten Geijtesblüthen einer Zeit aufzeigt. Dann wird der Drang, aud die Lebens⸗ wirflichkeiten, die man am eigenen Leibe verfpürt, ideell zu erfaſſen, eime Weltanfhauung zu finden, in der fie Play Haben, unmiderftehlich werden. Natürlich nicht bei Allen, aber doc bei viel mehr Menfchen als Heutzutage. Tann fehnt ſich wohl aud) Der, den die Wirbel des modernen fozialen Lebens den Tag über gefapt und gerüttelt haben, gerade nad einer Stätte, wo er diefe Erlebniffe nicht vergigt, fondern ihren tieferen Sinn erfennen lernt, ſie eingliedert in die Nothwendigkeit des Seins und des Werdens. Und ob er dann die grandiofe Epik Zolas, die gütige Nejignation Fontanes oder die tiefgründige Symbolik Ibſens auf ji wirken läßt: immer wird ihm ein Weg jich zeigen, der ihn hineinführt in die größeren BVerfettungen und damit hinauf vom Endlihen ins Unendlide. Stets bleibt aber eine der größten Wahrheiten das Wort Schleiermaders: Religion fei Sinn und Geihmad fürs Unendliche; und wenn von Theologen heute mit Eifer die Neligiofität als das jicherfte Heilmittel gegen die Nervojität gepriefen wi jo meifen, unbewußt freilich, die Orthodoren bem denkenden Menfchen i Meg von ihnen fort zu den Verfuchen moderner Weltanfchauung Ku. iſt nicht Religion und Tann fie nie erſetzen. Das fol fcharf betont ıu der gedanfenlofen Umdeutung eines mißverftandenen Goetheworted entgege getreten fein; aber wenn eine Macht die neue Religion, nad ber unf.

Nervofität und Kunſtgenuß. 151

Sehnen geht, vorbereiten half, ſo iſt es unſere Kunſt, beſonders unſere Dichtung geweſen. Sie iſt die wahre Trägerin des Sinnes und Geſchmackes fürs Unendliche; und damit ſchleift ſie uns, weit entfernt, neuropathiſch zu wirken, im Gegentheil die beſte Waffe gegen die Neuraſthenie.

Vielleicht hält man mir hier voll Ironie bie ſichtbaren Thatſachen entgegen und weift auf da8 Premierenpublikum unferer Theater und bie Stammkundſchaft unſerer Leihbibliotheken als wahre Blütheleſen entneroter, neuraſtheniſcher Geſchöpfe. Nun gehören aber neun Zehntel des Leihbibliotheken⸗ beitandes zum literarifchen Schund, mit dem ſich vornehmlich unfere Töchter und Frauen in ihrem meift völlig verdorbenen oder auch embryonal gebliebenen fünftlerifchen Geſchmack füttern, um die reichlihe Mußezeit ihres arbeit: und gedankenloſen Dafeins auszufüllen. Faſt alle Männer empfinden vor der äußenen Beichaffenheit diefer Bücher einen gewiſſen Ekel die Efel- gefühle pflegen bei Frauen überhaupt ſchwächer zu fein und die falfche Sparfamfeit de8 Deutjchen, der ſich eben nur fchwer entichliegt, ein Bud) zu faufen, thut ihr Uebriges. Die Theaterpremiere aber tft durch unfere literarifche Reklame, durch die Zuftände unferer Zeitungstritif und den ganzen verdorbenen Geift unferer fogenannten vornehmen Theater einfach zu einer pikanten Senjation geworden, die über den inneren Werth ober Unwerth einer dramatifhen Schöpfung längſt nicht mehr enticheidet. Auch fällt die Nervojität diefer Theaterbefucher meift unter ein anderes Kapitel. Im Teutfchen Theater herricht die mweftberlinifche Hochfinanz jüdiſchen Blutes; und über deren Nervoiität hat einer ihrer beften Stammesgenoffen, hat gerade Oppenheim jich unzweidentig geäußert. Sie ift die natürliche Kranlkheit eines duch Inzucht gefhwächten Volkes, deſſen unjinnig verkehrte Jugenderziehung alles noch Gefunde in phylifcher und feelifcher Beziehung zu erftiden ange than ift: phyſiſch durch eine unglüdliche Verzärtelung und Gewöhnung an raffinirte Behaglichkeiten, pſychiſch durch Erwedung eines krankhafıen Ehr- geizes und Eigendünkel3 und durch Eintrichterung einer rein äußerlichen, renommiftifchen Bildung. Daß eine fo tief murzelnde Nervofität durch bie denfende Einjicht in die Zufammenhänge der Welt und des fozialen Lebens mit unferem Ich verhütet werden fünnte, wird natürlich fein noch fo großer Optimiſt erwarten.

Wenn die moberne Dichtung unausgefegt ber Gegenftand von Ans ffen ift, jo theilt fie zunächſt damit nur das Geſchick aller früheren Poeſien. {HR in den großen Afthetifchen Beitaltern, im athenifchen und florentinifchen,

verfaillifhen und mweimarifchen ift e8 nicht ander8 gewefen. Die Rück— nirtöfchauenden, denen die Gegenwart Kleiner fcheint als die Vergangenheit, erden auch unter ben Denfenden nie ausfterben. Ihre Anſchauung er= ichft auf einer befonderen Hirnzellenbefchaffenheit, deren Geheimniß wir

152 Die Zukunft.

noch nicht gelüftet Haben. Unbeirrt durch jie aber geht die Kunſt ihren Weg; und was Großes an ihr ift, ringt jich zu bleibender Bedeutung durch. Der modernen Dichtung alfo ſchaden auch die Nervenärzte nicht, die fie verfolgen. Wohl aber Denen, in deren Interefle jie zu ſprechen meinen: den Nervöfen. Denn fie treiben fie nur in äußerliche Genüffe, in ‚gehaltlofes Getändel Ein- ein, das dem Leiden Feine Beflerung fchafft, weil e8 mit deffen Urſachen gar Feine Berührung bat. Zehn Stunden aufreibenden Kampfes laſſen ſich nicht durch zwei Stunden graziöfen Geplauder das Gleichgewicht halten. Dog Wort: Similia similibus curantur, durch die Homöopathie etwas disfreditirt, ift, in tieferem Sinn verftanden, doch ſchließlich der Schlüffel zu aller erfolgreichen pſychiſchen Behandlung. Und faltes Waſſer allein thuts eben nicht, fondern die Pfychotherapie ift das Hauptitüd alles nervenärztlichen Hei wermögens. Hier aber follte die Hilfe nicht zurückgewieſen werden, die dem Arzte die Kunſt, insbefondere die Dichtung, zu leiften vermag.

Zwar gehöre ich nicht zu den Schwärmern, die von äfthetifcher Kultur, Erziehung der Maſſen zur Kunſt und ähnlichen Utopien träumen. Die großen äfthetifchen Kulturen find nie gemacht worden, fondern über die Völker gefommen, man weiß oft nicht, wie. Ich fühle mich weit entfernt davon, die Rolle der Kunjt im Leben des Einzelnen wie ber Gefammtheit zu über ſchätzen. Ich glaube, daß es fehr gefunde, fehr tüchtige, ja, wirklich große Perfönlichkeiten geben Tann, denen alle Kunſt völlig gleichgiltig ift, und halte die erzwungene Aeſthetiſirung eines Volkes für ein im beften Fall nutlofes, vielleicht aber bebenkliche8 Beginnen. Die beim Nervenarzt Rath ſuchen gegen Neurafthenie, jind nicht immer, aber doch zum größeren Theile intelligente, oft außergewöhnlich befähigte Menfchen, um fo häufiger, - je mehr mir uns der Grenze zur hyſteriſchen Beranlagung nähern. Bei ihnen muß jih die Suggeftion, die fie feldft fuchen, der feineren geiftigen Mittel be- dienen. Sid) zu amujiren, um ihre Leiden zu vergeflen, kann jedes alte Weib ihnen anrathen. Es gilt eben, gerade an Das zu knüpfen, was geiftig den Haupteinfchlag im Gewebe ihrer Sorgen bildet. Die Entfcheidung, ob die Kunſt dazu den geeigneten Faden abgeben kann, muß vom Nervenarzt erwartet werden; aber wo er davon überzeugt ift, Tann es jich beim miodernen „Nervöfen“ nur um die moderne Kunſt handeln.

Wirkſamer als alle Therapie iſt freilich die Prophylaris, hier die Ar der geiftigen Erziehung. An deren Reform haben, wenn e8 wirklich ſchon ein Wenig befjer geworden ift, die Aerzte leider fehr geringen heil; um fie jcheinen ihn einftweilen aud) nicht vergrößern zu wollen. Binswanger bezeichnet es einmal als eine der wichtigjten öffentlichen Aufgaben des Arztes, den neuropathifchen Cinfluß der modernen Dichtung lahmlegen zu Helfen. Heute ftehen die meiften Aerzte folchen feingeiftigen Fragen theilnahmeloS gegen-

Kaufmännifge Schiedsgerichte. 153

über. Das ift gewiß fein rühmliher Zuftand; aber fat möchte man fein

Fortdauern wünfcen gegenüber der Möglichfeit, daß insbefondere die Nerven-

ärzte mit ihrer großen geiftigen Macht über Hunderte von Gebildeten jener

Loſung folgten. Man könnte nur wehmüthig jagen: Sie wiſſen nicht, was

fie thun. Das aber ift ein ſchwacher Troft; denn bie richtende Gefchichte,

auch wir Aerzte follten es nicht vergefjen, hat das milde Wort vom Kreuz noch nie al3 Entlaftung der Schuldigen gelten laſſen.

‚Heidelberg. Dr. Billy Hellpach.

Li

h Raufmännifche Schiedsgerichte.*)

M ichdem durch das Reichsgeſetz vom neunundzwanzigſten Juli 1890 für die gewerblichen Arbeiter beſondere Gerichte zur Entſcheidung der aus dem Urbeitverhältniß entſpringenden Rechtsſtreitigkeiten (die Gewerbegerichte) geſchaffen worden waren, regte ſich bei den Handlungsgehilfen mächtig der Wunſch nach ahnlichen Einrichtungen. Sämmtliche Gehilfenverbände nahmen die Forderung taufmänniſcher Schiedsgerichte in ihr Programm auf und immer lauter ertönten die Rufe nad Sondergerichten zur Entfcheidung der Prozeſſe aus dem kauf- männifchen Dienftvertrag.

Gegenüber dem Drängen von tanfend und abertaufend ftimmberedtigten Bürgern Eonnten bie politif hen Parteien nicht gleichgiltig bleiben. Ohne Aus- nahme ſuchten fie fid) den Wünſchen der umabläfjig petitionirenden und raiſo- nirenden Handlungsgehilfen gefällig zu zeigen und Centrum fo gut wie Sozial» demokraten, Nationalliberale wie Antijemiten brachten beim Reichstage Jnitiativ- anträge ein, in denen die Errichtung kaufmänniſcher Schiedsgerichte begehrt wurde. Auch die Konfervativen und bie Freifinnigen wollten natürlich in biefem Wettlauf um die Gunjt der Wähler nicht zurüdbleiben; und fo erklärten jie denn Bei jeder Gelegenheit, fie brä—hten den Beitrebungen ber Handlungsgehilien das größte Interejje entgegen und würden gern einem Schiedsgerichtsgeſetz ihre Stimme leiden. Nur Einer unter den 397 Erfürten ließ fi durch die une geitümen Bitten nicht beirren: Karl Ferdinand Freiherr von Stumm war jelb- itändig oder ftarrföpfig genug, fic ſehr entſchieden gegen bie geplante Neuerung auszusprechen. Ein Erbe ift dem Gewaltigen nicht geboren. Als in dem letzten Tagen des Januar der Reichstag abermals die Frage disfutirte, wurde ein Widerſpruch von feiner Seite vernommen. Auch die Regirung, bie ber Sache in früheren Jahren ſtets eine dilatorijhe Behandlung angebeihen lich, ift jept machgiebig geworden. Jüngft Haben Graf Poſadowety und fein Vetireier die

*) Nachdem ih meine Auffaſſung des Planes, kaufmänniſche Schieds- gerichte zu ſchaffen, in einer juriſtiſchen Fachzeitſchrift („Archin für Bürgerliches Recht”, Band 20, Heft 3) erörtert habe, jei es mir geitattet, fie nun aud) vor einem größeren Leferkreife kurz darzulegen.

154 Die Zukunft.

feierliche Erklärung abgegeben, das Hohe Haus werde in naher Zukunft den gewünſchten Gefeßentwurf erhalten. An der Einführung kaufmänniſcher Schieds⸗ gerichte ijt danach nicht mehr zu zweifeln,

Welche Organifation dei neuen Gerichten gegeben werben foll, ift noch nit bekannt. In der Hauptjache find zwei Vorfchläge aufgetaucht, die in Frage kommen können. Bon ihnen empfiehlt der eine eine Angliederung an die Amts gerichte, während der andere die Schaffung befonderer Kammern an den Gewerbe: gerichten oder bejonderer Gerichte nach Art der Gewerbegerichte fordert. Yenem begegnen wir im Antrage Bafjermann, diefer tft im. Antrag Raab enthalten. Welchem der beiden Borjchläge die Negirung den Vorzug giebt, hat man bisher nicht gehört. Auch über die Fragen der Bejegung der Gerichte (mit zwei oder vier Beiligern?), der Normirung der Berufungsgrenze (Zuläffigfeit bei einem Streit- gegenitand von 100, 300 oder 500 Marf?) und der Geftaltung der Berufung- injtanz herrjchen unter den Zyreunden ber faufmännijchen Schiedsgerichte Meinung- verichiedenheiten; einig dagegen find alle Anhänger in der Forderung, daß bie Richter, die als Beifiger mitwirken follen, aus freien, von den Geſchäftsinhabern und den Ungeftellten getrennt vorzunehmenden Wahlen hervorgehen müßten.

Fragt man nad den Gründen, die für den Anſpruch auf Einführung faufmännijcher Schiedsgerichte bejtehen, jo pflegt in erfter Linie der Umftand genannt zu werden, daß der zur Entſcheidung der Streitigkeiten zwiſchen Brinzipalen und Handlungsgehilfen jet offenftehende ordentliche Prozeßiweg zu lang und zu foftjpielig jei. Nun haften die Mängel der Yangivierigleit und Kojtfpieligkeit unjerem heutigen Serichtsverfahren ganz unzweifelhaft an. Aber da man doch nicht jagen fann, daß hierunter allein oder auch nur hauptfächlich die im Handel Angeſtellten zu leiden haben, fo fehlt diefem Grunde die Bemeisfraft. Jene Mängel können wohl das Verlangen nad einer Beſchleunigung und Berbilligung der Prozeßführung überhaupt begründen; zur Rechtfertigung gerade kaufmänniſcher Sondergerichte vermögen fie nicht zu dienen.

Sondergerichte werden nothwendig, wenn der Richter, zur Beurteilung der Mehrzahl der Streitfälle befondere Fachkenntniſſe bejigen muß, wenn feine juriltiiche VBorbildung bei der Nechtsfindung regelmäßig nicht ausreiht. Im Ernjt läßt fich aber duch num nicht behaupten,» daß zur Entſcheidung der Prozefle, die die Dandlungsgehilfen und Lehrlinge mit ihren Prinzipalen auszutragen haben, kaufmänniſche Fachkenntniſſe erforderlich ſeien. Dieſe Streitigkeiten drehen fich um den WUntritt, die Fortſetzung oder die Auflöfung des Dienftverhältniffes: um die Ausftellung oder den inhalt eines Zeugniſſes; um die LXeiftungen und Entihädigunganiprücde aus dem Arbeitverhäitniß; weiter um die Nüdgabe von Zeugniſſen, Zegitimationpapieren und Kautionen, die aus Anlaß des Dienf: verhältniffe3 übergeben worden find; endlich um Anſprüche auf Zahlung ein Vertragstrafe wegen Nichterfüllung oder nicht gehöriger Erfüllung der ei gegangenen Verpflichtungen. Ueberall find e8 Nechtsfragen, Fragen der Auslegu von Geſetzes- und Nertragsbejtimmungent, die der Entjcheidung harren, und äußer, jelten nur wird der Nichter Gelegenheit finden, ſpezifiſch kaufmänniſche Kenntnif zu verwerthen. Mit der Unfähigkeit der ordentlichen Nichter zur Beurtheilur der einichlägigen Verhältniffe wird man alſo nicht operiren dürfen.

Eben jo wenig aber erjcheint die Yorberung nad kaufmänniſchen 7

Kaufmännifche Schiebögerichte. 155

gerichten wirthſchaftlich gerechtfertigt. Die Zahl der Streitigkeiten zwiſchen Geichäftsinhabern und ihren Ungeftellten ift nämlich nur ſehr gering. In ganz großen Städten kommen ſolche Prozefje ja nicht felten vor; in mittleren und fleinen Städten jedoch begegnet man ihnen nur fo vereinzelt, daß hier für kaufe mãnniſche Schiedsgerichte kein Raum ift. Nun behaupten die freunde der Schiedsgerichte allerdings, an ber Seltenheit der Rechtsſtreitigkeiten trügen die Mängel des gegenwärtigen Verfahrens die Schuld; die Angeftellten nähmen ans Scheu vor ber Umftändlicleit und Koftipieligfeit der Rechtspflege lieber viele thatfäghliche ober vermeintliche Unbilden ruhig Gin, als daß fie fid) an bie orbent- lichen Gerichte wendeten. In einzelnen Fällen mag Dergleihen ſchon vorge tommen fein. Das ftumme Dulden bildet aber gerade in unferer Zeit ganz ficher nicht die Regel.

Wäre das Bedürfnig nad kaufmänniſchen Schiedsgerichten wirklid jo dringend, wie ihre Anhänger behaupten, jo würden doch wahrfheinlic die in Deutjchland beſtehenden fakultativen kaufmänniſchen Sciedsgerichte ftarf in Anſpruch genommen. Das ift aber durchaus nicht der Fall. So wurden bei dent in Hannover beſtehenden Fachgericht im Jahre 1900 nur achtzehn Prozeſſe anhängig gemacht. Das Schiedsgericht in Braunſchweig konnte im Anfang feines Beſtehens mandmal als Vermittelungamt in Thätigkeit treten, wurde in der legten Beit aber gar nicht mehr angerufen. Beim kaufmänniſchen Sciede- gericht in Osnabrüd wurde im Verlauf eines Jahres ein einziger Streitfall

. angemeldet; und das Schiedsgericht in Stolp, das mit Beginn des Jahres 1900 ins Leben trat, ift bisher überhaupt noch nicht angegangen worden. Sanı man es, angefihts biefer Erfahrungen, der augsburger Handelstammer verbenken, wenn fie den ganzen Lärm um die kaufmänniſchen Schiedsgerichte für „eine reine Modeſache“ erklärt?

Zu Gunften der kaufmänniſchen Schiedsgerichte wird endlich noch ange» führt, ihre Einrichtung werde in ſozialer Bezichung erfrenlich wirken; die gemein» fame Thätigfeit von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, bei der beide Theile gleich- . berechtigt einander gegenüberftänden, werde dazu führen, die gegenjeitige Werth: ihägung zu erhöhen. Allein auch dieſer Hoffnung wird die Erfüllung verfagt bleiben. Im Gegentheil ift zu befürdten, daß die Einführung der Schieds- gerichte von der man fi ja eine Vermehrung der Prozeſſe verjpricht und die den Kampf eum die Wahl der Beiſitzer heraufbeſchwört nicht zur Ver föhnung beitrag n, jondern erſt recht Zwieſpalt ſchaffen und vergrößern werde. Bezweifeln wird man auch müffen, daß faufmänniihe Schiebsgerichte, deren. Beifiger durch Wahlen beſtimmt werden, die nöthige Gewähr für eine unpars

he Redtiprehung bieten. Gin Veiliger, der ang ſtürmiſchen Wahlen her- zegangen ift, leidet an Voreingenommenheit und Befangenheit. Er wird nicht Recht zu finden, fondern die Sonderinterefjen feiner Standesgenojjen zu ‚ern verſuchen und darum niemals ein guter, ein gerechter Richter fein können, Bedenkt man endlich, daß durch die Schaffung kaufmänniſcher Schieds- cichte der Grundfaß der ordentlichen Gerichtsbarkeit abermals durchbrochen wird, vird man fich, troß dem Neichstag, für die Neuerung ſchwerlich begeiftern £önnen.

Shemnip. Landrigter a. D. Ernft Mumm.

156 - Die Zuhmft.

. Onze dappern burghers*).

Greift an das Werk mit Yäuften! Das Rechten hilft nicht mehr; Ahr Beiten, ihr Getreuften,

Zur That, zur Gegenwehr!

gi die beiden Kleinen Burenrepublifen dem gewaltigen Albion den Fehde⸗ handſchuh hinwarfen, „entichlojfen, für ihre zzreiheit und ihr Hecht zu fämpfen bis zum leßten Dann‘, „tot de bitter end“, da kannte die Begeijterung in Deutjchland feine Grenzen. Die alten Märchen. von der zähen Tapferkeit der Buren, ihrem glühenden Freiheitdrang, ihrer heißen Waterlandliebe, ihrer tiefen Gottesfurcht und vorbildlichen Reinheit der Sitten wurden wieder auf- gefriicht. Kein Wunder, daß viele Hunderttaufende „Zu den Waffen!“ riefen und daß einige Hundert ihr Wort in die That umfeßten und über das Meer eilten, um mit den bedrängten „ftamınverwandten Brüdern” **) Schulter an Schulter gegen die Mordbanden der Chamberlain und Cecil Rhodes zu fämpfen und zu bluten. Gaben doch die Deutichen zu allen Zeiten zahlreiche Rekruten für die Heere um ihre Freiheit kämpfender Völker geſtellt. In den deutjchen Dffiziercorps war die Kriegsluſt jo groß, dab eine „Allerhöchſte Kabinetsordre“ nöthig jchien, die allen Offizieren die Theilnahme am Sriege unterfagte. Troß- dem und troß den offiziellen Dementirungen haben viele aktive Offiziere unter diefer oder jener Begründung ihren Ablchied erbeten und in ben Reihen der Buren mitgefämnpft; der größere Theil ber im Burenheer fämpfenden deutſchen Offiziere war freilich jchon früher aus dem Armeeverband gejchieden.

Die Transpaalregirung Hatte öffentlich erklärt, daß fie Teine Werbungen beabjichtige, daß ihr aber freiwillige Mitfämpfer willlommen jeien. Wie jehr es ihr damit ernft war, geht daraus hervor, daß allen Ausländern ohne Unter- Ichied, die die Waffen für die Nepublif aufnahmen, das volle Bürgerrecht ge— währt wurde. Leyds fchrieb aus Brüffel an deutſche und öfterreichiiche Offiziere, die ihn um nähere Auskunft über ihre Ausfichten in der Transvaalarınee baten, ſehr diplomatiſch: daß er zwar feine beftimmten Zuſagen in irgend einer Hinficht machen fünne, daß fie aber der Trangvaalregirung in jedem Falle jehr willkommen feien und in entiprehenden Stellungen in der Burenarmee Berwendung finden würden. Diefe entjprechende Verwendung bejtand darin, daß man ihnen, vom altgedienten Oberften und Führer eines deutichen Neiterregimentes bis zum jungen Lieutenant, ein Gewehr und einen Gürtel mit jechzig Patronen umbängte und ihnen fagte: „Loop, schiet“! Das heißt: Du darfit mitichießen, Haft im Uebrigen aber bier nichts zu jagen und Did) in unfere Angelegenheiten nicht einzumijchen. Wenn von den unglaublichen Zuftänden in der Burenarınce und ber unwürdigen

*) Eing mans red ijt eine halb red; man foll die teyl verhören bed: nach dem guten altdeutichen Spruch wird auch diefe zunächſt befremdende Darftellung füdafrifanifcher Kriegszuftände felbjtändig denfenden Leſern willkommen fern.

**) Einige der weiteftverzweigten Burenfamilien find: die Joubert, Du Toit, Du Pleſſis, De la Rey, De Wet, Theron, Malherbe, Olivier, Marais, De Villiers, Rouſſeau, Fourie, Malan, Fouche, Le Roux, De la Croir u. ſ. w.

Onze dappern burghers. 157

Behandlung der freiwillig mitfämpfenden Ausländer jo wenig in Deutjchland befannt geworden ift, fo liegt der Hauptgrund wohl darin, daß es nur wenige deutiche Zeitungen gab, die den Muth gehabt hätten, ihren Leſern eine wahr- baftige Schilderung der Zuftände zu geben, auf die Gefahr hin, neun Zehntel ihrer Abonnenten zu verlieren. Ueber die Stimmung der aus allen Erdtheilen herbeigceilten Freiwilligen ift in Demichland fehr wenig befaunt geworden. In Johannesburg erſchien während des Yeldzuges eine internationale Anfichtpoftkarte, die die Wappen fämmtlicher in den Freiwilligencorps vertretenen Nationen trug und unter jeden Wappen einen entiprechenden Kernſpruch. Der für die allge

meine Stimmung fehr bezeihnende Spruch der Deutjchen lautete:

„Ans bat ja nicht die Liebe (zu den Buren), Uns bat der Haß vereint” (gegen die Engländer). Die Begeifterung war bei Denen, die ihrd Sympathien für das Burenvolk nicht nur durch Abjingen der Volkshymne und durch Maſſenverſammlungen befundeten, fondern mit den Waffen in der Hand dem bedrängten Volk zu Hilfe geeilt waren, ſehr bald erlofchen. Nach den offiziellen Liften jtanden etwa 6000 Deutfche im Burenheer; etwa 1500 davon waren aus Deutjchland, Tejterreich, der Schweiz, Rußland, Amerika Herbeigeeilt. | . Ich hatte, ala ich meinen Abſchied nahm, „um als Kriegöberichterftatter

der Täglichen Rundihau nah Südafrika zu gehen“, meine Erwartungen ſehr niedrig geſchraubt; troßdem follten mir große Enttäufchungen nicht erjpart bleiben. Wir Beutichen, öfterreihiichen und fchweizer Offiziere auf dem Dampfer „Bundes« rath“ waren gleich begeijtert für das tapfere Volk ber Buren, deflen Heldenthaten nad allen Berichten die eines Leonidas in den Schatten jtellten. In Deutſch-Oſt⸗ afrika, an deſſen Küfte der ‚„‚Bundesrath‘ einige Tage verweilte, erhielten wir unfere erjte Abkühlung. In Dar-es-falaam leben viele Deutiche, die ſich im Transvaal aufgehalten haben. Sie Alle Hatten für die Buren wenig übrig und machten uns gegenüber daraus fein Hehl. In Durban, wohin uns die Engländer unter den Verdacht jchleppten, daß der „Bundesrath“ Kriegscontre— bande an Bord habe, hatten wir zum erjten Mal Gelegenheit, die „gänzlich verwahrlojten, aus den niedrigften Volksichichten refrutirten und von Sportsmen und anderen Civiliften in Uniform geführten englifhen Truppen’ aus nädjiter Nähe kennen zu lernen. E83 waren die Verftärkungen, die für Buller zum Entjag von Ladyſmith angefommen waren und in aller Eile auf der Bahn nad) dem Skriegsichauplaß entjandt wurden. E3 waren meijt aftive Regimenter und id fann ihnen nur das Zeugniß ausitellen, daß ich feinen Unterjchied zwijchen einer Eifenbahnverladung deutjcher Truppen während der Herbſtmanöver und diefer zur Front abgehenden Truppen bemerkt habe, ausgenommen vielleicht den, 5 Alles mit geringerer Anftrengung der Stimmbänder vor fi) ging, als wir in Deutjchland gewohnt find. Eine fonderbare Fügung wollte, daß ich diejen ben Xruppen wenige Wochen fpäter im heftigen Feuer auf dem Plateau des Pionkops mit dem Gewehr in der Hand gegenüberliegen jollte. Der in Durban ‚ewonnene gute Eindrud verwandelte fih in Hochachtung, als ic” am Morgen ab der Schladt die engliſchen Schügengräben aufjuchte, in denen nad) Fort— jaffung der Verwundeten nod Mann bei Mann lag, fo daß faft auf jeden teter Sraben ein Toter fam. Dieſe Truppen waren nicht verwahrlojt, trotzdem fh aus den „nicdrigften” (fol wohl heißen: ärmſten) Volksklaſſen refrutiren.

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158 Die Zukunft.

Nach elftägigem unfreiwilligen Aufenthalt in Durban gelang es mir endlid, die Erlaubuiß zur Nücreife nad; Delagoa-Bai zu erhalten; id war genöthigt, ein englifches Schiff, den „Umtali”, zu benugen. Man muntelte damals und die Cap- und Ntatal- Zeitungen beitätigten c8 viel von Deutſchen, die als Burenfpione auf engliihen Schiffen verhaftet worden feien, und ich war beshalb bei meiner Einfchiffung nicht ficher, ob ich nun ohne weiteren Zwilchenfall zur Burenarmee gelangen würde. Ich reifte mit einem fchweizer Dragoneroffizier, ber jeinen Schnurrbart abrafirt Hatte und dauernd aus einer kurzen englifchen Pfeife rauchte, um für einen Engländer gehalten zu werben, jo daß ihm jchließlich ganz ſchlecht wurde. Da wir vom Engliſchen beibe nicht viel verftanbden, ſprachen wir fran: zöfitch mit einander, um uns nicht einem zufällig anweſenden Detektiv als Deutſche zu verrathen. Ich muß geftchen, daß ich damals von dem „Schuß des Deutſchen Reiches”, unter dem ich angeblich ftand, einen eigenen Begriff befonnen habe. Wir gelangten ohne weiteren Zwiſchenfall nach Delagoa-Bai. Nad vielen Schwierig- feiten erhielten wir hier endlich für viel Geld und viele gute Worte portugieftsche Päſſe, für noch mehr Geld und unter noch mehr Schwierigkeiten die ebenfalls notwendigen Päffe von dei engliich geſinnten Konſul der Transvaalregirung, Herrn Pott, und jagen im Yuge nad Pretoria, neugierig, wie man ung bei ben Buren aufnehmen werde. Wir Hatten inzwiſchen jchon Vieles gehört, was fehr, jehr wenig ermuthigend Klang; ein Derr, mit dem wir im Zuge befannt wurden, fagte, man werde ung behandeln „wie einen Hund in der Kegelbahn.’ In Komati Poort, an der Transpaalgrenze, wu wir ung als Freiwillige für die Buren- arniee zu erfennen gaben, wurden wir von dem Kommandanten, ber einen deutichen Namen führte und zum Ueberfluß noch eine goldene Brille trug, aber nur hol- ländiſch Iprach, Herzlich empfangen. Er fuhr eine Strede mit und ftellte in dieſer Beit jehr viele Fragen an uns. Ueber die Art, wie wir in der Buren- armee verwendet werden würden, hatten wir fchon merkwürdige Dinge gehört; unjer Begleiter jagte, wir würden dem Stabe eines Burengenerals zugetheilt werden. Den Dobn, der darin lag, follte ich erft fpäter begreifen lernen. Als er ums endlich verließ, gab er ums einen jungen Buren mit, der ung bei Allem behilflich jein jollte, da wir als Fremde uns wohl fchwer allein zuredtfinden würden. Diejer junge Mann nahm fich ſehr freundlich unjer an. Er war jtet3 um uns bemüht, folgte uns auf Schritt und Tritt, und entpuppte fi ſchließ— lich als einen Gscheimpoliziiten der Transvaalregirung.

In Pretoria ſuchte id), nach einem Beſuch beim deutichen Konful, den Staatsjefretär Neiß auf. Ver oberjte Staatsbeamte der Nepublif und wie zu jeiner Ehre gejagt ſei, auch der ärmſte Beamte der Republit und der einzige, der nicht geitoblen oder betrogen bat empfing mid äußerit liebensmürdig. Er ſprach ziemlich fließend deutjch, bat mich jedoch, ihm meine Empfehlun ſchreiben jelbjt worzulejen, da ihm das Yejen des Deutjchen Schwierigkeiten mache. Auf meine stage, wie id) in der Armee verwendet werben jolle du es Schalt, Löhnung, Kriegsſold, oder wie man es nennen will, nicht gab un mar gefülliaft aus feinem eigenen Geldbeutel zu leben Hatte und daß diefe recht inhaltreich fen mußte, wenn man nur einigermaßen anftändig durchkomme wollte, hatte ich auch ſchon vorher erfahren -, enviderte er etwas verlegen darüber habe der „Kommandant Generaal“ allein zu bejtimmen, in deſſen T

in _

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Onze dappern burghers. 159

fugniffe einzugreifen er nicht berechtigt fei. Uebrigens fei es allen Ausländern freigeitetlt, weldem Kommando fie fih anſchließen wollten. Er gab mir jedod ein Schreiben mit, in bem er mich Joubert warm empfahl. Warum ich diejen Empfehlungbrief niemals an Joubert abgegeben, jondern mir ala Kuriofum auf- gehoben habe, wird Jeder verjtehen, der die Verhältniſſe und den alten Joubert tannte. In den folgenden Tagen, in denen ich, um ein Pferd, Ausrüftung und Waffen zu erhalten, Stunden lang mit einem Stüd Papier in Pretoria herum: laufen mußte, nachdem ih, um dieſes Papier zu erhalten, Stunden lang vor den Bureaux untergeordneter Beamter hatte antichambriren müſſen, wurde ich von Kameraden, die ſich die „Schweinerei‘‘, wie fie es fehr bezeichnend nannten, Ichon einige Bett angejehen hatten, fchonenb auch noch des legten Neftes meiner Illuſionen entfleidet. „Sie wollen uns gar nicht haben; fie betrachten uns als das fünfte Rad am Wagen und geftatten ung gnädigſt, mitzulaufen, da fie es Anſtands Halber nicht gut verhindern können.“

Eben Hatte der Januar begonnen. Die fiegreihen Buren ftanden in Natal und der Capkolonie. Ladyjmith, Mafeking und Kimberley waren von ihren Heeren eingejchloffen, die Engländer überall aus dem Felde gefchlagen. Der Hochmuth gegen die Ausländer kannte feine Grenzen. „Da jeht hr, was Eure europäiſche Kriegskunſt werth ift‘‘, hieß es; man lachte uns ins Geficht. „Ihr könnt bei uns viel, jehr viel lernen.” in holländiſcher Arzt, alfo doch ein gebildeter Mann, verjicherte allen Ernites, man werde über kurz oder lang auch in den europäiſchen Armeen die veraltete Gefechtsweile fallen laſſen und zu der der Buren übergehen müſſen. Da er ein würdiger alter Herr war, fo widerſprach ich ihm nicht. Wohl aber habe ich oft Buren, die mir mit dem telben Unfinn kamen, gefragt, worin denn nach ihrer Meinung die großen Vor: züge ihrer Kampfesweije beftänden. Sie nannten meift die einfachſten Lehrſätze unjerer europäijchen (deutichen, rufjiichen, franzöjiichen) Felddienſtordnungen die zu Haufe jedem Rekruten geläufig find. Wenn ic) dann erwiderte, daß man Das in allen moderıen Armeen zu denen man bei uns die englijche aller- dings wicht rechne genau jo mache, oder gar fragte, aus welcher Kenntniß europäilcher Armeen denn die Herren ihr wegwerfendes Urtheil über alle europäi— fen Heeresverhältnijic herleiteten, fo gingen fie gewöhnlich fort, um das jelbe Thema mit irgend einem Deutih-Afrikaner zu verhandeln, der vielleicht in feinem Leben nie einen deutichen Soldaten geſehen hatte.

„Welchen Kommando werden Sie fi anſchließen?“ fragte ich in den erften Tagen nach meiner Ankunft in Pretoria einen mir bekannten Ulanen: offizier, den ich .mit geichultertem Gewehr in Khaki auf der Straße traf. Er nannte den Kamen eines Burengenerals und fügte Hinzu: „Der ſoll nämlid)

Allen noch am Wenigiten deutichfeindlich gefinnt fein.“ Der größte Deutichen: ‚er im ganzen Transvaal war der alte ehrliche Jonbert. Er haßte die „Wit: iders“, vor Allen aber die Teutichen, die feine verrätheriichen Abfichten mehr » einmal durchkreuzt hatten, *) von ganzem Derzen und behandelte befonders

*) Joubert war ein Gegner des Krieges und verjuchte mit allen Mitteln,

denen auch die verrätheriſche Aufgabe der Belagerung von Ladyſmith gehörte, diefem Sinn auf den Präfidenten Krüger und den Volksraad einzuwirken.

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- 160 Die Zukunft.

die deutfchen Offiziere ſchlecht. Dem in Ceylon gefangen gehaltenen Oberſten von Braun, der als einer der erjten deutjchen Offiziere bei Ausbrud des Krieges nad Transvaal ging und fih bei Joubert meldete, ftellte der alte Herr die wenig jchmeichelhafte Frage, was er eigentlid) wolle; und al3 Braım erimiderte, er fei gefommen, um in der Burenarmee gegen die Engländer zu fechten, er- twiderte ihm Joubert paßig: Dan fat een roor en loop schiet (Dann nimm ein Gewehr und geh. fchießen). Die deutſchen Berichterjtatter meldeten damals gewifjenhaft an ihre Zeitungen: „Oberft von Braun ift dem Stabe des Cber- fommandirenden zugetheilt worden.“ Joubert mußte dafür aber auch mande Iharfe Erwiderung auf feine deutjchfeindlichen Meußerungen einfteden. Jeder Bürger hatte bekanntlich nach dem Striegsgejeg, wenn er eine Anzahl Wochen im Felde geſtanden hatte, das Necht, vier Wochen auf Urlaub zu gehen; da die meiften Urlauber e3 aber mit dem Wiederfommen nicht jchr eilig hatten, be gannen fi) die Kommandos bei Ladyſmith fo bedenklich zu lichten, daß die Be urlaubungen eingejchräntt werden mußten. Damit waren aber die burghers, denen der Krieg jchon langweilig wurde, nicht zufrieden und Manche von ihnen famen auf den Gedanken, fich ſelbſt leichte Berwundungen beizubringen, um auf

diefe Weiſe nah Hauſe oder wenigſtens ind Hofpital zu fommen, wo fie ſich

auch ganz wohl fühlten. Solche Fälle kamen damals in allen Zagern vor. Als eines Tages ein Deutjcher jich bei Joubert meldete, um für zwei am Tugela verwundete Landsleute die üblichen Päſſe zu erhalten, meinte Joubert verödht- lid, die Beiden hätten fich wohl auch felbjt verwundet, um Urlaub zu befommen; worauf er die prompte Antwort erhielt: „Nein, General, es find feine Buren.* Trotzdem ich von Jouberts ſchlechter Behandlung der deutſchen Offiziere ſchon gehört Hatte, wollte ich die Beſtätigung doch lieber aus eigener Anfchan- ung haben und meldete mic) im Dauptlager von Zadyjmith bei dem Cherfom- mandirenden. Als ich aufdie Frage: Wat will Gij? erwiderte, ich ſei deutſcher Offizier und wolle in der Burenarmee gegen die Engländer fämpfen, verzog ſich fein von einem ftruppigen grauen Bart umrahmtes Geſicht zu einem fröß: lichen Grinjen und fein zum Frühſtück (oder Kriegsraad genau ward nicht zu unterfcheiden —) verfainmelter, aus einem Kreije mohlgenährter, (angbärtiger Buren beftehender Stab brad) in ein höhnisches Gelächter aus, während Einer von ihnen ſelbſtbewußt ſagte: „Unjere Kriegführung muß doch ſehr gut jein, daß jo viele deutihe Offiziere hierherkommen, um von uns zu lernen!” Sg hatte gehört, was ich hören wollte, beftieg meinen Gaul wieder und trabte in der Richtung auf das Lager des deutjchen Korps weiter. Während des einſamen Rittes auf der jtaubigen, von der glühenden Januarſonne ausgedörrtten Straße hatte ich Zeit, darüber nachzudenken, was ih nad) dem bisher Erlchten und Geſehenen nod in der Burenarmce wolle. Durdigeritten, müde, Hungrig verjtimmt langte ich geaen Abend im Lager des deutjchen Corps an. Auch war Manches anders, als cs fein jollte, und Alles anders, ald man es in deutſchen Zeitungen lefen konnte. In dem Defannten Kampf um den Spi top am Tugela erhielt id) meine Zyenertaufe und zugleicd) Gelegenheit, die Er’ riſche Iüchtigfeit der Buren aus nächiter Nähe zu bewundern Wie alle Gernirungarmee vor Ladyſmith gehörenden JLaaxer Hatte auch das deu! Corps einen Theil feiner Mannſchaft zum Schutze der Tugelalinie gege

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Onze dappern burghers. 161

Entjaßverfuche Buller3 abgegeben. Am dreiundzmwanzigften Januar lief abends tm Lager vor Ladyſmith die Botſchaft ein, ein Angriff der Engländer jtehe am Tugela bevor. Ich ritt am nädjten Morgen früh los und langte gegen Mittag am Spionfop an. Unterwegs hatte ich von einigen Buren, bie nad) ihrem Zager zurüdritten, gehört, daß die Engländer in: der Naht den Spionfop geftürmt hätten und daß „Alles verloren“ ſei. Bon Weiten fdjon hörte ich Kanonendonner und heftiges Gewehrfeuer, untermiicht mit dem kurzen, fcharfen Knall der Maxim-Geſchütze. Als ich, Über die von zu Hoch gehenden engliichen Sdiffsgranaten betreute Ebene galoppirend, mich den Höhen näherte, auf denen gefämpft wurde, bot fich mir ein Anblick, den ich nie vergeifen werde. Acngitlich aulammengedrängt, einzeln und in kleineren und größeren Stlumpen unter dem Schuß des Bergabhanges fich verfriechend, hockten Hunderte und Aberhunderte von Buren, während oben am Rande des Blatcaus eine ſehr dünne: Buren- linie, in der recht viele Ausländer waren, auf dreihundert Dieter den englijchen Scüßengräben gegenüberliegend, ein heißes Feuergefecht führte. "Sein Bureden und fein Drohen, fein Appelliren an ihr Ehrgefühl vermochte die im ſicheren Verſteck Sitenden in die Feuerlinie zu treiben. Cine grimmige fyreude bereitete e3 mir Später im Verlauf des Gefechtes, als einige der für uns bejtimmten engliichen Granaten, mit denen wir oben auf dem Plateau reihlid bedacht wurden, In einen folden Haufen von „Drüdebergern” am Bergabhange eit- ihlugen. So jchnell habe ich die Buren im Lauf des ganzen Krieges nicht wieder laufen jehen, troßdem fie auch jpäter darin Ziemliches leifteten.

Am Abend räumten die Engländer den Spionkop. Sie Hatten furdt- bare Verluſte erlitten. Der Ruhm des Tages gebührt in eriter Linie der Buren- Artillerie, diefer vorzüglichen, von deutſchen und franzöſiſchen Offizieren geſchaffenen und nach der veradhteten europäiichen Methode einererzirten und digziplinirten Truppe. Als die Engländer über den Tugela zurüdgegangen und abgezogen waren, ohne daß die Buren, ihren Sieg ausnüßend, fie verfolgten denn in der Bibel, die ihre Felddienſtordnung it, Steht: „Einem fliehenden Feinde ſoll man goldene Brücden bauen’ und Joubert hatte verboten, „von hinten“ auf die Engländer zu ſchießen, weil es unchriitlich jet —, da war die Freude groß. Onze dappern burghers fonnten einander nicht laut genug zu ihrer Tapferkeit beglück— wünjchen. Wohl hörte man auch hier und da ein auerfennendes Wort über die Deutjchen, die einen hervorragenden Wutheil am Nampf genommen und ver- hältnißmäßig große Verlufte gehabt hatten; viel häufiger aber kounte man Heußerungen hören über die ,„„ Dummheit‘ der Deutjchen, die nicht zu „Fechten“ verjtänden und deshalb fo große Verlufte im Vergleich zu den Burenkommandos aehabt hätten. Zwei Buren ftritten nach der Schlacht über bie frage, wie viele

t „unjeren Leuten“ an einer Ztelle der Gefechtslinie gefallen jeien. Der Eine ‚auptete: Bier. „Nein“, ſagte der Andere: ‚Drei; der Eine war nur (‚net‘) Deutſcher.“ Ich jelbft hörte einen alten Buren veranügt über den gewonnenen „ieg ausrufen: „Erſt jagen wir die Engländer aus dem Yande, und wenn mir amit fertig find, dann ſchmeißen wir alle Ausländer raus.” Ein Bur, den ) fragte, warum er nicht mit ins (Gefecht gegangen jei, meinte treuberzig: Tensch hat doch zijn leven lief“. (Wan hat doch fein Leben lich.) Den Meiften ‘te jedes Verſtändniß für ihr Elägliches Benehmen vor dem Feinde und des: 3 hatten fie auch für die Tapferkeit der Ausländer feine Anerkennung.

162 . Die Zutunft.

Als ih am Morgen nad der Schladt mit einem anderen Deutſchen wieder auf das Plateau des Spionkops jtieg, um den am Tage vorher gefallenen Lieutenant von Brüfewig zu begraben, fand ich feine Leiche vollſtändig aus- geraubt und mit nad außen gefehrten Rock- und Hofentafchen; er war eben „mr ein Deutjcher‘‘. Die dappern burghers aber waren and, eifrig bei ber Arbeit, die engliihen Toten auszuplündern. Da ihnen das Umdrehen der Taſchen zu umſtändlich und bei den meift ſtark mit Blut bejudelten Leichen auch zu unſauber war, ſchnitten fie getvöhnlich nur die Tafchen von außen auf und entlcerten fie fo ihres Inhaltes.“) Es war ein widerlicher, efelhafter, eınpörender Anblid.

Ich Habe danı cine Woche darauf in dem viertägigen Kampf bei Pot— gietersdrift am Tugela und fpäter in Bothas Armee im Oranje-Freiſtaat m vielen Gefechten mitgefämpft. Ueberall aber war es das jelbe Bild.

Die Volksstem, das offizielle Organ der Transvaalregirung, das ımit größter Gemwifjenhaftigkeit jede Heldenthat ihrer „tapferen Bürger‘ unter großem Aufvand der abgedrofchenften Phrajen über Heldenmutd, sreiheitliebe und Gottes- furcht verzeichnete, erwähnte mit feiner Silbe die zahlreichen Fülle, wo fi die Ausländer-Eorps ausgezeichnet hatten. Stets hieß ed: Onze dappern burghers... Wenn fie dagegen den Haß gegen alles Nichtholländiſche ſchüren konnte, ıyat fie e8 gar zu gern. Als die deutiche Abtheilung von bem vereinigten Ausländer- corps des franzöfiiden Oberſten de Villebois nad allen Regeln des Kriegsrechtes Lebensmittel auf einer Farm requiriren mußte, da fir troß wicderholtem An— juchen von der Regirung nichts erhielt, berichtete die Volksstem entrüjtet über die „Plünderung einer Burenfarın durd die Deutfchen”. Diejes Blatt hatte die Unverjchäntheit, dem dentjchen Freicorps unter Oberſt Sciel die Schuld an der Niederlage bei Elandslaagte in die Schuhe zu jchieben, unter Hinweis auf die veraltete, den Anforderungen des jebigen Krieges nicht gewachſene Fecht⸗ weile der Deutjchen, die den ungünftigen Ausgang verjchuldet Habe. Thatſächlich wurden die 85 fünfundachtzig! Deutſchen, die nah einem ſcharfen Ritt am fpäten Nachmittag auf dem Schladjtfelde erfchienen und tapfer in das bereits verlorene Gefecht eingriffen, von den Buren ſchmählich im Stich gelaffen. Leider bat die von der Volksstem verbreitete Lesart nicht nur in allen Burcnlagern Gehör gefunden, jondern ijt auch in viele deutihe Zeitungen übergegangen.

Der Nüdzug der Buren durch den Fyreiftaat und über den Vaalfluß war eine einzige Fylucht. Brachten die Kıumdichafter die Meldung: „De Engelsche konmen“, dann gab es fein Halten mehr. In fünf Minuten war dag Lager abgebrochen und von der ganzen Burenarmee au nicht ein Pferdeſchwanz mehr zu jchen. Das deutfhe Eorps**) bildete während des ganzen Rückzuges durch den Freiſtaat die unfreiwillige Arrieregarde von Bothas Armee, da ed, auf Ichlechten Pferden beritten gemadjt und häufig Scharmüßel mit den englifc

Spionfop, die auch in deutjchen illuftrirten Zeitſchriften erſchienen und auf den man deutlich an den Uniformen der gefallenen Engländer die Spuren des Leid raubes erkennen kann.

**) Es gab drei deutſche Corps: eins in Natal, eins im Oranjefreifta und eins im internationalen Korps Billeboie.

Onze dappern .burghers. 163

Avantgardentruppen Tiefernd, ftet3 einige Tagemärſche Hinter den ‚Burenfon- mandos zurüd war. Hatten diefe dann auf der großen Netirade wieder einmal Halt gemadt und wir famen auf unferen ausgehungerten Pferden und felbjt oft Mangel Teidend im Laager an, dann hatten fie die inzwiſchen angekommenen Broviantvorräthe gewöhnlich brüderlich unter fich getheilt und für ums war nichts übrig geblieben. Den anderen Ausländercorps, jo weit fie noch exiitirten, ging es nicht beiler. Im Gefecht, wo man fie nicht entbehren konute, jtellte man jie vornan; im Uebrigen aber behandelte man fie alg die „dummen lLitlanders Es ift daher fein Wunder, daß auf dein weiteren Rückzuge ſich in Johannes⸗ burg das deutiche Corps auflöfte und ein großer Theil der zerftreut unter den Burenkommandos fechtenden Ausländer in Johannesburg und Pretoria zurüd- blieb. Zu Hunderten maren während des Rückzuges die Buren auf ihren Farmen zurüdgeblicben und übergaben jich den Engländern, jo daß Botha von den zchn- taufend Mann, die er am Saud-River nod unter feinem Kommando vereinigte, beim Durchmarſch durch Pretoria feine Taujend mehr hatte, Nebellen aus der Sapfolonie und Natal, Ausländer und Buren aus den von den Engländern noch nicht offupirten nördlichen Iransvaal. Als am fünften Juni 1900 die Engländer in Pretoria einrüdten und den wüſten Plünderungjzenen, die jih in den leßten Tagen vor der Einnahme der Stadt dort abjpielten, cin Ende madten, da wollte das Hurragejchrei der Bevölkerung fein Ende nehmen; von der eiligen Ruhe, mit der die Einwohner die cinziehenden Truppen empfangen haben jollen, war nichts zu merken. Als die Engländer fpäter ein weitverzweigtes Spionage. fgitem einrichteten, ijt mehr als ein Ausländer, der gegen die Engländer im Felde gejtanden hatte, von Buren denunzirt worden, die jid) damit einen Neben— verdient machten. Die zahlreichen Deutichen, die in Bretoria von den Engländern ins Gefängnig gejperrt wurden, hatten unter der ſchlechten Bchandlung viel zu leiden ; die Gefängnigwärter, geborene Iransvaaler, die der Queen den Treu— eid geleitet hatten, fuchten ihre nun plößlich „loyale” Geſinnung durch ruppige Behandlung der gefangenen Ausländer zu beweijen. Als eines Tages id teilte mit einem anderen deutihen Offizier eine Zelle auf dem Hof zum Antreten und zur AUrbeitvertheilung gerufen wurde, Blieben wir ruhig in unterer Zelle, fiher, daß unfere Abweſenheit bei der großen Zahl der Befangenen nicht bemerkt wurde. Gin junger Bur, der auch Kriegegefangener war, ging an unjerer Thür vorbei und rief ung zu, wir müßten hinausgehen. Wir eriwiderteu, er möge fid) nur um jeine eigenen Angelegenheiten fünmmern Wenige Viinuten Ipäter kehrte er mit einem Gefängnißbeamten zurücd, dem er uns angezeigt hatte. Inzwiſchen hat fich Vieles geändert. Der zähe Widerſtand, den die letzten Refte der noch fämpfenden Buren leijten und dem Niemand die Anerkennung verjagen kann —, hat die eine Weile wohl etwas abgefühlte Burenbegeijterung in Deutjchland wieder angefacht. Der Abfchluß des Tüdafrifanifchen Irauerjpiels aber dem ein ſolches iſt eg für beide Parteien follte uns Deutjchen gleich« giltiger fein. Die Engländer verdienen gewiß nicht, daß fie die Früchte ihrer Raubpolitik ungejtraft genießen. Den Buren aber jollten wir nicht vergefjen, daß fie die Opfer an Leben und Freiheit, die jo viele deutſche Männer ihnen braten, hier in Afrifa nur mit Spott und Verachtung belohnt haben.

Keetmanshoop. Lieutenant a. D. Gentz. * *

164 . Die Zukunft.

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Selbitanzeigen.

Sommernädte. Verlag von Ludolf Beuft. Straßburg 1902.

Erft Hatte ich die Abficht, meinem Iyrijchen Erftling eine Vorrede vor. auszufhiden. Dann wollte ich einige Ktritifen abwarten, um meine Anjichten und Abjichten ſich Llären zu lallen. Bor Allem würde es fih um die Form gehandelt haben. Was iſt dein im legten Grunde die Form einer Dichtung? Das, was für den Muſiker der „Takt“ ift; und auch Wagner fennt den Talt, obwohl feine Melodien über alles Konventionelle Hinwegbraufen. „Melodie“ im Sinne der alten Oper ijt nicht überhaupt die Mufif. So ift aud ein Unter⸗ ſchied zwifchen „Lied“ und „Gedicht“. Die Stimmungen der „Sommernädte‘ fonnten gar nicht in Liedform gebracht werden; fie braudden nur den Rhythmus, den fie felbft bedingen; und wie die Form des Liedes eine mufilaliide „Eur theilung“ ift, jo mußte eg mir darauf anlommen, eine der Stimmung ent- . fprechende Kadenzirung zu finden: das Gewand mußte ſich ganz eng anjchmiegen, das Gewand mußte fchon in feinen Linien Muſik, Harmonie fett. Die Holzianer, die ja auch die Reimduſelei verwerfen, kennen nur eine „Form“ für den Verjtand und das Auge; das Gedicht ſoll aber innerlich Plaſtik jein, Elingende Plaſtik, der jede äußere Schönheit geopfert werben muß. ben fo verfehlt ijt der gehadte Tonfall, dent wir heute häufig begegnen. Wir dürfen nicht vergeflen, daß das (gefchriebene) Gedicht aus der mufifaliiden Stimmung geboren wurde, aus dem Bedürfniß, das Unbejtinmte in Worte zu drängen. Zittert aber. fein Ton in den Worten, jo haben wir Proſa oder Rhetorik. Ich wollte feine Theorie auf- jtellen, jondern einige Anregungen geben. Nicht eine Schalmei träumt mehr in unjerem Lied: ein Orcheſter umraujcht uns mit ſchwerem Flügelſchlag. Nicht das grüne Thal durdhzieht der fröhlich wandernde Burſch in unferen Gedichten: der Seift fliegt duch den Weltenhimmel. Der Aosmos iſt „Heimath” geworden. Kir fühlen uns als Bflanzen, die leben, aus Sommernädten der Sammlung der Sonne zujtreben, der höchſten Entfaltung ihrer Gluth und Pradt. Das ijt unſere einzige, unjere gewaltige Miſſion. Und fie ift nicht Laſt: wir find ja eins mit der ungehenren Welt der Sterne, in allen Adern brennt die Sonne, fie ift Gott, ſchöpferiſcher Geiſt. Unſere Kultur, Fabriken und Maſchinen jind auch nur „Natur, Ausfluß und Stonzentration, potenzirte Aeußerung der Natur. Arch ihr Yied dröhnt in dem großen Hymnus der Kraft, der Sonne. Und Alles wird zur Symphonie Unſer Chr Hat fi) an die Disfonanz gewöhnt. Sie „beleidigt nicht mehr. Wenn in noch fo geringem Maße: die Ahnung dieler Weltenſymphonie ſchwingt in unferem Dichten in blendenden Sonnenfarben. So gehen wir dem Neiche des Lichtes entgegen. In ihm werden wir endlid unfe“ „Beſtimmung“ finden und verjtehen lernen. „Nichts iſt herrlicher als die Sonne!

Straßburg. Rene Scidele | [ Wanderungen. Kommifiionverlag J. Littauer, München. Preis 3 Dir

Das Bud) ift mit der bekannten holtenſchen Type fehr ſchön auf echt Van Geldern gedruckt und wirkt auf jedem Büchertiſch vornehm; nament! wenn man es nicht aufichneidet. Sogenannter Buchſchmuck fehlt. Der Sc

Selbftanzeigen. 165

meines Buches ift die Drudanorbnung. Es enthält dreiundzwanzig Gedichte, barunter zwei längere epiſche. Bon ihnen erjcheinen mir heute drei lyriſche Ge- dichte gut, das eine epifche interejlant; von den Übrigen ſechs als gute Mittel- waare, dreizehn als mißlungen. Einzelne meiner freunde urtheilen anders. Wer wiſſen will, weſſen Urtheil richtig ift, muß das Buch nicht nur kaufen, ſondern auch aufjchneiden. Ich gebe hier nur noch ein Citat:

Was ift es, das ung in der Scheideſtunde

An diefen Blid auf Strom und Hügel bannt?

Was, das aus diefer Thäler ernfter Runde

Im Schweigen ung den Arm entgegenjpannt?

Die Sonne fintt, die Wolfen jtehn in Flammen, Aus grünen Tiefen eine Stimme raunt:

„Was zögert hr? Im Meer der Zeit entihwammen Die Stunden längit, die Ihr noch müd bejtaunt.

Seht bin, ſchon ſenken fi die Nebeljchatten, Seht hin, ſchon ſchwindet all die bunte Pracht, Seht, wie ſich Licht und Finſterniß begatten, Sie zeugen die geheimnißtrunfne Nadt.

Seht ſchweigend, geht! Was joll das matte Zaudern? Ihr ſchwindet aud, wie diejer Tag entſchwand“ ... Wir ftehn no immer, ftehn im großen Schaudern, Ich fühl’ in meiner Deine kalte Hand. Ä Münden. Felix Baul Greve. ' $ Die wiffenfhhaftlihen Brundlagen der Graphologie. Mit 31 Tafeln. Berlag von Guftav Fifcher, Jena 1901.

Zum erjten Mal werden hier in ftreng wiflenfchaftlicher Weife die Be: ziehungen zwiſchen Handjchrift und Charakter auseinandergejegt. Die Schreib- bewegung wird als eine Kombination von willfürlihen und umvillfürlichen Be- mwegungen dargeltellt. Wie in jeder Hantirung, fo fommt auch in ihr zunächit die individuelle Bewegungphyjiognomif zur Geltung: Ausgiebigfeit, Geſchwindig— feit, Nachdruck, Sleihmäßigkeit der Bewegung, rad des Spannungzujtandeg der Muskulatur, Neigung zur Stredung oder Beugung, Vorwiegen mehr ediger oder mehr abgerumdeter Bewegungformen u. |. w. Indem ic) nun zeige, wie bieje phyſiognomiſchen Eigenarten in der Handſchrift zur Fixation gelangen, und den Zuſammenhang zwiſchen ihnen und beitimmten Charaktereigenſchaften auf

ecke, gelingt es mir, damit eine wichtige Brüde zwiihen Handſchrift und Cha— alter herzuſtellen. Zur Veranſchaulichung diefer Ableitungen und zur Sicherung ver Beweisführung werden Schriften Getjtesfranfer aus gejunder und Eranter Zeit mit einander verglichen. Auch die mehr willfürlichen Faktoren, die die sorm der Schriftzüge beeinfluſſen, find bejtinmmten Geſetzen unterworfen. Dieſe beſonders die von den Piychologen gewonnenen Ergebniſſe über die Ab— ""ngigfeit des individuellen Formengeſchmackes von beſtimmten Charaftereigen- ſaften und eine Reihe fonjtiger Erwägungen dienen dazu, weitere hand»

166 Die Zukunft.

ſchriftliche Eigenarten dem wiſſenſchaftlichen Verſtändniß näher zu bringen. Bon

unbegründbaren Spekulationen unb von der in der Graphologie bisher herrichenden

Pjeudoempirie Habe ich mich ganz ferngehalten. Die Sprade iſt allen gebil-

deten Laien verſtändlich. Dr. Georg Meyer. *

's Re'ment. Verlag von Heinrich Minden, Dresden.

Kenn die alten des Ladens und Weinens ſich feiter ins Antlig des Menſchen einzugraben beginnen, erjcheint ihm die Jugend wie ein goldener Traum, von dem er gar gern nur eine kurze Spanne wieder fein eigen nennen möchte, je nachdem: um fie noch einmal zu durchlojten, oder, um fie beſſer auszunugen. Die Jugend denft leichter über Das, was fie hat, fie giebt ihre Zeit mit vollen Händen aus, ohne an Sparen zu denken, und vielleicht gerade deshalb tft die Jugend jo ſchön. Sie hat ja jo endlos vicl Seit; das ganze Leben mit all-feinen Bergen, Thälern und weiten Ebenen liegt ja noch vor ihr! So denken auch die jungen Vieutenants in meinem Roman, die Kameraden des „Re'ments“. Bon ihrem Jugendübermuth, ihren tollen Streichen handelt er. Aber auch von ihrem treuen Zujanımenhalten, von Freundſchaft bis zum Tode, von Heiliger und unheiliger Yiebe, von Genießen und Entjagen, von Sünde und Ueberwinden. Mir jchienen diefe kraftvolle Skrupellofigkeit und diefer Humor, dem nichts Heilig ijt, Doch auch dieſe einzigartige Kameradichaft und dieſer heilige Ernit, diele rüdfichtlofe Genußſucht neben kindlichem Frohſinn der Schilderung werth. Und zwar einer Schilderung ohne Vorurtheil, einer Tünftlerifchen Ge ftaltung „mit dem Anſchein äußerfter Naturwahrheit“, wie e3 einmal in dem Buche heißt. Ein Bilderbuch des Lebens in bunten Farben, lichten und düfteren, alferdings nur fir Große.

Zehlendorf. Felix Freiherr von Stenglin.

v

N Das Centralfartell.

8 artelle aller Brauchen, vereinigt Euch!" Dieſe Variante des weltberühmten "IX > Yeitfages, den Marx der internationalen Arbeiterorganijation auf ben Weg gab, konnte an den Wänden des berliner Saales prangen, in ben neulid) die Bertreter aller Unterncehmerverbände Deutjchlands berufen waren. Die jelben Leute, die ſonſt nicht laut genug gegen jede von Proletariern gefchaffene, bejlere Arbeitbedingungen anjtrebende Wereinigung weitern fonnten, bemühten fich hier, eine Stoalition der Iinternehmerverbände ins Leben zu rufen. Den Vorſitz führ

Herr „sende, der einjt im ſächſiſchen Minijtertum Gcheimer Finanzrath war ur

am eriten Mai nun aus der Leitung der Firma Krupp icheiden wird. Da

Dauptreferat war Herrn Bued anvertraut, den Generaljefretär des Central: verbandes Dentjcher Induſtrieller, den die Arbeiterpreffe mit dem jelben Red den bezahlten „Hetzer und Agitator” der Unternehmer nennt, mit dem dieſe Borwurf von ihn und feinen Leuten den Führern der Arbeiter entgegengejrhleude“ wird. Es war eine richtige Gewerkſchaftverſammlung; nur tagte fie nicht am Eng

Das Centratfertell. 167

*

ufer oder in der Prenzlauer Allee, ſondern am Wilhelmsplatz im Hotel Kaiſer— hof. Lind dem feinen Rahmen entiprach die bejondere Art diefer Gewerfichaft- mitglieder. Jeder Zoll ein Millionär. |

Im New-York Herald wurden nad) der Berfanmiung der Startellver: treter weitausfchauende Betradhtungen über den 3weck der Uebung angeftellt. Dieſer Zwed, hieß es da, fei ein gemeinfames Vorgehen aller Startelle gegen die Auslandskonkurrenz. Der Verfaſſer diejes viel bemerkten Artikels wandelt in - PDiorgans Spuren; er ficht vor feines Geiftes Auge ein Centralfartell, das weniger die nationale Produktion als vielmehr den gefammten nationalen Export leiten foll. Kein Wunder, daß im Kopf eines amerikanischen Journaliſten, der von einer Zu— fammentunft der Vertreter aller deutichen Kartelle hört, der Gedanke an fo groß- artige Pläne auftauchte. Aber diejer jpefulative Amerikaner überfchäßt die Kraft unierer Millionäre, die vorläufig ſolche Riejentransaftionen, wie fie einem Morgan möglich find, mit der Ausfiht auf Erfolg noch nicht wagen dürfen. Den Aus- länder mag in dem Einladungjchreiben ein Saß, deflen Grundgedanke in Buecks Reden mehrfach mwiederfehrte, zu feinem Irrglauben verführt haben. Da wurde nämlich gejagt: die geplante Bereinigung aller Syndikate jfolle die gemeinfamen Intereſſen aller Kartelle wahren. Nun fordert ohne ZIweifel ein großes, allen Kartellen gemeinjames Intereſſe, das Ventil des Erportes offen zu halten. Nur haben die Kartellherren bisher jich roch nie über die Mittel zu einigen vermocht, mit denen dieſes Ziel ihrer Schnfucht erreicht werden könnte. In Auffchwungs- zeiten ift allenfalls noch eine Einigung möglid. Als aber die erjten Syınptoine des Niederganges fihtbar wurden, brach die Erinnerung daran ift nod) friſch zwiſchen den Zyndilaten der einander ergänzenden Branchen. Kohle und Eijen jofert ein Streit über die Gewährung von Exportprämien und ähnlichen Vor» tbeiten aus. Die Kegijjeure der Verſammlung meinten mit den „allgemeinen Inter: efleu der Syndikate“ denn auch ganz andere Dinge. Der wirklide Zweck der taijerhöftichen Beranjtaltung giebt und das Recht, fie einen Gewerkſchaftkongreß der Unternehmer zu nennen. Nicht einen ausländijchen Feind galt der Kampf; eher ſah es aus, als jolle die Demonftration auf die eigene Negirung wirfen. Die Furcht vor dem Sartellgefeß hatte die Unternehmer nach Berlin getricben. - Den mädtigen Herren Icheint nach und nach die Ueberzeugung zu dämmern, daß die gejeßliche Regelung und Ueberwachung der Ktartelle fich zwar nod) eine Meile hinausſchieben, auf die Dauer aber nicht hindern läßt. Dieſe Gewißheit ijt im eriter Reihe wohl durch die Zuckerkonferenz gejchaffen worden. Deutſchland hat in Brüffel Vorfchlägen zugejtimmt, die, wenn fie vom Neichsteg angenommen werden, den Zuſammenbruch des Zuckerkartelles herbeiführen müjjen. Man weiß ja bei umjerer NRegirung nie, woran man ift; alle paar Wochen medjjelt der Kurs und in wirthichaftlicden Dingen find von Tag zu Tag die merkwürdigſten Wandlungen zu erwarten. Wielleicht jigen in der Negirung der verantwort— lichen, meine ich Yeute, die mit der ganzen Anbrunft ihres ſchutzzöllneriſchen Herzens beten, der Neichstag möge die brüjjeler Beſchlüſſe ablehnen. Vielleicht aber wird gerade jeßt, da der ‚Jude Ballin mit hohen Orden deforirt wird und der Kaiſer die Dändler Löwe, Arnhold und Bleichröder zu einer Nordfeefahrt eingeladen bat, mehr, al8 man glaubt, auf einen neuen Reichstag geredjnet, der die Hanbelsverträge annehmen und dem YZucerfartell das Lebenslicht ausblaſen

-

168 Die Zukunft.

foll. Jedenfalls ſchwebt das Kartell in Gefahr. Und diefe Gefahr muB alle Kartelle fchreden, weil jie zeigt, daß felbft in einem perjönlich regirten Staat wie Preußen die Klagen über eine rückſichtlos ausbeutende Kartellpolitif big an die höchfte Stelle gelangen können.

Der Eentralverband Deutſcher Induſtrieller ſcheint das Fürchten gelernt zu haben, trotzdem alles bisher Geſchehene dazu feinen Anlaß bietet. Graf Pojadowsfy hat Erhebungen über die Kartelle in Ausjicht geftellt und das Reichsamt des Innern hat auch wirflid die Bundesregirungen aufgefordert, ſich über die Entwidelung des SKartellweiens in ihren Neichsgebieten zu äußern. In allen Ländern, wo man die Löſung wirthſchaftlicher Probleme ernithaft ver fudt, in England und felbit in Amerika pflegt man in folden Fällen kontra⸗ diktorifche Engueten zu veranftalten. Die Einberufung des Wirthichaftlichen Ausſchuſſes hat, bei den Vorarbeiten zum Bolltarif, gezeigt, daß auch bei uns diejes Verfahren gewählt wird, wenn man den Schein gründliditer Sachlich⸗ feit wahren will. Ich weiß nicht, wie die vom Reichsamt des Innern gejtellte Trage in den anderen Bundesitaaten behandelt worden ift. In Preußen trat der Handelsminiiter und Unternehiner Möller in Aktion. Denn da das Reichsamt de3 Innern dem preußiichen Miniſterium nichts vorzufchreiben hat, muß man wohl annchmen, daß die gewählte Methodedem „hellen Kopf” bes Herrn Möller entjtamınt. Der Minifter veranftaltete nicht etwa eine Enquete; er wandte fi auch nicht an die Vertreter der Unternehmerfartelle, der Handelskorporationen und Gewerk— fhhaften, fondern an die Negirungpräjidenten, im Grunde alfo an die Polizei, die man in Preußen für wirthichaftlicde und foztalpolitiihe Erhebungen ja be- jonders gern in Anspruch zu nehmen pflegt. Ich "bin neugierig, das auf dieſem Wege gefammelte ſchätzbare Material kennen zu lernen. Den Kartellen wird es jedenfall3 nicht gefährlich werden; fie Haben in der Negirung noch immer gute, zuverläſſige Freunde und Herr Möller ift Fleiſch von ihrem Fleiſch. Um ſo merkwürdiger iſt die Kaiſerhof-Verſammlung. Muß man daraus nicht folgern, daß in der Regirung zwei Anſchauungen um die Herrſchaft ringen und daß die Kartellfreunde gethan haben, was man in der Verbrecherſprache „pfeifen“ nennt? Dieſe Freunde, die „Schmiere ſtanden“, könnten ja gepfiffen haben: „Gefahr im Verzug!“ Das wäre wenigſtens eine Erklärung der überraſchenden Demonſtration.

Intereſſant iſt die Art, wie ſich die Herren den Widerſtand gegen die Staatsgewalt ach nein: das Kartellgeſetz denken. Kann das Geſetz nun einmal nicht verhindert werden, ſo will man wenigſtens für eine möglichſt milde Form ſorgen, will man, wie in der Verſammlung ſo ſchön geſagt wurde, ver— ſuchen, „es mit den Intereſſen der Kartelle in Einklang zu bringen.“ Der Rede Sinn iſt nicht ſchwer zu verſtehen. Noch iſt ja unvergeſſen, daß einſt das Reichsamt des Innern zur Agitation für das Zuchthausgeſetz zwölftauſend Ma’ vom Centralverband Deutſcher Induſtrieller erbat. Der Centralverband ſel hat feine Agitation bisher aus eigenen Mitteln beſtritten. Sollten die für fol. Zwecke nöthigen Ausgaben jest jo groß gavorden fein, daß jie nur noch dur die vereinigten Millionen ſämmtlicher deutjchen Startelle gededt werden können Schon die erjten Schritte auf diefem abſchüſſigen Weg verdienen Beachtung.

Plutuß. ,

Theaternotizen. | 169

Theaternotizen.

BE „Zragoedie braver Leute“ Hat Herr Karl Schönherr jein einaftiges Drama „Die Bildfehniger” genannt. Auch auf jein neues, größer gedachtes Werk würde die Bezeichnung pafjen. An den fünf Akten des „Sonnwendtag“ lernen wir feinen ſchlechten Kerl kennen; lauter brave Leute. Wir find wicder im öfterreichijchen Tirol, in ber Heimath des jungen Dichters. Da lebt, in einem Wallfahrtdorf, der Mofnerbauer mit Frau und Mutter. Denen ifts jchlecht gegangen. Um Lichtmeß bat eine Schneelawine ihr Häuschen nebjt Stall und Bich in den Abgrund gerijien und den Vater, der im Altentheil jaß, getötet. Doc das tapfere Paar ließ ſich vom Schickſal nicht ummerfen. Der Bauer hat fein letztes Stüd Wald der Gemeinde verfauft und will von dem Erlös die Baukoſten der neuen Hütte zahlen. Er und fein Weib arbeiten von früh big ſpät und dürfen hoffen, dem Kind, das fie erwarten, ein ſchmales Behagen zu ſchaffen. Härter hats die Mutter getroffen. Ihr Troft ift der zweite unge, ber Haus. Dem hat der alte Dorfpfarrer ein Gemeindeftipendium ausgewirkt. Und jegt hat der Hans in der Stadt das Abiturienteneramen löblich be= ftanden und foll ins Priefterfeminar; jo Gott will, wird die Mutter ihn noch als Geiftlihen jehen. An diefe Hoffnung klammert ſich das fromme Weiblein, das fi auf der Kommode ein Hausaltärchen aus Pappe und Goldpapier errichtet bat, und ahnt nicht, daß der Hans in der Stadt dem Kinderglauben entfremdetivard. Wilde Reden hat er gehört, ſchlimme Mären von Pfaffengräueli; und die Luft am geiſtlichen Weſen haben Hunger und Schuljchinderei ihn ausgetrichben. Noch wagt er dad jchwere Bekenntuiß nicht, willder Mutter, die fo viel durchgemacht hat, nicht des legten Wunjches Erfüllung rauben; im Innerſten aber ift er entjchloffen, nicht Priejter zu werden. Nun fügt ih, daß am ſelben Sonnwendtag, der ihn zu kurzer Ferienraſt in die Heimath Führt, Pfaffenfeinde ins Dorf kommen, Radikale, die durch das Land ziehen, um die Unzufriedenen aus träger Ruhe zu ſcheuchen und eine neue Zeit vorzubereiten. Den Führer des Jugendfähnleins, den Jungreithmair, keunt Hans aus der Stadt. Ein ftarfer, harter Gefelle, der Weib und Kind daheim betteln läßt und ſich als Apoftel fühlt, als Diener gottlojer Wahrhaftigkeit, die den zagen Menfchen das Heil bringen joll. Die zeigen und Lauen will er rütteln, bis ihren der Muth wächſt, und das Sonmwendfeuer joll das leuchtende Zeichen fein, das die Schwachen aus frummen Gäßchen und niedrer Gewöhnung anf die Höhe ruft. Doc die fromme Gemeinde wehrt ſich gegen den Feind ihres Glau— bens; fein Fleckchen giebt der Semeinderath für das Sonnwendfeuer frei und feinen Dann, jo ſchwört der Dorftyrann, darfder A ufwiegler uns verführen. Zwiſchen den beiden Fanatismen ſteht ſchwankend Dans Nofuer. Er hat die Fremden auf jeine Dergivieje geführtumd jchleppt zur ihren Sonnwendfeuer ſelbſt Reiſig herbei. Da fällt ihn der Bruder mit Bitten ar. Wenn Hans nicht Priefter wird, muß die Familie dag Stipendium zurüdzahlen und das Kind des Nofnerbauern wird heimlos ge: boren werden. Daran foll Hans denken; auch an die Mutter, die der Schlag töten fann, und an Alles, was das gequälte Baar fchon gelitten hat. Bin und her wird der arme unge gezerrt. Mit den Freien möchte er gehen, den rüftigen Befreiern, die zum Kampf gegen Pfaffendruck und Dörigfeit rufen, und feinen Leuten doch, die jo viel für ihn thaten, das Schwerſte erijparen. Als Jungreithmair ihn einen Feigling nennt, der einer großen Sache nichts opfern wolle, wallt des Knaben Blut

170 Die Zukunft.

auf: er iſt nicht feig, er wird bleiben, mögen die Seinen zu Grunde gehen. In finnlofer Wuth erfchlägtihn der Bruder. Die Rofnerin Hält ſich aufredht; fie wird ihr Sind. aufzichen und warten, bis der Mann die Strafe ahgebüßt hat. Die Mutter jtcht thränenlos an der Bahre des Jungen, den der Aeltere ihr gemordet hat, und merft kaum, daß die Gendarmen ben Mörder fortführen. Nicht mit Menichen hadert fie: mr mit Gott; mit ihrem Gott, dem fie ein Leben lang treu gedient und der ihr Vertrauen fo getäufcht hat. Den Dann zuerſt und nun beide Kinder nahm er ihr. Langjam räunıt fie, auf wankenden Beinen, den ganzen Altarſchmuck ab: den friſchen Rosmarinftrauß, die fünftliden Blumenftöde, die Meffingleuchter mit det Wachs- ferzen, das Spigentucd, das den Bappaltar dedte, Dann löſcht fie das Oellichtlein im rothen Ampelglas, „ſetzt ſich nah dem geplünderten Altärden auf einen Stuhl, ftügt die zittrigen Hände auf den Srüftjtod und ftarrt mit weit offenen, grauen Augen ſtumpf vor ji) hin.“ Das tft das Ende... Lauter brave Leute ſahen wir, Zeute, die fich im Necht wähnten und um ihren Glauben rangen. Das kleine Bild eines eng begrenzten Kulturfampfes hat Perſpektive; es iſt das Werk eines itarfen, männlichen Zalentes. Im wiener Burgtheater, wo es zum erften Mal auf- geführt wurde, joll der Direktor, Herr Schlenther, den Dichter gezwungen haben, auf den fromme Gemüther ärgeruden Schluß zu verzichten. Das wäre ein echtes . Schlentherſtückchen, würdig eines Herrn, der, um verjorgt zu jein und ein ruhiges Leben zu haben, die früher jo laut bekannten Glaubensfäße in die Rumpellammer verpadt hat. Mit dem Schluß verliert da8 Drama feinen tiefjten Sinn; denn es ift die Tragoedie eines greifen Menſchenkindes, das die abjterbenden Wurzeln ftöhnend vom alten Glauben löſt. Man Soll den Namen Anzengrubers nit unnüßlich im Munde führen, Deren Schönherr nicht heute fchon dem einzigen großen Dramatifer vergleichen, der jeit Hebbels Tode im deutfchen Sprachgebiet lebte, Noch fehlt dem jungen Tiroler die Größe und ‚Freiheit der Weltauffaffung, noch ficht man feinen Menſchen nicht fo tief ing Herz wie denen des Meijters Ludwig und feinen Pathos bat der Humor Jich noch nicht gefellt. Aber er kaun viel, er fühlt, wo in der Heudhel- kultur unferer Tage die ſchmerzlichſten Konflikte zu finden find, und geitaltet fie mit dem Temperament eines in feiner Schule verfünmerten Dramatilers Er ift eine Hoffnung; und felix Austria mag fic) freuen, da ihr nad) dem feinen Stadtherrn Arthur Schnitzler nun dieſer kräftige Bauerndichter geboren ward. x

Im Deutschen Theater tft „Der Weg zum Licht“ aufgeführt worden; ein Märchendrama, das Herr Georg Dirjchfeld zu Schreiben für nötig hielt. Zum Licht führt der Weg Den, der jündigen Trieben entjagt hat. Der Sündenbegriff ijt hier nicht zu entbehren; denn wir find in der Couliſſenwelt judenchriſtlicher Vorftellungen. Dahngikl, ein ſchwarzelbiſcher z3werg, der im Allgemeinen ſalzburgiſchen Dialekt, in gefteigerter Stimmung aber hochdeutſche Verſe ſpricht, iſt ein weithin geichägter Juwelier. Er macht köſtliche Geſchmeide und hat einen Geheimfonds aufgefpeidhert, der ihm die hübjchen Weiber firren Joll. Aber die Wildfrauen wollen von ihm nichts wiſſen, troß den Stetten und Ringen und Mrmbändern aus Gold und Edelgeftein; er iſt gar zu häßlich. In diefem Wodansreih muß es ganz anders ausfchen als in der Menſchenwelt: für ein paar Brillanten fann bei uns der garftigjte Kommerzien: rath appetitliches Franenfleiſch kaufen, und wenn er ohne Sinauferei ind Zeug acht, ſchwören ihm ſchöne Theatermädchen vom eriten Fach, dab fie den Mann

Theaternotizen. 171

in ihm lieben. Herr Hahngikl hat es ſchlechter und ſehnt ſich mit allen Sinnen doch nach brünſtiger Wonne. Mama hat Mitleid mit ihm. Hier, ſagt ſie, iſt ein Tränklein, das Du der wunderſchönen ſiechen Tochter des Pfalzgrafen bei Rhein eingeben ſollſt, wenn ſie vorher gelobt, den Heilkünſtler bräutlich zu umfangen. Der Zwerg macht ſich auf den Weg. Die Grafentochter wird geſund, doch der Ritter, dem ſie ſich zum Weib gab, überredet Hahngikl zur Nazarenerentſagung. Das geht ſehr ſchnell. Aus dem Schwarzelb wird ein Lichtelb, aus dem verkrüppelten Zwerg ein ſchlanker Jüngling tm weißen Engelhemdchen, den die Wildfrauen gern auf ihr Lager lodten. Jetzt aber, two er die Liebe umjonft haben könnte, ift er gegen Aufech— tung gefeit... Das Stück ift fchnell entichwunden; daß es aufgeführt und zu Ende geipielt werden konnte, muB man im Gedächtniß bewahren. Nie tft ein talentlojeres Machwerf auf eine große Bühne gekommen. Der Grundgedante eine läppiſche Tri- vialität; feine Spur einer Märchenitimmung; feine aud) nur in Klaren Konturen gezeichnete Geſtalt; nicht einmal ein Theatereffekt. Und die Verſe! Herr Dirfchfeld fühlt das Bedürfniß, ein Baterunfer zu dichten, und läßt jein Pfalzgrafenpaar beten:

Unjer Bater Du im Simmel,

‚sa, Dein Name fei gepriefen.

Daß Dein Wille fi) auf Erden

Wie im Himmel groß envielen.

Daß Dein Neid) im Herzen währet,

Sieb ung Brot, bag ewig nähret!

Sieb uns Gnade vor Bericht

Und verfuch uns, Vater, nicht! Ein begabter Quartaner würde es beifer machen. Es iſt Schade um Herrn Hirschfeld. Jahr vor Jahr zeigt er, daß er nichts kann, nichts zu jagen hat und nur die eigene Familienmiſere nit leidlidem Gelingen zu Schildern vermochte. Nachgerade muß er jeibjt doc) empfinden, daß es Jo nicht weiter geht. Nielleicht dämmert ihm nach der neusten Niederlage im Schmeichlerfreis jeßt die Erkeuntniß. Der erite Zaß feines Märchens war ein Z3wergenſeufzer: „Wer mühte jich nicht umſunſt in ſeiner lieben Kunſt?“ Herr Hirschfeld ſollte ſich wirklich nicht länger umſunſt bemühen.

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“x

Bor ein paar Monaten, als Herr Coquelin zum erften Mal nach Berlin kam und ein Fräulein Tırrand de la Comeldie Franeaise mitbradhte, hieß es: Das aljo find die Sterne der berühmten Comedie? Die glänzen ja nicht jo hell wie unjere Couliſſengeſtirne. Fräulein Durand ift eine alternde Dame, die im Hauſe Mioliöres nie einen Rang hatte und feit Jahren mit der Hilfe eines ihr befreundeten Millionärs die zyrauenzeitung Ba Fronde berausgiebt. Sie ift weder als Spielerin noch als Journaliſtin der Rede werth: und daß lie hier in Rollen der Bartet aufzutreten wagte, beweiſt nur, wie gering der berlintiche Theatergeſchmackin Paris eingeſchätzt wird. Die erfahrene Dame hatte, bevor ſie ſich auf der Bühne zeigte, der Preſſe ein Chanipagner— frühſtück angerichtet und man muß es als eine rühmliche Veiſtung verzeichnen, daß ſie trotzdem ſänftiglich getadeltwurde. Immerhin wurde ihr dreiſter Verſuch nicht fo ſchroff abgelehnt, wie die Selbſtachtung einer Großſtadt es gefordert hätte. Jetzt ſpielen die Franzoſen im Neuen Theater Pofjen und wieder heißtes: So qut können wirs auch. Madame Cheirel vom Palais Royal jteht an der Spitze der Iruppe. Eine routinirte Spielerin von robnſter Yujtigfeit. Nein Menſch hält fie in Paris für einen star:

172 Die Zukunft.

und fie jpieltden Berlinern noch dazu Rollen vor, die fiein Paris nie geſpielt hat. Yon den guten parifer Komikern ift fein einziger mitgefonmen. Wozu alſo der Jubel darüber, daß unjere Mimen nicht noch Schledhteres leiften? Die Aufführungen, die Coquelin und Frau Cheirel ung boten, wären an der Seine nicht möglich. Da wird wirklich ſehr gut gejpielt, bei Antoine fogar bejjerals inirgend einem Schauſpiel⸗ haus mit modernem Repertoire. Die Anfzenirungen find forgfältiger und mit fichererem Geſchmack vorbereitet, als wirs je gewöhnt waren. Paris ift noch immer die Stadt der feinften Theaterfunit. Was wir zu fehen bekommen, ift Ichlechte qualit6 d’exportation, find zujammengewürfelte Truppen brotlojer Hiſtrionen. Am Hoftheater treibt eine franzöfifche Operngefellfchaft ihr Unmwejen. Die löb- lihe Generalintendanz fordert für diefe Aufführungen, die nad; allgemeinem Urtheil erbärmlich find, erhöhte Eintrittspreife und die Kritiker rufen wieber: Diele Börftellungen find mit denen unferes Opernhauſes nicht zu vergleichen. Ein Ver gleich würde doch erjt möglich, wein die Große oder die Komiſche Oper mit ihrem Enjemble aus Paris zu und kämen. Wer die Dleifterfinger, Carmen mit der Galo6 oder Charpentiers Louise die der Herr Graf von Hochberg noch immer nicht auf geführt hat drüben hörte und jah, weiß, daß dieje Borftellungen die Konkurrenz von Parvenupolis nicht zu ſcheuen haben. Uns aber fervirt ınan die Nefte. Sogar Herr Paulus, deſſen Slanz in Paris längft verblichen ift, darf hier als roi des chansonniers vorgeführt werden und die Berliner halten den alten Zingeltangler am Ende wirklich dafür. Der Werth einer Volkheit und einer Volkskultur wird nit durch ihre Theaterleijtungen beſtimmt und es ift feine Schande für Deutichland, wenn gejagt wird, daß die Franzoſen beffere Komoedianten haben. Statt aber nad) unzulänglichen Broben über den Rhein zu brüllen, daß wir auch in diefer Juduſtrie heute ben Wettbewerb wagen können, jollten die Wortführer deutfcher Kultur bie Nachbarn lieber daran erinnern, daß Minen, die in Bordeanr und Marfeille nur eben geduldet würden, für Berlin denn doch nicht gut genug find. Auch die franzöfifchen Stürfe werden Häufig ganz falfch beurtheilt, weil man nicht nach ihrer Herkunft Fragt. In den Folies Dramatiques, einem Borftadttheater, dag der Tsremde faum kennen lernt, wird von galliſchen Spaßmachern die Poſſe Le billet de logementaufgeführt. Der Direktor Yautenburg läßt fie Schlecht und recht überfegen, die Cenſur tilgt die ſaftigſten Zoten, und als der entftellte LIE unter dem Titel „Einguartirung“ auf der Bühne des Kefidenztheaters erjcheint, runzeln weile Männer ob der Entartung des Naudeville die Denkerſtirn. Dem einſt fo Iuftigen Genre geht es jetzt wirflid idhlecdht; immerhin jollte man nicht vergeifen, daß die meiften Exemplare, die und gezeigt werden, von ganz Heinen Bühnen ftammen, von Bühnen im Rang unferes Thalia-, Metropol: und Herrnfeld- Theaters. Der Import folder Waare ijt über- flüſſig; fo wertvoll wie der Stleine Kohn und der all Blumentopf find aber ſelbſt die ſchlechteſten pariſer Schwänke. Was würden wir jagen, wenn die Römer ihnen zugedachte Werk des Herrn Eberlein als Beweis für den Tiefjtand deut Plaſtikerkunſt nähmen und dem Kanye, dem Klinger lebt, höhniſch zuriefen: © können wir beſſer? Genan jo ungerecht aber urtheilen wir, wenn wir ung höhe Bühnenkunfttultur rühmen, weil uns fajt immer mur die albernften Stüde und aus gedienten Bretter helden Lutetias is vorgeführt werden.

Herausgeber und ‚verantwortlicher Redat. eur; m. Harden in Yeriin. Weulag der Zufunft i in FY Druck von Abert Danıde in Berlin: Schöncbirg.

. Berlin, den 5. Mai 1902.

rn

{2 Univerfität und Ratholizismus.

Re ein philoſophiſch umd hiſtoriſch gebildeter proteftantifcher Theologe: wie Rißto die Gründung des römifchen Papſtthumes bedauert, fo ber deutet Das einen Rüdjhritt, den ich bedaure. Daß auf dem Boden der alten Kirche die Ueberwindung der auguſtiniſchen Auffaſſung der Weltgefchichte nicht möglich war, gehört zu den Dingen, die den großen Abfall notwendig gemacht haben, der den Namen einer Kirchenreform nur in fehr beſchränltem Sinne verdient, und es ift ein unfterblicher Ruhmestitel der proteftantifchen Wiſſenſchaft, daß fie daS BVerftändnig der Weltgefchichte erfchloffen hat; ein Nuhmestitel der proteftantifchen Wiffenichaft, nicht etwa der Reformation, die nur Chriftus und Belial ein chassd-eroisd vollziehen lieg. Nachdem Leſſing und Herder die lebendigen Kräfte der hiſtoriſchen Entwidelung aufs gededt hatten, haben Gefchichtfchreiber wie Johannes von Müller, Friedrich von NRaumer, Heinrich Leo, die beiden Menzel, Giefebrecht (auch Ranke darf man wegen der Einleitung zu feiner Deutichen Gefchichte im Zeitalter der Reformation hierher rechnen) dem Mittelalter und dem Papfttyum gerecht zu werden und Beide als Hiftorifche Nothwendigkeiten begreiflich zu machen verftanden; fogar die proteftantifche Kirchengeſchichtſchreibung hat Das, wie Kari Hafe beweift, vermocht. Und populäre allgemeine Weligefchichten haben, von ber Becers bis zu der neuften von Spamer, die, vernünftige Auffaffung zum Gemeingut der Gebildeten gemacht. Dürfte man die Rüdtehr Liskos auf den Standpunft der Centuriatoren als die perfönliche Verirrung eines Einzelnen, im Uebrigen verdienten Gelehrten anfehen, fo wäre darüber weiter sin Wort zu verlieren. Leider aber ſcheint fie Symptom einer Mafjens

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174 Die Zuhmtt.

bewegung zu fein. Bon anderen Symptomen, die ich feit Jahren beobadptet babe, nenne ich nur zwei. Zunächſt, daß ein Philofoph von der Bebentung Paulſens das werthlofe Buch von Hoensbroech, bas die Skandalchronik des Papft⸗ thumes für deſſen Gefchichte ausgiebt, in der wiener „Zeit” empfiehlt. Und ein zweites, viel wichtigered Symptom war die von Mommſen in Fluß gebrachte Profefforenbewegung. Die hat ja num der Serausgeber der „Zukunft“ ganz in meinem Sinne behandelt. Höchitens würde ich noch daran erinnert haben, daß kein proteftantifcher Profeffor an ber ftatutenmäßigen Konfefjionalität der Univerfitäten Noftod, Halle und Königsberg Anftoß zu nehmen fheint, und einige weitere Proben von Vorausſetzungloſigkeit beigefügt haben, zum Bei fpiel die folgende. Die pefitmiftifche Weltauffaffung ift zmeifello8 wifien Thaftlich berechtigt. Sie wird manchem „Borausfegunglofen* durch die Er: fahrung aufgedrängt. Nun kann nicht Jeder gleih Schopenhauer die bittere Pille des Peſſimismus dadurch genießbarer machen, daß er fie, in ein gutes Diner gehüllt, Hinunterfchludt; und die Umftälpung des eubämoniftifchen Peſſimismus in den evolutioniftifchen Optimismus bei Hartmann ift weiter nichts als eine verblümte Verleugnung des Peſſimismus, alfo für den echten Peſſimiſten gar nicht vorhanden. Die unabweisbare Konfequenz bes Peſſi⸗ mismus hat jüngft ein Mann gezogen (ihn nennen, hieße, eine Denunziation verüben), der lehrt: fittlich böfe ift jede Zeugung und jede Handlung, bie zur Zeugung führt, jittlih gut ift Alles, was der Zeugung vorbeugt, Alles, was Leben vernichtet und die Entftehung neuen Rebens verhindert. Wenn diefer Dann fi Habilitiren will und die Regirung ihm felbftverftändlich den Zutritt zum Lehrftuhl verfchließt: werden da die Profeſſoren entrüftet pros teftiren? Harden erwähnt in feinen Professores Julius Wolf und Rein⸗ hold im Öegenfag zu Sombart, Schmoller und Wagner. Das follte Einen, der das Material beifammen hätte, zu einer umfaflenden hiftorifchen Arbeit veranlaffen. Seit beinahe zehn Jahren wird von fehr einflußreichen Leuten im Reichs- und Landtag und in der Prefje gegen die „Scathederfozialiften“ gehegt. Zwar ift fchon der Name eine Tüge, denn Keiner ber Männer, bie man meint, ift Sozialiſt; und Brentano, Schulze-Gaevernig, Wagner, Schmoller, Sombart vertreten fo verfchiedene Richtungen, daß es einfach Uninn ift, fie mit einer gemeinfamen Bezeichnung zufammenzuloppeln; aber Feder von ihnen hat irgend einmal irgend Etwas gefagt, was irgend ei--— Unternehmer nicht paßte, und die Regirung ift feit Fahren Öffentlich gedr‘ worden, die fogenannten Kathederfozialiften durch) Männer zu erjegen,

fich bereit finden würden, eine dem augenblidlichen Intereſſe einer kle Unternehmergruppe dienende Nationalölonomie und Sozialwiſſenſchaft tragen. Haben Das die Profefforen nicht als einen Angriff auf die Fr. der Willenfchaft empfunden? E3 fcheint nicht; in der Deffentlichleit wenigf

hat man nichts davon gefpärt.

. Univerfittät und Katholizismus. 175

Das Kläüngelweſen ber Univerjitäten ift feit Sahren fo oft von un: glüdlichen Privatdozenten bejammert und in der Deffentlichkeit verfpottet worben, daß die Herren Ordinarii eigentlich einen Ausbruch allgemeiner Heiter: feit befürchten mußten, wenn fie als die Ritter der Borausfegunglofigfeit in die Arena herabftiegen. Aber freilich: in diefem Fall waren fie ziemlich ficher vor Spott; wenn die Freiheit der Wiffenfchaft fo viel bedeutet wie den Ausflug der Katholifen von alademifchen Aemtern, dann jubelt die liberale Preffe Jedem zu, der fie auf feine Fahne fchreibt, und auch die konſer⸗ vative legt vorfichtig ein gutes Wort für die Freiheit ein. Am Kiebften möchte man die Katholiken nicht blos von den Univerfitäten, fondern aus der ganzen Gelehrtenrepublit ausfchliehen. - Als ich vor einem Vierteljahr: hundert einmal im altkatholifchen Deutjchen Merkur fagte, katholiſche Ge- lehrte fanden nur, fo weit und fo lange fie ſich als Sturmböde gegen Rom gebrauchen ließen, bei der proteftantifchen Gelehrtenwelt Anerkennung, ihre pofitiven Leiftungen aber ignorire man, da rief mein Freund Max Loßen, der das gelehrte Zunftwefen genauer kannte als ih: Das war gut! Das mußte endlich einmal gefagt werden! Der Rüdfall der proteftantifchen Gelehrten: welt in die Parteilichkeit, die mit Hilfe der Philofophie und des Hiftorifchen Dnellenftudiums fehon überwunden war, hat mancherlei Urſachen, von denen nur drei angedeutet werden follen. Segel hat die Objektivität zwar gefördert, aber ihr eine Falle geftellt, indem er jede große hiſtoriſche Erfcheinung nur für einen beftimmten Zeitabſchnitt vernänftig fein läßt, dann aber forkert, daß fie in ihrer Nachfolgerin aufgehoben werte. In Wirklichkeit verläuft die Entwidelung weder in der Natur noch in der Gefchichte fo, dat immer Eins das Andere verdrängte, fondern das Neue ftellt ſich neben das fortbeftehende Alte, aus dem es geboren ift, und gerade im der wachjenden Mannichfaltig— feit und Fülle, die fo entfteht, hat man den Fortfchritt zu ſuchen, wenn es denn durchaus einen geben fol. Aber die hegelifch gerichteten Geifter er: warteten, daß das Mittelalter, dem man fein echt gegönnt hatte, fih nun begraben lafjen werde, und wurden tief verſtimmt durch feine Anferftehung in der Romantil. Und die Auferftandenen beeilten fi, den protejtantijchen Unwillen zu rechrfertigen, indem fie beim vernünftigen Katholizismus der Sailer, Hirfcher und Möhler nicht ftehen blieben, fondern zur Vigotterie,

m graffeften Aberglauben, zum Yanatismus, zur mittelalterlicien Philo— bie fort oder vielmehr zurüdichritten und die Stataftrophe von 1870 her: führten, die den vernünftigen Katholizismus in Deutjchland vorläufig undtot machte. Diefe verderblihe Richtung des Neufatholizismmd zu bes npfen, war die protejtantifche Gelehrtenwelt fogar verpflichtet; aber für en Siegespreis von zweifelhaften Werth ihre Foftbarfte Errungenfcaft,

objektive Auffaffung der Weltgefchichte, preiszugeben: Das war nicht Flug.

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176 Die Zukunft.

Damit tauſchte man für den zweifelhaften Sieg einen unzweifelhaften Ber- luſt ein, denn jene Auffaflung der Weltgefchichte preisgeben, heißt, bie ſchon gefhlagene Brüde zur Verſtändigung zwiſchen den Koufeſſionen abbrechen, die da8 Element der Schwächung Deutſchlands in ein Element der Kraft verwandeln würde; eine Vielheit ber Sonfeffionen ift am fih ja geifliger Reichthum und baher eine Kraftquelle. Und indem man die Katholiken von den Univerfitäten ausſchließt, verfperrt man ihnen die einzigen Orte, an denen fi die Verjtändigung vollziehen kann und an denen. jie fich vor fünfzig Jahren ſchon bis zu einem gewiflen Grade vollzogen hate

Dei diefer Ausſchließnng wirkt nun freilich ein fehr ſiarker Beweg grund mit, der, aus einer dem wiflenfchaftlichen Intereſſe ganz fern liegenden Gegend flammt. In meinen Lebenserinnerungen babe ich berichtet, wit unbequem den Proteftanten vor fünfzig Jahren die damals entftehende Emanzipation der Katholifen geworden ift; denn als folche darf man bie Bewegung bezeichnen, die gegen ben grumdfäglicen und thatfächlichen Aus: ſchluß der Katholifen von Staats: und &emeinbeämtern gerichtet war. „Selbſtverſtändlich“, fage ich dort, „waren die Proteftanten von dieſer neuen Erfoheinung nicht8 weniger als erbaut. Auch bei ihnen handelte es ſich feinesmeg3 blos um das lautere Evangelium oder auch nur um bie Auf:

Härung, fondern um die Behauptung der errımgenen geiftigen und fozialen

Uebermacht und um das Aemtermonopol. Gewiß hat jih Das feine ber beiden Parteien eingeftanden (Das wäre mit Beziehung auf die heutige Univeriitätfrage ins Präfens zu überfegen); fie kämpften aufrichtig eime jede für Das, was fie die Wahrheit nannte, aber unbewußt wirken jene fozialen, politifchen und materiellen Rüdjichten ſehr fräftig mit in den Kämpfen um religiöfe wie um weltliche Grundfäge und Ideen. Ueber ein paar Konvertiten freut ſich natürlich jede SKirchengemeinfchaft; aber wenn fich eines fchönen Tages fämmtliche deutſchen Katholiken zum Eintritt in bie evangeliſche Landeskirche Preußens meldeten, fo würden ſich die Proteftanten nicht weniger unangenehm überrafcht fühlen al3 etwa die franzöſiſchen Republikaner durch die Belehrung fämmtlicher Mionardiften zum Republikanismus, die fie zwingen würde, mit der allen Franzofen offen ftehenden Republik (fo Iautete vor ſechs Fahren die herrfchende Phrafe) Ernſt zu machen, indem fie ihnen den haupt: fählichften Vorwand zur Beſchränkung der Konkurrenz um die höher Staatsämter raubte.*

Die grundfäglichen Bedenken gegen die Zulaflung von Katholifen ; den alademifchen Lehrftühlen hat Harden fchlagend widerlegt. Weil abı diefe Bedenken, namentlich feit 1870, nicht ganz unbegrändet find, ift nothwendig, genau anzugeben, wie weit in diefem Gebiete die &leichberechtigun der Katholiten geht und wie weit ihre wiflenfchaftliche Freiheit wirklich du

Univerfität und Katholizismus. 177

iären Glauben eingefchränft wird. In den Naturwifienfchaften find Koflifionen zwifchen Glauben und Wiſſenſchaft gar nicht möglich. Die Berfolgung Galileis ift von den Vertretern der ariftotelifchen Philoſophie ausgegangen . und diefe kann nicht mehr lebendig werden, alfo auch die Kirche nicht mehr beherrfchen. In dem Kampf zwifchen den gläubigen Chriften und einigen Bertretern der Naturwifienfchaften handelt es fich nicht um Phyſik, Chemie, Phyſiologie, Aftronomie oder irgend eine exalte Wiſſenſchaft, fondern um Hypotheſen, und zwar um folche zweiter und britter Ordnung. Die Atom⸗ lehre nenne ich eine Hypotheſe erfter Ordnung, weil fie unentbehrlich und ihre Zuverläſſigkeit durch das Ergeriment erwieſen if. Und nur fo meit, wie da8 Experiment reicht, reicht die exakte Wiffenfchaft; die Atomlehre bleibt Hypothefe und kann niemals felbft exakte Wiflenfchaft werden. Vom erlenntniß⸗ theoretifchen Standpunkt aus gehört das Atom in die felbe Kategorie der unwahrnehmbaren, unvorftelbaren und unertennbaren Dinge, der auch Gott angehört. Die biologischen Hypothefen aber find Hypothefen zweiter Ordnung, weil ihre Berwendbarkeit zur Erklärung der Erfcheinungen noch nicht durch das Erperiment nachgewiefen if. Sie in ihrer jegigen Form anzunehmen, verbietet die erafte Wiflenfchaft, denn auf Grund von Thatfachen haben viele religiös gar nicht voreingenommene Forſcher gegen fie proteftirt, von Karl Ernjt von Baer, dem Begründer der Embryologie, anzufangen bis auf die Zoologen und Botaniker Eimer, Driefch und Reinke. Nur gegen bie Geftalt haben fie proteflict, die Darwin, Haedel und Weismann der Entwidelung: fehre gegeben haben; dieje felbit it fo alt wie die Philofophie und als den Regulator des Entwidelungprozefies haben ſchon Entpedofles und Epikur die Ausleſe durch das Weberleben bes am Belten Angepaßten erfannt. Noch) weiter von der exakten Wiffenfchaft entfernt und daher als Hypothefe dritter Ordnung zu bezeichnen ift die Anficht, daß der Prozeß ohne eine leitende Antelligenz verlaufe. Diefe Anficht hat Niemand entjchiedener zurückgewieſen al3 Hartmannn, der fcharfiinnigfte aller Denker, die nach Kant gelebt haben. Wenn alfo die katholifchen Gelehrten diefe Hypotheſen ablehnen, fo ift Das fein Grund, fie von den Lehrftühlen der Biologie auszufchlichen. Ob fie fie aus religiöfen Gründen ablehnen? Dana zu fragen, hat man fein Recht, weil die wiſſenſchaftlichen egengründe zur Ablehnung hinreichen. Wie der Kirchenglaube da8 Studium der Philologie beeinträchtigen fol, ift nicht einzufehen. Das Selbe gilt von allen Staatswiſſenſchaften; wie follte die Finanzwiffenichaft, die Statiftif, die Nationalölonomie mit einem Dogma follidiven können? Wenn ein gläubiger Chriſt aus Weligiofität ich weigert, bie Selbftfuht als die einzige wirthichaftliche Tugend, das Hecht des Stärkeren und die Berechtigung der Staatsallmacht anzuerkennen, fo ift er theoretiſch nicht zu widerlegen und dient praftifc der Freiheit. Daß unfere Rechts-

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178 Die Zukunft.

pflege von ihrer Schönheit Etwas einbüßen lönnte, wenn fi) Katholiken in ftärlerem Maße an der Rechtswiſſenſchaft betheiligten, glaubt doc wohl Niemand. Was die Philofophie betrifft, fo läßt man ja wohl jeden Kandidaten durch⸗ fallen, der die vorhandenen Syſteme nicht richtig darzuftellen vermag; ein eigenes Syſtem zu erfinden, ift zum Glück fein Ordinarius verpflichtet, und daß der Fatholifche Philoſoph alle Syiteme widerlegt, kann darum nicht haben, weil ohnehin jeder Philofoph alle feine Vorgänger wiberlegt. Die Logik ift der einzige exakte Theil der Philofophie, und die ift gerade die ſtarke Seite der fcholaftifchen und der jefuitifchen Philoſophie. In der Pſychologie freilich ift vom Erbfündendogma ein ungünftiger Einfluß zu befürchten, aber Das gilt den Lutheranern gegenüber eıft recht; fogar Kant hat ein radifal Böfes angenommen.

Ernſtliche Schwierigkeiten ergeben ſich nur auf zwei Gebieten. Eine Profeſſur der neueren deutſchen Literatur follte man einem Katholiken wicht einräumen, denn der Gefahr darf man beutfche Junglinge nicht ausſetzen, daß ihnen von unſeren Großen Zerrbilder gezeigt werden, wie fie der Pater Baumgarten 8. J. gemalt hat. Und die Univerſalgeſchichte vorzutragen, iſt ein gläubiger Katholik nicht fähig; er kann aus dem Rahmen der Civitas Dei und der Civitas diaboli, in den Auguſtinus den Weltlauf eingeſperrt hat, nicht heraus. Dagegen ſind katholiſche Dozenten der Partikulargeſchichten zur Ergänzung und Berichtigung einſeitig proteſtantiſcher Darſtellungen nicht allein für die katholiſchen Studenten, fondern auch für die proleſtantiſchen geradezu nothwendig. Es ift eben nicht wahr, daß die reine unbefangene MWahrheitliebe (Borausfegunglofigkeit ift Unfinn) in der proteftantifchen Ge⸗ ſchichtwiſſenſchaft allgemein herrfche; e8 giebt, um nur Eins anzuführen und von der gefährlichen Neformationgefhichte ganz zu fchweigen, kleindeutſche Geſchichtbaumeiſter und Hofhiftoriographen. Daß Solchen, zu denen Übrigens fomifcher Weife auh Spahn zu gehören fcheint, katholiſche Hiftorifer groß- beutfcher Richtung an die Seite treten, muß im Intereſſe der unparteiifchen Wiſſenſchaft dringend gewünfcht werden. Hier wird der Konfeflionalismus und Antiboruffianismug Pflicht, denn die zwei einfeitigen Bilder, die von den beiden Parteien gemalt werden, geben erſt zufammen das richtige Bild. Und wenn die Regirung den Klüngel, der feine Katholiken hineinläßt, durch: bricht, fo erfüllt fie nicht allein die Pflicht der Gerechtigfeit gegen ihr⸗ fatholifchen Unterthanen, fondern dient auch der Freiheit der Wiſſenſcha Wie in der Politik, fo wird aud in der Wiſſenſchaft die Freiheit niemal verbürgt durch die Parteien, die den ſchönen Namen des Himmelshildes ihrem Barteinamen wählen, fondern nur durch eine Vielheit der Parteie die e8 jeder einzelnen unmöglich macht, die übrigen zu unterbrüden. We. in Straßburg unter jiebenzig Profefforen nur vier fatholifche find, fo_kan

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Univerfität und Katholizismus. | 179

Das nicht von der Fatholifchen Inferiorität fommen; fo arg ift die wirklich nidt. In Breslau find eine geraume Zeit hindurch Jahr für Jahr bie Preisaufgaben der evangelifchen theologischen Fakultät von fatholifchen Theologen gelöft und die Bearbeiter des Preifes würdig gefunden worden. Sofern die Inferiorität in dem geringeren Prozentfag der Studirenden befteht, rührt fie daher, daß die Katholiken durchſchnittlich ärmer find als die Proteftanten (während die Juden reicher und baher an ben höheren Lehranftalten mit dem höchſten Brogentfag vertreten find); daneben aber ift gerade die geringe Ausficht, bie fie im Staatsdienſt hatten jet fcheint es ja damit beffer zu werben —, daran ſchuld. Wenn wenige Juden Philologie ftudiren, fo beweilt Das doc) nicht, daß die Juden kein Talent für Sprachen hätten, fondern ift nur Yolge des Umftandes, daß fie feine Ausficht haben, an Gymnaſien angeftellt zu werden. Damit will ich nicht Teugnen, daß die zur Herrichaft gelangte ultramontane Richtung und die wachſende geiftige Abfperrung den deutfchen Katholifen eine Menge Bildungquellen verfchloffen, ihren Geſichtskreis verengt und dadurch wirklich eine gewiſſe Inferiorität verfehuldet haben.

Im „Vorwärts“ wurde vor ein paar Monaten gegen ben Inder ges wüthet und dabei gejagt: „In einer Zeit, da man im Bolfe der Dichter und Denker jih anſchickt, dem Centrum, der regirenden Partei, zu Liebe die Univerfitäten zu Klerifalifiren, ift e8 ganz nüßlih, daran zu erinnern, wie die katholiſche Kirche das Recht der Geiftesfreiheit hHandhabt.* Die Klerikali- firung ber Univerfitäten ift ein Unjinn, über den man achjelzudend hinweg— fieht. Was jedoch das Inſtitut des Inder anbetrifft, fo jind ja die römiſchen Monfignori zur Benrtheilung deutfcher Geiftesprodufte ungefähr fo befühigt wie berliner Schugmänner zur Genfur von Werfen der bildenden und der redenden Künfte; aber gegen das Juftitut felbft ift nichts einzuwenden. Es geht aus dem Triebe der Selbfterhaltung hervor, ber jedem Gefellichaft: organismug innewohnt. Evangelifche Pfarrer pflegen ihren Konfirmanden nicht die Recture von Möhlers Symbolif oder Döllingers Reformationgefchichte zu empfehlen und die Sozialdemokraten legen in ihren Vereinshäuſern wahr- fcheinlich weder die Kölnische Volkszeitung noch den Reichsboten aus. “Die päpftliche Inderfongregation thut ganz das Selbe, was der preußifche Staat thut, wenn er den deutfchen Boccaccio verbietet und alle Schriften, die geeignet find, in der Maſſe Zweifel an der Vortrefflichkeit der preußifchen Negirung - und der preußiſchen Staatseinrichtungen zu erregen. Nur ein Unterfchied befteht: der preußifche Staat kann ſeine Verbote in einem gewiſſen Maße durchführen; er vernichtet alle verbotenen Drudjchriften, deren er habhaft wird, und hält von feinen Kaſernen fogar viele nicht verbotene fern; die Inderkongregation dagegen hat feine Erekutivgewalt. Eben deshalb Tann fie

...——n.

Ah dad Vergnügen geftatten, Alles und Jedes auf den Inder zu fegen, weil

180 Die Zutunft. °

fie weiß, daß ihr Verbot praftifch werthlos und ein tein alaben iſt, deffen beliebige Ausdehnung ihr nicht ſchadet. Die Cenfur des

dagegen ift wirkſam und daher muß fie ſich innerhalb der Grenzen in denen fie durchgefegt werden fann. Die Negirung würde fehr gern

Hälfte aller modernen Romane, alle ſozialdemokratiſchen und etliche —— Zeitungen nebſt vielen ſozialiſtiſchen Büchern verbieten, einſchließlich derer , von Fichte, für ben der Herr. Reichstanzler ohne jegliche Gefahr öffentlich ſchwaärmen darf, weil er weiß, daß fein Menſch mehr dem alten Johann Gottlieb lieſt. Aber ſolche Herzenswänjche müffen unbefriedigt bleiben, weil bie Regirung zu einer fo durchgreiſenden Neinigung ber Borrathöfammern bes Nutrimentum epiritus die Macht nicht hat, fo daß fie ich durch eimen Inder vom Umfange des römifcen blamiren würde, Wenn man fagt, dem Papft erfegten Kanzel und Beichtſtuhl die Erelutivgewalt, jo kennt man die twirflihen Zuftände nicht. Die Geiftlichen donnern wohl zumeilen gegen |, die ſchlechte Preffe und warnen davor; aber daß ein Beichtvater fragte, ob der Bönitent Kant oder Hegel oder Ronffenu gelefen habe, durfte ſchwerlich vorfommen. Mid; hat nie ein Beichtvater danach gefragt und ich habe mie an einen Pönitenten ſolche Fragen gerichtet. Gleich nachdem ich meine exfte Kaplanftelle bezogen hatte, habe ih um Dispens vom Juderderbot gebeten, fie umgehend in einem freundlichen Brivatichreiben des bifchöflichen Offigials erhalten und von diefer Stunde an Alles gelefen, was ich zu leſen Luft hatte, Das latholiſche Bolt würde vom Inder gar nichts wiffen ohme die profeftan: tifhe und altkatholifhe Polemik dagegen. Für den Univerfitätlehrer verfteht ſich der Dispens von felbft; das Inderverbot eriftiet gar nicht für ihm. Er belommt ben Inder nicht offiziell zugeſchidt und ift gar nicht verpflichtet, zu wiffen, welche Bücher darin ſtehen. Erfährt er es zufällig, fo fann er ja in einen Gewiſſenskonflikt gerathen, wenn er nämlich die Anfichten eines ver= pönten Autors theilt. Sichtbar werden wird der Konflit nur in den alle feltenften Fällen, denn bazu gehören zwei Bedingungen: der Mann muf bie . verpönte Anſicht öffentlich vertreten haben und er muß Priefter fein, was außerhalb ber theologifchen Fakultät fait niemals der Fall iſt. Ein tonflikt iſt ja nun freilich ſchlimm genug, für Den, der hineingeräth; aber für die Freiheit der Wiſſenſchaft find die Gewiffenstonflitte weit verhängmißz voller, in die eine der Staatsregirung mihfällige Ueberzeugung verwidel Was der Ueberzeugungtreue in einem ſolchen Falle zu thun hat, ift I

und Harden hat es am Schluß feines Artikels ausgeſprochen; bie Frei

ift eben eine Göttin, die gleih den Göttern Epikurs im feinem Kosmo)

fondern nur in den Intermundien Raum findet; ins Praktifche überfegt

wer frei fein will, muß auf jedes Amt, auf jedes fichere Brot verzichten.

Neiffe. Karl Ientfh.

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| Milchkrieg. 181 Milchkrieg.

5" Jahrzehnt 1870 big 1880 betrug der ben märkifchen Milchproduzenten vom berliner Mitchhandel gezahlte Preis fünfzehn bis fechzehn Pfennige für das Kiter frei Berlin. Mit diefem Preis konnte der Produzent gut aus- fommen, fo gut, daß noch Fein ernftlicher Wiberftand erwuchs, als die ver- bündeten Händler begannen, den Preis um einen Pfennig, dann um zwei Pfennige herabzubrüden. Aber der Handel blieb dabei nicht ftehen, jondern ermäßigte, je nach den Konjunkturen und Yutterernten mehr oder weniger gierig, bei neuen Abfchlüffen den Preis immer wieder um einen DViertel-, halben oder ganzen Pfennig, bis fo im Jahre 1899 der Tiefftand von elf Pfennigen frei Berlin erreiht war. Daß inzwifchen bie Koften der Milch- produktion durch Steigerung der Tuttermittelpreife und der Löhne ſich erheb- (ich erhöht hatten, ift befannt. Zum Vergleich fei hier nur bemerkt, daß die Produzenten, um einen ähnlichen Bortheil zu haben, wie ihn der Preis von fünfzehn Pfennigen vor zwanzig Jahren übrig ließ, heute etwa fiebenzehn Pfennige dafür einnehmen müßten.

Der berliner Konfument hat aus der vom Händlerthum bewirkten Preisfenkung einen Vortheil nicht gezogen. Zum Beweis dafür kann an bie Wiſſenſchaft der berliner Hausfrauen appellirt werden: fie haben in ben legten Jahren genau fo, je nach der Stadtgegend, 18 bis 20 Pfennige für das Liter Milch bezahlt wie vor zwanzig Jahren fchon. Aber fie jind bei diefem gleich hohen Preife vielfach noch infofern übervortheilt worden, als ein großer Theil der Milchhändler zuletzt nicht mehr Vollmilch, ſondern nur Halbmild lieferte. Das heißt: Milch, die durch Zufag entiprechender Mengen entrahmter Milch (Magermildh) fo weit „verlängert“ worden war, daß der Feitgehalt, der bei unverfälfchter Milch zwifchen 2,7 und etwa 3,5 ſchwankt, bi8 auf 2 Pros zent herabgedrüdt war. So konnte ein Händler, der Vollmilch mit 3,5 Fett für elf Pfennige vom Bauern kaufte, durch Zufag eines Drittels Magermilch, die fünf Pfennige koſtet, fich eine Milch herftellen, die noch reichlich 2 Prozent Bett hatte, aljo als Vollmilch für 18 bis 20 Pfennige untergefchoben werden fonnte, ihn aber in Folge jener Manipulation nur etwa neun Pfennige koſtete. Die Milcheentrale hat im vorigen Sommer in 1800 berliner Milch- geichäften 3660 Milchproben angelauft, von denen fich bei der Unterfuchung duch die gerichtlichen Sachverſtändigen 2912 Proben als in der eben ge- Ichilderten Weife verfälfcht erwiejen haben. Die Händler haben, als bie Milchcentrale diefe Thatſache veröffentlichte, furchtbar gelärmt und gedroht, den Leiter der Gentrale ob folcher Berleumdung vor den Staatsanwalt zu "ringen. Aber obwohl die Bofjische Zeitung inzwifchen fehr oft an diefe

strafanträge fogar unter der Androhung erinnert hat, fie werde, wenn fie 14

182 Die Zukunft.

nun wicht bald geftellt würden, fchlieglich felbft an die Wahrheit der Geſchichte glauben, ift Herrn Ring-Düppel bisher leider die Gelegenheit noch nicht ge- boten worden, dem Kadi fein Entlaftungmaterial unterbreiten zu dürfen.

Der im Jahr 1899 erreichte Preistiefftand veranlaßte endlich die märkifchen Milchbanern, unter der Führung des Herrn Ring (der in feiner Wirthichaft feine Milch produziert) zu der „Milchcentrale” zuſammenzu⸗ treten, einer Genofienfchaft mit befchränkter Haftpflicht, deren alleiniger Zwed ift, den märkiſchen Milchproduzenten für unverfälfchte Bollmild von nun an einen Preis von 181/, Pfennigen frei Berlin zu fichern. Diefer Preis bringt feinen Gewinn, fondern dedt nur gerade die Selbftkoften. Ich Fönnte mich für diefe Behauptung auf detaillirte Nachweife berufen, die der Pro: fefior Howard aus den genau geführten Büchern von 68 Gütern hierüber veröffentlicht hat. Aber ich muß gewärtigen, daß ein „agrarifcher“ Profeflor bei einigen Leſern felbft der „Zukunft“ als nicht ganz vollgiltiger Zeuge angejehen werden möchte. Darum Lieber drei auch für ſolche Richter gewiß einwandfreie Zeugen: Magiftrat und Stabtverordnete hiefiger königlichen Haupt: und Reſidenzſtadt, den verftorbenen Bankdireltor von Siemens und die Nationalzeitung.

1. Magiftrat und Stadtverordnete von Berlin beſchloſſen vor fünf Jahren: Angeſichts der ungeheuren, auf Hunderttaufende ſich belaufenden Berlufte, die bei den in Berlin geltenden Milchpreifen in der Milchwirth— Schaft der ftädtifchen Rieſelgüter trog rationellftem Molkereibetrieb unver: meidbar entftehen, wirb der Betrieb der Milchwirthichaft gänzlich eingeftellt.

In Parenthefe: die Milchhändler haben fi, um den „Milchring“ zu brechen, neulih an die Stadtverwaltung mit der Bitte gewandt, auf den berliner Riefelgütern die Milchwirthſchaft wieder einzuführen. Zu dieſer Petition fagt die Vofjifche Zeitung: „In ber Stadtverordnetenverfammlung wird diefe Eingabe die wärmfte Befürwortung finden. Es ift ja auch ein Unding ſchier fondergleihen, daß die Verwaltung ber Stadt Berlin duch den Verlauf des Riefelgrafes der Milcheentrale die Mittel zu dem Verſuch bietet, da8 Volk Berlins in der Milchfrage auf die Knie zu bringen. Die Milchwirthſchaft mag rechnerifch der Stadtverwaltung nicht zufagen, allein fie hat zu bedenken, daß die Verfechtung prinzipieller Punfte feine kauf: männifchen Betrachtungen zuläßt.“ Iſt Das nicht allerliebft? Die Ver: waltung der vor den Thoren Berlins gelegenen ftädtifchen Güter kann deu beitehenden Milchpreiſen ohne große Berlufte nicht produziren, obgl. gerade diefe Güter wegen ihrer Lage dicht neben dem Hauptmarkt und we ihres Futterreichthumes für die Milhwirthfchaft prädeftinirt find. Die foll aber aus ihrem großen Steuerſack einen Verluft von Hunderttaufe bezahlen, nur, um die Bauern zu zwingen, eine notoriſch Verluft bring Produktion zu Gunften der berliner Händler aufrecht zu erhalten.

Milchkrieg. 183

2. Herr Dr. Georg von Siemens veröffentlichte bei Beginn des „Milchkrieges“ die Erklärung: die Buchführung feiner märkiſchen Wirth- Tchaften beweiſe, daß man bei befteingerichtetem Betriebe nicht im Stande fei, die Milch billiger al3 für 131/, Pfennige nach Berlin zu liefern. Jeder geringere Preis bringe Berluft. Die von der Milcheentrale beanjpruchte Theilung: zwei Drittel (131/, Pfennig) dem Bauern, ein Drittel (61/, Pfennig) den Händler fei eine „faire Theilung“.

3, Eine mhaltlich gleiche Erklärung veröffentlichte zur felben Zeit der befannte, gut liberale Baurath Bockmann in der Nationalgeitung. Ex wies aus den Büchern feiner eigenen Wirthichaften und aus denen befreundeter Landwirthe nach, daß die Differenz zwifchen dem beflehenden berliner Milchpreis von elf Pfennigen und der nun, von den Bauern erhobenen Yorderung von 131/5 Pfennig genau dem Perluftbetrage entfpreche, der auf den erwähnten Gütern bei der Milhprodultion entftanden ift.

Ich glaube, diefe Zeugnifje für das gute Recht der märkifhen Bauern werden auch liberalen Leſern genügen. Vielleicht ſtimmen fie jogar darin mit mir überein, daß es faum al3 „fair“ zu betrachten ift, wenn der Händler ein volles Drittel für eine Mühewaltung einftreichen fol, die ſich darauf deicgränft, morgens die Milh am Bahnhof in Empfang zu nehmen und fie innerhalb einiger Stunden an die Konſumenten zu vertheilen, während der Produzent ein volles Jahr brauchte, um den mit der erften Pflugfurche und der Düngerfuhre fürs Futterland beginnenden Produktionprozeß zu Ende zu führen, Ä

Die märkifchen Bauern hatten von Anfang an nicht und haben auch heute noch nicht die Ablicht, den berliner Milchhandel überhaupt auszufchalten. Die anders lautende Darjtellung der Händler ift bewußte Unmahrheit. Die Händler hatten ihre Fahre lang fortgefegte Preisdrüderei ftetS mit der „Milch: ſchwemme“ begründet. Im Frühjahr, wenn die Stalbezeit vorüber und das erfte kräftige Grünfutter da ift, fteigt die Milchproduftion vorübergehend erheblich, über den normalen Friſchmilchverbrauch Berlins. Die Kontrakte (auteten dahin: dar die Händler auch diefe überſchüſſige Produktion abzu= nehmen haben, die fie natürlich nur unter Berluft (durch Berbuttern u. ſ. wm.) unterbringen fonnten. Hierauf fußend, drüdten fie den gefammten Yahres- durchſchnittspreis in der gefchilderten Weife herab. Ber Sachkennern beftand fein Zweifel darüber, daß diefer Verluft, für den ganzen Jahresdurchſchnitt berechnet, nur Bruchtheile eines Pfennigs betragen könne, nicht aber fo viele ganze Pfennige, wie die Händler mit Berufung darauf im Laufe der Fahre vom Preife abgebrödelt hatten. Der einzelne Produzent war aber gegen- über diefem Gebahren machtlos; er kann nicht die zeitweiligen Produktions überfchüffe zurüdbehalten und zu Haufe verwerthen. Das erjte und zunächſt

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134 Die Znukunft.

einzige Ziel der in der Gentrale gefchaffenen Drganifation der Produ- zenten war: ben berliner Händlern anzubieten, die Milchſchwemme dadurch außer Wirkung zu fegen, daß die Centrale fich verpflichtet, fänmtliche im Friſchmilchkonſum nicht verbraudhte Milch wieder von den Händlern zurüds zunehmen und für gemeinfchaftliche Rechnung der Bauern in einer berliner Meierei zu verbuttern. So war den Händlern der einzige Grund genommen, den fie bisher mit einigem Anjchein von Recht für ihre Preisdrüderei geltend machen konnten; fo ergab fich aber auch, daß dieſes Motiv nur vorgeipiegelt worden war: die Händler erklärten plöglich, die Miſchſchwemme fei der Uebel größtes nicht und fie wollen überhaupt nichts mit der Centrale zu thun haben.

Ihre Zuverficht war: einige Bauern giebt3 nirgends, am Wenigften auf märkiſchem Sande; wo ihrer zwei beiſammen find, werden gewiß drei Meinungen vertreten. Vielleicht wäre diefe Händlerfpefulation richtig ge weſen; aber die Leiter der Centrale haben aud nicht Stroh im Kopf. Jeder Möglichkeit, Uneinigkeit und Fahnenflucht in der Centrale anzuftiften, war dadurch vorgebeugt, daß nicht ein loſer Verein oder Verband, dem “Jeder nach Belieben wieder den Rüden kehren konnte, fondern eine Genofienfchaft mit Haftpflicht gegründet worden war. Das hatten die Milchhändler über- fehen; umfonft zogen fie nun als Rattenfänger mit fabelhaft hohen Preis— angeboten durch die märkifchen Lande. Erſt weit über die märkifchen Grenzen hinaus, in Oft: und Weftpreußen, Bofen, Diedienburg, Pommern, Hannover fanden fie Zulauf. Und die felben berliner Milhhändfer, die fich weigerten, mehr al8 elf Pfennige für die märkifche Milch zu bezahlen, haben feit dem erften Dftober bis heute fortgefet fechzehn, fiebenzehn, achtzehn Pfennige für den Milchbezug aus anderen Provinzen gegeben. Das war bitter, um jo bitterer, al8 e8 unnüß verlorenes Vermögen ift, denn das Ziel, den märki— hen Bauern niederzuringen und bann die Verlufte wieder aus ihm heraus⸗ zuquetfchen, ift nicht erreicht worden. Jetzt fteht der Sommer vor der Thür nnd die kommenden Wärmegrade werden gerade die theuerfte, am Weiteften bergebolte Milch zur fauerften mahen. Dies Geihäft muß alfo bald auf: hören; und damit wird der „Milchkrieg* zu Ende fein. Ich meine: auch für die Öffentliche Disfufiion. Denn in Wirklichkeit haben drei Viertel der Händler ihren Separatfrieden mit der Centrale längit gefchloffen: ihr Corps- geift langt nur dazu noch aus, die öffentlichen Sriegstänge mitzumad Viele von ihnen hatten überhaupt nicht geftrifet, fondern fchon feit Beg.. des Krieges, feit dem erften Oktober, ihre Milchmunition vom Milchrin bezogen; tie haben ein ſchönes Stüd Geld dadurch gefpart. Andere wurd erft fpäter Flug; als vorläufig Legter hat nun auch Herr Bolle den Frieden: vertrag unterzeichnet, genau nach dem Schema der Centrale; die Ande werden nachfolgen oder fterben.

Milchtrieg. 185

Der normale Milchverbrauch Berlins betrug beim Erlaß der „Kriegs: erklärung“ durchſchnittlich täglich 550 000 Kiter. Hiervon waren vier Fünftel in der Hand der Centrale. Das SKriegsgefchrei der Händler und ihr thats fächlicher Mangel an Munition bewirkte einen Nüädgang des Verbrauches um etwa 100000 Riter. Die Centrale fegte von ihren 400 bis 450000 Kitern anfangs die Hälfte, ſpäter zwei Drittel direft und durch ftille Ber- mittlung der offiziell gegen jie flreitenden Händler in den Trinklonfum ab; der Reft wurde verbuttert. Heute ift der direlte Verbrauch bereit auf drei . Biertel de3 Geſammtquantums geftiegen; da8 Sommerwetter wird durch Abdrängung der weiten Zufuhr auch dem legten Viertel den Abfag eröffnen. Dann iſt das Ziel der Bauern erreicht: 131/, Pfennige dem Produzenten, der Reſt, wenns wirklich 61/, Pfennige fern müffen, dem Händler. Damit der Hündlerantheil aber nicht zu Ungunſten des Stonfumenten noch höher werde, wird die Gentrale auch nach offizieller Beendigung des „Krieges“ ihre berliner Einrichtungen nicht aufheben, fondern auch Fünftig hier Boll: milch für achtzehn Pfennige im Laden und zwanzig Pfennige frei Haus an- bieten. Sonft würden die Händler für den den Produzenten nothgedrungen gewährten Preisaufſchlag jich fehr bald beim Publitum ſchadlos halten und man würde dann in allen Zeitungen fefen können: O diefe hHabgierigen Agrarier!

Ein Wort noch über die neue Polizei-Verordnung, die, fo las mans in der Voſſiſchen Zeitung, die Agrarier „über Berge von Kinderleihen” zum Siege führen folle. |

Bisher durften nach der alten Polizeiverordnung über den berliner Milchhandel verkauft werden; Vollmilch mit wenigſtens 2,7 Fett, Halbmild mit mwenigftend 1,5 Fett und Magermilch mit beliebig niedrigem Fettgehalt. Die neue Verordnung befeitigt num den Handel mit Halbmilch und fchafft neben der Vollmilch noch den Begriff „Marktmilch“, die einen Mindeftfett- gehalt von 2,7 haben muß. Ueber die Wohlthat der Befeitigung der Halb: milch iſt fein Wort zu verlieren. Gerade diefe bisherige Zulafjung öffnete dem Betrug im Milchhandel Thor und Thür. Die vorhin erwähnten 2912 Betrugsfälle find ausnahmelos ſolche, in denen den Käufern, die aus⸗ drücklich Vollmilch verlangt und dafür 18 bis 20 Pfennige bezahlt hatten, Halbmilch mit weniger al3 2,7 Prozent Fett verabfolgt worden war. Diefem Anfug ift duch das jegt erfolgte generelle Verbot, ſolche Milch überhaupt el zu halten, der Boden entzogen; denn nun fann ftrafrechtlich eingefchritten verden, wann und wo bie fontrolivende Polizei folche Milch bei einem Händler vorfindet. Ein Bedürfnig für die Feilhaltung folder Mifchungen : offenbar nicht vorhanden; jede Hausfrau fann, wenn fie Halbmilch haben nl, diefe Miſchung ſich ſelbſt Heritellen.

Anders ftehe ich zu der Einführung der Bezeichnung und des damit

186 Die Zukunft.

verknüpften Begriffes Marktmilch. Vollmilch ift, vulgär, eine „Milch, wie fie von der Kuh kommt“, alfo Milch, der nichts zugefegt und von der nichts abgenommen if. Marktmild dagegen im Sinn der neuen Polizeiverord- nung iſt eine Milch, der ein höherer Fettgehalt fortgenommen oder Mager- milch zugelegt fein darf, wenn fie nur immer noch 2,7 Yett (den Mindeft- fettgehalt unverfälfchter Kuhmilch) behalten hat: Hiernach darf alſo Jemand, der Milch von den hohen Fettgehalt von 3,5 produzirt oder al3 Händler gekauft Bat, entweder 0,8 Yelt (zur Verbutterung) abrahmen oder zwanzig Prozent Magermilch zugjeßen und die fo erhaltene Mil als „Marktmilch“ feil_ Halten. Daraus fieht man, dar mit der Befeitigung der Halb— milch doch das Prinzip nicht völlig befeitigt ift; man hat nur ben Minbeit- gehalt von 1,5 auf 2,7 erhöht, ohne die Möglichkeit gänzlich zu befeitigen, diß immerhin Miſchmilch verkauft wird. Ic halte Tas grundfäglich für unzuläffig und füge, da ich „Agrarier“ bin, für Steptifer noch glei Hinzu: Diefe Vorfchrift ſchädigt auch die Landwirthe. Die einzige Möglichkeit für die Händler, auch im Sommer fih aus fernen Gegenden Milch zu befchaffen, ift durch die Eismilch gegeben. Haltbare und im Gefchmad nicht feidende Eismilch läßt fi aber nur herftellen, wenn der ſtark gefühlten Vollmilch noch extra Milcheis (aus gefrorener Magermilch beftchend) zugeſetzt wird. Dieſer Milcheiszuſatz iſt aber nach der vorhin gegebenen Definition nicht bei Vollmilch, fondern nur bei Marktmilch geftattet.

Die Händlerprefie hatte die unwahre Mitiheilung verbreitet : die, Markt— milch“ ſei auf Betreiben der Milchcentrale in die Berordnung aufgenommen worden. Der Borftand der Gentrale hat hierauf das Protofol der Sitzung veröffentlicht, in der die Gentrale zu dem ihr vorgelegten Entwurf der Ber- ordnung ſich gutachtlich zu äußern hatte. Der einftimmig gefaßte Beſchluß lautet: „Die Erlaubniß zur Feilhaltung von ‚Marktmilh‘ ift abzulehnen. Die Staatsregirung ift zu bitten, daß der bisherige Begriff der Vollmilch aufrecht erhalten bleibe, der Verlauf nur unverfälfchter Kuhmilch geflattet, der Halbmilchverfauf gänzlich unterfagt werde." Warum nun äbgefehen von der Lüge, die Gentrale habe die Einführung der Marktmilch verjchuldet überhaupt das Gefchrei der Händler gegen dieſe neue Verordnung, die, wie das Geſagte beweilt, unter Umftänden wegen der Eigmildhlieferung den Landwirthen direft ſchaden kann, in keinem Fall aber ihnen, die ja for traftlich zur Lieferung von Vollmilch verpflichtet find, irgendiwie nützlich ift?

Ich habe dafür nur die eine Erflärung: auf die Marktmilch fchlägt man und den Berfuft der Halbmild meint man. Es ift wirklich ein Schau⸗ fpiel für Götter: der felbe Handel, dem nachgewiefen ift, daß er in drei Vierteln aller Fälle Halbmilh von weniger als 2,7 Prozent Fett für Vollmilch ausgab, diefer felbe Handel entrüjtet fih nun darüber, daß die Polizei di

Frühling. - 187

Mindefigrenze für die neue Art Halbmilch wenigſtens von 1,5 auf 2,7 hinauf: gerückt Hat. Jet ruft man alle Dlütter auf die Schanzen zur Vertheidigung von Leib und Leben ihrer Kinder gegen diefe verruchte Marktmilch, die doch, jo viel ich auch felbit an ihr auszufesen habe, immerhin genau doppelt fo gut ift wie die von diefen Händlern fo fange vertriebene Halbmild.

Einem Unfug hat die Polizei zun Glück fehr fchnell das Ende be reitet. Die Händler hatten ſich nicht genirt, die Lüge unter das Publikum zu werfen: die neue Polizeiverordnung verbiete Überhaupt den Berfauf un- verfälfchter Vollmilch und zminge jeden Händler, die von ihn gepachtete beffere Mil beim MWiederverfauf bis auf den Fettgehalt von 2,7 zu verfhneiden. Es fand ſich fogar ein bei den berliner Gerichten zugelaffener Anwalt, der in öffentlicher Verſammlung erklärte: eine folche Verordnung fei einfach ungefeglih; feinem Menichen dürfe verboten werden, gute, unverfälichte Waare feilzubieten, und man werde daher bei der erften Kontravention das gute Recht ehrlicher Milchhändler bis zur leuten Gerichtsinſtanz verfolgen. Der Tropf wurde am nächſten Tage ſchon von feinen verdienten Schidjal ereift. In der felben Zeitungnummer, die den Bericht über feine Rede brachte, las man bie leider unangebracht höfliche Erklärung des Polizeipraſidiums, die dieſem Treiben entgegen trat.

Warum die Polizei nicht ganze Arbeit gemacht, ſondern neben der Vollmilch nun noch dieſe Marltmilch zugelaſſen hat, dafür habe ich keine Erklärung. Immerhin iſt es ein erheblicher Fortſchritt, daß wenigſtens bie bisherige thatfächliche „Marktmilch“, dieſes Halbgemiſch von 1,5 bis 2 Pro- zent Fett, befeitigt if. Ganz fo Hoch mie bishec werden alfo fünftig die Kinderleichenberge in Berlin fich nicht häufen. . Edmund Slapper.

*

Frühling. SAD Du: ih glaub’, es acht mit Allen fo!

Man wartet und man freut fih wie ein Kind den ganzen endlos langen Winter,

und wenn es friert oder regnet und fchneit und mitten anı Tage trüb wird und Hadıt.. man muntmelt ji} in den Mantel und ladıt: je tiefer die Wege draußen verfchnein,

um jo früher muß es vorüber fein!

188 Die Zukunft.

Und wenn es dann ganz leife kommt, ganz leife nıit wieder hellerem Schein .. wie will man fich darüber freun!

wie will man auf der Kauer ftehn,

un ja das .erfte Keimchen zu fehn,

das irgendwo fich regt, zu ſprießen, und jauchzend jedes Deilchen grüßen und felber o! ganz Frühling fein!

Und dann...

dann kommt der große Regen,

der immer kommt, vor jeder Erfüllung... der Regen, von dem man fagt: o ja! doch fobald er vorüber, ift es da!

Und fo wirds März und wirds April...

wie fputet man fich, aufzuräumen

in jedem Winkel, um in Ordnung zu fein und wenn es dann da ift, um Zeit zu haben: fih zu freun!

Und eines Morgens wahft Du auf und ſtehſt und ftaunft

und trauft den eigenen Augen faum: als ob ein Wunder wär geichehn, | ift Alles o fo grün, fo grün | und ringsumber | ein Sproffen und ein Blühn und Glühn,

als ob es fchon feit Wochen,

fett Wochen Frühling wär!

Und jenes erfte heimliche Werden,

das Du fo Fföftlih Dir geträumt...

Du hafts nun dodh..

perJäumt!

Ich glaube freilih, Das ift immer fo...

bei jeder Erfüllung, auf die man ſich freut! Caeſar Flaiſchlen

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Achtung vor England, 18%

Achtung vor England.

SS) Deutfche ift eim lenzesfroher Geſell und e8 zieht ihn nach dem fonnigen Süden. In das gefchäftige Niflheim jenſeits des Kanals, wo angeblich überall der nafle Ruß an den Wänden niederfidert, wandert der Commis und der Stellner, der Gebildete aber fpart feine Grofchen für die große Reife feines Lebens nach Italien auf. Auch Solche, die e8 „dazu haben“, englifche Hoteliers zu bezahlen, gehen nicht übers Waller. Die wiener und berliner Bankiersfrauen fpülen ihre Winterfiinden in Blantenberghe ab; in Brighton Hört man kaum ein deutfhes Wort. So kommt «8, daf der Deutfche nur feinem Leibblatt die Kenntniß englifchen Weſens entnimmt. Sp fommt e8, dag der Engländer ji in unferer öffentlihen Meinung wie in einem Zerrſpiegel erblidt. Entweder trifft er auf einen lärmenden Shamberlain-Spudnapf:Beliger, der von der politifhen Perſönlichkeit des Kolonialjelretärg vor 1899 nicht die leiſeſte Ahnung hat, oder aber auf einen weltfremden alten Doktrinarius, der den liberalen englifchen cant in fritil- Lofer Begeifterung für höchfte Offenbarung nimmt. Der Eine fchimpft, der Andere ſchwärmt. Irgendwo aber bei ftillen Leuten, die England kennen und feine Gefchichte, hauft die Wahrheit. Nur rührt fie fich nicht. Sie könnte fich erfälten.

Die Engländer waren Menfchenalter lang durch den Anblid verwöhnt, den unfere Preffe in der Pofe bes fchniachtenden Junglings bot. Jetzt aber will auf einmal kaum ein Schriftftellee mehr die Brüden fehen, bie hinüber und herüber führen. Und es find deren doch fo viele; Gutes und Schlimmes geht über den Kanal ein und aus; der Zufammenhänge giebt es unzählige.

Daß auf deutfchen Bühnen Shafefpeare häufiger zu Wort fommt als Schiller und Goethe zufammen, belegt mit untrüglichen Zahlen die Repertoire: fatiftif, fein Fremder hat deutfches Welen jemals jo in feinen Tiefen erfaßt wie Sarlyle, der Herold des urdeutichen Gedankens der Organifation; unfer modernes Kunſthandwerk hat feine erfte Anregung von England empfangen, wo eine reiche Ritterfchaft den Stil vornehmer Lebensführung prägt; umge— kehrt hat Jan Hagels Matrofengefhmad bei ung die Olympia-Schenkel-Paraden

Tricot aus den music halls von drüben bezogen; der größte Abnehmer „nd beite Zahler für unfere Exportinduftrie it Großbritanien mit feinen Kolonien; an Drummonds Traftaten verwällern unfere Stillen im Lande ihr mofeſtes Lutherthum und immer noch ift auf dem Erdenrund England die tormadıt des Proteſtantismus, im Gegenſatz zu den Patres aus dem Lande

r reges christianissimi. Es giebt alfo doch noch einen gemeinfamen Pulsſchlag. Nur fuche

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190 Die Zukunft.

man ihn nicht in der Politil, Das ift der Fehler Derer, die uns von drüben wieder die Hand reichen möchten.

Einjt wurden bei ung die liberalen Reize Britanias gepriefen. Mit ängftfich erfrorenem Lächeln erinnert fie darum heute wieder den ungetreuen Liebhaber an ihre „freiheitlichen Inſtitutionen“, nach denen bie unferen ge: ichaffen feien. Aber zu ihrer Beſtuͤrzung muß ſie hören, daß wir dieſem Märchen längſt nicht mehr glauben. Die Freiheit iſt nicht durch engliſches Beiſpiel, ſondern durch die franzöſiſche Revolution dem Kontinent begehrens- werth geworben; fie ift uns auch nicht gefchenft, fondern von uns erfämpft; das allgemeine Wahlrecht in Deutfchland ift eine Yolgerung aus ber allge meinen Wehrpflicht. Das Haben die Engländer in unferen „führenden“ liberalen Blättern freilich nicht gelefen. Laut Moffe und Leſſings unfäglichen Erben jeufzen wir unter dem Militarismug, jehnen wir uns nad) lauter Kommerzienräthen auf der Minifterbank, werden von ein paar Agrariern bis aufs Blut gepeinigt und entrüften uns bei jedem Piftolentnall und noch einmal ertra vor dem Quartalwechſel über den Duellzwang, den allein das glüdlihe England in feiner ungemeinen Sittfanfeit nicht fenne. Und fo glaubt der Better fehließlih, Deutfchlands Herzenswunſch müſſe fein, "eine englifche Provinz zu werden. Um fo unbegreiflicher ift ihm feit zwei Jahren die plögliche Anglophobie; dahinter, denkt er, Tann nur der Doftor Leyds mit feinen Beſtechungsgeldern fteden.

Aus der Keinftaatlihen Geneſis unferes Liberalismus iſt es erklärlich, daß der Spiegbürger früher über die „Soldateska“ zu Inurren für freiheitlich hielt. In dem jegigen gefchäftsfrohen Zeitalter machen aber überaus frei: jinnige Leute den Imperialismus mit allem Drum und Dran freudig mit. Wenn die Weltgefhichte zum Kampf um die Futterpläge wird, dann brauchen die Völfer Hauer und Klauen. Ohne Kanonen feine „Konzeliionen“. Wenn der große Magen des Weltmarktes ſich zu fträuben beginnt, dann foll bie Armee mit ihren Starken Fäujten das Nudeln übernehmen. England ging nah Transvaal nicht, um, wie der Etanuntifchphilifter fteif und feſt glaubt, dem Ohm Baul feine Goldninen zu nehmen denn die find Privat: eigenthum der Shareholder der ganzen Welt —, fondern, weil Südafıifa, diefer rieligfte Induftriemagen der Zukunft, den drohenden LUnterfonjum englifher Waaren ausgleichen fol. Genau die felben Gedankengänge birgt da3 Hirn unferer von Tag zu Tag loyaleren Händler. Das Gros diefes Liberalismus hat mit dem Militariemus längft feinen Frieden gemacht. Das Gefchäft geht fo beſſer. Der Umſchwung liegt ſchon Jahre lang zurüd: an der Wende ließ Ridert fi) von Caprivi auf die Schulter Hopfen. Mit dem Singfang gegen den Militarismus erwerben ji die Engländer aljo feine Freunde mehr bei und. Bei den Preußen von altem Echrot und Korr

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Achtung vor England. wi

natürlich erft recht nicht. Denen ift das Heer nicht eine Schugiruppe der Erporteure, jondern die geordnete phyſiſche Kraft der Nation, auf der im legten Grunde alles Dafeinsrecht des Volfes beruht. -

Auch die Duellreinlichkeit Albions zieht nicht. Die deutfchen Duell- gegner wilfen wohl, daß in England auf ritterlichen Zweikampf die jelbe Strafe fieht wie auf gewöhnlichen Totſchlag. Aber ganz gewiß ift nicht eine abfonderlih zarte Moral in Bezug auf das fünfte Gebot daran Schub. Bornehme Klubs drüben erfreuen fich noch immer an dem bezahlten Gladiatoren- jpiel des profeſſionellen Borens; und cin Totfchlag dabei wird nur mit milder Haft beftraft, wie auch bei ung der „kommentwäßige“ Waffengang. Ich zweifle. ob dabei für die Engländer cin erhebliche8 moralifches Plus bfeibt.

Schon unfer Begriff vom Staat unterfcheidet ſich grundfäglid von dem englifchen. Die englifche Berfaffung, die der jeweilig herrichenden Partei die Nofinen aus dem Kuchen zumeift und dem König nur bie Rolle des deforativen Thürftehers beim Schmaus, bekäme ung übel. Der Staat ift uns mehr als eine bloße Erwerbägenoffenfchaft der Privilegirten; er ift uns eine ſittliche Inſtanz, nach Fichte der Erzieher der Menjchheit. Daß feine Lenker „königliche“ Beamte find und „intereſſelos“, ohne Anfehen der Partei, wirfen follen, ift unfer Stolz. Der Brite dagegen hat in feiner Beanıten- hierarchie offiziell einen patronage secretary, ber die Aeniterchen an die Freunde der Partei vertheilt, und findet am gefchicten gefchäftlichen Speku- (ationen feiner Minifter fein Arg; ja, Addifon befingt fogar begeiftert das ethifche Prinzip der Vetternwirthichaft, während wir an dem Echwiegervater des Herrn von Boetticher nie fonderliches Wohlgefallen empfanden. Seber befigende Unterthan fol drüben Theilhaber der Firma Staat werden und die Einrichtung der Pfundaktien ermöglicht dem Heinften Sparer das Mit: ſchwimmen in großen Strom des Gefchäftes. Wie in Lefterreich jeder Hausknecht Lotto fpielt, hat in England jeder Hausknecht Shares. Wer auf Chanıberlain bant, hat Dleinung für Dynamitaltien, und wenn ihretwegen den regirenden Bänerlein in Pretoria der Spieß auf die Bruft geſetzt wird, fo freuen ſich bag Hunderttaufende. Daher it e3 ja auch ein thörich er Schnickſchnack, wenn bei ung behauptet wird, nur Shamberlain, Rhodes, Milner und Genofjen trügen die Verantwortung für den Krieg; die Verant— wortung trägt dag ganze Boll. Das haben die legten Wahlen mit ihrer riefigen imperialiftifhen Mehrheit gezeigt. Das zeigt Chamberlains Bolt: thämlichkeit, zeigt der Sturm gegen Bro:Buren: Berfammfungen, zeigt dic be= berrfchende Stellung der JImgo-Preſſe. Unter den Blättern mit befanuten Namen rubern nur noh „Morning Leader”, „Daily News“, „Mancheiter Guardian“ dem Strome der öffentlichen Meinung entgegen. Wer fchließlich noch an die Stellungnahme der Geiftlichen der High Church denkt, kann jich nicht mehr verhehlen: der Krieg ift Herzensfache der ganzen Nation.

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192 Die Zukunft.

Wir Deuiſchen verftehen keinen Spaß, wenn uns gegenüber au Dinge getaftet wird, die wir wirklich „mit ganzem Gemüth“ betreiben. Und um: gekehrt find wir Fremden gegenüber darin ſtets erſt recht taftvoll gewefen. Warum nun der Ingrimm über den Burenfrieg? Um diefe Kernfrage kommen wir nicht herum. Ihre Beantwortung fol den Engländern zeigen, welches der einzige Weg ift, auf dem fie die Hohfchägung ihrer Bettern wieder cı= werben Fönnen.

Der tieffte Grund der allgemeinen Britenverdammung in Deutfchlaud liegt nicht etwa in ber Graufamfeit der Kriegführung. Der Deutſche ift als Soldat und welcher Deutfche wäre Das nicht? praltifcher Erfolg: anbeter, fo fehr er ſonſt auch zum Doltrinarismus neigt. Er fagt fich mit Recht, dag es im Krieg nicht fo fehr darauf anfommt, ob man mild oder hart handelt, fondern darauf, ob man zweckmäßig oder unzweckmäßig verfährt. Durch Härte einen Krieg beenden, ift milder, als durch Milde ihn Binziehen. Hätte fchneller Erfolg die Art britifchen Kriegsbetriebes gerecht- fertigt, fo wären bis auf Heine Fdeologenfreife die Ankläger verftummt. Als nach der Einnahme von Bloemfontein die Freiſtaater, auf Nobert3’ Prokla— mationen hin, in Maflen die Waffen niederlegten, da wid das Intereſſe an den Buren überrafchend fchnell Fühler Nüchternheit. Den Zeitungen, die von vorn herein, ohne in Anglophobie zu machen, doch auf Grund ihrer Kenntnig engliſchen Heerweſens prophezeit hatten, die Buren würden nicht überwältigt werden, wurde es im Sommer 1900 unendlich fchwer, ihre Leſer bei der Stange zu halten; ich ſpreche da aus eigener Erfahrung. Erſt die erneuten DBurenliege im Dezember 1900 liegen die Begeifterung für die Buren und den Zorn gegen bie britifche „Grauſamkeit“ wieder aufflammen. Nur in rein militärifchen Sreifen, auch wo von einen Einfluß englifcher Gattinnen nicht die Rebe fein kann, gab man vielfach nad wie vor auf die englifchen atrocities fehr w.nig; um jo fchärfer aber wurde die Kritik der englifchen Erfolglofigfeit. Dieſe Mißachtung der englifhen Armee wird durch die Er- zählungen der aus China heimgefehrten deutfchen Soldaten nur noch ver- ftärft. Beim Zuge de3 Bataillon Förfter gegen Tſekingkuan ift nicht um— fonft das fchnell geprägte Berschen zum geflägelten Worte geworden: „Meldung von den Shiks: Bom Feinde willen wir nir!“

Wenn es aber auch die Grauſamkeit nicht ift: wo liegen dann Wurzeln der Anglophobic? Wie fann man fie wieder befeitigen?

Nicht einmal die Erklärung ift ftichhaltig, dag e8 die Sympathie den Kleinen fei, dem von der Uebermacht Gewalt angethan werde. Der Deut‘ würde ſich feinen Augenblid beiinnen, wenn es das Lebensinterefle Neiches erheifchte, eine winzige Nation zu züchtigen. Die Zauberformel, Ales erhellt, Tiegt vielmehr ı1 dem einen Worte: der Söldner. Uebe

Achtung vor England. 193

regt jih wilder Grimm gegen die „bezahlten Kerle“ der englifchen Armee. Das ift e8, was feine apologetifhe Brodure von Conan Doyle dent Deutſchen verreden fan. "

Wenn einft die Bauern unferer Altmark bei der Schwebenwadt auf den Elbdeichen ihre Fahne mit der unbeholfen rührenden Infchrift entrollten: „Wir find Bauren von geringem Gut und dienen unferem gnädigften Kur— fürften und Herrn mit Gut und Blut!“, fo ſprach ſich darin ſchon die ur- deutfche Auffaffung aus, daß man für feine Herzensjache nit nur mit feinem Gelde, fondern auch mit feiner Perfon einzutreten habe. Das hat jich bei uns jeit 1814 erft recht eingegraben. Und Das ift e8 aud, was uns fe befonnen madt. Ein Boll der allgemeinen Wehrpflicht ftürzt ſich in un: bändiger elementarer Kraft auf den Feind. Aber ehe es ſich dazu entſchließt, muß e3 in feinen tiefften Tiefen empört fein. Sabinetäkriege jind da nicht möglih. Kapitaliftifche Eliquenkriege eben fo wenig. Wir waren einft das kampfluſtigſte Bolt der Erde, find im Kriegshandwerk die Lehrer aller Nationen gewefen und jind es noch jetzt; deutſche Schwerter klirren dur alle Jahr: hunderte und durch alle Länder, unter den Mauern von Athen und auf den Hügeln Roms, in der Gluthſonne Spaniens und im Nebel der Erinsinfel, ja, fie fchlagen die Schlachten der Engländer jenſeits des großen Waflers. Aber heute, nad knapp hundert Jahren der allgemeinen Wehrpflicht, jind wir das eigentliche Friedensvolf Europas, das während der einunddreifig Jahre feiner geballten Kraft noch niemals freventlich gegen fremde Ehre aus: gefallen iſt. Erſt in den jiebenziger Jahren folgten Frankreich und Rußland unferem Beifpiel, nad) ihnen andere Völfer, erft im vorigen Jahr hat Holland den Heeresdienſt obligatorifh gemacht und bald wird ber ganze Kontinent unfer Syftem durchgeführt haben. Das ift eine weit größere Friedensgarantie als eine noch fo weltbürgerliche Berfaffung. Einft glaubte man, die Republik fei der Friede. Heute trauen nur noch die freilinnig Ver— michelten dem NRattenfängerlicd von dem Yortichritt der Menfchheit zum Taufendjährigen Friedensreich aus eigener Vervollkommnung. Kriege wird ed immer geben. Aber wie auf dem wirthichaftlichen Kriegsfchauplag meift die unorganilinten Arbeiter und nicht die Gewerkichaften die wildeften Strifes beginnen, fo find auch im Bölferleben die Milizheere und Eöldnerarmeen der Republifen und Parlamentsftaaten eine weit größere Gefahr als das Volksheer einer Monarchie. Eine Regirung, die nicht mit Miethlingen arbeitet, ‚ondern da8 ganze Volk zur Schlachtbank führen muß, eine Regirung, die 'zeiß, dag im Moment der Mobilmahung eine ſchwere wirth'chaftliche Kriſe

reinbricht, weil Ader und Werkitatt und Kontor veröden, eine foldhe Ne: wung fchredt vor der Verantwortung zurüd, die eine Kriegserklärung ihr fbürdet; e3 müßte denn fein, daß es ſich wirklich um die heiligften Güter

der Nation oder um die Grundlagen ihres materiellen Dafeins handelt. Wenn in Grofbritanien jeder Mann im Alter von zwanzig bis zu vierzig Jahren unter die Fahnen müßte, ob er auch Better eines Miniſters, Bejiger eines Majorates, Großaktionär, Gelehrter, Schiffsrheder, Künftler, Kandrichter oder Zeitungfchreiber fei, wenn fo die ganze Nation ihre Haut zu Marfte trüge, ftatt nur einen Haufen von Prügeljungen (abgejehen von den Bolunteers) auszufenden, dann müßten wir, aud wenn wir hundertmal den Krieg für ungerecht hielten, vor diefer überzeugenden Wucht nationaler Vollkraft ritter: ih den Hut lüften.

Haß oder Kiebe kann dem Briten gleichgiltig feit. „Dor lad} ik öwer!“ Aber die Achtung unter den Völkern darf eine Nation nicht verlieren, muß fie wiedergewinnen, wenn fie jie verloren hat. Wollte Gott, daß die angel: ſächſiſchen Vettern fih auf ihr deutſches Blut befännen, in germanifcher MWehrhaftigfeit ihr Heil fähen, bem Schwerte jich wieder vermählten, der Knechtichaft de8 Coupons entrännen! Dann erft Fünnte man als treu Ge— fippter wieder fein befümmert gefenftes Haupt erheben. Dann würde England nicht nur als Kriegsmacht, fondern auch fittlich weit höher gewerthet werden und als Freund fo willlommen tie als Feind gefürchtet erfcheinen. Wenn e8 aber aus feinem fchleichenden Afrikafieber nicht diefe Lehre entnimmt, dann redet Chamberlain feine pangermanifchen Gedanken in den Wind. Der Mann ift wirklich Deutfchenfreund; er fchätt die deutiche Zuverläfiigleit To hoch, daß er ſich fogar in feinem eigenen Haushalt mit deutfcher Dienerjchaft umgiebt. Aber ihm fehlt jeder Begriff für den tiefen fittlichen Unterfchted zwifchen Wehrmann und Söfdner.

Schon werden Stimmen laut, die die Briten für ein niedergehendes Volk erflären, obgleich e8 noch gar nicht jo lange her ift, daß Graf Gobineau jie die Blüthe ariſchen Menſchenihumes nannte; fchon fagt man, e8 fehle nur noch der Zufammenftog mit einem Ron, um diefes Karthago der Händler volends zu entwurzeln. Wohlan: wir erwarten den Gegenbeweis. Das Paradigma in der Weltgeihichte dafür ift vorhanden. In der Nacht zum fünfzehnten Dftober 1306, in der Nacht nad Jena, wurde den erft jieben- und;wanzigjährigen Friedrich Ludivig Jahn das Haar eißgrau; die felbe feelifche Erjchütterung rüttelte das ganze Volk wach und die Antwort war die allgemeine Wehrpflicht. Iſt der Weg von Colenfo bis Tweeboſch nicht die eine Nacht werth? Vielleicht hat England jept die Iete Gelegenheit, diefen Weg d nationalen Renaiffance zu befchreiten, den die Kontinentalmächte längft ı ihm eingefchlagen haben. Ehe es zu fpät ilt. Ehe die zwölfte Stun fchlägt, wo die „hölzernen Mauern“ Englands verfagen, weil das Waf auch für die Feſtlandsvölker jetzt Balken Hat.

Frankfurt a. M. Adolf Stein. s

194 Die Zukunft.

Darm - Ather. 195

Darm: then.

9* „Dokument deutſcher Kunſt“ wie die darmſtädter Künſtler ihre Aus— ſtellung genannt haben, erweiſt ſich beim Schluß der Vorſtellung, die einige Monate die Augen der Kulturbedüftigen auf ſich zog, als eine un— bezahlte Rechnung, deren Koſten, wie es ſcheint, die Künſtler zu tragen haben. Das ift der bittere Hnmor von der am Ueberraſchungen reichen Geichichte ; der Humor aller verftedten, aber deshalb nur um fo tieferen Sfonfequenzen. Denn wie Alles außer der erften VBeranlaffung in Darmftadt modern war, fo ift auch diefer Schluß von zeitgemäßem Gepräge, es war ein fchöner, altmodifcher Traum, der die Sache ind Scheinleben rief, und es ift ein nadter, vernünftiger Realismus, der fie zu Ende führt.

Mer hätte gezögert, dem Ruf des Fürften zu folgen, der in gro: müthiger Gebelaune befchloß, feine Reſideuz zu einem Darm-Athen zu machen? Ich möchte wiffen, wer eigentlich die erjte dee fuggerirte. Sicher fanı fie nicht vom Fürften felbit; er ift dafür zu großmüthig. Ich vermuthe, es war ein Konfortium von Leuten älterer Kunftrichtung, die ganz richtig fpefulirten, dag auf diefem ungewöhnlichen Weg eine Anzahl bedenklich moderner Künftler mit Sicherheit kalt zu ftellen fe. Merkmürdig, dag man nicht radifaler vorging und micht noch viel mehr moderne Künftler beftimmte, ihre Penaten nach Darmftadt zu tragen; man fonnte jo ganz Deutichland . entmioderniliven. Die legten offiziellen Defrete in Kunftfachen laffen weitere, tiefere Zufammenhänge ahnen. Warum follte der Bundesrath in diefem einen Punkt uneinig fein? Jedenfalls: es it erreicht.

Sch fehe Peter Behrens heute noch vor mir, wie er in dem fleinen fchweizer Hotelfaal, wo wir ung trafen, dröhmenden Schritte® auf und ab wandelte und von neuem Mäcenatenthum fprad. Fürſtenkultur, das Heil im Schönheitliegerfranz; . . . Du ahnft e8 nicht ... Und ich fam mir, wie gewöhnlich, niedrig und gemein vor.

Ich Hatte aber doch eine Ahnung; freilich ging ſie nicht fo weit wie heute die Wirklichkeit. Ich zweifelte an den fachlichen Faktoren, an der praf: tiſchen Möglichkeit, aus einem Städtchen ohne Induſtrie und Handel mit geringen Mitteln eine Stätte gewerblicher Bedeutung zu machen. Denn heut: zutage muß fo Etwas ſehr ſchnell gehen oder es geht gar nit. Bon all den glüdlichen Umftänden, die früher, als man zu folchen Entwidelungen noch Zeit hatte, mitwirkten, fchien biesmal einer außer Frage: der gute Wille des Fürſten; man hatte feit Hundert Jahren wieder einmal einen Mücen. Das war viel. Ich geitehe, daß ich gern dabei gewejen wäre. So pefjimiftifch verfnöchert ift Steiner, der ein Bischen Künjtlerblut in den Adern “at, daß er nicht an gewifle Hoffnungen glaubte, die durch fo perjünliche

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Momente gefeftigt find; fie gehören zu den Epelulationen der Seele, bei denen man verfucht ift, jedes andere Erfahrungniaß außer Beachtung zu laſſen; man weiß nicht, warum; wohl, weil die Gründe, die ſolche Hoffnungen zu Utopien machen, ferner liegen und nicht mit jener Schärfe entfceiden, die anderen Gejepen der Logik eigenthümlich find. Santos: Dumont ift Fein flarfer, wiffenfchaftlicher Geift, fondern Etwas wie ein Dar Nordau der Technik, jonft würde er nit mit feinen Mitteln, die prinzipiell verkehrt find, die Löfung des Problems der Ballonlenkharfeit verfuchen. Seine Erfolge ver: hüllen nicht die Thatfache, daß er auf fulfchem Wege if. Das find Trug: ſchluſſe von materieller Art; vor ihnen kann man fi fügen. Das äfthe- tiiche Gebiet enthält viel gleigendere Verſuchungen und die Logische Vorher: beſtimmung ift fchwer, weil bier immer taufend Imponberabilien mitſpielen. Mit abfolutefter Sicherheit war voraus zu berechnen, daß die Ahnenallee im Thiergarten fehr häflich fein würde; es war mathematifch nicht anders möglich, auch wenn andere Seräfte, auch wenn bie allerbeiten mitgethan hätten, weil unfere Kunſt für folche Wirkungen nicht gefchaffen ift, wenn über: haupt je eine fünftlerifche Nealifirung folcher Pläne gedacht werben kann. Hier war e8 ein ähnlicher, faft mathematifcher Irrthum wie bei Santo®: Dumont; und die Erfolge, die der Patriotismus dabei errungen hat, dürfen nicht über die äfthetifche Thatſache wegtäuſchen.

In Darm-Athen lag die Sache komplizirter. Warum follte Heute kein Mäcen im Sinn be8 guten Behrens möglich fein? Gerade weil man fo viel Häßliches durch fürftlichen Eigenwillen entitehen fieht, liegt der Schluß nab, auch Werthvolles könne einmal aus ſolchem Wollen hervorgehen. Aber es iſt fchließlich immer nur wieder der felbe Mangel an logifcher Schärfe, der fo denkt; ganz wie bei Santos: Dumont.

Nein: e8 kann heute feine guten Mäcene mehr geben, wie es feine guten Feen mehr giebt. Und es ift gut fo. Die felbe Entwidelung, die und der fünftlerifchen Wohlthaten eines Medicäerthumes beraubt hat, hat ung von fehr viel unangenehmeren Dingen der felben Quelle befreit, deren peinliche Wichtigkeit heute ganz anders empfunden würde als damals, wo ji) ihre Alluren des Fünftlerifchen Faltenwurfs bedienten. Und das Merkwürdige an diefen vergangenen Mäcenen war nicht die Seltenheit ihres Fünftlerifchen Ge- ſchmacks; jie ftanden im äfthetifcher Hinjicht fehrverlich höher über dem Durd- ſchnitt al8 heute unfere heutigen. Sie konnten, wie jener fchnurrige Un, beim Flohfang, nicht daneben greifen, fie fanden immer, weil fie nicht fuchen brauchten. Es hilft nun einmal nichts: die beſſere künſtleriſche Leiſi iſt heute nicht nur ihrem Grade, ſondern ihrer ganzen Art nach Ausnal und entſpringt perſönlichen Impulſen, die durchaus nicht in der Maſſe wurz ja, von den Inſtinkten der Maſſe als entgegengeſetzt und faſt muß

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Darm - Athen. 197

fagen: oft mit Recht als feindlich empfunden werden. Die Völker haben heute, gerade heute, ganz Antered zu thun, al jich mit der Kuuft, fei fie nun angewandt oder abitraft, bewußt auseinanderzufegen. Bei der abſtrakten Kunſt fpringt e8 in die Augen; ein Boll, das vom Verftändniß für unfere vornehmften Kunſtblüthen, fagen wir: für Whiftler, Degas, Liebermann, ganz durhdrungen wäre, müßte dem Berfall nah fein. Diefe Situation mag wohl einmal bier oder da die nadte Annäherung zwifchen Fürft und Künſtler geitatten, niemals aber die friedliche Auyseinanderfegung der Beide begleitenden Nebenfaktoren, ohne die jih in Kulturländern nicht mehr die Perfönlichkeit, und fei jie auch noch fo allein, denken läßt. Ein hochentwideltes Mäcenaten⸗ thum, wie es fi die Darmftädter dachten, wäre heute nur bei einem ganz unentwidelten Volke, etwa in Rußland oder Afghaniftan, möglid.

- Denken kaun man fi zur Noth, daß ein Monarch heute feinen Willen durchſetzt und Skulpturen oder Bilder von der Maſſe unverftandener mwerth- voller Künftler erwirbt; er ftellt- oder hängt fie in feine Privatgemächer. Man kann fi) allerlei pathologifche Phänomene und jo auch einen jungen Kaifer vorftellen, der vor zwanzig Jahren Böcklin oder Liebermann gefauft hätte. Schon dazu gehört viel Phantafie; aber es ift ganz beträchtlich Leichter denkbar al3 das BVorgreifen eines Monarchen auf gewerblichem Gebiet in fo weithin fichtibarer Weife, wie e8 in Darmſtadt provozirt wurde. Auch wenn e3 fi bei dem Vorgreifen nur um eine geringe Spanne Zeit handelt, auch wenn heute fchon ficher ift was ih im Hinblid auf Ehriftianfen fchon im Voraus herzlich und nachdrücklich bedaure —, daß die Mafje ähnliche Formen, wie man fie in Darmſtadt zu fehen befam, binnen Kurzem als etwas höchft Gewöhnliches, höchſt Natürliches und höchſt Anftändiges betrachten wird. Es ift weniger die Sache felbft als der Widerftand der Mafje gegen ungemohnte Symptome und hat Etwas von der Abneigung eines Bumdes- ſtaates, die Briefmarken eines anderen anzunehmen. Gut fituirte Fürften können einander heute befriegen, fie können ihre Kolonien plündern oder ihre Ränder überfteuern. Das find bis zu einem gemwifien Grade vom Braud) geheiligte Eigenthümlichleiten. Aber heute ſoll mal einem Fürſten einfallen, einen neuen Hofenfchnitt ganz aus eigener Machtvolltommenheit zu verfügen! Der auf diefem Gebiet verdientejte Fürft, der König von England, hat feine unbeftrittenen Erfolge doc nur in einem befchränften Reſſort der Toilette errungen. Eeine glängendfte Zeiftung war die zehn Jahre lang mit Gefekes- kraft geltende Sitte, den legten Knopf der Weite offen zu laſſen. Gewiß nichts Seringes, da ja feititcht, dar diefe That einzig und allein feiner Initiative entjprang; aber man vergeffe nicht, dag er ſich auch darin auf eine Art Tradition ftügte und es fo machte wie die Pompadour bei der Einführung yer Sitte, den Fiſch mit der Gabel zu eſſen, oder ein anderer Mäcen bei

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198 Die‘ Zukunft.

der Schöpfung des Schnupftuches: ſcheinbar unabfichtlich, zufällig, fcheinbar, ohne fich was dabei zu denken. Und dann vergefie man nicht: es war der Prinz von Wales, der überhaupt originell war, nicht der König von England, nicht der Regent*). Iſt e8 etwa Zufall, daß jest alle Männer befierer Stände die Wefte wieder gefchloffen tragen? Hätte der Großherzog fcheinbar aus Berjehen die Billenkolonie auf der Mathildenhöhe gefchaffen, hätte man darin eine jener von dem biographifchen Gefühl der Maſſe fo verehrten charmanten Unabjitlichfeiten ahnen können, fo wäre vermuthlich ganz Helen im Etil Chrijtianfens umgebaut worden. Et encore!

Das Alles konnte man ſich ſchon am erften Tag der Außftellung jagen. Ich jehe noch ben General, der fo entjetlich bei der Feierlichkeit ſchnaufte, dem die innere Wuth mehr noch al3 fein Fett den Schweiß aus allen Poren trieb. Und die Generalin, eine nicht minder dide Generalin, die achtungvoll ben freundlichen Bliden des Mäcens folgte, der eigenmündig die Vortheile der Schöpfungen Chriſtianſens erklärte, umd die jungen Herren Lieutenant? und die älteren Herren Räthe, diefe ganze wohlgefügte, verbindlich lächelnde Sippe... E3 giug einen Tag, den Tag der ‚Eröffnung, der ‚offiziellen Beierlichfeit, an die fie gewöhnt find und die fie hochhalten, ob es ſich nun un die Einweihung eines Bismarckdenkmals oder einen Trinkſpruch auf einen Mameludenprinzen handelt. Sie waren natürlich nicht jo ordinär, an dem fhönen Sonnentag dem lieben, armen Yürften vor allen Leuten ins Geficht zu lachen. Sie haben überhaupt nicht gelacht, fondern ihr Werk jigend und fchweigend verrichtet. IJbfen, Goya, Thomas Theodor Heine! Keiner von Euch hat die kompakte Majorität, diefe jchwarze Maffe auf der Bruft des Eritidenden, dieſes Ewig-Rächerliche jo kompakt, fo ſchwarz, jo lächerlich ge- fehen wie ich an jenem goldenen Bormittag in Darmitadt.

Wenn Leute wie Behrens, Olbrich, Chriftianfen, um nur diefe Drei zu erwähnen, Künftler, über deren Werth hier nicht geftritten werden joll, ihre recht erfprießliche Erwerbsfphäre in München, Wien und Paris aufgeben, um nad) einem unbedeutenden Provinzjtädtchen zu ziehen, fo thun fies im der Hoffnung, dort mindeftens einen gewiſſen materiellen Erfolg zu finden. Sie wurden Profefjoren und erhielten einen befcheidenen Jahreslohn. Damit konnten jie leidlich zufrieden fein. Der gefchägte Titel erhöhte die Verfäuf: lichfeit ihres Signums, nichts Hinderte fie, nach wie vor ihre Modelle zu machen und zu verfaufen; ihre Gage war eine Art Wohnungentfchädigung. Das Abkommen war mit der Privatfchatulle des Großherzog getroffen... Künitler, hütet Euch vor der Privatfchatulle! Die Zeit der mit Brillanten

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*) Man halte mir nicht das naheliegende deutiche Beifpiel des ſenkrecht in die Höhe gebrannten Schnurrbart3 entgegen, das in diefer Ausdehnung nur durch militärifhe Suggeltion möglich wurde.

