= : ;

Ergebnisse der gesamten Medizin

Unter Mitwirkung hervorragender Fachgelehrten

herausgegeben von

Prof. Dr. Th. Brugsch Oberarzt der II. Med. Klinik der Charite in Berlin

Sechster Band

Mit 135 Abbildungen im Text, 5 farbigen und 12 schwarzen Tafeln

URBAN & SCHWARZENBERG

BERLIN N24 WIEN I

FRIEDRICHSTRASSE 105B MAHLERSTRASSE 4 1925

Nachdruck der in diesem Werke enthaltenen Artikel sowie deren Übersetzung in fremde Sprachen ist nur mit Bewilligung der Verleger gestattet.

Alle Rechte, ebenso das Recht der Übersetzung in die russische Sprache, vorbehalten.

neg - a a

Er e ©

„ag

Printed in Austria. Copyright 1925 by Urban & Schwarzenberg, Berlin.

Inhaltsverzeichnis.

Seit

Neuere Syphilistherapie. ge

Von Prof. Dr. Paul Mulzer, München ... 2 CL non rn. 1 Vegetatives Nervensystem und psychische Störungen. |

Von Prof. Dr. Edmund Forster, Nervenklinik der Charite, Berlin . . . . . 2.22... 63

Die Asthenie des Weibes. Von Prof. Dr. Walther Hannes, Breslau `, 80 Mit 3 Abbildungen im Text.

Die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens bei gestörter Schlagfolge. Von Dr.K. Fahrenkamp, leitender Arzt des Kurhauses Bad Teinach (Württ. Schwarz- wald)Stuttgart . `. 2.2 22 2 2 2202 nen. EEE EEE E 99 Mit 36 Kurven im Text. Die Extrauteringravidität. | Von Prof. Dr. O. Pankow, Leiter der Frauenklinik an der Med. Akademie in Düsseldorf 146 Mit 25 Abbildungen im Text.

Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. Von Dr. Thorkild Rovsing, Professor der klinischen Chirurgie an der Universität in

Kopenhagen... e e dah an ur. an ae a er ie ae Acker ae ee A dr ` 202 Mit 7 Abbildungen im Text und 2 farbigen Tafeln.

Die Behandlung der Phlegmone. Von Prof. Dr. Ernst Unger und Dr. Heinz Heuß, Berlin . .... 2.222220... 254 Mit 5 Abbildungen im Text.

Das Schielen und seine Behandlung. Von Priv.-Doz. Dr. W. Comberg und Prof. Dr. W. Meisner, Berlin `, 284 Mit 5 Abbildungen im Text.

Die Indikationen für die Behandlung der verschiedenen Formen der Tuberkulose.

Von Dr. H. Ulrici, Ärztlicher Direktor des Städtischen Tuberkulosekrankenhauses Wald- haus-Charlottenburg, Sommerfeld-Osthavelland . . . 222: Co m nn nn 321

Die Entzündungen am weiblichen Genitale mit Ausnahme der Gonorrhoe. Von Prof. Dr. Fritz Heimann, Breslau . . . 2: 2 Co on. 345

Mit 6 Abbildungen im Text und einer färbigen Tafel.

Endokrine Drüsen und die Persönlichkeit. Von Doz. Dr. Arnold Josefson, Oberarzt, Stockholm . . . . 2. 2: 22m 2 nn... 379 Mit 12 schwarzen Tafeln. Cyclothymie. Von Dr. Friedrich Mauz, Tübingen. . . 2: 2 2: CL non 2.390 Mit 4 Abbildungen im Text.

1130714

IV

Über Uterusblutungen und ihre Behandlung. Seite Von Prof. Dr. O. Polano, Vorstand der Gynäkologischen Universitäts-Poliklinik München, tünd Dr: C- Diet). München ei a e a 0.2 Seng a ne a re 408

Mit 5 Abbildungen im Text.

Das Hirschsprungsche Syndrom (Megacolon congenitum). Von Prof. Dr. Kj. Otto af Klerker, Lund . . 2: Cr. 424 Mit 4 Abbildungen im Text. Primäre Cholangitis. Von Priv.-Doz. Dr. Stanislaus Klein, Primararzt, Warschau. . . . 22 2 2 220000 447

Die sogenannte Alveolarpyorrhoe und ihre Behandlung.

Von Prof. Dr. Peter Paul Kranz und Dr. K. Falck, München . .... 22.2 2.. 460 Mit 24 Abbildungen im Text.

Tuberkulose und Auge. |

Von Dr. A. Meesmann, Privatdozent und erster Assistent der Universitätsaugenklinik der

ELE ee Berii EE 496

Mit 6 Abbildungen im Text und 2 farbigen Tafeln.

Wandlungen und Probleme der Ikterusforschung.

Von Prof. Dr. F. Rosenthal, Breslau `... 532 Die Reichsversicherungsordnung.

Von Geh. San.-Rat Dr. O. Mugdan, Berlin . . 2:22 Co KL ren 562 Die Methode der Angiostomie und die mit Hilfe dieser Methode erreichten Resultate.

Von Prof. Dr. ES London, Leningrad (St. Petersburg) . . .. 22 2 22 nn. 572

Mit 4 Abbildungen im Text.

Systematische Inhaltsübersicht aller in Band I-VI bisher erschienenen Arbeiten.

Neuere Syphilistherapie.