Darm» Athen. 199

beſetzten Schnupftabafdofen ift vorüber. Man ſchnupft heute nicht mehr ſo gediegen. Die Geſten haben ſich geändert; die Allure iſt immer noch die ſelbe, aber der Effekt iſt anders. Der Inhaber der Schatulle iſt ein ſchwer definirbarer Privatmann. Schließe Kontrakte, ſchöne, regelrechte Kontrafte mit dem Staat! Den könnt Ihr verklagen. Alles Andere iſt Unſinn.

Im Anfang ging Alles gut. Man lebte vergnügt und in Unfrieben, wie ſichs unter Künftlern gehört. Da entfteht eines Tages das Projekt der Häufer-Ausftelung. Es war eine außerordentlich fuggeftive und in jeber Hinſicht werthvolle Idee. Künftlern braucht man nicht lange zuzurathen, wenn es gilt, Flächen zu bemalen, zu behauen oder zu bebauen. ‘je mehr, defto lieber. Man hätte fie auch ohne Mühe dazu gebracht, jich eine eigene Kathedrale zu bauen. Der Plag wurde ja gepumpt und der Platz ift auch in Darmftadt Schon der halbe Weg zu einem Hausbau. Dagegen pflegen die anderen Ausgaben dem Bauherrn bekanntlich ftet8 die rührendften Ueberrafchungen zu bringen. Diefe hatten hier befonders pilanten Reiz, da fi in den Künftlern neben den mannichfachften Thätigfeitötrieben auch die widerftrebendften materiellen Impulſe wohl ober übel vereinen mußten, Impulſe, die, wie die Erfa hrung lehrt, nur durch eine wohlthätige Arbeitstheilung zu ihrem Recht kommen. Bauherr, Baumeiſter, Künſtler und Ausſteller in einer Perſon: Das iſt zu viel für ein Portemonnaie; der Erfolg war natürlich eine Tragoedie. Statt 50 bis 60000 Mark, was mir für ein vor den Thoren Darmſtadts gelegenes Wohn⸗ haus ſchon ganz reſpektabel erſcheint, koſteten manche Häuſer das Drei- und Vierfache. Die Schatulle ſah zu. Die Ausſtellung regt ein halbes Hundert Schriftſteller jeder Gattung zu intereſſanten Abhandlungen in einem halben Hundert illuſtrirter Zeitſchriften an, alle Fachleute find voll von der Aus: ftellung, aber die Portemonnaies der Ausfteller werden immer leerer. Die berühmten Aufträge, die in riejigen fchattenhaften Umriffen das Unterbewußt- fein der Künftler bevölkert hatten, bleiben, wo fie find, und in den Seelen der Frohgemuthen dämmert die Ahnung eines Rieſenreinfalls. Wenn fie wenigftens die Häufer felbft bemohnen könnten! Aber erjtens beginnen jegt fih Symptome zu zeigen, die den Künftlern die Reize eines bleibenden Aufenthaltes in Darmſtadt in zweifelhaften Licht erfcheinen laffen, und dann find die Häufer mit allen Ehicanen ausgeftattet und erfordern eine. zahlreiche Dienerfhaft, einen Hanshalt, der eine recht behagliche MWohlhabenheit vor- ausfegt. Das Fazit: die Künftler find glücliche Beſitzer von Häufern, die fie nicht bewohnen können und die etwa die Hälfte des Werthes ihrer Baar: auslagen darftellen. Sie jchulden der Schatulle hübfche runde Sümmchen für die Baupläge. Behrens hat, glaube ih, 18000 Mark dafür zu bezahlen. Und nun verfcjwindet plöglich die Schatulle. Die Angelegenheit wird vom Staat übernommen, der fie zunäcft einmal „ordnet“, fi) nad den Kon-

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200 Die Zutunft.

traften erfunbigt und dann ein langes Geſicht zieht; die Künftler machen freilich noch längere. Da bie vereinbarten Jahre zu Ende gehen, werden die Künſtler nüdtern und eindringlich gefragt, was fie jegt zu beginnen gedächten.

So fteht die Sache. Juriftifch genommen, ift nichts dagegen zu jagen. Barum bauen fich'die thörichten Künftler Häufer, die fie nicht verfaufen fönnen? Kein Menſch Hat fie dazu gezwungen. Natürlich reiben fie ſich Heute die Stirn und wundern fih, wie das Alles fo gelommen, und finden, daß fie furchtbar dunm waren, daß fehr ungerecht ift, was ihnen widerfährt, und wo denn nun eigentlich der Mäcen bleibe. Der aber ift mit anderen Dingen befchäftigt und bedauert, Natürlich find fie ſelbſt ſchuld; wie alle rechten Künftler, haben fie nicht zufammengehalten. Während der Eine dem Furſten Dies ober Jenes erzählte, ſchrieb der Andere ihm juft das Gegentheil. Ein Dritter verſucht, die Kollegen zu einer Palaftrevolution zu reizen, läuft aber gleichzeitig zum Fürften und ſchwört ihm, er fei nur nad) Darmftadt gekommen, am ſich mit Seiner Königlichen Hoheit über die Ziele modernen Gewerbes zu unterhalten... Sentimentale Leute meinen, der Fürft hätte nicht an= fangen dürfen; habe er A gefagt, fo müſſe er auch B fagen. Kunſtler jeien unverantwortliche und in gefchäftfichen Dingen unmündige Kinder, denen man feine materiellen Intereſſen anvertrauen dürfe, nicht mal ihre eigenen. Für dieſe Leute ift der Furſt immer no der Damm mit dem langen Bart und der ſchönen Krone, der eine ewig gefüllte Schnupftabafdofe in der Hand hält.

Ich bin nicht diefer Anficht und finde, daß die darmftädter Poſſe von großem Segen für die Menfchheit ift. Ein guter Mäcen kann uns nicht für zehn andere entfhäbigen; darum lieber überhaupt feine. Steh auf Deinen eigenen Beinen und fieh Did um! Heute Haben die Fürften gerade fo ihre rein gefhäftlihen Jutereſſen wie jeder Bierbrauer oder Handſchuhwaarenfabrikant und follen fie haben. Und Künftlern ift mit der beten Begabung nicht ge: holfen, wenn fie ſich im gefchäftliche Dinge mifhen, ohne Etwas davon zu verftehen. Ich glaube, daß einen Augenblid das fünftlerifche Intereſſe beim Macen fo groß war, wie es bei heutigen Mäcenen überhaupt fein Kann. Aber tout passe, tout lasse. est höre ih, da man das barmjtädter Theater umbauen will und dafür 800000 Mark auswirft, von deuen 300000 Mark von der Schatulle bezahlt werden; und diefer Bau ſoll nicht Olbrich, nicht Behrens, einem der Darmftädter, fondern einer befichi Routinierfirma übertragen werden. Das ift ein Bischen hart, aber gejunt denn es reinigt. Ich fehe noch die Vorftellung anı Eröffnungtage in den modernen Künftfertheater, mit der modernen Bühne, der modernen Spieler: und dem gänzlich unmodernen Publikum. Der Fürft ſaß ernft und ſchar und alle Anderen fagen ernft und ſchauten, betrachteten feierlich und ı ſtandnißvoll den gänzlich unverftändlihen Vorgang auf der Bühne. 9

Stoffen. 201

war angft und bang. Heute ift mir wieder wohl; es giebt Keine Geſpenſter, feine vierte Dimenfion, auch feine Kunſt mehr, die für Fürften da iſt; und noch weniger ein Gewerbe. Es wäre die wunderlichfte Jronie, wenn unfere gewerbliche Renaiffance von Mäcenen gefördert werben Könnte; dafür ift fie zu bürgerlid. Sie bricht ja gerade mit Dem, mas an Fürftenhöfen ge macht wurde, und ift eine der vielen wefentlich fozialen Evolntionen unjerer aufitrebenden Zeit, und ficher nicht die unbedeutendfte.

Die Schatullen werden kommen, wenn erft das liebe Volt will. Ich fehe ſchon alle Throne Europas mit Chriftianfens Linien und Yarben ges ſchmuückt. Heute geht es nicht mehr von oben, fondern von unten; und darüber follten wir Alle ung freuen.

Paris. Julius Meier-Graefe.

Gloſſen.

I man nicht noch heute vielfach der Anficht, daß die Deutichen als Eflayijten und Feuilletoniſten nicht eben den eriten Pla in der Welt« literatur einnehmen? Dieje Anſicht hat unter den Deutichen felbit jedenfalls die meiften Anhänger; im Grunde eine ftolze Selbitwürdigung. Man bielt und hält bieje und verwandte Schriftgattungen nicht für erften Ranges; nicht für geeignet, die Seele eines tiefen, jchöpferiichen, ſchatzgräberiſchen Geiſtes aufzu- nehmen. . Die Handvoll Schriftiteller, die als Eſſayiſten und Tyeuilletoniften Ausgezeichnetes geleiftet haben, find auf Ummegen in dieje von den Zünftigen aller Werthgrade mit kaum verhüllter Verachtung behandelte Literatur gelangt; und jo ftarf laftete diefe Geringſchätzung auf ihnen, daß fie felbft nur refignirt, nur als Enttäufchte, wie mit einem heimlichen Neid auf die Erfolge erftbefter Lindenblüthenlyriker im Herzen, ſich gefallen ließen, was fie als Afterruhm empfinden mußten. Und die Stärfften unter ihnen (ich denfe an Die um und nad Wilhelm Scherer), ſprudelnde Birtuofenteınperamente, deren Begabung in “der Bildkraft der Sprade, im anregenden Bermittlertbum, in phantafievoller Kombinationthätigkeit liegt und die nur ſchwer zur Andacht vor dem Detail fi zu erziehen vermögen, die aller Wifjenfchaft Anfang ift, fie wurden unter diefem lähmenden Drud der öffentliden Schägung verführt, ihre natürlihen Neigungen zu überwinden und zur Buchform zu greifen, die ganz zu erfüllen, die Plaſtik ihres Denfens wieder nicht ausreicht. Anders iſts bei Franzoſen und Engländern. Die Franzoſen pflegten fogar jeit Jahrhunderten mit zärtlichiter Liebe den Aphorismug, die auf die kürzeſte, zierlichfte, bündigfte Formel gebrachte perfön- liche Ueberzeugung, den mit dem ganzen Nebel einer momentanen Stimmung oder Laune behafteten Einfall, und wanden ihren Diarimenjchreibern, ihren in Penades und Apercus fi} auögebenden „Leinen Moraliſten“ Kränze. Ya Rochefoucauld,

202 Die Zukunft.

Bascal, Chamfort, Bauvenargues find Klaſſiker geworben; bei den Deutichen jcheint dagegen der angeborene Hang zur Sründlichkeit, zur gewiflenhaften Er⸗ örterung der Gedanken, zur Kontrole des Temperamentes durch die logiiche Zucht die Scheu erzeugt zu haben, philoſophiſche, wiſſenſchaftliche und kritiſch Literariiche Broblemeirgendwieandersalslehrhaft, umftändlich, polemifirend(oder denunzirenb ?) und demonſtrirend, kurz: ſachgemäß zu behandeln. Die perjönliche Färbung des Ausdrudes, dort berechtigt, wo die Einjicht noch nicht endgiltig ijt oder end⸗ giltig nie werden kann, ift verpönt und macht verbädtig. Perſönlich zu werden, iſt hochſtens Dem erlaubt, der den Beweis feiner literariichen Kompetenz durch eine umftändliche Xeiftung erbracht hat. Aber wir werden für ımjere Tugenden be ftraft: der Bücher werben immer mehr und fie werben nicht befjer. Und doch wird das Vorurtheil gegen den Eſſay, das TFeuilleton und den Aphorismus nur langſam loderer; gelehrte Zetteljäde, die nie ein Gedanke entzündet, verjchreien fie immerfort als Baftarde. Beſonders ſchwer hat Nietzſche, vielleicht der größte Uphorismenfchreiber aller Zeiten und Völker, unter diefem Vorurtheil zu Leiden. Der Aphorismus gilt nach wie vor als Alyl für die literariide Ohnmacht, was freilich oft zutrifft. An den Eſſay Hingegen Hat man fi) allmählich doch ge- wöhnt: allein ſchon bie Quantität der Leiftung, bie berechenbare Zeitmenge Geduld, Ausdauer, Sitzfleiſch verſöhnt. Auch haben herrliche Leitungen feiner Anerkennung vorgearbeitet, ihn legitimirt: die Eſſaygs von Herman Grimm, die Aufläße von Wilhelm Scherer, %. Th. Viſcher, Karl Hillchrand, Heinrich von Treitſchke (der ſich nur leider als zur Wiſſenſchaft gehörig betrachtete), Eduard Hanslid, Richard Muther und noch jo manden rüftig Schaffenden rechne ich hierher. „Immerhin blieb oft genug wurde man daran erinnert der Eſſay eben nur geduldet; Doch entlud fih, was in den Inquiſitionrichtern der Literatur (wie Goethe fie nannte) an Groll gegen ihn ſich anhäufte, zeitgemäßer gegen feine Zwillingsſchweſter, das Feuilleton.

Nun: angefiht3 des ganz auffälligen Reichthumes an Eflayfaınmlungen, die in den letzten Jahren den Büchermarkt überfluthen und unter allerhand ge- ſuchten, graziös verjchnörfelten Namen die Aufmerkſamkeit zu fefleln ſuchen, müßte man von einem bemerfenswerthen Wandel im literarifchen Geſchmack der Deutjchen fprechen dürfen. Soll mans glauben? Sind wir weltinänniicher ge- worden? it das Raffinement der Kultur bei uns fo gejtiegen, daß wir dem Ernſt, der Tiefe (der guten Abſicht nach!), der Gründlichfeit und Gewiſſenhaf⸗ tigfeit, Allem alfo, was wir als deutfche Tugenden zu verehren gewohnt find, die Grazien des Ausdrudes vorziehen? Daß dieſe ung mehr loden als der Sinn der Sache? Ich ſpreche Bier nicht von den Sammlungen wiffenfchaftficher Auf- füge und Vorträge, dur die die Gelchrten aller Disziplinen die Ergebnifie ihrer Forſchungen einem größeren, nicht durchaus fachmänniſch gebildeten Publikum näher bringen wollen; alſo nicht von den befannten und populären Arbeiten der Helmholg, Mad, Zeller, Wundt, Windelband, Wilamowih - Diöllendorf, Eurtins und anderer Profefjoren. Belehrung iſt diefer Gelehrten Endzweck. Die künſtleriſche Wirkung des VBortrages mag ſich als ungewollter Nebeneffekt ab und zu einftellen; aber fie tft nicht beabfichtigt, ift zufällig. Unfere neuften Eſſayſammler aber find Urtiften. Ihre Sammlungen find auf unfere Gemüths bebärfniffe berechnet. Die Kritiker, Rezenſenten, Referenten, Ausfrager, Leit

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artiller, Börſengracchen, die Schmocks jeder Gattung und beiderlei Gefchlechts, fie Ulle, die bisher mit vielem Fleiß und „nicht ohne Talent” fich, ihre Familien und obendrein noch ihre Verleger ernährt Haben, fie, die doc) täglich, ſtündlich beinahe Gelegenheit haben, ihr überfließendes Herz in die Kanäle der öffentlichen Meinungen ausftrömen zu lajlen, die ihrer Madhtinftinfte in ben Be- und Ber- urtheilungen ber geſammten literarifchen und künftleriichen Produktion des Lan— des fich entäußern können, die ihrer Luſt, zu fabuliren, einen unerhört weiten Spielraum gewähren dürfen, fie fühlen fi trogdem unbefriedigt, wohl, weil fie das Butrauen hegen, in jedem Augenblid Ewigkeitwerthe zu: prägen, und können dem bejcheidenen Drang nicht widerjtehen, ihre Würdigungen zu ſammeln und mit ihren Sammlungen die deutjche Literatur zu beſchenken. Schmod be= ſchenkt die arme deutjche Literatur: Das ift, fcheint e8, das Neufte. Und wenn Papier, Typen, Bierleilten, Bignetten, Finalſtöcke, Vorjagblätter, Eindband- zeichnung, kurz: der fünftlerifche Zubehör modernen Buchdrudes und Buchſchmuckes den Literaturwerth des Werkes bejtimmen, dem er dient, dann dürfen wir zu der neujten „Evolution“ des deutſchen Schriftthums ung beglückwünſchen. So eine Feuilletonſammlung präjentirt fih nicht jelten mit der ganzen Anmaßung eines modernen Kunſtwerkes; aber oft hülft ein wirklich geſchmackvoller Einband den bürren Leib Schmods ein. Wunderlich gefräufelte Linien umſchlingen auf dem ZXitelblatt jeinen Namen; und vor dem ins Bebeutfame gejteigerten Ge— jammttitel der Sammlung, den goldene Lettern auf buntfarbigem Dintergrunde verfünden, mag ihn jelbit das Gefühl feiner Kulturnothwendigkeit durchſchauern. Dann wird das Buch beiprodyen, gewürdigt ... . Aber man erjpare mir das Weitere; es ijt zu ſchmerzlich.

Man könnte jagen: diejes von Ungeſchmack triefende Literaturgefhwäß jei in feiner Nichtigkeit fo greifbar, befonders die großthueriichen, Schmods philofophiiche Schmerzen sub specie eines hinter ihm orakelnden Modegötzen ausladenden Vorreden jeien im ihrer Hohlheit fo dburdfichtig, daß Dem Nicht ‚geichehe, der davon fich verlocken laſſe. Mean könnte einwenden, daß literariich jein wollende Zünftler in bedrohlichem Umfange der Mode huldigen, ihre ver- ftreuten, ganz ohne ibeellen Zuſammenhang entftandenen Aufſätze und Ab⸗ "Handlungen bei Gelegenheit irgend einer Tages», Jahres- oder Jahrhundertwende als Weltanichauungproben der Mitwelt aufzudrängen fuchen und diefem Unfug eben fo wenig gefteuert werde. Das ift nun freilich) fchlimm genug. Aber ein Unfug hebt den anderen nicht auf; und der von ben Profefloren verübte ift der barmlojere, da troß aller Stilaffeltation, trog aller Eipritfudht, um den „Eſſay“ künſtleriſch auszupugen, die in langer Arbeit erivorbene Denfzucht meijt vor völlig nußlojem Gerede behütet; meift wird doch menigfteng gefärrnert: nicht nur behauptet, fondern bewieſen, zu beweifen gejucht; und falt immer wird ein reeller Denkzweck verfolgt. Mit dem Eſſay als Kunſtwerk mit eigenen Stil: gefeßen, wie er fih unter den Händen der Meifter, von Montaigne und Bacon bis herab zu Emerjon, Carlyle, Macaulay, Sainte-Beuve und Herman Grimn geftaltet hat, ift es freilich fo gut wie nichts; dazu fehlt der Betrachtung alles Freilicht, aller ſchöne Wagemuth der Sfepfis, alle Freude an den „Abenteuern der Erfenntnig" ober in Fällen, wo diefe Gaben vorhanden find, der an Ge— jeße gebundene, durch fünftlerijchen Geſchmack vor Ueberſchwang bewahrte Gebrauch

204 Die Zuhmft.

der Bhantajie. Uber ift darum bie Kunſt des Eſſay- und Feuilletonſchreibens bei unjeren Kritikern und Journaliſten beſſer aufgehoben? Ich meine jene Kunit, die Anjpruc auf dauerndere Geltung und ein Necht hat, mit der Augenblide: wirkung fich nicht zufrieden zu geben? Selbſt die vielen Talente, die unter ihnen fih regen und, wenn auch meijt nach berühmten Muftern, antegend, wibig, geüt« rei, urtheilsfähig und zu urtheilen berufen find, vermögen fich dem Eſſay ober senilleton ats Kunſtwerk doch nur von fern zu nähern, weil ihnen die auf eigenem runde ruhende ‘Berfönlichkeit, weil ihnen die reizvolle, auf Wudere übergreifende Xmpreffionabilität, das cite, auch ins Kleinſte und Nebenjäc- lichfte übergreifende Denker: und Dichtertfum abgeht. Wenn fie fih aufs fleißige Beobachten und Berichten beichränfen, fih vor den Yallitriden billiger Para⸗ dorie in Acht nehmen, dem Selbjterlebten kritiſch Erhörtes und umfichtig Er- lefenes beimengen und ihren Stil nadträgli von den vielen unjhönen, un- keuſchen Zuthaten ſäubern, bie der fo oft in Angft und Noth und Gewiſſens pein vollbrachten Tagesſchriftſtellerei nothwendig anhaften, dann dürfen fie ſich „lammeln“ ; dann fommen jo brauchbare, fu lejenswerthe, weil belehrende Werke wie Soldmanns Chinabuch oder Buftav Fr. Steffens’ Buch über England als Weltmacht und Kulturftaat zu Stande. Uber, wie gejagt, verhältnigmähige Dauer kommt jolhen Büchern doch auch nur wegen ihres lehrhaften Sternes zu; die Subjeftivität ihrer Verfailer, intereflant genug, einem ihrer Feuilletons eine Ihöne Augenblidswirkung zu fihern, reicht zu mehr nit aus. Wer dieſes Mehr will, muß es auch können; muß die Macht und Breite der Seele haben, winzige Erlebniſſe, Theater- und Bilderemotionen zu vergeiftigen, zu vertiefen, zu verallgemeinern, an allgemeine Einfichten zu knüpfen: mit Goethe zu reden: auf das Niveau der ewigen Erijtenz zu heben. Und Die e3 konnten, die Leſſing, Diderot und Sainte Beuve, deren Seele hatte Schidjal, hatte Geſchichte. Kann aber jeder Schmock Solches von ſich Jagen? * * *4

Ich ſprach eben vom Aphoörismus und mußte dabei Nietzſches gedenken. Mußte? Wie viele Deutſche danken ihm denn, daß er in dieſer kleinſten Lite— raturgattung Srößtes geleiſtet und der deutſchen Sprache Töne von ungeahntem Klangreiz abgelockt, daß er oft bei geringſtem Wortverbrauch bisher Unaus: geſprochenes zu ſagen verſtanden hat? Noch ſcheint die Zeit der Erfüllung für ihn nicht gekommen. Vor rund achtzehn Jahren ſchrieb er: „Haben wir uns je darüber beklagt, nicht verſtanden, verkannt, verwechſelt, verleumdet, verhört und überhört zu werden? Eben Das iſt unſer Los, o für lange noch! Sagen wir, um beſcheiden zu ſein, bis 1901; es iſt auch unſere Auszeichnung.“ Aber noch heute affektiren die Zünftigen, abgeſehen von der Ablehnung des Inhaltes, was ihr gutes Recht iſt, die gründlichſte Verachtung für die Form dieſes ſtiliſtiſche Geſchmeides, für dieſe unerhörte Fähigkeit, jede, auch die leiſeſte, heimlichſt Regung des Gedankens, jede, ſelbſt die ganz nach innen bohrende Wallung der Affekte in Worte zu faſſen, die, trotz aller Glätte und Plaſtik, ihren Seelen— nachklang doch nicht verlieren. Zugleich aber wächſt unter den Literaten dat Heer jeiner ungeſchickt tölpelhaften Nachmacher über alles verdaulihe Map Beides, Verachtung und Nahahmung, it nur zu begreiflid. Der Zünftige ve: mißt die beſonnen demonjtrirende Vortragsmeife, die bequem fontrolirbare Methr*

Glofien. 205

im Aufbau der Gedanken, die willenjchaftlide Schablone in Konſtruktion und Mittheilung. Er wird, er darf, nah Gewöhnung und Eigenart, nicht zugeben, dab ein philojophijcher Gedanke nicht gebrochen zu jein braucht, wenn er in Bruchſtücken fih mittheilt. Er wird und darf nicht zugeben, daß mit dem Ge: danfen zugleich auch feine Geburtwehen veräußerlicht werden, und muß dieſe Berquidung von Sadlidem und Perjönlidem für einen Abweg ins Dilettan- tifche, für einen unerlaubten Zwitter halten. Bücher, die in der „Sprache des Thauwindes“ gejchrieben find, Bücher voll Uebermuth, Unruhe, Widerſpruch und Uprilmetter fcheinen dem nationalen Temperament zuwider; ihm imponiren nur maffive Bauten, in denen die „Erfenntniffe” wie Quaderſteine ſich in ein- ander fügen und aus denen die freie Willfür im Gejtalten und der in immer neuen Anſätzen ſich entladende Erfennerdrang verwiefen find. Uber muB darunı der Mann ſchlimmer behandelt werden als ein „toter Hund“? Muß darum von Ranzeln und Kathedern gegen ihn mit immer fteigendem Lärm unfläthig gehetzt werden, als ob jeder Angriff auf die Form unferer Kultur (oder Unfultur) jchon ein Berbredden jei, als ob jede Verwirrung eines Schwachkopfes, dem jeder unge⸗ wohnte Gedanke, jede Paradozie die Kapfel jprengt, den Verkündern neuer An- ihaunngen zur Laſt gelegt werden darf? Man befämpfe Nietzſche. Man wider- lege ihn, wenn man fann. Man meife nad, daß er beffer gethan Hätte, bie bewährten Gleije ſchulmäßigen PHilofophirens nie zu verlafien. Man bedaure, mit dem kieler Philofophieprofeflor Deußen, nadhträglich, daß Nietzſche das Che- glüd und den SKinderjegen verſchmäht Habe; man erinnert fi), daß der zweite Theil des „Fauſt“ nicht gefchrieben wäre, wenn Goethe, von Du Bois-Reymond berathen, dein Heinrich die Grete Firchlich‘ vermählt hätte. Aber man hoffe doch nicht, den Glauben verbreiten zu können, Bücher machten ein Leben wirr und fraus, das vorher fräftig und geſund gewelen jei. Und wenn es Büchern ab und zu gelingt, fieches Leben fchneller zum Berwelfen, morſches Gemäuer jchneller zum Cinfturz zu bringen, fo haben fie ihre Schuldigkeit gethan: es hat ihrer nie viele gegeben. Weder heute noch früher. Und weder heute noch früher find Bücher von folcher Wirkung jajagende, bejchwichtigende, bie eben geltende Norm verherrlichende, die Zujtimmung der Mehrheit erſchmeichelnde geweſen. Das jollten ſich auch unjere akademiſch gebildeten Lehrer jagen Fünnen, wenn fie ein Novum in den Lebensläufen ihrer Abiturienten über den Namen des Vielgefhmähten ftolpern. Sie jollten fi jagen: Bon den Büchern, die wir als Heiligthümer zu verehren anleiten, giebt es nur wenige, deren Berfajler zu Lebzeiten den Galgen nicht wenigſtens geitreift, am Giftbecher nicht wenigſteus die Lippen genebt haben. Bon Plato, der heute von nicht Wenigen als der gute Genius Europas belsbigt und dazu mißbraucht wird, allerhand mitter- nächtige Intelligenzen wachzurütteln, bi3 auf Kants „Alles zermalmende” Wer: nunftfritif, Bi8 auf Bismards Neuausgabe von Macchiavellis Bud über den Hürften ſteckt Alles voll Tüden, vol dialektiider SKniffe, die dei Normalverjtand foppen und feinem Schäferfrieden gefährlid werben könnten, wenn er... ja, wenn er begriffe, was ihn eben nicht ergreift: nämlich ihren unverföhnlichen Proteſt gegen jeine Denf- und Lebensformen. Und deshalb jollte man fich fagen: Was die Gefahr folcher jeweilig moderniten Bücher paralyfirt, tft die fieg- bafte Kraft des Lebens, das von allen gedrudten Proteſten ſich das Wejentliche,

206 Die Zukunft.

den Stern, die Seele aneignet und einverleibt, alles Andere aber als Schall und Rauch von fi abſtößt. Darum auch müßten Takt und Klugheit die wirklichen Aufklärer, als Anleiter zum Geſunddenken, die fie doch jein wollen, verpflichten, die Widerfacher erſt ganz verftehen, ja, den advocatus diaboli jpiclen zu wollen. Der Nachlaß Nietzſches erleichtert diefe Rolle ſehr wejentlich.

Sein Neihthum tft erjtaunlid; und ohne Webertreibung kann gejagt werben, daß der aus dem Nachlaß veröffentlichte fünfzehnte Band der Werke Nietzſches dem Verftändnig feiner Gedanken ungeahnte Stüßen bietet. Manche

Seite lieft man wie die Erläuterungichrift eines Tzremden: jo wechſelnde Stand- punkte tauchen bei der Behandlung philofophifcher Wertbfragen auf, ſo frei ericheint die Stellung bes Berfaffers, der fich felbft einen Argonauten des Ideales nennt, gegenüber feinen eigenen, zähen. Idioſynkraſien. Es ift das Werk, das Niegihe am Schluß ber „Genealogie der Moral" (Sommer 1887) ald „Der Wille zur Macht, Verſuch einer Umwerthung aller Werthe” antündigt. Wie es vorliegt, 'mit unfäglicher Mühe aus ben Manufkriptbüchern des Verfaſſers von den Brüdern Horneffer entziffert, oft flüchtig andeutend, wie um ben rafend ichnellen Flug der Gedanken mit Bleiftift oder Feder feitzubalten, oft in breiterer, die foftematische Meifterung des ungeheuren Problemes anftrebender Daritellung, bat es in jeiner äußerlichen Unvollendung den Anſpruch, neben „Senfeits von Gut und Böfe* und der „Genealogie der Moral” als Hauptquelle für die Lehre Nieiches zu gelten. An vielen Punkten erfcheint die Kritik des europätichen Nihilismus nicht jo Hoffnunglos unverföhnlidy wie jonft: die herrſchenden Nicder« gangswerthe jtellen fi) manchmal doch als Erhaltungwerthe dar, nur maskirt, nur für den Gebraud des intelleftuellen Durchſchnittes bemäntelt, als eine Art morality made easy. Und dann leje man, um fi) von dem Werthe dieſes nachgelaffenen Bandes eine Vorftellung zu machen, die Bemerkungen über Bere brechen und Verbrecher: daß fie fo tief in die phyſiologiſchen Beſtimmungsgründe der menſchlichen Pſyche eindringen fonnten, danken wir der Vorliebe Niegiches für den Ausnahmemenfhen und bie Ausnahmezuftände im Normalmenſchen. Jeder wird zugeben, daß bier die Liebe dus jo bequeme Mitleid überwindet. Auch wird die aus Umverftand oder gehäſſiger Abficht geichürte Borftellung, als jet das Wort und die Vorſtellung von Uebermenſchen der höchſte oder gar einzige Gedanfe, bis zu dem fich dieje vieljeitige Natur erhoben babe, Hier auf Schritt und Tritt widerlegt. Aber ich thue Unreht, auf Einzelheiten hinzu⸗ mweilen; Kenntniß des Ganzen iſt nöthig, zur Befräftigung der Ueberzeugung, daß Nießjche, der jo gern mit feinen Meinungen fpielte, es nie mit jeinen Ge innungen that. Die Stimmung ift meiſt, im Vergleich zu Ipäteren und gleidy- zeitigen Schriften, wundervoll ruhig, der Ton nur felten überfteigert, überreizt, vielmehr wie durch die Rückſicht auf die wiſſenſchaftliche Unterfellerung der Lehre gemäßigt. Als ob Nietzſche für dieſes „Iyftematifche Hauptwerk” ein Lritijches, ein mit Ohren, die durch die VBorurtheile des Marktes nicht verjtopft find, hörended Auditorium ind Auge gefaßt hätte.

Dr. Samuel Saenger.

v

Selbſtanzeigen. 207

Selbſtanzeigen.

Chriſta Ruland. S. Fiſchers Verlag, Berlin 1902.

Das Innenleben einer reich veranlagten Frauennatur in feiner Ent- widelung aus den Zeitftrömungen heraus mollte ich in „Chrifta Ruland“ dar- jtellen; einer Frau, die fi) auseinanderlebt, jtatt fi) auszuleben, die ſich kometen⸗ haft zerfplittert, weil fie inmitten einer Zeit fteht, die für die Frau eine Welt⸗ wende bedeutet, weil fie ein Webergangsgejchöpf iſt. „Wir, die junge Frauen— generation”, jagt ihre freundin Maria, „ſtehen Alle noch wie auf einer Brüde; die Brüde ruht nicht auf feftgefügten Pfeilern, darum ſchwankt fie; und fie hat auch fein Geländer und wir ſchwanken mit; und wer nidht ficher auftritt und nicht ſchwindelfrei ift, ſtürzt leicht hinab; und am Ende der Brüde ift eine Sphinx. Es ift ein Zwieſpalt in uns Werbenden zwiſchen dem WAltererbten und dem Neuerrungenen. Was feit jo vielen Generationen Recht und Brauch ‚war, hat fi} unferer Gefinnung einverleibt; es ijt beinahe Inſtinkt bei uns geworden. Wir haben noch die Nerven der alten Generationen und die Intelligenz und den Willen der neuen.” Das von allen früheren rauengenerationen erworbene, aufgehäufte Spezial⸗Weibthum heftet fich als eine Art milder Furien oder Me- dujen an die Sohlen der „Neuen Frau“, ihren Willen und ihr Walten lähmend; die Theofophen nemmen es Karına. Und diejer Zwieſpalt, in dem die Gegen- wartfrau Hin und ber gezerrt wird, ift Chriſta Rulands Tragif. Sie hat aber auch vollen Antheil an dem Geift ihrer Zeit. In der Gegenwart gehört fie einem Typus an, als deffen Reinzucht der ſchwärmeriſche Aſket Daniel Rainer gedacht ift, dem Zeittypus, der von einer fiebernden Schnjucht nad} einer vierten Dimenfion erfüllt ift, aber auch von anardiftifchen Regungen edlen Stils, die jelbft vor den Naturgeſetzen nicht Halt machen. Es find Xeidende, an ſich Ber: gehende, dte fi von Gott und Religion losgejagt Haben und mit frommer Gier in fi) ein neues höchftes Wejen fuchen. Chrijta fühlt, daß fie nur ein dürftiges Reis ijt jenes ftarfen Stammes verwegen phantajtiiher Denker. hr fehlt es an Berfönlichkeit. In Jahrtauſende lang währender Einfperrung hat das Weib die Flugkraft, da es fie nicht brauchte, eingebüßt. Ihre Vergangenheit greift in ihre Gegenwart hinein. Ein unfichtbares, myſtiſches Band vereint die Frau von heute mit ihren Schweitern aus ferner Beit. Ihre Flügel find lahm, weil fie ein weltgejchichtliche8 Karma tragen. , Hedwig Dohm.

3 Gedichte. Kaſſel 1902. Karl Bietor.

Ein Freund fagte einmal zu mir: „Deine Gedichte haben feinen ftarfen Ellbogen nöthig, um ſich duch das Dichtergedränge hindurchzuarbeiten.“ Ich habs gewagt. Dean zürne mir erft nachher.

Münden. R Guſtav Adolf Müller.

Gebt uns die Wahrheit! Ein Beitrag zu unferer Erziehung zur Ehe. Keipzig 1902. Hermann Seemann Nachfolger. |

In der Arbeit, die ich nun den Leſern vorlege, habe ich jenes gefährliche MWageftüc unternommen, vor dem jelbft einem alten Teufelskumpan wie bem

208 . | Die Zuhmft.

Doftor Fauſt heimlich, graute: Ich bin zu den Müttern Hinabgeitiegen. Die Mädchenerziehung ift von je ber eine heiß umftrittene Yyrage geweien. Alle Damen, alle Herren haben darüber höchſt löblich und leidenſchaftlos geſprochen und nur uns ſelbſt, den Hauptperfonen in diefer beliebten Farce, wurde jede felbjtändige Willensregung einfach abgefchnitten. Wir blieben ftumme Träge— rinnen unferer naiv⸗ſentimentalen Rollen, die uns im letzten Akt die nothwendige Zuftipiellöjung bringen mußten. Das tft im Grunde einfache Logik der That- fahen. Ein nad) den Regeln der Geſellſchaft gedrilltes weibliches Wefen ver: gißt nur zu raſch, Über fih und feinen Entwidelungsgang nachzudenken. Als junge Dante bat fie weit wichtigere Funktionen zu erflillen, als ihr Innenleben einer Betrachtung oder gar einer Kritik zu unterziehen. Auf Grund, wie id tühn behaupten darf, ehrlicher pigchologifcher Forſchung verſuchte ich, in meinem Bud eine Darftellung jener gefährlichen Miſchung der äußeren WVelterziehung und der geheimen Selbitenthaltung zu geben, die fpäter fo fchädigend auf bie Entwidelung unferer phyſiſchen und pſychiſchen Kräfte zurüchwirkt. Keine frivole AUbficht, nicht die Sudt, mit der PVerneinung des Althergebraddten modern zu wirfen, hat mich dazu beftimmt. Doc, das Ausſprechen gewifler Thatfachen wirkt in unferen an keuſchen ... . Obren fo reichen Gefellfchaft immer weit verleßender als deren Ausübung. Iſt Einer von ung ein unangenehmes Abenteuer paſſirt, fo breitet die Welt unter falbungvollen Reden den fadenfcheinigen Mantel ihrer Nächftenliebe darüber. Denn Das kann jeder Mutter Kind gefchehen. Aber ſpricht Eine von und darüber, fchreibt fie dDurchlebte, durdjlittene Gedantentragoebien, die das Leben in taufend und abertaujend Fällen zur Wirklichfeit madjt, gar nieder, dann giebt es Sfandal, und die Steine fliegen. Denn da iſt man wohl fiher: Des braucht wirklid nicht „jeder zuzufommen. Möge denn das Büd;- lein feinem Scidjal entgegengehn; vielleicht wird mein eigenes Geſchlecht zuerſt wider mich aufltehen; auch jene ganz Neinen, für die es in lichterfüllten Stunben niedergefchrieben wurde. Elje Jeruſalem-Kotaänyi. * Wunderheilung und Gottesglaube. Karl Duncker, Berlin 1902.

Der zuerft von Nietzſche in feiner ganzen Tragmeite erfaßte Sag, daB die’ Stärke der Suggejtionwirkung eines Glaubens niemald einen Maßſtab abgeben kann für deſſen MWahrheitgehalt, erhält durch die von der Scientijten« Sekte vollbradten Heilungen eine Bejtätigung, wie fie entjchtedener gar nicht gedacht werden kann. Cine Metaphyfif für Hintertreppe und Rockenſtube Beilt Mondjüdtige und Gichtbrüchige, während Herr Stoeder, der ohne Trage im Befi des wahren Gottesglaubens ijt, fi) beicheiden muß, die glüdlicheren Son Eurrenten zu beneiden, ihnen ihre Gewinnſucht vorzumerfen und, was feine eigene Perſon betrifft, Klagen, daß die Ichönften Wunder, die er thun möchte, un- gethan bleiben, weil nad) einem unerforjchlichen Rathſchluß die Gnadenhilfe vo oben verjage. Darin ftimmt mein Schriftchen mit Herrn Stocder überein, da die deutjche Kolonialpolitif viel großartiger daftände, wenn, zum Beilpiel, bie Lues der Chineſen bei bloßem Handauflegen unferer Miſſionare fofort verfchwände

Karl Troft. ð

Der Ozeantruft. 209

Der Ozeantruſt.

och gar nicht lange ift es ber, da ftanden die Frachtraten in der ganzen Y Welt jo Hoch, daß der Außenhandel der einzelnen Ränder gefährdet fchien. Damals, als die erjten Befürchtungen wegen der amerifanifchen Gefahr in Deutjch- land auftauchten, wurden die ängſtlichen Gemüther mit dem Hinweis beruhigt, ein rationeller Export nach Deutjchland ſei ſchon deshalb unmöglich, weil die Frachtpreiſe viel zu hoch feien. Allerlet Umftände hatten eine außerordentlich günftige Konjunktur geichaffen. Dann kamen ber ipanifch-amerifanilche Kricg, der Transpaalfrieg und die chineſiſchen Wirren. Durch diefe politiichen Ereig- niffe wurde der verfügbare Schiffsraum weit über das gewöhnliche Ma hinaus in Anſpruch genommen, fo daß die Transportkoften fich in Folge ber gejteigerten Nadfrage beträchtlich erhöhten. Wie e8 aber in der regellofen Fapitalijtifchen Wirthſchaft nun. einmal zu gehen pflegt: die Ahedereien wollten nicht einjehen, daß es fi nur um vorübergehende, außerordentliche Erſcheinungen handle; fie glaubten, die Hohen Frachtpreiſe würden fich dauernd Halten. Dan baute wild darauf [o8, um neuen Schiffsraum in Konkurrenz bringen zu können. Inter—⸗ ejlant ift in dieſer Hinficht die Statiftif des Germanifchen Lloyd für das Jahr 1901, aus der hervorgeht, daß an Hanbel8dampfern im Bau waren 1899: 543 000, 1900: 584000, 1901: 624000 Tons Brutto. Diefe rege Bauthätigkeit beweift deutlich, daß man, genau wie in der Waarenproduftion, auch in der Schiffahrt den durch die Konjunktur erhöhten Bedarf für dauernd gejichert hielt und danach die Erhöhung der Produktionfähigkeit einrichtete,

Natürlich mußte fi} diefe Hebereilung rächen; und fie rächte ſich früher, als ſelbſt vorfichtige Leute angenommen hatten. Noch vor dem Erlöjchen des Zransvaalfrieges drückte die ſchlechte wirthſchaftliche Lage die Frachtſätze her- unter; und num wurden bie Aufträge jeltener und die Konkurrenz wurde fchärfer. Der Verſuch, eine Reihe größerer Befellihaften international zu vereinigen, um jo die Preiſe zu erhöhen, ift alſo begreiflih. Nur jollte man nicht jo thun, als ob unabwendbare Naturereignife zur Koalition zwängen. Die Hauptihuld an dem plöglidden Verfall des Frachtengeſchäftes trägt der frühere Uebermuth. Nachdem die große deutjch.englifch-amerifanifche Dampferkloalition bekannt geworden war, bemühte jich die englifche Preſſe, an ihrer Spige die Times, die Nothmwendigfeit der Kombination aus gewiſſen natürliden Umftänden abzu- leiten und dem Publikum vorzureden, es werde aus der neuſten Morganijation den Hauptnugen Haben. Die Sciffsbautehnif, hieß es, habe ſich ungemein verbejlert; aus den Berfonendampfern feien im Lauf der Zeit mehr und mehr Ihwimmende Paläſte geworden; jede Linie fuche durch vorzügliche Verpflegung, durch elegantere Ausftattung der Kabinen und Salons das reifende Publikum heranzuziehen. Abgejehen von den Schaaren der Zwilchendedpaflagiere können ja nur ſolche Leute fih den Luxus einer größeren Ozeanreiſe leiten, die über viel Geld aus eigener oder frember Taſche verfügen und größere Anjprüce jtellen als andere Reijende. Die Ahedereien haben es alje wirklich ſchwer; und Die Konkurrenz bringt es mit fi, daß an diefen Quruspaflagieren nicht leicht mehr viel zu verdienen ift. Dennoch bliebe die Bereinigung der Linien eine zu tadelnde Maßregel. Dem Publitum nübt eben nur Konkurrenz; jedes Monopol führt

210 Die Zutunft.

zur Berjumpfung. Schließt fi um die internationale Schiffahrt der Ring, fo muß das Publikum die Zeche zahlen. An erhöhte Sicherung bes Trans- portes, an Steigerung des Komforts, der Fahrtſchnelligkeit wird nicht zu denken fein.

Neben diejer Scattenfeite der neuen Kombination tritt allerdings aud eine Lichtſeite hervor; die Truft3 find ja überhaupt modernere Wirtbjchaftgebilde als Eonfurrirende Einzelbetriebe. Die Konkurrenz zwingt jede einzelne Geſell⸗ ichaft, ihren Verkehr nach allen Windrichtungen hin ſelbſt dann voll aufrecht zu erhalten, wenn man faum für dte Ausreife, geſchweige denn für die Rück— fahrt Ladung genug hat. Während jebt vier, fünf fchlecht beſetzte Schiffe ver- ichiedener Gejelichaften auf den felben Linien mit Berluft fahren, würde, nad der Bereinbarung, ein Schiff fahren, voll bejegt fein und rentiren. Daher war vom Standpunkt ber betheiligten AUftiengefellfchaften aus der Abſchluß des inter: nationalen Trufts nöthig. Anders aber fieht die Sade aus, wenn man fie nicht von Stanbpuntt des um feine Dividende bangenden Aktionärs oder des über die in Ausficht ftehende Frachtvertheuerung verärgerten Paſſagiers, jondern ale Bolts- wirth im Hinblid auf den fi anbahnenden jcharfen Konkurrenzkampf zwiſchen Deutihland und Amerika betrachtet. Ein Urtheil ijt da ſchwer zu fällen, weil wir über des Truft3 Art und Organifation vorläufig noch nicht allzu viel Sicheres wiffen. Genau unterrichtet find wir nur über die Theilnehmer. England und Umerifa jtellen die White Star-Line, die Dominion-Line, die American-Line, die Atlantic Transport- und die Red Star-Line. Dazu find dann noch bie meiften Aktien der Holland-Amerika⸗Linie erworben. Die Cunarb- und Alan-Line haben fih vorläufig nicht angefchloffen. Deutſchland ſchickt feine beiden Seeprunkſtücke, den Norddeutjchen Lloyd und die Hamburg-Amerifa-Linie, ins Bündniß.

Die anglo-amerifaniichen Gejellichaften werden einen Truſt bilden, der mit 800 Millionen Mark finanzirt werden foll, und zu diefem Trujt treten bie beiden deutſchen Gejellichaften, durch Verträge unter einander gebunden, in ein Bertragsverhältnik, das zwanzig Fahre gelten fol, aber nach zehn Fahren ge- Löft werden kann. Jede der beiden Gruppen ijt „an den finanziellen Erfolgen der anderen bis zu einem gewiſſen Grabe intereffirt”; doch ſoll „ber Erwerb von Aktien der deutfchen Geſellſchaften dem Syndikat verboten“ fein. In das leitende Stomitee jenden die Deutfchen und das Syndikat je zwei Vertreter. Die Hamburger Badetfahrt und der Lloyd Haben die Einberufung einer außerordentlichen General- verfammlung angefündet. Weshalb aber zögerte man jo lange? Siegeszeichen pflegt Jeder doch möglichft früh zu enthüllen. Die Truftfchiffe dürfen nicht in deutſche Häfen fommen, die Deutfchen „ihren Verkehr nicht über ein gewilles Maß erweitern.“ Mit Stolz wird darauf hingewieſen, daß den deutfchen Geſellſchaften bie nationale Unabhängigkeit gewahrt worden fei. Weußerlich ſiehts ja auch jo aus. Denn die deutichen Gejellfchaften find nicht, wie die englilchen, im Truft, ftehen ihm vielmehr als freie Kontrahenten gegenüber. Ein Blid auf die Vorgeſchichte der Sache genügt, um ung bie wahre Natur der deutfchen Unabhängigkeit erkennen zu lehren.

Der Bater der neuen Kombination ift natürlih Pierpont Morgan, ber ja jest nie fehlt, wenn e8 gilt, ein Truftjeuchen zu machen. Aber es bat Jahre langer Kleinarbeit bedurft, bi8 das Projekt zur Ausführung reif war. Auch ein Trujt wird nicht an einem Tage gebaut. Seit die Handelspolitit Amerikas darauf zugefchnitten ift, von der Urproduftion big zu der fertigen Waare Alles

Der Ogeautruft. 211

in einer Hand zu vereinen, haben fich die amerifanifchen Eiſenbahngeſellſchaften bemüht, nicht nur bis zur Küſte die Waare in ihrer Obhut zu behalten, fondern fie jelbft auch auf den Exportweg zu begleiten. Wie ich mir gerade vorliegenden Notizen entnehme, mißlang noch vor fieben Jahren der Verſuch der PBenniyl- vaniabahn, einen Schiffsdtenft nad Europa einzurichten. Aber ſchon ein Jahr jpäter führte ein Geſchickterer den Verſuch zum Erfolg. Mr. Hill von der Great Northern Bahn begann mit dem Schiffsverkehr nad) Oftafien. Je mehr die einzelnen großen Bahngelellichaften ihre Selbftändigfeit verloren, um jo eifriger wurde ihr Streben, gut eingeführte Rhedereien zu erwerben oder neue Linien einzurichten. Wenn wir von den gemeinjamen Linien der Union Pacific und Southern abfehen, die der Vollendung erit entgegenreifen, fo giebt ein gutes Bild von ber herrichen- den Entwidelungtendenz die Thatjache, daß die Baltimore und Ohio, bie Bojton und Main, die Southern Pacific, die Cheajepeaf und Ohio, die Norfolf und Weitern, die. Grand Trunk einzeln „der mit anderen Linien gemeinfam an transatlantiihen Dampferlinien intereffirt find.

Diefe Entwidelung wurde mit yankeehafter Energie !gefördert. Hinter den Couliſſen leiteten die großen Finanzleute das Gefchäft, die felben Leute, die an den großen induftriellen Truſts betheillgt waren. Schließlich war mau in Amerika fertig. Aber nun blieb das Ausland, deſſen Sciffahrtlinien in dem Augenblick befonders wichtig werben mußten, wo des wirthichaftlichen Niederganges erite Zeichen in Amerika fichtbar wurden. Es fam nun darauf an, den Erport ber amerifanifchen Truſts zu fteigern, und um darin den anderen Nationen überlegen zu fein, mußte man bie Herrjchaft auf dem internationalen Fradten- markt erobern. Zunächſt Taufte man Englands Flotte. Die Juman Line, die Blue Yunnel.und endlid der Stolz von Albions Söhnen die Ley: land Line fielen an Amerika. Jetzt konnte auch Deutichlands Schiffahrt von den Dollarmilliardären aufs Korn genommen werden. Was konnten die Maßregeln fchaden, die verhindern follten, daß deutſche Schiffahrtaftien von Amerikanern ge— fauft würden? Das war Humbug, im beiten Falle Selbitbetrug. Und wie will man die Amerikaner hindern, geräufchlog Aktien der deutſchen Gejellfchaften zu taufen > Es ſchien eine Weile jchon, al3 feien Morgan und jeine Leute drauf und dran, bie Aktien des Lloyd und der Badetfahrt zu kaufen. Die Höllenangft, die fie dadurch in Deutichland erregten, zeigte ihnen aber, daß fie ihr Ziel fchneller erreichen konnten. Ihnen lag ja nichts an dem Aftienbejig, Alles an der Herrichaft über die Linien. Konnte man Gelb jparen und ohne Altten den ſelben Effekt erzielen: tant mieux. Man jchlug den Deutjchen ein Kartell vor. Erleichtert athmeten Bal- lin und Wiegand auf. Das war doch wenigſtens nach außen ein Erfolg. Diele Stimmung erflärt denn aud, daß in den Hamburger Nachrichten zu lejen war: „Wir willen nicht, ob e3 wahr tft, daß Englands ftolze nordatlantifche Rhe— derei dem amerifanifchen Kapital verfallen ift; jo viel aber willen wir und find nach einer Unterredung, die wir heute an fompetenteiter Stelle zu führen Ge— legenheit hatten, in biejer Ueberzeugung noch beſtärkt, daß die Konventionen, die in New-York verhandelt werden jollen, die Unabhängigkeit und die Natio: nalität unferer beiden großen Rhedereien in feiner Weiſe berühren.”

Nach langen Berhandlungen wurden Herr Geo Plate und Herr Ballin nah New⸗York beſtellt. Was follten fie gegenüber der in Ausficht jtehenden

212 Die Zutınft.

mördertichen Konkurrenz thun? Sie mußten bem Pool beitreten. Auf diejem Wege gab es für den Aktionär höhere Dividende und für bie Plebs blieb die Glorie der nationalen Selbjtändigkeit gewahrt. Doch ein Schiff fährt nicht nach dem Willen der Flagge, jondern nad der Weifung des Rapitaliften, ber den Sapitän bezahlt. Und ob die deutichen Kapitalijten fünftig noch weiter jo weifen dürfen, wie fie wollen: Das wird man erft beurtheilen können, wenn über die Leitung des Pool völlige Klarheit geichaffen ift. Wahrſcheinlich iſts nicht. Für Herm Morgan bat der Pool doch nur dann einen greifbaren Zweck, wenn der Gebieter die Frachtpreiſe ber Welt jo feſtſetzen kann, wie er in feinem Intereſſe und im Intereſſe des Stahltruſts es für nöthig Hält. Man ſollte nicht vergeſſen, daß nah Mr. Schwabs Eingeſtändniß der Stahltruft fih für fchlechtere Zeiten rüftet. Der Export nad) Deutſchland und deffen Abfaßgebieten ift fein nächites Biel. Eine Etappe auf dem Wege zu diefem Ziel ift die internationale Berein- barung, die, obwohl die deutfche Tonnenzahl beträchtlich überwiegt, vielleicht bald zur Anerkennung der amerilanijchen Oberberrfchaft gezwungen fein wird. ”) Plutus.

*) Das verächtliche Lächeln über die amerikaniſche Gefahr, deren Schrecken ja maßlos übertrieben ſein ſollten, wird den Europäern nächſtens wohl vergehen. Außer dem von Plutus hier betrachteten Symptom ſind noch andere ſichtbar. Der Ankauf der däniſchen Antillen mag uns einſtweilen unbeträchtlich ſcheinen. Schon aber hört man, daß ein anderer Morgan, der Beherrſcher eines ſtarken Truſts chemiſcher Fabriken, die Eroberung der deutſchen Kaliwerke plant und bereits Kuxe und Aktien namentlich ſolcher Werke erworben hat, bie dem Sali- ſyndikat nit angehören. Da die Bereinigten Staaten feine Kalilager, aber einen großen Verbrauch an Kali haben, war der amerikanische Markt bisher ein werthvolles Abjapgebiet für die deutſche Induſtrie. Das jah Morgan der Zweite und fagte jih: Wenn ich zunächſt die nicht Tartellirten Werke kaufe ober mir durch Aktienkäufe die Herrfchaft über ihre Geſchäftspolitik fihere, dann breche ih die Macht des Sartells und kann eg durch unerträgliche Konkurrenz mürb maden; und dieſe fchlechte Zeit der Kaliinduſtrie werde ich benugen, um aud in den Startellbereich meine Minen zu legen; babe ih im Kartell erit die Mehrheit der Stimmen, fo erlebt das deutjche Monopol feinen legten Tag, wir reißen die Kaliproduftion an uns und brauchen ung nicht lähger mehr mit dem dürftt- gen Zwiſchenhändlergewinn zu begnügen. Es iſt immer bie jelbe Gedichte, deren Ausgang, bei der unangreifbaren lleberlegenheit des amerikaniſchen Kapitals, faum zweifelhaft ſein kann. Eine Weile wird das Syndilat Widerftand letjten, früher oder ſpäter aber zu einer Berftändigung mit den rüdfichtlos konkurrirenden Yankees gezwungen fein, die jid) von der dem ftolzen Ballin, dem „Umijpanner des Erdballs“, aufgedrängten nicht weſentlich untericeiden wird. Neben dicjem Schauſpiel eines wirthſchaftlichen Rieſenkampfes verblaßt der kleine politiiche Hader, der lärntend durch die Preſſe der europäilchen Neiche tobt. Wenn dag Yand des Sternenbanners Europa erjt den ‘reis der Frachten, bes Eilens und Stahls, der Kohle und chemischen Produkte vorfchreibt und die Widerjpenftigen auf allen Märkten unterbietet, wird man erfennen, wie ungemein Flug ed war, die Mirtr ſchaft erwachſender Völker mit voller Wucht auf den 9 Vaarenexport zu jtelle:

. ———

o ——— und verantwortlicher Redakteur: m; Garden ın Berlin. _ "Berlag der der —e i in Ber Drud von Albert Taude in Berlin⸗Schöneberg.

Berlin, den 10. Mai 1902. ———

Hofjuden.

lſo Kinder, ich war da. Ganz einfach, weil die Geſchichte mir ſchließ⸗

lich langweilig wurde. Seit Monaten liegt Ihr mir in den Ohren. Alles Unheil komme von dem jewish people, das ſich jetzt oben breit machen dürfe. Unerhört in Preußen, daß Juden in der Hofgefellichaft ſolche Rolle fpielen. Seldft der Schwefelgelbe, dem Ahr nie recht grün wart, Habe feinen Gerſon Bleichroeder doch nur mit Vorficht fervirt; und den Heinen Cohn id} meine das deffauer Baronchen hat man höchftens bei großen Hofe fütterungen mal flüchtig gejehen. Der wirkte mit feinem unausrottbaren Jargon im Weißen Saal fehr Iuftig, fühlte ich im Gefpräch mit Unfereinem aber ſtets als geknufften Schugjuden; blieb, trog Titel und Milfionen, koͤnig⸗ licher Rammerfnecht; immer drei Schritt vom Leibe. Die Zeit ift vorbei. Jetzt lieſt man alle paar Tage, irgend ein fauler Semit ſei zur Audienz befohlen oder auf die Lifte der mit S. M. Einzuladenden gefegt worden; und wenn mans nicht Kieft, ſickert es durch die Bortieren. Die Leute dringen in den intimften Kreis, werden fogar ſchon aufs allerhöchfte Waffer mitgenommen, gegen das dieſes Heilige Volt doch vom Rothen Meer eine eflige Antipathie nach Europa gebracht Haben follte. Der preußifche Adel könne nachgerade ergebenft auf feiner Scholle boden; Konkurrenz mit der Sippe, die Mofes und die Pro- pheten hat, weder ftandeögemäß noch durchführbar. Kommt von uns mal Einer ran, dann erreicht er auch was; fiehe Putlig und Graß in der Spirituss Hofe. Nur in Jubeljahren aber noch möglich, das ſchwarze Spalier zu durch⸗

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214 Die Zuhmft.

brechen. Podbielski hat die Deode angefangen. Bei Victor Apoftata, dem großen Milchhandelsmann, wurden die Leute vorgeftellt, wahrjcheinlich, nach⸗ dem er am Skattiſch des Königs erzählt hatte, fie jeien nicht fo ſchlimm wie ihr Auf; und nun haben fie ſich warm eingeniftet. Natürlich werden da Anfichten apportirt, die allen Traditionen altpreußifcher Wirthjchaft wider- ſprechen. Obendrein bat auch der Kanzler via Taujjig Beziehungen zur haute finance. Daher der Angjtichrei in der Herrenhausrede des Sor- quitters, der ſonft wohl nicht aus dem Bau gefrochen wäre. Und er ift nicht der Einzige. Ueberall eine Heidenangft; und fpaßhafte Wuth gegen die Gelben Saden, die den Anjturm der Eifelirten nicht rauh abwehren. Ontel Polte, der hebräifche Studien für zeitgemäß hält, prophezeit in langen Sendfchreiben die Herrichaft des Kahal, der Kehilla oder Kille (wo⸗ runter, wie mir jcheint, das Wolf Iſrael zu verftehen ift). Drumont habe feit Jahrzehnten Alles vorausgefagt; jegt komme auch für uns die Stunde der letzten Schlacht. Siegen wirnicht, dann: Gute Yacht! FinisBorussiae. Und fo weiter... . Na,ichbin nicht leicht ins Bockshorn zu jagen. Habe auch ftet8 vor Mebertreibungen gewarnt. Einjtweilen fommen auf jeden Juden oben noch hundert Junker; und bei ſolchem Prozentſatz läßt ſichs leben. Die Eindringlingefind auch nicht ausfchliehlich Kinder Yehovahs. Induſtrie und Technik ohne Unterfchiedder Raſſe, oft freilich mit jüdifcher Oberleitung im Hintergrund. Item, ic) wollte mal fehen. Daß ich nach dem Geftändniß für Euch ein räudiges Schaf bin, verfteht fi) am Rande; aber man möchte feine Erben doch kennen lernen und Ihr habt mir outsider fo wie jo nie über den Weg getraut. Nicht feft genug im Glauben; nicht ſchwarzweiß bis in die Knochen. Der neue Schmerz wird Sippen und Magen nichtniederwerfen. Die Einladung hatte ich bald. Ein richtiger Graf umd Ritter hoher Drden hat da nod) Marftwerth. Ich gab eine Karte ab Das genüge voll: fommen, hatte Kuno gefagt und fünf Tage danach baten Monsieur et Madame auf ſehr anftändigem Papier um die Ehre pp. Bu einfachen Abendefjen. Wir hatten feinen von den großen Löwenkäfigen gewählt, weil ich mich erft afflimatifiren wollte. Beſſere Bankfache ohne Ansficht auf Moabit. Man mußnichtvon Allem haben. Alfolos; mitdem feften Entſchli unterfeinen Umftänden aus der dankbaren Rolle de8 bon prince zu falle, Was find Hoffnungen, was jind Entwürfe? Nach Mitternacht fo ich mit einem Herrn, deifen Name mir um Neun bei der Vorftellung in d Glieder gefahren war, einträchtiglid) in einer Kneipenecke und amufirte mi an dem Entfegen zweier Generalftreber, die mid) erfannten und ob ſolch

Hofjuben. 215

Geſellſchaft ihren Augen nicht trauten. Der Dann hatte mirs mit nett ver- padten Bosheiten angethan. Irgend ein ‘Doktor, juris oder jo was, ber ſich bei näherem Bejehen als avancirten Sozialiften entpuppte, aber ’ne ſchwere Menge gejehen und gelefen hatte und famos ſprach. Wenigftens für Unjer- einen, dem die Sorte fonft nicht vor die Flinte lommt. Um Zwei waren wir fo ungefähr ein Herz und eine Seele. Und ich hatte mit etlichen Bechern Pilſener die Gefchlechtschronif faft all der mehr oder minder ehrenwerthen Leute genoffen, die mit mir im Thiergarten zu Gaſt geweſen waren; nebſt Borftrafen, Scheidungen, Ehebrüchen und anderem Komfort der Neuzeit. Woraus denn wohl zur&enüge zu erjehen ift, daß der bon prince ſich nicht lange auf ſteiler Hoͤhe gehalten hatte, „wo Fürſten ſtehn“.

Zunächſt wars ja ein Bischen unheimlich geweſen. Aus allen Ecken äugte altteſtamentariſches Vollblut. Pompös aufgeſchirrte Weiber; meiſt nicht ganz in Form, mit gelblichen Chareuterien, die alkoholiſche Neigungen in mir aufftiegen ließen, aber Aufmachung erften Ranges. Seit dem Cafe de Paris und der Ermitage hatte ich nicht fo viele gute Steine und Perlen zuſammen gefehen. Etwasreichlich für ein einfaches Abendeſſen (daß getanzt werden jolle, erfuhr ich erft nach dem Fiſch). Einzelne auffallend hübſche Mädel mit abenteuerlichen Frifuren und höchft raffinirten, aber kleidſamen Decblättern. Die Reize der Männer wären in orientalifchen Gewändern wohl zu befferer Geltung gelommen. Doch fehr korrekt in weißen rad: weiten mit Goldfnöpfen; die jüngere Generation fogar mit felddienftfähigen Figuren. Immerhin: wenn plötlich eine Chriftenverfolgung ausbrach, war ich verloren ; nur die Diener fonnten mid) dann vor dem Schächtmeſſer ret⸗ ten. So ſchien mirs wenigftens, ehe ich warm geworden war. Kuno, der Schlingel, der den introducteur fpielen wollte, hatte im leisten Augenblick abgejagt und mich allein auf Patrouille gelafjen. Nachher... .. Nein, Kin: der: ich fiel aus fämmtlichen vorhandenen Wolfen. Entre nous thun die Knaben immer, als hätten fie, außer beim Querfjchreiben, noch nie einen Raſſengenoſſen des Heilands in der Nähe gejehen, und num tauchte eine ganze Suite auf, mindeftens je ein Muſter aus allen Kleinzeuglapiteln des Gotha. Jeder erft leife genirt, wie wenn er eine von den Damen am Arm hätte, die man nicht mit dem Hut grüßt; bald aber freuzfidel und entzüct von der angenehmen Temperatur des Haufes. hr rümpft die Nafe und denkt: Die zieht das Futter, dieSehnfucht nad) Schloßabzügen, vielleicht die Hoffnung auf einen unbefrifteten Bump. Kommt auch vor; und ficher nicht felien. Das Futter war wirklich gut; fo ungefähr Alles, was die Saifon

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216 Die Zukunft.

nicht liefert; mir wurde weder Knoblauch nod) Mazza zugemuthet. Und Wein und Eigarren weit über unfere Gewöhnung. Ein Mojel, ber verhärtete Anti- femiten vor Gewiſſenskonflikte geftellt Hätte. Trotzdem: die Viktualien finds nicht allein. Ich fah namhafte Führer, Säulen der Partei, Leute, die ſich jelbft einen ordentlichen Happen leiften und ihn ohne Reue mit dreiundneun⸗ ziger Pommern begießen Lönnen. Es ift eben noch was Anderes. Ich habe mic zwar nicht gerade wie die Prinzen und Grafen des tücdhtigen Herrn Sudermann benommen, bie in fremden Häufern Schreibtifche beichnüffeln, mich aber umgeguckt wieauf dem erſten Rekognoſzirungritt meines Lieutenant⸗ lebens. Donnerwetter: wohnt die Geſellſchaft! Jeder Schrank, jedes Glas ſcheint uns ein kleines Wunder. Dabei nicht überladen, wie ich gedacht Hatte, fondern mit einem gewiflen Talt auf einen Ton geftimmt. Wir haben doch auch Kerle, die im Jahr ein dickes Padet brauner Scheine verpugen. Wo aber fieht man bei Denen ein gutes Bild? Hier fo ziemlich Alles, was in letter Zeit von fich reden gemacht hat. Bronzen, Poterien aller Stile, Ra⸗ dirungen, Skulpturen und Bücher, Bücher, daß einem rechtichaffenen riftlichen Germanen angst und bang werben fann. Na, Ihr kennt meine Puſchel. Aber geht erft Hin, ehe Ihr ſchimpft. Und bildet Euch ja nicht ein, man werde Euch wie den Fieben Herrgott anftarren. Keine Spur. An adeligem Verkehr fehlts nicht mehr. Ein neuer Name von Klang ift immer will» kommen; aber man legt fich vor ein paar Ahnıen nicht aufden Bauch. Ueber⸗ haupt ift$ ganz anders, als wir ung vorftellen. Der Typus Cohn und Bleich⸗ roeder ftirbt aus und die heranwachſende Generation kann fich fehen laſſen. Stramme Bengel, die reiten, turnen und Tennis fpielen, kluge Mädchen mit der Sicherheit aus englischen Penfionen first rate. Das hat mit acht: zehn Jahren Alles kennen gelernt, was unjer Erdtheil zu bieten vermag, und weiß auf den verfchiedenften Terrains Befcheid. ALS ich geftehen mußte, ich fei noch nie in Rom geweſen, glaubten diefchwarzen lien und Greten, ich wolle einen jchlechten Scherz machen. Junge Kultur, aber Kultur, Kinder.

Seid friedlich: ich ſchwärme nicht; fällt mir gar nicht ein. Bin auch nicht fo mit Blindheit gefchlagen, daß mir die Heinen und großen Lächerlich⸗ feiten entgingen. Zu viel Pantomime, zu wenig Ruhe in den Borderpfoten, bie der Europäer zum Reden nicht braucht, faſt innmer zu viel Affekt und zur viel Geräuſch. So zwiſchen Dlarfeilfe und Bort Said. Dasgiebtfich. Länger wird es dauern, biß bie Diener nicht mehr vornehiner ausſehen als die Herrs ſchaft. Einftweilen gudt folcyer lange Kümmel, der in Potsdam feine zwei Jahre runtergerijfen und als Burjche Manieren gelernt hat, mit feinem

Hofiuden. 217

Schmalen Blondkopf manchmal recht fonderbar auf bie fommerzienräthliche Slate herab. Und auf dem Lande... Ich war nämlich ruchlos genug, auch einer Einladung auf das Nittergut meiner neuen Freunde zu folgen. Wollte bie Agrarier von übermorgen mal in vollem Glanz fehen. Da haperts nod) böfe. Natürlich ift Alles ba; nicht wie bei armen Leuten. Mafchinen, daf Einem ſchwarz vor den Augen wird, meliorirt auf Deibelholen, Vichftälfe, für die ich meine ganze Klitſche hingäbe, und vom Feld auf Automobilen ins elektriſch beleuchtete Schloß, das fo feudal ausfieht, als hauſte ein alter Burggraf drin. Die Leute geben fich auch alle Mühe; aber das Kleid des country-gentleman jigt noch nicht. Der Kutjcher grinft, wenn der Herr Direktor ihm jagt, wie die Pferde zu behandeln find. Und trogdem Madame jede Kuh beim Namen kennt und vor dem Diner pünktlich noch nach den Fohlen fieht, merkt man auf Schritt und Tritt doch, daß ihr lieber Bapa nicht Körner gebaut, fondern mit Diamanten gehandelt hat. Die Sache geht aljo noch nicht, wird vielleicht nocd in der nächſten Generation für umfere Begriffe nicht Mappen. Wobei die Hauptjache aber nicht zu vergeffen ift: baß dem armen Boden die Düngung mit Gold vorzüglid) befommt.

Ich bin alfo nicht blind. An manchen Stellen ift der Lack dünn auf« getragen und fpringt, bei der Haft diefer Raſſe, leicht ad. Nur Hilft kein Mundſpitzen: die Leute find nicht mehr zu verachten oder gar auszulachen. Ihre Stärke ift die beffere Rüftung für die moderne Lebensſchlacht. Wir müffen uns höllifch zufammennehmen, ſonſt Liegen wir platt unter dem Schlitten. Was lernen wir denn, Hand aufs. Herz? Armee, Landwirthichaft, allenfalls noch Bischen Verwaltung oder fogenannte Diplomatie. Bücher werden nichtgefauft und für Bilder langtsnicht. Technik, Naturwiſſenſchaft ift ung ein Buch) mit fieben Siegeln, jeder Bantier ein Gauner, und wenn ein Standesgenojle den Sinn des Wortes Arbitrage erflärt haben möchte, fragen wir ihn, ober unter die Einbrecher gehen wolle. Pſt, Kinder: es ift jo. Die paar Edelleute, die in Induſtrie, Technik, Handel was vor fich ge- bracht haben, eine Bilanz lejen können, in der weiten Welt fich den Wind um die Naſe wehen lajien oder diefes mit Recht gejchägte Organ in Bücher fteden, ändern nicht3 an der Regel. Im Allgemeinen wiſſen wir Nepoten nichts von Alledem, was heutzutage wichtig iſt. Künſtler, Gelehrte dringen nicht in unferen Dunftkreis und die Meiften von uns ahnen nicht, wie fich der ſtädtiſche Induſtricarbeiter vom Aderfnecht und ländlichen Tage⸗ löhner unterfcheidet. Folge: wenn Einer aus diefer Schicht entgleift oder perarmt, kann er mit Bolicen auf die Walze gehen oder drüben Kellner

218 Die Zukunft.

werden; weiter reicht$ gewöhnlich nicht. Andere Folge: Furcht vor jedem struggle und Groll gegen die Hohen und Höchften, die fid) die Parvenns nicht vom Leibe halten. Mir war regis voluntas niemals suprema lex und ich bin eher preußiſch als Taiferlich; aber hier kann ich nicht mit. Wir haben den berliner Hof nicht gepachtet; und wenn von den neuen Lenten mal Einer rankommt, entfprichts nur dem veränderten Stärfeverhältniß. Dieje Geniry von vorgeftern hat Leiftungen aufzumeifen, die auch dem Staat ge- nügt haben, und kann dem König allerlei Intereſſantes erzählen. Ich habe fie von allen Seiten betrachtet. Der ſehnlichſte Wunſch iſt, ihre Loyalität in der Sonne ſpaziren führen zu dürfen. Die demofratijchen Sdeale werden unter dem Selbftloftenpreis verramfcht. Wir haben oft genug im Glashaus geſeſſen, wollen die Steine alſo lieber liegen laſſen. Irgendwann wirds ja zu einer Reibung kommen, die vielleicht ein Feuer anfacht; denn Induſtrie iſt 'ne Kulturform, in die gewiffe altpreußifche Ideen nicht Hineinpaffen. Gegen Poltes Finis Borussiae tft nichts einzuwenden; nur hatte diejes Ende jchon längſt angefangen, al8 der Erfte von Denen, die Ihr verädhtlich Hofjuden nennt, mit Lackſchuhen die Schwelle des Schloſſes betrat.

Mein Doktor (Der vom einfachen Abendeifen her) hatte fic in den Ausdrud vernarrt und betheuerte, nirgends mürden die Hofjuden unbarıms herziger verhöhnt als in ihren Kreiſen. Er riß die runden Augen auf, weil ic) fagte, der Hohn fei im Grunde thöricht und nur durch Netd zu erflären. Mancher, der früher die Möglichkeit, von einem Hohenzollern angefprochen zu werden, fo fern wie die Wiederkehr des Chafarenreiches jah, mag jetst ja den Kopf verlieren, wenn ein Deutjcher Kaiſer ihn als Geſprächspartner einem Mandarinen vorzieht. Von der Corte, die lang liegt, jobald cines Prinzen Blid fie trifft, Haben wir aber auch noch hübjchen Vorrath. Des Doftors Hände ſprachen erjt Zweifel an meiner Aufrichtigfeit, dann Zu⸗ verficht aus; und fchlieglich ſprudelte das Kluge Kerichen einen Triumph geſang hervor. Er fei zwar Sozialift (unabhängiger natürlich) und made fich nicht8 aus Yaren. Aber die moderne Entwidelung führenun mal durd; den Kapitalismus, alfo müffe man wünſchen, daß er jich auslebe. Ich habe nicht Alles fapirt. Nur, daß mit den Thiergartenleuten fehr gut zu regir, fei; ihre Moral ſei von der anderer Menichenfinder kaum noch verfchiet und fie haben aufgehört, lächerlich zu wirfen, feit die höhere Kultur die Kl zwiichen Schein und Sein ausgefüllt habe. Dabeizappelte er, daß die P cenezgläfer auf dem Höcker unruhig wurden und id; fürdytete, nun werde zum tötlichen Streich gegen die Junker ausholen. Als ein Mann von fei Kultur erjparte er mir für diesmal aber den landesüblichen Schm⸗

Hoffuden. | -219

Einerlei. Was er fagte, ftimmt aufs Haar. Kinder, wir find furcht⸗ bar zurüd. Wir kennen die Erdfugel nicht, wiſſen nicht, was Hinter unſeren ftandesgemäßen Scheuflappen vorgeht. In Frankreich, England, fogar in Defterreich iftS anders; da hat ein großer Theil des Adels ſich modernifirt. Dan findet in den Schlöjfern berühmte Bilder und gute Bibliothelen, unter Gelehrten und Künftlern alte Namen. Wir find anftändig geblieben, aber nicht recht vorwärts gefommen. ‘Daß e8 an Talent nicht fehlt, zeigt das Bei- fpiel vieler Offiziere, die auf den verfchiedenften Feldern zu Haufe find. Die Luft fehlt, die Berührung mit einer Welt, die unfere Privilegien nicht mehr anerfennt, die Nothwendigfeit, fich für Wettfämpfe zu trainiren und in Be⸗ reitfchaft zu halten. Jetzt droht ung eine Gefahr, wie fie ärger fein gemalt» famer Umfturz der Staatsordnung bringen könnte. Die Leute, die einmal ans Licht hinaufgelangt find, werden. ji) oben feftbeißen und mit zäher Schlauheit Alles verjuchen, um von perfönlicher Gunft zu politifcher Macht aufzufteigen. Ihre Waffen find nicht von Pappe; und fie können ſich Leicht unentbehrlich machen. Erfteng, weil fie in die Welt paffen, die nicht mehr wegzufluchen ift, und über alles in diefer Welt Wichtige auf Anhieb Auskunft zu geben wijlen. Zweitens, weil ihr Intereſſe mit dem der’ berühmten Welt- politif fich eine gute Strede vertragen fann. Friede, Flotte, Märkte, Ex⸗ panfion und wie der Kram jonjt nod) heißt: das Allcs läßt ihren Meizen blühen, während unjerer dabei vor die Hunde oder vor die Argentiner gcht. Qui vivra, verra. Mit dem homburger Bahnhof, wo der Muth in der Bruft unfererBieledlen und Getreuen feineSpannfraft übte, hatsangefangen. Bald wird es dider fommen und ſchließlich werden wir zur allerunterthänigiten Dppofition genöthigt fein und ung nicht rühren dürfen, wenn irgend ein Herr Singer uns Borlefungen über Bafallenpflicht hält. Hat auch gar feinen Zweck, mit Heinen Mittelchen entgegenzumirken; die Sache kommt doc) und die Konventilelweisheit ijt nur ſchnöde Zeitvergeudung. Sehen Sie ſich mal drüben den Kleinen an, fagte mein Doktor; da unterdem Yeiftifom. Warum ſoll Der nicht Handelsminifter werden? Die Sache verfteht er aus dem ff, ijt lange drüben in Pew: Vorfgewefen, hathier aus 'ner Spelunke ein Riefen- gefchäft gefingert, mit einer Organijation, die Ihre ſämmtlichen Oberpräſi— denten nicht fertig brächten, und manjchelt nicht im Geringften mehr. Stimmt. Und diefer Typus wird das Rennen madıen; einerlei, ob er aus der Gegend des Sinai oder vom Wupperthalftammt und ob wir ihn Konzeljion- ſchulze oder Hofjude ſchimpfen. Es hat Neun gefchlagen. Angenehme Nuhel

220 Die Zukunft.

Die Sufunft.*)

& ift in gewiſſer Hinficht ganz unbegreiflich, dag wir. der Zukunft nicht tundig find. Ein Nichts würde wahrfceinlih genügen, ein anderer Berlauf der Hirnfafern, eine andere Richtung der Hirnwindungen, ein kleines Nervengeflecht mehr, und die Zukunft würde ſich mit der felben Deutfid- feit, der felben majeftätifchen und unerfchütterlichen Fülle vor unferen Augen entsollen, wie die Vergangenheit fich nicht nur am Horizont unſeres perfün- lichen Xebens, fondern auch an dem der Gattung, der wir angehören, entfaltet. Es ift eine eigenartige Schwäche, eine fonderbare Beichränfung unferes Geiites, die uns in Unmwiffenheit darüber läßt, was und begegnen wird, obwohl wir boch wiſſen, was uns begegnet ift. Bon dem abfoluten Standpunft aus, zu dem unſere Vorftellung fich erheben kann, obwohl fie nicht auf ihm zu leben vermag, liegt fein Grund vor, warum wir nicht fehen follten, was noch nicht ift, weil Das, was in Bezug auf uns noch nicht ift, doc; noth— wendiger Weife fchon vorhanden fein und fi irgendivo kundgeben muß. Sonft müßte man ja fagen, daß wir in Hinficht auf Alles, was die Zeit betrifft, den Mittelpunkt der Welt bilden, daß wir die einzigen Zeugen find, anf die alle Ereigniffe warten, um das Recht zu haben, in die Erfcheinung zu treten und in der ewigen Gejchichte der Urfachen und Wirkungen mit- zuzählen. Aber es wäre eben jo widerjinnig, Das für die Zeit zu behaupten, ‚wie für den Raum, jene andere, etwas weniger unbegreiflihe Form des doppelten Myſteriums der Unendlichkeit, in dem unfer ganzen Leben ſchwebt.

Der Raum ift uns vertrauter, weil die Zufälle unſerer organifchen Beichaffenheit uns in unmittelbarere Beziehung zu ihm fegen und ihn ums greifbarer machen. Wir fönnen uns in mehr als einer Hinficht darin ziem- lich ungebunden vor- und rückwärts bewegen. Deshalb wird auch fein Reifender die Behauptung wagen, daß die Städte, die er noch nicht befucht hat, erft mit dem Augenblid zur Wirklichkeit werben, mo er fie betritt. Und doc ift Das faft das Selbe, wie wenn wir ung überreden, daß ein noch nicht ein⸗ getretene3 Ereigniß noch fein Dafein beligt.

*) Ein Fragment aus dem neuen Werk Maeterlindd, das, unter dem Zitel „Der begrabene Tempel”, in den nächſten Tagen bei Eugen Diederichs in Leipzig erfcheinen wird. Der Ueberſetzer, Freiherr von Oppeln«Bronifomsti, jagt in einer Vorbemerkung, der Titel bezeichne „den begrabenen Tempel in der Menſchenbruſt, das unbewußte, transizendentale Sch, aus dem alle Götter ber- vorgegangen find und in dag fie jeßt wieder zurüdfehren”, und nennt das Buch eine PhHilofophie des Unbewußten, die ih den Gedankengängen Hartmanns nähere. Diefer zehnte Band der autorifirten, von Diederichs ſehr hübſch aus geitatteten Gejammtausgabe der Werke Macterlinds Eoftet 4,50 Mark.

Die Zukunft. 221

Aber ich habe nicht die Abficht, mich nach Erörterung fo vieler anderen in das unlösharfte aller Näthfel zw vertiefen. Wir wollen weiter nichts fagen, al3 daß die Zeit ein Miyfterium ift, dag wir willfürlich in Vergangen⸗ beit und Zulunft getheilt haben, um zu verfuchen, Etwas davon zu begreifen. An fih ift es fo gut wie ficher, daß fie nur eine ungeheure, ewige, unbe- wegliche Gegenwart ift, in der Alles, was gefchehen ift und noch geichehen wird, umerfchütterlich befteht, ohne da das Morgen fich, außer in dem kurz: lebigen Dienfchengeift, vom Geftern oder Heute unterſchiede.

Faſt follte man annehmen, der Menfch habe ftet3 das Gefühl gehabt, daß eine einfache Schwäche feines Geiftes ihn von der Zukunft trennt. Er weiß fie lebendig, vollftändig und wirkſam hinter einer Art von Wand, bie er feit den erſten Tagen feines Erſcheinens auf der Erde unabläffig um- Freift hat. Oder vielmehr: er weiß fie in fi und einen Theil feiner felbft befannt, ohne daß biefe bebrüdende und beunruhigende Erlenntniß durch die zu engen Kanäle feiner Sinne bis zu feinem Bewußtſein empor zu bringen vermag, das der einzige Ort ift, wo eine Erkenntniß Namen, nugbare Kraft und gewiſſermaßen menfchliches Bürgerrecht erwirbt. Nur mit ungewiſſem Schimmer, dur zufälliges und vorübergehendes Durchſickern, gelangen die fünftigen Jahre, die ihn erfüllen und deren gebieterifche Mealitäten ihn von allen Seiten umgeben, bis in fein Him. Er wundert fi, daß ein merk: würdiger Zufall diefe8 Hirn gegen die Zukunft, in die e8 doch fait ganz eingetaucht ift, fo hermetiſch abſchließt wie ein verjiegeltes, in einem endlofen Meer Ichwimmendes Gefäß: das Meer drüdt und reizt, quält und Tiebkoft es mit feinen Wogen, mit denen der Inhalt des Gefäßes fich doch nie mifcht.

Zu allen Zeiten hat der Menfh nah Spalten in diefer Wand ge- fucht und fi) bemüht, das Wafler durch diefes Gefäß durchlidern zu laſſen und die Wände zu durchbrechen, die feine Bernunft die faft nicht? wei von feinem Inſtinkt trennen, der Alles weiß, jich feines Wiſſens aber nicht bedienen kann. Wie es fcheint, Hat er mehrfach Glüd damit gehabt. Es gab immer Hellfeher, Propheten, Sibyllen und Zauberinnen, bei denen durch eine Krankheit, durch ein von Natnr ober durch Kunſt hypertrophiſches Nerven foftem ungewöhnliche Verbindungen zwifchen dem Bewußten und Unbewußten, zwiſchen dem Leben des Einzelmefens und der Gattung, zwifchen dem Menſchen und feinem verborgenen Gott gefchaffen wurden. Sie haben von biefer Möglichkeit eben fo unmiderrufliche Zeugniſſe Hinterlaffen wie irgend ein anderes hiſtoriſches Ereigniß. Doc waren diefe feltfamen Deuter, diefe großen geheimnißvollen Hyfterifchen, in deren Nervenbahnen Gegenwart und Zukunft im diefer Weife kreiſten umd fich vermifchten, eine Seltenheit und darum entdedte man empirische Methoden oder glaubte, jie zu entdeden —, um das ſtets gegenwärtige und bedrohliche Räthſel der Zukunft auf faft

222 Die Zukunft.

mechanifchen Wege entziffern zu können. Dean fegmeichelte fi, fo die um= bewußte Weisheit der Dinge und Thiere zu befragen. Daher ſtammt die Deutung des Bogelfluges, die Weisfagung aus den Eingeweiden der Opfer- thiere, aus dem Lauf der Sterne, dem Feuer und Wafler, den Träumen, daher ſtammen al die Arten von Wahrfagefunft, die uns die alten Echrift- fteller überliefert haben.

Es hat mich gelodt, feftzuftellen, auf welchen Standpunft die Miffen- fchaft von der Zukunft heute flieht. Sie hat nichts mehr von dem Glanz, und ber Kühnheit früherer Tage. Sie gehört nicht mehr dem öffentlichen und dem religiöfen Xeben der Völker an. Die Gegenwart und die Ber- gangenheit enthüllen uns fo viele Wunder, da fie genügen, um unferen Durft nad) dem Wunderbaren zu befriedigen. Wir wurden abgelenkt durch Das, was ift oder war, und haben fo gut wie ganz darauf verzichtet, Das zu befragen, was fein fönnte oder fein wird. Trotzdem: dieſe altehrwärbige Wiſſenſchaft wurzelt tief in dem untrüglichen menſchlichen Inftinkt und ift von ihm noch nicht aufgegeben. Sie wird allerdings nicht mehr anı hellen Tage geübt. Sie hat ſich im die düfterftien Winkel, in die vulgären und leichtgläubigen, unwifjendften und verachteteften Kreiſe geflüchtet. Sie benugt alberne oder kindliche Mittel; und trogdem bat auch jie eine gewiſſe Ent- widelung durchgemacht. Sie vernachläfiigt die meiften Methoden der prime tiven Wahrfagefunft und hat dafür andere gefunden, die zum Theil wunder: lich, zum Theil lächerlich find, und fie hat fich einige Entbedungen nutzbar gemacht, die keineswegs für jie beſtimmt waren.

Ich habe fie bis in ihre dunkelften Schlupfwinkel verfolgt. Ich wollte fie fehen, nicht in den Büchern, fondern in ihrer Wirkſamkeit im wirklichen Leben und im Kreis ihrer bejcheidenen Getreuen, die Bertrauen zu ihr haben und alltäglich ihren Rath einholen oder ſich von ihr ermuthigen laffer. Ich bin mit redlicher Abſicht Hingegangen, ungläubig, aber bereit, zu glauben, ohne Voreingenommenheit und vorgefaßtes Lächeln; denn wenn man kein Wunder mit blinden Augen zugeben fol, fo ift die lächelnde Blindheit noch ſchlimmer. In jedem hartnädig feſtgehaltenen Irrthum birgt fi gewöhnlich eine vortrefflihe Wahrheit, die ihrer Geburtitunde harrt.

Wenige Städte hätten mir ein weitere und fruchtbareres Feld der Erfahrung geboten als Paris. Hier ftellte ich alfo meine Beobachtung an. Zum Beginn wählte ich den Augenblick, wo ein Vorhaben, deflen Ar gang nicht von mir abhing, da3 aber von großer Tragweite für mich ° mußte, gerade in der Schwebe war. Ich will nicht auf die Einzelhei. diefer Angelegenheit eingehen, die an ſich ganz belanglos ift. ES wird | nügen, daß um dieſes Vorhaben viele Ränke gefponnen waren und meh mächtige Gegenmwillen fi dem meinen widerfegten. Die Kräfte Hielten e

Die Zukunft. 223

ander das Gleichgewicht und nach menſchlicher Logik war e8 unmöglich, vor= aufzufehen, wer daß Vebergewicht erlangen würde. Ich Hatte der Zukunft alfo fehr beftimmte Fragen vorzulegen. Tas ift eine nothwendige Vor: bedingung; denn wenn Biele fich beffagen, fie fagte ihnen nichts, fo Liegt Das oft daran, dag fie fie zu einer Zeit befragen, wo fi am Horizont ihres Weſens nicht8 zufammenzieht.

Ic fuchte alfo nach einander die Aftrologen und Chiromanten auf, die heruntergelommenen, uns wohlbefannten Sibyllen, die fich einbilden, die Zufunft in den Karten zu lefen, im Saffeefag, in der Form, die ein mm einem Glas Waſſer aufgelöftes Eiweiß annimmt, und fo weiter. Denn . man darf nichts unterlaffen, und wenn der Apparat mandmal wunder= lich iſt, ſo kommt es doc vor, daß fih ein Körnchen Wahrheit auch unter den toͤllſten Praktiken verbirgt. Ich ſuchte namentlich die berühmteſten unter jenen Prophetinnen auf, die unter dem Namen von Somnambulen, Hellſeherinnen, Medien ihr Bewußtſein mit dem Bewußtſein und ſelbſt einem Theil der Unbewußtheit der ſie Befragenden vertauſchen und, im Grunde genommen, die unmittelbaren Erbinnen der alten Zauberinnen ſind. Ich fond in dieſer aus dem Gleichgewicht gekommenen Welt viel Schurkerei, Heuchelei und grobè Lüge. Doch ich hatte auch die Gelegenheit, gewiſſe ſeltſame und unbeſtreitbare Phänomene in der Nähe zu ſtudiren. Sie genügen nicht, um zu entſcheiden, ob es dem Menſchen gegeben iſt, den Schleier der Illuſionen zu lüften, die ihm die Zukunft verbergen, aber ſie werfen doch ein ziemlich ſeltſames Licht auf die Vorgänge an jenem Ort, den wir für den unantaſtbaren halten; ich meine das Allerheiligſte des verſchütteten Tempels, in dem unſere innigſten Gedanken und die unbekannten Kräfte, aus denen fie erwachlen, ohne unfer Willen fommen und gehen und taftend den ge- heimnißvollen Weg fuchen, der zu den fünftigen Ereigniflen führt.

Es würde zu weit führen, wenn ich Alles erzählen wollte, was id) bei diefen Prophetinnen und Helljeherinnen erlebte. Ich will nur kurz von einem der fchlagenditen Experimente diefer Art berichten. Es fchliegt übrigens die Mehrzahl der übrigen ein und die Pfychologie ift bei allen ungefähr gleich.

Die Soninambule, die ich; meine, iſt eine der berühmteften in Paris. Sie behauptet, in ihrem hypnotiſchen Zuſtande den Geiſt eines unbelannten feinen Mädchens, das fie Julia nennt, zu infarniren. Sch mußte mich fo an einen Tifch fegen, daß er zwiſchen und war, und fie empfahl mir, Julia zu duzen und fanft mit ihr zu veden, wie mit einem Kinde von fteben oder acht Jahren. Dann verzerrten fich ihre Züge, ihre Augen und Hände, .ihr ganzer Störper einige Sekunden lang in unangenehmer Weiſe; ihre Haare löften ih auf und ihr Gejichtsausdrud war völlig verändert. Er wurde naid und kindlich und aus dem großen Körper diefer reifen Frau drang

324 Die Zukunft.

eine jcharfe, Hare Kinderflimme, die mich etwas flotternd fragte: „Was willt Du? Haft Du Verdruß? Kommft Du Deinetwegen oder für einen Anderen, um mic zu fehen?“ „Für mid." „Schön; wilfi Du mir belfen? Führe mich in Gedanken an den Ort, wo Dein Berdruß ift.“ Ich Tonzentrirte meine Gedanken auf den Plan, der mir am Herzen lag, und auf die verfchiedenen handelnden Berjonen dieſes Keinen, noch umans- gefpielten Dramas. Allmählih drang fie, nad einigen Hin- und Hertaften, und ohne daß ich jie mit einem Wort ober einer Geſte unterftügt hätte, wirklich in mein Denken ein, las darin wie in einem von dünnen Schleiern bededten Buch, bezeichnete genau den Drt der Handlung, erlannte die Haupt⸗ perjonen und zeichnete fie ſummariſch mit Heinen, edigen, kindlichen Strichen, die aber wunberlih richtig und zutreffend waren. „Sehr richtig, Julia“, fagte ich in diefem Augenblid; „aber das Alles weiß ich fchon; nun möchte ich erfahren, was daraus entftehen, was noch kommen wird.“ „Was noch fommen wird? ... Sie wollen wiffen, was nod kommen wird; aber Das ift ehr fchwer zu fagen . . .* „Aber wie wird die Sache fchlieglich enden? Werde ich gewinnen?“ „Ya, ja, ich fehe e8; fürchte Dich nicht, ich werde Dir helfen; Du ſollſt zufrieden fein... .“ „Aber-der Verbruß, von dem Du mir erzählit; der Dann, der mir Widerftand leiſtet, und der ambere, der mir Böfes thun will...“ „Nein, nein, er will Dir nichts thun; es ift wegen einer anderen Perſon ... Ich fehe nicht, warum ... Er haft fe... O ja, er haft jie, er haft fie! ... Und gerade, weil Du fie liebft, will er nit, dag Du für fie thuft, was Du thun möchtet... .“

(So war e8 au!) „Aber fchlieglich” (ich beftand auf meiner Frage) „wird er bis and Ende_gehen und nicht nachgeben?" „OD, Das färchte nicht ...

Ich jede, er ift krank, er wird nicht mehr lange leben." „Du irrft, Julia;

e3 geht ihm jehr gut; ich habe ihn vorgeftern geſehen.“ „Nein, nein, Das macht nichts; er ift franf .. Dan kann e8 nicht fehen, aber er ift fehr

franf ... Er wird bald Sterben..." „Aber wann denn und wie?" „Es

it Blut auf ihm, un ihn, überall..." „Blut? Etwa ein Duell?“ (Ich

hatte einen Augenblid daran gedacht, eine Gelegenheit zu fuchen, um mich

nit meinem Gegner zu fchlagen.) „Ein Unfall? Ein Morb? Eine Rache?“

(Er war ein ungerechter, ffrupellofer Menſch, der vielen Leuten viel Böfes

zugefügt hatte). „Nein, nein! Frage mich nicht weiter, ich bin fehr müde...

Laß mich gehen..." „Nicht, ehe ich weiß ...“ „Nein, ich kann nicht

mehr jagen... ch bin zu müde... Laß mich gehen... Sei gut,

ih will Dir auch helfen... .“

Der felbe Krampf, der den Körper im Anfang verzerrt hatte, trat abermals ein und die Kinderftinmme ſchwieg; die Gefichtdzüge ber Vierzig- jährigen traten wieder auf das Geſicht der Frau, die aus einem langen

Die Zufunft. . 225 Schlaf zu erwachen ſchien. Brauche ich hinzuzuſetzen, daß wir uns vor dieſer Begegnung nie geſehen hatten und daß wir uns eben ſo wenig kannten, wie wenn wir auf zwei verſchiedenen Planeten geboren worden wären?

Aehnlich, wenn auch mit weniger charalteriſtiſchen und‘ zutreffenden. Einzelheiten, waren im Ganzen die Reſultate bei den Hellſeherinnen, bie wirklich eingefchlafen waren. Um eine Urt Gegenbeweis zu führen, fchidte ich zu der Frau, die „Julia“ zu ihrer Dolmeticherin erwählt hatte, zwei Verfonen, deren Berftand und Nechtichaffenheit mir befannt war. Sie hatten der Zulunft, ganz wie ich, eine wichtige und präzife Frage zu ftellen, die nur ein befondere8 Glück oder Schidjal beantworten fonnte. Der Eine be- fragte fie über bie Krankheit eines Freundes; Julia fagte feinen baldigen Tod voraus. Ihre Weisfagung wurbe durch bie Thatfachen beftätigt, obwohl in dem Augenblid, wo fie ausgeſprochen wurde, die Heilung ungleich wahrfcheinlicher war als der Tod. Der Andere fragte fie nach dem Ausgang eines Pro: zeſſes: fie gab ihm eine ziemlich ausweichende Antwort; dagegen bezeichnete fie ihm ohne Aufforderung die Stelle, wo ein für den Fragenden fehr werth: voller Gegenftand zu finden fei, der oft vergebens gejucht worben war und an den der Frager felbft nicht mehr dachte. Was mich betraf, fo ging Julias Prophezeifung zum Theil in Erfüllung; ich trug in der Hauptfache zwar feinen Sieg bavon, aber die Angelegenheit wurde doch auf eine befriedigende Weiſe geregelt. Der Tod des Gegners ift noch nicht eingetreten und ich erlafje der Zukunft gern das Verjprechen, daß jie mir durch den unfchuldigen Mund jenes Kindes aus einer unbefannten Welt gab.

Es iſt fehr erftaunlih, dag man fo in die letzte Zufluchtftätte eines Weſens eindringen und befler als es felbft Gedanken und Gefühle darin lefen kann, die manchmal vergeffen oder verworfen, aber ſtets lebenbig oder die noch ungeboren find. Es ift fürwahr beängftigend, daß ein Fremder in unferem eigenen Herzen weiter kommt als wir ſelbſt. Dergleichen wirft ein feltfames Licht auf die Natur unferes Innenlebens. Die Vorſicht, die ung hindert, au8 uns herauszugeben, nütt nicht; unfer Bewußtfein ift nicht ein= gedämmt; es flieht, es gehört uns wicht mehr an, und wenn es auch befon- derer Umſtände bedarf, damit ein Anderer dahin vordringen und Beſitz davon ergreifen Tann, fo ijt doch gewiß, daß unfer „inneres Forum“, wie man es mit jener tiefen Intuition genannt hat, die oft in der Etymologie der Wörter liegt, wirklich ein Forum Das Heißt: ein geiftiger Marktplag ift, wo bie Mehrzahl Derer, die Gefchäfte haben, nach ihrem Belieben kommt und gebt, ihre Blicke herumfchtweifen läßt und fi die Wahrheiten auf eine ganz andere und viel freiere Weife ausfucht, als wir bis auf diefen Tag je an- nehmen zu dürfen geglaubt haben.’

Aber laſſen wir diefen Gegenftand, dem unfer Studium nit gilt.

226 Die Zukunft.

Was ich in Julias Weisfagungen erklären wollte, ift der Theil de8 Unbe— kannten, ber.mir felbft fremd war. Ging fie über Das hinaus, was id wußte? Ich glaube: Nein. Der glüdliche Ausgang der Angelegenheit, den fie mir weisfagte, war ungefähr der, den ich vorherſah und den mein Juſtinkt in feinem egoiftifhen und wneingeftandenen Theile Iebhafter herbeiwüunſchte als den vollftändigen Triumph, den zu erftreben und zu erhoffen mir ein anderes, edleres Gefühl zur Pflicht machte, den ich jedoch im Grunde als unmöglich erfannte. ALS fie mir den Tod des Gegners verkündete, offen: barte fie nur ein geheimes Verlangen des felben Inſtinktes, einen jener feigen und ſchändlichen Wünfche, die wir vor uns felbjt verbergen umd die fih nicht bis in unfer Denken binaufwagen. Eine wirkliche Wahrfagelunft gäbe es nur dann, wenn diefer Tod wider alle8 Erwarten, wider alle Wahrfchein- lichkeit bald einträte. Aber ſelbſt wenn er bald und unverhofft einträte, fo wäre es doc nicht die Pythia geweien, die in die Zukunft eingedrungen: tft, fondern ich, mein Inſtinkt, mein unbewußtes Weſen hätte ein Ereigniß vor- hergefehen, an das es geknüpft war. Sie hätte in der Zeit gelefen, nicht unmittelbar und wie in einem Buche, in dem Alles zu leſen fteht, was ge ſchehen wird, fondern dur da8 Medium meiner PBerfon, in meiner befon- deren Intuition hätte fie gelefen und weiter nicht gethan als überfegt, was meine Unbewußtheit meinem Denken nicht zu fagen vermochte.

Das Selbe trifft, denke ich mir, für die beiden anderen Perfonen zu, die ihren Rath einholten. Der Eine, dem fie den Tod feines Freundes weis⸗ fagte, hatte, troß der Beruhigung, die feiner Freundichaft die Vernunft ein= fprach, wahrjcheinlich die innere Ueberzeugung, daß der Kranke fterben werbe. Über diefe Ueberzeugung, fei fie natürlich oder hellfeherifch, war von ihm energifch niedergelämpft worben und die Somnambule entdedte fie nun in- mitten der holden Hoffnungen, bie fie zu betrügen trachteten. Der Andere fand unverhofft einen verlorenen Gegenftanb wieder; aber es ift ſchwer, den Geifteszuftand eines anderen Menſchen genau genug zu kennen, um entfcheiden zu können, ob hier ein Zweites Gejicht oder einfach eine Rüderinnerung vorlag. Wußte er, der den Gegenftand verloren hatte, wirklich nichtS mehr davon, wo und unter welchen Umftänden er ihn verloren hatte? Er behauptet: Ja; er habe nie bie geringfte Ahnung gehabt, fei im Gegentheil überzeugt gewefen, daf der Gegenftand nicht verloren, fondern geftohlen war, und habe einen feiner Dienftboten in Verdacht gehabt. Aber es ift möglich, daß, wähı fein Verftand, fein waches Ich nicht darauf achtete, der unbewußte und gie fam fchlafende Theil feines Ich den Ort, wo der Gegenftand Hingelegt fehr wohl bemerft und fih an ihn erinnert hat. Durch ein nicht m’ überrafchendes Wunder, das aber einer anderen Thatjachenreihe ange hätte die Sommambule dann die latente, fait animalifche Erinnerung wi

Die Zukunft. 227

gefunden, aufgewedt und ans Licht des Menfchlichen geführt, zu dem fie vergebens emporzudringen getrachtet Hatte.

Sollte Das für alle Prophezeiungen gelten? Die Weisfagungen der großen Propheten, der Sibylien, Pythien und Zauberinnen: wären fie viel: feicht nicht® gewejen als ein Widerfpiegeln, ein Ueberjegen und Hinaufheben in die Verftandeswelt jener inftinktiven Helljihtigkeit der Einzelweſen und Völker, die ihren Sprüchen lauſchten? Möge Jeder die Antwort ober Hypo⸗ thefe wählen, die ihm feine eigene Erfahrung zuflüftert. Ich habe die meine mit der Einfalt und Aufrichtigfeit gegeben, die eine Frage der Natur erheifcht. Trotzdem wiederhole ich: es ift faft unglaublich, daß wir nichts von der Zu- kunft willen. Sch denke mir, daß wir ihr ähnlich gegenüberftchen wie einer fängft vergeffenen Bergangenheit. Wir könnten ung ihrer erinnern. Cinige Thatfachen fprechen für diefe Annahme, die wir nicht ausfchliegen dürfen. Es würde fih darum Handeln, den Weg zu biefem Gebächtniß, das ung vorausgeht, zu entdeden oder wiederzufinden.

Sch verftehe, daß wir nicht befähigt find, die Ummälzungen der Elemente, das Geſchick der Planeten, der Erde, der Reiche, der Bölfer und Raſſen vorauszuſehen. Das berührt ung nicht unmittelbar und wir Tennen e8 in der Vergangenheit nur durch die Kunſt der Gefchichtforfchung. Aber was ung unmittelbar angeht, was uns erreichbar ift und ſich in unferer Meisten Lebensfphäre abrollen muß, bie Ausfcheidung unſeres geiftigen Organismus, die und in der Zeit umgiebt, wie die Mufchel oder das Eocon die Mollusle oder Seidenraupe im Raume umgiebt, Dies und alle äußeren Ereigniffe, die darauf Bezug haben, find wahrfcheinlich in diefe Sphäre eingefchrieben. Auf jeden Fal wäre Das viel natürlicher, als es verftändlich wäre, wenn es nicht fo iſt. Es handelt fih Hier um einen Kampf von Wirklichfeiten mit einer Illuſion und nichts verbietet ung die Annahme, daß hier, wie überall, die Wirklichkeiten ſchließlich der Illuſion Herr werden. Die Wirklichkeiten: Das ift, was und begegnen wird und in der Gefchichte, die unfere überragt, in der unbeweglichen, übermenjchlichen Geſchichte der Welt fchon begegnet ift. Die Illuſion: Das ift der undurchfichtige Schleier aus jenen vergänglichen Fäden, die wir Geftern, Heute und Morgen nennen und über diefe Wirklich: feiten weben. Aber es ift nicht unumgänglich nöthig, daß unfer Wefen ewig im Bann diefer Illuſion bleibt. Man kann ji) fogar fragen, ob unfere außergewöhnliche Ungefchidlichfeit im Erkennen eines fo einfachen, fo unbeftreitbaren, volllommenen und nothwendigen Dinges, wie die Zukunft eins ift, für den Bewohner eines anderen Sterns, der uns befuchen fäme, nicht ein Anlaß zur größten Berwunderung wäre...

Die Zukunft ift, wie Alles, was befteht, wahrjcheinlich Logifcher als die Logik unferer Einbildungsfraft; und all unfer Zaudern, all unfere Ungemwißheiten find

228 j Die Zukunft.

- mit in ihre Vorausſicht einbegriffen. Und wir wollen wicht etwa glauben, daß ber &ang der Ereigniffe völlig umgeworfen würde, wenn wir ihn im Boraus Tännten. Zunächſt würden die Zulunft oder einen Theil von ihr nur Die kennen, die fich die Mühe gäben, fie zu erforfchen, wie die Vergangenheit oder einen Theil ihrer eigenen Gegenwart nur Die kennen, die den Muth und Berfland gehabt haben, fie zu befragen. Wir würden uns den Lehren diefer neuen Wiſſen⸗ ſchaft eben fo rajch anbequemen, wie wir und denen der Gefchichte angepaßt haben. Wir würden alsbald zwifchen den Uebeln umterfcheiben, denen wir uns entziehen könnten, und denen, die unvermeidlich find. Die Weifeften würben die Gefammtfumme diefer Uebel für fi vermindern und die Anderen würden ihnen entgegengehen, wie fie heute vielen gewiflen Unglüdsfällen entgegen⸗ gehen, die ſich leicht vorausfagen laffen. Die Summe unferer Verdrießlich⸗ feiten würde etwas geringer werden, aber weniger, als mir hoffen, denn unfere Vernunft vermag bereitS einen Theil unferer Zukunft vorauszuſehen, wenn auch nicht mit der materiellen Sinnfälligleit, von ber wir träumen, fo doch mit einer oft hinreichenden moralifchen Sicherheit; und wir fehen doch, daß die meiften Menſchen aus diefer fo leichten Vorausſicht keinen Nutzen zu ziehen wiffen. Sie würden ben Rathichlägen der Zukunft ihr Ohr verfchließen, wie fie die Warnungen der Vergangenheit hören, ohne fie zu befolgen. Paris, Maurice Maeterlind. .

Waldgeſicht.

Ve dem weiten, weiten Walde tobte Gewitterzom. Rauſchend brachen die N entfefielten Wafler aus den ſchwarzen, ſchweren Wolkenſäcken in die MWipfel und Kronen bernieder, als wollten fie fie zerdrüden, zerfchmettern mit ihrer Wucht; und wenn droben über der bangenden Welt der Gemittertgrann brüllend jeine Flammenpeitſche ſchwang, dann ftanden fie alle, die Bäume, athen los, wie zu heldenhaftem Dulden gewillt, wie ſchweigend bereit, zu Sterben. Da kams unter den flimmernden, mildigen Schleiern der ftürzend: Regengüffe einhergeichlüpft, gehüpft, ſchattenhaft, menfchenähnlich: ein altes, ve: hutzeltes Weibchen, den Rod über den Kopf gejchlagen, dab ihr Eulengefichtdie ſchier verſchwand; erbarmen hätt Einen mögen! Aber ba brunten bie bürre nadten Beine jprangen fo Hurtig und federnd über die jchlüpfrigen Pfabe dahi über bie Enorrigen Baummwurzeln, daB e8 zum Staunen war. Hin und wie

Waldgeficht. 229

reckte fie fchnobernd die ſpitze Naſe himmelan, Iugte ſchlau durch die Zweige in die Wolkennacht da oben, nidte und mederte: „Nur zu, Better, nur zu!“ Schüttelte vor Lachen ihre Lumpen und ſprang in Riefenfägen über die Wafler- laden wie ein muthwillig Bidlein, jobald ber rothe Hahn des Himmels feine breiten ?ylammenfittiche über ben ftahldunflen Wolfen jchüttelte und die Lüfte von einem praſſelnden Boltern erbebten, als jtürzte da oben hinter Wolfen bergen eine reiche Stadt mit Häufern, Thürmen, Kirchen und Paläjten um ihrer Sünden willen in Trümmer und Berwüſtung. Himmelangſt Tonute Einem werden! Über die Alte? Scheint ja mit dein ſchwarzen Gewitter auf Du und Zu! Da... verihwunden war fie in Regenfcleiern und Waldſchatten!

Ganz weltvergeſſen inmitten be3 großen Waldes lag ein verwittertes Blodhaus, tot, verſchloſſen. Wer e8 gebaut: fein Menf weiß es, noch, wem e3 gehört, wozu e3 gedient; ob fürſtlichen Jägern ein Unterftand, ob fchuldiger, weltflüchtiger Xiebe eine verjchtwiegene Hut? Die Fenſter waren längit erblindet, von Luft und Regen zerſetzt jchillerte das Glas in allen Negenbogenfarben, in der Mitte das niedere Thürchen ſaß mie eingewachſen in feinen Fugen, das Schloß daran war mit braumem, körnigem Roſt dicht bededt. Uber vor der Thür ftredte fidd ein breit ausladendes Ueberdach, an den beiden Eden vorn von zwei morſchen Holzfäulen gejtüßt, bededt mit bunten, zottigen Moospolitern, der alten Eiche entgegen, die um bes verfchollenen Häuschens Geheimniß mußte; aber die ſchwieg. Die Menſchen der nahen Stadt, wenn fie in Waldes mitten von Unwetter überrajcht wurden, flüchteten gern in die Hut des breitfchattenden Vordaches. Nach dem Häuschen jelbjt und jeiner Vergangenheit zu fragen, hatte die Neugier längit aufgegeben; nur Beeren ſuchende Kinder träumten fich um die Abendſtunde dort gern Märchen und Wunder, flüjterten, wenn fie vorbei— ſtrichen; fee Knaben drüdten dad Näschen an den blinden Scheiben breit, rannten dann, von plößlichem Grauen gepadt, davon, logen den Spielkameraden Wunder⸗ Dinge. vor, die fie da drinnen gejehen hätten, und glaubten fie ſelbſt. Sonſt aber war und blieb das alte Blockhaus eben ein Leichnam; genug: unter feinem Dache war gut fein, wenn ringsum Regen in die Wipfel rauſchte.

Auch heute hatten fich zwei verirrte Menjchenkinder dort gefunden, fremd einander. Er hatte lächelnd an feinen Hut gefaßt und zu der Unbekannten ge- fagt, wa3 man jo jagt: „Ein ſchönes Wetterden, nicht wahr?" Sie Hatte leife nur den Kopf geneigt, höflich gelächelt und gejchiviegen. Nun ftand er vorn, ganz vorn, und fchaute mit Luft und Grauen in den Aufrubr; fie. aber ſaß hinten im Schatten, auf dem Bänkchen aus Birkenholz neben der Thür, batte die kleinen Füße über einander gelegt, das Stöpfchen mit dem breiten Sommerhut tief geneigt und bot in ihrer Negunglofigfeit das Bild grenzenlos ergebener Geduld; aber bei jedem Inatternden Schlage, wenn ihm in aufathmender Kraft die Bruft fih bob, fuhr fie leife zufammen, fchaute mit großen, bangen Kinderaugen in das Wetter und warf einen ſcheuen Blid auf den fremden Mann, der feine Luft an den Schredniffen zu haben jchien. So harrten bie Zwei, ohne ein Wort zu wechjeln, lange. Dann lich die Leidenſchaft der Wetter- gewalten nach, der Regen nur ftrömte unvermindert; doch wars ein ftetes, reiches Strömen, nidt mehr das ungeftüme Niederpeitfchen, das praſſelnde Nieder- ſchleudern unerhörter Waſſermaſſen, al3 ob da droben Titanenarme einen Riefen-

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230 Die Zunft.

eimer nad dem anderen hernähmen und fluchend über der Welt umftürzten. Schon ſuchte des jungen Mannes Blid den Himmel: er war no dunfelgren. Yun muß ich aber Eins verrathen: Die Zwei, die fih da unter dem Schutzdach getroffen Hatten, warennichtallein. Sie wußten nichts davon, daß drinnen im Blodhaus die Alte lauerte. Wißt Ihr? Die Alte, die wir vorhin durch den Wald fchlüpfen jahen. Wie fie hineingefommen und wann? Ich weiß es nidt. Was fie drinnen zu ſchaffen hatie? Fragt fie jelbit! Wenn man genau hingudte, fo jah man über den Haupte des Mädchens das verwitterte Fenſter offen und das alte wunderliche Alraunengeficht ftarrte heraus. Das heißt... . Kein! Wenn man ganz genau hinjah, war Alles wie immer: die blöden, blinden Scheiben des feitgefchlofjenen Fenſters fchillerten blau und grün. Aber doch ſchaute fie Heraus, und zwar mit einem eigenen Blid und Yusdrud. Ihr großes, gerwichtiges Zigeunerantlig, dem filberweiße Haarſträhnen fi voll um eine ſchöne Stirn fchmiegten, trug den Ausdruck ftarren Staunens, angitvoller, entfeßlicher Spannung und die übermächtigen, geheimnißvollen Augen ſprangen fiebenwild bin und her, von ihm zu ihr, von ihr zu ihm. Was ſah fie nur an den be- icheidenen Menjchenkindern, die böje Trude? Es war nämlid ein eigen Ding um diefe Augen. Das waren nicht Augen irdijcher Art: fie jahen die Dinge diefer Welt licht und fcharf, aber dazu Alles, was Hinter den Dingen lag, ihr Woher und Wohin. Das merkte man ihnen an. Sie jahen Gedanken in der Menſchenbruſt verſchwiegener Tiefe und hinter den Gedanken die That, ganze Geſchlechter von Thaten; und Hinter Gedanken und Thaten ber Thaten und Gedanken Segen und Fluch; fie fahen, wenn fie als Nachtmahrt in die bumpfen Scdlaffammern jchlüpfte und fi über die ſchwer athmenden Menſchen beugte, tief im Hirn und Bufen der Gequälten die Träume, die fi) ballten aus Schuld und Reue; fie ſahens, wenn in ſchmutzigen Nebelgewanben eine ihrer häßlichen Muhmen vom trüben Horizont heranſchritt, eine Seuche, hinter ihr her eitte Scattenprozejlion von Särgen und Leidtragenden; vorn Die in prächtigen Leichen: wagen, beren ſchwarz verhüllte Roſſe fchnaubend jchwarze Federbüſche auf den Köpfen ſchüttelten und zierlich die Hufe hoben und feßten nach den Klängen pomp- bafter Trauermufil; dahinten bie Neihen Derer, bie einen ſchmuckloſen Tannen ſchrein auf müden Schultern eilig zum Kirchhof fchleppten, wie man einen Raub birgt. Und was fahen fie hier? Ein geheimes Leben, Werden und Wollen: wie einen ſchimmernden Sranz, wie die Feuer von Sankt Elms ſahen Pie Wunderaugen Etwas um ber Beiden Häupter geijtern; weiter und lichter wurden die Aureolen, Funken fprangen daraus; und jeßt, jegt dehnten fie fi, reckten fie fich, die Lichtkränze, baufchten fih auf, durcdhhrachen die Rundungen, ftrebten lichtathmend, ſchwellend einander entgegen, Funken flogen in tnifterndem Aus- tauſch aus des einen Lebens Bannfreis in den des fremden. Der Jüngling riß den Hut vom Kopfe, trodnete fi) den Schweiß von der Stirn; ein unruhiges, grund- und finnlojes Verlangen quälte ihn, die Fremde anzufchauen, nur anzufchauen? Es fochte in feinen Adern, braufte in feinen Schläfen. Er ging mit aufgeregten Schritten ab und zu und murmelte, um nur Etwas zu fagen, halb zu ihr gewandt, und erjchraf vor jeiner fremden, heiferen Stimme: „Lang: weilige Geſchichte, gelt?" Sie antwortete nicht; ihr Geficht war tiefer gejenft verſchwand ganz im Schatten des breiten Hutes; fo fah er nicht, daß fie, totr

Berbgeficht. 231

bleich, leidend, die Augen geichloffen hatte, die Lippen zujammenpreßte, wie um einen Schrei zu eritiden. Ein unerflärliches Schwäcjegefühl, Angftgefühl überwältigte fie; ihr Herz pochte, als wollte es ihre Bruft zerichlagen. „Was tft mir nur? Nur nicht Trank werden! Hier! Wo der Fremde mir helfen müßte!" Inzwiſchen ward es dämmriger. Der Negen raufchte fort. Nun aber fah die Trud in dem Dämmergrau mit entjegten Augen fi Geftalter formen: fah, mie da3 Weib, das da in den Schutten geduckt ſaß, zag und ſcheu, fah, wie das jelbe Weib in ſelbſtvergeſſener Wonne zwei volle nadte Arme um den Hals jenes Mannes dort ſchlang, wie Mund an Mund, Bruft an Bujen fi preßten, ange, lange, wie Dann und Weib Seele in Seele tranfen! Dann, bann wankte, verihwamm dies Bild der Bereinigung; dem Dämmer entleimte ein rofiges Kinbergeficht, da8 Kind, gezeugt von diefem Dann, von diefen jungen Weibe geboren; es wechfelte, wuchs, warb ein troßig-Ichöner Knabenkopf, warf bald aus einer gebietenden, lichten Jünglingsſtirn mit herriſchem Ruck eine üppige Locke zurüd... Die Alte zitterte, ihre Lippen lallten: „Halt ein!.. .“ Uber das Haupt erhob fich Löniglicher, in feinen Augen flammten alle Gnaden des Himmels, alles Erfühnen der Menſchenart, alle Wahrheit und aller Bekenner⸗ muth und alle Liebe. Tauſenden wollte er Erldjung bringen, Troft und Frieden! Das Gefiht der Alten ftierte weiß und verzerrt wie ein Haupt, das ein Henker vom blutigen Blode hebt und der ſchaudernden Menge zeigt, mit glafigen Augen auf den gewaltigen Heilandskopf. Das jcheue Mädchen athmete ſchwer, als wolle e3 fterben, ber Jüngling lehnte fi) taumelnd an einen der Holzpfeiler und fchalt ſich ſelbſt keuchend: Gefpenfterfcheuer Narr Du! Und Fäden, Fäden werben- der Geſchicke fpannen fich herüber und hinüber, von ihm zu ihr, von ihr zu ihm. Die Alte ſah fie flimmern und phosphorifch leuchten, in Funken Fnijtern.

Da, mit einem Rud, ließ der Regen nad. Noch einige ſchwere Tropfen hie und da; die Bäume fchüttelten ji) und athmeten auf; duftende Reinheit wehte fühl herein. Einen fcheuen Blick halb über die Schulter werfend, linkiſch den Hut lüftend, ftürgte der Syüngling davon. Das Geficht der Alten ftrahlte in breitem Grinfen. Das Mädchen wartete noch ein Weilchen; fein Schritt war bald verklungen. Dann bob ein tiefer, tiefer Seufzer ihren unjchuldigen Bufen, als athme ſie fich die Laft eines ganzen Lebensgeſchickes, Mariengeſchickes von der Seele. Sie faßte fih an die Stirn, fchüttelte lächelnd den Kopf: Was wars nur? Was? Dann fehürzte fie ihre Nöde forgjam, ergriff den Feldblumenſtrauß und fchlug fich linkswärts in den Wald. Rechts war er gegangen.

Hinter ihr drein Klang medernbes Lachen: Wieder nichts! Wieder nichts! Alles bleibt hübſch beim Alten! Die große Mutter ift doch gar zu bumm umd 'ne ſchlechte Wirthin! Schlaft hübſch weiter, Menſchenwürmer, meine Naben fliegen no lange, lange! Ui Segerl: Das muß ich doch heute nachts den Schweitern am Kreuzweg erzählen!

Waidmannsluſt. Eberhard König.

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232 Die Zukunft.

Bilderbücher.

Io "einge möchte ich zwei neue Bücher von Schulge-Naumburg nenuen \ Kulturarbeiten, Band I, Hausbau (Kunftwartverlgg, Münden) und Die Kultur des weiblihen Körper al3 Grumdlage der Frauenfleibung (Diederichs, Leipzig) —, obwohl biefer Name in unferer Zeit nicht ſchmeichel⸗ haft klingt. Es ift für den Charakter unferer Kultur fehr bezeichnend, welchen Sinn das Wort für uns angenommen hat: Bücher, mit denen man Heine Kinder unterhält, mit deren Hilfe man ihnen vielleicht auch allerlei Ideen und Borftellungen beibringt, denen aber ber Begriff des Kindifchen, Spiele riſchen feſt anhaftet. Ein Theil diefer Geringichägung geht fogar auf bie wifjenfchaftlichen Werke über, die mit Abbildungen „verfehen“ find. Ober wenn nicht auf das ganze Werk, fo werden doch die Bilder in den weitaus meiften Fällen als eine unterhaltende Beigabe, al3 eine Art Efeldbrüde des Gedankens betrachtet. Die Thatfache, daß diefe „Beigabe“ für gewifie Diaterien vollkommen unentbehrlich ift, je, da8 zugeftandene Prinzip, daß „Anfchauung die Grundlage aller Erkenntniß ſei“, ändert daran nichts. Den eigentlichen Wiffensgehalt de8 Buches fucht man im Wort. Das ift natürlich und felbfi- verftänblich, wenn es ſich um Gebiete bes Denkens handelt, die ganz und gar im Bereich des Sprachdenfens Tiegen, fehr merkwürdig aber auf dem Gebiet der Realwiffenfchaften, die den überwiegend größten Theil ihrer Er⸗ fahrungthatjachen auf dem Wege des Anfhauungvermögens erhalten. Warum, zum Beifpiel, halten wir die Wortbefchreibung eines Anatomiebuches: „Der Körper beftcht aus diefen und jenen Theilen, feine Muskeln und Sehnen fegen hier und dort an, haben diefen und jenen Verlauf, die eine oder andere Wirkung“ für Webermittelung eines Wiſſens, die ent|prechende Zeichnung daneben aber für Beigabe, auf die fich die Wortbefchreibung zwar beziehen kann, die aber für fich allein bedeutunglos bliebe? Knochen, Muskeln, Schnn, | Gefäße u. f. w. find in der Zeichnung durch ihr Ausfehen deutlich getrennt, che | diefe Trennung durch das Wort angezeigt wird; über räumliche Lage, Form, Fade und Geſtaltung der Oberfläche macht das Bild Angaben, gegen bie gehalten die Bezeichnungen durch das Wort fchattenhafte Wine, nicht eindeutige Beltimmungen ſind; felbft für die zeitlich fich vollziehende Entwidelung oder Wirkung einzelner Organe hat die bildliche Darftellung Ausdrudsmögl : keiten. Die dem Wort allein zuftehende Namengebung ift fein wefentlid | Beltandtheil der Erkenntniß, fondern ein Hilfsmittel der Verſtändigung, : beim bildlihen Ausdrud völlig gegenftandlo8 wird. Wenn man eine D; ftellung durch Worte als beſonders vorzüglich bezeichnen will, fo nermt n fie „anſchaulich“. Iſt Das die Abbildung nicht noch viel mehr?

Daran, dag der Thatfacheninhalt der Abbildung ein geringerer '

Bilderbücher. 233

als der der Wortbefchreibung, kann der Unterfchied in ber Werthſchätzung Beider alfo nicht liegen. Und doch ift er uns fo felbftverfländlih, daß wir faum noch nad Urſache und Berechtigung fragen. Man veritehe mich reiht: e3 giebt ja Fälle genug, wo wir die „Abbildung“ über ben „Terxt“ eines illuſtrirten Wertes ftellen, befonders, wenn ber Tert recht fchlecht iſt. Meift meſſen wir dann aber dem Bild einen befonderen „Lünftlerifchen“ Werth bei, befien Bedeutung wir als eine fehr ftrittige fennen, von dem wir nur zu willen vermeinen, daß er nicht in der Uebermitielung von Kenntniflen be- ftehen darf. Für mich aber handelt es fich gerade um die Frage, inwieweit die zu einem Werke wiflenfchaftlichen Charakters gehörige Jlluftration parallel dem Wort, aber unabhängig von ihm, ein Wiffen und Denken zu übermitteln vermag. Und bei diefer Yrage eben treffe ich auf die allgemeine Annahme, daß da8 Denken erft da beginne, wo fi der Inhalt der Sinneswahruehmung in Worte umfegt, daß folglich eine Vermittelung des Denkens auch nur durh Worte vor fich gehen könne. Macher wir und an bem vorhin ge- wählten Beifpiel tar, worauf diefe Annahme beruft. Wenn man flatt der Abbildung eines anatomischen Werkes einem wirklichen anatomifchen Präparat gegenüberfteht, fo befigt man zweifello8 deſſen Anfchauung in viel vollfom- menerem Maße, als je eine Abbildung fie zu vermitteln vermag. Troßdem wird das befchreibende Wort, fei e8 nun gefprocdhen, gedrudt oder nur gedacht, diefe Anſchauung erft „anfchaulich“ machen, indem es zunäcft die Geſammt⸗ erfcheinung in Theile zerlegt, einzeln benennt, diefe wieder in Theile und jo fort, dann diefe Theile wieder zu zweien oder mehreren zuſammenordnet und fo fchlieglich ein ſyſtematiſch aufgebautes, im ſich gegliedertes Bild ſtatt des einfachen Spiegelbilde8 auf der Netzhaut entſtehen läßt. Zugleich fegen die dabei nothiwendig angewandten Gattungbezeichnungen da8 Objekt und feine Theile in Zufammenhang mit anderen bereit3 vorhandenen Vorftellungtom- plexen. Wenn alfo der Wirklichkeit gegenüber aus der Sinneswahrnehmung erſt dadurch eine Erkenntniß wird, daß das Sprachdenken fid) des Augenbildes bemächtigt: wie viel mehr wird Das der Abbildung gegenüber der Fall fein, die aus dem Gefammtbilde der Wirklichkeit doch nur einen Heinen Theil und den unvolllommen darftellt! -

Allgemein gefprochen: das vom Auge aufgenommene Bild wird erft durch einen Alt bewußten Denkens zur faßbaren Vorftelung und diefe bedarf zu ihrer Entwidelung und Mittheilung einer äußeren Form. ALS ſolche fanden wir eben die Sprache.

Doch giebt 8 und Das ift erftaunlih Wenigen befannt eine andere Form georbneten Apperzipirens, die ganz und gar im Gebiet der An: ſchauung bleibt und als folche mittheilbar ift: die bildliche Daritellung. Auch fie begiunt mit der Zerlegung der Erſcheinung in ihre wefentlichen

234 Die Zukunft.

Theile und diefer wieber in Fleinere Theile und orbnet dann aus biefen Stüden ein neues, fuftematifch gegliedertes Ganze zufammen. Anders als auf diefem Wege ift ein Nachbilden der Wirftichkeit undenkbar. Und jeder der Bewußt⸗ feinsafte, der nothwendig war, um aus der Perzeption der Wirklichkeit Das zu machen, was der bewußte Wille durch Arbeit der Hand in bildlicher Nach⸗ ahmung feftzuhalten vermag, findet feine Ausprägung in dem fo entfichenden Bilde: und zwar’fo, daß man alle diefe Bewußtfeinsafte einfach abzulefen vermag und alfo im Bilde eine fchon apperzipirte Wirklichkeit in ſich auf- nimmt. Daß zum Apperzipiren des Bildes dann freilich noch einmal eine Denkthätigfeit nöthig iſt, verfteht fi von felbjt. Sie entfpricht ganz genau _ der, die nöthig ift, um aus dem Geräufch der gefprochenen Worte oder dem Flimmern gedrudter Buchſtaben emen Sinn herauszuverftehen.

Die Erfiheinung der Wirklichkeit iſt in jedem kleinſten ihrer Theile unendlih. Die Darftelung durch Worte ſowohl wie die durch das Bild löft aus diefer nie reftlo8 zu erfaflenden Unendlichkeit einen beſchränkten Theil und führt diefen um fo deutlicher, weil gefondert, dem Bewußtſein zu. Im einen Fall fehen wir darin Vermittelung einer Erkenntniß, im anderen Sur⸗ rogat der Wirklichkeit, da8 um fo viel weniger werth ift, wie es weniger ent⸗ hält als diefe? Das ift abfurd. Wir müffen vielmehr erfennen, daß e8 nicht eine Unvollfommenheit der bildlichen Darftellung ift, wenn fie mit der Wirk- Tichkeit nicht identisch ift, fondern daß fie, eben fo wie eine Mittheilung durch Worte, das Refultat eines abwechjelnd analytifchen und fyntherifchen Denk⸗ vorganges darjtellt. (Bon diefem Punkt aus wird man übrigens begreifen, daß eine Kunſt fich die genaue Darftellung der Wirklichkeit zum Biel fegen kann, ohne daß deshalb die Identität mit der Wirklichfeit ihre Vollendung bedeutete.)

Wenn wir zur Zeit gewohnt find, in den Minus der Abbildung gegen- über der Wirklichkeit nır den Mangel zu erbliden und die Summe geiftiger Thätigfeit zu verfennen, die gerade dieſes Minus zu beftimmen hatte, fo liegt Das freilich zum großen Theil auch daran, daß unfere Abbildungen fhleht jind, daß fie durch ein zufälliges Herauspflüden von Einzelheiten ent= ftehen und die Möglichkeiten, einen geordneten Denfvorgaug durch bildliche Darſtellung fichtbar zu machen, nicht annähernd ausgenügt werden. Ge— ſchähe Das, fo mühten wir neben der redenden Wiſſenſchaft eine anfchauliche befigen, die jene ergänzte. Das Wort, da3 abitrafte Symbol des Dinges, das lette, flüchtigfte Deftillationproduft des unermüdlich ausfcheidenden Denk: vorganges, würde immer die ungeheure Beweglichkeit und Leichtigkeit im Heranholen der entfernteiten, abgezogenften VBorftellungsfomplexe, im Zu= fanımenordnen unzühlig vieler, in ter Ueberwindeng von Zeit und Raum voraus haben. Tod) darf man nicht vergellen, daß auch das Bild eine un⸗ befannte Erſcheinung zunädft auf befannte zurüdzuführen und allgemeine

Btiderbücher. 235

Zufammenfaflungen aus einer Summe von Einzelfällen zu geftalten und mit diefen neuen Yormeln zu arbeiten vermag. Und was ihm an Beweg⸗ lichfeit abgeht, würde es durch eindeutige Evidenz der ihm zugängigen Schluß- formen erfegen. Die Ausdrudsformen für eine folhe Anfhauungwifienfchaft zu finden, ift Sache der bildenden Kunſt. Ich fage ausdrücklich nicht, daß fie felbft Kunft fei, weil wir unter Kunſt Gefühlserregungen einer ganz beftimmten Art zu verftchen gewohnt find, die wir zwar fehr wohl kennen, aber ſchwer zu umgrenzen vermögen. Wohl aber kann auch eine Anfchauung allgemeiner, alfo nicht ſpezifiſch fünftlerifcher Art gerade wie die Fünftlerifche nur dann erzeugt werden, wenn ein innerlich ge'chautes Vorftellungbild mit den Dar- ftellungmitteln, teren jich die bildende Kunst bedient, zur fichtbaren Er- fheinung gebracht wird.

Wenn ich es alfo für den Charakter unferer Kultur bezeichnend nannte, daß das Wort „Bilderbuch“ einen fo fchlechten Klang befonımen hat, fo meinte ich damit, daß in der That heute der größte Theil unſeres Denkens im Bereich der Sprache vor ſich geht und eben ſo die Feſtlegung und Ver— mittelung des Wiſſens die Form des Wortes wählt. Ich will nicht unter- fuchen, ob Das jemals ander3 war; fiher fcheint mir, dag wir nothwendig eier BVerfchiebung heditifen, die uns von der Alleinherrichaft des Wortes, des leeren Zeichens ohne jinnfäligen Zufammenhang mit dem Bezeichneten, befreit und unſer Urtheilen und Wiffen zum Theil in ein Gebiet überführt, wo der Gedanke mit der Sinneswahrnehmung unlöslic verbunden iſt.

ALS treffendes Beifpiel einer folchen GebietSeroberung zu Gunften des anfchaulichen Denkens erfcheinen mir die beiden Bücher von Schulge-Naum= burg; deshalb nannte id) jie „Bilderbücher“. Ich will dazu bemerken, daß mir ber Berfaffer und die Ideen jener Bücher perfönlich nah ftehen. Wer glaubt, dar ih darum Beide in perfpeftivifcher Vergrößerung erblide, möge da8 Perfünfiche aus diefem Urtheil ausschalten und den einzelnen Fall als Erempel einer prinzipiell wichtigen Frage nehmen.

Die „SKulturarbeiten”, von denen der erfte Band, „Hausbau“, er: fchienen ift, handeln von den Veränderungen, die der Menſch mit der Ober- fläche der Erde vornimmt, insbejondere der Deutiche mit feiner Heimath, um aus ihr feine MWohnftätte zu fchaffen: wie er Wälder jchlägt, Berge ab- trägt, Flüffe lenkt und überbrüdt, Felder und Gärten, Häufer, Dörfer, Städte an ihre Etelle jet, Wege, Straßen, Bahnen und Leitungen aller Art zwijchen diefen zieht und die Produkte des Landes zu- feinem Nuten verar— beitet. Wir nennen diefe Thä.igfeit heute „Verwüſtung der Natur durch die Kultur“ und Schauen ihrem leder unabmwendlichen Fortfchreiten mit Grauen zu, als wäre es ein langfamer Selbitmord der Menjchheit. Muß es fo fein und war e8 immer fo? Ein Blid in die Vergangenheit, nicht weiter

234 Die Zukunft.

Theile und biefer wieder in Meinere Theile und ordnet dann aus diefen Etäden ein neues, foftematifch gegliederte Ganze zufammen. Anders als auf diefen Wege ift ein Nachbilden der Wirflichfeit undenfbar. Und jeder der Bewußt⸗ feinsafte, der nothwendig war, um aus der Perzeption ber Wirflichfeit Das | zu machen, was ber bewußte Wille durch Arbeit der Hand in bildlicher Nad- ahmung feftzuhalten vermag, findet feine Ausprägung in dem fo entfichenden Bilde: und zwar ſo, daß man alle diefe Berwußtfeinsafte einfach abzulefen vermag und alfo im Bilde eine ſchon apperzipirte Wirklichkeit in ſich auf: nimmt. Daß zum Apperzipiren des Bildes dann freilich noch einmal eine Denkthätigkeit nöthig ft, verfteht fi von felbft. Sie entfpricht ganz geman der, die nöthig ift, um aus dem Geräufch der gefprochenen Worte oder dem Flimmern gedrudter Buchſtaben einen Sinn Herauszuverftehen.

Die Erſcheinung der Wirklichfeit iſt in jedem MHeinften ihrer Theile unendlih. Die Darftellung durch Worte ſowohl wie die durch das Wild loſt auß dieſer nie reſtlos zu erfaffenden Unendlichkeit einen beſchränkten Theil und führt dieſen um fo deutlicher, weil gefondert, dem VBewuftjein zu. Im einen Fall fehen wir darin Vermittelung einer Erfenntniß, im anderen Sur— rogat ber Wirklichkeit, da8 um fo viel weniger werth ift, wie e8 weniger ent- Hält als diefe? Das ift abſurd. Wir müffen vielmehr erkennen, daß es nicht eine Unvollfommenheit der bildlihen Darftellung ift, wenn fie mit der Wirf- lichkeit nicht identiſch ift, fondern daß fie, eben fo wie-eine Mittheilung durch Worte, das Nefultat eines abmechfelnd analytiſchen und fontherifchen Denk: vorganges darftellt. (Bon diefem Punkt aus wird man übrigens begreifen, daß eine Kunft fi die genaue Darftellung der Wirklichkeit zum Biel fegen Tann, ohne daß deshalb die Identität mitder Wirklichkeit ihre Vollendung bedeutete.)

Wenn wir zur Zeit gewohnt find, in dem Minus der Abbildung gegen- über der Wirklichkeit nur den Mangel zu erbliden und die Summe geiftiger Tätigkeit zu verfennen, die gerade dieſes Minus zu beftimmen hatte, fo liegt Das freilich) zum großen Theil auch daran, daß unfere Abbildungen ſchlecht find, daß fie durch ein zufälliges Herauspflücen von Einzelheiten ents ftehen und die Möglichkeiten, einen geordneten Denfvorgang durch bildliche Darftellung ſichtbar zu machen, nicht annähernd ausgenügt werden. Ge: fhähe Das, fo müßten wir neben der redenden Wiſſenſchaft eine anſchauliche befigen, die jene ergänzte, Das Wort, das abftrafte Symbol des Dinges, das legte, flüchtigfte Deftillationproduft des unermüdlich außfcheidenden Denk» vorganges, würde immer die ungeheure Bereglichfeit und Leichtigkeit im Heranholen der entfernteften, abgezogenften Vorſtellungskomplexe, im Zu— ſammenordnen unzählig vieler, in ter Uebersindung von Zeit und Raum voraus haben. Doc darf man nicht vergefien, daß auch bas Bild eine ım- bekanute Erſcheinung zunãchſt auf befannte zurüdzuführen ımb allgemeine

Biiderbücher. 235

Zuſammenfaſſungen aus einer Summe von Einzelfällen zu geſtalten und mit dieſen neuen Formeln zu arbeiten vermag. Und was ihm an Beweg— lichkeit abgeht, würde es durch eindeutige Evidenz der ihm zugängigen Schluß: formen erfegen. Die Ausdrudsformen für eine folche Anſchauungwiſſenſchaft zu finden, ift Sache der bildenden Kunſt. Ich fage ausdrüdlic nicht, daß jie felbft Kunft fei, weil wir unter Kunft Gefühlserregungen einer ganz beftimmten Art zu verftchen gewohnt jind, die wir zwar fehr wohl kennen, aber fehwer zu umgrenzen vermögen. Wohl aber fanın auch eine Anfchauung allgemeiner, alfo nicht ſpezifiſch künſtleriſcher Art gerade wie die künftlerifche nur dann erzeugt werben, wenn ein innerlich ge'chautes Vorftellungbild mit den Dar: ftellungmitteln, teren fich die bildende Kunft bedient, zur fihibaren Er: ſcheinung gebradjt ‚wird.

Wenn ich es alfo für den Charalter unſerer Kultur bezeichnend nannte, daß das Wort „Bilderbuch“ einen ſo ſchlechten Klang bekommen hat, ſo meinte ich damit, daß in der That heute der größte Theil unſeres Denkens im Bereich der Sprache vor ſich geht und eben jo die Feſtlegung und Ver— mittelung des Wiſſens die Form des Wortes wählt. Ich will nicht umter- fuchen, ob Das jemals ander3 war; fiher ſcheint mir, daß wir nothiwendig einer Berfchiebung hedirfen, die uns von der Alleinherrfchaft des Wortes, des leeren Zeichens ohne jinnfäligen Zufammenhang mit dem Bezeichneten, befreit und unfer Urtheilen und Wiffen zum Theil in ein Gebiet überführt, wo der Gedanke mit der Sinneswahrnehmung unlöslich verbunden ift.

ALS treffendes Beifpiel einer folchen Gebiet3eroberung zu Gunſten de8 anfchaulichen Denkens erfcheinen mir die beiden Bücher von Schulge-Naum- burg; deshalb nannte ich jie „Bilderbücher“. Ich will dazu bemerken, daß mir der Berfaffer und die Ideen jener Bücher perfönlich nah ſtehen. Wer glaubt, daß ich darum Beide in perfpeftivifcher Vergrößerung erblide, möge das Perfünliche aus dieſem Urtheil ausfchalten und den einzelnen Fall als Erempel einer prinzipiell wichtigen Frage nehmen.

Die „Kulturarbeiten“, pon denen der erfte Band, „Hausbau“, er: fhienen ift, handeln von den Beränderungen, die der Menfch mit der Ober: fläche der Erde vornimmt, insbejondere der Deutliche mit feiner Heimath, um aus ihr feine Wohnſlätte zu fchaffen: wie er Wälder fchlägt, Verge ab- trägt, Flüſſe lenkt und überbrüdt, Felder und Gärten, Häufer, Dörfer, Städte an ihre Stelle fegt, Wege, Straßen, Bahnen und Leitungen aller Art zwiſchen diefen zieht und die Produfte des Landes zu- feinem Nuten verar- beitet. Wir nennen dieſe Thä.igfeit heute „Verwüſtung der Natur durch die Kultur“ und ſchauen ihrem leder unabmwendlichen Fortfchreiten mit Grauen zu, als wäre es ein langfamer Selbftmord der Menschheit. Muß e3 fo fein und war e3 immer fo? Ein Bid in die Vergangenheit, nicht weiter

286 Die Zukunft.

als hundert Jahre zurüd, zeigt, daß einft die Schöpfungen des Menſchen denen ber außermenfchlihen Natur als Kinder gleichen Stammes eben- bürtig zur Seite fanden. Wenn wir uns heute verzweifelt fragen, ob mau auf einer Erde, bie. ganz und gar von Menſchen zugerichtet und ausge baut wäre, überhaupt noch exiſtiren kann, fo iſt Das nicht etwa eine Folge der höheren Vollkommenheit, Zweckmäßigkeit und Bequemlichkeit umferer Einrihtungarbeiten im Haus des Natur, wie die meiften Menſchen berubigten Gemüthe3 annehmen, fondern umgekehrt ihrer Geringwerthigteit, Der ge- danfenlofen, niedrig gemeinen Ausnügung des rafchen Schengewinns, Des allgemein betriebenen Raubbaus, der Unfähigkeit, mit unferen mühfamen Ar- beiten Das zu erreichen, was fie eigentlidh bezweden: unfer Wohlbefinden

Das andere Buch, „Die Kultur. des weiblichen Körpers", behandelt die Veränderungen, die der Menfch mit feinem Körper vornimmt, ins- befondere die Frau, erſtens, um ihn vor Kälte zu hüten, daun, um ihn zu fhmüden und reizend zu machen; alfo die Kleidung. Auch bier zeigt fih ein feindlicher Widerftreit zwifhen Kultur und Natur. Er ſcheint unlösbar und die meilten Menfchen halten ihn für nothwendig. a, in dieſem Halle find fogar beinahe Alle darüber einig, das Zerſtörungwerk der ſoge— nannten Kultur für ſchön und feinen Fortſchritt für durchaus erſtrebenswerth zu halten. Im Wefentlichen handelt e8 jih um die Bildung der Taille durch das Korfet und die Veränderung des Fußes durch den Stiefel. Dem direkten Schaden für die Gefundheit, der daraus entfteht, und dem indirekten für da8 Seelenleben des Menfchen, der, aus dem willenfchwächenden Zwieſpalt zwifchen Zweckmäßigkeitbegriff und Schönheitbegriff wächſt, kann nur gefteuert werden, wenn wir unfere VBorftellung von der Schönheit des weiblichen Körpers und von Dem, was zu feiner Veredelung und Pflege gefchehen kann und muß, ganz von Neuem auf jiheren Grundlagen aufbauen.

Daß über folhe Themata ein Künftler feine Meinung entwidelt und nit bildlicher Darftelung belegt, kann nicht Staunen erregen. Man würde darin ein äfthetifches Urtheil erbliden. Das aber würde für die beiden Bücher nur dann zutreffen, wenn man den Begriff des Wortes „äſthetiſch“ fo fehr verfchöbe, daß er mindeftens mit dem heutigen Sprachgebrauch nicht mehr übereinftimmte. Nach der Stellung, die dies Wort heute einnimmt, kann man unter einem äjthetiichen Urtheil kaum nod) etwas Anderes verflehen als die direkte, möglichſt unmillfürliche Luſt- und Unluſtreaktion auf die einfache Sinneswahrnehmung. Als Abſicht des äfthetifchen Verhaltens Natur und Kunſt gegenüber gilt ung der unmittelbare, in der Sinnesempfindung Liegende Genug: eine angenchme Erregung, über deren Berechtigung oder Werth keinerlei Diskuſſion möglich ift, da fie Selbftzwed ift. Die Fähigfeit, zwifchen angenehmen und unangenehmen Sinnescindrüden zu unterfcheiden, ner

Bilder bũcher. 237

man auf allen Wahrnehmungsgebieten Geſchmack. Im engeren Sinn ver⸗ ſtehen wir unter Geſchmack Sinneswahrnehmungen in der Nähe der Ernährung: werkzeuge, dich die wir nüßliche Nahrung von ſchädlicher unterfcheiden. Wir wiſſen, daß prinzipiell bie Luſtempfindung da8 dem Körper Zuträgliche, die Unluftempfindung das ihm Schäbliche bezeichnet, daß aber aus den Miß⸗ braud der Ruftenpfindung um ihrer felbft willen eine Umkehrung diefes Zwed: mäßigfeitverhäftnifies entjtehen fann. Wenn wir da8 Wort Geſchmacd auf die Thätigfeit anderer Sinneswerkzeuge übertragen, fo follte man damit natürlid) deren Fähigfeit bezeichnen, Nüsliches vom Schädlichen zur Aufnahme und Berwerthung oder zur Zurückweiſung und Abwehr zu unterfcheiden. Sie find ja Waffen des Körpers im Eriftenzfampf; das Auffuchen der Nahrung und die Ver⸗ meidung der Gefahr find ihre primitiven Funktionen; die fcheinbar intereffelofe Erforfhung der ung umgebenden Welt ergiebt fich aus ihnen als höheres Entwide: [ungftadium. Aber wie der „Geſchmack“ der Zunge und des Gaumens, jo lann fi auch der „Geſchmack“ des Auges und des Ohres durh Mißbrauch der ihm eigenthümlichen Luftempfindung ins Gegentheil verfehren oder mindeſtens volllommen ‚von feinem Ziel verirren. Und ift e8 fo, dann gelangt man zu dem ‚Urtheil, daß Gefchmad, den man zur befonderen Kennzeichnung feiner „Intereſſeloſigkeit“ noch äfthetifchen Gefchmad nennt, die Fähigkeit fei, zwiſchen angenehmen und unangenehmen Sinneseindrüden zu unterfcheiden, den Genuß der angenehmen um ihrer felbjt willen zu züchten. Was wir als guten und ſchlechten Gefchmad fo gemeinhin zu unterfcheiden pflegen, ftellt fi dann bei genauerer Betrachtung al3 eine frühere oder fpätere Stufe in der nad dem Geſetz des Abwechfelungbedürfnifies auf einander folgenden Neihe immer neuer Reize heraus. Iſt Das richtig, dann muß der Kampf un den Gefhmad nuglo8 und unfinnig fcheinen; fo nennt ihn das alte Sprichwort.

Menn wir alfo das Wort „äfthetifch“ in diefem landläufigen Sinn nehmen, fo wäre es durchaus unzutreffend, Schulge-Naumburgs Bücher als äithetifche Abhandlungen zu bezeichnen. Doc ergab fi) und vorhin bei der Ableitung des Begriffes „Geſchmack“, der in feinen verfeinerten Leiſtungen mit dem „äſthetiſchen Sinn“ identiſch iſt, daß ihm ein Urtheil innewohnt über die, ganz allgemein geſagt, Zweckmäßigkeitbeziehung des Wahrge— nommenen zum wahrnehmenden Subjekt. Wie nun, wenn ſich beweiſen ließe, daß dieſes Geſchmacksurtheil ſich parallel mit dem Zweckmäßigkeitbegriff ent- wideln läßt und ihm auch dort noch zu folgen vermag, wo diejer über den gemeinen Nugen der einzelnen Perfon; und fei es ein nod jo weitichauender, hinausgewachſen ift und ſich als LXebensprinzip ganzer Bölfer oder einer ganzen Menfchheit in ethifchen Begriffen verförpert? Dann wäre ein Streiten um den Gefhmad nicht mehr unnüg und unnöthig, fondern vielmehr Kampf um bie legten menfchlihen Werthe, die wir überhaupt zu faflen vermögen unb um die wir kämpfen müſſen, weil von unferm Gefchmad unfere Eriftenz abhängt.

238 °' _ Die Zukunft.

Im Grunde ift e8 das Poftulat jedes unbefangen empfinbenden Ge müthes, daß Schönheit und Vollkommenheit im praftiichen ober ethtjche Sinn nicht zufammenbanglofe, oft einander widerfprechende Eigenschaften fein follen. Jeder erinnert fich wohl des Kummers, mit dem er die erfte fchein: bare Kluft zwifchen Beiden wahrnahm. Wir würden e8 ald eine Erlöiung empfinden, wenn wir zu einer Einheit zurücklehren könnten.

Der intuitiven Erkenntniß diefer Einheit entfpringen die Bücher von Schultze- Naumburg. Es find Einzelunterfuhungen von Fällen, in denen angeblich die Nothiwendigkeiten unſeres Lebens, die praftifchen oder ethifchen Forderungen, in Widerfprusch ftänden mit Dem, was der „Geſchmack“ unferer Augen fagt. Und immer löft fi der Widerfprucd fo, daß entweder unfer Augen zu verdorben waren, um die Echönheiten zu fehen, die ben natärfid- ten Nothmwendigfeiten entwuchfen, oder daß, was wir für die höchſten und nöthigften praktifchen oder ethifchen Forderungen hielten, ſchlechten und werth⸗ Iofen Wünfchen entiprang. Tiefer Gedanke war in ber Anſchauung erfakt. Und in der Anfchauung ift er auch wiedergegeben. Die Methode, wie es ge- fhieht, zu beobachten, ift Doppelt interefjant, weil beinahe ausſchließlich mit Photos graphien gearbeitet wird. Diefe ftehen ja heute als authentifche Wiedergaben der Wirklichkeit in einem viel höheren Anjehen als irgend eine durch Menſchen—⸗ hand- hervorgebrachte Abbildung, und zwar gerade, weil man nicht nur bie Menfchenhand, fondern aud) den Menſchengeiſt von ihnen fern glaubt. In der That braucht man nur eine unferer zahlreichen mit Photographien illuftrirten Beitfchriften aufzufchlagen, um fich zu überzeugen, daß man vor Photogra- phien ftehen kann wie vor der Wirklichkeit: nänich vor einem großen Kalei⸗ doffop von Formen, aus dem Einzelnes herauszulefen und dem Vorſtellung⸗ ſchatz als Bereicherung einzufügen eine fehr bedeutende Anitrengung erfordert, deren Viele offenbar nahezu unfähig find, nämlich die-Arbeit des wirklichen Apperzipirens, Es genügt nicht, Anjichten von unbefannten Ländern, Bligs bilder von welthiftorifchen Momenten, Portraits berühmter Leute, ja, Auf⸗ nahmen aus Regionen de8 Seins, die dem Auge unter gewöhnlichen Um— ftänden gar nicht zugänglich find, zufammenzuhänfen und die technifche Boll- kommenheit der Wiedergabe immer höher zu treiben. Gewiß vermag mon auch daraus Bereicherung feines Anſchauungdenkens zu gewinnen. Aber in ihnen liegt nicht die Vermittelung einer innerlich erfaßten und feſtkriſtalliſirten Vorftellung, die al3 folche dem menfchlichen Geifte denkbar if. Daß bie Erſcheinung der Wirklichkeit Das einftweilen nicht iſt, muß man fich immer wieder von Neuem klar machen, um die Bedeutung der bildlichen Feſtlegung anſchaulicher Borftellungen zu begreifen. Die Thotographie aber ift zunädjt nur infoweit faßbarer als die Wirklichkeit, al3 ihre Ericheinung aus drei Dimenſionen zu zweien reduzirt und der Wechfel der Erſcheinung nebft allen

anderen Sinneswahrnehmungen außer denen ded Auges ausgefchaltet ift.

Bilderbücher. 239

Zu einer wirflichen Mittheilung von Borftellungen geftaltet fie fich erſt, wenn der Vorgang Fünftlerifcher Thätigkeit über diefe primitive Funktion hinaus weiterfchreitet. Das Nächfte ift die bemußte Auswahl eines Objektes aus vielen, in dem die „dee“ der Gattung zu beſonders fcharfem Ausdrud kommt einer Anſicht und Beleuchtung, die diefen Ausdrud fteigert —, die Ausſcheidung aller zufällig (alfo nur durch ihre räumliche Nähe) mitſprechenden Nebenerfcheinungen, die Begrenzung der Bildfläche, die ben Blid auf das Weſentliche konzentrirt. So weit kann die Photographie den analytiſchen Sehvorgang, durch den aus ber Erfcheinung der Wirklichkeit die Vorftellung herausgelöft wird, mitmachen. Die mit der Hand ausgeführte bildliche Wieder: gabe geht hier nun noch weiter mit der Herausſchälung des für den befon- deren Zweck Wefentlichen, im Extrem bis zu der fchematifchen Demonftration, die etwa einen menfchlichen Körper durch drei Striche erfegt, um dag ftatijche Prinzip der aufrechten Haltung zu zeigen. Dem photographifchen Bilde find weit eher ſchon Grenzen gefegt. Wie weit aber auch die ihr gewährten Mittel ausreichen, faßbare Borftellung zu verkörpern, zeigen Schulge-Raumburgs Bücher.

Die fo erhaltenen Bruchtheile ordnen fih dann wieder zufammen, um den Denkoorgang im Gebiet de3 Sichtbaren ſynthetiſch weiterzuführen: zwei widerfprechende ftehen einander als Antithefe gegenüber; zwei ſelbſtverſtändliche und befannte führen zu einer dritten neuen als nothiwendiger Schlußfolgerung; viele Einzelbeifpiele, den Gattungen entfprechend, deduziren ein ollgemeineg Gefeg; Ketten zeitlicher Entwidelung erklären da8 endlich Gewordene. Auch dem fpnthetifchen Denkvorgang find im Bereich des photographifchen Bildes engere Grenzen gezogen, als es bei dem mit der Hand hergeftellten Bilde der Fall fein würde. Dafür bleibt e8 auch ſtets Eontrolicbares, weil mechanifches Spiegelbild einer Jedem zugänglichen Wirklichkeit. Das ift wichtig, wo es ih darum handelt, die Stellung fünftlerifcher Ideen gerade ber Wirklichkeit, der Melt der praftifchen und ethifchen Forderungen gegenüber feftzulegen.

Wir glauben, das Berhältnig von Bild und Wort in „Illuſtration“ und „deforativem Buchſchmuck“ zu erfchöpfen. In diefen Büchern aber ge- ftalten fi Beide zu einander wie die Zeichnung einer geometrischen Figur zu dem Sag, der deren räumliche Geſetzmäßigkeit in Worte faßt: das Eine ift die Verfinnlihung, das Andere die abjtrafte Formulirung der felben Vor: ftelung. Wie wichtig die hier angeftrebte finnfällige Darftellung praftifcher und ethifcher Forderungen für uns fein wird, können wir noch gar nicht ganz überfehen. Hätten wir mehr „Bilderbücher“ ftatt der vielen, vielen Leſe— bücher, dann kehrte vielleicht eimas mehr Klarheit in die Verwirrung zurüd, in der jetzt all die Begriffe verſchwinden, die unfer Leben leiten follten.

Ludwig Bartning. [|

240 Die Zukunft.

Selbitanzeigen.

Beröffentliihung der geheimen kriegsgerichtlichen Akten im Fall Luthmer. Univerj.- Buchhandlung don Hörning, Heidelberg. Der Rein- ertrag ift für die Blinden des Reichslandes beſtimmt.

Bekanntlich haben wir uns fchon lange daran gewöhnen müflen, Die Ehre der Offiziere für etwas Bejonderes zu halten. Der gewöhnlide Bürger bat zum Schuß feiner Ehre nur das Strafgefegbuch, der Offizier, au der mit Uniform verabſchiedete, noch die Verordnungen über die Ehrengerichte der Offi- ziere, die nicht nur dazu dienen follen, die Ehre ded Einzelnen zu wahren, fondern auch, den ganzen Stand von räudigen Elementen rein zu halten. Das ijt die Theorie; und die Praris? Auch der Bürger wird mandmal in Die Zage foınmen, von dem ihm zur Seite jtchenden Schußgmittel feinen Gebrauch zu maden, nämlich, wenn die ihm zugefügte Beleidigung auf Wahrheit beruht und eine lage beim Gericht nur dazu dienen könnte, eine Beitätigung dieſer Wahr- heit zu erhalten. In folgen Fällen bleibt nichts Anderes übrig, als die ver- meintliche Beleidigung einzufteden, und die Erfahrung lehrt, daß von folchen würdigen Perſonen Exemplare herumlaufen, die jelbjt die gigantiſchſten Dick bäuter der Zoologie in den Schatten ftellen. Ein folder Zuſtand ift beim Militär natürlich unmöglich, weil der ganze Stand über die Ehre des Einzelnen wadt. Da aber Deutichland immer größer wird und der Einzelne unter der Maſſe verichwindet, jo ift e3 begreiflid, daß auch einmal eine Ausnahme zu verzeichnen ijt. Ueber dieſes Stapitel der Offizierefre iſt ſchon recht viel ge- Ichrieben worden, leider zumeilt von Denen, die Grund Hatten, ihre im bunten Rod verlorene Ehre in der Deffentlichfeit wieder zu juhen. Eine Ausnahme von hiefer Viteraturfpezieg macht meine fleine Schrift. Es handelt fih in ihr ganz und gar nicht darum, meine angegriffene Ehre vor der Deffentlichkeit in ein beſchönigendes Licht zu ftellen; denn ich bin bis auf den heutigen Tag weder kriegs⸗ noch ehrengerichtlich beftraft no von einem diejer Gerichte auch nur zur Verantwortung gezogen worden; c$ handelt fich vielmehr darum, die Ehre Anderer in das rechte Licht zu ftellen und dabei zu zeigen, welcher Werth den bejtehenden Verordnungen über die Chrengerichte der Tffiziere beizumeſſen ift.

Ich war im Auguft 1893 Batterichef im Feldartillerieregiment 31 in Hagenau im Elſaß. Ein zu meiner Batterie eingezogener Referveoffizier zeigte eine folhe Unfähigkeit im Dienjt, daß ich meinem Regimentskommandeur, acht Tage vor Beginn des Manöver, eingehende Meldung erftattete und binzufügte, id) hätte die Mcberzeugung, dieſer Nejerveoffizier werde im Falle eines Krieges die Kanonen auf die eigenen Truppen richten. Der Regimentstommandeur gab diejer Meldung feine Folge. Drei Wochen jpäter wurde ich durch die grob: tsahrläffigfeit diejes felben Neferveoffizierd im Manöver von einem Kanonen⸗ ſchuß ins Geſicht getroffen; durch diefen Schuß erblindete ich fofort und für immer auf beiden Augen. Dieſes Vorkommniß binderte der Regimentsfom- mandeur nicht, dem Neferveoffizier fünf Tage ſpäter ein glänzendes Dienit- zeugniß auszujtellen, deſſen Inhalt mir natürlich verheimlicht wurde. Ein voı mir geftellter Strafantrag gegen den Negimentsfommandeur wegen Wwiljent!‘ falfcher Berichterftattung wurde, unter Berufung auf die geheimen kriegsgeri

Selbſtanzeigen. 241

lichen Akten gegen den Urheber meiner Erblindung, abgelehnt. Gegen den Neferveoffizier war die kriegsgerichtliche Unterſuchung eingeleitet worben, aber zunädjft wurden nur foldde Zeugen vernommen, die von dem Thatbeftand gar nichts gejehen Hatten. Erft fpäter feßte ich die Bernehmung von Zeugen durch, die den Borgang meiner Berlegung genau gejehen hatten. Dieſe Belaftung- _ zeugen wurden in ihrer Bedeutung mejentlid) beeinträchtigt durd) ein von dem Inſpekteur der Yeldartillerie ausgeftelltes artilleriftiiches Gutachten, jo daß der Angeſchuldigte mit einer geringen Freiheitſtrafe davon kam, die noch durch die Gnade des Kaijers in ihrer Dauer um ein Drittel gefürzt wurde. Während der friegsgerichtlichen Unterfuhung gegen den Angefchuldigten wurde mir von ihm eine fchwere Beleidigung zugefügt, die mich troß meiner völligen Erblindung zwang, der Standedehre zur genügen und meinem Gegner eine Pijtolenforderung zuzuſchicken, nachdem meine Anfrage über deſſen Satisfattionfähigkeit von allen Inſtanzen bis zum Kaiſer hinauf bejaht worden war. Meine Herausforderung wurde glatt abgelehnt, was für meinen Gegner die befannten Folgen nad fid) 309g. Mein Kartellträger, der den fchriftlidgen Antrag zur Forderung nachweid- lich durchaus wahrheitgemäß begründet Hatte und der in denkbar edeljter Weiſe die Pijtolenforderung von feinem erblindeten ehemaligen Borgejegten auf ſich ziehen wollte, wurde von bem Gerichtsherrn des Reſerveoffiziers zur edrengericht- lien Berantwortung gezogen und erhielt eine Berwarnung.

. Das Alles ift mit Anführung der Namen aller Betheiligten und mit wörtlicher Wiedergabe aller einfchlägigen Dokumente vor fünf Jahren von mir veröffentlidt worden in einer Brodure: „Die Geſchichte meiner Erblindung.” Nach ihren Erjcheinen verſchwand der erwähnte Gerichtsherr aus der Armee. Die Brodure wurde im Reichstag zweimal beiproden. Die Negirung erwiderte ben nterpellanten, in meiner Angelegenheit fei durchaus korrekt verfahren worden, und der nod jet amtirende Sriegsminifter erllärte, daß ihn nur meine Er- blindung von einer Strafverfolgung abgehalten habe. Es war mir nicht ge- lungen, Kenutniß von den geheimen friegsgerichtlihen Alten zu erhalten. Doch giebt es noch andere Mittel und von ihnen machte ich nun Gebraud). Ich 308 meine ganze Angelegenheit vor dag bürgerliche Gericht; die Akten wurden als Beweismaterial zugezogen und jo lernte id) fie fennen. Sie zeigten mir, was unter der Herrſchaft der Rechtſprechung hinter verſchloſſenen Thüren möglich war. Das den Mittelpunkt bildende artilleriftiihe Gutachten erwies fi als falſch, und da das Erfenntniß unmittelbar auf dieſes Gutachten gegründet ift, jo find auch Urtheil und Erkenntniß ungefeglid. Die mir ertheilte Auskunft über Ber- meigerung einer Strafverfolgung gegen meinen früheren Regimentskommandeur erwies ſich als unrichtig. Die mir während der Unterſuchung zugefügte Be⸗ leidigung rührte nicht von dem Angefchuldigten, jondern von dem Gerichtsherrn ber.

Nun ließ ih die Hier angezeigte Schrift erfcheinen. Die durdaus fachlich geichriebene Brochure bringt in allen Punkten die Beweije für die in der früheren aufgeftellten Behauptungen und gejtaltet ſich fo zu einer ſchweren Anflage gegen das Syſtem ber geheimen Gerichte und gegen eine Anzahl ſehr hochſtehender Perfonen. Unter diefen Umftänden war es nicht auffallend, daß der größte Theil unferer Preſſe die Brochure totfehwieg oder aber deren eigentlichen Zweck verſchwieg. Im Februar kam die neue Brodure im Neichstag zur Sprade.

ILL... 0.4

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242 Die Zutnuft.

Der Kriegsminiſter ſagte, er habe fie geleſen, ſie Habe für den Reichstag aber fein Intereſſe. Zum Schug der ſchwer beſchuldigten Perſonen ſagte er mic ein einziges Wort. Eben fo unterließ er, feine eigenen, von mir früher als falſch bezeichneten Angaben auch nur irgendwie zu vertheidigen. Alle Beibei- ligten find von mir perjönli von dem Erſcheinen der Schrift in Kenntniß ge jet worden. Wie zu erwarten war, verfiagt mich natürlich fein Menſch; und da auch meine Erblindung nicht mehr als Vorwand dienen fann, fo wird die Sache einfad; totgeichwiegen. Wo aber bleibt ber Ehrenkoder der Offiziere? Jeder, ber meine Brochure unparteiifch Lieft, wird zu ber Ueberzeugung kommen, daß von allen erwähnten Offizieren fein einziger jo edel gehandelt hat wie mein Rartellträger; aber all meine Verſuche, die ehrengerihtlihe Verwarnung biejes Kameraden auf Grund ber beftehenden Verordnungen aus feinen Perfonalpapieren ftreichen zu laſſen, find gefcheitert. Darf eine kaiſerliche Entſcheidung nicht auf ihre Richtigkeit geprüft werben? Unjere Geſetze geben mir leider nicht die Mög- lichteit, einzelne der ſchwer befchuldigten Herren vor das Forum der bürgerlichen Gerichte zu ziehen; ih muß mid) alſo auf die öffentliche Anklage beichränfen. Wie ſchon oft, fo bat au in diefem Fall der Reichstag in Rechtsfragen vollftändig verfagt. Inzwiſchen aber Hat fi der Deutſche Rechtsbund meiner Sade angenommen. Der Wortführer diefes Vereins, Profeſſor Lehmann ⸗Hohen · berg in Kiel, Hat im „Volksanwalt“, ein „Offenes Schreiben“ an ben Reichs tanzler gerichtet. Das Thema diefes Artikels, die allgemeine Rechtsnoth und fpeziell meinen Fall, hat er auch in einer öffentliden Verfammlung (in Ham- burg am achtzehnten März) vor zahlreichen Hörern beiprogen. Die vom Bro: feffor Lehmann gefchriebenen und gefprodenenen Worte gehen in ihrer rüdhalt- loſen Kritit des gegen mid; begangenen Unrechtes fo weit, daß id, troß allen bisherigen Erfahrungen, kaum zu glauben vermag, bie Angegriffenen, befonders ber Kriegsminiſter von Goßler, könnten diefe ſchweren Vorwürfe ſchweigend hin - nehmen. Schweigen fie wider alles Erwarten dennoch, dann wird ſich fein Deutſcher der Beredſamkeit folgen Schweigens verſchließen Tönnen. Hagenau in Elſaß. Konrad Luthmer. Gedanken über Tolſtoi. Hermann Seemann Nachfolger. Preis 2 Mark. Gedanken find es: Gedanken zwiſchen Naht und Tag! Beim früßen Grauen wedte mid Etwas, das ſich denfen mußte, das mich nicht mehr ſchlafen ließ. Und abends fand ich feine Ruhe. Auch Spazirgangsgedanten find bar- unter, bie fi abroflten, ohne mein Zutfun. Beide ftimmen in Einem überein: fie famen zu mir, nicht ich zu ihnen. Sie nahmen mid als Durcgangspunft, als Medium, um zur Erfheinung zu gelangen; fo erklärt fi das ſcheinbar Berfließende, Zufammenhanglofe, das „Unterwegs“. Was id will, ift ein Er- tlären, ein Nahebringen, ſchließlich, im Grunde, nur ein Nachſchaffen und ein Zeugniß, daß auch dieſer Menſch chen fo wie ih Theil eines Ganzen iſt, ein Theil von mir, von Dir, wie ih von ihm, von Dir. Das zu erreihen, giebt es taufend Mittel und es find unter millionen Möglichkeiten vielleidt erſt Hundert verſucht. Hier beginnt die Kunft, die ſchwere Kunft der Kritik wenn wir aus Nützlichkeitgründen dieſe Bezeichnung beibehalten wollen —, bie Wenige begriffen Haben. Da Heißt es nur immer: Bis hierhin hat er recht; hier beginnt

Selbftanzeigen. 243

das Unredht. Mich jelbft beherrſcht das Gefühl, auf ein weites, mir unbelannteg, bis dahin unvertrauted Meer hinausgefegelt zu fein. Nun” treiben mich bie Finde; wohin? Die Augen heißt es offen halten und waden und horden. Zuweilen «ft es, als fjchimmerte Etwas ganz in der Ferne. Iſt es nur ber Traum erregter Sinne? Der Seefahrerfinse, die jo kühn find, daß fie fich gern eine Beit lang täuſchen laffen? Oder ift es die Küfte, die langerfehnte? Noch nie bin ich in diefer Richtung gefteuert. Alles erfcheint mir new; es dehnt ſich die beengte Bruft; ich begrüße Alles mit junger Liebe. Hier wehen andere Winde Hier ſcheint eine andere Sonne. Wild und doch beſonnen brauft das Blut... Dieſe Fragmente aus dem Prolog werden von dem Charakter des Buches ungefähr einen Begriff geben. Münden.

Ernſt Schur. %

Senrif Ibſen. Verlag von E. A. Seemann in Leipzig und ber Gefellfchaft für graphiſche Induftrie in Wien. 1902.

Im Anhang zu meinem Buch über Ibhſen Habe ich eine Bibliographie veröffentlicht; da find 64 Werfe aufgezählt, die über Ibſen Handeln. Und troß- dem fand ich den Muth, nod) ein Buch über ihn zu Ichreiben. Ich habe verlucht, dem Stoff eine neue Seite abzugewinnen und an einem Beiſpiel zu zeigen, wie ich mir biographijche Kunft denke. Ich ſchrieb eine piychologifche Biographie. Zweck und Ziel meiner Aufgabe war, zu zeigen, wie in Ibſen das Bild der Welt fi gejtaltete, wie feine Einpfindungen den Menfchen gegenüber wuchſen und ſich bildeten. ch bemühte mich, die Entwickelung jeiner Seele aus den Umjtänden feines Lebens, aus dem Boden, dem er entiproffen, dem Deilieu, in dem er lebte, zu erklären. Er wurde, ber er war, weil er fo werden mußte. Um einen Sag von ihm aufihn felbft anzuwenden: all fein dichterifches Wollen war ein Wollenmäffen. Indem ich aber den Werdegang eines fo hervorragenden Geiſtes fchilderte, mußte ich auch die Ideen jchildern, die um die Jahrhundert⸗ wende in Europa um die Herrſchaft ftritten. Freilich war ber mir zugewieſene Raum zu beichräntt, um biefem Thema gerecht zu werden. Auf breiterer Baſis möchte ich einmal zeigen, wie die Biographie eines großen Menſchen zum Spiegel . feiner Beit werden fann, werben muß. Der Jubiläumsausgabe feiner fämmt- lichen Werke fette bien die Worte voran: „Nur durch die Auffaffung und Aneignung meiner jämmtliden Produktionen als eines zufammenbängenden, ununterbroddenen Ganzen wird man den beabfihtigten, zutreffenden Cindrud empfangen.“ Ich habe diefe Abſicht Ibſens erfüllt. Ich Habe verſucht, fein ganzes Lebenswerk thatlählich als ein zujammenhängendes Ganze barzuftellen und dem Leſer verjtändlich zu machen. Erſt bei folcher Arbeit lernt man Ibſen wahrhaft lieben und bewundern. Man ftaunt über ben Koloſſalbau, ben er auf- geführt, wo Stein fih an Stein fügt und wo das lebte Wort, das er gefchrieben, die nothwendige Konjequenz feines erſten ift. Ich wollte keinen Kommentar zu Ibſens Werken liefern, jondern nur Das, was der Dichter jagen wollte, in helles Licht fegen. Das Glüd war meiner Arbeit günftig; ich durfte eine Menge bisher unbelannten, unveröffentlichten Material benuben, jo zahlreiche Briefe Ibſens an feine Freunde. Auch die Illuſtrationen bieten manches Neue.

Wien. Dr. Rudolf Lothar. 3

244 Die Zutunft.

Erportwirthfchaft.

SD: Ozeantruſt, deſſen Bebentung ich im vorigen Heft abzuſchatzen verſucht beſchäftigt natürlich noch immer die Gemüther. Wenn man von der Borſenſpielern abſieht, die jetzt vor allen Dingen erfahren möchten, ob in Des Direktorenburcaug ber Deutſchen Bank die flaue Stimmung fhon wieder einr zuverſichtlicheren gewichen ift, fo find an der Erörterung dieſer Frage recht viele Meuſchen interefjirt, nicht nur Kaufleute und Volkswirthe, fondern auch Politiker. Denn von bier aus können die Grundprobleme ber allgemeinen Wirthfchafrpolirit betrachtet und erwogen werden. Herr Harden hat in feiner Anmerkung zu meinem legten Artikel fon aus dem raſchen Wachſen der amerifaniihen Gefahr, die gerade der Dampfigifftruft wieder in ihrer ganzen Bebrohligkeit erkennen Fick, den Schluß gezogen, es fei unklug, die Wirthſchaft erwahjender Bolker mit voller Wucht auf den Waarenexport zu ftellen. Ich möchte diefe Bemerkung nicht ganz ohne Erwiberung vorübergehen laſſen. Nicht etwa, weil ich meine, gegen das Wort eines Einzelnen, der andere Anſichten hat als ich, fofort pole mifiren zu müffen. Das ift leider bei ung in Deutſchland nit nöthig; denn das Glaubensbelenntniß einer Perjönlicleit wird zwar gelefen, aber felten be herzigt. Anders iſt es jedoch, wenn ein folder Gedankengang einer ganzen Gruppe von ntereffenten jo bequem ift, daß er zur Parteimeinung führen kann Die muß bekämpft werden. Gerade die heutige Wirthichaftlage Deutſchlands Tann leicht zur Aufnahme des Sapes verführen, daß es nicht Hug war, „die Wirthſchaft erwachſender Völler mit voller Wucht auf den Waarenerport zu ſtellen.“ Die Faffung diefes Satzes kann in unklaren Köpfen die Vorftellung wecken, bie wirthſchaftliche Entwidelung Deutſchlands fei aus ihren von der Natur gewieſe nen Gleifen herausgeriſſen und auf den ind Verberben führenden Schienenweg des Waarenerportes geftellt worden. So aber darf mar die Sache wirklich nicht auffafjen. Der Waarenerport ift etwas mit Naturnothwendigkeit Gewordenes. Man muß, um feinen wahren Charakter zu erkennen, ſich nur von der befchränften liberalen Anjhanung frei machen, nad) der die augenblidliche Urt der Waaren- produktion uns aller Weisheit letzten Schluß bietet. Auch die Gegner der ſozialiſtiſchen Geſellſchaftstheorie müſſen heute zugeben, daß in ber Kritif der fapitaliftijchen Produktionmethode der Marxismus Umübertroffenes geleiftet Hat und allein leiſten konnte, weil er die Dinge im Fluß ficht, weil er von ber alten deffriptiven, von der dogmatiichen Volfswirthichaftlehre zur Würdigung wirth- ſchaftgeſchichtlicher Werdeprozeſſe vorgedrungen ift. Das Wejen der kapitaliſtiſchen Waarenproduftion iſt anarchiſch. Während im Urzuftand und noch weit darüber binaus der Konſument der die Produktion beftimmende Faktor war, iſt die Waarenproduftion unter der Herrichaft des Kapitalismus zum Gelbftzwed ge- worden. Der Produzent fabrizivt wild drauf los; er fragt nicht nad) der Konjum- fähigkeit, die er gar nicht zu ſchätzen vermag, ſondern fieht.nur in ber eigenen Produftiofraft die Grenze. Die Entwicdelung vom Handwerker, der auf Ber stellung arbeitet, zum Fabrikanten bezeichnet diefen Weg. Im Weſen aller Kapitaliftijchen Gewerbe Liegt cs, daß die Hilfegewerbe ihre eigentlixhen Zwede vergefien und aus der dienenden zur herrfchenden Stellung empordrängen. So Hat der Dandel, ber einft nur ber Fuhrnegt der Güterproduktion tar, fih

Erportwirthicheft. 245

emanzipirt und geht feine eigerren Wege, die oft der Produktion geradezu ſchädlich find. Je mehr nun die Probuftivfräfte wachen, um fo nothwendiger wird es natürlid, fremde Abſatzmärkte aufzuſuchen; und fo ift die Exportwirthſchaft damit meine-ich nicht den Export von Gütern, die anderswo nicht ober nur. viel theurer herzuftellen find ein echtes Kind der fapitaliftifhen Produktion.

Diefe Erportwirthichaft bringt viele arge Uebelitände mit fich und hat fogar für die Politik wichtige KYolgen. Um bem Export ben berühmten Platz an der Sonne zu fihern, wurde Kiautfchou nebjt Umgegend gepachtet, und um ben Pla an der Sonne zu ſchützen, wurden und werben neue Kriegsschiffe ge- bant. Ein nicht zu unterfhäßendes Moment iſt, daB für den Exporteur der Welt- markt viel größere Bebeutung bat als das Inland, das ihm nicht annähernd folche: Waarenmengen abnimmt. Auf dem Weltmarkt muß er billig liefern fönnen, wenn e3 nicht anders gebt, jogar mit Verluſt, und diefer Berluft muß ausge glichen werden. Das iſt entweder burch Hohe Induftriezölle in Verbindung mit. Rartellen, die die Preife Hoch halten, zu bewirken oder dur Beitellungen aus. den Mitteln der Steuerzahler. Nicht die Firmen Krupp und Stumm nur, jondern noch jehr viele andere find fo an der Vermehrung unferer Wehrmadjt zu Waſſer und zu Lande intereffirt. Das find Yolgen ber Exportpolitif, die ſelbſt von meinen ſozialdemokratiſchen Freunden noch zu wenig als joldhe gewürdigt werden. Aber auch fozialpolittiche Folgen find fihtbar. So lange ber Fabrikant auf die Konſumkraft des inländifchen Marktes angewiefen ift, muß er einjehen, daß bie Arbeiterfoalitionen zur Hebung bes Lohnniveaus auch ihm Nuben bringen; denn was er feinen taujend Arbeitern mehr zahlen muß, verdient er doppelt und. dreifad an der Mafje der Arbeiter, bie bei höherem Lohn feine Probufte Taufen fönnen. Wird aber für den Weltmarkt produzirt, fo fpielt der inländiſche Arbeiter als Konfument feine Hauptrolle mehr und fein Lohn wird nur noch durch die Rückſicht auf möglichft geringe Produktionkoſten beftimmt. Diefe Koften müſſen berabgebrüdt werden, damit der Fabrikant auf dem Weltmarkt billige Preife fordern Tann. Das erllärt auch, weshalb gerade die Erportinduftrie und an ihrer Spitze der Gentralverband Deutſcher Induftrieller im Kampf gegen das Recht der Arbeiterfoalition in der vorderften Reihe ſteht. Der Lohn aber ift um fo tiefer berabzubrüden, je billiger die Ernährung der Arbeiter ift. Daher bie völlige Berjtändniplofigkeit, die der Exrporteur den Agrarproblemen entgegen- bringt. Diefer Zuſammenhang der Dinge wird heutzutage durch die Thatſache verdedt, daß Induſtrie- und Agrarſchutzzöllner Hand in Hand gehen. Dazu aber treibt fie nicht etwa eine gemeinjame Meberzeugung, ſondern das Gebot der Taktik. Die Induſtriellen kennen die Stärke ber einzelnen Machtfaftoren und willen, daß fie im preußifchen Deutfchland nur im Bunde mit den Landjunfern ihre Yorderungen im Parlament durchjegen können. Die Tonjervative Partei fühlt fi in der Rolle einer Schüßerin der Erportindujtrie freilich nicht fehr bebaglih; und in den Kämpfen um den Bolltarif Hat man ja bie Grenze ge- jehen, bis zu der die beiden Heerhaufen vereint mafdjiren können.

Wenn die überwiegende Mehrheit der deutſchen Arbeiter fi) heute gegen eine Fünftliche Erhöhung der Getreidepreije erklärt, jo find die Motive, bie fie leiten, völlig verſchieden von denen der Bourgeoifie, die felbit Haben möchte, was fie den Junkern vermehrt.

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246 Die Zukunft,

Ich verfenne aljo bie Schäben ber Exrportinduftrie nicht; aber es iſt nicht leicht, ihnen abzuhelfen, wenn man nicht das Kind mit dem Bad ausjchütten will. Wer, wie die Mittelftandspolitifer, den Kapitalisınus rückwärts revibiren mödte und in mittelalterlic) gebundenen Wirtbichaftformen ein Allheilmittel fieht, Der verfennt die Gefege der ölonomijchen Entwidelung und kümmert fi nicht um die frage, was beim Sinfen unferer Egportziffern aus dem Wrbeiterheer- werben joll, das Heute in ber Großinduſtrie Beichäftigung findet. Wir Sozialiften baben erkannt, daß der Exrportinduftrialismus nur eine Phaſe der großfapi- taliftiſchen Entwidelung iſt und daß der Großlapitalismus nur durch eine modernere Ordnung der Produktion überwunden werden kann. Das Argument der Ugrarier, die Konſumkraft des inländifhen Dlarktes müſſe gehoben werben, erfennen auch wir an; aber ihre Mittel gefallen uns nicht. Die von ihren fo hoch gepriejenen Getreidezölle find ſchon deshalb zu verwerfen, weil fie nur einigen Großen Hilfe bringen. Will man die Konſumkraft der Landwirthſchaft ftärfen, fo muß man Bauen züchten, aber nit Bauern mit indiotdualiftiihden Duer- töpfen, fondern moderne Genoflenichaftbauern, die in unfere Zeit Bineinpaffen. Das geht ohne Getreidezölle beffer ald mit Zöllen, die, ftatt fie zu fördern, die Entwidelung nur hemmen. Das weitaus Wichtigere aber ift die Stärkung ber Konſumkraft der Arbeiterflaffe. Starke Gewerkſchaſten mit hohen Yohnaniprüchen, Konſumgenoſſenſchaften: ſolche Mittel Tiegen auf dem Weg der Entwidelung und können zu einer vernünftigen Sozialijirung der Gefellihaft führen. Werden fie angewandt, dann bat die Induſtrie Ausficht, auf dem heimifchen Markt Erfag für den Weltmarkt zu finden. Wenn fie, ftatt früh ſich kommenden Wirth- Ihaftformen anzupafjen, im hajtigen Wettlauf mit anderen kapitaliſtiſchen Bölfern einem Phantom nadhjagt, dann wird fie ſich balb die Schwindfucht holen.

Blutus, > Notizbuch.

Ve früheren Unteroffiziere Marten und Hickel, die beſchuldigt waren, ihren Vorgeſetzten, den Rittmeiſter von Kroſigk, getötet zu haben, ſind in Gum⸗ binnen vom Oberkriegsgericht freigeſprochen worden. Sie hatten ſchon einmal vor dem Oberkriegsgericht geſtanden, deſſen Marten des Mordes ſchuldig ſprechendes Urtheil vom Reichsmilitärgericht aufgehoben wurde, weil die Berufunginſtanz nicht nach der Vorſchrift beſetzt geweſen war. Jetzt ſaßen die ſelben beiden Juriſten, die an dem vorigen Urtheil mitgewirkt hatten, wieder im Gerichtshof, der ſelbe Ob: kriegsgerichtsrath Meyer vertrat die Anklagebehörde, die öffentliche Hauptverhar Iung ergab fein den Beichuldigten günftiges neues Moment, und bennod) ift dr vor acht Monaten zum Tode verurtheilte Dragoner nun freigejprochen. Da fieht m: doch, lad Mancher in feinem Blättchen, wie ungerecht das vorige Urtheil war, di nur durch den namentlich die höheren Kommanboftellen beherrſchenden Wunfd + Härt werden fonnte, im Intereſſe der Mannszucht den Mord nicht unentbedt, v geſühnt zu lafjen. So aber liegen die Dinge nicht. Auch diesmal hat das Bir

" Notizbuch. 247

im Urtheil ausgeiprochen, der Angeklagte Marten fei ber That „dringend verbäditig*, jet als „faft überführt” zu betrachten; nur genüge das Beweismaterial nicht zu einer Berurtbeilung. Das ift Sache perfönlichiter Auffaflung ;die Richter, die nach modernem Recht nicht die Meberführung durch den Augenſchein zu fordern, fondern in freier Deweiswürdigung nad) dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung zu urtheilen haben, tonnten auf genau das jelbe Beweismaterial einen Schuldſpruch bauen. Marten batte, al8 Soldat und als Sohn, Grund, den Rittmeifter zu haſſen. Er war oft von ihm jchlecht behandelt und am Tage bes Mordes vor der Schwadron gedemüthigt worden. Der Dragoner Stoped hatte an der Bandenthür einen Mann mit Unteroff- ziersmütze und Mantel geſehen und ber Unteroffizier Marten war, nad) unerſchütterten Zeugniſſen, mit Mütze und Mantel kurz vor der That durch den Theil des Korridors ge⸗ gangen, wo morgens der nachmittags vom Mörder benutzte Karabiner geſtanden hatte. Marten hat ſich nach dem Mord auffällig benommen, ſich, trogbem der Vorgang ihm ſchon von zwei Dragonern berichtet worden war, geſtellt, als wiſſe er nichts davon, den Bor⸗ geſetzten, der die dienſthabenden Unteroffiziere ausſonderte, dreimal zu täuſchen ver⸗ ſucht, ſein Alibi für die wichtigſten Minuten auch mit der Hilfe ſeiner Eltern nicht nachzuweiſen vermocht, einander widerſprechende und als falſch erwieſene Angaben gemacht und ſich dem Strafverfahren durch die Flucht entzogen, die er nur aufgab, weil ſeine Hoffnung, unterwegs Geld und Civilkleider zu bekommen, ſich nicht er⸗ füllte. Auf ſolchem und auf noch viel dünnerem Indiziengrund werden von bürger⸗ lichen Gerichten beinahe täglich Menſchen reif für Beil und Zuchthaus gefunden. Iſt Ziethen der Mord, Koſchemann das Attentat, Levy der Meineid, Sternberg der beiſchlafähnliche Verkehr mit der Heinen Woyda nachgewieſen worden? Wahr: ſcheinlich hat den drei Kriminaliſten auch diesmal, wie im Auguſt ſchon, der Indi⸗ zienbeweis zum Schuldſpruch genügt, iſt die Freiſprechung den militäriſchen Richtern zu danken. Im Leben des Offiziers, der ja nicht das bezahlte Alltagsgeſchäft treibt, Menſchen zu richten, iſt die Stunde, die ihm ſouveraine Gewalt über Leben, Ehre und Freiheit eines vom Weibe Geborenen giebt, ein Ereigniß; und es iſt nur natürlich, daß er die Wucht der auf ihm laſtenden Verantwortung tiefer empfindet als ein ge⸗ plagter Landgerichtsrath, der elf Monate im Jahr judizirt. Der Prozeßſtoff iſt am einunddreißigſten Auguſt hier geprüft worden; und zu dem Ergebniß, das damals von Vielen getadelt wurde, iſt nun auch der zweite Gerichtshof der Berufung: ‚inftanz gelangt: fchwere Belaftung bes Hauptengellagten, aber feine zur Berur- theilung ausreichende Gewißheit. Das diefem Gerichtshof und beſonders dem Borfigenden, dem Oberftlieutenant Herhuth von Rohden, in der Preſſe reichlich ge- fpendete Lob ift durchaus verdient; die Art, wie in Gumbinnen Angeklagte und Entlaftungzeugen behandelt, Beweisanträge aufgenommen wurden, könnte vielen Kriminalpraktikern ein Beifptel fein. Nur wird mit dem Tadel des einen, mit dem Lob des anderen Gerichtshofes noch nichts bewirkt. Jetzt, da in der Sache dreimal verhandelt und die Senfation vorüber ift, follte man die Vorunter⸗ fudung, bie Thätigfeit und die BZeugenausfage bes Kriminalkommiſſars von Baedmann nadprüfen und dafür jorgen, daß in der Strafjuftiz, der bürgerlichen wie der militäriſchen, die Herrfchaft rückſtändiger Routine ein Ende nimmt. Nicht jeden Angeklagten lächelt, wie dem Dragoner Marten, die öffentliche Meinung; und man könnte fich nachgerade um bie Armen kümmern, die, ohne daß eine Chriſten⸗ feele ihnen nachfragt, im Dunfel verdächtigt, verhaftet und abgeurtheilt werden.

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248 Die Zukunft.

Freilich: der Großbetrieb unjerer prompt liefernden Urtheilfabriten müßte eingeftellt

werden, wenn man fi Überall, wie in Sumbinnen, mit der Hauptverbandlung

gegen einen des Totfchlages Angeſchuldigten dreizehn Tage lang aufhalten wollte. - % *

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Ein anderes Urtheil, das nicht in Norboftelbien und nicht von einem ber ver- haßten Miilitärgerichte gefällt worden ift. Amı Tag nad) der Weihnadt erſchien in der Brandenburger Zeitung, einem ſozialdemokratiſchen Blatt, ein Artikel, der die Entwidelung des Chriſtenthums und der Kirche fcharf Fritifirte. Der verantwort- liche Redakteur wurde angellagt. Gottesläfterung; Beihimpfung einer chriſtlichen Kirche; $ 166: Gefängniß bis zu drei Jahren. Die Straflammer hielt zwei Wochen Gefängniß für eine ausreichende Sühne. Als die Strafe verkündet war, ftieg der brandenburgifche Pfarrer-Graue auf bie Stanzel und fagte vor der Gemeinde: „Der Artikel war, troß feiner Berftändnißlofigkeit für unferen Glauben, ein guter Ar— tikel. Denn er war, bis auf einige Phrajen, die man aber in allen Zeitungen finden fann, warm empfunden und von Begetfterung für wahre, echte Menſchlichkeit ge tragen. So machte er auch in der Kritik Halt vor der Perfon unferes Heilanbs, für den er Worte ehrfürdhtiger Bewunderung hatte... Ich geſtehe, daß ich bei ſolchen Vorgängen immer ein Gefühl tiefer Scham habe. Iſt wirklich unjere Kirche jo ſchwach und unfere Ueberzeugung fo jchlecht begründet und morfch, daß fie richter⸗ liden Schußes bedarf? Bertragen wir fo wenig, daß man ung Kritifirt?” An diefem tapferen Pfarrer, der in der Sonntagsprebigt für einen verurtheilten Sozial- demofraten eintrat und feine Predigt dann druden ließ, hätten Jeſus von Nazareth und Martin Luther fich gefreut. Wie aber iſts mit dem Urtheil der gelehrten Richter ? Die haben, wie faft immer in Prozeſſen, bei denen es ſich um die Wahrung geift- licher oder weltlicher Autorität handelt, in freier Beweiswürdigung unter allen möglihen Wortauslegungen bie dem Angeklagten ungünitigjte gewählt und eine Beihimpfung der chriſtlichen Yandeskirche in einem Artikel gefunden, den der evan- gelijche Pfarrer des Thatortes auf der Kanzel rühmt. Das ijt Feine Senfation. Davon wird nicht gejprochen. Das fommt alle Tage vor. Schön. Warum aber wüthet man dann gegen Kriegsgerichte, die im allerfchlimmften Fall doch auch nur dem lodenden Irrlicht ihrer Standesrejlentiments folgen?

* *

*

Auch Senjationen werden manchmal verfchiwiegen. Nur in wenigen Bei- tungen war zu leſen, daß Herzog Ernft Günther zu Schleswig-Holftein, der Schwager des Kaiſers, neulich als Zeuge vernommen und gefragt worden ift, ob ein gegen die frühere Gejellfchafterin der Prinzeffin Amalie von Schleswig gerihteter Artifel von ihm ftamme. Der Herzog hat unter Berufung auf den vierundbfünfzigften Para- prapben der Strafprozeßordnung die Ausſage verweigert. Diejer Paragraph lautet:

„Jeder Zeuge fann bie Auskunft auf ſolche Fragen verweigern, deren Beantwortung

ihm ſelbſt oder einem Angehörigen die Gefahr trafgerichtlicder Verfolgung zuziehen würde.’ Reuigen Preßfündern mag es ein Troft fein, daß felbft eine Hoheit, der Bruder einer Kaiferin, in der Hiße des Wortgefechtes einen Artikel ſchreiben kann, ber den Berfaffer mit der Gefahr ftrafgerichtlicher Verfolgung bedräut.

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%$ Herr Hauptmann a. D. Stavenhagen fchreibt mir: „So rege das Gefühl der Kamerabichaft in der Urmee ift, fo erftaunlid,

Notizbuch. 249

ſchwach ift die Fürſorge für ihre dem Elend verfallenden inaftiven Offiziere und deren Familien, namentli im Bergleih zu anderen Ständen und Ländern. Augenblidlich giebt es rund 8500 penfionirte Offiziere, davon 7774 in Preußen allen. Die Penfiontrungen nehmen mit jedem Jahr zu. Sehen.wir auf andere Stände, fo finden wir: bie König Wilhelm-Stiftung für erwachſene Beamtentöchter. Sie hat 20000 zahlende Mitglieder und ein Vermögen von 500000 Mark. Sie gewährt jährlich 45 000 Mark Unterftügungen. Der QTöchterhort für die Reichspoſt⸗ und Telegraphen: Beamten bat ein Vermögen von 600 000 Mark und 57000 zahlende Mitglieder. Er gewährt jährlich 70000 Mark an Beihilfen.

Sehr entwidelt ift bei den niedrigen ſtaatlichen Penfionen die praktiſche Mohlthätigkeit Defterreich- Ungarns für feine inaftiven Offiziere. Und zwar haben neben dem oberften Sriegsheren und ben Mitgliedern des Erzhaufes alle Klafjen der Bevölkerung, denen ein freundliches Geſchick es ermöglichte, ſich wett- eifernd nach diefer Richtung bemüht. So haben die Offiziere bes Ruheſtandes und ihre Wittwen und Waiſen zunädft Theil an der auch für aktive Kameraden beftimmten Erzherzog Albreht- Euftozgza- Stiftung und an den Stiftungen ber Faiferin Maria Anna und der Freiin von Stengel. Dann giebt e8 54 Staat3- und Brivatftiftungen, bie nur für penfionirte Offiziere und Militärbeamte be ftimmt find, darunter die größte Zahl für lebenslängliche Aufnahme ber Bedürftigen. Davon führe id an die Klifabeth- Therefiaftiftung mit 21 Freiplätzen, nur für Generale und Oberften. Herner den Berein für Unterftügung von Militär- Invaliden (fürſtlich chwarzenbergifche Stiftung) mit 218 Plägen. Dann bie Nathanael von Rothigild-Stiftung, die in unbeitimmter Zahl alte Junggeſellen im Subaltern- Offizierd- und Hauptmannsrang aufnimmt; die Stiftung bes Feldmarſchall Freiherrn von Heß mit 11 Pläßen, den Gablenz- Fonds mit 27 Plätzen und die Fürſt Dietrichltein-Stiftung mit 23 Freiftellen für adelige Offiziere. Ferner giebt e8 60 Stiftungen für Offizier- und Militärbeamten- Wittwen. Ich nenne die de Wiener Männer-Gefangvereins, des Hamburgers E. U. Neumann, des Fürften Dietrichftein für Hinterbliebene von Rittern des Maria Therefien- Ordens, die allgemeine Jubiläumsſtiftung des beliebten Re— gimentes Hoch⸗ und Dentjchmeifter No. 4, die Stiftimgen des Deutſch⸗Patriotiſchen Hitfövereing, des Feldmarſchalls Fürſten Karl von Batthyanti, des Konſuls Freiherrn von Morpurgo u. ſ. w. Bam finden wir für Offizier- und Mikttär- beamten-WBaifen 69 Stiftungen, darunter die des Kronprinzen Rudolf, ber Erz herzoge Karl und Rainer, ber Staiferin Maria Therefia, der Gräfin JIſabella Ceoce, bed Grafen Bllicher von Wahiſtatt, des Abtes Franz Schauer, des Lieute⸗ nants Franz Babory (ber eine Heirathkaution für eine Offizierstochter ausſetzt), der Offiziercorps verſchiedener aufgelöften Regimenter u. ſ. w. Auch für erkrankte Offtziere iſt durch Einrichtungen Für Bade- und Kurzwecke geforgt. Groß iſt die Zahl der Freiplätze (Wohnung, Bäder, ärztliche Behandlung) in 11 klima⸗ tifhen Kurorten und 28 Mineral-, Eifen-, Moor: und Stahlbädern. Dan gtebt es eigene Militär-Ruranftalten: 7 Schwefelquellen, 8 indifferente Thermen, 4 Soolbäber, 3 Jodquellen und 13 Raltwaffer-Heilanftalten, die von den inaktiven Difizteren eben fo wie von den aktiven benutzt werden können. Was haben wir, die erfte Milktärmacht ber Welt, an die Seite zu ftellen? Welches ber nerfülften Militär⸗ Lazarethe nimmt einen erkrankten tnaftiven Offizier auf?

350 Die Zukunft.

Er Tann unter Arbeitern in ber dritten Station eine bürgerlichen Kranken⸗ hauſes fein Glück verfuchen, fofern er es erfhwingen fanı. In Münden wurbe kürzlich ein Genie Hauptmann a. D. nur burd) freie Milbthätigfeit feiner Wirths⸗ leute vor dem Armengrab bewahrt! In welchem Badeort werden ihm Erleichter- ungen gewährt? Ganz abgejehen davon, daß die Zahl ber für Militärs be ftimmten Kurorte auch nicht annähernd die der dfterreichifchen erreicht (Militär Suranitalten beftehen nur in Wiesbaden, Lande, Teplig und Norderney; dann giebt es noch etwa 18 Bäder mit Surerleichterungen), kann die Wohlthat einer freien Kur unbemittelten inaftiven Offizieren nur datın gemährt werden, wem ihr Leiden mit einer Dienftbefchädigung zufammenhängt. Und find, wie wohl meift, die Stellen an aktive Herren vergeben, dann aud nur gegen Erftattumg ber Selbitkoften. Und worin beiteht bisher die private Selbfthilfe der inaktiven Dffiiere? Der ‚Verein‘ diefer Offiziere dient leider nur rein gejelligen Zwecken, denn das Bischen Stellenvermittelung auch nur fubalterner Art ift faum erwähnenswert. Auch der Deutſche Offizier» Berein, das jebige Waarenhaus für Armee und Marine, leiftet trog guiem Willen nur ſehr Unzureichendes auf dem Gebiete der Stellenvermittelung, bejonders für Offiziere, die höhere Unfprüde machen können. Es ijt beflagenswertd, dab ein Bufammenwirfen diejer beiben großen Vereinigungen, troß allen auch von mir wiederholt gegebenen Anregungen, nicht zu erreichen ilt. Die felbe Berfplitterung finden wir in der privaten Fürſorge für Wittwen und Waifen ber Offiziere; für Mütter und Schweitern, die nicht in dicfe Kategorie fallen, giebt es überhaupt feine Für⸗ forge. Wir Haben nur: den Militär-HilfSverein zu Berlin mit 1185 Mitgliedern und 65 000 Marf Vermögen; er bat im vergangenen Jahr 7500 Mark an Unter: jtäßungen und 62000 Brifetts vertheilt; den Bund Deuticher Frauen mit 440 Mitgliedern und 17000 Mark Bermögen; er konnte im lebten Jahr 1600 Mark Beihilfen gewähren; den Verein zur Berforgung deutſcher Offizier- töchter mit 925 einzelnen Mitgliedern und 37 Offiziercorps; er hat 12200 Mar Bermögen. Dann giebt e3 noch private Militär: Hilfsvereine in Provinzial- ftädten wie Breslau, Frankfurt a. M., Danzig, Stettin, Magdeburg, Hannover, Karlsruhe und Straßburg mit vorläufig unerheblichen Kräften.

Nicht alle Hilfe kann vom Staat allein fommen, wenn er aud) bie Haupt- urjache des großen Elends ift und die wirkjamfte Hilfe durch Gewährung an- gemejjener, würdiger und penlionfähiger Arbeit in Civilverforgung- und vor Allem Heeresſtellen jeinen alten Offizieren bringen und dur ein anderes Benfton- verfahren bie jeßige, auch der Armee höchſt ſchädliche Dafeinsunficherheit des aftiven Offiziers befeitigen muß. Auch die Offiziere müffen fi fchon wärend der Aktivität felbjt regen und fameradfchaftlic einander und befonders der Inaktiven Helfen. Namentlich der für die Eriltenz fo gefährliche Mebergang?: zuftand zwilchen der Aktivität und der feiten Anftellung im neuen Qebensber muß möglichft vermieden werben.

Es ift ja erfreulich, zu erfahren, daß ſich demnächſt ein großer Offizier Hilfsverein, zunächſt in Preußen, bilden will mit einer Gentralftelle in Berlt und Hilfsvereinen von hoffentlich großer Selbftänbigkeit in den einzelnen Corps bezirten. Möchte das Werk, das freilih nur Offizierswitiwen und ⸗Waiſe leider nit auch Müttern und Schweitern unverbeiratheter inaftiver Off;

Notizbuch. 251

zu Gute kommen ſoll, ſich nur von jedem Bureaukratismus und behördlichem Zwang frei halten! Sonſt wäre der Sache mehr geſchadet als genützt und höchſtens einzelnen Spitzen und ihren Protektionkindern erwüchſe ein Vortheil. Die Hauptarbeit aber müſſen die inaktiven Offiziere ſelbſt leiſten. Arbeit: Das iſt die Barole, befonders für die bebürftigiten und Teiftungfähigften, die jüngeren Stabsoffiziere und die Hauptleute, von denen es augenblicklich im ‚NRubeftande‘ (ein famojes Wort!) allein in Preußen 1740 bezw. 2437 giebt. Selbſt Elcine Aufbefferungen der Penfionen können feine durchgreifende Hilfe bringen. Hier ift eine foziale Reform nöthig, die nur durch die vereinten Kräfte der unter ben heutigen Zuftänden Reidenden bewirkt werden kann.“ * * *

Ueb er die bier ſchon erwähnte neufte Encyklika des Papſtes ſchreibt mir Herr Karl Jentſch: „Nachdem Leo XIII. einige akademiſche Vorträge über die ſoziale Frage, die chriſtliche Demokratie und ähnliche Gegenſtände veröffentlicht und darin einiges Verſtändniß für moderne Verhältniſſe bekundet hat, iſt er in feiner jüngften Encyflifa, feinem Teftament, auf den ftreng orthoboren Standpunkt der Kurie zurüdgefunfen und ftellt wieder einmal dar, wie die Kirche, die ihm natürlich mit der Hierarchie zuſammenfällt, gleich ihrem Stifter Jeſus ſtets völlig unfchuldig leiden muß und gerade wegen ihrer Heiligkeit von ber Welt, die alles Guten Feind ift, verfolgt, wie aber diefe Welt für ihre geiftigen und Lörperlichen Angriffe auf die Kirche durch den Umsturz der Moral und der bürgerlichen Ordnung beftraft wird. Nun weiß Jeder, daß es heute, und zwar gerabe in ben proteftantifchen Qändern, um die Moral und die bürgerlide Ordnung ſehr viel befier fteht, als es je in ben Beiten weltlicher Papftherrichaftgeftanden hat, woraus freilich der hiftorifch Gebildete fo wenig gegen das Papſtthum jchließt, wie er für diejes fchließen würde, wenn bie Weltgefchichte fo verlaufen wäre, wie fie die Aurtaliften fchreiben. In Rom follte man doch Boccaccios Gefdichte vom Juden Abraham kennen, der Ehrift wurde, weil ex ſich jagte: Eine Religion, die befteht und ſich ausbreitet, troßdem der zu ihrer Er- Haltung berufene römifche Klerus Alles thut, fie durch feine unerhörten, ohne eine Spur von Scham und Gewiljensunrube gepflegten Lafter und verübten Verbrechen zu zerftören, muß fi) wirklich eines bejonderen göttliden Schußes erfreuen. Und Leo follte willen, daß fein Vorgänger Hadrian VI. auf dem Reichstag zu Nürnberg 1522 durch feinen Legaten Cheregati erklären ließ, Gott Habe die Verfolgung über feine Kicche verhängt wegen ihrer Sünde, vornehmlich der Priefter und Prälaten: ba fei Steiner, ber Gutes thue, auch nicht Einer. DieferPapft hat alfo erlannt, daß bie Anfeindungen der Kirche nicht nur Auflehnung menſchlicher Sündhaftigfeit gegen bie fittlichen Forderungen des Chriſtenthumes find, die freilich auch vortommt, fondern meift Auflehnung menſchlicher Bernunft und Gerechtigkeit gegen bie Unvernunft und Ungerechtigkeit der Priefterfchaft. Die gebildeten deutichen Katholiten müßten fi) folder Kundgebungen ihres geiftlicden Oberhauptes in tieffter Seele ſchämen, wenn dieſes Oberhaupt nicht durch die der feinen ebenbürtige Unwiſſenſchaftlichkeit feiner Zodfeinde, eines Grafen Hoensbroech und feiner proteitantifchen Gönner zum Betfptel, einigermaßen entfhuldigt würde.”

* * &

In der Voſſiſchen Zeitung ift der Brief eines niederdeutſchen Arztes ver-

öffentlicht worben, ber feit vierundzwanzig Jahren in ben Burenfreiftaaten lebt und

2352 Die Zukunft.

vorher den deutſchen Feldzug gegen Frankreich mitgemacht hatte, alfo Die Siriegsjitten eivilifirter Völker kennt. Er fchreibt: „Ich habe jeßt feit ungefähr zwei Jahren hier ‚(in Bethulje) unter englifcher Herrichaft gelebt und während ber ganzen Zeit iſt weder mir nod einem anderen im Orte lebenden Deutjchen irgend Etwas von Lieber: griffen oder Gewaltthaten zu Obren gelommen, obwohl bier häufig ziemlich viele Truppen angehäuft waren oder Durchzüge ftattfanden. Die Einwohner werben burd;- aus nicht beläftigt. Einquartirung giebts nicht; nur in leerftehenben Häujern werben allenfalls Truppen untergebracht; die meisten kampiren, ſelbſt bei der bier herrfchen- den Winterlälte, ftets in Zelten. Der englifche Soldat ift durchaus ruhig, höflich und, was nad) einem faft 21/, Fahre dauernden Kriege jehr wundert, garız befunders gut in der Hand feiner Borgejeßten, obwohl er mit Drillen jehr wenig geplagt ıwirb. Die Leute find auffällig ftill; e8 wird nicht einmal laut gefungen. Vielleicht bat ber . gemeine Mann nicht genug Erbitterung gegen feinen Feind, obwohl dod gerade die Rampfesweife der Buren ganz dazu angethan ift, ein ſolches Gefühl zu werten. Wir wiſſen es ja aus eigener Erfahrung, wie erbitternd es auf eine Truppe wirkt, wenn fie aus dem Hinterhalt oder, wie e8 in Frankreich fo oft der Fall war, aus einer Entfernung, über die unfer Zündnadelgewehr nicht reichte von einem Feinde be ſchoſſen wird, der verſchwunden tft, ehe fie. an ihn heran fann.” Er vertheidigt auch bie vielgeſchmähten Konzentrationlager: „Selbit in Friedenszeiten wird ein großer Theil der nothwendigften Zebensmittel Korn, Mehl, Kaffee, Zuder, Kleidung⸗ ftüde u. |. w. eingeführt, Diefe Sachen find nur in den Dörfern zu haben, die ‚alle in engliſchem Befig waren. Sollten nun die Engländer zulaflen, daß die rauen ‚und Kinder auf den armen fi} innerhalb der engliſchen Linien mit Lebensmitteln ‚und fonjtigen Bedarfsgegenftänden verfahen, um fie dann ben fechtenden Buren zu⸗ ‚zuführen? Das fonnte man wirklich nicht von ihnen verlangen. Auf ber anderen ‚Seite: ſchloß man die Frauen und Kinder ganz aus, fo entitand die Gefahr, da fie verhungert oder von den Kaffern befäftigt worden wären. Aus biefen Erwägungen heraus bat man fich entichloffen, die ganze Bevölkerung nom flachen Lande zu ent- fernen und fie in den Zufluchtlagern zu fonzentiren. Man gab ihnen bort bie felben ‚Retionen, die die englilden Soldaten enıpfangen, und friſche Milch für bie Kinder, bie allerdings im Winter ein. rarer Artikel iſt. Sie befamen Fleiſch, Mehl; Kaffee, : Zuder, tondenfirte Milch und für die Kranken wurde extea gefargt. Nun iſt in Deutjch⸗ land die öffentlihe Meinung anſcheinend durch Erzählungen von Gewaltthaten ud allerlei Ruchlojigkeiten, die beider Räumung ber Farmen vorgekommen fein. ſollen, ſehr erxegt worben.. Ich glaube nicht, dab an diefen Erzählungen etwas Wohres ifl. - Der Charakter der englijchen Soldaten, ſo weit ich ihn fernen gelernt habe, und vor Allem meine perfönlichen Erfahrungen fprechen dagegen. Ich habe etwa ſechs Monate ‚lang in einem diejer Zufluchtlager al3 Arzt genrbeitet und habe in biefer Zeit Afters ‚Züge von Wagen mit Burenangehörigen ankommen fehen. Ich Habe aber niemals Klagen über Taube. Behandlung oder Dergkeichen gehört; im Gegentheil waren alle Weiber des Lobes poll, wie die Soldaten ihnen zur Hand gegangen jeien, beim Huf- laben der Sachen auf die Wagen geholfen und für die Kinder geiorgt hätten. Bei ben großen Entfernungen dauerte e8 zuweilen Tage lang, ehe die Ochſenwagen in dem Lager aufamen. In dieſer Zeit theilten die Soldaten ihre eigenen Nationen mit den Flüchtfingen, machten Feuer, halfen beim Kochen, und wenn:bie Wagen im Lager ankamen, ſah man-bäufig Soldaten, die Burenkinder auf dem Mk’ Iugen.

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Notizbuch. 253

Was die Verpflegung in den Lagern anbetrifft, ſo muß man ſich gegenwärtig halten,

daß die engliſchen Soldaten, die Einwohner der Stadt und Dörfer, die man ruhig

in ihren Häufern gelafien hatte, und auch Die reicheren Buren, die bort aufihre eigenen

Koften wohnen durften, auch nicht mehr empfingen. Die Eiſenbahnen find alle ein- gleifig. Truppentransporte waren häufig und außer den Lebensmitteln für die Armee und die ganze Eivilbendlferung mußte auch noch das Futter für die Unmaſſe Pferde von ber Küſte herbeigefchafft werden. Da war es natürlich, daß jeder nur feine be—

ſtimmte Portion empfing, wie in einer belagerten Stadt. Später bradyen in den Zagern

Epidemien aus, die aber auch die übrige Bevölkerung nicht verfchonten. Das waren ja fchlimme Zeiten, aber Alles wurde gethan, um ben Leuten zu helfen. Und feit im November das Kolonialamt bie Zuflucgtlager übernommen hat, ift dort Alles in

Meberfluß vorhanden: Konſerven und Mil, alle möglichen Kindermehle, Cognac und Whisfy, Champagner und fonftige Weine. Die Aerzte haben volllommen frete

Hand und die Buren haben nie fo gut gelebt. Manche Büchſe mit Konjerven wirb uneröffnet fortgetvorfen, weil die Leute zu viel Davon haben, und es ift Thatſache, daß aus den Lagern lebensmittel herausgeſchmuggelt und den noch im Felde ftehen-

‚den Buren zugeführt werben.” Zu dem felben Thema gehört ein Brief, den ein ‚berliner Juriſt mir jchrieb und dem ich die folgenden Säße entnehme: „Sie nennen ‚die Darftellung, die ber Lieutenant Gent im legten Aprilheft ber „Zukunft“ von ben ‚Wdafrilanischen Kriegszuftänden gab, zunächſt befrembend. Das iſt fie für Den

nicht, ber ſchon mehrfach Berichte von Augenzeugen fennen gelernt hat. Als Be: weife dafür, daB Herr Geng mit feinem Urteil nicht allein fteht und nicht etwa aus gekränktem Ehrgeiz zu feiner Darftellung veranlaßt fein kann, geitatte ich mir,

Ihnen anbei einige Stellen aus Briefen des Stabsarztes von Hildebrandt an den Geheimrath von Esmard zu überfenden. Hildebrandt war Führereiner Rothen-Streug- Ambulanz und ift daher gewiß unparteiiſch. Die Briefe find in der Münchener

Medizinischen Wochenſchrift 1901 erfchienen, aber, wie alles den Buren Ungünitige, ‚von der Tagespreffe totgejehwiegen worden. Vielleicht machen Sie dieſe Stellen

‚durch Beröffentlihung einem weiteren Leſerkreis zugänglid. Es tft jehr erfreulich,

daß der die Weihrauchnebel, der um die Buren lagert, durch Artikel wie den des Herrn. Gent zerriffen wirb und daß der Leiter einer Zeitſchrift Den Muth hat, dieſer Kritit Raum zu gewähren, Hildebrandt, jpricht von der Art der Schußverletzungen:

In Fällen, in denen das Geſchoß aus nächſter Nähe Jen Körper getroffen (in Folge

pon Uuvorſichtigkeit ‚beim Putzen, meift jedoch durch Abſicht, um fich dem Kriegs⸗ dienſt zu entziehen), fand ſich eine große Ausſchußoffnung. Bon diefen, Zolſsehoots accidontp, wie fie ironeſch· genannt. werben) haben wir ſieben im;Lazareth zu ſehen bekonnmnen. Die gedbte Anzahkdanon (fünf) erhielten wir in her.zweiten Woche nach dem blutigen Gefecht. bei. Scholz⸗Neck, als eine Schlacht großes Stilea erwartet

‚wurde. Nun, da fie auggeblieben,... . fallen auch dieſe Unglücksfälle weg: Sieben

‚Selbitverftümmelimgen bei -im Ganzen 60 VBermundeten! Hildebrandt erwähnt, daf das moberne Geſchoß die Bermundeten nit fampfuntähig made: manche kãmpften trotz ber Verlegung weiter. Erfährtwörtlich fort: ‚Vielleicht wäre die Zahl dieſer Perfonen noch größer geweien, wenn nicht die meiften der Tämpfenden Buren bie Verwundung als willfpunmene-Belegenheit auffaßten, fich möglichſt ſchnell dem Kampfe zu entziehen.‘ Schließlich iſt Hildebrandt frod, daß die Englaͤnder Jakobs⸗

[Sauna ne Co —⏑——«—

Saal belebten, trobdem er auf der Seite den Burn ſtand. er. ſchrelbt: ‚Die Ber:

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handlungen mit ben Engländern waren angenchmer als mit den Behörbese Buren. Trogdem wir Alles, Verpflegung u. |. ww, der Negirung des Oranje- Freiftantes bezahft hatten (die ben Buren freiwillig Hilfe leiftende Ambulanz !), ftießen mir ſtets auf Scäwierigfeiten, ſobald wir orberungen ftellten. Bei den engliſchen Mi- fitärbehörden das größte Entgegenfommen, fofortige Erfüllung aller Wünſche.“ Das Alles wird hier natürlich nicht angeführt, um bie Engländer zu entſchulden, den Buren, bie Bauerntugend und Bauernfehler haben, Häßliche Lappen ans Kleib zu fliden. Sicher wird von ben lieben Briten in Südafrika viel gefündigt, und wem fie dafür die Strafe trifft, werben fie vergebens Mitleid erflehen. Nur fol man er: wachſene Völker nicht mit Kindermären von Engeln und Teufeln füttern. Das Urteil in einer ernften Sache darf ſich nicht nur auf die Ausfage einer Partei ftügen und den Widerſpruch ber anderen überhören. Deshalb werden Hier vor Zeit zu Zeit Stimmen vernommen, die Manchem vieleicht zunächſt nicht gefallen, nad) und nad; aber die Möglichkeit ſchaffen, ſich ſelbſt eine Meinung zu bilden. * *

254 Die Zutunft

*

Der Direktor einer Mädchenſchule ſchreibt mir:

Neuer Wein taugt nicht in alte Schläuge. Wir Pädagogen bürfen die moderne Kultur nicht als nafeweifen Eindringling in bie heiligen Hallen ber Schule behandeln, fondern als jugendfriigen Gaft, der neues Leben und nene Freude in die ehrwürbig grauen Mauern bringt. Freude! Ya, Hand aufs Herz: wer hat benn an unferer höheren Schule noch fo recht feine Herzensfreube? Freies Spiel der geiftigen Kräfte, ein edles und doch beſcheidenes Selbftwer- trauen, jugendfrijche Teiber mit gefunden Sinnen: diefe Ideale einer vernünf⸗ tigen Erziehung können doch wahrlich nicht in der Stidluft der ewigen Ertem- poraliennoth unter bem Damoklesſchwert der Verfegungangft gedeihen. Das Bischen formale Bildung durch die Maffiigen Spraden und auf Das muß gefagt fein das Bischen höhere Mathematik ift nicht jenes Uebermaß von Kummer und Verkümmerung werth, das fie jahraus, jahrein bie liebe Jugend koften. Eine Reform wäre gar nicht fo furchtbar j wer, wie fie ausfieht. Gerade jegt ift dazu die Gelegenheit günftig; denn bie Ausbehnung der Berechtigung zum Studium auf alle höheren Lehranftalten bedeutet doch wohl zugleih bie Anerkennung ber Gleihwerthigkeit aller Wege, die zu biefem Biel führen. Wenn alfo die Scheidewand zwiſchen dem höheren Lehranftalten gefallen ift, fo find wir damit dem deal der Einheitfcule, der höheren zunächſt, doch um eime hübſche Strede näher gerlidt. Nur darf das Fundament nicht wieber zu maffin, ber Oberbau nicht von vorn herein zu ehr überlaftet werben. Bon Ueberlaftung, Ueberbürbung haben wir vorläufig genug. Was fol im Mittelpunkt ftehen? Ich denke: für Deutſche das Deutfche, und zwar mit mächtiger Ausladung nad der Kulturgefhichte, fo daß es ſich auf der Bumaniftifchen Grundlage, ber wir unfere literariſche Entwidelung verdanken und gern verdanken, aufbaut. Mit anderen Worten: der griechiſche Unterricht muß im deuiſchen aufgepen. Ber, dem dann der Geiſt des Hellenenthumes in unferen herrlichen Ueberfegungen der Klaffiter nicht bämmert, wird ihn auch nicht bei ber Thränenſaat der Extem- poralien überden Optativaufgehen fehen. Unfere Schule foll mehrfein als eine Fach · ſchule für Altphilologen und Theologen. Nach dem Deutſchen bie fremben Spraden. Warum aber gleich zwei? Es ift für Jahre hinaus gerade genug an einer einzigen für foldes junge Hirn, das noch nebenher nur! ein

Notizbuch. 255

halbes Dutend anderer Fächer durchſtudiren fol. Als Abſchlagszahlung auf die Forderung einer entiprechenden körperlichen Erziehung genießt ‚allerdings der junge Körper zweimal in der Woche eine Art militärifcher Vordrefiur nad fäuberlider Schablone. Das nennt man Turnen und ftopft mit diefem Wort ber gequälten Natıır den Mund. Auch das Bischen Bewegungfpiel als liebens- würbdiges Anhängjel der Schule: ift doch fein Aequivalent für die Vernachläſſigung bes jugendlien Körpers. Alfo zunäcft eine einzige Tyremdipracdhe, und zwar Franzöſiſch. Es ift leicht zu lernen, Hat formalen Bildungwerth, jſt bei unferen geſchichtlichen und Tommerziellen Bezichungen wichtig und bat eine Literatur, bie nur der Unkundige ablehnen fann. Nach einer Weile muB wohl eine zweite Fremdſprache folgen; leider, aber ber babyloniſche Spracdenthurm fteht nun ein- mal. So mögen denn bie Einen zum Franzöſiſchen noch Latein, die Anderen Englifh nehmen. Ob dann einzelne Schüler von der Erlernung der zweiten Fremdſprache unter entiprechender Kürzung ihrer Berechtigung dispenfirt werden können, ob ferner in den oberften Kurſus der lateiniſch⸗franzöſiſchen Abtheilung ein fafultativer griechifcher Unterricht einzuführen ift: Das find techniſche Tragen zweiten Ranges für die fpätere Praris. Jedenfalls hätten wir dann Gym⸗ nafium und Realſchule die Zwifchengattungen haben feine innere Beredtigung dur ein gemeinsames Band zufammengehalten. Und ift der Gedanke, daß in unjerer Zeit der Zerfahrenheit des öffentlichen Lebens, der centrifugalen Be« ftrebungen auf der ganzen Linie wenigitend die Jugend noch auf einem gemein- famen Boden ihrer Weltanjchauung ftehe, al3 Bürgichaft eines neuen Zufammen: ſchluſſes der Nation nicht allein jchon der Erwägung werth und eines vielleicht nur geträumten Opfers liebgeworbener fcholaftifcher Ueberlieferungen? Das Opfer ift das Griehifche in der Urfprade; und der Gewinn: eine viel eingehendere Beichäftigung mit der Gelammtlultur des Alterthumes, ferner die höhere Ein— beitjchule mit ihrer großen fozialen Bedeutung und vor Allem die Entlaftung ber Jugend und die Möglichkeit harmonifcher Ausbildung nicht nur des Geiſtes, fondern auch des Leibes. Kommen wird es, weil es kommen muß; aber wann?” * *

*

Heinrich der Zweiundzwanzigſte älterer Linie, ſouverainer Fürſt Reuß, Graf und Herr von Plauen, Herr zu Greiz, Kranichfeld, Gera, Schleiz und Lobenſtein, iſt geſtorben Seine Mutter, die heſſiſche Karoline, unter deren Vormundſchaft er anfangs regirte, hatte ihn Preußen haſſen gelehrt. Preußen und Bismarck, ber aber galant genug war, der würdigen Dame bie Erinnerung an kleine Bosheiten nicht nachzutragen. Al3 Ernft Dohm, der Redakteur des Kladderadatſch, wegen Belei- digung der Fürſtin Karoline zu fünf Wochen Gefängniß verurtheilt worden war, erwirkte Bismard bem geiftreichen und muthigen Mann eine Verkürzung der Straf. zeit und fügte bem Brief, der dem Gefangenen die Begnadigung in die Stadtvogtei melbete, die „perfönliche Bitte” hinzu, „Die arme Karoline nun ruhen zu laſſen“. Ihr Nachfolger wurde, in den Wibblättern wie auf dem Thron, der arme Heinrid). Dem erging es noch jchlimmer, obwohl er ein ruhiger, anjtändiger und beicheidener Herr war, ber auf feine Weije reblich für das Behagen ber reußifchen Bürger forgte. Daß er Preußen nicht liebte, war am Ende begreiflich; daß er feinen Haß nicht, wie andere Mißvergnügte, die in der Tafche die Fauſt ballen und mit einem Courlächeln berliner Brunfichaufpielen zufehen, in des Bufens Tiefe barg, zeigte ihn als einen

256 Die Zukunft.

Mann, der ven Muth feiner Meinung hatte. Und diejer Frondeur war jo ungefähr lich, daß man ihn nicht zu fürchten, nicht zu fchelten brauchte. Er ließ ſeinen Ber treter im Bundesrath gegen faft alle preußifchen Anträge ftimmen, feierte bie Fehr, mit denen das Reich durd) berliner Dekret beglüdt wurde, nicjt mit und fagte ber Hofbienerfchaft,er werde Steinen betrafen, ber einen Sozialdemofraten in den Reid> tag wähle. Das waren fo ungefähr feine ärgften Sünden. Dafür war er ein gute: Haushalter und unter Uniformen und Galatleidern eine in ihrer Art ehrenwerthe Perfönlichleit. Keine große; fonft hätte fein Groll ſich nit mit Nadelſtichen be gnügt, die kein Flockchen aus ber preußifchen Wolljade riken. Ein Heinrich voa höherem Wuchs hätte auf feinen dreihundertundſechzehn Duadratlilometern, anf einem Gebiet alfo, das felbft Heutzutage ein Yürft noch zu überfehen vermag, bir verhaßten Preußen die Kunſt moderner Staatsverwaltung gelehrt. Der Erbe des Toten ift pfychiich belaftet und unfähig, die Negierung anzutreten. Die Regent: ſchaft fällt der jüngeren Linie zu. Und von den Bunbdesfirften des Deutſchen Reiches find zwei nun offiziell für geiſteskrank erklärt. ' * *

*

Eine wunderliche Tragikomoedie hatin Berlin begonnen. Im vorigen Sommer hat der König von Preußen dem Stadtrath und Reichsſtagsabgeordneten Kauffmann den Magijtrat und Stadtverordnete zu Berlins zweiten Bürgermeifter machen wollten, bie Beftätigung verfagt. Die Wahl wurbe wiederholt, der Vorſchlag aber, nach dem Sinn bes Geſetzes mit Net, dem König nicht noch einmal unterbreitet und Jeder wußte: Herr Kauffmann wird in Berlin niemals Bürgermeifter. Das gab feinen Grund zurAufregung. Die kommunalen Körperſchaften Haben Tein Wadl⸗ recht, ſondern nur eine Vorjchlagspflicht; fie Haben für erledigte Stellen Kandidaten vorzuſchlagen, die der König dann nach Belieben ablehnt oder ernennt, ohne feinen Entſchluß begründen zu müffen. Die ganze, jo laut als liberale Errungenſchaft ge ‚priefene Selbftverwaltung ift eben, wie die Unabhängigkeit der Richter mb Bag Pren- Benredt, in Wort, Schrift und Bild feine Meinung zu jagen, eine hübſche Couliſſe, deren Anblid artige Kinder erfreut. Herr Kauffmann war früher ein Rechtsanwalt ohne große Praxis gewejen, dem ehrenhafte Gefchäftsfitte nachgefagt und ber dann, als gut freifinniger Mann, in die Stadtverwaltung übernommen wurde. Ein Stabtrath wie andere Stadträthe; und ein Reichdtagsabgeorbneter, der in dem Feiner Häuf- fein Derer hinter Eugen Richter nie aufgefallen war. Der in der zweiten Lebens- hälfte in den Kommunaldienſft Beförderte hatte nie einen neuen vder neu klingenden Gedanken ausgefprochen, nie Gelegenheitgehabt, Weltkenntniß oder gar Verwaltuug⸗ talent zu zeigen. In der Reihshauptftadt aber, deren Oberbärgenteifter der Fräere Rechtsanwalt Kirfchner iſt, ein ſchmiegſamer Kerr ohne jede Inillative, fonnte natürlich auch ein anderer milder Robenträger:die Amtsgeſchafte bes 'ziveiten Bürgermeifter3 beforgen. Die Hauptſache tft ja, dab bie Freiſtunige Bereinigung GKirſchner) und bie Sreifinnige Volkspartei (Kauffmann) die Beiden’ wichtigften Steffen befegen. Herr Kauffmann ſcheint nun die Hoffnung nicht dufgegeben zu haben, dad eines nicht alfzır fernen Tages noch ans Ziel feiner Wünſche zu komnien. Er wollte die Wahl nicht ablehnen, hinderte alfo feine Parteigenoſſen, einen neuen Kanbi: baten vorzufchlagen. Plötzlich, vor ein paar Wochen, hieß es, er Fei erkrankt. Biychofe. Der Hausarzt fei gezwungen geweſen, ihn in bie malson de sants zu bringen. Dort blieb er eine kurze Weile und von bort kam an den Stadtwetordneien⸗

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Rotizbuch. 261

vorſteher ein Brief, in dem ber Stadtrath erklärte, er trete von der Bürgermeiſter⸗ Landidatur zurüd. Dann reifte ee nad) Thürkngen und wurde von einem Sendboten des Berliner Lokalanzeigers interviewt. Sch bin ganz gejund, fagte Herr Kauff⸗ mann; das Zufammenwirken von Opium und Morphium hatte mich für kurze Beit „in eine maniakaliſches Delirium verfegt”; von einer eigentlichen Geiſtes— krankheit Tann nicht die Rede fein, ſonſt wäre ich nicht fo ſchnell geſund geworden; mein Hausarzt hat unnerantwortlich gehandelt und meiner RüdtrittSerflärung ift „ein offizieller Charafter nicht beizumefjen“. Schon vorher war behauptet worden, Die fret= finnigen Mannesfeelen, die um jeden Preis wieder in die Gnadenſonne gelangen möchten, hätten den ftörrigen Stadtrath gekränkt, mit Arbeit überhäuft, indie Irren⸗ anftalt geſchleppt und dem Leidenden den Verzicht auf die Kandidatur aufgedrun-

gen. Die ſolche Geſchichten umhertrugen, merkten wohl nicht, welche feltfame Rolle

fie ihren Helden jpielen ließen. Jetzt, nach feinen unbeftrittenen Erklärungen, tit kaum noch ein Zweifel daran möglich, daß er wirklich krank ift; ungefähr fo, wie.er. ſprach, ſprechen fait alle unglüdlichen Opfer einer Pſychoſe. Da dieſe Krankheiten: aber lange Rubepaufen nicht ausschließen und oft Jahre hindurch dem Laien nicht er= teımbar find, kann die traurige Gefchichte fich noch eine Weile hinziehen. Herr Kauff⸗

mann will, trotzdem er nad} ben legten Borgängen doch unter feinen Umftänden,

Bürgermeifter werden kann, nicht freiwillig verzichten, feine Barteigenofjen werden fich hüten, ihm einen Pfychiater ind Haus zu ſchicken, und der Briefeinesineiner Irren⸗ anftalt Internirten ift rechtlich werthlos. Immerhin ſollten die Freunde bes Kranken nicht allzu fcharf ins Zeug gehen; fonft wird man fi im Rothen Haus doch ent⸗ ſchließen, ein pfychiatrifches Gutachten zu fordern und öffentlich feftzuftellen, daß Herr

- Kauffmannindem Synodalftreit, berdie Urfache jeinesgufammenbruches gemefen fein-

foll, die Hauptarbeit zwei Aſſeſſoren zugewiejen hat. Der Stadtfreifinnfehnt fich gewiß, inbrünjtig nach der Hofgunft ; die Irrengeſchichte riecht aber allzu jehr nach der Hinter⸗ treppe. ebenfalls Haben die Herren jeßt Zeit, einen neuen Bürgermeifterlandidaten, zu küren, und es wird interefjant fein, zu jehen, ob fie wirklich den Muth Haben werden, wieder eine fraftionelle Mittelmäßigfeit vom Schlage bes Herrn Fiſchbeck zur Er- nennung zu empfehlen. Als neulich im Kreis der Zuverläffigen die Frage erörtert

- wurde, wen man zum zweiten Bürgermeifter wählen folle, rief ein wißiger Herr:

„Kirfcäner!” Der Mann hatte Recht. Für die Stelle des zweiten Bürgermeifters ift

Herr Kirſchner ſehr geeignet. Wenn zum Oberbürgermeiiter ein ſtärkeres Berwaltung«

talent erwählt würde, ein Mann von Weltkenntniß und perſönlichem Anſehen, der

weiß, was in England, Amerika und Frankreich die Gemeinden heutzutage leiſten,

dann könnte man aud in Berlin endlich an die Löfung neuer Probleme der Kommunal

politik denfen und brauchte fi nicht mit dem dürftigen Ruhm zu begnügen, der.

zwiſchen den Pflafterjteinen ſauberer Straßen emporleimt. Dod) jolde Hoffnung

: wird unerfülft bleiben, jo langedie reichshauptſtädtiſche Gemeindeverwaltung obdach⸗ loſen Mitgliedern der beiden freilinnigen Fraktionen als Aſyl dienen muß.

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* Sm Reichstag haben die Freifinnigen ſich das Lob unbefangener Zuſchauer

| verdient. Sie haben die der Zolltarifkommiſſion bewilligten Sommterdiäten abge»

lehnt. Das war flug und wird ihnen nügen. Sie fönnen nun mit dem Finger auf die Sconfervativen, Nationalliberalen und die Gentrumsabgeorbneten weijen und fagen: Seht, wir find beffere Menjchen als Diefe, die fi} für eine nußloje, zweck⸗

des Gerühmten nicht kannte. Weiß er nicht, daß feine diplomatischen Kollegen ihn Täng

258 Die Zukunft. Ä =

loſe Arbeit zweitauſend Mark auf den Kopf bezahlen laflen! Zwecklos ift bie Arbeit ber Tarifkommiſſion, weil über die wichtigften Punkte der fünftigen HanıbelSperträge offenbar ſchon eine internationale Einigung herbeigeführt ift und das ganze Gerede ins Leere verhallen wird. Daß Sozialdemokraten und Sreifinnige das für folde Arbeit gebotene Geld nicht annahmen, war ein Beweis taftifcher Leberlegenheit, ben fie bet den nädjiten Wahlen ins hellfte Licht rüden werden. Uebrigens jollte man im Deutichen Reich Heute jede Sünde wider Wortlaut und Sinn der Berfafjung noch ängftlicher ſcheuen als in weniger Tritii den Zeiten. Artikel 32 der Reichsder faffung fchreibt vor: „Die Mitglieder des Reichstages dürfen als folche feine Befolbung oder Entihädigung beziehen.“ Es ift betrübend, zu fehen, mit wie leichtem Herzen Bunbdesrath und Reichstagsmehrheit fich über diefe Vorſchrift hinweggeſetzt haben. * *

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Solche Bedenken fchreden den Grafen Bülow nit. Er ift Heiter und fremt “dh, troß Regenfchauer und Sturm, des erwachenden Lenzed. Neulich bat er m Düffelborf bei ber Eröffnung der Ausftellung wieder einmal geredet. Wundervol. Auch da regnete ed. Doc der vergnügte Kanzler rief tröftend: „Post nubila Phoebus! Sobald der Hohenzollernfproß (der Kronprinz, den das Broteftorst Aber die Ausstellung anvertraut tft) eintritt, wird die Sonne ſcheinen.“ Und fe fhien. Dann ſprach er von den Zollkämpfen und fagte: „Stets fol uns bir das Vorbild unferes Kaiſers voranleuchten, der feinen jchönften Ruhm barin findet, unermüdlich unſer Gejammtvorbild zu fein.“ Das war noch nidt Alles; bie ftärffte Leiftung brachte ber Sag: „Unfer großer königsberger Weiler Kant bat feiner erften Schrift den Titel gegeben: ‚Bon ber wahren Schäßung der lebendigen Kräfte‘. Ich glaube, daß wir nach unjerem heutigen Rundgang in diefer Schäßung zeiher geworben find". Der zweiundzwanzigjährige Wolffihiller Kant hat wirt lih „Gedanken von der wahren Schägung ber lebendigen Kräfte“ veröffentlickt: eine noch unfelbjtändige Arbeit, bie fich mit fartefifchen und leibniziſchen Gedanken auseinanderzujegen verfuchte. Natürlich war da nicht von wirthſchaftlichen KEräften die Nede. Graf Bülow bat diefe Schrift nicht gelefen. Das iſt fein Ungläd. Warum aber citirt er fie dann, citirt fie fo falſch, daß die gebildeten Leute Durch diefe Wippchenthat zu lauten Lachen gereizt werden? Es war ſchon ſchlimm, daß er dem: Alten Fritzen über das Preußenheer ein Wort zufchrieb, daß in der gemeinen Wirk) lichkeit Bonaparte zur Abwehr deutjcher Kritiker gefprochen hatte, und Fichte in Säg prie3, bie verriethen, daß er das fozialiftiiche und atheiftifche Glaubensbefcnntni

den Minister des ſchönen Aeußeren nennen und in der Wilhelmftraße vorgejchlager ward, einen Gitirfchugverein gegen den Kanzler zu gründen? Kultur haben, bei doch vor allen Dingen: nicht mehr fcheinen wollen, als man ift, nicht im Schei einer Bildung glänzen, die man nicht befigt. Graf Bülom iſt ein guter Feuilleton rebner. Den größten deutſchen Philofophen aber ſollte er nicht zum Aufpuß vom Tafeltoaften mißbrauchen. Seine Reden werben ja gedrudt und nicht nur von ehr fürchtig aufhorchenden Yandsleuten gelefen. Im Ausland aber wirkt es nicht günfti wenn der erite Beamte des Deutjchen Reiches immer wieder die großen Gei feines Volkes citirt und ihres Weſens doch nie einen Hauch zu ſpüren vernag;

Herausgeber und verantwortlicher c Nevafteuc: DM. { M. Hardın ı in 1 Berlin. &e Berlag der Zulunft ie Berim, Druck von Albert Damde in Berlin Schöneberg.

Zukunft.

Berlin, den 17. Mai 1902. ————7777T

Waldeck⸗Rouſſeau.

Mw hat eine gute, an Senſationen reiche Woche gehabt und die putzigen Tageblattboſſuets, die vor Jahrzehnten ſchon Barbey d'Aurevilly das Leben verleideten, brauchen von der Furcht vor pfingſtlicher Feſtruhe ſich diesmal nicht ſchrecken zu laſſen; denn der aufgehäufte Stoff reicht für Mo- nate aus. Zuerft rüttelte der Fall Humbert-Eramford die Nerven. Frau Therefe Humbert, eine refpeftirte Dame der beften Geſellſchaft, hat ſich un- gefähr zwanzig Jahre lang für die Erbin eines Vermögens von hundert Millionen Francs ausgegeben, das ein Amerikaner, Herr Crawford, ihr ver⸗ macht habe. In einer eifernen Truhe bewahrte fie den Schag, zeigte Zweif⸗ lern manchmal dicke Rentenbriefbündel, durftedas Geld aber noch nicht als ihr Eigenthum betrachten, weil das Teftament von zwei Neffen des Erblaſſers angefochten wurde, beren Beligrechte der gewiſſenhaften DameHeilig waren. Mit genialer Verbrechertaktit fchleppte fie die Sache feit 1883 immer wieder ins tieffte Dieicht des Civilprozeſſes; und da die Aermfte mit ihrem Mann, dem Sohn eines früheren Juftizminifters, inzwiſchen doch ftandes- gemäß leben mußte, pumpte fie, pumpte munter bei Groß und Klein. Vierzig Millionen hat fie auf diefem felbft Heute nod) ungewöhnlichen Wege zu- ſammengebracht. Nun ift Madame mit Dann und Sippe verſchwunden, die eiferne Truhe ift leer und über den Thatbeftand kein Zweifel möglich: die drei Crawfords haben nie gelebt, Frau Humbert hat nichts geerbt und, um die Gläubiger hinzuhalten, in allen Inftanzen die Komoedie eines Erbſchaft 19

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250 Die Zukunft.

ftreites aufgeführt, dem jeder Gegenftand fehlte. Ein Stoff für Ariftophanes, Le Sage oder Offenbach; ob ihn nicht irgend ein flinfer Philippi bis zum nächſten Herbjt deutjchen Kunden zufchneiden wird? Noch achten die nick unmittelbar Gefchädigten über die ausbündige, alle Schelmenromane über- trumpfende Gaunerphantafie, der folcher Erfolg beſchieden war: da kam die Hiobspoſt, die Krater des Mont Pelee auf Martinique hätten eine Lavafluth ausgefpien und Saint-Pierre, Die Hauptftadt der alten, oftumftrittenen fran-

zoͤſiſchen Kolonie, verſchüttet. Vierzigtauſend Dienishen ſollen in dem Kata:

klysmus umgekommen fein; dieſe Zahl erreicht nicht „faft“, wie der Deutiche Kaifer in einer Reneiche.au Serum. Quubstingend Tage, bie Be in Pompeji von vullanischen Wüthern Siugerafften, jondern ift zmonzigmalgrößer. Und faum war dieſes Schreckens jäher Prall verwunden, faum fingen Die von unflarer Grauſenskunde Berftörten zu finnen an, wie den Ueberlebenden Hilfe zu bringen, die von einem durch die Antillenwelt tobenden Elementar- aufruhr bedrohte Kolonie zu retten fei, als ſchon neue, nähere Senſation bie ruhelofen Gemüther padte. Die legte Schlacht im Wahllampf war gejchla- gen undjeder Franzoſe griff nachdem Stredenrapport, um zu erfahren, wem auf der Jagd nad) der Volksgunſt diesmal Fortuna gelächelt habe. Und ınitten in all dem Lärm wurden die Anter des Schiffes gelichtet, das den PBräfiden- ten-Zoubet nad) Rußland trägt, zum Goſſudar der nation alliée et amie. Für eine Woche wars genug; und fein Wunder, daß auch unferer Zeitungen "größter Theil mit der Schilderung franzöfifcher Zuftände zu thun hatte. Fran Humbert, der zwilchen Zurcaret und Mercadet ein Pranger: plat gebührt, wurde in die Kellerräume gewiejen und, wie de$ Landes Der Brauch iſt, von den fürs Feuilleton gemietheten jungen Leuten zur Verherr⸗ fihung deutfcher Nechtspflege benutt. Den Krater des Mont Belde um- freiften allerlei feltjame Eintagsgeologen, die von Bimsfteinfand wundervoll zu erzählen, die Lapilli anfchaulich zu befchreiben mußten. Ueber die Fahrt ins Heilige Rußland wurden Wige gemacht, al3 wären bei ung ſolche Reifen nie zu den wichtigen Staatsaftionen gezählt worden. Die Politiker aber jtimmten einen Triumphgeſang an: Herr Walded-Rouffeau hat gefiegt und die Horde der Prätorianer und Jeſuitenſchützlinge aufs Hanpt geſchlagen! Die Schwarzen Anjchläge der Dunfelmänner und Tyrannenknechte find zu Schanden geworden und das Minifterium der Freiheit, des Lichtes, der Gerechtigkeit bleibt ung erhalten. Uns: ungefähr jo wird wirklich gefchrieben undgedrudt ;als müfjedem guten Deutjchen die Fortdauer der Firma Walded & Millerand ein Herzensbedürfnig jein. Ob fie dauern oder ſchon im Juni ge⸗

Waldeck⸗Rouſſeau. 261

löſcht werden wird, iſt heute noch zweifelhaft. Die Berechnung des in der neuen Kammer zu erwartenden Stimmenverhältniſſes iſt keinen rothen Heller werth. Faſt nach jeder Wahl fieht man in Frankreich das ſelbe Schau⸗ ſpiel: alle Parteien erklaären ſich von dem Spruch des ſouverainen Volkes bes friedigt und preiſen die Weisheit des Wählers, der ſich durch des boͤſen Feindes Höllenkunft nicht von rechten Weg locken ließ. Anders klingt das Lied ge⸗ wöhnlich erft, wenn die neue Saifon in den Folies-Bourbon eröffnet ift. Auch jett muß man fihgedulden, follte man, ftatt dem Freudengekreiſch der Jaurès und Nochefort zu laujchen, die Zeit bis zur Entjcheidung benugen, um die Bedeutung des Streites.erfennen zu lernen, der nun Jahre lang

Schon Frankreichs Boden zerwühlt und von dem alten Experimentirlande

der Weltgefchichte bald in andere Gegenden fortwuchern wird. Seit der Dreyfuslärm verhallt und die Erregung, die dem Betrachter die wildeften Kampftage der Ligen ins Gedächtnif ruft, dennoch nicht aus den Gemüthern gewichen ift, mußte jeder Wache merken, daß der in beiden Lagern mit allen Mitteln brutaler Gewalt und liſtiger Tüde geführte Bürgerkrieg einem ‘größeren Gegenftande galt als der Rettung oder Vernichtung eines dom Standesgericht ſchuldig geiprochenen Menſchen. Die Franzoſen fühlen ſich in ihrem Lebensrecht bedroht; fie möchten ſich als ein ſtarkes Herrenvolf in Europa behaupten und fämpfen deshalb gegen die fapitaliftifche Korruption, gegen die träge Gleichgiltigfeit der deracines, die für alle fittlichen Fragen nur ein müdes, jfeptijches Lächeln hat, gegen den Vaudevillegeift, den felbit der eruftelte, traurigfte Vorgang nur zu frechen Witen ftimmt, und gegen die Tyrannis der fchnell von jedem pfiffigen Schwindfer gefefjelten Maſſe. Das Heil foll, fo Hoffen die Patrivıen, vom Heer fommen, das nicht, wie das regirende Parlament zum großen Theil, aus Fäuflichen Strebern, fon» dern aus reblichen, in einen ftarren Ehrbegriff gewöhnten Männern be- jteht, defjen leuchtendes Kleid der Panamaſchlamm nicht beipritt hat und dem man ruhigen Muthes die nationale Zukunft anvertrauen darf.

Der jede andere Erwägung niederzwingende Wunſch, in dem aller bür-

gerlichen Autorität beraubten Lande wenigftens das Anjehen der Armee un- getrübt zu wahren, hat in dem von Jules Lemaltre geleiteten Bunde La Patrie Francaise viele der feinsten Torhutgeifter zufammengeführt. Ihnen bat fich in den meiften Provinzen die Fortſchrittspartei der Herren Meline und Ribot verbündet. In diefer Koalition find wenige Pfaffenfnechte, nod) weniger Monardhiften, aber jehr viele aufgeflärte und liberale Leute zu finden, die offen fagen: Unfer fatholifches Volk hat gefährlichere Feinde, als der 19°

262 Die Zukunft.

Klerus einer ift; e8 braucht ein ftarkes, in der Visgiplin m und im an feine Führer nicht erfchütterte8 Heer und will lieber von frangöfifch e m pfindenden Bifchöfen und Generalen beherrſcht werden als, wie biäher, von den Herz, Arton, Reinach und deren Dienftinannen. Daß die Schanr, die mit diefem Ruf in den Kampf 309 und der die Bauern und Kleinburger⸗ angft vor dem Erftarfen des Sozialismus zu Hilfe kam, nicht beim erften Anfturm den Sieg erftritt, ift das perfönliche Verdienft des Minifterpräfie denten Walded-Rouffeau. ALS Berryer, auch ein politiicher Advokat, von feiner Preſſe zu den Halbgöttern erhöht wurde, ſchrieb Barbey in heller Wuth: Diefe Täppifche ober Heuchlerifche Ueberwerthung eines Menfchen ift auf die Dauer efelhaft. Solches Gefühl regt ſich in dem Unbefangenen auch beim Leſen der Waldeckhymnen. Doch der Held dieſer Sängeiftder Beachtung werth In einem Büchlein von Erneft-Charles hat kluge Bosheit neulich ſein Charakterbilb gezeichnet. Ein Dann, der nie lacht, nie in Higige Wallung geräth, der unter blickloſen, halb verfchleierten Augen von Zeit zu Zeit nur melancholiſch, verächtlich lächelt. Ex läßt ſich nicht Hinreißen, nicht von En- thuſiasmus noch Zorn weiter führen, als er gehen wollte, und kein Ereignik Scheint ihm das Phlegma vertreiben zu können. Dabei ftolz, oft Hochfahrend im Ton, mit der fteifen Würde des vom Athem des profanum vulgus an- gewiderten Ariftofraten; ein fehr kultivirter Menfch, Sammler feltener ob- | jets d’art, Dilettant im franzöfifchen Sinn des Wortes. Die Klofterfchufe hat ihn, wie fo viele in mönchiſcher Zucht Erwachſene, allem Kirchenweſen entfrembdet. ALS junger Anwalt folgt er der Fahne Gambettas, deffen ge- flügeltes Wort: Le elericalisme, voilä l’ennemi ihm aus fühlem Herzen geiprochen ift, wird neben dem ſtets Trunkenen ein nüchterner Minifter, geht, als Gambetta fällt, zu Jules Ferry über, der ihm das wichtige Minifterium des Inneren anvertraut, und zieht ſich, da die Bretonenihnnichtwieberwählen, mit deutlichen Zeichen der Geringſchätzung aus der Politik in die Civilrechts⸗ praxis zurüd, Er wird in Paris der Anwalt der großen Gefchäftslente und der großen Spigbuben, häuft ein ſtattliches Vermögen und fcheint, als die Here Politik ihn nad) Jahren abermals lot, von dem einen Wunſch nur erfüllt: den Sozialismus mit Stumpf und Stielauszuroden; und fozialiftifch nennt er ſchon den bürgerlichen Radikalismus des Herrn Bourgeois, dem er vor- wirft, den Umfturzparteien die Thür zur Herrfchaft geöffnet zu haben. In allen Reden warnt er vor der destruction, empfiehlt er die conserva- tion sociale. Ohne ftraffe Ordnung fei Freiheit nicht möglich und eine internationale Partei, die da8 Vaterlandgefühl negirt, ohne Rückſicht und

Waldet:Rouffeau. 263

Schonung zu befämpfen. Wer dem Arbeiter helfen wolle, dürfe das Kapital nicht beunruhigen, dem Arbeitgeber nicht die Möglichkeit nehmen, im eigenen Hauſe der Herr zu fein. Das Befigrecht iftihm das erſte aller Menfchenrechte. Am Oltober 1897 ruft er, ganz wie unjer Stumm, in Reims, fein Gerede, fein feiges Ausweichen nüte, die Entſcheidung müffe Hipp und Har.für oder wider den Sozialismus fallen. Als er 1898 den Grand Cercle ber konſſervativen Republifaner eröffnet, den er zum Hauptquartier der So: ztaliftenfeinde machen will, rühmt er Herrn Meline, den eminenthomme d’Etat, den Minifter, der das Land vom Unrath gereinigt und deſſen Autoris tät ſich von Tag zu Tag verftärkt habe. DreiMonate danad) ſcheidet Meline aus der Macht und Walde ruft dem „energifchen Republikaner“ nad: Nousne lui dieonspas adieu, mais au revoir! Das war im Juni 1898. Ein Jahr jpäter war Waldeck-Rouſſeau Minifterpräfident. Er wählte zwei Sozialiften, die Genoffen Baudin und Milferand, den Führer der jozial- demofratifchen Kammerfraftion, zu Kollegen und hat ſeitdem feinen anderen Politiker mit jo zähem Ingrimm verfolgt wie Herrn Meline, deſſen polis tifches Wefen doch in keinem Zuge gewandelt ift. Staunend fahen Waldecks frühere Freunde dem Speltafel zu und fragten, was diefen Dann, der nie nach Bolfsgunft lüftern jchien und der fchon oft Gelegenheit Hatte, ohne Opfer zur Macht zu gelangen, beftimmt haben könne, feineganzeBergangen» heit als ein Zweiundfünfzigjähriger fo zu verleugnen. Ein pfychologifches Näthjel. Auch der Herr, der jich Erneft-Charles nennt, hat es nicht gelöft. Und doch ift am Ende die Köfung felbft dann nicht gar fo fchwer zu finden, wenn man ſich vorher entjchloffen hat, Walde nicht einfach für einen feilen Wicht und Streber zu halten. Er ift klug, ungewöhnlich gefchicht und jo weitfichtig, wie mans dem gefuchteften parifer Civilanwalt zutrauten durfte. Er Spricht nicht mehr von destruction und conservation sociale, fondern hat längft ein anderes Schlagwort gewählt und heißt fich felbft den Organi⸗ fator der defense republicaine. Die Republik, fagt er feit drei Jahren, iſt bedroht; vor jedem Thor lauert ein Brätendentenwunfch, eines Diktators Ehrgier, und wenn wir nicht wachſam find, wird mit ber Hilfe der immer den ſtarken Bändigern verbündeten Pfaffenfchaft ung morgen irgend ein Gaſſencaeſar Inechten. Das glaubt der Schlaue natürlich jelbff nicht, der genau weiß, daß von allen Staatsformen des vorigen Jahrhunderts keine in Frankreich fo ungefährdet war wie die 1870 gefchaffene und daß für ab» ſehbare Zeit an bie Auferftehung einer Monardjie von Gottes oder von Pobels Gnaden nicht zu denken ift. Er zweifelt auch nicht an der Zuver-

264 Die Zukunft.

läfjigleit des Klerus, der, auf Leos und Rampollas Befehl, mit der Republil Frieden gefchlofien und nicht den geringften Grund hat, in nutzloſen Aben- teuern koftbare Kraft zu verzetteln. Aber ein Anwalt und ein Politiker hat nicht immer, hat jehr jelten ſogar die Pflicht, Die reine Wahrheitüüber die Forte rung der Augenblickstaktik zu ſtellen. Wer ſich gemöhnt hat, die Dienfchen nadı ihrem Handeln, nicht nach ihrem Neben zu beurtheilen, wird leicht merken, def Walded-Rouffeau feinem alten Ziel, die Neigung zum Sozialismus aus den Hirnen zu ſcheuchen, um eine tüchtige Strede näher gelommen ift. Der fer: Skeptiker, der an der Barre und in Wahlverfammlungen die Maſſenpfycht \chägen gelernt hat, mag geſchmunzelt haben, als er auf den großen Boult⸗ vards Tauſende rufen hörte: Nieder mit Deilferand! Conspuez le baron: Kein Zetern, fein Sozialiftengefeg, „fein Kampf mit geiftigen Waffen” fonnte fo wirken wie die wehe Enttäufchung, zu der ein ſozialde mokratiſcher Minuiſter feiner Genofjenichaft verhalf. Die Millerand, Yaures, Vivian, die ministrables fein wollten, haben in heißen Schlachten die Guespiften, Marrens jtrenggläubige Jünger, geichwächt und zugleich fid) ſelbſt um den Nimbus des Volfsbeglüders gebracht. Diefef Erfolg war nur durch eine Berbrüderung von Bourgeoifie und Proletariat zu erreichen; und ſolches Bündniß wurde erft möglich, wenn der Menge die Veberzeugung einge, hämmert war, bie Republik jei, die Freiheit, da3 Menſchenrecht in Gefahr. So oft eine Bourgeoifie ſich in ihrem Befigrecht bedroht fühlt, ſchreit fie, die heiligften Menfchheitgüter feien gefährdet, zeigt fie der gegen die Schranken: loſe Geldherrichaft erregten Maſſe den Pfaffen als Erzfeind und fucht fid das Gewimmel zubefreunden, dag ihr morgen ſonſt indie Bußftuben brechen könnte. Und jedesmal cben ſahen wirs wieder in Belgien, wo Liberale Tabrifanten die Arbeiter um den Kampfpreispreliten und der Sozialdemo- fratie eine Wunde fchlugen, von der fie fich fehwer erholen wird jedesmal ilt das Proletariat dann fo arglos, jo blind, daR es jich von den ungemein menschenfreundlichen Kapitalijten firren und als Helotenheer in einen Krieg der Privilegirten treiben läßt, in dem es nichts zu gewinnen hat.

Herr Walded-Ronffeau hat dieſes Nothmittel nicht erfunden, aber fo flug angewandt, daß der Erfolg nicht ausbleiben konnte. Frankreich, das eine Soziale Revolution fürchten mußte, hat heute nur Salonfozialiften und madht- loſeSekten. Walde hat gefiegt, nicht über monarchiftifche oder pfäffiſcheFeinde der Republik, jondern über die Förderer der destruction sociale. Unferer Preſſe iſt er der lichte Heldlauterfter Redlichkeit. Vielleicht ftammt die Dankbar⸗ keit aus demInſtinkt, der inWaldeck den Hort bourgeoiſen Beſitzfriedens wittert.

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. Die Welt als Zeit. 965

Die Welt als Seit.

Man lernt mehr Weisheit mit dem Hören als mit dem Sehen. Das Hören bringt mehr herein, aber das Sehen weijt mehr hinaus. Meifter Eckhardt.

Es giebt feinen Unterjchied zwiſchen dein Subjeft, das erkennt, und dem Objekt, das erfannt wird.

Pariſer Univerfität anno 1276.

a babe ich in meinen Berichten über Mauthnerd Spradkritif*) den Grundgedanken des Werkes verfländlich genug wiedergegeben; was mir.aber zu fehlen fcheint, ift die Aufdedung des Grundgefühles, aus dem heraus Mauthner ans Werk gegangen tft; und was fchlieflich das Selbe fagt: es muß noch gezeigt werden, zu welchem Ende und Mauthner dieje Waffe in die Hand gegeben hat. Kurz gefagt: zum Ende Gottes. ch glaube, nicht falfch zu vermuthen, wenn ich fage: Was Mauthner bei dieſer Arbeit langer Jahre geftählt und begleitet hat, war das Gefühl, daß es weder Kant noch einem Anderen biöher gelungen mar, mit der falfchen Hypothefe „Gott“ fertig zu werden. Man mußte die Sprade angreifen, noch mehr, man mußte erkennen, daß all unfere Erkenntniß nur Sprache fei, um dieje That zu thun, e8 einmal für alle hinzuftellen: ob Ihr es Gott nennt oder moralifche Weltordnung oder Zweckmäßigkeit der Welt oder tiefere Bedeutung der Welt oder Erforfchung der Wahrheit oder Erkennbarkeit der Welt, e3 ift immer das Selbe: der Glaube, die Welt ausfprechen zu können, ift der Glaube an Gott. Was immer Ihr von ber Welt fagt: e8 find Worte. Das heit: e8 ift nicht wahr. Wahrheit hieß bisher immer: fo ift es; wenn das Wort noch fernerhin angewandt werden foll, muß es bedeuten: es ift anders. Das Wort Wirklichleit mögen wir ruhig behalten für unfere Er- Icheinungwelt, für Das, was auf ung wirft und wiederum von uns bewirkt wird; Wahrheit aber ift ein durchaus negatives Wort, die Negation an ich, und darum in der That Thema und Ziel aller Wiflenfchaft, deren bleibende Ergebniffe immer nur negativer Natur find. Darum auch ift es fein. Wider: ſpruch, daß Mauthners Kampf gegen die Sprache fprachlich geführt wird: denn Das ift eben die Aufgabe der Begriffsfprache, fi) mit Dem zu be fhäftigen, was nicht ift, bisher Geglaubtes zu negiren. Alles ift anders: Das ift die Formel all unferer Wahrheit. Auf diefe Ahnung ift e8 wohl zurüdzuführen, daß man hinter dem Tod die Löſung des großen Räthfels geſucht bat; ich möchte jagen, man Hat den Trugichluß gemacht, aus der

*) S. „Zukunft“ vom 23. November 1901.

" 266 Die Zutunit

Empfindung, daf Wahrheit Andersfein ift, zu chliehen: 8 Iramde alle nur eine gründliche Veränderung wit uns vorzugehen, danrit wir lies m Tennen. Über ſolche Veränderung ift ja auch wieder nur etwas Bofitineh nur ein Zuftand; jenes Andersſein aber drüdt lediglich die Negation aus = tönnte durch „niemal3“ erfeist werben. In diefer Auffaflung’ füllt „Wahr heit“ natürlich auch mit dem „Ding a ſich“ zufammen. Was ftect Hinter unſerer Wirflichleit? Etwas Anderes! Wie ift die Welt an fh? Anden! Diefe Wahrheit, daß man bie Welt eben darum nicht erfemnen kamz,

weil man fie erfennen muß, räumlich, zeitlich, dinghaft wahrnehmen und mi Worten belegen, ift ſchon früh und immer wieder, mandmal mit murnderbant Schärfe und Deutlicheit, außgefprochen worden; und ‚gerade in dem Kreifen wo man mit tieffter Sehnſucht nad; der Ruhe des Poſitiven lechzte mu darum unerfchroden und ehrlich war. Denn die Gefchichte ber Weltanfchaumgen, der Philofophien wie der Religionen, önnte in zwei Lager getheilt werben: auf ber einen Seite Solche, die ſich ſchnell bei etwas Poſitivem bermbigten: die Priefter und die Gründer philofophifcher Syſteme als Beſſere und tx Pfaffen und PHilofophieprofefforen als weniger Gute; auf der anderen Sen Solche, die leidenschaftlich nad; Ruhe begehrten, aber duch nichts beruhigt werden konnten: die Ketzer, Seltirer und Myſtiler. Es geht eine Linie, dir bei den Neuplatonitern ſicher nicht anfängt, aber doch zum erften Mal mı: Sicherheit fetzuftellen ift, die dann in Dionyſius Areopagita wohl im fünften Jahrhundert ihren erften Höhepunkt findet, in Scotus Erigena im neunten ihren zweiten, bie bann nachhaltig die Scholaftiter, Realiften und panpfg: Hiftifhen Selten des Mittelalters berührt, biß fie in Meifter Edharbt ihren dritten und höchſten Gipfel erreicht. Yon da geht die Linie langfam und verborgen, aber unverloren weiter über Picus de Mirandola, Molinos und Jalob Bochme zu Angelus Sileſius, der, wie der treffliche Gottfried Arnold

fo wunderhübfch fagt, „aus denen vornehmften myſtiſchen Theologis die summam ber geheimen Gotteögelahrtheit in nervoſen und nachdrücklichen epigrammatibus vorträgt“, der ſich aber zu Echardt verhält wie der

Jeſuitenſtil zur Gothik; ein deutlich erfennbarer Zweig geht dann nad) England

hinüber zu dem großen Berfeley, der freilich als echt engliſcher Kopf genialjte

Negation mit kraftlofeften Poſitivismus zu vereinigen wußte; die Linie ſcheint

mir bis in die Gegenwart zu reihen und in Johannes Wedde und vor Allem

Alfred Mombert in die Erſcheinung getreten zu fein. Sie Alle jind in der

Einfiht vereint, daß fie mit Berkeley zu ſprechen Sinne und Worte

als erroneous prineiples bezeichnen; fie machen demnach, wie Johannes

Wedde es außdrüdt, „Front gegen jede beftehende Religiongemeinfhaft (und

jedes wiſſenſchaftliche Syftem), denn jie Alle fordern die Anerkennung ges

wiffer Begriffe und Begriffsverbindungen als intellekiuell vichtiger. Es it

Die Welt als Beit. 267

aber unmöglich, daß ein Menfch Etwas richtig begreife.“ Sie jind ferner auch darin einig, unfere Sinnenwelt als etwas Bildmäßiges zu betrachten, und mühen fich Teidenfhaftlih, cine Welt „ohne Bilder und Zeichen" wie Mombert jagt zu fchaffen. Und drittens find jie darin ein’g, daß fie im Gegenfag mehr zu dem landläufigen materialiftifchen Pantheismus al3 zu Spinoza fpiritualiftifche Pantheiften find; da die Welt (oder Gott) nicht von augen her erkannt werden fan, muß jie von innen ber gejchaffen werden: durch Abkehr von Raum und Zeit, durch myſtiſche, nicht oder kaum auszufprechende Verſenkung follen außen die Dinge und innen das Ichgefühl aufhören, zu fein, Welt und Ich in Eins zerfließen.

Der Größte unter all diefen ketzeriſch myſtiſchen Skeptikern war unfer Meifter Edhardt, der mit gewaltigen Mitteln unternahm, wovon bei Spinoza nur Spuren zu finden find und was fünf Jahrhunderte fpäter dem Sant- ſchüler und Boehmeſproß Schelling nicht gelingen wollte: Pantheismus und kritiſche Erkenntnißtheorie in Harmonie zu bringen. Er wußte und hat es oft ausgeſprochen, daß man Gott, den Sinn der Welt, nicht erkennen könne, daß wir aber wiſſen, was er nicht iſt. Auch war es ſeine tiefe und bleibende Erkenntniß, dieſes Nichts, mit dem er eben ſo wie ſchon Dionyſius und Scotus Gott identifizirte, für ein unbekanntes Poſitives zu erklären, deſſen Attribute nur alle unſere Erſcheinungen ſammt unſerem Ich ſind. Dieſes Unbekannte glaubt er aus ſich heraus ſchaffen, myſtiſch darein verſinken und dann bildmäßig und in Gleichniſſen davon ſprechen zu können. Es war ihm ſicher, daß, was wir in uns ſelbſt als ſeeliſches Erleben finden, dem wahren Weſen der Welt näher ſtünde als die außen wahrgenommene Welt. Aber auch dieſes innere Erleben, wenn es ſchon den Raum abgethan hatte, geſchah doch noch in der Form der Zeit; und darum betrachtete er die Zeit als den ärgſten Feind Gottes. Zeitlos mußte man werden, damit Außenwelt und Ich zu Einem würden. Die Stellen, wo er von diefen inneren Exrlebniflen tteffter Art erzählt, gehören zum Crgreifendften, was es an Wortkunft über: haupt giebt. Selten hat Einer fo ſchön und wahrhaft um das Unaus⸗ ipredjliche_herumgeiprocden_t toie Disifieuicgardt. Aber hier Handelt €8 ſich nicht de darum, jondern um die Frage: ob es möglich ift, einen ſolchen über- natürlichen Zuftand, wo Welt und PVerfönlichkeit zugleich aufgehoben und vereinigt fei, in fih zu verfpären. Da wir felbit ganz ficher nicht nur äußere und innere Erfcheinung find, fondern aud zur Welt al8 Wahrheit, zur Welt, wie fie anders ift, gehören, läßt fich, wie ich zögernd fagen muß, diefe Möglichkeit nicht ohne Weiteres abmweifen. Daß Das, wovon uns die Myſtiker Bericht erftatten, nur Wortbild und Negation falfcher Annahmen ift, beweift nicht8 dagegen, daß fie Etwas erlebt haben, das ſich anders nicht fagen läßt. Auch die Erkenntniß, daß zum Beifpiel Meiſter Eckhardts Ent:

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968 Die Zukunft.

züden über feine tiefen Stunden und Berzüdungen dem pſychologiſch prüte den Lefer ſich als fein Staunen über die eigene Genialität herausſtellt, der er in nüchternen Stunden felbft nicht gemachfen war, ift no nicht durchſchlagend Und auch der Einwand, wir fönnten nichts fühlen oder im Bewußtſein haben, was nicht Zeit erfordere, beweift nichts, denn e8 handelt fich eben bei biefen Erlebniffen um Gefühltes und Seelifhes fo wenig wie um Materielles: auch Erlebniß ift natürlich ein gräßlich falſches Wort für etwas Zeitloie und darum auch Lebloſes. Dabei ift niemals ein Erlebniß fo ſtark um wahrhaft als Ungeheuerliches, Blendendes, Fortreißendes und Befeligende geichildert worden wie von den Myſtikern diefer benommene Traumzuſtand Ich Laffe dies Geheimnigoolle alfo dahingeftellt; nur muß hinzugefügt werben, daß die Erflärung des Zuftandes als irrige Deutung genialer Entrüdtheit Andere würden fagen: einer Frankhaften Berfaffung eben fo wohl mögfid ft. Und vor Allem: da diefer Verkehr zwifchen Welt und Individuum völlig ummittheilbar fein muß," kann er als folcher weder dem Gedächtuit bes Individuums noch irgend einer Erkenntniß angehören. Wäre ich dazıı genug Myſtiker, fo würde ich fagen, er gehöre wohl dem Weltbewußtfein an; aber folche Bilder darf fih ein armer Normaler nicht erlauben. Wenn es alfo Etwas diefer Art giebt, dann hat e8 feine eigene Sphäre und geht ums nicht da8 Geringfte an, fo lange wir es nicht mitgemacht haben. Es ift dam die felbe Sache wie mit dem Tod, von dem fchon Epilur gejagt Hat, daß er ung nicht angeht, und unferem Zuftand vor der Geburt oder eigentlich der Beugung. Nur geht e8 ung freilid mit unferer erften Kindheit genau fo; und doch wird kaum Einer leugnen wollen, daß fie zu feinem Erleben gehört. Wir find eben doch noch mehr als Gedächtniß und Bewußtſein; oder, das Selbe nicht negativ, fondern metaphoriſch ausgedrüädt: unſere Bewurßtfeine hinterlaffen nicht alle bleibende Spuren in dem Bewußtfeinstheil, den man Gedächtniß nennt. Körperlich freilih ift fauım mehr Etwas von Dem an una, was wir damals al3 Kind waren; nicht einmal die Zähne,

Ich habe gejagt, die Willenfhaft fei das Willen von Den, was nich if. Das liege fih an Beifpielen Mauthners weiter erläutern; ich erinnere an das Geſetz von der Trügheit oder der Erhaltung der Energie, deren Aus- fagen ja nur landläufige Irrthümer zurüdmweifen. Ich babe dann zweitens von dem Nichtwiffen in dem abgründlich pojitiven Sinn der Myſtik ge= ſprochen; für Den, der daran glaubt, muß Das die einzige Art von Religion fein, die ihm noch möglich ijt. Neben diefe Wiffenfchaft und diefe Religion tritt ein drittes Clement unjerer Weltanfhauung: die Kunft- Darunter verftehe ich hier die fymbolifche oder metaphorijche Ausbeutung ber Metaphern unferer Sinne und der Metaphern unferes inneren Bewußtſeins. Sie hat an die Stelle Deffen zu treten, was bisher die Wiffenfchaft Pofitives zu leiſten

Die Welt als Zeit. 969

wähnte. Nicht mehr abfolute Wahrheit können wir fuchen, feit wir erkannt haben, daß fich die Welt mit Worten und Abftraktionen nicht erobern läßt. Wohl aber drängt e8 uns, fo ſtark, daß kein Verzicht möglich ift, die man- nichfachen Bilder, die uns die Sinne zuführen, zu einem einheitlichen Welt- bild zu formen, an deſſen fombolifche Bedeutung wir zu glauben vermögen. Das aber ift Kunſt in diefem höchſten Sinn: ein zwingended Sinnbild der Welt. Wo immer wir in den Thaten der Wiſſenſchaft zwingend Bofitives antreffen, bei Kopernikus oder Laplace, bei Helmholg oder bei Hertz: wir dürfen wiſſen, daß es entweder nur verftedte Verneinungen find oder zwins gende Symbole, die irgendwann einmal von treffenderen Metaphern abgelöft werden. Yun der Wiſſenſchaft aljo findet man überall zerftreut die Bruch⸗ ftüde der Symbolik, die einmal an die Stelle des angeblich politiven Theils unferer abftralten Erkenntniß treten wird. Bevor es aber dazu kommt, bevor es möglich zu fein ſcheint, aus den Ergebniffen der wiſſenſchaftlichen Forſchung eine Weltgeftalt zu formen, feheint eine große Umnennung nöthig: der Berzicht auf eine uralte Metapher und ihr Erfag durch eine andere. Der Raum muß in Zeit verwandelt werden.

Selbft Mauthner ſpricht an einer Stelle, wo er von dem alten Gegen: fag von Leib und Seele redet, davon, er könne die Schwierigkeit nicht ein- fehen, die in der Borftellung Liegen folle, daß feine Bewegungen der Aufen- welt fich zunächft in Nervenbewegungen und dann in Das verwandeln, was wir Empfindung nennen. Diefe Stelle ift aber freilich vereinzelt und ihr ftehen andere bedeutfam gegenüber, in denen es heikt, wenn die Sprache Das ausdräden könnte, möchte er jagen, der Glodenton fei für bie Glocke ſelbſt feine Bewegung, fondern Etwas wie Empfindung. ch geftehe: mir giebt einzig und allein diefe keineswegs unausfprechbare Borftellung einen Sinn; der Gedanke, da braufen fer etwas Korperliches, das unab- hängig von meiner Wahrnehmung fo materiell da fei, und biefes Ding oder diefe Bewegung von Stofftheilchen „bewirkte Das, was mir von innen ber als Pſychiſches fo wohlbefannt ift: diefer Gedanke ift für mich völlig abfurd. Spinoza hat e8 fchon gefagt, wenn es auch durch die ftumpf gefchliffenen Brillen der Spinoziften meiften® nicht durchgegangen ift: die Welt kann phyſiſch vollfommen ausreichend erklärt werden und braucht das Piychifche gar nicht erjt zu bemühen: von den Wirkungen da draußen geht es ins Sinnesorgan, von da zu den Leitungbahnen der Nerven, von da zum Hirn, vielleicht von einer Partie zur anderen, vieleicht auch chemifchen Veränderungen unterzogen oder fonftwie behandelt, auf Arten, bie wir nicht fennen, und vom Hirn geht e8 wieder auf anderen Nervenbahnen hinaus in die Außenwelt als Altion; Alles rein materiell. Sp kann die Welt erklärt werden; aber Phyſiſches kann nur duch Phyſiſches erklärt werden: und Das, was innen

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270 Die Znukunft.

in uns, als unſer Allerbekannteſtes, vorgeht, iſt nach dieſer Weltmetapher nicht etwa eine Wirkung oder Etwas, das als Begleiterſcheinung nebenher geht, ſondern es iſt ganz und gar nicht vorhanden. Wir mußten, weil wir die Metapher „Ding“ oder „Materie“ oder „Außenwelt“ acceptirt haben, nothwendiger Weife an die Stelle unferer vertrauteften Innenvorgänge bie Metapher „Nerven“, „Gehirn“ u. f. w. fegen. So fteht die Sache und man kann, wenns Einem genügt, ftatt von inneren, pfochifchen Exlebnifien, von Gehirnvorgängen reden; wenn man aber meint, die Gehirnvorgänge feien die Urfache der Seelenerlebniffe, fo jcheint mir, da meine man en finn. Wie Spinoza erkannt hat: Phyſiſches kann mur duch Php

Pſychiſches nur durd werden; vermengt man bie —* Jereiche fo läßt man lich hie ſchaũ erfiaffeften 9 Üietepkgrssriwengungen der

Wippen zu Schulden fommen.

Ein Weltbild, dad zur Vorausfegung die Annahme hat, unfere inneren Erlebniffe feien nicht vorhanden, fcheint mir nur eine Unmöglichfeit für uns Menſchen. Wohlgemerkt: es ift bei diefem konſequenten Materialismus nicht anzunehmen, es handle fich bei Dem, was wir innen verfpüren, um cine Täuſchung; keineswegs! Denn auch „Täuſchung“ ift ja fo eine vertradte piochifche Angelegenheit; man muß vielmehr behaupten, diefe Erlebniffe feien gar nicht da; wenn Einer zum Beifpiel feinen Arm in die Höhe hebt, ge- fehehe nur, was davon zu fehen fei; und noch ein paar körperliche Vorgänge ähnlicher Art im Innern des Leibes; aber daß er felbft von diefer Aktion Etwas fpüre: Das gebe es nicht. Mir fcheint alfo ein folches Wegleugnen uns unmöglid. Die Wirklichkeit unferes Innenfeins ift uns unentreigbar. Es bleibt uns aber noch der andere Weg: Alles pfychifch zu erklären.“ Und Das ſcheint mir in der That geboten: was wir als Aeußeres wahrnehmen, muß uns etwas Pfychifches bedeuten. Wir müſſen die körperliche Welt als eine Metapher unferer Sinne betrachten lernen, die wir erft dann mit der Metapher unferes Ichgefühls zufammenreimen können, wenn wir eine Metapher zweiten Grades vornehmen: dieſe körperliche Außenwelt ift uns nur noch ein Symbol, ein Zeichen für Etwas, das gleicher Art ift mit unferem Seelenleben. Mauthner liebt es, die Zeit als die vierte Dimenfion der Wirklichkeit zu bezeichnen. Dahinter ftecht fehlieglich gar nichts Anderes als die Andeutung, die Zeit fei nur Etwas wie eine Eigenfchaft des Raumes. Wenn e8 ihm möglich. if, auch unferen inneren Beitinhalt, unſer Pfychifches rein als Raum hinzuftellen, dann ſoll und diefer konſequente Materialismus fehr willkommen fein; wir fünnen ihn brauchen, wenn auch nur, damit er ih ad absurdum führt. Aber ich glaube nicht, daß Mlauthner den Verfuch machen will; e3 ſcheinen mir nur Refte einer fchon faſt völlig Aberwmundenen Epoche der materialiftifchen Metapher zu fein. Der Verfuch, den er manch⸗

Die Welt als Zeit. 271

mal madt, das Gedächtniß als eine Art objektiven, ohne Bewußtfein funk—⸗ tionirenden mechaniſchen Apparates zu betrachten, gehört auch zu diefen An⸗ länfen. Diefer Erflärungverfuh mit Hilfe des objektiven Gebächtniffes wäre eine und ganz und gar ſinn- und bedeutunglofe Wörterzufammenftellung, wenn wir nicht unfer ſubjektives Gedächtniß hätten, da8 wir fo fehr gut fernen, ohne e8 im Geringfien erklären zu fünnen. Das Piychifche läßt fich eben nur dann durch Phyfifches „erklären“, ‘wenn man das Piychifche als befannt, als feiner weiteren Erklärung bedürftig vorausfegt. Dann aber thut die phyfifche Erklärung wundervolle Dienfte: als bedeutungvolle Sym- bofe für das Seelifche, das objektivirt und veräußert werden muß, um er⸗ fennbar zu fein. Mit der Ausfage, die Zeit fei die vierte Dimenfion des Raumes, vermag ich alfo zur Bezwingung und Geftaltung der Welt nicht3 anzufangen. Umgekehrt drüde ich8 aus: der Kaum mit Allem, was darin ift, iſt eine Eigenfchaft der Zeit. Nicht mit diefer veralteten DMietapher Eigenſchaft! ausgedrückt, fondern vorläufig negativ: es giebt feinen Raum; was uns räumlich beharrend erfcheint, ift eine zeitliche Veränderung; was ung im Raum bewegt erfcheint, find die wechfelnden Qualitäten zeitlicher Vorgänge. Der Einwand, unfere Sprache fei aber nun einmal von Haus aus materialiftifch, trifft ung auf diefer Stufe durchaus nicht und kann uns nicht abhalten, weiter zu fchreiten. Er fagt nicht? weiter, als daß die abſtrakten Begriffe, mit denen Volksglaube und Wiffenfchaft arbeiten, den Charakter des Sinnlihen nicht abftreifen fünnen. So daß zum Beifpiel Atom, Aether und folde Worte nichts weiter find als umvorftellbare Produfte räumlicher Borftellungen, uns aber niemals von den Sinneseindrüden befreien können. So lange man bie Worte wörtlich und die Mittheilungen der Sinne finnifh verſteht und fo lange man aus dem Sinnifchen und feinem Wortfchatten politive Wahrheit fchöpfen will, ift der Einwand richtig und wichtig, daß die Sprade uns nicht vom led bringen kann. Hier aber, auf diefer Stufe des Kunftwiffend und der bewußten ‘Metapher, ift ung alle Sprade nur ein Symbol de3 nicht weiter Auszufprechenden, des Unmateriellen. Diefen Dienſt hat die Sprache als Wortkunft fchon immer geleiftet. Nehmen wir ein Bei— fpiel aus Goethe, wie es ſich mir beim zufälligen Aufichlagen eines Bandes bietet: Wie Felſenabgrund mir zu Füßen Auf tiefem Abgrund lajtend ruht, Wie taufend Bäche ftrahlend fließen Zum graufen Sturz des Schaums der Fluth, Wie ſtrack, mit eignem kräftgem Triebe, Der Stamm ſich in die Lüfte trägt: So iſt es die allmächtge Liebe, Die Alles bildet, Alles hegt.

272 Die Zutunft.

Das, was und diefe Begriffe vermitteln, ift weder eine Abftrafim noch eine Außere Wahrnehmung: die Worte und Sinnenbilder find mm Metaphern für etwas Innerliches, das Goethe uns mitzutheilen veritit Ich meine nun: eben fo wie wir unfer Inneres auszudrücken verfichen Hilfe bildlicher Ausdrudsweife, eben fo gut Fönnen wir auch, um die Eis heitwelt zu formen, die wir brauchen, die Welt als etwas Pfychiſches dar ftellen, umter Benugung von Wörtern, bie freilich nur Aeußeres bedeuten aber das ſinniſch Ausgebrüdte und das ſinniſch Wahrgenommene foll un nur an Pſychiſches erinnern. Die Aufgabe für Den, der eim einheitliche

eltbild formen wil_if alle: das_Matrriele als_ctwas Pfychiidies d fielen. Bas heißt: glaubhaft zu zeigen, daß die Materie, daB augen Gr

ſchaute, nur eine metaphoriſche Darftellung, ein Sinnenbild oder Sinnfil ſeeliſchen Vorganges if. Wenn Das möglich fein foll, muß zwiſchen bei Außenbereichen und unferen Ichgefühlen eine Aehnlichkeit, ein Vergleichung punkt vorhanden fein. Das ift der Fall; und die mechaniftifche Wifer ſchaft Hat ung dieſes tertium comparationis nahe genug gebracht: ich mei

die Zahl. Dis 7 zum Seelsufliehen. nou-Den-Sefkchtöfprece zur Berfil;"von-bes-Seltaniches

ung zur Wellbehohumg ver-Brg-zu-einerueuen, Disiopier. Schon Berkefey hat gewußt, daß Alles, was wir fehen, nur die Spradt |

von etwas Pſychiſchem ift, alfo nur ein unzutreffendes Bild des Wirkfuher | in fremdem Material giebt; feine befte Erkenntniß hat ihm feine Chrifter fprache verhungt, aber deutlich genug hat er trogdem von dem visual lan- guage geſprochen. Und Lazarus Geiger hat wiederum entdedt, daß alle dir Begriffe, die unfere Weltanfhauung bilden helfen, auf das Sehen zurückgehen Alfo, füge ich Hinzu, auf den Raum; denn die Raumhypotheſe ift, wie ih | zeigen will, nur auf da8 Auge, nicht, wie man meift annimmt, auf eine Kombination von Sehen und Taften zurädzuführen. Nicht die drei Dimen: | fionen find das Charafteriftifhe für die Hypotheſe des Raumes, fondern die Unnahme eines Aeußeren, Dinghaften, Bleibenden, das micht zu uns gehört, das nicht bei uns, nicht unfer ift. Ohne Dijtanz, ohne Entfernung, ohne Trennung durch ſcheinbar Unausgefülltes wäre man niemals darauf gekommen, | Etwas wie Raum oder Ding anzunehmen. Unfere Sprache ift ſubſtantiviſch und objeftivifch, weil ſchon unfer Auge ähnlich angelegt ift; die Diftanz zwifchen und und dem Erfchauten, das nicht an ung rührt, da8 nicht unfer Leben, fondern unfere Fremde ift, hat die Kluft geſchaffen, die zwiſchen Welt und Ich gähnt. Dan ftelle ſich einmal vor, e8 habe nie Gejichtävorftellungen gegeben, niemals Licht ober Farbe oder gefehene Geftaltung, und dann gleite man, während die Ungen geſchloſſen find, mit den Fingerfpigen dem nächſten Gegenfland ent! ng diefem Stuhl oder diefem Tifch; ich behaupte: was ich da fühle, if mim ers

Die Welt als Zeit. 273

mehr ein harter Gegenftand da draußen ich Fenne Fein Draußen und habe nicht die geringfte Veranlafjung, e8 anzunehmen —, fondern nur eine in der. Zeit vorgehende Veränderung meiner ſelbſt. Meine Fingerfpigen werden fo merkwürdig verändert; Das fühle ich; da wir diefe Taſtſprache nicht aus— gebildet haben, will ich mich unferer Ausdrütde bedienen umd fage: meine Fingerfpigen werden hart; und inzmifchen find jie gefchweift und glatt (Form und Oberfläche des Stuhles) und nun ift wieder dad Alte (dev Stuhl hat aufgehört) und jest ſind die Finger ſcharf (die Schreibtifchlante) und nun werben fie naß und falt (ih bin ins Tintenfaß gefommen). Selbitverftändlich tönnten diefe Abftufungen, Grad- und Dualitätunterfchiede noch viel feiner und fpezifizirter ausgedrüdt werden, wenn die Menſchen biß heute das Intereſſe gehabt hätten, darauf zu achten. Aber jedenfalls habe ich nicht die geringfte Veranlaffung, beim Taſten mir ein Außen zu denken, da ich ja nur Etwas fühle, das bei mir, an mir, zu mir gehörig ift. Sch fühle nur, baß in der Zeit fortwährend Veränderungen mit mir vorgehen. Alles

aljo, was ich, tafte, ſind zeitliche Quali Qualitätunterſchiede, aber feine Spur non

Raum bietet fh-s-ter. Während es mir aljo unmöglich ift, wie ich

zeigte, von der Zeit und meinen Schgefühlen abzufehen, kann ih vom Zaftfinn aus fehr wohl das Urtheil abgeben, das für die Erklärung des Pſychiſchen duch Pſychiſches nothwendig ift: Es giebt feinen Raum. Und genau fo fteht e8 mit dem Qemperaturfinn, mit den Schmerzenfinn und den übrigen Abarten des Taftjinnes, genau fo fteht e8 auch mit dem Gehör, dem Geruch), dem Gefhmad und Allen, was wir leiblich verfpüren: überall find es lokale Vorgänge, wenn ich e8 vom Gefiht aus erfläre, find es Zeitveränderungen an mir, wenn ich vom Geſicht abjehe. Hätten wir feine Auge. in, wäre der Unterſchied zwiſchen ber Welt und mir niemal® entftanden, wäre man niemal® auf bie verrüdte Idee gefonmei,zrttefenn ib hier zwar Ich zu fagen, aber ja nicht zu diefem Buch oder diefem Tiſch oder diefer Frau. Und wäre, al8 das Auge entitand, Zelegraphie und Zelephonie ohne Draht ſchon eine vertraute Sache gewejen, jo hätte man aus der Diftanz wohl auch nicht auf eine AnderSartigkeit des Gefchauten geſchloſſen, fondern gejagt: Wie bin ich gewachfen! Wie breitet ſich auf einmal eine Sprache vor mir aus, für ganz neue, fonderbar are Gefühle, die ich bisher kaum im Dunkeln geahnt! Nein: man hätte gar nichtS gejagt, man hätte gefchaut und hätte Das als die neue Sprache empfunden. Denn e8 tuäre nichts Getrenntes, er ann mar hätte ja die Eleltrizität oder bad Licht _ Tais ſein eigen empfunden. Jetzt aber hTit Rerzeuub- gang weit- hinten wo id nit rtffein Sing“ Dieſes Nichts iſt der Raum. men Derrtertmben. gefagt, "Kaum und Beit jeien unfere eigenen

Anihanungformen. Und wir haben es dahingeftellt fein laſſen und haben

974 Die Zukunft.

nicht8 damit anfangen können. Anders wird e8, wenn man diefe Ausſoge - auseinander reißt. Die Zeit iſt nicht nur die Form unferer Anſchauung, fondern auch die Form unferer Fchgefühle, alfo ift jie für und wirklich, für das’ Weltbild, das wir von uns aus formen müflen. Die Zeit ift wirklich, gerade weil fie fubjektiv ifl. Der Raum aber ift eine Anſchauungform; umjere Subjektivität braucht ihn nicht zur Deutung des Eigenen, fondern nur als Bebeutung für das immer noch fremd Gebliebene. Ber Raum iſt unwirflich, aidht Das, was er feheint, obwohl er fubjektiv ift: er fcheint objeltiv. Die Entdeung, daß es nichts Räumliches, nichts Dingliches giebt, ift Etwas, dad uns mal in Fleiſch und Blut übergehen muß. wie die Entdedungen des Kopernifus. Wir müffen das Fremde zu unferem Eigenen machen, den Raum in Beit verwandeln, die Ertenjität der äußeren Dinge muß uns ein Bild fein ‚für die Intenfität unferer Ichgefühle. Ich bin nicht nur dieſes Hirm, nicht nur diefer Organismus, ich bin auch mer Geſchautes. Dies nicht um der Wonnefäligleit oder der Berzüdung willen denn die Welt wird wahrhaftig nicht ſchöner und nicht edler, wenn ich jie bin (Dies für pan- pſychiſtiſche Pfaffen) —, ſondern um des Sinnbildes der Wahrheit willen, das mir einzig noch möglich ſcheint.

Natürlich handelt es ſich mir hier nicht um ſolche dem Volksglauben angehörende Begriffe wie Seele, Ich und Dergleichen; ſie müſſen nur mit Vorbehalt angewandt werden, fo lange unſere Aufmerkſamkeit noch jo kläglich wenig auf die unendlich differenzirten Qualitäten und Intenfitäten der Zeit gerichtet worden ift, fo lange wir die neue Sprache noch nicht haben. Wie wir ein Ding mit Eigenschaften, eine Vielheit um etwas DBleibendes herum, in die Außenwelt verjegt haben, fo erfcheint uns auch unfer Jchleben als eine Bielheit von Individualitäten, die jih um den trotz ewiger Beineg- fichfeit feit fcheinenden Kern der Perfon umd Ueberperfon, des Gebächtnifies und Uebergedächtniffeß gruppiren. Für diefe Vielheit der Perjonen in Einem hat Kant ein Fühnes und myſtiſches Bild gefunden; er fagt: „Eine elaftijche Kugel, die auf eine gleiche in grader Richtung jtößt, theilt biefer ihre ganze Bewegung, mithin ihren ganzen Zuſtand (werın man bloß auf die Stellen im Raume fieht) mit. Nehmet nun, nad der Analogie mit dergleichen Körpern, Subjtanzen an, deren die eine der anderen Vorſtellungen, fanımt deren Bewußtſein, einflößete, jo wird jich eine ganze Reihe derfelben denken laffen, deren die erfte ihren Zuftand ſammt defien Bewußtſein der zweiten, biefe ihren eigenen Zuftand fammt dem der vorigen Subſtanz ber britten und dieje eben fo die Zuftände aller vorigen fammt ihrem eigenen und deren Bewußtſein mittheilete. Die legte Eubftanz würde alfo aller Zuftände der vor ihr veränderten Subſtanzen ſich als ihrer eigenen bewußt fein, weil jene zufammt dem Bewußtſein in fie übertragen worden, und Den unerachtet würde fie doch nicht eben die felbe Perſon in allen diefen Zuftänden gewefen fein.“

Die Welt als Zeit. 275

Diefe Stelle ift ein Verſuch, das Prinzip der Vererbung auf das Verhältniß der einzelnen differenzirten Individuen innerhalb eines Individuums anzuwenden. Sie ladet aber auch ein, die Einheit Deſſen, was Ich zu einem Stüf Welt fagt, noch mehr zu erweitern: wenn das Sch eine Unzahl von Individuen (Zellen) in einem Herrſchaftſyſtem vereinigt, dann fehe ich nicht ein, warum nur die Melttheile zu mir gehören follen, die ih mit Mund und Lunge in mich aufgenommen habe, und nicht eben fo gut die anderen, die mich fonft irgendwie berühren. Die Welt wird fo aufgefaßt als eine unendlich komplizirte Kreuzung piychifcher Herrichaftfyfteme. Bor dieſer Komplizirtheit jich zu fehenen, liegt gar feine Beranlaffung vor; darum erfcheinen ung ale MWeltanfchauungen fo Häglich, weil fie mit Hilfe von Abſtraktionen, die immer tugendhafter wurden, je verblafener fie waren, ver- fuchten, die Welt auf eine einfache, möglichft moralifche Formel zu bringen. Die Welt ift nicht einfach; und wir haben feinen Grund, uns nor mikroſkopiſchem Detail zu fürchten. So fehr die Naturwilfenfchaft und Mechanik ins Detail gegangen ift, fo fehr muß es die fombolifche Auslegung diefer materiellen Sinnbilder, die jene Wiffenfchaften uns verichafft haben, thun. “Die Geiftes- willenfchaiten haben lange genug um ein paar armfälige fchönrebnerifche Hohlheiten ſich herumgedrückt.

In der Naturwiſſenſchaſt hat man ſich ſeit Jahrtauſenden bemüht, alle Vorgänge, phyſiologiſche und chemiſche, Licht, Farbe, Wärme, Elektrizität, auf die Mechanik zurückzuführen. Das heißt: auf die Bewegung winziger Stoff⸗ theilchen, die eigentlich gar nicht mehr differenzirt waren und gar nichts Stoffliches mehr an ſich hatten. Man wollte Alles auf die Bewegung eines Einheitlichen zurücführen, deſſen einzige Eigenſchaft eigentlich die Bewegung war Warum man Das wollte, warum man nicht, was man ohne Zweifel eben fo gut hätte verfuchen können, etwn alle Bewegung dur Wärmegrade ausdrüden. wollte oder üherhaupt irgend eine andere beſtinimte Sinnesenergie als Map aller Dinge angenommen hat, darüber wollte man ich nie Klarheit verschaffen. Und doch fcheint mir der verborgene Grund ganz einleuchtend: man wollte das Qualitative aus der Welt fchaffen und e8 durch Quantitatives erjegen; die felundären Kigenfchaften follten durch prinräre erſetzt werben. Schon Kant ſpottet über die Mechanifer, die immer empirifch bleiben wollen und die doch zu Beginn ihrer Forſchung die „metaphyſiſche Vorausſetzung“ maden, daR das Reale im Raum fi nur der ertenfiven Größe nad) unter: fcheiden fünne. Das Beftreben der Mechaniker ift, die Welt feelenlos, farbenlos, duftlos, Hanglos zu machen. Es follten nur reine Raumpverhätt- nie übrig bleiben, die al das Wirre, Einnengemäße erklärten. So find fie dazu gekommen, die Welt in benannten Zahlenverhältniffen auszuſprechen, deren Name feine Rolle mehr fpielt. Sie haben die Welt auf die Zahl ges bradt; und wo fie noch nicht fo weit find, find tie doch auf beiten Wege.

276 Die Zunft.

Die Zahl aber ift nicht nur das Maß des Raumes, fondern aud de Beit, nicht nur ber abftraft gefchauten Bewegungen, fondern auch ber Futentiik all unferer Sinnesenergien, nicht nur des materiellen Draußen, fondern aus des piychifchen Innern. Die Aufgabe Derer, bie an dem Weltbild forma wollen, jcheint mir zu fein: mit Hilfe der Ergebniffe der mechaniſtiſche⸗ Wiſſenſchaft richtige Zahlenverhältniffe für das Intenſive uid das Syſten bes pfychiichen Fließens zu finden. An die Stelle der Dinglichfeit, der Kaufalität, der Materie hat die Iutenfität, das Fließen, die Pſyche zu treten: an die Stelle des Raumes die Zeit. Räumliche Duantitäten jind nur bilk liche Verhältnifzahlen für die unendlich differenzirten Qualitäten der Zeit") So gewinnt Schopenhauers Einſicht, daß die Mufil die Welt noch einmsl ift, einen neuen Sinn: fie ift einer der VBerfuche des Kunſtwiſſens, der Welt⸗ verinnerlihung, mit Hilfe qualitativ getönter Zahlenverhältniffe ein Bild der Welt als Pfyche zu geben, eine Sprade zu ſchaffen für das Reich de Intenfitäten. Das Auge, der Raumſinn hat und zu den Abitraftionen de Ertenfiven gebracht, bi8 wir merkten, daß wir unfer Inneres nicht auf Raum formeln bringen können; vielleicht Tann uns das Gehör, der Zeitſinn, de Traum und Klangbilder geben, deren wir bedürfen, um bie Symbole, die wir als Außenwelt jchauen, in zeitlichen Verlauf zu verwandeln. Wenn wir fo Raum und Materie nur als ein Sinnbild für intenjive Vorgänge in dr Zeit auffaffen, als eine Sinnestänfhung, die wir umdeuten müſſen, dam füllen wir etwa den Abgrund aus, der bisher unfer inneres Dafein und unfere Außenwelt getrennt hat. Wir hören dann auf, unfer Innenleben als Räthſel und die Raummelt al8 Gefpenft zu betrachten: Beides geht dann auf im einen unendlich mannichfachen feelifchen Zeitenftrom, deſſen geheimnißvolle fraufe Berfchlingungen wir mit Hilfe der Metaphern unferer Einne noch zu erforfchen haben. Die Wahrheit jenfeitS unferes Eigenen kümmert uns nicht, weil wir wiffen, daß wir nicht3 davon erfennen; das Fremde aber, das wir bisher als Außenwelt liegen Tiefen, müſſen wir in unfer Eigenes verwandeln. Vielleicht fommen wir auf diefem Wege, durch die Schärfung und Berfeinerung al unferer Intenlitäten, auch zu neuen Sinnen, zu neuen Bildern, von denen wir heute noch feine Ahnung haben.

Bromley. Guſtav Landauer.

*) Nachträglich finde ich in dem jüngſt aus Nietzſches Nachlaß herausgegebenen „Willen zur Macht“ den folgenden beſtätigenden Satz: „Der mechaniſtiſche Begriff der Bewegung iſt bereits eine Ueberſetzung des Originalvorgangs in die Zeichen⸗ ſprache von Auge und Getaſt“. Ueberhaupt deckt ſich die Verwandlung des Seins in Werden, die Nietzſche in dieſem Hauptwerk vorſchlägt, ſo ziemlich mit meiner Meinung von der Verwandlung des Raumes in Zeit.

Blumenträume.

Blumenträume. | BR rm mit mir in die filberne Srühlingsnadt,

° Mein £ieb, fomm mit mir hinaus; Aus dent Schlaf find die Rofen und Kilien erwacht Und fchimmern von Perlen des Thaus; Wir gaufeln über die Wege fact, Auf Slügeln über die flammende Pradtt, Don Blüthen zu Blüthenftrauß. |

Komm mit in den webenden Glanz hinein, Mein Kieb, in den wogenden Duft;

Die weißen $loden wallen und fchnein, Hörft Du, wies fchmeichelnd ruft?

Die Seele voll fügen Träumerein,

Mein Lieb, wir wollen wie Blumen fein, Fitternd in Frühlingsluft.

Die Roſe öffnet die Blüthe weit.

Biſt Dus, mein Kieb, die fie rief? Gieb mir die Hand, dag wir zu weit Sinfen hinunter tief.

Die Wände in rofiger Herrlichkeit

Und Kerzenglanz und das Lager bereit, Darin die Königin ſchlief.

Auf leifem Fuß Du geglitten bift

Un das Bett, wo die Königin träumt;

Du haft ihr Köpfchen in füßer Kift

Mit weißen Armen umfäumt;

Sie hat Did im Traum auf die Wangen gefüßt Und Dein Antlit zur Rofe geworden ift,

Don dunfler Gluth überfchäumt.

Kun tauch in den Kelch der Kilie hinein, Mein Lieb, in den weißen Schoß;

Da ftehen die Säulen in fchimmernden Keihn, Du reißt den Bli nicht los;

277

278

Die Zulkunft.

Auf dem Thron von blendendem Marmorftein Da ruht die Elfe im Mondenfchein, Die Augen ftill und groß.

Und mit weißer, feierlicher Hand

Bat fie Dich, mein Kieb, berührt;

Du haft Dich fchauernd emporgewandt, Da den Haudh Du vom Kidht gefpürt; Auf Deiner Stirn wie ein aoldnes Band Kiegt nun der Glanz aus Kilienland Der nimmer ſich verliert.

Mein Kieb, nun komm an den dunflen Teich, Wo die Wafferrofe ruht;

Laß uns wehen auf Lüften, füß und weid,,

Ueber die wellende Fluth,

Binein in der Blume magifches Reich,

Wo in fremden Flammen, irr und bleich, - Sladert die Märchengluth.

Wie auf filbernen Schwingen der Schmetterling,

So wiegft Du Di über dent Schaum;

Wie der Falter an ſchimmernden Kelchen hing,

So ſchwebſt Du am Blüthenfaum;

Und der Traun, den mein Lieb von der Blunte empfing, Der liest nun am Grund wie ein funfelnder Ring,

Tief in des Herzens Raum.

Nun komm, mein Kieb, in die Nacht zurüd, Wo die Rofen im Winde wehn, Den zaubrifhen Traum im leuchtenden Blick, Und das Haupt wie Lilien ſchön

In unfern Herzen das Miärchenglüd,

Mein füßes Lieb, das fonnige Glück,

Das Pann nicht untergehi.

Hamburg. Theodor Sufe.

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Der verehrte Dichter. 279

Der verehrte Dichter.

Sr thut nicht gut, wenn ein Scriftiteller viele Verehrer hat; es thut nicht gut! Nur den Sumpfpflanzen fchadet Lleberfluß an Feuchtigkeit nicht; den Eichen ift fie nur mit Maßen zuträglid. Ich erzähle bier von einem Burſchen aus dem Schriftitelleritande, der auf dem Wege zu feinem Biel um- erwarteter Weije in den Moraft der Popularität gerieth, erzähle davon, wie lächerlih und ungefchielt er ſich benahm, als er fih mit dem Schlamm des Lobes wollgefogen hatte, und was mit ihm gejchad, als ihm der Kopf durch die nebligen Dunitwolfen des Ruhmes vergualmt worden war. Der Burſche war einfältig, aber nicht ganz dumm, und er unterjchied fi von feinen Kameraden im Gewerbe badurdh, daß er aufrichtig war und darum fich felbft jeden Tag wiberijprad. Er lebte in einem Lande, deilen Literatur einen Weltruf genoß; und als er auf bie eriten Anzeichen der Popularität zu ftoßen begann, nahm er fie mit Unwillen auf und dachte: Sonderbar ... In die Pofaune ſtößt man, und fie hören nicht; ein Rohrpfeifchen bläft, und fie freuen fi... . Der Burfch war nicht befcheiden, burchaus nicht! Uber er Tannte feinen Werth. Das war bie Sade ... Und dann wußte er auch, daß es in feinem Heimathlande fein Volt giebt, jondern nur ein Publikum, und daß es namentlich das Publikum iſt,

‘das literariiche und andere Berühmtheiten erjchafft, während das Volt feinen

Trott geht, die Schriftfteller gering ſchätzt, an Zauberer glaubt, fein Leben lang nur arbeitet, aber troßdem immer Hunger leidet und jeden beliebigen Augen⸗ blid bereit ift, die ganze Literatur mitfammt al den anderen vom Publikum geliebten Künjten für einen Sad Mehl einzutaufchen. Aber obglei mein Burſche dies Alles genau wußte, war er doch nur ein Menſch; und außerdem find alle Schriftſteller und fogar die Philofophen mehr oder weniger befchräntte Leute. Er fing an, zu fühlen, daß die hartnädige Aufmerkſamkeit, die das Publikum feinen Büchern zeigte, ihm angenehm fei. Er befam von den Leſern fchmeichelbafte Briefe. Ein Lefer jchrieb: „Talentvoller“ ... Der andere jebte ſchwarz auf Weiß bin: „Hoczuverehrenber" ... zyrgend eine Leferin ſchrieb einfach, aber kräftig: „Danfe, mein Seelen!" Ganz, als habe der Dichter ihr Seide zu einem Jäckchen geſchenkt. Und ein Srämer, ber mit Büchern ban- delte, jhidte einen Brief folgenden Anhalts: „Seehrter Herr! Herr Schriftiteller ! indem ich anfing, mich zu intereffiren, warum, daß das Publikum fo kräftig Ihre hochzuverehrenden Bücher Taufe, habe ich diejelben burchgelejen und aus mir ergofjen ſich die nachfolgenden Verſe:

Wie Lilien im Sumpf,

In meiner müden Seele

Blühten Bifionen und Träume

Bon einem Leben ohne Hinderniß.

Sie blühten, aber fchüchtern,

Blühten und verwelften

Und verfaulten im Schlamm des Herzens

Und e3 roch fehr häßlich ...

Aber Du drangft mir ins Herz,

280 Die Zukunft.

Mit Deinen heißen Worten,

Wie mit Funken überftreuteit

Das Dunfel meiner Seele Du

Und ich entflammte in Leibenjchaft;

Sch wurde unfinnig kühn

Und jegt rieche ich ftolz

Wie ein angejengtes Schwein... . | In aufrichtiger Hochachenz

Sila Korigdunm!

Und viele andere füße Zeichen der Aufmerkſamkeit erhielt mein Scr# fteller vom Publifum. Und der Teufel, der treue Begleiter des Schriftftelr flüfterte ipm ein: Genir' Dich nicht, Närrhen; Du Haft Dirs verdient, d genir' Dich nicht! Du biſt jeßt dem Publikum, was eine junge Geliebte em entlräfteten Greis if. Und fo ftelle Dich auch nicht befcheiden, benn „? Karauſche Tiebt es, in Sahne gekocht zu werben“, und der Dichter, dab ue ihn in Weihrauch räudere. Ha ha ha! ...

Und fo fing mein Bürſchchen langſam an, dem in ihn verliebten Publ unter die Augen zu treten. Er fieht: fie Hatjchen in die Hände. Und a’ gann, ſich an dieſes Geräuſch zu gewöhnen, wie der Trunfenbold an den Schur und es wurde ihm langweilig, ohne dieſes Händeklatſchen zu Leben; aber ? gleich fing der Burfche an, fich Hinreißen zu laſſen.

Alſo eines Tages umringte ihn an einem belebten Ort ein D8 Publikum, drüdte ihn an die Wand, klatſchte in die Hände und ſchrie: Bra-M- Bra—voo!... . Und er ftand vor der Menge, gerührt lächelnd, und ihm w fo füß zu Muth, als ob man ihn in Sirup gejotten Hätte. Zum erften I fah er das Publikum in der Nähe... . Und plötzlich wurbe ihm unbehagk davor, jogar bang ward ihm; ob man ihm nicht nächſtens unter dem As tigen würde? Durch feinen Kopf ſchwirrten allerlei unfinnige Gedanten. 5 ihien ihm, daß Jeder in der Dienge, der ihn anſchaute, in Gebanten ſen Ohren mit den Ohren des Schriftſtellers vergleiche, un genau feſtzuſtellen, m länger feien. Und mein Bürſchchen fühlt, daß feine Ohren wuchjen, wudi® gigantilchen Umfang erreichten. Aber das Publikum fteht und [chreit: Bra-voo-t- Da entzündete ſich in der Seele meines Helden ein unheilvoller Zweifel an d Freiheit feines Sch und er dachte: „Sie betrachten mich als ihr Eigentgum oo werden fogleich anfangen, mit mir zu ſpielen, wie mit einem Ball.“ Der Zeit aber ftand neben ihm und lachte tückiſch: „Haha! Schau nur, ſchau!“ Er [der hin, mein armer Burſch, und ficht: die Menge ift von Zehn auf Hundert 8 wachſen und Alle Elatjchen in die Hände. In ihrer Mitte ftehen die woh erzogenen Nachkommen des Judas Iſchariot, des Ignatius Kramol und ads Chriſtusverſchacherer; fie ftehen fejt und Elatijhen ihm zu. Die Augen de Publikums bohrten ſich wie tauſend Nadeln in die Bruſt meines Helden. ſchaute in Verwirrung auf die Menge und ſah: alle die Geſichter verſchmolze in ein einziges ungeheures, düfteres, knechtiſches Geficht, das hatte Leine Aug Sondern nur zwei trübe Flecke an deren Stelle; und die Nafe in dieſem Geiet mar lang, wie der Rüſſel des Elefanten. |

3

Der verehrte Dichter. 281

„Schau, jagte der Teufel, boshaft Kichernd, „ieine Führer haben ihm eine lange Naje gemacht, aber fie haben fein Teuer entzündet in feinem Herzen und fo ift es blind! Und fieh bin, was für eine Zunge e8 hat, fieh nur!“

Vor den Augen meines Helden bewegten fi ungeheuer große finnliche Lippen über einer tiefen, ſchwarzen Höhle; in der Tiefe diefer Höhle drehte fich irgend ein glitfchiger, Furzer, dider Balken und mit Geftant brach es hervor: „Bra—vo!“ Der Scriftiteller ſchloß vor Furcht die Augen; er fühlte, daß man ihn irgendwo einjauge. Aber als er fie wieder öffnete, ftanden vor ihm Menjchen;

bie allergewöhnlichiten Menjchen ftanden vor ihm wie eine dicke Mauer, ihre Geſichter lächelten, die Augen blitten mit dem Vergnügen von Kindern, die ein

neues Spielzeug erblict haben, und Alles um ihn herum war einfach und ge- wöhnlih. Bor biefem Lächeln und dieſen freundlichen Augen wurde dem Dichter warm zu Muth, die Furcht ſchmolz in jeinem Herzen unb er wünfchte, dem Publikum Etwas zu fagen, fo etwas recht Herzlihes. Er athmete, fo tief er konnte, und ſprach, die Hand auf das erjchredte Herz drüdenb:

„Meine Herren!“

„Bravo!“

„Tß! Stil! Er will fpredden.“

„Deine Herren! Ihre Aufmerkjamkeit figelt angenehm mein Herz. Ich, ſcheint mir, verjtehe Sie. Als ih Mein war und Militärmuſik hörte, pflegte ich hinter ihr herzulaufen; und mich unterhielt nicht fo jehr die Muſik felbft wie der Soldat, der die große Trompete blies und babei die Baden blähte... Sch danke Ihnen, meine Herren!“

„Bra— voo 00!” ſchrie das Publikum.

„Wir lieben Sie!“ ſagte Jemand laut.

„Danke!“ ſagte der Dichter gerührt und bewegt.

„Bra voo!“

„Meine Herren! Laßt uns offen mit einander reden!“

„Bravo!“

Der Teufel, der Hinter dem Schriftſteller ſtand, lächelte... Schlaukopf!

„Sch, meine Herren, glaube an bie Aufrichtigleit Ihres Verhalten gegen mich. Aber sur jchwer verjtehe ich, wodurch ich ſolches warme Gefühl bei Ihnen hervorgerufen babe. Manchmal, willen Sie, kommt es mir vor, als liebten Sie

mich, weil ich feinen Ueberrod trage und in meinen Erzählungen oft unanjtändige

Wörter gebrauche. Und manchmal denke ich, daß, wenn ich mir einübte, lyriſche Gedichte mit dein linken Hinterfuß zu fchreiben, Sie ſich neg wärmer, mit noch größerer Aufmerkſamkeit gegen mich benehmen würden .

„Bra voo!“ jchnatterte das Publikum.

„Und, ſehen Sie, mir ſcheint, als ſeien Sie nicht wirkliche Leſer, ſondern einfach Verehrer. Der Leſer weiß, daß wichtig nicht der Menſch, ſondern der Geiſt des Menſchen iſt, und er guckt den Schriftſteller nicht an wie das Kalb mit zwei Köpfen. Er lieſt ihn, aber er glaubt ihm nicht blind. Er denkt ſelbſt über das Buch nach: ‚Diejes iſt fo, aber Jenes iſt nicht jo.‘ Und wenn er nachgedacht hat, Schafft er etwas Gutes und dann wird diefes Gute ‚Geidhichte genannt. Ihr aber, meine Herren, fchafft nicht Geichichte, Tondern Skandal» geihichten... Und wirkliche Lefer find gar felten auf der Welt, von Eurer

282 Die Zukunft.

Sorte aber viele. Auf mein Gewiffen: id muß Eud jagen, dab id lem Sympathie und nod) weniger Achtung für Euch empfinde. Die Kameraden haben mir gelagt, daß man das Bublifum achten mülle, aber Niemand fonnte erflärrs, weshalb. Wie denken Sie? Weshalb jollte man Sie achten?“

Der Schriftfteller jchivieg und fah fragend auf das Publifum. Dei ſchwieg aud) und ſchien etwag verbüftert. Won irgendwo her wehte ein falter Wind

„Seht Ihr wohl”, jagte nad) langem Schweigen janft der Dichter, „and hr felbft jeid nicht einmal im Stande, herauszufinden, weshalb man Erd wohl achten jollte.‘‘

Irgend ein rothhaariger Menſch riß ben Mund auf und jagte im Boß: „Wir find Menfchen...

„Nun, find dem Viele uuter Euch wirklide Menſchen? Unter Tauſem wird man vielleicht Fünf finden, die leidenjchaftlich glauben, daß der Menſch der Herrſcher und Schöpfer bes Lebens fei und daß fein Recht, frei zu denfen, za fprechen, zu gehen, ein heiliges Hecht fei; möglich, baf Fünf von Taufend jogar fähig find, für diefes Recht zu kämpfen und furdtlos im Kampf dafür unter zugehen. Die Meiften von Euch find Sflaven des Lebens oder deſſen freche Herren. Und Ihr Alle feid zahme Bürger, die mitunter bie Pflichten wirklicher Menſchen erfüllen. Das, was in Euch menſchlich iſt, gehört in ben Bereich der Boologie; ich ſchaue Hier in Eure trüben und Ängftlichen Augen und mit Schreden fehe ih, wie Wenige unter Euch tapfer, wie Wenige ehrlih find. Arm ik mein Land an ftarfen Menſchen; und doch ift wieder .die Zeit gefommen, mo es eines Helden bedarf.”

Etwa zwanzig Leute aus dem Publikum drehten dem Redner den Rüden und gingen ab. Er aber fuhr fort: ‚Ein guter, lebendiger Menſch wird immer nad Etwas ftreben, Etwas fuchen; Ihr aber lebt ftill, zahın, unbeweglich, wie Euch befohlen wird. Das Leben iſt Euch ſchwer, zum Denken feid Ihr zu faul und habt Angft, Euch zu bewegen. Rings um Euch ftarren, wie die Wichtig feiten auf dem Börtchen im Empfangszimmer der Cocotte, die morſchen Tradi tionen und verſchiedenen VBorjchriften, die verteufelt wenig taugen. Das WUllez hindert Euch, frei die Hände zu bewegen, aber all diefe Dinge find für Eud fleine Sößen und Ihr wagt nicht, fie zu vernichten, obgleid) fie Euch wie Feſſeln drüden. Und wenn der Wind vom Feld Her in die muffige Luft Eurer Höhlen frifche Düfte hineinweht, jo ſchließt Ihr, einen Herzichlag befürdtend, alle Luft: Lappen. Unruhe liebt Ihr nicht, Unruhe erjchredt Euch. Aber Ahr müßt irgend Etwas zum Sprechen Haben, Ihr braucht was, um Eure Bäfte zu unter halten; wie die Bettler auf der Kirchentreppe, ftredt Ihr die Hände nach der Literatur aus, um von ihr Etwas zur Zerſtreuung zu erwiſchen. Die Literatur ift für Euch das fcharfe Gewürz in der Fadheit Eures bämmerigen Lebens. Euch gefällt e3, wern man mit Blut und Galle ſchreibt; aber es gefällt Euch eben nur. Und weder Liebe noch Haß wedt die Literatur in Eurer Bruſt, nichts, außer Beifallsgejchrei oder Schmähungen. hr feid nicht Menſchen, Ahr jeid Zuſchauer, Publikum. Nicht ein Bittern würde dur das Leben gehen, wenn Ihr Alle auf einmal daraus entjchwändet, wenn Ihr auf einmal in die Erde verfänfet; nichts würde fi) auf der Erde ändern. hr feid Stoifer, weil Ihr Sklaven feid. Man ſchlägt Euch: Ihr ſchweigt; man beleidigt Euch: Ihr lächelt.

Der verehrte Dichter. 283

Euch können höchſtens noch Eure Frauen ärgern, wenn das Mittageſſen nicht ſchmeckt, und Ihr leidet nur aus Gier nach den Gütern des Lebens, aus Neid gegen einander und durch ſchlechte Verdauung. Wenn der Stiefel Euren Fuß drückt, ſeufzt Ihr:“ O, wie Recht Hat Schopenhauer!" Aber mern Ihr das Geſchrei nach ‚Freiheit“ hört, denkt Ihr bei Euch: ‚Was iſt mir Hekuba?‘ Daß Euch Alle der Teufel holte! Wenn Ihr wüßtet, wie jämmerlich, wie widerwärtig Ihr ſeid, wie ſchrecklich ſchwer es iſt, unter Euch zu leben! Man ſagt Euch: das Leben iſt furchtbar, das Leben iſt düſter, es iſt ganz von Blut durchtränkt. Ihr glaubt es nicht. Euer Leben iſt nur gemein und langweilig; und wenn man Euch den Tod zeigt und die Schredniffe dieſer Gemeinheit, jo bleibt Ihr ruhig und intereffirt Euch nur für das Eine: Iſt es fchön dargeftellt? Wefthetifer, die im Schmuß ertrinfen.... Möchtet Ihr wenigftens Schneller barin erfaufen!...“ Das Publikum lichtete fi allınählid. Es liebt lange Rebe nicht. Aber der Teufel lachte; er kannte ja den wirklichen Werth von Alledem. Nur der Nedner, Bingerifjen von dem Gefühl zu erfüllender Pflicht, merkte nicht3 und fuhr fort: „Das Leben ift die heroiſche Dichtung vom Menfcen, ber, jein Herz ſucht und es nicht findet, der Alles wijjen will und nichts wifjen kann, der jtrebt, jo mächtig zu fein wie fein Pater im Himmel, und nicht die Kraft bat, jeine eigenen Schwächen zu befiegen. Habt Ihr von der Wahrheit gehört? Bon der Geredtigkeit? Bon dem Wunfch, alle Menſchen der Erde ftolz, frei und ſchön zu fehen?... Ihr tradhtet nur danach, jatt zu fein, c8 warm zu haben, den Frauen unter der Vorſpiegelung von Liebe Gewalt anzuthun und fie zu verderben. Ihr wollt nur ruhig leben, gemüthlich, fänftiglid. Das ift Euer Glück. Euer höchſtes Glüd aber ift, für einen Groſchen fünf zu kriegen. Das Glück fängt man mit kräftigen, muskulöſen Armen. Ihr aber feid Feig— linge, Schwädlinge. hr könnt nicht einmal eine Fliege ohne fremde Hilfe fangen. Ihr braucht dazu vergiftetes Papier: „liegentod‘. Mir thun die Fliegen leid! Sie jummen und ftören dadurch den Schlaf; aber ich würde mit Freuden für Euch ein Papieren ‚Fliegentod‘ fchreiben, daß hr beim Leſen von Unruhe vergiftet würdet... Ich jede, hierin Habe ich nicht Recht: Ihr beunruhigt Euch wohl. Nämlich, wenns Euch unbequem wird, zu leben, weil das Gehalt nicht zur Ernährung der Familie ausreicht oder weil Eure Frauen vor Zangemweile, mit Eud) zu feben, Euch betrügen. Dann jeufzt Ihr, philojophirt, das Leben erjcheint Euch widerli und ſchwer ... jo lange, bis Eud) das Gehalt erhöht wird oder Ihr eine Geliebte gefunden habt. Und indem Ihr das Leben mit den altersfchiwachen Nörgeleien, dem ekligen Geleif des Katzenjammers, mit Euren Klagen über das Dafein anfüllt, vergiftet Ihr das Ohr Eurer Kinder. Ahr feſſelt ihre Gedanken an die Kleinlichleiten des Lebens, an deſſen Plattheiten und ihre Gedanken werden jtumpf wie das Schwert, mit dem man Aefte abhaut, ftatt der Köpfe. Dann gehen aud die Kinder, ermüdet von Eurem Geſchwätz über das Leben, das Ihr nicht kennt, jtill die ausgetretenen Wege; fie werden früh kleine kalte, jämmerliche Greije; fie gehen und fuchen ein warmes Leben, ein fattes Leben, ein mollige3 Leben; fie finden es und vegetiren ftill dahin, nach dem Bei- ipiel der Väter. Sie find wie eine frifche Tünche, mit der man den Spalt im alten Gebäude übermalt Hat. Hier ift ein jchweres, ſchmutziges Gebäude, ganz durdtränft vom Blute der Menfchen, die es zerdrüdt hat; es erbebt in feiner

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De . =

24. . Die Zukunft.

Morfchheit, wird vom Vorgefühl des nahen Zuſammenbruches gepadt und warte | sitternd auf den Uugenblid, wo es krachend einftärzen ſoll. Und jchon reifen dir Kräfte zum Stoß; fie wachſen an, Können fi kaum noch zurüdhalten und bald dert, bald hier Loft ihre Gluth in einer Ylamme ber Ungebuld auf. Sie werden kommen; daan wird das alte Gebäude erzittern, wird Euch auf die Köpfe fallen und Euch unbarmherzig zerquetichen, obgleich Ihr nur ftrafjällig jeid, weil Ahr nichts gethan habt. Aber e8 giebt feine Schuld im diefem Leben.“

Gar wenig Publifum war übrig geblieben. Ein Theil davon ſchaute mit Bedauern auf den Dichter; ba fie feine Erzählungen gern laſen, hörten fie mit Kummer feine Rede, dieweil in feiner Rede nichts Aeſthetiſches war. Einige fahen ihn mitleidig an. Alle langweilten fih und Niemand fühlte fich beleidigt. Da ſchrie ein erbofter Züngling: „Alles Dies find Worte. Beigen Sie, daß fie ein Programm haben, ein praktiſches Programm!”

Ein würbiger Herr jagte ſeufzend:

„Ad, auch id) war in meiner Jugend Romantiter!“

Und eine Dame in fchwarzem Meid fragte: „Warum ſchimpft er denn auf die Frauen?“

Der Teufel lachte.

„Nod) Eins muß ich Euch jagen. Sehr liebt Ihr, unglüdlid zu ſein Ich) denfe, Ihr thut es aus Berechnung: Ihr Habt nichis, um unter einander Adtung und Liebe zu erweden, und fo werdet Ihr abſichtlich unglücklich, um für Euch das Mitleiden, das Mitgefühl, billige Emotibnchen zu erregen, mit denen Ihr einander abjpeift und bie Ihr in der felben Stärke dem Hündchen gönnt, wenn das Rad eines Wagens ihm das Bein zerquetiht hat. Wenn in Eud) nm ein gefundes, ganzes Gefühl der Liebe zum Leben wärel Ihr liebt eben nicht, Ihr fürchtet Euch vor ihm, Ihr reißt ihm leife, wie ein ideen ab... Zahme Sippfcaft! Arme Bettler! Möchte Gott mehr Elend auf Eure Häupter herniederſchicken, auf daß Ihr aus träger Ruhe Fämet; möge Gott Euch Aufregungen in Fülle fenden, damit Ihr auflebet!...“

‚In der Gruppe der Leute, die vor dem Rebner ftanden, fühlte fih Einer beleidigt und ſchrie: „Ja, nicht Alle find wir fo... Der Teufel Hols! ‚Das ift madıgerade ungerecht!‘

„Mein Herr, fordern Sie nit von mir Gerechtigkeit. Die giebt es nicht

b vorläufig wenigſtens nicht. Wie kann in Eurer Mitte Gerechtigkeit er- Und Ihr feid Alle gleich ſchlecht. Ahr, die Gefelfhaft: wie foll mar in Gute und Schlechte theilen? Ihr Alle Habt Euch in ber Jugend mit niffen ausgerüftet, während Ahr in den Schulen faßet, und Euch Alle an das Selbe. Ich glaube, daß Ihr Gutes gelernt habt, denn ich bin at, Ihr hättet nicht gelitten, daß Euch Böjes gelchrt wird. Ich kann mir eine Univerfität vorftelen, in der man die Jünglinge ein menfchenfeind- licyes, leibenfchaftlojes Verhalten dem Leben gegenüber lehren fönnte, das Streben en Plägchen und andere Superflugheiten. Aber wenn Ihr ins Leben tretet, wird die Summe ber vorhandenen Gemeinheiten durch Eure Gegenwart mindert, Ich weiß nicht, ob Ihr friiche Kleine Gemeinheiten mitbringt, und dieje Behauptung auch nicht aufitellen. Ich weiß nur, daß Ihr mit fünfundgwanzig Zahren das Privateigentgum bekämpft und mit fünfundbreißig

Kaufmännijche Schiedsgerichte. 285

Jahren nette Billen befißt. ch weiß: Ihr verfteht, für Euch zu arbeiten; aber ich frage: Was Habt Ihr für das Leben getfan? Ihr Alle fühlt gleich Kalt. Die fogar, die warm reden. Wie viel Niederfracht unıgiebt Euch! Probirt Ihr, fie zu ‚vernichten? Sagt Ihr fie von Euch? Nein! Aber die Befleren unter Euch Das fah ih verfteden fich prezids davor, Das Streben, reinlich zu fein, tft kein ſchlechtes Streben, aber der ehrlide Menſch fürdtet den Schmuß nidt. Laßt und.offen reden. Daran, daB unjer Leben jo häßlich ift, find wir Alle glei ſchuldig. Auf der Welt giebt e8 feinen Gerechten, noch nicht. Aber woher nehmt hr den Muth zu folcher Striecherei vor ber Macht und wo habt Ihr fo flaviich für das Heil Eurer Haut fürchten gelernt? Sch behaupte: alle8 Gemeine und Widerliche, das auf Schritt und Tritt und begegnet, blüht nur deshalb fo lebendig, ſtark und grell, weil es fi auf eine Eräftige Wurzel ftüßt, auf Eure Angft um die Haut, auf Eure Sklaveninftinkte. Die Schmach des Lebens haben wir Alle zu gleichen Theilen verfchuldet. Und wenn ich an die Straft des Fluches glaubte, würde ih Euch Alle verfluhen. Aber ich glaube an etwas Anderes. Bald werden neue Menſchen fommen, muthige Menſchen, ehrliche, ſtarke ... bald!” ..

„Run ift8 aber genug”, fagte der Teufel lächelnd.

Mein Bürſchchen ſah fih um. Bor ihm und um thn war feine Seele. „Seltiam! Sind fie ſchon Alle fortgelaufen? Ich bin ja noch nicht zu Ende.”

„Sie find verbrannt im Feuer Deiner Neben. Siehft Du den Ruß an der Dede? Das ift Alles, was von ihnen geblieben ift. Laß uns gehen.“

Ich weiß nicht, was weiter mit meinem Helden gefchah, möchte auch das Ende biefer Geſchichte nicht ausdenken, denn ich ahne darin nichts Erfreuliches für ihn. Aber ich Bir ficher, daß es nicht gut thut, wenn einem Dichter viele Verehrer eritehen. Wer mit dem Publitum zu thun hat, muß von Beit zu Beit die Luft um fich her mit der Karbolſäure der. Wahrheit desinfiziren.

Das ift Alles...

Moskau. Marim Gorlij.

1,9 Raufmännifhe Schiedsgerichte.

SI" Landrichter a. D. Ernft Mumm Holte im letzten Aprilheft ber „Zukunft“ 0 zu gewaltigem Streich gegen die kaufmänniſchen Schiedsgerichte aus. Nach der anſpruchsvollen Einkleidung ſeines Artikels hatte ich gehofft, wenigſtens einen neuen Gedanken über dieſe Inſtitution darin zu finden, muß aber geſtehen, daß er mich nur auf oft betretene Gemeinplätze geführt hat.

Herr Mumm bedauert, daß durch die Schaffung kaufmänniſcher Scieds: gerichte „der Grundſatz der ordentlichen Gerichtsbarfeit abermals durchbrochen wird. Diefer Ausdrud jcheint mir nicht ganz forrelt. Das Prinzip der ordent- lichen Gerichtsbarkeit ift fchon jeit der Einführung der Gewerbegerichte durch» drohen. Jetzt handelt e3 fih nur noch darum, für eine Stategorie von Lohn— arbeitern denn aud die Dandlungsgehilfen find nichts Anderes —, die eigent- lich ſchon lange der gewerblichen Sonderrechtſprechung unterftchen müßte, einen für fie ungünftigen Ausnahmezuftand zu bejeitigen. Ich jehe nur einen Stand-

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286 Die Zukunft.

punkt, von dem aus man vielleicht bedauern könnte, daß die aus dem faur: männifchen Dienftvertrag erwachſenden Reditsftreitigkeiten der ordentlichen Ge rihtsbarkfeit entzogen werden, nämlich den Standpunkt der juriltiichen Wiſſen- ſchaft, der dadurch ein jehr wichtiges und ſchwieriges Gebiet genommen wir). Das hat Juſtizrath Staub in der Deutſchen Nuriftenzeitung mit Recht betont. Staub geht aber zu weit, wenu er aus diefem Grunde die faufmänniichen Schiedsgerichte überhaupt ablehnt. So hoch uns die juriltiide Wiſſenſchaft ftchen mag: Höher ftcht die Praxis, für die ja die Wiſſenſchaft ſchließlich vor- handen iſt. Und die Praxis fordert gebieteriich faufmännische Schiedögerichte, aus dem felben Grunde, der jchon früher zu der Forderung von Gewerbegerichten trieb. Yeidber nehmen viele Juriſten mit Herren Landrichter Mumm an, es jeien „überall Rechtsfragen, ragen der Auslegung von Gefeßes- und Vertragsbeftimin- ungen, die der Entihetdung harren, und äußerſt felten nur ıwerde der Richter Gelegenheit finden, ſpezifiſch kaufmänniſche Kenntniffe zu vermerthen.' Gewiß: kaufmänniſche Spezialfenntniffe find überhaupt nicht nöthig. Aber die zur Aus- legung von Dienftverträgen nothwendigſte Vorausſetzung ift ſoziales Berftändnip. Wo die Auslegung Elipp und klar tft, da kann nach den Gejeßesbeftimmungen auch der Gewerberichter nur genau jo entſcheiden, wie es der Berufsrichter thun müßte. Die Scwierigfeit beginnt eben erſt bei den vielen Fällen, wo der Buchſtabe des Geſetzes zweierlei Irtheile zuläßt. Da muß das foziale Gefühl, muß das Bewußtſein mitſprechen, daß der Hanblungsgebilfe gegenüber dein Brinzipal der wirthichaftlich ſchwächere Theil ift. Diefes foziale Bewußtfein ift aber bei unſeren Richtern aus zwei Gründen nicht allzu häufig zu finden. Entweder legen fie in Folge ihrer Vorbildung aud in zweifelhaften Fällen formalijtifchen Erwägungen ausjchlaggebende Bedeutung bei; oder ihre Derfunft, ihre gejellfchaftlichen Beziehungen und Lebensgewohnheiten wirken von vorn herein auf ihr joziales Empfinden. Wären lediglich oder auch nur in der Hauptſache kaufmänniſche Kenntniſſe nöthig, dann müßte man in den Handelsfammern der Landgerichte die berufenjten Richterfollegien fehen. Sie fommen ja heute ſchon für Stlagen von Angeſtellten als Berufungsgerichte, aber au, zum Beiſpiel bei Klagen wegen der Konkurrenzklauſel, als Gerichte erfter Inſtanz in Frage. Aber ſie find jelbftverjtändlich noch viel gefährlicher als Berufsrichterfollegien, denn bier jißen ja die Chefs über die Angejtellten zu Gericht.

Ueber die von dem Herrn Landrichter befürchteten fozialen Folgen der fauf- männiſchen Sciedsgerichte ließe ſich disfutiren, wenn nicht die Erfahrungen der Semwerbegerichte laut gegen feine Auffafjung fprächen. Sch begreife, offen ge— jtanden, nicht, wie ‚semand, der nicht ganz ohne Kenntniß der einſchlägigen Verhältniſſe urtheilt, heute noch daran zweifeln kann, daß dag Zufammenarbeiten in den Berufsgerichten Arbeiter und Arbeitgeber einander näher bringt. Das Zuſammenwirken der Vertreter einzelner Klaffen kann natürlich den Klaſſen— fampf nicht aus der Welt Schaffen. Dadurch aber, dab die Kontrafenten des Arbeitvertrages in einem gemwillermaßen obligatorijchen Verkehr ftehen, lernen fie einander als Perſönlichkeiten achten. Der Arbeiter fieht, daß feine Brot- herren perjönlich jehr oft frei von jener Härte find, die ihnen der Zwang wirth- ichaftlicher Konkurrenz aufnöthigt. Und auch der Arbeitgeber lernt bei jo naher Berührung im Arbeiter den Menfchen mehr fchägen, ala ers früher gewöhnt war. Man frage nur unjere großen ?yabrifherren, die in der Landesverſiche⸗

Kaufmännifche Schiedagerichte. " 287

runganſtalt, in den Krankenkaſſen und im Gcwerbegericht mit den Bertretern der Arbeiterſchaft zufammenwirfen, ab fie im Lauf diefer Thätigkeit nicht viel- fach einen ganz anderen Begriff von ber Intelligenz und vom Wefen der Arbeiter befommen haben. Die Befürchtung, eine Vermehrung der Zahl der Prozeſſe könne die wirthſchaftlichen Gegenjäße verjtärfen, ift durch alle mit den Gewerbe: gerichten gemadjten Erfahrungen als grundlos erwieſen worden.

Auf einem ganz anderen Blatt fteht die von bem Herrn Landrichter be- rührte Frage, ob Geiverberichter, die aus allgemeinen Wahlen hervorgegangen find, die nöthige Gewähr für eine unparteiiihe Nechtiprehung bieten. Der einzelne Richter gewiß nicht. Das ſoll er aud gar nicht. Der Fortſchritt der Berufsgerichte befteht ja gerade darin, daß die falſche Fiktion der Objektivität bejeitigt und dem Klaſſencharakter der Gefellihaft ausdrücklich Rechnung getragen wird. Der Arbeiter-Beifiter ſpricht Recht nad) bem jozialen Empfinden jeiner Stlaffe. Der Arbeitgeber-Beifiger wird in vielen Fällen den entgegengejegten Stand- punkt einnehmen. Und den Ausſchlag giebt der präfidirende gelehrte Richter, den beide Anſchauungen in frifchet Urfprünglichleit vor Augen geführt werben.

Herr Mumm nennt den Ruf nad) Schiedsgerichten eine Modeſache. Soll damit dieſe bitter ernite Frage ing Lächerliche gezogen werden? Wenn man Alles, was modernen Bebdürfniffen entjpricht und deshalb gefordert wird, Mode— ſache nennen will, gut, dann jind aud die kaufmänniſchen Schiedsgerichte Modeſache. Entichieden aber wäre die Unterſtellung zurückzuweiſen, es handle fich bier etwa um eine Mode, der nicht mehr Werth zuzufprechen ift als dem erfolgreichen Bemühen eines Stonfeftionärs, der den Frauen aller Länder vor- ſchwatzt, es fei nöthig, am Ende der Stletderärmel trichterförmige Erweiterungen zu tragen, die wie Regenabflußrohre ausjehen. Wenn Herr Landrichter Mumm auf folde Anſchauung feine jozialpolitiichen Studien baut, dann fteht er aller- dings dem von ihm verehrten Karl Ferdinand Freiheren von Stumm recht nah, für den ja auch die Forderung des Kechtes freier Koalition eine Modeſache war.

Uebrigens hält diefe Mode fih nun ſchon ſeit mehr als zwölf Jahren. Ber rüdblidend erfeımt, welchen Raum in der Handelgwelt die Forderung fauf- männifcher Schiedsgerichte fih im Lauf der Zeit erobert hat, Der wird zu anderen Anfichten kfommen als die Herren Stumm und Mumm. In dieſen Tagen ift eine Heine Schrift, „Der Kampf ums Recht“ erjchienen, die der Sentrals verband der Handlungsgehilfen und Gehilfinnen Deutſchlands Herausgegeben hat. Sie bringt im Anschluß an eine Rede, die der Reichstagsabgeordnete Paul Singer in einer öffentlihen Verfammlung am zehnten Februar 1902 hielt, in einem Anhang eine kurze Gejchichte. des Rufes nad kaufmänniſchen Sciedg- gerichten.. Daraus fann man erjehen, daß ſchon 1890, als vom Bundesrath dem Reichstag der Entwurf eines Gewerbegerichtägejches vorgelegt wurde, die jozialdemofratifche Bartei beantragte, Handlungsgehilfen und Lehrlinge in die Rechtſprechung der Gewerbegerichte einzubeziehen. Der Antrag fiel damals, aber die Frage war damit in Fluß gebracht. Nur ein einziger Verein, der Berband Deutiher Handlungsgehilfen in Yeipzig, erklärte noch 1894 kaufmänniſche Gewerbe: gerichte für durchaus überflüſſig. Schließlich aber mußte auch er fih dem Drud feiner Mitglieder fügen; und ſeitdem giebt es Feine auch noch ſo ſchwächliche Dandlungsgehilfen-Organijation, die nicht kaufmänniſche Sondergerichte verlangt.

288 Die Zukunft.

Die Frage, wie bie Gerichte zufammengefegt werben follen, wird freilich jebr verfchieden beantwortet, braucht uns hier aber nicht weiter zu beihäftigen. Daß die Handelsfammern fih zum großen Theil gegen Schiedsgerichte erflären, ift fein Wunder; felbjt wenn fie nicht durch das ungehenerliche Wahlreht zu Ber- tretern der Hanbelsariftofratie geftempelt wären, blieben fie doch im beften Fall immer nur Vertreter ber Urbeitgeber. Die aber haben mit den Gewerbegerichten ſchlechte Erfahrungen gemadit.

Auch über die Gründe, die, abgejehen von den jchon angedeuteten fozialen Erwägungen, die Hanblungsgebilfenichaft zu ihrer FForberung beſtimmten, gicht die Brodure eingehend Auskunft. Statt im Allgemeinen von der jozialen Ver— ftändnißlofigleit zu reden, die in manchen Urtheilen der ordentliden Gerichte an den Tag tritt, will ich einen einzigen Prozeß berausgreifen, ber deutlich zeigt, wie ſchleppend der Gefchäftsgang vor unjeren ordentlichen Gerichten ilt. Ich eitire wörtlih: „Sm Kaufbaufe Germania in Hamburg verunglüdte im Juni 1898 ein Angejtellter beim Dekoriren und durfte auf Anordnung ſeines Arztes feine gejchäftliche Thätigkeit nicht ausüben. Der Chef entließ ihn ohne Kündigung und gab als Grund an, der Angeftellte fei unberechtigter Weije ans dem Gefchäft fortgeblieben. Am fiebenundzwanzigften Juli 1898 wird vom Angeitellten die Klage eingereicht und der erfte Termin iſt am ſiebenundzwanzigſten September, da die Serichtsferien dazwilchen liegen. Bertagung. Zweiter Ter- min 20. Oftober. Vertagung. Der Arzt foll vernoimmen werden. Dritter Zermin 8. November. Der Hausdiener joll vernommen werden. Vierter Termin 29. Kovember. Der Chef foll die Gejchäftsbüicher vorlegen. Fünfter Termin 13. Dezember. Es wird Entſcheidung angefeßt auf den 28. Dezember, Doch am 20. Dezember nod einmal verfügt, Zeugen zu vernehmen. Sechster Termin 12. Sanuar 1899. Neue Erhebungen beantragt. Siebenter Termin 26. Januar. Neue Erhebungen. Achter Termin 2. Februar. Neue Erhebungen. Neunter Termin 9. Februar. Zeuge nicht erjchienen. Zehnter Termin 16. Februar. Erlap eines Iheilurtheiles: dem Beklagten wird ein Eid zugefchoben. Hiergegen legt der Kläger Berufung ein. Elfter Termin 2. Mat. Berhandlung über bie Be rufung. Vertagung. Zwölfter Termin 9. Mai. Vertagung. Dreizehnter Termin 18 Juni. Vernehmung der Parteien. Vierzehnter Termin 15. uni. Theil— urtheil: die “Parteien follen bejtimmte Dinge beichwören. Yünfzehnter Termin - 10 Juli. Nur Kläger erfchien, der ſchwört. Sechzchnter Termin 26. September. Bertagung. Sicbenzehnter Termin 28. September. Beklagter ſchwört. WUdt- zehnter Termin 30. September. Urtheilsfällung und Perurtheilung des Be— flagten, nachdem vierzehn Monate feit der Einreichung der Klage vergangen find. * Ein ſolches Beijpiel follte dod) wahrhaftig genügen, um zu zeigen, wie nöthig eine beſchleunigte Sonderredhtiprehung ift. Man muß fi vorftellen, was es für einen armen Bandlungsgehilfen heißt, vierzehn Monate auf fein Gehalt warte zu müſſen. In der überwiegenden Mehrzahl der ‚sälle bat der Handlung: gehilfe noch nicht einmal jo viel Privatvermögen, daB er, ohne Schulden z machen, auch nur einen Monat der Stellenlofigkeit überbauern könnte.

So erwachſen dein Gehilfen [don Nachtheile, wenn er fi entjchlicht, den beitehenden traurigen Rechtszuſtand auszunügen und den Klageweg zu bejchreiten Doch wie Wenige thun Das Überhaupt! Da tjt der Herr Landrichter flinf mi:

Kaufmännifche Schiedögerichte. 289

Ironie bei der Hand: „Das ftumme Dulden bildet aber gerade in unferer Zeit ganz fiher nicht die Negel.” Der dudmänjerifche Verzicht auf den Kampf ums Recht allerbings nicht. Aber Noth lehrt auch dulden. Dian ftelle ſich vor, was ein Prozeß, deſſen achtzehn Termine fih über vierzehn Monate hinaus erjtreden, koſtet. Dieſe Koften an Gelb und Beit find in fehr vielen Fällen eben gar nicht aufzubringen. Und jo muß denn der Gehilfe die Sade ins Waſſer fallen laſſen. Das Recht wird dadurch zur Luxuswaare, die für den armen Handlungsgehilfen man denfe nicht immer nur an Bankbeamte, Konfektionäre und Waarenhaus- disponenten einfach nicht zu erreichen ift. Herr Mumm hofft freilich, eine Beichleunigung und Berbilligung unjeres gefammten Prozeßverfahrens werde herbeizuführen fein, die ihm logiſcher fcheint, ſchon weil fie weiteren Volkskreiſen Nutzen brädte. Wer außer ihm giebt fih aber der Hoffuung hin, der Militär- Itaat Preußen könne Geld genug aufwenden, um nicht nur die Ueberlaftung der Amtsgerichte zur bejeitigen, fundern auch jo viele Richter neu anzuftellen, daß in wenigen Tagen Prozeſſe entichieden fein fünnen? Und felbft wenn Preußen nicht Preußen wäre: ihrer ganzen Struktur nach find bie Amtsgerichte für eine foziale Rechtſprechung nicht brauchbar. Das ijt ſogar von Richtern anerfannt werden. Ich erinnere nur an bie Reden des Aıntsrathes Bader aus Augsburg und des Amtsrichters a. D. Kayfer aus Worms auf dem lebten Verbandätage deutſcher Gewerbegerichte (in Lübeck am zehnten September 1901).

Nun aber der Höchfte Trumpf des Herrn Mumm. Bei den bejtehenden Sciebsgerihten in Hannover, Braunſchweig, Osnabrück und Stolp find nur ſehr wenige oder gar feine Verfahren anhängig gemacht worden, ergo iſt das

Prozeßbegehren der Handlungsgehilfen gar nicht fo groß, ergo find kaufmänniſche

Schiedsgerichte Modejahe. Daß die genannten Schieds- oder Fachgerichte mit - den von den Handlungsgehilfen geforderten nichts als ben Namen gemein haben,

ſcheint der Herr Landrichter nicht zu willen. Es find Schiedsgerichte, die nur in Funktion treten, wenn fie von beiden Barteien freiwillig angerufen werden.

Ich Habe das Statut des hannoverſchen Schiedsgerichtes burchgelejen und mundere

mich gar nicht darüber, daß es im Jahr 1900 dort nur achtzehn Prozefle gab.

Denn eriteng muß, wie gejagt, dieſes Gericht von beiden Parteien asgerufen

werden und zweitens ift es nur für Mitglieder der Handelskammer, aljo für

eingetragene Firmen zuftändig. Gerade die Handlungsgehilfen, die in den vielen

feinen Gejchäften unter den traurigften Bedingungen dienen, find von den Wohl«

thaten dieſes „Rechtsſchutzes“ ausgeſchloſſen. Und wer richtet? Chef3 und Ge - bilfen. Doc die Bollverfammlung der Handelsfammer wählt auch die Gehilfen-

Beiliger aus der Zahl geeigneter Kandidaten, die fih die Kamıner von ihr be-

fannten faufmännijchen Nereinen vorfchlagen läßt. Man ſieht alfo, wie völlig

verjchieden von diefen Mißgeburten kaufmänniſche Gewerbegerichte find, die nad)

feſtem Gejcg für alle aus dem faufmännijchen Dienftvertrag ſtammenden Rechts—

ftreitigleiten in Anjpruc genommen werden müſſen, deren Beifiter aus allge-

meinen Wahlen hervorgehen und die in längjtens eben fo vielen Wochen den

Endſpruch fällen, wie das Amtsgeriht Monate braucht, um ein Beugenverhör

zu Ende zu führen. Solche Schiedsgerichte find nicht Modefache, fondern ent-

Ipreden einem dringenden wirthfchaftlichen und fozialen Bedürfnig. Plutuß.

290 Die Zuhmft.

Meifterfpiele.

‚Kor achtundvierzig Fahren wurde der neue Glaspalaſt der Bayernhauzt >> ftadt zu würdiger Aufnahme der Allgemeinen Deutfchen mduftre- ausftellung, der erften münchener, vorbereitet. Franz Dingelftedt, dem aus tm: gart verfchriebenen Intendanten des Hoftheater8 und kosmopolitifchen Radı: wächter a. D., dem der mündyener Boden damals noch heiß war und nie käb werden follte —, lagen die Freunde in den Ohren, Liebig, Sybel, Dönniges, Geibe und die Anderen: was er den herbeiftrömenden Fremden nun im Schaufpielta:: bieten wolle. Alltagskoſt durfte es nicht fein; denn Jedermann erwartet fid ca Felt. Und Geld mußte es einbringen; denn König Dar hatte eben erſt a: Hört, er fei „duch die Verhältniffe außer Stand gejegt, mehr für das Net: theater aufzumwenden als bisher.“ Mit diefem Ukas in der Taſche waren gro’x Sprünge nicht zu machen, namentlich nicht von einem zugereiften Protejtante und Revolutionär, dem, ob er inzwiichen auch fadht fein Fromm geworden mar, noch immer das bajuvariſche Mißtrauen auf die Finger fah. Und wenn dx Hoftheater während der Ausftellungzeit läfjig blieb, Fonnte der Herr Inter: dant mit feiner Jenny allein in der Galerie Noble des eriien Ranges jiger: feine Stage ging ihn aus dem Glaspalaft dann ins Scaufpielfaus ... Ir einer falten Dezembernadht fam dem blinden Heflen die Erleudtung, al er mit dem berühnten Arzt Karl von Pfeufer auf dem Karolinenplag vor dem Obelisfen ftand. „Statt eines Schaufpielgajtes laſſe ih ein Viertetfchet formen md ftelle fie insgeſammt auf die felbe Linie. Nur Künftler eriten Ranges (ade ich ein, aber in einer alle großen Theater umfallenden Auswahl; und mm in klaſſiſchen Stücken führe ic) fie vor. Die Mitglieder der hieſigen Hofbühne betheiligen ic), je nadı Nermögen, an der allgemeinen Aufgabe. Ich ſchaffe mir eir Perfonal von lauter erften Sträften und made für eine: Weile die münchener Bühne zur deutfchen Centralbühne. Lauter große Stüde, deutfchen Urſprungs. gejviclt von lauter großen deutfchen Künftlern bis in die Heinfte Rolle hinein.“ Als der Gedanke auftauchte, waren noch ſechs Monate big zur Eröffnung der münchener Meſſe. Tingelitedt verlor feine Zeit nicht. Dem König geftel der Ban, im Januar ſchon wurden die Aufforderungen an dreißig Theatergrößen verfandt umd in der Karwoche gings auf die Werbereife. Die war nicht be: quem; in Wien mußte der Intendant an einem Tage zweiundpierzig Etod: werke erffettern und auf einer Fahrt durch alle deutichen und öfterreichijchen Hauptftädte gabs damals, bei bitterer Kälte, noch manche Strapaze zu dulden. ALS nad) achtzchn Tagen aber der lange Franz wieder in Münden ſaß, war das Programm fertig und die Ausführung gelichert. Jeder Gaflfpieler befam jür jede Rolle hundert Gulden. Jeder hatte jid) verpflichtet, außer zwei erſten auch zwei Kleinere Rollen zu übernehmen, drei Zage vor dem Beginn der

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Meiſterſpiele. 291

Vorſtellungen einzutreffen und mindeſtens zwei Wochen lang zur Verfügung zu bleiben. Das war möglih, weil im Juli die meiften großen Theater geichloffen find und die Wandervirtuofen raflen. Den Regiffeur jeder Bor: jtellung wählten die Gäfte mit Stimmenmehrheit. In Streitfällen blieb die Entfheidung dem „Plenum der Gefellichaft“ vorbehalten. Den Text der Stüde redigirte Dingelftedt und nach feinen vorher verfandten Soufflirbüchern mußten die Säfte, ehe fie zum Wettlampf aufbrachen, ihre Rollen einrichten. Er, dem das Bild ftetS wichtiger war al3 dag Wort, forgte auch für das fzenifche Kleid. Da mar er in feinem Element. - Er hat fich felbft einen „an: geborenen Hang zu Maſſenwirkungen und Maffenentwidelungen“ nachgefagt. Wie fo Vieles aus der Geſchichte unſeres durch Banauſenhochmuth von der Tradition gelöften Theaters, ift heute vergeflen, dag Dingelftedt daS frühe Vorbild der mei: ninger Regiefünfte war. Bon ihm haben Alle gelernt, die ſeitdem verfuchten, die Niüchternheit norddeutichen Sprechſpiels mit dem bunten Reiz feiner Sinnlich- feit zu erwärmen und auf der Bühne ein „Milieu“ zu Schaffen, eine ſtimmende, beftimmende Ummelt, die dem Determiniften im Zuſchauerraum den Traum und das Wollen der vor feinem Auge handelnden Menſchen erflärt. (Kein Zufall its nämlich, daß erit, al3 der Glaube an Willensfreiheit und gottähnlich felbft- herrifches Heldenthum ſich müde hinbettete und der Glanz der Theologie und Teleologie mählich verblid, auch im Theater der Wunſch nach Erfenntniß der Kaufalität erwachte, das Bedürfniß fich regte, auf den Brettern, die eine Meenfchenwelt bedeuten jollen, die Menſchenſchickſale determinirenden Kräfte verförpert, die Hintergründe in greifbarer Klarheit zu fehen.) Sogar die „male rifher” Maffengruppirung günftigen Treppen, bie von den Mleiningern in die Mode gebracht wurden und zu der Frage führten, ob denn ſämmtliche Fürften im Keller wohnten, hat Dingelftedt erfunden. Und eine ſolche Rieſentreppe ftieg in München am. elften Juli 1854 Iſabella von Mefjina in die vom Intendanten „mit felbftvergnügten Raffinement aufgebaute” Halle des nor- mannitchen Palaftes hinab. Er’ hatte manche Abjage befommten und mußte auf Dawifon, Deffoir, Ludwig Löwe, auf die Fuhr und die Bayer verzichten. Trotz- dem konute cr Aufführungen von nie erſchautem Glanz bieten. Iſabella war Julie Retiich, Deutſchlands damals größte Tragoedin, Cajetan der mächtige Sprecher Anfhüg, Manuel und Cefar wurden von Emil Devrient uud Hendrichs gefpielt, „den berühmteften Liebhabern und zugleich den in natura“ feindlihen Brüdern des deutfchen Theeters." Auf diefer Höhe hielt ſich das „Geſammtgaſtſpiel“ bis zum Schluß. Den einfachen Namen hatte Dingelſtedt gewählt; die Freunde ſprachen von Muſter-, die Feinde von Monſtre- und Mufterreitervorjtellungen. Was gegen den aus fommerzieller, nit aus fünftlerifcher Eehnfucht geborenen Gedanken zu jagen war, wurde gefagt. Stil: einheit ift in fo kurzer Friſt nicht zu erreichen; und auch bei längerer Vor:

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292 Die Zutunft.

arbeit hätte. faum einer der berühmten Mimen fich herabgelaflen, auf perjün- liche Starwirkung zu verzichten und fich in ein Enfembfe zu fügen. Immerhin wars eine ſehenswerthe Ausftellung deutſcher Schauſpielkunſt. Ein grei artiger Bühnenraum; forgfame Vorbereitung; faft alle ftärkiten Talente ber deutfchen Bühne vereint: Anfchüg, Devrient, Döring, Hendrids, La Hocke, Liedtke, Joſt, Chriften, Haafe, die Damen Haizinger, Seebad, NKeumans, Marie Dahn; und an der Spige ein Theaterfünftler von der nachichaffenden Phantafiefraft Dingelftebts: fein Ausländer Hatte deuticher Schaufpielfunft vor: ber folche Leiftung zugetraut. Der Theaterkaſſe brachte das Geſammtgaſtſpiel zehntaufend Gulden; für zwölf Hochſommerabende im armen Deutfchland von anno dazumal eine hübfche Summe. Als beim Abſchiedsfeſt im Theaterfoyer König Marimilion 1854! kreuzfidel unter den Komoedianten ſaß unb „auf das Gedeihen ber dramatifchen Kunſt und Boefie in Deutfchland“ trant, da ging dem langen Franz das Herz auf und er prieß fich glücklich, weil ihm gelungen fei, „die berühmteften Meiſter unferer Schaufpielfunft, ohme Vortheil für ihr eigenes, einzelnes Intereſſe, durch rein ideale Zwecke in ein Ganzes zu verfchmelzen und ein aus ſämmtlichen deutſchen Stämmen, Staaten und Städten gemifchtes Publilum für die Aufführungen Haffifcher Dichtungen durch klaſſiche Darfteller zu erwärmen.

Der Berfuch wurde erſt ſechsundzwanzig Jahre Tpäter erneut. Wieder in München, wieder während der Sommerferien. Allerlei Surrogate, aber auch wirkliche Meufterdarftellungen wurden geboten. Die Wolter al Driina und Lady Macbeth, die Weſſely als goethifches Mädchen, Herr Sonnenthal als Glavigo und Prinz von Guaſtalla, Herr Kraftel als Tempelherr und Dear Biccolomini, Herr Poſſart als Oktavio und Goethes Carlos, Herr Häuſſer als Io, Frau Ellmenreic ala Minna: Das lohnte allein Schon bes Weges Mühe; und die Herren Lewinsky, Berndal, Barnay, Friedmann, Haaſe wirkten mit. Das Virtuoſenthum war, wie Eduard Devrient voraudgefagt hatte, jtärfer geworden, der auch nur furze Stunden dauernde Schein einer Stileinheit noch ſchwerer als 1854 zu erreichen. Sichtbar wurde die Wirkung der Italiener, der Niftori, Roſſis und Salvinis, die das deutfche Tragoe— dienfpiel aus der Erftarrung gelöft und die faſt vergefiene Kunſt gelehrt hatten, die Geſtalten der klaſſiſchen Dichtung naiv anzufchauen, als wären jie geltern von einem unter und Icbenden Poeten gefchaffen worden. Das war fein unwichtiges Reſultat. Und mochte an Plan und Ausführung Manches zu tadeln fein: auch diesmal Das fonnte felbjt der firengfte Kritiler Herrn Poſſart, dem Leiter, nicht beftreiten war an ſzeniſchen Künften nicht ge- fargt und beinahe jede Hauptrolle mit dem beiten Darfteller befegt, der im Perfonalbeftand des deutjchen Theaters zu finden war.

Jetzt werden in den berliner Hoftheatern „Meiſterſpiele“ veranftaltet.

Meifteripiefe. 293°

Man weiß nicht recht, von wen. Der Generalintendant für ein Weilchen iſts noch Graf Hochberg hat fich, fo heißt e8, dem prager Direltor Angelo Neumann verbündet; und da diejfer in allen Preßwinkeln gemwalttige Herr, unter deſſen Leitung das prager Schaufpiel längft den guten Namen verloren bat, fich hervorrufen und in Tifchreden feiern läßt, muß er ſich wohl al3 den Manager diefer Großthat fühlen. Einerlei. Wir brauchen auch nicht zu fragen, warum ber Keiter der dem Rang nach erften beutfchen Bühne zu ſolchem Unter- nehmen fich einen gefchidten Opernſpekulanten als Helfer holen muß und ob die Männlein und Fräulein aus dem Bretterreich nicht eben fo gern dem Auf des Grafen Hochberg wie dem bed Herrn Neumann gefolgt wären. Ber- antwortlich bleibt die Generalintendanz. Verantwortlich für ben unter ihrer privilegirten Adlerflagge verübten Unfug, den ſchlimmſten und zugleich lächerlich- ften, deilen Spur in der Gefchichte des deutfchen Theaters zu finden ift. Meiſterſpiele ... Franz Dingelftedt, in dem doch ein recht robustes Selbſt⸗ bewußtſein lebte, hätte fich fo anmaßenden Namens gefchämt; er mußte, daß es in jeder Kunft und in jedem Kunſthandwerk nur wenige Meifter giebt. Und das Wort kann doch keinen anderen Sinn haben als den: zu biefen Spielen hat jich die Schaar der Meifter vereint. Wir wollen die Bedenken perfönlichen Geſchmackes ausfcheiden, jede allgemeine anerkannte Theatergröße für einen Meifter oder eine Meifterin nehmen und fragen, wer von diefen der Meifter- {haft würdig Behundenen nach Berlin geladen ward. Zwei Meifter wirken mit: die Herren Baumeifter und Sonnenthal, zwei Greife, die feit einem halben Jahrhundert in erften Stellungen. find. Die Damen Sorma, Niemann, Hohenfels, Dumont, Sandrod, die Herren Kainz, Poſſart, Barnay, Baſſer⸗ mann (Berlins ftärkites Spieltalent), Engel, Reicher, Thimig, Niffen: fie Alle fehlen und mit ihnen mancher Andere, der Hier jicher nicht fehlen durfte. Aus allen Provinzen aber find die Mittelmäßigfeiten zufammengetrommelt. Eine vom Botſchafter Fürften Eulenburg empfohlene Anfängerin verfucht ſich nad Frau Sorma, deren jinnlicher Mädchenreiz hier ein holdes Wunder ſchuf an Grillparzerd Efiher. Eine Heine, fäuerlich heftige Frau, der bei aller geſchickten Routine, auch innere Größe unerreichbar ift und die, mo fie von Tragoedienfiebern gefchüttelt fein follte, nur böfe werden kann, feucht unter der Laft, bie ihrem fpigen Talentchen die majeftätifche Zarenwittwe Schillers aufbürdet. Das in unerträgliche Manierirtheit verfallene Fräulein Poppe (ein urfprünglich ſtarkes, in der berlinifchen Zuchtlojigkeit vor der Reife zerrütteted Temperament) fpreizt und windet und ziert jih als Maria Stuart. Den Fauft fpielt ein tüchtiger, auch im Schreiben emjiger Herr, der vor einem Jahr den anftändigen Durchfchnitt des Schillertheaterd nicht überragte. Als Soubretten find ung die Frauen Schratt (die vor dreißig Jahren - vom berliner Hoftheater zu Laube ging) und Konrad-Schlenther (die ich als

294 Tie Zukunft.

Schüler debutiren fah) verfprochen und das Fräulein von Barnhelm ift der x Buska anvertraut, die eben fo alt, doch nicht eben fo Iuftig und ferngejund ir rau Schratt. Ich weiß nicht, welche Erwägung die Auswahl beitimzr: und fann nur feftftellen, dag Frau Busfa die Gattin des Managers ' Reumann, Frau Schratt die Freundin des Kaiſers von Oeſterreich ii war auch die Freundin feiner Frau; ich bitte alfo, nichts Arges zu dar Fräulein Wachner (Eijther) von einem Botfchafter, Fräulein Bopve einem Intendanten protegirt wird, Yrau Konrad mit dem Burgtheaterti Frau Bertend (Marfa) mit einem Tcheaterkitifer des Berliner Tageb verheirathet ift. Auer ihnen find, offenbar nach willfürlicher Laune, brave Mimen geworben, die, da jegt ja nicht Ferienzeit ift, faft immer i eine Probe mitmachen können, nad) ber Borftellung heimwärts fahren und nüchften Rolle wieder nad) Berlin fommen. Keine Möglichkeit innerer S fung aljo und nicht einmal der Verſuch, durch forgfames Tönen, Fügen, Abi men eine Stileinheit Herzuftellen. Auch nicht da8 Bemühen, den aufzuführen Gedichten ein mit befonderer Sorgfalt angepaßtes Feiertagsfleid zu Fchaffen. PR: nenleiter ber Spiele ift Herr Grube, ein von meininger Erinnerungen eigera und denen feines Infpizienten zehrender Negiffeur ohne Anfehen, cz Fleiß, Künftlerernft und fchöpferiiche Kraft, ein Iheaterpugmacher, der da tiefften Punkt, den feiten Grundftein einer Dichtung nie zu erkennen verma dem in feinem Schaufpielhaus Niemand gehorcht und der fi durch den Hai der Berufsgenoffen, wie es ſcheint, nicht abfchreden läßt, felbft in Hauptrole unter die Weijterfpieler zu treten. Die meiften Dramen finden im Neuen Körq lichen CO perntheater Unterjtand, in einem Bühnenhaus, das zu Neitübungen un Mastenbällen geeignet fein mag, jede intime Wirkung aber verfagt und de ES pieler im Affekt zu härlicher Lleberfpannumg der Yungenkraft zwingt. Warn ward diefes Haus gewählt? Weil cs an Worhentagen fonjt leer fteht un ih eine Errungenfchaft aus der Aera Pierſon ſchlecht verzinjt ım weil die verehrliche Generalintendanz Geld verdienen will. Deshalb werda am Zchillerplag die Saijonzugftüde gegeben und die Meitteripiele bei fejtlid erhöhten reifen hinter der Siegesſäule veranftaltet. Deshalb darf frun Vorſtellung ausfallen, muß Goethes wichtigfte Dichtung punktlich aufgeführ werden, trogdem der herbeigewinfte Fauftiprecher erjt drei Stunten vor Anja der Vorftellung aus Wien eintrifft und feinen Mephiito kennen lernt.

Daß die Intendanz Geld verdienen will, ift nad den trog alla pomphaſten Crflärungen erweislichen Einbußen der legten Zeit leicht verjtehen ımd wäre unter allen Amftänden ihr, wie jedes Gewerbetreibenden, gutes Recht. In der Wahl der Mittel aber, die zu folhem Ziel führen follen, müßte fie einigermaßen vorjichtig fein. Schon früher ließ fie abge: fpielte Operetten von einem zufammengewürfelten Perfonal aufführen, das eben fo wenig wie da8 Orcheſter je dem SHoftheaterverband angehört hatte, und

Meifteripiele. 295

-uhigen Muthed auf den Zettel drnden: Neues Königliches Operntheater. "Der Fremde, auch der in Berlin dem Theaterweſen fern Lebende wurde durch die "tolze Adlerfirma getäufcht: er zahlte das Eintrittögeld für eine Hoftheater- Jorjtellung und wurde mit einer Aufführung bewirthet, deren stars aus der Himmelsgegend von Lübeck, Poſen und Chemnitz ſtammten. Der ſelbe Aar breitete ſeine Schwingen über die Ankündung einer franzöſiſchen Opernbande, die nad ein paar ſkandalöſen Abenden geräuſchlos verduftete. An Sonntagen, wenn in beiden Häufern gefpielt wurde, gab es am Königsplag immer ‚Bejegungen, die felbft der alte Hilfen nicht zugelaffen hätte est... Ich ſchätze die Keiftungen des berliner Hofihaufpielhaufes nicht allzu hoch; aber :e3 hat gute Männerfpieler (die Herren Matkowsky, den größten, den einzigen großen Zragoeden Deutfchlands, Kraufned, Keßler, Bollmer, Chriftians, -Qudwig, Pohl, Molenar) und bietet an Alltagen mehr, als die Meiſterſpiele .6bi3 jegt boten und nach dem Programm bieten können. Wird eine Vorftcllung :dadurdy beiler, daß Matkowskys Rollen von ſchwächlichen Nachahmern ge- sfpielt werden und irgend ein Hinz oder Kunz aus Dresden oder Weimar auf unbefannten Brettern die Kräfte Abt? Und diefe Hinz und Kunz find nad sfolchem haſtig vorbereiteten Gafifpiel auf fremden Boden nicht einmal zu ebeuctheilen. Weberhaupt kann von einem Kunſtwerth der Spiele nicht ernit= - haft die Rede fein. Sie zeigen nicht den Status der beutfchen Bühne, } nicht, wa8 den unter einem Kommando vereinten ſtärkſten Zalenten gelingen Tann, + nicht die Refte und Rudimente der einzelnen Schulen, höchſtens die heillofe Sprach⸗ e verrottung und Stilzerfplitterung. Die Hoftheater von München, Dresben, e Stuttgart geben je eine Vorftellung. Auch daraus ift nichts zu lernen. Daß Herr von Poflart, wenn er ſich acht Tage lang wieder einmal befleikt, eine an= ftändige Aufführung des kinderleicht zu jpielenden „Exbförfter” fertig : bringt, wußte der Sachfundige ſchon vorher; wer nad) diefer einen Probe daS münchener Schaufpiel fchägte, würde ftaunen, wenn ers daheim fähe: mit einem Perfonal, dem der Held und die Heldin, Fauſt, Franz Moor, Lady : Macbeth fehlen und das Feiner großen Aufgabe gewachſen it. Eine gute : Aufführung kann fchließlich jedes ‘Theater leiſten. Woher aber nimmt die Beneralintendanz das Hecht, für Vorftellungen, die in beftem Fall bis ans Alltagsniveau des Gewöhnten reichen, erhöhte Eintrittöpreife zu fordern? Woher? Aug dem Titel des Unternehmens. Dem Gefammtgaftfpiel

. unbefannter Hiftrionen hätten nicht Viele nachgefragt; Meifterfpiele: Das jollte ziehen und hat wirklich gezogen. Sind aber die waderen Leute, bie in Dresden, Hannover, Leipzig, Prag, Stuttgart, Weimar feit Jahr und Tag ſich bejcheiden und die von Zeit zu Zeit der Glanz eines den Bühnen- himmel abwandelnden berliner Sternes überftrahlt, find diefe redlichen Durch⸗ ſchnittsmimen Meifter? Und find fies nicht, geben fie ſelbſt fich nicht dafür aus: was tft dann über den Titel zu jagen, defien Bofaunenton die arglofe

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286 Die Zutunft,

Menge heranloden fol? Die Intendenz mag geläufcht ir Manager, der vom Schaufpiel nichts verfteht, mag feinem 9 beſſeren Erfolg erhofft haben. Jetzt wiffen Beide, woran jie ind; und

wir, daß der täufchende Titel verfchwinde. Das deutiche Geſetz beftraft:den Em ſuch, Durch Vorfpiegelung falſcher Tgatjachen auf Koften Anderer fich ober zum Dritten einen rechtswidrigen Bermögensvortheil zu ſchaffen. Die öffentlich == dem Adlerwappen behauptete Thatfache, daß in den Hoftheaterm DMeifter fein, ift erweislich falſch, ift fogar von den zahmſten Mezenfenten als faljch er worden; wird bie Behauptung aufrecht erhalten, dann wird „das Bermäge‘ der Schaufpielbefucher „beihädigt“, „durch Vorfpiegelung faljcher Thatjade ein Jerthum unterhalten“, und der Dolus ift nicht mehr zu leugnen. Is Andere aber Könnten ſich durch folge eoncurrence deloyale bejhädigt fühle alle berliner Schaufpieldirektoren, bie täglich mindeſtens eben fo qute Br ftellungen bieten wie da8 Neue Königliche Operntheater und denen nun die fpärlh Zenzfundfchaft weggeſchnappt wird. Als eine Form unlanteren Weihe werbes, den ſchon 1881 eine Reichsgerichtsentſcheidung „nidervechefich, fd zu migbilligen und gemeinſchädlich“ nannte, verpönt das Civilrecht wahrhe wibrige Reflamen und unrichtige Angaben über Werth und » Güte ı= Baaren, wenn diefe Rellamen und Angaben öffentlich (in Zeitunginferam. Plakaten, Eirkularen) gemacht werden, zur Irreführung bes Publikums geeige find und mit dein falſchen Schein eines befonders Lodenden Angebotes Die Kunde dem Sonfurrenten entziehen, der fich folder Mittel nicht bedienen wil .Strafrechtliche Folgen“, fagt Profeffor Roſenthal im Handwörterbuch de Staatswiſſenſchaften, „zieht bie ſchwindelhafte Reklame nur dann nach ik wenn außer den angeführten Thatbeftandsmerfmalen noch das Bemwuftien der Ummahrheit der Angabe und die Täufchungabjicht bei deren Urheber vx handen ift“. Ich fann nicht finden, daß ein Kaufmann, der. ftatt der = Schaufenfter verheißenen leinenen dem Kunden halbleinene Tafchentücher ve: kauft, ſchuldiger ift al ein Theatergefhäftgmenn, der ftatt der auf Ric plafaten verfprochenen Meifteripiele raſch zufammengejtoppelte Dutendux ftellungen bietet, und ich bin überzeugt, daß Konkurrenten und Sumden de Gericht ihr Schadenserſatzrecht erftreiten fönnten. Hans HeinrichxlV. Bolko Gi von Hochberg, Herr auf Neuſchloß und Nohnftod, erbliches Mitglied de prußiſchen Herrenhauſes, gilt als ein ſchwacher, doch flecklos ehrlicher Miam Er hat einen Namen zu verlieren, nicht als Intendant, aber als Edelmann, und wird wiffen, was bie Anftandspflicht dem Enttäufchten gebietet. Hal der falſche Titel und wird ein Geiammtgaftfpiel beutfcher Prodinzleans „une Mitwirkung der Frau Medelöfy und der Herren Baumeifter und Sonne tal“ angezeigt, dann braucht fein Verſtänd ger ſich über die armfälige Saritatır des dingelftedtifchen Unternehmens morgen noch weiter aufzuregen. MH

Herausgeber und verantwortlicher Rebattenr: DI. ‚Garden in Berlin. Verlag der Zufunft im Drue von Mibert Damde in Verlin · Echöneberg

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Berlin, den 24. Mai. 1902. —— —ñ e —t

Der König von Spanien.

ht Apfelſchimmel zogen den Prunkwagen. Die Granden des König⸗ reiches, der Hofſtaat, Infanten und Infantinnen fuhren in Gala—

kutſchen voran. Vom Schloß rechts an der Plaza Mayor vorbei, wo einft

die Inquifition und nad) der Beit ber Autos dee dann die Corrida Herrfchte, über bie großftädtifch banale Puerta del Sol hinweg durch die Calle Jero⸗ nimo bis zum Kongreßpalaft. Selbft im feierlichen hifpanifchen Schritt iſt vom Renaiffancebau Philipps des Fünften, von der Erinnerung an bren⸗ nende Ketzer, an die von den. Hörnern wüthender Stiere zerfetzten Menfchen: leiber bis in die moderne Gefegfabrif der Weg nicht fehr weit. Hinter der Guardia Eivil und der Gebirgsartillerie, die das Spalier bildeten, ſchob und drängte ſich das Volt von Madrid, harrten in Sonnenhige die aus allen Teilen Neufaftitiens herbeigeeilten Landleute, um ihren König auf dem, Wege zur Herrſchaft zu ſchauen. Biel jahen fie nicht. Bunte Teppiche, bunte Blumen, grünes Laubwerk, rothe und gelbe Leinwand, koftbare Gobelins, Goldtreſſen, Hofgalakleider, Uniformen, die wohlbefannten Gewänder der hohen und niederen Klerifei; und zuletzt, hinter den Spiegelfcheiben des präch⸗ tigften Wagens, einen weißen, winfenden Kinderhandſchuh. Alfonfoder Drei⸗ zehnte grüßte fein Volt. Zumerften Male trug er den von Gold ftrogenden Rod eines Generalfapitäng; zum erften Mal ſollte er König fein, follte der Knabe regiren. Als König war er, ſechs Monate nach dem Tod feines Vaters, geboren worden. Doch da das ſpaniſche Grundgeſetz den Monarchen erſt beim 22

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288 Die Zukunft.

Die Frage, wie bie Gerichte zufammengejegt werden follen, wirb freilich fer verfchieben beantwortet, braucht ung bier aber nicht weiter zu beſchäftigen. Da die Handelsfammern fi zum großen Theil gegen Schiedögerichte erflären, ift fein Wunder; felbjt wenn fie nicht durch das ungeheuerliche Wahlrecht zu Ber- tretern der Handelsariftofratie geftempelt wären, blieben fie doch im beften Fall immer nur Bertreter der Arbeitgeber. Die aber haben mit ben &ewerbegerichters ſchlechte Erfahrungen gemadt.

Auch über die Gründe, bie, abgejehen von den jchon angebeuteten fozialeız Erwägungen, die Handlungsgehilfenſchaft zu ihrer Forderung beftimmiten, giebt die Brochure eingehend Auskunft. Statt im Ullgemeinen von der jozialen Ber- ftändnißlofigleit zu reden, die in manden Urtheilen der ordentlichen Gerichte an den Tag tritt, will ich einen einzigen Prozeß herausgreifen, der deutlich zeigt, wie fchleppend der Geſchäftsgang vor unferen ordentlichen Gerichten ift. Ich eitire wörtlid: „Sm Kaufhauſe Germania in Hamburg verunglüdte im Juni 1898 ein Angeftellter beim Deloriren und durfte auf Anordnung feines Arztes feine geihäftlihe Thätigkeit nicht ausüben. Der Chef entließ ihn ohne Kündigung und gab als Grund an, ber Angeftellte fei unberechtigter Weife aus den Geſchäft fortgeblicben. Am fiebenundzwanzigften Juli 1898 wird vonr AUngeftellten die Klage eingereicht und der erite Termin ijt aın ſiebenundzwanzigſten September, da die Gerichtsferien dazwijchen liegen. Bertagung. Zweiter XTer- min 20. Oktober. NWertagung. Der Arzt foll vernommen werden. Dritter Termin 8. November. Der Hausdiener joll vernommen werden. Vierter Termin 29. November. Der Chef foll die Sejchäftsbücher vorlegen. Fünfter Termin 13. Dezember. Es wird Entfcheidung angelegt auf den 28. Dezember, doch am 20. Dezember noch einmal verfügt, Zeugen zu vernehmen. Sechster Termin 12. Januar 1899. Neue Erhebungen beantragt. Siebenter Termin 26. Januar. Neue Erhebungen. Achter Termin 2. Februar. Neue Erhebungen. Neunter Termin 9. Februar. Zeuge nicht erichienen. Zehnter Termin 16. Februar. Erlaß eines Theilurtheiles: dem Beklagten wird ein Eid zugefchoben. Hiergegen legt der Kläger Berufung ein. Elfter Termin 2. Mat. Berhandlung über Die Be— rufung. VBertagung. Zwölfter Termin 9, Mai. Vertagung. Dreizehnter Termin 18 uni. Bernehmung der Parteien. Vierzehnter Termin 15. Juni. Theil: urtheil: die Parteien jollen bejtimmte Dinge beichwören. Fünfzehnter Termin - 10 Juli. Nur Kläger erichten, der ſchwört. Sechzehnter Termin 26. September. Vertagung. Siebenzehnter Termin 28. September. Bellagter ſchwört. Adht- zehnter Termin 930. September. Urtheilsfällung und Verurtheilung des Be- Elagten, nachdem vierzehn Monate feit der Einreichung der Klage vergangen find.” Ein ſolches Beiſpiel follte dod) wahrhaftig genügen, um zu zeigen, wie nöthig eine beichleunigte Sonderredtipredung it. Man muß fi) vorjtellen, was e8 für einen armen Dandlungsgebilfen heißt, vierzehn Monate auf fein Gehalt warten zu müſſen. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle Hat der Hanblungs- gehilfe noch nicht einmal jo viel Privatvermögen, daß er, ohne Schulden zu machen, auch nur einen Monat der Stellenlofigfeit überdauern Tönnte.

Sp erwachſen dem Gehilfen [don Nachtheile, wenn er fi entſchließt, den beitehenden traurigen Rechtszuſtand auszunüßen und den Klageweg zu befchreiten. Doch wie Wenige thun Das überhaupt! Da ift der Herr Landrichter flinf mit

Kaufmännifhe Schiebögerichte. 289

Ironie bei der Hand: „Das ftumme Dulden bildet aber gerade in unferer Beit ganz ficher nicht die Regel.“ Der duckmäuſeriſche Verzicht auf den Kampf ums Recht allerbings nicht. Aber Noth lehrt auch dulden. Man ftelle fi) vor, was ein Prozeß, deſſen achtzehn Termine ſich über vierzehn Monate hinaus eritreden, koſtet. Dieje Koften an Geld und Zeit jind in jehr vielen Fällen eben gar nicht aufzubringen. Und jo muß denn der Gehilfe die Sade ins Wafler fallen lafien. Das Recht wird dadurch zur Luxuswaare, bie für den armen Handlungsgebilfen man denfe nicht immer nur an Bankbeamte, Konfektionäre und Waarenhaus- disponenten einfach nicht zu erreichen tft. Herr Mumm bofft freilich, eine Beichleunigung und Berbilligung unjeres gefammten Prozeßverfahrens werde herbeizuführen jein, die ihm logiſcher jcheint, ſchon weil fie weiteren Volkskreiſen Nutzen brächte. Wer außer ihm giebt fich aber der Hoffuung Hin, ber Militär- ftaat Preußen könne Geld genug aufwenden, um nicht nur die Ueberlaftung der Amtsgerichte zu bejeitigen, fondern auch jo viele Richter neu anzuftellen, daß in wenigen Tagen Prozeſſe entichieden fein Tönnen? Und felbjt wenn Preußen nit Preußen wäre: ihrer ganzen Struktur nad) find die Amtägerichte für eine joziale Rechtſprechung nicht brauchbar. Das iſt ſogar von Richtern anerkannt werden. Ich erinnere nur an die Reden des Amtsrathes Bacher aus Augsburg und des Amtsrichters a. D. Kayfer aus Worms auf dem lebten Verbandstage deutjcher Gewerbegerichte (in Kübel am zehnten September 1901).

Nun aber der höchſte Trumpf des Herrn Mumm. Bei den beitehenden Schiedsgerichten in Hannover, Braunfchweig, Osnabrüd und Stolp find nur ſehr wenige oder gar feine Verfahren anhängig gemacht worden, ergo ift das Prozeßbegehren der Handlungsgehilfen gar nicht fo groß, ergo find kaufmänniſche Sciedsgerichte Modeſache. Daß die genannten Scieds- oder Fachgerichte ınit den von den Handlumgsgehilfen geforderten nichts als den Namen gemein haben, Icheint der Herr Landrichter nicht zu willen. Es find Schiedsgerichte, die nur in Funktion treten, wenn fie von beiden Parteien freiwillig angerufen werden. Ich Habe das Statut des hannoverſchen Schiedsgerichtes durchgelefen und wundere mich gar nicht darüber, daß es im Jahr 1900 dort nur acdıtzehn Prozeſſe gab. Denn erjtens muß, wie gejagt, diejes Gericht von beiden Parteien angerufen werden und zweitens ift es nur für Mitglieder der Handelsfammer, alfo für eingetragene Firmen zuftändig. Gerade die Handlungsgehilfen, die in den vielen fleinen Gefchäften unter den traurigften Bedingungen dienen, find von ben Wohl« thaten dieſes „Rechtsſchutzes“ ausgejchloffen. Und wer richtet? Chefs und Ges - hilfen. Doc die Bollverfammlung der Handelskammer wählt aud) die Gehilfen- Beiliger aus der Zahl geeigneter Kandidaten, die fi die Kammer von ihr be— fannten faufmännijchen Nereinen vorjchlagen läßt. Man fieht alfo, wie völlig verjchieden von diefen Mipgeburten Faufmännijche Gewerbegerichte find, die nad) feftem Gejch für alle aus dem kaufmänniſchen Dienjtvertrag ftammenden Rechts» ftreitigfeiten in Anfprud) genommen werden müfjen, deren Beijiger aus allge- meinen Wahlen hervorgehen und die in längjtens eben jo vielen Wochen den Endfpruc füllen, wie das Amtsgeriht Monate braucht, um ein Zeugenverhör zu Ende zu führen. Solde Sciedsgerichte find nicht Modefache, ſondern ent- Ipredhen einem dringenden wirthichaftlichen und jozialen Bedürfniß. Plutus.

290 Die Zufmft.

Meifterfpiele.

NCor achtundvierzig Jahren wurde der neue Glaspalaſt der Bayernhaupt-

* ftadt zu würdiger Aufnahme der Allgemeinen Deutfchen Induſtrie⸗ ausftellung, der erften münchener, vorbereitet. Franz Dingelftedt, dem aus Stutt⸗ gart verfchriebenen Intendanten des Hoftheater8 und kosmopolitiſchen Nacht⸗ wächter a. D., dem der mündhener Boden damals noch heiß war und nie fühl werden follte —, lagen die Freunde in den Ohren, Riebig, Sybel, Dönniges, Geibel und die Anderen: was er den herbeiftrömenden Fremden nun im Schaufpielhaus bieten wolle. Alltagskoſt durfte es nicht fein; denn Jedermann erwartet fich ein Felt. Und Geld mußte e8 einbringen; denn König Dar hatte eben erft er: Hürt, er fer „durch die Verhältniffe außer Stand gefegt, mehr für das Hof⸗ theater aufzumenden als bisher.” Mit diefem Ukas in der Taſche waren grofe Sprünge nicht zu maden, namentlich nicht von einem zugereiften Protejtanten und Revolutionär, dem, ob er inzwilchen auch facht fein fromm geworden war, noch immer das bajuvarische Mißtrauen auf die Finger fah. Und wenn das Hoftheater während der Ausjtellungzeit läſſig blieb, konnte der Herr Imten- dant mit feiner Jenny allein in ber Galerie Noble des erfien Ranges figen; feine Sage guig ihn aus dem Glaspalaft dann ins Schauſpielhaus. .. In einer falten Dezembernacht fam dem blinden Heſſen die Erleudtung. ala er mit dem berühmten Arzt Karl von Pfenfer auf dem Sarolinenplag vor dem Obeligfen ftand. „Statt eines Schaufpielgaftes laffe ih ein Biertelfchod formen und ftelle fie insgeſammt auf die felbe Linie. Nur Künftler eriten Ranges lade ich ein, aber in einer alle groken Theater umfalfenden Auswahl; und nur in klaſſiſchen Stüden führe ich fie vor. Die Mitglieder der hieſigen Hofbühne betheiligen jich, je nad) Nermögen, an der allgemeinen Aufgabe. Ich fhaffe mir ein Perfonal von lauter erften Kräften und made für eine:Weile die mündhener Bühne zur deutfchen Centralbühne. Lauter große Stüde, deutfchen Urfprungs, gejvicht von Tauter großen deutichen Künftlern bis in die Heinfte Rolle hinein.“ Als der Gedanke auftauchte, waren noch ſechs Monate bis zur Eröffnung der münchener Meſſe. Tingelitebt verlor feine Zeit nicht. Dem König gefiel der Plan, im Januar fihon wurden die Aufforderungen an dreigig Theatergröfen verfandt und in der Karwoche gings auf die Werbereife. Die war nicht be: quem; in Wien mußte der Intendant an einem Tage zweiundnierzig Stock⸗ werfe erffettern und auf einer Fahrt durch allz deutfchen und öfterreichifchen Hauptftädte gab3 damals, bei bitterer Stälte, noch manche Strapaze zu dulden. Als nad achtzehn Tagen aber der lange Franz wieder in Münden faR, war da3 Brogramm fertig und die Ausführung gelichert. Feder Gaftfpieler befam für jede Rolle hundert Gulden. Yeder hatte ſich verpflichtet, außer zwei erſten auch zwei Heinere Rollen zu übernehmen, drei Tage vor dem Beginn der

Meifterfpiele. 291

Vorſtellungen einzutreffen ‚und mindeftens zwei Wochen lang zur Verfügung zu bleiben. Das war möglich, weil im Juli die meilten großen Theater geſchloſſen jind und die Wandervirtuofen raflen. Den Regiffeur jeder Bor- jtellung wählten die Gäjte mit Stimmenmehrheit. In Steeitfällen blieb die Entfcheidung dem „Plenum der Gefellfchaft“ vorbehalten. Den Text der

Stüde redigirte Dingelftedt und nach feinen vorher verfandten Sonfflirbüchern

mußten die Gäſte, ehe fie zum Wettkampf aufbrachen, ihre Rollen einrichten. Er, dem das Bild ftetS wichtiger war al3 das Wort, forgte auch für das fzenifche Kleid. Da mar er in feinem Element. : Er bat ſich felbft einen „an— geborenen Hang zu Maflenwirfungen und Maffenentwidelungen“ nachgefagt. Wie fo Vieles aus der Gejchichte unſeres durch Banaufenhochmuth von der Tradition gelöften Theaters, ift heute vergeflen, day; Dingelftedt daS frühe Vorbild der mei: ninger Regiefünfte war. Bon ihm haben Alle gelernt, die feitdem verfuchten, die Nüchternheit norddeutfhen Sprechſpiels mit dem bunten Reiz feiner Sinnlich— feit zu erwärmen und auf der Bühne ein „Milieu“ zu fchaffen, eine ftimmende, bejtimmende Unmvelt, die dem Determiniften im Zufchauerraum den Traun: und das Wollen der vor feinem Auge handelnden Menfchen erklärt. (Kein Zufall iſts nämlich, daß erit, al3 der Glaube an Willensfreiheit und gottähnlich felbit- herriſches Heldenthum ſich müde Hinbettete und der Glanz der Theologie und Teleologie mählich verblich, auch im Theater der Wunſch nah Erkenntniß der Kauſalität erwachte, das Bedürfniß ſich regte, auf den Brettern, die eine Menſchenwelt bedeuten ſollen, die Menſchenſchickſale determinirenden Kräfte verlörpert, die Hintergründe in greifbarer Klarheit zu ſehen.) Sogar die „male: rifcher” Maflengruppirung günftigen Treppen, die von den Mleiningern in die Diode gebracht wurden und zu der Frage führten, ob denn fümmtliche Fürften im Keller wohnten, hat Dingelftedt erfunden. Und eine ſolche Riefentreppe ftieg in München am. elften Juli 1854 Iſabella von Mefiina in die vom Intendanten „mit felbfivergnügten Raffinement aufgebaute” Halle des nor: manniichen Palaftes hinab. Er’ hatte manche Abjage befommen und mußte auf Dawifon, Deffoir, Ludwig Löwe, auf die Fuhr und die Bayer verzichten. Trot: dem konnte cr Aufführungen von nie erfchautem Glanz bieten. Iſabella war Julie Rettich, Deutfchlands damals größte Tragoedin, Cajetan der mächtige Sprecher Anihüg, Manuel und Ceſar wurden von Emil Devrient uud

Hendrichs gefpielt, „den berühmteften Liebhabern und zugleid) den in natura

feindlihen Brüdern des deutfchen Theoters.“ Auf diefer Höhe hielt fi) das „Sejammtgaftjpiel“ bis zum Schluß. Den einfahen Namen hatte Dingeljtedt gewählt; die Freunde fpracdhen von Muſter-, die Feinde von Monſtre- und Mujterreitervorftelungen. Was gegen den aus fommerzieller, nicht aus fünftlerifcher Sehnfucht geborenen Gedanken zu jagen war, wurde gefagt. Etil- einheit iſt in fo kurzer Friſt nicht zu erreichen; und auch bei längerer Vor:

304 Die Zukunft.

der den greifen Mesmer in Konftanz auffuchte und feinen unentgeltlicen magnetiſchen Kuren zuſah, ſpricht von ber „wunderbaren Kraft der Ein⸗ wirkung auf Kranke bei dem durchdringenden Blick oder ber blos ſtill er hobenen Hand“ Mesmers. Diefe Wirkung ging vielleicht zunächft rein von der phyfifchen Perfönlichkeit de3 Magnetiſeurs aus; fie wurde jedenfalls erhöht durch die Macht der hinter der phyfifchen ftehenden geiftigen Perſönlichkeit, die in ringenden Gedanken wie in inneren Schidjalen gereift und erſtarkt war. Diefer Mare, kluge Repräfentant der Aufklärungzeit, wie er ſich nament⸗ ih in dem Entwurf eines tdealen Bürgerftantes (im zweiten Theil des „Syſtems der Wechjelwirkungen“) zeigt, war zugleich Myſtiker und ein die Tiefe der Natur durchforfchender Geift. Diefe Zweiheit giebt ibm fein Be- ſonderes. Sein Weſentliches aber ift fein ganz innerliches Anfchauen ber Natur und ihrer Kräfte. Mesmer gilt in naturwiffenfchaftlihder Hinficht gemeinhin als Phantaft. Allerdings beſaß er die nachſchaffende Phantaiie, ohne die ein lebendiges Erkennen überhaupt undenkbar ift; fie mag ihn mand- mal zu Irrthümern geführt haben; daß fie ihm auch große Wahrheiten ver- mittelt hat, ift ohne Frage. Es wird feinem Ruf als Naturforfcher gewiß nicht fchaden, daR er den Zufammenhang aller organiſchen Entwidelung deutlich fah, daß man ihn faft als unbewußten Darmwiniften bezeichnen ann. Er Spricht einmal davon, daß das Thier feine Wurzeln aus dem Erdreich genommen und als Magen in feinen Sörper verſenkt habe. Das ift eime grundlegende Lehre de Darwinismus. An einer anderen Stelle betont er die Möglichkeit, daß der Schlaf als folchen bezeichnet er ausdrücklich das Leben der Pflanze der dem Menſchen natürliche, urfprünglihe Zuftand jei: dem Zwed des Vegetirend am Unmittelbarften ent|prehend. „Könnte man nicht behaupten, daß wir nur wachen, um zu ſchlafen?“ Man Halte daneben die der Entwidelunglehre eigenthumliche Anſchauung, daß der menſch⸗ liche Geift ih nur als Waffe im Daſeinskampfe entwidelt habe.

Mesmer gliedert feine felbfterlebten Anſchauungen in ein ffizzirtes metaphyſiſches Syftem ein. Das hat den Bortheil, daß er felbft einige der tieferen Sonfequenzen feiner been ziehen und uns vorweggeben muß; un günftig aber bleibt, dag er nun nicht in dem Maße gezwungen ift, die Einzel- erfheinung die er durch Eingliederung in das Syftem genügend motiptrt zu haben glaubt fo anfchaulich lebhaft zu fchildern, daR fie aus fich felbft allein den Leſer von ihrer Wahrheit überzeugt. Das Syſtem verhält ur zunähft aud den Ausgangspunft, von dem Mesmer in fein Gebir eindrang. Eine tiefe und befondere Art der Weltanſchauung muß in de Perfönlichkeit, die zu ihr finden fol, ganz und gar vorbereitet fein. Ein. folche Anfhauung mag zumal wenn in ihr fo ſichtlich praftiiche Konfe- quenzen liegen am Anfang, ehe fie jih runden konnte, nur als de

Diesuer. 305

Spiegel befonderer zufälliger Erfahrungen ericheinen. Am Ende, wenn dag ganze Xeben eine urjprüngliche Veranlagung umftrömt und Zeit gewonnen hat, fih um den bewußten oder unbewurten Gedanken zu Friftalli- firen, wird jich dieS Gebilde ganz zum Ausdrud der Perfönlichkeit wandeln. Per: fönlichfeiten aber ftellen in ſich immer einen Theil der großen Wahrheit dar.

Der eriten äuperen Anregung, die Mesmer zu jich ermedte, kann ich nur einen Zufallswerth beimeſſen. Es ijt ziemlich gewiß, dar er als junger Arzt durch Beobachtungen an Kranken auf den Einfluß achten lernte, den die großen Himmelskörper, indbefondere Sonne und Mond, auf den thierifchen Organismus üben. Seine Doftordilfertation handelte von dem Einfluß der Himmelsförper auf die Erde. Er forfchte vorurtheillos und fand ſcheinbar fernliegende und doc) deutliche Beſtätigungen. Mit richtigem Blick fah er in alten Volksmeinungen, Aberglauben und Aehnlichem keinen Unfinn, fondern wenn aud) erftarrte und verderbte, dennoch ſchätzbare Ueberrefte einer ursprünglichen Erfahrungwahrheit. So ging er forjchend bis auf vergefjene aftrologijche Anjichten zurüd. Unſere Naturerkenntniß bejtätigt diefen aftralen Einfluß übrigens; wie man denn jüngft auch zu einer unbeftreitbaren Er— fenntniß der Einwirkung ganz ferner meteorologifcher Eriheinungen auf das Nervenfyftem gelangt ift. Im feiner Prarid empfand der junge Mesmer ſchmerzlich, daß es Fein direktes auf die Nerven twirfendes Heilmittel gab. Er geriety nicht unbeeinflußt von feinen ajtrologifchen Studien auf die Nermuthung, daß Diefes ein Agens nicht wägbarer Materie fein müſſe, ein Prinzip der Belebung. In diefer Vermuthung lag gleichzeitig eine Er: Klärung des von ihm ausdrücklich al3 wechjelfeitig angenommenen Einfluffes der Himmelskörper, die Sich fait ganz mit der befannten Aether: Theorie deckt; nur nimmt Mesmer einen noch feineren Weltftoff an. Dieſer Einfluß „bewirke fih durch einen Mittelſtoff oder durch eine Fluth, worin alle Weſen in einer Urt von Berührung fo unter einander gemengt jind, daß dadurch eine einzige Maſſe von der ganzen Welt gebildet wird.“ Wir find „eingetaucht in den Ozean der Allfluth.“ In diefem Ausdruck dofumentirt ſich fchon eine kos— miſch, phantheiſtiſch empfindende Perſönlichkeit. Und inniger noch berührt fie uns, wenn er feine wundervoll künſtleriſche Anſchauung vom Entſtehen der Körper, Formen und Geitalten darlegt. Ste werden erzeugt von den beiden großen Kräften des Alls: Ruhe und Bewegung. Er giebt für feine Anſchauung ein etwas triviales, aber eindeutige3 und klares Bild: ein großes Glasgefäß fei mit Butter gefüllt, in dem ſich unfihtbar in Farbe und Ausfehen der Butter ganz gleih eine Wachsfigur befindet. Eine Yorm ijt nicht vorhanden: wir haben den Zuſtand der abjoluten Ruhe. Erhigen wir da8 Gefäß fo lange, bis die Butter fchmilzt, das Wachs dagegen nod) nicht aufgelöft wird, fo haben wir den Zuftand der Welt: Ruhe und Be—

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306 Die Zukunft.

wegung; die Bewegung durch die ihr im Weſen verwandte Wärme hervor: gerufen. Wir haben Form und Geitalt. Erhitzen wir das Gefäß weiter, bis auch die Wachsfigur ſchmilzt, ſo haben wir den Zuſtand der abiolnten Bewegung und wieder feine Form, feine Geftalt. Wenn wir bes Gefühles, daß alles Vergängliche nur ein Gleichniß iſt, ganz theilhaft find, jo muß dies triviale Bild tiefe Bedeutung für und gewinnen. Als ein Spiel der beiden Kräfte Ruhe und Bewegung ftellt Mesmer das körperliche Leben des Menfchen dar. Mit der Geburt richtiger wohl: in der Empfängniß ober in der Entftehung des Spermazoons tritt Leben aus dem Reich abfolırter geftaltlofer Bewegung in den Doppelzuftand der Bewegung und Ruhe ein. Nun beginnt eine langſame (oder bei tötlichen Krankheiten plögliche) Berfeitung, die zum Zuftand der abfoluten Ruhe, zum Tode führt. E8 leuchtet Tofort ein, daß die Widerjprüche, die in diefem Schema wie in allem Schematijchen liegen, daher rühren, dag wir vom Zujtand der abfoluten Bewegung vielleicht finnvoll zu fprechen vermögen, jedenfall aber den Zuftand der Ruhe nur in feiner Berbindung mit der Bewegung kennen und ihn abfolut aud) nicht denken fünnen. Wenn Mesmer dagegen mit feinem Echema nicht8 Anderes jagen wollte als: dar das Leben einer Einzelform eine langjame Verfeftung fei, die im Tode einen Augenblid lang wenn das der Form eigenthümliche Leben entflohen ift. das neue der Verweſung noch nicht eingefehrt fcheint uns ein Gleichniß der abfoluten Ruhe bedünken mag, fo löfen fi) die Widerjprühe. Aller— dings hat dieſes Schema mit Mesmers Grundanfchauung über die Ent: ftehung der Seftalten dann nicht mehr logiichen, ſondern nur den tieferen fymbolifchen Zufanmenhang. Unerörtert bleibt und hier beichattet viel- leicht der Nationalismus Mesmers Gejichtsfeld die Frage nad) der pſy— chiſchen Entwickelung im Leben. Sie geht im Peripheriichen der körperlichen Verfeftung parallel, im Gentralen fcheint fie ihr direft entgegenzugehen, wahr- haft „ein Entwerden” zu fein. Ich erinnere an Jean Pauls Unterfcheidung: „Das Aeufere, das Innere eines Menjchen kann fterben, aber nicht das Innerſte.“ Aus der Anſchauung von der Allfluth leitet Mesmer feine medizintfche Lehre her. Er nimmt an, daß die ganze Welt fortwährend durchftrömt jei von Zluthreihen diefes feinften Stoffes, die nad) allen Richtungen gehen. | Diefe Annahme ift hypothetiſch auch von einigen Aftronomen zur Erklärung der Gravitation herbeigezogen worden. Wo diefe Fluthreihen nun gezwunge find, die Zwifchenräume feiter Körper zu paffiren, befchleunigen ſie ih ur es entftehen Stromſchnellen. Das find die und bemerkbaren fogenannte magnetiichen Ströme. Diefe Ströme find fein Hauptheilmittel. Aber der Allfluth jah Mesmer noch Anderes. Es ift ein fonderbares Zufammer treffen, dag auf dem jelben Boden, auf dem im vierzehnten Jahrhunde einer der Männer, die aus dem tiefften Duell des Seins geichöpft hab⸗

Mesmer. 307

febte: der Mönch Heinrih Sufo, daß hier der aufgeklärte Arzt Mesmer geboren ift, der auf feinem Wege zu ähnlichen Anfchauungen gelangt wie der Myſtiker. Wie wir die Sterne nicht fehen können, wenn bie Sonne foheint, jagt etwa Mesmer einmal, jo hindern unfere äußeren Sinne oft das Leben und Wirken unfered inneren Sinnes. Auf diefen wirft nad feiner Anfhauung die Alfluth direkt ein, fo dag der Menſch wie man im ſomnambulen Schlaf, wo die äußeren Sinneöwerkzeuge außer Thätigkeit geſetzt ſind, beobachten kann in einem ununterbrochenen Zuſammenhang mit der Natur ſteht. Er glaubt, dieſen inneren Sinn im Nervenſyſtem erlannt zu haben. Mit ihm verbindet er nun eine ſehr wichtige, für das Verſtändniß aller großen menſchlichen kulturellen wie künſtleriſchen Entwickelung geradezu unentbehrliche und deshalb durch die Arbeiten der jüngſten Hiftorifergeneration (Lamprecht, Breyſig) mittelbar unterſtützte Hypo: theſe. Die Anſteckung der Meinungen, der Sitten, die oft plögliche Um: ftimmung ganzer Epochen, die Wirkung des Willens ftarfer Charaktere, der Segnungen und Berfluchungen und alles Deffen, was heute unter den Begriff der Suggeftion fällt, jind ihm durch die Allfluth vermittelte Wirkungen auf den inneren Sinn. Was die Luft für den Schall, der Aether für das Licht, ift der feine Fluthftoff für den Gedanken. Bielleicht ift unfer naturmwifien- ſchaftlich eingeengtes Denken durch die felbit für den Pfahlbürger wunder- baren Entdedungen der drahtloſen ZTelegraphie und der Nöntgenftrahlen wieder einmal für eine Zeit lang von feiner Banalität und Ueberhebung fo weit befreit, daß wir auch diefe Gedanken, ohne fpöttifch zu lächeln, zu erwägen im Stande find. Mesmer hat hier unzweideutig die völlige Durch: dringung des AUS mit Geift ausgeſprochen. Das ift eine in Folge ihre8 näheren Haftens an dem Gleichniß des DVergänglichen gröbere Form des Pantheismus, als er fih fonft bei Mesmer ausfpridt. Worte wie: „Das Wollen des belebten Körpers ift nichts im Weſen Unterfchiedenes von dem Fallen des unbelebten“; oder: „Die Moral ift eine unjichtbare Phyſik“ drüden feinen tieferen PBantheismus aus. Mit den mwerthvolleren Anfhauungen des Okkultismus dedt fi Mesmers Gedanke, daß alle Weſen Daterialifationen nach innerem Bilde feien; auch die von Mesmer ange: nommene Möglichkeit einer Sernerfcheinung, „nachgeformt fogar auch durch die bloße Eriftenz der urfprünglichen Form“, ift offultiftifche Anfchauung. Er fieht aljo auch in der Thatfache der Exiſtenz, des Daſeins etwas wefentlic) Anderes als die gewöhnliche Auffaffung; nicht einen Zuftand, fondern eine fortgejegte und beliebig weit reichende Zeugung. In all diefen mesmerifchen Gedanken Liegen Werthe für uns, die von der Wahrheit oder Nichtwahrheit feiner magnetifch-medizinifchen Lehre unabhängig find. Weimar. —Wilhelm von Scholz. 2 23*

308 Die Zukunft. Rri ijon.* egsratjon.”)

SI" Kriege der älteften Zeit fo ſchildert Guſtav Freytag die geichict-

liche Entwidelung waren auf Austilgung des Gegnerd mit Weib und Find, auf Aneignung feines Bodens und feiner Habe gerichtet. Aus Eigennup machte man Gefangene; fonft tötete man; die gefangenen Sflavinnen hatten „feine Ehre”. Noch in der Saiferzeit verfuhren die Römer im MWefentlihen fo. Die Gerinanen zeigten jich den Frauen gegenüber milder; am Wenigften die Franken, die deshalb getadelt wurden. Allmählich kam es dazu, daß von Unbemwaffneten nur noch die Männer gefangen, dan die Gefangenen „geihatt“ wurden; die Kreuzzüge, das Lehnsweſen, das Ritter- thum brachten, troß vielen Ausnahmen graufamer Wildheit, doch einen Fort— fchritt gegen früher. Neben der reiligen Schaar hatten ſtets Reſte des alten Volksheeres fortgedauert, und al3 diefe jih in das Landsknechtsheer vers wandelten, aljo etwa zur Zeit Marimilians, fam man wieder eine Stufe höher. Kine aus dem übrigen Volksthum gelöjte Berufsorganifation ftand der anderen gegenüber. Im eigenen SHandwerksintereffe gab man einander „Quartier“, verfprach den Weibern und Kindern freien Abzug. Wurde auch viel geplündert, fo kauften fich doc auch viele Städte los. Inſofern die Kriegrührung fi noch mehr auf Berufsheer gegen Berufsheer befchräntfte, hat ſelbſt der Dreikigjährige Krieg eine gewiſſe Weiterentwidelung zur modernen Methode gebracht. Im Uebrigen bietet er freilich faft nur ent- jegliche Bilder von Grauſamkeit, Mordluft, Zerftörungluft, auch gegen Nicht: fombattanten, Weiber, Sinder und deren Habe; nur Guftan Adolf ſelbſt nicht mehr die Schweden nad feinem Tode hielt beffere Mannszucht Auch das Landvolk verwilderte; der Landmann hatte in jedem Soldaten, aber auch der Soldat in jedem Bauern den Feind zu fürchten, bereit zu binter- liftigem Ueberfall, zur Marterung, zum Morde. Nach dem Weitfälifchen Frieden erftarkte das Gefühl für Humanität doch fo weit, daß das Haufen der Franzofen in der Pfalz allgemeinen Abjchen erregte. Die Meinung fejtigte fich, daß den Krieg die ſtehenden Heere zu führen haben, während der ſeßhafte Bürger arbeitet und jteuert, Schwere Kaften haben auch deutjche Armeen auferlegt, aber meist doc) foldhe, die von der Leitung geordnet wurden; Roheiten kamen vor, aber gegen die gewollte Zucht de3 Heeres. Friedrich | der Große balirte feine Seriegführung zum grogen Theil auf Verpflegi und fürjorglich angelegte Magazine. Das wirkte manches Gute, aber a eine gewilfe Gebundenheit, von der Napoleon den Krieg löfte. Große f prefiungen kamen unter ihm vor, nanıentlih in Preußen. Aber er reg. in ganz neuer Weife die Norbereitung der Kriege, jo des Feldzuges v

3. „Zukunft“ vom 22. März 1902: Deutiche Soldaten in Feindesla:

Kriegsraifon. 309

1805, eben jo des ruffüfchen SKrieges, durh Sammlung von Vorräthen für Defleidung, Nahrung, Fourage, Wagenparf im nie dagewefenem Umfange. Freilich ift der Untergang der großen Armee unter Mitwirkung von Kälte, Hunger, Unwegſamkeit, Entbehrungen jeder Art dadurch nicht verhindert worden. Für das vorher in der Heimath Erbuldete haben die Deutſchen 1814/15 in Frankreich wenig Vergeltung geübt; diefe Tichtfeite des damaligen Krieges darf man wohl Hauptfächlich auf die Durchjegung des Heeres mit einer zahlreichen begeifterten, zum Theil gebildeten Jugend zurüdführen.

Im Ganzen brachten die zwei Jahrhunderte nad) 1648 einen fchnellen Fortfehritt zur Humanität. In der zweiten Hälfte des neunzehnten Yahr- hundert3 fteigerten jich die dahin gerichteten internationalen Beftrebungen. So im Sanitätwefen, in der Fürforge für Bermundete (Genfer Konvention: und in Bezug auf die anzumendenden Waffen (Verbot der Sprenggefchoffe aus Handfeuerwaffen). Pie grundfägliche Schonung des Privateigenthumes. im Landfrieg und der Nichtfombattanten wurde zu einem unanfechtbaren Zap; auf Achtung des Privateigenthumes zur See wurde wenigftens hin- gearbeitet. Die Humanifitung des Kriegsgebrauches erhielt eine Kodififation in der freilich nicht ratifizieten brüfleler Deflaration von 1874 und, auf deren Grundlage, durd; die in frifchem Andenken ftehende Haager Kon: vention von 1899. Die deutiche Regirung ſah ſich damals in der erfreu- lichen Tage, erflären zu können, daR von deutichen Truppen „nach den ge= troffenen Beftimmungen ſchon bisher verfahren ſei.“ In der That dürfen wir geihichtlicd; für unfer Vaterland ein Hauptverdienft um den „Fortfchritt der Schonung im Krieg beanfpruchen.

Mit unabwendbarer Nothwendigkeit haben aber diefer Tendenz andere Momente entgegengewirkt. Das überjieht man vielfah. Erſtens die un gentein gefteigerte Machtentwidelung der Staaten überhaupt, die Kriege führen, ihrer Volfszapl, ihrer Kultur. Das und namentlich) das völlig geänderte Zransportweien, Eifenbahnen und Dampfichiffe, führt zur Aufftelung von unvergfeichlich jtärferen Heeren und zu ungeheurem, im Felde häufig doc nicht geordnet zu befriedigendem Bedarf für Menſchen und Thiere. Man hat für einen Aufmarſch mit 1 Million Menſchen und 300000 Bferden anf drei Wochen eine Erfordernig von 2 Millionen Centnern (ohne Heu und Stroh) berechnet. Gefteigerter Wohlitand und Kultur, die weit feinere Ver: äftelung aller wirthichaftlichen Verhältniffe jind aber auch viel empfindlicher gegen jed> Abweichung vonı friedlichen Zuftande. Ferner find die technifchen Zerftörungntittel in ungeahnter Weife vervolllommmet und fein Staat fann es unterlaffen, von den wirffamften Gebrauch zu machen. Bejonders wichtig ift, dar im Kreislauf der Gefchichte die Kriege wieder mehr den Charakter von Volfzfriegen angenommen Haben.

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310 Die Zukunft.

Das nationale Bewußtfein, die Gebundenheit an Macht, Gröke und Ehre des eigenen Staates haben eine Intenjität gewonnen, die den vorge gehenden Jahrhunderten unbelannt war. Die Gefchichte wird gefälfcht, wen: jegt vielfach dem Dynajten, den Weldheren, dem Bürger oder Soldaten ie achtzehnten und noch früherer Jahrhunderte preußifcher oder gar deutfce Patriotismus, wie wir ihn verftehen, in den Mund gelegt wird; man denk an den Großen Kurfürften, der ſich von Frankreich bezahlen lier. Heutzu⸗ tage empfindet der deutfche Fürft, empfindet jeder Deutfche ald einen Schiami die finanzielle Abhängigkeit von einem fremden Staat, die Förderung ven deffen Zmweden gegen Entgelt. Jeder Einzelne empfindet den Eriegeritchen Erfolg gegen den eigenen Staat als eine ihn perfönlich mittreffende Beein- trädhtigung der nationalen Ehre und Wohlfahrt. Feder fühlt jich verpflichtet, nah Kräften, wenn irgend möglih mit der Waffe, an der Abwehr theil: zunehmen. Daß „jeder Staatsbürger” Widerftand leiften folle, wie Schar: horft und Gneifenau wollten, daß „Hinter dem Ofen“ nur „erbärmliche Wichte bleiben, wie Körner fang, war damals etwas Neues, ijt aber jeit den Freihei⸗ friegen immer allgemeiner ins Bewußtſein gedrungen, gilt jegt nicht nur von Deutfchen, fondern mindeftens auch von Franzofen, Jtalienern und würde dod 4 wohl aud von Briten gelten, fobald «8 ji nicht um einen Kolonialkrieg, ſondern etwa um einen zwifchen großen europäifchen Mächten handelte. Dies Gefühl ift weſentlich mitverbreitet durch die allgemeine Wehrpflicht, aber nicht unbedingt an deren bereitS erfolgte Einführung gebunden. Es führt dazu, daß auch auferhalb der organifirten Truppen viel aktive und pajfive Feindfäligfeit fich zeigt, namentlich im von der Invaſion betroffenen Lande, daß neben jenen Truppen oder nach deren Erfchöpfung weniger organiitrte, von ben Nichtlombattanten ſich nicht jcharf abhebende Gruppen Widerſtand leiften. Auch die Frauen markiren den Abſcheu gegen den Zandesfeind. Es wird vielfach zur Ehrenfache für jeden Cinwohner, den Anordnungen, Re quifitionen, militärifhen Maßregeln des Feindes möglichft Abbruch zu thun.

und ſolches Streben muß wieder gefteigerte Strenge und Härte hervorrufen. _

Neben oder nach dem großen Kriege entbrennt der Kleine, die Guerilla, die nicht blos mit den fonftigen Mitteln der Taktif und Strategie arbeitet, fondern die Tendenz hat, mit längerer Dauer auch an Grauſamkeit zuzunchmen.

Trog Aledem würden wir, bei dem im Ganzen doch offenbaren 5 rt:

Ihritt, nicht fo viel von Seriegägräueln hören, wenn fich nicht die Feinfül ig: feit gefteigert hätte. Das fann gar nicht oft genug betont werden, hier vie auf anderen Gebieten, zum Beifpiel auf dem der Kriminalität. Die Menf en werden nicht ſchlechter: jie halten ſich für fchlechter, weil fie weicher empfin en. Des Krieges Wefen aber ift harte Gewaltthat.

„sm Kriege gefchehen die fchlinmften Irrthümer aus Outmüthig eit.

Kriegsraifon, all

Wer.gewaltthätiger ift, ift ſtärker.“ Noch einmal ftehe Hier da8 Wort von Clauſe— wig, dem großen Zheoretifer des Krieges; felbit der Laie muß einſehen, daR er Recht hat. Man mag ftreiten, ob Kriege nothwendig, ob fie nüglich find; aber wenn Sriege find, müffen ſie fo geführt werden, daß möglichſt ſchnell möglichft viel Schade an Leben, Leib, Sachen zugefügt wird. Daß die Seele des Feldherrn weichrnüthigen Regungen unzugänglich fein muß, hat Colmar von der Goltz tref: fend dargelellt. Der Feldherr, der am Nachmittag die entfprechenden Meldungen erhält, muß ſich bis zum Abend entfchliegen können, morgen fünfzigtaufend Menfchen feines Volfes hinzuopfern, wenn er davon einen entfcheidenden Sieg erwarten darf. Welche ungeheure Entſchließung: eine halbe Million Frauen, Kinder, Eltern, Gejchwilter unmittelbar betroffen, ein furchtbarer Aderlaß in die blühendfte Volkskraft hinein, Millionen weggeworfen, die für Aufzucht diefer Menſchen aufgewendet find, Millionen verloren, die fie in den produftivften Jahren einbringen follten! Der General, der eine befeitigte Stadt zu halten oder anzugreifen hat, muß Tod, Wunden, Siehthum fogar über Taufende von Frauen und unfchuldigen Kindern bringen, muß ihre Leiden mit anfehen, ohne weich zu werden. In der Nothwendigkeit diefer Härte giebt es feinen Unterfchied zwifchen Deutfchen, Franzofen, Engländern, Rufen; die TZaufende von Müttern, die in Paris ihre Kinder in Folge der Entbehrungen dahinſchwin— den fahen, haben den Deutfchen eben jo geflucht wie die Burenmütter den Briten. Man mag den erften Napoleon haflen, Moltke lieben: jene Feldherin-Eigen- ſchaft befa der Deutfche fo gut wie der Korſe. Auch der Staatsmann, deffen Poli: litik Durch da8 Schwert ja nur fortgejegt werden foll, muß folcher Härte fähig fein. Bismard war es und mußte e8 fein; er ift in die drei Kriege nicht hineingeglitten; er wußte vorher, daß er Blut und Eifen brauchen würde. Er hat die Verantwort= lichfeit auch nicht abgelehnt; noch viel fpäter Laftete ſie gelegentlich auf feinem ftarfen Herzen, wenn er am varziner Kamin der Hunderttaufende gebadhte, die feinen Lebenswerk geopfert werden mußten. Doc war felbft Napoleon Regungen nicht unzugänglich, die man fentimental fchelten möchte; der General Marbot erzählt, wie der Kaifer einem feindlichen Unteroffizier, der lich zäh und unerfchroden auf einer Eisſcholle treibend hält, gerettet fehen will, wie Marbot und ein anderer franzöfifcher Offizier fich ausziehen und mit größter eigener Gefahr den Braven aus dem Treibeis ſchwimmend herausholen. Aber der felbe Kaifer befann jich feinen Augenblid, als Tauſende flichender Feinde auf der feiten Eisfläche ſich befanden, dieſes Eis durch Artilleriefeuer fprengen zu lafjen und jene Schaaren vor feinen Augen mit graufigen Tode verzweifelt und hoffnunglos fümpfen zu fehen. Und er handilte recht. Man ftreitet nicht darüber, daß gegen fämpfende Soldaten das Streben nur auf möglichft fchnelle und umfaſſende Vernichtung gerichtet fein fan. Die Beſchränkungen, die man hierbei aus Humanität für die Kampfmittel

312 Die Zukunft.

ſtatuirt, ſind mehr oder weniger willkürlich und können auf immer geſichert Geltung ſchwerlich beanſpruchen. Aus Handfeuerwaffen ſollen Sprenggeſchoſſe nicht gefeuert werden: Tas iſt gerechtfertigt, wenn und fo lange ein Gejchoß in der Regel nur einem Leibe gilt und dafür mehr al3 ausreichend ift. Sont wäre nicht abzufchen, weshalb man aus einem großen Lauf mit einem Schuß an Tugend Menichen zermalnten darf, aus einem Heinen nicht. Tas hang Verbot, cus Luftballons Sprengftoffe zu ſchleud Di; ar: gerodten; mit ihm 1 darf man vermuthen, daß eine Armee oder Marine, die ganz neue oder überlegene Mittel des Kämpfens aus der Luft beſäße was ja heutzutage leicht eintreten mag —, biefen Vorſprung ſchwerlich unke: nugt lafien dürfte. Tie Haager Konvention verbietet Alles, was „überflüifige Schmerzen“ erzeugen fann. Ferner Gift und vergiftete Waffen.

Der feindliche Soldat, der die Waffen geftredt hat, fol gefchont werben. Tas preufifche Militär-Strafgejegbuh von 1845 ſchützte feinen Leib noch ausdrüdlich, daS deutfche von 1872 hält eine befondere Vorſchrift nur ned in Bezug auf die Sachen der Gefangenen für nöthig. Aber die Leute münen auch mit Erfolg bewacht, ſie müffen transportirt, ernährt und unter Um: ftänden beffeidet werden. Da können Konflikte zwifchen anerfannten Hume: nitätpflichten und dem eigenen militärifchen Intereffe Teicht entjtehen. Bi zu fürchtenden Schwicrigfeiten ift man naturgemäß weniger genergt, Gefangene zu machen. Iſt die Menge der Nahrungmittel fehr befchränft, fo mug de Erhaltung der eigenen Leute voranfichen. Die Franzofen verabfolgten in dat Nevolutionfriegen einmal mehreren tauſend gefangenen Tieiterreichern länger Zeit täglich nur je ein Achtelpfund Fleifh und ein Adhtelpfund Brot. Tas heist beinahe, langjanı verhungern lafien, fanı aber durch die Umstände ent: huldigt werden. Auch nad Sedan fonnten die Lager der Gefangenen nicht fofort genügend verforgt werden. In Fünftigen Striegen mag bei den unge: heuren Zahlen Schlimmeres pafliren. Die größten Fortfchritte gegen früher iind in der Behandlung Verwundeter gemacht. Dan freut fi Deffen, ohne zu überjehen, welche merfwürdige Anomalie darin liegt: phyitfche Kraft, tedr nische Hilfsmittel, Intelleft, Geldbeutel aufs Aeußerſte onzufpannen, um Tauſende zu jchädigen, und gleich daranf die gleichen Anftrengungen zu machen, um fie zu pflegen und zu heilen.

Wer aber ift al3 ferndlider „Soldat“ zu behandeln? In Fälle it dem amerikanischen Sezeſſionkriege, bei farliftifhen Unruhen, Erhebun 7 füher türtifchen Provinzen und VBafallenftaaten und anderen fragt id, D die Nechte Kriegführender zuzubilligen find oder ob gegen Nufrübrer, neben 1 Niederwerfung im Kanıpf, aud) ftrafrechtliche Mittel zur Anwendung fom 1 follen. England hat bei Beginn des jegigen Krieges gegenüber ter = afrifanifchen Republik, trog der aus früheren Vertrage beaniprer n

Kriegsraiſon. 313

Sugerainetät, dieſe Frage nicht aufgeworfen. Es kann aber weiter zweifel⸗ haft werden, wann der paſſive Kriegsſtand aufhört, namentlich, nachdem der eine Staat zur Annerion gefchritten ift. Wenn wir 1870 die Welfenlegion int Felde getroffen hätten, wäre ihr ſicher nicht das Recht auf gleiche Be— handlung wie franzöfifchen Soldaten eingeräumt worden. Wird der ganze feindliche Staat vernichtet, ift gar feine organilirte Gewalt da, mit der Friede geichlofjen werden könnte, fo it befonders fraglich, wann der paſſive Kriegs⸗ ſtand aufhört. Man kann es vom völfer- und ſtaatsrechtlichen Stand— punkt ſchwerlich billigen, daß England den weiter kämpfenden Freiſtaatern und Transvaalern jetzt Verbannung und andere Nachtheile androht, nur weil Bloemfontein und Pretoria ſeit längerer Zeit erobert ſind und die Annexion proflamirt iſt. Denn der Krieg hat inzwiſchen ununterbrochen fortgedauert, weite Randftriche find noch nie von den Engländern bejegt gewefen, andere . wieder aufgegeben. Wenn aber das Kämpfen für Monate oder Jahre ganz aufhörte, die englifche Negirungsgewalt fih in ganzen Lande wirkſam be: thätigte und dann wieder Burentruppen im Felde erfchienen, wäre es eher berechtigt, die Analogie einer Rebellion anzumenbden.

Nicht ohne Zufammenhang damit ift die Frage, wie die Kombattanten befchaffen fein müffen, um als Soldaten behandelt zu werden, aljo mit An— fpruch auf Schonung und Straflofigfeit außerhalb des Gefechtes. Da ift es wohl berechtigt, wenn der Feind gewiſſe Anforderungen ftellt: Auftrag berufener Gewalten, Drganifation, fenntlide Uniform, die ftändig getragen wird, Er kann ich nicht der Gefahr ausfegen, daß Zeute, die ſich als frieb- liche Bürger geben und behandeln laffen, jeden günftigen Augenblick benugen, un ihm feindlid) zu wirken, durch Ueberfall, aus den Hinterhalt, in Quar— tieren, gegen fchwächere Truppg, gegen Transporte und Transportmittel, gegen feine rüdwärtigen Verbindungen. Ein Krieg mit wirklich allgemeiner, militärisch nicht organiſirter Vollserhebung muß nothiwendig graufam werden. Man kann ein Voll, das fo auffteht, bewundern, man kann entſchloſſen fein, dir unveräußerliche Necht gegebenen Falles felbft auszuüben, aber man ſoll Sich Flar fein, dag eine folche Bevölkerung, wie Felix Tahn richtig fagt, dann auf Schonung verzichtet. Wo ſich Anſätze dazu zeigen, werden die Gefangenen hingerichtet oder doc, fonft ſchwer beftraft; ihre wie ihrer Ange: hörigen und ihrer Gemeinden Eigenthum wird zerftört oder eingezogen, ein Vernichtungsfrirg entbrennt, das Feuer muß ausgetilgt werden. In diefem Sinn, wenn aud) redjt gemäßigt und mild, haben auch die Deutfchen in dem Strirgsabfchnitt nad) Cedan gehandelt. Sie haben, wie Dahn Sagt, die Repreſſion faltblütig veglementirt; und darin lag ein Fortfchritt gegen früher.

Merkwürdiger Weile beantragten auf der Nonferenz im Haag id folge Schaeffles Bericht in feiner Zeitſchrift die Engländer eine dent

314 Pie Zukunft.

„Bolfsfriege* günftigere Vorſchrift: die Bevölkerung eines nicht bejegten Gebietes, die beim Herannahen des Feinde aus eigenem Antrieb zu den Waffen gegriffen hat, ohne Zeit zur militärifchen Organifafion zu haben, al „Lriegführend“ zu betrachten, fofern fie die Gefege und Bräude des Krie: ges achtet. Nachdem fich der deutiche und der ſchweizer Vertreter dagegen ausgefprochen, andere beigeftimmt hatten, wurde der Antrag zurüdgezogen. War er fentimentaler Erinnerung an vermeintliche Graufamleiten der Deutfſchen entfprungen oder dem Bewußtſein, wie wichtig für das Injelreich im Fall der Invaſion, bei feinen fchwachen Heer, eine Vollderhebung werden fönnte? Jedenfalls hat e8 ſich gefügt, daß unmittelbar darauf England in Krieg mit zwei Staaten verwidelt wurde, in denen ein eigentliches Heer gar nicht beitand, aber jeder Bürger, vom zarten Knaben bis zum Greis, bereit umd fähig ift, zu fümpfen. Ballten zu Anfang die Bürger jich zu organifirten Truppen zufammen, fo laufen fie doch jest Häufig auseinander umd ver einigen jich wieder, fämpfen auch in ganz Heinen Gruppen, tragen feine Uniform, jind heute Bauern, morgen wieder Kombattanten. Es ift anzu⸗ erkennen, daß dadurch die Seriegführung außerordentlich erfchwert wird; «8 it zu vermuthen, daß auch andere Staaten aus diefem Grunde zu ftrengeren Maßregeln außerhalb des Gefechtes fchreiten würden. Man ftelle fich vor, daß wir fünftig einmal in Frankreich, nach Niederwerfung des eigentlichen Heeres, Teindfäligkeiten gegenüberftänden, wie fie jest die Buren betreiben! Auf der anderen Seite ift nicht zu vergeflen, daß die beiden jugendlichen Staaten, Dafen einer werdenden Sultur, mit ihrer ganzen Eriftenz nur anf jene Art der Landesvertheidigung bajirt waren.

Wer von den Einwohnern fi nicht feindlich bezeigt, wird auch nicht al3 Feind behandelt. Ausgenommen find aber nicht nur Alle, die von den Waffen Gebrauch machen, fondern auch Alle, die den Feind unterftügen durch Nachrichten, durch Verſchaffung oder VBerbergen von Sriegsmitteln, Vorräthen, durch Schädigung militärifcher Einrichtungen u. f.w. Nah 8 91 des Strafgefetzbucches ift gegen Ausländer wegen der Handlungen, die, bon Deutfhen begangen, Zandesverrath find, „nah dem Kriegögebrauh“ zu verfahren. Der Landesverrath im Yelde iſt Kriegsverrath, defien Begriff aber auf die eben erwähnten feindlichen Handlungen erweitert; wer auf dem Kriegsſchauplatz ſich folder Handlungen fchuldig macht, wird mit dem Tode ol mit Zuchthaus beftraft (Militärftrafgefegbuch S 160) und nad 8 161 gelt: alle deutfchen Strafgefege auch gegen Ausländer in befegtem Gebiet zu Schug deutfcher Truppen und Behörden.

Die Einwohner find auch vorbeugenden polizeilichen Maßregeln unter worfen. Es ift Mar, dag die Ordnung in Kriegszeiten, in befegtem Feindes land mit bejonderer Strenge aufrecht erhalten werden muß. Die erforderliche

Kriegsraiſon. 315

Einſchränkungen der Bewegungfreiheit, des Handels und Gewerbes können ſehr weitgehend ſein, ohne daß der Vorwurf unnöthiger Härte begründet wäre. Sie werden um ſo ſtrenger ſein, je mehr auf der Seite des okkupirten Staates der Krieg ſich dem Volkskrieg nähert. Auch Austreibung aus den Wohnſtätten und Internirung kann erforderlich werden. Noch heute ſpricht man bier mit Abſcheu davon, wie Ende 1813 Davout mehr als dreißig⸗ taufend Menfchen aus Hamburg vertrieb, wie ein großer Theil davon ſchonunglos der Kälte und dem Hunger ausgeſetzt wurde. Aber grundfäglich verzichten auf ſolche Befugnif kann fein Staat. Zunächſt nicht für die Zwecke des Gefechtes. Ferner bei auszuführenden oder auszuhaltenden Belagerungen. Aus Rückſichten der Duartierbefchaffting, der Verpflegung, der Hygiene, die im Kriege fchärfere Maßnahmen erfordern kann al8 im Frieden. Man ftelle fi) vor, daß 1866 die ausgebrochene Cholera nod mehr jich verbreitet, der Krieg mehrjährige Dauer angenommen und eine Truppenanhäufung in Landftrihen Böhmens nöthig gemacht hätte: gewiß hätte man anftandlos zu den militärifch väthlichen Verſchiebungen der Civilbevölkerung gegriffen. Das Selbe gilt, wenn man auf feine andere Weife die Einwohner hindern fann, dem Feinde fortlaufende Nachricht über die eigenen Operationen zu geben oder ſolche fonft zu ftören. Namentlich alfo, wenn man mit verhältnigmäßig ſchwachen Truppen ein weites Gebiet in Ordnung halten ſoll. Rekruten -auß dem befegten Gebiet auszuheben, ift gänzlich abgefommen, während man früher ja häufig genug gefangene Soldaten jogar in das eigene Heer ftedte. Wohl aber darf man die Geitelung von Mannfcaften aus dem offupirten Terrain für die fetndliche Armee verbieten und Zumiderhandlungen ſtrafen. Die Engländer in Südafrifa haben jegt die eigenthüntliche Modi— fifation eingeführt, dar fie einen Neutralitäteid ſchwören laſſen und defien Bruch ftrafen. Jeder Krieg, fagte Dahn fehon 1871 richtig, bildet fein befonderes Strafrecht aus, je nach den DVerhältniffen.

Ueberhaupt wird man die Geſetze des befegten Landes fo weit in Kraft, defien Eivilbehörden fo weit in Funktion laflen, wie es da8 eigene militärifche Intereſſe geftattet; sauf emp&chement absolu, fagt die Haager Konvention. In Frankreich) wurden deutfche Präfelten eingejest, dagegen die vorhandenen Lofalbehörden, wenn es möglich war, belaffen; durch ihre ortöfundige Ver— mittelung fuchte man dem militärifhen Bedürfniß zu genügen.

Un unbeweglichen Gütern des Feindesitaates wird nur bie Nutznießung beanſprucht. Nach einer haager Beſtimmung ſollen dem Kultus, Uaterricht, der Wohlthätigkeit, der Kunſt oder Wiſſenſchaft gewidmete Gebäude wie Privateigenthum behandelt werden. Bewegliches Staatseigenthum kann be— ſchlagnahmt werden. Ob und wie weit Provinzen, Gemeinden und andere öffentliche Verbände in dieſen Beziehungen dem Staat oder den Privaten

316 Die Zukunft.

gleichgeftellt wirden, fcheint nicht recht feitzuftehen. Man darf mohl zuı Analogie mit Privaten neigen. Aber Requiſitionen, Beitreibung militäriſcher Bedürfniffe, auch ohne Bezahlung, richten fich naturgemäß vorzüglich gegen Gemeinden, Kreiſe und ähnliche Verbände. Die Requifitionen einzufchränfen, ind die Staaten heutzutage bemüht. Schon zu Anfang des nenuzehnten Jahrhunderts ſollen die Engländer in Amerifa, im Krimkriege die Weſtmächte gar nicht requirirt haben; auch die Maasarmee nicht feit Oktober 187%. Ganz verzichten darauf kann fein Heer. Trotz den beiten Vorfehrungen für Nachſchub von Bedarf jeder Art, trotz umfichtigem freiwilligen Anfauf fann zwingender Mangel eintreten. Je wohlhabender und leiltungfähiger das be: jeute Land, defto weniger darf dann die Beitreibung unterbleiben. Im Inter: efie beider Gegner empfiehlt fi), dabei peinlich auf Ordnung zu halten; alſo. wenn möglich Baarzahlung, mindejtens Quittung über Empfang der Sachen, ftrenge Mannszucht bei der Ausführung und Regelung der Kompetenz für die Anordnung. Diefe gebührt, fo weit Truppen im Verbande Tiegen, dem Höchſtkommandirenden oder bedarf doch jeiner Delegation an andere Stellen. 1870 ſoll bei ung die Vorſchrift beitanden haben, dar die Befehlshaber Fleinerer detachirter Corps nur Lebensmittel, andere Gegenftände Bekleidung, Lazareth- material, Geräthe, nur Generäle ausfchreiben durften. Es iſt Mar, dar Ausnahmen zuläftig fein müſſen. it dringender Mangel, Gelegenheit zur Abhilfe, Feine Zeit und Gelegenheit zum Inſtanzenzug oder nach den Um- jtänden die Genehmigung zu erwarten, fo darf und muß jeder Regiments-, Bataillon, Compagnie: Kommandeur auf eigene Verantwortung requiriren. Im Haag ift die Beſtimmung durchgefegt worden, die Requiſitionen müßten „in angemeſſenem Verhältniß zır den Mitteln des Landes“ bleiben. Ziemlich nicht3jagend. Auch für Stontribuitonen iſt eine Einengung ohne jondere lichen Erfolg verfucht worden. Die Zuftändigfeit wäre hier freilich möglichſt auf die höchſten Etellen zu befchränfen.

Das Privateigenthum ift im Prinzip unverleglih. Das ijt für den Laudkrieg anerfannt. Eine Ausnahme ergab ſich bei den Reguifitionen; eine fernere befteht für die militäriſchen Bedürfnifie des Angriffes und der Per theidiging. Dann fur Privaten gehörige Kriegsmaterial, Telegraphen, Zelephone, Kabel, Eiſenbahnen, Schiffe; doch fol Alles nah Schluß des Krieges zuriderjtattet werden. Diefe Ausnahmen genügen aber noch nid man muß jormuliren: Auch das Privateigentham darf angegriffen werd jo weit e3 für die Jwede des Krieges erforderlich iſt.

Der humane Fortfchritt, den man erreicht hat, befteht alfo darin, d man die Unverlegbarfeit zur Negel, das Gegentheil zur Ausnahme geme hat. Daß man nicht boshaft oder muthwillig fchädigen darf; aud nicht _ dem Zweck, durch Schädigung der Einzelnen die Gerammtfraft zu ſchwäche.

Kriegsraiſon. 317

Daß weder der beſetzende Staat noch ſein Heer, im Ganzen oder in Theilen, noch der Einzelne aus dem Privateigenthum Gewinn für die Zukunſt, für das jpätere Leben fuchen darf. Endlih, dag die Schädigung des Landes: einwohners nicht ganz außer Verhältniß zu dem dadurch gefchaffenen Nuten ftehen fol. Um unnüge Bedrüdfung zu vermeiden, wird man, aud) in: Intereſſe der eigenen Disziplin, dafür forgen müſſen, daß nicht Jeder fordern und erzwingen darf. Aber die Grenzen find hier naturgemäß ſchwankend. Nicht wegen jeder Einzelheit fann im Quartier der höhere Vorgeſetzte beläffigt werden. Der Soldat ift im Striegsquartier, namentlich auch auf dem Marich, berechtigt, fich felbft zu helfen. Und ihm fol möglichft Gutes, nicht nur daS Aller- nothwenbdigite, gewährt und, jo weit e8 angeht, Abrvechfelung verfchafft werden.

Guſtav Freytag giebt einige Beifpiele: Es ift tadelnswerth, wenn ein höherer Befehlshaber allen Champagner der Stadt für feinen Stabstiſch ıin- fordern läßt. Es iſt berechtigt, für eine zu veranftaltende Feſtlichkeit auch eine befondere Luruslieferung zu verlangen. Der Hauptmann fchidt ein paar Leute ind Nachbardorf, um ein Faß Bier für die Compagnie zu holen: Das ift berechtigt, au als Zwangsfauf. Darf man aber zum Transport des Fafjes einem Heinen Bauern Wagen und Pferde nehnen, die er vermuthlich nicht zurüderhält? Die Beifpiele laſſen fich leicht vermehren. Es wäre frevel- haft, eine Kuh mitzunehmen, um Milch zum Kaffee zu haben; anders, um dringenden: Fleifchmangel abzuhelfen. In einem herrfchaftlichen Haus wird man für die Mannſchaften nur die bejcheideneren Räume beanſpruchen. Wo Frauen und Kinder von Noth bedroht find, wird man das eigene Bedürfnig leichter Hintanfegen. Im wohlhabenden, noch nicht ausgefogenen Bezirk ver: langt man mehr al8 im armfäligen u. ſ. w. Auch die Induſtrie des feind- lichen Landes kann benugt werden, wie e8 in Tours gejchah.

Das deutfche Diilitärjtrafgefegbuch ändert am Thatbeftande des Raubes, Diebitahles, der Sachbeſchädigung aud bei Begehung in Feindesland nichts. Es definirt den Begriff der „Beute“ nicht; daher gilt der Sat des VBölfer- rechtes, wonach dem Beuterecht nur feindliches Staatsgut, Waffen, Pferde und Ausrüſtung der feindlichen Soldaten unterliegen und e8 Regal it. Das Etrafgejeg bedroht die eigenmächtige Entfernung von der Truppe, um Beute zu machen, daS eigenmächtige Aneignen von Sachen, die an ſich dem Beute- recht unterworfen find, die rechtäwidrige Zueignung rechtmäßig erbeuteter, aber abzuliefernder Sachen. Es ftraft wegen ‘Plünderung Jeden, der „im Felde unter Benugung des Kriegsfchredend oder unter Mißbrauch feiner mifitärifchen Weberlegenheit, in der Abficht vechtöwidriger Zueignung, Sachen der Zandeseinwohner offen wegnimmt oder ihnen abnöthigt oder unbefugt Kriegsichagungen oder Zwangslieferungen erhebt oder das Maß der von ihm vorzunehmenden Requiſitionen überfchreitet, wenn Das de3 eignen Vortheiles

318 Die Zulunft.

wegen geſchieht.“ „ALS eine Plünderung iſt es nicht anzuſehen, wenn die Aneignung nur auf Lebensmittel, Heilmittel, Belleidungsgegenitände, Feuerung⸗ mittel, Fourage oder Transportmittel ich erftredt und nicht außer Berhältnik zu dem vorhandenen Bedürfniß ſteht.“ Es bedroht ferner „boshafte oder muthrwillige Verheerung oder Verwüftung fremder Sachen“ und das Mare diren, „Bedrückungen“ der Landeseinwohner durch Nachzügler. Ganz durch— fihtig und vollitändig ift der Abfchnitt nicht. Auch für das Bürgerliche Gefez- bud) ift die Regelung des Benterechtes abgelehnt (Motive zu $ 903 Ent...

Beſonders zweifelhaft ift, was in verfaflenen Ortfchaften oder Häufern genommen werden darf. E3 ift wohl richtig, dag das Mobiliar der Gebäude um Paris, um Meg nicht als „herrenlos* im juriftifchen Sinn gelten konnte; die Eigenthümer hatten nicht die „Abjicht, auf das Eigentum zu verzichten“ (F 959 B. G. B.). Sie hatten nur nothgedrungen ihre Sachen den Wechiel- fällen des Krieges preisgegeben. Bei Dingen, deren Verluſt, Berftörung, Verderb nach menfchlichen Ermeſſen ficher ift, mag ınan Dereliftion annehmen. Im Allgemeinen ift aljo theoretifch wenig Unterfchied von bewohnten Stätten. Aber praktifch geftaltet fih das Verfahren doch ganz anderd. Das immer: hin weitgehende Recht der Befriedigung von Bedürfniffen des Krieges und der Truppen wird hier ohne Ortskenntniß, ohne Unterftügung durch mit den Dingen Bertraute, nach eigenem Erimefjen ausgeübt. Kauf gegen Bezahlung ift ausgefchloffen, geordnete Nequilition eben fo. Ausmahl und Schonung ericheinen vielfach zwecklos, da das Ganze doch verkemmen wird. Der Soldat vor Paris war daher in feinem Recht ift nicht nur „ſchonend zu beurtheilen”, wie Freytag meint —, wenn er fein Quartier angemeljen möblirte, die vor- handenen Brennmaterialien verbrauchte, nad deren Erfchöpfung mit Zaun— ftüden und fchließlic mit Möbeln heizte, die Konfiturenbüchfen und die Wein- flafchen leerte, Strümpfe und Unterzeug anzog, die Deden mit auf Borpojten nahm. Unehrlich blieb die Wegnahme einer Bufennadel, eines Bildes zu eigenem Bortheil. Unehrlich, wenn auch entjchuldbarer, felbjt dann, wenn da3 Haus niedergebrannt werden follte. Bei Sachen, die dem Bedarf de8 Tages dienen, zieht die Grenzen das Intereſſe der Disziplin und der etwa am felben Ort nachfolgenden Truppen. Das ift fehr wichtig und wurde 1870/71 nicht immer genügend beachtet; man fam manchmal in Dörfer, die durch Bergeudung, Unordnung, Unfauberkeit früher Einquartirter mehr als nöthi verwahrloft waren. ‘Die größere oder geringere Zahl der Uebergriffe gie den Mapftab für Bildung und Gelittung des Heeres.

Im Begriff und Wefen des Krieges Liegen die Rüdlichten der Huma nität an fich nicht. Holgendorf Iehrt: „Alle Mittel, die erfahrunggemä auf die Erreichung der Endzwede von erheblihem Einfluß find, erfcheine als gerechte Mlittel des Krieges, fogenannte Kriegsraifon. Und umgefehr‘

Kriegsraifon. 319

verwerflich find die Alte der Zerftörung, die unmefentlid oder erfahrung . gemäß unwirkſam erfcheinen für die Beendigung des Krieges oder gegen Perſonen gerichtet find, deren Berlufte ohne Einfluß find auf die friedliche Entſchließung der Staaten.” Das führt nicht 'viel weiter. Jede Stärkung der eigenen Kraft bei Einzelnen oder dem Ganzen, jede Schwächung der einzelnen Glieder oder größerer Verbände des feindlichen Staates ift erheblich, für Erreichung des Kriegszweckes. Ganz unzweifelhaft können Gewaltthaten gegen Einmohner, Zerftörung de3 Privateigenthumes, Verheerung des Landes fehr großen Einfluß auf deffen Entſchluß zum Frieden üben. Man kann mittelbar wie unmittelbar auf den Willen wirken; und ihn zu beugen, tft ja das militärische Ziel. Auch in der Schlacht ift bejiegt, wer fich bejiegt fühlt. Gefteigertes Elend des Landes kann die Negirung fehr wohl zum Nachgeben bringen. Dan ftelle fi vor, England habe zu Haufe fein brauchbares Heer mehr, alfo dort feine Schlachten, aber Invaſion zu erwarten: wird nicht diefe Eventualität weniger auf den Entſchluß zum Frieden wirken, wenn feftfteht, daß die feindlichen Truppen ideale Mannszucht halten, in die Civil- verwaltung kaum eingreifen, das Privateigenthum jfrupulds jchonen werden?

Beftimmte Ausnahmen von der zerflörenden Tendenz des Krieges haben fih im Kaufe der Zeiten herausgebildet. Er bleibt trogdem „ein roh gewaltfam Handwerk.“ Bismard hat mehr als einmal von Fällen gefproden, wo da8 saigner & blanc des Erbfeinde8 nöthig wird; debellare, Vernichten, auch mit Hilfe Jahre langen Drudes, kann durch die Höchfte Staatspflicht der Selbftbehauptung erfordert werden. Der Feldherr kann ſich gezwungen fehen, eine „wüſte Zone” zu fchaffen, aus einem größeren oder Heineren Bezirk die Menfchen wegzuführen, die Häufer dem Erdboden gleich zu machen, Vieh, Borräthe, Ernte zu zerftören. Daß ift verwerflich, wenn es unnöthig, wenn e3 nicht von erheblichem Nuten für den Kriegszweck ift; darüber entcheidet das in al diefen Dingen ſehr meite Ermeſſen der Führer. Es iſt aber nicht deshalb verwerfli, weil e8 unfäglih hart if. Der Krieg fol und muß hart fein. MWeichmäthige Führung würde die Kriege vervielfältigen und verlängern. Iſt der Krieg gerecht, fo ift auch die Härte gerecht.

Und in ihrer Weisheit hat die Vorſehung den Völkern die Gabe ver: fiehen, daß jie ftet3 die eigene Sache für die gerechte Halten. Der Auffe glaubt an die Weltmiffion des Slaventhumes, der Engländer an das ge- ſchichtliche Hecht auf Erhaltung des Empire, bedingt durch Erhaltung der Herrſchaft in Sübdafrifa, die von deu Burenrepubliden bedroht fei. Der Deutfche gedenkt mit Ehrfurcht des frevelhaft ihm aufgezwungenen Krieges von 70/71, der Franzoſe beweiſt urfundlid, dag Bismard die fpanifche Kandidatur abfichtlich gerade zur Herbeiführung des Krieges angezettelt Hat...

Altona. Dr. Julian Witting. L

320 Die Zukunft.

Die Tadelloſe.

N don wenn ich jie anjehe, eritarre ich, wird mir kalt ums Gerz; fie brautt 5 nicht einmal zu ſprechen, nicht einen ihrer ſtets ſo korrekten Säge in reinften, dialcktfreiem Deutih zu Tagen. Auch ſolche Yebensäupgerung iſt tadellos, wit Alles an ihr. Selbjt an ihrer Kleidung kann man nicht den leilejten Fehit: entdeden, feine Falte, feinen Fleck und natürlich erjt recht feinen Riß. Zr trägt fich nie unmodern; die Kleiderſchnitte bleiben bei ihr in der richtigen Mitte Sie nimmt die Mode erſt an, wenn Alle fie anerfennen. Zu den Rionierer gehört die ZTadelloje nicht, darum ift fie ihr Leben lang korrekt geweſen ınd geblieben. Sie hatte nicht Phantafie genug, um einen Schritt vom Wege ı machen, auch nicht, um bei Anderen einen folden Schritt zu verjtehen und za verzeihen. Fräulein Roſe Winter hat im Anfang ihrer Laufbahn ein alltäglih:s Yeben geführt; Ipäter freilich trat ein Ereigniß ein, das dem fernen Betradir fogar romantijch erjcheinen könnte. Sie bejuchte gleid nah der Schule ein Seminar und wurde Vehrerin an einer höheren Töchterfchule. Als ihre Eltern ftarben ihr Vater war auch Püdagoge gewejen —, erbte fie ein nicht unbe deutendes Nermögen. jede Andere hätte nun das Leben genofjen, wäre auf Meilen gegangen vder hätte Achnliches gethan. Fräulein Winter aber meintt, der Menſch jet nicht zum Amuſiren auf der Welt, der Menſch müſſe fich einen Wirkungskreis erwählen. Sie hatte ja in Allem das Recht auf ihrer Seite: aber man begann, das Rechte zu hafjen, wenn fie es in ihrer unerträglidy pedantiſchen. lehrhaften 2Leife ausſprach. Es war ftets, als habe fie das Rechte erfunden, als ſei es eigens für fie da.

Fräulein Winter begründete eine höhere Töchterſchule mit Penfionat. Hier hatte jie Gelegenheit, ja, die Pflicht, lehrhaft zu fein. Und fie ließ ihre Begabung freieſten Yauf. Nun hätte jie eigentlid) zufrieden jein und andere harınloje Leute nicht als Belehrung-Objekt benugen follen; aber die Kae läßt eben das Mauſen nicht.

Roſe verlebte die Schulferien bei ihren verheiratheten Nichten, die Reibe herum, und da genoflen die jungen Eheleute in erfter Linie die Früchte ihres Beſſerwiſſens. In zweiter Yinie wurden die Refannten und Freunde der Nichten belehrt, jo dap ein ſolcher Beſuch immer tiefe Verſtimmungen hinterließ. ar die Tante abgereiit, dann athmete die Familie auf und begann, die Wunden zu verbinden, die Nöschens Dornen gerigt hatten.

Eine von Nofes liebjten Behauptungen war: „Ich Tage immer die Wabr— heit.” Welche Grobheiten fie unter diefer Firma austheilte, ift nicht zu bejchreiben; und jie war obendrein noch jehr jtolz darauf,

Warumlud man denn aber Tante Mole ein, wenn fie jo gefürdtet x Zie hatte eine Stellung in der Welt, ihre Wortrefflichfeit war von Allen erkannt; wer ſich mit ihr überwarf, hätte ſich in der guten Geſellſchaft verbä gemacht. Und dann: fie war die Grbtante, das Familienprunkſtück; es einfach nicht anders. Einmal im Jahre, öfter fam die Weihe nicht hei mußte es ausachalten werden, unter die Röntgen-Strahlen von Tante Y Kritit zu fommen.

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Die Tadellofe. 321

Daß Fräulein Winter Roſe hieß, war eine der Schelmereien des Schickſals oder, wenn man will, eine der Taktloſigkeiten unvorſichtiger Eltern. Kinder ſollten eigentlich erſt einen Namen bekommen, wenn man weiß, wie ſie ſich entwickeln. So lange könnten fie ja Bubi oder Mädi genannt werden, wie es ſchon vielfach n Familien Sitte if. |

Fräulein Winter verbeffert die Taktlofigkeit ihrer unvorfichtigen Eltern und nennt fih NRofalie.e Das macht einen vornehmen Eindrud, meint fie. Ihre Zöglinge in der Schule bezeichnen ſie aber, ganz reipeftlos, als Mutter Salli. Da Das jüdiſch Elingt Fräulein Winter war neben anderen Anti auch Untijemitin —, wirkte e8 auf fie wie bie Muleta, das rothe Tuch, auf den Stier. Als Mutter Salli zum erften Mal ihren Spignamen hörte, über- kam fie eine ihrer gänzlich umvürdige Wuth. Sobald die Leidenſchaft verraucht war, rieth ihr die Klugheit, die Sache nicht weiter zu beachten. Sie folgte dem guten Rath; zu ihrem Heil: jie hätte ſich ſonſt unfehlbar lächerlich gemacht.

Jüngſt fragte mich ein nafemweifer berliner Bachfiſch, für den Verloben und Heiratden das A und O find: „Hat fi Mutter Salli eigentlich nie ver- liebt? Sie wäre doch eine gute Partie gewejen! Sie befigt ja das ſchöne Haus und bat ihr reichliches Auskommen.“

Man fieht, felbft kleine Mädchen find heutzutage weltflug.

Verliebt! Der Gedanke war mir jo komiſch, daß ich lächelte; dann fagte ih: „Noch ift wohl nicht dee Rechte gefommen. Sie heirathet vielleicht noch.“

„Roh! In dem Alter? Unmöglih!”

Fräulein Winter ift vierzig Zahre alt, alfo für eine Schulvorjteherin in den beiten Jahren; aber dem jungen Ding erfchien fie mit diefem Lebens- alter natürlich wie eine Urgroßmutter. _

Dennod jelbit in Berlin gejchehen noch Wunder verliebte fid) Roſe Winter. „Nicht ein Klein Wenig, faft gar nicht”, wies im Leierreim heißt, jondern Hals über Kopf, „konnts gar nicht laſſen“. Und zwar in ihren jüngften Lehrer, Anton Matton. Wie viel er jünger ift als fie, wollen wir nicht unter- juden... Und er?

Herr Matton ift praktisch, wie jeßt alle jungen Leute; außerdem ſchmeichelt es ihn, daß die Geftrenge fich zu ihm herabläßt. Ungefähr wie zwiſchen Danac und Beus, fo geftaltete fi) das Verhältniß der Beiden; nur ift der Zeus Bier ein Fräulein und die Danae trägt einen großen, blonden Bart. Aber die Hin« gebung ftimmt. Anton Matton war nur Seminarift, fein akademiſch gebildeter Lehrer. Das erfchwerte den Fall und erhöhte die Ehre für den Begnadeten.

So ging es natürlid nidt. Er mußte erft würdig gemacht werden, die Hehre zu umfangen. Herr Matton befuchte die Univerfität und fteht jegt vor feinem Oberlehrereramen. |

Nur brieflich darf er mit der Zadellojen verfehren. Wenn er da3 Examen beftanden hat, dann Heirathen fie.

Viele Leute in Berlin meinen, es würde noch Etwas dazwiſchen kommen; dafür und dagegen wird gewettet. Wer gewinnen wird?... Vielleicht nicht der Bräutigam, der die Tadelloſe heimführt.

G. von Beaulien.

N7 24

322 Die Zukunft.

Moderner Ratholizismus.

DI“ Bud bes wiener Theologen Ehrhard, ber jebt nah dem badifchen Frei⸗ R burg geht, „Der Katholizismus und das zwanzigite Jahrhundert im Lichte der Firchlichen Entwidelung der Neuzeit”, hat eine univerfale Bedeutung und eine bejondere für Dejterreih. Als Symptom des in allen katholiſchen Länders erwachten durch heftige Angriffe zum Aufwachen gezwungenen Reform- geiftes ift es hier jchon erwähnt worden. Chrharb zeigt in einer Betrachtung der Kirchengeſchichte, daß Alles, was mit Recht an der katholiſchen Kirche ge: tadelt werden kann und muß, vergängliches Erzeugniß nationaler Unvollkommen⸗ beiten, geichichtlicher Prozeffe und eigenthümlicher Zeitverhältnifle ft, DaB zwiſchen ihrem Wefen, namentlich zwischen ihren Dogmen und dem mobernen Geift, je weit er ein guter Geift iſt, Tein unverjöhnlicher, ja, überhaupt fein Wideriprugd obwaltet, und er zeigt den Furchtſamen, den Engberzigen, ben Denkfaulen unter feinen Glaubensgenojjen, daß der von Fanatikern gejchmähte moderne Geiſt, abgejehen von Berirrungen und Auswüchſen, von denen fich fein großer Kultur fortihritt ganz frei halten Tann, ein guter Geiſt ift und ein folder ſchon au: dem Grunde fein muß, weil Gott die Weltregirung niemals an ben Teufel af treten Tann und Das fiherlic auch in den legten vier Jahrhunderten nicht gethen bat. Ehrhard beweilt aljo, was ich in der „Zukunft“ behauptet babe, dab man ein gläubiger Katholik und dabei ein moderner Menſch, ein Vertreter der heutigen Wiſſenſchaft, ein vollwerthiger Untverfitätprofeflor fein fan. Und dba feldft die feinfte Jeſuitennaſe in feinem Buche feine Ketzerei aufipüren kann, fo werden die proteftantifchen Gelehrten wohl ihre Anficht aufgeben müſſen, Katholizismus und Wiſſenſchaft vertrügen fig nicht mit einander. Den Glauben Ehrhards, daß jedes Kirchendogma mit jeder wifjenjchaftlid erwiejenen Thatſache vereinbar. fei, theile ich allerdings nicht, noch weniger feinen Glauben, daß bie katholiſche Kirche geradezu die Bedingungen alles echten geiftigen Fortſchrittes enthalte, jo daß die Menjchheit ohne den Proteſtantismus weiter gefommen fein würde, als fie gefommten ift. Ich rechne die Hierarchie und den ftolzen Dom der Dogmatil zum hiſtoriſch gewordenen, veränderlicyen und vergänglichen Leibe des Fatholifchen Geiſtes, der aufopfernde Xiebe zum Nächiten, Freude in Gott und Hoffnung auf den Himmel ift und dejfen Offenbarungen der ſymboliſche Kultus, die chriftliche Kunft und die barmherzige Schweſter find. Einen Leib Tann aud der fatho- liſche Geiſt felbjtverjtändlich nicht entbehren, aber er muß fi dem Milieu an- paſſen und mit ihm umbilden, was er bis jebt ja aud immer noch vermadt hat; Ehrhard zeigt jehr gut, daß die heutige Fatholifche Kirche der Urkirche viel ähnlicher ſieht ale die mittelalterliche. Daß auch die Hierardie und die Dog- matif zu den veränderlichen, ja, an fid) entbehrlichen Beftandtheilen des Kir r leibes gehören, farın und darf Ehrhard freilich nicht zugeben; aber nad me, x Ueberzeugung ift es jo. Wenn fich der Papft in den Berluft des Kirchenftau 3

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gefunden haben und ein nicht jouverainer Kirchenbeamter fein wirb wie fe Brüder, die ehemals fouverainen Kirchenfürjten des Deutſchen Reidjes, fo

er etwas von den Pinffen des neunzehnten Jahrhunderts Grundverfchiedenes Und wenn er, nad) abermals einem Jahrhundert, ftatt als Chef eines v heuren bureaufratiichen Apparates Diplomaten in Audienz zu eınpfanger d

Moderner Katholizismus. 323

Bei Stirchenfeften auf den Schultern von prächtig aufgepußten Lakaien einherzu- ſchweben, zu Fuß unter den Aermſten feiner armen Landleute umherwandeln, in ihren Hütten Troft jpenden, ihre Unterdrüder jchelten, eine verjtändige innere Kolonifation organijiren, die Caruſi aus ihrer Hölle erlöfen, ihre Wunden küſſen und fie in blühende Fruchtgärten führen wird, bei deren Bebauung fie ihres Lebens froh werden, dann, erſt dann werben fi) aud) die Ungläubigften zu dem Glauben befehren, daß der römiſche Bapft das Werk Jeſu von Nazareth fortfeßt; oder vielmehr, e8 wird dabei von Glauben Feine Rede mehr jein, weil es ja Niemand beftreiten kann. Auch die Dogmen gehören zum Beränderlichen am Kirchenleibe; jie find Erzeugniſſe des griechijchen Denkgeiſtes, fie find in ber Zeit, wo die römiſche Kirche im Abendlande ihr großes weltgefchichtliches Kultur⸗ wert vollbracdhte, ganz in den Hintergrund getreten und dann dreimal, in ber Scholaſtik, in der Reformation und in der neueren Philoſophie, Gegenftand Heftigen Streites geworben, ohne auf das Leben ber Chriften einen bemerfbaren Einfluß zu üben. Sie können und jollen nicht für Irrthümer erklärt werden, aber man wird einmal aufhören müffen, fie mit orthoboren Augen anzufehen. Das drijtologiiche und das Zrinitätdogma gehören dem Gebiete ber Metaphyſik an, in dem es weder zwingende Beweiſe noch Wiberlegungen giebt. Vielleicht verhält fih Alles fo, wie die Kirche lehrt; aber diefe handelt nicht Hug, wenn fie Männer, die ganz katholiſch fühlen, von fi) ausfchliept, weil fie über Dinge, die Niemand wiflen kann und Niemand zu willen braucht, anders fpekuliren, als die Theologen der alten Konzilien fpekuliet Haben. Der Dogmenkomplex, der aus der Geſchichte vom Sündenfall und der Spekulation Pauli über ben zweiten Adam und feinen Sühnetod herausgeſponnen worden ijt, verwebt fchöne Symbole hiſtoriſcher Thatſachen und unergründlicher Geheimniſſe zu einem cr- Habenen Syitem; wörtlich verjtanden, widerfpreden ab r feine einzelne Sätze geſchichtlichen, piychologifhen und phyſiologiſchen Thatſachen. Es waltet aljo ein Widerſpruch ob, nicht zwiſchen dem Katholizismus als Ganzem, aber zwiſchen dem othodoxen Sinn einiger ſeiner Dogmen und der modernen Wiſſenſchaft. Das darf heute noch fein katholiſcher Theologe zugeſtehen; aber dieſes Zuge— ſtändniß ijt auch zu einem gedeihlichen Zuſammenwirken von Gelehrten beider Konfeffionen gar nicht nothwendig. Denn nicht ein Zehntel, vielleicht nicht ein Hundertitel unjeres gefammten Wiffensgebietes wird von diefen Dogmen berührt. Eben jo wenig bürfen die Ehrharde jet ſchon einfehen, daß fie irren, wenn fie glauben, die fatholiiche Kirche fei niemals ein Hinderniß der freien Forſchung und ber ‘Brotejtantismus daher nicht nothwendig geweſen. Wenn bie fatholijche Kirche der Vergangenheit ohne ihre Hierarchie gedacht werben könnte, dann dürfte man die Behauptung zugeben. Das ijt aber eben nicht möglich. Die Hierarchie war, wie c8 zu gehen pflegt, aus einem vortrefflichen Mittel Selbitzwed ge- worden, hatte fich ſelbſt dogmatijirt und fuchte nun im eigenen Intereſſe den Fortichritt des Denkens und der öfonomijchen Entwidelung zu henmen. Die Abiprengung ganzer Bölfer vom alten Kirchenleibe wurde fo aus vielen Gründen nothwendig; zum Beijpiel darum, weil die Zukunft der Mtenjchheit ein kräftiges, nit am Gewiſſenswurm krankendes weltliches Leben, ungetheilte Hingabe an bie weltlichen Intereſſen forderte.

Daß es ohne Luthers Reformation auch zu feiner inneren Reform de3

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324 Die Zukunft.

fatbolifch gebliebenen Theils der Chriftenheit ‚gefommen wäre, jieht Ehrhard. Und damit ftehen wir bei der ſpezifiſch öfterreigıfhen Bedeutung feines Bude; denn dieſes wäre ficherlich nicht gefchrieben worden, wenn nicht die antikierilele Strömung, von der die Ros-von-Rom-Bewegung nur ein Seitenbad) ift, wenigiten: ben moraliſchen Beftand des djterreichifchen Katholizismus bedrohte. Die Kirde ift nicht von den Lebenägefegen der Gefellihaftorganisinen ausgeſchloſſen, and nicht von dem, daß fie ohne Angriffe von außen und ohne Cppofition im Innem verfaulen. Ein erleuchteter öſterreichiſcher Katholik kann fih gar nichts Beſſeres wünſchen als eine WAbfallbewegung und er wird an der von den Alldeutiden eingeleiteten nicht3 auszuſetzen finden, als daß fie jo jpät fommt und vid zu Ihmwädlid if. Eine fo verfommene Geſellſchaft wie bie Öfterreichijchen Kathe liten muß mit Sforpionen gepeitjcht werden, wenn fie fi zur Selbfterneuerung aufraffen fol. In jüngeren Jahren habe ich manche Gelegenheit gehabt, fie fennen zu lernen: die jämmerlide Dreſſur der angehenden Klerifer in den Priefter jeıninarien, die Roheit und Unbildung der Pfarrgeiftlichleit, die Lüderlichkeit und das raffinirte Genußlchen der reich dotirten Stiftäherren, bie tiefe Ber achtung, mit der alle Gebildeten die Geiftlihen und Diefe jelbft ihre eigene Kirche behandeln (Niele prahlen auf Reifen .und in Badeorten mit der Nichtadhtung des Abftinenzgebotes und mit ihren galanten Abenteyern), und die Hohlheit jener Gebildeten, deren ganze Bildung und Aufllärung darin beiteht, daß fie den fonntäglichen Stirchenbejucch durch den Frühſchoppen erfeßt haben, auf die Pfaffen ſchimpfen und die von wigigen Köpfen ausgehedten Neligionfpöttereien nach|predkn, jo weit dieje nicht über ihren Horizont gehen. In ben legten fünf Jahrzehnten mag ja Manches gebefjert worden fein namentlich der Kardinal Schwarzer berg hat fi) viel mit Neformwerfuchen abgemüht —, aber von einer gründlichen Neform, die eine Wiedergeburt und Ummvandlung des ganzen öſterreichiſchen Volkes vorausfeßen würde, kann wohl nicht die Nede fein. Um die Urſachen dieſes Zuſtandes klar zu machen, müßte man ſechs Jahrhunderte öfterreichiicher Geſchichte ſchreiben. Ein Gemiſch von Slaven und halbſchlächtigen Deutiden, aller Nationalitäten Daupttugend die Semrüthlichkeit, leichtlebige Genußſucht ohne Tiefe, ohne Charafterftärfe, ohne Schneidigkeit, der Joſephinismus, der den Klerus zur Schwarzen Garde des Polizeiftaates herabwürdigt, dieſer Polizeiitaat felbft, der dem Klerus fein Einkommen, feine äußere Autorität und Straflofig feit bei Vergehungen fichert, unter der Bedingung, daß er ſich als politiſches Werkzeug migbrauden läßt, das Syſtem Metternid), das die Lüderlichkeit häiſchelt und das Denfen verbietet, Schlamperei als allgemeines Zebensgefeg, ein fürftlih dotirter, in die Intereſſen eines privilegirten hohlföpfigen und frivolen Hodr adıls verflochtener amd von deſſen Yebensauffojlung angeftedter Episkopat, Frömmigteit, wo fie vorfommt, nur in der Geſtalt, die ihr bigotte, abergläubige und fanatijche Mönche zu geben vermönen (man erinnere ſich des Pelikan, der Miß Baughan und des Teufels Bitru): Das find fo ungefähr die Elemente des jpesifiichen Lefterreichertbumes und des öfterreidhiichen Katholizismus. Die er wähnt num zwar Ehrhard gar nidıt, ja, er deutet fie nicht einmal an; er lehnt nicht in die Preſſe, jondern in die firchlichen Natbituben. Aber es iſt Elar, daß, wenn jich die öfterreichiichen Geiitlichen, wie es Ehrhard fordert, gegen ihre

Trinfgetder. 325

Feinde mit geiftigen Waffen wehren follen, fie jtubiren und zunächft ihre Faul⸗ heit ablegen -müfjen; und darum jind die hochwürdigen Herren wüthend, denn fie wollen a Ruh hobn; die Ketzer fol ihnen die Polizei vom Leibe halten. Sie werden fich auch jchwerlich bet der von Ehrhard in einer neuen Schrift abgegebenen Erklärung beruhigen, er wolle nicht zu den „liberalen Katholiken“ gezählt werben. Ein ganzes Bolf könnten freilich auch zwanzig geicheite und vernünftige Profefjoren nicht umwandeln; aber jolde Männer können mwenigitens, von der Noth der Beit- anterftüßt, einen Immanblungprozeß einleiten. Wären die übrigen Kirchenfürften weniger beichräntt als ber Kardinal Gruſcha, dann würden fie fi) aus dem Deutfchen Reich noch einige Ehrharde verichreiben. Sie können foldde Männer beſonders in Preußen finden, wo der allgemeine Bildungzwang, das freie Studium an der Univerſität, die Nothiwendigfeit, jich in gemilchten Gegenden ihrer Haut zu wehren, und zulebt der Kulturkampf den Katholifen und ihren Geiftlichen den Berftand gejhärft, den Charakter geftählt und die geiltigen Waffen geltefert haben. Siegen dagegen Dummheit und Faulheit, Bigotterie und Fanatismus, jo werden zwar die Evangelifchen die gehoffte Ernte nicht. einheimfen denn wenn das lautere Evangelium, wie fie e3 verfündigen, zugfräftig wäre, fo müßte man doc zuallererit in Berlin Etwas davon fpüren —, aber die Abfallbewegung wird wachen, weil ſich gewilfe Forderungen des modernen Lebens, benen der Klerikalismus Widerstand leiftet, jelbft im gemütglichen Defterreih mit unmmwiber- ftehliher Gewalt durdjegen, Die Gebildeten werden fih dann vom Staate das Recht ertrogen, als fonfelfionlos leben zu dürfen, und die Maſſen werden der Sozialdemokratie zufallen.

Neiſſe. Karl Jentſch.

Trinkgelder.

SF gute alte Börfenfitte ift in den letzten Wochen zu neuem Leben er- wadt. Früher pflegte man nämlich bei größeren Emifjionen die Bei- "hilfe der Börſe dadurch zu erfaufen, daß die Emifjionfirmen den Maklern und Bankiers Betheiligungen gewährten. Jedes Bankhaus, das fich ıneldete, wurde im Konſortium betheiligt und den Maklern gab man umfangreiche Optionen, die ihnen ermöglichten, oft jehr beträchtliche Summen darauf Gin und her zu handeln. Diejer alte Brauch galt ſchon lange nicht mehr; nicht etwa, weil der Emiſſionäre Herz fchledhter geworden war, fondern, weil fi mit den Verhält— niſſen aud die Borausjeßungen geändert hatten, auf denen diefe Börjen: betheiligungen berubten. Früher mußten jelbft große Banken, die Aktien oder Renten an die Börſe bringen mollten, mit den Stimmungen der Börfenleute xechnen. Denn aud hinter dem kleinſten Banfier ftand die Macht eines Stunden: kreiſes; und außerdem. war die Conliffe ftark genug, um nach ihrem Willen auf Wochen hinaus das Börjenmetter zu bejtimmen. Jetzt hat das Börfengejeß ben einen und mittleren Bankier aus feiner einſtigen Machtitellung verdränet. Die Kapitalshäufung wurde im Banlgewerbe iiber das durch die natürliche Entwickelung gebotene Maß hinaus beichleunigt, wie Magnetberge zogen die Großbanfen die

326 Die Zuhmit.

Kundichaft an fih und manches Lebensſchiff Tank in die Tiefe, nachdem ihm die Nägel, die jeine Planten an einander jchloffen, entzogen waren. Der Coulifie ging es nicht beiler: auch hier wirkte das Börfengejch; e8 gab den Großbanken die bon Jahr zu Jahr bequemere Möglichkeit, Kauf- und Verkaufgeſchäfte in ſich ſelbſt auszugleichen, ſo daß man ſie nicht erſt im Börſenſaal abzuſchließen brauchte. Stärker noch als das Börſengeſetz wirkte auf die Couliſſe der Effekten⸗ ſtempel. Er vertheuerte die Umſätze, trieb einen Theil der Spekulationmakler überhaupt aus Deutſchland und machte der wachſenden Schaar der kleinen Makler das Leben ſchwer. Angeſichts ſolcher Zuſtände brauchen die großen Emiſſion— firmen, die den Kursſtand faſt autokratiſch beſtimmen und ſelten einen eben- bürtigen Gegner finden, auf die Gunſt oder Ungunft ‚ver Bärſe fein Gewicht mehr zu legen. Troßdem hätte man aus alter Gewohnheit die Betheiligungen wohl noch weiter gewährt, wenn nicht ohnehin jchon die Emiſſionſpeſen beträchtlich geltiegen wären. Vom Effeftenfteınpel fehe ih ab. Aber all die vielen Boni«- fifationen, die ſonſt noch allen möglichen Leuten zu gewähren find, von dem entgleiften Juriſten, der dem Profpeft die richtige Form geben muß, bis zum Inſerat in dem Eleinen Börjenblatt, dag je nad) Bedarf des Herausgebers er- ſcheint, machen fchließli eine Summe auf, mit der man redjnen muß. Die Veiter der großen Banken fanden e8 deshalb vernünftiger, die Beteiligungen, die früher die Börſe wegfchnappte, lieber der eigenen Kundſchaft zufommen zu laſſen, den Provinzbankiers, die jelbjt heute, bei der ſtarken Konkurrenz der Hoch⸗ finanz, nod) eine gewilje Macht Haben. Nur eine Sitte oder Unſitte blieb be= itehen: bei jeder neuen Emiſſion wird nad) wie vor den beiden Kursmaklern, die das Papier offiziell handeln, ein bejtimmter Betrag zugeiviefen, angeblich, um ihnen Material zur Negelung der Kurſe zu verfchaffen.

Bei der Emiſſion der legten ruſſiſchen Anleihe hat plöglih nun bie Firma Mendelsfohn & Co. den alten Brauch wieder aufgenommen. Sie ge währte zunächſt den großen Maklern recht anſehnliche Betheiligungen und zeigte ſich au den Bitten der Stleinen, die betheiligt werden wollten, wohlgeneigt. Der Zweck dieſer Taktik war leicht zu erkennen. Die neue Ruſſenanleihe jollte zum Terminhandel zugelajjen werden. Wichtiger als bei Heinen Kaffa Emtj- ſionen fchien es hier, die Börje in guter Stimmung zu erhalten, weil ein Ultimo» markt nie jo vom Emijjionhauje zu fontroliren ijt wie dag wenig umfangreide Geſchäft in Kajlapapieren, bei dem man die Fixer täglich aufſchwänzen Tann. Dad Verfahren der Firma Mendelsjohn hatte Erfolg. Ohne auch nur den ge ringiten Eindrud auf die Kurſe zu machen, famen und gingen die Tage, be auf dem Newskij-Proſpekt das rothe Banner der Revolution entrpllt wurde und der Schuß des militärifch vermumnmten Studenten den Minijter Sſipjagin ins Heich der Schatten befürderte. An der Börfe gilt mehr noch als anderswo bas Wort, dal eine Dand die andere wäſcht. Die Dialer gaben ſich redliche Mühe, in den fritiichen Tagen jih für die ihnen erwieſene Nufmerkfamfeit dankbar z zeigen. Und da man die Bonififationen eben für eine Aufmerkfamteit, für das Zeichen einer bei den Mendelsjohns üblichen Vornehmheit in Gelbjaden hielt, hatte die Firma oberdrein noch einen moralilchen Erfolg.

Diefer Lorber lieg die Herren der Deutihen Bank nicht ſchlafen. Sa belicht diefe Bank, namentlid) wegen ihrer klugen Geſchäftsführung, bein Bubliki

Trinfgelder. 327

ift: die Börfenleute jind ihr nicht grün, weil fic in ihr das Ungethüm fehen, das in feiner unerfättliden Habgier das Geſchäft unzähliger Bankiers gefrefien bat. Die Direktion der Deutichen Bank jcheint diefe Feindſchaft nicht recht ver: jchmerzen zu können; fie ſucht unermüdlich nach Gelegenheiten, fi an der Börje populär zu machen, wird dabei aber von Mißgeſchick verfolgt. Faſt immer wird fie da gerade getabelt, wo fie Lob verdient zu haben hoffte. Die Folge mangel- bafter Regiekunſt zeigte fih neulich nun wieder bei der Emiſſion der wiener Stadt- anleihe, die angeblich einen Riejenerfolg gehabt Hat. Der Bürgermeijter Dr. Karl Lueger hat im Gemeinderath erklärt, fie fei vierundfiebenzigmal überzeichnet worden. Seine liberalen Gegner antworteten natürlich, dieſe Weberzeichnung jei nicht ernft zu nehmen. Ich nchme auch diefe Antwort nicht allzu ernft, meil der Barteifanatismus leicht durch gefärbte Gläfer fieht, muß aber jagen: Bei uns im Reich dat die Meberzeichnung wenig zu bedeuten. Wie es jebt üblich iſt, haben viele Zeichner Beträge gefordert, deren zehnten Theil fie kaum be» zahlen könnten, jelbft wenn der ſtrengſte preußiſche Gerichtsvollzieher ihre Kaſſen durchſuchte. Mit der Thatjache der Meberzeichnung aber hatte die Deutiche Bank zu rechnen. Das ift nicht immer leicht; denn bei den nothwendigen Reduktionen darf man nicht nah Schema F verfahren. Bei größeren Emiffionen wurde in lester Zeit für die beträchtlicheren Boranmeldungen meift ein beftimmter Prozent« fa als Zutheilunggquote fejtgejegt, nachdem den Kleinen joliden Zeichnern vorher wenigjtens ein beicheldener Mindeitbetrag gefichert war. Diejer Vorzug ſcheint diesmal gar nicht gewährt worden zu fein. Kleine Banfiers, die ihrer Anlage: fundfchaft gerathen Hatten, fich bei der Zeichnung in engen Grenzen zu halten, belamen nichts und waren den Kunden gegenüber in unengenehmer Lage. Einer biefigen angefehenen Bankfirma, die 200000 Kronen gezeichnet hatte, follen nur ‘2000 Seronen zugetheilt worden fein. Auch der Darmftädter Bank wurde, troß- dem fie als Zeichenſtelle fungirte, nur ein ganz Kleiner Betrag zugewiefen; ich nenne die Quote nicht, die an der Börje angegeben wurde, weil ich die Nichtig- feit der Behauptung nicht Eontroliren fanın Mean munkelte in der Burgitraße von einem freundſchaftlichen Rippenſtoß, der damit Herrn Dernburg Apoftata verfeßt worden ſei. Das wäre, wie mir fcheint, aber allzu fehr wider die Klug» beit und müßte fi) bald rächen.

An dem jelben Tage, wo die Bankiers an der Börfe ſich ärgerten, weil fie zum allergrößten Theil völlig leer ausgegangen waren, zogen die meijten Hondsmafler morgens am Staffeetiich das folgende Schreiben aus einem Couvert, da3 den Firmenaufdruck der Deutichen Bank trug: „Wir beehren uns, Sie zu benachrichtigen, daß wir Ihnen Fr....... vierprogentiger wiener Stadtanleihe zum Subſkriptionkurs von 97°/, abzüglich 0,25 Prozent Bonififation zugetheilt haben, abzunchmen nad Ihrer Wahl bis Ende Juni diejes Jahres, und bitten um gefl. Bericht, ſobald Sie die Stüde zu beziehen wünjchen.“ Die in den Briefen genannten Summen ſchwankten je nach der Bedeutung der Viafler. Das Minimum jcheint 10000 Stronen gewejen zu ſein. Die Methode, nach der die Makler ausgewählt wurden, war vielleicht nicht ganz einwandfrei. Angeblich war für die Berüdfichtigung der großen ES pefulationmafler die Aufſtellung eines Maklerbankdirektors maßgebend gewejen; aus dem Beer der Kleinen wählten die Börfenvertreter der Bank nah Gutdünken die zu begünſtigenden.

Bas | Die Zuhmit.

Die Deutihe Bank hatte feinen fachlichen Grund, die Bonifttation zu gewähren. Einen Ultimobandel in wiener Stabdtanleihe giebt es nicht und feinem Menſchen ift eingefallen, die Untheile zu firiren.. Die Tleine Goulijfe konnte der Bank weder nügen noch ſchaden. Wenn mans bei Licht befieht, wurde alſo ein Trinkgeld vertheilt. Nicht einmal cin Schweigegeld fonnte mans nesnen; man braudt ja die Thatſache nicht totzuſchweigen, daß durch Siemens’ und Gwinners Vermittelung Steinthal und Mankiewitz dazu gebracht wurden, den antiſemitiſchen wiener Stadtbau zu ſtützen. Darüber ſpricht ja ſchon lange Niemand mehr; eben jo wenig wie über die andere niedliche Thatſache, daß die Hebräer aus Rußland und Rumänien mit der Knute von Beamten gepeitfcht werben, beren Sold aus den Kaffen Rothſchilds und feiner Gruppe fließt. Die Deutſche Bank hat der Börfe aljo ein Geſchenk gemadt. Ste wollte an Bopularttät nicht Hinter den Mendelsſohns zurüditehen. Nur ganz wenige Makler haben den Muth gehabt, das Geſchenk zurückzuweiſen; die meiften fürchteten die Folgen ſolcher Kränkung. Einige nahmen ed auch wohl aus Noth; denn heutzutage giebts wirklich Börfianer, denen zwei blaue Lappen einen Monatsverdienſt bedeuten. Wem haben nun die Börjenfeinde mit ihren durch Sachkenutniß nicht getrübten Neformen genübt? Was hat das deutiche Volk davon, daB da, wo früher Hunderte von Familienvätern ihr Brot fanden, jeßt ji ein paar Auffichträthe und Direktoren anmäften? Die Thatſache, daB an der erjten deutichen Börſe Fondsmakler mit Geſchenken von 150 bis 200 Mark für eine Weile glüdlich gemacht werben fonnten, zeugt von einem wirthichaftlicden Elend, das ernite Beachtung verdient.

Der Berein der jelbjtändigen Mafler an der berliner Börfe jcheint die Sade freilich von einer ganz anderen Seite zu ſehen. Er legte Werth daranf, im Berliner Tageblatt feierlich feitzuitellen, bei den Yutheilungen habe fichs nicht um Xrinfgelder, fondern um die Erneuung eines alten Brauches gehandelt. Mit Verlaub, meine Herren: der Braud wird zum Mißbrauch, die Sitte zur Unfitte, wenn fie aus den Berhältniffen ihrer Entjtegenszeit gelöft werden. rüber, jagte ich vorhin ſchon, waren die Spejen eines Compagniegeſchäftes mit ber ganzen Börje eine nothwendige Ausgabe. Bei der Ruſſenemiſſion hatte bie Taktik wenigftens noch einen Sinn; bei ber wiener Anleihe war fie überflüffig und die Betheiligung einfad ein Geſchenk. Zum Trinkgeld aber wurbe bas Geſchenk dadurch, daß man den Kleinen Leuten nicht die durch das Rundſchreiben fuggerirte Borjtellung lich, fie feien wirklich Betheiligte, Die nad) ihrem Ermeſſen die Stücke beziehen und verkaufen konnten. Als am Tage nad dem Empfang der Zutheilungbriefe der Kurs der Anleihe auf 99 erhöht werben jollte, lief ein von der Deutichen Bank Beauftragter mit der Namensliſte durch die Reihen der Couliffiers umd nahın ihnen man kann faft jagen: gewaltfam ihren Belig wieder ab. Da erft erkannte mander Makler zu ſpät die wahre Natu Diefer liebevollen Zuwendung und... ballte die Fzauft in der Tajche. Im Hinters arumde aber ftanden die kleinen Bankiers, an die man gar nicht gedacht Hatte, und jahen grollend dem Kampfſpiel zır. 0

Mas mag die ſtolze Deutiche Bank bewogen haben, ſich bei diejer ein: fachen Emiſſion künſtlich ſchmerzhafte Geburtwehen zu fhaffen?

Plutus.

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Notizbuch. 329 Notizbuch.

AR“ zwei Jahren hatten die veichsländischen Abgeordneten unter der Führung Edes Stabtpfarrers Winterer wieder einmal im Reichstag die Aufhebung des Paragraphen beantragt, der dem Statthalter die diktatoriſche Gewalt giebt, „bei Gefahr für bie Öffentliche Sicherheit ungejäumt alle Maßregeln zu ergreifen, die er zur Abwendung der Gefahr für erforderlich erachtet.” Der Antrag wurde von ber Reichstagsmehrheit angenommen, von den Berbündeten Regirungen aber abgelehnt. Der Reichslanzler Fürſt zu Hohenlohe fagte, der Diftaturparagraph fei nicht zu ent- behren, denn er fei „eine Fahne, die wir aufpflanzen gegenüber der franzöjiichen Gefinnung, fo weit jie noch vorhanden ift. Eljaß- Lothringen iſt ein Grenzland. Unſere Nachbarn find leicht erregbar. Unfere Bevölkerung fteht noch an vielen Orten in Beziehungen zu ihren früheren Landsleuten. Es ift immerhin möglich, daß wir von etwa im Nachbarlande auftretenden Erſchütterungen nicht unberührt bleiben.“ Schon damals waren bie unbeamteten und viele beamtete Stenner von Yand und Leuten in derlleberzeugung einig, daß ber Diktaturparagraph fallen könne, fallen müſſe, daß er, fo felten er auch angewandt werde, durch fein drohendes Dajein die deutſche Sache ſchädige und dem Reichsland die volle Autonomie nicht länger vorzuenthalten ſei. In der erſten Hälfte der neunziger Jahre ſchon hatte derkommandirende General von Blume in Straßburg geſagt: „Das Elſaß iſt noch nicht deutſch geworden, aber es hat abſolut aufgehört, franzöſiſch zu ſein. Auf die innere Einigung mit Deutſchland werden wir warten müſſen, bis die Generation, die zur Zeit des Krieges das Mannesalter erreichte, völlig ausgeſtorben iſt.“ Der Bundesrath aber blieb bei der Behauptung, das Ausnahmegefeg ſei unentbehrlid. Da fing der Kaifer fich für die „Wiederber: ftellung“ der Hohföntgsburg zu intereljiren an. Weithin anerfannte Sachverſtändige ſprachen fich für die Erhaltung der ehrwürbigen Burgruine und insbejondere gegen den nad ihrer Anficht auf brüchiges Material geftügten Wiederheritellungplan des Architekten Bodo Ebhardt aus, dein die kaiſerliche Gunſt aber bewahrt blieb. Die Baukoften follten vom Reichstag und vom elfäfliichen Landesausſchuß zu gleichen Theilen aufgebracht werben. Im berliner und im jtraßburger Parla— mentsgebäude wurde dem begnadeten Architekten ein Saal für einen Tortrag und für eine Ausftellung feiner Baupläne eingeräumt und im Reichstag fiel dag Wort, „nicht einmal bei ben großen Flottenvorlagen feien Reklameaus— ftellungen in ſolchem Umfang und mit ſolchem Aufwand beliebt worden". Der Landes⸗ ausſchuß bewilligte Schließlich diegeforderteSumme lamortdansl’ame, wieder Ab- geordnete Wetterl& jagte —, weil ihm als Entgelt die Aufhebung des Diktaturpara- graphen und anderer Reſte der Rechtsbeſchränkung zugefichert worden war. Ausdrücklich hatte der Staatsſekretär von Puttkamer noch am Schluß der Berathung erklärt: „Es iſt dankenswerth, daß der Landesausſchuß ſachliche Bedenken höheren Erwä— gungen opfert; und dag in dieſer Angelegenheit bethätigte Entgegenkommen wird hoffentlich gute Früchte tragen.“ Wir bewilligen das Geld für den Plan, der ung ſachlich mißfällt, weil wir bei diefer Gelegenheit endlich vom Diktaturparagraphen befreit werden: jo dachten, jo ſprachen fogar die Männer der „höheren Erwägungen“. Dennod) lehnten jieben Abgeordnete die Norlage ab und die zuftimmende Mehrheit ftellte die Bedingung, die andere Kojtenhälfte müjfe vom Reichstag bewilligt werden; der Reichstag, hoffte fie, wird Nein jagen und dann haben wir diligentiam präjtirt

330 Die Zukunft.

und brauchen das Geld doch nicht zu geben. Aber der Reichstag jagte, troß ben be⸗ redten Warnungen des fünjtlerifch einpfindenden Herrn von Vollmar: Fa; und der Landesausſchuß blieb an jein Botum gebunden. Doc der Diftaturparagraph wurde nicht befeitigt. Zwar hatte der Kaiſer gleich nach der entfcheidenden Abftimmung an den Statthalter telegraphirt: „Theile den Herren mit, daß ich ihnen von ganzem Herzen dankbar bin und daß es mir zu hoher Befriedigung gereicht, daß das Reichs - land mein Intereſſe und meine Arbeit für die Wieberherftellung der herrlichen Burg fo richtig verſteht und fo freundlich unterftüßt”. Der Kaiſer war falſch informirt: nicht für den begünjtigten Plan des Herrn Ebharbt war das Geld bewilligt worden, fondern als Aequivalent für die verheißene Erfüllung cined autonomütijchen Wunjches. In Berlin fand Mancher, der bedrängte Herr von Puttkamer feiin feinen Bufagen zu weit gegangen; und als Graf Poſadowsky im Reichätag interpellirt wurde, nannte er die vom ftraßburger Staatdjefretär mit dem Landesausſchuß gewechjelten Reden „Privatunterhaltungen“, die für den Bundesrath belangloß ſeien. Inzwiſchen aber muß der Kaifer den wahren Sachverhalt erfahren haben; denn er hat den Erlaß, der die Aufhebung des Diktaturparagraphen anfündet, von dem Bauplaß der Hoh⸗ fönigsburg datirt und Damit deutlich gezeigt, welche Leiſtung des Neichslandes ihn zum „Beweis feines Wohlwollens“ beſtimmt habe. Bei feinen Befuchen hat der Kaiſer in Elſaß-Lothringen die Bevölferung jo loyal gefunden, daß ihm repreffive Maß-⸗ regeln nicht Länger nöthig feinen. Solchen Wahrnehmungen eines Hoden Herrn, ber auf feinen Reifen nur die gepugte Minderheit des Volkes ficht dem alten Wilhelm wurden tm Elſaß aus Baden importirte und in die Reichslandstracht geſteckte Bauern und Bäuerinnen vorgeführt —, darf man nicht allzu großes Gewicht beimeflen. Auch die Thatſache aber, daß an der franzöfifhen Grenze jegt wieder die Marjeillaife ge- jungen und Vive la France! gerufen wird, ſpricht nicht Taut gegen die Be- jeitigung des Ausnahmezuftandes. Es ift Zeit, den Reichslanden volle Antonomie zu gewähren, ihnen im Bundesrat Siß und Stimme zu geben und den Landes ausſchuß in einen Yandtag umzuwandeln, der, im felben Umfang wie die Yandtage der Bundesjtaaten, an der Gejeßgebung mitwirft. Die in Ausficht geitellte Maß— regel ift aljo verftändig; nur muß man fragen, ob es rathſam war, eine politische Aktion von der Erfüllung eines kaiſerlichen Privatwunfdes abhängig zu maden. War der Diktaturparagraph, von dem viel geredet, der aber fajt nie fühlbar wurde, zu entbehren, dann mußte er aufgehoben werden, jelbjt wenn der elfälfifche Landes⸗ ausſchuß für die Hohkönigsburg kein Geld geben wollte. Auch die Art der Ankündung mußte verſchieden beurtheilt werden und ift befonders im Süden nicht gerade freund- [ich beiprochen worden. Dem an den Statthalter gerichteten Erlaß fehlte die Gegen zeichnung des fir die reichsländiiche Politif verantwortlichen Sanzlerd; und die Seitungichreiber, die ihren Pejern zuriefen:,, Der Diktaturparagrapd iftanfgehoben!“ bewiejen wieder, wie fremd Wortlaut und Sinn der Reichsverfaſſung ihnen geword iſt. Nicht der Kaiſer, der in Elſaß Yothringen die Staatsgewalt „im Namen d.. Reiches“ ausübt, ſondern Bundesrath und Reichstag haben zu entſcheiden, ob bei Paragraph bleibt oder fällt. Und weil es fo ijt und man heutzutage alle Urfache hat, die partifularen Empfindlichteiten der deutichen Dymajtien und NRegirungen zu jchonen, follte man den Namen des Kaiſers nicht für Pläne engagiren, beren Schick⸗ jal immerhin noch zweifelhaft ist. Deßt, nachdem der höchtte Repräſentant deutjche Macht fi) jo bündig für die Aufhebung des Diftaturparagraphen ausgeſprochen ha

Notizbuch. 331

fönnte ein anderer Bundesfürft feine abweichende Meinung faum noch zum Ausdrud bringen... . Das Merkwürdigſte an der Geſchichte ift bie Lehre, daß in unferem aller neuften auguftijchen Alter auf die politiſche Geftaltung der Reichszuſtände die bauenden und bilbenden Künſte doch nicht ganz ohne Einfluß find,

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Vielleicht wirb, wenn die diktatoriſche Vollmacht des ftraßburger Statthalters erliicht, als Erjaß ein Ausnahmegeſetz gegen die gemeingefährlichen Beitrebungen der modernen Kunft gefordert, die der Kaiſer bei einem Befuch ber Großen Berliner Runftausftellung wieder ſehr ſchroff kritifirt Haben ſoll. Noch find wir nicht jo weit; und da einftwetlen Der nicht mit Gefängnißſtrafe bedroht ift, der diefer Richtung Unterftand gewährt, konnte auf charlottenburger Gebiet die fünfte Ausſtellung ber Berliner Sezeſſion eröffnet werden. An die den Modernen gemachten Vorwürfe er- innerte in der Eröffnungrebe des Profeſſors Liebermann nur der Sag: „Nicht der mädjtigfte Fürſt: der Künjtler allein zeichnet der Kunſt die Wege vor, die fie zu ver⸗ folgen hat". Das tft weder allzu neu noch allzu kühn, für ein Mitglieb der berliner Akademie am Ende aber alles Mögliche, Dieſe Ausstellung ſelbſt muß jedem, derin ihren Räumen den Ertrag berlegten Kunſternte zu finden hofft, recht arm fcheinen. Die berliner Sezeffioniften haben nicht beſonders Großartiges geleiftet. Der interefjante Verſuch des Herrn Max Liebermann, den Simfonftoffzu modernifiren und eine Delila zu zeigen, deren bürftiger Geſchlechtsreiz ſtark genug ift, um in der Brunft den ftärkjten Mann zu betäuben wie manden Simfon jah man auf dem Lager einer unſchön alternden Luſtſpenderin der Kraft beraubt! —, iſt Skizze geblieben; freilich die Skizze eines Meilters, dem Steiner in Deutichland Heute dag Fleine Bild „m Meer“ nahmalt. Herr Corinth entiwidelt jih von Jahr zu Jahr mehr zum technisch Starken, ſeeliſch ſchwachen Effekt: und Modemaler. Die lüderlichen Pinfeleien des Herrn Mund, der noch immer eine unerfüllte Hoffnung tft, follte man nicht ausſtellen; fie jcheinen gemalt pour öpater le bourgeois und können das Urtheil, das taftende Kunſtgefühl unberathener Schauer nur verwirren. Die Herren von Hofmann und Xeiftifow haben uns diesmal nichts Neucs, die Herren von Uhde, Brandenburg, Stajlen nichts Gutes zu fagen; und „Vierlanden”, dag reizvolle und doch nicht jüßlıche Bild des fchlichten Holſten Albert3, war vor faft zwei jahren ſchon bei Seller & Reiner ausgejtellt. Ueberhaupt muß man fragen, ob der Zweck einer jährlichen Ausftellung jein ſoll, jo viele alte, dem an der Kunftentiwidelung Intereſſirten längft befannte Bilder vorzuführen. Natürlich ifts eine freude, die Meifterwerfe von Monet, Manet, Bödlin, Degag, Leibl, Thoma und Anderen wieder: zujehen; dieſes Wiederſehens Schauplag fünnte aber auch der Yaden eines Kunjt« händlers jein, der ſich dann wohl ſcheuen würde, einen fo unbebeutenden Whiftler auszustellen, wie wir ihn jeßt in Charlottenburg jchen. Und wenn man die alten Bilder wegnähme, bliebe nicht jehr viel Schengwerthes übrig. Zwei phantajtijch-wibige Bilder von Thomas Theodor Heine. Das Chryfander: Bortraitvom Grafen Kaldreuth. Landichaftliche Einzelheiten auftlingers „Homer“. Dasfeine, durch die ſanfteFarben⸗ ſymphonie entzücende Damenportrait vonReinhold Lepſius. „In der Waſchküche“ von Linde-Walther und das Halligbild von Alberts. Der von Slevogt virtuos gemalte Sän⸗ ger D'Andrade als Don Juan. Eine,Dame im blauen Kleid‘ von demRuſſen Somoff, deſſen Kamen man ſich merken muß. Einpaar gute, meiſt aber auch längſt bekannte Trübner. Und dieſe Laienüberſicht macht auf Vollſtändigkeit natürlich keinen

332 Die Zukunft.

Anſpruch ein großes „Geſellſchaftbild“ von Ignacio Zuloaga. Schon dieſes Bildes wegen müßte man die Ausftellung ſehen. In dem von ben Herren Marter- fteig und Woldemar von Seidlig herausgegebenen ‚„„jahrbucd der bildenden Kunſt 1902”, das, mit jeinem Reichthum an belehrenden und anregenden Aufjägen, an Kunſtbeilagen und Tertilluftrationen, des Lobes und der Empfehlung würdig ift, bat Herr von Tſchudi gejagt, der Spanier habe als Erfter bie edle Trabition der Belazquez und Goya wiederaufgenommen. Wirklich: feit Belazquez tft jo nicht ge malt, aus ſolcher quellenden Schöpferfülle nicht geftaltet worden. Ein alter Meiſter ſcheint erſtanden, boch einer, der aus dem Augeeines Modernen auf die Menfchenwelt fieht. Zuloagas deutſcher Ruhm jtammt aus Dresden, wo im vorigen Jahr vier feiner beiten Bilder ausgeftellt waren. Eins fteht jeßt in ber Bibliothek der Nationalgalerie, wird aber, da der Hofwind ſolchen Erwerbungen nicht günftig tft, wohl nicht ange fauft werben. Ziemlich Schlecht ift in der Sezeffion die Blaftil weggelommen. Klingers bemalte Gipsſkizze zum „Beethoven“ giebt von dem fertigen Werk feinen Begriff und wäre von beſſeren Freunden des Künſtlers nicht banaufifder Lachluſt ausge- liefert worden. Es ift einigermaßen beſchämend, daß die Wiener Sezeſſion in einem von ihren ftärfiten Künstlern in Schöner Bejcheidenheit geſchmückten Raum den echten Beethoven zeigt, während bie Berliner fid mit einem fümmerliden Embryo begnügen müſſen. Groß wirkt Klingers berühinter Liſzt; und Hildebrands „Bode“ ift ale Portraitbüſte eine in ihrer fühlen Art vollendete Meifterleiftung. Robin ift ſchwach vertreten, von dem Belgier Minne mußte man, nachdem feit Jahren jo viel über ihn geſchrieben ward, ftärfere Proben geben und der Berliner Zuaillon hat in diefer Ausstellung das nach feiner herrlihen „Amazone" von ihm Erwartete dem Blid nicht geboten. Warum, da man dod ältere Werke ausjtellte, fehlt Carriès, dejlen geniale Blaftikin Berlinnodh ganz unbekannt ift, warum Die Schaar der jüngeren Bildhauer, unter denen manches Talent zuentdedenwäre? Warum hatman Zuloagas Gitana nicht von dem dresdener Befißer ausgeborgt? Solche Fehler es wäre leicht, mehr Beilpiele anzuführen follten vermieden werden, jchon, um das von ziſchelnder Feindſchaft verbreitete Gerücht zu entfräften, die Däupter der Sezeſſion ſuchten fi vor neuer Stonfurrenz fchlau zu beiwahren. Ihre Ausftellung bietet noch immer viel mehr, al$ man früher in Moabit zu fehen gewöhnt war. Erftens aber fönnten die meiften Bilder eben jo gut in einer akademiſchen Ausftellung unterge- bracht werden. Und zweitens müßte eine Sezefftoniftenausftellung ein anderes Ziel haben als das: annähernd zu leilten, was jeder tüchtige Bilderhändler in feinem Salon leijtet. Wie würden die Abtrünnigen jpotten, wenn die Orthodoxen ihre Säle am Lehrter Bahnhof mit den Meifterbildern der franzöfiichen Romantik, mit alten Werfen von Bödlin, Penbach, Vienzel, Knaus, Begas, Thoma, Gebhardt füllten! Der große Erfolg, den jie faft mühelos erreicht Haben, darf die Sezeſſioniſten auf ihrem Weg eben jo wenig heinmen wie die Schimpfreben, die der Leiter der Großen

Berliner Kunftausftellung neulich gegen fie ausſtieß. Sie haben die Pflicht, ohn⸗ Rückſicht auf ihr eigenes Sefchäftsintereffe und auf die Yaunen des Herrn Omni

dem harrenden Blid alles Zchenswerthe und Erreichbare zu zeigen, was während des abgelaufenen Jahres geichaffen ward. Wollen fie retrofpeftine Ausſtellungen

veranjtalten: vortrefflich ; nur follen fies dann ausdrüdlich fagen. Nie aber darfihre

Austellung die forgjame, duldſame Auswahl vermiſſen laflen, nie, wenn fie ein

Kunſtereigniß jein will, der Zufallshäufung eines Bilderhändlers gleiden.

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Notizbuch. 333

Die Rebarbariſirung Deutſchlands ſchreitet raſch fort und den ſpärlichen Lenzkeimen künſtleriſcher Kultur droht ernſte Gefahr. Wer hätte vor ein paar Jahren für möglich gehalten, ein ehrfurchtloſer Dilettant könne wagen, nad) einem allgemein anerfannten Meijterwerk zu greifen, e8 zu entftellen, mit plumper Fauſt zu zerfeben, Wefen und Form zu ändern und biefes Produkt feiner Bandalenwillfür an weithin fihtbarer Stelle den Deutſchen zu zeigen? Wer hätte nicht Hundert gegen Eins gewettet, jolches frevle Beginnen müfle ein Wuthgeheul weden? Jetzt erleben wir faft in jedem Jahr diejes widerwärtige Schaufpiel; und gewiffenloje Reporter rühmen die Borbarei dann noch als eine Helvdenthat. Vor zwei Jah— ren hatte Herr von Hülfen, der Intendant bes wiesbadener Hoftheaters, den jeinem Wink gehorchenden Handwerkern befohlen, fi über Webers „Oberon“ herzu- maden; nad dem Plan des Antendanten wurde ein neuer Text gebichtet, die Muſik „verbeilert”, mit melodramatifchen Zuſätzen verziert und das Ganze als „Feſtſpiel“ derftaunenden Diengeangeboten. Dagegen ſolche Berunglimpfung eines großen deutichen Künftlers der Widerjtand fi nicht laut genug regte und Fein Kritiker jagte, Webers unvollkommenes, doch organijch entſtandenes Werk fei ihm zchntaufendmal lieber als das Ragout aus der wiesbadener Hofkunſtküche, ift der Oberkoch am Neroberg jegt noch Tühner geworden. Wieder gab es „Maifeſtſpiele“; und diesmal hat der Herr Intendant jelbit des Dichtens Laft auf fih genommen. Daß er Shafeipeares Judentragikomoedie in ein „Märchenfpiel” ummandelte, mit ſchlechterMuſik befrachtete und,ehe noch ein Wort geiprochen ward, einen Straßenjänger fi produziren ließ, war jchon ſchlimm genug und ald cin crimen laesae majestatis zu ftrafen. Aber der Mann hat auch Gluds „Armida“ eine neue Handlung und neue ' Muſik gemacht. Das ift nicht etwa ein Scherz: Herr von Hüljen, der vor großen Schöpfern nie das Fürchten lernte, hat ben Charakter der Heldin völlig verändert, ihr Judithmotive angeflickt, den Text „neu gedichtet” und einem Dußendfapellmeifter befoblen, Glucks Mufif zeitgemäß umzuarbeiten. Was dabei herauskommen fonnte und mußte, kann Jeder fi vorftellen, der Glucks gewaltige Architektonik je auf fich wirfen Lie. Giebt eg irgendwo noch ein fultivirtes Land, wo jo dreifte Entjtellung nationaler Meifterwerfe möglich wäre? Bet uns wird der Attentäter in den Beitungen gelobt, wird er von den Piotſchen als ein ‚genialer Regiſſeur“ ge- priefen, weil er „Dekorationen von berauſchender Schönheit” herbeifchafft und, ftatt den Geift und die form der ihm zur Reproduktion anvertrauten Gedichte rein zur Geltung zu bringen, all die feinen Yurushandwerferfünfte aufbietet, über beren ver- derbliche Wirkung von Sadverftändigen ſchon das Urtheil geſprochen wurde, als fie, weil der arme Ludwig von Bayern an buntem Bühnenpomp Vergnügen fand, in den berüchtigten Separatvorftellungen zum erften Mal angewandt worden waren. Gluck, deſſen Muſik gar nicht orientalifch im Zinn der Modernen iſt, kann nur eine ftreng ftilifixte, leife, etwa in der Art Dorés, andentende Anfzenirung brauchen; Herr von Hülſen pußt ihn mit Wundern, die er ans den Winfeln der Trientbazare holt, und jtülpt, als wäre es ein Kappbau von Kinderhand, Sharaftere und Hand— lung un. Früher hätte man wenigftens verfucht, ſolche Reſpektloſigkeit mit den Kamen bewährter Künſtler zu deden. Jetzt genügt die Verantwortlichkeit eines Herrn, der bisher nur durch feine Leiſtungen als Startenfünjtler, Koupletjänger und Taſchenſpieler befannt war und dem, als Yohn für feine Verdienſte um die deutid)e Kunjt, die ehrenvolle Aufgabe zugewiejen wird, das ‚sohanniterfeft, dasin Summer

334 Die Zukunft.

auf der Marienburg gefeiert werden foll, in Szene zu ſetzen.... Uebrigens muß in Wiesbaden allerlei Merkwürdiges zu jeden, zu hören und zu riechen geweſen fein. Der Kaijer „fuhr durch ein Spalier von „Fadelträgern und wurde im Theater von Toftümirten Sanfarenbläfern begrüßt.” „Bevor der Kaiſer die Hofloge betritt, müſſen alle Beſucher bes Erſten Ranges ihre Plätze eingenommen haben, die fie auch in den Baujen nicht eher verlaffen Dürfen, als bis der Herrfcher den Gang erreicht hat, ber Hofloge und Foyer verbindet.” Das ganze Theater ijt parfumirt. Der unbeſchreib⸗ liche Holzbock aber meldet: „Unter dem Foyer fteht das Publikum, es richtet jeine Blide nad; oben und fühlt ein Stückchen Hofluft wegen.” Sonderbar, fehr Jonder- bar. Ein Glück noch, daß die Firma Lohſe für Maiglödchendbüfte geforgt hatte. * *

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Aus Wiesbaden kam auch, gleich nach der Meldung, die Tochter des früheren Hofbankiers Cohn habe dem Deutſchen Kaiſer „für Kunſtzwecke“ eine Million zur Verfügung geſtellt, das Telegramm, worin Wilhelm der Zweite dem Präſidenten Rooſevelt die Abſicht kündete, den Vereinigten Staaten ein Denkmal des Alten Fritzen zu ſchenken. Rom darf ſich an den Konditorkünſten des in Straßburg ab gelegnten Heren Eberlein freuen und Wafhington befommt einen echten Uphues: fein Original, wie e8 heißt, fondern eine dritte Kopie des bramfigen rigen aus der PBuppenallee. Die Verheißung diefes Kleinen Geſchenkes ift wohl als eine Privat: angelegenheit des Kaiſers zu betrachten. Für eine Staatsaktion wäre die Stun nicht gut gewählt. Auf allen Gebieten ſuchen die Amerikaner Deutfchlands Wirt {haft in ihren Dienft zu preſſen; und zugleich zeigen fie durch freiwillig gewährte Lieb’ tofungen, durch nach England und Frankreich verfchichte Einladungen, wie viel ihnenas der Entkräftung des Berdachtes Liegt, fie jeien mit dem Deutfchen Reich befonders intim. Die öffentlich Meinenden, felbft die in der bequemen Byzantinerlivree ergraufen, haben denn auch den Einfall des Kaiſers nicht mit Jubelhymnen begrüßt. DaB dert Uphues und nicht, da e3 doch eine Stopie jein follte, Rauch gewählt wurde, Me weil olde ? Wahl das Anſfehen deutſcher N Junſt ſchmalern ‚muß. Eine N ellung ſollte endlich einmal der Spottſucht zeigen, daß es fern von der höfiſchen Sphäre eine deutjche Plaftik giebt, die ſich fehen Laffen Tann. Unklug abet ift die Behauptung, Friedrich paſſe, als ein Depot der fyeudalzeit, nicht vor ba? Sapitol einer Republik. Diefen Preußenfönig, der Fein Kind Hinterlich und dem feiner der fpäteren Hohenzollern in irgend einem Weſenszug ähnelt, hebt das Genie recht aus der langweiligen Reihe alltäglicher Herrfchergeftalten. Vieles, mas über feine inneren Bezichungen zu dein Freiheitlampf der Norbamerifaner erzäglt wir, gehört der Legende an, nicht der Geſchichte. Doch er hat gejagt: „Das Ziel, das ben Staatengründern vorfchwebte, erreihen Republiken Ichneller_a als. ‚Monaxisg und fie ertatteu ich aud länger; dem gute Könige fterben, gute Öefege aber find um fterblig. Jeder Monarch ſollte bedenken, daß Ehrſucht und eitle Rupmbegieh Laſter, ſind. ie man an einen Privatmann jtreng ahndet und an einem nn immer verabicheut. Die Tyrannen fchlen gewöhnlich dadurd,,, daß fe fie bie? \ nur in Bezichuug. auf ſich jelbjt betrachten.” Und in feinem Teftament: „; ? Ungefähr, das bei der Beſtimmung der Menjchen obwaltet, beftimmt aud) ie Erjtgeburt; und darum, dab man König tft, tft man nicht mehr werth als ie Nebrigen. Der Sap wäre als Denkmalsinſchrift für Waſhington ſehr zu empfe 5.

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Derca geder— und veramwortlicher Redat et: mM. Harden in Beriin. _ Werlag der Zutunft ni 4 Drud von Albert Damcke in Berlin Schöneberg.

1 Bi —FF ———

Berlin, den 31. Mai 1902. 1

Dereeniging.

as wir in den Begriff der Sittlichfeit, de8 ewigen, Theologen und

Atheiſten bindenden Sittengefeges zufammenfaffen, ift mehr als ein catalogue raisonne der Dinge, die man thun, und der anderen, die man laſſen foll. Das habe ich ſchon vor Jahren gejagt, in den friedlichen Tagen, wo ich noch Zeit hatte, Moralphilofoph und leider and) Bimetalliſt zu fein und nad) den Zielen neuer Ethik auszufpähen. Doch ſchon damals habe ich auch vor einer Ueberfchägung der in unferer Menſchenwelt fichtbaren Ent- widelungen gewarnt. Was ift diefe Heine Welt im Leben des Alls? Sicher nicht fein Ziel. Selbft die Weifeften unter ung fehen nur eine an Ruhm und Bedeutung nicht allzu reiche Epifobe, die ſich auf einem der unbeträcht⸗ licheren Blaneten abpielt. Hinter ung erbliden wir Blut und Thränen, Naub und Mord, rathlofes Taften und vergebliches Streben, wilde Em⸗ pörung und ftarre Ruhe; und nicht lange mehr nicht lange wenigftens im Vergleich mit den moderner Forſchung befannten Zeiträumen wird es dauern, bis die dem Menfchenauge jegt ſcheinende Sonneerbleicht undder träg und fluthlo8 gewordene Erdbalfdie Raffeverfiechen läßt, die für einpaar tosmiſche Minuten ihre Einfamteit geftört hat. Dann ftirbt der Menſch und mit ihm fteigen all feine großen Gedanken und Errungenfcaften, fein Genie, heldifches Mühen und fittliche8 Wollen ins Grab. Und im Ans geficht ſolcher Zukunft follen Zufalfsoszilfationen das ruhige Gleichmaß uns ferer Seelen erſchüttern? Was wir finnen und trachten, iſt ja nicht neu; oft

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336 Die Zuhmft.

genug ward ung vorgeworfen, unjere Macht beruhe auf Seeraub, Briganten- thaten, Stlavenhandel; und ob wir Indien oder Egypten, Neuſeeland oder Auftralien mit Britifch- Roth färbten, gegen Somalis, Aſhantis, Bafutos, Afridis oder Kaffern als Kulturbringer fochten: immer bat der Neid uns Grauſamkeit und [chnöden Egoismus nachgefagt. Keiner aber hat una den Weg zu ſperren vermocht, Keiner auch zu beftreiten, daß wir gegen Bentham und Gladſtone uns auf Moſes und Darwin berufen fonnten. Und weil wir thun, was die gelben Hottentoten den dunfleren faguanischen Bosjemang, bie Schwarzen Kaffern den Hottentoten, die halbweißen Buren den Kaffern thaten, weil wir mit dem Recht, der höheren Kultur einen unfauberen, Schlecht gepflegten Stamm ausroden, der mit dem felben echt Anders⸗ farbige verdrängt hat und ihnen bis heute fogar den Menfchennamen ver- fagt: deshalb follen wir aus der Gemeinſchaft der fittlih Empfindenden fcheiden? Das Auge, das durch Aeonen ſchweift, wird bei folder Drohung nicht lange weilen. Mich Hat die Frage nad) dem Ausgang des Krieges nie aufgeregt und ich fehe auch jest noch feinen Grund, ihr den Schlaf und die NRealtennisfreuden des Wochenendes zu opfern. Alles in unferer Welt nimmt ein Ende, das der Philofoph in Geduld abzuwarten hat. Sa kann ich im Unterhaus, vor den furzathmigen Antelligenzen Campbell - Bannermans und feiner Leute, nicht [prechen ; da muß ich auf die Gerechtigkeit unferer Sache pochen und die Regifter der nationalen Ehre ziehen. Hier aber brauchen wir ung nicht zu echauffiren. Auch diefe Epijode in der Epifode des vergänglichen Dienfchenrafienlebens geht ftill vorüber und künftigen Geologen und Aftros nomen wird e8 gleich gelten, ob wir ein Bischen früher oder fpäter geſiegt und den Befiegten etwas mehr oder weniger Freiheit bewilligt haben.“ Alfo ſprach Arthur James Balfour, der Erfte Lord des Schages, in Scott Palaft, den die Domning Street von der Treafury trennt. Sprach, Iehnte das Haupt zurüd, ſtreckte die Beine fehr weit von fich und blickte mit einem Ausdrud, an dem ra Angelito feine Freude gehabt hätte, gen Himmel. Nobert Cecil, Marquis von Salisbury, war während der langen Rede feines philofophifchen Neffen fo fanft entfchlummert, als fäße der Bot- Ichafter einer Grogmacht vor ihm. Daran war man gewöhnt und fein Kol legenantlit zeigte die Spur eines Staunens. Sacht und mit der gehöri: gen Diskretion zupfte Hicks-Beach den greifen Schläfer am Rod. Der Pre⸗ mier erwachte, blinzelte, räuſperte fi, um den Schleim aus der Kehle zu Ichaffen, und fprach dann: „Ja... Ich bin auch der Meinung, daß es fid nicht empfichlt, den Abſchluß der Sache nod) länger hinauszujchieben. Dil

Vereeniging. | 337 ner muß doch felbft den Stein, De La Rey, und wie bie widerhaarigen Gentlemen fonft heißen mögen, endlich bewieſen haben, daß fie befiegt find, daß fteeinfach nicht weiter können und blind annehmen müffen, was unfer Groß⸗ muthihnengewährt. Mit der Führung diejes Beweiſes hatteich ihn beauftragt und begreife nicht, daß erimmer noch von Bedingungen redet, dieunggeftellt würden. Ich jehe eigentlich nur noch eine Schwierigkeit. Wir wollen ſagte ich in vielen Beersfammerreden und Trinkſprüchen, weder Gold noch Land, fondern fämpfen nur für die Gleichberechtigung des freien Briten. Aber die An- nexion ift ja ſchon ausgeiprochen und an die alten Gefchichten denkt wohl fein Menſch mehr. Auch die Verheißung, den Buren folle fein Schatten von Selbftändigfeit gewahrt bleiben, ift hoffentlich vergeifen. A la guerre comme & la guerre. Der Rufe, vor deſſen langem Löffel unfer ungemein geiftreicher Kollege aus Birmingham: in einer feiner mit Necht berühmten heißen Stunden jo wirkſam gewarnt hat, Fönnte eines Tages unruhig wer- den und fich von imneren Nöthen dadurch zu befreien juchen, daß er das Bentil nach augen Öffnet. Das wäre, trogdem wir des Deutjchen Reiches sicher find, immerhin unangenehm. Und Sie Alfe, meine verehrten Herren, wiffen, daß der König den dringenden Wunfch hat, das Feft der Krönung in einem Reich friedlicher Ruhe, unter glüdlichen Bürgern zu feiern. Schon die Rückſicht auf diefen jo humanen wie natürlichen Wunſch muß ung beftim- men, den Rahmen ber zu bewilligenden Konzeſſionen ein Wenig zu erweitern.“

„Wirklich?“ Herr Joſeph Chamberlain hatte ſchon eine Weile nervös mit dem Monocle geſpielt; jet klemmte ers ind Auge und ſandte dem Pre⸗ mier einen Blick, aus dem Grimm und Verachtung ſprachen. „Ich freue mich der Thatſache, daß der ehrenwerthe Marquis den Muth hat, der Katze die Schelle anzuhängen, muß aber geſtehen, daß meine Ohren das Geklingel nicht vertragen. Nicht erft feit geftern. Längit ärgert mich die jchellenlaute Thorheit, die aus einer Hofceremonie ein politifches Ereigniß macht. Hat denn das Volf der drei Königreiche, das die Stuarts nicht ertrug und ſich mit der Schlichtheit feiner demofratifchen Einrichtungen brüftet, plößlich nichts Beſſeres zu thun, als ſich Über Koftümfragen den Kopf zu zerbrechen und an Rangordnungen, Bugmadherei und Schneiderkram die Zeit zu ver- zetteln? Dann darf e8 auf die Kontinentaljitten nicht mehr ironiſch herab⸗ ſchauen und fich nicht wundern, wenn der Monarch über die Rolle hinaus» ftrebt, die ihm die Magna Charta dieſes Landes zuweiſt. Und num joll die Rüdficht auf ein Hoffeft gar die Antwort auf eine Xebensfrage beitim- men? Dann kehren wir hinter die Zeit zurüd, wo Lord Coke jchreiben

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338 Die Zukmft.

fonnte: Praesumitur rex habere omnia jura in scrinio pectoris sui. Wir führen einen Krieg um die Macht, um die Zukunft des Imperiums, einen Krieg, in dem wir fiegen müfjen, wenn wir nicht Afrika verlieren und dem Feind den Seeweg nad Indien öffnen wollen. In diefem Krieg haben die Kolonien das Mutterreich in einer Weile unterftügt, die alle Erwartung übertraf. Glauben Sie, daß die Kinder Britanias der lauteſte Krönungjubel für ihre Opfer entjhädigen kann? Ich zweifle; und meine, dag wir und weder bei Bhllofophengefpinnften noch bei loyalen Redensarten aufhalten ſollten. Der Wunid) des Königs darf, fo refpeftabel und menjchlich er ſein mag, uns nicht um eines Fußes Breite zurüddrängen. Die Buren find tapfere Lente und nochnicht am Ende ihrer Kraft angelangt. Leſen Sie den SYanuar: bericht des Gerterals Smutsan Krüger ; erinnern Sieftch, daß Steijn an Kit- chener fchrieb, Englands Macht reiche in Südafrifa nurgerade jo weit wie die Flugbahn ſeiner Geſchoſſe; und bedenken Sie,wielange aufden den Angreifern ungünjtigften Terrain der Erde ein Bauernheer Stand halten kann, deiien Mannſchaft zufrieden ift, wenn fie inbrennendem Kuhmift einen Fleijchfegen gebraten hat. Seit Wochen ſitzen die Führer dieſes Heeres in Vereeniging und Pretoria. Da fol, nad) dem Auftrag des fehr ehrenwerthen Marquis, Lord Milner ihnen beweijen, daß fie bejiegt, unrettbar verloren find. Biel leicht werden fie finden, diefer Beweis fei nur durch die Gewalt der Waffen zu führen. Jedenfalls find fie nicht von jeder Verbindung mit Europa ab- gefchnitten; und wahrjcheinlich haben fie ſchon gehört, welcher Werth hier darauf gelegt wird, daß der Friede vor der Krönung gefchloffen ift. ‘Der Herr Staatsfefretär für das Kriegsweſen fchüttelt den Kopf? Nun, meine Herren, ich kenne die Küche, in der das Friedensgericht gefocht wird. Ich vermuthe nicht, fondern weiß, daß in Pretoria gejagt worden tft: nur der Tag der Krönung biete die Möglichkeit, die Caprebellen zu begnadigen, umd wenn dieBuren bis dahin nicht ‘Frieden fchlöffen, fei diefe Bedingung nicht mehr zu erfüllen. Bedingung! Jahre lang haben wir erflärt, wir führten feinen Krieg, jondern würfen den Aufftand eines Vafallenjtaates nieder, und nun verhandeln wir wie mit einem ebenbürtigen Gegner über die Frie⸗ densbedingungen und lalfen uns von Tag zu Tag zu neuen Konzefftion drängen, ftatt in einer legten Anjtrengung unferelebermacht zu zeigen. 5 gebe gewiß nicht viel auf papierne Berfprechungen ; wenn die Tinte trod ist, lieft mans anders. Hier aber handelt jich8 um unfer Anfehen. Keine Unte handlung, hieß es, fein Schatten von Selbftändigfeit. Wenn wir unfer ®r jtige preisgeben wollten, brauchten wir den Krieg nicht erft anzufangen.“

Bereeniging. 339°

„Das wäre, wie jonft ganz verftänbdige Leute finden, am Ende fein Unglüd gemwejen”. Der alte Salisbury war munter geworden und das Schmunzeln der Kollegen trieb ihn, der ſatiriſchen Neigung den Zügel zu Iodern. „Der anjehnliche Herr Kolonialminijter, deffen hohe Genialität uns fo oft entzückt hat und dem ich, mit einem Wort Dowbens über Shake⸗ fpeare, einen wahrhaft majeſtätiſchen Menjchenverjtand nachrühmen möchte, fcheint mit dem Mofesftab feines Geiftes Quellen zu erjchließen, aus denen uns ſchwächeren Sterblichen kein Zröpfchen rinnt. Wahrfcheinlich find es die jelben Quellen, aus denen ihm früher die Gewißheit fprudelte, der Doktor Jameſon werde auf feinem Ritt ans Ziel fommen, und fpäter die noch glaubwürdigere Kunde, Baul Krüger werde um feinen Preis der Welt fein Volt zu den Waffen rufen. Vielleicht erinnert der eine oder andere der Anwefenden ſich noch der fortreißenden Beredfamteit, dieder verehrte Herr Kollege aufwandte, um uns feine Zuverficht zu juggeriren, mit jo glänzen- bem Erfolg,daß wir ein Ultimatum magten, ohne irgendwie zum Kriege gerüftet zu fein. Und jeitdem haben wir ja mehr als einmal dieBorausficht feines Di- plomatenauges angejtaunt. Jetzt aber muß ich in aller Befcheidenheit ge- ftehen, daß ich dem hoben Flug feiner Gedanken nicht zu folgen vermag. Das liegt vielleichtan einer gewiſſen Senilität, die der ehrenwerthe Herr mit der ihm eigenen Menjchenfreundlichkeit ſchon öfter an mir wahrgenommen haben ſoll, vielleicht aber auch an der Berfchiedenheit unferer Ausgangs- punkte. Mir fcheinen die Dinge auf gutem Weg. Dean hat fich geichlagen, man wird fich vertragen und beide Parteien werden den Pflod um ein paar Löcher zurückſtecken. Den Mund haben wir Alle natürlich mit Ausnahme des Herrn Kolonialminiſters manchmal zu voll genommen. Das iſt kein jo furchtbares Unglück. Für ein ſolches aber müßte ich es halten, wenn die Mi⸗ niſter Seiner Majeſtät ſich dazu hergäben, Wünſchen des Monarchen ent- gegenzuarbeiten. Dieſen Theil des Minenkrieges wenigſtens muß ich Ande- ven überlaffen, die durch feine Tradition gehemmt find und ihre Lehrzeit in anderen Lagern durchgemacht haben. Der König kann in diefem Lande nicht Unrecht thun. Der hohe Herr ift ſich auch jet bewußt, .der Verkünder ſehnſüchtiger Volkswünſche zu fein. Das Volk von England will Frieden. Es will nicht länger die Laſt des Schimpfes tragen, den ihm das Ausland täglich zufügt, und das ſüdafrikaniſche Induſtriegebiet der ruhigen Arbeit wiedergegeben jehen, die Reichthümer fchafft, nichtgehäufte Schäße vernichtet. Eine Regirung, die gegen foldye Forderung taub bliebe, würde unpopulär werden; und mindeftens die Abficht, die Vollsgunft einzubüßen, möchte ich

J. |

840 Die Zuhmft.

meinem Herrn Krititer nicht zutrauen. Uebrigens kann ich für die Richtig. feit unſeres Handelns eine Autorität anführen, deren Gewicht er einft nicht verfannt hätte: Lord Roſebery, der ihm näher fteht als mir, rieth ums... .”

„So ſchnell wie möglich Frieden zu fchließen. Natürlich. Der Schwie⸗ gerjohn Rothichilds, der da unten eine Millionenjaat in der Erbe hat ımd ungeduldig auf den Minenboom und den Synduftrieaufichwung wartet, der dem Friedensſchluß folgen muß. Und Roſebery ift wurzellos, fett er gegen Homerule auftrat und Imperialiſt wurde. Er braucht, um PBremierminifter werden zu können, einen neuen Trumpf; und ich muß ihm nachſagen: er hat, unter kluger Leitung, die Karten vorfichtig gemilcht. Kommtes zueinem dem Volkswunſch entiprechenden Frieden, dann hat er als Eriter den Weg gewiejen; in jedem anderen Fall ift er jchuldlos und die Wirkung des guten Nathes durch die Thorheit der Tonfervativen Regirung vereitelt worden. Beim König hat er ich, wie immer der Würfel falle, beliebt gemacht. ‘Denn der König langt ſehnlich nach einer Aufbeiferung feiner Popularität. Den verehrten Marquis, den ich zwar nicht Englands größtem Dichter, aber dem unfterblichen Sänger der Odyſſee vergleichen kann der ja auch manch⸗ mal jchlief —, drüdt die Laft ausländischer Schimpfreden und ungejtillter Volksſehnſucht zu Boden. Sein erjchütternder Seufzer erinnerte mich an

das Erlebniß eines nicht minder weifen und fittenftrengen Polititers. ALS

Herr Briffon in Marjeilfe neulich in einer Wahlrede fagte, er habe unter dem Kittel des Arbeiters jo viel muthige, heldenhafte Würde gefunden, daß fein ſchwarzer Rock ihm ſchwer werde, rief ein jchlagfertiger Proletarier dem gerührten Greis zu: ‚So zieh ihn doch aus!‘ Nach reiflichem Ueber» legen fände vielleicht auch unſer Neſtor die Möglichkeit, eine Bürde, Die ihm zu ſchwer wird, abzufchütteln. So lange wir aber dag Glück und die Ehre haben, ihn auf dem Plate zu fehen, dem er feinen Ruhm dankt, muß er mir ſchon geftatten, mit dem felben Freimuth zu reden, den er früher jo auf- richtig ſchätzte. Dem füdafrikanischen Induſtriegebiet ſoll die Aera ruhiger Arbeit wiederkehren. Das klingt wunderſchön; nur... Der Krieg, ber ſich jetst auf ganz anderen Schauplägen abfpielt, hindert die Minenbefiger längſt nicht mehr, die Arbeit in vollem Umfang aufzunehmen; aber di ſchwarzen Arbeiter fehlen ihnen, und diefe unerjeglichen Kaffern bring, der Friedensſchluß nicht von heute auf morgen an den Rand zuräd. Wi wollen die Dinge dod) jehen, wie fie find, nicht Hinter Phrafenfchleiern. Fort: gefchimpft wird unter allen Umftänden. Wenn wir nach dem langen, a Opfern aller Art überreichen Kampf num aber einen Frieden fchließen, d

Vereeniging. 341

uns beid;ämende Konzefjionen aufzwingt, dannernten wir zu dem Schimpf auch noch Spott. Die Verantiportlichkeit für jolchen Frieden jcheue ich, nicht Die fürden Krieg. Es war nicht meines Amtes, 1899 feftzuftellen, daß die Hoff- nung auf fremde, namentlich deutjche Hilfe in den beiden Freiltaaten ftärfer war als alle Bauernbedenfen; und der Leiter der auswärtigen Bolitik ſollte mir nicht Mangel an Vorausſicht vorwerfen. Immerhin: ich bin bereit, die Schuld auf mich zunehmen. Wirdder Krieg fo zu Endegeführt, daß wir mit er⸗ höhtem, nicht mit gemindertem Anjehen daraus hervorgehen, dann magman mein Handeln unfittlich und barbarifch nennen. Ohnezerbrochene Eierjchalen giebts feinen Eierkuchen, ohne zerftampfte VBölferftänme fein Weltimperium. Ich will zufrieden fein, wenn man jagt: Diefer Kerl hat den Muth gehabt, Etwas zumwagen, und die Ausdauer, fein Ziel zu erreichen. Ob ich dabei für eine Weile aus der Volksgunſt verdrängt werde, gilt mir gleich. Vorläufig.. Ich habe, vielleicht, weil ich jünger bin, vielleicht, weil unſere Ausgangs⸗ punkte verſchieden ſind, nur einen Verwandten in eine Staatsſtellung ge⸗ bracht und bin, trotz all meinen Sünden, unſchuldig daran, daß dieſes loöbliche Minifterium als Hotel Cecil Illimited auf der Gaſſe verhöhnt wird.“

Die befürchtete Erplojion war da. „Aber meine Herren... !”"

„Kleine Mißverſtändniſſe! Nein taktiſche Fragen!“

„Er bleibt der Barvenu aus der Eifenbrandhe.“

Ein Bote trat ein. „Botſchaft von Kitchener?” Nein: vom Rönig, der direlte Nachrichten empfangen hat und den Marquis von Salisbury zu fich bitten läßt. Es Handelt fich nur noch um Kleinigkeiten. Zu erwägen fei, ob man den Buren den Kabelverkehr mit Krüger freigeben folle. Das werde verlangt, weil beide Theile ſich beim Abſchied mit Handſchlag verpflichtet hatten, weder in Afrifa nod) in Europa Frieden zu fchließen, ohne vorher den Rath des anderen Theiles gehört zu haben. Dem König ſcheine die Zeit zur Erfüllung dieſes nicht unbilligen Wunſches gekommen.

„Denn Seine Majeftät die Entjcheidung aus dem Schrein feines Herzens holt, brauchen wir hier nicht müßig herumzufigen. Mahlzeit!”

Dreer Erſte Lord des Schatzes zog die Beine vom Stuhl. „Schiden Sie den Zeitungen eine Notiz: ‚Die aus PVereeniging und Pretoria eingetroffenen Nachrichten haben den Miniſterrath heute nicht lange bejchäftigt, da ein» ftimmig an dem Entſchluß feitgehalten wird, über die in Ausficht geftellten Konzeſſionen nicht Hinauszugehen‘. Hm... Diefe Politiker find merfwürdige Leute. Wie uninterefjant werden den Geologen und Ajtronomen der Zukunft all die Dinge fcheinen, mit denen wir ung das Bischen Leben vergällen ...“

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342 Die Zukunft.

Die Große Runftausftellung.

eber die Große Berliner Kunftausftellung hört man fo viele Sagen, N daß man verſucht wird, Einiges zu ihrer Entfhuldigung zu fagen.

Ihr Niveau ift allerdings ſchlecht und die Bilder, die in ihr mijerabel find (fie hängen meift im Rundgang und in jenen Räumen, wo über zahl: reihen Thüren das Hilfreiche Wort „Nothausgang“ fteht), diefe Bilder mögen dem ärgften Dilettantismus verdankt worden fein. Man fragt fich, ob bei ihrer Annahme den Außftellungvorftand nicht ein doch zu nichts nützendes Mitleid Teitete. Was kann den armen Malern, die diefe Bilder eingefandt baben, ihre Ausftellung helfen, da jie fo gehängt wurden? Der Ausftellung- vorftand war großmüthig: er nahm ein Gemälde an, das in einer violetten Gegend einen blauen Fluß zeigt, während am Horizont in einem rothen Streifen die Eonne unterlintt. Aus dem Roth, Blau, Violett entftand ein trübe8 Ganze; außerdem fcheint der Maler bei der Herftellung feines Bildes fi der Bortheile nicht bewußt geworden zu fein, die die Delfarbe wegen ihrer Gefchmeidigfeit bietet. Oder man fieht ein Herrenportrait, auf deiien weine Weſte und Stirn überflüfiiger Weife überflüffig, weil die Dar: ftelung nicht überzeugend wurde da8 Sonnenlicht fällt. Man degft vor diefem Bilde daran, wie in ben guten alten Zeiten die Maler ſich einfache Motive wählten und fie in Bolltommenheit wiedergaben, während heutzutage, und fo weiter. Und gerade die Dilettanten wählen die fchwerften Motive aus.

Dennoch können diefe Bilder für die berliner Ausftellung nicht ver hängnißvoll fein. Denn jeder Befucher der parifer Salons erinnert fid, an wie vielen. Bildern er dort alljährlich in unfagbarer Langeweile vorüber: gefchritten ift. Diefe Bilder waren ohne Zweifel beffer gemalt. Doc; dieſer Unterfchied bedeutet nicht viel. Nicht, weil jie mehr oder weniger ſchlecht gemalt find, jondern, weil die Künftler, die fie fchufen, matt find, deshalb wirken in allen Ausjtellungen die „vielzuvielen“ Bilder lähmend. Und die Erzefltoniften, von Paris wie von Berlin, wußten fehr mohl, weshalb fie vor Allem daran gingen, ihre Ausſtellungen auf einen kleineren Umfang zurüdzuführen; in den befchränften Räumen, mit deren Arrangement fie fid, befaßten, hatten jie es unendlich leichter al3 ihre Kollegen von den offiziellen Ausftellungen, intereffante Ausftelungen zu Stande zu bringen.

Die Große Berliner Kunftausftelung leidet außer an der Ausdehnung ihrer Säle daran, daß ihr Publiftum eine Unterhaltung erwartet. Diefen Unterfchieb zwifchen der Großen Berliner Kunftausftelung und der Sezelfion macht man fich lächelnd Har, wenn man in ber Großen Kunftansftellung

Die Große Kunſtausftellung. 343

vor einem Bilde ſtehen bleibt, das eine junge Dame in alterthumelnder Tracht an einem Kaffeetifh am offenen Feniter (mit einem Blumenarrangement und im Sonnenfchein) zeigt und das den Vermerk „Verkauft“ trägt, Dieweil in der Sezeflion ber Vermerk „Verkauft“ nur an foldhen Werken fteht, die den Stempel bes Unvoltsthümlichen gerade in der fhärfften Form offenbaren. Für die Erörterung in biefem Zufammenhange ift es einerlei, ob zum Theil der Terrorismus, den die Zeitungen ausüben, mit ſolchem verwunderlihen Verkauf unvolfsthämlicher Werke im Zufammenhang fteht. Jedenfalls ift ficher, bat, wenn vielleicht das Publikum der Sezeflion

auf die Yenferungen der Beitungen achtet, die Kunftfreunde in ber Großen Kunftausftellung naiv find. In ihr treffen Menfchen zufammen, die nicht gefonnen find, ih von Zeitungen und Zeitfchriften rathen zu laffen, welche Bilder zu bewundern find. Dan geht feiner Laune nad. Und dann fchallen aus dem Hintergrund, leife, aber vernehmlich, die länge einer Muſikkapelle. Nach der Belichtigung der Bilder wird man in den Bart gehen.

Diefer Charakter der Ausftellung, den eine Langjährige Ueberlieferung geihaffen hat, giebt ihr Etwas von einem bürgerlichen Vergnügen. Man kann gegen diefe Tradition fi nicht auflehren. Dan wird der Auftellung- leitung mildernde Umftände, bewilligen müſſen, wenn es ihr nicht gelungen fein follte, die Ausftellung rein künftlerifch zu machen.

Und dann bedenke man auch die Nebenftrömungen. Da find Bildniffe von Otto von Krumhaar. Sie unterfcheiden fi) von ben Bildern ber Dilettanten, die in die entlegeneren Räume relegirt worden find, dadurch, daß ihr Verfertiger allerdings nicht die ſchwierigen Aufgaben, fondern die feichteften Motive wählte, um fie unvolllommen auszudrüden. Das gab ihnen aber noch fein Recht auf viel beſſere Pläge. Doc hängen fie nicht zur Genugthuung des Ausftelungvorftandes da. Ein Ausitellungvorftand hat um fo vielfachere Rüdjichten zu üben, je ausgebehnter der Kreis ift, über den die Austellung fich verbreitet. Dem diesjährigen Ausftellungleiter iſt es nicht in höherem Maße als einem feiner Vorgänger gelungen, der Mißlich— feiten Herr zu werden, die fich einer künftlerifchen Geftaltung der Großen Austellung entgegenfegten. Doch wenn felbft eine energifchere Hand als die des Profeffors Arthur Kampf die Zügel ergriffen hätte, fo würde noch immer in der Weitläufigfeit der zu füllenden Säle und in den Wünfchen vieler ihrer Befucher Feine Berfchiebung herbeigeführt worden fein.

Die Werke, mit denen ſich Kampf an der Ausftellung betbeiligte, find ſchwach. Sie find von einer betrübenden Gleichförmigkeit; e8 wird feine Spur von Empfindung in ihnen jichtbar, jie jind afademifch mit einem Zu⸗ ſchuß von Düfjeldorfertfum. Zur larmoyanten und falten Epezialität des düffeldorfer Koftünigenres gehört Kampfs Bild, deflen Thema wahrlich eine

844 Die Zukunft.

fräftigere Ausführung hätte hoffen laſſen, von „Friedrich dem Großen neh ber Rückkehr aus dem Siebenjährigen Kriege in der darlottenburger Schloß kapelle“; auf die in Düffeldorf von C. F. Leffing bis zum Profeſſor Janſſen betriebene Monumentaltunft weifen feine Entwürfe für Wandbilder bin, die für das Kreishaus in Aachen beftimmt jind. Bor biefen Kartons hätte Cornelius fih im Grabe umgedreht, während ©. F. Leffing bei ihnen er wogen haben würde, wie ſchön es fei, daß auch jest noch eine Kunft, de manche Selige eine Surrogatkunft nannten, in weiten Kreifen gefchägt werde. Abſcheulich berührt an diefen Kartons die Regelmäßigkeit. Man fehe auf dem einen Entwurf die Finder an und vergegenwärtige ſich die Kinder von Kraus auf feinem Bilde in der Nationalgalerie „Wie die Alten fungen’ (nad) welchem Gemälde fih Kampf ein Wenig gerichtet hat). Man betradie nad Kampfs anderem Karton, der Arbeiter bei und nad der Arbeit zeigt, die Arbeiter auf Menzels „Eifenwalzwert“. Man vergleiche die mathe mathiſch gemachten Kinder und Arbeiter bei Kampf mit den Kindern bei Knaus, mit den Arbeitern bei Menzel.

Es iſt fo entfeglich verkehrt, zu meinen, daß, auch wenn der Athem für Monumentaltunft nicht vorhanden ift, Monumentaltunft damit hervor: gebracht werben Tünne, daß Modellftudien gruppirt und bes individuelle Ausſehens beraubt werden.

Ein Maler, der Dergleichen thut, ſetzt ſich lediglich zwiſchen zwei Stühle Aus feinen Studien nad) dem lebenden Modell reißt er das Leben, den Reiz des Lebens, die Intimität, und Monumentalfunft wird es nidt, weil Etwas nicht dadurch monumental wird, daß an bie Stelle der Mannich⸗ faltigfeit und reichen Unregelmäßigkeit des Lebens einige willfürliche Linien treten. Ein Werk ift nicht darıım monumental, weil e8 arm von Keben if. Ein Werk wie biefes ift vergrößertes und dabei unleidlich vergröbertes Geme. Schade um die Wände diefes Kreishaufes.

Ein charatteriftifches Werk der Großen Kımftausftellung ift das Por trait der „Gräfin H.“ vom Profeffor Grafen Harrach. In diefem Bil ſpricht eine echtere Kunſt als in allen Einfendungen von Kampf: hier war Etwas zu jagen. Freilich iſt Das mehr eine inhaltlich felelnde Erzählung als eine gute Malerei. Dies Bild berichtet von Helden und Sieg, ven Treue und Vaterland, von vaterländifcher Geſchichte. Es enthält auch v "T Geſchichte als Röchlings beide gemeinen Schlachtengemälde von Kolin Hohenfriedberg.. Es ift nicht gut gemalt, troden, mehr gezeichnet als gem + die Schultern und der Naden jind geradezu fchlecht, aber von feinem & ! ducchriefelt ift das zarte Fleiſch des befchatteten Gefichtes und anjchen ) find die Haare behandelt. Es ijt viel naives Talent in dem Bilde J ı findet ein ſolches Bild nicht in der Berliner Sezeffion, man findet, m !

Die Große Kunſtausſtellung. 345

man fagen, in feiner Seejfion-Ausftellung der Welt ſolches Bild, bag über- zeugt Thron und Alter vertheidigt. Wir haben in England und Frankreich freilihd Maler der großen Welt gefehen; fie konnten jedoch diefe Reinheit nicht geben. Schade, daß Harrach nicht Maler if. Was ihm fehlt? Das entnimmt man vielleicht dem daneben hängenden, übrigens, trotzdem der Maler Talent hat, nicht guten Bilde von Dettmann. Dies ift ein tolles Bild. Ein „frieſiſches Lied“ ſollte dargeftellt werden. Die Stimmung, die auf ber Stirn ber Heineren friefifchen Dame leuchtet —: wenn die Fähigfeit, irgend einen Haud, eine Bewegung der Luft, über den Körper fliegen zu laſſen, in Harrach läge oder von ihm erworben worden wäre, dann würde .er Maler fein.

Guſſows ftupend gemaltes Bildniß der „Frau Bürd“ Hinterläßt einen gemifchten Eindrud. Die Technik und Frau Bürd Haffen auseinander. Die Technik ift eine den Malern früher Zeiten nachgeahmte, man denkt an Kopiften- und Reftauratorenthätigfeit; und Frau VBürd ift feine Erſcheinung, die ſich für eine Malerei in der Art der Primitiven eignen würde; fie bat ein voll- ſtändig modernes Geficht; jo erklärt fi der Widerfprud. Man benft an Zolas Wort: „Ein Kunftwerk ift ein Winkel der Schöpfung, gefehen durch ein Temperament“, um fi daran zu erläutern, daß Guſſows Bild Fein Kunſtwerk if. Zugleich freut man fich über die Fortfchritte der Menfchheit, da die Menfchen früher Guſſow für ein Temperament hielten und ſich jegt darüber einig wurden, daß er nur ein Techniker iſt.

Gari Melchers wirkt auch nicht mehr überzeugend; allerdings ift es ein ziemlich ſchlechtes Bild, daS er auf der Ausftellung hat, fein „Roth- kãppchen.“

Das große Hiſtorienbild Benliures verſtimmt nicht, beſchäftigt aber auch nicht.

Als vor Kurzem Julius Groſſe ſtarb, las man, ein Redakteur vom Rheiniſchen Courier habe ihm eine Warnung ertheilt, nicht nach Weimar zu gehen; in Weimar, ſagte er, würde er ein Pflänzchen ſein, das zwiſchen den großen Bäumen im Schatten ſtehe. Daran darf man denken, wenn man in der Großen Ausſtellung in das Kabinet von Louis Kolitz tritt.

Dieſer Maler hat in Kaſſel im Schatten der Galerie gewirkt. Kaſſel ift ein gefährlicher Ort für Maler: die Galerie ift dort wundervoll; eine malerische Vorftellung in der falten Beamtenftadt kann nicht auflommen; nichts hält der Oalerie die Wage. Stolig gerieth in den Bann diefer Sammlung. Was in feiner Spezialausftellung aber auffällt, ift nicht das Stellerartige im Licht feiner Bilder, nicht ihr Schwarz, ihr Tiefjinn, ihre Grabesftiimmung, ihr Eklekti⸗ zismus: das Alles erwartete man. Was auffällt, ift, auf feinem Selbftportrait wahrzunehmen, daßer jrifche, geröthete Wangen hat; denn Das erwartet man nicht.

846 Die Zukunft.

Man hatte vermuthet, er müßte vom Geifte der Galerie verzehrt fein, bleich, hohlwangig, aldhemiftifch ansfehen. Nun Hat er ein gemüthliches Geñcht und eine goldene Brille; deito beifer. Er fcheint weniger eine Küuſtlernatur zu fein, die von den Alten befeflen ift, als ein ruhiges Gelehrtennaturell, das ihnen in einer gemäclichen Weile folgt. Im feinen Bildern ahmt er den Alten, meift Jedem für fih und mandmal in Kombinationen, nad). Das natürlich find feine fchlechteften Werke. In einer Kriegsſzene von 1870 iſt er einheitlih. Er läßt die Helmfpigen von Wilhelm dem Erſten, Bis mard und Moltke leuchten, wie man Metalltheile in den Kriegsbildern ans dem fiebenzehnten Jahrhundert Leuchten fieht. Berwundert gewahrt man, daß der alte Wilhelm, Bismard und Moltke doch Uniformen tragen umd nit Bandenführertrachten aus dem Dreikigjährigen Krieg. Allerdings find ihre Uniformen fo dunkel geftimmt, wie e8 nur irgend möglich war, jo dunkel, daß fie aus dem Ton bes „hiſtoriſch“ gehaltenen Bildes nicht, berausfallen. Wie weit das Alles von und zurüdliegt!

Dann jieht man in feiner Ausftellung mandmal ein unbefangenes Talent: von feinem objektiven Bilde von „Fräulein Rehn, Pianiftin“, be tommt man den Eindrud der Perfönlichfeit. Um wie viel lebhafter bedauert man dann die Verirrung, der der Künftler anheimfiel! Man freut fidh, daß die deutfche Malerei den Weg der Lenbach, Kanon, Kolig, den Weg, den einftmal® Fabricius ging, energifch und hoffentlich auf immer verlaffen hat.

Bon Leubach fieht man ein Bildnig der „Frau F.“, nicht einmal em Schöner Reſt, was Lenbad) betrifft. Bon Erdtelt iſt ein für die durch ihm bezeichnete münchener Malerei ganz vorzügliches und doc gleichgiltiges Bild da.

Eher findet man an der Fühlen Malerei von Dänemarf Gefallen. Etwas von der Realität Ausgehendes und dabei jehr Subtiles ift in biefer Malerei. Ein Auskommen mit Wenigen. Sie beherrfchen einen hellen Ton. Einige von ihren Bildern find fehr gut, zum Beifpiel Schlichtkrulls, Sonnen⸗ Schein in der Bauernftube”; Peter Ilſtedt in Kopenhagen giebt ein gutes Interieur. In Verbindung mit den dänifchen Künftlern iſt Momme Niffen zu nennen, ein Deutfcher, der nah der dänifchen Grenze, in Niebüll, zu Haufe ift. Niffen zeigt einen friefifchen Bauern in feinem alten Hausrath. Ausgezeichnet ift dad Sonnenlicht wiedergegeben und das Holz des Tifchr“ die Stühle mit den Kiffen; Alles ift wahr, dabei Fünftlerifch zur @ ſcheinung gebradit.

Bei den Dänen fühlt man mehr Poelie, Sehnen, man merkt, ba fie da8 Reale wiedergeben, weil e8 die Unterlage ihrer Stimmung bilde Momme Niffen dagegen giebt das Reale wieder, weil es ift: rechnerifch giel er e3 wieder, nicht muſikaliſch. |

Die Große Kunſtausſtellung. 347

Ein Gegenbild zu Momme Niffen gewährt Kuehl in feinen Tofetter und malerifch zugejtugten Interieurs. Die Dänen geben die Zimmer, die fie uns um ihrer Poeſie willen zeigen. Momme Nifien zeigt Zinmer wegen ihres Gegenftandes. Kuehl malt Interieurd wegen des „Malerifchen“. Er wirkt aufbringlic, mit überladenem Bug, in einer gemiffen Weife wie einige Witzbolde der italienifhen Schule. Auf einem der von ihm gemalten „Interieurs“ gleitet ein Sonnenftrahl über einen dunkelgrünen alten Koffer mit eifernen Borlegejchlöffern, vorn fteht ein rother Seſſel, nad) hinten blidt man in einen Raum, in dem die Sonnenftrahlen einen leider Farbe - gebliebenen Tanz aufführen, wobei‘ Kuehl wohl an ein Wunderwerf der modernen Dealerei, an die Sobelinftiderinnen von Velazquez, gedacht hat. Diefer Theil feined Bildes ſieht wie eine heftige Parodie aus. In nicht geringerem Grabe übertrieben, überladen, unmöglich wirkt ein anderes Bild: von ihm, „Das blaue Zimmer“.

An einem Bilde eines ſeiner Schüler findet man mehr Gefallen: der Maler heit Edmund Körner, das Bild „Im Schatten“. Es ift eine Arbeit, bie in ihrer Kompojition und ihrem Farbengange auf Kuehl, wie er in feinen älteren Bildern war, zurüdgeht und, fo weit Das bei diefer Art möglih ift, einfach anmuthet.

Der der Architektur gewibmete Raum ift offenbar nicht dafür ein- gerichtet, daß Beſucher kommen. Man will auf dem großen Tifch die dort außgebreiteten Publikationen fehen: man nimmt feinen Stuhl wahr, um ſich an diefen Leſetiſch niederlaffen zu Tönnen, wohl aber nahen aus den Neben- räumen zwei Wächter, die darauf pafjen, daß fich der ungewohnte Gaft nicht der Publifationen bemädtigt. Unbehaglich.

In die Möbelkojen hat man eine Einrichtung in Mahagoni zugelaffen, von der man nicht weiß, wie fie in die Kunftausftellung gerathen Tonnte, ftatt in die Auslage eines Möbelmagazind. In diefem Theile der Aus- ftattung fehnt man fich nach Menfchen. Dan entbehrt hier ſelbſt die Muſik; fie dringt nicht big Hierher. Man geht ins Freie; auch im Park ift es un=- behaglich; und man kehrt der Ausftellung den Rüden.

Herman Helferid.

Ben, une

348 Die Zukunft. Derfelbe, Diefelbe, Dafielbe.

SR haben wir auf der Schule über die perſönlichen Fürwörter im Deuticen gelernt? Nicht wahr, daß fie heißen: ich, bu, er, fie, es, wir, ihr, je? Das haben wir in den unterften Klaſſen gelernt; und hätte man uns dieſe ſo nüglihe Kenntniß mit dem ſelben Nachdruck auch in den höheren Klafien be feitigt, fo gäbe es in ber deutjchen Literatur, in der hohen, der mittleren und der niederen, nicht einen ber widerwärtigften, von ärgfter Stumpfheit bes Sprad» finnes zeugenden Stilfehler. Faſt in jedem Buch und ficher in jeder Zeitung, die uns in die Hände kommen. Ein Selundaner, der fi unterftehen wollt, in einer lateinifchen Arbeit is und idem zu verwechſeln, oder der in einer franz fiichen fchriebe: Philipp war der König von Makedonien, Je flls du m&me 6tait Alexandre, würde von dem ergrimmten Lehrer nach Berdienit angeſchnauzt werden; und wiederholte er dieſen ſprachlichen Unfinn öfter, fo bliebe er figen. Im Deutichen aber wird die Lehre von den perjönlichen Fürwörtern ich, du, er, fit, es in den oberen Klaſſen mißachtet und ich habe mich jelbft aus Scüler- beften davon überzeugt das berüchtigte derfelbe, dieſelbe, daljelbe Hält jenen Einzug in den Sprachſchatz der arnıen, übel behüteten Zungen, ohne daß der Lehrer natürlich mit Ausnahmen es für nöthig findet, ihnen dafür den dickſten Rothitrih an den Rand zu malen. Bon der Schule pflanzt fich der Mißbrauch ins Leben fort; und fo findet man in faft allen amtliden Schrift ftücen, in den meiften Büchern und allen Zeitungen diefes jedem feineren Sprad- gefühl unerträglich verhaßte fchleppende dreijilbige Ungethüm..

Daß der deutſche Sprachunterricht auf unferen Schulen, bejonders auf den höheren, nichts taugt, darüber find alle deutſchen Schriftfteller einig. Wie

kommt es nun, daß nur die Wenigiten von ihnen die fo naheliegende Folgerung

für fich jelbjt daraus ziehen: da ich auf der Schule nicht ordentlich Deutſch ge lernt habe, nicht mit folcher grammatifchen Strenge wie Lateiniſch, Griechiſch und Franzöſiſch, jo muß ich, da das Schreiben der beutfchen Spracde mein Beruf ift, im Leben nachholen, wag in der Schule an mir verfäumt wurde? In den legten zwanzig Jahren iſt eine ganze Reihe vortrefflicher Hilfsmittel, wenn nicht für gutes, jo doch für fehlerlojes Deutſch erichienen: die Bücher von Andreien, Wuſtmann, Heinge, Utto Schröder jind nicht unbekannt und auch nicht gan ohne Wirkung geblieben. Mir jcheint aber, daß gerade die Schreiber von Beruf, aljo die Männer von der Budhliteratur und von der Zeitung, von diejen Hilf mitteln den geringiten Gebrauch machen. Sie reden fi) wahrſcheinlich ein, wie Herr Jourdain bei Moliere, daß man eben nur zu jprechen brauche, wie Einem der Schnabel gewachſen, oder die Feder übers Papier laufen zu laffen, um „Proſa“ zu erzeugen, In Frankreich ift der Mitarbeiter des kleinſten Provinzblattes m möglich, wenn er nicht mindejtens fehlerlojes Franzöſiſch jchreibt; Deutſchland das einzige große Literaturland, wo man die ärgſten grammatifchen und ftiliftife Fehler begehen und noch immer für einen großen Schriftiteller gelten kann.

Für die deutichen Männer von der Feder kann man neben vielen ande Eintheilungen aud ganz getrojt diefe vornehmen: in Schriftiteller mit und Schriftſteller ohne „derſelbe, diejelbe, daſſelbe“. Leider ift die Zahl der lek oder, wie die Schriftjteller mit derjelbe, diefelbe, daffelbe jagen würden: ,

Derfelbe, Diefelbe, Dajjelbe. 349

Letzteren“, die überwiegend größere. Die Stumpfheit gegen den Ungefchmad, der in bem teten Gebrauch des pedantiſchen dreifilbigen „derjelbe“ jtatt des ein- filbigen ſcharfen „er“ ftedt, wurzelt fo tief ſelbſt in manden nicht üblen Schrift- ftellern, daß die jchärfite Hinweijung auf biefen Unfug fie nicht überzeugte. Otto Schröder hat in feinem prächtigen Büchlein „Vom papiernen Stil‘ mit allen Waffen des Spottes, des Zornes, des ruhigen Ueberredens gegen diejen ärgiten Fehler deutjchen Stils gelämpft, das Büchlein hat auch viele Auflagen erlebt, es bat in allen fpäteren Sprahbüdern Unterftügung gefunden; doch genügt hat das Alles recht wenig.

Der Ungefhmad und die Sprachwidrigkeit von „derſelbe“ ſtatt „er“ liegt nicht in der ſchleppenden Dreiſilbigkeit, obgleich ſchon ſie jeden Schriftſteller mit ſprachlichem Feingefühl zur Wahl des einfachen und kurzen „er“ zwingen müßte. Leider konnte nur ein Franzoſe, Muſſet, die ſprachliche Grundregel für alle Schriftſteller ausſprechen:

Non, je ne connais pas de metier plus honteux,

Plus sot, plus degradant pour la nature humaine, Que de se mettre ainsi la cervelle & la gene, | Pour &crire trois mots quand il n’en faut qu’un seul.

Noch ſchlimmer als die Schwerfälligteit ift, baß „Derjelbe‘‘ auf eine Gleich— Heit mit einem vorangehenden Worte hinzuweiſen jcheint, die in ben meiſten Fällen entweder gar nicht vorhanden ift oder die troß dem ſcharfen Hinweis unflar bleibt oder auf die eigens hinzuweiſen, überjlüffig, lächerlich und pedantiſch äft. „Der Unteritaatsjefretär im Reichspoſtamt Fritſch, welcher vor längerer Zeit feinen Abjchied erbeten, bat jett denſelben vom Saifer unter Verleihung des Titeld Ercellenz bewilligt erhalten.‘ Wer fühlt nicht, wie fehleppend unb zugleich lächerlich hier „denjelben“ ftatt ‚ihn‘ Klingt? Man wird einwenden: Das iſt Geſchmacksſache. Gut, nad einem ſchönen altſpaniſchen Sprichwort „find die Geſchmäcker verſchieden, aber es giebt ſolche, die Prügel verdienen“; es giebt auch einen Hörgeſchmack, der einen um ein Viertel zu hohen oder zu niedrigen Ton ohne Pein erduldet, während ein muſikaliſches Ohr dabei leidet, wie wenn ein ſtumpfer Griffel quietſchend über eine Schiefertafel hinfährt. „Auf ſeinem Rittergut im Kreiſe Konitz iſt Herr Oskar Wehr geſtorben. Derſelbe vertrat früher den Landtagswahlkreis Konitz-⸗Schlochau.“ Nur ja: Derſelbe! Wie leicht könnte man fonjt auf den Gedanken kommen, ed handle ſich um einen Anderen. In der felben Nummer ber felben ‘Zeitung, worin dieje Nachricht fteht, finde ich die Erklärung eines Landraths: ‚Dem vorigen Kreisblatt hat eine Ubonnements- empfehlung für die ‚Danziger Zeitung‘ beigelegen. Ich bitte die Leſer derfelben, nicht zu glauben, daß ich ein Abonnement auf die ‚Danziger Zeitung‘ empfehle.“ Mit Recht fügt die Redaktion diefem „derjelben‘‘ in Klammer Hinzu: „Wellen? Der ‚Danziger Zeitung‘? Spottet ihrer felbjt und weiß nicht wie.

Den meiſten Scriftjtellern und Beitungfchreibern ift ganz aus dem Be- wußtjein entjchwunden, daß es ein deutiches Wort „deilen" giebt. Dean Tann dide Bücher und blätterreiche Zeitungen durchlefen und findet dieſes jo nüßliche Wörtchen nicht ein einziges Dial, dafür aber auf Schritt und Tritt das ftelz- beinige „deilelben“. Woher mag das dreifilbige Ungeheuer ftammen? Das ältefte Deutſch kennt e8 überhaupt nidt. Es taucht in der Literatur erjt im

850 | Die Zuhrft.

fiebenzehnten Jahrhundert auf, auch nur ganz vereinzelt und noch nicht mit der völligen Meberflüfjigkeit wie heute. Wahrſcheinlich rührt es. von der deuten Sanzleifprache ber, die ja ſelbſt urjprünglicd nicht? Anderes war als liebes jeßungbeutfh. Ich glaube, Otto Schröder, ber dem dreifilbigen Scheujal iem halbes Büchlein gewidmet hat, ift doch nicht auf den wahren Urſprung verfallen. Ganz ſicher bin auch ich nicht, ihn entdedt zu engen. aber mag bier ftatt irgend einer anderen ftehen; man überjegte filia ejus: die Tochter deffelben! Dem Franzoſen bei feinem feinen See nie eingefallen, fih durch eine frembe Sprade in dem natürliden Gebrauch ber eigenen beirren zu laſſen; nie bat ein franzöfifcher Kanzleijcgreiber oder gar Schriftſteller fllia ejus anders als durch sa fille, niemals durch la fille du möme überfjegt. Im Englifhen ift eg eben jo; bier dient fogar the same jtatt he oder she zur abfichtlichen Kennzeichnung der Sprechweije ganz unge bildeten Menfchen. Auf den deutfchen Synnafien wird mit rührender Gedanlen Iofigteit fillia eius faft nur durch die Tochter befielden, fehr jelten durch fein Tochter überjegt; und: jung gewohnt, alt gethan.

Das Spaßigfte dabei ift der von jedem Lejer täglich zu machende Fer ſuch, fi derfelbe, diefelbe, daffelbe einfach dadurch vom Halſe zu ſchaffen, bei man fie ganz wegläßt; fie find meift eben fo überflüffig wie geſchmacklos. Was fol man dazu jagen, wenn man in einer Süinderfibel (von Widmann und Lampr) für die unterfte Stufe der Gemeindefhulen in einem Lefeftüdcdhen über „De Zeit” folgenden herrliden Sa findet: „Der Anfang des Tages beit der Morgen, die Mitte deffelben (des Morgens?) der Mittag." Ein befonders aufgewedies Kindchen fragte feine Mutter: „Was ift denn deffelben? Das ift ja gar nidt wahr!" Das fiebenjährige Mädel hatte einen feineren Spradjfinn als die Ter faffer der Fibel; es hatte „defjelben“ auf den Morgen bezogen; und warum folte es nicht? Die Mutter wußte dem Kinde nicht zw rathen; ich rieth ihm (dem felben!): „Streich weg!" Mit ansgelaffener Freude ftrich es (dafjelbe!) da überflüffige Zeug weg; und, fiehe da: der Sag war nicht nur kürzer, ſondem auch verjtändlicher geworden. „Die jtädtiichen Behörden dürfen ſich nicht vor einem unteren Beamten der Krone abfertigen laffen durch die Weigerung dei felben, die Akten höheren Orts zu unterbreiten.” Man ftreiche „deſſelben“, um die Sache it in Ordnung. „Wenn das Rohr aud) nicht gerade eins der optiſch ſtärkſten iſt, fo erfüllt es doch ſeinen Zweck, dem Publikum den Anblid de Wunder des geſtirnten Himmels zu ermöglichen, vollauf. Wir bringen nebeir ſtehend vortrefflide Abbildungen deffelben.“ Deffelben? Welches felben? DS Himmels? Wahrfcheinlich nicht, ſondern des Rohres. Man ftreiche „deſſelben“— und man ijt aus aller Berlegenbeit.

Das Tollſte Ieiftet in diefem Punkt das wictigfte Stück öffentlicher deutfcher Literatur: die Neichsverfajfung. Nicht ein einziger Artikel (derfelbe ' in dem auch nur die entfernte Möglichkeit zur Einfchmuggelung des verhat Mm Dreifilbers beftand, ijt von dem Verfaſſer (derjelben!) verjchont geblieben. 4 weiß nicht, welcher hohe Staatsbeamte mit der ftiliftifchen Faſſung (derfeld ih betraut wär; wohl aber weiß ich, daß fein Sprachgefühl von äußerſter Stu j⸗ beit geweſen ſein muß. Man ſehe ſich die Verfaſſung einmal an: fat. @ Artikel wimmelt von berfelbe, diefelbe, diejelben, deffelben u. |. w. Dieär 9

Derſelbe, Diefelbe, Daffelbe. 351

find nicht ausgeblieben: Mißverſtändniſſe aller Art entitehen gerade durch biefen Mißbrauch. Im Artikel 8 Heißt es: „In jedem biejer Ausjchliffe werden... mindeſtens vier Bundesftaaten vertreten jein und führt (ſchönes Deutſch!) inner⸗ halb derfelben jeder Staat nur- eine Stimme.” Welcher derfelben? Der vier Bundesſtaaten oder der Ausfhüfe? Eins der fchönften Beijpiele für die Gram⸗ matik der Reichsverfaſſung bietet der erite Abſatz des Artikels 53: „Die Kriegs⸗ marine des Reiches iſt eine einheitliche unter dem Oberbefehl des Kaifers. Die Irganifation und Zuſammenſetzung derfelben liegt dem Kaiſer ob, welcher die Tifiziere und Beamten der Marine ernennt und für welchen diefelben nebjt den Mannſchaften eidlich in Pflicht zu nehmen find.” Um fo erftaunter ift man, aud einmal das Kleine Wort „deſſen“ zu finden. Wenn man im Xrtifel 11 lieft: „Zur Erflärung des Krieges ift die Zuſtimmung des Bundesrathes er⸗ forberlich, es fei denn, daß ein Angriff auf das Bundesgebiet oder deſſen Küſten erfolgt“, jo fragt man ſich, warum der Verfaffer nicht auch hier nach ſeinem lieblichen Gebrauch gejchrieben hat: auf das Bundesgebiet oder die Küſten des- felben. Hätte man jenem Staatsmann bie Bibel zur fanzleimäßigen Umarbeitung übergeben, wir würden mwahrjcheinlich als erjten Berg lejen: „Im Anfang jchuf Gott Himmel und Erde; leßtere war wült und leer und war es finfter auf der- jelben“ ; und manche ‚‚gebilbete” Lejer würben feinen Anſtoß daran nehmen.

Treibt man die Feinde des einfilbigen Fürwortes, die „Unentwegten“ des Dreifilberd, in die Enge, jo fommen fie unfehlbar mit Leſſing, Goethe und Schiller angerüdt. Jawohl, aud unfere drei Größten bedienen fich zuweilen des Dreifilbers ftatt des Einfilbers. Warum follten fie nicht? Hatte man ihnen, die doch aus dem Sprachwuſt des fiebenzehnten Jahrhunderts erft eine gebildete Sprade jhaffen mußten, etwa in der Kinderlehre gejagt, wie man die Mutter- ſprache richtig zu fchreiben Habe? Das hatte man Voltaire, Diderot und Rouffeau gelehrt. Aber man komme überhaupt nicht mit joldem Einwand, wenn man nicht auch fonft dem Lefer etwas Achnliches zu jagen weiß wie Leffing, Goethe und Schiller. Auch bei unferen Klaffifern findet man Spradfehler; jobald unsere heutigen Dugendichriftiteller und Zeitungfchreiber im Uebrigen als Klaſſiker gelten dürfen, follen ihnen alle Spradjfehler verziehen werden. Man ift als Schriftjteller oder Zeitungfchreiber nicht verpflichtet, ein Klaffiter zu fein; aber man follte, denfe ich, verpflichtet fein, in der minderwerthigen Literatur, die man im beiten alle erzeugt, wenigitens erträglich richtiges Deutſch zu fchreiben. Vebrigens fommt die PVedanterei mit „derjelbe” bei unferen Klafjifern äußerit jelten vor, eigentlich nur als Folge einer gewiflen Läfjigleit, als Ausnahme. Dtto Schröder Hat feitgeftellt, daß in Goethes ſämmtlichen Schriften von 1771 bis 1814, alfo auch in der Zeit feines jchon beginnenden Geheimrathitils, nur an hundertundachtzig Stellen der Dreifilber jtatt des Einfilbers fteht.

Eine durdhgreifende Beilerung kann nur die Schule und das gute Bei- ipiel des Bud)- und Beitungdrudes jchaffen. Beute, wo die alten Spraden im Unterricht mehr und mehr abbrödeln, follte unfere oberfte Schulverwaltung mit größerer Strenge als bisher die Spradjrichtigfeit im Deutſchen einſchärfen. Aller: dings würde dazu gehören, daß unjere höchſten Schulbehörben felbft über ein mujtergiltiges Deutfch verfügten. Ob fie fih Deflen rühmen dürfen, will id für heute unumterjucht laſſen. Eduard Engel.

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352 Die Zukunft.

In der Arbeiterfolonie.

Seine der witzigſten Kerle chien mir der Yampenpußer zu fein. Er wußte I ſich allerdings einen Schein von Blödigkeit zu geben. Und mit einem gewiſſen Stumpfſinn putzte und wifchte er an den Yampen herum. Die Unter- haltung der ihn Umftehenden beadjtete er faft gar nit. Mit peinlider Sorgfalt padte er, wenn er die beiden Hängelampen im Saal und bie kleinen Biend- lanıpen ber Schlafräume gereinigt und friſch gefüllt Hatte, feine Yappen und Bürften in die Kleine Kifte, nahm jie unter den Arm, in bie Hand die Bertroleum- kanne und zog weiter, in den Nebenfaal.

Mit feiner blauen Bloufe, feiner grünen Schürze und der fladen Müre, bie er ftet3 fehr grade trug, nie auf das eine oder das andere Ohr ſchob, jah er aus wie ein braver, pflichtbewußter Stleinbürger. Er gli) einem jener Menſchen, die den ganzen Tag ihre glatte Straße binablaufen, fi) abends in einer be- ſtimmten Kneipe an einem bejtimmten Tiſch mit bejtimmten Sameraden betrinfen und immer im jelben Bett, neben der einen rau, ihren Rauſch ausidlafen, um am nächſten Tage wieder glatt ihre Straße hinabzulaufen. Seine grauen Augen waren jo verglaft und blidten fo ruhig gradeaus, als könnten fie nie in Born und Haß gefunfelt haben, als leuchte Hinter ihnen im Kopf fein Wunſch., fein Verlangen und feine Hoffnung. Aber dieſe Starrheit ſchien mir niddt ganz echt zu fein. Und als ich ihn mehrmals gefehen Hatte, wie er mit älteren In— jaffen der Kolonie vergnügt und harmlos fcherzen konnte, mit leichtem, ver- ſchmitztem und forglofem Lachen, wußte ich nicht, ob ich einen ganz abgefeimten Burſchen oder einen fimplen Spießbürger vor mir habe, einen Spießbürger, der entweder Unglüd gehabt Hatte oder, wie faft Alle feiner Art, unfähig gewejen war, irgend eine Schwierige Situation zu überwinden. .

Eines Tages hatte ich ein PBadet befommen. Wie e8 die Anderen machten, mußte ich es wohl auch thun: Allen, mit denen ich in einen: näheren Zuſammenhang ftand, Etwas von dem Inhalt der Sendung abgeben. Da id; nicht ſelbſt Luft hatte, in den unteren Saal zu gehen, jchidte ih einen meiner Nebenmänner mit einigen Gigarren, Apfelfinen und Aehnlidem hinunter. Gr follte es einem älteren Manne geben, der einige Jahre Mebizin ftudirt hatte, fein Studium aufgeben mußte, ſich durch Unterrichtsftunden ernährte, dann aber Krankenwärter in einer großen Anjtalt geworden war. Irgend ein Erlebnig hatte ihn aus diefer ficheren und guten Stellung er war inzwilden zum Oberwärter aufgerücdt vertrieben. Dieſer Mann mußte wohl doppelt, drei- fad Fühlen, daß er hier nur ein Geduldeter war, dab er duch Barmherzigkeit MN diefem Hauſe ein jämmerliches Yeben friſte, er, ein denkender und grübelnder

Mensch zwiichen folchen Yandjtreichern, Bauarbeitern, Schmieden, Matroſen Trinkern Am Meiſten freute mich, daß ich ihm ein paar Bücher leihen kon in denen Kulturfragen behandelt wurden. Das intereſſirte ihn beſonders.

Ich wunderte mich, day er nicht kam, um mit mir darüber zu jpred Auf Dank rechnete ich nicht. Die meiften Stoloniften hatten blutende Ger; Sie waren zerfleiicht worden. Man mußte fie mit einem ganz. beiont Feingefühl behandeln, mit ganz weichen Händen anfallen. Einen Dant mochten ſie fajt nie auszujprechen. Wenn man ihnen Etwas gab, mußte

Sn der Arbetterkolorie. 353

e3 in befonderer Art thun, bamit fie ſich nicht für verpflichtet hielten oder fich als weniger beglüdt und bochitehend empfinden Eonnten. So hatte ih denn dem Mediziner jagen laffen, ich käme nicht als Gebender, fondern als Fordernder zu ihm. Er möchte boch fo freundli fein, mir Einiges aus feinem Leben auf- zufchreiben. Wie er wiſſe, interefire mid) jo was. Und bie paar Cigarren und das Andere follten eine fleine VBorausbezahlung fein... Er fam nidt.

Am nächſten Tage gehe ich über den Hof nad) einem Stallgebäude, um mir dort einen Spaten zu holen. Da ſah ich den Lampenputzer, der mit ber friſch gefüllten Petroleumkanne über die Schwelle trat.

„Ra, wo wollen Sie denn Hin?” fragte er.

„Spaten holen.“

„Ra, ihre Hände find aber auch nicht ſolche Arbeit im Sumpf gewöhnt!“ Er lachte, wie immer den Kopf, ganz in der Weife der meiſten Koloniften, ein Wenig gebeugt. Uber in feinem lautlojen Lachen lag fo viel, daß ich ftehen blieb. Er hatte jetzt ein ganz anderes Geſicht. Offenherzigkeit, Zutrauen und etwas Hartes, Selbftbewußtes waren dort gemifcht.

Ich jah ihn erftaunt an. Da meinte er:

„Das war nett von Ihnen, bag Sie an mid gedacht haben. Sie Haben die Sachen nicht dem Falſchen gegeben. Sie haben ſich nicht in mir getäufcht. Aber ih muß Ihnen bier an biejer Stelle frei und offen jagen, daß es mir als Koloniften nicht gegönnt ift, mich mit jchriftlichen Arbeiten zu bejchäftigen. Dod ich befaffe mich gern mit Büchern und jchriftliden Arbeiten. In der Be— zichung jollen Sie fih im meiner Perſon durchaus nicht getäufcht Haben. Da find Sie an die richtige Adrefje gefommen. Die Bäder find fein! Wenn mir ooch der Gene zu viele Worte macht ...“

„Sa, lagen Sie mal, die Bücher haben Sie bekommen?“

„sa! Sie follen fi auch nicht in mir getäufcht haben. Denn das Zeug zum Aufſchreiben von mein Leben befige ich wohl. Aber, fehen Sie, da gudt Eener und da. Die janze Bude ig voll, ber Augen find mir zu viele, um meine reichhaltigen Sammlungen von reinen, wahren und nadten Thatjachen, die ich in meinen verjchiedenen Lebenslagen und aud) in meiner jebigen als Kolonift geſehen Habe, vor Aller Augen in ſolchem Geſchiebe und Gedränge im Aufenthaltsraum zu notiren. Da hat man dod feine Ruhe, da hat man dod nicht die Geiltesfammlung, die man dazu braudjt. Und Sie willen ja aud): der einzigfte fichere und zugleich einem Jeden zuerkannte Platz, Das iſt blos nachts das Bett. Und fonft ift man den ganzen Tag auf ben Beinen. Kommen Sie in den Stall, dann fieht uns Keiner und wir können in Ruhe erzählen“, unter- brach er fich, ſchob mich zur Thür hinein und lehnte fie hinter uns an.

Wir ftanden einander dicht gegenüber. Der Raum war mit erdigen Harfen, Spaten, Karren und allerlei Adergeräth angefüllt. In dem Dämmter- licht fonnte ich nur wenig vom Geficht des Lampenputzers erkennen. Er ftredte mir feine Hand hin: „Willen Sic, alg Der mir die Gigarren und die Bücher brachte, na, Sie können ſich ja denfen, wie Einem zu Muth it, der feit über zehn Jahren kein Geſchenk bekommen hat und nun plößlic..

Ich zog mid ein Wenig zurüd. Es war mir umangenchnt, daß dem alten ehemaligen Mediziner die Sachen entgangen waren, daß fie vielleicht ein

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354 Die Zukunft.

Abenteurer ſchlimmſter Sorte befonmen hatte. Mit einem jo aufdringlicen, Ihwaßhaften Patron wollte ich nicht unnütz Zeit verichwenden und jagte: „Su es thut mir leid, aber bie Bücher und das Andere waren nit für Sie de ftimmt. Die follte der alte Mediziner haben.“

Da jah ich, wie feine Augen ftare wurden, wie fie fi förmlich an mir feftflannmern wollten. Haſtig antwortete er: „a, ja, Sie find nicht an den Tralichen gelommen. Sch kann Sie verfihern, dat Sie nicht der Einzige find, der über mein früheres Leben Aufichluß begehrt. Ich babe ein thatenreiches, höchſt abenteuerliches Veben hinter mir. Wenn ich auch erſt einunddreißig Jahre zähle, jo wundere ich mich doch jelbit, daß ich noch am Leben bin, denn auf meinen vielbeivegten Reilen durch die Südſtaaten von Europa ging es baarig her... Sch bin der Richtige für Sie!“

Sept hatte ich mich an das matte Licht gewöhnt und konnte fehen, wie fein Geficht, bas die Bläffe der meiſten Koloniften zeigte, noch bleicher geworden war. Und ich madte raid: „Wa, ich glaube es ja; die Saden find zwar au den Falſchen gekommen, aber Sie find doch der Richtige."

„Nee, nee, ich bin nicht der Falſche. Und wenn mir auch die Glücks— göttin nicht Bold gewejen ift; und wenn Einer cin ſchweres Leben Hinter fid bat, jo bin ih es. Und jchon mancher fachkundige Mann bat mir für einen Abriß aus meinem Leben Geld und gute Worte geboten. Doc bis jebt habe ichs ftet8 verweigert und werde es aud) weiter thun, wenn mir nicht die ftrengite Verſchwiegenheit zugefichert wird. Mein Name darf auf feinen Fall hinein gezogen werden. Auf keinen Hall!“

Aha, dachte ich, aljo Einer, der nicht gern möchte, daß man daheim er fährt, wie es ihm draußen gegangen ift. Das war mir nichts Neues, und ſchließlich war die ganze Sache nichts werth.

„Sehen Sie“, fuhr er fort, „ih muß ficher jein. Das ift die Haupt⸗ ſache. Und von ‚ihnen glaube id), daß Sie Keinen verratfen. Wenn Sie Einen, den Sie faum fennen, Bücher ſchicken ... Sie haben mid ridjtig er kannt. Ich gebe viel auf jo was. Schriften und Bücher babe ih gern.“

Ich verjprad ihm, ihm nicht zu verrathen.

„as meinen Sie, wie fie hinter mir ber find! Wenn fie mich kriegen fönnten . . Ya, was id habe durchmachen müfjen! Ein dider, runder Kerl war ic früher. Und dann ein paar Monate hinter Schloß und Riegel, ımd Haut und Knochen blos nod. Und als ich mich rausgearbeitet hatte, da mar es mir gleich, was mu wurde; nur nicht wieder hinein. Lieber gleich Alles über den Haufen.“ Cr biß die Lippen zujammen und fdhnaufte dor Erregung. Ziichend ſprudelte er hervor: „Wenn fie mic) noch mal feftnehmen, dann..." Er hatte fein Meſſer, eine doldartige Klinge, gezogen und führte ſie gegen bi Bruft: „Und wenns durch und durch geht, ich wäre der Erfte nicht, dem it Eins verſetzt habe . . .“

Ruhiger fügte er hinzu: „Ich will nicht wieder hinein. Ich will nidt. .: Und Das ift mir die Dauptjade, daß ich fiher fein fann. Das Tann ic bei Ihnen. Das babe ih Ihnen gleich angemerkt. Sie find der Einzige untdet den zweihundert Dann, mit dem man ein Wort reden kam.“

Ich lächelte. Er: „Nee, nee, blos endlich fiher werden.“

In der Arbeiterfolouie. | 355

Mit dem Fuß ftieß er die Thür auf: „it da Jemand?“

Seine Augen waren blutig unterlaufen. Sein dünner, blonder Schnurr> - bart ſchien mit einem Mal wie gefträubt. Die ſchmalen Flügel feiner etwas furzen Naſe blädten fih.... Draußen jtand Niemand.

Mit einem verlegenen Laden ſchloß er die Thür: „Sie müſſen nämlich willen, daß ich fein Schweizer bin. Ich bin eben fo gut ein Deutjcher wie Ste. Das darf aber Niemand willen. Ich gehe fchon unter bem dritten falfchen Namen. Niemand darfs willen. Niemand! Ich muß ficher fein . .“

Mit offenem Munde fah er mi an. Ich beruhigte ihn. Da meinte er lädelnd: „Sa, ja, ich glaube. Uber wiffen Sie was? Ich fchlage vor, daß ih mit Ihnen am Sonntag auf die Felder gehe. Da Tann uns Seiner be- laufen. Hier wird man doch behorcht.“

Er nahm jeine Kanne und ging hinaus: „Am Sonntag, wenn fchön’ Wetter tft, dann fehen wir uns mal die Felder an.”

Es war nicht jchön’ Wetter. Aber er hatte mic doch abgeholt. An Hagel und Schnee gingen wir über die Sümpfe. Bon drei Seiten waren fie mit Siefern unſtanden. Der Wind fam von ber einen offenen Seite und bewarf ung und bie mattrothen Stämme mit weißlidem Matſch. Wir gingen fo raſch wie möglich in den Wald hinein. Da war es fo ruhig und troden wie in einem überwölbten Säulengang. Die buſchigen Wipfel der Bäume drängten ih ho über uns zu einem dichten, dunflen Dad zuſammen. Btichend eilte der Wind darüber Bin. Grade und troßig ſtanden die braunen, fchlanfen Säulen da. Jede Hatte ihre eigene Zeichnung. Und eben jo aufrecht ging jet der Zampenpußer neben mir. Nicht das Geringite von feiner früheren Gebüctheit, von feiner Leijetreterei Hatte er an ih. Mit feitem Fuß trat er auf den mit Nadeln und dürren Zweigen bejtreuten Moosboden. Das Selbftbemußte und Harte, das ich einmal an ihm gejehen Hatte, jprach jet aus feiner Geſtalt.

„Ja,“ jagte er, „und wenn fie mich hinter Doppelthüren und hinter ge- panzerte Wände gebracht hätten: mich konnten fie doch nicht feſthalten. Gleich das erfte Deal jagte ich zum Juſtizrath: Schön, gefaßt haben Sie mid. Aber Sie behalten mich nicht! Ih, meinte er, ſolch Bürſchchen werben wir wohl nod) bändigen. Sie nicht, antwortete ih, Sie nicht: Da find Sie viel zu ſchwach dazu. Da müflen erjt Andere kommen, bie den Mar fefthalten wollen.“ Er lachte, leicht und Iuftig. „Na, und ehe der Herr Juſtizrath mit feiner Unter— ſuchung zu Ende war, da hatte ich mir jchon meine herrliche, goldene Freiheit, allerdings unter den größten Strapazereien, wieder erobert. ‘Mich Hatte er nicht feithalten können.“ |

Zwiſchen den Stämmen wurde ed langiam finiterer. Wir jahen hinaus nad der Lichtung, über der fi die Wolfen immer dichter und ſchwerer zu— faınmenzogen. Marx Horte: „Uns kann doch hier Keiner belaufchen?“ Mit jpähen- den Bliden durchiuchte er das Zwielicht, das zwilchen den Stämmen lag. „Wenn fie mich drin aud) nicht feithatten können: hinein kann ich doch nicht mehr. Wenns auch blos ein paar Wochen dauern follte, big ich hinausfomme. Ich Halt3 nicht mehr aus Hinter den ſpaniſchen Gardinen. Ich will jegt endlich Ruhe haben. Ich will ficher jein.“

Ich legte ihm die Hand auf den Arm: „Ach habe Ahnen doch gejagt, daB ich Sie nicht verrathe.“

836 Die Zukunft.

Die verzweifelte Entfchloffenheit wich aus feinem Gefiht: „Das weik id. Sonft würde ich ja nifcht jagen. Bisher habe ich auch noch Seinem was berichtet von meinen Erlebnijjien. Sie find der Erfte. In der Ichten Zeit habe ih Schon gar nicht mehr Schlafen können. Jede Nacht lag ih wach und jah in die Sternenwelt ober in die bunflen Wollen hinaus. Es wirb mir orbentlid leiter, daß ih mal mit einem Menſchen, der ji aus Büchern gebildet und das Willen in fih aufgenommen hat, von Allem fpreden fann... Als fe mich das erjte Mal Eriegten, war ich noch jung. Acht Jahre ift eg ber. Und fie hätten mich nicht gefriegt, wein der Andere, diejer Kalbskopf, nicht mehr bie Waare bei fih gehabt Hätte. Es war mir jchon jo komiſch, daß meme Berwandten alle nad einander verfchwanden. Erft geht der Onfel weg, dam die Feine Mali. Sonft blieben fie Sonitag mittags zu Haus. Wir machten uns Alle zufammen an den Sonntagsbraten. Und nu? Wa, was tjt denn da los, denf ic), daß fo Einer nad dein Anderen fortging? Und Keiner |prad) ie vecht mit mir. Alle fahen fie mich fo von der Seite an. Das war ja aber ſchon öfter vorgefommen. Lind der Onkel konnte mich ja nie fo recht ausitehen. Erft war ich ihm ein zu großer Freſſer. Er hat für mich jorgen müſſen, weil ich ein uneheliches Kind war; mein Vater foll ein Bergtrazler, fo ein Touxiſt gewejen fein und meine Mutter ift früh geitorben vor Kummer und Grem. Und dann, als ich beim Onkel lernte, habe ich ihm nicht genug gearbeitet. Nach ber hat er mich auch nicht behandelt, wie man einen Erwachſenen behandeln muß, und da habe ich ihm den Vorſchlag gemacht, daß ich mir meine eigene Maſchine aufftellen werde, in der Hälfte von dem Haufe, die mir zugehören thut. Er hat mich ausgeladt. So ein junger nafeweifer Laffe, hat er hoch— fahrend gemeint. Der käme gerade mit einem Geſchäft zurecht! Und nun wollte ich ihm beweiſen, daß ich wohl auf eigenen Füßen ftehen konnte, daß ich feinen Herrn über mich brauchte. Und ich fing zu arbeiten an. Nom frübiten Morgen an bis in die tieffte Nacht ſaß ich und jchwißte. ch wollte meinten eigenen Weg emporklimmen. Aber es wollte nicht zur Höhe gehen. Kein Menſch wollte bei mir kaufen. Das Bischen, was id) losjchlug, machte nicht genug aus. Und es war wohl auch nicht möglich, daß in dem Kleinen Neft zwei ſolche Geſchäfte gingen. Bis jet war mein Onkel gerade jo zurechtgekommen. Nun fehlte es auch bei ihm. Ich nahm ihm ja einen Theil, wenn aud nicht viel. Das machte mir nicht wenig Spaß. Ganz zu Grunde wollte ich ihn richten. Hatte er mir vorher den Ruin gewünſcht, Jollte er jeßt in den Abgrund ftürzen.

Damit wollte es aber nicht jo leicht geben. Und da kam ich mit bem Anderen zufammen. Wie es jo ift: einem armen Teufel bleibt nichts Anderes übrig, wenn er vorwärts fommen will, al3 mal dem Nebenmann Ein auszu— wiſchen. Na, was da pafjirt iſt, Tas bleibt ja vollkommen gleichgiltig. Meint Sache wollte ich eben nicht im Stich lajlen, wie mans fonft feiger Weiſe Und jo ſchaffte ich mir die Mittel, im Ort jiten zu bleiben. Wie nun der C umd die Mali an dem bewuhten Sonntagmorgen weg find, wace ich auf merke, wie der Ludwig mir nicht ins Geſicht ſehen kann und mie der Tantt blanfen Thränen in den Augen jtehen. Erſt dent id: Das hängt mit jchlechten Gejchäft zujammen, das Die jebt maden, meinctwegen. Ih I mid) wie ein beglüdter Schaßgräber und gehe in mein Zimmer, um mir

In der Arbeiterfolonie. 897

Sonntagszeug anzuziehen. Da ich will gerade in bie neuen Hofen fahren —, da läuft der Ludwig auch fort und die Tante läuft hinterdrein.

Sie wolltens recht ſchlau machen, daß ich nichtS merken follte, und gingen fein Alle einzeln Hinaus. Das fiel mir aber in die Augen. Wäremjie zufammen fpaziren gegangen, dann wäre ich ahnunglos wie ein neugeborenes Kind in bie Falle gelaufen. Aber fo merkte ih, was los war. Sie wollten eben nicht zu Haufe fein, wenn ich abgeführt wurde. Vielleicht auch hatte mich ber Alte angegeben. Schön... ch riegelte rajch die Thür ab. Da klopfte ed. Ich blieb jtil und jchlih an die Thür, um zu horchen. ‚Drin ift er‘, Hörte ich. Sie wollten ınich alfo holen. Zeug Über und nachgeſehen, ob etiva vor dem Haus Welche Stehen. Dann hätts an der Feuerleiter hinabgehen fünnen, die immer da hing. Sa, Die war futih! Und adjt oder neun Meter binunter, auf bie Steine: Das ging nicht. Alfo frech und fidel die Thür auf und vergnügt pfeifend Ipring ic) die Treppe hinunter, als wenn ich in die Stneipe wollte. Die Amts— diener ftanden verblüfft über die Kedheit, mit der ich jie beim Thüraufmachen in die Ede gedrüdt hatte. Wüſt tobten fie Hinter mir her. Das Hausthor aber war offen. Noch drei Schritt: draußen wär’ ich, in der ‚Freiheit. Denn ich hatte wohl gefehen, daß auf der Straße fein Hühnerhund lanerte. Uber unten an der Treppe ftand ein Scrant und da trat der Gendarın vor und padte mid an einem Uermel. Er war in Civil und trug einen weichen Hut; deshalb Hatte ich ihn vorhin, ald er an unferen Haus vorbeiftolzirte, nicht erkannt. Sch ſchlug ihn auf die Hand: ‚Was folls?‘ Er jagte: ‚Schön ruhig, ſchön ruhig! Sie find verhaftet!‘ Da lachte ih: ‚Sie maden ja nette Wie! Augen- blidli laffen Sie mid frei! Sind Sie Beamter?" Ich riß mir faft den Aermel aus und wir torfelten Beide die ansgetretenen Stufen hinunter. Da hatten mid) aber ſchon die Amtsdiener an den Handgelenfen. Und danı legten fie mir eiſerne Armbänder an und einen Roſenkranz, daß ich ſchön beten könnte. Damit gings durch die Straßen nad; dem Amtsgericht.

‚Lange haben Sie mid) nicht !" ſagte ich den Amtsdienern glei. „Large wit! Ich bin an Freiheit gewöhnt. Sie lachten mid; aus. Na, dacht' ih in meinem Sinn, Euch werd’ ich mal zeigen, was id) fann.

Als wir vor den Juſtizrath kamen, fchlug er die Hände über dem Kopf zuſammen: ‚unge, was haft Du gemadt?' ‚Hören Sie mal, Herr Juſtizrath, wir haben noch nicht zufammen den Stall ausgemijtet, daß Sie mich duzen! Aber wenns Ihnen recht ift, ſchön, duzen wir und.

Er wurde blaß wie friichgefallener Schnee. Er hatte mich nämlich er—⸗ ziehen laſſen, in die Bürgerfchule geſchickt. Aber deshalb durfte er mid), doch nicht mehr wie einen Sculjungen behandeln, wenn er mir auch eine Mohlthat erwieſen hat. Das ift dod) feine Art. Nach einer Weile fagte er leile, ohne mid anzujehen: ‚Wie fonnten Sie folde Geſchichten anſtellen?‘“ Ich Tadıte und war Stolz, ihn jo in Schreden zu bringen. Ueberhaupt: als fie mich durch die Straßen führten, habe id) mid) gar nicht geſchämt. Als mich Alle jo ängft: li) und verwundert anftarrten, dachte ich: Aha, jeßt fürchtet Ihr Eud) vor mir, dem böſen Verbrecher? Als ich ihm jo ins Geſicht lachte, wurde der gejtrenge Juſtizrath doch wüthend: ‚Dich werden wir fchon kirr kriegen!‘ meinte er. ‚Mich nicht, Herr Juftizrath !" ‚Na wir haben Dich ja und feitgehalten wirft Du.‘ , Mich können Sie nicht feſthalten!' lachte ich.

358 Die Zukunft.

Na, fie brachten mich in ein ziemlich finfteres Verließ. ES ging nad dem Hof raus. Da war nichts weiter al3 glatte hohe Wände; keine Thür, fein Anbau, nichts, was Einem zur Flucht hätte dienen fönnen. So ſaß id {don meine drei Monate. Und weil ich ald geſchickt galt, hatten fie mir Allerlei zu thun gegeben. Erft brachten fie mir Stroh, damit ich daraus Decken flediten ſolle. Und als ih für den Oberwärter jo einen Teppich gemacht Hatte, fam der Juſtizrath ſelbſt und fah fih das Ding an. Und ob ich ihm auch folde Dinger maden wollte? Aber ſechs Stüd, er wolle fie verfchenten. Das jeien ja Kunftwerfe. ‚Nicht wahr?‘ fagte ih. ‚Aber dann müflen Sie mir auch Wer— zeug geben. Das macht ınan nur einmal blo8 mit dem Meſſer. Na 2?" fagte er drobend. ‚Da, dann kann ichs eben nicht mehr. Bier, jehen Sie mal meint Hände. Ganz zerrifien und zerfchunden. Nur dem Herrn Oberiwärter zum Gefallen.‘

Alfo ih befam Hammer und Zange und noch mehr. Und nun gings an die Arbeit. So nad und nad Schnitt ich die Niegel an der Thür durch. Und die Deden wurden noch einmal fo berrli als die erfte. Aus lauter Freude, daß ih Hinausfanı, wenn Alles glüdte. Der Juſtizrath, der djter nachjehen kam, war ganz entzüdt.

Eined Morgens fagte ich fo leichthin zum Oberwärter, ob er mir nidt den Lohn für die Dede geben wolle. Yon dem Dlaterial, das mir der Juſtizrath gegeben habe, falle noch jo viel für ihn ab, daß er auch eine Dede bekomme. Er Hatte Bedenken. Aber jo heimlich ſchmunzelte er doch, daß er nod eine Dede bekommen jolle. Und dann fträubte er fi. Nein. Das gehe nicht. Der Herr Auftizrath habe gejagt, er dürfe Seinem den Lohn früher geben, als bis er hinauskomme. Ich wolle wohl Jemand beitechen?

‚Mit den drei Marl? Wen denn?“

Ja, ber Suftizrath hats aber verboten.‘

Das fagte er ſchon, wie wenn er fich entfchuldigen müſſe, weil er mit die drei Mark nicht geben könne. Am nädjiten Morgen brachte er denn audı das Geld. So, nu konnte e8 losgehen. Da ih zum Hof nicht hinauskonnte, wollte id) mittags, wenn die Tochter des Wärterd mit dem Eſſen fam, die Thür aufitoßen das Stüdchen, an dem der Riegel Bing, mußte ja bei einem ber4 haften Fußtritt zerbrechen wie ein Streichholz —, dann dem Mädel eine ordent⸗ liche Chrfeige geben, daß fie in meine Zelle flog und ich fie dort einfperren konnte, und heidi hinaus. Mittags war ja fein männliches Wefen im Haule, mie es in einer Stleinitadt fo ift.

Tas mar aber nicht mal nöthig. Denn als ich mir einen Mittag feit: gejegt hatte, brachten ein paar Maurer eine lange Leiter auf den Hof. Sie hatten mas am Gefängniß auszubefjern. Das war für mid) wie gefunden. Ich blich einfach einen Tag länger und lief morgens, wenn wir unfere Bellen reinigter und die Thüren offen jtanden, hinaus auf den Hof und Eletterte anf der Leite über die Mauer. Ich kann Ihnen jagen: es war feine Kleinigkeit. Die Wärte. dicht hinter mir. Die Peiter vom Haufe weggeriffen die Maurer frühſtückten gerade und das lange Ding, an dım Zmei zu fehleppen hatten, quer über den Hof. Das Blut jprigte mir aus den Fingern... Rangeſtellt, ranfge jtolpert, da ftanden die Wärter fchon unten. Ich ſchmiß die Leiter um und nun fünf Dieter Hinunter, Ich fiel nicht Ichleht auf das Ende vom Nüden

Sm dev Nrbeiterfolonie. 359

Und dann mit den jchmerzenden Knochen dusch den meterhohen Schnee, wies im Gebirge nicht anders ift. Zum Mittag wolle ih ing nächfte Dorf, um mid) im Gafthaus aufzuthauen. Gerade bin ich über die blanken Felder am eriten Haus Hin, da jehe ih ſchon den Gendarm, der feine Tour hatte Nu alſo zurüd über die Tyelder, wie der Wind. Ich kam in den Wald, ehe der Greifer heran war. Aber den Tag ging ich in fein Dorf. Ach Hatte ja zwei Anzüge an den Sonntagsanzug unter dem Arbeitrod —, aber bei zehn Grad Kälte und nichts im Magen... brr! Da merkt man, was der Winter ift. Ich hätte mich auch nirgends fehen laflen fünnen, von wegen meiner Mühe. Das war eine, wie fie die Eifenbahner tragen. Daran hätten mid Alle erkannt. Jedem, dem ich auf der Landſtraße begegnete, wich ich aus; ging einfach hinter die Büfche. Und nu mußt’ ich aud die Nacht draußen bleiben. Ich war fon im dritten Dorf und fah, wie Alles zu Bett ging, wie alle Häuſer finfter wurden. Der Mond ftand Hell und blank wie polirtes Eiſen über den Bergen. Der Schnee war hart und feſt und knirſchte. Eiszapfen fielen von den Dächern. Sie braden vor Kälte ab und barſten Elirrend. Uber ich wagte mich nirgends hinein. Meine goldene Freiheit wollte ich nicht verlieren. Lieber fterben!“

Er ſchüttelte fi, als erlebe er diefe Nacht noch einmal. Dabei hatte er rothe Flecke auf den Baden und fieberte.

„Ra, ich jtellte mich in eine Ede und wartete den Morgen ab.

Banz früh kam ein Bauer, der in feinen Kuhſtall ging. Ich folgte ihm. Schen konnte ich nicht mehr. Meine Beine waren fteif. Ich ſchob mich Hin, immer ein Bein ein Stüd, dann das andere. Als mich der Bauer Jah, kriegte ern Schred. Ich dachte gar nicht, daß er mich angeben könnte. Mich zog nur die Wärme an. Ich fragte, ob ih im Stall bleiben dürfe. ‚Da, aber wo fommen Sie denn her? Sie waren doch nicht die ganze Nacht draußen?‘ Da. ‚Und da Leben fie noch?" Ich hörte ihn nicht, warf mich einfach in dag warme Stroh. Er brachte mir dann eine heiße Suppe; und ald er mal hinausging, vertaufchte ich meine Mübe mit einem alten Hut, der oben am Balken Bing. Dann konnte ich ungehindert weiter. Und fie Friegten mich auch nicht.

Sie hätten mich nicht fefthalten können. Mich nicht! Dazu hätten fie ftärfer fein müffen. Und fo oft fie mich irgendwo einftecten immer unter anderem Namen —: ich wußte immer meine Seffeln zu fprengen und meine Hreiheit wieder zu gewinnen.”

Er war ganz Heifer geworden. Seine Baden glühten. Dit feiner heißen Hand faßte er mein Handgelen? und ſagte: „Uber nicht wahr, bei Ahnen habe ih meine Sicherheit? Sie geben mich nicht an? Noch einmal hielte ichs nicht aus’ hinter den finiteren Mauern!‘

Seine fonderbare, mit romantijhen Worten und Wendungen burdjjeßte Sprade wurde mir bald klar. Er Hatte eine bejondere Freude an Büchern, die von heroiſchen, unerjchrodenen Menjchen berichteten und die auch in ſolchem wunderlichen Stil gefchrieben waren.

Er bielt es übrigens nicht allzu lange in der Anftalt, in dieſer frei- willigen Gefangenſchaft aus. Als er fo lange drin war, daß die dort erhaltenen Zeugniſſe einen gewiſſen Werth hatten, verlangte er jeine Entlafjung.

| MWenn er inzwilchen nicht irgend einen vielleicht gefahrvollen Beruf

360 Die Zukunft.

gefunden Hat, der feinem Thatendrang, feiner Phantafie zu thun giebt, har er fiher jdon wieder eingebrodyen oder wird es nächſtens thun ...

Bon ganz anderem Schlag war einer der Stüchenlalefaftoren. Der lief immer mit irrenden Augen herum, blieb ftehen, ala ob er fih auf Etwas be- finnen müſſe, dag er vergeflen babe, und kaute ſtets. Cr hatte immer emen vollen Mund. Eifrig war er bedacht, fi) die Gunft der Frau Inſpektorin zu erhalten, um nicht aus der Küche verjagt zu werden. Mit feinem wadeligen Bang, dem Heinen, glatten Schädel, dein grauen, von dünnen, weichen Bartftoppeln beitandenen Geſicht jah er aus wie ein immer gefräßiges Huhn.

Einmal erwilchte ih ihn, wie er aus der Tonne, in die alle Reſte der Mahlzeiten aus den Blechſchüſſeln der Koloniften gejchüttet wurden, ſich die Fleiſchſtückchen herausſuchte.

„Na, ſchmeckts?“ fragte ich.

„And wie!“ fchmaßte er... „Was iſt denn dabei, wenn ih Das eſſe? Sit doch noch nichts Verdorbenes. a, wenns von einem kranken Bieh ftammte! Aber jo... Da hat mal ein Knecht auf einem Gut, wo ich als Stellmacher war, fi) eine Hälfte von einer verrediten Kuh in der Nacht ausgegraben. Das war eflig. Denn dag Vieh war doch krauk geweſen. Aber dies Fleiſch bier ik von gejunden Thieren. Wenn man erft mal vier Wochen lang gehungert Bat... Und Das hab’ ih. Als ich Feine Arbeit mehr Hatte, mußte ih tippeln. Und da ich nicht anſprechen konnte, mußte ich eben faften. Na, Das Hab’ ih ja hier nicht nöthig!“ Er ſchmatzte munter und laut drauflos.

Bei der Tyeldbahn, die den Sand von den Hügeln nah dem Sumpf Ichaffte, ftand ich neben einem alten zitterigen Graufopf. Sein rothes, ver- dunſenes Geſicht und der ftruppige, ſchwarzgraue Bart verftedten nit ganz ein- zelne feinere Züge. Und die fchmalen, weißen Sandgelenfe, die unter feinem jerfranjten Aermel zum Vorſchein kamen, jagten beutlid, daß er fein grober Dandarbeiter gewejen war. Auf meine stage meinte er, er fei Muſiker; er habe e3 nicht nürhig, im Sommer hier zu bleiben, er verdiene dann ſchönes Held. Er brauche auch nicht, wie die Anderen, fechten zu gehen.

Tach einer Weile ftüßte er fid) auf feinen Spaten und jagte: „Eigent⸗ (ich bin ich ja Beamter; höherer Steuerbeamter war id. Aber da machte id Schulden. Und fo was ficht ja die ſparſame Behörde nicht gern. Na, da mußte ich gehen... . Ich bin auch fo dumm geweſen und habe nicht geheirathet. Dabe immer wicht lange zsreude an einem Mädel gehabt. Mußte immer bald eine Andere jein. Und da dachte ich: was follft Du fon Mädel unglüdlid machen? Und mu? Siß’ ich jelber drin... . Hätte lieber heirathen ſollen ... Tas erzähle ich Ahmen mal jpäter.. . . Hier ijt nur jeßt Niemand, mit bem man mal vernünftig reden fan. Ja, früher! Da waren noch anftändige L----- unter den Stolonijten! Da war ein Profeſſor, ein chemaliger Rechtsauwalt, Offizier: Alles Koloniſten, Alle arbeiteten im Sumpf, Alles verftändige Le— Aber heute kommen ja nur noch gewöhnliche Taglöhner und Handarbeiter Biert

Er jchüttelte den Kopf, griff mit ſeinen zitterigen Dänden nad dem Sp und fehien tief betrübt, weil er in der Urbeiterfolonie nicht die vornehme Gef Ihaft von früher wiedergefunden Hatte.

Großlichterfelde. Dans Oſtwald L j

Selbftanzeigen. 361

Selbitanzeigen.

Die Grenzwiſſenſchaften der Pſychologie. (Anatomie de3 Nervenſyſtems. Animale Phyſiologie. Neuropathologie. Pſychopathologie. Entwickelung⸗ pſychologie). Leipzig, Verlag der Dürrfchen Buchhandlung 1902. 7,60 Mark.

Die moderne Pſychologie nimmt unter allen Wiſſenſchaften vielleicht die eigenthümlichſte Stellung ein. Ihr Gegenſtand, die Geſammtheit der pſychiſchen Erlebniſſe, beſtimmt fie zur Grundlage alles geiſteswiſſenſchaftlichen Forſchens, ſetzt fie mit den Geiſteswiſſenſchaften in enge Berührung. Ihre Methodik, wie fie ſeit Weber und Fechner ſich entwidelt hat, knüpft fie wiederum faſt in jedem ihrer Fortſchritte an die Phyfiologie. Ihre philofophiichen Grundfragen jchließ- lich weiſen unvermeidlih auf das allem Pſychiſchen zugeordnete phyſiſche Sub- ftrat, das Nervenjyften, zurüd und damit auf deſſen Anatomie und Pathologie Yin. So aber komplizirt fi die Möglichkeit eines eindringlichen Studiums der Pſychologie auf eine ſcheinbar hoffnungloſe Art, für den medizinisch wie für den geiſteswiſſenſchaftlich Vorgebildeten. Mit feinen naturwiſſenſchaftlichen Bor- fenntniffen, um die ihn der Geiſteswiſſenſchafter beneidet, bringt der Mediziner eine meijt nicht geringe Zahl von entſprechenden Borurtheilen mit, die ihm den eg zum fruchtbaren pigchologifchen Arbeiten verjperren und die dadurch nicht unſchädlicher werden, daß er fie ſelbſt für Anzeichen einer befonders freien Denk⸗ weile hält. Immerhin vermag er die unentbehrlihe Anknüpfung an die Beijtes- wiſſenſchaften bei gutem Willen ftet3 noch leichter zu finden, als umgekehrt der Geiſteswiſſenſchafter über die naturwilfenchaftlichen Tragen, denen er auf Schritt und Tritt begegnet, Aufllärung erlangen fann. Denn ihre ausgiebige Beant- wortung ift theild an den anjchaulichen akademischen Unterricht gebunden, ber vornehmlich in der medizinischen Fakultät die praftiichen Bedürfniſſe des Arztes in den Vordergrund zu Stellen hat, theils in Büchern niedergelegt, die entweder jenen Unterricht vorausfeßen oder aber fo unnfangreich, jo jpezialiftifch gehalten und theuer find, daß ihr forgfältiges Studium für den Nichtfachmann eine Uns» möglichkeit wird. Auf diefe Weile bleibt die pſychologiſche Debatte eine höchſt oberflädjliche, mit unverdauten Schlagworten durchſetzte; es fehlt, mag man die Pirnanatomen, die Phyfiologen, die Nervenärzte hier, die Geifteswiflenfchafter, bejonders die Pädagogen, dort anjehen, Überall an ber Kenntnig von Thatjachen und an kritiſcher Ueberlegung, von den zahlreichen pſychologiſch intereffirten Laien ganz zu fchweigen, die in der Befriedigung ihres Wifjensdurftes oft auf die bedenklichften Quellen, Zamilienblattauffäge und Aehnliches, angewiefen find. Die Betradhtung diefer Sachlage, über die mir Mediziner wie Pädagogen oft genug ihr Bedauern geäußert haben, ließ in mir den Gedanken reifen, einen Leitfaden zu jchaffen, der dem Mediziner die Piychologie und ihre Anwendung auf die Sprache und dag Völkerleben in furzer Darftellung vermittelte, dann aber und Hauptfählih dem Geiſteswiſſenſchafter einen hinreichenden Fonds medizinijcher SKenntniffe in die Hände gäbe. Das Ganze faßte ich als bie „Srenzwiflenichaften‘‘ der Pſychologie zufammen. Kinleitend babe ich zunächſt die Ergebnifje der modernen pſychologiſchen Forſchung refumirt. Dann leite ic) den Lefer zum Nervenſyſtem hinüber, indem ich deffen groben und feinen Bau, die Architektur und die Struktur, ſchildere; hieran ſchließt fich die Kritik der

362 Die Zuhmft.

Zofalifationlehre, die Diskuffion alio der großen Frage nad dem Zujamme: | bang zwiſchen Nervencentren und piychiichen Vorgängen; mit einem Rüdbl:d auf die Bergangenheit des Nervenſyſtems im Thierreich fcheibe ich endlich vom der Unatomie. Der folgende Abſchnitt erörtert die Probleme der Bewegung ber Sinnesfunktion, vornehmlich deren theoretifhe Seite Raum- und Zer- anſchauung, Farbenlehren und befonders eingehend die Nerventhätigfei. Hierauf folgt der Schritt ins Pathologiiche. Gegen bie beiden Ubfchnitte „Ren ropatbologie‘' und „Piychopathologie” werden vielleicht die meiften Einwände erhoben werben, weil ich nicht nur die einzelnen Yunktionjtörungen, ſondert auch bie ganzen Krankheitbilder ſchildere. Doch verweife ih darüber auf bie Apologie, die ich dem Elinifchen Forſchungprinzip als dem A und O aller Patho logie im ſechsunddreißigſten Kapitel gefchrieben habe. Die Therapie fand natär- li nur Erwähnung, fo weit fie pathologiſch ift, aus dem Weſen der Erkrankung folgt; alle empiriihe Behandlung blieb außer Betradht. Die Diskuffion der kliniſchen Prinzipien wird, denke ich, meinen Glauben an eine reihe Zukumft der Pſychiatrie eben jo darthun wie die Darlegung des Problems ber neo ropathiichen Belajtung meine Stepfis gegenüber der viel zu gern theoretifirenden Gegenwart. m legten Abjchnitt des Buches werden dann die Piychologie der TIhiere, des Kindes, der Sprache, der Semeinfchaften behandelt. Bor der ım- geheuren Fülle des ſozialpſychologiſchen Stoffes konnte id) das Wagnik der Ein feitigfeit nicht überall fcheuen; damit man hieraus aber nit eine mangelhafte Information ableite, glaubte ich, auf eine Darlegung meiner fozialpfychologiichen Srundanfichten gegenüber den hiſtoriſchen und foztologifchen Fragen nicht ver zichten zu dürfen. Ich bitte, es aljo damit zu entfchuldigen, wenn ich Dielen Anlichten, die ich mir in der Betheiligung an den gefchichttheoretiichen Kämpfen unjerer Tage gebildet habe, ein eigenes Kapitel widmete. Die Diskuſſion der beiden höchſten fozialpfychologiichen Probleme, des Genies und der Entartung, bei der auch die piuchiiche Eigenart des Weibes berüdjichtigt wird, bildet den Abſchluß des Ganzen. Pro dome zu fagen babe ich danach nichts mehr, nın im Stillen recht Vieles zu wünjden. Bor allen Dingen: daß mein Buch nad inhalt und Form der Stellung fi) würdig erweifen möge, bie ihm burch bie Widmung an den Altmeilter der Piychologie zugewieſen erſcheint. Alle aber, die außerhalb der Schule Wundts jtehen, bitte ich, in diefer Widmung Keinen Schwur in verba magistri zu erbliden: fefthaltend an den in Leipzig vertretenen Srundanfichten, Habe ich doc) alle gegneriihen Meinungen eingehend gewürdigt, wo ihre Bedeutung es zulich. Mehr hjektivität, denke ich, ſollte man von Seinem erwarten, dem man die Cigenjchaft der Chrlichfeit nadrühmen will; “and Das zu tollen, bleibt nad meiner Meinung die vorschmfte Pflicht, Die wir Alle beim Gintritt in die mwilfenichaftliche Debatte, fo weit Perſönliches Frage kommt, zu erfüllen haben. |

Heidelberg. Dr. Willy Hellpad.

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as iſt national? Vortrag des Profeſſors Dr. Alfred Kirchhoff. Zu Drud gebradht von Alfred Funke. Gebauer-Schwetſchkes Druderei m

Derlag m. b. H. Halle a. S. Preis 80 Pig.

Selten Bat ein Vortrag, der einer rein wiſſenſchaftlichen Frage aemibı

Selbftanzeigen. 363 war, fo weite Kreiſe im politifchen Leben gezogen wie der vom Profeſſor Dr. Kirchhoff im halliſchen Verein für Erdfunde gehaltene, in dem er die Frage „Was ift national?” beantwortet. Ich habe ihn zum Drud gebracht, weil mir von vorn herein klar mar, daß dieje eigenartige Weiterjpinnung des befannten Vortrages von Nenan: Qu’est-ce qu’une nation? Erftaunen und Widerfprud) weden würde. Wer Kirchhoff fennt, weiß, daß er vor feiner wiſſenſchaftlichen Konfequenz zurückſchreckt, jelbjt wenn fie die Achilfeferje einer Partei empfind» lich jtreiftl. Schon in ber halliſchen Verſammlung regte fi gegen ben Bor: tragenden ein fanftes Säufeln, das aber, durch die Redaktion der Alldeutichen Blätter angefacht, balb zu einem gewaltigen Sturm wuchs. Kirchhoffs Darftellung vom Weſen einer Nation, die ich mit reichem hiſtoriſchen Material belegen konnte, ſteht allerdings in fchroffem Gegenſatz zu den Beitrebungen der Sreife, die einem größeren Deutichland noch ein größeres Haus in Europa wünſchen, decken ſich aber völlig mit der von Bismard ſtets vertretenen Anficht, daß der geeinten deutſchen Nation die Grenzen gebühren, die im Frankfurter Frieden gejchaffen find. Aus Bismards Aeußerungen konnte ih Kirchhoffs Theorie belegen. _ Halle a, ©. s Alfred Funke. Der Menfh als Thierraſſe und feine Triebe, Beiträge zu Darin und Niegfche. Leipzig, TH. Thomas. 3 Mark.

Wenn e3 feinen perfönlichen Gott giebt und wenn ber Menſch fi) aus dem Thier eniwidelt hat, dann iſt er ſelbſt eben auch eine Thierraſſe, weiter nichts. Dann jtehen wir aber vor der Aufgabe, zu erklären, was denn feine fogenannte Bernunft, feine Genialität, fein äfthetifches Empfinden, bejonders Stunftwerfen gegenüber, was fein Gefühl für Recht und Sittlichfeit und was die ganze ımenfchliche Kultur überhaupt if. Und ganz natürlich müſſen wirs erflären, rein aus der gewöhnlichen Thierjeele, in der es nichts giebt als einige Triebe und die Fähigkeit, zu denken, die ja wohl jet den Ihieren überwiegend zugebilligt wird. Das ift der Zwed meined Buches. Aus vier ganz einfachen Trieben leitet es jänmtliche Gefühle und das gefammte äjthetifche und Sittlichkeit- empfinden Ger und giebt jo auf rein darwiniſtiſchen Borausjegungen eine Grund⸗ lage der AcftHetif, der Moral, des Straf» und Eivilrechtes. Ich bemühte mich, ganz Klar und einfach zu fchreiben, und ſetze beim Leſer nicht? voraus als die nothwendigften naturwifjenfchaftlihen Kenntniffe und geſunden Menjchenverjtand.

Dr. ®. Rheinhard. $ Sean Pauls Briefwechſel mit feiner Frau und Ehriftian Otto. Berlin, Weidmannſche Buchhandlung. 1902.

Heutzutage ijt ein jean Paul-Buch ein geringeres Wagniß als meine vor einem Bierteljahrhundert erfchienene Schrift „Sean Paul und feine Beit- genoſſen“. Damals konnte ich mich zwar auf Friedrich Bifcher und Gottfried Keller berufen, doch damit war nod) nicht zu eriwarten, daß nun auch weitere Kreife fih dem ehemals zum Himmel Erbobenen und dann wieder Bergefjenen und Berfannten zuwenden würden. Daß jebt die Eituation eine veränderte ift, davon legen all die Schriften und Aufläße, die inzwiſchen dem Dichter des.

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364 Die Zukunft.

Siebenfäs und der Ylegeljahre gemwidınet find, Zeugniß ab; und jo wird berm wohl auch meine Briefausgabe nicht unwillkommen jein. Sie bietet zwar keine⸗ wegs nur Ungedrudtes; erftens aber ilt fchon diefes neue Material wichtig genzns, dern e8 eröffnet uns überrafchende Einblide in Scan Pauls Verhältniß x feiner Gattin; und zweitens zeigt eine Bergleihung des von mir Mitgetheiltes mit bem bereit$ Gedrudten, daß ich Ichiwerlich zu viel behauptet habe, wenn id das früher Veröffentlichte geradezu als Unikum bezeichnete. Man weiß mwirflid nicht recht, ob man die unfreiwilligen Irrungen oder die abſichtlichen Aender⸗ ungen für ungeheuerlicher erklären fol. Alle, die Jean Paul nur als Tränen: fäligen und Sentimentalen fennen, als den Mann, ber im Unterſchiede ven Goethe und Schiller immer wieder auf Bott und Unfterblichfeit hinweist, werben überrafcht jein, in feiner einzigen Zeile der Briefe diefen Jean Paul wiederzu: finden, dafür aber einen Realismus und eine Diesfeitigleit, eine ſcharfe Beob—

achtungsgabe und eine Kunſt der Charakterijtif, die gerade Heutzutage auf frucht⸗

baren Boden fallen dürften. Auf die Bedeutſamkeit der Briefe aus Weimar für die Goethe- und Scillerliteratur hat früher bereits, in einer Anzeige weine Jean Baul-Biographie, Dar Koch hingewiefen; aus der jpäteren Zeit bieten zunädr die Briefe aus Berlin, dann die aus ber Neijeperiode, alfo aus Regensburg, Frankfurt, Heidelberg, Stuttgart, Löbichau, Dresden, wichtige Beiträge zur Charakteriſtik Jean Pauls felbft und der hervorragendſten Zeitgenoſſen.

Profeffor Dr. Paul Nerrlich. 3

Ehefrühling. Drittes und viertes Taufend. Verlag von Eugen Diederichs in Leipzig. Buchſchmuck von Heinrih Vogeler-Worpswede.

Prolog. In diejer erniten Stadt, darin wir leben, ‚Steht licht im Garten unjer fleined Haus, Aus feinen Fenſtern träumt das Glück heraus, Und „Qui si sana“ grüßt c3 aus den Neben.

Dort leben wir, bewußtem Glück ergeben, Und donnert draußen wild des Lebens Braus, Drin binden wir der Liebe Roſenſtrauß,

Der Düfte frob, die koſend ung umſchweben.

Sie waltet drin; fein tragisch Frauenbild, Nicht Klärchen, Gretchen nicht noch Kriemhild: Ein Enkelkind von Windſors luſtigen Frauen. Sie tollt durchs Haus. Wer hinterdrein? Nun, ich! „So fang' mich doch!“ In Verſen fang' ich Dich!“

Wenn mirs gelang, ſo ſollt Ihr Wunder ſchauen! Prag. Hugo Sal

Rumäniſche Finanzen. 365

Rumäniſche Sinanzen.

SIR" der Herbft das Laub gelb färbte, trug fich die Diskontogeſellſchaft bereits Ms mit dem Plan, eine neue Operation an ihrem Schmerzenstinde, der Dortmunder Union, vorzunehnen; erſt jebt aber, da, allzu zögernd, die Frühlings⸗ Lüfte der Bäume frifches Grün zu umfäcdeln beginnen, fommt der Blan zur Ausführung Es ift nicht mehr der jelbe Plan mie einft vor dem Mai. Die Zeche Adolf von Hanfemann, die außer einem dem Auffichtrath naheftehenden Konſortium wohl keinen pafjenden Abnehmer finden konnte, bleibt bei der Dort- munder Union. Man bat plöglich wieder einmal entbedt, wie werthvoll diefer Befiß iſt. Dafür wird nun aber die Henrichshütte aus dieſem Konglomerat von Fabriken und Werken herausgenonmen; fie joll, weil die Diskontogeſellſchaft neue Mittel braucht, abgeftoßen werden. Tin einem Punkt ähnelt allerdings der alte dem neuen Blan. Geld befommt durch ihn nur die Diskontogefellichaft, während die Dortmunder Union nach wie vor auf die hohen Zinſen des Bantlier- kontos angemwiefen bleibt. Die Einzelheiten der Sanirung find in der Tages: preſſe beiprochen worden; die Kritit war, wenn man von den offiziellen Börjen- blättern abjieht, für die Diskontogefellichaft geradezu vernichtend: faſt einftimmig wurden die Finanzpläne abgelehnt. Trogdem wird natürlih am neunten Juni in ber Generalverſammlung die Disfontogefellihaft mit eigenen und geborgten Aktien über die fchreiende Minorität ftegen. Die für unjere Verhältniſſe ſchon recht energifche Tonart der Preſſe ift aber nur ein ſchwacher Widerhall der Wuth, die fich in Börjenjälen und Banfierbureaug gegen die Disfontogejelljchaft regt. Börfen- leute find meift gern bereit, Yinanzjünden zu vergeffen. Der Diskontogefellichaft wird auch nicht etwa die Urſünde, die Gründung der Dortmunder Union, nad}: getragen, fondern man wirft ihr vor, daß jie immer wieder neue Experimente gemacht hat, um ſich aus der Patjche zu retten, in die fie gerathen war, weil fie der Union Riejenfredite bewilligt hatte. Anfangs hatte man ihr, an deren bona fides man glaubte, mehr als einmal mildernde Umstände zugebilligt. Nadj- gerade aber mußte fie gelernt Haben, daß auf dem bisher befchrittenen Wege eine dauernde Gefundung nicht zu erreichen war. Bei ben leßten Sanirung- verſuchen konnte von guten Glauben nicht mehr die Rede fein; und ganz undenkbar ift befonders, daß Herr von Hanſemann mit dein neuften Borjchlag der Dort- munder Union helfen zu können hofft. Darüber ijt die Börfe wüthend. Man rechnet der Diskontogejellihaft nad), ein wie großer Theil ihrer bisherigen Dividende durch alle möglichen Gewinne an der Dortmunder Union verdient worden ijt und wie während der jelben Zeit die Aktionäre der Union ihren Befig entwerthet fahen. Die Börjianer ziveiten und dritten Ranges behaupten nicht ohne Grund, ein armer Teufel von Heinem Bankier, der aud nur an— nähernd ähnlich gehandelt hätte wie die ftolze Großbank, dürfte ſchon längſt nieht mehr den Börfenfaal betreten. Auch hier trifft eben das Wort zu, das der engliſche Arbeiterführer Keir Hardie jüngſt im Unterhaus fprad: „Gewiß giebt es für Arme und Neiche nur ein Geſetz, aber zwei Auslegimgen.“ Gerade jeßt iſt es interejfant, fih mit dem Schidfal der Dortmunder Union zu beichäftigen, weil Herr von Danjemann in nicht allzu ferner Zeit mit einer anderen Angelegenheit an das deutſche Publikum herantreten wird. Es

3 Die Zutunft.

handelt fih da um die zweite Iinheilsfaat, die die Disfontogejellfchaft, umier immer noch erites Bankhaus, in die Erde geſenkt hat: um die rumänifche Anleise. Bon allen fremden Renten find die rumäniichen unter den deutichen Kapitalifica am Dkeiften verbreitet, merkwürdiger Weile au am Hödjiten geachtet. Tie Frage, welcher Betrag von den jeweiligen Emifjionen auch wirklid in die rumäniige Staatskaſſe gefloſſen ift, fann öffentlich nur geitefit, nicht beantwortet werden. Sicher iſt aber, daß die deutihen Abnehmer dieſer Unleihen Kurſe bezohtt haben, wie nur cine feſt fundirte Großmadt erjten Ranges fie fordern Durf::. Das war dem Patronat der Rothichildgruppe zu danken, die feit dem Vau ver mit dem Namen Strousberg eng verfnüpften rumänijchen Eijenbahnen in intimer Geſchäfsfreundſchaft mit dem Lande lebt, deſſen Volk und Negirung den Juden nur als Geldgebern die Gleichberechtigung zuerfennt. Schon mit ben rumäniichen Eifenbahnen Hatte die Diskontogefellichaft recht chlechte Erfahrungen geinadt. in ihrem Gejchäftsbericht über das Jahr 1872 lag man: „mt Intereſſe des den urjprünglidhen SKonzelfionären der rumäniiden Bahn amvertrauten deutſchen Kapitals unterzogen wir uns zuſammen mit den Dauje Bleihröder der ſchwic⸗ rigen Aufgabe, diejes gefährdete Linternehmen zu reorganificen. Das gelam insbejondere durch Anterftügung der Defterreichiich- Franzöſiſchen Staatseifen: bahngejellichaft, die die weitere Bauausführung, die Verwaltung und den Betrich der Bahnen übernahm, fo daß wir auf Grund geordneter Verhältnifjfe und eines gelicherten Beltandes des Unternehmens der Emiſſion der Stammprioritätaftien der Rumäniſchen Eifenbahngejellichaft unfere Mitwirkung leihen konnten * Damals hatte Herr Strousberg, wie ſpäter erft bekannt wurde, einen Borihub von 6 Millionen erhalten, zu deſſen Sicherjtellung er feine jämmtliden Güter in Preußen, ſtädtiſche Grundjtüde in Berlin und Wien und eine Standesherrfchaft in Polen verpfändet hatte. Als er in Konkurs gerathen war, rubte ein Verluñ von liber 600000 Mark auf diefer Transaktion. Dieſe anfangs höchſt zweifel hafte Situation Rumäniens, da3 in dem Eijenbahntaumel der jichenziger Jahre größenwahnfinnig, wie damals alle halb fultivirten Staaten, den Bau der Bahnen um jeden Preis förderte, obwohl Fein aud) nur annähernd ausreichender Ber- dienjt zu erzielen war, wurde nur allzu bald vergeffen. Bein Beginn der adı- ziger Jahre trat die Disfontogejellichaft mit dem rumänifhen Staat, ber die Eijenbahn übernommen hatte, direkt in Verbindung; und in den erften acht Jahren dieſes jungen Nerfchres wurden 436 Millionen Trance fünfprogentiger Anleihen in die Welt gejegt. 1889 folgte eine Emilfion von 82 Millionen Franes vierprozentiger Rente. 1890 wurden die fechöprozentigen Eijenbahn- obligationen fonvertirt: abermals mußten 274 Millionen Francs vierprogentiger Hente geidaffen werden. Bis zum Jahr 1898 folgten verichiedene Emijfionen im Gejammtbetrage von 566 Millionen Franes. Und endlid) wurde das bäude gefrönt durch 175 Millionen fünfprozentiger, 1904 rüdzahlbarer Scaj anmeilungen, die 1899 das Licht der Welt erblidten. So hat Rumänien ein Schuldenlaft gehäuft, mit der fid) jede Großmadt der Erde jehen laſſen könntı Aber das rumäniihe Pumpbedürfniß ift noch nicht geftillt; im Gegen theil: ſchon die nächjte Zeit wird wieder beträchtliche vrorderungen bringen. Br nädjt wird es nöthig fein, die eben erwähnten 175 Millionen Schatzanweiſung zurüdzuzahlen; außerdem rechnen Sadjfundige, daß rund 25 Milltonen für Bo

Numaniſche Finanzen. 367

ſchüſſe in Anspruch genommen worden find. Denn Rumänien mußte Mich bei der Aufnahme der legten Schaganmweifungen verpflichten, vor Rüdzahlung biefer fchwebenden Schuld feine weiteren Anleihen aufzunehmen. Nun ift aber eine Räckzahlung der Schatzſcheine und der Vorſchüſſe aus eigenen Mitteln völlig ausgejchloffen und man nimmt deshalb an, daß Rumänien gendthigt fein wird, mindeſtens 200 Millionen Franes durch Ausgabe neuer Anleihen flüffig zu machen. Da iſt es denn doppelt wichtig, einmal die Grundlagen der Legende zu prüfen, die unferer Rapitaliftenwelt Rumänien als ein Land jchildert, dem man feelenruhig große Summen anvertrauen könne. Die Behauptung inter- effirter Finanzfirmen, vorläufig fei an neue Emiffionen nicht zu denfen, darf uns von jolder Präfung nicht zurlichalten.

Eine unparteiiide Darftellung ber rumäniſchen Sinanzverhäftniffe tft freilich nicht Teicht zu geben. Wer nur bie Berichte der Agence Roumaine ober die von der Diskontogeſellſchaft inſpirirten Artikel in ben Börfenzeitungen lieſt, Der muß wirklich glauben, um Rumänien ſei es minbeftens viel befler als um alle übrigen Balkanſtaaten beitellt. Dieſer Eindrud ift namentlich in Deutſch- land leicht zu jchaffen, wo man gewöhnlich nur daran denkt, daß auf dem rumäniſchen Thron ein Hohenzollern fißt und daß König Karols Gemahlin nette . Gedichte macht. Dieje unflaren Gefühlswägungen find aber nutzlos; und bes- halb müſſen wir uns freuen, wenn ein auf dem Boden der Thatjachen Stehender mit fefter Hand den Rumäniens wahre Tage verhüllenden Lügenſchleier zerreißt. Das geichieht in der joeben erjchienenen Brodure „Die rumäniichen Finanzen; Zahlen und Thatſachen für die Befiger rumänifher Papiere.” Trotz der Anonymität ſcheint die Schrift des Vertrauens würdig; und aus dem ehrenwerthen Namen des Mannes, der fie mir ſchickte, darf ich wohl den Schluß ziehen, daß feiner Finanzelique mächtiges Wort bet ber Abfaſſung mitgefprochen hat.

1869, drei Jahre nachdem unter Karols Szepter die Fürſtenthümer Moldau und Walachei geeint worden waren, umfaßte das Budget, ohne Defizit, den geringen Betrag von 35!/, Millionen Franes. Die Ausgaben des Budgets für 1900/1901 belaufen fi) auf rund 238 Millionen Franes. Aber weder ber Umfang des Etats noch die Höhe der Staatsjchulden, die im Ganzen jet rund 13/, Milliarden Franes oder auf den Kopf der Bevdlferung 239 Francs betragen, giebt uns den richtigen Maßſtab für die Beurtheilung der Finanz traft des Landes. Entſcheidend ift die Antwort auf die Frage, zu welchen wirthichaftlihen Zwecken die Schulden gemadt worden find. Da lehrt die Durch⸗ forihung des Budgets nun zunächſt die traurige Thatſache, daß 39 Prozent der gefammten Einnahmen nur zur Berzinfung der Schulden aufgebracht werben müffen. Bon dem Erlös der Anleihen find allein etwa 937 Millionen Franes für öffentliche Arbeiten, Eifenbagnen, Bauten u.|.m., 266 Millionen für militärijche und 94 Millionen für diverſe, nicht ficher bezeichnete Zwecke verwandt worben. Auf den dunkelſten Punkt jtoßen wir, wenn wir leſen, daß 159 Millionen zur Dedung der Fehlbeträge verbraucht werden mußten. Die Defizitwirthichaft ift in Rumänien chronijch geworden. In den breigehn Jahren von 1888 bis 1901 war ein Fehlbetrag von indgefammt 35,8 Millionen Francs zu verzeichnen.

Die rumänischen Eiſenbahnen bringen nicht etwa die Zinſen für die zu ihrem Bau aufgenommenen Anleihen ein: einftweilen ift ein jährlicher Zuſchuß

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368 Die Zukunft.

von 8%, Millionen ndtbig. Dabei tft noch zu bedenken, dab bie rumäniide Finanzverwaltung durchaus nicht fo geordnet ift, wie man fie in offizidien Be richten zu ſchildern pflegt. Die Voranfcläge find von fo kühnem Uptimisue diktirt, daß die Ergebniffe recht erhebliche Syehlbeträge zeigen. Faſt muß mar an abſichtliche Täufhung glauben, wenn man lieft, was ber frühere Finanz minifter Tale Jonesco in einer Nechtfertigungichrift Sturdza und befjen Tyinanzr minifter Carp nachſagt. Neben anderen Berfehlungen wirft er ihren vor, fe hätten für zwei Eiſenbahnlinien Millionen ausgegeben, die von ben Sammer gar nicht bewilligt waren. Tale Jonesco behauptet, in allen rumänijchen Bub gets natürlich nimmt er das von ihm ſelbſt aufgeftellte aus ſeien Ver ihleierungen jo häufig, daß der Ausländer kaum jemals im Stande it, bir Lage zu überbliden. Die Brodure ftellt, im Anihluß an den offiziellen Be richt des Finanzminiſters Filipescu, felt: ein günftige® Einnahmerefuliat jr in einem ber früheren Etatsjahre nur dadurch möglich geworden, daß bie Reierir fonds der Eifenbahnen aufgelöft und die Milttärtransporte einfach nicht bezabl: wurden. Das fagt der Finanzminiſter felbft. Solche Manipulationen ide man in Rumänien alfo nicht für betrügeriſch zu halten.

Ferner ift zu bedenken, daß Rumänien ein in erfter Linie auf den Ge treideerport angewiefener Agrarftaat ift. Die Brochure lehrt uns die ſchlimm Wirkung ſchlechter Ernten erfennen. Die öſterreichiſchen Konſuln in Jafſu un Bulareft berichten einftimmig, daß mehrere gute Ernten nöthig find, um ht Ausfall einer einzigen ſchlechten Ernte zu decken. Dabei ift es um bie lam wirthichaftlichen Verhältniſſe Rumäniens fehr übel beftelt. In den beutigen | Konfulatsberichten vom „jahr 1901 wird mitgetheilt, da in Rumänien Mm Binsfuß für private Hypotheken zwifchen 8 und 18 Prozent ſchwanke, mank mal aber bi3 auf 36 Prozent fteige. Die Großgrumdbefiger müfjen bei de Bankiers gewöhnlich 24 Prozent zahlen. Die rumänischen Regirungen ode. beffer gefagt, die rumänifchen Parteien fuchen die Bevölkerung über die wahr Lage zu täuſchen. Die zum Theil fehr hohen Aufwendungen für öffentlide Bauten Schaffen für kurze Zeit immer wieder fünftlich unter den Handwerker des Landes einen Wohlftand, der faljche Schlüffe auf die wirthfchaftliche Situation der Geſammtheit begünjtigt,

Die finanzielle und wirtbichaftlihe Tage Rumäniens ift alfo, wenn men fie nicht in verflärendem Märchenlicht ficht, fehr ernſt und rechtfertigt durdau? nicht den hohen Kursſtand der Anleihen. Die Hoffnung der privaten Staat# gläubiger klammert fih hauptjählihd an die Erwägung, daß die Banken, um nicht Starke Verlufte zu erleiden, neues Gelb hineinftedlen müſſen. Die Banfen aber follten, wenn fie den deutſchen Kapitalsmarkt abermals in Anſpruch nehmer wollen, wenigitens dafür forgen, daß Rumänien nicht durch die Berjagung jüdildt! Handwerker, tfer, Landwirthe. Kaufleute, die das thätigfte El den Seit jeiner wirthichaftlichen Kraft zerjtört. Eine fo unfinnige fremden politik, die übrigens auch den internationalen Verträgen nicht minder als den Gebot der Humanität widerfpricht, muß auf die Dauer dad Land nuiniren und jollte deshalb auch für die pumpenden Banken feine quantits negligeable ſein. Die Diskontogeſellſchaft wird vor der nächſten Emiſſion unzweideutig zu erflät haben, was fie nad) diefer Richtung verfudht und erreicht hat. PBırt"?

*

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Notizbuch. 369

Notizbuch.

wert Profeſſor Dr. Guſtav Schmoller lehrt an ber berliner Univerſität National— öfonomie. Er findet, mit Recht, es ſei unklug, gerade über die Vorgänge zu ſchweigen, dte für die Erhaltung, Stärfung oder Schwächung der lebendigen Kräfte deutfcher Volkswirthſchaft beſonders wichtig und mehr ala Abjtraftionen und Rück⸗ blicke auf Gewordenes geeignet find, den Sinn junger Hörer zu fefleln. So fpricht er eines Tages auch über den von den Verbündeten Regirungen dem Reich$tag vor⸗ gelegten Entwurf eines neuen Bolltarifes. Die Studenten, neben benen wohl mander nicht der akademiſchen Bürgerſchaft Angehörige fißt, ſpitzen das Ohr; was mag über den Gegenſtand, der fett Monaten täglich in den Zeitungen behandelt wirb, der be- rühmteRebner zu fagen haben? Der Kampf, fo ungefähr ſpricht der Profeflor, ſei einſt⸗ weilen nod nicht allzu ernft zu nehmen; die einzelnen Zollſätze bes Tarifes feien ziemlich gleichgiltig, da jie in den internationalen Verhandlungen zum großen Theil doc geändert werben würden, und deshalb folle man das Urtbeil vertagen, . bis-die in neuen Handelsverträgen erreichten Zollfäße befannt felen. Das hatten vernünftige Leute längft gedacht oder ausgefprochen, ehe Herr Profeffor Schmoller das Wort nahm. Im vorigen Jahr ſchon und ſeitdem recht oft wurde hier gejagt, die Parteien follten, ftatt ziellos die Kraft zu verzetteln, den Regirenden ruhig die Möglichkeit lafjen, mit ihrem Zolltarif in die Fremde zu ziehen, und die Kritik bis zur Vorlegung der Handelsverträge fparen, deren Annahme ja vom Votum des Reichstages abhäuge. Ein Student behauptet nun, der Profeſſor habe ſich im Kolleg auf die Worte preußijcher Minijter berufen, die ihm gejagt hätten, auch fie dächten nicht daran, den Entwurf fo, wie er ben Reichötag vorliege, zum Geſetz zu machen. Das haben Minifter und Staatsjekretäre, jo weit ihre Auffaffung von Handelg- biplomatenpflichten eg geitattete, mehr als einmal angedeutet und felbft erwachſende Schulknaben willen nachgerade ſchon, daß der Entwurf einen Handelstampftarif liefern, Konzeifionen und Kompenfationen ermöglichen, unter Leinen Umftän- den aber unverändert Geſetz werden fol. Dem Studenten ſchien die Mittheilung dennoch wichtig; er machte eine Notiz daraus, die er an berliner Zeitungen fchidte. Auf den Antrag des Profeſſors jchritt die Staatsanmaltichaft ein, die Anklage wurbe erhoben und der ertappte Student vom berliner Yandgericht zu zweihundert Mark Geldftrafe oder vierzig Tagen Gefängniß verurtheilt, weil er fich gegen den Para- graphen 38de8 Urheberrechtsgeſetzes vom neunzehnten Juni1901 vergangen habe. Bon diefem Paragraphen wirb bedroht: „mer in anderen als den gejeglich zugelaflenen Fällen vorjäglic ohne Einwilligung bes Berechtigten ein Werf vervielfältigt oder ge- werbmäßig verbreitet.“ In der Begründung des Geſetzes ift ausdrücklich gejagt, nur . „oeröffentliche®ortrag als ſolcher“ ſolle geſchützt ſein; „Mittheilungen, die lediglich den Inhalt der Rede berichten“ auch einer vom Urheberrechtsgeſetz der freien Wieder⸗ gabeentzogenen Rede jollen, „wie bisher, zuläffig bleiben“. Dievondem Stubenten verbreitete Notiz war kurz und Herr Profefjor Schmoller nannte fie als Zeuge „eine ganz unzureichende und vielfach mißverſtändliche Wiedergabe eines etwa einftündigen Vortraged." Der Mijlethäter fol aljo erftens Ummahres veröffentlicht und zweitens durch biefe Veröffentlichung das Urheberrecht des Profeffors verlegt haben. Der ° Bericht über den Vortrag war falſch; er giebt nicht wieber, was ber Profeffor gejagt % Hat, ift aber ftrafbar, weil er ohne Einwilligung des Berechtigten das „Werk“ des

27°

370 j Die Zukunft.

Profeſſors „gewerbmäßig verbreitet“. Wenn diefes Urtheil, eins ber merkmwürdigften aus der an feltiamen Sentenzen reihen Sprucdpraris des berliner Landgerichtes. in Leipzig beftätigt wird, werden die Folgen ſolches Präjudifates nicht ausbleiben Auch auf dem Gebiete der Politik können fie fihtbar werben, wo Heute die Rednerei ja einen breiten Raum einnimmt; Beifpiele kann Jeder ſelbſt leicht erfinden. Keix aber als die friminaliftifche ift bie ımenfchliche Seite der Sache beachtet und fait ein ftimmig tft das Vorgehen des Profeffors hart getabelt worden. Der Student hat taktloe gehandelt. Vielleicht wollte er ſich wichtig machen, vielleicht verſprach er ſich von ſeiner Notiz politiſche Wirkung, vielleicht trieb ihn nur der Wunſch, durch Reportage ein paar Mark zu verdienen und früh Fäden anzufnüpfen, bie ihn jpäter in den Prebe trieb führen Eönnten. Einerlei. Der Profeffor konnte ihn kommen lafjen, bie Ler fehlung ftreng rügen, ihn, wenn ers für ndthig hielt, der Disziplinarbehörbe um zeigen. Das war Herrn Profeſſor Schmoller noch nicht genug. Er rief bie alad“ miſche Gerichtsbarkeit und die Staatsanwaltſchaft an und hat nun durchgeſetzt, deß ein junger Menſch „vorbeftraft“, vor dem Auge der Korreften bemalelt, wahrjcheie lich in feiner Laufbahn gehemmt ift. Ein junger Menſch, ker ſchließlich nichts Boſe⸗ gethan, ber nur, aus Zeichtfinn oder aus Noth, die Anftandspflicht verletzt und ben Lehrer vor der Hauptverhandlung und noch einmal tn öffentlicher Gerichtsfigung um Berzeihung gebeten hat. Daß die Indiskretion den Brofefjor ärgern, ihn vor ben befreun beten Miniftern „Eompromittiren“ konnte, ift klar; ernftlich geſchädigt aberwarer nicht Die Zeitungen mußten feine Berichtigung aufnehmen und den Ereellenzen mußt das Wort des vierundjechzigjährigen berlihmten Gelebrten mehr gelten als bie Aus jage eines reportirenden Schülers. Sind die wirthichaftlicden Zufammenhänge, die einen barbenden Stubenten nach mühelojem Nebenverdienft auslugen lafjen, vor einem Lehrer der Rationaldöfonomie jo ſchwer zu durchſchauen? Und kann ein Mann. der zuden evangelifch-fozial Empfindenden gehören will ſich nicht der herrſcheuden Wir leidloſigkeit entziehen, deren Sehnſucht nach Talion unerfättlich, durch die härtete Strafe faum zu ftillen ift? Herr Schmolfer foll ſich bereit erflärt Haben, die Geldftrafe für ben Berurtheilten zu zahlen. Sehr ſchön; doch damit find nicht alle Folgen ſeines Strafantrages aus der Welt geichafft. Die Studenten find in Preußen zu gut di zipliniet, zu feft in ftramme DMilitärfitte gewöhnt, als daß fie an einen Boyfen dächten; in einer Fabrik, wo einem Genoffen jo mitgefpielt worden wäre, würde die Arbeit wahrſcheinlich niedergelegt. Den Profefloren, von denen mancher Schmollert Schritt mißbilligt, räth wohl follegiale Rüdficht, über ben Vorgang zu ſchweigen. Für Schmoller ijt bisher nur Herr Profeſſor Simmel eingetreten, ber im einem

an die Voſſiſche Zeitung gerichteten Brief mit beinahe leidenſchaftlichem Eifer die

Nothwendigkeit betont, die „akademiſche Vertraulichkeit“ zu wahren. Die Gründe,

die er anführt, find nicht Jehr gewichtig und könnten von jedem anderen Redner, ha

in nicht Öffentlicher Verfammlung ſpricht, mit dem felben Recht geltend gem. N

werben. Wer fich je zu folcher Leiſtung bergab, lieft in den Zeitungbericyten nadl ?

faft immer Säße, bie er entweder gar nicht gefprochen hat oder deren Sinn durcht t

Löfung aus dem Zufammenhang entftellt ift. Profeſſoren find nicht Profeflen, le

dern, jo hofft man noch heute, muthige Belenner, die ſich nicht ſcheuen, auch mit eine:

gewagten, auf Hypothefen, nicht auf Refultate geftügten Sah in bie Deffentlitt !

zu treten. Sie können nicht fo naiv fein, zu glauben, was fie vor zwanzig oder d !

hundert jugenblich hitzigen Hörern fagen, bliebe verborgen; und eine gefläf

Notisbuch. 371

Fälſchung ift gefährlicher als eine gebrudte, gegen die man ſich wehren fan. Herr

Profeſſor Schmoller ift ein Meiſter der deftriptiven Volkswirthſchaftlehre und ein

mächtiger Hochſchuldiplomat, der für feine zuverläffigen, in verba magistri ſchwö⸗

renden Schüler fo zärtlich jorgt wie feit Scherers, des ihn im Weſen verwandten

Taktikers, Tode fein anderer Brofeffor; er follte zeigen, daß er auch) der humanen

Pflicht eingedenk ift, die der Lehrer im Verkehr mit jungen Schülern nie vergeffen darf. [| v

Herr Landrichter a. D. Ernſt Mumm, Aſſiſtent an der chemnitzer Handels⸗ kammer, erbittet die Aufnahme der folgenden Erwiderung:

„Im ‚Archiv für bürgerliches Recht‘ und in der, Zukunft verſuchte ich neulich nachzuweiſen, daß die ſeit einigen Jahren laut geforderte, im Reichstag einſtimmig be- fürmortete Einführung kaufmänniſcherSchiedsgerichte weber notwendig noch auch nur wünſchenswerth jei. Während meine Darjtellungen von vielen einfichtigen Männern gebilligt wurden, bat Blutus fie bier heftig befämpft. Die Entjcheibung barüber, ob ed ihm geglüdt ift, mich zu widerlegen, überlaffe ich getroft den Lejern. Mic) haben feine Einwendungen nicht eines Anderen belehrt und ich würde auch nicht für erforderlich halten, auf ſie zurückzukommen, wenn mir hierzu nicht einige Bemerkungen den Anlaß gäben, die meine Darlegungen als oberflächlich und thöricht hinzuftellen bemüht find. Ueber die im Grunde nebenjächlicde Bemängelung meines Aus- drudes, es jei bedauerlich, daß das Prinzip der ordentlichen Gerichtsbarkeit abermals durchbrochen werben jolle, brauche ich fein Wort zu verlieren. Zur Sade kann ich nur nachdrüdlich betonen, daß ich in der Schaffung faufmännifcher Ausnahmegerichte eine um ihrer Konfequenzen willen höchft beflagenswerthe Abweichung von dem gerechten Grundjaß erblicke, nach den Jeder vor dem ordentlichen Richter fein Recht zu ſuchen Hat. So iſt gar nicht einzufehen, warum bie Anhänger faufmännijcher Sciebögerichte bei dem Nerlangen nach diefen Sondbergerichten Halt machen und nicht, wie e8 Agſter und Genoſſen konſequenter Weile thun, aud) Ausnahmegerichte für die Streitigkeiten zwiſchen Gefinde und Herrſchaft, überhaupt für alle Streitig- feiten fordern, die aus irgend einem Lohn⸗, Urbeit- oder Dienftverhältniß entftehen. Die Gründe, die Plutus und die anderen Freunde kaufmänniſcher Schiedögerichte ins Feld führen, laffen fich genau fo gut zur Rechtfertigung aller mur möglichen Sonderfchiedsgerichte anführen. Gerade diejer Umſtand aber mweift mit Sicherheit darauf Hin, daß jenen Gründen in Wahrheit die Beweiskraft für die Einführung faufmännifcher Schiedägerichte fehlt, daß ſie nur infofern Beachtung verdienen, als darin die Mängel des heutigen Prozeßverfahrens überhaupt gerügt werden. Danıı hält mir Plutus vor, ich ſuche die bitter ernſte Frage dadurch ing Lächerliche zu ziehen, daß ich den Ruf nach Faufmännifchen SchiebSgerichten als eine Modejache bezeichne. Ich erwidere, daß ich auf Grund recht genauer Kenntniß der einfchlägigen Verhält⸗ niffe und auf Grund eingehenden Stubiums der ganzen Bewegung das Geſchrei nad) faufmännifchen Schiedögerichten in der That für blinden Lärm halte. Ich habe die fefte Ueberzeugung erlangt, daß in den Kreiſen der kaufmänniſchen Angeltellten ein ernftliches Bedürfniß nad) Sondergerichten nicht befteht, daß vielmehreinige Dußende oder Hunderte von Agitatoren für eine Einrichtung Propaganda maden, die Hundert- taufenden ihrer Standesgenofjen herzlich gleichgiltig ift. Schließlich meint Plutug, mein Daupttrumpf fei, daß bei den beftehenden Schiedsgerichten in Hannover u. ſ. w. nur wenige oder gar feine Verfahren anhängig gemacht worden feien. Zugleich er-

8372 Die Zukunft.

hebt er den Vorwurf, ich jcheine von der Einrichtung diefer Schiedsgerichte michtd za wiſſen. Diejer Vorwurf hätte mir füglich erjpart bleiben fünnen. Läßt doch ſchon ber Name der an verichiedenen Orten eingeführten fakultativen Schied3gerichte über ihren Charakter Leinen Zweifel zu. Die Befchäftigunglofigkeit diejer fakultativen Gerichte ift im Uebrigen ganz und gar nicht mein höchfter Trumpf. Nur beiläufg wird jie erwähnt neben ber viel wichtigeren, den Anhängern ber SchiebSgerichte etwai unbequemen Thatſache, daß die zur Austragung gelangenden Rechtsftreitigfeiten aus dem kaufmännischen Dienftuertrag von ben ganz großen Städten abgejehen jeltene Ausnahmefälle Bilden." ® *

Der Maler Leo Freiherr von König ſchreibt mir:

„Führer durch die berliner Kunſtausſtellungen?: ſo Heißt ein kleines Heftchen. das mir aus meiner Zeitung, dem Berliner Tageblatt, entgegenfiel. Aha! dachte ich: eine kleine Erſparniß für die Abonnenten, gleich dem Kalender oder den kleinen Eiſenbahnfahrplänen, die dag Blatt feinen Leſern in freundlicher Abſicht zu ſchenler pflegt. Eine Mark fünfzig ift für einen Katalog viel Geld; dafür kann man ſchon bei Kempinski frühftüden, meinte neulich ein Verwandter vom Lande. Bier, ver- muthete ich, würde er das billige Exemplar, ein Surrogat, die marfanteften Bilder, wie im Bädeker, mit Sterndjen verfehen, finden. Ich hatte falfch vermuthet. ‘Das Heftchen bringt eine gebundene Kritik der beiden Ausftellungen. Nun weiß ich wohl, daß wir Künſtler, wie Jeder, der nıit Werfen oder Schauftellungen an bie Oeffem⸗ lichkeit tritt, der Kritit Berufener und Unberufener ausgejegt find. Es liegt mir daher auch gänzlich fern, Etwas über den Anhalt der Brocdure zu jagen; nur über den Weg, den dieje Kritik einjchlägt, möchte ich jprechen. Das Wort Führer“ und die beigefügten Pläne der Ausjtellungen zeigen den Wunſch des Autors, der jewel- lige Befiger des Deftes möge, mit ihm bewaffnet, feinen Rundgang durdy die Säle antreten. Diefer Beſucher alſo wird an jedes Bild mit einer vorgefaßten Meinung, mit der des ‚Führers‘, herangehen;bdenn unendlich groß ift ja Die Zahl Derer, für die jedes gedrudte Wort ein Evangelium ift. Durch diefe Art ber Yührung wird dem Publikum jegliches Nachdenken erjpart und fo dem Kunſtwerk ein großer Theil feines erzieheriichen Werthes genommen. Der Menſch wird niemals aus Büchern Kunſt begreifen lernen. Kunſt tft eine Wiflenfchaft, Kunſt will empfunden fein; und Der nur, der ich felbft zu den Anſchauungen und Abfichten eines Stünftler? durchgerungen hat, wird deſſen Werk wirklich genoffen haben. Der neuſte, Fuührer nimmt dem Künſtler jede Ausficht, auf einen unbefangenen, naiven Beichauer wirlen zu können. Man telle ſich vor, daß die Bücher unferer Schriftfteller mit Randbemert- ungen eines Kritikers erfchienen oder daß ung vor jedem Alt eines neuen Theater jtüdes ein Vortrag über defjen Vorzüge und Mängel gehalten würbe, Nein: vor dem Kunſtwerk hat die Kritik zu ſchweigen und erſt zu Dem zu ſprechen, ber Werk ſchon in fich aufgenommen hat. Ich habe nichts dagegen, daß Herr &. nädjiten Morgen in jeiner Zeitung lieft, meine Bilder feien gut oder fehlecht; vor den Bildern wünſche ich ihn unbeeinflußt; und ich glaube, daß fich diejem Wi meine Kollegen aus beiden Häufern anjchließen werden.“

* *

* „In den preußiſchen Oſtmarken ſollen nicht mehr bie Polen chikanirt, jon! die Deutfchen wirthſchaftlich geftärkt werden. Diefer Weg ift Hier feit Jahre empfohlen worben betreten aber jollte ihn nur ein Geduldiger, der entſchloñ⸗

Notizbuch. 373

nicht an der nächſten Ecke ſchon in einen breiteren Seitenpfad abzubiegen. Mit dem alten Apparat einer Berwaltung, die auch den ſtärkſten Willen lähmt, iſt nichts zu erreichen; eine halbe Milliarde und die ganze Lebensarbeit eines jchöpferifchen Staatsmannes wird nöthig fein, um auch nur den verlorenen Boben zurüdzuge- winnen. Graf Bülow, der mit rühmensmwerthem Eifer ſich den zähen Stoff angeeignet und eingefehen bat, daß es fi) dabei um bie wichtigfte Frage der deutſchen Zukunft handelt, kann nicht glauben, ſolches Riefenwerk fei im Nebenamt zu vollbringen. Der Entſchluß zu innerer Kolonialpolitif größten Stils und jede andere wäre nußlofe Spielerei muß organiih mit der Summe des Wollen zufammen- hängen, bas in der Geſtaltung neuer Möglichteiten und Nothwendigfeiten fühlbar werden foll. Dieſer Zuſammenhang aber ift noch nicht zu erkennen.“ Auch heute noch nicht, obwohl vier Monate vergangen find, jeit die angeführten Säße in der „Zukunft“ zu leſen waren. Eine Viertelmilliarde aber hat die preußifche Regirung vom Landtag verlangt; 150 Millionen, um die Anfiedlung deuticher Bauern in den Oſtmarken jchneller und wirkſamer als bisher durchführen, und 100 Millionen, um Güter und Grundftüdg für den Domänenfistus anlaufen zu können. Der erite Schritt iſt alſo gethan; ob er ans Zielführen kann, wird ſpäter zu prüfen fein. Einft- weilen wollen wir uns der allzu feltenen Gelegenheit freuen, die preußifche Regtrung (oben zu dürfen, und wünſchen, fie möge, jo lange es Beit iſt, einfehen lernen, daß aud im deutfchen Often ber Kolonialpolitit Erfolg nur bejchieden fein wird, wenn ihr, ftatt der Bureaufraten, Kaufleute die Iege weiſen. Daß die Provinzen Weft- preußen und Poſen mit einer Biertelmillion gebüngt werden, ift ficher gut; nun ſoll man fie verwalten, als gehörten fie einer großen, joliden Bank, ber nur eine praf- tifche und kraftvolle Kulturpolitil das hereingeſteckte Geld hoch verzinfen kann. ‚8 3

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Rochambeau, dem Grafen und Marſchall von Frankreich, der von Ludwig dem Sechzehnten 1780 als Führer des franzöfifcden Kontingentes übers Meer ge- ſchickt wurde und bei Yorktown, im Bunde mit Wajhington, das englifche Heer zur Kapitulation zwang, iſt vonder Negirungber Vereinigten Staaten auf dem Tafayette- Square der Hauptſtadt ein Denkmal gefegt worden. Der kluge Stratege, der vorher im Stebenjährigen Krieg gefochten und den nachher der neunte Thermidor vor dem Haß der Schredensmänner gerettet hatte, war lange vergeflen ; der Ruhm des Sprubel- fopfes Zafayette hatte die Erinnerung an den fühlen Schweiger überftrahlt, der für Nordamerika doch viel mehr that als der Higige Schwärmer. Jetzt ift biefe Erinne- rung wieder aufgefriicht und das Denkmal mit allem in einer Republik möglichen Glanz entgülft worden. Herr Rooſevelt hat fich bemüht, den Franzoſen, deren höchſte Reprä- jentatnten zum ?yeft geladen waren, zu zeigen, daß man dankbar der von ihnen im Kampf gegen England geleijteten Hilfe gedenkt. Auch ber Magbeburger Steuben, der 1777, auf das Drängen von Beaumardais und Saint: Germain, den badifchen Striegsdienft verlieh, nach Amerifa ging, Generalinfpefteur der Armee und Seneralftabschef Waſhingtons wurde, ſoll ein Denkmal befommen; nicht al3 Deutſcher, aber als tüchtiger, bald völlig amerikanifirter Helfer im Kampf um die Freiheit. Diejes Denkmal, jagen die Yankees, foll daran erinnern, daß zwar einzelne Deutfche damals übers Waſſer kamen, Preußen aber, der Staat Friedrichs, den fämpfenden Amerikanern feinerleiHilfe brachte. Deshalb paßt ihnen das vom Deutjchen Kaiſer angebotene Geſchenk auch nicht; fie möchten den Alten Fritzen nicht in Stein oder Bronze vor dem Kapitol ſehen. Schon ijt im Repräfentantenhaus

374 Die Zuhmft.

beantragt worden, die Regirung folle das Geſchenk ablehnen underflären, für zürtte: denkmale fei indem Gebiet der Vereinigten Staaten fein Plag; und jeldft in hentid amerifanijchen Blättern wird das Geſchenk eine unbequeme Gabe genannt, die behtc gefpart worden wäre. Die Großkapitaliſten, die den Kaiſer nicht kränken möchten habrı vorgeſchlagen, derStadtBerlin einen bronzenen Waſhington zu ſchenken, derinderfie narchenreſidenz für den republikaniſchen Gedanken zeugen ſolle; auch die Römer welt: ſich für den Goethe von Eberleins Gnaden ja mit einem Dante bedanten. Der Alt: | Fritz wird in Amerika jchließlich eine Stätte finden. War die ganze pernlide Er örterung aber nöthig? Dem Botfchafter des Kaiſers, Herrn von Holleben, wird vr geivorfen, er Habe nicht rechtzeitig zu erkennen verjucht, wie das Gefchent in ben Ver einigten Staaten aufgenommen werden würde. Herr von Holleben Hat brüben Ich viele Fehler gemacht, deren einer in dem Prozeß zweier Seftfirmen vielleicht aufge klärt werden wird. Der neue Vorwurf aber ijt ſicher unberedhtigt. Die Abſicht der Kaiſers, Amerika ben Alten Fritzen zu Schenken, ift, wie man fiher annehmen dar, dem Botichafter nicht früher befannt geworden als anderen Sterblichen.

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Nur bie Herren, die den Kaiſer täglich fehen und in Wiesbaden um ihn waren. konnten von dem Geſchenk abrathen. Dieje Herren fcheinen von ihrer Dienerpflik ober eine ſonderbare Auffaffung zu Haben. Sie laffen ihren Herrn, der nicht allınillem fein kann und nicht Zeit hat, Lexika aufzublättern, in einer an den Bräfibenten Loube gerichteten offiziellen Depefche die Zahl der in Pompeji Verſchütteten jo umrichtiz angeben, daß in Frankreich Gloſſen darüber gemacht werben. Und fie inform ihn über die Art der Perfünlichkeiten, die er begnaden will, fo ungertau, daß nod! Ichlimmeres Unheil entfteht. Jebt hat Wilhelm der Zweite dem Fäulein Dura eine Audienz gewährt, von dem vor ein paar Wochen hier gejagt wurde: „eyränlem Durand ift eine alternde Dame, die im Haufe Molieres nie einen Rang hatte un feit Jahren mit der Hilfe eines ihr befreundeten Millionärs die Frauenzeitung L Fronde herausgiebt; fie ift weder als Spielerin noch als Journaliſtin der Her werth.“ Diefe vieljeitige Dame, die in Paris nicht ernft genommen wird, konnte D ihrem darbenden Blättchen num ein Interview mit bem Deutichen Kaiſer veröffen- lichen. Bor ihren mit redlich erworbenen Aumwelen geſchmückten Ohren hat er dit modernen deutſchen Dichter getadelt, hat er jagt, Wagner jei ihm „zu geräufcvol”. darüber geklagt, daß die deutichen Frauen ſich fürs Theater nicht eleganter kleiden. und Herren Georg von Hülfen einen „großen, jehr großen Künſtler“ genannt. {in Paris wurden Köpfe neichüttelt.- Weiß ‚Ihr Kaiſer denn nicht, ſchrieb mir ein Aran: zoje, wer Fräulein Durand ift? Die Zumuthung, er folle es wiflen, ift luftig. Der Pertrauensmann der Deutfhen hat am Ende Underes zu thun, als ſich um den ſ Lebenslauf, das Glück und den Niedergang fleiner parifer Theatermäbden MI I fümmern. Seine Diener aber follten wiffen, wen fie ihın vorführen. Wie würde man bei ung fpotten, wen die Nachricht füme, der Zar habe das nicht einmel F | Spielens halber in Petersburg mweilende ‚zräulein Jenny Groß empfangen: J. Die Hofdiener des Kaiſers haben die betrübenden Irrungen nnd Wirrungen Dt Ei letzten Wochen verjchuldet und fie jol man dafür zur Nerantwortung ziehen, db dem Fräulein Durand eine Ehre gewährt wurde, um die recht oft ſchon deutſche In duftriefapttäne, Gelehrte, Kauflente i in ernfter Abſicht Jahre lang vergebens warben

Herausgeber und verantwortlicher er Redatt eur: M. . Harden in 1 Berlin, Belag der Zutunft in Bei Dead von Albert Daude in Berlin» Schöneberg.

sennmun

Berlin, den 7. Juni 1902. O——unn 77T

Induftrieftaat oder Agrarftaat?

I“ den Zolltarifentwurf it die bienmendfte der deutſchen Fragen feit einem Jahre daS tägliche Diskuſſionthema der Zeitungen geworben. Da ich nicht in der Lage bin, gleich Schaeffle und den anderen Autoritäten meine Gedanfen über das augenblidliche Stadium ber Erörterung ausführlich und im Zufammenhang ausfprechen gu können, fei e8 in einer Brochure oder in einer Reihe von Zeitungauffägen, fo nehme ich meine Zuflucht wieder zu der Form, die im fnappften Raum viel zu fagen ermöglicht: ich reihe Thefen an einander und überlafje den Lefern die Ausführung und Begründung. Um ihnen dieſe zu erleichtern, vertweife ich hier und da auf die entſprechende Seite eined Fundorte8 von Beweismaterial und benuge dazu zwei Werke von Vertretern ber beiden feindlichen Parteien: „Ugrar- und Induftrieftaat“, zweite Auflage, vom Profefjor Adolf Wagner (W), „Deutfchland als Induftrier flaat“ vom Dr. F. €. Huber (H) und einige meiner Opuskula: „Weber Kommmismus noch Kapitalismus“ (K), „Neue Ziele, neue Wege“ (N), Die Agrarkriſis“ (A) und eim paar in der Zukunft veröffentlichte Auffäge (2).

1. Landwirthſchaft und Bauernſtand die beiden Kategorien deden einander nicht bleiben die Grundlage des Staates, die Pflanzftätte ber Vollkskraft, die Bedingung gefunder fozialer Zuftände; Alles, was über ihre Unentbehrlichkeit in materieller, hygieniſcher, militärifcher und politifcher Hinficht gelagt wird (3. B. K 357 und W von Anfang bis zu Ende), ift wahr. Die Schilderungen des Elends der Kleinbauern und der ländlichen Gefindefflaveret in der antiagrariſchen Preſſe find teils Karikaturen, theils ungerechtfertigte Berallgemeinerungen. Zuzugeben ift, daß ſich die Lage ber ärmeren Dörfler

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376 Die Zuhneft.

in dem Maße verfchlechtert hat, wie die Landwirtäichaft feit dem füniziger Jahren des vorigen Jahrhunderts induftriell, Kapitaliftifch und rentabel ge worben ift, und dat das Verhalten vieler Nittergutsbefiger bie heutige Lane flucht verfchuldet hat. Wie e8 in folcden Fällen zu gehen pflegt: mit der Schuldigen werden die Unfchuldigen, namentlich die Bauern, getroffen; dx Aufbeflerung der Löhne und der Koft, zu denen fich jet bie Gutsbeſiter gezwungen fehen, fommt zu fpät. (K 338; A 93). Die Hauptſchuld as der Entvölferung des Dorfes trägt übrigens der Militärbienft. Der Dörfler wird immer der befte Soldat bleiben, nur muß man ihn nicht drei, und nicht zwei Jahre bei der Fahne behalten; damit verftädtert man ihn.

2. Bon dieſer Seite her, nicht durch die ausländifche Konkurrenz m) den niedrigen Getreibepreis, find die Bauern bedroht. Bom Induſtrialismus nur infofern, als ihr Gewicht im Staate fchwinbet, da fie einen immer Heineren Prozentfag der Bevölkerung ausmachen und dur das Uebergewich de3 induftriellen Reichthums an Anfehen verlieren. Von dem Vergleich mil den Nabob3 und deren hoch bejoldeten Direktoren abgefehen, Ieben fie nidt ſchlecht. Nicht fie find zu bedauern, fondern der immer größer werdendt Theil des Nachwuchſes, dem der Boden gefperrt, die Möglichkeit, Ländlichen Grundbeſitz zu erwerben, genommen ift. Wie immer man fi num die Roth der Landwirthichaft denken mag: mit Schuszöllen kann ihr fo wenig abge bolfen werden wie mit der Doppelmährung, bem Getreibemonopol, ber Börfenreform und den übrigen längft begrabenen Mitteln der Agrargelehrten Tede Erhöhung de Getreidepreifes fteigert die Grundrente und damit der Preis der Landgüter; die Fünftliche Steigerung durch Schutzzoll Kat dieſe Wirkung um fo ficherer, weil fie für dauernd gehalten wird, was bei der Steigerung durch eine Inappe Ernte, die außerdem den Vortheil aufheben kann, nicht der Fall ift. Gerade die Preisfteigerungen find es daher, dit Krifen erzeugen; und den Preis der ländlichen Grundftüde niedrig halten, ift das einzige Mittel, Agrarkfrifen vorzubeugen. Nicht der Kulturfortſchritt fondern die zunehmende Volksdichtigkeit und Bodenknappheit, die freilich im heutigen Europa mit dem technischen Fortichritt in Wechfelwirkung fehl erhöht nothwendiger Weife den Getreidepreid. Wagner geht über diefe Schwierigfeit viel zu leicht hinweg. Auch wenn e8 wahr wäre, daß heute viele Landgüter feine Rente mehr abwerfen, würde dadurch der angegeben Grund gegen Agrarzölle nicht entkräftet. Die Erhöhung der Getreidepreift würde bewirken, daß wieder Grundrente entftünde, die fleigende Konjunktur würde, wie e8 immer gefchehen ift, beim Verkauf, bei der Erbtheilung und bei der Aufnahme von Meliorationhypothelen eskomptirt werden und det nächſten Bejiger würbe der niemals ausbleibende Preisrüdgang für Daß die Hebung des Getreidepreifes bie Produftion vermehren und Destiä

Induſtrieſtaat oder. Agrarſtaat? 377

land vom Auslande unabhängig machen würde, ift fehr unmahrfcheinlich. Gerade die Nothwendigkeit, den Preisfall durch die Vermehrung des Ertrages aussugleihen, hat die deutfchen Landwirthe zu Verbeſſerungen gebrängt, deren glänzender Erfolg ihnen zur höchſten Ehre gereicht. Hinter der Schugmauer eined hohen Zolles, die den Import unmöglich machte, würden fie es, wie vor 1846 die englifchen Landlords und Pächter, bequemer finden, die Bolks- vermehrung bei gleichbleibender Produktion den Preis noch weiter fleigern zu taflen. (W 97. 119; A 9. 28. 116-121. 166).

3. Doc hat auch Huber Recht mit Allem, was er zum Lobe der induftriellen Entwidelung anführt. Sie ift nothwendig, weil im gefchloflenen Staate nach vollfländiger Auftheilung be3 Bodens der Bevölkerungzuwachs nur in der Induſtrie und im Handel untergebracht unb meil das in immer flörferem Maße nothwendig werdende Importbrot nur mit erportirten Induftrie- erzengniffen bezahlt werden kann. Der Welwerkehr und die Probultion- fteigerung, die er erzwingt und ermöglicht, bereichern bie darein verflocdhtenen Völker nicht allein durch die fteigende Menge der Güter, fondern auch durch die wachfende Zahl und Mannicfaltigfeit der Güterarten umb durch eine Fülle technifcher, gefchäftlicher und geiftiger Anregungen. Die Verflechtung jelbft erfchwert den Krieg und verftärkt die Triedensliebe immer weiterer Kreife, was die Humaniſirung der Völker zur Kolge haben könnte. Und wenn der induftriefle Fortfchritt duch fleigende Noth bei Bodenknappheit erzwingen wird, gereicht auch diefer Zwang der Volksgeſundheit zum Heil. Die Völker des Haffifchen Alterthumes find zu Grunde gegangen, weil die Zu⸗ nahme ftodte, ihre Produktivkraft den damaligen Bedürfnifien reichlich genügte, feine Roth zu Erfindungen trieb, Herren und Sklaven faullenzten und ver- Iotterten. Auch dem geiftig Geſunden, daher Arbeitwilligen, ift Zwang zu etwas mehr Arbeit, al3 er freiwillig leiften würde, fehr gejund; da num bei der Mehr⸗ zahl die Archeitiwilligkeit zu wänfchen übrig läßt, fo iſt der Zwang, den die Noth übt, für die Erhaltung der Bollsgefundheit nicht zu entbehren.

4. Freilich hat diefer Nuten der Noth, die zum technifchen Fortfchritt treibt unb den Imduftrialismus fördert, wie Alles in der Welt feine Grenze. Diefe Grenze ift auf dem Punkt überfchritten, von wo ab die Noth nicht mehr das ganze Volt Fräftigt, fondern einen immer flärker anjchwellenden Theil zur Entartung verurtheilt. . Daß trog der Verlümmerung von millionen Menſchen die Gütermaffe, der Nationalreichthum fteigt, bebentet feine Ent- fhädigung und feinen Troſt. „Die Menfchenkultur ift auf jeden Fall wic- tiger und nothwendiger al die Erhöhung der Induſtrie und des äußeren Wohlftandes“, hat die potsdamer Regirung in einem Erlaß vom Januar 1828 geſagt. Wagner hat volllommen Recht, wenn er (W 32) auf bie Be: .reicherung durch die Induftrie das Wort Jeſu amwendet: Was nütte e8 dem

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| | 378 Die Zukunft.

Menfchen, wenn er die ganze Welt gemönne, aber Schaden an feiner Seele, alfo an feinem Menſchenthum litte? Das ficherfte Merkmal der eingetretenen Entartung find die Kindergräuel. In England find diefe Gränel aus den Fabriken und Gruben verfcheucht worden, aber in der Hansinduftrie, in der fogenannten Familie und auf der Straße mwuchern fie fort. Was. Deutſch⸗ fand betrifft, fo hat die amtliche Statiftif über 550000 im Gewerbe thätige Schulfinber, die Lehrerenquete, deren Ergebniffe Agahd veröffentlicht, ſchauder⸗ bafte Einzelheiten ergeben und der Staatsſekretär Graf Poſadowsky Hat bei Berathung de8 neuen Kinderſchutzgeſetzes gefagt: „Unter Umftänden fann ber erzieherifche Werth ber Arbeit darin beftehen, daß ein folches Kind zum Krüppel ober Fdioten erzogen wird." Ein Staatsfelretär muß ſolche Früchte des fogenannten Kulturfortfchritt auch dann noch verfchleiern, wenn er da⸗ gegen anfämpft, fonft würde Bofadowsty ftatt „unter Umftänden fan fein” „in viel Hunderttaufend Fällen iſt“ gefagt und vor „erzogen“ „zum Ber- brecher* eingefchaftet haben. Die in der Landwirthſchaft befchäftigten Kinder fehlen in der Statiftif und die Zahl der im Gewerbe verwendeten ift wahr: fheinlih noch viel zu miedrig angegeben. Kinder zum Brotverdienft zwingen, ift eme in alten Zeiten und bei barbarifchen Völkern unbelannte Barbarei und in dem Maß und in der Weife, wie e8 heute gefchieht, doppelt Barbarei. Es hieße, die in Betracht kommenden Millionen deutfcher Väter und Mütter für Kanibalen erflären, wenn man annehmen wollte, daß etwas Anderes al die bitterfte Noth fie beitimme, ihre Kinder dem Moloch zu opfern. Den Ausſchluß der landwirihſchaftlich befchäftigten Kinder aus dem neuen Gefeb würde ich für gerechtfertigt halten, wenn die Berhältniffe noch fo wären wie zu der Zeit, wo ich das Land kennen gelernt habe. Die Iandwirthfchaftlichen Befchäftigungen find an ſich gefund und den Kindern lieber als das Sigen in der Schule. Ob Das in den legten Jahren wefentlich anders geworden ift, ob die Induftrialifirung der Landwirthfchaft ungebührliche Ausnügung ber Kinder, befonders beim Rübenbau, in den nördlichen Provinzen Preußens zur Folge gehabt Hat, vermag ich nicht zu beuriheilen. Es ift auch viel von der fittlichen Berderbniß der Hütelinder und anderer Kategorien die Rede geweſen. Daß die Randwirthfchaft Keine Schule möndifcher oder muderifcher Keuſch⸗ heit, fondern eine beftändige Einladung zu derbem Gefchlechtsgenuß ift und daß die mit der Begattung des Viehs vertrauten Dorffinder bie ſtädtiſche fogenannte Unfchuld gar nicht kennen, verfteht fich für jeden nicht dämlid. Menfchen von ſelbſt. Das mögen die Freilinnigen und die Sozialdemokrate den Konſervativen vorhalten, fo oft fich diefe Herren in der Rolle von Schn engeln der Unfchuld Lächerlih machen; aber wenn fie fich über die Thatſach ftatt über die konſervative Heuchelei, entrüftet ftellen, fo machen fie fich felbf lächerlich. Sollte es freilich wahr fein, daß durch die Einrichtungen vie

Induſtrieftaat oder Agrarſtaat? 379

Gutshöfe die Schulkinder in den Geſchlechtsverkehr der Knechte und Mägde hineingezogen werden, ſo müßte Dem, nicht um der ſogenannten Sittlichkeit willen, ſondern im Jutereſſe der Volksgeſundheit und der öffentlichen Sicher- heit ernitlich gewehrt werben.

5. Daß ein Theil der induftriellen Bevölkerung verfümmert, erklären gewiſſe Entwidelungtheoretifer für die zur Raſſenverbeſſerung nothmendige Ausfcheidung und Vernichtung der Minderwerthigen. Aber die Minder- werthigen werden, wenn man bon den in Zuchthäufern lebenslänglich Ein- geiperrten abfieht, nicht an der Fortpflanzung gehindert; ſtrophulöſes und fonft verfümmertes Bettelgefindel ift vielfach fruchtbarer al3 die fräftigen und gefunden Beligenden. Und dann: man mag die Buren für fo fchlecht halten, wie man will, daß es Verkrüppelte und Verkummerte unter ihnen gebe, hat ihnen noch Niemand nachgefagt. Bei ihrer Lebensweife entjteht gar feine Menfchheithefe, deren Ausscheidung und Vernichtung wünfchenswerth erfihiene; folche entfteht eben nr auf dem Gegentheil der burifchen Lebensweiſe, unter den Belitlofen, in dicht bevölferten Ländern, befonders in Großſtädten und bei vielen gewerblichen Beichäftigungen. Daß ein gewiffer Grad von Zu: ſammendrängung und Noth erforderlich if, um die Gewerbe und den techni- ſchen Zortichritt zu erzeugen, habe ich vorhin felbft gefagt. Aber der technifche Fortfchritt, fo unentbehrlich er für das Dafein einer ftetig wachfenden Menſchen⸗ menge fein mag, bedeutet Feine Veredlung der phyfifchen und der geiftigen Natur des Menfchen und keine Steigerung feiner Naturanlagen, feine Züch⸗ tung einer höheren Raſſe, wie ich -in der Schrift „Sozialanslefe” nad: gewieſen habe. Was ftetig fortfchreitet, ift die Volllommenheit der Maſchine und die Produftenmenge, nur zum Theil auch die Güte der Produkte, gar wicht die der Menſchen. Gewiſſe einfeitige Fertigkeiten des Dienfchen werden ‚gefteigert; aber daß der englifche Mafchinenfpinner beinahe doppelt fo viel Spindeln beauffichtigen kann wie der beutfche: Das macht ihn nicht zu einem höheren Typus der Gattung Menfh. Im Gegentheil wird durch die immer weiter gehende Spezialifirung der gewerblichen Arbeit und durch die vollftän- dige Trennung der fchöpferifchen, künftlerifchen und Leitungarbeit von der aus⸗ , führenden Handarbeit ein immer größerer Prozentfag von Menſchen degrabirt. Und um den evolutioniftifchen Optimismus Eduard3 von Hartmann ift es fo übel beftellt wie um die Selektion nad Darwin. Das Ningen mit der Natur ımd ber Kampf gegen feindliche Naturgewalten ftärkt Körper und Geift und veredelt. In der Noth einer Springfluth und beim Deichen fühlen fich | Arm und Reich ald Brüder. Und eine durch die Kargheit der Natur erzeugte Hungerönoth verbittert die Menſchen nicht gegen einander, fondern verbindet fie als Leidensgefährten. Aber die Noth der Armen im modernen Induftrie: : faat, deſſen Speicher ein unabfegbarer Ueberfluß füllt und deſſen Millionäre

‘380 Die Zutunft.

nicht wiflen, wie fie jich der erdrüdenden Zinfenanfammlung erwehren follen, verbittert und vergiftet; und der Konkurrenzlampf, der Kampf um die Ber⸗ theilung des Futters und am ben Play am Futtertrog, ber im Geheimen geführte Kampf gegen den Mitbewerber um ein Amt, der mit Schwindel, Reklame und Berleumdung geführte Kampf um die Kunden: der züchtet alle gemeinen und häßlichen Triebe und macht den modernen Menfchen mit feiner Tugend» und Humanitätmasfe zu einem unangenehmeren Geſchöpf, al8 der Straßenräuber eins if. Zu der Scheinarbeit, die über den Mangel an Öelegenheit zu probuftiver Arbeit Hinmwegbelfen muß, gehört auch die Arbeit der Poliziften, Richter und Aufpafier, die den giftigen Konkurrenzkampf in den Schranken äußerlicher Wohlanftändigfeit halten müſſen, und bie Arbeit der Gefengeber, Agitatoren und Zollbeamten, die die Vermehrung der Güter

maffe zu hindern, alfo bie produktive Arbeit einzufchränten haben. Nur.

gewiſſe Tugenden zweiter Orbunng, bürgerliche Tugenden, erziwingt und förbert der Induſtrialismus; fo kann der Großhandel ohne abfolute Zuverläffigfeit und moralifche Kreditwürdigkeit nicht beftehen.

6. Daß der Induftrialismus und ber technifche Fortſchritt die Guter⸗ menge vermehrt haben, iſt nun freilich mit Dank anzuerkennen, aber nicht als ein großes Verdienſt zu preilen. Es wäre doch gar zu abſurd, wenn die 255 Millionen eifernen Männer, bie im deutjchen Reid) arbeiten, die täglich vierundzwanzig Stunden arbeiten fünnen, ohne zu ermüben, und bon denen jeder nur auf ein Achtel Defien zu ftehen kommt, was der Lebens unterhalt eines lebendigen Mannes koſtet (H 28 bis 29), wenn die nur immer wieder andere Mafchinen und nicht auch Gebrauchs: und Genußgüter ſchafften. Aber was nügt uns, daß bie Nähnadeln vierzigmal zahlreicher und daher vierzigmal mwohlfeiler geworden find als zu der Zeit, wo man fie mit der Hand anfertigte, und dag man mit dem in Speichern und Läden lagernden Kattun alle Planeten umhüllen könnte? Allerdings find im vorigen Jahr⸗ hundert die deutſchen Arbeitlöhne, in Geld ausgebrüdt, auf das Doppelte umd Dreifache geftiegen, was bei der gleichzeitigen Verbilligung ber Kunſterzeug⸗ niffe den vierfachen Naturallohn bedeuten fünnte. Allein das Brotlorn if heute noch nicht fo mwohlfeil, wie e8 1820 bis 1840 war, Fleiſch und Butter jind brei- bis viermal fo theuer, eben fo die Wohnung. Dabei befteht ein ftärferer Zwang zu Anftandsausgaben, und was die in Großſtädten und im verräudherten, mit Schutt und Afche bededten Induftriebezirten zuſammen⸗ gepferchte Bevölkerung an Naturgenuß, gefunder Luft, Licht und was ihre Jugend an Bemwegungfreiheit verloren hat, kann gar nicht in Gelb abgeichägt werden. Huber ift auch fo ehrlich, einzugeftehen, daß fich wicht ermitteln läßt, in welchem Maße bie vermehrte Gütermenge den unteren Klaſſen zu Gute fommt (H 53, 58, 62 bis 63). Aus den Statiftifn von Bictor

mduftrieftaat oder Agraritant? ' 381

Bsshmert und Huckert, die eine bedeutende Steigerung des Brot⸗, Fleiſch-, Butter: und Eierkonſums nachweiſen, wird voreilig zu viel geſchloſſen. Wenn man die letzten vierziger Jahre zum Ausgangspunkte nimmt, dann iſt die ſtarke Steigerung ſelbſtverſtändlich. Denn damals bat eine Hungersnoth Deutſchland heimgeſucht. deren Wiederkehr für eine abſehbare Zukunft un- möglich gemacht zu haben, das unbeſtreitbare Verdienſt des techniſchen Fort⸗ ſchrities und des Welthandels iſt. Aber wenn man auch für die Zeit zwiſchen den napoleonifchen Kriegen und 1845 behauptet, das. Volk habe damals weniger Brotkorn, Fleiſch, Mil und Butter gegeffen als heute, fo glaube id) Das einfah nicht. Die Statiſtik kann für jene Zeit nichts Sicheres nachweiſen, weil es damal3 noch wenig amtlihe Statiftif gab und weil fich bei vorherrjchender Naturalwirthichaft, wo Jeder feine eigenen Produkte kon- fumirt die Bevölkerung beſtand faft zu vier Yünfteln aus Bauern und Aderbürgern —, der Konſum fchlecht kontrolicen läßt. Da diefer Zufland auch nad) 1845 erjt allmählich der reinen Geldwirthichaft gewichen ift, fo find höchſtens die Zahlen der legten drei Jahrzehnte zuverläffig. Aus dem zulest angeführten Grunde bat auch die Rohnfteigerung weniger zu bedeuten, al8 auf den erjten Blid feheint, denn zu Anfang des weunzehnten Jahr: hunderts machten die ausfchlieglih von Arbeitlohn lebenden Berfonen nur einen Heinen Prozentſatz der Bevölkerung aus, heute find fie die reichliche Häffte. Außerdem ift die Vertheilung ungefund. Die Beamten, denen es ja zu gönnen ift, leben heute viel befjer, die unterfte Arbeiterfchicht Schlechter al3 vor jechzig bis fiebenzig Jahren. . Dann: der jugendliche Arbeiter in einer gut zahlenden Induſtrie verdient feine 600 bis 700 Markt und vers frißt, vertrinft und verraudt fat fein ganzes Geld. Der verheirathete Dann -befommt im felben Induftriezweig 1000 bis 1200 Mark und foll damit fi, eine Frau und vier bis ſechs Kinder nähren, Heiden und beherbergen; er kann nicht, wie der jugendliche, zum zweiten Frühftüd und zum Abendbrot did belegte Stullen verzehren; noch weniger kann es feine Frau, die oft mit dreißig Jahren ein abgemagertes Jammerbild it. Später Helfen bie Kinder vielleicht ein paar Jahre lang vertienen. Aber mit fünfzig Jahren ift der Mann wieder auf feine eigenen zwei Hände angewiejen und verdient weniger al3 in den Fahren feiner beften Kraft. Das mehr verbrauchte Fleiſch fommt aljo vielfach in den unrechten Magen.

7. Malthus hat demnach zwar nicht, wie Adolf Wagner glaubt (W 53 bis 58), in allem MWefentlichen Recht, aber er hat menigftens eine wirklich vorhandene Tendenz erlannt, fie allerdings fo falih wie möglich formuliert. Nicht Lebensmittelmangel entfteht nothwendiger Weife durch die Vollövermehrung, denn mit jedem Maul kommen auch zwei Hände und ein Kopf auf die Welt; und die Agrarier aller Länder möchten heute am Liebſten

382 Die Zukunft.

die Hälfte alles Brotkorns, Zuckers, Kaffees, fammt Roſinen, Kalao um Gewurz ins Wafler werfen. Sondern nur ber Zugang zu ben reichlich vor bandenen Nahrumgmitteln wird immer. fchwieriger, weil bei ber heutige Geſellſchaftordnung Jeder nur durch Verkauf feiner eigenen Waare, die ki Vielen blos aus der Arbeitfraft befteht, daB zum Kauf ber Lebensmittel er forderlicde Geld erwerben kann, der Abfat aller Waaren aber durch bie unſerer Produltionordnung immanenten Wiberfprüche immer fchwieriger wird. (Könnten diefe Widerfprüche aufgehoben werden, fo würde der technifche Fortſchritt die Gutermaſſe in dem Grade vermehren, daß alle Güter beinahe umſonſt zu baben, alle Menſchen reich, die Träume der Sozialisten, das Paradies, das Schlaraffenland verwirklicht wären.) Malthus hat ferner das von Lil aus gefprochene Gefeg der Bevölkerungskapazität nicht gelannt, wonach zunehmende Bolfsdichtigkeit und entfprechende Steigerung der Gewerbethätigfeit auch ben Ertrag ber Landwirthichaft fteigern, bis zu einer gewiſſen Grenze. Wird diefe Grenze, bie nah Klima, Bodenbefhaffenheit und BVollstüchtigkeit ver- ſchieden liegt, überfchritten, fo tritt allerdings Nahrungmittelmangel ein, wenn zugleich die Nahrungmitteleinfuhr gehindert oder erjchwert wird; auperben zieht die übermäßige Menfchenanhäufung auf Heinem Raum die befannten Ücbelftände nah fih. Es giebt alfo eine relative Uebervölferung unteren Grades, die durch technifchen Fortichritt überwunden werden kann, und eine relative Uebervölferung höheren Grades, die durch feinen technifchen Fort⸗ {chritt mehr zu überwinden ift. Diefe fündet fi ſchon dur die Unmög⸗ lichkeit an, alle Volksgenoſſen probuftiv zu befchäftigen. Daß es bei und fo weit ift, glaube id), bewiefen zu haben. (U. U. Z 8. Juli 1899, ©. 67 bi8 71; 15. Dezember 1900, ©. 446, K 315 bis 340.) Der Iettt Auffhwung war dem Bau eleftrifcher Anlagen und den lottengefegen zu verdanken. Jener kann nicht im felben Tempo weiter gehen wie bei ber erften Einführung der neuen Triebfraft und viele Flottengefege können wir nicht mehr erleben, weil die MWeltwirthichaft, wie Huber beweift (H 1583, 172, 184, 192 bis 194), zum Frieden zwingt und, wie die Haltung der Großmächte England gegenüber in den legten beiden Jahren offentundig ge macht hat, da8 Groffapital, deifen Commis die Negirungen find, feinen Krieg will. Polizei und Strafjuftiz zwingen das Elend, fich zu verfteden, und verhindern das Belanntwerden der Arbeitlofigfeit, erweifen aber dadurch der Nation einen fchlechten Dienft, indem fie deren Keitern den wirklich

Zuſtand verbergen und dadurch die rechtzeitige Beſchreitung des Auswe—

unmöglid) machen. Arbeiterſchutz und Arbeiterverfiderung find zwar no

wendig, aber ber Ausweg find jie nicht. Nachdem die internationale Arbeit

bewegung den Gefeggebern die Augen und Ohren geöffnet hatte, haben |

die Negirungen aus Furcht vor der Abnahme der Militärtüchtigkeit,

Induſtrieſtaat oder Ugrarftnat ? 383

Unternehmer aus Furt ‚vor dem Rüdgang des Konſums, die Beiftlichen aus Furt vor dem Abfall der Gläubigen zum Atheismus, die Parteihäupt- linge aus Furcht vor dem Verluſt ihrer Wähler, alle Befigenden aus Furcht vor der Verbreitung des Verbrecherthumes und der anftedenden Krankheiten zu einer Sozialgefeggebung aufgerafft. Aber alle Hugienifchen und Arbeiter- gefege zufarımen vermögen höchſtens einem Theil der Arbeiterfchaft die ge- funden Lebensbedingungen wieder zu verfchaffen, die ihre Vorfahren vor Hundert Jahren und noch mehr die vor fechshundert Jahren ohne Yürforge des Staates koſtenlos genoſſen haben. Die Reiftung der Sozialdemokratie befchräntt fi auf den Aufflärungdienft und die Organifation eines Wider⸗ Standes gegen Lohndrückerei, der die Unternehmer wenigſtens fo weit zur Ber- nunft zwingt, daß fie fich nicht durch Konfumverminderung ſelbſt erwürgen. Daß die Sozialdemokratie mehr nicht vermag, hat jeder Einfichtige aud) vor dem belgischen Mißerfolg Schon gewußt. Es giebt nur einen Weg zur Auf- hebung der Lohnſklaverei: freies Land! Wo jeder Menfch Grunbbefiger werben kaun, hat feiner nöthig, feine Arbeitkraft einem anderen zu verlaufen. Ein folder Zuftand würde nun freilih da3 Ende der Kultur fein, die ohne Sklaverei in irgend einer Form nicht beftehen kann, aber um dieſe zu mildern und erträglich zu machen, giebt e8 fein anderes Mittel als die Verminderung de8 Angebotes von Arbeitkraft entweder durch die nenmalthufifche Praris oder durch die Auswanderung in Aderbaufolonien mit wohlfeilem Boden.

8. Auch die Steigerung des Erportes ift nicht der Ausweg. wie England beweift. England ift weder durch „Fleiß und Sparſamkeit“ noch durch Freihandel reich geworden, fondern auf folgendem Wege. Es hat dur Seeraub, Sklavenhanbel und die Ausplünderung Indiens ungeheure Kapitalien aufgehäuft. Ferner hat e8 den ren unter dem Borwande der Religion ihr Eigenthum geraubt und fie zu feinen Arbeitfllaven gemacht, indem es ihnen jede Induftrie und den Heringfang an ihrer eigenen Küſte verbot. Auch die amerifanifchen Neuenglandftanten fuchte es in folche Abhängigfät von ſich zu zwingen, daß ihre Bewohner nicht einmal einen Hufnagel felbft anfertigen durften. Wer mit England Handel treiben wollte, mußte fich englifcher Schiffe bedienen. Nachdem die Bauern der Wollinduftrie wegen ihres Landes beraubt worden umd ihre Nachkommen Proletarier geworden waren, konnte fih King Cotton buch den weltgefchichtlichen Kindermord Arbeitkrafte ver- fchaffen, die beinahe foftenlo8 waren. Mit dem auf diefem Wege produzirten wohlfeilen Kattun wurde die Tertilinduftrie aller Ränder vernichtet, namentlich die fchleilfche Leinen- und die indifhe Muſſelinweberei. Damals bleichten unter dem fchönen Himmel Indiens die Gebeine verhungerter Weber. Der englifche Weber, fchrieb ber London Spectator, works so cheap, that he starves the poor Hindoo, and then starves himself. Hochſchutzzoll

384 Die Zukunft. und Erportprämien förderten die heimifche Induftrie mit Treibhaushide und halfen zufammen mit allerlei Handelspraltifen und den vorhin angegebenen Mitteln bie des Auslandes ſchwächen oder vernichten. Erft nachdem fſich England das Handels: und Induſtriemonopol gelichert zu Haben glaubte, ging es, um bie Mitte des vorigen Jahrhunderts, zum Freihandel über. Nach noch nicht fünfzig Jahren fah es fein Monopol gebrochen und fein Erport fleigt jegt fo wenig, daß er, die Vollszunahme in Anſatz gebradt, feit 1872 als ftationär bezeichnet werden kann. (W 164 bi 172). Daß vw pafjive Handelsbilanz an fid, fein Unglüd ift und unter Umpftänden bes Steigen des Nationalreihthumes anzeigen kann, iſt richtig. Aber bei eıner gewiſſen Größe der Differenz tritt die Nothwendigleit ein, zur Dedung dei Defizit das Nationalfapital anzugreifen, und auf diefem Punfte dürften dir Engländer angelangt fein. Der Ruf nad Zollſchutz ertönt immer flärter. und wenn ber eben eingeführte Kornzoll eine Heine Relognitiongebühr genannt wird, num, mit einer foldhen hat man andy 1879 in Deutfchland ange fangen. Zugleich wird die Ürbeitergefeggebung rückwärts revidirt und bie Urbeiter duden ſich furchtſam. Da ruht denn doc der Reichthum ber Wer: einigten Staaten auf fichererer Grundlage, deren Bewohner ohne Erport be baglich gelebt haben, dann reich geworden find und die jegt, ohne ed nöthig zu haben, in fo gewaltig fteigendem Maße erportiren, daß ber Ueberſchuß der Ausfuhr über die Einfuhr Schon drei Milliarden Mark beträgt.

9. Huber klagt die Agrarier an, da fie Liſt mißbrauchten. Das iſt richtig; aber er ſelbſt mißbraucht den großen deutichen Nationalöfonomen nicht minder, wenn er ihn als einfeitigen Befürworter des Induſtrialismus darftellt, und er wird dem freilich in mancher Beziehung phantaftiihen Carey nid gerecht, der in der Hauptfache, die Huber verfchweigt, nur Schüler Lifts war. Beide haben nämlich, wie eigentlih Thon Adanı Smith, das Houptgewicht auf den Nahverkehr, auf das örtliche Zufammenwirken und die innige örtliche Verflechtung von Gewerbe und Landwirthſchaft und ihre gegenfeitige Befruchtung gelegt: darauf, daß der Schmied, der den Pflug macht, Wand an Wand mit dem Bauern wohnt, der ihn gebraucht, was natürlich zu verallgemeinern ift. Dei einer ſolchen Organifation der Volkswirthſchaft ſchwindet auch der Nimbus, den die Induſtrie duch die Berechnung der ungeheuren in ihr angelegten Sapitalien und von ihr erzielten Gewinne erwirbt. Wenn bie Gewerbetreibenden und die Landwirthe unmittelbar auf dem nächſten Wochen⸗ markt mit einander verfehren, dann brauchen bie Nahrungmittel, die Gewebe, die Kleider, die Arbeitmafchinen und Werkzeuge nicht taufend Meilen weit fpaziren gefahren zu werden und ein großer Theil der Transportmittel und der für jie arbeitenden Meafchinenbauanfialten wird entwerthet. Die Ge brauchögüter haben ihren Werth an fi; den Verlehröanftalten und Maſchinen

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Snduftrieftaat oder Agrarftaat? 385

verleiht, ähnlich wie gewiſſen Induſtriepapieren, oft nur unzwedmäßige Wirth-: Schaftorganifation einen Werth, den eine Aenderung ber Organifation oder eine

Wendung der Konjunktur vernichtet. Ganz irreführend ift der Ausdrud (H 236)

r . um ww

„unabhängiger Agrarftaat, ber fich felbft genügt“. Ein folder ift gar nicht möglich, wenn unter Staat ein Kulturſtaat verftanden werden foll, und bie Antwort auf die Frage: Induftrieftaat oder Agrarftaat? Tautet: Weder der

eine nod der andere ift das Ideal, fondern ber „Agrikultur-⸗-Manufaktur⸗

Handelsſtaat“, den Liſt gefordert hat. Selbtverftändlich foll fich ein folcher auch nicht mit einer chinefifchen Mauer umgeben, fondern anf den Zollſchutz ſchon darum verzichten, weil er ihn beim Nahverkehr gar nicht braucht.

. Drei Lebensbedingungen eines ſolchen Staates werden aus befannten Gründen , von Schuäzöllnern und Freihändlern, auch von Huber, entweder überjehen

oder verfchwiegen. Soll ber internationale Güteraustaufch wirklich alle Theil- nehmer bereichern, dann muß er fich auf die Spezialitäten jedes Landes beichränfen. Daß beide Theile gewinnen, wenn die Nordländer Zropen- erzeugniffe mit Fabrifaten bezahlen, Liegt auf der Hand; dagegen verlieren beide Theile, wenn fie einander ihre Gewebe zufchieben, die jedes von ihnen daheim wohlfeiler, mit minderer Aufopferung von Menjchenglüd, heritellen fann. Auch gräbt fi der Export von Waaren, die überall oder wenigfiens in vielen anberen Ländern produzirt werden können, vielfach jelbit fein Grab. Die ſchleſiſchen Schafzüchter haben durch den für den Augenblid vortheil⸗ haften Export von Zuchtwiddern nad) Auftralien fich felbft der im Ganzen doch noch vortheilhafteren Wollproduftion beraubt und die Engländer ziehen ih durch Mafichinenausfuhr überall in der Welt Konkurrenten groß. Die zweite Lebensbedingung des jich felbft genügenden Staates ift eigentlich bie erfte: ein mit Mineralſchätzen ausgeftattetes Land von hinreichender Größe und daS wenigiten® die Zonen des Getreides, des Weines und der Südfrüchte umfaßt. Zum Genügen gehört, daß der Boden die hauptfächlichften Nahrung= mittel und alle der höheren Kultur nöthigen Rohſtoffe enthält und erzeugt und daR das Land groß genug ift, um den Bodenpreiß niedrig zu halten. Denn fobald diefer Preis Hoch fteigt, fängt die ungefunde Vertheilung der Bevölkerung an. Die drüte Bedingung ift BVolkstüchtigkeit. Rußland bat Raum und ein bis in die Zone der Südfrüchte reichendes, auch an Mineralfchägen nicht armes Land, aber ein untüchtiges Boll. England hat ein tüchtige8 Bolt und Mineralfchäte, aber ein zu Meines Land. Nord> amerila erfreut fi) aller drei Bedingungen, und weil es binlänglid Boden hat, ganz allein aus diefem Grunde, fann trog Anhäufung fabelhafter Reich⸗ thümer in den oberen Schichten auch der Arbeiter noch doppelt fo hoch gelohnt werden wie in Deutfchland. Keine Kunſt und kein technifcher Fortſchritt vermag das Webergewicht auszugleichen, das ben Nordamerilanern die Größe

386 Die Zukunft.

ihres Landes und die Mannichfaltigkeit feiner Erzeugniffe verleiht; der Sief- könig Schwab Hat deutlich darauf hingewieſen. Xeiber hat eine don umr fättlicher Habgier eingegebene falſche Wirthſchaftpolitik ſchon angefange, kunſtlich Bodenknappheit zu erzeugen. Das deutſche Voll bat Tüdhtigfer und Geift im Weberfluß, auch Deineralfchäge, aber ein zu Fleines Land. Sem Zuftand nähert fich dem des englifchen; nur befitt e8 feine überfeeiichen U: beutung- und Ausmwanderungsgebiete und geringeren Kapitalreichthum, erfrex ſich dafür aber noch einer geſünderen fozialen Struftur, namentlich eines Fräftiger Stammes von Bauern und felbftwirthfchaftenden mittleren Gutsbeſitzern

10. Bei der Veränderung der fozialen Struftur und ber Wirthſchait verfaffung der Völfer greifen zwei Prozeſſe in einander ein. Der eim ü der Wechjel von Differenzirung und Integrirung. In der ımorganilde Natur die organifche bietet für unferen Fall keine Analogie komme die Bewegung durch Ausgleich zum Stillftand, fei e8 in eimer dyemifder Berbindung oder durch Aufhebung einer eleftrifchen Spannung. Im Wirtfchet leben der menjchlichen Geſellſchaft kommt e8 nad) eingetretener Differenziram nur felten zu einer Redintegrirung und biefe pflegt fih auf fofale Borgäng. zum Beifpiel Verbindung einiger Induftrien mit einer Gutswirthfchaft, Fer einigung mehrerer Gewerbe in einer Wagenbauanftalt, zu befchränfen. Em durchgreifende Integrirung, wie fie vor zwanzig Jahren Werner Siemens als möglich in Ausficht geftellt Hat, durch Decentralificung der Induftrie me Hilfe der Elektrizität, würde das Ideal von Liſt-Carey verwirklichen, die innere Solonifation vollenden, die geographifche Abhängigkeit der Induſtrie

von den Kohlen und Erzlagern aufgeben und den in vielen Beziehungen

unerfreulichen Kohlenverbrauh vermindern. Belgien ift ein einigermaßen integrirter Staat. Völlige Integrirung, die weitere Veränderungen unndthig machte und alles Wünfchen ftillte, würde den geiftigen Tod eines Bolfes bedeuten. Dieſer könnte jedoch auch auf dem entgegengefegten, in der phyñ⸗ kaliſchen Welt nicht denkbaren Wege der Vernichtung des einen der beiben Glieder eines polaren Gegenfagpaares eintreten: gänzliche Vernichtung ber Landwirthichaft ift eben fo möglich wie der reine Ugraritaat. Im reinen Induſtrieſtaat würden die Menfchen Leiblich verfümmern und zulegt verhungern, im reinen Agrarftaat würde das geiftige Leben abfterben. Doc, ſchwankt das MWirthichaftleben immer und überall zwifchen den beiden Polen und bie Staatskunſt hat der Bewegung entgegenzuwirken, die verhängnißvoll zum. em droht; Das ift bisher immer nur die Bewegung in der Richtung zu fla' fer Difjerenzirung geweſen. So lange aber die Differenzirung befteht und f rt fchreitet, darf fi das eine Glied über dad Anfchwellen feines Gegenpc 13 nicht befchweren, denn jie find jiamelifche Zwillinge, die ohne einander n it leben können und von denen feiner wachjen kann, wenn nicht der ander in

Induſtrieſtaat oder Agrarftaat? 387

: gleihem Mafe mitwächft. Die Großftabt muß ohne das Grofgut, das Induſtrievolk ohne das Agrarvolk verhungern, der Großgrundbefiger müßte ohne eine dicht gebrängte Induftriebevölferung, die feinen Aderbau treibt, feine Aecker brach Liegen laffen. Der oftelbifche Großgrundbefig hat bis 1870 von England gelebt und lebt feitdem von Berlm. Berlin und ber induftrielle Weiten Deutfchlands eben von Dftelbien, Rordamerifa und Rußland. Es ift alfo thöricht, wenn die Agrarier und die Smduftriebevölferung einander Hafen. Urfache, mit Beiden unzufrieden zu fein, haben die Bauernknechte, die bei dem heutigen Buftande nicht Befiger, und die Handwerfögefellen, die sicht Meiſter werden Tönen. (H 270, K 465). Den anderen Prozeß bringt der ftete Vollszuwachs in Fluß, da er die Spannung zwiſchen Volkszahl und Boden erzeugt. Diefe Spannung treibt Koloniften über die Grenze. Wird die Grenze gefperrt, fo fucht die eingeengte Bevölkerung durch tech- nifchen Fortjchritt entweder den Ertrag des Aderbaues zu erhöhen oder mit Erportwaaren importirte Lebensmittel zur bezahlen ober Beides zugleich zu thun, wie e8 die legten Jahrzehnte lang im Deutſchen Reich gejchah. ‘Der vorhin als denkbar erwähnte geiftige Tod durch volllommene Integrirung würde da8 Stagmiren der Bevölferungbewegung vorausfegen. 11. Es wäre überfläflig, zu unterfuchen, ob Deutfchland auf diefem Wege, durch Verzicht aufs Kinderzeugen, zur Ruhe kommen könnte; dag deutfche Bolt will diefen Weg nicht befchreiten. Wenn nun weiterer tech nifcher Fortſchritt, weitere Intenfifilation der Landwirthſchaft ımd der In⸗ duftrie, weitere Anftrengungen zur Ausdehnung des Exporte uns nicht hin⸗ länglih Luft machen und ich bin mit Wagner der Anſicht, daß diefe Mittel bald verfagen werden —, fo bleibt nichts übrig, als wieder zum anderen Mittel zu greifen, zur Gebietserweiterung, die allein auch, durch Befchaffung wohlfeilen Kolonialbodens, die innere Kolonifation, durch Sturz des Boden: preifes, in großen Fluß bringen könnte; denn was heute mit Unjiedlungfonds von einigen hundert Deillionen geleiftet werden kann, ift ein Tropfen auf einen heißen Stein. Wie ih mir die Sache denke, habe ich oft gejagt. 12. Auf den Einwurf, daß mein Vorſchlag utopifch fei, Habe ich (N 127) und fonft geantwortet: Der fozialiftifche Zufunftftaat ift eine Utopie; die Mittel, die der Bund der Landwirthe zur Hebung der Nöthe feiner Mit⸗ glieder vorfchlägt, jind utopiſch; der thatſächlich unternommene Verſuch, die Beſitzloſen politifch frei zu machen und fie zugleich wirthichaftlich und fozial in gehorfamer Abhängigkeit zu erhalten, war eine liberale Utopie; aber Löſung einer unerträglichen Bevölferungfpannung durch Eroberungskriege zum Zwecke der Kolonifation ift fo wenig utopifch, daß fie vielmehr feit viertaufend Fahren den Hauptinhalt der Weltgefchichte bildet und daß bie wichtigften Staaten auf diejem Wege entitanden find; für Preußen ift nicht .einmal die Be—

888 Die Zuhmit.

völferungfpannung die Triebfeder zu feinen Eroberungstriegen gewefen. Die Jahre 1866 und 1870 haben die Xebensbedingungen der Völker nicht ge ändert und bedeuten nicht den Schluß der Weltgefchichte.e Sollte fich ber angedeutete Weg, obwohl er für richtig im Prinzip anerkannt wird Waguer {W 82 und 83) und Huber (H 160. 167) deuten ihn jhüdtern an als ungangbar erweifen, fo würden fehr bald die Beifimiften wie Wagner umb Didenberg gegen Optimiften wie Huber und Brentano Recht befommen.

13.. Ueber die Einzelheiten des Zolltarifes ift fein Wort zu verlieren. Ob fünf oder at Mark Kornzoll erforderlich find und im Stande fein werden, das Gut de8 Herrn von X. vor der Subhaftation zu bewahren; um wie viel ein Zoll von fünf ober ſechs Mark den Getreidepreis fteigern, um wie viel diefe Steigerung den Brotpreis erhöhen, ob dem Arbeiter dieſes und jenes Induftriezweiges die Rebensmittelvertheuerung durch Tohnerhöhung ausgeglichen werden wird; welche Lohnerhöhung diefe und jene Induſtrie zu tragen vermag; ob es dem Deutfchen Reich zum Segen gereichen wird, wenn es bie Efel zollfrei einläßt und die Ochfen audfperrt, und ob nicht die Dehfen trog ihrem bedeutenden Volumen unter dem Namen von Brautgefchenfen, die ja frei gelaffen werden follen, durch die Zollfchranfe fchlüpfen werden: das Alles kann fein Menſch im Voraus wiſſen. Die Herren von der Kommiffion mögen ſich ihrer zweitauſend Mark drei Sommer lang erfreuen: die Belt wird auch dann fo Hug wie zuvor und fein Abgeordneter durch die Gründe der Gegenpartei befehrt fein. Die Entfcheidung hängt eben nicht von national- öfonomifchen ober finanztechnifchen Gründen und Beweisführungen ab, ſondern von dem Stimmenverhältnif der Interefienten. Zeit fieht: die Zollgegner find in der Minderheit, der Tarif wird aljo angenommen. Es fragt fidh blos, ob innerhalb der Mehrheit die Ertremen oder die von der Regirung unterftügten Gemäßigten fiegen. Darüber werden Gründe entſcheiden, bie mit der Nationalökonomie nicht das Mindefte zu jchaffen haben. Das De: battiren und Berathen hat alfo höchftens den Zweck, den Mehrheitparteien zu Unterhandlungen hinter den Couliffen Zeit zu verfchaffen. Das Ber: nünftigfte wäre, gleich im Plenum über die 946 Zarifpofitionen und die dazu geftellten Anträge ohne Debatte abftimmen zu laffen, womit man im einer Woche bequem fertig werden fünnte.

Neiſſe. Karl Jentſch.

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Klingers Beethoven. 389

Rlingers Beethoven.

DS: wunſchen, lieber Harden, daß ich Ihnen über ben Beethoven Klingers ſchreiben fol. Sehr gern, weil er ja zum Schönften gehört, was ich

noch erlebt babe. Aber Sie dürfen nur nicht eine kritiſche Aeußerung von

mir erwarten. Kritik, wie man jie jegt in Deutfchland verfteht und übt,

ift gegen meine ganze Natur, die für Operationen des Verftandes nicht viel

Hat, fondern genießen wil. Wenn ich über Künftler und ihre Werfe rede oder fchreibe, fo ift mir Das nur ein Mittel, fie noch inniger zu empfinden, wie man oft auf hohen Bergen, um fi blidend, unwillkürlich in einen

- Monolog über den fchönen Ausblick geräth, weil nun einmal der Menſch,

was er denkt oder fühlt, felbft erft vecht erfährt, wenn er es mit Worten oder doch Geberden dankbar ausgefprochen bat. Wirkt aber ein Werk eines Künftler8 auf mich nicht oder wenn es ſchlecht auf mich wirkt, fo wende ich mich ab, ohne erfi zu fragen, ob es meine oder feine Schuld ift. Selbit bei Werken für die Menge, die den Geſchmack beleidigen, verföhnt e8 mic faft, daß fi) doch viele Menfchen, lachend oder weinenb, über fie freuen, die

Das fonft, als Barbaren in der Kunft, ganz entbehren müßten. Früher

habe ich mir wohl aud durch Kritiſiren Manches verdorben. Jetzt meine ich, daß es nur ein einziges Verhältnig zum Künftler giebt, das fruchtbar und rein ift: bie Bewunderung. Wen ich nicht bewundern und lieben kann, Der gehört offenbar nicht in meine Welt und fo habe ich über ihn nichts

zu fagen, weil mir das Drgan für ihm fehlt. Das mag recht unberlinifch

gedacht fein, aber Sie verzeihen mir fchon, mich Lieber an Goethe zu halten, der einmal gefchrieben Bat: „Es kann auch an meiner augenblidfichen Stimmung liegen, mir fommt aber immer vor, wenn man von Schriften wie von Handlungen nicht mit einer Tiebevollen Theiluahme, nicht mit einem gewiſſen parteiifchen Enthuſiasmus fpricht, To bleibt jo wenig daran, daR es der Rede gar nicht werth iſt. Luſt, Freude, Theilnahme an den Dingen ift das einzige Neelle, und was wieder Realität hervorbringt; alles Andere ift eitel und vereifelt nur." Und ähnlich in Dichtung und Wahrheit: „In⸗ deflen ift die ftille Fruchtbarkeit ſolcher Eindrüde ganz unfhägber, die man geniegend ohne zerfplitternbes Urtheil in fih aufnimmt Die Jugend ift diefes höchſten Glückes fähig, wenn fie nicht Keitifch fein will, fondern das Vortreffliche und Gute ohne Unterfuchung und Sonderung auf ich wirken läßt.“

Es wird Einem nun freilih manchmal recht jchwer gemacht, das „zerfplitternde Urtheil“ abzumehren. Sie können ſich gar nicht denfen, wie es um ben Beethoven zuging. Jeder wollte da zeigen, daß er es befier ver- fteht. Der Ungebildete meint ja, es ſei Etwas, Fehler zu finden. Bildung ift es jedoch vielmehr, Fehler zu begreifen, die ja doc, in der Kunft wie in

390 Die Zukunft.

der Natur, immer nur die andere Seite von Borzügen find. E3 gehört zum Weſen der Form, weil fie ja Begrenzung ift, daß fie, an bloßen Bor: ftellungen gemefjen, immer unmahr fein muß. Keine Eiche ift „die Eiche”. Sage ih: Beethoven, fo fchlägt diefes Wort taufend Vorftellungen au und der Künſtler, der eine erjcheinen läßt, bringt alle anderen gegen fich auf. Das geht ja auch jedem Maler fo, der einen Baum malt. Es iſt niemals „der Baum“ und fo muß immer wieder ein anderer Maler auf ihn folgen, der enblich einmal zeigen will, wie der Baum „eigentlich“. ausſieht. Dadurch ift die Kunſt unfterblich.

Ich kann mir aud) einen anderen Beethoven denen. Ich kann mir hundert andere benfen. Und ich kann mir jeden Beethoven in hundert Mo— menten denken. Der junge, ber alte, der Menſch, der Künftler. In aller Phafen des Schaffens: in der Erwartung der Efitafe, in ihrer Berzüdung, in der Ermattung. Wie hat Klinger ihn gefehen? der, vorfichtiger ge- fragt: Wie wirkt die Erfcheinung, die ihm Singer gegeben hat? Und aud Das kann ich eigentlich) nicht fagen, weil ich nicht weiß, was von dieſer Wirkung feiner Statue gehört und was die Werke unferer Künftler, die fie umgeben, an Wirkung etwa hinzugefügt baben*). Ich bin unfähig, fie im Geiſte auszulöfen und abzutrennen. Ich kann fie mir ohne die Bilder Klimt gar nicht denken. Da wäre fie mir wie ein aus einem Liede ge riffener Akkord, der doch, was er für mich ift, ganz erft durch die anderen wird, die ihn vorbereiten, die ihn begleiten, die ihn vollenden, ohne die ich ihn vielleicht gar nicht oder doch ganz anders verftehen würde, auf die ic ihn, nehme ich ihn felbft heraus, unwillfürlich immer wieder beziehen muß, weil ja, was wir einmal erlebt haben, in der Erinnerung nicht mehr abge- theilt, ifolirt und umgerechnet werden kann. Diefe Werke unferer Künſtler find ungleihd. Für fi würde mandes gar nichtS bedeuten, wie mande Stimme in einem Chor wirken fann, die allein ohnmächtig wäre. ber jede8 bringt feine Note hinein, die darin nothmwenbig if. Und der Xon, den Klimt ind Ganze giebt, wirkt auf mich fo ſtark, baß ich eigentlich nicht fagen kann: Beethoven Klingers, von den Wienern aufgeftellt; fondern fo- fagen muß: Das Thema vom Genius, auf feine Art von Klinger und von Klimt auf feine ausgedrüdt, zufammen fo groß, daß fie die Anderen” ge waltfam mit zu fi) hinaufgeriffen haben.

Das Thema vom Genius. Ueber der Thür könnte ſtehen: Gradus ad Parnassum; oder: Weg zur Efftafe. ch weiß nicht, ob Sie die Chrift- liche Myſtik von Görres kennen oder vielleiht einmal die Belenntniffe der Heiligen Therefa, die der Heiligen Angela von Foligno gelefen haben. Was in dieſen wunderbaren Büchern gefchildert wird: wie der Menjch, geheinmißs

*) Inder Wiener Sezeffion tft Klingers Beethoven in einem Raum aude geitellt, den Klimt und andere Maler mit ihrer Kunft geſchmückt haben.

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Klingers Beethoven, 391:

vol gelodt, durch die Welt abgefchredt, dahin gelangen fann, in feligen Stunden das Thierifche zu vergefien und im eime reinere Region zu ſchauen:

Das hat Klimt Hier gemalt. Erft find es bie leife und zart über und

binausfchwebenden Wünfche, e8 ift unfere Sehnfucht, die es fortzieht. Sie entfegt ſich, wenn jie die wirkliche Welt erblidt, die wirkliche Welt in uns felbft, unfere Begierden und Lafter und dumpfen Gewalten, das rielige Thier, an das wir gefettet find. Hier fpielt. es fich ab, ob ein Menfch im Gemeinen erftiett oder aber, durch Grauen und Abfchen emporgereizt, über das Thier hinausgefchwungen wird. Die TZüde des Thierifchen ift da mit einer furcht⸗ baren Macht dargeftellt, daß ich eS nur etwa mit dem Thor der Hölle des Robin vergleichen fann; man hat fat das Gefühl, es fei hier ein unab- änderlicher Ausdruck des Laſters gefunden, der nicht mehr überboten werden

Tönne; und was man daran die geflifjentlich primitive Technik genannt hat,

begreift fogleich, wer fich befinnt, daß es ja eben der primitive Mensch ift, der Urmenfch in jedem Menjchen, vor dem die Sehnfucht erfchridt. Nun aber zeigt die dritte Wand die Erlöfung dur die Ekſtaſe, das Schmeben in der Luft des reinen Anfchauens, den Genuß der Gnade. Der Parnaf ift erreicht, der Himmel offen, die Sonne tönt. u

Wie aber, wenn ein Menſch, der einmal in einer erhabenen Stunde ih vom Körper entrüdt und des Geiftes gewiß gefühlt hat, mun in das verworrene Clement unſeres Lebens zurüdgeworfen wird? Cr hat bie Hunmlifchen gehört und jegt ift e8 der Lärm der Leute, er hat angeichaut umd jest erlifcht ed. Muß davon nicht eine grauenvolle Spur in fein Geſicht gebrannt fein? Er hat die Verachtung des Lebens auf den Lippen: denn er weiß jet, dag e8 nur Schein ift, und er ballt zornig die Fauſt, dag er den Schein doch erleiden muß. Für ihn ift, wa wir ben Ernſt des Lebens nennen, nur noch ein die Paufe ausfüllendes Spiel, die Pauſe bis zur neuen Ekſtaſe, bis er wieder die Kraft gefammelt hat und fich wieder erheben wird. Er jigt am Rande des Lebens da, erfchöpft, um Athem zu holen, ungeduldig die Fernen ſuchend, in die er gleich wieder entfliegen wird, und wartet auf jein Zeichen. Aber dad Hinter ihm brandende Leben üngftigt ihn, daß es

in verfchlingen könnte, und in einer ungeheuren Erektion laufcht er, win

nicht überfallen zu werden. Er heißt hier Beethoven. Es könnte auch ber wilde Archilochos fein; oder Shafefpeare mag fo, als er nad) Stratford heimritt, am Wege ausgeruht haben. Es ift der Genius, der fhon einmal drüben war, aber zu uns zurüdgeftoßen worden ift.

Ich weiß natürlich gar nicht, ob ſich Das Klimt und Klinger fo ge: dacht haben. Es ift auch ganz gleih. Sch Habe nur andeuten wollen, welche Gedanken, welche Empfindungen mir ihr Werk gegeben hat.

Wien. Hermann Bahr.

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392 Die Zukunft.

Moderne: Wohlthätigfeit.

ch höre oft das Wort decadence; man operirt mit dieſem Begriff, um

ji ein air von verfeinerter Kultur zu geben, der ad)! noch jo fernen.

Ein Königreih für einen Defadenten! Nichts ald Barbaret ift zu finden.

Bon Eünftlerifch: äfthetiichen Dingen ganz zu ſchweigen; aber auch die Lebens. führung des Durdichnittsdeutfchen.... Wie harmlos verfrefien die Winter: gefelligfeit! Wie rührend unraffinirt überhaupt alle gefelligen Beranftaltungen!

Frauenfrage: ebenfalls rührend naiv. Nämlich alle glüdlichen Befiger unentwidelter oder gar unbegabter Frauen jind „dagegen“. Es giebt alfo oficı- bar viele unbegabte und noch jehr viele unentwickelte Frauen. Beiden junger Kultur. Seien wir jtolz darauf.

Einen einzigen Decadencepunft jah ich: die moderne Wohlthätigfeit.

Die großen Diners zu wohlthätigen Zweden verfühnen durch ihren Humor: und da fie viel einbringen: à la bonne heure! Man muß es nicht allzu pathe tifch nehmen. Der Effekt ift ja nützlich.

Uber die negative Seite der Mohlthätigteit! Das bimmelfchreiende Verbot der Straßen= und Hausbettelei!

Mit welchen Recht, frage ich, hält man dem Menſchen, der gern geben und helfen würde, den Anblick leidender, verzweifelnder, verhungernder Menſchen fern? Die offizielle Antwort hierauf würde etwa lauten: Dieſe milbthätigen Herrſchaften mögen doc ihre Mittel und Kräfte einem der vielen Vereine zur Berfügung ftellen. Darauf erlaube ich mir, zu erwibern, daß es eben jo niele | Arme giebt, denen der „Verein, das „Komitee“, der „Boritand“, benen überhaupt alle „Behörden“ ein unüberſteigbares Hinderniß find, wieWohlhabende, die dadurch an der Ausübung der Wohlthätigleit verhindert werden. Man bat aber, id; wiederhole es, nicht das Necht, das Helferbedürfniß diefer unzähligen Menſchen unbefriedigt zu laffen. Um fo weniger, als das durch den finnlichen Eindrud des Elends erregte Mitleid feine einzig natürliche, ja, feine moralifchere Form iit.

Wer Armenpflege und Armenhilfe in großem Stil treibt, wer für Hunderte von Kindern Wailenhäujer errichtet, Der freili kann fid) durch den Anblid der Einzelheit nicht rühren laffen. Das wäre eine überflüffige Senti- mentalität, die ihn jeinem großen ‘ziel entziehen, jeine Kraft vergeuden würde. Ich ſpreche von der privaten MWohlthätigfeit.

Die meiſten Menſchen, bejonders Frauen empfinden nod) jo initinktin,, daß der Anblick eines Werzmeifelnden fie mehr zur That, zur Hilfe reizt ſämmtliche jtatijtifchen Qabellen und Liften der Welt. Wenn man mir ı Lifte vorlegte und ich müßte mir Familie F in Berlin C zum Bewohlthät auf dem Papier auffuchen, jo wäre mir ungefähr zu Muth, als hätte mar n bier in Europa einem unbefannten Miljionar in Afrila vermählt.e Ich wi mir auf der langen Reife zu dem Ehemann ausmalen, daß er mindeftens feu

Moderne Wohlthätigfeit. 393

falte Hände und eine frähende Stimme Hat, ein ‚unerträglicher Philifter und magenkrank ijt; kurz: eine in ber Hölle geichlofiene Ehe. So giebt e8 eben auch Menjchen, denen die Armen nicht Nummern find, ſondern Perjönlichkeiten, die fie fi je nach Sympathie auswählen.

Es tommen aber noch andere, äußerliche und innerlicge Gründe hinzu. Es ift, zum Beilpiel, für eine arme Wittwe mit vier Kindern ein zweifelhaftes Glück, von irgend einer Behörde achtzehn Mark monatlich zu empfangen; denn in den meiftern Fällen ift dieſes Almoſen der Grund für fämmtliche übrigen Behörden und Vereine, ihr feinen Pfennig zu geben.

Schwerer wiegen andere Gründe. Reiche und Arme entarten, weil der Nothleidende fich nicht mehr fpontan an den Satten mit ber Bitte wenden darf, iym zu helfen. Heutzutage finden nur die Bettler mit gutem ‚warmen Paletot oder mit Federboa und Perſianermuff Eingang in die Häufer. Die laffen ſich „bei den Herrichaften“ melden. Oft find es Betrüger; und Den, der jo wenig phyſiognomiſchen Scharffinn Hat, auf fie hereinzufallen, bebaure ich nicht allzu ſehr wegen ber paar Groſchen, die feine Thorheit ihn koſtet. Vielleicht lehrt diefe Erfahrung ihn beſſer in Gefichtszügen lefen; dann war die Unterrichts— ftunde billig.

Die wirklich Bedürftigen find ja viel zu „anſtößig“, als daß ein fo talt- volles Weſen wie eine‘ berliner Portierfrau fie ins Haus hineinließe. ‘Doc wenn man den Satten ben Anblid des Hungernben entzieht, jo nimmt man ihnen das ſtärkſte Erziehungmittel, den mädtigiten Anſchauungunterricht, den das Leben bietet. Das einzige Mittel, das dem fich fonft zum monftröfen Egoijten Auswachſenden zur Einkehr zwingt. Ein Menſch, dem von Kindheit an nur gut gefleidete und gut genährte Menichen zu Gefiht kommen, Aermere jedoch nur, fofern fie ihm dienen und für jein Wohl forgen, erhält ein faljches, läppiſches, albernes Weltbild. Bei den Armen aber entfteht eine eben fo verberbliche Vor⸗ ftellung von dem Kulturmenfchen oder was für ihn das Selbe ift Reichen. Er denkt fih einen Genießenden hinter einer undurchdringlichen Dauer von Gold⸗ rollen. Bielleicht hat er noch die Ahnung, Daß auch hinter diejen Mauern einzelne warme Herzen. jchlagen; aber der Weg iſt ja verjperrt durch Bortier, Schuß: mann, Diener und Doppelthüren.

Aljo bie beiden Typen, ber Schwelgende und ber VBerhungernde, bie ein-

ander jo nothwendig brauchen, find durch die Sitte, die Ordnung von einander unerreichbar getrennt.

Man bat Inannehmlichkeiten durch Straßen- und Hausbettelei; jicher: nicht zu leugnen. it Das etwa ein Grund dagegen? Wir jollen auch Un: annehmlichkeiten Haben, wir brauchen jie wie die Baufen in der Muſik als Unter- brechungen unſeres Wohlergehens. Lind gerade diefe groben Inannehmlichkeiten brauden wir, biejen Aublid häßlicher, undifferenzirter Leiden. Ste am Aller: meilten Helfen den Menſchen entwideln und jtärten. Ohne dieſen Eindrud ver- lieren wir den großen Maßſtab und Alles in uns wirb zwergenhaft. Ein in höchſter materieller Noth befindlicher Menich, der feinen Nächjiten um eine Gabe bittet, ijt noch fein Bettler. Er kann, wenn ſeine Lage ſich beſſert, völlig ver- geffen, daß er gelegentlich gebettelt bat, behält dadurch ein kräftigeres Selbit-

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8394 Die Zufnuft.

bewußtjein und iſt weder vor fi noch vor feiner Umgebung degradirt. Cm eingetragener, regiftrirter Almojenempfänger dagegen arbeitet id annähernd is ſchwer in die Höhe wie ein „Vorbeſtrafter“.

Die Arbeiticheu wird durd; die Bettelei beftärkt, jagt man. Beitärtt nicht; wohl aber wird den Arbeiticheuen geholfen. Iſt Das nit Menſchenpflicht?

Wer von uns wäre noch nicht unter den Gebildeten (namentlich Franen charakteriſtiſchen Iypen Wrbeitjcheuer begegnet? Die mageren unter ihnen be ginnen ihren Tag mit dem Frühſtück im Bett; fie lejfen die Morgenbriefe; erme Stunde Geſichtsmaſſage; Morgentoilette; zweites Frühſtück; kurzer, langjamer Spazirgang; Bortrag im Biltorialyceum über Etwas, das man zu verftehen beftrebt ift; Lund. Und fo weiter. ‘Die Forpulenteren beginnen den Tag miz einem zwei bis drei Stunden langen Entfettungmarſch durch den Thiergarten: babei jtören fie nicht jelten eine Hzreunbin, die vormittags jehr viel zu thun Kat. Folgt eine Stunde Hüftenmafjage; Vortrag im Viktorialyceum; Lunch. Lind jo weiter. Diefe und ähnliche Typen wären rettunglos verloren, wenn fie nid betteln gehen dürften. Sie nähren ſich ihr Leben lang von der Mildthätigkeit “ihrer Freunde. Die Irgen für fie zufanmen. Jeder giebt ihnen ein Stüddgen ſeiner VBerjönlichkeit, fo daß die Aermften eben exiftiren fönnen; denn jie fint pathologifch zwar in ihrer Yerfahrenheit und inneren Haltloſigkeit, aber oft reizvoll und nit unſympathiſch, man kann fie unmöglidy umkommen laffen. Hätten fie nicht produktive oder amujante Freunde, fie würden, ob ledig, ob Familien— mäütter, in irgend einer Korın zu Grunde gehen.

Warım follen wir nun fo hart fein und die Arbeiticheuen der unterften Schicht verdammen,, da doch aud fie pathologiſch oder vielleicht nur ataviſtiſch find? Denn vor dem Sündenfall gab e8 noch nicht den Begriff bes Fleißes. Die Welt iſt aber heute dem Paradieje jo fern, daß der Faule, aljo der urſprünglich paradieſiſche Menfch, der fih nur ſonnt und wartet, big die Früchte reifen, eben jo als pathologijch betrachtet werden muß wie Einer, der nadt gehen will. Man bringt ihn in eine Maison de santè das verlorene Paradies oder, wenn der Anblick minder verlegend ijt, forgt die Menge für ihn; er wird eben Almoſenempfänger.

Unſer Leben iſt im Ganzen ſo hoffnunglos ungefährlich geworden. Der einſt ſo köſtlich kühne Begriff des Abenteuers iſt verloren gegangen oder in Verruf gekommen. Man verſichert ſein Leben, feine Brandſchäden, feine Ein— brüche (in England ſogar Zwillingsgeburten); man iſt vorſichtig bis zur Wider- lichkeit. Erhalten wir uns doch dieſe eine kleine, beſcheidene Gefahr: daß dann und wann ein „Unwürdiger“ ung anbettelt. Es iſt ſicher weniger bedauerlich. daß ein Schwindler ein Almoſen empfängt, als daß ein Würdiger vor Tauter Würde in feiner Kammer allmähli und einfam verhungert.

Sabine Lepſius.

Anzeigen. 395 . Anzeigen.

Die Kunſt unferer Zeit. Franz Hanfftaengl, Kunftverlag, München.

Unzähltge Blätter und Zeitjchriften popularifiren in Deutfchland diestunft. Ihr Charakter ift vorwiegend iluftrativ und ihr gemeinjamer Stammbaum „Die Sartenlaube". Die neuere Reproduftiontechnift bat zur leichteren Verbreitung der künſtleriſchen Werfe viel beigetragen. Unter den Blättern, die als wirkliche Annalen des modernen Kunftlebeng gelten können, find erftens folche, die mit dem mwandelnden Geſchmacke gehen und alle Erſcheinungen aufgreifen, eiıterlei, welcher Richtung fie angehören. Die Abficht dabei ift, das Publikum von Allem zu unterridten, was in den Werkſtätten, in den Ausjtellungen und im Kunft- handel vorgeht. ihre Berichteritattung Hat einen vorwiegend feuilletoniftiichen Charakter und etwas in mancher Beziehung mit den Börfenberichten und Dtode- journalen Gemeinjames. Ihre bejondere Bedeutung liegt im rafchen Umſetzen künſtleriſcher Werthe und in der Auffpeicherung ftatiftifchen Materials für den Kunfthiftorifer. „Die Kunft unjerer Zeit”, die jeit dreizehn jahren in unjerem Verlage erjcheint, repräfentirt die andere Gattung, die in vornehmer Austattung. Erzeugniffe des künſtleriſchen Schaffens wiedergiebt. An die Stelle der Slluftration tritt eine mit größter Sorgfalt ausgeführte Reproduktion, worin die Eigenart und der techniſche Charakter des Bildes voll zur Geltung kommt. Das auf photographifcher Grundlage beruhende Verfahren läßt die malerifchen Qualitäten deutlich erfennen und kann als ausreichendes Hilfsmittel für das Studium der Originale gelten. In literariſcher Hinficht folgt die Zeitfchrift dem modernen internationalen Sunjtleben und regiftrirt getreulich alle wichtigeren Ereigniſſe und Beranjtaltungen. Dennoch bemüht fich die Leitung, inınitten der Hochfluth und lleberproduftion auf künſtleriſchem Gebiete einen beitimmten Kurs einzu- halten. Ihre Tendenz ift einem Magneten vergleichbar, der immer auf einen Ausgangspunkt, in unferem Falle auf die Tradition, hinweiſt. In der Form von Eſſays oder Monographien werden die Leſer mit den typifchen Erfcheinungen auf dem Stunftgebiet, jedoch faſt ausschlieglich auf dem der Mialeres, befannt gemadt. Der Zextlaut joll dabei, wie eine ruhige Muſik, möglichjt wenig ftörend bervortreten, während der Beſchauer von Bild zu Bild weitergeht.

Münden. Franz Hanfltaengl. 5 Amiens-St. Quentin. Le Mans. Beide illuftrirt von Speyer. Karl Krabbes Verlag, Stuttgart. Preis jedes Bandes 1 Marf.

Auf vielfaches Begehren babe ich meinen früheren Schlachtdichtungen aus dem deutſch-franzöſiſchen Krieg als Schluß noch die Kämpfe der Nordarınce und bie „Sieben Tage” von Le Mans angegliedert. Unparteilich wäge ich die Leiftungen beider Heere ab. Die unglüdliche zweite Loirearmee zeigt fich in günftigerem Licht als bisher, während ich in das unbedingte Qoblied auf die franzöfifche Nord⸗ armee nicht einzujtimmen vermag. Beſonders Faidherbes hebt ſich ziemlich un— vortheilhaft, handelnd und rebend, von jeinem Gegner Soeben ab, deifen eigen- artige germaniſche Heldengeftalt mit liebevoller Sorgfalt, wenn aud nicht ohne tritiihe Einwände gegen Ueberſchätzung, gemalt iſt. Chanzys Energie und die

feines waderen Unterführers, des Seeniannes Jauréguiberrn, wird gebührend beleuchtend. Aber die deutſche Kraft tritt überwältigend hervor. Somohl bie Brandenburger bei Ye Dans ala Rheinländer und Dftpreußen im Norden Frank⸗ reichs können mit dem Ruhmeskranz zufrieden fein, den ich ihnen flechte. Auch die Tüchtigfeit anderer Stämme, die an biejen Kriegsthaten theilnahmen, wird nach Berdienft anerfannt. Stärfeverhältniffe und Perlufte find genau geprüft.

Aspern. Illuſtrirt von Thöny. Preis 5 Marf. Waterloo. Illuſtrirt von Thöny (454 Seiten). Preis 8 Marl.

Die beiden ſchwerſten Schladhtlataftrophen der napoleoniſchen Zeit habe ih in ben Kreis dichteriſch wiſſenſchaftlicher Betrachtung gezogen. Realiftif der Detailmalerei und Charafteriftit paart fi mit dem Pathos weltgefchichtlicher Tragif. Ich biete Hier das Ergebniß ernfter kritiſcher Forſchung. Jeder Diftorifer, jeder Kriegsforjcher, jeder Soldat, der kritiſche Wahrheit jucht, dürfte Hier des halb feine Rechnung finden, eben fo aber auch der Leſer, der dichterifche Anregung wünſcht. Alle Hauptperjonen diefer Schlachtendramen find genau individualiftrt. Ich fuche Napoleon fo zu jagen bei der Arbeit auf. Bon wahrhaft weltgeſchicht⸗ lien Odem ummeht, ragt dieſe Geitalt aus den Gewittern von Aspern, Yignn und Waterloo in magifcher Beleuchtung empor.

Wilmersdorf. Karl Bleibtreu. $

Veter Michel. Roman von Friedrih Huch. Alfred Janſſen, Hamburg.

Wenn man die Romane, die in den legten brei oder vier Jahren er- ihienen find, heute vornrtheillos betrachtet, jo ericheinen die beiten unter ihnen als Vorläufer und Berkünder irgend eines kommenden Wertes. Sie find alle einfeitig, ſowohl die realiftiichen wie die romantifhen und Diejenigen, melde man die piychologifchen genannt Hat, und gerade dieſe Einfeitigfeit macht fie interejlant und leſenswerth, dieſe bewußte, mehr oder minder geiftvolle Ueber- treibung nach einer Seite hin, nach einer bejtimmten neuen Seite bin, von der man jeßt mehr zu willen glaubte oder mehr wußte als früher, in der Zeit größerer Dichter. Zu einem einheitlichen, zufammenfaflenden Kunſtwerk fchien Alles zu fehlen: die Kraft, die Zeit und die Unbefangenheit. Und nun ıft diejes Kunſtwerk, deſſen Erjcheinen auch die Optimijten unter den ernfteren Kritikern in unbeftinnmte Zufunft verlegten, da, ift unter ung, und Jeder fan es befühlen und jehen, daß es wirfli und am nächſten Morgen nicht ver: ihwunden tjt, fondern an dein Plage liegt, wo er es verlieh, als er fih in tieffter Macht ſchwer und in feltjamer Erregung davon, trennte. Ich glaube nicht, daß diejes Bud, an Einem von Denen, die es in die Hand nehmen, ipurlos vorübergeht. Es redet Jeden an, obwohl es fi an Steinen wendet, ı läßt Keinen mehr los, obwohl es ihn gleihjfam nur mit bem kleinen Fin, hält, mit irgend einem einfachen Saß, mit irgend einer Unausfpredjlichkeit, 1 ausgeſprochen iſt, mit irgend einer Ueberraſchung, die fo felbftverftändlid vor fic) geht wie Alles in diefem Buche, in dem nur Selbſtverſtändliches geſchieh Wie Zufälle ftehen die Ereignifje neben einander und die Menſchen gehen din fie durch, jelbft wie Zufälle, von einander getrennt, wie eben ein Zufall vo! anderen getrennt ift, allein, mie Finder allein find unter Erwachſenen, traıı

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wie Träumer und empfindlich wie Schlafloſe, und das Leben, das Leben rinnt ihnen durd die Yinger wie Sand und wächſt wie ein Sandberg vor ihnen auf, immer höher und höher, bis fie Schließlich dahinter verloren gehen. Bon jolder Art ijt die Tragif dieſes Buches, die mir mehr zu fein fcheint als bie Tragik einer beitimmten Zeit, während das viele Komifche, von dem das Bud erfüllt ift, an der Zeit zu hängen und aus ihren Stleinheiten aufzuwachſen fcheint. Denn es ijt viel Anlaß zum Lachen und viel Grund zum Weinen und zum Nachdenken in diefem Buch, wie im Leben zu Alledem täglich Anläſſe find; nur werden fie uns durch dieſen Roman fo gebieteriich auferlegt, daß wir fie aus— nützen müffen, während fie in Leben an unjerer Trägheit oder Zerjtreutheit jo oft vorübergehen. Das Bud heißt Peter Michel. Syn feinen erſten elf Kapiteln erfahren wir die Geſchichte Peters vor jeiner Kindheit bis zu feiner Werhei- rathung. Das zmölfte und legte Kapitel zeigt und Peter zu einer Zeit, wo er von ſich jelbit, von den Peter der elf Kapitel, nur jehr wenig mehr weiß: er bat zwei Kinder und Erneftine Treuthaler ift eine brave Hausfrau. Der Sand- berg vor ihm ift ganz groß geworben, jo groß, daß er nidyt mehr darüber weg jehen kann; aber vorher, in dem größeren Theil des Buches, jchen wir diefen Zufall Peter als die Urſache von glücklichen und unglüdflicden Stunden, als eimen Anlaß zu manchen Veränderungen ſich auf dem kleinen Stüd Welt: be> megen, das er in Aufregung bringt und beihwichtigt und das auf ihn zurüd« wirkt, wie Maſſe auf Maſſe wirkt, mit feinen taufend Geſetzen und Yufällig« feiten und mit jeinen Menfchen, die alt werden und eingehen und fich beicheiden. Ind obwohl allen Geftalten diefes Buches gemeinfam ift, daß fie alt werden und eingehen und ſich bejcheiden, ift doch gar nichts Einjeitiges in dieſem Bud); im &egentheil: wollte man das Bezeichnende feiner Art in Kürze feititellen, To müßte man fich entjchließen, zu jagen, daß Alles in dieſem Bud ijt, von der Kataſtrophe bis zum Aperçu und von der breiten Komif, die abſichtlich banal und derb wirft, bis zu jenen feinften und leiſeſten Ereigniſſen, Freuden und Enttäufhungen, Entfremdungen und Harmonien, bei deren Eintreten die Sprache machtlos bleibt und der Zeiger der Worte feinen Ausichlagswinkel mehr auf: weiſt. Ich Habe nie für möglich gehalten, daß Dinge, Stimmungen, Ueber- gänge, wie diejes Buch jie in reicher Menge enthält, ausdrüdbar find, es ſei denn, daß man das jchwer ausdrüdbare Motiv zur Hauptſache madıt, eine Skizze, eine Novelle, ein Gedicht dafür jchreibt, alfo einen ganzen Apparat von Hilfs» mitteln in Bewegung jeßt, um ihm beizulommen. Davon ift aber hier gar nicht die Rede. Als ob es das Allereinfachfte wäre, jpricht diejes Buch von ganz leifen Vorgängen, Zufammenhängen und Antlängen in feinen furzen Sägen, die lauter Thatfachen zu enthalten jcheinen. Auf Allem ruht die gleiche Be- tonung; mit Redt: denn Alles ift wichtig in diefem Buch und, trotzdem Alles zufällig Icheint, voll Geſetzmäßigkeit. Eins hält dad Andere im Gleichgewicht und die Erregung jeiner bewegten Momente fcheint über dem Ganzen wirkjam zu jein, eben fo wie die Wehmuth jeiner traurigen Stellen über alle dreihundert- fünfzig Seiten fi mie Mondlicht auszugießen jcheint. Und da drängt jich denn ungeftüm die Trage nach dem Künſtler auf, nad dem Zujammenfafler und Ordner und Gejeßgeber. ich weiß nichts von ihm. Er heißt: Friedrich Hud). Weſterwede. Rainer Maria Rilke. $

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Meine Ausweifung.

EA meine perjönlichen Angelegenheiten die öffentliche Aufmerkfamnfeit in | Anfpruch zu nehmen, würde ich gern vermeiden; nicht, weil ich eine Kontroverfe darüber fcheue, fondern, weil Perfonalien von der Art der meinen immer Etwa von Dem haben, was Goethe im Auge Hatte, als er fagte: Die Geheimniffe der Lebensführung kann man nicht offenbaren. Ich weiß wicht, aber ich vermuthe, daß dies Urtheil Goethes nicht ohne Beziehung ift zu dem Verſuch Rouſſeaus, defien „Belenntniffe” von einer Nachahmung aud einen Mann abjchreden müßten, der über Rouffeaus Stil, über jeine leidenfchaftliche Wärme verfügte. Aber e3 ijt nicht meine Schuld, daR ih mit meinen Perfonalien wieder auf den Markt ftehe. Die königlich preußiſche Polizei, nicht zufrieden mit dem harten Urtheil der Gerichte über mich, hat mid 3!/, Jahre nach meiner Entlaffung aus der Strafanflalt, 7 Jahre nach meiner Verurteilung aus Berlin und deſſen Vororten ausgewieſen. Dadurch glaube ich, verpflichtet zu fein, den Rückſichten auf meine eigene Perſon gänzlich zu entfagen, nic meiner eigenen Geſchichte und meiner ſchmerzhaften Erinnerung an fie gewifjermafßen zu entäußern und dieſe Ge: ſchicht Jenen zu vermaden, die im Gewirr urtheillofer Gegenwarten bie Erbfolge der Befreiung vertreten, jener unfichtbaren Kirche, die mehr als alle pragmatifche Hiftorie da8 Bindeglied zwiſchen der Vergangenheit unfere Geſchlechtes und feiner Zukunft ift. Ich glaube, dazu verpflichtet zu fein, nicht nur im Intereſſe von Menſchen, die elender find als ich, fondern vor Allen der einzigen Inſtanz zu KXiebe, deren Stuhl und Würde bas- Keben lohnend und die Geſchichte der Menfchheit erträglic machen. Nur die Thor⸗ heit fünnte mir vorwerfen, Das ſei unbefcheiden von mir gebadht. Der Bund der menfchlichen Evolution umfaßt neben den Heroen der That und des Geijte8 auch Träger des Leides. ALS ein Opfer herrſchenden Wider: ſinns fühle ich mich berechtigt, an den Stuhl der Vernunft "und den Richter: ſpruch Derer zu appelliven, die nicht jtumpf und ftumm bleiben Tünnen, wenn fie ihr Geſchlecht und ihr Zeitalter im Dunkeln irren fehen.

Deunoch will ic) nicht das Mitleid wachrufen, fondern die Fräftigen, die rüftigen Regungen jenes Vertrauens, das, nie befriedigt von der Gegen⸗ wart, von der Zukunft Alles erwartet und felbft in den ärgften Feſſeln und mächtigſten Vorurteilen unſeres Gefchlehte3 nur verurtheilte Rudimente er: kennt, das Erbe einer Vergangenheit, die ſich nicht behaupten kann gegen dad „einzige* Gefchichtgefeß, gegen die Entwidelung. |

Bei meiner Ausweifung kommen zwei Dinge in Betracht: meine „Öffentliche“, politifche IThätigfeit und meine Kriminalität, meine beiden „Vergangenheiten.” Wie in mir, fo wird auch in Anderen wahrſcheinlich

Meine Ausiweijung. 399

ſowohl jene als diefe gemifchte Gefühle und Urtheile hervorrufen. Auf der einen Seite erkenne ich in beiden Seiten meiner Vergangenheit Irrthümer, Fehler, auf der anderen fehe ich nicht ein, wie ich, unter den Umftänden, die mic, bejtimmten, joldye Fehler vermeiden konnte, ja: vermeiden durfte.

Meine politiiche Thätigkeit hat in jedem Jahr auf anderen Grund: “Lagen geruht, aber fie ift im ihrer Richtung nie durch etwas Anderes be- ſtimmt worden als durch meine Einſicht, meine Üeberzeugung. Ich war fiebenzehn Jahre alt, al8 sich Schriftiteller wurde. Meine erite Arbeit er- fhien in der „Sozialforrefpondenz“ des Geheimrathg Böhmert in Dresden und behandelte die Frage, was für die norddeutfche Hochjeefifcherei gefchehen folle und warum durchaus Etwas gejchehen müſſe. Damals es ift bald ein Vierteljahrhundert her fehlte e3 im Uebrigen an jeder Öffentlichen Auf- merfjamfeit für diefe Frage; bald nachher wuchs diefe Aufmerkſamkeit und ich darf feitfiellen, daß meine Borfchläge fait ohne Ausnahıne durchgeführt worden iind. Ohne eine ftarke Yifchereiflotte hat bisher Tein zur See mäd)- tiges Volk eriftirt. Aber es mar nicht dieſer nationale Gejichtspunft, der mein Intereſſe feflelte, fondern der ölonomifhe. Meine Umgebung, meine Familie, meine friejifhen Stammesgenofjen wurden eben in meinen Knaben— jahren aus ihrem Beſitz, aus einer zwar mühfamen und einfachen, aber doch werthuollen Selbftändigfeit und Unabhängigkeit verdrängt. Jeder Echlot, der auf der See auftauchte, Löfchte da8 Herdfeuer unabhängiger Sfapitäne aus, die auf eigenen Seglern an der europäifchen Küſte Seefahrt trieben.

Um die felbe Zeit wirkte die wirthfchaftliche Kriſe der ftebenziger Jahre. Ich jah eben jene Flotte von Dampfern, die fo unheilvoll in das Leben der frieſiſchen Kapitäne eingegriffen hatte, jelbft zur Unthätigfeit verdammt, im Hafen liegen. Diefe beiden Erfahrungen machten mid zum „Realtionär“. Ich entichted mich gegen die induftrielle Revolution und für die dem frie- ſiſchen Stammescharakter beſonders zufagende wirthichaftliche Unabhängigfeit des Einzelnen auf Fleinerer Grundlage des Betriebed. Ein Onkel predigte mir einen friefifhen Spruch: Lieber ein Heiner Herr als ein großer Knecht. Er hatte dabei die Offiziere und Kapitäne des Norddeutichen Lloyd im Auge, zu denen fpäter mein Vater und meine Brüder übergegangen find. Diefe und andere Motive führten mich Ende der fichenziger Jahren vor meinem zwanzigſten Lebensjahr in die reaftionäre Welle, die damals lid) zu erheben anfing. Aber ich Hatte früh Laffalles Reden kennen gelernt und hatte einen Tropfen demokratiſchen Del3 in mir. Diefe Miſchung führte mich unter jene Fonfervativen, die aufs Aeußerſte ſich empören, wenn man ihr polt= tifche3 Programm mit Regirungfrönmigfeit verwechjelt, alfo zur „äußerſten“ Rechten, wo die Leute ſaßen, die fi) auch vor Bismard nicht beugten. Ich war im der Agitation erfolgreih. 1887 rief mich Stoeder nad) Berlin, um

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die Zeitung „Das Volt“ zu gründen, die ich ein Jahr lang redigirte. Mit- arbeiter war damals (mie fpäter Redakteur) Herr von Gerlach. Als bie beutfch-foziale antifemitifche Partei begründet wurde, betheiligte ich mich zu- nächſt als Salt. Später trat ich der Partei bei und eroberte mir 1893 ben heſſiſch⸗ thüringiſchen Wahlkreis Efchwege-Wigenhaufen-Schmalfalden. Im diefen Jahren entwidelte ich mich immer mehr nad) links. Sch Habe bei der Begründung der deutfch-fozialen antifemitifchen Partei mitveranlaft, daß die Aufhebung des Sozialiftengefeges im Programm gefordert wurbe, und anf meine durch Gerlach) vermittelte Bitte redete Stoeder auf dem eriten Tivolitage ber Konfervativen in Berlin gegen eine Stelle im neuen Partei- progranım, die für die Wiederherftellung des Sozialiftengefeges eintrat. Ver Sag wurde aus dem Entwurf geftrichen.

Es ift im Grunde albern, daß man ſich gegen den „Vorwurf“ ber Entwidelung in politifchen Dingen vertheidigen muß. Starrheit feiner politifchen Anjichten ift in der Regel weit eher ein Borwurf für einen Dann. L’homme brut ne change pas; der Idiot allein bleibt, wag er iſt. Die Berfjchiedenheit des Willens, der Erfahrung, des Temperamentes, der Zeit: umflände und ihrer Forderungen. erflärt, daß der Mann von vierzig Jahren ander8 urtheilen muß als der zwanzigjährige Füngling. Die Frage kann nur fein, ob ſolche Entwidelung der fortichreitenden Einjicht eines ehrlichen Mannes oder der elenden Abjicht des Strebers entfpringt.

Ende 1894 murde id) zu drei Jahren Zuchthaus verurtheilt, weil ich in einem Eheſcheidungprozeß wiſſentlich falich geihworen hatte. Die näheren Umjtände mag ich nicht erörtern; man wird vielleicht fpäter erfahren, wie wunderlich und unglaublich diefe Umftände waren, daß meine Ausfage zwar falich, aber an ihr gerade ein Theil richtig war, von dem Alle das Gegen- theil vorausgefegt hatten und heute noch glauben. Dies nebenbei. Die Aus- fage war falſch und wiſſentlich falſch.

Man Hat mir ohne jeden Beweis in den Strafnaßgründen vorgeworfen, ich hätte aus Nücdjicht auf mich felbft gehandelt. Das ift an jich ohne Sinn; ich kannte da8 Leben genau genug, um zu wiflen, daß mich auch eine fchlimmere Wahrheit als die zu befennende nicht unmöglich gemacht hätte. Außerdem lag, als ich meinen Eid leiftete, die Sache fo, das mir die Wahrheit ganz und gar feine Schande machen konnte. Dies it inzwifchen gerichtSnotorifch und aktenkundig geworden durch den zwe Prozeß gegen mich, in dem ich wegen Berleitung zum Meineid verurtheu wurde. In diefem Prozeß bin ich unfchuldig verurtheilt worden. Dein Mitangellagte erklärte, den Thatfachen gemäß, daß ich jie gewarnt Hab meinem Beifpiel zu folgen. Meine VBerurtheilung ift erfolgt auf Gm der Rechtsanſicht vom „Verſuch am untauglichen“ aljo in diefen Fr

Meine Austveifung. 401

am ohnehin entfchlofjenen „Objekt.“ Aber felbft diefer Rechtsgrundſatz wurde in meinem Fall falfch angewandt, wie leicht nachzumeifen wäre, wenn es hier nicht zu weit in juriftifche Deduktionen führte. ch lege darauf weniger Gewicht als anf den Umftand, daß ich nicht den Halunkenſtreich begangen babe, anf eine Frau einzureden, daß fie zu meinen Gunſten ſich eines Meineides fchuldig machen folle.

Zu dem falfhen Eid, den ich geleiitet habe, mar ic ohne Bedenken und ohne Erwägung entfchloffien; er war unmittelbar vom Gefühl und von dem im Gefühl murzelnden Gewiffen diktirt; geſchwankt habe ich Nicht einen Augenblid. Aber auch die vernünftige Ueberlegung würde mich nicht anders geftimmt haben, denn ich habe ſeitdem umd auch während der Gefangenfchaft feine Sekunde bereut, was ich gethan habe, fonbern ich bin heute, wie damals, far darüber, daß ih nur als volllommener Schurle ander8 handeln konnte. Ih müßte den Mann beflagen, der anders denkt. Es ift faft ein Gemein- play, daß Legalität und Moralität fehr verfchiedene Dinge und oft im Streit mit einander find. Rudolf von Ihering hat den geiftreichen Verſuch gemacht, die zerfpaltenen Gebiete der Moral auf ihre gemeinfame Wurzel, den Zweck, zurüdzuführen und das erftarrte „Recht“ damit in Fluß zu bringen. Aber was im Schriftthum jchon trivial klingt, ift praktiſch, im Leben des Bolfes, des Staates, der Menſchheit, noch faft gänzlich ohne Exiſtenz. Nur in religiöfen und politifchen Bewegungen wird jene Lehre That und Leben. Dan gefteht politifchen und religiöfen Opfern des Konfliftes zwifchen Legalität und Moralität die Ehre des Martyriums zu. Wegen des falfchen Eides, den ich geleiftet habe, nehme ich diefe Ehre in Anſpruch, und wenn man fie mir verweigert, fo genügt e8 mit, fie mir felbft zuzuerkennen.

Einfehen gelernt aber habe ich, daß es etwas Furchthares ift, wenn auch wider Wollen und Wiffen, mitfchuldig zu jein an der Trennung einer Mutter von ihren Kindern, daß diefe Mitfchuld ans Leben geht.

Während der 31/, Jahre meiner Gefangenschaft bin ich fehr demokratiſch geworden. Für Neigungen, die ohnehin in mir lagen, war der furdhtbare Zwang, in dem jich mein Leben bewegte, Treibhausluft. Ich habe mid, wie bezeugt und aftenfundig ift, mit der äußerften Entfchlofienheit dem Zwange unterworfen durchaus nicht mit Schlaffheit —, aber das Nachdenken und das Gefühl floffen in einander, um mein Wefen zur Empörung gegen Zwang und Schablone aufzureizen. Die Wirkungen der Einfamleit find liner- fahrenen nicht zu fhildern. Im mir haben fie zwei Weltanfichten zur Reife gebracht: die demokratifche und die fünftlerifche. Die Wirkung diefer Wirkung war, daß ich an fozialdemofratifchen Blättern als Mitarbeiter thätig wurde und daß ich einen Band Gedichte herausgab. Menſchen der verfchiedenften Klaffen find mir mit der äußerſten Artigleit begegnet; eine capitis diminutio

402 Die Zukunft.

abzulehnen, Habe ic) nur felten nöthig gehabt, obwohl ich mit offener Karte fpielte. Aber auch in allen Parteien, vor Allem in einem Theil der fozial- bemofratifchen, ijt mir die offene Ablehnung begegnet, die mir lieber iſt als die "Forderung einer Degradation.

Eines Tages veröffentlichte ih in der „Welt am Montag” einen Aufjag Über „SKriegervereine“. Weil ich nicht läppifch genug war, den Vor— behalt zu machen, daß e8 in den Sriegervereinen jehr viele reſpektable Leute giebt, Hagten einige Generale, Beamte und Private gegen mid) wegen Be feidigung. Die Straflammer ſprach mid; frei, das Heidjsgericht hob das Urtheil auf und ich werde mich noch einmal vor.der Straflammer zu ver- antworten haben. Der Prozeß hatte die Folge, daß meine Strafalten an den Amtövorfteher von Wilmersdorf geſchickt und id nachdem ich in berliner Bororten mehr als zwei Jahre gewohnt hatte auf Grund eines Gefeges vom Jahr 1842 aus Berlin und Vororten Ausgewiefen wurde. Nach diefem Geſetz find mit Zuchthaus beitrafte Leute ganz dem Ermeſſen der Polizei preisgegeben, während Perfonen, die mit Gefängniß beftraft jind, der Aus: weifung verfallen können, wenn fie „der Sicherheit und der Moralität“ ge- fährlich fcheinen. Die berliner Bolizei Hat benn auch wegen politifcher Vor- ſtrafen Menſchen ausgewieſen. Als mir der Ausweifungbefehlvorgelegt wurde, [a3 ih in der Alte: „Schreibt für fozialdemofratifche und andere Blätter.” Das Oberverwaltungsgericht hat die Verfügung beftätigt. Das alte Gefeg beiteht ja zu Recht, wie fo viele vormärzliche Gefege, wie nach der Meinung eines Juriſten in Südhannover das zweihundertjährige „Geſetz“, das dem Bauern verbietet, ohne Erlaubniß der Regirung auf feinem Hof einen Baum zu fällen.

Aus zwei Gründen bin ich der Meinung, daß die hier gefchilderten Vorgänge jeden Mann von Kopf und Herz angehen. Zunächſt wegen bes Konfliktes zwifchen gefeglicher und jittlicher Forderung. Frankreich und andere Kulturftaaten fennen Eide folder Art nicht; und fein Staat follte fie kennen.

"Für die fittlihe Qualität eines Menfchen ift fein Verhalten zum Strafgefez

manchmal bedeutunglos, manchmal aber fogar in ganz anderer Richtung bedeutfam, als das Vorurtheil annimmt. Schiller hat, al8 er der Schau: bühne moralifche Aufgaben zufchrieb, Eins vor Allem von ihr erwartet: daß fie eine menfchlichere Anjiht vom Verbrechen verbreiten werde. Ihn trieb zu diefer jugendlich enthufiaftifchen Regung die von Rouffeau entlehnte Ein- ficht, daR der von großen Motiven zum Berbrechen Gedrängte der geborene tragiiche Held fei. Das Publikum, dad Karl Moor beffatiht, ſpürt nicht die Obrfeigen, die c3 felbft in den Stüd empfängt.

Daß man aber der Polizei eines Kulturſtaates im zwanzigiten Jahre hundert, hundertundfünfzig Jahre nach Beccarta und den Friminalpolitiichen Literatoren de3 achtzehnten Säkulums, erit noch fagen muß, ihre Auflicht

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Onze dappern burzrers. 403

und ihre Ausweifungen feien nur geeignet, Verbrecher zu züchten: Das iſt beihämend. Sch ertrage mein Geihid ja am Ende. Aber ich erinnere mid) eines armen Meenfchen, der nach feiner Entlafjung aus der Strafanftalt voll Angft an den Paſtor fhrieb: „Helfen Sie! Die Polizei zwingt mich, zu ftehlen.* Er war aus vielen Städten verjagt worden. Der Minifter hatte ein Ein- fehen, al8 die Strafanftaltbehörde den Brief einfchidte. Diefes Beiſpiel ift nicht vereinzelt. Und wenn die Unbill, die ich leide, folchen Verfolgungen der Elendeſten ein Ende madt, dann will ich ein Feſt feiern.

Sollte es nicht Menfchen in Preußen geben, denen die gegen mich veranftaltete Jagd fo unjanft die Ruhe ftört, daf fie dafür forgen, die Polizei gefege der abfolutiftifchen Zeit aus dem „Recht“ eines Staates zu tilgen, der Human und civififirt genannt werden will? Hans Leuß.

Onze dappern burgers.

Eins mans red iſt eine halb red; man fol die teyl verhören bed.

2% der „Zukunft“ Hat der Lieutenant a. D. Gentz, der jebt in Deutſch-Süd⸗ weitafrifa weilt, ba8 Verhalten der dappern burgers einer Kritik unter: worfen, die fich vernichtender anhört als alle engliſchen Lydditbomben, Shrapnels und Lee Medford-Geichoffe zufammen. Ich würde dem Herrn brieflich meine abweichende Meinung auseinanderjegen, wenn ich die Gewißheit hätte, daß der Brief überhaupt in feine Hände käme. Aber der englifche Cenſor in Port» Nolloth und die Buren um Port-Nolloth herum Haben aud noch ein Wörtchen mitzureden. Ich wähle unter diejen Umftänden den fürzejten Weg, um an die Deffentlichleit zu treten, indem ich mir dad Wort von dem Herausgeber der „Zukunft“ erbitte. Auch meine Rede ift nur eine halbe, macht feinen Anſpruch auf Unfehlbarkeit, aber fie fann doch vielleicht ergänzen.

Zunächſt einige Einzelheiten. Bei Elandslaagte haben nicht 85 Deutſche mitgekämpft, ſondern 50, vielleicht 562, Auch Haben niemals 6000 Deutiche, von denen 1500 erjt herbeigeeilt famen, um mitzuftreiten, in der Burenarnee gefochten, wie Gent nad) „offiziellen Liſten“ angiebt. Die Zahl tft viel zu hoch. Reitz, den ich, wie Jeder, der dieſen Dann auch nur flüchtig gejehen bat, hoch ſchätze, tft nicht „der ärmfte Beamte Transvaals“, fondern er ift der beftbezahlte nad Leyds. Das vereinigte Nusländercorps unter Billebois-Mareuil, von dem Sent jpricht, tit num ein frommer Wunſch gewejen und geblieben. Andere Kleinig- feiten übergehe ich, um nit Raum zu verjchwenden.

Meine äußeren Schidfale find ähnlich wie die von Gent. Ach Babe nad) Ausbrud des Krieges eine mwohlbezahlte Oberlehreritelle hier in Deutjchland aufgegeben, bin auf eigene Koften nah Südafrika hinübergegangen, habe auf eigene Koſten mitgefochten und bin nad) zweimaliger Typhuserfranfung hierher zjurüdgefehrt, ohne je einen Pfennig banren Geldes erhalten zu haben. Irgend

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einen äußeren Grund, Gutes über bie Buren zu reden und nad der heutzutage beliebten Melodie Alles zum Beten zu kehren, habe ich alfo nicht. Enttäujchungen: Babe ich auch erlebt, wie Geng. Dennoch kann ih im Großen und Ganzen nicht die jelben Schlüffe daraus ziehen wie er.

Er jeßt den Ausdrud „ſtammverwandte Brüder” in Anführungitridhe und feßt in eine Anmerkung darımter mehrere unter den Buren vorkommende franzöfifhe Familiennamen, um feine gelinden Zweifel an der Stammesver: wandtfchaft auszubrüden. Nun: man nehme nur die Rang: und Quartierlifte unferer Armee zur Hand und man wird auch eine Menge franzöfifcher Familien⸗ namen finden. Kein Wunder. Adelige Hugenotten, wahrhaftig nicht die ſchlechteſten &lieder des franzöfiichen Volkes, find Hüben in Deutichland, drüben in Afrika zu gleicher Zeit Bringer und Träger einer höheren Kultur geworden, weil der bigotte Ludwig XIV. fie aus ihrem Vaterlande trieb. Durch die Beimifchung dieſes edeljten franzöfifhen Blutes find wir fo wenig wie bie Buren fchlechtere Deutiche geworden. Und feit ich die Buren von Angeficht zu Angeficht geſehen Habe, bin ich, mehr ala durch gelehrte Beweiſe, überzeugt, daß e3 wirklich ftammıver- wandte Bauern find, die mit dem internationalen Kapitalismus und dem britifchen Imperialismus um die Herrihaft in Südafrika ringen. Als ich vor zwei Jahre: in Komatipoort die erjten Buren kennen lernte, breitichulterig, mit gleichgiltigen Mienen, langfam in ihren Bervegungen, ungelent in ihrer Sprache, kannte id nur erſt Lagarde und noch nicht Gobineau. Aber auch jo wurde ich der Gemwih- Beit froh, daß in Sübafrifa Verwandte wohnen. Weldem Sohn nieberbeuticher Erde könnten Worte fremd vorlommen wie: Daar is lecker waater! Ons zal vecht tot die laatste man! Ons nioet tegen die engelsche treck! Ons kan wacht! Wenn wir 5i8 dahin um ber Abenteuer und Gefahren willen fämpfen wollten: von dieſem Augenblid an lebte in unferen Herzen ein anderes Gefühl. Wir mußten, daß wir für die deutfhe Sprache, für deutfche Yrauep und für deutiche Sinder das Gewehr in die Hand nahmen. Ueber diefe „‚alldentiche‘ Schwärmerei kann Jeder lächeln oder lachen, jo viel er Luftig ift. Mir ſchmeckt fie recht Bitter, jeit „Itammverwandte”' Yrauen und Kinder ungeräct in den Konzentrationlagern verfchmachten. Ich fühle mich bem ſüdafrikaniſchen Baner«- mann eher im Wejen gleich, troß all feinen Unvolllommenheiten, als dem engli- ſchen Gentleman im Sportanzug oder den jüdiſch⸗deutſch-⸗engliſchen Ariſtokraten wie Beit, Wernher, Philipps und Konſorten.

Recht unbrüberlid haben nach Gent Meinung die Buren gehandelt, da fie zunächſt Freiwilligen, insbejondere Offizieren, „entiprechende Stellungen” verjprachen und fie nachher „unmwürdig“ und „nur mit Spott und Beratung“ behandelten. Welche Beweiſe hat er für den erſten Theil feiner Behauptungen, nämlid dafür, dat die Buren Freiwillige angelodt haben? Mich Hat Niemand angelodt, eher abgejchredt. Mir hat Leyds auf meine Anfrage im Oftober 1 jofort zurüdgeichrieben, daß die Südafrikaniſche Republik (Transvaal) 8 willige nur einjtelle, wenn fie auf eigene Koſten binüberführen. Irgend Bezahlung, irgend eine entſprechende Stellung oder Dergleichen hat er mir ... in Ausficht geftellt. Leyds Hat ganz ehrlich und unummwunden geantwortet, ı mir allein, ſondern auch anderen meiner Feldzugsbekannten. Nicht einen einzi Transvaalfahrer ferne ich, dem ein berufener Burenvertreter in Europa Sol!

Onze dappern burgers. 405

Berge oder Chrenftellen verjproden hätte. Erſt möchte ich daher genügende Beweife jehen. Um Ausländer anzuloden, haben nad) Gens Anficht die Buren das Bürgerrecht freigebig verliehen. Das ift gar nichts Befonderes. Auch bei anderen Gelegenheiten Haben die Buren Allen, die mit ihnen zu Felde lagen, das Bürger- recht gegeben, jo im Malobochkriege. Als Leimruthe für Gimpel haben die Buren das vielumjtrittene Bürgerrecht nie‘ angefehen. Obgleich fie alfo Keinen angelodt und Seinem Etwas verſprochen haben, jind doch Hunderte von beutichen Männern und Jünglingen binübergegangen, um für freiheit und Recht mtt- zufechten und nebenbei etwas Neues zu fehen und zu hören. Kein Menſch wird

es deutſchen und anderen Offizieren verdenken, wenn jie in der Front der Buren:

armee ihren Fähigkeiten entjprechende Verwendung und Gelegenheit, ihre Kriegs- wiflenfchaft zu bethätigen, juchten. In diefer Hoffnung bat ſich Mander recht bitter getäufcht. Ach ſelbſt konnte ſolche Hoffnung nicht Hegen; denn ich habe von meinem milttäriichen Können, das Über das eines jogenannten Sommer- lieutenants nicht hinausgeht, feine übertriebene Vorftellung., Trotzdem oder gerade deshalb kann ich Gent und anderen früheren aktiven Offizieren, die mehr militärifche Fähigkeiten und Kenntniſſe haben als ich, ihre bittere Stimmung nachfühlen. Sie hatten ein gutes Necht, ärgerlich zu fein.

Aber ein unbefangener Lejer wird, glaube ich, aus den Ausführungen Gentzs kaum berauslefen, weshalb man die europäiichen Offiziere nicht auch bei den Buren als Offiziere anftellte. Die Hauptſache erwähnt er nicht. Weber Leyds noch Ohm Paul oder Steijn, weder Joubert noch Dewet konnten einen Burentommandanten ernennen; denn gejeglich ſtand ja den Bürgern eines Kommandos die Wahl ihrer Borgejegten frei. Einem ihnen vorgefegten, nicht gewählten Führer hätten die Bürger überhaupt nicht gehorcht. Zur Artillerie, die bezahlt und nad) europäifhem Vorbilde organifirt war, Tonnte Stein wohl diejen oder jenen europätfchen Offizier fchiden. Weiter aber reichte auch feine Amtsgewalt nicht.

Im Berlauf des Krieges wußten übrigens doch manche Deutſche ihre Perſon zur Geltung zu bringen. Eben der von Gent erwähnte Oberft von Braun, der zunächft als gewöhnlicher Freiwilliger Kriegsdienſte that, bat an den ver: trauteften Berhandlungen bes Kriegsrathes vor Ladyſmith theilgenommen. Andere Deutfche Haben als Kommandanten von Ausländercorpe und als Xrtillerie- offiziere von fi reden gemacht oder find jonft mehrfach hervorgetreten. Kom⸗ mandant Banfes, der außer Deutfchen Buren unter ſich hatte, hatte ficher mehr Einfluß als ein Dichichnittsfommandant bei den Buren. Andere, zumal jüngere Dffiztere, die in beitem Anſehen bei ihren Kameraden ftanden, haben leider weniger Gelegenheit gehabt, ſich ald Führer zu zeigen. Bauernftolz, berechtigter und unberechtigter, den der Bauer Südafrilas mit den Bauern der ganzen Welt gemein bat, war zum guten Theile mit Schuld. Aber andere Umſtände, die Gentz nicht genügend hervorhebt, möchte ich für eben jo wichtig oder noch wichtiger halten. Erſtens mußte ſich doch jeder Europäer erft auf den Ebenen und zwiſchen den Kopjes zurechtfinden, fi in die Anfchauungen ber Afrikaner hineindenten, ihre Sprache und ihren Umgangston beherrſchen lernen, ehe er als Führer her: vortreten konnte. Alles Lernen aber Eoftet Zeit. Ungünſtiger noch wirkte ein zweiter Umitand. Es muß gerade den beiten Offizieren übel zu Muth geworden

406 | Die Zuhmft.

fein, wenn fie fi) die Leute anfahen, die ji wie fünftige Beherticher des Ver— einigten Südafrilas vorlamen und Dem gemäß gebahrten. Wie umagbar lächerlich machte ji) da eine Geſtalt, die in der bunteſten Uniform einherjtolzirte, jo daß gutgläubige Menſchen auf den Gedanken fommen fonnten, da3 Deutſche Meich, Habe diefen Pfau als Militär-Attach6 binübergefhicdt! Natürlich hatte diejer Held, der wohl faum mal eine Kugel pfeifen hörte, in Deutichland nie- mal3 die Epauletten getragen. Solde Leute machten ſich nicht nur lächerlich, jonbern erregten Argmohn. Manche Transvaalfahrer traten jo merkwürdig auf, daß fie fchon ihren Mitreifenden wie „Spione“ vorlamen. Jeder von uns bat wohl minbeftend ein paar ſolche merkwürdige Menjchen kennen gelernt. Kann man den Buren verdenfen, wenn fie folche ‚Leute beobachteten? Und ift e3 verwunberlid, wenn fie gegen diejen oder jenen Fremdling mißtrauiſch waren? Gewiß konnte Gent mwüthend werben, als er erfuhr, daß ihn ei Detektiv eine Zeit lang beobachtet hatte. Aber er wird felbft zugeftehen, daß e3 unter den Ausländern allerlei recht verdächtige Menſchen gab. Wer lehrte die Buren aber da3 Echte vom Falſchen ſcheiden? Außerlich Fonnte man Geichäfts- menfchen und Maulhelden ımd Kampfmenſchen und Betrüger nit von einander unterjcheiden. Nach dem Gefecht wußten aber die Männer, die die Pferde im der Dedung gehalten hatten, oft die beften Generalibeen und Spezialibeen an- zugeben. Und diefe guten Rathſchläge waren mandmal gar nit billig. Das Rechnungbuch des Transvaal-Hotels in Pretoria weiß zu erzählen, wie einige Leute auch im unbelannte Lande zu leben wußten, auf Koften Anderer. Wer einmal bei Schiel nachgelefen hat, wie er die Ausländer mit wenigen Aus— nahmen jchildert, Der wird ganz verftändlicd finden, dad die Buren zu Anfang wenigjtens dem Fremden mißtrauiſch gegenüberftanden.

Leider fehlte es ja auch nicht an harmlofen und ernfthaften Zwiſchenfällen, die immer wieder zu allerlei Streit und Zank zwifchen Ausländern und Buren Anlaß gaben. Da ſchießt ein Deutfcher einen Springbod, der von einem ;Jarmer unter Beter und Mordio als Eigenthum zurücgefordert wird, alldieweil bejagter Springbod ein ganz gewöhnlicher Haus: und Stallziegenbod war. Oder ein Deuticher tränkt jein Roß an einer Wafferftelle, die für bie Trinkbedürfniſſe der Menjchen beſtimmt iſt; ober ein anderer wäſcht feine Kleider da, wo bie Pferde getränkt werden follen. Und nicht nur Über die Xagerorbnung war man verjchiedener Anficht. Niemals bin ich Elar darüber geworden, warum die Buren gern „Heil Dir im Siegerfranz!” hörten, höchſt ungern aber „Deutſchland, Deutichland über Alles.” Mean follte doch meinen, daß fie als echte Republi— faner nicht unjerer Kaiſerhymne den Vorrang geben müßten. Und body war es jo. Und welch ein Unterjchied der Lebensauffaffung Llaffte auf, wenn bier die Buppfalınen zum Himmel um Gnade flehten, während fünfzig Schritte davon ftürmifch herausfordernd und wild die Marfeillaife erflang! Daß Buren gern die „Wacht am Rhein‘ hörten oder mitjangen, habe ich oft erlebt; dag mir ihren Pſalmen gleihe Aufmerkjamfeit erwiejen hätten, wird Keiner von uns Deutſchen behaupten. Wie vorfihtig muß man anderen Menjchen gegenüber jein, wenn man die Anfchauungen, die ihnen heilig find, nicht verlegen will! Sch ſehe noch Heute das Geſicht des ehrlichen Staatsjefretär Reitz vor mir, wie es zornig erröthete, als ein früherer deutfcher Offizier entrüftet die Zu-

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Onze Jdappern burgers. 407

muthung von fid) wies, ein Gewehr in die Hand zu nehmen. Ich wollte meinen Landsmann daran erinnern, daß ja aud Scharnhorft bei Auerftädt zum Gewehr gegriffen hat, behielt aber wohlweislich diefe Bemerkung für mich. Heute weiß Jener eine Schußwaffe ficher bejjer zu werthen als früher. Vielleicht denkt er auch. daran, daß Demet und Steijn fich nicht für zu hoch hielten, felbit das Gewehr in die Hand zu nehmen. Verfchiedene Kulturftufen bedingen eben ver- jchiedene Lebensaufjafjungen. Doch Das nebenbei. Der nädjte Krieg wird auch unfere Kavallerie, die ihre blanke Waffe für ritterlicher Hält als die Schußwaffe der Infanterie, ficher recht häufig als berittene Jufanterie erjcheinen laffen.

| Nicht glüdlich verfährt Gent, wenn er Bur und Holländer in eine Gleichung jeßt. Der Bur jelbft konnte recht aufgebracht werben, wenn man ihn für einen Holländer hielt. Er fühlte fich ald ganz anderen Menſchen. Genb kann daher da3 von ihm angezogene thörichte Urtheil eines holländiſchen Arztes nicht als für die Buren Tennzeichnend anführen. Auch die Zeitungjchreiber der Volksstem waren feine Buren, ſondern Holländer. Es ift ja einfad wahr, daß der Bericht de genannten Blattes über die Niederlage bei Elandölaagte die frivole Sage aufkommen ließ, die Deutſchen hätten dieſe Schlappe verſchuldet. Eine fpäter vom Dr. Vallentin eingefandte Berichtigung ift faum beachtet worden. Aber eben fo frivol ift die Sage, die Buren hätten die Deutjchen „ſchmählich im Stich gelaſſen“. Gentz hat dieſe Sage nicht erfunden, aber er mußte ſie unterſuchen, ehe er fie weitergab. Der Gedanke, noch einmal eine Darſtellung der Schlacht zu geben, widert mich an. Ich weile nur darauf Bin, daß die Buren in jener Schlacht recht Harte Verlufte gehabt haben, eben jo wie die Deutichel. Beide haben tapfer und unglüdlich gefämpft, aber nicht wie Berräther.

Irrig ift auch, was Gens über die Ausplünderung der Leiche des Herrn von Brüſewitz, der und bejonders heilig ift, ‚berichtet. Thatſächlich Hat ein Bur die Leiche geplündert, tft aber nachher geziwungen worden, die Werthſachen wieder herauszugeben. Solche vereinzelte Fälle von Diebftahl und Leichenraub werden von der Mehrheit der Buren genau fo bes und verurtheilt wie in jeder anftändigen Geſellſchaft. Aus Gentzens Sägen könnten unfritifche oder überfritifche Leer herauslejen, die Buren hätten im Allgemeinen beutide und engliiche Gefallene ausgeplündert, und nur ihre eigenen Toten nit. Dem gegenüber bemerfe ich, daß ich auf den Photographien des Zeichenfeldes auf dem Spionskop nicht die Beichen an ben Toten entbeden Tann, die nad der Anficht meines Vorredners Zeugniß von allgemeiner Leichenräuberei ablegen jollen. Dergleichen ift mir auch undenkbar, wenn ich aus den Berichten von Waffenbrüdern, die am Spionsfop mitgefochten haben, und aus meinen eigenen Erfahrungen einen Schluß ziehen darf. Ich Habe auf den Gefechtsfeldern des Kaplandes und im Freiſtaat, wo ih mitgefochten habe, jtet3 nur beobachtet, daß die Buren vor unjeren Toten die jelbe Ehrfurcht hatten wie vor ihren.

Gentz erging es nach der Einnahme von PBretoria ſchlecht. Er wurde ins Gefängniß gefperrt, wo er von Gefängnißwärtern, die aus transvaaliichen in engliſchen Dienit getreten waren, jchlecdt behandelt wurde. Bei einer Gelegen- heit denungzirte ihn jogar ein mitgefangener junger Bur. Ja, es iſt eine traurige nadte Wahrheit, daß es unter den Buren Berräther gegeben bat. Die aber haben nicht nur Deutjche, fondern auch Buren verrathen. Ich kann hinzufügen,

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408 Die Zukunft.

daß nad) der Einnahme von Johannesburg auch Deutfche in den Verdacht kamen, ben Engländern als Spione zu dienen. Nun: diefe Berräther werben nicht nur Buren, fondern auch Deutſche verrathen haben.

Dann erzählt Gent, die Buren hätten das deutſche Corps unter Rund ſchlecht beritten gemadt, jo daß es unfreiwillig während bes Rückzuges durch den Tyreiltaat zurüdbleiben und jo beftändig bie Mrrieregarde der flüchtenden Buren bilden mußte. Als Rund das Kommando von Brall, unter dem ich gedient habe, übernahm, lag ich ſchon im Hofpital. Uber die Berficherung Zaun ich geben, daß Runcks Corps nicht etwa ſchlecht beritten gemacht wurde, weil es nur aus Deutichen beitand. Als ich ſelbſt mit vier oder fünf Fahrtgenoſſen Pferde ausfuchte, wurden uns dreißig vorgeführt, unter benen wir bie Wahl Batten. Mit der Hilfe eines pferdefundigen Buren gelangte ich zu einem tadel⸗ Iofen Thiere, das mir vorzügliche Dienfte geleiftet bat. Des tapferen Runde Ruhm ift nicht etwa durch ſchlechte Beichaffenheit feiner Pferde bedingt. Er wird nidyt behaupten, daß die Buren ihm abfichtlich ſchlechte Pferbe geliefert Haben.

Nur augenblidliche Berbitterung kann Gent die Behauptung ausfprechen Iafien, daß die Buren „bie Opfer an Leben und Freiheit, bie fo viele Männer ihnen brachten, bier in Afrika nur mit Spott und Beratung belohnt haben.” Das Verhalten des deutſchen Corps in den caplänbiichen Gefechten (Januar und Februar 1900) wurde wiederholt in den Depeichen ehrenb hervorgehoben. General Grobeler hat öfter als einmal uns feine Anerkennung ausgeſprochen. Aehnliches berichten Seiner und Schiel. Insbeſondere babe ich häufig erlebt, daß die Buren uns ihrer Theilnahme für die gefallenen dappern duitsen broers verfiherten. Noch im Hofpital wurde ich immer wieber nad dem Grafen Zeppelin, Schmitz-Dumont und Brüjewig gefragt. Hat Gen einmal bie Buren über den Major von Dalwig „nur mit Spott und Beradtung“ ſprechen hören? Haben nicht die Burenlommanbos jeden ehrlichen Deutichen, der in ihrem Verbande focht, kameradſchaftlich behandelt? Schade, daß wir uns nicht früh genug entſchließen konnten, uns einfach unter fie zu milden. Durch unjere Ubjonderung in gyremdenabtheilungen erregten wir leicht den Verdacht, daß wir uns doch für etwas Beſſeres hielten.

ch begreife, daß Gent als früherer Offizier die Zuftände in ber Yurem arınee „unglaublich“ findet; er legt eben den Maßſtab europäticher Berhältnifie an fie. Diejes Verfahren ift aber nicht geredt. Man Tann nit die großen und die Kleinen „Klumpen Menſchen“ mit unferen Bataillonen, die ungedienten ſechzehnjährigen und jechzigjährigen „Bürger“ mit unferen Solbaten vergleichen, ihre gewählten Kommandanten und Generale, die nie ein Compagniekloppen oder Liebesmahl gejehen, geichweige denn mitgemacht haben, mit unjeren Offi⸗ zieren. Die Nachwelt wird es einfach unglaublich finden, daß trogdem das ur geſchulte Bauernaufgebot einer überlegenen europäifchen Armee fi durcha! gewachſen zeigte. Wenn die Kriegführung große Mängel hatte, wenn nicht allı Stämpfer Triegerifchen Geift bewieſen, jo darf man diefe Erſcheinungen nicht ein fach mit „Feigheit“ oder „Häglichem Benehmen“ erklären. Man ftelle bie Bauern ichaft irgend eines unferer Dörfer vor eine Aufgabe, wie fie der Sturm aul den Spionskop war, und man wird Etwas erleben, dad nur Der unglaubli finden fann, der in der Völferpiuchologie und in der Kriegsgejchichte nicht b

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richtigen Seiten gelejen bat. Ich denke als guter Deutſcher viel zu hoch von unferer auf Jahrhunderte langer Ueberlieferung beruhenden Heeresorgantjation und «Disziplin, als daß ich fie bei Bauern ſuchen Tonnte, die weber einen Alten Fritz noch einen Blücher ober Moltle gehabt Haben.

Trotz Alledem haben unjere fübafritanifchen Brüder recht tüchtige Tetftungen

aufzumeifen, zum Beijpiel gerade ben Sturm auf ben Spionskop. Gent feldft läßt den Lejer fühlen, wie ſchwer e8 für die „ſehr dünne Burenlinie” war, ben über⸗ mächtigen Feind vom Berg hinunterzuwerfen. Troß ben Mangel an Zuſammen⸗ bang fanden fi) fo viele einzelne brave Menſchen, daß fie den Engländern bis auf nahe und nächfte Entfernungen fich entgegenwerfen und fie, unterftüigt durch bie vorzäglide Artillerie, niederfämpfen konnten. Die Urtillerie und die Poltzei- truppen der Buren Balten ficher einen Vergleich mir jeder organifirten euro- päilhen Truppe aus. Die aufgebotenen Kommandos haben zum Theil wenig, zum anderen über Erwarten viel geleitet, im Durchichnitt mehr, als man von unbisziplinirten Truppen verlangen kann. Wie jollte man fi auch ben zähen Widerjtand ber legten Burenhäuflein erklären, wenn man fie, wie Gent, aus feigen, kläglichen Gefellen beftehen läßt? Ich will ganz aufrichtig geitehen, melde beiden Fragen mich beivegten, als ich die Küfte Südafrikas betrat. Die eine lautete: Befteht wirflich eine Armee „meift aus indolenten Menſchen“, wie ber große Friedrich gefagt Hat? Und die zweite: Wird biejes Volk, das ein Jahrhundert hindurch umhergehetzt ift in ber Wildniß, das ohne Paftor und Gefebgeber unb Lehrer zwiſchen Wilden vereinzelt umberfigt, nicht jelbft verwilbert fein? Und ich fand ein Volk, big zur Weichheit friebfertig, an dem alle Tyriebensfreunde und -Fyreundinnen ihre Freude hätten, das ben Krieg als Sünde verabſcheut, und doch jeine Freiheit liebt. Und unter den Bauerfitteln entdeckte ich nicht nur indolente Menſchen, fondern Heldennaturen, die auch dem Baghaften ihren Yeuergeift einbauen. Das kam mix nicht felbftverftändlich vor, jonbern gab mir Räthſel auf, die mir nod fein Bud, das ich las, gelöft bat. Eins mur weiß ich: daß id) unter unjeren füdafrifanifhen Bauern den Lebensmuth un? vie Lebensfreude, die mir bier verloren zu neben brohten, neu gefeftigt habe.

ever. Franz Hentel.

kr Nationale Gefchäfte.

&: der Generalverfammlung der Hamburg. Umerila-Linie erſchien Herr Dr. Diederich Hahn, der Direktor des Bundes der Landwirthe, und ftand feinem fo oft gefcholtenen Gegner, dem Juden Ballin, gegenüber. Herr Hahn kam, ſah und... ., ja, ih Tann mir nicht helfen: mir ſcheint, er blamirte fidh. Auf eine lange Rede voll anertennenswerth objektiner Tragen antwortete Herr Generaldirektor Ballin mit lauter nichtsſagenden Redensarten und Herr Dr. Hahn erflärte fich jchließlich für überzeugt unb forderte, gerührt von folder Wahrung nationaler Intereſſen, die einftimmige Annahme der Statutenänderung und bie Santtion des mit Morgan gefchlofjenen Vertrages.

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410 Die Zukunft.

Ich babe bier ſchon ausführlich über den Ogenntruft geiprochen, der, wenn nicht aller Vorausficht nach inzwiſchen der amerikaniſche Krach käme, geeignet wäre, Deutfchlands wirthſchaftliche Kraft in Feſſeln zu ſchlagen. Herr Dr. Hahn ging mit den jelben Bedenken in die Verfammtlung; und wenn ih aud) feiner politifden und wirthſchaftlichen Anſchauung fremb und feindlich gefinut bin, Io kann mir dod nicht einfallen, ihm das Lob dafür vorzuentbalten, daß er, ala ein Einzelner, fi) in das Lager der Seeſchwärmer gewagt und ihnen feine Be- fürdtungen offen ing Geficht gefagt bat. Die nad Hamburg berufenen Afitonäre und Auffiträthe ſchießen, hauen und ftechen freilich nicht; das Trampeln unb Schreien ift ihre einzige Waffe, die fie nad den Berfammlungberichten denn auch fleißig gebraucht zu Haben ſcheinen. Wenn das Wort „nationales Inter⸗ eſſe“ fiel, dann johlte der Chor; und als gefragt wurde, ob denn die Geſellſchaft fi vor dem Vertragsabſchluß auch mit ber Negirung ins Einvernehmen gejeßt babe, wurde gerufen: „Dos iſt ung gleichgiltig!" Die Aftionäre ſehen in bem Truftvertrag eben ein gutes, einträgliches Geſchäft; und in folder Stimmung pflegen Sapitaliften das nationale Intereſſe billig zu geben. |

Allerdings darf man fragen, was Herr Hahn unter nationalem Intereſſe verfteht. Billige Vollsernährung wünſcht er nicht und für ben Erportkandel braucht er nicht zu forgen. Der Gegenjaß der Herren Ballin und Hahn ift nicht damit erflärt, daß ber Erfte Tube, der Zweite arijcher Chrift if. Herr Ballin ift freihändleriſch hanſeatiſcher Rhedereidirektor, dem ber Schußzoll bie Rüdfrachten, alfo den Berdienit ſchmälert. Herrn Hahn aber iſt wohl nid nur die Kriegsmarine, fondern auch das bunte Gewimmel ber Kauffahrteiſchiffe „gräßlich.“ Nicht bie Möglichkeit erhöhter Frachtpreiſe von Europa nad Amerika ängjtigt ihn, jondern bie andere: daß die Yankees in ihrer neuen Madtftellung bie Frachtpreiſe nach Europa künftig weientlich herabſetzen können. Das war das nationale Intereſſe, da3 er vertreten zu müſſen glaubte.

Nach dem Auftreten des Herrn Hahn, der doch fider im Einverftänbnik mit den übrigen Beherrſchern des Bundes der Landwirthe gehandelt bat, mıuf man annehmen, daß die Snterpellation des Grafen Kani nicht zur VBerbans lung fommen wird. Denn dem Grafen könnte fa einfad geantwortet werben, ber Bunbesbireftor felbft Habe bem Ogeantruft feierlich zugeftimmt. Man fragt fih unmillfürlich, was die Agrarier beivogen haben könne, ihr Urtheil über ben Truft plöglich zu ändern. Die Gefahr einer weiteren Berbilligung der Getreide fradten ift vorhanden und man könnte es den für ihre Eriftenz Kämpfenden nicht verdenfen, wenn fie fi) zur Wehr feßten. Zwar fteht im Vertrage, „vor⸗ läufig“ jolle nur die Perſonenfracht vom Truft geregelt werden. Das aber tft nur ein Troſtſprüchlein für ängftliche Seelen. Und von dem Wunſch, den von unferer Zatifundienwirtbichaft übers Meer getriebenen Auswandeiern die Fahrt zu vertheuern, werben bie Agrarier fih doch wohl nicht Teiten laſſen.

Die Thatfache, daß der Bund der Landwirthe durch feinen Direktor mit Herrn Ballin Frieden gejchloffen Hat, müßte am Meiften eigentlich unjere Liberalen erfreuen. Die Agrarier greifen felbit die vernünftigiten Maßregeln der MAhedereidireftoren an, weil fie von politiihen Gegnern ftammen; und bie Liberalen gehen mit Herrn Ballin durch Did und Dünn, weil er im Hanbels- vertragsverein eine große Rolle fpielt. Durch folhe Momente wird Heute ja

Nationale Gefchäfte. 411

Leider das politifche Urtheil in Deutichland beffimmt. Wenn dem Gegner ein Schlag verjeht wird, opfern die Liberalen Würde und Klugheit; wie jubelten fie, als die konſervativen Landräthe für ihre Abſtimmung beftraft wurden! Die felbe Dummheit wiederholt fich jegt. Faſt die ganze liberale Prefje ſchilt Herrn Diederih Hahn, weil er in einer Aktionärverfammlung aufzutreten gewagt hat. Der mancheſierlichen Anſchauung ift e8 eben ein Gräuel, daß jemand ſich er- dreiftet, mit dem Hinweis auf allgeineine Intereſſen fi in die Gefchäfte der Aktionäre zu miſchen. Trotz dem Gezeter wird biefer Brauch fich aber ein- Bürgern. Die Arbeiterjhaft Hat damit begonnen, die Lohnfragen vor das Tyorum der Aktionäre zu tragen; mit Mecht: denn in diefen Berfammlungen figen Männer, deren Wort tn ſolchen ragen gewichtiger tft ald das von Miniftern und Staats- jefretären, bie morgen vielleicht fchon ins Schattenreich finten.

Daß Herr Hahn gegen den Truft auftrat, wird getadelt, nicht aber, daß er fi} mit leeren Nebensarten abjpeifen ließ. Als er darauf Hinwies, daß die amerifanifhen Schiffe, denen der Vertrag bie deutjchen Häfen ſperrt, doch nad) Belgien kommen bürfen, erwiderte Herr Ballin von oben herab, feit elf Jahren Thon bejtehe eine Konvention, wonach belgiichen und Holländiichen Schiffen der Verkehr mit ihrer Heimath rejervirt ſei. Aber Herr Hahn fragte nicht und Herr Ballin brauchte deshalb auch nicht darauf zu antworten —, ob denn die Verhältniſſe nicht völlig verändert jeien, jeit die große Holland-Amerifalinie den Amerikanern gehört. Eben jo wenig wurde gefragt, im Befiß weldjer Leute denn eigentlich die Aktien der belgijden White-Cross-Line feien. In einem Punkt waren die feindlichen Brüder von vorn herein wundervoll einig: im der Freude darüber, daß in dem Truſt nicht die Engländer, fondern die Amerikaner die Führung haben. Es ſcheint einen großen Unterfchied auszumachen, von wen man bewuchert wird: nur jüdiſcher und britifcher Wucher ift unerträglich.

In unferer liberalen Preſſe aber herrſcht Zubelftimmung. Herr Ballin, beißt e8, ift ein großer Mann umd die nationale Unabhängigkeit der deutichen Geſellſchaften ift in vollem Umfang gewahrt. Daß ich anderer Anficht bin, habe ih ſchon gejagt. Doc) ſchließlich find darüber verſchiedene Anſchauungen möglich. Einig aber follte man in dem Bugejtändniß fein, daß die Widerftandsfraft der deutſchen Gefelljchaften durch die Staatsjubvention wefentlich geftärft worden tft. Das wurde in ben Times gefagt, die deshalb von unferer Preſſe heftig angegriffen werben. Die Redakteure der Times find über deutjche Verhältniffe Schlecht unterrichtet und ihrer Antipatbie gegen Deutjchland fehlt jeder feite Boden. Auch der Artikel über den Anſchluß der deutichen Geſellſchaften an den Truſt enthielt Irrthümer; bie englifchen Redakteure fcheinen zu glauben, die deutſche Regirung jet Theilhaberin des Lloyd und der Hamburg= Amerifa Linie. Dieje Fehler griff unjere Preſſe eifrig auf. Im Schulmeifterton wurde den Engländern auseinandergefeßt, das Deutiche Neich jei nicht Theilhaber der Gefellichaften, die auch für den Verkehr mit Amerika feine Subventionen empfangen, und die Poftvergütung ſei nicht größer al3 die von England feiner. Handelsflotte gewährte. Doc) fommt es gar nicht darauf an, für welche Linie eine Staatsfubvention gewährt wird; wenn das Reich die Rhedereien ftrafen wollte, fonnte e8 ihnen ja die Subventionen für die ojt- afiatifeden Linien verringern. Man braucht nicht immer an beim Glied gejtraft zu werden, mit dem man gejündigt hat. Ganz richtig jagen aber Times und

412 Die Zukunft.

andere englijche Blätter, die Yurcht, von den Amerikanern verfchlungen zu werden, habe die deutichen Geſellſchaften zum Anſchluß beftimmt. Man ftand eben vor ber Wahl zwiſchen zwei Uebeln, von benen aud) ber Regirung ber Xruftvertrag das kleinere ſchien. Bu nationalem Hochmuth liegt Hier alfo feine Beranlafjung vor.

Die alte Taktik, die Schwäde der Pofition mit nationalen Phrafen zu bemänteln, eine Taktik, zu der jelbft die Tiberalften der Liberalen ſich jeßt ent- ichloffen haben, zeigt fi auch auf einem anderen Gebtet: bei der Behandlung des Boykottverfuches, den polniſche und ruffifche gegen deutſche Firmen feit den Tagen von Wreſchen unternommen haben. Anfangs hatte man für biefen Ber- fuh nur Hohn und Spott; und als die Sade bann ernft wurbe, ging man zu wüſtem Schtmpfen über. Die Polen, die das nationale Intereſſe trieb, ihre Paaren anderöwo theurer al3 in Deutichland zu kaufen, wurben von ben jelben Kulis geſchmäht, die ſonſt nicht laut genug von den auf dem Ultar des Baterlanbdes zu dringenden Opfern zu reden wiflen. Natürlich fehlten unter ben begeifterten Polen auch die Krapülinski und Waſchlappski nicht; zu ihnen ift ber warfchauer Kunde zu zählen, der auf eine Mahnung antwortete, er babe jeden Berkehr mit Deutſchland abgebrochen und könne, nur um Rechnungen zu bezahlen, von feinen beiligften Grundjägen leider nicht abweichen. In den meilten Fällen aber handelte es ſich um eine durchaus ernfte Kundgebung. Die beutiden Geſchäfts—⸗ leute willen ein trauriges Lied davon zu fingen.

Ich hätte diefe Sache heute nicht noch einmal erwähnt, wenn ein neuer Borgang fie nicht wieder ins Gedächtni gerufen Hätte. In der Rheiniſch⸗Weſt⸗ fälifden Zeitung tft ein Schreiben veröffentlicht worden, das die Bleijtift:WXktien- gefellichaft Johann aber in Nürnberg an Kaufleute in Ruſſiſch⸗Polen gerichtet bat. Darin wird ausführlid auseinandergejebt, daß die ftantsrechtlichen Ver⸗ bältnifje des Deutichen Reiches, deſſen Bundesitaaten jelbitändig find, Bayern nicht geftatten, fi in Preußens Polenpolitit einzumifchen, daß es deshalb aber auch ungerecht jei, alle deutichen Staaten zu boylottiren. Am Schluß des Briefes beißt e3: „Die polntjche Preſſe wäre baher barauf hinzuweiſen, einen Unter ſchied zwiſchen Antipreußiſch und Antibayerifch zu machen, bamit nicht ſolche Betriebe in Mitleidenſchaft gezogen werben, bie fi um Politik nicht kümmern, fondern nur barauf auögehen, ihre Abnehmer coulant und folib zu bedienen.” Nun mag e8 ja Manden ärgern, daß bier dem Ausland ein tiefer Blid in bie herrliche Einheit des Deutfchen Reiches gewährt wird; und fehr taktvoll kann ih das Verfahren der Firma Faber nicht finden. Aber es-ift leider nur zu verftändlihd. Denn unfere neuere Politik ift nicht felten nur dazu angethan, den deutſchen Kaufleuten das Gejchäft zu verderben. Und oft genug wirb dieſe Schädigung nicht von der Rückſicht auf bie nationale Webrfähigkeit, fondern von perjönlihen Wallungen herbeigeführt. Daß da ſchließlich den Partikulariſten, die außer mit neuen Steuern auch noch mit Gefchäftsverluften zahlen jollı die Galle überläuft, kann man ihnen nicht übel nehmen. Es ift auch fein Ungli.. wenn einmal offenbar wird, welche Berlufte bie nußlofe Chilanirung der Bole uns bringt. An diefen Berluften ift die vom Weltmachttaumel ergriffene liberal Preſſe mitſchuldig, die Breffe der Geichäftsleute. Das ift der Humor davon,

Blutus.

Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: DM. Garden in Berlin. Berlag der Zuhunft in Ber“ Druck von Albert Damde in Berlin⸗Schoneberg.

Berlin, den 14. Juni 1902. €— t 1 —ñ— ——

Die Buren.

8“ Worte werden im neuen Dentfchland fo oft bei winzigitem Anlaß gebraucht, daß der Nüchterne fich beinahe ſchon ſchämt, pathetifch zu reden. Dennoch muß Großbritaniens Sieg über die beiden füdafrifanifchen Republifen ein weltgefchichtliches Ereigniß genannt werden. Das Reich des Königs und Kaifers Eduard ift das größte, von dem bie ung befannte Hi- ftorie je Kunde brachte; es ift dreimal größer als Europa, umfaßt den fünften Theil der Erdoberfläche und zählt ein Viertel der Menſchheit zu feinen Bür- gern. Naher Verfall ward ihm längft voransgefagt. Nun Hates, in ein paar Jahren, das Niefengebiet des Sudans erobert, daS feine Herrichaft über Egypten für unabfehbare Zeitdauer verbürgt, und die an Bodenſchätzen un- ermeßlich reichen Länder der Südafrikaniſchen Republik und des Oranje— Freiftaates, deren Flächenumfang nicht viel Meiner ift als der des Deutſchen Neiches, als Kolonien feinem Beſitz einverleibt. Der Wunſch Cecils Rhodes, von Capetown bis Kairo den Union ad flattern zu fehen, ift faft ſchon erfüllt. Diefe Machtſtellung ſcheint den Briten, die nie unter der Be: fcheidenheit der Lumpen litten, nur der Ausdrud eines ihren politijchen Tugenden gebührenden Erfolges. Was Auguftinus von den Römern fagte, jagt oder denft jeder echte Sohn Albions vondem Weltreich der Briten: die Vorſehung habe fie zur Herrichaft über der Menſchen Geſchlechter ber rufen, um ihre Hohe Weisheit, ihre unbeirrte Beharrlichkeit und ftraffe Selbft- zucht zu belohnen. Ein fo ſtarkes und ftolzes Herrenvolf, dem die Imperial 3

414 Die Zukunft.

Federation League und die Borfämpfer des Greater Britain neue Ziele gezeigt hatten, konnte den zähen Widerftand eines Heinen, nach den Begrifien unferer Induſtriekultur reaftionären Bauernjtammes nicht gelajfen hin nehmen, nicht um die jungen Burenftaaten einen Bogen machen und ſich mit der Thatfache abfinden, daß in diefer bäuerijchen Dligarchie der Eng länder, der ihren Wohlftand geichaffen hat, ein Bürger zweiter Klaſſe if. ... Doch nicht von den Siegern ſollte hier heute gefprochen werden, jon- dern von den Befiegten. Die Kornburen, Weinburen, Viehburen, Zret- buren hatten ruhig, nach der Väter Weife, gelebt, bis im Schoß der von ihnen in langem Kampf den Kaffernabgerungenen Erde Goldſchätze gefunden wur- den und eine Induſtrie entftand, die den Mutterboden der engliſchen Gentty umpflügteundaufdieWährungpolitif, aufdieBefigverhältniffe und die foziale Schichtung dergrößten Reiche revolutionirend wirkte. Die Buren nügten den neuen Gefchäftsvortheil flug und ohnelebermuth aus; für die induſtrielle Leit⸗ ung und Arbeit waren fie nicht gerüftet, mochten von moderner Entmwidelung und ſolchem Teufelszeug in ihrem frommen Paganenthum auch nichts Hören, freuten fich aber der überalfes Erwarten großen Geldſummen, die fie oftfür ein Stück Land einftreichen konnten. So, dachten Sie, könne es weitergehen:

fie würden reid) werden und dennoch die alte Sitte bewahren. Zäh wehrten

fie jich gegen die Zumuthung, die in anderen Ländern gejcheiterten Eriftenzen in ihre Gemeinschaft aufzunehmen, Spekulanten und Spielern Bürgerredt und Bürgerehre zu gönnen. Sie wollten für ſich bleiben, aus der neumodiſchen Wandlung nur den Profit ziehen und das dumpfe Bauernmigtranm nicht opfern, das in dem Fremden, dem Städter den Feind fieht. Nicht den aus fernen Vorſtellungwelten fommenden Briten nur haften fie: auch vor dem Holländer, der fie mitder Diedermannszärtlichfeit des nah Verwandten umarmen wollte, rüdten fie mit froftigem Lächeln weg. Die Frage, ob ein großer Theil der Oberjchicht, ob nur da und dort eine nidjt immune Seele von der aus feinem Goldland zu bannenden Korruption ergriffen murde, mag immerhin unbeantwortet bleiben. Zwei fo verjchiedene Kulturformen, wir erleben eben in Preußen, können mit einander nicht haufen ; die Inter⸗ eſſen ſind zu verſchieden. Die Briten brauchten einen nach angelſächſiſcher Modelackirten Induſtrieſtaat, in dem fiefich frei bewegen könnten; die Buren Sagen warm in ihren Privilegien und wollten den agrarifchen Zuschnitt der Nepublifen um feinen Preis ändern. Auch eine Arbeiterfrage tauchte auf. Trotz ihrer Chriftenfrommheit, die fie zwingen follte, in jedem Menſchen das Ebenbild Gottes und die Krone der Schöpfung zu achten, ift den

Die YBuren. 415

Buren der Farbige, mas er doch nur dem naturwiſſenſchaftlich Denfen- den, an eine mähliche Evolution des zweizinfigen Gabelthieres Glauben- den jein dürfte: ein Wefen niederer Art, ein als Sklave, zum Sklaven GSeborener. Der Bur wollte die Kaffern in Hörigfeit halten, der Brite ihnen das Necht und die Bildungmöglichleit gewähren, ohne die .der In— duftriearbeiter ‚nicht mit dem wünjchenswerthen Nuten zu verwenden ift. Der alte Gegenſatz zwifchen Landwirthſchaft und Induſtrie, der auch bei uns immer fichtbar wird, wenn die Srundbefiter Sozialiftengefege fordern oder ein Zufallsſtrahl die Page oftelbifcher Randarbeiter erhellt. Kein Berftändiger konnte je zweifeln, welche Kulturform in Südafrika ſchließlich fiegen würde; wollte die Bauernoligarchie ſich unverändert erhalten, dann mußte fie die Minen fperren, der aufblühenden Induſtrie die Wurzel ab- Schneiden. Das thut kein Bauer; jelbft in der hitigften Wallung bedenft er den eigenen Vortheil und wägt, was ihm nüten, was fchaden Tann. Wäh- rend des ganzen Krieges haben die Buren nicht einen Augenblid ernſtlich an die Berftörung der Minen gedacht. Sie hätten den Krieg überhaupt nicht begonnen, wenn fie nicht Grund gehabt hätten, auf einen ftarfen Schüger im Kampf gegen den Bedränger zu hoffen. Hatte Wilhelm der Zweite nicht bas Deutſche Reich eineihnen befreundete Macht genannt, an deren Hilfe fie appeflirendürften? Englands Kraft, Englands Reichthum konnten fie nicht ermefjen; der Zuruf des Kaifers aber gab ihnen die Gewißheit, daß fie, wenn es zum Aeußerften fäme, nicht allein fechten würden. Nurdiefe Zuverficht hielt fie von einem Kompromiß zurüd, das auf Jahrzehnte hinaus ihre nationale Selbftändigfeit retten fonnte. Zweiunddreigig Monate lang trogten fie, als eine Guerilla, deren Ruhm inder Kriegsgefchichte nicht verblaffen wird, dem an Truppenzahl und Rüjtung überlegenen Feind und immer wieder wurde die verglimmende Hoffnung angefacht: morgen führt eine europäiſche Inter— vention ung zum Sieg. Die Armen, von thörichten und gewiſſenloſen Di- plomaten Getäufchten wußten nicht, daß die Zeit des von Andrew Carnegie verfündeten Empire of business längft gefommen ift und dem Reichſten die Welt gehört. ALS fie dann endlich von dem Wahn ſcheiden mußten, irgend eine europäifche Negirung werde für fie einen Finger rühren, als zuerft die Botfchaft des holländischen Minifterpräfidenten Kuyper und jpäter Kitche- ners Fuge Beredfamteit das Lügengewebe zerriß, das ihren Blid fo lange getrogen hatte, daretteten fiefchnell, was noch zuretten war, und kapitulirten.

Europa ift mit diefem Ausgang der Sache gar nicht zufrieden. Eu- ropa hatte von einem Heldenvollgeträumt, das lieber bis zum Tegten Dann

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416 Die Zukunft.

in den Tod gehen als auf feine Unabhängigkeit verzichten würde. Und nun leben die Dewet, Botha, Delarey, Schall Burger nicht nur, nein: fie zeigen fich fogar Arm in Arm mit britifchen Generalen, feiern den Viscount Kit- chener in feurigen Reden und fordern die Landsleute auf, Eduard dem Sieben- temin zuverläffiger Treue unterthan zu fein. Die jelben Männer, die ſich mit Handichlag verpflichtet hatten, vor jeder Entſcheidung den Hath des greifen Krüger einzuholen und ohne feine Zuftimmung keinen Friedensvertrag zu unterzeichnen, haben nun, ohne den angeblich vergötterten Ohm Paul auch nur zu fragen, Tapitulirt und nennen den Namen des früheren Prü- fidenten nicht mehr. Europa fteht vor einem Räthſel. ft Paul Krüger denn nicht der größte Staatsmann, der neben und nad) Bismarck Iebte, der Doktor Leyds nicht ein Diplomatengenie, das jeder Großmacht zu wünſchen wäre? Gleichen nicht alle Buren den mythifchen Heroen, die jich von blanfen Idealen nähren und deren Feljenherzen Menſchenſchwachheit nie ubermannen fann? Noch vor wenigen Wochen hieß e8, die Yage der Buren fei viel günftiger als am Anfang des Krieges, Kitchener komme nicht vom Fleck und nur ein Wunder fönne die völlige Niederlage der Engländer hindern. ALS die Burentommandanten nad) Vereeniging reiften und der einfachite politifche Anftinft wittern mußte, daß die Stumde des bitteren Endes bald fchlagen werde, wurde in Utrecht die Parole ausgegeben: Die Burgers benugen gern die gute Gelegenheit, um fich über die Fortführung des Feldzuges zu verjtändigen, und der dumme Sirdar, dem nur im Kampf gegen Wilde Yorber reifen fonnte, geht blind in die Falle. Der Text der Kapitulation war ſchon unterfchrieben, als noch immer mitumerjchätter: licher Gewißheit behauptet wurde, da8 Gerücht von einem nahen Friedens⸗ ſchluß fei eine freche englijche Küge. Und Alles wurde, ſelbſt die albernfte Mär, willig geglaubt und jede zur Vernunft mahnende Stimme überbrülft. Die Buren hatten zu fiegen oder zu jterben. Europa fah mit angenehmem Nerventigel dem Kampfjpiel zu und war bereit, die Helden ihres Traumes pollice verso, wie niedergerungene Gladiatoren, in den Tod zu jchiden.

Zu ſolchem Ende hatten die Buren feine Luft. Wer fie gerehtb. - teilen will, darf nicht verwehten Klängen alter Heldenlieder nadhträum , Sondern muß ſich wachen Sinnes erinnern, wie in feiner eigenen Heima wie in allen Zonen der Bauer lebt undftrebt, fühltundtrachtet. Der Dia , der in harter Arbeit den Ader beftellt, geduldig da8 Vieh wachſen und fall: , die Frucht reifen, die Hoffnung eines Kahres von Wind und Vetter : nichtet jteht, ift für metaphyſiſchen Idealismus nicht zu haben und wird |

Die Yuren. 417

mit klarem Bewußtſein felten entjchließen, für unirdifche, nicht mit Händen _ greifbare Güter das ſchwerſte Opfer zu bringen. Sein Wunfch langt über die enge Welt der Realitäten nicht hinaus und gefunder Menſchenverſtand ſchützt ihn vor der heroifchen Schwachheit, die Alles aufs Spiel fest, Haus und Hof zerftören, Weib und Kind hinmorden läßt, um einem Phantom nachzujagen, das den abjtrahirenden, afjoziirenden Geiſt des Kulturmen- ſchen werthvoller dünken mag als alle zeitliche Habe. Wenn der jchwerfällige Bauer ſich waffnet, fämpft er nicht für Begriffe, für Freiheit, Menfchenrecht und Berfaffung, fondern jucht einen Drud abzufchütteln, der feinen Schaffensdrang lähmt, ſchlechter Behandlung ledig zu werden, die ihn an Leib und Gut gejchädigt hat. Solchen Bauerntrieg haben dieBuren geführt. Sie fühlten fich in ihren Befigrechten bedroht, von windigen Einwanderern mißachtet, fie hofften auf Deutſchlands Hilfe, auf die Wirkung des Haſſes, der fi) an die Erobererjchritte der Briten geheftet hat, und zogen aus, um einem dreiften Räuber einen lehrreichen Dentzettel zu geben. SYeder nahm ein gutes, im Gelände heimifches Pferd und eine erprobte Flinte, aber auch einen Regenſchirm mit; denn im durchnäßten Kittel ſchwindet die Wider- ftandsfähigkeit des ſtärkſten Mannes. Sie mieden unnügliche Grauſam— feit, lachten die fremden Offiziere aus, die fie europäifchen Drill und Treffen- gederei lehren wollten, und richteten ihre Strategie nach den bewährten Regeln der Bauernichlauheit. Wozu ſollten fie englifche Soldaten und Heer- führer töten, wenn der Schuß Pulver nicht nöthig war? Viel einfacher wars, ihnen die Khafi » Uniform auszuziehen, die man im trainlojen Burenheer brauchen konnte, Munition und Lebensmittel wegzufangen und Tommy nur da, aus ficjerer Stellung, wie ein Stud Wild abzufchießen, wo die Noth zu blutiger Wehr zwang. Mancher Europäer hat ihnen Mangelan Muth nad)- gejagt und über die Burenhäuflein gejpottet, die er hinter haftig gebauten Schanzen boden ſah. Freilich: jie ſetzten ſich, wenn fies irgend vermeiden fonnten, nicht den feindlichen Kugeln aus und nie wäre ihnen, wie ganzen Schaaren englifcher Offiziere, der Einfall gefommen, blind, im Gefühl einer dem vaterländischen Ruhm ſchuldigen Pflicht, in den Tod zu ftürmen; Pflicht Ichien ihnen vielmehr, jedes einzelne Yeben dem Vaterlande fo lange wie möglich zu erhalten. Dann Fam der Tag der Erfenntniß. Jeder weitere Miderftand konnte die Entſcheidung auffcieben, nicht abwenden. Noch einen - Winter im Feld? Noch ein Jahr ohne Saat und Ernte? Die Farmen ver» wüſtet, Franen und Kinder im Elend, die Zukunft des Stammes gefährbet, und Alles umfonft? Gute Behandlung, Erfat des verlorenen Gutes,

418 Die Zukumft.

ein behagliches Leben unter Englands mächtigem Schu ward ihren zuge jagt ; und fie lernten, als fie nad) langer Trennung einander wiederjahen, die Ausfichtlofigkeit ihres Kampfes Har erfennen und wußten genau, was ihnen bevoritand, wenn fie Diesmal fpröd blieben. Sollten fie ihren Präfidenten, defjen Irrthum den Krieg heraufbeichworen hatte, um Nath fragen? Der jaß, mit einem großen Vermögen, weit vom Schuß in Europa, kaunte ihr Leid nicht und hatte gut reden. Garſo herrlich waren ja früher, unter der Klüngeltyrannei, die Zuftände auch nicht gewefen und am Ende lie ſich mit den Engländern ganz gut ausfommen. Die Zähne zufammengebijjen und unterſchrieben!.. Das war nicht heroifch zwar, aber bäuerifch gehandelt.

Die Burenlegende ift nicht mehr zu retten. Jetzt aber, gerade jetzt iſt es Beit, die gejunde Tüchtigfeit, die muthige Energiediefer Männer zu rühmen. Nicht wie Teichtfertige Knaben find fie zu friſchem, fröhlichen Krieg ins Feld gerüdt, um Abenteuer, Ehren und, wenns nicht anders fein fanın, einen effeltvollen, Nachruhm fihernden Tod zu juchen. Im Kampf haben fie ber Tapferkeit die Vorficht als Wächter beftellt, al8 die Stunde des ſchwerſten Entichluffes gelommen war, bedächtig zuerft das Wohl des Stammes er: wogen und, um ihm die Keimfraft zu wahren, den Glanz des eigenen Namens gemindert. Nicht hellenische Mythenhelden find fie, aber wackere, aufrechte Bauern, deren rauhe Tugend durch die Begrenztheit bäuerifcher Borftellungen bedingt ift. Niemand hat für fie Etwas gethan. Der alte Krüger nicht, der, troß dem unfeufch zur Schau getragenen Glauben an eine den Frommen ſchützende Vorfehung, fein Leben und feinen Befig früh in Sicherheit brachte und deſſen eigenfinnige Kurzjicht für den Untergang der Nation verantwortlich bleibt ; nicht Herr Leyds, der von dem Patrioten- recht, in Kriegszeiten das Blaue vom Himmel zu lügen, nutzloſen Gebrauch gemacht hat;und erſt recht nicht die alte, geile Europa, die ftet8 bereit ift, jedem Bahlungfähigen die Grimaſſe der Zärtlichkeit zu verfchachern. Ihr hyſte⸗ riſches Gekreifch hat den Buren Hoffnungen vorgegaufelt, die, feit Die Leiter der deutschen Politif den ungeheuren, unverzeihlichen Fehler machten, Eng⸗ lands Sieg zu verbürgen, nie erfüllt werden konnten. Die Vettel mö.hte das Bauernvolf jest in neue Gefahr hetzen; nod) fei nicht aller Zage Abend greint fie, und über ein Kleines könne einem Burenaufftand das GlüL günftig fein. Die guten Europäer, die ihre Meinung nicht aus Schwarzer Küchen beziehen, follten dem Unfug ein Ende machen und dafür forgen, da die füdafrifanifchen Bauern ungeftört fortan den Weg gehen können, der die nüchterne Vernunft und der wachſame Raffeninftinkt ihnen weift.

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Berliner Sezeifion. 419

Berliner Sezeffion.

De“ alfo wollen wir den „Laokoon“ aus den dunkelſten Tiefen be

W Bücerichrantes hervorſuchen und eine Debatte über die Grenzen der Malerei und Poeſie beginnen. Leſſings von allen modernen Tendenzlern grenzenlo8 verachtete Aeſthetik kommt wieder zu Ehren und das fcharfängige Genie des in einer Kleinftadt des achtzehnten Jahrhunderts Lebenden Biblio: thekars kann jich der Großſtadtkunſt des zwanzigften Jahrhunderts gegenüber nochmals bewähren. Die Entwidelung unferer modernen Malerei in der MWeife, wie die Ausftellung der Sezefjion fie fihtbar macht, war längit fällig; dennoch kommt num die Beflätigung oft ausgeſprochener Prophezeihungen überrafchend und erwedt alte Hoffnungen. Liebermann, der Führer der Berliner Sezeſſion, beffen intelleftueller Einfluß auf das junge Malergefchlecht nicht Leicht überfhägt werden kann, hat in einem feiner neuen Bilder eine dramatifche Szene gemalt und damit, in dieſer Tüchtigkeit, als Erxfter ber deutfchen Impreſſioniſten das Gebiet deſkriptiver Landſchaftlyrik verlafien. Und fogleich auch Hört man die Stimme unferes größten Kunftrichter8 über die Entfernung eines ereignifreihen Säkulums berüberfhallen und jieht ftaunend, wie die vor der antiten, theoretiſch überjchägten Laokoongruppe Klar erfannten Geſetze künftlerifchen Empfindens von einem unendlich revolutio- nären Maler unferer Tage bewußt oder unbewußt befolgt worden find. Diefer Borgang wird für den philofophifchen Betrachter zum clou der ganzen Aus: ftellung, denn ex bezeichnet einen wichtigen Wendepunkt der deutfchen Malerei.

Es ift viel von ber Entdedung ber Landſchaft für die Malerei geredet worben; man hat geglaubt, hier thue fich ein ideales Gebiet für das allzu bewußte Empfinden der modernen Seele auf; nur die Landfchaft fünne Erfag für die Stoffe bieten, die früher der Religion: und der Staatögejchichte ent- nommen wurden. Der Irrthum lag nah und konnte leicht entjtehen, weil die Menfchen in ihrem gegenwärtigen Zuftand ftet3 einen Abſchluß erbliden, erbliden müffen, um nur ruhig leben zu können. Niemand ift fich bewußt, im Uebergang zu ftehen; da der Blid immer nur auf der Vergangenheit ruht, die Zukunft nichts von ihren Geheimniffen preisgiebt und wie cine dunfle Mauer vor uns auffteigt, ift ein ſtarkes Refultatbewußtfein unent- behrlih. So hält man in der Malerei biß heute die Studie für den Abſchluß, den Weg für das Ziel. Diefe Kunft zeigt die lehrreihe Erfcheinung von der Wechſelwirkung äußerer und innerer Erkenntniß. Zuerſt wurde das Farbenfpiel der Atmofphäre entdedt und mit wifjenfchaftlidem Eifer im Bilde regiftrirt. Unter dem Einfluß des Sehens wandelte fih dann bald das Empfinden, das wieber auf die Art, die Dinge anzufehen, entjcheidend zurüd- wirkte. Auf diefem Wege wurde die Landfchaftmalerei ganz logiſch zu einer

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420 Die Zukunft.

Igrifhen Stimmungstunft. In der Lyrik lernt der Künftler fich kennen wm der eigenen Art vertrauen, in biefem egoiftifchen Spiel der Gefühle entfalten fich die Kräfte zu reiferem, männlicheren Thun. Alle Jugend, felbft de beroifche, übt die Flügelfraft in den Räumen ber Lyrik. In der Malen wurden die Stimmungen der Landfchaft, die dem Auge neue Erfcheinung formen des Lichtes gezeigt hatten, zu Trägern unklar drängender Empfindungen gemacht; das Wetter der Seele befpiegelte jich in ben bunten Yarbengläjem der Witterung, jede gemalte Landichaft war ein Gedicht und in erfter Zimt eine Milteufchilderung der Wohnftätten ewiger Myſterien. Die Maler riefen: Schaut, wie ich e8 fehe, wie „perf önlih“ meine Augen zu beobachten wiſſen! Im Grunde wurde uns nicht die Natur dargeboten, fondern ein in Atmoſphoͤren töne und in plein air umgefegtes Gefühl. Aus dieſer noch immer fo genannten. naturaliftifchen Malerei geht die alte Lehre deutlich hervor, daß alle Kunft vom Menfchen für den Menfchen gemacht wird, daß dr artiftifche Wahrheit” nur ein Reflex der mit phyſiologiſch determinirten Organen nach Ausdrud taftenden Seele if. Aber je größer das Verlangen war, bie empfindfamen Gedanken fie laufen faft alle auf Verzweiflung im irgend einer Form hinaus mitzutheilen und fie möglihft vollkommen auch im Betrachter zu erweden, um fo nöthiger wurbe eine neue allgemein giltige Kunftiprache, eine anerkannte Stilfonvention. Alle Mittel der Verftändigung entftehen jeboch Iangfam; und fo erleben wir, daß die neue Kunſtſprache einen ähnlichen Werdegang durchmacht wie einft die Buchftabenfchrift, nämlich den über die Bilderfchrift. Die Landfchaft, deren Wiedergabe Selbitzwel fchien, bot den Malern für die Dauer des Ueberganges und ftatt mangelnder Stilformen ihren reihen Motivenfchat.

Liebermanns merkwürdiges Bild beweift nun, dag die Igrifche Jugend: periode der modernen Malerei ihrem Abſchluß nah if. Er, als ber fon fequentefte deutſche Künſtler der Gegenwart, als ber geiſtvollſte Selbfterzieher, iſt zuerſt zu Reſultaten gekommen. Als Lyriker hat er ſich eigentlich nie gegeben; von Anfang an war ſeiner kühlen kritiſchen Natur Etwas von jener Objektivität eigen, die, auf Grund genauer Selbſtbeobachtung, mit den eigenen Empfindungen architektoniſch zu wirthſchaften weiß. Er hatte den epifchen Zug und war darum, viel mehr al8 Andere feiner Tendenz, ſozial beobadhtender Künſtler. Eine höhere Stufe der Malerei ift aber das auf die Fläche profizirte Dramatiſche; und dahin hat er fi mit feiner ne * Leiftung erhoben. Es ift Grund zur Genugthuung, daß endlich einmal N modern empfindender Maler zu jener Höhe der Selbftentwidelung gel ſ ift, zu der Reife des Urtheils über die eigenen, von lähmenden Traditi N freien Empfindungen, um hinter einen großen Stoff, hinter ein Wert, 3 für ich felbft fpricht, zurüctreten zu fünnen. Bisher mußte man ſtets P’

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Berliner Sezeſſion. 42]

logie treiben, dad Spiegelbild des Künftlerfenforiums aus dem Werte ablefen, wenn man feiniten Sunftgenuß wünſchte. Jetzt kommt einmal foldhe Ans firengung dem Stoffe zu Gut und man dankt dem Maler, indem man ihn im Anschauen feines Werkes vergißt. Bor einer gemalten Landſchaft ift es anders. Entweder man jieht in der Inrifchen Stimmung den Künftler oder erfreut fi) am Gegenftändlichen. Im erften Fall treibt man Seelenkunde und weiterhin SKulturphilofophie; im zweiten Fall ift die Anſchauung⸗ weiſe ganz unkünſtleriſch. Dem großen Publikum gefällt eine Landſchaft nie aus Gründen artiftifcher Erkenntniß, ſondern es fucht und findet das gegenftändlich Intereffante. Der Wunjch wird ihm lebendig, in ber gemalten Gegend fpaziren zu gehen, im Sonnenschein behaglich zu ruhen, über klare Gewäfler zu fahren, durch den Farbenraufch der Blumenfelder zu wandern, und ber Künſtler dient diefen Betrachtern eigentlich nur fo wie der Illuſtrator des Bilderbuches dem Kinde. Da all das Intereffante, wie e8, in edelfter Form, in den Walbdinterieurd Flideld, in den romantifchen Naturanfichten ber Achenbachs zum Ausdrud fonımt, den Landfchaften der Impreffioniften fehlt, da nur die reine Erfenntniß diefem lyriſch-ſymboliſchen Naturalismus beiflommen fann, wird die moderne Malerei nie vollsthümlih. Nur einem Dichter wie Bödlin ift es gelungen, das Intereſſante im Bilde fo zu erheben, daß e8 zu einer höheren Erkenntniß, zur Poeſie wird. Das macht die Größe feiner Kunſt aus. Die Imprefjtoniften mögen fi, aus Gründen ihrer Tendenz, zu fo flarfen Stilifieungen, in denen werthvolle Nuancen aufgeopfert werden möffen, nicht entfchliegen; da dem Anfchauenden aber ihre unbeftimmte Land⸗ ſchaftſymbolik auf die Dauer nicht genügt, jehen fie fi) vor der Aufgabe, das Stoffgebiet poetifch zu erweitern. Beſonders der deutfche Maler, dem die Leichtigkeit des franzöſiſchen Temperamentes fehlt, defien Bildern nicht die Fülle lebendiger Sinnlichleit eigen ift, kann unmöglich in feiner Iyrifchen, immer etwa8 Heinlichen Selbftherrlichkeit beharren, jondern muß feinen be= fonderen Anlagen Rechnung tragen. Für ihn kann der Fortfchritt nur darin liegen, mit dem von neuen Erkenntniſſen revolutionirten Gefühlsleben und auf Grund der Refultate des Impreſſionismus große poetifche Stoffe zur bewältigen. Der Franzoſe muß nun aus dem Spiel bleiben. Hier ift ber Punkt, wo die Raffentemperamente ſich fcheiden. Die Erkenntniß kennt nicht nationale Grenzen. Der Ausgangspunkt war für Alle gemeinfam; doc die Entwidelung muß nun nad) den Gefegen der befonderen Volksart erfolgen, wenn dem natürlichen Empfinden nicht Gewalt angethan werden fol.

Bon ſolchem Gefichtspuntt aus ift Liebermanns Beifpiel befonders werthuoll. Sein Bild könnte von einem modernen Franzoſen fo nicht gemalt ſein. Es weift auf die große niederdeutfche Tradition, auf Rembrandt, und zeigt fo, daß der Künftler nie ängftlich zu fein braucht, ohne Ueberlieferung

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422 ie Zukunft.

in feiner Zeit zu ftehen. Die lebendige Tradition erbt fi) unbewußt fort, lebt in der Empfindungweife immer wieder auf und wird zu einer nemen Kraft, um fo mehr, je konfequenter eine Perfönlichkeit ſich jelbft betont. Es thut michtS zur Sache, daß Liebermann, feiner Abftammung nad, dem nieber: deutfchen Geiſt fern zu ftehen fcheint: die Tunftgefchichtlide Entwidelnug wählt ihre Inſtrumente nach einer Logik, die aller Heinlichen Berechnungen fpottet und in diefem Fall ziemlich Har zu errathen ift.

Das Bild Simfon und Delila muß als Erftling betrachtet werden; Größe und Unzulänglichleit find zu gleichen Theilen darin enthalten Niemals hätte man dem Momentbeobadter eine fo fonzentrirte Linienführung, ſolche ornamentale Gewalt zugetrant. Piychologe im Einzelnen ift Liebermamn nit; er kann ein Seelenleben nicht phyfiognomifch wiederſpiegeln. Schein: bar weiß er es, denn er verzichtet ſtets darauf; und auch hier charakteriſirt er den Vorgang durch änfere Züge: durch eindringliche Silhouetten und eine jäh in den Raum jchiegende Bewegung, die gegen den etwas Tormlofen Fleiſchknäuel des fchlafenden Simfon jeltfam Hell und kreiſchend abſticht. Die Farbe unterftügt, in aller Trodenheit, die Abficht und bringt die phrafen- loſe Roheit des gefchlechtlichen Momentes, den Realismus der Auffaflung, der den Stoff alles biblifchen Farbenlackes entkleidet, die Hug ins Profane gezerrte und doch zu ſymboliſcher Kraft gefteigerte Situation vortrefflich zur . Anſchauung. Ueber die Häßlichkeit der Delila ift großer Lärm gemacht worden. Das liegt aber wohl mehr an der Auffafjung der Herren von Frauenſchönheit. Dies ift genau das Weib, worauf Simfonnaturen hinein⸗ fallen; im ihrer Fugen, rafjigen Magerkeit ift fie begehrenswerth für Jeden, den e8 treibt, mit brutaler Männlichkeit eine ftolze, fi) empört wehrende und Rache brütende Seele zu überwältigen.

Wohl läßt ſich der Stoff zweifellos größer geflalten. Die Roheit kann unerbittlicher, die Gemeinheit tragifcher gegeben, auf dem Wege der fonjequenten Steigerung der hier gewählten Auffafjung könnte das Einzelne mehr durch⸗ gebildet werden. Der dramatifche Realismus ift im Stilgedanten nicht untergegangen, fondern poetifch erſtarkt. Das ift viel; aber nun galt es, mit der Farbe bewußt zu charafterijiren, den einfachen Alkord von Yleifchtönen und Grau hundertfach zu variiren und die Abficht pfycholegifch, nicht deforativ, fo zu fpezialifiren, daß alle Nuancen auf den Zielpunkt ber Idee redend hinweifen. Bon Rembrandt ijt zu lernen, wie ein ftinfend wahrer Naturalismus in der gligernden Apotheofe eines bunten Juwelenfeners zu verflären und zugleich zu unterjtügen ift. Nicht die Mittel Rembrandts follen empfohlen fein die Mühe, eigene zu erlangen, wird unferer Malerei ja fchwer genug —, fondern die Sraft feiner fünftlerifchen Dispoſition.

Wie ſehr Leſſing mit feiner Aeſthetik im Kern das Rechte getroffen

Berliner Sezeffion. 423

Hat daR er jie auf Grund antiker Beifpiele erflären mußte, ift ja zu- fällig —, beweift jegt Kiebermann. Die Kompofition befolgt alle Gefege der Plaftifchen Ruhe, ohne die ein Figurenbild fofort genrehaft Mleinlich wird. Eine Reihe harakteriftifher körperlicher Erprefjionen iſt zufammengefaßt; nicht die Momenterſcheinung ift gewählt, fondern eine aus hundert Momenten zufammengefegte Bewegunglinie. Das Auge fieht vor ber Natur ja nie einzelne Augenblidspofen, fondern die Bewegungfolge und diefe wird dann als Linie, als lebendiged Ornament empfunden. Darum erfcheinen alle Momentphotographien falſch. Bor einem Bilde darf man nie da8 Berlangen fpären, dramatifche Entwidelungen zu fehen, nie, wie etwa vor Schlachten⸗ bildern, ein Vorwärtsdrängen des Gefchehniffes wünſchen. Das von Leſſing gefundene, in aller großen Kunft längft befolgte Geſez weit die Raum: kunſt an, Bewegungsfomplere refumirend fo aufzubauen, daß die Situation zeitlich fomohl vor= wie rückwärts weift und bie bildhafte Exftarrung einen Ruhe- und Reifepunkt des dramatifchen Vorganges darftelt. Es ift ein Zeichen gefunden Urtheils, daß die impreffioniftifchen Landfchafter ſich von dramatischen Stoffen zurücdgehalten haben, fo lange ihre unmündige Piy- chologie das malerifch Nothwendige aus der Fülle mimifcher Erfcheinungen nicht auswählen konnte. Aber es ift zugleich ein Zeichen von Befangenheit, daß fie dann das ihrem Können noch verfchloffene Stofigebiet für unkünſt⸗ ferifch erffärten. Aus ähnlichen Urfachen wollen neuere Bühnendichter die Handlung für unwefentli halten; ihrer Phantafie, die fi im Notizen- naturalismus erfchöpft, fehlt die Kraft des Geftaltungvermögens. Liebermann hat einen biblifchen Stoff gewählt. Doch entnahm er der Fülle tragifcher Menfchenfchidjale, den ungeheuren Leidenfchaften, die im Alten Teftament zu einem düfteren Tempelgebäude aufgethürmt find, einen Stoff, der allgemein menfchlicye Geltung behält, fich nicht auf ein religiöfes Dogma beruft. Trogdem verräth die Wahl ben verftedten Symboliften. Unfer Leben ift num jwar nicht weniger arm an Vorgängen, denen fombolifche Poefle abzugewinnen ift, al8 das der alten Juden; doch fehlt dem bildenden Künftler ihm gegenüber der Abftand der Zeit. Das Nahe ift nie poetifch, ift es im beiten Fall für den ganz Senfitiven. Das realiftifch Kleinliche, 018 dem Geſchehniß der Gegenwart anhaftet, wird noch verftärkt, weil es ſich in Alltagskoſtum, im profanen Milien und ohne Unterflügung jeder mythen- bildenden Kraft abfpielt. Dennoch wird fich die moderne Kunft in Zufunft vor der Aufgabe fehen, das uns umgebende Leben bramatifcher Gegenfäge eben fo bildend angreifen zu müffen, wie fie das armſäligſte Stüd Land- ſchaft durch konſequenten Subjektivismus poetifch verflärt hat. Die Renaiffance- fünftler durften, als halbe Heiden, ohne Sorge biblifche Stoffe benugen, eine Mutter Gottes zur Venus umgeftalten und den Beittendenzen Träger in der

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424 Die Zufunft.

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Apoftelgefchichte fuchen. Nominell Herrichte das ChriftentHum und es war nur eine große Kulturlift der Kunft, als fie die alte Form allgemad mi: ganz neuem Inhalt zu füllen fuchte. Heute ift Dem, der ſich ehrlich an der Hand der Naturwiſſenſchaften zur Weltauffaffung burchgerungen hat, aller Bibelgeruch verdächtig. Troy der Ehrfurcht vor dem monumentalen Inhalt ber Teftamente ber jegt nur noch äfthetifch gewerthet wird lehnt das Gefühl Vergleiche, die biefen Büchern entnommen find, in den meiften Fällen ab und forbert eine dem neuverftandenen Inhalt des Daſeins ent: fprechende Symbolik. Woher foll die aber fommen, da doch Alles im Werben oder Vergehen ift und fein Begriff ſeſtſteht? Das Suchen nad) dem uns Gemäßen, das in ber imprefjioniftifchen Malerei technifch begonnen hat und fich nun logiſch auf den poetifchen Stoff erftredt, mußte und muß ferner bie merfwürdige Erſcheinung hervorrufen, die unjere ganze moderne Kunſt charak⸗ terifirt: alle fehöpferifchen Künftler jind Skizziſten. Die vollfommıenfte Phantafie vermag ſich nicht ein Kunſtwerk wahrhaft modernen Geiftes vor: zuftellen, das zugleich ftiliftifch und deforativ harmonifch vollendet wäre. Das Eine oder das Andere: Skizziſt oder Formaliſt. Wenn eine neue große Stilfprache überhaupt je ausreifen kann, wird e8 im Lauf von hundert und mehr Jahren gefchehen, in einer langen, efleftifch fich ergänzenden Entbeder- arbeit vieler Generationen. Inzwiſchen wird jeder ernft mwollende Künitler, wenn nicht im Intellekt, fo doch im Inſtinkt, vor die Frage geftellt, ob er die Form dem Inhalt oder den Inhalt der Form voranfegen fol. Beides kann nicht gleich energifch gefördert werden. Das vollendete Kunſtwerk be- friedigt gewiß zugleich Sinne und Geift; feit hundert Jahren hat aber kein Künftler mehr gelebt, der die Webereinftimmung urſprünglich erzielt hätte. Selbſt der große Bödlin ift dem Ziel nur als genialer formafiftifcher Rhapſode, als ein auf alten Kulturwegen heroiſch dahin Stürmender nah gefommen. Manet und Monet, Tiebermann, Degas und Robin, Alle, die einen neuen Inhalt geben und keine anderen Mittel anerkennen als die vom MWirklichkeitiirun des Auges fanktionirten, find Skizziſten; die VBollender aber, die Schwärmer für ſchön geglättete Form, Klinger, Stud, Tuaillon, Hilde: brand, find, je nad) der Strenge ihres Stilgefühls, auch im Exfaffen des lebendigen Lebens Epigonen. Flüchtigkeit, Roheit, Unklarheit und Einfeitig: feit find die Gefahren der Skizziſten; für die Vollender droht dagegen Formalismus, der unüberwindbar, ift dag deflamirende, unfruchtbare Patl Diefer Unterfchied wird in der Ausftellung überall beftätigt; Gegenfäge ftehen fchroff neben einander. Mund, der eine Sammlung fe Arbeiten ausjtellt, ift typifch als ein Produft der herrſchenden geiftigen Fiel zujtände. Er iſt einer der vielen Entwurzelten des Lebens, gehört zu Jen die dem graufamen, unverftändlichen Scidfal mit wilden Haß und t'

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Berliner Sezefjion. 495

Verachtung gegenüberftehen, die auf dem Wege des konfequenten Nihilismus zur Urmyſtik gelangt find, num in der Nacht der irdifchen Saufalität vor jedem Geſetz erfchauernd zufammenfchreden und alle ewigen Myfterien taufend: fah, in den_profanften Lebensformen, verkörpert fehen. Nie hat e8 einen Maler gegeben, der befjeren Willen zum poetifchen Empfindungweije hatte; aber fein unglüdlicher Berftand, ber nicht zu vergeflen weiß, zeigt ihm in allem Leben den Wurm, unter jeder Schönheit dag grinfende Skelett, in der Zeidenfchaft das Thierifche, in allen Schmerzen bie Willfür der Natur; und . mit ftumpfer Verwunderung, woneben der höhnifche Wahnjinn feine Arme ausredt, geht er, als ein mit einem Talent ataviftiich Belafteter, durch dieſes verfluchte Leben. Hinter feinen Werken dent man jich einen Menſchen, den Seftalten gleich, wie fie in den Romanen Doſtojewskijs brüten? durch eine drüdende Atmofphäre von Zweifeln fchleichen, fich philofophifche Syfteme bilden und von der Lebensangft zu wahnwigigem Thun angefpornt werden. Und- daneben bligt und gemwittert immer das Geniale. Kein Wunder, daß ein Solder nichts von Tradition und giltigen Werthen wiffen mag. Nicht eine Form paßt ja mehr zu feinem Empfinden; die Sprache der Ahnen ift ihn paradiefifch fremd. So fteht diefes triebhafte Talent vor der Riefen- arbeit, feiner Myſtik eine neue Kunftform zu finden. E38 ift fast unheimlich, zu beobachten, wie es hier in einer Kleinigkeit gelimgt und wie die Qual de3 Verſagens fi) an anderer Stelle in Hohn umſetzt, jich gellender Karika— tuven bedient, wie diefer Nervenmenfch ſich dann roh geberdet wie ein Holz= knecht. Man denkt an Strindberg, deſſen Stepfis auch an den Abgründen der Myſtik umherirrt, dem auch ein nabelfpiger Verftand nicht geitatten will, Gott wie ein Kind zu lieben.

Mund malt etwa, wie ein rothes Haus den Nahenden brohend an- glogt und Empfindungen erwedt, wie man fie einer Marslandſchaft gegen- über haben könnte; wie Menfchen mit blöden, verlegenem Gruſeln, das faft zum verzerrten Lächeln wird, in ein Totenzimmer treten, voll irrer Rath- Lofigfeit dort umherſtehen und jich vor der überlegenen Gelaflenheit des Toten fhämen. Er malt Mann und Weib in brünftiger Umfchlingung, als wider: ftandlofe Opfer der eifernen Nothwendigfeit des Gattungsgeſetzes, Knabe und Mädchen, die in krankem Sehnen dahinfterben, mit denen der Gefchlechts- trieb wie mit Marionetten fpielt; Menſchen gehen durch troftlo8 dämmernde Straßen, wie eine Heerde von Lemuren, kranke, fataliftifche Gefichter, deren vom Lebensleid verzerrte Züge in fahlen Gelb aus dem Dunkel hervor- gleigen. AU diefe Verzweifelten fommen von Golgatha, wo ihr deal, der füre Jeſus ihres Herzens, gefreuzigt ward. Gatten jigen in dunkler Stube eng beifammen und weinen, daß ihr Schluchzen das ftille Haus geſpenſtiſch erfüllt; zroei förperlich eng umgitterte Seelen fchreien, kreiſchen ſchreckensvoll

426 Die Zukunft.

nad Vereinigung. Geflaltet find folche Stoffe mit einer brutalen Kar: taturhaftigfeit, wie wir fie ähnlich von Bruno Paul kennen, mit orname: tolen Bildungen, die an Ludwig von Hofmann erinnern, und dann wieder mit einem großzügigen Realismus, der den eminenten Zeichner und Malrr, den Kenner franzöfifcher Kunft verräth. Jedes Bild ift ein Embryo ur) theilt Etwas von dem Efel mit, der allem Embryonifchen anhaftet; zugleich aber jieht man überall Möglichkeiten des Wachſens, Keime zukünftiger Kat: und Schönheit. Diefe Kunſt ift in ihrer Art fo gut Ertraft wie die var Goghs, und je länger man ſich damit befchäftigt, defto reichere8 Detail finte man in der Vereinfahung. Manchmal erhebt fi der Stil mit breitem, ornamentalem Vortrag ind Pathetifche; manchmal entgleift er jäh ins Bar: feste und liefert dem Publifum Stoff zu willlommenen Gelächter. Ymme aber fteht neben den problematifhen Senforium ein kräftige deforativ:? Gefühl. Die Farbenharmonien, für jich betrachtet, find von eigener, teppid- artiger Schönheit. Wie viel diefer Unfertige fann, wie gat er fein Bant- werk verfteht, bemweifen einige Portraits. Mit den geringiten Mitteln ift bier er[chöpfend charakterifirt, mit einer Einfachheit, die an altegyptifche Portraits malerei erinnert, find die individuellen Züge eines Gelichte® auf das ganz Wefentliche zurüdgeführt.

Das Talent, eine Impreſſion technifch zu überfegen, in der Phantaite bie lebendige Begegnung von Ideen und Material herbeizuführen, alle Hilfs: mittel des Handwerkes gerade fo zu bemugen, wie fie der Abſicht am Beſten dienen, den eigenartigen Stimmungwerth jeder Darftellungmanier der geiftigen Tendenz anzupaflen: dieſes Talent macht die eigentliche artiftifde Stärke der imprefiioniftifhen Maler aus. Man betrachte Werke von Liebermann, Manet, Iſraels: immer liegt die entfcheidende Fünftleriiche Phantajiethat in diefer genialen Annäherung von dee und Technik, von Abſicht und Materie. Es wird Einem Mar, wenn man, von Munch fommend, zu dem Bilde „m Meer“ von Liebermann geht einem koſtbaren Bild, dem die hohe Echule von Degas, was Raumgefühl betriftt, anzumerken ift —, zu dem im Sinn des berliner Malers fehr fein gezeichneten „Carouſſel“ Iſaacs Iſraels, zu der genialen Neiterffizze Manets oder dem fabelhaft gemalten „Frühftüd“ Mones. Man kann verftehen, daß die Braven vom Glaspalaft vor folcher Kunft ganz rathlos find; denn diefe Technik bedingt eine eigene feelifche Anfchauung der Natur. Ganz fünftlerifche Technik ift nie etwas Millfür- liches, fondern entjpricht genau dem Geift, der jie regirt. Parador fanıı man es fo ausdrüden: unmöglich vermag ein Pointillift an die Dreieinigfeit und an die chriftliche Unfterblichkeit der Seele höchſtens an die fpiritiftiiche zu glauben; Eduard von Gebhardt fünnte dagegen nie Pleinairift fein. Wenn die Technik des Impreſſionismus auch das ewig gekniffene Auge bedingt

Berliner Sezeſſion. 427

oder umgekehrt —, fo bleibt e8 doch beſſer, mit diefer Fünftlichen Schligäugig- feit etwas fpringend Charafteriftifches zu fehen als mit offenen Blicken das Banale Und der Betrachtung muß diefe Technik jo wefentlich fein, weil fie ein deutliches Produft der neuen Geiftesrichtung ift. Vielleicht erlangt Vieles von der Sezeflioniftenkunft, die uns fo ſtark interefjirt, niemals die Muſeumsunſterblichkeit. Das hindert nicht, daß diefe Art Unvollkommenheit für die Entwidelung und für uns alfo wichtiger ift als die auf artiftifchen Schleihwegen erlangte Vollendung Wahrfcheinlich werben Liebermanns Bilder der erften Periode, die nach dem Herzen eines Akademieprofeſſors Durchgearbeitet find, in den Galerien ſtets Chrenpläge einnehmen, während Das von feiner heutigen Kunft zweifelhaft iſt. Die von der Zeit, ausge⸗ theilten Preiſe der Unſterblichkeit beruhen. ii. Welemlichen· ja.auf. Di Majoritãt⸗ T he Tind 'alto ſche unfethtbar. . Solche Hinweiſe finb-Lefler- and dem Gpiel FT Tolfen.. „Uns, darf nur ‚daS wahrhalt. lebendige Empfinden ber Stunse "gelten; mag, bie : Butunft Dawn uxtksilen, wie fie fann und will, Die Künftler

ftehen und am Nächſten, die Dem, was uns ſchmerzt und freut, was und weſentlich erſcheint, Ausdruck ſuchen und finden; alſo die Maler, die hier mit dem Namen Skizziſten bezeichnet worden find. Whiſtler, der. feinen fultivirten Gefhmad in den Taft neuer Empfindungen gezwungen hat, gehört dazu, Ludwig von Hofmann, der Iyrifhe Stimmungpoet, und der innig empfindende Baum, Kurt Herrmann, der, über die Jugend hinaus, ein bereit3 ſicher erworbenes Gebiet freiwillig verlaflen, den jchon errungenen Ruhm preiögegeben hat, um von Neuem am Kampf theilzunehmen, Breitner, der talentvolle Mitenipfinder Jakobs Maris, der einfache, phrafenlofe Albert, Leiſtilow, deſſen Bilder fo ernithaften Optimismus predigen, Stremel, mit feinen Eoloriftifch funfelnden Interieur, und Corinth, der ein großer Künftler fein könnte, wie er ein ftarfer Maler ift, wenn fein Geiſt fo willig wäre wie fein Fleifch. Bon all diefer Kunſt ift im höheren Sinn nichts fertig und viel- leicht reift fie uns niemals zu einem großen Stil aus. Das einzelne Wert füllt nie die ganze Seele; jeder Künftler bearbeitet vielmehr eıne Nuance ber allgemeinen Weltempfindung als Spezialijt. Aber aus der Geſammtheit der Werte blidt Etwa wie eine große Harmonie hervor und der Trieb, dem diefe Talente gehorchen, weiſt auf ein einziges deal, das fich einem jeden Ideal der Vergangenheit würdig gegenüberftellen kann.

Die Erfcheinungen der Malerei wiederholen ſich in der Skulptur; nur dringt das Material hier auf deutlichere Betonung der Form. Wobin hat feine Materie bis zur. Grenze des Miöglichen ins Maleriſche gezwungen; nicht aus Laune, ſondern, weil er nur mit imprefjloniftifchen Mitteln bifferenzirte Empfindungen darftellen kann, ohne naturaliftifch Heinlic) zu werden. Er befigt alle Bildnertugenden der Vergangenheit: den Formenfinn der Antike,

428 | Die Zukunft.

das Charafterilirungvermögen der Gothil, da8 dekorative Temperament der Renaiſſance; nur die vornehmfte Fähigkeit des Plafiikers, der architektonifche Sinn, der all jenen Stilen einjt Halt und Größe gab, fehlt ihm. Alſo die Hälfte. Es ift nicht feine Schuld, ſondern die einer nervöſen, äfthetifch unfruchtbaren Zeit, die im Künftlerifchen, wie feine andere, den Wald vor Bäumen nicht fieht.- So wird auch er. Skizziſt in Marmor und Bronze. Minne ift in gleicher Lage; nur hat fein mehr fpezialifirtes, engere Talent fi für die Gothik entfchieden, um eine imaginäre Stüge zu haben. Das hat den Belgier zu einer ficheren Entfaltung feiner feſt umgrenzten, aber tiefen Begabung befähigt und ihm die Möglichkeit gefchaffen, feinen realifti- ihen Myſtizismus in einer Weile vorzutragen, die wie Zukunftmuſik an- muthet. Unter den ausgeftellten Arbeiten Minnes ift eine „Badende*. Diefer Heine Gips ift ein Meifterwerf, ein Bijon und kann ſich der Antife eben bürtig gegenüberftellen.. Dennoch: Kleinkunſt.

Tuaillon will Monumentalfunft geben und geräth dabei jofort ins andere Lager, zu den Formaliften. Es wird gut fein, zu betonen, daß ber verächtliche Nebenfinn dieſes Wortes Hier Feine Geltung haben darf. Es giebt wenige Sünftler, die erniter arbeiten, fleitiger die Natur ftudiren als die Bollender, die den Ehrgeiz haben, in jedem Fall fertige, ftiliftifch geglättete Kunftwerke zu geben. Alle Borausfegungen für große Kunſt find in diefen Talenten enthalten; es fehlt nur die Hauptfache: das naive Gefühl, bie Seele. Ein Pferd und einen Aft fo zu modelliven, wie Tuaillon e8 gethan, die Gruppen fo einfach, lebendig und mit fo feiner artiftifcher Berechnung aufzubauen: Das ift in unferer Zeit fehr viel. Doc wir ftehen und fehen mit kluger Anerkennung, wir loben und faffen alle Künfte unferer Bildung fpielen; am Ende merken wir doch bie innere Kälte: daS tüchtige Werk geht und zu wenig an. Das Fazit ift: wenn Zuaillon vom Unionflub zur Ausſchmückung idealer Sportpläge cugagirt würde, wäre feinem Talent völlig genug gethan.

Bilder diefer Art find weltfremd was nicht ausfchliegt, daß fie oft Weltlente find —, auf die Antike angemwiefen und gehören zu der in Deutſchland unvergänglichen Schaar von römischen Künftlern deutfcher Nation. Hildebrand, das arcjäologifche Genie, der nur warın wird, wenn er vor einem im Leben zudenden Charafterfopf als Portraitift fteht (was eine in- feriore Art der KHunftbethätigung ift), hat eine große Scülerfchaar ber gezüchtet, die ich über das Niveau der Begasfchule oder gar der Siegesaller weit erhebt wie Heyſe über Wildenbruch und Lauff, die aber Hinter der ner franzölifchen Plaftif fo weit zurüditcht wie Heyſe hinter Flanbert. In dief Vergleich ift es ſchon bezeichnet: die intellektuelle Fähigfeit, der poetife Mille it hier und dort faft gleich zu werthen; aber die Art der führen?

Berliner Sezejjion. 49)

Ideen entjcheidet, in einer tendenziös gefpaltenen Zeit, mehr über den äftheti- fchen Kulturwerth von Kunitleiftungen als das abjolute alademifche Können. Die Urfprünglichkeit fiegt bei gleichen Qualitäten. Auch Klinger ift hier zu nennen. Sein Beethoven foll nach dem unglüdlihen Gips nicht beurtheilt werden; doch erzählt die Gruppe nichts vom Künftler, was man nicht jchon wußte. Hier will ich Etwas fagen, das, fehr gegen meinen Willen, arrogant Mingt: AS ich fünfundzwanzig Jahre alt war, empfand ich genau wie Klinger. Nicht fo tief, nicht fo groß, zeif und umfaflend, nicht fo temperamentvoll und bewußt; aber in der Richtung des eflektifch taftenden Gefühles, der Gattung des Empfindens nach genau fo. Die Phantajien folcher Geiſtes⸗ rihtung nehmen ihren Weg über Vorftellungen von der Antife, von Dante, Michelangelo, Goethe, auch ein Wenig von Hebbel; jie gehen ſtets auf Kultur⸗ wegen, nie auf ungebahnten Naturpfaden, find nicht frei im höchſten Sinne und nie fo verzweifelt muthig, ganz von vorn zu beginnen. Was Klinger und all den reinen, warmen Menſchen feiner Beranlagung fehlt, ift die Fähig- feit, primitiv zu empfinden, primitiv zu bilden. Die klaſſiſch-humaniſtiſche Anſchauung ift ihnen zur Natur geworden, ja, zur perfönlichen Kultur. Doc) iſt folche Kultur allzu ſchnell in zwei nacdhgoethifchen Generationen erworben und nur lebensfähig im gefchloffenen Kreife gleichjtrebender Bildungs- genoffen. Diefe Intellektuellen ftehen den Primitiven fchroff gegenüber, faft wie die Väter den Söhnen, und begreifen nicht den Zufammenbruch der klaſſiſchen Welt, in der fie ihre höchften Entzüdungen erlebt haben. Es find die legten, klügſten und freiften Epigonen der Goethezeit. Wie Klinger Beethoven betrachtet, fo erfcheint ihnen die ganze Klaſſikerzeit: in olympifcher &lorie. Uns aber ift Beethoven mehr ein Hiob, den fein Gott auf feinen Schrei antwortet als der, der ihm im Buſen wohnt.

Alles in Klinger Werken ift gedacht; man tieht die Operation de3 Berftandes in voller Heinlichkeit. Die nur dem Gebildeten zugängliche Allegorie fpuft überall und der genial mit Wirklichkeitiinn gemischte Archaismus fom= mentirt, wo etwas Gefühltes hinreigen mußte. Klinger iſt nicht eiwa arın an Empfindung; doc) empfindet er mit dem Gehirn. Dadurch wird feine Kunft zu einem Spiel mit der großen Fülle ihm geläufiger Formen, deren jede für ihn Etwas bedeutet und Beſonderes ausdrückt. Und Alles ift fo ug fombinirt, fo temperamentvoll ausgedacht und das Natürliche vermäßlt ih fo glüdlid mit dem Erflügelten, dag man von diefem Vorftellungmofait ganz hingerifien wird. Nichts ift zu tadeln als das Ganze, Alles zu Toben bis auf das Prinzip. Durch die Skulptur, wo das Material dem Berechneten vor Allem widerftrebt, ift Klinger zur Materialäfthetif getrieben worden. Die Büfte der Afenieff ift fo intereffant wie leblos, fo fünftlerifch wie künſilich. Der Liſzt ift prachtvoll gedacht, aber nur gedacht. Und der Beethoven läßt

430 Die Zukunft,

fi) beweifen, wie eine Tragoedie von Racine. Das Unbemweisbare aber ü Kern aller großen Kunft.

Nicht immer find.e8 Motive aus Griechenland und Italien, won: die Vollender ihre Werke harmonifc zu runden ſuchen. Strathmann über nimmt die irren und wirren Reize japanifcher Kunft, bildet jich fo eine engen, aber Foftbar funfelnden Formalismus aus und fpielt ſich, exrperimm: tirend, im Schönheitötraum durchs Leben. Heine wein fih Dagegen aus kr Dilemma, wie aus jedem, geiftreich zu retten. Erſt benugt er mit größte Subtilität und vollendetem Gefhmad archaiftifche Bildreize zur Darftellun graziöfer Ungezogenheiten, und dann übertreibt er die formalen Stileigenkeiter fo Hug, daß der Formalismus jich felbft ironiiirt und die Satire des Stofe: verftärft. So flieht er mitten im Hiftorifchen umd doch darüber, verwirrt bes Beichauer, fpottet über die eigenen Krücken und löſt das Problem im Ge lächter auf. Nur feine Behandlung der prinzipiell fo wichtigen Kunfifrex hat praftifchen Werth: die Köfung eines Karikaturiſten.

Der Zivielpalt verfchwindet allein auf dem Gebiet der Portraitmalerei Hier, wo das Objekt feine Rechte fordert, der Phantafie feſte Grenzen for: maler Natur gezogen find, fragt man nicht nach Impreſſion oder Altmeiſter⸗ lichkeit. Wenn das Wefen des Dargeftcliten eindringlich wiedergegeben ik, find die Mittel gleichgiltig. Darum wird Trübners Herrenportrait, dus ſchon vor zwanzig Jahren gemalt worden ift, für alle Zeiten modern fein; denn jede fünftlerifche Qualität dieſes meilterhaften Bildes tft pfyche logifch gerechtfertigt; und wo der Gleichklang von Anfchauung und dee ii, wird jedesmal auch til fein. Slevogt ift e8 mit feinem D’Andrade weniger geglüdt, fo viel Talent in feiner Arbeit auch enthalten if. Der Künftler ſchwankt eben jest zwifchen Hell und Dunkel und die münchener Malweiſe, die auf zwanzig Schritte nad) Delfarbe riecht, wird ärgerlich ſichtbar. Doch man fpürt in feiner Natur ein kräftige Wachſen. Sem Theaterportrait ift darum, felbit in der Unausgeglichenheit, werthvoller al3 das fertigere, fehr geihmadvolle, etwas feminine Damenbildnig von LKepiing, als das von einer ewig gleich fchrulligen Tüchtigfeit zeugende Werk Habermann oder Kalckreuths mühjame, verftändige Portraitlunft. Temperament fpürt man wieder bei Zorn, dem europäifch Eultivirten Ruſſen Somoff und in dem bimmlifch ſüßen Frauenbildnig von Zargent. Das ift verliebte Malerei.

Mit diefem Bild im Auge wird c8 leichter, die äftgetifche Anjchauung, die in der Ausftelung wahre Strapazen ertragen hat, auf der Straße, der geſchmückten MWeiblichfeit gegenüber, harmlos fortzufegen; und fo fommt man mit guter Manier über die peinvollen Widerfprüche hinweg, die fich innerhalb der Sezeflioniftenfunft und im Verhältniß diefer idealen Bethätigung zu ben geltenden Lebensformen zeigen und unerbittlich zur Parteimahme drängen.

Friedenau. * Karl Scheffler. |

Geigenfpieler und Flötenbläſer. 431

Geigenſpieler und Flötenbläſer.

as Schickſal iſt dumm und blind und brutal. Was kümmert es, ob wir in Luſt oder Qual uns beraufchen oder trafen? Eine fingende Beige gabs mir in die Hand und warf mich hinab, wo im ganzen Land die Leute nur Flöte blafen.

Und ich geigte im ganzen Lande herunt,

doch Alles blieb kühl und dumm und ftunım: fie verftanden ſich nur auf Slöte.

Und doch hatt’ ich ihnen mein Beftes gezeigt, mein Allereigenftes vorgegeigt,

daß ich vor Scham jetzt erröthe.

Da fperrt’ ih mid ein in mein Känmeerlein und fragte und geigte für mid allein

auf meiner Dioline.

Daß fie bald Freifchte und fchmerzlich fchrie, bald ſchluchzend weinte in MNelancholie

unter dämpfender Sordine.

So geig’ ih mich tot ohne Zweck und Siel, denn es rührt mein einfanıes Geigenfpiel weder MNenſchen noch Thier noch Bräfer. Das Schickſal ift dumm und brutal und blind. Warum fhhidt es ein geigendes Mlenfchenfind unter die Slötenbläfer?

Delfingfors. Johannes Dehquift.

. Rinderarbeit.

S)“ Kind ift eine Vergegenwärtigung des Ideals, nicht zwar des erfüllten, aber des aufgegebenen. Es ift die Vorftellung feiner reinen und freien Kraft, feiner Integrität, feiner Unendlichkeit, waS uns rührt. So fchrieb Schiller zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts.

432 Die Zukunft.

E3 war die Zeit, in der die aufblühende mechanifche Produktion 7% ber Sinderhände bemächtigte; aus den gelöiten Feſſeln der früher hebördfik überwachten Gewerbe fchmiedete jie Sflavenkeiten. Seit 1815 zeigen fiaak- liche Erhebungen, wie e8 um die reine und freie Kraft, die Integrität, de Unendlichkeit einer wachfenden Anzahl Kinder ftand: von vier und fünf Jahres an wurden fie bis zu vierzehn Stunden in dumpfe Werfftätten eingepferdt, zum Theil in der Nacht; nicht felten mit roher Mikhandlung zur Arber getrieben, mit Peitſche und Waflerfprige „friſch“ erhalten. Es Tam ver, daß ihre Erholung in Spiel, Tabak, Branntwein, Unzucht, Rauferei, ihre einzige Unterhaltung während der Arbeit in fchmugigen Reden und Xiebera beftand. Das Kinderelend fchlug die erfte Brefche in das Lehrgebäude ver ber Sefbftverantwortlichkeit der Arbeiter in dem neugeitlichen Wirthſchaftleben ſchuf die Antithefe dev Gewerbefreiheit: den ftaatlichen Arbeiterfchus.

Doch die Gefeggebung eines Jahrhunderts vermochte nicht, das Lichel an der Wurzel zu treffen. In der Fabrik freilich ward e8 eingebämmt. „sn der Hausinduftrie, in Handel und Verkehr, ja, in fat ſämmtlichen Berufsarten wuchert e8 üppiger ald zuvor.” „Zaufende, Zehntauſende vom Kindern arbeiten im Schweiße ihres Angelichte8 von morgens halb- vier ab bis zu Anfang des Unterrichtes Stunden lang oder fchaffen die Nächte bin: durch bis zwei, drei Uhr.“ Das zwanzigfte Jahrhundert brach an, che Deutſch⸗ land eine Reform aud nur in Angriff nahm. Erſt jegt haben die Ber: bündeten Regirungen einen Gefegentwurf vorgelegt, der die Kinderarbeit außerhalb der Fabriken vegeln jol. Er macht Halt leider vor ber Landwirthichaft und dem Gelindedienft. Nicht aber vor der Schwelle bes häuslichen HeiligthHumes, das in zu vielen Füllen eine Höhle der Armuth und der Verkommenheit ift. Darin liegt feine Bedeutung.

Die Geichichte diefer Neforn zeigt deutlich, was ein Einzelner vermag, der mit tapferer Hingabe fein Ziel verfolgt. Gewiß darf das von Soziologen, Herzten, Oewerbeinfpeftoren und einzelnen Ortsbehörden gelieferte Material nicht unterfchägt werden, nicht der Einfluß der fozialdemokratifchen Agitation und der Arbeiterfchugfongrefie. Aber die lebendige That brachte doch erft das Auftreten des Volksſchullehrers Agahd.

Konrad Agahd, im Jahre 1867 als Sohn eines Lehrers in dem ponimerfchen Fleden Neumark geboren, empfing im Elternhaus die Eindrüde, die jein Leben beftimmten: „Mit der Muttermilch eingejogen habe ich den Grundfag: den Schwachen beiltehen in jeder Weife. Unfer Haus war felten ohne Jemand, dem der Bater helfen mußte, und die Mutter gab Alles hin für Kranke im Ort, leife, leife.” Schon im Seminar regte ſich der fritifch reformatoriſche Geift und in feiner erſten Lehrerſtelle in Virchow, Kreis Dramburg, begamm der Zwanzigjährige, „den Urſachen nachzuſpüren,

Kinderarbeit. 433

auf denen die Verfchiebenheit der fozialen Lage, der Bildung und die Rüd- ftändigfeit der Bewohner dieſes Drtes und feiner Heimath beruhen könne.“ 1890 kommt er nach Rixdorf. Hier beginnt feine fozialpolitifche Thätigkeit unter dem Motto: „Durch eigene Kraft vorwärts, unbelümmert um rechts und links. Der Menfch glaube an feine dee.” Sein Glaube ftählt ihn: fein Ruhen noch Raſten, fein Erlahmen an den Widrigfeiten des Kampfes, an der Enge und Gebundenheit jeiner Stellung. Er nimmt fie groß. Mit feinem Berftehen forfcht er in der Kinderfeele, ſucht die Köfung mancher Räthiel in ihrer Ummelt. . „Bon je her bemüht, jeden Schüler individuell zu behandeln“, madt er fih mit den Verhältniſſen der Eltern vertraut. 1894 erregt feine erſte geumdlegende Schrift über die Lohnarbeit der Kinder in Nixdorf Aufſehen. Zahlreiche Auffäge, Vortrag auf Vortrag bald hier bald dort, folgen. Ihm vor Allen ift e8 zu danken, daß die beutjche Lehrer: fchaft fih in den Dienft des Kinderfchuges ftellt und den Staat zum Handeln treibt. Nach feinem Vorgehen, dauernd von ihm angefpornt, ergänzen und kommentiren die Lehrer die unzulänglichen ‚Angaben amtlicher Erhebungen, hauchen den toten Zahlen graufam beredted Leben ein.

Agahds jüngft erſchienenes Buch „Kinderarbeit und Gefeg gegen bie Ausnugung Findlicher Arbeitkraft in Deutfchland“*) unterrichtet über ben Gang der Ereigniffe.e Genauer Sachkunde paart fi naiv bewegliche Klage und apoftolifhde Mahnung zur Abhilfe Der Meenfchheit ganzer Sammer, der dem Verfaſſer in feiner Schule vor Augen trat, durchzittert wie leifes Schluchzen die fchlichte Darftellung.

Nach den als ſolchen erwiefenen Mindeftzahlen der amtlichen Erhebung von 1898 waren außerhalb der Fabrilen 544283 Kinder gewerblich thätig. Ihre wirkliche Zahl wird auf das Doppelte veranſchlagt. Man fpricht von der erzieherifchen Wirkung der Arbeit. Gefundheit:, Schul- und Sriminal- ftatiftit laffen über diefe erzieherifche Wirfung feinen Zweifel. Sie befteht, fagte Graf Poſadowsky in der Reichstagsſitzung vom dreiundzwanzigften April 1902, unter Umftänden darin, „daß ein ſolches Kind zum Krüppel oder Idioten“ und, füge ich hinzu, zum Verbrecher erzogen wird. Der Aufenthalt in verborbener Luft, Näſſe und Kälte, endlofes raſches Treppen- laufen, Bier- und Schnapsgenuß find die Segnungen de3 Heinen Haus: induftriellen, Stragenverfäufers, Zeitung und Badwaarenträgers, Ausläufers, der Kegeljungen und Kellnerlehrlinge. infeitige Körperbeanſpruchung in der Zertilinduftrie bewirkt Mißbildungen, nächtiges Porzellanmalen zerftört die Sehkraft. Un fih ungefunde Arbeiten, wie in der Tabak-, Cigarren⸗ und Gummifabrifation, treten Hinzu. Kinder, Mädchen und Knaben, find

*) Unter Berüdfichtigung der Gejeßgebung des Auslandes und der Be- Ihäftigung der Sfinder in der Yandwirthichaft. G. Fiſcher, Jena 1902.

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als Steinmegen, in Diühlen, Brauereien, Branntweindrennereien, ala Weir: Schmiede, Stubenmaler, Zimmerer thätig. Auch „Schlachten ift feine Fe Ihäftigung für Kinder. Sonberfabinet8 zu bewachen noch viel weniger‘

Die Hete de3 Erwerbes madıt die Schule zum „Nebenberuf“, ber dei Kind ſtumpf findet und ihm Prügel einbringt, wenn e3 ihn zum Nusichlaie nugen will. „Die Kinder fehen vielfach bleih und kränklich ans, m engbrüftig, befonmmen krumme Rüden, leiden an den Augen.“ „Es kommt vor, daß faft die Hälfte der Erwerbsſchüler einer Klaſſe unternormal ik Und e8 kann nicht Zufall fein, daß die bemooften Häupter der Fibelifie fo weit nicht Fdioten in Betracht kommen, faft immer noch erwerbend thaͤtig find oder doch waren.“ Möge niemals vergefjen werden, unter welchen Ser: hältniffen Lehrer arbeiten, wenn 44 von 69 biß 87 Prozent einer Mae (Ergebniß aus Chemnitz) im Erwerbsleben thätig find. „Die verbreitetftes fittlihen Schädigungen liegen aber in der Untergrabung der Ehrlichkeit, des MWahrheitgefühl® und des Gefühle für Sitte und Anſtand.“ „ES gebön durchaus nicht zu den Seltenheiten, dag Knaben am frühen Morgen ver Dirnen verfchleppt werden." In England waren 67 Prozent der zur Zwangs⸗ erziehung abgegebenen Kinder Straßenverläufer. Hören wir auch den Ge fängnißfehrer. Bon je 100 jugendlichen Gefangenen in Plögenfee waren 54 bi8 70 während der Schulzeit Stalljungen, Laufburſchen, Kegelauffeger u. |. m. „Unfere Bengel, die wir da haben, die Mörder, find, wie ich feftgeftellt habe. alle Zungen gewefen, die in den Deftillen gefeflen und Kegel aufgeftellt haben.‘ Biele Jungen, die wegen Diebftahl3 beftraft wurden, waren früher Semmel⸗ träger. Mit Kleinen Diebftählen fangen jie an, eine Stufenreihe reiht ſich an die andere und endlich fommen die Jungen zu und.“ Was für bie ge werbliche Arbeit gilt, trifft auch die Landwirthichaft und ben Geſindedienſt

Wie die Beilerunganftalten und Gefängniſſe, fo füllt jede Art der Kinderarbeit aud die Kranken: und Armenhäuſer. Die übermäßige An- ftrengung in der Jugend führt zu vorzeitiger Erfhlaffung und Erwerbs: unfähigkeit. Und die Heinen Kinderhände drüden bleifchwer auf die Löhne der Erwachſenen, mehren Noth und Arbeitloſigkeit. So ift ihr Erwerb em Krebsſchade, der den Staat belaftet, das Volk entnervt. Unmöglich, ihn in unferem heutigen Wirthſchaftſyſtem erziehlich werthvoll zu geftalten. Er hängt zu eng mit deijen trübjten Auswächfen, Wohnungnoth, Hungerlöhne, Armı nj, Smeaterinduftrien, zufammen. Immerhin: das neue Gejeg weift vorwär 3. Agahds Buch zeigt den Werth und die Rückſtändigkeit des Entwurfes, ford 2 | zur Mitarbeit an feiner Verbefferung auf, will mit Recht die ganze ef: Schaft zu Intereffenten feiner Durchführung machen. Es ift „allen Kind: | freunden gewidmet“, eine flammende Mahnung, ein erjchätternder Wedruf. |

Helene Simon.

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Selbftanzeigen. 435

Selbitanzeigen.

Die Fabrikarbeit verheiratheter Frauen. (Schriften des Sozialwiſſen⸗ ſchaftlichen Vereins in Berlin. Herausgegeben von Oskar Stilli.) Verlag von Dr. Eduard Schnapper, Frankfurt a./M. 1902.

Das Jahr 1899 Hat uns eine höchſt werthvolle Aufnahme gebradt. Man Hatte die Beamten der Gewerbeauffiht beauftragt, eine Unterſuchung über die Fabrikarbeit verheiratheter Frauen und alle ihre Folgeerſcheinungen anzuftellen. Meine Schrift bezwedt, die Ergebniffe diefer Aufnahme in völlig fachlicher Faſſung, aber troßdem Tritifch verarbeitet, einer größeren Deffentlichkeit zu unterbreiten. Selbftverftändlich konnte man fi) nicht darauf befchränten, die Wirfungen der Fabrikarbeit auf die Frauen ſelbſt zu kennzeichnen. Es galt vielmehr, in den Brennpunkt der Erörterungen die Trage zu rücken, welchen Einfluß die induftrielle Thätigkeit der rau und Mutter auf bie Familie, namentlich ‚auf die Kinder, ausübt. Daran knüpft fih die Erwägung, ob die verheirathete Frau von der Fabrikarbeit auszufchließen ſei. Endlich mußten verihiedene Reformvorſchläge betrachtet werden. Auch die heute ſo vielumſtrittene Frage einer Neugeſtaltung des Arbeiterhaushalts auf wirthſchaftgenoſſenſchaftlicher Grundlage wird eingehend erörtert. Ich hoffe, mit dem Buch Allen, die ſich für die wichtige Frage der eheweiblichen Fabrikarbeit intereſſiren, ein Hilfsmittel in die Hand gegeben zu haben, das ihnen die nöthigen Daten in überſichtlicher Weiſe zur Verfügung ſtellt. Schließlich wird wohl Jeder zu der Forderung gelangen, daß die aus vielen Gründen unentbehrliche Erwerbsarbeit verheiratheter Frauen ſo geſchützt und ausgebaut werden muß, daß ſie aus einem Verderben bringenden zu einem heilſamen Faktor der nationalen Wirthſchaft werde.

Frankfurt a./M. Henriette Fürth. 5

Beftern und Heute, Gedichte. M. Lilienthal, Berlin. Preis 1,50 Mark. Eine Probe: Gebet. Zu Dir bet' ich, großer Geiſt der Welten! Laß mich immer treu ſein meinem Schwur: Euch allein ſoll nur mein Ringen gelten, Wahrheit, Schönheit, Eurer Spur.

Wenn eriterben will das ftarfe Sehnen

Und zu niederm Biel der Geilt einft lenkt, Wenn mit lieblich Iodend füßen Tönen Leichter Ausweg aus dem Kampf fih ſchenkt,

Dann gemaltger Geift, erhör mein Flehen Tritt zu Boden jedes andre Glüd, Zap erbarmunglos mid) untergehen, Doc bereite mir fein feig Zurüd. Halenjee. Hellmuth-Hell. 8

436 Die Zunft.

Die Siaven in Deutfhland. Mit 215 Abbildungen, Karten und Tlüne, Sprahproben und 15 Melodien. Braunfchweig, Druck und Verlag vn Friedrich Vieweg & Sohn 1902. (15 Mt.)

Ich Habe die Politik aus dem Zpiel zu lajlen gefucht, um die Tage frage „Die Slaven in Deutfchland“ zu würdigen. Ich glaube aud, daß ki gegenjeitigem Eingehen auf das Volksthum der Stämme eine Grundlage ie Berftändigung geichaffen wird, Jedenfalls jollte dem Bolitifiren das Studtu2 der Volkskunde der ſlaviſchen und baltiſchen Bewohner des Deutſchen Reidz vorangehen. Meine Darftellungen, die erjten ausführlichen des großen Gefammt ftoffes, jtüßen fich auf wiederholte längere und fürzere Reifen uno auf ba Berfehr mit den flavifhen Stämmen an Ort und Stelle. Dabet ijt nicht ver⸗ geſſen worden, auf Alles einzugehen, was in der beutfchen und flavifchen Yiteratur alter und neuer Zeit meinen Gegenſtand beleuchtet.

Leipzig. R Franz Tegner.

Sprechendes Leuchten. Für dentende Menichen ein Büchlein Gedanlen Berlin 1902, Schufter & Koeffler.

Der Autor diefes Buches? Das Leben. Nicht ich. Aber in mir hat das Leben Muße gefunden, Mancherlei zu offenbaren von Dem, was in ihm bejdlofe liegt. Und aus diefem Mancherlei habe ich mi Das zu wählen bemüht, ma entiveder, wie das Sprichwort, ewig wahr und prägnant oder in der Form ſo neu ift, daß auch alter Inhalt gern mit in den Kauf genommen wird. Sollte mander Spruch diefes Buches im Sprichwort aufgehen, dann will das Buch mit Freuden wieder untergehen.

Münden. Hugo Oswald. 3 . Der Spiegel. Gedichte, Szenen, Königsmärchen. Hermann Seeman Nach⸗ folger in Leipzig, 1902. Ä Geite 1: Und wieder faß ichs fo: das Spiegelglag, das Tu in Deines Lebens Mittagshöhe anfiehit ohn' Unterlaß in jener augentiefen Nähe, wo es ſchon faſt vor Deinem Hauſe naß, zeigt Dir, wenn Du beharrſt und wartend bis zum Grund der Spiegelbilder ſtarrſt, erfüllt, was unerfüllt in Dich geſunken und aus der Gluth, aus Deinem Blut ein traumhaft Leben ſich getrunken. Und Du erwachſt, wenn ich Dich ſo den Pfad zur klaren Fluth ewiger Bilder führe und aus dem Reich des Spiegels, nicht der That, Dich leis mit meiner Hand berühre. Weimar. = Wilhelm von &#

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Sanden und Genojjen. 437

Sanden und Genoffen.

I volle. Wochen waren am neunten uni feit dem Tage verftrichen, wo 9. draußen in Moabit die Hauptverhandlung gegen Herrn Eduard Sanden und feine Mitjchuldigen begonnen hatte. Wenn fie im bisherigen Tempo weiter- geht, wird am Ende in Leipzig Über Herrn Exner das Urtheil gejprochen fein, bevor hier die Anwälte zu den Plaidohyers fommen. Bor dem Präfidenten häufen fich Berge von Akten und neben dein Großen Schwurgerichtsfaal lagern centner- ſchwere Geſchäftsbücher. Fünf Richter, ein Erſatzrichter, drei Staatsanwälte, zehn Bertheidiger, fünf Sachverſtändige und ein Heer von Berichterftattern find zu ber feierlihen Amtshandlung mobil gemacht worden. Diefer große Apparat entſpricht der Größe der Schuld, die die Öffentliche Meinung den Angeklagten aufbürdet. Site haben Hunderte von Yamilien um den Reit ihrer Fleinen, durch mähbjame Arbeit aufgefpeicherten Erſparniſſe und Abertaufende um wejentliche Theile ihres Vermögens gebraht. Noch jchlimmer beinahe ift, daß fie dem Großkapital Gelegenheit gaben, feine Uebermacht auszunügen und Denen, die Alles zu verlieren fürdhteten, die Bedingungen der Rettung zu diktiren. Un- zweifelhaft haben die Sanirungen der Banken in den Augen der Mitmwelt bie Schuld der Sandengenofien erhöht. Trotz diefer Schuldfülle muß man Heute fagen: Tant de bruit pour une omelette! Denn ganz anders ala ber Spruch der Beitgenoflen ſchätzt das gelehrte Juriſtenrecht die Schuld der Ungellagten. Ob durch eine Handlung ein Einzelner oder viele Perſonen geſchädigt find: Das fann für das Strafmah in Betracht fommen, wird von bem Paragraphen des Strafgefeßes aber nicht verſchieden beurtheilt. Wenn das Geſetz die That nach ihrer größeren oder geringeren Gemeingefährlichleit ftrafte, müßten die Ber- gehen gegen das Altiengejeg viel ftrenger geahndet werden, al8 e3 heute nach den Normen des Handelsgeſetzbuches gefchieht. Und wenn man bedenlt, wie verhältnigmäßig gering, felbft im ſchlimmſten Yall, die fiber Sanben und Ge— nofjien zu verhängende Strafe ausfallen müßte, dann erfcheint der in Bewegung gefeßte Apparat dem nüchternen Auge wirklich faft allzu groß.

Eher ſchon ftimmt die Länge der Hauptverhandlung mit der Dauer bes Vorverfahrens überein. Die Leute, die ſich jebt auf der Anflagebanf einer neugierigen Hörerjchaar zeigen müſſen, figen rund anderthalb Jahre in LUnter- ſuchunghaft. Sicher tft bei fo Fomplizirten Vergehen eine längere VBorunter- ſuchung nöthig als bei Alltagsdelitten. Etwas fchneller aber könnte und müßte auch in folchen Fällen die Juſtiz arbeiten. Leider fehlt unjeren Richtern in Hanbelsfadhen jede Vorkenntniß. Die Geheimnifle der Buchführung, alle Ufancen des Gejchäftslebens find ihnen völlig fremd; und viel Zeit geht fchon verloren, bi8 fie auch nur im Stande find, die Gutachten der herangezogenen Sadıver- ftändigen zu verftehen. Mit Recht bat man deshalb gefordert, daß in folchen Prozeſſen der Anklagebehörde und dem Unterſuchungrichter hanbelsrechtlich ge- ſchulte Hilfskräfte beigeordniet werden; auch in der Hauptverhandlung follte die Staatsanwaltfchaft von einem Hanbelsrichter unterjtüßt werben. Die über- mäßige Ausdehnung der Borunterfuhung ſchädigt den Angeklagten, aber auch da3 Unjehen der Juſtiz. Den Sanden und Genoſſen wird man ja einen großen Theil der Unterfuchunghaft wenn nicht die ganze auf die Strafe an—

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438 Die Zukunft.

rechnen müflen. Das aber war nicht die Abſicht bes Geſetzgebers, ber für be ftimmte Bergehen eine beſtimmte Sefängnißftrafzeit vorjchrieb und nicht wollie, daß ein Theil diefer Strafe im Unterfuchungsgefängniß verbüßt wird, wo ber Ungeflagte feine eigenen Kleider tragen, fich felbjt beföftigen und in gewiſſen Umfang frei bewegen darf. Der Pſychologe aber kann fi über die ſchlimmen folgen einer jo langen Unterfuhunghaft nicht täufchen. Die ſchrecklichſfte Ge- wißheit tft leichter zu ertragen als bie feelifhe Qual banger Erwartung. Aus dieje modernifirte Folter wollte der Gejeßgeber nicht einführen. Nach jeder Richtung bedarf aljo das Berfahren in Handelsprozeſſen einer gründlichen Reform.

Nüglid wäre es ſchon, wenn Afjefforen, ehe fie zur Staatsanwaltſchaft fommen, eine Weile bei Sroßhändlern lernten. Jedenfalls zeigt gerade der Prozeß Sanden, wie nöthig der Anklagebehörde die genaue Kenntniß der Dandeläge bräuche ift. Der Staatsanwalt, der die Auflage gegen die Hypothekenbankerot teure gebaut bat, verfügt über alle Gaben, die man von einem Staattanwalı billiger Weife verlangen kann; er bat eine jtattlide, an ſchöne Studententag: erinnernde Leibesfülle, ein ungewöhnliches Maß geduldiger Ruhe, ift klug, ſchlag fertig und kennt feinen Prozepitoff gut. Die preußifche Bureaufratie mahlt. mit Gottes Mühlen, langfaın ; wenn fie aber eine Sache erſt einmal erfaßt hat, dann weiß fie auch Beicheid. Doch was foll ſelbſt ein Mujterftaatsanwalt gegen zehn in alle Sättel gerechte Vertheidiger ausrihten? Der Rechtsanwalt mu in jolden Fällen dem Staatsanwalt überlegen fein. Die Praxis bringt ihn oft in Verkehr mit Kaufleuten und in feinem Burean gehen allerlei Leute ein mb aus, die ein königlich preußifcher Staatsanwaltichaftrath nie fieht, meift auch nicht jchen oder gar hören will. Und für den Fall Sanben find die Triarier der Vertheidigung aufgeboten. Neben den Herren Kleinholz, Sello, Wronker fißt der Juſtizrath Mundel, der mit Handelögejhäften im Allgemeinen und durch feine Aufjichtrathsthätigfeit ſpeziell auch mit den Schleihwegen der Preußen: bank vertraut ijt, ſitzt Wilhelm Bernitein, der Kommentator des Wechſelrechtes, und Fedor Stern; diefe Herren kennen alle Hintergründe des Geſchäftslebens genau und nicht feit geftern. Sie Alle, Ankläger und Vertheidiger, ſuchen natür- lich die berühmte „objektive Wahrheit" und find ohne Ausnahme Anwälte de3 Rechtes. Vielleicht aber find zehn jo geübte Pfabpfinder im Suchen glücklicher al3 die auf foldem Terrain unerfahrenen Robenträger neben dem Richtertiſch, denen ein Handelsrichter als Helfer nur nügen könnte.

Die Hauptverhandlung zeigte bisher ungefähr bie felben Züge, bie in ähnlichen Prozeſſen und neuerdings wieder in dem Verfahren gegen den Treber- Schmidt fihtbar waren. Die zuerſt fehr Ichhafte Hoffnung auf Senfationen ſchwindet da jedesmal, wenn in ausführlicher Breite die Korrektheit der Buchung und die Schiebungen erörtert werden; auch jeßt wurde der moabiter Sc gerihtsjaal von Tag zu Tag leerer. Allgemein war erwartet worden, die „ı nehmen Beziehungen“ des Hauptangeflagten, befonders fein reger Verkehr dem Oberhofmeilter Freiherrn von Mirbah, würden erörtert werden, und Neugier hatte ſich auf die Verlefung der Polizeiaften gefreut, von ber fie mar Heberrafchung hoffte. AN diefe Hoffnungen find unerfüllt geblieben. In Anklageſchrift iſt von Sandens höfiichen Verbindungen fein Wort gefidert; ni einmal die Thatſache wurde erwähnt, daß Herr Eduard Schmibt den Titel

Sanden und Genoffer. 480

Hofbankiers der Kaijerin trug. Auch die Alten der Auffichtbehörde zeigten nur, was man längjt wußte: daß e8 Sandens biederer Beredſamkeit immer wieder gelungen war, Polizei und Minifterium an der Nafe Herumzuführen. Im Binter- grunde läßt die Bertheibigung vorläufig den früheren Landwirthſchaftminiſter Treiheren Lucius von Ballhauſen über die Bühne führen. Vielleicht wird er noch vernommen. Dann follte man ihn fragen, weshalb die mit genauen Daten belegten Angaben ber Grundbeligervereine und des Dr. Paul Voigt, weiland Privatdozenten in Berlin, denn gar nicht beachtet worden feien.

Einftweilen können die monotonen Verhandlungen nicht einmal den Yadı- mann bejonders interelfiren; das „Finanzſyſtem“ des Klüngels war ja ſchon vorher befannt. Die eriten Tage hatten wenigſtens dadurch noch einigen Reiz, daß man die Taktik der Bertheidigung erkennen lernte. Doch war ihr der Weg eigentlich ja vorgefchrieben. Sandens Hauptwaffe ift fein ſchwaches Gedächtniß. Er Hat in der eriten ſeeliſchen Depreifion nach der Verhaftung fich felbft ſchuldig befannt. Jetzt leugnet er und weiß im Grunde nur noch bejtimmt, daß er nichts weiß. Er, dem in der Zeit jeined Ruhmes ein ganz außerordentliches Gedächtniß und bie Fähigkeit nachgefagt wurde, fi in dem wirrſten Gejträhn bes NRiejenbetriebes zurechtzufinden, kennt jett nicht einmal mehr die Namen ber Mitglieder des Konfortiums für die jungen Grundſchuldbankaktien und weiß nichts von Herkunft und Beftimmung einzelner Konten. Wo aber der Sad verjtändigen Spürfinn feine Winkelzüge aufgedeckt bat, da verſchanzt er jich Hinter feinen guten Glauben. Er vertheibigt ſich ruhig und ficher, beinahe behaglid). Dean fieht ihm an, daB er froh iſt, endlich fo weit zu fein. Wie viele Jahre mag der Mann ruhelos gelebt Haben! Allmählich findet er fih nun aud in die Nolle des Sünbdenbodes. Seine Kollegen laffen nachdrücklich betonen, daß fie in ihm ihren Heren und Meifter gefehen und nie felbitändig disponirt Haben. Nur Heinrih Schmidt hat gegen ihn gefämpft und ſchon 1885 gelagt, wenn man e3 jo weiter treibe, werde ber Weg nach Moabit führen. Das ſoll aber nur eine ber bei ihm üblichen Redensarten gewelen jein. Auch Otto Sanden, Eduards Bruder, wollte längft nicht mehr mitmachen. Er fagts und man darf ihm jo- gar glauben, denn er galt in der Gejchäftswelt ftet3 als der folidere Bruder. Auch den Berfiherungen Puchmüllers, der, wohl auf Wronkers Rath, geftändig it, darf man Glauben ſchenken. Er ift der Typus eines getreuen Commis, der in dem einen Sejchäft groß gemorden und deshalb unfähig war, Vergleiche zu ziehen, die ihn zu vorfichtiger Sfepfis mahnen konnten. Ueberhaupt Bat man es meift mit Leuten zu thun, denen Sanden nicht nur Brotherr, ſondern auch Lehrherr war. Dieſe Thatfache iſt noch nach anderer Richtung wichtig. Die Angeklagten können den anderen Hypothekenbanken nicht gefährlich werden. Sie ‚willen nicht, was extra muros vorging. Dieſes idylliſche Bild wird der Prozeß gegen die Direktoren der Pommerſchen Hypothekenbank nicht bieten. Herr Schulz foll fi, wie man erzählt, über alle norddeutſchen Hypothefenbanfen Alten an- gelegt haben, die er gewiß für feine Vertheidigung nugbar machen wird; am Ende läßt er auch die Sanitäträthe, die jeine Pfandbriefgläubiger gekürzt haben, nicht ganz ungeſchoren. Die norddeutſchen Hypothekenbanken follten im Pommern⸗ prozeß bei der Berufung von Sadveritändigen mehr Eifer als diesmal zeigen.

Plutus.

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440 Die Zukunft.

Notizbuch.

or neun Jahren, als Biömard in Friedrichsruh vierhundert Bewohner bes Fürſtenthumes Lippe empfing, jagte er, er habe gehofft, „daß die Larıbtage

ber einzelnen Staaten ſich lebhafter, als es bisher geſchehen ift, an ber Reichspotitit betheiligen würden, daß die Reichspolitik auch der Kritik der partitulariftifchen Yarb- tage unterzogen werden würde. Ich hatte mir ein reicheres Orcheſter zur Mitwirkung in den nationalen Dingen gedacht, als es fich bisher bethätigt hat, weil bie Neigung zur Mitwirkung in den einzelnen Staaten nicht in dem vorausgejehten Maß vor: handen war. Wenn Sie nah Haufe kommen, follten Sie baflr wirken, da die Be tbeiligung an der Reichspolitik auch in der Diafpora ber Landtage lebhafter wird. Es iſt ein Irrthum, wenn Staatsrechtslehrer behaupten, die Landtage jeien dazu nicht berechtigt; fie find immer befugt, das Auftreten ihrer Minifterien in Bezug auf die Reichspolitik vor ihr Forum zu ziehen und ihre Wünfche den Dtiniftern fund zu tum.“ Der Wunſch, die Landtage möchten fi ntit der Reichspolitik umd mit der Inſtruktion der zum Bundesrath Bevollmächtigten eifriger als bisher bejchäftigen, entiprang nidt etwa ciner Zufallslaune des Fürſten; er hat ihn im Privatgeipräch oft wiederholt. Der vierte Kanzler, ben dieBernhardinermeute unermüdlich als neuen Bismarck ausbellt, ift anderer Meinung. Er verfagt den Preußen das Recht, beffen Wahrung im Sachſen⸗ walde ben Lippern zur Pflicht gemacht ward. Als die Tonfervative Partei neulich im Qandtag fragte, ob die preußiiche Regirung im Bunbesrath für einen wirkſamen Schutz der lanbmwirthfchaftlihen Produkte eintreten wolle, las der Minifterpräfident eine Erflärung vor, die dem Landtag das Recht zu diefer Frage beftritt, und verlieh dann mit den Kollegen ben Sigungfaal. Die Erklärung trug ihm „Bilden und Lachen rechts“, der Exodus „lebhaften Beifall links“ ein und vielleicht ift der immer beitere Herr mit diefer Wirkung des eifenfarbigen Unftriches zufrieden. Unfere Libe⸗ ralen find fo bligbumm geworben, daß fie jedesmal jubeln, wenn ber politiide Geguer einen zußtritt befommt, und infoldem Schuljungenbehagen alle Grundſätze und Rechte gernopfern. Und die Konfervativen braucht fein Minifter zu fürchten. Zwar dat Herr von Heydebrand Zornworte gefprochen und der tyreiherr von Wangenheim hat nit danukens⸗ werther Offenheitgelagt: „Wir wollen uns darübergarfeinen Illuſionen hingeben : das Bertrauen, das durch Jahrhunderte lange Fürſorge des Hohenzollernhaufes und eine weife Staatsregirung im Lande aufgehäuft worden ift, das Vertrauen, auf dem die Stärke und Macht unjeres Landes beruht, ift im lebten Jahrzehnt in der be:

denflichiten Weife vergeudet worden ; und wenn es fo weiter geht, dann jehe ih ganz \ außerordentlich pejjimiftiich in die Zukunft.” Doc den Worten wirb wieder keine

That folgen. Zu dein Entihluß, mit dem Minifter, der fic ex cathedra ber- unterpußt und ihnen, wie ungezogenen, muthwillig lärmenden Sclingeln, den Rücken zeigt, jeden Verkehr brüsk abzubredyen, fönnen die ſchwachen, durch tauſend höfiſche und gefellichaftliche Rückſichten gelähmten Seelen fi nicht aufſchwingen. Das wei Graf Bülow und risfirt deshalb Grobheiten, die er Stärferen nit zus muthen dürfte. Ueber die Sadıe ſelbſt ift eigentlich nichts zu jagen. Auch ber hitzigſte Freihändler müßte zugeben, daß bie an Zahl ſtärkſte Landtagsfraktion das Recht hat, fo oft esihr nöthig Scheint, Rechenſchaft und Auskunft zu fordern, da be» ſonders, wo e8 ji um eine Vebensfrage der von biefer Fraktion vertretenen Klafie handelt. Der Minijterpräjident aber plaudert über foldhe Dinge lieber mit Zeitung-

Notizbuch. | 441

machern, benen er ji) wahlverwandt fAhlt: und bie vor feinem Gebieterblick in Ehr⸗ furdt erfterben. Einem franzdfifchen Interviewer hat er des Bujens Tiefe enthüllt und bie adgelagerten Feuilletonſpäßchen mitgegeben, bie er im Parlament nicht mebr an die Männer zu bringen wagt. Bon Sant und Fichte hat er, nad) übler Er- fahrung, diesmal nicht geredet, aberdie Deutichen den Hafen, Die Polen den Kaninchen verglichen, bie fihallzu fchnell vermehren. Leber den Geſchmack läßt ſich nicht ftreiten. Sich felbft ſieht der Miniſter des Schönen Aeußeren in der Rolle bes Parts, ber be- rufen ift, der Ichönften Göttin den Apfel zu reichen; die Göttinnen diefes Hirten find Landwirthſchaft, Handel und Induſtrie. Kaum war ihm das Wort entfahren, bagaber auch ſchon ben Gedankengang auf und erklärte, erwolle „Kalchas, Du weißt wohl, warum!‘ die „Politik der Diagonale‘ treiben, aljo feiner ber Holden den Apfel geben. Das ganze, höchſt unpreußifche, aber auch höchſt undiplomatiſche Gerede führtein Niederungen, die ein Kanzler des Deutichen Reiches meiden follte. Noch ſchlimmer, zum Erichreden ſchlimm wirkten die Säge, Die dem gefprächigen Herrn ein paar Tage ſpäter in offiziöfen Blättern nachgedruckt wurden. Da rügte er den, ‚Hang zur Schwarzjehe- rei“, der in Deutichland fichtbar werde und völliggrundlos jet. „Gerade die nüchterne Beurtheilung des allgemeigen Zuſtandes der einzelnen Großmächte müfle doch feft- ftellen, daß feine mit dem Gang ihrer öffentlichen Angelegenheiten, im Innern wie nad) außen, fo zufrieden fein könne wie Deutſchland. Der vortHeilhafte Abftand gegen die Berhältnifie in anderen Staaten fei doch jo bedeutend, daß ein Vergleich ernftlich kaum in Trage fomme. Rußland mit feinen inneren Zudungen, England mit den Nachwehen des jüdafrifanischen Krieges, Frankreich, deffen innere Entwidelung nad) dem Rüdtritt Waldeck⸗Rouſſeaus wieber vor einem Fragezeichen ftehe, Deiterreich- Ungarn in feiner ethnographiſchen und politifchen Zerriſſenheit böten keine Bilder, die in uns das Gefühl weden könnten, als Nation oder ald politiiche Macht Hinter den anderen Großmächten zurüdguftehen. Ich muB e8 als geradezu grotesk bezeich- nen, wenn ein Deuticher die Zuſtände feines VBaterlandes troftlos nennen will.“ Alſo ſprach Graf Bülow. Andere werben geradezu grotesk finden, daß ein Bolitifer _ zu behaupten wagt, England leide an ben Nachwehen des ſüdafrikaniſchen Krieges, und nicht jehen will, welche Bortheile Rußland, Frankreich, England während des Icgten Jahrzehntes der deutihen Verſumpfung eingeheimft haben. „Troſtlos“ brauhen fie deshalb die Zuftände im Bnterland.nicht zu nennen. Sogar in ber be- teäbenden Erkenntniß ber Thatlache, dab der erite Benmte des Reiches in Holz- papierworftellungen lebt, ohne Grund und Zweck grobe Worte Über Die Grenze ruft und immer wieber beweift, wie gut ex zum Chefredakteur des Berliner Tageblattes ge- eignet wäre, können fie Troft finben, wenn fie bie Rolle des Kanzlers richtig ſchätzen lerıten und fich, ohne noch Länger das Heil von bes Staates Höhe zu hoffen, muthig ent- ſchliehen, ſelbſt ihres Schickſ als Geſtalter, Ai polittichen Beſitzes Hüter gu werben.

Einen am jiebenzehnten Mai unter dem Xitel „Die-IalbwbnSeit“ hier veröffentlichten Artikel bes Herrn Landauer gloffit und befämpft Der Baul Mongxs in dem folgenden Brief:

„Sehr geehrter Herr Landauer, Sie fehen das Heil barin, daß der Raum zur Beit werde; ich möchte diefe Metapher auf den. Kopf ftellen und den Auf: ftieg ber Erkenntniß von dem Wunder abhängig maden, das dem ftaunenden Parfifal des Grals Nähe anlündigt: Du. fiehft, mein Sehn, zum. Raum wird

442 Die Zukunft.

bier die Zeit! Ich verfpreche mir gar nichts davon, daß die Leere zwifchen mir und dem ‚Dinge da Hinten‘, die gähnende Kluft zwiſchen Ich und Nichtich aus gefüllt werde; ich halte es für eine mächtige Entlaftung der Senftbilität, dej diefe Kluft aufgeriffen und die Intenſitätſchwankungen meines Binnenichens zu fremden Objekten erteriorifirt wurden. Es muß noch immer mehr Raum ans der Zeit ausfriftallifirt werden, aus den biffus jchwinmenben Serlenbegete» heiten fich ein feiter Nieberſchlag abjcheiden. Wir müllen immer mehr nod ver und ins Außerweltliche verfeftigen und aus den inneren Säften ein jchönet Riefeljfelet bilben, wie die neuerdings fo berühmten Radiolarien; nicht, wie dem Manfred Byrons, jollen uns Berge ein Gefühl fein, ſondern lieber mollen wi Gefühle aufeinanderthürmen wie Berge, um wirfli in die Höhe zu kommes und taftbaren Grund unter uns zu haben. Leiden wir nit Ulle heute an der Verinnerlichung oder, wie Ste jagen, an ber Berzeitlihung? Und nacdhträglide Propheten wie Maeterlind verheißen ein ‚Erwachen der Seele‘: ich finde, wit haben entſchieden Ueberproduktion an Seele und follten tradgten,, dieſe an freie Luft. Leicht verberbliche Waare ſchleunigſt loszuwerden. Die Zeitlünfte, Muſt und Lyrik, paden fo viel Seele aus, wie gar nicht beifammen bleiben will; Des verbreitet fih dann überall im ‚Raum‘ und macht die Tleinen Objekte, die Tiffanygläfer und japanischen Bronzen, aufrühreriſch, daß fie auch ſchon Seele auszudunften anfangen. Ach, diefe Orgien der freien (im chemiſchen Sinze, freigewordenen Seele! ®anze fünfaktige Dramen werden als Waflerftoffballons um fo einen Seelenhaucd herumgefchrieben; langwierige Romane ſuchen mit Millimeterjchärfe den Punkt zwifchen zwei Seelen zu beftimmen, wo jebe ax die andere gleich ftark reagirt. Sie wollen noch mehr Seele, nody mehr Fom der inneren Anſchauung, nod mehr ‚Zeit‘? Uber bie Zeitkünitler ſchmachten nad) einer Raumkunſt in Klingers Art. Was ift Straußend Barathuftra um) Heldenleben anderes als ein Verſuch, dreidimenfionale Mufit zu machen, die Zongeftalten aus der einfach ausgedehnten Zeitlinie herauszufchrauben und ihnen plaftiiche Ausladung zu geben? Die Zeit, das überfüllte Gefäß der Seele, plagt an allen Eden und fpeit ihr Inneres aus: und Sie wollen nicht mr das Bisherige, Tondern noch viel mehr in den engen Schlauch zurüdjtopfen? Was entzücdt uns dem am Raumfunftwerf, was giebt unferen Nerven bie wohl thätige Ruhe, gegenüber den zubringlichen Boa: Konftriktor: Ummindungen ber jeelenhaften Ton» und Nedekunft? Das Centrifugale, die Richtung von ber Seele weg ins Sichtbare, die anftändige Entfernung. Endlich ein Stüd Seelt ummwiderruflid” abgetrennt und als feſtes Symbol ung gegenübergeitellt! Wir athmen auf. Und Sie wollen das Nephautbild uns wieder als Albdruck „menjd» lich näher bringen‘? Nicht ohne romantische Sehnſucht malen Sie eine Taftr-lt ohne Gejichtsempfindungen aus, die raumlos nur als Succeffion von Bart, j& f, glatt, gejchweift, naß, kalt, als Aeolsharfenfpiel wechfelnder Ychgefühle verli «. Der blinde Scher, die introjpeftive Myſtik hat es Ihnen angetban. Uber ix halten e3 mit Gottfried Keller: Augen, meine lieben Fenſterlein!

Ich glaube, wir find nicht mehr jung genug, um uns über jolde & vw anfzuregen wie: alle Handlungen entjpringen aus Egoismus, alles Gele m ift nothwendig, alle Wirklichkeit ift Bewußtjeinsphänomen. Solche univerf nr Ausjagen gehen ung eigentlich nicht mehr an, als wir den alljeitigen Luft #

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Notizbuch. 443

ſpüren, worauf es anfommt, find die Abftufungen innerhalb des jo oder fo be

wie eine Tautologie, daß Niemand

zeichneten Geſammtbegriffes. Es i F m

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eiſt es fi an Ehrlichkeit

‚exweilt «8 fih hah_als_ ansdisäfen grmterfieibenobndkiugr & „oper. Diebitehl, am Geber abas. ahnen. Bexanügen, Findet. Der menſchltche

"Wille iſt belermimrt und eine metaphyſiſche Berantwortlichleit giebt es nicht; ader die Geſammtheit aller ‚unfreien‘ Handlungen wird doch plaufibler Weife in Gruppen voller, verminderter und aufgehobener Zurechnungfähigkeit einge theilt. Alle Dinge beeinflujfen einander und kein Sperling fällt zur Erde, ohne den Sirius aus feiner Bahn abzulenken; aber für mande Paare von Dingen, wie Sirius und Sperling oder Mond und Wetter, ift e8 doch vortheilbafter, zu jagen: fie beeinflufjen einander nit. Jedes Beichen iſt inkongruent mit dem Bezeichneten; aber ein Zeichen, das eindeutig ortentirt, bleibt darum doch werthvoller als ein trreflihrendes, mißmweifendes. Die ganze Außenwelt ift meine Bewußtjeinserfcheinung; aber innerhalb diejer allumfafienden Scheinbarkeit ift es doch rationell, gewiile Dinge als wirklich, andere als eingebildet oder halluzinirt anzufehen. Der Raum ift eine Projektion aus inneren Erlebniſſen oder, wie Sie jagen, eine Eigenfchaft der Zeit; aber es ift immerhin merkwürdig, daß aus dem quallenhaft fließenden Chaos ſeeliſcher Zuftände fich fo ein Knochen⸗ gerüft mit permanenten Beftimmtheiten herausfchälen läßt, und dieſe Thatſache ſpricht eigentlich dafür, das Stelet nicht wieder in Gallert aufzulöfen. Auch bie ‚Dinge‘, diefe ontologifchen Ungeheuer und Duibditäten, über die der [pätere Nietzſche fo pyrrhoniſch jpottet und denen auch hr Freund Mauthner in feiner bewundernsmwerthen Sprachkritik zu Leibe geht, auch dieje erfenntnißtheoretiichen Subftantiva, fo wenig fie exiftiren, laffen fi doch nachträglich dadurch retten, daß die Oekonomie des Denkens zwedmäßiger Weile jo thut, als ob fie exiſtirten. Treilich Habe ich, jtreng genommen, nicht Anderes als zeitliche Mobdififationen meiner Seele, zum Beilpiel GefichtSempfindungen von grün, zitternd, herzförmig, Sehörsempfindungen von wilpern, raujchen, Gerucdhsempfindungen von Ozon und aromatiſchen Oclen, Hautempfindungen von Schattenkühle und vorbeiftreicden- dem Luftftrom; dazu Erinnerungsgefühle, daß alle diefe Empfindungen in ähn⸗ lihem Zuſammenſpiel jchon einmal da waren, ferner ein gewiſſes Gefühl der Abhängigkeit, dag nämlich diefe Empfindungen nicht verfchwinden würden, ſelbſt wenn ich ‚wollte‘, es ſei denn, baß ich gewifle andere Empfindungen, die Musfel- gefühle des Augenſchließens oder Kopfdrehens, in mir zu erzeugen vermöchte u. ſ. w. Ja, Das tft das Einzige, was ich eigentlich habe; aber wenn ich diejes fomplizirte Befigthum wirklich ergreifen, handhaben, in Tajchenformat bei mir tragen will, fo bleibt mir doch nichts übrig, als ein ‚Ding‘ zu bypoftafiren und zu jagen: Das ift die Linde, die vor meinem Fenſter fteht! Weber biejes Ding und Baumjubftantivum zu lachen, ift philofophifcher Laune nicht unmärdig, zumal wenn ontologifch angelegte Köpfe fi an diejer ſymboliſchen Chiffre wie an einer ſtarren Weſenheit Beulen ftoßen und Schopenhauer bie platonifche Idee der Cinde über ben Wäflern Iöweben ſeht Aben und

das Ding nidt —— Dazu hätten Sie Grund, wenn die Dinge Das nicht leijteten, mozu_twir fie erfunden

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444 Die Zukunft.

haben, wenn die Symbole fih nicht jo wählen ließen, daß fie zu allen !eim und für alle Subjefte das Selbe bedeuten, menn Sie. sense. einen Komplei innerer Erlebniſſe bei fich fänden, der in neunundneunzig Beziehungen „Lite, in einer einziger Beztefung abas, Buche‘ ausſagt. Solde Fälle kommen ja "freilich vor, haben jich aber bisher immer noch unter die Pathologie der betreffenden Objekte ſubſumiren laffen und unfere leichtfinnige Magime: ‚Ausnahmen be ſutigen die Regel‘ nicht umzuſtoßen vermocht. Und gerade Das unterjhähm

ie Wi beinsmunit; Sie Hub wi hentbar genug für ben SIERT atcL.Dact: Fe ar \

fangen läßt, Es —* ia auch anders fein. Wie viel Leiftet allein der * viel Wirt lichkeit umſpannt er, während von vorn herein Niemand dafür bürgen Fonntr, daß ein Fiſch in dieſes Neg gehen würde. Er ift breidimenfienal; wie viel it es aber von einer kompakten Außenwelt verlangt, daß fie überhaupt eine gt weilig beftimmte Dimenfionenzahl habe und nicht (in der Art, wie ſichs di Spiritiften vorjtellen) durch gelegentlichen Holuspofus eine Ertrabimenfion ver rathe, die fie wie ein Pfeudopodium bald ausftredt, bald einzieht? Ferner, dab diefe beſtimmte Dimenfionenzahl, in die fih Alles widerſpruchfrei einfügt, mi der Zeit unveränderlih fei? Weiter: die freie Beweglichkeit, die man jo geneist ift, als ein denknothwendiges Attribut vorauszufegen, bebeutet doch auch mut eine freiwillige Selbftbejchränfung der Natur, an die wir nun durch Verjährung ein Recht zu haben glauben. Wir drehen und verfchieben unſere Leiber am ſchleudern unfere Kegelfugeln jo unbedenklich, als wäre der Raum verpflichtet, an jedem Ort gleiche Aufnahmebedingungen zu gewähren und unfere Eoof- Tickets überall unterfchiedlos zu honoriren. Aber es find —— rg dentbar, worin eine Figur als jtarrer Körper nur i ger Tage möglich it und ao die Wahl hat, entweder auf ſtarre Form oder auf Bewegung zu ver⸗ zihten; in einem ſolchen Raume wanbdernd, müßten wir uns beformiren, wie bie Bilder in einem Hohlipiegel oder wie Queckſilber, das durch Röhren getrieben wird. Nun könnte zwar, da boch irgend ein Vergleichsobjekt und „Rormal- meter“ gewählt werben muß, jedes Individunm immer noch feinen eigemen Leib für unveränderlich erflären oder ſich cin Stüd Eifen anfertigen, an deffen Siarcheit es axiomatiſch glauben will; aber dann würden bie Räume verfchiedener Indi⸗ vibuen nicht zufammenftimmen oder der Raum, ber für bieß eine Stück Eilen freie Beweglichkeit geftattet, würde fie einem anderen, phyſikaliſch gleichberechtigfen Eijenftül verfagen. Auf gfebieie Seimtüren und Störungen unferer rien:

) ichtet die Natur, ſo wenig jie ſonſt unſere BE dd: ** men Schemata ln ICE: allzumenſchlichen Satsgp ori iLbes Schönen, % au reſpeltiren pflegt: aher,den Raum, diefes doch gar mit D —— haben WTETHE glüclich umgehängt und TE delder a. ae * per. Finden Sie daran gar nichls zu exſtaren?““ Ich habe mich hier, ber Kürze Mifber, mythologiſch ausgebrüdt und von der Natur’ geſprochen, die ſich Dies und Jenes gefallen ließe; ſetzen wir ſtatt Natur wieder Bewußtfein, jo bleibt es nicht minder eine Extragefälligkeit diefes Bewußtſeins, aus feinen fluthenden Bilderwechſel eine annähernd ftabile Außenwelt, ' mit ‚Dingen, Atomen, chemiſchen Elementen, abzulagern, die ſich, ohne Ausrenkung umd Ver kürzung, glatt und ungezwungen in das Profruftesbett des euklidiſchen Raumes

bineinschmiegt. Und darum dürfte e8 weder Willkür und zufälliger visual language fein, daß wir einen Zeil des Beiterfüllenden zum Raum erteriorifirt haben, nod dürfte es in unjerer Macht liegen, diefe erftarrte Abfcheidung im Schmel;- tiegel wieder gu verflüffigen, noch endlich würben mir, wenn es felbft in unjerer Macht läge, zur Bereicherung unſeres Heiligen Innern irgend Etwas gewonnen haben. Was Hilft es, den Objekten ewig ihren Uriprung ans menſchlichem Be- mwußtfein nachzutragen? Damit, daß mir in jedes Goldſtück unjeren Namenszug eingtaviren, vermehren wir unjeren Beſitzſtand nicht. Auch der jchranfeniofelte Subjeltivismus kann den ganzen Wein nidht auf einmal austrinfen; er muß Flaſchen und Fäſſer füllen und einen Seller zur Aufbewahrung baden. Wenn {don unfere Geliebte nichts it als die Summe unferer Begegnungen mit ihr, unferer Borftellungen von ihr, jo würde e8 doch diejen ‚Ichgefühlen‘ ihren beften Reiz nehmen, nicht an ein Subftrat dahinter zu glauben. Freilich kanp des Wein, im Keller louer werben und die-Gelichts bot, gls „Ding“ Tm Raum, brei Dimenfionen zur Verfügung, ups durchaubrennen; ————— iſt die Zeit,.igrer Nichtumkehrbarkeit wegen, eine noch. viel fatalere Einrihtung.“ Der Raum ät mwenigliehs Etwas, das ühermunden werden fann. Und im Raum kann man einen Umweg maden, während man in der Sat“ burch den jchmärzeften Schlamm mitten durch muß. Wäre ih Phantaft wie Sie, jo wiirde ich aus all diefen Gründen cher für Verwandlung der Zeit in Raum ftimmen; mean würde jein Leben vernünftiger ftilifiren Tönnen, wenn man bie-zeitlihen &r- lebniſſe im überfichtlichen Nebeneinander ftatt im verbedenden Nacheinander an⸗ ordnen, alſo gewiſſermaßen um bie Ede fehen und außer der Reihe marjchiren dürfte und nicht, der dummen Eindimenfionalität wegen, nad) dem A jedesmal B fagen müßte. So weit wage ich meine Bilion, einer Ununenichuegedeiuluuicien aber nicht zus treiben, fondern glaube einftweilen nur, daß ſich noch mancherlei Zeit (nicht alle!) in Raum verwandeln, mancherlei Seeliſches zu Dinglichkeit kriſtalliſirten läßzt und daß wir nach den ewigen Innerlichkeiten und mollusken⸗ haften ‚Stimmungen‘ der letzten Jahrzehnte gut thun, zur Abwechſelung wieder einmal uns nad der Objektſeite, in klaren Geftalten und jcharf gezeichneten Bildern, recht räumlich und ſubſtantiell auszuleben.”

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Herr Wladimir Raffalovich, der lange im Transvaal lebte, fchreibt mir:

„Beitatten Sie mir, zu der Kontroverſe Henkel⸗Gentz eine kleine Epifode, die für fich jelbjt ſpricht, nachzutragen. Jameſon warbeiPißani-Rooigrond auf Trans- vaalgebiet eingedrungen und die damalige Regirung rief, als fie von dem Einfall er- fuhr, jofort zu den Waffen. Ausländer, diebereit waten, mit ver Waffe inber Hand den Freibeutern entgegenzutreten, wurden aufgefordert, fich ein Gewehr und Munition zu holen. Als Belohnung wurde Jedem neben anderen Entſchädigungen auch die fo- fortige Verleihung bes Bürgerrechtes verfprochen, jenes Bürgerrechtes, auf ba8 man fonft jieben Jahre warten mußte und das man aud) dann nur unter gewiffen Be: dingungen erlangen konnte. Die Meiften freuten fi, auf billige Weiſe ein Gewehr zu erhalten, und es entftand ein run auf das Bureau des Veld-Kornet, wo die Ber: theilung ftattfand. Zu einem Kampf kamen dieſe Auslänberfchaaren nicht; höchſtens haben Einzelne auf einfamen Kopje um Pretoria Wache geftanden. Xamefon war gefangen und das Bürgerrecht wurde verliehen. Zu Denen, bie es bie dabei ein-

446 Die Zulkuuft.

geſchlagenen Wege kenne ich nicht erhielten, gehörten auch Leute, die noch nie a Gewehr in der Hand gehabt hatten; Andere, bie nach dem Wortlaut der Proklaueaa für die von ihnen geleiſteten Kriegsdienſte‘ Anſpruch auf das Bürgerrecht za «1 glaubten, wurden ſchnode abgewielen. Die Bevorzugten aber mußten auerft eu = Farben Roth: Weiß-Blau:-Grün den Treueid leiften. Sie ſchieden in aller u aus ihrem bisherigen Stantsverband und wurden Transvaaler. Da beirkloh = achtzehnten Mat 1899 plößlich der Volksraad, die Jamejon-Protlamation für = und nichtig zu erflären, weil einzelne Unwürdige‘ das Bürgerrecht erhalten hün Die zwei befonnenen Mitglieber des Raads nannten einen folcden Beſchluß me illoyal, aber die anderen fünfundzwanzig waren nicht zu beſſerer Einficht zu befreien und die Willlür wurde Geſetz. Das war felbjt dem alten Krüger zu ſtark mE milderte ben ‚besluit‘ in der aın einundzwangzigften Mat 1899 im Staatscan- veröffentlichten Proflamation; der Anſpruch auf das Bürgerrecht müſſe, hieß ei. erft nachgewiefen werden. Inzwiſchen waren die ‚Jameson-burgers‘ vaterlantdis Das war der Dank für ihre Bereitwilligkeit, ihr Qeben für die neue Heimath er» ſetzen. Sogar der ‚Standard and Diggers News‘ und die ‚Volksstem‘ proteitit# damals gegen das Unrecht ... Die ‚Deutfche Buren: Centrale‘ ſammelt jeit einig Zeit Geld, um das Burenelement in Südafrika zu ftärken und bie Buren, bie md Deutſch⸗Südweſtafrika auswandern wollen, zu unterftüßen.: Am dritten März I! ſchon wics ich in der „Zufunft‘ auf die Deutſchland aus ſolchem Plan drohende bt fahr Hin. Daß dem deutſchen Handel die ‚Stärkung bes Burenelementes* nur [de nicht nüßen kann, ift Elar. Werden die Buren aber auf fremde Koften nad Sir” afrifa befördert, dann wird Niemand ſich mehr barliber freuen als die Englieir- Viel vernünftiger wäre es, fleißige deutiche Handwerker und Bauern, denen # nöthigen Mittel zur Ueberfahrt und zur Begründung ber neuen Exiftenz fehlen, ? unterftügen. Dann erbielteman in Deutfd-Sübweftafrifanicht, wie die Portugte® in Angola, einen indolenten, bebürfnißlofen Volksſtamm, fondern deutſche Anfiedle deren Bedürfniffe mit bem Wohlftand wachſen und zum Vortheil des utterlandd der Hauptbezugsquelle ſolcher Ausgewanderten, befriedigt werben.“ * *

* .

Herr Dr. Paul Julius Möbius, der befannte Neurologe, der in Leipt (Nofenthalgafle 3) wohnt, wünſcht die Veröffentlichung des folgenden Aufrufe deſſen ‚Ziel jedenfalld Beachtung heiſcht:

„Seit 1896 habe ich von der Noth der Nerventranten und vom D@ Plan, Nervenheilftätten zu bauen, erzählt. Seitdem ift auf meine Anreget die Schöne Anftalt „Haus Schönow‘ in Zehlendorf bei Berlin errichtet wort Andere Heiljtätten werden da und dort vorbereitet: in Frankfurt a. M., inet Rheinprovinz, in Baden, in Holland. Neuerdings find im Zürich einige Männ zufammengetreten*), um eine fchweizerifche Nervenheilftätte zu gründen, die ohn Anjehen der Nation und des Belenntniffes Nervenkranken aller Ständ beider Gefchlechter Zuflucht und Hilfe bieten fol. Der Verein und bie m | Anftalt felbft werden ‚Kolonie Friedau‘ heißen. In einer gefunden und I m@ Gegend der Schweiz wird ein großes Gut gefauft und dort werben fi 9 |

*) An der Spitze des Komitees fteht Profeflor Bleuler, Direkt bs Anftalt Burghölzli bei Zürich. |

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Notizbuch. 447 hundert Patienten und Kurgäfte bie nötbigen Einrichtungen geſchaffen werben.

, Etia folgende Gedanken leiten die Begründer bei ihrem Unternehmen.

Daß mehr und anders als bisher für bie Nervenkranfen *) gejorgt werben muß, darüber find alle Sachverſtändigen einig. Zwar beitehen ſchon jeßt Nerven- Beilftätten, Waflerheilanftalten, Kurorte aller Art für Nervenkranke, aber fie find nur Wohlhabenden zugänglich und vielfach nicht fo beichaffen, wie fie fein follten. Wenn jegt ein Menſch, ber der übergroßen Mehrzahl der ſchlecht Be mittelten angehört, geiſteskrank wird, jo ift für ihn geforgt. Staaten, Provinzen, Gemeinden haben vortrefflich eingerichtete Heilanftalten für ifn. Wird er aber nervenkrank, fo muß er in vielen Fällen den Geiſteskranken beneiden, denn für ihn bat Niemand geforgt. In Srerenanftalten und öffentliche Krankenhäuſer paßt er nicht, für Anderes aber reiht das Geld erft recht nicht. Das gilt nicht nur von den Urmen im eigentlihen Sinn bes Wortes. Auch die dem Mittel Ttand Angehörigen find faft eben jo ſchlecht daran. Nervenkrankheiten find oft fehr langwierig; nur dur lange Behandlung außerhalb der häuslichen Verhält- niffe ift Heilung oder Befferung zu erreichen. Ja, für ein paar Wochen in ber Kuranſtalt reihen die Sparpfennige. Uber jo raſch geht e8 nicht; gerade weil, der angftnolle Wunſch, nur ja raſch geſund zu werden, den Patienten plagt kommt er nicht recht vorwärts. Am Ende der Zeit muß er, oberflächlich oder gar nicht gebefiert, nach Haufe zurüd; und feines mühſam erworbenen Geldes und feiner Hoffnungen ledig, fteht er jchlechter ba als vorher. Uber auch die wohlhabenden Nervenkranken finden unter ben jetigen Berhältnifien in ber Regel Das nicht, was fie brauchen. Die jebt beftehenden Privatanftalten find meiſt nicht alfoholfrei und gewähren nicht die Möglichkeit eines richtigen Lebens mit natürlicher Thätigfeit. Mit wenigen Ausnahmen find fie halb Feine Kranken⸗ bäufer, halb Hotels, mitten bineingejtellt in ein lärmendes, hohles Weltwejen.

Sie jmd räumlich bejchränft und aus beichräntten Vorausfegungen hervor: gegangen. Auch bei gutem Willen der Leiter können fie ben "Anforderungen, bie wir ftellen müſſen, nicht genügen.

Dur das jelbe Mittel joll die Hilfe billiger und befjer werden: durch

Schaffung einfacher, natürlider Pebensverhältniffe.

Alles, was der Nervenfrante wirklich braudt, iſt an ſich nicht theuer: Ruhe, Reinlichfeit, Ordnung, reine Luft, einfache, wohlichmedende Nahrung und, wenn der Gejundheitzuftand es erlaubt, nützliche Arbeit. Trotzdem kann er diefe Dinge jet nicht oder nur mit großen Koften erlangen. Ein darauf eingerichtete8 Gemeinwefen aber kann die guten Dinge billig geben und dem arbeitfähigen Patienten die Möglichkeit gewähren, durch den Ertrag jeiner dem Gemeinmwejen gewidmeten Arbeit die Lebenskoſten zum Theil aufzubringen.

*) Eine genauere Beitimmung bes Begriffes ‚nervenkrank‘ braucht hier nicht gegeben zu werden. Das Wort wird im Sinn de3 täglichen Lebens ge- nommen; es handelt fih um Menſchen, die, ohne geiſteskrank oder im gewöhn⸗ lichen Sinn körperlich Trank zu fein, zu ſchwach oder zu empfindlich find, um den an fie geitellten Anforderungen genügen zu können. Welche Nervenkrante für die Kolonie geeignet find: Das tft eine rein Ärztliche Frage und ſie kann nur im einzelnen Fall richtig beantwortet werden.

418 Die Zukunfi.

Das billigfte und das gejünbefte Leben ift das Lanbleben; aber es iit, wie ber wirklide Landmann es lebt, für den Nervenkranken nicht brauchbar. Die Kolonie bietet gewiffermaßen ein verflärtes Zandleben. Dos Ganze ift aus dein ärztlichen Geift hervorgegangen und feinen Zwecken angepaßt. Er ſchaltet div Roheiten und Unzuträglichkeiten ans und mildert die Anforderungen fo weit, dag aud ber Schwache an der Thättgfeit theilnchmen und an ihr eritarfen kann.

Es giebt Kranke, die eine Zeit lang vollftändig ruhen müſſen; auf bie Dauer aber kann kein Menſch die Thätigkeit entbehren. Jetzt fteht der Schwache eingeklemmt zwijchen zu viel Mrbeit in der Welt draußen und öder Langeweile in der Suranftalt. Die Einen finden nur harte oder unpaflende Arbeit und werben immer Fränter, die Anderen füllen ihr Leben mit fogenannten Ber gnügungen aus, wie ein Menfch, der ausjchlieglih von Zuderzeng Iebt, ums aud fie werden immer fränfer. Aus ber rechten Arbeit aber wählt Kraft, Heiter- feit, Genefung. In der Kolonie Tann aud der Schwade fih an ben vielen verjchiedenen Arbeiten betheiligen; unter ärztlicher Auffiht findet er Die ihm wohltäuende Befchäftigung in dem für ihn geeigneten Maß. Bugleih aber mi dem Zuwachs an Kraft und Geſundheit gewinnt er materiellen Bortheil, denn feine Arbeit wird nach ihrem Werth entlohnt, jo weit e8 angeht.

Ein modernes Krankenhaus ift eine fehr theure Sade. Der Nerven: kranke aber braucht fein Krankenhaus; im Gegentbeil: die Nervenfeiljtätte joll einem Krankenhauſe möglichjt unähnlich fein. Die ärztliche Fürſorge beftcht Hier in der Regelung bes Lebens, in perfönlicher Zuſprache auf Grund genaner Unter ſuchung, in wenigen und einfachen Arzenehnitteln, in Bädern u. ſ. w; und für das Alles braucht man Feine fünftlihe Einrihtung. Zur Wohnung für die Patienten eignen fich ganz einfache Häuschen am Meiften, denn fie bieten Ruhe und heitere Eindrüde. Je verfchiedenartiger die MWohngelegenheiten jmd, um jo beifer, denn der Kranke möge Das wiederfinden, was ihm burd die Gewohn— beit lieb ift, nur ohne die Störungen, die ſich braußen an jeine Wohnung hefteten. In einem Krankenhaus weiſt Alles auf Krankheit bin, bier aber fol der Sinn vom Krankhaften weg auf ein gefundes Leben hingelentt werden. Und wie die Wohnung, fo fol auch die menfchliche Umgebung ben Nervenfranfen möglichft wenig an die Strankheit erinnern. Es ift daher nicht wünſchenswerth, daß Kranke nur mit Kranken verfehren. Die gejunden Mitglieder der Kolonie find auch im Intereſſe der Kranken nöthig. Uber fie werden anders wirken als die Gefunden draußen, die allzu oft den Schwachen dur Handlungen und Worte verlegen; denn auch fie ftreben nad dem rechten Leben und der bie Kolonie beherrfchenbe Geiſt führt Alle auf den felben Weg.

An Geſunden wird es in der Kolonie nicht fehlen, benn es giebt allzu viele der Erholung und Ruhe bedürftige Menjchen, die, ohne eigentlih krank zus fein, nach einer Zuflucht verlangen. est fönnen nur ganz Meiche fich wirkliche Nude verfchaffen; die Meiſten müffen mit Dem vorlieb nehmen, wu8 bie Gaſt bäufer bieten, wo zwar oft Luxus und fehmelgerifche® Leben, Ruhe aber felten zu finden ift. Wer vollend3 jparen muß, wird fat nie finden, was cr wıll.

Alle Mitglieder der Kolonie find verpflichtet, fi) bed Genufles und ber Einführung alfobolhaltiger Getränke zu enthalten. Daß die Hilfe für Nerven- kranke mit der für die vom Alkoholismus Bedrohten verbunden werde, empfiehlt

. Notizbuch. 419

ſich aus verfchiedenen Gründen. . Die Sacdhverftändigen find darüber einig, daß für faſt alle Nervenkranke die Enthaltung ven alkoholiſchen Getränken nöthig fei, daß alfo in einer Nervenheilftätte die Abftinenz herrfchen müſſe. Die Nerven⸗ beilftätte bietet, was der genefende oder angehende Alkoholkranke braucht: eine: alkoholfreie Umgebung. Ja, er findet gerade an dem Nervenkranken eine Stütze, weil nad) alter Erfahrung die meiften von ignen gern ſich des von ihnen als Ichädlich empfundenen Altoholes enthalten.

\ Doch die Kolonie fol feine Trinkerbeilftätte fein. Wirklich Trunkſüchtige oder dem Alkoholismus ganz Verfallene werden nicht aufgenommen. Die Kolonie kann nur Die aufnehmen, die entweder noch nicht ober nicht mehr der Trinfer- beilftätte bebürfen. Insbeſondere ift an die Genejenden gedacht; ihnen wirb die Xrinferbeilftätte zu eng, fie find wieber ber Arbeit und freier Bewegung fähig, und doch kann man fie nicht in die alte Umgebung zurüdtehren lafjen, wo ihnen von allen Seiten die Verſuchung droht. Ihnen Öffnet fi in der Stolonte ein ungefährliched Gebiet, wo fie, unter Umftänden mit ihren Familien zujammen, leben und gedeihen fünnen. Ungefähr das Selbe gilt von den an« gehenden Trinfern, die den guten Willen Haben, fi) retten zu laffen, die aber der Umverftand der Umgebung immer wieder dem Altoholteufel zuführt. Viele Alkoholkranke find, fobalb fie abjtinent leben, tüchtige Arbeiter und können da- durch der Kolonie werthvoll werden.

Die Gründung der Kolonie durch Beichnung von Antheilfcheinen ") wird dur gewichtige Erwägungen geredtjertigt. Auf Hilfe. de8 Staates oder der Gemeinden ift bei der Neuheit der Sade nicht zu rechnen. Die reine Wohl- thätigfeit aber joll nicht angerufen werben, weil e3 fi um eine Sache handelt, die auf eigenen Füßen ftehen faun. Natürlich kann durdy eine einzige Kolonie das vor⸗ bandene Bedürfniß nicht befriedigt werden. Gelingt es aber einmal, zu beweijen, daß ber Gedanke Ichensfähig ift, fo wird man auch anderswo Muth faſſen und durh Gründung ähnlicher Kolonien das Gute fördern. Es wird nicht, fchwer jein, bei verftändiger Leitung nach einigen Jahren das Kapital mit etwa vier Prozent zu verzinjen. Beim erjten Verſuch find mir freilich auf den guten Willen der Unterzeichneten injofern angewieſen, als erftens die Möglichkeit des Gelingens noch nicht bemwiejen tft und zweitens der zu erwartende Gewinn nur gering fein fann. Die Beichner von Antheiljcheinen müjlen ein Opfer bringen, weil fie nicht ſofort Zinſen zu Hoffen Haben. Es handelt ſich alfo, wern man jo jagen darf, um bejchräntte Wohlthätigkeit. Am Beſten wäre es, wenn ein paar freigiebige Kapitaliften fich entjchlöffen,. duch größere Summen einen feften Grund zu legen. Um Wohlthätigkeit Handelt es ſich auch infofern, als die Gründer des Vereins nicht um Gewinnes willen thätig find. Ihre Uneigennüßigfeit kann ben Beichnern der Antheilicheine dafür bürgen, Daß bedenkliche oder gewagte Hand- lungen nicht zu erwarten find. Endlid wird die Wohlthätigkeit der außerordent- lien Mitglieder angerufen, um Freiſtellen für wirklich Arme zu fchaffen.

Dies Unternehmen iſt wahrlich eine gute und hoffnungvolle Sache. Ich

*) Man wird Ordentliches Mitglied des Vereins durch Erwerbung wenigftens eines Antheilfcheines zu 100, Außerordentliches Mitglied durch einen jahrlichen Beitrag von wenigſtens 5 Francs.

450 Die Zukuuft.

bitte herzlich Alle, die Intereſſe dafür Haben, mir ihre Adreſſe mitzutheilen. Ach werbe dafür forgen, daß fie die nöthigen Scriftftüde erhalten.“ x =

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Auf der Marienburg wurde am fünften Juni ein Prunkfefſt gefeiert. Dr Raifer hielt zwei Reben, von denen in den Beitungen gejagt wurde, fie jeien „ieh: eindrucksvoll“ geweſen. Die eine fpradj ben verfammelten Brüdern vom Stobanniter: orden Die Aufgabe zu, „das Werk ber Erlöfung der Menichheit, bem Vorbilde unſere⸗ Heilands folgend, weiter zu fördern”. Die andere brachte nad) Ausblicken ins Heiligt Land plößlich die Sätze: „Polniſcher Uebermuth will dein Deutſchthum zu nah treten und ich bin gezwungen, mein Bolf aufzurufen zur Wahrung feiner natioraler Güter. Und hier in der Marienburg fpreche ich die Erwartung aus, daß alle Brüde des Ordens Sankt Johann immer zu Dienften ftehen werden, wenn ich rauf. beutfche Art und Sitte zu wahren‘. Daß diejer Fehderuf bei den Öfterreichiicher Bolen, den Herren Eisleithaniend, Uergerniß erregt bat, ift fein Unglück: ve Echo, das aus Galizien herüberjchallt, Tann ben Werth des noch inımer als Frie densbürgfchaft gepriejenen Dreibundes erfennen lehren. Nicht fo leicht find anden Bedenken zu veriheuchen. Der Kohanniterorden ift international und weder alle u gremio religionis aufgenommenen Ritternochdie ausländilchen chevaliers de gräee werden „immer zu Dienften jtehen‘, wenn der Kaifer zum Kampf für Deutfche Au und Sitte ruft. Die Briten, Defterreiher und Ungarn, die als Gäjte der Balla Brandenburg auf der Marienburg waren, werden zu ſolchem Dienjt wenig Lat jpüren. Unb ift der Oſtmarkenkrieg, für den die preußifche Regirung ſich jegt beiter rüften will, wirklich durch das Borbrängen polnifchen Uebermuthes entfeflelt werben: Gar fo Übermüthig find die Polen doch nicht, mag ihre Preſſe au) manchmal gegen die böfen Preußen toben. Es handelt fih um einen wirthichaftliden Kampf, der nur durch geräufchloje Arbeit gewonnen werden kann ımd in beifen Berlauf mas jedes harte Wort, fo lange es irgend geht, zurüdhalten follter Will der König vor Preußen die VBerantwortlichfeit für den Ausgang dieſes Kampfes, ftatt fie einer Miniſtern zu überlaffen, felbft auf fi) nehmen, jo kann fein Menſch ihn baran kin bern. Der Minijter Pflicht aber tjt, ihren König barüber aufzuklären, daßder Kampf gegen ſlaviſche Geſchicklichkeitauch dann unvermeidlich geworden wäre, wenn bie Bolen nie ein übermüthig Elingendes Wort gegen Preußen gelprochen hätten.

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In München-Gladbach hatten Bürger ihrem loyalen Gefühl in einer an den Staifer gerichteten Depeiche Ausdruck gegeben. Sie erhielten bie Antwort: „Seine Majeſtät der Kaifer und König haben die Meldung von der Grundfteinlegung der den Andenken Allerhöchſtihres Höchitjeligen Vaters gewidmeten Kaiſer⸗Friedrich Halle Huldvollit entgegenzunehmen geruht und laffen der dortigen Bürgerjchaft Für den Ausdrud treuer Ergebenheit beitens danfen. Auf Ullerhöciten Befehl: ' ver Geheime Kabinetsrath von Lucanus.“ Der Stildiefes Telegrammesmedt manch lei Zweifel. Hat die Halle den Grundftein gelegt? Und warum tit der tote er Friedrich nicht des lebenden Allerhöchſten Herrn Allerhöcjitfeliger Herr Bater? & i allerhöchfte Zeit, diefe Kurialien nach byzantiniichem oder moderner d ſiſchem Mufter zu ordnen, auf daß fie Hinfüro perjönlichem Belieben entzogen fi

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HIPRPSH

Herausgeber und verantwortlicher Revatteur: EM. Harden in: in Berlin. Berlag der Sulunft in 8 Drud von Albert Damde in Berlin Schöneberg.

Die Zukunft.

Berlin, den 21. Juni 1902. me TTTTTTTT

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Vieux Saxe.

& guten Häufern, deren Erbauer ſchon mohlhabend war und die cin Hörtfein vererbter Kultur bergen, kommt um die Veſperzeit manch⸗ mal noch eine alte Sachjenfanne auf den Tifch. In Parvenupolis ſtellt man fie als Prunfftüd in den Glasſchrank, wo die feltenen Tafjen um die Wette progen: Japan, Henri Deur, Delft, Sövres, Nymphenburg, Wegdwood, + Capo di Monte. Da fteht fie, das zerbrechliche Denkmal einer Epoche, an die den Befiger feine Ahnentafel erinnert. Er, deſſen Vater vielleicht noch an der Weichbildgrenze der alten Königsjtadt haufte, hat die Sächſin um ſchweres Geld bei irgend einem Bernheimer eingehandelt und hütet fie nun ängftlich vor den Fährlichkeiten des Gebrauches. In den alten Häufern, die ihre Gefchichte, ihren Familienftolz haben und ihren Wohlſtand nicht dem Spielernüd einer Stunde danken, fteht fie vor würdigen Gäften auf ber Damaſtdecke des Kaffeetiſches. Die Mutter gab fie der Tochter, der Braut de8 Sohnes oder auch fpät erft der Entelin in die junge Wirthſchaft mit und die Köchin Hat das Alter ehrengelernt. Kein Sprung, fein abgeftoßener Rand ärgert das Auge und felbjt der ſchlanke Henkel ift unverſehrt. Ein artig ge- bogener Henkel, den der Wohlerzogene reſpeltvoll, mit höflichem Finger, anfaffen wird. Und der pugige Truthahnſchnabel fcheint krähen zu wollen: Mehr giebts nicht; und lockt gerade damit zu immer reichlicherem Genuß. Das ganze Ding fieht patriziich aus, behaglich und allerliebft unzeitgemäß. Es ift entweder aus Böttgerporzellan, roth, mit japaniſch ftilijirten Blüm- 34

452 Die Zukunft.

lein oder echtes Meißener, weiß, mit bunten Gnirlanden, oben und unta ein Bischen Rothbraun, das fich in Tupfen bis unter den Schnabel zieht, dahin, wo er fich zu einem Porzellankröpfchen baucht; und nie fehlt der Deckel, die Rannenmüge mit dem dicken Knopf. Rokoko ; aber dentſches, da dem Bli nicht die Bilder galanter Tändelei und erotifcher Schäferipieleker: aufbefchwört. An Alchemiſtenſpuk mag man denken, an die Polakenherriih- feit Augufts des Zweiten und an die wüften Tyrannentage, wo Aurora ftarfer Freund feinen meißener Herenmeifter auf der Albrechtsburg ale Strafgefangenen zu höherem Ruhm des Polenkönigs erfinden und Kaolir machen ließ. Augufts legitimer Erbe fand kein weiches Bett; und Aurora von Königsmart iftfpäter Pröpftin gewordenund hat Kantaten lomponirt. Ein traurige Gefchichte. Die alte Sachfenfanne hats vielleicht ſchon erlebt. Ted ihre behäbige Nundgeftalt läßt Wehmuth nicht auflommen. Seit Auguf Kronrechteund Landfegen verf chacherte, iſts ja beſſer geworden; bie Sachſen⸗ raute iſt grün, ringsum ſchnurren Räder, rauchen Schlote und über den Kaffeekonſum kann man nicht Hagen. Providentiae memor: fo heißt ber Spruch auf dem Hausordensband, das zwei Leun bewachen. Die Vorſehung wirdzurrechten Stunde Alleszum Guten wenden. In die Zeitmußt Du Did freilich ſchicken, auch wenn es böfe Zeit ift, und niemals darfit Du, unter feinen Umftänden, den Kopf hängen laſſen. Das lehrt die alte Sächſin. Kein befonders koſtbares Schauftüd; aber der Kenner ſchätzt ihren Wertf. Ungefähr fo, als ein ehrwürdiges, das ruhlofe Auge tröftendes Erb⸗ ftüdt, daS an entſchwundene Tage wechſelnden Glückes mahnt, ſahen dit nad) 48 geborenen Deutfchenden Sachſenkönig Albert. Seit erin Sibyllenort, dem Tudorfchloß, das der braunfchweiger Wilhelm ihm hinterließ, fich auf! Krankenbett ſtrecken und die leifefte Bewegung mit heftigem Schmerz büßen mußte, la8 man, Alldeutichland blicke in banger Sorge auf dieſes Zager und flehe den Himmel an, Alberts Xebenstag zu verlängern. Das iſt Reporter geſchwätz, das nicht zu fcheiden, zu unterjcheiden weiß und jedes Menſchen⸗ gefühls innigen Ausdrud zur läppiſchen Phrafe fäljcht. Zu den ragenden Männern, an deren Lebensdauer ein Volksſchickſal hängt, kann kaum em Dienftbotengemüth den wettiner Albert zählen. Die Sachjen felbft haben nie mit überſchwingender Begeifterung von ihm gefprochen; nur mit ruhiger Achtung, wie von einem redlichen Herrn, mit dem ich leben Täßt. Und hinter den grün⸗weißen Grenzpfählen wußte man wenig vonihm. Er jolleinguter Sol: dat geweſen jein und Moltke hat ihnals Kronprinzen den einzigen Feldherta des deutjchen Heeres genannt. Aber Moltke fonnte, wenn ſichs um Fürften

Vieux Saxe. 453

handelte, recht nad) der Diplomatenkunſt reden und wir find, feit auch der Kronprinz Friedrich Wilhelm zum reifigen Helden aufgepugt ward, gegen den Kriegsruhm hoher Herren mißtrauifch geworben. Gravelotte, Nouart und der Mont Avron waren längft vergeffen umd als Heerführer wurde Albert nur noch in rafch verhaffenden Tafelreden gepriefen. Einen tüchtigen Haushalter hieß man ihn und an den Stammtijchen ſchlugen die Herzen _ Höher, wenn erzählt wurde, der König fei ein feßhafter Statfpieler, der wie ein Fuchs im erften Semefter vergnügt fein könne, wenn er einen Grand mit Vieren gemacht habe. Stat: Das Hingt nicht nad) achtzehntem Jahr⸗ hundert. Sonſt aber fchien Albert uns Jüngeren deutſches Rokoko. Er paßte nad) Pillnig, in die nicht allzu üppige Anmuth einer Gegend, die eine Hede vor allen Modernifirungverjuchen gefchügt haben könnte. Dan fah ihn überall gern, vielleicht, weil man ihn felten fah. Nur, wo e8 ihn nöthig dünkte, zeigteer ſich; dann aber ftand er feinen Mann. Ein Monarchen⸗ typus, den wir nicht mehr ſchauen werden, entfchwindet mit ihm unferem Bid. Neue Formen find in die Mode gelommen. Auch neue feramifche Künfte, deren Leiftung mehr ins Auge fällt als die der Böttgerzeit. Dennoch. behalten die alten Sachſenkannen ihren Werth. Sie find aus gutem, bauer- baren Material, wollen nicht feiner jcheinen, als fie find, und brauchen, wo eine Tradition fie vor rauhen Griffen bewahrt, den Alltag nicht zu fcheuen. Ganz leicht war e8 1873 nicht, König von Sachſen zu fein. Yohann Philalethes hatte mit feinem Beuft und feiner Triasidee fo ziemlich Alles verdorben, was an Sachſens deuticher Machtjtellung nod) zu verderben war. Die größte Sünde war freilich lange vorher begangen worden: als Friedrich) Auguft, um feine Eitelfeit mit dem Königsreif Sobieskis zu krönen, der res formirten Kirche den Nüden kehrte. Nur als Perfon, als ein Einzelner wollte er fatholisch werden; doch umgab er feinen Sohn mit Hugen Vätern Jeſu, die dafür forgten, daR aud) der Kurprinz der Papftkirche gemonnen wurde. Damit war die albertinifche Linie dem cvangelifchen Glauben ent: fremdet, das Kurfürſtengeſchlecht vom Weg der Reformationgewichen, der es zum Ruhm geführt hatte, auf die Höhe dynaſtiſcher Macht führen fonnte. Wäre die Entjcheidung Friedrichs des Weifen und Johanns des Beftändigen geach— tet, nicht der Yauneeinesgewiffenlofen Luſtſuchers geopfert worden, dann war Sachſen als lutheriſcher Vormacht in Deutjchland die Bahn geebnet, während cs unter katholiſchen Herrſchern die Konkurrenz Defterreich8 und Bayerns auf dereinen, Preußens aufder anderen Seitezu fürchten hatte. Immerhin wares nicht nöthig, 1866 fo blind Bartei zu ergreifen. Albert, der Kronprinz, hätte 34*

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vielleicht anders gehandelt; als Einundzwanzigjähriger ſchon hatte er gejagt, nur das Bufammenmirfen aller deutichen Stämme könne die Einigung bringen, die er erfehne. Siebenzehn Jahre danach mußte er feine Sachſen dem Corps Clam⸗Gallas zuführen und mit einem gefchlagenen Heer aus Böhmen heimkehren. Als erden Thron beftieg, wardie Einheit erftritten, da: Reich gegründet; aber er herrichte über ein Land, wo von je hundert Ein: wohnern fünfundneunzig dem Lutherthum angehören. Solcher Glaubens zwieſpalt, derfich zwiſchen Volkund Fürft aufthut, iftimmer gefährlich; und das Mißtrauen der Iutherifchen Sachſen ift nie völligerlofchen. Ein alarm prinz geborener Albertiner müßte, fo grolfen fie, nach alter Verheißung den reformirten Glauben befennen; doc die römifchen Herren haben gam heimlich und ſchlau dafür geforgt, daß feit dem Uebertritt Augufts des Stark fein Erbe der Wettinerfrone mehr dem Mutterfchoß als Kronprinz ent bunden ward. Nur Albert3 altmodiſch ficherer Takt konnte Konflikte ver meiden und es nad) und nad) dahin bringen, daß der konfeſſionelle Gegen⸗ fat kaum noch empfunden wurde. An feinem Hof herrichten bie Pfaften nicht wenigftens war ihre Herrichaft nicht fichtbar und die Alathe lifchen fingen erjt wieder zu bangen an, als die fchlechten Nachrichten aus Sibyllenort famen... Es war nicht die einzige Schwierigkeit, die Johann⸗ Sohn als König zu überwinden hatte. Erwar im Gefühl feften Zufammer- hanges mit Defterreich, angeborener Antipathie gegen Preußen erwachſer und follte nun Bundesfürft in einem Deutjchlaud fein, aus dem Defierreid verdrängt war. Im Juni 1866 hatte fein Armeebefehl den Oefterreiden versprochen, fie würden ihn in guten wie in böjen Tagen an ihrer Sem finden; und nun fonnte er, der dem Kaifer Franz Joſeph perjönlich be freundet war, in die Yage fommen, fein Kontingent gegen die Truppen des Habsburg: Tothringers führen zu müſſen. Doch als Kronprinz ſchon hatte er fich tapfer indie neue Zeit geſchickt. FürdiezuverläffigeTreue, dieihn ans Reich band, und für die Befcheidenheit feines Wefens zeugt laut der Brief, den er zwanzig Tage nad) feiner Thronbefteigung an Bismard fchrieb. Da lieft man die Säge: „An wen könnte ich mic) wohl beffer wenden ala a” den Kanzler des Deutſchen Neiches, der fo oft erklärt, er gehöre allen Bu x⸗ fürjten gleichmäßig an? Mit vollem Vertrauen wende ich mich daher au öie, mern ich der Hilfe gebrauchen ſollte, wenn ich weifen Rathes bebürfte. ien Sie dagegen verſichert: auch ich werde Alles, was Sie zum Heil des Reicht nd deutfchen Volks unternehmen, jo Fräftig unterftühen, als e8 meine geri, yen Kräfte erlauben, und hoffe, ein werfthätiges Mitglied, eine fefte Stür Yes

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Sebäubdes zu fein, das mir mit dem Schwert aufrichten zu helfen vergönnt war. Jedem ich bitte, Diefe Zeilen nicht übel zu deuten, die Sie vieleicht in Ihrem Tuskulum ftören, verbleibeich Ihr ergebener Albert.” Kein Schwulſt, feine Phrase ; der jchlichte Ausdrud eines Gefühles der Unzulänglichkeit und zugleich der Haren Erfenntniß, wo in Nöthen der ftarke, bereite Helfer zu juchen wäre. So fchrieb der Königvon Gottes Gnaden an, den „Handlanger Wilhelms des Großen“, der Sache an den Erponenten der großpreußijchen Politik, deffen Siegerfchritt ihm manche feimende Hoffnung zerftampft Hatte, der Katholif an den Keker, dem taufend Priefterzungen in Nom fluchten. Wir find an die Tonart ſolchen Fürftenbriefes gar nicht mehr gewöhnt ; wie aus weiter Ferne klingt fie zu uns, wie das letzte Echo einer verſunkenen Welt, von der nur die Alten noch in den Ausgedingftuben raumen.

Und der König, der fich jo bejcheiden, jo frei von dem Haß bleiben konnte, mitdem legitime Herren faft immer das Genie verfolgt haben, diejer Monard) des Altväterftild hat die modernfte Entwidelungerlebt. Sein Land _ wurde der Hauptfi der Großinduſtrie, die dicht bevölferte Stätte des neuen Mafchinenproletariates, das Manöverfeld der Sozialdemokratie. Das Alles war ihm ganz fremd und er hat fich oft darüber gewundert, daß Städte, wo - bie Bürger ihn foehrerbietig grüßten, rothe Revolutionäre in den Reichstag ſchickten. Aber er hielt ſich ſtill. Nicht etwa, weil er ein feiner politicher Kopf war und fich jagte, da es nun einmal ſtets eine radikalfte Partei geben müjfe, jet die noch am Leichteften zu ertragen, die an die Allmacht einer Evolution glaube, jede Gewalt verſchmähe und ihres Sieges fo jicher fei, daß ſie nicht daran denke, ihn zu erftreiten. So hoch hinauf flogen feine Gedanken nicht. Nein: er hielt fich ftill, weil Ruhe ihn erfte Königspflicht dünfte. Ein Wort fonnte erfchnappt, ein Seufzer weitergetragen werden. Deffentlich hat man ihn nie Hagen, nie drohen gehört. Er verftand die neue Zeit nicht, konnte fie nicht verjtehen; doch er fchwieg und wandte das Auge von dem Speftafel, wenn es ihn allzu tief kränkte. Im Grund ihres Herzens, mochte er denken, find auch die Rothen recht brave Leute und gute Sachſen; und ich muß trach⸗ ten, mir und meinem Haus fie nicht ganz zu entfremden. Sächſiſche Negir- ungen haben, feit die Gejchwindigkeit der proletarijchen Bewegung wuchs und die Fabrikfeudalherren in Schreden jagte, oft recht unflug gehandelt; der König aber hat jich feiner von ihnen engagirt. Er wurde, als Katholif, von den Lutheriſchen geliebt; er ftand treu zum Reich unddie Partikulariften fahen ihn nicht ſcheel an; er ernannte Minifter, deren foziales Verftändniß ans der Eiszeit zu ftammen jchien, und die Schaar der Bedrüdten ſprach mit

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Achtung, mit zärtlicher manchmal, von ihm und jelbft in Stunden leiden:

Ihaftlicher Erregung las man kaum irgendwo ein Wort, daS den König ver-

legen fonnte. Dem Knaben war wohl von ben dresdener und Leipziger Zu- multen erzählt worden, die denverhaßten Grafen Einjiedel geftürzt und dem Prinzen Marimilianden Weg zum Thron gejperrt hatten, und der Yüngling hatte den leipziger Paradeputſch, die Folge prinzlicher Politik, und die bis hart ans Schloß reichende Wirkung der Februarrevolution erlebt. Solche Anſchauunglehre ſchlug er nicht in den Wind. Für die Fürften, fühlte er, ift3 am Beften, wenn fie hinter dem goldenen Gitter bleiben, das fie von der Raferei Hungernder, von den Kämpfen um Macht und Beutetrennt, wennfie der Möglichkeit, Unheil zu ftiften, fich entziehen und nur ihr Recht wahren, Gutes zu thun. Er ließ die Regirung regiren, das Volk am Wahltag die Richtung feiner Wünfche andeuten und freute ſich jeder Öclegenheit, ein Uin- recht tilgen, einem Bittfteller Gnade gewähren zu lönnen. Jagd und Karten fürzten ihm die Mußezeit; Speife und Trank mundeten nod), als ihn Längfi das fchmerzhafte Blafenleiden heimgefucht Hatte, das auch den alten Wilhelm plagte; und er vertrug die fehmwerften VBirginiacigarren. Die Wirthichajt- interefjen feiner Sadjjen lagen ihm am Herzen und er hat, in Gemeinſchaft mit Franz Joſeph, den Kaifer für den Gedanken der Handelsverträge ge

wonnen, die der ſächſiſchen Textilinduſtrie Vortheile brachten. Nie aber empfand er da8 Bedürfniß, zu reden, über politifche Vorgänge feine Meinung

zu fagen. Er ſchwieg. Er konnte fchweigen; denn er war der König.

Noch eine Schwere Probe Hatte der Greis zu beftehen. Bismard, zu dem er in unbeirrter Zuverſicht aufgeblict hatte, wurde entlaffen; und der perjönliche Wille des Kaiſers trat mit fo ſtarken Impulſen hervor, dag man draußen vom Empereur d’Allemagne zu fprechen begann und kaum nod) der Bundesfürften gedachte, deren erftem mit dem Bundespräjidium der Titel des Deutfchen Kaifers, aber nicht das Recht eines Reichsmonarchen zuerfannt worden war. Vom Kaifer, nur vom Kaifer war Tag vor Tag jekt die Rede. Die Geburt des Reiches war 187 L nurdurch den Kaiſerſchnitt mög: lich) geworden, der dem Sorgenkind ans belebende Licht Half. ‘Die beiden Männer aber, denen damals dieSectio Caesarea gelungen war, hatten nod ‚Preußens Schwarze Tage gefehen; fie fannten die Gegenfäge der deutjcer Stämme, die in den Yandsmannfcaften der Hochſchulen fortlebten, un! wußten, weldjes Opfer dem Selbjtgefühlder fouverainen Fürften zugemuthe wurde, die wichtige Theile ihrer ererbten Rechte dem Sohn eines aus unſchein baren Anfängen emporgelommenen Junkergeſchlechtes ausliefern follten

Vieux Saxe. 457

Wilhelm und Bismardwaren und blieben einig indem Bemühen, den Kaiſer⸗ gedanken für befonders ernfte oder beionders feitliche Stunden aufzu— Sparen. In diefe Vorftellung hatten die Bundesfürften fich gewöhnt Andere werden fagen: die freiwillige Zurücdhalfung des alten Kaiſers hatte fie verwöhnt und ein unbehagliches Gefühl mußte fich einftellen, als es anders wurde und fie von dem plöglich, bald da, bald dort, aufblinfenden Leuchtfener der Kaifergloriole ihr weniger glanzvolles Mühen verdunkelt fahen. Niemand ſprach noch von ihnen, Niemand traute ihnen auf das Ge⸗ Schick des Reiches, dem fie doch gemeinfam die Einheit ſchufen, enticheidenden oder auch nur mütbeftimmenden Einfluß zu ; fie jchienen nurnoch vorhanden zu fein, um an Feiertagen fich um den Thron des Einen zu ſchaaren, der mit feinen Worten und Willensregungen die Welt erfüllte und in einem Lande, deſſen Fürftengefchlechter faft alle einmal mit einander in Fehde ge- legen Hatten, feinem Hohenzollernhaus mit rafcher Hand die Schäße gefchicht lichen Ruhmes häufte.: Eine jchwere Probe, die jogar den alten Großherzog vonBaden ausbequemerftuhegefcheucht und zum eifernden Redner gewandelt hat. König Albert Hat fie beftanden. Manches gefiel ihm nicht, die Treuften ſahen ihn den weißen Kopf fchütteln und an leijen Friktionen hat es feit 1890 niemals gefehlt, nicht nur in der Zeit des lippiſchen Erbfolgeftreites, den der Sachje gegen den Wunſch Wilhelms des Zweiten entichied. Stets aber blieb er forreft. Er freute fich, 1892 zu fehen, wie feſt gerade die Sachſen an Bismard hingen; doch er felbft hielt fich zurück. Er wollte weder bie neue Mode mitmachen noch mit perſönlichem Widerjpruch die Kritif her- ausfordern: der unangreifbare König für Alle wollte er fein und vor des Neides langenden Bliden „die Sache halten“, fo lange e8 irgend ging. Ob - man ihn für einflußreic oder ohnmächtig, für einen Nenner oder eine Null im Reich hielt, galt ihm gleich; nur um die Erhaltung ber ftarfen Kraft- wurzeln im heimijchen Boden wars ihm zu thun. Da konnte er ftill wirken, fonnte er, ohne die Zukunft der Dynaftie zu gefährden, in weiſer Selbſt⸗ beichränfung Nützliches fchaffen. Nie vernahm man von feinen Neigungen, jeinen Liebhabereien. Providentiae memor! Auch die Hand, die aus dem PBurpurhervorwintt,hältdieunhemmbar nothwendige Entwickelung nicht auf. Nicht einmal auf der ſchmalen Höhe, wo die deutfche Muſe mühfam ihr Leben friſtet. Alberts Reſidenzſtadt wurde der germaniſche Vorort modernfter Kunſt; dort lernten wir Meunier und Rodin, Van de Velde und Zuloaga kennen. Und der König ſchalt nicht, ließ lächelnd Alles gefchehen. Warum nicht? Die gute alte Sachſenkunſt, deren Produkte ſo patriziſch ausſehen, ſo behaglich und aller⸗ liebſt unzeitgemäß, behielt auch neben dem Allerneuſten noch ihren Werth.

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Eine Renaifjancer

ES van de Velde hat ein intereffantes Buch über die Renaiflanc im Kunftgewerbe gefchrieben,; er verteidigt darin mit oft bewundern werther Sicherheit fich und feinen Stil und giebt eine Schilderung der in duftriellen Künfte feit Morris. Ich weiß nicht recht, mas ben Reiz gieh, gegen dieſes Buch zu fchreiben, fogar aus dem eigenen Lager heraus. Ot es die kühle Selbitverftändlichkeit ift, mit der dieſe Kleine Geſchichte lediglich sub specie van de Veldes aufgefaßt wird, die Dialektif, mit der er gegen die Angriffe auf feine Kunſt antwortet, oder die jehr perjönliche Form de “Ganzen. Ich glaube nicht, daß das Bud) für van de Belde Proſelyten made wird. Dumme Leute werden es nicht verftehen, kluge werben ſich darüke ärgern. Selbftverftändlichkeiten und Thorheiten werben darin mit folde Gelaſſenheit, ja, mit fo viel Pathos behandelt, daß ſich die Oppoſition fer dann regen würde, wenn der Hauptinhalt de8 Buches Einem willfomme wäre. Das Pathos ift das Peinlichfte daran.

Um mas handelt es fich eigentlih? Der native Leſer wird, wenn a das Buch Hinter ſich hat, das mehr oder weniger unklare Gefühl Haben, vor einer Erfheinung in Kenntniß gefegt zu fein, die vollflommen unbegreiflich MWeife ihm bisher entgangen war: eine kulturelle Thatſache von ungeheutt Wichtigkeit, eine Formel der Modernität, die geeignet ift, die Welt ums ftürzen. In Wirklichfeit handelt es fich, wie der Titel lautet und ma muß dem Ausländer da8 ominöfe Wort nachfehen —, um Kunſtgewerbt Das ift zu wenig für das große Pathos.

Kunſtgewerbe ift heute fehr beliebt; und die Leute, die es betreiben ftehen in dem Anfehen, mit dem man fonft nur mit Pathos zu behanbelnde ho Kunft bedachte. Im Grunde ift e8 ein um nichts mehr oder weniger legitim Mittel, Geld zu verdienen, al8 irgend Etwas. Man macht hübfche Sad um fie zu verkaufen; daß man fie gediegen, befjer als Andere macht, erleidte! ihre Verfäuflichkeit. Das ift der einzige moralifche und vernünftige Stand: punft; nur wenn man Dinge maht, die dem Syſtem von Angebot un) Nachfrage entfprechen fünnen, fann man nügen. Wozu alfo das Pathoi | Was würde man don dem betriebfamen Schufter fagen, der mit folden Pathos feine gewerblichen Anfichten affihirte? Auch fo was giebt es. | London auf der Bondjtreet hat mid mal ein Schufter drei Stunden IM gefefjelt mit einem Vortrag über feine einzig naturgerechten Stiefel, | T im Gegenfage zu ſeinen Sollegen vorn breit und hinten fchief machte; a das Pathos, mit dem der junge Worth oder Madame Paquin in! # über ihre Koftüme reden, ift nicht weniger feierlich al8 das van be Belt - Nur laſſen diefe Leute nicht all ihre Meinungen druden; und wenn 4 |

Kiste Renaifſauce? 459

thun, erreichen Nie nicht dieſe literariſch ganz pofiirliche Aufmerffamfeit. Yan de Velde glaubt aber, Kultur zu maden und daher zu mehr berechtigt zu fein al3 ein Schufter oder Schneider gleicher Bildung; und darin irrt er.

Wie ein einfchneidendes hiitoriiches Ereigniß wird das Auftreten der Belgier in den neunziger Jahren geichildert und mit. dev Bedeutung der englifchen Bewegung verglichen. Auch diefe ift recht überfchägt worden, aber fte bedeutet denn doch etivad mehr als die brüffeler Heldenthat. Man fürgt wohl überhaupt nachgerade an, über das fünftlerifche Heldenthum ffeptifcher zu denfen, zumal wenn jid) damit der Begriff des Märtyrerthumes verbindet; in den meilten Fällen iſt das Märtyrerthum des Künftler3 vielmehr eine Folge der Vernachläſſigung gewiſſer unentbehrliher Qualitäten rein fozialer Arı als Fünftleriicher Fragen; Künftler, die, ganz abgejehen von ihrem Talent, in den Kampf ums Dafein das Bischen Lebensweisheit mitbringen, das jeder Schuiter oder Schneider eben fo braucht, gehen jelten zur Grunde. Gerade in dem weniger heldenhaften Auftreten der englifchen Künſtler der vorangehenden Bewegung liegt ihr Uebergewiht. Es war normaler. Es folgerte aus dem englifchen Empire mit der Sicherheit, mit der in Frankreich ein Louisſtil aus dem anderen hervorwuchs, und hatte jene latente ‘Popularität, die nur der Jahre bedarf, um zur wirflichen zu werden.

- Eo groß in Brüffel das Verdienft des Einzelnen war, fo groß Die Kühnheit, deren e8 bedurfte, um fo geringer war die fulturelle Bedeutung dieſes Verſuches, weil e8 ihm an diefer latenten Popularität fehlte. Ic) hoffe, erklären zu können, wie ich es meine.

Man fann fi mit einiger Phantajie einen Menjchen vorftellen, den e3 durch ein äußerſt perfönliches, ganz an feine Eriftenz gebundenes Mittel gelingt, die Menſchheit in einer nie gefehenen Weife zu beglüden. Man denfe an einen Wunderthäter, wie ihn die Religionfagen hervorgebracht haben, mit Abfiraftion der fittlihen Wirfung, an einen großen Hypnotifeur, der ich in den Kopf gelegt hat, fein Talent nur zum Guten zu benugen. Mag ein folder Menſch noch jo viel thun: er bleibt ein Phänomen und fette Wirkung verichwindet, praftifch gejprochen, wie eine Geifenblaje im Meer der Allgemeinheit, während der gar nicht phänomenale Dichter, Denker oder Künitler, der nicht3 Anderes thut, als feiner Zeit eine jener latenten Quali— täten zu offenbaren, die unmittelbar aus ihr folgen und unmittelbar auf Ne weiterwirfen, der Arzt, der innerhalb der Mifrobentheorie. etwas entjcheidend Neues entdeckt, der Induſtrielle, der innerhalb unferer induftriellen Mittel ein neues Gebiet auffchliegt, fulturell unendlich mehr bedeuten. Es fommt nicht lediglich auf das Geben an; man muß mit der Gabe Etwas anfangen fönnen; der Beſchenkte muß das latente Bedürfnig haben, das durch die Gabe beiriedigt wird. In unferen Falle find es nicht zu überjehende, ſehr

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460) Die Zukunft.

komplexe Verhältniſſe, die dieſen latenten Zuſtand bedingen. Die mar Patrioten laſſen ihn von lediglich nationalen Fragen abhängen; ſolche Ftage fpielen jidyer überall, wo es ih um Stil Handelt, mit, aber fie ſind ke. in unferem heutigen Leben, bei der Gemeinſamkeit der Mittel und der Pe dürfniffe nicht mehr enticheidend. Es wäre thöricht, van de Welde au jerr hiſtoriſchen Zufammenhangloiigkeit er verfucht vergeblich, ſie in ſemen Buche durch feine Beziehung zum Rokoko zu überbrüden einen Borwert zu maden. Man wird die größte Mühe Haben, den Zuſammenhang des Bunfen- Brenners oder eines Motorwagend von Dion Bouton ntit der Be: gangenheit nachzuweifen; und trogdem iind es recht nüßliche Gaben. Ex ernithafter Vorwurf kann nur in der Frage des reinen Nugens Tiegen.

Tan de Belde hat jih in feinem Buch zu viel, namentlich aber ze wenig gethan. Seine Rolle in der beigifchen Bewegung iſt eine ganz ande: als die Williams Morris in der englifchen, mit der ein Vergleich nahe ler Morris ſchloß vorhandene Elemente mehr oder weniger geſchickt zuſammer van de Velde fchuf neue Elemente. Er nur allein hat weſentlich neue K- danken im die Sache hineingebracht. Die Namen der von ihm nut jchäger: werther Pietät citirten Sünftler bedeuten Dem gegenüber gar nichts. E wäre nicht ſchwer, nachzuweiſen, daß van de Velde eine der größten für: leriſchen Energien diefes Jahrhunderts if. Es hat felten einen Menidı gegeben, der fo fonjequent jeine Art durchzubrüden verftanden hat; man mit diefen Fanatismus des Individualitätbewußtſeins fonft nur in der Krie geſchicht. Ter Schatten, den er in einem darüber zu fchreibenden Bu werfen würde, ift gigantifcher, als es fich felbft die treufte Berehrerin Bi Künftlers heute träumen läßt. Nur dürfte man ein ſolches Bud nit außerhalb einer rein biographifchen Bedeutung ſtellen. Man kann von ib: in eben fo hohen Tönen reden wie von Millet oder Manet, aber man dar fi nie einfallen lafjen, zu glauben, daß er für feinen Kreis eben jo m bedeutet wie jene Künftler für ihren. Millet rettete eine große zeichnerildt Manet cine grandiofe malerifche Tradition. Wohl ift der Wirkungsfrei diefer Leute Mein; er ift daS winzige Spezialinterefje eines Spezialfaches, 33 leider mit dem Heute unendlich wenig zu thun hat. Ban de Veldes Kt) ift viel größer; er liegt oder foll liegen zwiſchen den Bolen der Kott wendigfeit unſeres Daſeins; aber die Nolle, die er felbft darin bis Ful geipielt hat, iſt gering, nicht nur praftifch und für den Augenblid Da M gleichgiltig —, ſondern auch in jeder theoretifchen Zukunft; fie ift jun I von der er hinwegdrängte, die Wolle, die etwa ein genialer Maler im 3 tigen Leben ſpielt. Und der Fall liegt fo unglüdlih, dag man dem fer fl van de Belde im Intereſſe der Allgemeinheit wünfchen muß, feinen an M Einfluß zu gewinnen. Den Grund findet man in allen Xeußerumgen ' ec

Eine Renaiſſance? 461

thatfächlich vorhandenen Einfluffes, von dem zu reden ſich nicht lohnt, und in der Unzulänglichkeit der Mittel des Künftlers, fobald man ſich einmal ihn felbjt wegdenkt. Er ift eine höchſt interefjante äfthetifche Studie; zur tulturellen Bedeutung aber für die Allgemeinheit gehört gerade das Gegen- theil Deifen, auf das van de Belde ftolz iſt. Kulturell bedeutet vielleicht der Einfall des jungen bremer Dichters, dem es in den Sinn kam, ſich in München, ohne Nimbus, aber mit jehr viel Geihmad eine Wohnung ein- zurichten, die im idealer Form dem Bedürfniß entipricht, ohne im Mindeſten originell zu fein, mehr als die verblüffende Driginalität des belgifchen Meiſters; und das Verdienſt unjeres Peter Behrens, dem e8 allein gelungen ift, die großherzogliche Ausftellung von modernen Häufern in Darmftadt vor der Xächerlichleit zu retten, ift größer als der Werth der ungleich tieferen Erfindung van de Beldes. Der viel umftrittene Sag von den Gefahren des Genies auf den Thronen der Völker feheint in diefem fleineren Reich eine beſtimmtere Beftätigung zu erhalten. Wenn man died Gebiet nicht mit der Lupe des Fachpatriotismus betrachtet, fcheint hier dag ftarfe Genie nur in geringen Dojen genießbar. Die Emanzipation vom Genie, eine unjerer größten Kulturaufgaben, viel wichtiger al3 die Emanzipation von dem Geld und anderen mit Schlagwörtern unfere® Sozialismus bezeichneten Mächten, ift hier die Grundlage jeder vernünftigen Entwickelung.

Der ganze Sozialismus van de Veldes, auf den er zuweilen anfpielt, fcheint Spielerei; er ijt ficher der ftärkite der vielen Widerſprüche in diefem Menſchen; und es ift faſt unbegreiflich, daß fich feine ſcharfe Logik diejer Thatfache nicht bewußt wird. Kein monarcdifcher Abfolutift ift im Inſtinkt fo antifogial wie der Sozialift van de Velde. Es giebt nichts, was fo treffend die Symptome ariftofratifcher Einzelerfcheinung trägt wie diefe Kunfl. Nicht genug damit, daß fchon unfere ganze gute, moderne Malerei und Skulptur reiner Kaviar it: jet wird auch, wenn es nad van de Velde ginge, da8 Gewerbe zum Amateurfport. Nur für Amateure ift Alles, was er macht, beſtimmt, wegen des verwendeten Mittels nicht minder als wegen der ganzen, äußerſt fpezialifirten Eigenart. Denn man wird mir, um van de Beldes Kommunismus zu beweifen, Hoffentlich nicht den berühmten Ein- fluß entgegenhalten, den van de Velde in Deutſchland, Defterreih und in vielen anderen, ja, den meilten Rändern übt. Wenn e8 irgend etwas noch Niedrigered giebt als das Niveau, auf dem wir vor van de Velde waren, fo ift es das der üblen Kohorte von Fabrilanten, die & la van de Velde arbeiten und unfere Häufer innen und außen mit den felben Efel erregenden Wurmlinien überziehen. Unbegreiflih, daß jich der Meifter, der dieſe üblen Geiſter rief, dagegen nicht wehrt, daß er diefe Banaufen nicht brandmarkt, die zu beweifen verfuchen, daß feine ganze Sache nur Manier iſt, die aus

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feinen perfönlichen Zeichen bie billige Bajis einer Diode zu machen verfuhez: | daß er nicht fonfequent genug ift, zu fagen: Ich bin allein und muß allm | bleiben. Bei feiner Charafteranlage wäre diefer Wunfc gewiß aufridtz. Das iſt die faulfte Seite de8 Buches van de Veldes, gegen die ſich bei mır bie heftigfte Oppofition regt. Mit großer Gefte weift er auf den unjäglicen Einflug feiner Ornamentik hin; und da er ihn nicht hindern kann, jagt er ftrahlend: Dies iſt mein Werk!

Ich hätte Miichelangelo fehen mögen, der in einer größeren Sache ı ähnlicher Lage war, wenn man ihn auf den großen Einflug aufmerfiam ge⸗ macht hätte, der von ihm ausging; etwa auf die heiteren Engelchen übe den Thüren, die ſich bis heute erhalten haben und jegt von den belgiſchen Linien verdrängt werden. Ich glaube, er hätte, bei feinem Temperament, den unberufenen Kritiker die Treppe hinunterbeförbert. Und diefer italiemiide Unfug war denn doch noch ctwas Anderes als die brüfleler Renaifjanır.

Ban de Velde Fonnte jchweigen; oder Das war fchwieriger abſchwören! Gerade das Gegentheil thun! Nicht bemeifen, wie er e8 in un: begreiflicher Ausführlichkeit verjuccht, daß die belgifche Linie befier ift als dir der Blumen oder Gemüje, fondern zeigen, daß diefe ganze berühmte beigiid: Linie an fi) fo gleichgiltig ift wie der fühne Schwung eines wohlgepflegten Fingernageld. Ich müßte fürchten, mid) auf die allerbanalften Gemeinpläre zu verirren, wollte id) nachweiſen, daß ein Ornament an lich überhaupt mic eriitirt, chen fo wenig wie es eine Siebe an fich giebt; immer gehört ein Objekt dazu. Die Frage, wie dies Objekt fchön Herzuftellen fei, ift nick don der Detailfrage des Ornamentes abhängig; es giebt fehr viele jchöne Dinge, die gar fein Ornament tragen, und bei ſolchen, die damit verichen find, kommt nicht in Frage, ob das Ornament an eine Blume oder an meine Großmutter erinnert oder überhaupt abftraft (?) ift. Ban de Velde wirft allen Gewerben, die vor ihm da waren, vor, daß fie die Unmahrheit ımd Unlogik in die Gemither fäten, weil fie uns zwangen, auf Teppichen zu geben, die Blumenbeeten glichen, und unfere Wände in Perfpeftiven verwandelten. Tas ift billige Meisheit. Ein Teppich, der feine andere Qualität hat als die, einem Blumenteppich zu gleichen, oder eine Wanddeloration, die lediglich den Zweck hat, unfer Auge zu täufchen, kommt hier überhaupt nicht in Frage. E3 ift denn doch arg naiv, in dem Gewerbe der Bergangenheit nur | '": naturaliftiichen Mätzchen zu ſehen. Was uns an den guten uns überliefe ı Sachen freut, ift juft der Stil und das prachtvolle Metier. Die brir in den Genuß Elemente nit, die das Eujet diefer Dinge ganz in den Hir grund drängen. Jh muß fagen, dar mir ein guter Gobelin von War immer noch lieber iſt als ein fchlechtes periifches Muſter der felben °

Es wäre bedauerlih, wenn die endlich errungene Freiheit vor

Eine Renaijjance? 463

Vorurtheilen nur, dazu dienen follte, uns im neue und nur nod engere Theorien zu flürzen. Wenn es aber etwas Unantaſtbares auf diefen Gebiet giebt, jo ijt es das Geſetz der Logik und Konftruftion. Hier, in der ſcharfen und zeitgemäßen Erfaflung dieſes Geſetzes, Liegt die Kultur; nicht in den Schlangen= linien. Gerade von diefen Gefegen aber hat ſich van de Belde fo weit wie möglid entfernt. Es giebt nichts Unfonftruftivere als jeine Möbel, die am Deutlichiten feine Eigenart zeigen. Man findet eine Unmenge Details bei ihm, die aller vernünftigen Verwendung von Materialien widerfprechen.

Aber meine Kritif ijt keine Klippſchule. Dieler fcharf umriflenen Perfönlichteit, deren fünftlerifcher Wille fi) elementar aufdrängt, war erlaubt, was bei Eeineren Verbrechen wäre; und unfer fchöner Perſönlichkeitkultus forgte dafür, daß man ihr aud da folgte, wo jie hart an Unmöglichkeiten grenzte. Sie gab uns dafür, Statt logifcher Befriedigung, ſtarke Impulſe und lehrte und auf einem neuen Felde das Wirken der Berfönlichkeit Ichägen. Die Anerfennung dafür it nicht ausgeblieben; es wird felten einen Künftler gegeben haben, der im fremden Land fo fehnell zur Berühmtheit gelangt ift. Aber gerade deshalb erwächit Denen, die an diefer Anerfennung betheiligt waren, dad Recht zur Oppojition da, wo die Wirkung des Erfolges den Künſtler auf Abwege treibt. Groß wäre, wenn van de Velde heute, wo er ſichs leiſten kann, auf die Fehler feiner Vorzüge verzichtete; denn gerade in diejen Fehlern hat die banale Welt am Meijten feine Größe gefehen; wenn er aufhörte, im Sinne diejer Welt originell zu fein, um im höchften Sinne werthovoll zu werden. Das wäre cine befiere Antwort als der fümmerlice Berjud, ich zum Haupt feiner traurigen Epigonen zu maden. Uebrigens geht er in der Auffafiung diefes Epigonenthumes etwas zur weit. Die dreöbener Ausstellung, in der zum erſten Male in Deutſchland Werke van de Veldes zu chen waren, gab nicht, wie er behauptet, den Anfang zur deutfchen Be— wegung. Ich zum Beifpiel hatte ſchon vorher mande Zeile über beutfche Gewerbekünſtler gefchrieben, Folglich mupte es folche Künftfer geben. In München und an anderen Orten regten fich fchon manche verfprechende Ber: fuche, die nicht8 von van de Velde wußten, und thatfächlicy ijt auch heute der ernjthafte Theil der deutichen Künitlerfchaft von ihn unberührt. Beein: flußt wurden nur die Leute, die nichts Beſſeres zu thun hatten, die Mafle, die immer einen Beeinfluffer braucht. Auf die Beſſeren war fein Wirken mehr moralifcher Art; er gab ihnen Muth, e8 in ihrer Art chen fo zu machen. Aud) rein praftiich wird Manches in die mehr oder weniger dauernde Formen— welt der Gegenwart übergehen. Der vüdblidenden Gefchichte werden diefe Details, die der heutigen Fachſchriftſtellerei als unendlich wichtig erfcheinen mögen, als nebenſächlich verjchwinden. Sie wird unjere Verkehrsmittel, unjere Maſchinen, unfer Handelägetriebe regiitriren und die künſtleriſchen

464 | Die Zutunft.

Verſuche zur Hebung des Gewerbes ala Künfteleien betrachten. Zie mn erftaunt fein, daß eine fo konſequent vorgehende Zeit im häuslichen Gewerke nicht eben jo bewußt fortfchritt und des fünftferifchen Nim bus bedurfte, m etwas höchſt Selbfiverftändliches zu thun. Man wird ſich wundern, wi man über fo einfache Dinge fo viele Worte machen fonnte, während unſere induftriellen und wifenfchaftlichen Erfolge fo klanglos vollzogen, ur! man wird ſchließlich in diefer ganzen Aefthetif der vielen Worte nur be ataviftifche Zeichen einer Kafte fehen, die jo thöricht war, von dem Male. Bildhauer, Dichter eine Kultur zu erwarten, die auf natürlicderem Ber längſt entjtanden war.

Paris. Julius Meier-Graefe

Elfte Rangklaſſe.

5)" junge Fritz Murmann jah endlich fein langjähriges Sehnen erfült: er war einem neu gebildeten Departement als feſt angeftellter Beamtr zugetheilt worden, mit eincın Gehalt von... na, an die Höhe des Gehalte⸗ wollte er vorläufig lieber noch nicht denfen; erſt die Freude der feſten Anſtellum auskoſten. (Es iſt dod) ein erhebendes (Sefühl, mit ruhiger Zuverjicht im dee Zukunft jehen zu können, des Vorrückens und der Penfionberechtigung fie, wenn diejer Ausblick jelbjt nur von der Niederung einer elften Rangklaſſe er noffen wird. Zumal, wen man eine Frau hat. Bei diejen Herrfichfeiter konnt er es jchen in den Kauf nehmen, von den neuen Kollegen nicht jehr freundlid angejchen zu werden. ——

Das thaäten ſie denn auch gründlich. Einen „Neuen“, den Niemand font, von weiß Gott wo hereinbekommen, iſt eben eine böſe Sache. Kann man wiſſen. welcher Protektor hinter ihm ſteht?

Fritz Murmann drückte ſich in die Ede und ſuchte durch das allerzuvor kommendſte Weſen die Herren mit ſeinem Daſein zu verſöhnen. Ihm war dieſes ſtreug geregelte Beamtenleben in ſeinem innerſten Innern wagte cr, es „Kaſtengeiſt“ zu nennen ganz fremd und er fühlte ſich recht unbehaglid. Ein Glück war für ihn, daß er einen früheren guten Belannten im Departement fand, der ihn mit großer sreundlichfeit empfing. Sie waren zwar nid einem immer zuſammen, da der Freund ſchon ein höheres Arbeitgebiet h aber es fanı doc zuweilen zu einem wohlthuenden Meinungaustauſch zwi ihnen. Mich hatte Fritz Murmann dem Anderen Icon eine Gefälligfeit erwe fünnen. Vor dem Schreibtiſch des Anderen ftand ein Seffel, der an entiprede: | Höhe mehr zu wünſchen übria ließ als an jtilgerechter Unbequemlichkeit, wahres Marterinftriment fir eine ftarfe Figur unter Mittelgröße, wie "-

Elfte Rangftaffe. 465

Unglückliche zufällig hatte. Fritz Wurmann war groß und, als gewandter Turner und fchüchterner Neuling im Amte, minder empfindlich. Gr erbot fich, zu taufchen, und überließ dem Freunde feinen höheren Seilel.

Kine Weile hatte es Fritz Murmann gejchienen, als wäre das Benehmen feiner Kollegen minder jchroff geworden; doch merkte er bald, daß cr fid) ges täuscht Hatte. Geradezu Eijesluft ummehte ihn. Ueberall begegnete er miß- trauiſchen Blicken, mehr denn je fah er fich gemieden. Anzügliche Bemerkungen wirden hörbar über „Leute, die ſich was Bejleres dünken und lieber draußen bleiben follten.“ Sprachen Zwei und er trat dazu, jo wurde das Geſpräch raſch abgebrodgen. Am Freundlichſten war nod) der Diener, aber auch nur, wen er ihn allein ſah; dann nahte er ihm jogar mit unterthäniger Höflichkeit. Sobald aber Andere in der Nähe waren, machte er einen weiten Bogen um Fritz Murmann herum nnd hörte nicht, wern Der ihm Etwas zu jagen hatte.

Ter arme junge Mann war ‚verzweifelt. Womit hatte er diefe Daltuny verdient? Er fonnte ſich mit gutem Gewiſſen jagen, daß er fleißig, gefällig, pünktlich und gewiljenhaft war wie Wenige. Seine Frau jah ihren Hatten mit banger Sorge immer verjtiimmter und diljterer werden. Das erjte Gehalt empfing jie mit Thränen, die ihr nicht nur deffen Stleinheit erpreßte. Die ınit Freude begrübte Stellmmg war eine U.nelle des Kummers geworden. Yeider war auch Fritzens einziger Freund, weil er erfrantt war, auf Urlaub gegangen. So hatte der Arıne feinen Menſchen mehr, der ihm rathen, ihn aufrichten konnte. Das Ziſcheln md die mißbilligenden Blicke der Anderen wurden immer unerträglicher.

Eines Tages hörte er den Chef mit Donnerſtimme nach Bajtian, dem Tiener, rufen. „Aha, jchlagendes Wetter heute“, murmelten die Herren.

Bildete Ah Ari Murmann nur ein, dab fie wieder Alle nach ihm jahen? Er jaß der Thür am Nädjiten, ſo hörte er auch, wie der Chef den Diener auſchnauzte:

„Rufen Sie mir den Lümmel vom Departement VI.“

Er konnte ſich, trotz Wochen langer bureaukratiſcher Zucht, eines innerlichen Lachens nicht erwehren. Alſo beſaß der gute Baſtian ſolche Perſonalkenntniß, daß er genan wiſſen mußte, wer der „Lümmel von Departement VI“ ſei. Welche

Empfindungen hatte er aber, als Baſtian, ohne zu zögern, arraden Weges auf ibn zuging und ihn zum „Geſtrengen“ befahl.

„Was erlauben Sie fich“, wollte Fritz Murmann rufen: doch zu rechter Zeit fiel ihne noch ein, daß es „gefränfte Ehre“ in der elften Rangklaſſe noch nicht geben dürfe. Alſo hinunterſchlucken. Cr hatte doch jchon viel gelernt.

Der Chef empfing ihn äußerſt ungnädig: Fritz Murmann hatte einen Aftnicht amtsitilgemäß abgefaßt; er hatte jich erlaubt, eine eigenmächtige ftiliftiiche Wendung zu gebrauchen.

„Ueberhaupt“, fuhr der Chef ihn an, „nehmen Sie ſich zu viel Frei— heiten heraus und lebergrifſe, ich habs ſchon gehört. Sie ſind ein Streber!“

„Ich, ich ... weiß wirklich nicht ...“ ſtotterte Fritz Murmann beſtürzt.

„Natürlich, Das habe ich ja gleich gewußt, daß Sie nicht „willen“ werden! Aber wir wiljen! Wir haben Augen und Ohren und Menichenfenntuiß, wir jehen Ihre geheimen Schleichwege, den Mangel an Subordination, auch wenn wir lange dazu ſchweigen. Zie find ein Streber; und ſolche Peute können wir

466 Die Zukunft.

hier nicht brauchen! Hier herrſcht Gerechtigkeit und Ordnung! Mierfen Sie ſid Das, junger Mann!“

Eine Frau zu Hauſe und Penſionberechtigung ſind cin treffliches Beugum—⸗ mittel für Mannesſtolz. Widerſprechen darf inan ja nicht, in keiner Hangklar. Fritz Murmann wankte jchiveigend an jeinen Pla zurück. Aber innerlic war er verzweifelt, gebrodyen. Was jollte er thun? Mtußte er nicht doch Ichlier.id jeine Entlaſſung einreichen? "

Endlich kam jein Freund wieder ins Amt. Auch er war kühler in ſeinen Benehmen. Natürlich. Fritz Murmann wunderte ji) über nichts mehr. Er faßzte abet doc) den Muth, ihn um jeine Meinung zu fragen; was er begangen haben fünne und was er thun ſolle. Der freund war etwas verlegen. „1, jehen Sie, da iſt Verſchiedenes. Sie find noch nicht von dem richtigen Bureaı- geiſt bejeelt. Zum Beiipiel haben Sie hier eine Dede...“

„Ein Geſchenk meiner Frau: was iſt damit?“

„Ja, recht ſchön: aber die Dede ift rory und in dem zimmer bat Alle grün zu ſein. Und vor Allen: für die elfte Rangklaſſe giebt es überhaupt md feine Tiſchdecken. Tod Das nur nebenbei. In der Hauptſache ... ich hab: es herausgebracht und wollte mich ſchon entichuldigen, denn ich kanns nic leugnen: da bin ich Jchuld am Ihrer ſchwierigen Stellung.” '

„Was, Zie, Doktor?“ unterbrad ihn Fritz Murmann bejtürjt: „ia ſchadet es mir vielleicht, das; id mit Ihnen verfehre oder vielmehr Sie mit nr”

„Ich glaube nicht, daß Ahnen Das gerade ſchadet,“ entgegnete der Andere ernſt, „obgleich es vielleicht, nit Nücjicht auf Ihre Nollegen, beifer wäre, unſeren Verkehr etwas förmlicher zu geftalten. Es tft nod) etwas Anderes; eigentlih überrajcht nich die Zache nicht. Ich bin länger im Amt und hätte es wiſſen ſollen, was für Folgen . . .“

„Nun, was?“ forſchte Fritz Murmann ungeduldig.

„Ja, ſehen Zie, Herr Murmann, Sie hatten die Freundlichkeit, meinen Seſſel mit Ihrent zu vertauſchen. Nun iſt Das aber ein Seſſel der neunten Rangklaſſe! Sie haben ſich da alſo vor den Anderen, ſozuſagen, Etwas ange maßt, das nicht zu Ihrem Range paßt. Das iſt Ueberhebung, Rebellion.“

„Um des Himmels willen,“ ſchrie Friß Murmann, „in meinem Leben werde id) hier keinem Menſchen mehr gefällig fein! Da, nehmen Sie üͤhren Unglücksſeſſel, ehe ich verritet werde! Ich laſſe Ihnen meinetwegen noch ein Polſter darauf machen, --,aus der Tede meiner Frau.“

„Verzeihen Zie, daß ich Ihnen ſolche Ungelegenheiten bereitet habe‘, entgegnete der Andere janft. „Es tbut mir jehr leid! Tas Roljter nehme ic mit Tant ans id) kann es ſchon ristiren, ein Polſter zu haben, und für Sie iſts beſſer, wenn keine Dede daliegt. Ber uns iſt es einmal nicht anders.“

Fritz Murmann war gerettet. Einmal wurde er zwar bet eint. virtimmg mod) übergangen, wahrjcheintich, um fein Ztreberthun voljtän unterdrücken, doch allmählich verlor jih das Miſttrauen. Er gewöhnte jo den Gang im Gleiſe der Amtsregeln, der Seſſel des Anſtoßes war au Wege geräumt. Und aus dein fehwarzen Schaf wurde ein weißes.

Wien. Helene Mige

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Ehryianders Händel- Einrichtungen. 467

Chryſanders Händel-Zinrichtungen. 8 3 war vorauszuſehen, daß nach dem Tode des großen Händelforſchers EX Friedrich Chryfander feine Gegner ‚jede Gelegenheit benügen würden, um jein Werk zu vernichten. Da ich zu Denen gehöre, die durch längeren perfünlichen Verkehr mit dem Nerftorbenen als Eingeweihte gelten, und des⸗ halb vielfach interpellirt werde, jo fafle ich noch einmal furz zufammen, was au beachten ift. .

Die Art, wie Händel aufzuführen ift, mußte darum jtreitig fein, weil jich innerhalb der Icgten anderthalb Fahrhunderte in ter Mufif die größten Ummöälzungen vollzogen haben und weil die Tradition der händeljchen Praxis verloren gegangen war. Bei der Benugung der Driginal-Rartituren Händel jtelte ich Heraus, daR fie der Ergänzung bedurften. Dieje Ergänzung war zu Händels Zeiten etwas ganz Selbftverftändliches und jedem Muſiker Geläufiged. Da die Gegenwart nichts Genaues darüber wußte, begann fie, auf ihre Art zu ergänzen. Nach verichiedenen Vorgängern, zu denen ſchon Mozart gehörte, war der verdienſtvollſte Arbeiter auf dem Gebiete Robert Franz. Sein Fünftlerifches Feingefühl und das intenlive Studium der alten Kunſt erlaubten ihm, in der Ausfüllung des muſikaliſchen Satzes im Stil jener alten Meiſter, vornehmlich Händel3 und Bachs, zu verfahren. Er fand darum die Anerfennung von Männern wie Liſzt und wirfte für die Wiederaufnahme der alten Werfe viel Gutes.

Nun gelang e8 aber den langjährigen Korfchungen Chryfanders, genau fejtzujtelleu, in welcher Weife zu Händels Beit die Werke aufgeführt worden waren und wie man verfahren müſſe, um jie in feinem Geiſt wieder zum Leben zu erweden. Und dabei ergab jich, dag die Einrichtungen von Robert Franz, fo tüchtig fie an jich waren, zu der alten Praxis in größtem Wider- {prudy ftanden. Sie gönnten nicht nur dem alten Fundament, Orgel und Cembalo, nit den Antheil, den fie fchlechterdingS haben mußten, fondern führten auch Inſtrumente wie die Klarinetten cin, deren Klang der Mufit Häntels völlig fremd ift. Dagegen beachteten fie nicht das Verhältniß, in dem die Bläferbefegung zur Streicherbefegung ftehen mußte, wußten nichts davon, daR die Sologefänge der Oratorien nach den VBorfchriften jener Zeit unbedingt folorirt werden mußten, und verwilchten fo Händels Abjichten in vielen Fällen bi8 zur Unfenntlichfeit. Daraus ift jenen Herausgebern fein Vorwurf zu maden, denn damals eriftirten die Einrichtungen Chryfanderd noch nicht für die Deffentlichkeit. Aber jest iſt die Reaktion gegen ihn unfünjtleriich und unwiſſenſchaftlich zugleich.

Selbitverftändlich it Händel auch in den alten Bearbeitungen nicht tot gemacht und die „verjchleierte Technik“ iſt Fein Unglüd, das unerträglich

468 Die Zukunft.

wäre, wenn man ich ihrer bewußt bleibt, Wo in einer Fleinen Stat dad thenre Notenmaterial der alten Bearbeitung da ift und das möthige Sc fehlt, fol man natürlich, ehe man die Aufführung ganz unterläft, ſich m ' der ungenauen Reproduftion begnügen und hoffen, daß man jpäter ok anderswo mal eine gute in der Driginaftechnif haben Tann. Aber nnier führenden SKonzertinftitute und die ernite künſtleriſche Kritik follten doch wiſſen, was jie zu thun haben. Und Das wiffen fie eben leider nicht üheral Wo die Möglichfeit vorhanden tjt, Händel in der chryfanberfchen Form aui— zuführen, und wo man trogdem im alten Schlendrian bleibt, ift einfach, eim Berfündigung am Geifte Händeld zu fonftatiren. Das jollte ſtets mt nadten, energifchen Worten gefagt werden. Was würden wohl bie Yeutz, die jett bei Händel ohne Gembalo und mit zwei Oboen wirthichaften, jagen, wenn ihnen Jemand das Heldenleben von Strauß mit vier erften Geigen, drei Hörnern, ohne Harfe und Tuba vorfpielte? Ich denfe, mar würde 4 einen Skandal und eine fünftlerifche Verirrung nennen. Oder wenn \jemanl aus Wagners Partituren alle erescendi herausftriche oder in Beethoren Sonatenfägen bei der Wiederkehr der Themen die Melismen fortliefe un Alles fo fpielte wie bein erjten Auftreten de8 Themas? Man mürde ihn jede fünftlerifche Würde abfprechen. Iſts denn bei Händel anders? Es il mit wiſſenſchaftlicher Unfehlbarkeit nachgewieien, daß die Berzierimgen bei der Wiederholung, die ſpätere Komponiſten augfchrieben, von Händel unbe dingt gefordert wurden, obwohl fie nicht da flanden. Das lerrte damals jeder Eünger. Und da hilft fein Zetern: „Das ift geſchmacklos.“ Lemi? lieber erjt einmal ordentlich fingen und hören!

Ich habe vor Jahren Chryſander einmal den Vorſchlag gemadt, & möge drei händeljche Arien mit dem Titel herausgeben: Drei Arie ven Händel mit Verzierungen herausgegeben von Chryfander. Er hats leider nicht gethan. Wie würde fi die Kritik über ihm geftürzt, die Arien mit "den vorhandenen Triginalausgaben verglichen und gefchrien haben: „Echt jo geht diefer Menſch mit unferem Händel um. Nicht wiederzuerkcnnen. Dieſe Verunftaltung! Muſikdirektoren Deutſchlands, wahrt Eure heiligiten Güter.“ Und cin paar Wochen danach hätte der Alte von Bergedorf Lachen) aus feiner Druderei das Fakſimile des händelfchen Autographs hinausgeſandt; die drei Arien hatte Händel nämlich felhft in einer Mufeftunde oder auf Munich eines Sängers fo verziert, wie ers haben wollte. Schade, Chryfander den deutfchen Kritifern diefe Blamage erfpart Bat.

Nun, fie beweifen ja ihre Unmiffenheit fo fhon oft genug, wer N Häntel geht. Der neufte Sport, den fie treiben, ift dire Konftruftion 3 Gegenſatzes zwifchen praftifchen Mufifer und Muſikgelehrten. Ehryi 1 it ein Dewfitgelehrter; die Aufführung großer Chorwerke ijt aber eine en |

Chryſanders Handel⸗Einrichtungen. 469

praktiſche Aufgabe, von der der alte Stubenhoder nichts verſtand, ergo, laßt nur unfere Dirigenten machen! Was dabei herauskommt, will ich Lieber nicht befchreiben. Aber konſtatiren will ich, dag Chryfander mehr von Mujits praxis verftand ald mancher Sapellmeifter; und wenn er feine fyumphonifche Dichtung hätte aufführen können, fo war er in technifchen Fragen bei Händel um fo mehr zu Haufe. Das ift doch hier das Ausſchlaggebende. Wenn - freilid Einer, der muſikhiſtoriſche Bildung offenbar nicht hat, heutzutage fchreibt: „Wie Händel aufgeführt wurde, weiß man nicht; alfo laßt unfere SKonzertpraftifer ihre Erfahrungen benugen und die Werke möglichft fo herans- bringen, wie jie jegt noch wirken“, fo it Das eine fehr unangebrachte Ber: allgemeinerung. Es iſt allerdings fehr bequem, aus einem bejchämenden: „Das weiß ich nicht” ein entfchuldigendes: „Das weiß man nicht” zu machen. Aber: man weiß es eben; Der nämlich, der fich drum befümmert und Etwas gelernt bat. Und fo konnte mit Recht neulich ein Kritiker, der Chryfander als bloßen Mufikgelehrten bezeichnet und ihm die fachfundigen praftifchen Muſiker gegenüber ftellte, mit den prächtigen Worten abgefertigt werben: „Händel und der alten‘ Muſik gegenüber hat man nicht zu unterfcheiden zwifchen Mufifgelegrten und Fachmuſikern, fondern zwifchen gebildeten und unmiflenden Leuten.”

Zu den unwiſſenden Leuten, die aber in allen Dingen, beſonders auch in der Kunſt, mit beneidenswerthem Freimuth Behauptungen aufftellen und den apodiktifchen Kanzelton anfchlagen, gehören leider auch fehr viele Theo— (ogen. Nachdem e3 jegt felbft bei einigen Univerfitätprofefioren Mode ge: worden ift, in einer unfachlichen Weife, die jich die übrigen Fakultäten ver: bitten würden, ohme jeden wiſſenſchaftlichen Ernſt Gegner abzuthun, Tann man ih freilih nicht wundern, wenn die dem wiflenfchaftlichen Betriebe ferner ftehenden Geiftlichen im Amt ſich gemüßigt fühlen, von ihrer Bered- famfeit auch bei Materien Gebraud) zu machen, über die fie fein Urtheil haben. So hat jüngft in einer deutfchen Stadt, als ein wilfenfchaftlich vor— wirt3 ftrebender SKritiler bei einer Hänbdelaufführung darauf hinmwies, daß man ftatt der benutzten Einrichtung von Robert Franz doch die Chryſanders wählen möge, der dortige erfte Geiftliche in einer Flugſchrift eine Daritellung des MWerthverhältmifjeg der beiden Einrichtungen gegeben, die von Feinerlei Sachkenntniß getrübt war. Man muß gegen diefe Anmaßung theologiſcher Kreite, die von ihren geiftig durchgebilbeten Fachgenoſſen ſelbſt aufs Schärffte veruriheilt wird, einmal um fo energifcher Stellung nehmen, al3 bei dem großen Einfluß, den folche behördlich fanktionirte Stinnmen Haben, viel Unheil aus der Verbreitung ihrer Anjchauungen entftehen fann. Was würden die Herren wohl fagen, wern ich etiwa über Ritſchls Theologie oder über Har- nad Dogmengeſchichte, ja, ſelbſt über einfachere Materien nicht etiwa meine

470) Tie Zutunft.

eigene Meinung haben, fondern fogar öffentlih gegen Fachgelehrte in rinem Tone reden wollte, der jene Ignoranten befehren folle? „Ja, Bauer, Ta ift ganz was Andres!” Nein; auch zum fachlichen Urtheil über die Hände Frage gehört eine ganz umfafjende allgemein muilalifde VBorbildung un! langes Spezialitudium; und es it genau fo unverzeihlich, wenn hier ce: Dilettant mit ſeiner Stammtifchweisheit öffentlich gegen die Männer v.:: Fach auftreten will, wie wenn ein Laie Pamphlete gegen die moderne Theolog vom Stapel Tiere.

Es ift jelbftverftändlic, dar aud die Flugſchrift, die zu dieſen X: merfungen Anlaß gegeben bat, den „Künjtler* Franz gegen den „BDiitorifer“ Ehryfander ausfpielt und ſich fogar nicht jcheut, Mozart, weil er Händr!3 Zeit näher gewefen fei, als beſſeren Ergänzer Händels hinzuftellen als Chry ſander. Als ob nicht gerade hier der Grund allen Streites läge, weil die auferordentlichen Unterſchiede zwiſchen der Muſilpraxis Händel8 und der, in die Mozart hineingewachſen war, eben da3 Meifverftehen der Intentionen Händels verichuldet haben! Eine gleich theologifche Beweisführung ift3, der. gutgchapten Franz Liſzt plöglich al8 Antorität zu vitiren und fein “ob ber Pearbeitungen Franzs gegen Chryjander auszunügen, der damals mit Tcinen Einrichtungen noch gar nicht auf dem Plan erfchienen war.

Melde Grunde führen num eigentlid zu eier ſolchen Kampfesweiſe⸗ In früherer Zeit mögen mancherlei Verlegerintereffen mitgelpielt haben, per fünfiche Beziehungen, alte Liebe und ähnliches Menſchliche. Dazu ſchließlich der Haß gegen alles Neue, gegen alles Wiffenfchaftliche, gegen Alles, was feinen Schlendrian duldet. Es ſind viele üble Elemente, mit denen zu kämpfen iſt. Mögen die deutichen Konzertinftitute, die auf ihre Würde halten, mag die deutjche Kritik, die beitrebt iſt, ſich allmählich zu der Höhe fachlicher, wiſſenſchaftlich und fünjtlerifch gleich durd;gebildeter Gründlichkett aufzufchwingen, ſichs nicht verdrieren laffen, immer weiter zu kämpfen un) einzutreten für eine der wichtigiten Errungenſchaften, die die deutjche Funit im legten Jahrzent gemacht hat. Gegenüber der böswilligen Verdächtigung aber, die auch in jener theologischen Flugichrüit fteht, dak wir reklamehaite Propaganda für Chryſander trieben, verdient feftgeitellt zu werden, daß der alte Chrylander nicht nur unglaublide Opfer an Heit, Geld und Arbeit: kraft gebracht, ſondern ſich auch jeder Verherrlichung ftet3 entzogen bat und daß wir, die wir feine Schüler ind, und dar alle fee Mitarbeit, einem Wanne wie Hermann Kretzſchmar an der Zpige, nichts bezweden eine möglichlt reine und ftarfe Wirkung des händelichen liniverfalgerttea unjere deutsche Kunſt.

Leipzig. Dr. Georg Goch!

Fermente und Altohotgährung. 471

Fermente und Alkoholgährung.

Lehre von den Fermenten iſt eins der intereſſanteſten Kapitel der allgemeinen Biologie. Der Schleier des Räthſelhaften, Geheimnig- vollen liegt über diefen eigenartigen Stoffen, die, ınit einer zauberhaften

Kraft begabt, unter den ruhenden Molekulartompleren die größten Ver: |

wirrungen anrichten, die gemwaltigften chemifchen Umfegungen bewirken und fich ſelbſt ſcheinbar an diefem Prozeß nicht beiheiligen. Es dünkt und ein Wunder, wenn wir fehen, wie eine fefte Schicht von Bluteiweiß (Fibrin) fich binnen wenigen Stunden unter der Einwirkung eines fauren Ertraftes aus Magenſchleimhaut auflöft und in feiner Natur energifch verändert; um fo wunderbarer, als ſolche Eiweißkörper gegen chemifche Eingriffe fonft ziemlich reſiſtent ſind. Diefes Ertraft enthält eind der fogenamnten Fermente, dad Pepiin; ein anderes finden wir in dem Speichel, ein ganz ähnliches in fei= menden Gerftenkörnern, da8 Stärke fpaltet, und andere Fermente der ver- ſchiedenartigſteu Wirkung überall im Thier- und Pflanzenreich weit verbreitet. Die Geſchichte der Lehre von den Fermenten hat höchſt fonderbare Wandlungen durchgemacht. Das Wort fermentatio drüdte im Alterthum zunächſt nur die bildliche Vorftellung von etwas Gährendem, Wallendem aus und wurde von den antiken. Schriftftellern im MWefentlichen nur für die alfo- holifche Gährung und in weiterem Sinne auch für Fäulnigprozeffe ange: wendet. ALS dann im Mittelalter die geiftige Klarheit der Alten in einen Wuſt von myſtiſcher Schwärmerei und unklarer naturphilofophifcher Betrach⸗ tung verfanf, als Jatro-Chemiker und Alchemiften ſich al3 einzige Vertreter ber „Naturwiſſenſchaft“ breit machten, da begann auch eine lächerliche Spielerei mit dem Wort Ferment. Nicht nur wurden alle Vorgänge, die mit Gas— entwidelung verlaufen, Fermentprozeſſe genannt: ſchließlich wurden aud) allerlei muyftifche Dinge mit dem Wort Ferment bezeichnet. Nur jehr lang— jam vermochte die nen beginnende wiffenfchaftliche Erkenntniß jich durch diefen Wal von ſpekulativem Unjinn Bahn zu breden. Man lernte allmählid) erfennen, dag in der altoholifchen Gährung, dem Prototyp ber Ferment⸗ prozeſſe, ein leicht faßbarer chemifcher Vorgang, nämlich die Bildung von Alkohol und Kohlenfäure aus Zuder, zu fehen fei; und Stahl, einer der genialjten Chemiker des achtzehnten Jahrhunderts, machte ſich ſchon eine Vor: ftellung von dem Wefen eines Fermentprozeſſes, die, wenn auch, dem damaligen Etande der Kenntniffe angemefjen, nur in ziemlich rohen Umriffen prägijirt, doch unferen modernen Anfchauungen in überrafchender Weife nah kommi. Stahl nahm an, daß durch die Fermente in dem zu verändernden Material Grfgütterungvorgänge eingeleitet würden, die durd ihre Fortleitung von Theilchen zu Theilchen die charafteriftifche Umferung bewirften. Die nächſten

472 Die Zukunft.

achtzig Jahre brachten feinen wefentlichen Fortfchritt. Freilich wurden 2 diefer Zeit die chemifchen Vorgänge bei der Alkoholgährung und eimigen we: wandten Exfcheinungen durch die Mafjifchen Arbeiten von Laurent Lavoifin Gay⸗-Luſſac und Anderen mit den neu gewonnenen Methoden der eraltıs chemiſchen Meſſung in allen Einzelheiten aufgeHärt; doc lag gerade die Erperimentatoren das Feld der theoretifhen Spekulation jo fern, daß ſie %% um eine Theorie der Fermente faum Sorge machten.

Ein plößticher Umſchwung trat gegen Ende der dreißiger Jahre ei. Maren bis dahin nur einzelne Fermentationen befannt: die Alkohol-, Ein. Milchſäuregährung u. f. w., jo wurden jegt neue, überrafhende Entdedunge auf diefen Gebiet gemadt. In den bitteren Mandeln fand Robiquet emen Stoff, den er Amygdalin nennt, und ein darin enthaltenes „FFerment“, dei diefes Anıygdalin in eben jo charakteriftifcher Weife zu zerlegen im Stande ift wie das Hefeferment den Zuder. Unmittelbar darauf fand Schwann m Magenfaft, Corvifart in der Bauchipeicheldrüfe Fermente, die Eiweikförger zerlegen, Leuchs im Mundſpeichel, Payen und Perfoz in Malzkörnern ein Stätte fpaltendes Ferment. Liebig ftellte zum erften Mat feit Stahl eine Theorie der Fermentprozeſſe auf. Er acceptirte im Wefentlichen Stahls Anjicht und feste nur an die Stelle diefer etwas unflaren Vorftellung einen präziferen Begrit. Er nahm an, daß eine chemifche Zerfegung des Fermentes, auf das Subftrei fortgeleitet, auch dort die Zerfegung bewirkt. Liebigs Theorie follte für al Fermentationen gelten; doch brachten zwei Umftände fie fehr bald zu Falle. Erftens erwies ſich Liebigs Vorausfegung einer chemifchen Zerſetzung dei Fermentes felbft als unhaltbar; die Fermente bleiben bei diefen Umfegungen unverändert. Zweitens aber wurde durch die Entbedung von Schwanu und Cagniard:Ratour, daß die Hefepilze lebende Pflanzen find, Liebigs Theotie entwurzelt. Namentlich Bafteur und feine Schule haben diefe Anfchanung auf eine fefte Baſis geftellt und in unermüdlihem Kampf gegen die Schule Liebigs vertheidigt. Pafteur hält die Alkoholgährung und verwandte Erfcheinungen einfach für Lebensvorgänge der Hefepilze: Sauerftoffmangel follte es fein, der die Pilze zwingt, den Zuder zu Altohol und Kohlenſäure zu verarbeiten. Damit war eigentlich eine völlige Trennung zwiſchen biefen „geformten fer: menten*, den lebenden Pflanzen, und den nicht vitalen „unorganifirten” Fer menten gegeben. Bedauerlich ift, daß duch Paſteurs Anſturm Liebig? Fernienttheorie auch für die ungeformten Fermente zu Yal gefommea denn war auch ihre Grundlage falſch, fo hatte jie boch einen bereit. 7 Kern. Es handelt fih unzweifelhaft bei den Yermentprozeflen um | löfungen von latenter Energie; die Fermente wirken außnahmelos fo, ! ſie latente chemiſche Energie in Freiheit fegen, und meift fo, daß fie aus hd, | Molekularkomplexen niedere herjtellen. Niemals fünnen jie Prozeſſe bewi

Fermente und Alfoholgährung. 473

bei denen Energie von außen her zugeführt werden muß. Die Wirkungen, Die von Fermenten ausgeldft werden können, werden im Wefentlidden Pro- zeſſe fein, bei denen fih Wärme entwidelt (exothermale PBrozefie); dagegen werden jie nur in feltenen, durch die theoretifche Chemie genau beftimmbaren Fällen endothermale Prozeſſe bewirken fönnen, Prozefle, bei denen Wärme gebunden wird. Es wird fih im Wefentlichen ftet3 um Spaltung: oder Abbau prozeſſe handeln, bei denen unter Umftänden auch noch Einführung von Sauerftoff, alſo orydative Prozeffe eine Rolle fpielen können. Auf jeden Tall kann eine theoretifche Betrachtung der Fermentprozeſſe nur vom ener: getifchen Standpunkt aus gejchehen, vom Standpunkt der Beurtheilung und Meſſung von Energieummwandlungen, und infofern ift ber Kern der Theorie Liebigs doch richtig. In neufter Zeit ift man auf ter Bahn diefer Erkennt⸗ niß duch Oſtwald um ein beträchtliches Stüd weiter gelommen: Dftwald bat das große Berdienit, dem alten Wort: „Satalyfe“ den ihm bis dahin fehlenden Begriff gegeben zu haben. Unter Satalyfe faßte man feit Berzelius eine Reihe von Prozefien zuſammen, bei denen die bloße Gegenwart eines dritten Stoffes zwei andere Stoffe zur Reaktion zwingt, ohne daß dieſes Wort irgend eine Erklärung einfchlog. Dftwald hat uns gezeigt, daß Katalyſe weiter nichts ift als die Bechleunigung von chemifchen Vorgängen, die auch ohne äußeren Anlaß, aber ungemein langfam verlaufen. Da man nun von Alters her die Fermentprozeffe zu den Katalyſen gezählt Hatte, jo gilt dieſe Erklärung auch für die Fermentprozeſſe mit. Diefe Erkenntniß reicht aber

nicht aus, um den Fermentprozeſſen ihre legten Näthfel zu nehmen. Schon

ihrer Spezifität wegen können die Fermentprozeſſe unter feinen Umfländen als rein Fatalytifche bezeichnet werben.

Die von Kühne Enzyme genannten ungeformten Termente find jchon an ſich höchft merkwürdige Körper. Sie find im ganzen Thier- und Pflanzen: reich zu finden und treien als Produkte organifcher Zellen auf. Alle Fermente find thierifche oder pflanzliche Sekrete, Stoffe, die der Organismus produzirt, um jie phyliologifchen Zweden nugbar zu machen. ‘Dan findet fie alfo in den Geweben nnd Körperfäften und kann fie daraus fehr ſchwer, vielleicht gar nicht in reinem Zuſtande gewinnen. Bis jetzt wenigftens ift dieſes Problem noch micht Über die erften Anfänge hinaus. Zuerſt hielt man die Fermente für Eiweißkörper; mühſäliger Arbeiten hat e8 bedurft, ‚um es wahrfcheinlich zu maden, daß jie Eiweikförper, wenigftend im ftrengeren Sinn des Wortes, nicht find. Welcher Art aber ihre hemifche Natur ift, darüber wiſſen wir fo gut wie nichts. Nur dag Eine: e8 find Körper von auferordentlicher Empfind- fichleit, Stoffe, die ſchon bei geringfügigen phyfitalifchen und chemischen Ein- flüfen ihre Natur jo verändern, daß jie wirkunglos werden. Und mit ihrer Wirkung verfchwindet jede Möglichkeit, fie zu erkennen und zu ifoliren. Luft

474 Die Zufunft.

und Licht, verschiedene Gifte, Schwache Säuren und Alfalien, beſonders abe: Erwärmen auf 80 Grad vernichtet ihre fpezififche Wirkfamfeit in kurzer Zar. |

Eins der hervorftehendften Phänomene der Yermentprozefle it de ftrenge Spezifizität ihrer Wirkung. Wir fennen Eiweiß verdauende Fermeniz. das Pepſin des Magens und das Trypſin der Bauchipeicheldrüfen und äh. liche des Pflanzenreiches; wir fennen eine Reihe von Enzymen, die Stärk und ähnliche Kohlehydrate angreifen und ſchließlich in Traubenzuder üter: führen, fo die Diaftafe des Malzes, die Stärke löfenden Fermente thieriiche Cäfte, die Invertafe, die die Inverſion des Rohzuckers in Zraubenzinde und Bruchtzuder bedingt, und andere. Wir Eennen Fett fpaltende Euer und folche, die ganz beftimmte Pflanzenftoffe, ‚die fogenannten Glukoñde, is charakteriftifcher Weife fpalten. Und alle diefe einzelnen Enzyme jind aus [chlieglih auf das Subftrat wirffam, dem fie angepaßt find.

Neben ihrem großen theoretifchen Intereſſe find die Fermente auch deshalb von ungemeiner Wichtigkeit, weil fie eine gar nicht zu überfchägen biologische Bedeutung haben. Ich erwähnte ſchon, daß die Fermente Sekrete find, alſo Stoffe, die der Organismus zu phyjiologifchen Zwecken erzeugt und in feine Säfte ausfcheidet. Die Bedeutung der Enzyme beruht daran’, das jte hochmolefulare Nährftoffe, die der Organismus aufnimmt, vorbereitin) verändern, fo dar ſie zu nußgbaren, affimilirbaren Produkten werden. Aa höheren Thieren beginnt diefe Thätigkeit yon im Munde. Die eingeführte, an fi) unbraudbare Stärfe wird dort bereit3 verzudert und diefer Prozek fegte fid) dann im Darm bis zur Vollendung fort. Die Eiweißkörper werden im Magen und Darm energifch abgebaut; die Verdauung der Milch wird eingeleitet durch eine Gerinnung, die das im Magen vorhandene Lab: fermeut bewirkt. Bei niederen Thieren find die Fermente natürlich nicht jo getrennt, fondern in Mifchungen vereint in den SKörperfäften. Doch aud im Pflanzenreih finden wir Fermente. Zwar braucht die grüne Pflanze feine Fermente, da fie ihren Nährftoffbedarf aus der Kohlenfäure, dem Wafler der Luft und den anorganifchen Salzen de8 Bodens zu decken vermag; wohl aber brauchen die chlorophyllofen Pflanzen die Enzyme gerade fo gut zur Nugbarmahung ihrer Nährmedien wie die Thiere. So finden wir Enzyme aller Art in Pilzen, Mgen und Balterien; wir finden fie aber auc in dem feimenden Samen. Der junge pflanzliche Embryo ift in dem Samen reichlid” mit Nähritoffen verfehen; er liegt eingebettet in eine bett*b ide Menge von Stärke, Fett und Eimeißitoffen. Aber jie alle kann er zu feinem Wachsthum nur dann mugbar machen, wenn er fie erft d' fermentative Prozeſſe vorzubereiten vermag.

Gerade bei dem keimenden Samen ftogen wir auf eine ſehr inter«, Thatſache, die Tich bei genauerer Beobachtung überall in der Organis

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Fermente und Altoholgährung. 475

welt konſtatiren läßt; wir fehen nämlich, daß die Fermente als echte phyſio— logifche Sefrete nur dann in nennensweriher enge produzirt werden, wenn fie gebraucht werden. So lange der Same zuht, enthält er feine Fermente; fobald aber das Wachsthum beginnt, treten Fermente aller Art auf. Dabei geht die Oekonomie fo weit, daß jich in biefem Fall auch Fermente bilden, die felbft die Zellmände auflöfen und ihre Cellulofe durch Ueberführung iu Zuder nutzbar machen. Ganz ähnlich finden wir, daß Echimmelpilze, ſobald man fie auf reiner Zuderlöfung züchtet, feine Fermente bilden, daß biefe dagegen fofort auftreten, wenn man bie Pilze anf Stärke oder Eiweißlöſungen züchtet, oder auch, wenn man ihnen jegliche Nahrung entzieht und fie auf deftillirtem Waſſer wachſen läßt. An dem legten Fall ſieht man fo recht, dag es der Hungerreiz ift, der zur Sekretion der Fermente führt.

Fermentatio (von fervere, wallen, jieden) nannten ſchon die Römer den Gährungprozeß. Sie griffen alfo ein ganz äufßerliches Moment heraus, nämlich die Gaßentwidelung und die dadurch bedingte Unruhe in ber gähren- den Flüſũgkeit. Was da eigentlich chemiſch vorging, davon Hatten die Alten und auch das frühe Mittelalter Teine Ahnung. Der Alkohol, deſſen wich⸗ tigfter Beſtandtheil durch einen Gährungprozeß aus ftärkehaltigem Samen oder Wurzeln entfteht, wurde erſt im neunten Jahrhundert durch den ara- bifchen Gelehrten Geber in annähernd reinem Zuſtande dargeftellt. Aber auch nachher noch Herrfchten über das Wefen der Gährung die Findlichiten Borftelungen. So glaubte man, in dem zu vergährenden Gemifch fei der Alkohol Schon vorhanden; er mahe nur unter der geheimnigvollen Wirkung des Fermentes einen Läuterungprozeß durch und fei erſt danad in reinerer Form nachzuweiſen. Diefer Irrtum wurde erjt durch Syloius de la Bos und Lemery widerlegt, die fanden, daß der Alkohol erft bei der Gährung entjtehe. Stahl und Becher fanden dann, daß Alkohol nur aus ſüßen Stoffen bei der Gährung ſich bildet. Eine wirflih willenfchaftliche Erfor- hung der alkoholiſchen Gährung begann erft mit Lavoifier. Er wies nad), daß bei der alkoholiſchen Gährung Zuder in Alkohol und Kohlenfäure zer: fällt. Allerdings war feine Formel noch falfh; er glaubte außerdem, daß Effigfäure, die jich bei den meiften Gährprozeſſen als unerwünfchtes Neben- produft bildet, ein normales Produft der Gährung fei; als Exfter aber hat er den Verſuch einer eraften Formulirung ber Zuderumwandlung in Alfohol und Kohlenfäure gemacht. Seine fehlerhafte Formel wurde etwa ein Men- Ihenalter fpäter durch die Arbeiten von Gay-Luffac, und Dumas forrigirt. Dumas wies auch die nebenfächliche Bedeutung der Eſſigſäurebildung nad.

Bu der Zeit, wo Liebig feine Theorie der Fermentationen aufflellte, fiel auf das Problem der alkoholifhen Gährung von ganz anderer Seite her

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4176 dDie Zutunft.

ein helles Licht. Schon mehr als hundert Jahre vorher hatte der berühmt bolländifche Naturforfcher Leeuwenhoek, der zuerft fuftematifch mit dem Bi Troffop arbeitete, entdedt, daß die Hefe aus runden, etwas abgepfattete Kügelchen befteht, deren Natur er fich aber nicht erklären fonnte. Sem Unterfuchungen wurden wenig beachtet und nocd gegen Ende des achtzehnte Jahrhunderts hielt man die Hefe für einen den pflanzlien Eimeikförpen mindeftens ſehr nah ftehenden Stoff. Doch tauchte bald daranf die Ir ſicht auf, daß man es Hier mit winzigen Lebewefen zu thun Habe. Diele Aufhauung konnte ſich nicht recht Bahn brechen, bi$ von Schwanz unt Cagniard-Latour 1837 der Beweis erbracht wurde, daß die Hefe thatjächlid aus mikroſkopiſch Meinen Pflängchen beſteht. Schwann konnte zeigen, bei BZuderlöfungen abfolut nicht gähren, wenn man fie forgfältig von der Lıtı abſchließt. Das hatte allerdings auch Gay-Luſſac beobachtet, der gerade dar: auf feine Theorie von der grundlegenden Bedeutung des Sauerftoffes für die altoholifche Gährung gegründet hat. Aber Schwann ging weiter. & zeigte, daß man der Luft dabei fo viel Sauerftoff zuleiten konnte, wie man wollte, wenn man nur die Luft vorher durch ein glühendes Rohr Teitete und jo jeden Keim organischen Lebens in ihr vernichtete. Dadurch war bewiefen, dar der Sauerftoff an fi für das Zuftandelommen der Gährung belanglos ik. Diefe vitaliftifche kam nun mit Liebigs hemifcher Theorie der Hefegährung in Konflikt. Liebig verwahrte fich ſehr energifch gegen diefen Zirfammenhang von Pflanzenleben und Gährung. Doch ließ jich die Wahrheit der Befunde Schwanz! nicht lange anzweifeln. Wieder war es Paſteur, der in einer Reihe von Haffifchen Arbeiten unmiderleglich nachwies, daß die Alloholgährung und einige verwandte Erſcheinungen unzweifelhaft abhängig find von der Amwe— fenheit lebender Keime. Er zeigte, dag überall in der Luft foldhe Keime zu finden jind und daR e8 genügt, ein Gefäß mit einer gährfähigen Flüfjig: feit offen ftchen zu laffen, um nad) einigen Tagen die Gährung nachweiſen zu fönnen. Er zeigte ferner, dag auf hohen Bergen, wo die Luft jehr arm an Keimen tft, die Gährung häufig ausbleibt; er bewies aber feine Anſicht vor Allem durch einen fehr Ichlagenden Verſuch. Er erfegte das glühenk Rohr Schwanns einfach durch Heine Wattebäufche, durch die er die Luft hindurchitreichen lieg. Daun blieb das gährfähige Gemifch unverändert; ent: nahm er nım aber von diefem Wattebaufch Fleine Partikelchen, ſo löj : diefe die Gührung aus. Damit war feftgeftellt, dag es körperliche Teben : Keime fein müſſen, die alfoholifche Gährung erzeugen. Daß folde Keir dabei vorhanden ind, fonnte nun auch Liebig nicht mehr leugnen, doch ſchr er ihnen nach wie vor eine Vedeutung für den Prozeß nit zu. So denn der Kampf noch fait bis zum Tode Liebigs weiter, obgleich Liebig fel in feiner legten großen Arbeit (1870) ſich nur noch ſchwach gegen die

Fermente und Altoholgährung. 477

Lenfchläge der Paſteur-⸗Schule zu wehren vermag. Er hatte eine chemiſch⸗ energetifche Theorie aufgeftellt, deren Grundlage die hemifche Zerfegung des Fermentes falfh war. Paſteur verfocht zunächſt wenigftens nicht eine Theorie, fondern einfach einen biologifchen Zufammenhang zwifchen Gäh- zung und Hefepilzen. Nun hatte allerdings auch Bafteur eine Theorie anf: geitellt, die fid bald als faljch erwies. Danach follte der Gährungprozeh eine Lebenserjcheinung der Hefe in dem Sinn fein, daß bei Abwefenheit von Sauerftoff der Hefepilz fich den veränderten Bedingungen anpaflen muß; er follte alfo eine vie sans air-darftellen. Diefe Theorie war falfch, denn die Hefe gährt auch, wenn Sauerftoff vorhanden if. Bon der Theorie bleibt nur die unzweifelhafte Thatfache des Zufammenhanges von Gährung und Leben der Hefe übrig. Auf diefem Wege kam man nicht weiter. Das fühlten auch die eifrigften Verfechter der Anſchauung Paſteurs fpäter felbft. Die ftärkften Köpfe gaben ſich nicht zufrieden; beſonders Traube, Berthelot und Hoppe-Seyler verfochten immer wieder nachdrüdlich die Anfchauung, daß mit dem Nachweis des biologischen Zufammenhanges nicht8 zu erklären, fon- dern nöthig fei, auch in den lebenden Hefepilzen ein befonderes Ferment an- zunehmen, das in diefen Zellen, aber unabhängig vom Leben, feine fpezi- fifche Wirkſamkeit entfaltet. Nur dadurch läßt ſich die alkoholifche Gährung im Zufammenhang mit den anderen Fermentationen erhalten umd nur da— durch können wir zu einer einheitlichen Auffaffung diefer Prozeſſe gelangen. Dies Ferment nachzuweifen, gelang nicht; und fo blieb die Anficht, die den tihtigen Kern der Theorie Liebig zu vetten verfuchte, eine unbeweisbare Spekulation. Allmählich flachte der Kampf ab; die chemifche Anſchauung fchien vollfommen bejiegt, die prinzipielle Trennung der „geformten Fermente“ von den ungeformten entfchieden.

Mit um fo größerer Wucht fchlug e8 darum in der wifjenfchaftlichen Welt ein, al8 vor einigen Jahren Eduard Buchner das fo lange vermuthete, niemals gefundene Enzym der Hefe nachweifen konnte.

Die Hefe bildet eine ganze Reihe von Fermenten. In ihren Waſſer⸗ extrakten findet man allerdings nur in geringer Menge ein Stärke fpaltendes Ferment, die Hefendiaftafe; dagegen enthält ihr Zellleib noch andere Fer: mente, die er während des Lebens nicht abgiebt. Doch konnte Emil Fischer diefe Fermente dadurch) nachweisbar machen, daß er die Hefezellen durch ſcharfes Trodnen und durch Toluol lähmte; und nun gab das geſchwächte Protoplasma der Zelle noch diefe anderen Fermente ab, nämlich die Inver— tafe, die Rohrzuder, und die Maltafe, die Malzzuder zu fpalten im Stande ift. Nach diefer Methode gelang e8 aber nicht, das Alkohol bildende Fer- ment der Hefe zu ifoliren. Doch war e3 eine geniale Konfequenz diefer Idee, wenn Buchner diefe relativ wenig eingreifende Maßregelung de3 Pro-

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478 Die Zukunft. |

toplasınad durch eine viel gewaltigere erfegte, unı das fupponirte Enzym iu gewinnen. Er zermalmte die Hefe mit Quarzſand, ſchlug je in ein Zud und preßte fic bei 400 bis 500 Atmofphären Drud aus. Dadurch erhielt er einen zellfreien Preßfaft, der nun die Fähigkeit der Alloholgährung aui: wies. Trotz allen Einwänben fteht heute Buchners Entdedung felfenfel. Das Gerede, daß bier Protoplasmafplitter und Aehnliches wirkſam fein follten. ift haltlos; denn Protoplasmafplitter, die durch ein Thonfilter gehen, die von -Protoplasmagiften nicht in ihrer Wirkſamkeit tangirt werden, finb untır allen Unftänden fein lebendes Protoplasma mehr, ſondern höchſtens noch fehr hoch molelulare, dem Protoplasma in der Struktur noch ähnliche Eiweif⸗ ſubſtanzen. Und Das ift prinzipiell gleichgiltig. Wir haben unzweifelhaft in Buchner Preßſaft das Enzym der Altoholgährung vor und. Und damit ift die alte Streitfrage im Sinn Traube und Hoppe-Seylers beantwortet. Die Altoholgährung ift nicht einfach ein Stoffwechfelvorgang der Hefepilze, fondern der Stoffwechfelvorgang hat nur bie Bedeutung, daß er. bei ihnen diefes Ferment prodizirt: die Wirkung des Ferments ift unabhängig vom Leben zu denken. Daher ift auch die Altoholgährung wieder in die Kate: gorie der Fermentprozeſſe eingereiht und die von Liebig geſuchte Einheitlic- keit diefer Vorgänge hergeftellt. Noch haben wir Liebigs falſche Theorie nicht durch eine richtigere erfegt; aber wir wiflen, daß bie neue Theorie der Fermente nur eine dynamifche fein kann und daß fie über biologifche Zu⸗ ſammenhänge nad) Art der Hefebetheiligung an der Gährung theoretifch Hin: weggehen muß, um ein einheitliches Fundament zu gewinnen.

Gay-Ruffac hatte, wie erwähnt, den Sauerftoff als Hauptfaltor für das Zuftandefommen der Gährung angefehen; im Gegenfag dazu faßte Paſteur die Gährung als eine vie sans air auf und behauptete, daß die Hefe nur durch den Mangel an Sauerftoff gezwungen würde, ihren Stoffwechfel fo zu ver: ändern, daß fie Alkohol und Sohlenfäure bildet. Diefe Frage ift von Anhängern und Gegnern Pafteurs, befonders von Brefeld und Tranbe, be: arbeitet worden. Brefeld betätigte Paftenrs Befunde zwar, aber 309 aus ihnen ganz entgegengefegte Schlüffe. Er nahm an, daß die Hefe zwar wirflih bei Sauerftoffabfchluß gährt, daß aber eben biefe Aenderung der vitalen Zunftion eine Krankheit- und Abfterbeerfcheinung der Hefe fei, während junge und gefunde Hefe bei Sauerftoffanwefenheit nicht gährt. Er fchrieh der Hefe ein außerordentlich großes Sauerftoffbebürfniß zu und meinte, . 3 bei gezwungenem Verzicht auf diefen Sauerftoff die Hefe als kranfh Produft Alkohol bildet. Diefer Anſchauung trat Traube fehr nergih gegen; er zeigte, daß die Hefe zmar zu ihrer Vermehrung fehr viel S— ftoff braucht, daß dagegen erwachfene Hefeftämme auch bei Abweſenheit Sauerſtoff ihre vitale Kraft behalten. Heute ift auch diefe Frage zien entjchieden. Wir wiffen, dag Hefe ſowohl bei Anmefenheit wie bei Ahr

Fermente und Alkoholgährung. 479

heit von Sauerftoff gährt, daß freilich ein Ueberſchuß von Sauerftoff den Gährprozeß beeinträchtigt und daß in diefem Fall ein relativ großer Prozent: fag des Zuckers direkt von der Hefe verbraucht und zu Kohlenſäure und Waſſer verbrannt wird.

Die ganze Gährfrage iſt, vom biologifchen Standpunkt aus betrachtet, ein fehr intereffantes Anpaffungphänomen. Außer den echten Hefepilzen haben nämlich and) einige Schimmelpilze die Fähigkeit, unter ganz beftimmten Umftänden eine geringfügige altoholifche Gährung hervorzubringen; nämlich, wenn man ſie gewaltfam zum Leben ohne Sauerftoff zwingt. Dann können fie, allerdingd nur eine befchränfte Zeit lang, ohne Sauerftoff leben und gähren dabei; fobald man fie aber unter normale Bebingungen zuritdbringt, geben jie diefe Tähigfeit auch wieder auf. Daraus können wir fohließen, daß auch die Hefepilze urfprünglih an ein Leben in Sauerftoff gewöhnt waren; es giebt auch heute noch Raſſen von echten Hefepilzen, die abfolut feine alkoholiſche Gährung einleiten Tönnen, fondern ausſchließlich asrob leben und den Zucker verbrennen. Die echten Hefepilze find nun feit Millionen von Generationen an dies anaörobe Leben affomodirt und vermögen auch, wenn man ihnen Sauerftoff zuführt, ihre Gährfähigfeit nicht ganz abzu- legen: fie können den Zucker einfach verbrennen oder aber ihn vergähren.

Damit kommen wir nun zu der legten wichtigen Trage: welde Be- deutung die Alfoholgährung für den Hefepil; hat. Die bei den anderen Fermenten in die Augen fpringende Bedeutung, die Auffchliegung nicht reſor⸗ birbarer Nahrungftoffe durch Abbau, fällt Hier fort; denn der Zuder ift ein viel werthoolleres, Leicht affimilirbares Nährmedium als der Alkohol, der fogar fchon bei geringer Konzentration als Gift auf die Hefezelle wirft. Wir müſſen hier alfo eine andere Erklärung fuchen; ich glaube, man kann fie in dem Umftand finden, dag die Alfoholgährung bei Sauerſtoffabſchluß einen Erſatz für die verbrachte Lebensenergie bietet. Im normalen Leben wird diefe Energie verfchafft durch die Verbrennung im Sauerftoff. Das iſt bei Sauerftoffmangel unmöglich und die Hefe müßte fchnell zu Grunde gehen, wenn jie nicht ihr Leben durch die Produktion diefes Fermentes weiter friftete. Denn der Vorgang der alloholifchen Gährung ift ein folcher, bei dem Energie frei wird, und biefe Energie fönnte e8 wohl jein, die der Hefe eine weitere Exiſtenz ermöglicht.

So fommen wir denn doch wieder zu einer der Pafteurs ähnlichen phyſiologiſchen Anſchauung; wir nehmen an, daß die Altoholgährung für die Hefe ein Erfag de3 normalen Lebens ift, daß fie alfo die vie sans air er: möglicht, ohne aber die vie sans air zu fein. Man kann aljo den phyfio- Logifchen Werth der Theorie Paſteurs voll anerkennen und doch feine theoretifchen Anfichten von einen Zufammenhang von Leben und Gährung zurüdweifen.

Dr. Karl Oppenheimer. 3

480 Die Zukunft. ,

Selbitanzeigen.

Eine für Viele. Aus dem Tagebuch eines Mädchens. Verlag von Herman Seemann Nachfolger 1902. Vierte Auflage.

Das Bud) ift kein anipruchsvolles Kunftwerk, das Bewunderung fordern. Es ift Feine foziologische Abhandlung, die ftatiftifche Daten, Syfteme und Err granıme durdheinander würfelt. Es ift aber auch feine lüjterne Darſtellurz ſeeliſcher Nadtbeit, die Lokkungen ausftreut. Nein. Nichts weiter als ein Befenntni ſtürmiſcher Ehrlichleit, das ji), zu einem verzweifelten Nothſchrei verdichtet, in die Oeffentlichleit gedrängt Hat und nım demüthig un einen Schiminer des Tır eınpfindens, um einige Augenblide verjtehender Ergriffenheit bettelt._ Das Heme Bud will nichts Großes, Gewaltiges, Welterjchütterndes. Es ift eine piyde logifche Studie. Sonft nidts. Der Inhalt ift einfach, ſchmucklos und al täglid. Er jhildert den Kampf in der Seele eines Mädchens, den uralten Kampf zwifchen der reinen Leidenfchaft und dem erdrüdenden Bemußtjein, dab der Mann ihrer Wahl ſich in dem vorehelichen Gefchlehtsleben dem die Jugend der Großftädte vettunglos verfallen ift durch gekaufte Liebe und jeelenloie Genüſſe entwerthet hat. Sie fühlt, daß in diejer Liebeleeren Hingabe eine Eri weihung liegt. An diefer Ganzheitforderung gehtifie zu Grunde. Sie verjudt nicht, in geiftiger Sijyphusarbeit das große Menfchheitproblem zu Iöſen. Un trotzdem fie in ihrem optimiftifchen Taumel an die Verwirklichung ihres Keuſch heitideales glaubt, felfenfeft glaubt, weiß fie doc, daß zu diefem Ziel fittlide: Größe ein Weg führt, der von einem dichten Geftrüpp fozialer Hemmniſſe und ökonomiſcher Schwierigkeiten überwuchert ift. Aber fie Elagt die Gejellicatt ordnung an, die die Unfittlichkeit nicht nur duldet, fondern unterftügt. Die klagt die Erziehung an, die die jungen Menfchenfeelen zu Krüppeln fchläat Und fie wendet jih aud) heimlich gegen die fcheinheilige Heuchlermasfe der Phr lifter, die mit der zur Schau getragenen Tugendhaftigkeit ihre moralifche Fäulniß übertünden. Es ift freilich eine große Kühnheit von einem jungen Mädchen, ein jo „ſündhaftes“ Buch zu ſchreiben, um fo mehr, als ja heutzutage Müdden- bücher nur in feltenen Füllen nad) ihrem wahren Werth oder Unwerth beur theilt werden, fondern meilt nah dem Wuft von Gefellichaftstratich, der das Bild der Nerfajjerin umrahmt. Vera.

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Der Fall Rothe. Eine Friminalpfochologifche Unterfuhung. Mit Bildern. 1901. Berlag von Schottländer. 2,50 Mark.

Das Buch ift gerade vor einem Jahr erfchienen. Durch die Berhaftr"g des Blumenmediums Rothe ift es erſt jeßt „aktuell“ geworden, ein Beweis, e jehr der Erfolg eined Buches von der Gunft des Inhalts abhängt. Es verfol ! einen doppelten Zweck; erſtens den, einen frechen Schwindel aufzubeden, d ı Zehntaufende zum Tpfer gefallen find und der geeignet ift, uns in den Uuy ı des Auslandeg wieder einmal gründlich lächerlich zu maden. Es forderte dal : das Einfchreiten der Staatsgewalt. Diefer Zwed ift erreicht. Bemerkenswr ı

Selbftanzeigen. 48l

bleibt allerdings, daß ein volles Jahr verftreihen mußte, bis es dahin kam. Zweitens wird der Fall Rothe in feiner Stellung als Symptom gewiffer fultu- rellen Buftände unterfudt. ' Eine Kritik des vulgären Spiritisinus und feiner Beweismethodik mußte vorangehen, die Pfgchologie der Zeugenausſage an Bei- ſpielen erörtert werden. Die kulturgefhichtliden Bedingungen des Spiritismusg, die Triminalpfgchologiihe Seite ded Mediumismus werden analyfirtt. Mein Buch fol alfo querdurch gehen durch den fpiritiftifchen und antifpiritiftifchen Unfug und zur willenihaftlihen Erkenntniß führen.

Breslau. | Dr. Erich Bohn. $

Die Lage der weiblihen Dienftboten in Berlin. Alademifcher Verlag für foziale Wiffenfchaften Dr. John Edelheim. Berlin 1902.

Es war im Hochſommer 1890, als zum erften Male in großen öffent: lichen Berjammlungen die Zuftände, unter denen die berliner Hausangeftellten lebten, blitartig beleuchtet wurden. Dieſe Berfammlungen veranlaßten mid, die materiellen Lebensverhältniſſe diefes Berufsftandes zu ftudiren. Das geſchah, von der Einſichtnahme in die wenig belangreiche Literatur abgejehen, auf dem einzig möglichen Weg der Enquete. ch habe deren Rejultate nad) zweijähriger Arbeit in meinem Buche niedergelegt. Es behandelt das Problem der Dienft: . botenfrage als einen Theil der Arbeiterfrage, und zwar unter fozialpolitifchen Geſichtspunkten. Das infofern, als ich für eine Dienſtbotenſchutzgeſetzbung und für eine Befeitigung der auf dem Prinzip der Rechtsungleichheit aufgebauten Gefindeordnungen eintrete. Nun ift e3 heute mit fozialpolitifchen Arbeiten eine eigene Sade. Man dient und nüßt ohne Zweifel dem Klaſſenfortſchritt einer großen Zahl von Arbeitern damit und in diefem Kalle folchen, die bis auf die neuste Zeit niemals ihre Stimme erhoben, fondern ftumm die Geſchicke ertrugen, die da8 Dienjtverhältnig über fie verhängte. Solchen Arbeitern konnten die herrſchenden Schichten Alles bieten, jogar Prügel. Sie konnten unter ein Aus nahmegefeg. gejtellt werden, meil fie jelbjt ohnmädtig waren. Sie mußtenzes ji) einfach ohne Proteft gefallen laſſen. Wer c3 nun wagt, diejen Stummen eine Sprade zu leihen, Der hat für fich felbft davon am Wenigſten. Er wird vielmehr angefeindet und angehaßt oder totgejchwiegen. ‘jedem, ber die berfitier rauen und Preßzuſtände kennt, jage ich nichts Neues. Die Frauen haben fich zu meinem Buch öffentlich noch nicht geäußert, wenigftens Die nicht, auf deren Urtheil ich Etivas gebe. Nur eine Stimme hat es in einer hamburger Zeitung als „beinahe gemeingefährlicdy‘ bezeichnet. Die politiſche Tagespreſſe hat die Normen ihrer Beurtheilung dem ‘Programm der Partei entnommen, deren Intereſſen jie vertritt. Die Deutjche Tageszeitung hat Jogar die Preſſe gewarnt, mein Buch zu beſprechen. Eine Warnung, die von diejer Seite fommt, dürfte für manche Lejer der „Zukunft“ eine Empfehlung ſein. Aber faft wie Ironie Elingt es, daß gerade die Zeitungen, die meine Enquete befämpften und das Samıneln des Materials auf jede Weije zu erfchweren ſuchten, jeßt den Vorwurf erheben, daß die ſtatiſtiſche Baſis zu ſchmal fei. Nun ift zunächſt befaunt, daß Vicle ine Enquete nicht von einer Statiftif unterfcheiden Fünnen. Dem Vorwurf

482 Die Zukunft.

gegenüber aber möchte ich auf eine Bemerkung binweilen, die eine vollswir:: ichaftlich fo gebildete Frau wie Wally Bepler in einer Kritik macht. Sie fag:: „Das Buch wird nun vielfach dadurch zu entwerthen gejudt, daß man bie Jeb der Antworten für viel zu gering erflärt, um daraus allgemeine Schlüffe ziehen zu können. Aber der Werth und das Intereſſe der Enquete wie des Kerr ſelbſt beruhen gar nicht eigentlich oder doch nicht allein auf ber Fyeititellung gam bejtimmter Thatſachen, die fi etwa überall annädernd glei blieben uns ir beitimmte Durchſchnittswerthe für Arbeitzeit, Lohn, Beföftigung u. j. w. ergebes önnten. Die Tage der häuslichen Angeftellten weit, ber ganzen Natur dieies Arbeitverhältniffes entiprechend, in den einzelnen Fällen nach jeder Richtung hin » graffe Unterſchiede auf, daß eine Darjtellung der Arbeitbedingungen auch auf breitere: Pafis doch niemals ein eigentliches Durchſchnittsbild entrollen fünnte, ganz einfed. weil ein ſolches Durdyjchnittsbild auch in Wirklichkeit gar nicht eriftirt. Be mehr handelt e8 fi darum, an einer großen Zahl typiſcher Beijpiele aus. allen Sphären des Dienjtbotenlebens das Dafein diefer noch vällig verſklavten Xr- beiterinnen mit allen feinen charakterijtiichen Zügen und Scattenjeiten vor un: zu entrollen; daneben allerdings auch durch zahlenmäßige Feitftelung Die Grenza zu bezeichnen, zwiſchen denen Lohn, Arbeitzeit, Beföftigungwerth u. ſ. w. ſchwanken Diefe Aufgabe erfüllt Stillichs Buch in vollften Maße; es bietet mehr als er nügendes Material.” Gin Fortſchritt in der Erkenntniß der Materie beftcht jedenfall darin, dal in meiner Arbeit nicht mehr die individuell bejchränfter Erfahrungen des Einzelnen an der Spiße jtehen, fondern eine Summe von Erfahrungen aus beiden Interefjentenfreifen. Die alte Methode in der Pr handlung der Dienitbotenfrage war rein individuell. Man fanıte zehn, zwanzie oder auch dreißig Dienjtboten und fonftruirte fih daraus ein Urtheil über derer Beihaffenheit. Will man ein Elaffiiches Beilpiel für diefe Art der Behandlıma haben, jo höre ınan einmal den Damen am Kaffeetiich zu oder feje bie Fyrauen- zeitfchriften zeiten und dritten Ranges oder die AUnfichten, die der neufte Ver— fechter des Geſchwätzes der typiſchen Durchſchnittsfrau Hat, ih meine Hirſchberz in dem die Dienſtboten behandelnden Kapitel feines Buches über die Lage der arbeitenden Klaſſen in Berlin. Es wird fchwer halten, etwas Unzureichenderts von Vogik gar nicht zu reden im einem Buch zu finden, das fich Jelbit für wiſſenſchaftlich ausgiebt. Die Fulturgefchichtliche Seite meiner Darlegungen aber erblide ich darin, daß fie die Träumereien zerftören, die Bi heute auf „Dem jeudalen Felſen des Norurtheiles“ ruhten. Mein Bud madt ein Ende mit der Worjtellung, da im häuslichen Dienft kein Elend exijtire, daß es den Dienenden ganz gut gehe, beifer al3 den Fabrik- und anderen Arbeiterinnen, daß das patriarchaltiche Zeitalter umlponnen geweſen fei von den Eilberfähen menſchlich Yhöner Beziehungen zwiſchen Herrſchaften und Dienftboten, daß das bürgerliche Daus dem Dienſtmädchen einen bejonderen Schuß ihrer höchſten perjönlis Güter, ihrer Arbeittraft, ihrer Mädchenehre, ihrer Sittlichfeit biete, dad der F-

der häuslichen Arbeit ein befonders hoher fei. Solche Legenden zu zerftö gehört zu den Aufgaben meines Buches; und wer noch heute an ihnen feith Der möge es lejen, und dann urtheilen. Dr. Oskar Stilli

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Borſe und Preife. 483 Börfe und Preſſe.

im neunten Juni bat das Ehrengericht der berliner Börſe in zweiter BER Anftanz den Verweis beftätigt, der mir vor ein paar Wochen von der eriten Inſtanz ertheilt worden war. Ich foll nämlich Über die Dresdener Bank unwahre Thatſachen behauptet haben, die geeignet geweſen feien, den Kredit diefer Bank zu fchädigen. In beiden Nuftanzen wurde nicht daran gezmeifelt, daß mir eine ehrlofe Handlung nicht vorgeworfen werden könne. Beide Inſtanzen aber erklärten fich für zuftändig und gaben mit meiner Berurtheilung der Dresdener Bank eine Genugthuung. Der Ausgangspunkt des Verfahrens war eine Notiz, die ich in dem von mir redigirten Handelstheil der Berliner Morgenpoft im Januar diefes Jahres veröffentlichte. Da war behauptet, zur Zeit des ſächſiſchen Bankkraches jei die Dresdener Bank mit außergewöhnlichen Srediten unter erichiwerenden Bedingungen von der Reichsbank und der Sächſiſchen Bant unterftüßt worden. Das tjt angeblich unmahr; angeblih, fage ih, denn zu meinem Bedauern tft mir ber Wahrheitbeweis nicht geftattet worden. Wenigftens wurde mein Antrag abgelehnt, den Direktor der Sächſiſchen Bank unter feinen Eid zu vernehmen. Diejer Beihluß wurde in zweiter Inftanz mit der Feſt—⸗ ftellung begründet: die Unwahrheit der von mir behaupteten Thatfache fei durch fehriftlide Erklärungen erwiejen, die Reichsbank und Sächſiſche Bank zu den Alten eingereicht hätten. Nun will ich nicht etwa behaupten, daB die beeidete Ausfage der Banfdireftoren anders gelautet hätte als die mit ihrem Namen gezeichneten Erklärungen der Banken. Yag aber eine beſchworene Ausjage in weldhem Sinn aud immer vor, dann war mir die Bunge gelöjt; ich wäre von der Pflicht, das Nebaktiongeheimniß zu wahren, entbunden gewejen und hätte dem Ehrengericht den Sachverhalt genau fchildern können. Dann aber wäre ich ficher freigefprochen worden. Ich werde mich troßbem num bemühen, die Wahr: beit an den Tag zu bringen; und es wird fich zeigen, daß id) entweder von einem Berufsgenoffen mit einer im jonrnaliftifhen Betrieb jeltenen Dreiftigfeit getäufcht oder zum Opfer eines gejchäftlichen Halunkenjtreiches gemacht worden bin, den ſelbſt meine Skepſis nicht fofort durchſchauen konnte. Borläufig kann ich den Thatbeftand nicht big ind Einzelne aufllären; nur einen Irrthum möchte ic) beieitigen, der auch in große Zeitungen Eingang gefunden hat. Ich ſoll fahr: lälfig gehandelt haben, weil ich eine mir von einem Anderen überbrachte Nachricht ohne Weiteres als glaubwürdig hinnahm. Die Sache liegt aber anders. Ich hatte einen Berichteritatter, dem der Verlag der von mir redigirten Zeitung Honorar und hohe Spejen bezahlte, mit dem Auftrag nad) Dresden gejhidt, die Wahrheit über mir zu Ihren gekommene Gerüchte feitzujtellen. In einem langen Brief theilte mir diefer Herr den Wortlaut eines Interviews mit, das er mit einer in dieſer Sache als Autorität geltenden Perfönlichfeit gehabt hatte. Ich hatte ſchon vorher Gründe gehabt, die Gerüchte Über die Dresdener Bank für wahr zu halten; erft nach dem Empfang diejes Briefes aber und nad) ge: willen Andeutungen, die der Reichsbankpräſident in einer Sigung des Central- ausſchuſſes machte, veröffentlichte ich die inkriminirte Notiz.

Auch mit dem geltenden Recht fcheint das Urtheil mir unvereinbar; wichtiger aber als die perjönliche dünft mich die grundſätzliche Bedeutung der

484 Die Zukunft,

Sade. Das Berhältnig zwiſchen Börfe und Preſſe ift in den Perbandlunge fo grell beleuchtet worden, daß ein Wort darüber nötig ift.

Jeder, der fich in den Beift hineindenft, au8 dem da8 Börfengejeb erw: ging, muß die Thatſache ungeheuerlich finden, daß ein Paragraph dieſes Bejegr benußt wird, um der Preſſe die freie Börſenkritik zu beichränfen und daß ber Inhabe eines hohen Reichsamtes dieſe Beſchränkung als Richter verlünden kann. Die der ſchen Börſen waren nie in dem Maß wie etwa die engliſchen rein private Bersr ftaltungen; fie waren eigentlich immer öffentlide Märkte. Doch will ich zugekr:, daß die dffentlich-rechtliche Stellung unjerer Börfe früher nicht ſcharf genug e gegrenzt war. Durch das Börjengefet aber ift fie zu einer Einridtung gemorber an der nicht nur eine Clique ein Intereſſe Hat, ſondern die öffentlich funftioniren iA Aud bier, wie bei allen dffentlihen Inſtitutionen, muß alſo daS Recht mn Kritik unbefchränft fein. Nun Hat freilich der Staatstommifjar, dem die Kr jequenzen des erften Urtheiles wohl aud Bedenken erregten, gegen meine Xer theidbigung eingewandt, es handle fih nit um eine Beichränfung der Ark: mein Berjchulden fei darin zu fehen, daß ich unridtige Thatjachen verbreim: und Das falle befonders jchwer ins Gewicht trog den Dementi dea Dresdener Bank aufredht erhalten Habe. Auch die Richter criter Inſtanz ſchiene mein Stapitalverbrechen in der Nachſchrift zur Berichtigung der Dresdener Ace zu finden. Nicht die Verbreitung der angeblich falſchen Thatſache alfo, ſonde die an die Berichtigung gefnüpfte Kritil hat mich ftrafbar gemadt. Es wer aber mein gutes Recht, der Berichtigung zu mißtrauen. Im Urtheil wirb ae jagt: „Daß der Beichuldigte glaubte, diefer Bank Unaufrichtigkeit in andern Dingen vorwerfen zu dürfen, berechtigte ihn noch nicht, die Behauptung ihre Beridtigung von vorn herein al3 unmwahr, dagegen die des Korrejpondenten al wahr anzuerkennen.” Das ift nicht viel mehr als eine Redensart. Ich che in meiner Verufungfchrift genau begründet, weshalb ich alle Kundgebungen der Dresdener Bank ala unwahr zu betradjten pflege, bis mir der Gegenbeweis er bracht ift. Ach Habe feitgeftellt, daß ich mehr als einmal in ber Preſſe mi vollem Namen der Dresdener Bank Bilanzverjchleierungen vorgeworfen hate, ohne daß fie auf die ſcharf prägzifirten Vorwürfe jemals geantwortet hat; gegen ein fleines Verjchen aber wurde der Dementirapparat in Bewegung gefickt Auch habe ich auf die jeltjame Art bingewiejen, wie die Dresdener Bank in Sadıen der Dannoverfhen Straßenbahn zu berichtigen pflegte. Gegen er dächtigungen, die meinen Kritifen unſachliche Motive zufchreiben möchten, braudk ich mich nicht zu verteidigen. Seit meinem Eintritt in die Journaliſtik habe ich die Bilanzen der Dresdener Bank ſtets ſcharf kritifirt; ich fagte bei der vor legten Bilanz voraus, eine Krifis werde die Bank ungerüftet finden. Da alio die Meldung des nad Dresden gejhidten Berichterjtatterd meinen längjt ge hegten Verdacht nur bejtätigte, war ich zur Wiedergabe der angeblich falſchen Thatſachen berechtigt; un dbei meiner Anficht von der Glaubwürdigkeit der Dres dener Bank fonnte mir, wenn id ihrer Berichtigung mibtraute, der „aute Glaube“ nicht abgeſprochen werden.

Weniger als der Staatsfommillar. waren die mid richtenden Börfen- herren unter ihnen war auch der liberale Reichdtagsabgeordnete Freie um die zsreiheit der Kritif beforgt. Sie meinten, ein ournalift, der an ber Börje

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" Börfe und Brefie. 485

verfehre, müſſe fih hüten, ein an der Börfe vertretenes Inſtitut "zu verun- slimpfen. Das fann doch nur heißen: Es iſt gleichgiltig, ob folde „Verun⸗ glimpfung” durd die Behauptung wahrer oder falſcher Thatſachen oder über- Haupt dur jcharfe Kritif bewirkt wird. Der Journaliſt bat eben Ulles zu meiden, was den Börfenleuten unbequem fein könnte; fonjt wird er hinaus» geworfen. Wo ift da bie Grenze zu ziehen? Man ftelle fi) vor, bie Leipziger Bank oder die Herren Sanden, Schulz und Romeick hätten einige Wochen vor ihrem BZufammenbrud einen Strafantrag gegen mid; gejtellt: das Börfenehren- gericht hätte mich verurtheilt, denn ich habe mich ja nicht gehütet,‘ein an der Börſe vertretenes Inſtitut zu verunglimpfen. Zwei, drei Moden nad) dem Urtheilsiprud wären dann die Zufammenbrüde gefommen. Die Yrankfurter Beitung rühmt fi; mit Recht ihres Vorgehens gegen die Preußiiche Hypothefen- bank; Jahre lang aber haben ihre Angriffe diefem Inſtitut nicht das Anſehen zu rauben vermodt. Herr Sanden hatte nur nicht den Muth, der zur Un— redlichkeit gehört; jonft hätte er die Zyrankfurter Zeitung angeklagt und vor dem Ehrengericht wahrſcheinlich die Verurtheilung durchgefegt. Die moraliſchen Werthurtheile der Börſenleute richten ſich eben nach dem Erfolg. Als ich die Treppe zum Börſenehrengericht hinaufſtieg, klopfte mich ein guter Freund auf die Schulter und prophezeite: „Du bekommſt Unrecht, denn die Aktien der Dresdener Bank ſind inzwiſchen um zwanzig Prozent geſtiegen.“

Mein Glaube, das Urtheil werde überall, auch da, wo man meine An- ſichten richt billigt, getadelt werben, hat ſich als Irrthum erwiefen. Die Prefie blieb recht ftil. Im Berliner Tageblatt und, wenn auch mit für mich wenig ſchmeichelhaften Worten, in ber Frankfurter Zeitung wurde gegen den Sprud) protejtirt. Einzelne jozialdemofratiiche Blätter leider nicht der „Borwärts" haben auf die prinzipielle Bedeutung der Sache hingewiefen. Sonſt: tiefes Schweigen im Blätterwald; felbft in der Centrumspreffe, bie doch Grund hätte, den Standpunft meiner Richter zu befämpfen. Bielleicht halten die meiſten Redakteure die Urtheilsbegründung für jo verfehlt, daß fie eine Wiederholung ſolchen Spruches nicht fürdten. Ich bin anderer Meinung. Der Weg ift jebt frei und die Inſtitute, die fih in ihren gefchäftliden Manipulationen geftört fehen, werden gegen unbequeme Sritifer künftig öfter al3 bisher das Ehren. geriht anrufen. Die Leiter der Dresdener Bank haben ja offen gejagt, fie könnten mid) vor dem Strafrichter nicht faſſen und möchten deshalb cin Forum haben, vor dem die Grundlofigfeit meiner Angriffe nachzuweifen wäre. Das Ehrengericht ijt allerdings das dazu geeignetite Forum. Ein journaliftiih Sad: verftändiger war nicht herangezogen; und wenn Kaufleute über Zeitungſchreiber, die Aritifirten über den Kritiker zu Gericht figen, kann man ſich das Urtheil vorausdenken. Ein aus Sournalijten zuſammengeſetztes Ehrengericht hätte mid) freigeiprochen. Der Verweis, den ich für unberechtigt halte, ift mir gleichgiltig und ic hätte Über den Prozeß gar nichts mehr gejagt, wenn mir nicht darum zu thun wäre, zu zeigen, mit mweldden Mitteln man der Preſſe das Recht zur Börjenfritif weit über die vom Strajgejeg gezogene Grenze hinaus zu ſchmälern verſucht. Solcher Verſuch ift auf diefem Gebiet für das große Publitum doppelt gefährlih. Denn die allermeiften Zournalijten, die ſich mit Börfenvorgängen beihäftigen, beten in tiefer Ehrfurcht die Haute Finance an und die Wafchzettel

486

der Banken forgen dafür, daß bie Börfenberichte nad)

gefärbt werben. Das Ehrengericht hat ausbrüclic

find Gäfte ber Börfe, die fi) vor der Verlegung des @

Das Schlimmite an dieſer Auffaſſung ift, daß jie berechtigt nicht nach dem Börfengefeß, aber nach der vom Neichskangler Börfenorbnung, deren fünfzehnter Paragraph fagt: „Die Bor nad) dem Ermeſſen des Börjenvorjtandes ertheilt und wieber C. Berichterftattern der Breffe.“ Danach müßte ich mich

einfach, als einen gemeingefährlichen Störenfried, aus den 9 wiefen hat. Soll aber eine Ordnung, die Solches gejtattet, Publikums auch ferner noch unangetaitet bleiben? Geor

Kl Notizbuch.

Mira lang werben bie Deutſchen nun ohne das weile Wal des

tages auskommen müffen. Zu ihrer Beluftigung bleibt mr ie 2

kommiſſion in der Hauptftadt zurüd, das Häuflein der gut bezal noch immer einen überflüffigen Mangel an Wit entblößen, um geitalten, der niemals Gejeß werden foll. Bor der Bertagung kam au plänfel zwiſchen dem Neichstanzler und dem Abgeordneten Fürften Bis Brüffeler Zuderfonvention, die von den meiften deutfchen Sanbwirthen, füramt gehalten wird, wurde in dritter Leſung berathen und Fürſt Bism a Antrag umterichrieben, der die Geltungdauer des durch die Konvent Zuſtandes von der Zuſtimmung des Reichstages abhängig machen

gefallen d Ballinpolitit jadjt ministrable werben fühlt un gern zeigen möchte, feinegreunbe u „poftiver Arbeit“ zu brauchen find, ea 0

geiffencerwiberterubig, erkönneperrie Bart, Verben enfien arg EEE ts bef nicht als legitimirten Dolmetſch bismarckiſcher Gedanten anerkennen; habe er zugeſtimmt, weil die Stonvention ihm „ein Sprung ins Din

waren, als Otto Bismard die deutſchen Intereſſen vertrat, 2 Bundesrathstiſch Graf Bernhard von Billomw. Andere Zeiten? er dod) ins Land gerufen, von allen Sroßmächten fei nur Deutfe werth glücklicher Yage. Vielleicht war ihm, der nicht mehr Gelegenheit willtonmen, mit dem mihliebigen Abgeot

Klinge zu kreuzen. Er habe, ſprach er md wie mühjam wre zen Hang es durch feine Rede, er habe die Vorlage nicht % empfohlen, fondern dem Reichstag ;eit gelaflen, ihm ein

Notizbuch. 487

zugänglich gemacht, und wer jetzt noch von einem Sprung ins Dunkel ſprechen wolle... . „an Dem“, ſchrie von links ber die Kanzlergarde, „iſt Hopfen und Malz verloren.“ Fürſt Bismarck aber antwortete kühl, das „ungeheure Material“ liege dem Reichstag noch nicht lange genug vor, um ein fo ſicheres Urtheil zu er- möglichen, wie der jehr ſachverſtändige Herr Reichskanzler („Heiterkeit rechts‘) es ſich wahrſcheinlich gebildet Habe; für ihn falle ins Gewicht, daß ungefähr fiebenzig Zuderfabrifanten fich gegen die Konvention erklärt Haben, deren Geltungdauer er deshalb beſchränkt jehen wolle. Das war dad Stichwort für den Diagonalkanzler. Als erfter Beamter des Reiches, rief er, Habe ich nicht die Intereſſen der Zuder- fabrifen, fondern die der Allgemeinheit zu vertreten. Ein Jubelgebrüll aller Cob⸗ deniten begrüßte die alte Phraſe. Mit einer Gelaffenheit, die er früher oft vermiffen ließ, ſagte Fürſt Bismard, auch er jei an Zuderfabriken nicht interefjirt, halte das Urtheil Sacdhverftändiger aber filr werthvoll und wundere fi, ans dem Munde des Sanzlers jo jelbitverjtändliche Poftulate zu hören wie das von der Wahrung der allgemeinen Intereſſen. Jeder Abgeordnete hat das Necht, hat, wenn die Ueber: zeugung ihn drängt, jogar die Pflicht, in jedem Stadium der Berathungen zu er £lären: Ich kann biejer Vorlage nicht oder wenigftens nicht für längere Zeit zus ftimmen, weil ich dte Möglichkeiten ihrer Wirkung noch nicht zu beurtheilen vermag. Fürſt Bismard war alſo im Redt; und es wäre zu wünfchen, daß er öfter mit jo ruhiger Entichiedenheit feine Stimme erhöbe. Nur wird über jein Staunen Mancher geftaunt haben. Graf Bülow hat die berechtigte Eigenthümlichkeit, gern auf Gemein- pläßen zu weilen. Das iſt befannt und deshalb jollte Niemand fi) wundern, wenn er dem Kanzler auf dem Jahrmarkt begegnet, indefjen Buden die allgemeinen Inter⸗ eſſen angepriejen werden. Die giebt e8 zwar nicht kaum ein einziges Intereſſe, nicht einmal das der nationalen Bertheidigung, ift allen Söhnen eines Volkes ge- meinfam —, aber fie jpielen in der Preſſe eine große Rolle und ein fo eifriger Bei. tungleferund Zeitungpolitiferwie Graf Bülom weiß, daß fie ihm ſtets ein Appläuschen bringen. Item: wir find den Reichstag bis zum Spätherbit los und können ung den Sommer hindurch an der Wonne weiden, einen Kanzler zu haben, der erſtens „die Politif der Diagonale‘‘ treiben, zweiten, wie weiland Herr Paris, der ſchönſten Göttin den Apfel reichen und drittens die „Intereſſen der Allgemeinheit” vertreten will. * . %

*

Der Heine Artikel, den die Malerin Frau Sabine Lepfius im erften Juni heft veröffentlichte, hat eben fo viel Widerfprud) wie Zuftimmung gefunden. Aus einem Brief des Herrn Dr. Edmund Friedeberg feien bier einige Säge abgedrudt:

„grau Sabine Lepſius fragt, mit welchem Recht man dem Dienfchen, der gern helfen würbe, den Anblick des Verhungernden fernhält, und fie giebt jich felbft die ‚offizielle‘ Antwort darauf, daß man Vereinen und nicht Bettlern geben folle. Ich will verfuchen, dieſe offizielle Antivort zu ergänzen. Freilich Habe ich nicht etwa Neues zu Jagen. Man läuft immer Gefahr, bei einer Erwiderung auf geiftuolle Pa- radore in längft gefagte Banalitäten zu verfallen. Ich glaube aber, daB jene Worte auch hier nicht unwiderſprochen bleiben dürfen, damit man nicht nach einem alten Redtsipruch aus allgemeinem Schweigen auf allgemeine Zuftimmung fchließe.

Ach war neulich in Taormina. Bis dorthin iſt die Decadence-Wohlthätigfeit unferer Zeit noch nicht gedrungen; die Stadt thut nichts für ihre Armen und läßt fie in malerifchen Trachten vor dem Eingang des antiken Theaters liegen. Sie bilden

488 Die Zukunft.

gewiſſermaßen bie Theaterdekoration. Hier kann man ſich noch die Perjönlidieiten, denen man geben will, nach Luſt und Sympathie auswählen, wie Frau Lepfies ee wänfdt. Bon dieſer Freiheit machen auch die Fremden ausgiebigiten Gebraud. Gier bejonder3 ſympathiſch ausſehende alte Frau, die dem VBorübergehenben unmer Bar erzählt, die Zuft thue fo wohl und der Hunger jo weh, fteht ih etwa eben jo gat =: ber Befiger des Hotels, auf deifen Stufen fie figt, vielleicht noch beſſer, da fie geringer Geſchäftsunkoſten hat. Ein graubärtiger Alter mit famofem Charafterfopf und m Iumptem Mantel er joll ſchon von dreitaufend Kodaks verewigt fein iſt Gum befiger in dein benachbarten Mola und dort einer der höchſtbeſteuerten Bürger. Em anderer Alter ſitzt neben ihm; er hat feinen ſchönen Kopf, feinen maleriſch zerlumpizs Mantel, nicht einmal ein &fel erregendes Gebreden; er ift zwar in Folge rinestn- falfes ganz arbeitunfähig, aber die Konkurrenz mit der Sympathijchen und mit den Kodakmann fann er nicht aufnehmen. Diildthätige Einwohner bes Ortes, bie k: Verhältniſſe beffer kennen als die vorübereilenden Engländer, laffen ihm mandızı Etwas zukommen; ſonſt wäre er ſicher längſt verhungert.

Ich glaube: hier fonnte man bie Antwort auf die geftellte Yrage finden. 4 neide nicht der Sympathiſchen noch dem Charakterkopf ihre Hohen Einnahmen. Se verdienenihr Glück mindeſtens eben fo jehr wie die forpulente Dame, die zwiſchen Tar- fettunginaric) und Hüftmaffage Frau Lepſius bei der Ausübung ihrer bewundert Kunſt ſtört. Ich bedaure aud nicht die Fremden, die mit dem ſchönen Gefühl ge leiſteten Wohlthuns das Theater betreten und denen es ziemlich gleichgiltig ijt, we: aus dem hingeworfenen Kupfer wird. Sie ſind zwar ſtets in der von Frau Lepkz: erſehnten Gefahr, ihr Geld an Unwürdige zu verſchwenden; aber dieſe Gefahr wit ſchwerlich den Reiz ihres Lebens erhöhen, weil fie nie erfahren, ob fie getäuscht more: find. Nicht fie find die Hineingefallenen; der ungefchidte Ulte, der e3 nicht veritek. ji) richtig in Szene zu fegen, und feine zahlreichen, zum Bettelhandwerk nid ce borenen Leidensgenojjen: Das find die Betrogenen! Daß heißt in volkswirthſchef licher Sprade: dus Wohlthätigkeitbudget des Einzelnen wie da3 der Geſammthen iſt beichränft und fteht nahezu feit; deshalb wird dag Almofen, das der Schwintirt

empfängt, dem Bebürftigen entzogen. Trog dem Bettelverbot, daS übrigens fen

jo defadent modernes tft, fondern, zum Beifpiel, in England feit 1388 beftcht, habe: wir in allen Großjtädten noch ein ausreichend entwideltes Bettelweſen, au dem ſehen können, welche Elemente dabei ausjchlieglich auf dieKtoften fommen. Wer ſid dafür interejjirt, wird in Baulians berühmten Buch: ‚Paris, qui mendie‘ amr: fante Belehrung finden. Paulian bat nicht nur die Berhältniffe Derer unterfucht bie ihn angebettelt haben; er hat jelbjt das Handwerkbetrieben, ift als Krüppel, al: Lahmer, Blinder und Taubſtummer vor die Thüren gepilgert und hat anjehnlid: Summen eingeheimft. Und wir brauchen auf der Sude nicht bi8 nad) Paris 33 gehen; auch in Berlin entziehen täglich Hunderte von profeljionellen Bettlern den Würdigeren die für fie beſtimmten Mittel; ich erinnere nur an den angeblichen Epi- leptifer, der jeit vielen Jahren in Berlin W. allabendlich um die Dinerzeit juft ve: den Häuſern ohnmächtig zuſammenbricht, deren erleuchtete enfter auf den Beginn eines reichen Mahles deuten; oder an den genialen Spradlehrer, der im legteı inter auf vielen hundert lithographirten Poſtkarten mittheilte, daß er im Bearif jei, vor Hunger zu Sterben, und umkommen müſſe, wenn ihm nicht unverzüglich eine Sleinigfeit gefandt werde. Die Technik des Bettelbrieffchreibeng fteht in umjerer

Notizbuch. 489

Zeit minbejtens auf derHöhe modernen Maſchinenbaues und jelbft unter den armen Wittwen, für die in Zettungen Öffentlich gefammelt wird, giebt es manche gewiegte Zuchthäuslerin. Sollte der Würbdige, der nach Frau Lepfius vor lauter Würde in jeiner Kammer verhungern muß, jolcher Konkurrenz gewachſen jetn? Ich glaube, wie bei jedem Kampf ums Dafein würbe auch int Bettelmettbewerb der Schwächſte unterliegen. Das aber kann mannicht gerade als das Bieleiner Armenpflege bezeichnen. Doch ich fürchte, offene Thüren einzurennen. Das Bettelverbot, das längit in allen cioilifirten Rändern bejteht, bedarf meiner Bertheidigung nicht; auch zweifle ich, ob Frau Lepſius ernfthaftbeabfichtigte, für eine allgemeine Tyreigabe des Straßen und Dausbettelns einzutreten. Sie hat nur ein Problem aufgeftellt, das thatſächlich noch befriedigender Löſung harrt: Wie kann die Sympathie, wörtlich überfegt: das . Mit-Veid, das uns der Anblick Darbender entlodt, vernunftgemäß zu ihren Gunſten ausgenüßt werden? Die Löſung wird in anderer Richtung zu fuchen fein; wirklich moderne Wohlthätigkeit hat fie angebahnt durch die Ausgejtaltung pflegerifcher Thätigfeit. Wer fich das frohe Gefühl verichaffen will, Hunger zu ftillen, wer nicht nur feinen Namen auf Liſten zeichnen, fondern ſelbſt theilhaben will an der Freude des Empfangenden, Der laffe fi von dem Armenvoriteher ſeines Bezirkes oder von einem ‚Verein‘, der wahre Armenpflege treibt (mie die Ausfunftitelle der Deutſchen Geſellſchaft für ethifche Kultur in Berlin, die Vereinigung der Wohlthätigfeitbe- ftrebungen von Charlottenburg, bie Eentrale für private Fürforge in Frankfurt a/M. u. ſ. w.), eine bedürftige Familie überweiſen, juche fie auf und verfuche an ihrem Emporfommen mitzuarbeiten. Nicht durch einfaches Geldgeben, jondern durch ver- ſtändnißvolles Eingehen auf ihre Wünſche und ihre Höheren Bedärfniffe. Wer Das nicht will, weil auch dann Vorſtand und Komitee ihm unüberfteigbare Hindernifje find, Der wird fi der mühevollen Urbeit des Aufſuchens würdiger Elemente jelbft unterziehen müſſen, wird jelbjt die ſchwierigen Ermittelungen anzujtellen haben, die zur Erfenntniß eines Nothftandes nun einmal unerläßlich find und die ein Verein - ihn gern abnähıne. Das dem Straßenbettler gejpendete Almoſen und jein ‚Gott . lohns taufendmal!“ genügt nicht; To billig, ſcheint mir, joll heutzutage das Gefühl erfüllter Nächftenpflicht nicht mehr erfauft werden können.“ % *

*

Herr W. Fred erbittet den Abdrud des folgenden Briefes:

„Berehrter Herr Harden, als ich vor einigen Monaten in der ‚Zukunft‘ das Wort vom ‚Krad) des Kunſtgewerbes‘ wagte, bekam ich von ungebetenen Korreſpon— denten Allerlei zu hören. An die wenigen Briefe der Zuſtimmung ſchloſſen fich die vielem verärgerten Zuschriften Jener, beren Gefchäft bedroht ſchien. Mancher Künitler wußte [chmerzliche Ergänzungen zu geben. Ein Arditelt, deſſen Juterieur jet in der Großen Kunſtausſtellung zu fehen ift, trug mir den Beweis an, daß er die Aus— führung feiner Entwürfe durch allererfte Fabrikanten erſt erreicht Habe, als er auf jedes Honorar, fogar auf jede Betheiligung am Gewinn verzichtet hatte. Andere wieſen auf die verderblihe Wirkung der Preſſe Hin, tadelten die Fachpreſſe, die um de3 Nechtes zu Abbildungen wegen, die dann als unbezahlte Vorlagen den kopir⸗ wüthigen zyabrifanten zu dienen haben, fid) des Rechtes und oft der Möglichkeit zur gewiſſenhaften Kritik entjchlagen müſſen. Ein vielgelobter norddeutjcher Künjtler hatte den Muth, von mir zu verlangen, ich jolle ihm meine Kritik vor dem Erjcheinen vorlegen. Der Herausgeber einer weitverbreiteten deutſchen Kunſtzeitſchrift trägt

4490 Die Zukunft.

einem Künjtler an: wenn er das Reproduftionrecht für Ictne Arbeiten ertbeile, a:

er fich den Nezenfenten wählen. Das find Anmerkungen über bie Einflüſſe der Fırk

auf die Entwidelung des Kunſthandwerks. Die Kritil der Tagespreſſe Fonnte er

bejonderes Stapitel füllen. immer wieder liejt und Ichreibt man non ber Erziee

des Volkes zur Kunft; die Blätter mit ben Diaffenauflagen aber tum ihr Beftr:

um jedes Kunſtgefühl des Volkes zu erſticken.“ *:

Ort der Handlung: der Schwurgerichtsſaal des berliner Yandgerichtes. dem fiir den Angeklagten bejtimmten Raum liegt auf einer Matraße, an bie er st ſchnallt tft, unter einer Dede, die feine Wunden verhält, ein Menſch. Nur der blare Kopf und die unruhig zudenden Hände find ſichtbar. Ohne diefe nerudje Beryran: . der Hände, melden die Reporter, fönnte man glauben, daß ein Toter auf dem im provifirten Zager ruht; und fie fügen hinzu, nur mit ber Hilfe von Schußgleuten us} Serichtsdienern babe der Mann ſich aufzurichten verinodt. ft das Tribunal ur Spitalgemorden? Nein: der leidende Menſch, der da liegt, ift der Agent Thomaſchke. der im Unterfuhungsgefängniß geftern einen Seldftmordverjud gemacht bat um der heute in den Schwurgerichtsjaal gejchleppt worben ift, um fich gegen die Anficg zu vertheidigen, einen Wucherergemordet zuhaben. Wäre die Schilberung einer folder Szene aus Rußland oder gar aus Pretoria gelommen, dann hätten die Zeitumgen ihrem Entfegen beredten Ausdruc gegeben. Daß in Berlin ein fiecher, erfchöpiter, der Herrjchaft über feinen Körper beraubter Menſch vor Staatsanwalt, Gerichte bei und Jury um fein armes Leben zu fämpfen hatte, jchien nicht ber Rebe werth.

- * * *

Der Deutjche Kaijer rügt in einer Feſtrede mit weithin ſchallender Stimme den „polnifchen Uebermuth“, gegen den alle Deutichen fi) waffnen müßten, ur wird im djterreichiichen Reichſsrath von ſlaviſchen Politikern, die ſolche Senerali- firung ungerecht dünkt, in der dort üblichen rohen Tonart gefcholten. Der Erbe te: Bayernfrone kehrt, nachdem er in Mannheim eine landwirthſchaftliche Ausftelluns befehen bat, in Ludwigshafen ein und fagt in einer Tifchrede: „Ich komme Heut: von einem jchönen SSledchen Erde, das man ung vor hundert Jahren gewaltian entriffen hat.” Man: nämlich die zähringer oder hochberger Beherrfher des Groß⸗ herzogthums Baden. Uns: nämlich den Witteldbachern, denen bie einft kurpfälziſche Hauptſtadt von den einem Zaren verſchwägerten badischen Herren genommen war).

- Ein Dann, dermorgen ſouverainer deutſcher Bundesfürit jein kann, erinnert öffentlich alfo an die Zeit des deutſchen Bartifularhaders und an den Unglimpf, den feinem Ge ichlecht eines anderen deutjchen Bundesfürften Ahn angethan hat. Der Kanzler dei Deutjchen Jteiches hält den europäiichen Großmächten ein Regiſter ihrer Sünden und Schwächen vor und wird darob in der ausländifchen Preſſe gefegmäht und verjpotret. - Ein Stantsjelretär ladet einen englifchen Journaliſten zu einem „Bierabend“. Emm anderer Staatsjefretär foramirt den Gaſt feines Kollegen beim Bier und bejchr

tan in harten Worten, das gute Verhältniß, das zwiſchen Deutſchland und ( britanien fo lange beitand, durch feine Berichte verdorben zu haben. Unb. Staatsjefretär ijt der im Auswärtigen Amt twaltende, von demman ſich bes fei Diplomatentaftes verfehen zu dürfen glaubte. Die hier erwähnten Ereigntff-'

fi in den beiden erjten Nunimochen abaejpielt. Für vierzehn Tage iſts geı

Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: M. Hurden in Berlin. Berlag ber Zuluuft in 7 Trud von Albert Damde in BerlinsSchöneberg.

ie

Berlin, den 28. Juni 1902. ET ç e ü eC—

Moritz und Rina.

Kreſſin, Achatius 1902.

Viellieber Bruder und (nicht viel) Senior! SI" Du auch immer Recht behältft! Sogar mit dem Tretgöpel; worüber

der Herr unferer Fideilommißwirthſchaft Näheres melden wird. Und überhaupt. Auf die Dauer wirds eklig. Man traut ſich ſchließlich felbft nicht mehr; und was habe ic) verfchrumpelteBommeranze noch vom Leben, wenn * ich mein Urtheil, wie eine ſchiefe Schulter, einem Hohen Adel und verehrlichen Publilo verbergen muß? So oft ich Deine kaum noch ftandesgemäßen pattes de mouche auf dem Convert ſehe (jehr oft iſts ja nicht), überläufts mid): wieder ein Triumphgefang; wieder der Beweis, daß Deine Ergebeuite bes rufen gewefen wäre, zur Rettung deö Kapitols mitzuwirken. Ende Februar, als id; Marie bei Euch und anderen Möglichen tanzen ließ (das lange Würmden träumt noch von der partie fine bei Briftol), war id) fo ſieges⸗ gewiß; und als wir, zum Abſchied, in der Nacht vor dem Bismardtag in Deinem Berliner Zimmer faßen, zwiſchen Büſte und Bild des letzten Märters, und Deine frühe Probemobilmachung der Kiebitze reſpektvoll anſtaunten, da habt Ihr mich nicht untergefriegt. Du nicht und Adolf erſt recht nicht. Wer Euch damals wimmern hörte, mußte wirklich glauben, Preußen pfeife ſchon auf dem letzten Loch und Alles, was man aus der Kinderſtube ſo in ſeine grauen Jahre gerettet hat, werde übermorgen unter den Hammer komnien. Aber es ſaß nicht. Ich war in Form, wie unſere Centauren ja wohl ſagen,

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492 Die Zukunft.

und am Ende mußteft Du der ftörrigen Schweiter einen Knicks machen umd, nad) einer mehmüthigen Chamade, den Degen einfteden. Hatteft übrigens gut gepauft und brauchteft Dir feinen Vorwurf zu machen. Gegen Schwär- mer (bitte: Schwärmer I) kämpfen Götter jelbft vergebens. Das war mein Fall; und ic) ſchäme mich nicht mal. Wenn man das Bischen angenehmes Irrthum nicht mehr hätte, dann lieber gleich in die Klappe. Es war mem befte Zeit. Ich lieh Adolf grienen, zuckte nicht, wenn er bier den Nachbare erzählte, mein wohlinformirter Herr Bruder fei anderer Meinung als id; und hoffte. Der große Umfchwung mußte fommen. Und ich würde die Auf⸗ eritehung der alten Preußenherrlichkeit nod) erleben. Zum erſten Mal feit viertaufend Lenzen freute ich mich wieder auf die Frühjahrshüte.

Soune, wo bift Du geblieben? Seit Wochen kann man fein anftän diges Stüd anziehen; die neue Federboa hat fi) von der Durchweichung noch nicht erholt. Ließe fich ertragen, wenn die innere Stimmung nicht fs troftlos wäre. Im wahrften Sinn. Wen habe id) denn ? Dem Mädel kam ich die paar Illuſionen doch nicht aus dem Blondfopf plärren. Und der rothe Adolf? Nein, danke; je viens d’en prendre. Der gudt mich immer fe lauernd an, als mühte ich ihm in der nächften Biertelftunde um den Hals fallen und rufen: „Du hatteft ja fo Recht, mein hoher Herr!“ Wird aber nichts; weder um den Hals noch Herr. Yehlte mir gerade noch. Er läuft Schon jegt rum wie der Dahn auf dem nüglichen Haufen. Und als er vor- gejtern die Kampherjädchen aus feinem Majorsrod nahm und auf meinen fragenden Blick mit liſtigen Aeuglein flötete: „Bülow ift Oberſt ge worden!" ... Ich fand fein Wort. Der zweite Fall in unferer Armee, jagt er; den erjten Sprung machte Bismard in Böhmen. Das ging. PBüloms Verdienfte um dieArmee jind mir Thörin fchleierhaft. Und ich kann Deinem Schwager nicht verdenfen, daß er nicht weiter mitfpielen will.

Warſt Du wenigftens in Bonn? Oder unentwegt Berlin XW.? Muß jest doch zum Auswachſen fein. Selbft die exemplariſch geduldige Totte feufzt brieflich und weiß nicht, was Dich eigentlich) fo Tange im Hanfaviertel feithält. Die verschiedenen Raifonnirbuden find ja gefchloffen. Die ner, Iprochene Herrenhaustede haft Du Dir aud) verfniffen. Wilft am e was werden? Aber jekt wirds big Reval ja unpolitifch. Schonzeit + celtenzen. Gott fei Dank! Denn was die legte Beit an Politifchem brr , fonnte Unſereinen auf die höchſten Akazien treiben.

Du haft alfo Recht behalten. Veit den Buren. Mit Bülow. Zoll, Zuder etlereste. Schließlich, wie ich via Möbelmaple höre.

Morig und Nina. | 493

noch die Wette gewonnen, daß His Majesty nicht im Juni gefrönt werden wird. Wir kriegen keine anftändigen Handelsverträge und Fönnen fehen, wie wir uns aus der Batjche helfen. Wir find der „arme Adel”, mit dem nichts mehr anzufangen ift. Solche Worte follen jetzt jede Woche fallen. Glissons ... Kuno (nicht Tü-Tü natürlich, dem wohl, trog dem Generalmajor, die Scheidungsgeſchichte noch böfes Blut macht und der Anfichten überhaupt nicht risfirt) ſchwört Stein und Bein, diesmal kämen die Tiberalen wirklich dran; der Herr Ballin und Konforten. Dann würden wir erft was erleben. Ich bin nicht neugierig, halte aber, feit der janfte Bernhard im Landtag fo patzig geworden ift, Alles für möglich. Den Ichlimmften Stoß hat mir der Burenfriede gegeben. Woran foll man noch glauben? Die Sache ftand gut, die englifche Sippichaft hätte es keine ſechs Monate mehr ausgehalten: da Lafjen dieLeute fich mit ſchönen Redensarten fangen; oder mit Geld? Weiter hört man ja nichts mehr. Der gottverdammte Mammon regirt die Welt. Lächle nur und nenne mich wieder eine fentimentale Dame mit Runfelrüben- kultur. Ehe ich mic) dazu hergäbe, am Tiſch Deiner Mafchinenfrigen und Geldjuden zu figen, würde ich mir als Scheuerfrau mein Brot verdienen. Wie man ift, muß man verbraucht werden. Englands „Sieg“ ift die tolffte Schande. Und feiner von Euch Helden hat den Finger gerührt.

Du jchüttelft das weiſe Haupt, weil ich Trübſal blafe. „Paßt nicht für Dich Boruffenwoman.” Gewiß nicht. Wäre aud) gern mit dem Herzen dabei und habe mir Mühe genug gegeben, Lichtpunfte zu finden. Marien- burger Rede (Du weißt ja: auf die Polafen Hatte ic) immer einen Zahn). Auch Aachen, trogdem ich mit Karl dem Großen, von wegen der Vielweiberei und der fchlechten Töchtererziehung, nichts Rechtes im Sinn Habe und mein gut lutherifches Herz für den Statthalter Petri feinen Plat hat. Aber es Hang doch wie eine Abjage an die Wajferpolitit. Und Adolf mußte den Kan- didaten gleich alarmiren, damit er das Schöne Glaubensbekenntniß unferes Herrn in die nächſte Sonntagspredigt bringt. Daß der langftielige Thielen endlich geht, hat mich auch einen halben Regentag lang vergnügt gemad)t. (Sonft feine Aenderung in Sicht? Schade.) Biel iſts nicht. Ich rüfte ab. Sojchr Alles mic freut, was ©. M. überdieglorreiche Zufunftder Deutjchen ſagt: Schwarz-⸗Weiß-Roth war nie meine Xieblingscouleur. Für mich muß es nicht das ganze Deutichland fein. Und fchwarzeweiße Hoffnungen bringt jelbjt meine Unverwüſtlichkeit feit der Ietten Enttäufhung nicht mehr auf.

Sieht man ſich auf diefer Erde noch mal? An Berlin habe ich mir vorläufig den Magen verdorben; theils dieferhalb, tHeils außerdem. Mit 37*

494 Die Zukunft.

Eurer Oper könnt Ihr keinen Staat machen und die übergefchnappte Xe- manpuppe, bie der Herr Sudermann für eine oftpreußifche Gräfin ausgich. bat mir den Theaterappetit gründlich vertrieben. Vielleicht im Oftobe Paris, wenns langt. ebenfalls wollen wir ſparen. Höchitens ein Bisde Dftfee, die dem ungen immer anſchlug. Wäre id) Dir nicht die gleichgil tigfte Kreatur, dann würde id) Dich bitten, Dich geneigteft für ein Weiler nad) Bommerland zubemühen. Schon um Deinem allmädytigen Inſpekte zu zeigen, daß Du nod) lebſt; und man Fönnte fich Allerlei von der Sad: ſchwatzen. Aber meine Epiftel wird Dich abfchreden. Melanchofie ift nid Dein genre. Na, im Verkehr mit meinem Kirchenpatron und Repolutionär (der grüßt) würdeft Du über Mangel an Heiterkeit nicht zu lagen haben. Veberlege. Und wenn nicht, ſchicke Totte (mille choses!), die ſich hier wohler fühlen wird als in Gaftein zwifchen Deinen diplomatifchen Greifen. Wir wollen rechtſchaffen hausfraulich fein und Die Politik in ben Fliegen⸗ ſchrank ſchließen. Es wird Zeit. Hätte ichs nur früher gethan! Deine Schuld wars nicht, fondern die Deiner noch immer unflugen, doc) nicht mehr vergnügten Schweiter Nina.

Berlin, am Johannistag.

Dunkelſte aller Goldreinetten,

Der lieder wars: Johannisnacht. Nun aber kam Johannistag!

Er kam wirklich. Und mit ihm der Wunfch, Dich, den Trojt meine Alters, wieder fo luſtig, fo ruchlos optimiftisch zu fehen wie an manchem frü- beren midsummerday, wo die Welt auch nicht mit Rofen und Bonbons gepflaftertwar. Komm. Wir wollen unfere Gräber, die Ruheſtätten unferer Kinderträume, mit Blumen ſchmücken, einen Pferdekopf ins Johannisfeuer werfen, ganz heidniſch, und dann ganz chriftlic) dem Herrgott danken, darf wir nicht fürs Heilige Römische Reich zu forgen brauchen. Im Ernft: mir braucheng nicht. Das vergiffeit Du immer. Daher der ftete Wechjel zmife himmelhoch jauchzend und zum Tode betrübt. Daher die grimmige 3 adytung meiner „Frivolität“. Als obs einen Zweck hätte, ſich zu ſchind wenn man ohnmächtig iſt. Mir iſts auch nicht leicht geworden ; und Trium— gefühle, wie Dein Groll fie bei mir vermuthet: nicht die Spur. Nichts €‘ bafteres als Recht behalten. Dazu gehört Heutzittage gar nichts als ſchle

Morig und Nino. 495

Berdauung und die üble Laune, die hartnädig immer auf Zero jegt. Wenn ich nicht bi8 Mitte Juli durch Gefchäfte hier angefchiniedet wäre Bauerei, Hypotheken und andere crux —, hätte ic) fofort die Koffer gepadt. Weils aber nicht kann fein, muß ich den Gichtfnoten wieder mal den Federhalter zumuthen. Viel Hoffnung habe ich nicht. Denn an Dir fcheitern all meine Künfte. Konnte Dich nicht befehren, als Du dem Morgenroth zujubelteft (das ich Schon damals für Bengalfeuerwert hielt), und werde Dich jet erft recht nicht in meinen Kahn lodlen. Aber in magnis... Zu Deutjch: ſelbſt die ältejten Geden wollen immer noch mehr, als fie Fönnen.

Ich gebe Dir Alles zu. Eigentlich unnöthig, denn ich habe es, weil ich jo unbändig Hug bin, vorausgefagt. Du bift enttäufcht. Primo von den Buren, die Du Schon den legten Tommy am Darm des letzten Minenkönigs auffnüpfen ſaheſt. Yun haben fie fapitulirtund Dewet, der Dir faftein Heiner Bismard geworden war, ermahnt die Dranjebürger, in Treue dem king unterthan zu fein (der nun wohl nicht mehr lange Eduard heißen wird; die Krönung, an die bei Lloyds fchon vor Monaten nicht geglaubt wurde, ift heute auch offiziell abgejagt worden). Dein Pech, liebes Kind, daß jeder Pa- pierverderber Dir Jahre lang glaubwärdiger fchien als Dein frere pro- digue, den Du zu den Britenanbetern in die Wolfsſchlucht warfft. Dahin gehörte er nicht. Aber er hat die englifche Zähigkeit in der Nähe gejehen und wußte vom erjten Augenblid an, wie die Geichichte enden müffe. Den Finger Hater freilich nicht gerührt. Wozu denn? Wir habendasseriegsfeuerangefacht, wir mußten und konnten es löfchen und wären heuteeine hübſche Strecke über 70 weg, wenn wir über den Kanal gerufen hätten: Das Ganze Halt! Die Franzoſen wären vor Freude aus dem Häuschen gelommen und Väterchen hätte fich eine neue Friedenspfeife gejtopft. Es follte nicht fein; und für hoffnungloje Sachen ftelle ich mich nicht heraus. Daß die armen Kerle, die von Brüfjel aus belogen wurden, daß die dickſten Balken fich bogen, nach- gaben, jobald fie die Wahrheit erfuhren, war vernünftig, wenn e8 uns aud) um eine Senfation gebracht hat. Frage mal Deine Bauern, ob fie Luft haben, ſich fur Ideale chlachten zu laſſen. Ja, wenn man fie mit der Klinge ins Teuer treibt; et encore! Woran man noch glauben joll? An Zeitungen jedenfalls nicht, hohe Yrau; da werben die hehren Gefühle verhöfert, wird immer irgend ein Tugendſüppchen eingerührt, daS auch nicht mehr im Min— deften ſtinkt. In der Heimath ift Alles herrlich ; aber draußen! General Mercier, Viscount Kitchener, Bobedonojzew! Das Entrüftungbedürfniß will Futter; und das wächlt nur fern von den Neichsgrenzen. Einerlei:

496 Die Zuhmft.

Dewet bleibt auch ohne Hintertreppenheroigmus ein Prachtkerl. HalteTr das Nähen zu, wenn Du an den Yügenfabrilen vorbeigehft, und ſparede Hochgefühl für Gegenftände, die Tu fennft, nicht von fremden Leuten a Treue und Glauben Hinzunehmen brauchft. Und Eduard Hat ja den Yoln. Chez nous hat nichts jic geändert und Deine Halbmaftitimmus fommt um fehrviele Bofttage zu fpät. Habe ic) Allen gefagt, die Hier Tran: randmienen (jchlechtefte Spekulation) umbertrugen. Was ift denn? Der „arme Abel" doc) nicht feit vorgeftern ausder Sonne. Natürliche und neth wendige Konfequenz. Deine nidjt meine Parteigenofjen langweale S. M. „Klagen, nichts als Klagen, Bittfchriften, nichts als Bittſchriften“ Der ſmarte Morgan, den er nach Kiel geladen hat, kann ihm interejlanten Dinge erzählen. Deshalb halte ich auch nichts von der großen Aftion, de jegt heimlich verfucht wird, um unfere Leute wieder palaisrein zu machen. Die befannten Granden an der Spite, von Udo big zu Guido mit den zmt Yamiliengrüften. Toutelalyre. Verjöhnung. Diagonale. Los vom B. d. Kanal. Wirdnichtzum erſten Mal angeſtrebert. Undzumehr oder minder rein⸗ licher Scheidung muß es ja kommen, wenn auch die Blindeſten ſehen, daß der Hochſchutzzoll vor die Hunde geht. Er iſt ſchon gegangen und würde nicht wieder kehren, ſelbſt wenn Bülow nicht an der Spritze bliebe. Was haft Du plötzlib gegen den Mann, daß Du ihm fogar Schnüärrod und Wadenftiefelnichtgönn®? Redetſich heiſer, lieſt alle Zeitungen, reift Hals über Kopf, wenns verlangt wird, und leiftet, was man von ihm erwarten konnte. Die Leute, die fich im Hinter: grund vorbereiten, ihn zu beerben, würden Dir nicht beffer gefallen. Pot bielsti hat mehr praftifchen Mienfchenverftand, rafchere Auffaffungfähigfat und die ganze Großhändlerei hinter ſich, kann aber die Botfchafter doch midit, wie die Kommerzienräthe, nedifch in die Rippen ftoßen oder beim Bierllet hochnehmen. Und Poſadowsky, der Ernfthaftefte, Gebildetſte (feine düſſel⸗ dorfer Rede war einzige Erguidung), Hat Feine Ausficht. Liberale Aera? Möglich, trogden die Prophezeiung ſchon etwas altbaden ift; vielleicht aud nur ewige Vogelfcheuche. Manche von uns wünjchen diefe Probe; Andert halten, mit Mallet du Ban, foldhes Rechnen auf gefteigerte Berwirrum r falſch. Natürlich frebfen auch die Verfühnlichen mit diefem Spul, hr nicht artig, fo fommt der Ballın! Hofuspofus. Als Bülow in. bertusjto mal, nur halb wohl im Scherz, hinwarf, der jüdische Her ' ‚Hamburg - Amerifa » Linie könne eines Tages ganz gut Miinifter we klopfte S. M. ihn aufdie Schulter und fragte: „Warum benn nicht Kaı lieber Bülow?“ Seitdem fitts in den Knochen. Ich zweifle. Nicht ®

Morig und Nina. 497

DaB man jic) noch den einen oder anderen Möller holt, der fid) dann in Frei— heit dreifiren und blamiren mag. Aber an liberaler Firmirung. Die Ge- felifchaft hat nichts Reelles zu bieten, jo lange fie nur ein Häufchen in die Barlamente fchict, und wäre mit dem Centrum nicht leicht zufammenzus ſpannen. Das aber ift die Hauptjache. Der reineBlödfinn, immer zu thun, als gäbe ed nur Rechts und Links. In der Mitte fizen die Mufifanten. In Bonn war ich nicht, aber im Herrenhaus, als der Sorquitter die

Häupter der anwejenden Boruffen, Vandalen pp. zählte. Dir wurde etwas: - flau. Du kennſt mich lange genug, um zu wiffen, daß ich kein Froſch bin und mit Wonne den Stürmer heute noch auf die Platte fette. Bebänderte Po- litik aber mag ich nicht und finde unklug, den Demokraten ausdrücklich zu fagen, wie Unfereiner von der Corps» zur Hofcharge den Weg gemacht hat. Die Eouleur wird jet zu oft gezeigt. Wenn die Jungen den hohen Brozent- fat derarrivistesfehen, geht die Unbefangenheit zum Deibel. Werden ſchon frühgenugdas Schufternlernen. Einftweilen brauchen fie noch nicht8 Streb- fames zu denken, wenn der Kantus fteigt: Was kommt dort von der Höh’?

So rebet Einer, der nad) feiner Schwefter wohlüberlegter Meinung „was werden will.” Heiliger Fridolin! Was denn? Am Ende, wie Bis⸗ mard nach 90, Oberfter der Berfchnittenen. Deshalb blieb ic) aud) unter den Peers ftumm. Wollte mir nicht die Karriere verderben. Inniges Bei⸗ leid zu diefer Kateridee. Nein: ic redete nicht, weil ic) nichts zu jagen hatte. Bon der Leber weg wäre e8 tant bien quemal gegangen. Aber manjchleppt die Tradition nun ja mal mit fi), geht nie über eine bejtimmte Grenze hin aus, ift an allen Eden mit Zwirnsfäden feftgebunden. Ziehe ich vom Leder, dann follens feine Xufthiebe fein; vor der Königlichen Staatsregirung in Ehrfurcht erfterben, ihr zwei Röslein mit drei Dörnlein überreichen: Mahls zeit! Höchſt verlodend, das volle Herz vor verfammeltem Kriegsvolk auszu- ſchütten; nachher aber käme man fich doc) wie fahnenflüdhtig vor. Das felbe Gefühl (im Kleinen), das den Mann im Sachjenwald zurüdhielt und Cha- miſſos Wort citiren ließ: Die Situation Hat für mich fein Schwert.

Hier tft es ſtill und Lottes Ungeduld nur zu begreiflich. Aufgeriffenes Straßenpflafter, fchlechte Quft, faum eine lohnende Whiftpartie zufammen> zufriegen ; und vor jeder Sandkiefer bie Sehnfucht nach anftändigem Laub⸗ wald. Es ift ein Kammer. Zähle die Tage, bis Neferve Ruhe hat. Politik hätte mich nicht gehalten. Nitshewo. Thielen find wir los. ‘Der eine Tote, ohne den die Seffion nicht mehr jchließen kann. Lange ſchon Blattſchuß (kein Glückwunſch zum Siebenzigften); und der Echec mit dem Homburger

498 Die Zutunft.

Bahnhof. An Talentfülle ift er nicht geftorben ; der richtige Dutzendburen frat, der fich enorm vorlommt, wenn er morgens in den Thiergarten reikl Miquel, der ihn uns befcherte, hatte ihn im Magen; „ich weiß“, jagte e nad) der Entlaffung, „daR ic) mandjen Fehler gemacht Habe: ba geht mein ſchlimmſter“; und wies auf Thielen, der eben den Hut vor ihm zog. De Schwarze Adler fet ihm leicht. Seit Pobbielski, ſehr ſchlau, abgelehnt hat, war Budde der propidentielle Mann. Auf jeden Fall viel beſſere Nummer. Herr Iſidor Xoewe, beidem er mehr als da8 Doppelte eines Miniftergehalted: hat, fcheint ihn beurlaubt zu haben. Wäre nicht übel. Iſt er nach drei, vier Jahren verbraucht, dann kann er, mit Minifterpenfion, wieder Waffen fahr ziren. „Beurlaubt zur Dienftleiftung als königlich preußifcher Stant« minifter.” So muß e8 fommen, da Induſtrie und Bank ung die brauchbar: ften Leute wegfchnappt. Mammon? Stimmt. Mußt e3 eben leiden.

Deine anderen Lichtpunfte glänzen mir wicht allzu freundlich ind loyale Gemüth. Fromm war ich nie und Das war mein ®erberben; für dt Würdigung hriftlicher Krieger, Elektriker, Torpedoſchleuderer fehlt mir das Drgan. Polen ift noch nicht verloren, weilman ein paar taufend Kolonijten binloctft; die Sache fordert eine andere Tage. Der marienburger Schlad- ruf hat die ganze Slavenwelt mobil gemacht und ich bin noch fo altfränfiid, daß ich den Monarchen nichtgern im Getümmel, nichtgern politisch aggreſſu jehe. Der Glaube an das germanische Weltimperium ift beneidenswerth, das Öffentliche Bekenntniß aber nicht geeignet, ung Tyreunde zu werben, zu⸗ mal man ung fo wie fo ſchon ausfchweifende Pläne zutraut. Uebrigens wird der Erfahrene ſich hüten, aus Reden Scylüffe zu ziehen. Abivarten und rudig Blut bewahren. Das wird der allerlegten Boruffin ſchwer und daher bie Thränen. Doc wir „Edelften“ find nicht mehr verzeih, Reinette meines | Herzens, das anftögige Wort der Nabel der Welt. Die Karre geht weitet, auch wenn wir unterdie Räder kommen. Ihr Schwarz. Weißen denkt: Preußen find wir. Das ift vorbei. Die perfönliche Leiftung, nicht der ererbte Beſitz⸗ anſpruch wird heute gewogen. Unangenehme Wahrheit, die aber gejchludt werden muß. Augen zu und runter damit! Paß malauf, wie Du Dich dam wieder des Yebens freuen wirjt. Trotz Adolf, dem Philofophen. Webrig““* kannſt Du Did) ja zu den frifirten Löwen Schlagen. Sig und Stimme zwiſt Loe und dem nicht tot zu friegenden Alfred. Werde Dirs nicht nachtray Denn Eier Yicbden haben wirklich nod) einen wafferdichten Bafallen in dem um mwohlaffeftionirte Gefinnung bittenden Bruder und Jammerma

Moris [2

Aus der Zeit der Hörigleit. 499

Aus der Heit der Hörigkeit”).

ieleiht an Feiner Stelle Deutſchlands Tagen fo fchroffe foziale Gegen-

fäte neben einander wie zwifchen Rhein und Weſer. In Kleve-Mark war die Landbevölferung fo gut wie ganz frei, in Minden-Ravensberg ſowohl wie in Tedienburg- Lingen zum größten ‘Theil börig und bie Bedingungen Diefer Abhängigkeit waren drüdend genug, mochten fie immerhin meiftens ſchriftlich firirt und auch infofern erträglicher fein, als der berechtigte Guts⸗ Herr nicht noch obenein, wie im Oſten, ſtaatliche Rechte befaß. Im Ganzen betrachtet, ftand das mindenfche Kammer-Departement dem Often näher als Die beiden weftlichen Nachbarprovinzen Kleve und Marl. Der Eigenbehörige, wie er genannt ‚wurde, hatte dem Gutsherrn die herfümmlichen Dienfte zu Leiften, unter denen das Geſetz befonders die Fuhren zwei Meilen weit vom Hofe des Herrn namhaft machte. Beim Gutsherrn ſtand es, ob er die Dienſte in Natura oder ein Aequivalent in Geld nehmen wollte; für die Dienſte felbft gab es feinen Lohn. Hatte demnach der Gutsherr feinen Vortheil von der vorhandenen Bevölkerung, fo forgte da8 Geſetz umgelehrt aud dafür, dag nicht etwa eine Uebervölkerung auf dem Hofe entitand. „Hat ein igenbehöriger viel Söhne und Töchter, fo erwachſen und zu dienen tüchtig fein, fo erfordern nicht allein des Herrn, fondern aud ihr eigen Beſtes, daß fie die Eltern, ſofern fie derfelben nicht benöthigt find, von fih thun und bei Fremden innerhalb Landes dienen und zur Arbeit angemwöhnen laflen: al worauf der Gutäherr mit zu jehen hat, damit nicht unnöthige Leute auf dem Hofe fein und derfelben Unterhalt ſolchem zur Laſt falle.” Dem Gutsheren ftand gegenüber allen Cigenbehörigen das Recht der „leichten Züchtigung“ zu. Wollte der Eigenbehörige Geld auf die Stätte feihen, fo hatte er die Einwilligung des Herrn einzuholen. Die Eigen- behörige, die unehelich gebar, hatte dem Gutsherrn den fogenannten Bettmund mit vier, ſechs oder acht Thalern zu bezahlen: eine Abgabe, deren ſich der Gefeggeber freilich ſchon einigermaßen ſchämte; denn er fügte hinzu: - „wo ed gebräuhlih und durch eine lange Obſervanz hergebracht.“ Wollte fich ein Eigenbehöriger verheirathen, fo hatte er ben Konſens des Herrn einzu⸗ holen, ihm „die Perſon, welche er heirathen wollte, vorzuftellen und, daß fie von gutem Leumund, Niemandem mit Eigenthum verwandt, auch die Stätte duch Fleiß und ein Stüd Geld zu verbefiern vermöge, darzuthun.“ ben

*) Ein Fragment aus dem Werk ‚Freiherr vom Stein‘, in dem der göttinger Hiſtoxiker die erjte detaillirte Darftelung der für die Anfänge des modernen Preußenjtaates wichtigften Zeit giebt. Der erfte Band des Werkes, das im Verlag von S. Hirzel in Leipzig erjcheint, trägt den Sondertitel „Bor der Reform. 1757 bis 1807 und wird in ben nächſten Tagen ausgegeben.

500 Die Zuhmft.

jo war die Einwilligung des Herrn erforderlich, wen der Eigenbehirg Sohn oder Tochter ausfteuern und ihnen den Brautfchag oder {mit Eier aus den Mitteln der Stätte mitgeben wollte. Bei der Annahme des eiger behörigen Erbes ſtand dem Gutsherrn die Abgabe des Weinfaufs*) zu Nur der Anerbe felbft war von ihr befreit, Braut oder Brãutigam ak, die fremd auf die Stätte famen, hatten fie zu bezahlen; fie wurde um ih peinlicher empfunden, da ihre Höhe nicht gefeglich feftftand. Au was für ſchändlichen Mißbräuchen gerade diefes Recht Anlaß gab, erhellt aus der En ſchränkung, zu der ſich felbft der den Gutsherren wahrlich nicht abgeneige Geſetzgeber veranlaft ſah: der Gutsherr müſſe jih billig finden laflen um den Anerben nicht ohne Noth von der Heirath abhalten; für den dall if nach Ablauf von zwei Jahren die Ehe noch nicht zu Stande gekommen It: und der Gutsherr fonft wider die Braut nichts einzuwenden habe, wırk der Weinkauf normirt. Nur dem Gutsheren ftand es zu, Freibriefe p ertheilen. Er nahm dafür eine willfürliche Gebühr, die oft fo groß wii daß fie die Mitgift der Freigelaffenen verfchlang; es ift vorgelommen, -f ein Gutsherr von einem hörigen Mädchen, das nichts als fünf Thalu Brautfchog hatte, für die Freilaflung mehr als das Doppelte forderte. Tu graufamfte aller Rechte aber war der Sterbfall. Starb ein Eigenbehörigt, fo fiel die Hälfte feiner fahrenden Habe dem Herrn zu, dem es wieder hr ftand, die Abgabe entweder in Natura zu beziehen oder ihren Werth ar Ihägen zu laſſen. Schulden, die etwa der Verftorbene gemacht hatte, murden nicht in Abzug gebradht: was zur Folge hatte, daß die igenbehörigen I gut wie feinen SPredit beſaßen; denn welcher Gläubiger hatte Luft, ihnen # leihen, wenn er Gefahr lief, mit feiner Forderung auszufallen?

Auch hier, wie bei dem Stapelrecht, handelte es ſich um ein Kalt dad nur noch ein hohes Alter für fich geltend machen konnte und länge Unrecht geworden war. Die Rechte der Gutsherren hatten einen vernünftiger Sinn gehabt, fo lange fie dem Hörigen Gegenleiftungen gewährten, namentlih ihm durch ihre Waffen befchirmten. Sie wurden Unfinn und Plage, MM das Schwert des Ritters eingeroftet, aus dem Ritter ein Rittergutsbeiktt geworden war und der Ehuß nicht mehr von ihm, fondern vom Landesherm gewährt wurde. Nicht Iange nach dem Iegten Aufgebot der Rittergeſchwader— am Anfang des achtzcehnten Jahrhunderts, begannen die agrarifcgen Rekormen in den weitfälifchen Territorien der Krone Preußen. Es Tiegt in dr M der Dinge begründet, daß neue politifche Ideen leichter bei einzelne Etehenden Eingang finden als bei Storporationen; ber Mächtige erlaı

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*) So genannt von dem Wein, der zur Beitätigung des Peru trıınlen wurde.

Aus der Zeit der Hörigkeit. 501

ben Berluft, den ihm eine Reform auferlegt, bald anderswo einen Erfag, den der Ohnmächtige und Unbemittelte nur durch fremden Beiftand gewinnt. In dem Etatsjahr 1722/, erfegte Friedrich Wilhelm I. auf feinen Domänen Weinfauf und Sterbfall durch eine jährliche Abgabe; an bie Stelle dir ungewiſſen, unberechenbaren und deshalb doppelt empfindlichen großen Leiftung trat, als eine Art Verficherungprämie, die befcheidene regelmäßige Leiftung: höchſtens 22/3 Grofchen, wenigftens 22/, Pfennige von jedem Morgen. - Miochte fie auch nicht ganz gerecht vertheilt worden fein: es war eine unleug⸗ bare Berbefferung.

Schwieriger war die Lage bei den Eigenbehörigen der Rittergutäbeliger. Denn deren Rechte, eine nicht unerhebliche Einnahmequelle*), galten als un: antaftbares Privateigenthbum**) und außerdem beftand ein fonftitutionelles Hindernig. Die Stände von Minden, übrigens nur noch aus Abeligen bes ftehend, Tamen nicht, wie der Landtag von Kleve⸗Mark, alljährlich zur Prüfung des Budgets zufammen; immerhin war ihnen, wie wir fchon fahen, das Recht geblieben, neue Steuern zu bewilligen und bei neuen Gefegen mit— zumwirfen: fo beftimmte e8 der Homagialrezef von 1650, der beim Weber: gang an Brandenburg zu Stande gelommen und feitdem, wie alle diefe Grundgefege, von jedem neuen Monarchen beflätigt war. So wirkten denn die Stände mit bei ber Cigenthumsordnung, die 1741 für Minden und Ravensberg erging. Da fie im Wefentlichen das biöherige den Hörigen fo ungünftige Recht kodifizirte, fo regte fi bald die Kritik. Diefe hatte zu- nächft die Wirkung, daß die Gutsherren von ihren Rechten nicht mehr den äuferften Gebrauch machten; es findet fih das Wort, fie feien milder als das Geſetz. Weiter erflärten jie fich (zuerft die Domlapitnlaren, dann die Stände von Minden überhaupt) bereit, die fchwerften Laſten ihrer Eigen- behörigen auch gefeglich zu erleichtern, indem fie vorfchlugen, nad) dem Vor: bilde der Domänen die fogenannten unbeflimmten Gefälle zu firiren. Doc) jollte Das nicht gefchehen, ohne dar ihnen dabei neue Bortheile zufielen. An die Stelle des Sterbfalles und des Weinkaufes follte die Hälfte des

*) Es iſt jogar behauptet worden, daß die adeligen Herren „ihre Sub— ſiſtanee faſt allein aus den Eigenthumsgefällen zögen”. Spannagel S. 176.

**) Publikandum, Berlin, fünften September 1794 (Novum Corpus Con- stitutionum Prussico-Brandenburgensium 9, 2397): „So fünnen und werden auch S. K. Dlajeität ben Gutsherrichaften die von ihren Unterthanen zu fordern habende Hofedienjte, die ihr Eigenthum find, die fie rechtmäßig erworben haben und deren fie zur Fortſetzung ihrer Wirthichaften nicht entbehren können, nun und nimmermehr durch einen Machtſpruch entziehen oder die Gut3herrichaften nie nöthigen, auf diefen Dienſt Verzicht zu thun oder dieſelben wider ihren Willen in Dienjtgelder zu verwandeln.”

502 Die Zukunft.

Reinertrages der eigenbehörigen Stätte treten; beim Freilauf follten 10 vu zent de8 Brautfchages, mindeftens aber & Thaler bezahlt werben; um gm Entwerthung gejihert zu fein, forderten die Betenten, daß daS Jade Duantum in Roggen entrichtet werde; enblich verlangten fie, der Staat mögt den Gutsherren die Gerichtsbarkeit über ihre Hörigen, die er hier anded als in den öftlichen Provinzen ſelbſt ausübte, überlaffen. Das wars Poftulate, die in ihrer Gefammtheit das Maß der Billigkeit fo überfliege, dat man faft zweifeln follte, ob fie völlig ernft gemeint waren. Über d waren die felben Stände, die den wahrlich nicht übertriebenen Reformen ie neuen Geſetzbuches, das den preußifchen Staat vom Gemeinen Recht emp pirte, heftig opponirten und ſich auch fonft durch engherzige Geſinnung me vortheilhaft außzeichneten. Weiter erſchwert wurde die Lage dadurch, dei innerhalb der königlichen Behörden felbft Dleinungverfchiebenheiten beftaubr Ein Theil behauptete übereinftimmend mit einer wiederholt geäußerten ftändiiga Marime, daß die Sache fich überhaupt nicht zu einer gefetlichen Regelum eigne; da es jih um Rechte von Einzelnen handle, fo könne die Firm nur duch ein gäütliches Abkommen zwifchen Herren und Hörigen erfolge Die „Regirung“ von Minden, wie die meiften Provinzial Juftizbehörde den ftändifchen Anfprücen günftiger als die Kammern, erklärte gar, de Firirung fei überflüſſig. Darüber war nicht nur das nene Allgemeine Geſer buch vollendet, e8 war auch da8 Provinzial: Gefegbuh für Minden mm Ravensberg in Angriff genommen, das die bejonderen Eigenthünlichkeits diefer Provinzen kodifiziren follte: eine neue Eigenthumd- Ordnung wur bearbeitet. Der Hörigen bemächtigte ſich die Beforgniß, daß hier ihre ungüuſtige Rechtslage verewigt werden möchte, und in ber That erklärte ber höde Fuitizbeamte des Staates, Großkanzler Carmer, es fei nicht eigentlich dr Abſicht, ein neues Geſetz für den Bauernitand zu machen, ſondern nut, die Dunfelheit und Unvolljtändigfeit ber bisherigen Eigenthumsordnung # erklären und zu ergänzen. Gleichzeitig aber rüdten von Welten her Shen und Gefege, die dem Freiheitbeitrebungen der niederen Stände günſtig wart, in faft greifbare Nähe und machten überall den tiefften Eindrud.*) Se Wunder, daß die Zahl der Abhilfe heifchenden Vetitionen, die aus dieſen Streifen an die Behörden gelangten, beftändig zunahm. Die adeligen Her ſchlugen ſelbſt vor, einige Deputirte des Bauernſtandes zu hören, und der

*) In der Altmark z. B. verbreitete ſich im Sommer 1794 die Nad kr daß der König die Natural-Hofdiente der Unterthanen aufgehoben habe. Mi Gemeinden, namentlih auf den Gütern der Alvensleben und Sculent $ traten zuſammen und beriethen über die Mittel, wie die Befreiung durczni fei; eine Gemeinde fagte den Dienſt geradezu auf. ©, die Dokument 7 Novum Corpus Constitutionum 9, 2395 ff.

Aus der Zeit der Hörigkeit. 5083

damalige Präjident der mindenfhen Kammer, Steind Vorgänger, pflichtete "ihnen bei. Dem aber wiberfegte fich heftig die mindenfche Regirung, mit der Wirkung, dag nun auch der Sfammerpräfident e3 bedenklich fand, bei den gegenmärtigen Zeitläuften die Hörigen zufanımenzurufen und votiren zu laſſen. Eben jo wenig wollten die Minifter, Carmer und Heinig, Etwas von der dee wiſſen. armer erörterte: der Bauernftand habe nun einmal in Minden feine ftändifchen Rechte; eine Aenderung diefer Berfafiung könne nur mit der äußerjten Borjicht und nicht ohne Befragung der übrigen Stände » vorbereitet werden; dagegen müfje man von den Föniglichen Behörden voraus: ſetzen, daß fie eben deshalb, weil der Bauernftand nicht repräfentirt fei, defto mehr bemüht fein würden, Webergriffe der anderen Stände abzumehren. Faft noch ftärker war die Abneigung von Heinig, der nicht einmal zulaſſen wollte, dag ein Mitglied der Sammer den Auftrag befäme, die Eigenbehörigen zu tepräfentiren.*) Nach dem Grunbfag: nicht? duch das Volk, aber möglichft viel für das Bolf, entfchieden ſchließlich es war die Epoche, da die Franzofen an den Rhein vordrangen die beiden höchſten in Betracht kommenden Kollegien de3 Staates, | daß die von den Eigenbehörigen der „Privatguts- herren“ nachgeficchte Fixirung ihrer ungewiffen Eigenthumsabgaben erfolgen Tolle. Ueber die Ausführung im Einzelnen feien die zum Korpus der Stände gehörenden Gutsbeſitzer zwar zu hören, aber nur in ihrer Eigenfchaft als Stände, nicht als Individuen. Damit ſchien nun die Sache erledigt: Aber in der Konferenz, die auffallender Weile erſt Monate nach wiederhergeftelltem Frieden ftattfand, wiederholten die Stände ihre alten übermüthigen Forderungen und Niemand von den anweſenden Beamten des Staates beſaß den Muth, ihnen entgegenzutreten. Wer anders blieb für die Geplagten übrig als der Monarch? Als Friedrich Wilhelm I. im Sommer 1797 in Pyrmont weilte, um dort Heilung zu fuchen für fein in Wahrheit unheilbares Leiden, über- reichten ihm Deputirte der hörigen Privatbauern, mitten unter ben raufchenden Feſten einer verſchwenderiſchen Hofhaltung, eine Bittfchrift, die die Einführung einer jährlichen Abgabe für die aufzuhebende LXeibeigenfchaft, befonder3 für Sterbfall, Weinkauf und Freilauf begehrte.

Göttingen. Ä Profeflor Dr. Mar Lehmann. *) Er meinte, daß „biefe Art Leute der Erfahrung nad) wähnen würden, daß fie aufgefordert wären ober jetzt die Gelegenheit vorhanden fei, mehrere-

Rechte oder Nachgebungen, als ihnen zufommen und bewilligt werden können, zu verlangen oder gar zu erzwingen”.

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304 Die Zukunft.

Medizinische Moden.

SD Weifen finden fich Heutzutage mit den ſich zum Prophetenamt berufra Slaubenden in dem Gefügl zufammen, daß wir Aerzte in umjere Kunft in unferer Wiffenfchaft noch nicht fo ganz wieder einmal dit vor einem der Wendepunfte ftehen, an denen unſere Berufsgefchichte fo reich iſt. Da liegt denn Einem, der fo lange mitthut wie ih ich bin ia dreißig Jahren Arzt die Berfuhung nah, einen Rückblick zu wagen md fich jelbft und dem geringen Theil zuhörender Mitwelt einen Rechenſchait bericht zu erftatten. Aerztliche oder, wie man heute lieber fagt: mm zimfche Geſchichte ift leider ja ein Liebhaberſtudium geblieben; das Bemühe, fie freuz und quer zu durchforfchen, wird wie eine Gelehrtenfchrulle beläcklt. Das ift zu bedauern. Denn wenige Disziplinen hätten jo nöthig wie gerad die Medizin, aus der Gefchichte zu lernen, fei e8 auch nur, um mit Fauſt, dem Sohn eines Modedoktors, zu fehen, „daß wir nichts willen können“, und zu erfahren, wie kluge Leute durch Schaden oft noch klüger geworden find.

Wer nun nicht die Zeit oder die Yähigfeit zum SHiftoriographen bat und ih befenne offen, daß Beides mir fehlt —, Der muß ſich, wenn a überhaupt das Wort ergreift, begnügen, die Gefchichte in Gefchichten vor: zutragen, nicht fyftematilch, ſondern aphoriftifch, auf die Gefahr, nicht ober eigene Schuld mifverftanden zu werden. Trotz den üblen Erfahrungen, di ich gerade in Iegter Zeit wieder einmal mit einer feltfamen Art wiſſenſchait⸗ licher Vorausſetzungloſigkeit und mit einer Ethik machen mußte, die mir oft einen doppelten Boden zu haben fchien, möchte ich den Verſuch folcher Tar: ftellung nicht fcheuen. Auch in Deutfchland wird e8 noch immer ja Menides geben, die ihren Nächten nicht nach den über ihn berumgetragenen Legenden beurtheilen, ſondern vorurtheillos auf Das hören, was er in guter Abſicht ihnen zu ſagen trachtet. Meine gute Abjicht ift, wie die vieler Anderen vor mir, einft mit dem ſtolzen Bewußtſein ausgezogen, das Ungeheuer Publikum fdnel überwinden zu können. Wie e8 mir dabei erging, wie und wo die Abſicht ſchließlich landete: davon will ih hier Einiges erzählen.

In der Medizin id gebrauche das eingebürgerte Wort, ohne & als eine unfere Berufsthätigkeit deckende Bezeichnnng anzuerfennen herrichen Diode und Veethode faſt noch unumſchränkter als auf anderen Gebieten. Ih bin fein Sprachforſcher, kann mich weder mit Stumpf noch mit Mau 7 meſſen und will deshalb gar nicht erſt verſuchen, dem Urſprung biefert # allmächtigen Wörter, die mir nicht nur im Klang ähnlich ſcheinen, ı nachzuſpüren. Was ich darüber fagen könnte, wird Jeder leicht bei ! 7 oder bei Brockhaus finden,

Wie Dioden entftchen? Man follte die Inhaber großer Sd..

Mediziniſche Moden. 505

geſchäfte einmal darüber in einer Enquete vernehmen. Charakteriſtiſch iſt, daß die Moden fcheinbar ganz unvermittelt und ohne zureichenden Grund in die Erſcheinung treten, al3 wären fie ohne überfommene Entwickelung und aud nicht aus der ein Ziel fucheriden Erwägung des Einzelnen geboren, fondern mit einem Schlage der Zufallslaune willfürlich wechfelnden Tages: lärmens entfprungen. Ich fage: fcheinbar, denn feine Wurzeln, weitabgelegene Zufammenhänge werden bei eifrigem Suchen immer zu finden jein. Im eriten Augenblid klingt e8 beinahe wie ein Paradoron, wenn man von Moden in der Medizin fprechen hört. Man fann fih nur ſchwer zu der Vor- ftellung zwingen, daß ein Lebensgebiet, in deſſen Boden fo uralte Wurzeln ruhen, Willfürlichfeiten auögefegt fein foll, die aus Illogismen der äußeren MWerdegänge, aus zufälliger Laune einer Epoche ftammen. Heilkunde, ärztliche Kunft und Wiffenfchaft find höher differenzirte Aeußerungen altruiftifcher Triebe, die auf Feldern blühen, wo Schugbedürftigfeit neben Nächftenliebe, Bernunft neben Humanität, Xoleranz bei primitivfter Sittlichleit dem Boden vor Aeonen urbar gemachten Mutterlandes eutfpriegen. Wenn die Aehren diefer Felder jedem leifen Hauch ich neigen, der die atmoſphäriſchen Schwankungen des Menjchheittages ausgleicht, fo muß man folche Unficherheit beklagen. Nicht an Reformationen oder Revolutionen denke ich dabei, fondern an die Einwirkung zufammenhanglofer Willfürlichfeiten; nicht an Aenderungen der Aggregatzuftände, fondern an Wallungen, Maſſenverſchiebungen, die dadurch entftehen, dag aus mehr oder minder tiefgelegenen Schichten Blafen an die Oberflädye geworfen werden, Phänomene, denen ein Augenblicksleben beſtimmt ift.

Begeben wir, um im Vergleich zu lernen, ung auf ein Nachbargebiet. Der Kultus der Furcht, die Domäne der religiöfen jetzt beinahe auch ſchon ber „mediziniſchen“ Bedürfniffe kann und manches Nügliche er— fennen Ichren. An Naturereigniffen, wenn ich fie fo nennen darf, an Um— wälzungen aller Art hat es hier nicht gefehlt und Grundpfeiler, die man für unerfchütterlich hielt, find im Lauf der Zeiten geftürzt. Auch Gegen: fäge, die den außen Etehenden geringfügig fcheinen, haben zu erniten Kon— fliften geführt. Die eine Religiongenofjenichaft giebt ihrer Andacht dadurch Ausdrud, daß Nie, nad) ihren Ritus, das Haupt entblößt, die andere dadurch, daß ſie e8 verhüllt. Die Einen glauben fi ihrem Gott näher, wenn fie im Freien, die Anderen, wenn fie in Paläften ihın opfern. Der braudt Blut, Diefer Wein, Jener Wein und Brot für den Altardienftl. Hier wird der Gottesbegriff in Hundert, dort in taufend, da nur im drei Stategorien ge- fpalten und von einer vierten Seite wird die Einheit gepredigt. Um folche Verſchiedenheiten find langwierige Kriege geführt, Länder verwüſtet worden; ganze Epochen haben davon das Gepräge empfangen. Wer aber ficht Heute noh eine zwingende Nothwendigkeit, die den Prieſter, das ausführende

506 Die Zulkunft.

Organ, veranlaffen müßte, eine Monſtranz heute mit ber rechten, morgen mit der linfen Hand feiner Gemeinde barzubieten, heute eim langes, mergr ein kurzes, ‘ein rothes, ein grünes Gewand anzulegen?

Bor ähnlichen Räthfeln ftehen wir in der Medizin. Nochmald: ı rede nicht von Ummälzungen, auch nicht von Heinen Korrekturen, die te Kampf um die Erlenntniß in fchütternden Wehen geboren ober in tägliche Erfahrung Pfennig vor Pfennig zufammengefpart hat. Nicht einmal der gewaltige Exbfolgefrieg zwifchen Klyſtier und Aderlaß auf der einen, Chem und Sezirtifch auf der anderen Seite foll hier erwähnt werben; und vos Mikroſkop, Röntgenftrahlen, Spektralanalyfe will ich jet nicht reden. Sea wollen wir nur, wie das Handeln des Arztes beftimmt wird durch vermein liche Nöthigungen, die nicht aus logiſch entwidelten Wechſelwirkungen m fiehen, fondern aus heute geborenen, morgen vermorfenen Forderungen.

Betrachten wir die Mode xar’ zgoxriv, die aus taufend befannten unbelannten Gründen in den verfchiedenen Zeitabfchnitten mit verfchiedene Schnelligleit wechfelnde Form unferer Kleidung. Es ift nicht ſchwer, im fehen, daß ein nen auftauchendes Kleidungſtück, daß oft fchon der weris derte Schnitt der Gewänder Folgen für das Gleichgewicht des Organisur haben und damit den Arzt zu veränderten Anordnungen drängen kann. Te befanntefte Beifpiel bietet uns das Korſet. Bevor diefes merkwürdig, anfangs als ftügendes Gerüft für budlige Weiber erdachte Schönheitmitkl in die Mode kam, war ein Theil jener Vorgänge am weiblichen Eingemde trat und Nervenſyſtem unbelannt, die wir heute auß der Schnürfeber folgen zu müſſen glauben, und die damaligen Aerzte mußten viele Erſcheinmga. die wir heute auf dieſem bequemen Wege und erflären, ihrem Verſtändnij auf ganz andere Art zugänglich zu machen fuchen. Denn wie gefährfid; und aud daS leidige Mieder fcheint: wir hätten Scheuflappen vor den Auge wenn wir glaubten, daß all die Frauenleiden, Blutarmuth, Nervenſchwäch, Berdauungftörung, die wir oft durd) das bloße Korſetverbot befeitigen, vor ber Korſetmode nicht ſchon aus anderen Urfachen beftanden hätten. De ift ein Beifpiel für viele. Ale Sleidungftüde, die eine wenn aud noch fo Heine Wenderung im Blutumlauf veranlaffen: der Gurt, der Hemb tragen, der Hofenträger des Diannes, der enge, ber ſpitze, der hochhadigt Schuh, alle auch, die eine plögliche Aenderung im Kontakt der Haut mi "" atmofphärifchen Einflüffen herbeiführen: Hut, Haartracht (Chignon!), Ta F ausfchnitt, Krinoline, Handſchuh, Größe des Sonnenſchirmes, Schleier, | ? die Größe und Befchaffenheit unferer Wohnräume und Möbel: das 3 und vieles Andere kann von einem zum anderen Tage den Arzt vor ! Aufgaben ftellen. Wenn ih noch darauf hinmweife, daß Moden des g ſchaftlichen Zuſammenlebens, Zeitdauer und Schauplatz ber Gefelir »

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Mediziniſche Moden. 507

Aufenthalt im gefchloffenen, gut oder fchlecht gelüfteten Räumen, Theatern Salons, Wirthshäuſern, Sportmoden mit Bewegung in Freien, Alpinismus, Moden im Eſſen und Trinken, Rauchen und Schnupfen, Alkohol, Thee, Kaffee, Coca, Aether, Morphium und taufend andere jofort ſich kundgebende oder erſt langſam ſichtbar werdende Beeinfluſſungen des Organismus heute oder morgen zu bis dahin unbekannten Phänomenen des geſtörten Gleich: gewichtes führen fünnen, fo habe ich Einzelnes von dem Vielen erwähnt, daS die Grenzen ärztlicher Berhätigung immer wieder verrüdt.

Die Abhängigkeit des Arztes vom Publifum, die im Verkehr mit dem Kranken des Arztes Stellung herunterdrüdt, hat aber noch andere Folgen gehabt. In den Tageszeitungen, in Auffägen über die Fortichritte der Hygiene, in ftatiftiichen und nationalöfonomifchen Betrachtungen über gewiſſe Zurusanfprücde, in Gefchäftsberichten induftrieller Unternehmungen findet nıan Lobgeſänge auf die ins Ungeheure wachfende Steigerung des Bäderbefuches und der über die finfterften Mächte fiegende Menfchengeift wird gepriejen, weil ganze Orte von Badereifenden eben und die Aktien chemifcher Fabriken Hoch über Pari fichen. Das mag, als eine Förderung des Wohlftandes und menschlichen Selbjtbemußtfeins, ja auch nicht ohne gewifien Nutzen jein. Wer aber mit dem Lichtſtümpfchen Erkenntniß fuchender Vernunft dieſe Dinge beleuchtet, sicht doch auch mächtige Schatten von all dem Glanz ausgehrn. Es ijt damit wie mit den von Tag zu Tag in reicherer Fülle vom Briefträger Unfereinem ins Haus gebrachten, bald fettleibigen, bald ſchlanken, ſtets aber elegant gefleideten Brochuren, den Korintherbriefen, mit denen die Chemilalien- fabrifen und Droguiften den Arzt beehren: nicht auf Namen und Slcid, jondern auf den Inhalt kommt e8 an. Wie oft handelt es fi nur um die Mode diefed Jahres, vielleicht diejes Quartals! Mag fein, daß eine „Heils quelle“ aud) jo ein blendendes, leeres Wort! auf den menſchlichen Organismus einen nod) nirgends befriedrigend erklärten günftigen Ein fluß übt. Man mag auch im Fund einer glücklichen Eyntheje, meinetwegen im Antipyrin, ein meltgejchichtlicheS Ereigniß ſehen. Wer aber iſt jo blind im Glauben, daß er annehmen könnte, diefe oder jene Heilquelle fei wirklich in all den Millionen Fällen der unumgänglid; nothwendige Faktor für die Wieberheritellung des Gleichgewichtes, all die gefchrumpften Lebern, die ver= fetteten Nieren und Herzen, verkalkten Gefäße oder Gelenke kehrten in den ges wünfchten Zuftand der Integrität zurüd unter dem Einfluß heißen oder falzigen Brunnenwaſſers? Sole „Heilung“ follte nur in einem Modebab möglich und nicht auch auf anderem. Wege zu erreichen fein? Im einzelnen Tall wird der kluge Skeptiker antworten: Sch weiß es nicht. Wer aber generell jagt, gewiſſe Kranke feien nur an bejtinunten Orten mit Erfolg zu behandelıt, Ter dankt als Arzt ab. Wir Alle haben in ſehr vielen Fällen gefehen, dar

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508 Die Zukunft.

e3 aud ohne Modebad geht, und in noch häufigeren, daß auch das Modekad

nicht die erhoffte Heilung bringt. Wenn ich an den von WBadedireftioıe und Droguiften aufgeitellten Fetijch glaubte, würde ich licher heute als morge Sozialdemokrat werden; denn eine Geiellichaftordnung, die nur dem Reicta der ind Bad reifen und theure „Mittel“ bezahlen fann, die Möglichler x Geſundung gewährt, hätte feinen Anſpruch auf längeres Beſtehen. Juı Glück ift aber der Prachtkerl, der in Wildenbruchs „Haubenlerde* ee Franken alten rau predigt, nur wenn ſie da8 Geld zu einer Badereiſe hirt könnte jie gefund werden, eine fomijche Figur. Und komisch kommen Alle vor, die den Namen der „Krankheit“ ſchnurſtracks mir dem Namen td Bades beantworten, das unfehlbar helfen müſſe. So einfady wie im Anti: maten, der nach der Nickelſpende jofort mit der Tafel Chokolade aufment erledigt ſich die Pflege leidender Menſchen natura sanat, medicus curat- denn doch felbft heute noch nit.

Jahrhunderte lang war die damals noch teleologifch geiinnte Menc heit dem Schöpfer des AUS dankbar dafür, daß er im fernen Amerika er Baunı gepflanzt habe, deſſen Ninde das kalte Fieber „heile“. Nach und uk aber lernte der Menſch auch diefe „Wohlthat der Natur“ entbehren. &: Knorrs Verfuhen waren wir auf die Geberlaune des Lieben Gottes mt mehr angewiefen: wir verfchafften uns die Vortheile feiner antipyretüdt: Gaben aus eigener Kraft. Wir konnten ſchließlich ſogar Temperatime herunterfegen. Damit aber war der Ehrgeiz de8 homo sapiens nod mi befriedigt. Phenazetin, Kairin, Salipyrin, Antifebrin, Laktophenin, Pau: midol, Analgeiin, Wigränin e tutti quanti wurden erfunden. Und as wir zwanzig Jahre lang Temperaturen herabgefegt hatten, Kamen wir dahinter. dar wir auf dem Holzweg geweſen waren und daß e8 für den Kranken mit beſſer ift, wenn wir jeine gefteigerte Temperatur nicht herabfegen; denn mt haben in diefer Erhöhung der Temperaturgrade eine Steigerung der organiide Lebensvorgänge zu ſehen, die cher zu unterftügen als zu unterbrüden it

Nun Tann man mir fagen: „Was fällt Ihnen ein, diefes Schmanfe dieſes Hin und Zurück in unferer Erkenntniß mit Launen vergleichen a wollen, die heute Frackſchöße lang wachſen laſſen, um fie morgen wie zu Stugen? Das Beſſere iſt eben der Feind des Guten; umd Irren ı menſchlich.“ Ganz fchön; aber ich frage, wie die Kriminaliſten: cui no! Tie Erfindung des Antipyrins hat das Chinin fo verbilligt, daß fi. 19 jeder Bauer fein Gramm Chinin im Topf haben kann. Jetzt hat N erkannt, dag Cure Erfindung nicht von der fegenreichen Tragweite dit

Ihr geträumt hattet. Habt Ihr nun die praftifchen und wiſſenſche cn

Konſequenzen daraus gezogen? Wein: noch immer werden die rau t heute lang und morgen Furz getragen, wird heute Phenazetin y*

Medizinifche Moden. 509

Zaftophenin verordnet. Kein vernünftiger Arzt kann in diefen Mitteln eine dauernde, unentbehrliche Bereicherung des Arzeneiſchatzes fehen. Jeder aber bat mit feinem Mittel „die beiten Erfahrungen gemacht”. Und fo läuft

der eine Theil der Aerzte nebit dem Kranlengefolge dem Eulaktol, Euchinin,

Piperazin, Sozojodol, der andere dem Protargol, dem Itrol, dem Argentan nach Der Frack wird weiter nach der Mode geſchnitten. Um dieſe Be— hauptungen mit weiteren Beweiſen zu belegen, brauchte man nur den Katalog einer beliebigen chemifchen Fabrik vorzulefen. Soll aber die Heilfunde eine In— duftrie fein und nicht da3 Wirken eines Nebenmenfchen für und auf den Anderen?

Soll id) noch mehr Moden nennen? Es war Mode, „Medizin zu ftudiren“; dann gehörte es zum guten Ton, „lich als Spezialiften niederzu- fallen”; Mancer macht die Mode mit, die Sommermonate hindurch in einem Dade zu praftiziren und während des Winters im Lande umberzuziehen, bei den Stollegen feine Aufwartung zu machen und ſie um Lieferung von Patienten zu bitten. Soll ich von den Apothefermoden fprechen? Oder von der Mode, einem grogen Arzt ein paar Wenferlichkeiten abzuguden und diefe Errungenſchaft dann ſelbſtbewußt und marktichreierifch als neues Heilverfahren zu verfünden?

Alle Ehrfurcht und Bewunderung, die wir für die wirklich brauch— baren, wirklich bedeutenden Keiftungen der Wiſſenſchaft hegen, darf uns nicht abhalten, auf Mißſtände Hinzumeifen und frei von der Leber über “Dinge zu reden, die unferen Stand fchänden, unfere Vertrauenswürdigkeit unter- grahen und nur Denen Nugen bringen, die man oft mit Recht, doc) nicht inınter mit genügender Selbitfritit „Piufcher* nennt. Nie ift mir der aberwigige Einfall gekommen, die Wilfenfchaft, der wir unferes Denkens Baſis verdanken, herabzuſetzen. Sch habe ſelbſt viel zu lange ftreng wiffen: Ichaftlich gearbeitet und mich für folche Arbeit ſchon vor einem Biertel- jahrhundert fogar, woran ich fachliche, nicht Ichimpfluftige Gegner dod einmal erinnern möd)te, des von Virchow gefpendeten Urtheil8 zu erfreuen gehabt —, als dar ich daran denfen könnte, mein eigenes Neft zu befhmugen. Erſt der Flug aus dem Neſt aber lehrt den jungen Bogel die Welt feines Wirken kennen. So macht auch die Praris, die täglich die Schulweisheit korrigirt und individuell anzınvenden zwingt, erft den Arzt. Das Gefhichtchen von dem Meifter unſeres Wiffenfchaftfaches, der feinem Droſchkenkutſcher rieth, nit der verlegten Hand einen Arzt aufzufuchen, iſt mehr als ein Scherz; und der Ehrentitel des „praftifchen"“ Arztes will, wenn er auch vorher ſchon auf dem Mejiingichild fteht, erft im Sanıpf des Lebens gewonnen fein.

Die Medizin, heißt c3, fei eine erafte Wiflenfchaft. Zum Begriff der Erafiheit gehört doch vor Allem aber das vollkommene Aufgeben des Sub- jektivismus, gehört die Möglichkeit, eine allgemeine, abfolut giltige Norm aufzuftellen. Das aber ift in unferer Kunſt nicht zu erreichen. Internationale

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510 Die Zukunft.

Konventionen können Gericht und Maß regeln, den Preis von Gol ın Silber, die Bedingungen der Juderproduftion feftfegen, die Kalenderordumz ändern, die gemeinjfame Verfolgung beftimmter Berbrechensarten beichliere, rene Ideale aufitellen, alte neu herausftaffiren, Sittlichfeitiwerthe prägen um ihrer Münze das Monopol fihern. Kein Kongreß aber, fein Bertrag an fein Ukas Tann beftimmen, zu welchem präzifen Zeitpunkt eine Gleihgemdi- flörung an irgend einem Drgan ihre Merkmale jo wechlelt, daß fie aus da Kategorie der afuten in die der chronifchen Affektionen übergeht. Wohl ir der Tag ſich beftimmen, an bem der Soldat aus Reihe und Glied m de Neferve tritt, der Arbeiter Anfpruch auf Invalitenlopn hat. Aber mi einmal für den Eintritt von Sommer und Winter können wir eine folk Verfügung erlafien, trogdem wir über die fosmifchen Vorgänge dod ni gut unterrichtet find. Und noch weniger jind Borausbeftimmungen, methotiz Berechnungen da möglich, wo es fih um Menfchen handelt, deren individut⸗ Verhältniffe uns felbjt bei genauer Bekanntſchaft oft genug noch Rätt aufgeben. Ich ſcheue mich nicht, offen zu fagen: Die Medizin ijt fm exakte Wifjenjhaft und ihre Methoden können nur jo lange auf Erafıke Anfpruch machen, wie fie am toten Material ausgeprobt werben. In de Praris verfagen fie fehr häufig und nur fritiflofer Glaube wird auf % ſchwören. Ein Beifpiel. Die Wörter „akut“ und „hronifch“ follen Zufänk im Ablauf von Störungen bezeichnen, deren Charakteriftif an ſich belam it. Dan ift übereingefonmen, eine Affektion bi8 zur Dauer von ungelä ſechs Wochen afut, darüber hinaus chronifch zu nennen. Wenn ein Schuupa aber vier Wochen dauert, ift er doch wohl ſchon chronisch; und Zuyrus Rungenentzändung, Scharlach find in der achten Woche ihrem Charakter nao noch eben fo akut wie in der eriten. Das zeigt die Unzulänglichfeit eint Terminologie, die in allen Methoden ja eine große Wolle fpielt.

An dem bequemen Geländer der Methoden findet der praftiide Ay nur höchſt felten einen feiten Halt. Wer fie, .für den Gebrauch im Krantım zimmer, wicht im Laboratorium, erfinden will, ſchöpft ins lecke Faß Mt Danaiden und darf ſich nicht wundern, wenn er in der Fieberhige ſchließlih verſchmachten muß. Und felbit int reinen Aether der Theorie fahen wit wenn ein Pfeiler der Gefammtanfhauung ind Wanken gerieth, fo oit eint ganze, für felfenfeft gehaltene Methodologie zufammenftürzen, dag man bei— nahe ſchon von Methodenmoden fprechen fünnte. Nie aber, fcheint mi fſ. feit den Tagen der „Dredapothefe* und der Harnbejchauer, der pral Werih der Methoden fo maßlos überfhäst worden wie heutzutage ' find fo weit gefommen, dat Aerzte, die den Kranken nie geſehen haben, behandelnden Kollegen vorwerfen, er habe gegen das Geſetz der Merhod ſandigt. Sie wiſſen nicht, ob die befonderen DVerhältniffe diefes Ma ®

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Medizinifche Dioden 511

Weibes, Kindes nicht einen chirurgiſchen Eingrifſ, überhaupt jedes ſchroffe Vorgehen verboten; aber fie ſagen mit dreiſter Stirn: Der hat nicht ges ſchnitten! Ad bestias! Er ift ein Ketzer, denn er hat gegen die heilige Methode verftogen. Der von ſolchem Bannfluch Getroffene kann ſich dann nur mit dem Bemuftjein tröften, dag er dem Kranken, fo weit ers ver: mochte, geholfen hat. ‚Und darauf kommt es ſchließlich dod) eher am ala auf den Stadavergehorfam gegen die von der Mode gefrönten Methodologen. Wer von einer Methodologie redet, macht jich feiner Webertreibung ſchuldig. Die Zahl der Methoden ift Legion: Allo: und Homdopathie, Hydro, Elektro-, Drganotherapie, phyiitalifche, hypnotiſche, diätetifche Methode, wer nennt all die Namen! Hatte die Empirie zuerft, meinetwegen mit Hilfe der Inſtinkte und Deffen, was man Zufall zu nennen gemöhnt ift, gelehrt, wie man Wunden reinigt, verbindet, einen eingedrungenen Fremdkörper ent: fernt, fo gefellte ſich bei auffteigender Dententwidelung das Bedürfnik hinzu, die Kauſalität zu erkennen, aus der Wirkung auf die Urfache zu fchliegen und diefe Urjache zu befeitigen oder unfchädlich zu machen. Heute haben unjere Behandlungmethoden fich taufendfach differenzirt und unfere Erkenntniß— "meihoden haben jchon ihre eigene Gefchichte. Sie kommen und gehen mit dein Tage, leiften faft alle gleih Gutes und bleiben alle den an fie ge= Inüpften Hoffnungen einen mehr minder großen Reſt ſchuldig. Natürlic. Denn in jedem einzelnen Fall wäre das von ber Methode Empfohlene je nach den individuellen Befund zu modifiziren, und daran fehltS mand)= mal. Nicht die Methode aber, fondern das Hinifche Bild des einen be: ftiminten, in feinen perjönlichen Verhältniſſen abgegrenzten Kranken lehrt erkennen, warum diefe Urfache hier diefe Wirkung haben konnte. Die Methode erleichtert den Eclaireurdienit; doch jie ift vom Uebel, wenn ber General- ftabschef ſie, wie ein für alle künftigen Kriege gefchriebenes ftrategifches Rezept, in die Dianteltafche ftedt. Er muß den Kriegsſchauplatz vor Augen haben, die Proviantirung, Munition und die pfychiiche Beichaffenheit des Feindes kennen, che er die Entfcheidung trifft. Ale Methoden können ihn unter Umftänden zum Sieg führen. Alle Methoden können die Hebung der Kräfte eines Kranken bewirken. Nicht auf die Methode, fondern auf die Berfön: lichkeit de8 Arztes fommt es an, der jie anwendet. Men, not measures: das Wort gilt hier fo gut wie in der Politil. Wenn wir tüchtige Aerzte beranzichen, die den Muth zur Verantwortung haben und nicht ängftlich ſtets nah dem Spezialiften oder Techniker fchielen, dann brauchen wir die wiſſen— Ichaftliche Bergfexrerei nicht, die raftlo8 zur Erklimmung neuer Gipfel treibt. Sehr oft ftellt fi dann heraus, dag diele Höhen niedriger find als die vorher befannten oder daß man don ihnen mindeſtens nicht mehr fieht, als man früher ſchon fah. Daun wird fchmell wieder heruntergeflettert und in

512 Die Zukunft.

Eilmärfchen geht3 zurüd, zu den alten Methoden, die man beiier m verlaffen hätte, weil fie cum grano salis noch immer ganz jchmadhaft Ast. Um des Kaifers Bart ftreitet, wer mit Feuereifer darüber diskutirt, eb dx den Stoffwechfel fördernde reichlichere Blutzufuhr nach einzelnen Körper:

theilen durch Veſikantien oder Beitrahlung, durd einen Spiritusumih

oder ein heißes Lokalbad eher erreicht wird, ob in allen Fällen und in rien Stadium diphtherifcher Erkrankung Serumeingefprigt, der Lupus mit chemi'che

oder mechanischen Mitteln zerftört werden fol, Nur vor dem und fürde | befonderen Fall fünnen folhe Fragen ausreichend beantwortet werden. Ur

Wege führen nah Rom. Bon dem Zwed der Reife, der Ausdauer, bee Temperament, Gepäd, Vermögen der Reifenden hängt die Wahl des Weges a

Zur Bermehrung unferer Erfenntniß trägt viel weniger das Beobattn und Regiftriren der Thatfachen und Phänomene als deren Deutung md de Einſicht in ihre Zufammenhänge bei. Gerade aber die bloße Beobadtez das Negiftriren, Syſtematiſiren, Katalogijiren ift in der legten Epodk * Medizin zu fehr in den Vordergrund getreten. Jeder will etwas as fehen, Jeder etwas vor ihm noch nicht Beohachtete8 zum allgemeinen Beſe beifteuern. Zum Eichten und Aſſimiliren bleibt unferer Zeit felten zit Nur raſch vorwärts zu neuen Methoden! Diefer Drang fann der in ka Laboratorien wirkenden Schaar wiſſenſchaftlich Arbeitender Nutzen bringe, ihren Forfchereiter vor der Erfchlaffung bewahren; in der ärztlichen Frurs aber ermeift er ſich nur allzu oft als unheilvol. Er macht Moden mi muR, wenn die Mode ſich nad) kurzer Frift überlebt hat, nach neuen Methode ausjpähen, deren Folge dann wieder eine andere Mode if. Die novarıl rerum eupidi find nicht zu entbehren, vielleicht auch nicht die Werkmeitter und Norarbeiter der kliniſchen Induſtrie, für die fchon ein eigenes Handbech nöthig wäre. Der Arzt aber ſoll nicht zum Modiſten werben, der lem Kunden mit denn Schlagwort füngt: Das ift das Allerneufte!

Da ift ein Landſtrich. Der Line geht achtlos, der Andere raſtlos barübt hin, ein Dritter jagt darauf, ein Nierter bearbeitet den Boden und em |

hundertfache Frucht, ein Fünfter gräbt in die Tiefe und findet werthoole Geſtein. Das Land war das felbe, aber die Verwerthung und befonder di Menſchen waren verfcieden: daher der verfchiedene Ertrag. Auch di Methoden können ſehr verfihieden verwerthet werden. Richtig, für ge gebenen Fall paſſend wird fie nur der Arzt anwenden, der dieſes N ie würdig iſt. An folhen Nerzten fehlt es nicht; aber fie danfen ie mi nicht der Methode. Und wiederum jind die Methodiker, die un Phyiologen, Mikroſkopiker wegen ihrer Wiſſenſchaft noch feine Ye... ich leicht ſind fie mehr, einerlei: die Grenze kann nicht deutlich genug werden. Einen Arzt nenne id) Den nur, der, ohne abergläubig ar“ de

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Selbftanzeigen. 513

zu ſchwören und blind nachzubeten, was Andere vorgebetet haben, ohne nach dern Ruhm eines Diagnoſtikers, Spezialiſten, Modedoktors zu trachten, gelernt Hat, dar Erkrankungen de3 Einzelorganismus nicht immer fo verlaufen, tie die „Krankheit“ im Lehrbuch befchrieben fteht, und der nach gründlicher Er- forſchung der Gefammtindividualität des Kranken ihr zu geben vermag, was ihr im Augenblid gerade fehlt. Ein folcher Arzt wird die Kranken behandeln, fi) nit von ihnen behandeln, den Namen des neuften Modebades, Mode— mittels, der neuften Modemethode abtrogen laffen und aufathmen, wenn nach al den Leuten, die mit einer fertigen Diagnofe, mit dem Namen ihrer „Krankheit“ in der Taſche, in feine Sprechſtunde fommen, fi) ein natürlich enipfindender Menſch einflellt, der nach guter alter Weife nicht3 weiter jagt als: „Mir fehlt Etwas und ich möchte wieder gefund werden." Dazu ihm zu helfen, ift des Arztes Pflicht. Nichts Anderes. Das fcheint ein nicht fchwer zu erreichendes Biel. Aber ein Menjchenleben vol harter Arbeit ift oft nicht lang genug, um diefe Piliht in den raſch auf einander folgenden Wechſelfällen des Tages erfüllen zu lehren.

Großlichterfelde W. Profeſſor Dr. Ernft Schweninger. os

Selbftanzeigen.

Falſche Feuer, ein Roman aus dem deutfchen Sankt Peteröburg, Hermann Gojtenoble, Berlin 1902.

Es werden nächſtens zweihundert Jahre, feit ‘Peter der Grobe den Schwer- punkt der ruſſiſchen Entwidelung aus dem Binnenlande Moskaus an die jumpfige Kujte der Oſtſee verlegte; zu feinen Helfern berief er vor Anderen deutiche Männer und deutjche Kultur. Cs ijt deshalb nicht unbillig, daß auch fie ihre Jubel— bilanz ziehen; umd jie werden eingeitehen müſſen, daß fie, aus taujendunddrei Gründen, heute eine Einbuße zu verzeichnen Haben, eine Einbuße am Werth: volljten, was der Menſch befigt, an fraftwoller Lebendigkeit und Entwidelung- fähigkeit. Im Ruſſenthum aufgehen fonnten, wollten und follten fie nicht; fic find, wie faum ſonſtwo eine deutjche Kolonie, durch und durd) deutich geblieben. Das heißt: fie reden deutich, denken deutſch und find jo gut wie ausſchließlich Vroteftanten; nur dürfen jie gegen nichts protejtiren, Eönmen feine neuen Gedanken fchaffen und haben nichts zu reden als Das, was längſt gefagt worden tft. ES ift ber itrengfte Konjervatismus, aber nicht der einer Weltanjchauung, fondern einer Nothlage. Sie bilden eine ethnologifche Inſel, an deren zerriffener Hüfte immer— fort die jlaviiche Brandung naat, und nicht in der Schöpfung neuer, höherer, lebendiger Werthe willen jie fich zu wehren, fondern nur durch die granitene

514 Die Zukunft. \

Starre grundſätzlicher Zelbjtbefchränfung in alfen eigentlich Menichheit und Kal: bewegenden Tragen: Wiſſenſchaft, Kunft, Religion. Diefe Werhältniite meize Vaterſtadt, unter denen ich viel gelitten Habe, wollte ih zu Nug und ıyıonmm aller Deutichen fehildern. Am Faden einer erfundenen Geſchichte reihen iA all die tupiichen Vorgänge, Menſchen und reife, die unvergänglich find, weil wejentliche Kräfte immer wieder ſich in diefen Formen verwirklichen; die Fe

jonen kommen und gehen, die Ereigniffe braufen vorüber, aber immer wien |

fräujelt ji) die Chberfläche des Stromes, wo fein Bett uneben ift. Schauts und Licht trifft daher nicht fo ſehr die einzelnen Geftalten wie eben die Zuftänte die ich jo nur Schildern konnte, weil ich ſie durchlebt Habe. Und meil ſie cn der Bergangenheit angehören, konnte ich diefe Ermnerung frei vom Alfzuperida lichen gejtalten. Daß ich trogdem nur Urperſönliches geben konnte, verjiet fich ja eigentlich von felbit; woher man aud) die farben auf ſeine Palette nehme mag: den Pinfel führt doch die eigene Hand, der eigene Geiſt. Charlottenburg. Dr. Eduard von Maycer. 3 Alpine Majeſtäten und ihr Gefolge. Vereinigte Kunſtanftalten A.:C. in München.

Jeden Monat kommt ein Folioheft zur Ausgabe, das mindeſtens zwanzit Anfichten von der Gebirgswelt bringt, natürlich zum weitaus arößten Theil au: den bayerijchen, ſchweizeriſchen, öſterreichiſchen, italiſchen und franzöfiichen Alpe: gebieten; gewiſſermaßen zum Vergleich werden aber auch mitunter andere Fe— biraslandicaften gezeigt: Skandinavien, England, die Pyrenäen, Karpathen. der Kaukaſus und Ural, Dimalaya und Kordilleren n.j.w. Für tadellofe pbote graphiſche Aufnahmen, feinjte Reproduktion, beftes Kunftdrudpapier und klarca Druck ift geforgt und die Bilder, die uns in alle Theile der alpinen Welt führten, jind fo gut ausgeführt, Daß man vielfach fogar die bejondere Art des Berg gejt ins unterscheiden Fan. Jedes Deft kojtet eine Mark, jeder Jahrgang ſden zwölf Heften wird eine furze populärwilfenichaftliche Beichreibung beigegeden ift in einem abgeſchloſſenen Bande käuflich. Wir glauben, in diefem PBradtwetl, das grüne Matten, Schneelawinen und Gleticher, haftig zu Thal ftürzende Bödr und von Felſen umſäumte Bergjeen zeigt, jeden berechtigten Wunjch erfüllt zu haben, und entnehmen dieſem Bewußtſein den Muth, e8 ben deutfchen Alpiniſter nicht nur, ſondern allen Naturfreunden zu empfehlen.

München. Vereinigte Kunſtanſtalten A.-®. ®

Naricte des Geiftes. Leipzig. Hermann Seemann Nachfolger 102. Der Autor zeigt hier in Form philojophijcher Aphorismen die Want 9 und Zelbiterzichung wenn man will: Genejung einer im Neid mi hrijtlicher und pantheiftiicher Anichanungen fozufagen geborenen Seele zu i. Gegenſatze, dem Heiliges und Unheiliges mit gleicher Ehrfurchtloſigkeit angreife Skeptizismus und der Vereinigung dieſer beiden Weltanſchauungen in Hoffnung: dem harmoniſchen Menſchen. Der geiſtige Menſch, der das „Geiſt üherwindet, iſt die höchſte und letzte Form des Geiſtigen. Nun wird et

Selbſtanzeigen. 515

den neuen Typus zu zeugen, der alles Gute und Schöne der Menſchheit ver— einigen ſoll, den harmoniichen Menſchen. Ohne die herrliche Krankheit Geiſt wäre der Menſch Thier geblieben. Doch hat uns der Geiſt ſelbſt Mittel ge⸗ geben, feine Schäden zu erkennen, ihrer Herr zu werden. Geiſt bekämpit den Geiſt, Gegengift tötet Gift. Der Autor will dazu beitragen, die Gefahren und Furchtbaren Schäden unharmoniſcher Beiltigkeit zu bannen, den Weg, den er felbjt gefunden, Anderen weiſen und fie ſtark machen, auf ihın auszuharren. Daß fo virle geiftige Menſchen unferer Zeit tief leidend find, weiß man. Woher der Schmerz? Weihe Mittel zur Geſundung? Der Autor gelangt zu feinem trojt- loſen Agnoitizismus, indem er diefen ſchweren Fragen entgegenichnut. An die Stelle de3 von ihm Niedergeriſſenen ift er Neues zu feßen bejtrebt und zwei große Aerzte der Scele begleiten und ftüßen ihn bei diefem Wagniß: Mar Stirner und Friedrich Niegiche. |

Wien. Dr. Mar Meffer.

s

Baldurs Tod. Ein Märdenfpiel in fünf Aufzügen von Paul Schmidt.

Leipzig 1902. Heinrich J. Naumann, Preis 2 ME,

Mein Drama kommt wie der märkiſche Siegfried aus dem reaftionärjten Vager: e3 ijt in Jamben gefchrieben und gereimt. Daß die wechjelnden Bilder des vierten Aftes mit unferer rüdftändigen Zwijchenvorhangs-Mtafchinerie nicht aufgeführt werden können, ohne ihren Einbrud ganz zu verfehlen: Defjen bin ich mir bewußt. Armes Jahrhundert, deffen Maſchinen Wolle Ipulen und Garn drehen, taujenpfündige Laften Heben und Eiſenzüge fortbemegen können, aber nicht eines Didters Traum zu geitalten vermögen!

Yeipzig. Paul Schmidt. S

Liebeslieder moderner Frauen. Hermann Coftenoble, Berlin-ena.

An Anthologien, auh an ſolchen, die nur Frauenlyrik bringen, ijt fein Deangel, Was aber meine Gedihtfanunlung von ihnen unterjcheidet, ift der Geſichtspunkt, unter dem fie angelegt ift. In das Bändchen wurden nur ſolche Gedichte aufgenommen, in denen jich dag Liebesleben der Frau in charakteriſtiſcher Weiſe ſpiegelt. Es iſt alſo hier ein erſter Verſuch gemacht, einen kleinen Bei- trag zur Pſychologie des liebenden Weibes zu liefern, der jedenfalls Anſpruch auf Authenzität erheben kann, denn man bat es mit lyriſchen Selbſtbekennt— niſſen aus Frauenmund zu thun. Und zwar moderner Frauen, zeitgenöjliicher Dichterinnen, die von der altgewohnten, vieltanjendjährigen Scheu des Weibes, auf den Schauplatz des öffentlichen Lebens redend und handelnd zu treten, frei geworden find, ja, die zum Theil mit einer Unbedenklichkeit ihr innerjted Ge—⸗ fühlsleben bloslegen, die Manchen überraſchen mag.

Dr. Paul Srabein. ð Totentanz. Verlag von A. Harms, Hamburg. Titelbild von Joſef Sattler. 1902.

Ich beabjichtige weder, mein Buch anzupreijen, no, irgend Etwas zu

feiner Erklärung zu fogen. Beides iſt Sade des Buches. Entlafjen aus der

N

516 Die Zukunft.

Werfftatt, iſt es majorenn und mag für fich jelbjt ſorgen. Nur der Tite, ver anlapt mid um mit Fritz Reuter zu redet „tau ne lütte Vörred', dom | mi fein Nahred dröppt.“ ZTotentänze und ähnliche Weiſen find heute medem. Ties aber it fein Modebuch. Ueber die Entftehung ber Erzählungen ſparn ih ein Zeitraum don vierzehn Jahren und ſelbſt die zweitjüngite vom ine, „Sefängnißaufjeher Streuber“, haben die Leſer der „Zukunft“ ſchon vor ver Jahren kennen gelernt. Aud hatte ich das Wort Hebbels, das den Bud zur Geleit mitgegeben wurde, ſchon als Sinabe in mein Notizbuch geichrieben: „Turs den Todesgedanken den goldenen Faden des Lebens zu zichen! ine hist Aufgabe der Poeſie“. Alfo dies (übrigens anipruchslofe) Buch ijt nid vs der Mode diktirt, fondern von jener inneren Nothmwendigfeit, die ımerflärid 2 ung wirkt, die mandes Konımende vorausfühlt und halb unbemußt darauf bir arbeitet. Seltfam genug, daß die meiften diefer Erzählungen unter ber Regirunz zeit des Dejpoten Naturalismus entjtanden find, deffen Aufgaben bei den allgemes befannten Dingen unferer Ameijenwelt zu Ende waren, der kaum cinmel de Dajein bis an jeine Grenzen zu verfolgen unternahm und dem granjamen Im von Tod und Liebe auf diejer Erdfrufte nicht mehr Aufmerkſamkeit ſchenkte a der newürfelten Betrdede eines Armenhäuslere. Doc wir verdanken ihr viel, dieſer Zeit der Froſchperſpektive, und wollen ihre Leute nicht höhnen. (Mebrigens: De mortuis . .. etcetera). Peute aber wird man ſich erlauben dürfen, cin fabulirten Werk der Feder, gleichviel, ob es ein Drama in fünf Alten oa eine fleine Erzählung von wenigen Seiten ift, frei nach Maeterlind br Fragen zu ftellen, um es auf jeinen Werth au prüfen. Erſtens: Iſt es in de Form Schön? Zweitens: Iſt es mit Zeidenidjaft und von einer Berjönlicfet dargeftellt ? Drittens: Fehlt ihm neben dem Untergrund aud; nicht ber vet | Dintergrumd und Obergrund? Ich meine den Grund, der ſich über und hin allen Dingen wölbt: der hinaus über den Dunftfreis des roh TI hatjädılicen | ein Zinnen und Ahnen wedt von den geheimen Fäden, bie das fleine Fragmen eines Menjchenlebens mit dem Unbekannten verknüpfen, das alle Dinge rigtet | und überragt. Joſef Sattler hat, meiner Meinung nad, diefen drei ragt in feinem Titelbilde Nede geftanden. In der Form jchön, iſt das Bild ſelbĩ von künſtleriſcher Leidenſchaft: dieſer wilde Tanz Freund Heins auf der Er | tugel! Seine Kappe mit der rothen Feder ift im tollen Reigen vom Schäödel | |

geflonen und der große grane Mantel hinter ihm weht im Schwung der nd drehenden Erde und der Tanzbewegung des Gerippes in mächtigen Serpentin Linien, deren Ausläufer an die Nandformen der fledermausflügel erinnet. Dieſer graue Umhang, in dem fich die gefchwungenen Arme des Tanzenden zu Faltenlinien verflüchten, ift unendlich größer als die Erdkugel. Wie cin ge waltiger Vorhang, hinter dem die ewigen Näthjel und Zufammenhänge de i# verborgen find, reckt er ji flatternd empor. Das Titelbild, eigenti WW | ſpruchsvoll für das bejcheidene Buch, wird, hoffe ih, auh Die ein A mit

meinem „Zotentanz‘ verſöhnen, denen der Anhalt des Buches unverjöhnlid it. |

Karl Se—

En

Diſtelfinken. 517

Diſtelfinken.

Site umflattern mein Haus. Ein ganzer Schwarm. Den langen Winter waren fie da. Und wenn jie fi) auf die ſchwankſten Aeſtchen der jungen Bäumchen feßen, jo neigen ſich die Aeſtchen leicht und ſchaukeln ſacht mit ihrer groziöjfen Laft. Lauter niedlie, bunte ES chöpfungsgedanfen, dieſe kleinen Vögel. Ich fehe ihnen zu und horche auf thr leiſes Gezwitſcher; denn noch fingen fie nicht; erft wenn der Frühling fommt, der Frühling und die Sonne...

Diſtelfinken umflattern mein Haus, zwitſchern mir in Kopf und Herz. Und ein leijer, wäjlriger Frühſonnenſtrahl jtreicht über das bunte Scheunendach da drüben und läßt mid Frühling ahnen.

Und eben, al3 id) das Frühſtück nahm, umjchmeichelte mich mein dreis jähriger Blondfopf und that wichtig und geheimnißvoll, als wolle er mir Etwas verrathen. „Schaß, erzähl’ mir was”, fagte id) ermunternd. Und er fing an:

„Da fam die böfe Stiefelfönigin zum Schneewittchen und fragte, ob es Aepfel faufen wolle. Nein, fagte das Schneewittchen, ich faufe feine. Und da gab fie ihm doch einen, einen ganz giftigen. Und da hat dag Schneewittchen ein Meſſer genommen und hat alles Biftige abgejchnitten und fortgeivorfen und hats gar nicht gegejfen. Gar nicht! Und da hab’ ich ihm gejagt: Du bilt lieb, ud weil Du jo brav warft, braudit Du aud gar nit im Eden zu jtehen. Und da famen die Zwerge und haben furchtbar gelacht.“

Hoiho! Das ift doch eine liebe Gefchichte, nicht wahr? Mein Blonbkopf mag die Stataftrophen nicht, die durch; Menſchendummheit und Dienjchenbosheit herbeigeführt werden, und fo arbeitet er Tag vor Tag mit feinen lieben Ge- danken herum, Bis er alle traurigen Ausgänge in liebe und freundliche ver- wandelt hat. Eher läßt ihm eine Gejchichte Feine Ruhe. Wer von ung ganz geicheiten Leuten dem Kinde Das doch nachmachen könnte und wollte! Wem Das doch noch fo innerfter Inſtinkt und heiligftes Herzensbedürfniß wäre!

.. Ben Grünwald gings, wo die Iſar raujdt. Ein Sommermorgen wars von herrlicher Klarheit und Pfingitionntag obendrein. Noch lag ich in den Federn, als es an meiner Schelle rafielte. „Was heißt denn Das? Eben erft halb jchs Uhr! Wer kann da jein?” Ich ſprang auf und öffnete.

„Vorwärts, ‚sreundchen! Angezogen, raid), und hinaus in die ſchöne Welt!“ lachte es mir entgegen.

Deinen Augen traute ich faum, als ich die hohe Geſtalt in langem, jhmwarzem Talar vor mir jah.

„Was wollen denn Sie jo früh, Herr Doktor?”

„Werdens Schon chen! Machens zu!“

Bald war id} jo weit und wir verließen fröhlich das Haus. Eine Morgen« wanderung in wunderbarſter Friſche. Bor Harlading überfreuzten wir auf dem Stege den Fluß und fchlugen ung auf das rechte Ufer hinüber. Mein Freund, ein fatholiicher farrer, war in üppigfter Stimmung. Cinige Leute begegneten uns mit Gebetbüchern. „Die denken auch, der Schwarze thät' gejcheiter, er ginge heim und läfe feine Meile in der Kirch',“ brummte er. „Aber die ganze Woche, das ganze Jahr tut Unfereins nichts Anderes. Heute hab’ ich Urlaub, heut’ am Pfingſtſonntag. Da wird hier draußen Meſſ' gelejen.”

518 Die Zukunft.

Ich lachte. Wars meinem teufliihen Gemüth doch viel licher jo.

„Und warum ich fo früh geh’? Einfah: wenn naher ber Schwarın der Münchener mit Find und Segel herausfommt, iſts nimmer Jchön. Ich mag dra Wald nicht, wen überall Scherben und Papierfegen und Wurftfelle herumliegen. Darum fo früh. Noch war Keiner draußen, noch iſt Alles friſch und ſchön, en Herrgottsgarten, in dems Einen wohl werden kann.”

An der Meuterſchwaige madıte er Halt. „Sollen wir? Eine erjte friid: May? Eine halbe?" Er befann fih. Dann energiih: „Kein: jonft bleiben wir da boden womöglich ımd gar früh ifts auch noch.“

Alſo vorwärts, dem Ufer entlang, an der großhejelloher Eiſenbahnbrüdt vorbei, gen Gritumald. Herrlich, wie fih das Thal verengte, der Fluß in dir Felſentiefe rumorte, herrlich der Leije raufchende Wald an Ufer entlang. Wei Herz war offen und alle meine antifathoiiichen Grobheiten warf ich dem heiliacı Panne neben mir in trauter Gemüthsruhe an den Kopf. „Wenn die Kirde noch jo handelte, wie Chriftus lehrte“ ... fing ich an.

„Ach, was: lafjen Sie mid) aus mit Ihrem Chriſtus!“ kam die Antwort. „Das beſte Nennpfe.d kann man zu Tod finden; und was iſts nachher? Was denn? Ein dürrer Stlepper ifts, reif für den Aajenmeifter. Und fo macht ihre mit Eurem Ghriftus; daran joll dann Unjereiner feine Syreud’ Haben, was? Zu ftimmen fol er gar? Gehens mir! Sie find doch fonjt ſchon ein Biſſel ge ſcheiter und paden das Leben nicht gerad’ bei feiner dürriten Seite an. Chriſtus ift auch manchmal jpaziren gegangen, und wenns ſchön war draußen, am Liebſten. Und das Dümmſte hat er gerad nicht geredt, wenns fo um ihr gebligt und geleuchtet hat, wie um ung Zwei hier. Das Herz ift ihm voll worden und um die weifen Huckelmänner drin in den Synagogen hat er fic) den Teufel gefdert.”

„Sie, wenn Sie nod) lange ſo fort reden“, fiel ich ein, „dürfen Sie Ihm Ihwarzen Rock bald an den Nagel hängen.”

„Zofort, wenns fein muß! Mber feine Minute cher, alg big Sie hr Geſellſchaftkoſtüm an den felben Nagel Hängen und die ganze Sippichaft da drin das ihre au. Nachher, wenn Seder fo erfcheint, wie er ift, thu ich ſchon mit; und ich werd’ nicht zu Denen gehören, bie fi am Meijten dabei zu ſchämen haben. Grad gewachſen bin ich ſchon nod und innerlich ift auch noch nit Alles verhutzelt. Aber jo lang mir die Wahrheitmenſchen fo in ihren Wämmſern vor den Mugen herumflunfern wie jegt, behalt’ ic) dad meinige auch an und daft darin, was mir am Bolten jcheint. Dummes Zeug Eriegen meine Pparrkinder keins von mir zu hören und Politik Schon gar nicht. Aber für guten Humor jorg ich und für einen guten Willen, damit was Nechtes gefchafft wird in der Welt.

„Doktor, was ich Ihnen erzählen wollte! Am Mittwoch war der Kooperator von Sankt Ludwig bei mir. Es drücke ihn ſchon Wochen lang, er müſſe m Klarheit ſchaffen, fing er an. Er könne ſich gar nicht anders denken, als ic; einmal tief gefränft worden ſei.“

„Der Gel!“ brummte der Doktor dazwiſchen.

„Und fo jolle ich ihm mein Derz einmal eröffnen. Er hoffe ficher, ih in den Schoß der Kirche zurückkehren werde, wenn erft dieje Wolfe meiner Erinnerung verſcheucht ſei.“

„Haha Ha ha!“ ſtand da Einer und lachte. „So ein Wolkenſchi

Diftelfinfen. 519

Gekränkt mul; Einer jein! Anders fann Der fich nichts vorftellen. Na und? Sie haben ihn doch nausgeſchmiſſen hoffentlich.“

„Ich? Nein!“

„Was? Nicht? Na, was habens denn gethan? Etwa gar mit ihn dis— furirt? g Sie..."

„Na, zuerſt hab’ id} einmal gerade herausgelacht, wie Ste eben.“

„Schr gut. Der wird Augen gemadıt haben!“

„Milde Augen, wehmüthige Augen, wie der Heilige Aloyfins.”

„Sie redend nit von Dem! Von Dem witjend jo wie fo nichts. Alſo ohne Aloyfiıs weiter mit den Schafsaugen!”

„Ja, na! Er ift doch immer Ihr Kollege, Ihr Konfrater fo zu jagen.”

„sa, ja, ih weiß: in Chriſto. Berftanden? Nur in Ehrifto! Aber eben darum .. . Na, was bat er dem gejagt?“

‚Nicht viel! Aber ich Hab’ ihm gejagt, er ſolle fich weiter feine Mühe geben, ich hätte meinen Seelforger ſchon und Der feien Sie!”

„Wa—a—a—as?! Nein, da Hört fi jchon Alles auf. Doc jegt muß ich erit recht willen, wa3 er da gejagt hat.“

„Nun, nicht gerade was Schlechtes. Er meinte, Sie hätten leider viel zu viel Philofophie ftudirt. Er habe fi alle Mühe gegeben, fih in Ihre An ſchauungen Hineinzufinden. Aber bis jeßt jei er damit noch nicht Durchgedrungen. Doch wolle er fich gern beruhigen, da er vorausjeße, Sie jeien immerhin cin wahrer Vertreter Chrifti . . .”

„O, dieſe wahren Bertreter Chriſti! Sie wiſſen doch, was es Heißt in unferer ſüddeutſchen Sprade. Wertreten ilt jo viel wie Zertreten; und Das heißts bier bet ihm.“

„Und jo fönne er das weitere Werk meiner Rettung Ihnen überlafjen.“

Wie vom Blik getroffen, jtand mein Begleiter. „Sch, Projelyten madyen? Und Sie glaubens womöglich gar, daß ich jo jhmußige Geſchäfte treibe, einen ehrlichen Sterl von feiner ehrlihen Meinung abzubringen? Solche Lumperei traut Der mir zu, diefer Herr Konfrater? Willens was: Das iſt ſchon zu dumm, jandumm. Aber Ejel find wir auch, wir Zwei, day wir joldjes Zeug mit daherausjchleppen in die pfingitionnige Herrlichkeit. Sit Das etwa beſſer als Käſepapier und Wurftfelle? Gehens zu und jchämen wir uns bis in die tiefjte Seel hinein!”

Schweigend fchritt der Doktor neben mir. Dann ftand er. An Fink jchmetterte fein Lied vom nahen Buchenaſt. „Du weißt beijer, was jich hier drangen paßt“, fagte der Doktor. „Und von Dir, Du dummes Vieh, wie Dich die Menſchen nennen, können fie Alle mit einander noch) lernen. Auch Sie, Ste MWahrheitmann! Lernens von Dem da!“

Wieder ſchritten wir weiter. Die Sonne leuchtete. Der Fink jang hinter uns her. Die Buchenwipfel raufchten leife. Und vor uns winkte dag Ziel —: Grünwald.

„Wiſſens was?” jagte der Doktor. „Ehe id mit Ihnen da Hineingehe, ſag' ich Ahnen was. Dept wollen wir Gottesdienft feiern. Pfingſtgottesdienſt, wir zwei. Wir werden uns eine friiche Map geben laſſen und fie mit allem Wohlbehagen trinfen. Weiter nichts! Verſtehen Sie Das?"

520 Die Zukunft.

„Ich Then!“

„Alſo weiter! Wenn Sie es nur verftehen. Die Anderen veritcehens ia wie fo nit. Saufen nennen fies. Schlemmen, ſchlampampen in aller ‚ıraa ihon. Aber wir nennens anders: für ein fröhliches Herz forgen! Und ich taz Ihnen, was Ihnen auch Einer daberreden mag, und wenns das GBelceitei:: wär': es giebt feinen jchöneren Gottesdienjt, cs giebt überhaupt nichts Klũgetes auf der ganzen Welt, als dafür zu jorgen, daß der Dienjch ein fröhliches Herz baı Ein fröhliches Herz tft zu allem Guten aufgelegt. Alſo ehe der Menſch. m:r er daran komme und fig bewahre!“

So jagte mein treuer Seeljorger und ich folgte ihın.

Wenige Schritte nur that er in den Wirthsgarten hinein. Dann Itust er. md von einem der noch einfamen Tifche Her erjcholl es freudig:

„Wer kommt? Wag jeh ih? O, hr guten Geijter! Mein Yoderich!“ j

„wein Carlos!“ Diein Seelforger breitete die Arıne aus.

Und herüber ſchlugs gar prächtig:

„Iſt es möglich? Iſts wahr? Iſts wirklich? Biſt Dus? O, Du biſts! Ich drück' an meine Seele Dich, ich fühle Die Deinige allmächtig an mir ſchlagen. O, jetzt iſt Alles wieder gut!“

Und ein Gelächter, cin Begrüßen, ein Erklären ging los, als hätten kr uns eine Ewigkeit her nicht geliehen. Und doch: erit den vorigen Dienſtag aben? hatten der Hofſchauſpieler und id) mit unferem Scelforger verphilojophirt. Schelling par das Thema geweſen; und großartig wars, wie unjer Pfarrer und nad und nach mit dieſem Weiſen befannt gemacht hatte.

„Daß Sie mur aud) da find!“ Ficherte er nun fröhlich und jchlug dem Dofichaufpieler auf die Schulter. „Der da hat ſich wieder an meinem ſchwarzen Kittel gerieben. Aber abgefahren ift er. Werd’ mir meinen feiniten Rod gleit kahl ſcheuern laſſen!“

Nun, was jest kam, weiß man ja. Wo ſich Drei fo treffen in München oder in jeiner Nähe, da ſchäumts. And es ſchäumte aus fröhlichen Derzen. „Mathten, Du bift wieder einmal vecht ausgelaflen“, hätte unſer pädagogiſches Marterfräulem gelagt, wenn jie dabei gewejen wäre. „Geh Hinein und fchreibe fünfundzwanzigmal auf Deine Tafel: Alles mit Maß." Sie war nämlid überall ſehr mäßig; nur das Zpruchichreibenlafjen und Knuffen und Beten betrich fie jtets ohne Maß. Und wenn meine Mutter nicht geweſen wäre, ich glaube, id) jäße heute noch vor meiner Tafel und jchriebe, Tchriebe, Ichriebe ...

Diſtelfinken! Ich hörte ihr Gezwitſcher und ſah ihr buntbeflügeltes, reizendes (Serlatter. Und alte, bunte Stunden flatterten auf in mir und erzählen vor S- N und Leiden und hellen Sonnenjtrahlen.

Diſtelfinken! Mein Bater hatte in feinem Garten einen junge. > baum gepflanzt, eine Cdelfiriche, deren Frucht jo groß fein follte wie eim *” : Pflaume. Im nächſten Frühjahr Icon blühte das Bäunden; und ein Diſtelfinkenpaar jiedelte fich in der trone an und baute fein Neſtch ein. Von Weitem ſahen wir den emfigen Nöglein zu und erlebter m

Diftelfinten. 321

wit, bis eines Tages eine fünflöpfige junge Sejellichaft die beiden Alten um— tänzulte auf den ſchwanken Aeſten unjeres Kirſchbäumchens. Liebe Kerlchen waren es alle und fie piepten jo nett amd Ichlugen fo unbeholfen noch mit den Flügeln, flogen die Alten mit Futter herbei. Neulich ging ich vorüber und fah den Baum. Groſz und ftarf war er geworden, aber er ftand auf fremdem Boden nın. Und weiter ging ih; da jtand auch unſer Haus. Dede, grau, verlafjen, die Läden geichlufjen, die Wege im Garten mit Gras bewachjen, die Roſen vermildert, mit braunen, erfrorenen Knoſpen an den ftruppigen Zweigen. Kein Leben mehr, feine Zonne, feine Farbe. Nichts rührte ih nodh. Doch .. da.. um das Rojen- beet ſpitzten Tauſende von Schneeglöckchen aus der aufthauenden Erde. Ich hatie jie einuſt gepflanzt, ich jelbjt, direkt unter den Tyenfter, an dem meine Mutter immer ſaß. Da ftand id nun und jchaute über die Mauer in einen Garten, der nicht mehr mir war und wo dod) jo Bicles mein Eigentum gemwejen. Ein Anderer ift num Herr unferes Hauſes und unferes Bartend. Alle Sonnenftrahlen gönne ich ihm. Und wenn erjt wieder im Garten Blumen blühen und Diftel- finken zwitichern und liebe Kinderſtimmen erfchallen und wenn ein Bube fi findet mit glänzenden Augen, der meinen felbftgezimmerten Taubenſchlag wieder aufbant und fich an meinen Veilchen erfreut, fo will ich in die Häude Elatichen und jubeln, dat Yeben, fonniges Leben da wieder einzog, wo jegt Erinnerung nur mit grauem Flügelſchlage flattert.

Diſtelfinken: schnell! Kommt raſch zurück! Laßt Eud nicht jchreden! Nur eine feine Wolke wars, die eben vorüberzog. Seht: dort treibt jie jchon hin vor dem Winde, ein flatterndes Segel, und hinter ihr her ſchießt es aus der Höhe mit goldenen Pfeilen.

„Drama, bringjt Du uns was mit?” fprudelt mein Blondkopf.

„Nein, hente nicht! Ich hab' kein Geld,

„I, dann komm’ ſchnell zum Papa! Der giebt Dir Weld. Der hat immer furchtbar viel Geld.“

Dieſes umerjchütterlide Vertrauen des Kindes in jeinen Bapa! Das muß doch wirklid ein reiher Mann jein, dem ein Kind fo vertraut! Nicht wahr? Und mie hilft mir der Kleine jchon, wie tröftet er! Neulich entfuhr es mir: „Beute nic! Ich hab’ fein Geld!“

„I, ſei nur ruhig! Weorgen geh’ ich auf die Volt und fauf' Dir Geld. Und dann bring’ ichs Dir, eine ganze Hand voll.“

Morgen! Eine ganze Dand voll! Bei ſolchen ſchönen Ansjichten läßt jihs doch ruhig leben. Und jo überlegen wir heute, was wir morgen mit all dem Gelde thun. Drüben winfen die Taunusberge in wunderbarer Bläue und rechts davon Liegt ‚yrantfurt. Alſo morgen gehts nad) Frankfurt zum Onkel Dottor und dann holen wir den Baul und laufen Alle in den Zoologiſchen Garten. Morgen! Gelt? Und dam fchen wir Yöwen und Bären und Affen und...

„Die gans, ganz Keinen fo flein Aeffchen jehen wir dann“, fällt mir mein Schatz ins Wort.

Alſo morgen! Und Das wird fein dann!

Diſtelfinken! Da fliegt mein bunter Schwarm auf und davon! Lat fie! Sie werden jcyon wiederfommen. Und wenn fie fommen, wirds neue Freude geben.

Laubenheim.

Mathieu Shwann, 8

&: genau ein Jahr nach dem Zuſammenbruch bei ſich an der Pleiße das Strafgericht über die Auf des vertrachten De Heute wirds wu

—8 der ra Krach nit nur das am Weiteſten fortwirkende von allen Ereianifjen der lets Aftienkapitalien nicht vor dem Zufammenbruc) jchüßen,

bilanzmäßigen Rejervefonds wie die Spreu vor dem si alte Grfahrung hat mod) jede Schwindelaera erneut. In der einzelnen Bank, auch eine ehrwürdige Tradition zufantm: ging durch die Burram. „Weld Haupt ftcht feit, wenn Nad dem Krach Habe ich hier Einiges aus der Geſchi erzählt und daran erinnert, daß vor Bald ficbenzig Jahren nic Bedürfniß des Augenblickes, ſondern die gebieteriſche Korb lichen Zuftände zur Gründung dieſes Initutes trieb. Neid) gab, ſank die alte Leipzigerin facht zum Rang einer Immerhin blieb ihr ein Theil des früheren Nimbus und wirkte nod) fo ftarf, daß die Leipziger Geidäftsariftofratie rath drängte uud viele Großkaufleute der alten Defiftabt für eine Ehrenpflicht hielten, wenigjtens einen Theil ihrer | Yeipziger Bank zu machen. Das muß man bedenfen, um zu d

Akten ihre lotale Ehre getroffen; ihr Grunde verlegt. Tas merkt man noch jeist, wem man. mit den Prozeß ſpricht. Sogar die Hotelportiers, denen die viele und Sadverjtändige, die der Prozeß heibeig

der Zorn ſich zügellos austoben, Der frühere Direktor Dr, Fiebig Vitdirettor Dr. Gengich, deren Vergehen viel milder beurtheilt mer aus Sachſen; mit einem Schein von Recht kann deshalb der bürger austufen, er habe ja jtets gejagt, das Gute, Echte, Sol doch nur im Yande der Weniner Die enge ift zu Eurgfichtig, zu können, da ſächſiſchen Geichäf partitularismus faſt völlig der Kontrole ent tonnte ihm von außen her nicht in die Karten jehen und To lichteit, feine Berrügereien Jahre lang zu verſchletern.

Öntereffant war in der Gerichtsverhandlung zunächſt d Brände, die zum Engagement Exners geführt hatten, Die haft geworden und man brauchte friiches Blut. Was maraſtiſch ſchien, war zum Theil einfach gur Jächliich-

Erner und Genojfen. "523

man nicht lange in Sachſen gelebt hat, kaum vorjtellen, daß es außer Medien: burg noch einen deutſchen Bundesftaat giebt, in dem Zuftände, die uns faft mittelalterlid feinen, fih im wirthfchaftlichen Leber jo lange und jo gut Ton= jervirt Haben. Der gebildete, modern empfindende Sadje klagt und jeufzt felbjt darüber: alſo muB es wohl wahr fein. Einen kleinen Borgefhmad befommt ſchon dex Fremde, der in einem der beiden erften Hotels in der Roßſtraße ab⸗ fteigt. Preiſe, Efjen, Bedienung entiprehen wirfli dem Rang cines erften Hotels. Die innere Ausstattung aber ijt, wenn man von einem Bisden Stud und weichen Teppichen abfieht, fait noch genau jo, wie man fie vor fünfzehn Jahren zu jehen gewohnt war. Daneben find prachtvolle, modern ausgeftattete Hotelpaläjte entitanden; aber die beiden alten Hotels gelten den meiften Leip- zigern heute noch als die feiniten. Bon dem Segen der freien Konkurrenz will der Durchſchnittsſachſe nichts hören. Die Regungen eines allen Fortſchrittswünſchen mißtrauenden Geiftes jpürte man aud in der Gefchäftsführung der Leipziger Bank. AL Erner, der in der Deutichen Bank gelernt hatte, da8 Gelernte in jeiner neuen Stellung verwerthen wollte, gefiel den verehrlihen Aufjichträthen an der neuen Manier jehr Vieles nicht. Bejonders fanden fie, es jei unter der Würde ihres mititutes, mit allzu vielen Offerten fpekulativer Art an das Publikum beranzutreten. Ein Auffihtrathsmitglied jagte in der Hauptverhand- {ung aus, die etwa wilde Betriebjamfeit Erners ſei an dem gejunden Sinn der Leipziger Bevölkerung ſchließlich gefcheitert.

Nicht nur um eine wirthichaftliche, fondern auch um eine Iofalpatriotifche Angelegenheit handelt e8 ji alfo in Leipzig. Deshalb ift der Andrang zur Hauptverhandlung auch viel ftärfer als etwa in Berlin beim Prozeß Sanden. Man muB aud zugeben, daß die leipziger Angeklagten interejlanter find. In Berlin ift eigentlid nur Eduard Sanden, vielleicht auch noh Eduard Schmidt pſychologiſcher Beachtung werth; die meilten anderen Angeflagten find geiltig unbedeutende Dutzendmenſchen. Exners Nachbarn auf der Anklagebanf erregen ichon deshalb Intereſſe, weil fie den feinften Streifen angehören. Unter den Auflichträthen finden wir zwei Nittmeifter der Landwehr, einen Nitter des Ei: fernen Kreuzes zweiter Klaſſe, drei Ritter des Albrechtordens; und die ſchönen Titel eines königlichen Kommerzien: oder Kammerrathes ſchwirren an andäd: tigen Ohren vorbei. Schon jest mödte ich, nach dem perjönliden Eindrud, behaupten, daß dieſe Männer wirklich dupirt worden find. Welches Intereſſe jollte fie zum Betrug treiben? Sie waren reiche, angejehene Leute, find zum Theil noch jest Inhaber erjter Leipziger Firmen und hätten, um ihren geichäft: lihen Ruf zu wahren, ficher ohne Zaudern ihr ganzes Vermögen geopfert. Sie wußten vielleicht nicht, in welchen Umfang ihre Bank ſich bei der Trebertrodnung

igagirt hatte. Exner kann fie Hintergangen Haben. Troßdem find fie nicht unſchuldig. ach dem Geſetz ift Jeder jtrafbar, der in der Wahrnehmung der Auffichtraths- däfte die Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns vermiffen läßt. Gegen cje Vorichrift Haben die Herren geliindigt. Es iſt lohnend, darauf zu achten, oft die jelben Menſchen, die in ihren eigenen Geſchäften fid) gewiß pein— iter Sorgfalt befleißen, als Auffichträthe ihre Pflicht nicht erfüllen. Einen oßen Theil der Schuld trägt die Mißbildung unferes Aufjichtrathswefens. ich bet der Leipziger Bank gab es eine „Obligofommilfion”, der allein das

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524 Die Zukunft.

Recht zuftand, die einzelnen Debetjalben zu prüfen. Wer diefer Kommiſſion nıcı angehörte, kümmerte fi) nicht jelbjtändig um diefe Dinge; ja, er dinfte me fonnte fi eigentlich gar nicht darum fünmern: denn nicht jedes Aufſſichtrathe mitglied ijt ohne Weiteres befugt, die Bücher und Skripturen der Geſellichen einzufehen. In Leipzig jcheinen die Auffichtrathsfigungen oft, ſchon ehe fie be

gamıen, protofolirt worden zu fein. Die Herren fahen in ihrer Thätigkeit alic |

jelbit nicht viel mehr als eine Komoedie. Der Aufſichtrath hat bei ung ja über: haupt eine Zmitterftellung; er ſoll nicht nur für eigene Thaten, Tonbern aut für die Anderer haften, deren Gefchäftsführung er doch nit Bis ins Einzeln zu prüfen vermag. Und je länger Anflichtrath und Direktion zufammen arbeite. vielleicht auch gefellichaftlidh mit einander verkehren, um jo ſchwächer wird nat lich das Gefühl der Kontroleurpfliht. in gebeihliches Arbeiten wäre ja nıd möglich, wenn der Auffichtrath die Direktoren von vorn herein als Schwindler betrachtete; ein gewiffes Maß von Vertrauen muß er ihnen entgegendringen. Thut er Das aber, dann darf man fi auch nicht wundern, wenn er nicht ohne Beweisgrund annimmt, die Direktoren könnten ohne bie geringfte thatſächliche Unterlage Poſten in die Bilanz einftellen.

In dem leipziger Fall kdunte der Aufſichtrath übrigens bie Perſonlichkeit Erners als Entlaftungmoment anführen. Dan muß Exner vor Gericht gelegen haben, um zu begreifen, wie er auf feine Leute wirkte. Er hat ſtahlharte blau Augen und einen prächtigen blonden Vollbart, konnte alfo bei fächfifchen Ant: |

jemiten fein Mißtrauen erregen. Er ift ein ſchöner, eleganter Mann, weiß mit den Worten trefflich zu jongliven und bat für die Enifflichften Dinge die ein fachften Auftlärungen. Wer je im Gefühl feiner Unſchuld vor Gericht ſtand, hat unter den Bemwußtfein gelitten, dab der auf der Sünderbant Sizgende ven vorn herein als ſchuldig gilt; der felbe Menſch würbe, wenn ihn die Robe des Staatsanwaltes zierte und er in lauten Brufttönen gegen einen Berhreder wetterte, ein tadellofer Ehrenmann feinen. So wird denn jeßt auch Er überall für einen Schwindler gehalten. Aber man denke ſich den vornehmen, liebenswürdigen Herrn nicht als Angeklagten, denfe ihn ſich ber muffigen ft des Gerichtsſaales entrüdt und man wird fofort verjtehen, daß er bem Arflidr- rath über jeden Verdacht erhaben fcheinen mußte. Natürlich können auch dieit mildernden Umſtände den Auffichtrath nicht völlig entlaften; er bat ſich denn doch allzu lau und nachgiebig gezeigt. ALS die Konkurrenz erbittert gegen die Trebergefellichaft fämpfte, meinten die leipziger Herren, gerabe in dieſer & bitterung den Anlaß zu geftärktem Vertrauen finden zu follen. „Denn“, fagl einer der Mitangeklagten, der Inhaber der vornehmen Bankfirma Frege & 89. „wenn es mit der Trebergefellichaft wirklich fo faul ftand, dann konnte bie Kor kurrenz doch gar nichts Beſſeres thun als: ruhig zufehen, wie die Txeber, "T- ſchaft Jich felbjt zu Grunde richtete.” Die Konkurrenten der Kaſſeler hatter ei allen Grund, nicht ruhig zu bleiben. Die Direktoren der Trebergefellihaftd N, weniger in betrügeriicher Mbjicht als unter dem Einfluß wachſenden Sr *F wahnes, weit unter dem Marktpreis große Abfchlüffe gemadt, deren Erf M ihnen nicht möglih war, da fie jolche Mengen gar nicht probuziren bon 1 Nicht nur machten fie damit ſelbſt fein Geſchäft, jondern fie ruinirten auhn anderen Firmen den Markt. Die angellagten Aufjichtrathsmitglieberfügr "

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Notizbuch. 525

Entlaſtung aud an: der hohe Kursſtand der Bankaktien Habe doch bewiefen, daß Niemand Mißtrauen gegen die leipziger Bank hatte; weshalb jollten gerade fie da mißtrauiſch werden? Merktwürdig; die Herren gehörten felbjt einem Hauſſe— fonfortium für Treberaftien an, wußten alfo, wie mans anftellen muß, um den Aktienkurs und den Schein jtrenger Solidität bis Zur, vor dem Zuſammenbruch aufrecht zu erhalten; und da genügte ihren vertrauenden Herzen ein Blid auf den hohen Kursſtand der Leipziger Bank? Feſtgeſtellt iſt ja auch, daß ein Kon jortiun die Aufgabe hatte, alles Material an Leipziger Banf-Aktien aufzulaufen, Das an die Börfe fam. Trotz Alledem wird die civilvechtliche Klage auf Schadens. erſatz vielleiht dem Aufjichtrath gefährlicher werden als das Strafgericht, das ihn wahrſcheinlich nur der Fahrläſſigkeit ſchuldig finden wird.

Biel Schlechter fteht Ernerd Sade. Er wußte, weldhe Unfummen feine Bank den Kafjelern geliefert hatte, und hat mag er lange auch vom Treber- ſchmidt getäufcht worden fein jchließlich bewußt gelogen und gefäliht. Auch des Betruges und des betrügeriichen Banferottes ijt er bezichtigt und man kann ihm den roll gegen die großen berliner Banken nahfühlen, die ihn nicht faniren wollten; fommt er ind Zuchthaus, jo wird er ihrer Weigerung die mittelbare Schuld zujchreiben. Der Paragraph, der den betrügeriſchen Bankerott mit Zucht⸗ hausſtrafe bedroht, macht die Strafbarkeit von der in gewilfen Umfang will» kürlich zu jchaffenden oder zu meidenden Thatjache abhängig, dab der Konkurs eröffnet iſt oder die Zahlungen eingeftellt find. In dem leipziger Yall aber kommt man über diefe Konftruftion Leicht hinweg; denn da Exner, wie feftge- ftellt ift, das Vermögen feiner Frau und feiner Kinder bei Seite geichafft hat, muß er fi} der Gefahr feines Treibens bewußt geweſen fein.

Man hat für Herrn Exner den ſchärfſten Staatsanwalt ausgeſucht. Aud der Schmwurgerichtspräfident gilt als ein fcharfer Herr und guter Juriſt, der, wie man in Leipzig erzählt, nächſtens ins Reichsgericht berufen werden wird. Entjcheiden wird natürlich der Spruch der Gefchiworenen. Die BVertheidigung Hat ihr Ablehnungrecht benußt, um die Zahl der Leipziger unter den Geſchworenen möglichit zu bejchränfen. Namentlich die Gejchäftsleute waren ihr unwilllommen. Wie bei Branditiftungprozefjen die ländlichen, jo werden bei Konfursvergehen gern die faufmännijchen Gejchworenen von den Vertheidigern ausgemerzt. Das Schickſal der Leipziger Bank aber Hat jedes Sachſenherz bewegt, den Sachſenſtolz gedemüthigt und id) glaube nicht, daß es ſelbſt dem fchlauften Kriminalanwalt gelingen fünnte, für diejen Prozeß Geſchworene zu finden, deren Seele von jedem vorurtheilenden Haßgefühl gegen Erner und Genoffen frei ift. Plutus.

Notizbuch.

N FFief erjchüttert, riefen die lärmenden Nefrologe, die dem König Albert von Sachſen ins Grab nachhallten, jtehe das ganze deutiche Bolf an der Bahre eines umerjeglichen Monarchen. Das ift neudeutſcher Stil. Immer muß es dag ganze deutſche Bolf fein; und ohne tiefe Bewegung, tiefe Erfehüitterung ſcheinen Feierreden

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526 Die Zukunft.

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und Leitartilel nicht mehr zu leijten. An dieje leere Phrajeologie hat Leder ich iängt gewöhnt und der tragirende Schwäßer, ber feine zufammengelejenen Broden m großen Grimaffen unermüblich vorträgt, wird faum noch ausgeladit. Die her: Tage, da wir über die Schwaßfchweifigkeit der Franzoſen fpotten burften, kehren % bald wohl nicht zurüd. Natürlich war aud) diesmal von einer Erjchütterung mir zu jpüren. Ein dreiundfiebenzigjähriger Herr, der feit Jahren frank war, iſt geftorbs| und ein anderer alter Herr heißt jet König von Sachſen. Yenfeits von deu gu weißen Grenzpfählen ift der Wechjel nicht als ein Ereignig empfunden worden m für unerfeglich haben felbjt die Sachſen ihren alten Albert nicht gehalten © war tüchtig, gewiſſenhaft, Hatte Wenjchenverftand, wußte ſich, als Greiz wie ds Süngling, weile zu befcheiden und wollte nie ald der Protagonijt anf de Bordergrund der Bühne bewundert werden.. Vielleicht ift auf die Verjöhnlidi: feines Gemüthes, auf die raſche Energie nicht genug hingewiefen worden, die ie auch mit ſchmerzender Erfahrung ſich Schnell abfinden Hieß. Diefe Eigenfchajtwirk gerade in der Epoche der deutſchen Einheitfänpfe wichtig. Die ſächſiſchen Partie riften hätten den Stronprinzen, der auf Böhmens Schlachtfelbern gegen die Preußen gefochten hatte, gern zum Führer erkoren. Die Stimmung war damals auch incirt großen Theil der Oberſchicht noch entſchieden antipreußiſch und murrender Grd empfing jeden kleinſten Verſuch, Boruſſenſitte nah Sachſen zu tragen. Ada ſächſiſchen Generalen der ſchöne Treſſenhut genommen, Artilleriſten und Amen riſten die Pickelhaube aufgeſtülpt wurde, ging ein Klageruf durch das Rautemer) und in „Sachſens Militärvereinskalender“ las man harte Worte über den neuen Schen zur Uniformirung des deutſchen Heeres; Sachſens erzwungener Eintritt in den m deutſchen Bund, hieß es da, dürfe doch nur die nächſte, nicht die fernere Zukunft des König reiches binden. „Bott, der Sachſen durch den Sammer des Siebenjährigen Are und des ruſſiſch-preußiſchen Gouvernements geführt und zu neuer Blüthe emporgebratt hat, wird auch diesmal nach finſterer Nacht den ſchönſten hellen Tag anbrechen laſſen Der Abgeordnete Wölfel las am neunten Dezember 1867 dieſe Säge im Reiki} vor umd fügte hinzu, die Tonart müſſe um fo mehr auffallen, als ber Kronpıi Albert der Protektor des fächjijchen Viilitärvereing jet. Bismard konnte ammortel, der Stalender fei „eine Privatſpekulation“ und es fei „gang undenkbar, daß ange jichts der nationalen, patriotifchen und vertragtreuen Haltung der Eöniglid dd chen Regirung irgend eine höhere amtliche Stelle im ſächſiſchen Land ſolche Ansdrüdt, wie fie dieſer Kalender über das Bundesverhältniß enthält, ſanktioniren ſollte.“ Ei paar Tage danadı Schrieb ihm der Kronprinz von Sachſen: „Verehrter Herr, Sri, ich kann mir nicht verjagen, ‚ihnen meinen wärmften Dank für die Art ausp | jpredien, wie Sie fid) meiner anläßlich des unglücklichen Militärkalenders angt nommen haben. Ich brauche wohl nicht erjt zu verfichern, daß mir die Sage gan; fremd iſt, ja, daß ich die Exiſtenz dieſes Machwerkes kaum ahnte.* Es iſt ũ ges nichts dahinter zu ſuchen als Neminijzenzen einer vergangenen Per St wiifen, daß Dergleichen in den unteren Schichten bes Volkes noch zuha ih wenn die oberen längit eines Beſſeren belehrt find. Die unteren auf unſe ands puntt zu bringen, iſt jept unjere eifrigjte Sorge... ."Inbem ih um die „. RT | „ihrer loyalen Geſinnung gegen mein Vaterland und Ihres Wohlwollens geg N) bitte, verbleibe ich ‚ihr ergebener Albert." Aus Bismards Autwort "+ | hervorzuheben: „ich jege es als die nächite Aufgabe der Bunbespe" PB

, Notizbuch. 527

reben, daB alle Bundesgenofjen Breußens, namentlich aber der hervorragendfte nter ihnen, das Königreid) Sachſen, es nicht blos als eine VBertragspflicht, fon- ern als ein werthvolles Recht anfehen, dem Bunde anzugehören. Diefe Bedeutung ann ber Bund für feine hohen Genoſſen nur dann haben, wenn ben Souverainen ie Meberzeugung bleibt, daß fie durch die Gentralifirung eines Theiles ihrer Nechte tt der Hand Eines unter ihnen eine nah menſchlichen Begriffen ſichere Bürgichaft ür die Geſammtheit ihrer fonitigen Rechte erworben haben und daß bieje Rechte jegen den Drud innerer Bewegung eben fo gewiß geſchützt find wie gegen äußere Befahren. In diefem Sinn der Begenfeitigfeit und Solidarität unter den hohen Ge» noflen des Bundes ſehe ich es für eine Pflicht des Bundeskanzlers an, das Anjehen und die Rechte der fürftlihen Häufer innerhalb des Bundes mit eben fo gewiſſen⸗ haften Eifer zu wahren wie das des eigenen Yandesherrn." Statt Albert3 berb menſchliche Geſtalt greinend ins Weſenloſe zu reden, jollte man ſolche Erinnerungen auffriihen. Sie zeigen, welche Stellung ber Katjer, welche der Kanzler im neuen Reich haben follte, und liegen uns näher, können uns nüßlicher werden als die Bhantafteflüge in die verfchollene Herrlichkeit der Karlingertage. * *

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In Diefe Zeit zieht den Deutſchen Kaifer des Herzens Sehnjudt. Er möchte, wie fein Bater, den Guſtav Freytag darum faft zornig fchalt, das neue Kaiſerthum andas alte fitten. „Aachen“, jagte der Kaiferin einer ber vielen Reben, die in rheiniſch⸗ weſtfäliſchen Städten Beifall gefunden haben follen, „Aachen ift dieWiege des deutſchen Kaiſerthums; denn bier hat der große Karl feinen Stuhl aufgerichtet”. Den Stuhl der alten Sailer hatte, al$ in Berlin der erjte Reichstag eräffnet werben follte, der Kronprinz Friedrich Wilhelm feinem Bater Hingefchoben. Freytag wünſchte das aus dem Urwald deutjcher Geſchichte jtammende Schaugeräth zum ehrwürdigen Trödel und rief: „Wir haben eine entjchiebene Abneigung, Erinnerungen an das alte Haijer- thum des Heiligen Römiſchen Reiches im Haufe der Hohenzollern wieder aufgefrijcht zu jehen. Wir im Norden haben den Kaijertitel uns ohne große Begeifterung gefallen lajjen, jo weit er ein politijches Machtmittel ift, unferem Bolf zur Einigung

helfen mag und unferen Fürſten ihre ſchwere Arbeit erleichtert. Aber den Kaiſer⸗ mantel follen unfere Hohenzollern nur tragen wie einen Offiziersüberrod, den fie im Dienft einmal anziehen und wieder von fi thun; fich damit aufpußen und nad altem Kaiſerbrauch unter der Krone dahinjchreiten follen fie ung um Alles nicht. Ihr Kaiſerthum und die alte Kaiſerwirthſchaft follen nichts gemein haben ald den leider römischen Gaejarnamen. Denn um bie alte Kaiſerei ſchwebte jo viel Ungejundes, fo viel Fluch und Berhängniß, zulegt Ohnmacht und elender Formenkram, daß fie ung noch jeßt ganz von Herzen zuwider ift. Bon Pfaffen eingerichtet, Durch Bfaffen geweiht und verpfujcht, war fie einGebilde des faljcheften und und verhängnißvollften Idealismus, der je Fürſten und Völkern den Sinn verftört, das Leben verdorben hat... Heute iſt der YLation das Ceremoniell und die äußerliche Darftellung jeines Kaiſerthumes nur fo weit erträglich, wie das Unweſentliche nicht die Beit und den thätigen Ernft feines Lebens beengt.“ Für das Büchlein, in das diefe Süße aufgenommen find, bat der Sailer einft dem Bildner deutfcher Vergangen» heit gedankt; jegt würde er ihm wohl hart tadeln. Der Glanz der alten Theofra- tie hat es Wilhelm dem Zweiten augethan. Und der Kaifer bewundert das blendenbe Bud) bes Herrn Chamberlain, defjen germanocentrifche Auffafjung der Weltgefchichte

528 Die Zukunft.

ihm gefallen mußte. So ift aus ſehr verfchiedenen Eindrüden eine Anſchanumg w ftanden, deren befremdende Spur in den lebten Reden- wieder bejonbers kiihe ward. Auch die Energie Karls des Großen, hat Lamprecht gejagt, vermodte ni eine neue germaniſch⸗chriſtliche Kultur aus bem Boden zu ſtampfen: „jo ungeheure jein Wagniß und fo unbegrenzt feine Kraft erfcheint: hier kämpfte er gegen da Genius ber nationalen Geſchichte ſelbſt.“ Der Kaifer blict zu dem Marne, ai Gottesftaat träumte und deflen Liebling beshalb Auguftinus war, wie zu einerär- loſen $dealgeftalt auf und ſcheint zu hoffen, noch heute könne der theofratiiche Tree Mirklichkeit werben. Die Germanen ſind nach feiner Meinung zur Weltherridaitimt deftinirt. Noch find nicht zwei Jahre vergangen, ſeit er das römische Weltimperiunp und den Wunſch ausfprah: „Dem Vaterland möge beidieben fein, jo fer fügt und fo maßgebend zu werden, wie es einft das römifche Weltreich war.” I heißt es: „Zerbröckelt und morſch wankte der römiſche Bau und erft das Erideim. ber jiegesfrohen Germanen mit ihrem reinen Gemüth war im Stande, der Etb geichichte den neuen Lauf zu weifen, den fie bisher genommen bat.” Die Deutides find das einzige Volf, das nod) Ideale bat, das einzige, „wo noch Zucht, I rome und Disziplin herrſcht, Reſpekt vor der Obrigkeit, Achtung vor der Kirche“: „fa Werk aus dem Gebiet neuerer Forſchung, das nicht in unferer Sprache abgeich würde, und fein Gedanke entipringt der Wilfenfchaft, der nicht von uns zuerſt ve merthet würde, um nachher von anderen Nationen angenommen zu werben.” Dick Behauptung wäre recht ſchwer zu beweilen; und der Politiker könnte, aud wen | fie bewiefen wäre, nicht empfehlen, fie öffentlich auszufprechen. Erfreulicer few nüchternen Deutſchen, was der Kaiſer über die Aufgaben des neuen Kaiferthuzt | fagte: es joll nicht, wie dag alte, „unter der Sorge um das Weltimperium be gernanifche Volk und Land aus dem Auge verlieren‘, ſondern, „nach auben D ſchränkt auf die Grenzen unferes Landes“, nad; innerer Kräftigung feines Bed itreben. Das ift ein ftarfes Argument gegen den expanfiven Jmperialismus m völlig unvereinbar mit dem Wort: „Unfere Zukunft Liegt auf dem Waſſer“; für da Kaiſer Liegt fie jet im Grenzbereich unjeres Yandes, auf den wir „nad außen be ſchränkt“ find. Und: „die Wurzeln der Kaiferfrone ruhen im märkiſchen Sand“. Ar | muß abwarten, ob diefe Worte wieder verhallen werben oder eine Umkehr ankünden ſollten. Das hohe Ziel ihres nationalen Lebens werben nad) des Kaiſers Menu die Deutfchen nur erreichen, wenn fie fromme Chriften find. „Ob mir modern | Menſchen find, ob wir auf dieſem oder jenem Gebiet wirken: Das ift einerlei. ga fein Leben nicht auf die Baſis der Religion ftellt, Der ift verloren.“ Armer Alter Fritz, armer Goethe, arıne Moderne, die Ihr nach der ſchmerzlich vermißten Einheit im Denken und Handeln drängt, unter Qualen um eine neue Weltanjchauung ing! | hr feid unrettbar verloren. Wie ein alter Kaifer, „ſtellt“ Wilhelm der Zu „das ganze Neid, das ganze Wolf unter das Kreuz.” Und Niemand ers ben frommen Volfsrepräjentanter ebrerbietig daran, daß heute Ahermillii 178 der Wurzel feines Glaubens gelöft find, der fie lange genug in lähmend. I | iprüche zwijchen Belennen und Thun gebannt hielt, und daß jeit den with. enge | Tagen das Verhältniß zu Gott die perfönlichfte Sache des Einzelnen gewor ı# Niemand. Der Saijer, der summus episcopus des preußiichen Proteitant: au, ſpricht von der „großen Beit der Reformation” und nennt dennod den Par der gläubigjte Statholif, den „Heiligen Vater“ umd freut fi der Anertr— ,M |

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Notizbuch. 529

Leo der Dreigehnte in einem Privatgefpräcd) dem Zuſtand des Deutichen Reiches ge- Ipenbet haben ſoll. Welde Kraft, muß man, nicht zum erften Dial, fragen, bleibt einem Proteftantismus, der gegen Rom nichtmehr proteftirt? Was hindert ihn noch, die Kluft endlich zu fchließen und den „Heiligen Vater“ von dem ärgernden Anblid eines Ketzervolkes zu befreien? .... Wenn der Regtrungzeit Wilhelms bes Zweiten einft ein Angilbert entfteht, wird er melden müflen: von Jahr zu Jahr fei es den Aufrechten fehwerer geworden, fih in den Gedanfengängen des Kaiſers zurechtzu- finden; doch fo ungeheuer fei dazumal im Zande ber ‚Germanen mit dem reinen Gemüth‘ die Macht der Heuchelei und Lüge geweſen, daß der Kaiſer die Wirkung leiner Reden beim beſten Willen nicht zu ahnen vermochte und, da ungehemmt fein Ruf zu ihm drang, mit unerſchütterter Zuverficht an die Auswählung des Volkes glauben Tonnte, das ihm die wichtigſte Pflichtleiſtung, Wahrhaftigkeit, ſchuldig blieb. *

Herr Karl Jemtſch ſchreibt mir:

„Meinem Artifet Induſtrieſtaat oder Agrarftaat?‘ eine kleine Ergänzung nachzuſchicken, veranlagt mich ein Buch, das ich erft jet gelejen Habe: „Deutichland am Scheibemwege‘ vom Dr. Ludwig Pohle. Es ift ein vortrefjliches Buch und ich bin namentlich mit Den einverftanden, was barin über die Tendenz des Weltverfehres gefagt wird: daß wir nicht der ungefunden Scheidung der Länder in Induſtrieländer und Agrarländer entgegengehen, fondern einem Zujtande, wo alle Staaten Agrar: Induſtrie-Handelsſtaaten fein umd nicht Agrarprodukte gegen Induſtrieerzeugniſſe, ſondern Induſtriewaaren gegen Induftriewaaren und Bodenerzeugniffe gegen Boben- ergeugniffe austaufchen werden, mit den Ausnahmen natürlich, deren Befeitigung die Klimaunterjchiede vermehren. Daß bie dentiche Landwirthichaft im Augenblid hohe Setreidezölle braucht, weift Pohle beinahe überzeugend nach; über Das aber, was in Zufunft, jagen wir nach dreißig Jahren, werben fol, jet er fich zu leicht⸗ fertig Hinweg, mit Hilfe eines Mittels, das alle Nationalöfonomen von Fach, ſowohl die agrarierfreundlichen wie ihre Gegner, jede Partei für ihren bejonde- ren Zweck, anzuwenden pflegen: er umgeht vorfichtig die Bodenfrage. Und Das veranlaßt nun einige Trugichlüffe, die zu interejfant find, als daß ich mid) nicht verfucht fühlen follte, menigftens zwei davon anzumerken. Pohle beweilt, daB es nicht der Unterfchied der Bodenpreije, fondern die VBerjchiedenheit des Betriebes ift, was die amerifanijche Produktion wohlfeil und die deutiche theuer macht; in Amerika wird die Landwirthichaft extenſiv, bei uns intenfiv betricben; ‚hohe Bodenpreife oder, anders ausgedrückt, ein hoher Stand der Grundrente find meines Erachtens nicht die Urfache, fondern umgekehrt die Folge und ein Symptom hoher Produktionkoſten. Sa, warum erniedrigen dann nicht unjere Landwirthe ihre Produktionkoſten dadurch, da auch jie extenſiv wirthfchaften? Doch wohl deshalb nicht, weil zum extendere, zum Ausdehnen und Ausbreiten der Wirthichaft, viel Raum gehört und wir den nicht haben. Extenfiv wird ſelbſtverſtändlich überall ge- wirthichaftet, wo man viel Land hat und ſich ausbreiten kann, und intenjio würde nie und nirgends in der Welt gewirthichaftet worden fein, wenn nicht die Boden⸗ Tnappheit dazu gezwungen hätte. Deshalb bleibts dabei, daß nur auf ‚Freiland‘ wohlfeil gewirthichaftet werden fann. Und da die Steigerung ber Getreidepreife eben io wie die Steigerung der Intenſität des Anbaues ihre natürliche Grenze findet, jo folgt daraus, daß auf immer Enapper werdendem Boden der Holfihuß nur vor-

Notiabuch | 531

Jeder, ber feine Seminarzett Hinter jich hat, jchon ein guter Zehrer. Zum Lehren gehört Das Donum docendi, bie Lehrgabe, das Geiftesgejchent, eine beſondere Anlage. Von Der Lehrgabe hängt ber Erfolgbeslinterrichtes ab, Wehe demLehrer, der nur nach wiſſen⸗ ſchaftlichen Regeln lehrt, ber nur die Natur des Gegenitandes und nicht bie individuelle EigenthümlichleitbesZöglingsberüdfichtigt ! DerLehrer, der zum Methodikerwird, hat feinen Berufverfehlt. Im Allgemeinen holt ber 2ehrerfeine Bildung aus dem Seminar. Seminarium heißt Pflanzenſchule. Kinder find gleich Pflanzen, bieaucd im Einzelnen beobachtet werden müſſen und nicht, nach botanifchen Lehrſätzen, alle nach einem Schema. Da gilt e8 auch, je nach Bedarf den Boden zu lodern, die Pflanzen mit Stäbchen zu ftäßen, die Raupen abzulefen, zu gießen und andere Arbeit dieſer Art zu thun. Dan Hört fo oft: Die beiden Brüder hatten die gleiche Erziehung und doch ift der eine tüchtig und der andere ein TaugenichtS geworden. Woher kommt Das? Ganz einfach: weil die Erziehung für den einen paßte und für den andern nicht. Alter frenis eget,alter calcaribus. Der Eine bedarf der Zügel, der Andere der Sporen. Die Lehrer wollen die Kinder bilden. a, ijt denn ein Anhäufen von Kennt⸗ niſſen, von allerhand Material Bildung? Iſt es nicht fürs fpätere Leben gleich- giltig, ob ein Kind weiß, dab 1645 die Schlacht bei Nafeby gejchlagen wurde, daß die mittlere Höhe des Thian-Schan 3900 Meter beträgt, daß der Amur aus zwei Quellflüſſen, dem ſüdlichen Kerlun, ſpäter Argun genannt, und dem nörblichen Onon, ſpäter Schilka genannt, zufammenfließt? Und welche Unmanieren fieht man mitunter an Lehrern! ‚Das Beifpiel erzieht‘: dieſes Wort ftellt Peſtalozzi als erften pädagogiſchen Grundſatz hin. Die Kinder find Scharfe Beobachter und ihre Erziehung fordert von dem Erzieher eine ftete Vervolllommnung der eigenen Berfönlichkeit. Mean jollte mit den Lehrkräften öfter wechjeln, die Lehrer zeitiger penfioniren. und jungen Kindern junge Lehrer geben, bie fie auch außerhalb des Syntarbereiches veritehen können. Lehrer, die nach Prinzipien die Hände falten laffen, wie eg noch heute in einer höheren Töchterſchule des berliner Weftens vorlommt, müßten ent- lajjen werden. Die Kinder müſſen dort in den eriten zwanzig Minuten der Stunde die Hände jo auf den Tiſch Legen, dag nur Zeige: und Dkittelfinger der Hand auf dem Tiſch ihtbarfind. In den nächſten zwanzig Minuten Halten jiedie Händegefaltet und inden letzten zwanzig Minuten, auf eintgegebenes Zeichen, auf dem Rücken verfchränft. Gin anderes Belfpiel, diesmal aus einem Gymnaſium der Friedridjitadt. Die Ober- jefunda tft verfammelt, der Mathematiklehrer wird erwartet. Der Brofefior kommt, bejteigt die Katheder und ruft, während er jich entjept in die Haare fährt: ‚Körner! Wer hat Sie denn in die Oberſekunda verjegt, obgleich Sie nicht reif waren?‘ Wegner! Wer nimmt denn immer Rüdjiht auf Sie, wenn Sie nicht willen? Und da wagen Sie, die Streide wieder links von mir zu legen, ftatt, wie ich jo oft gelagt habe, rechts! Die Kreide muß auf der Katheder immer rechts liegen, merfen Sie ſichs! Das ift wichtig!‘ Ein dritter all, aus einem anderen Gymnaſium jerling. Ein wegen Krankheit zurücfgebliebener Diirartaner bekommt vom Klaſſen— “rer Nachhilfejtunde. Der Erfolg bleibt nicht aus, läßt aber bald fichtlich nad). Der md? Der Herr Lehrer benußte die Stunde, um bem Jungen feine Gedichte vor« „fen. Der kleine Bengel konnte fie zum Theil ſchon auswendig und citirte mit orliebe ein Gedicht, das den ſchönen Titel trug: ‚Weiberdaß‘. Natürlich be delte er Alles, was an weiblichen Weſen im Haufe war, von der Mutter bis zur xuchenfee, jeitdem mit Nichtachtung. Vierter Fall aus einer Mädchenſchule. Die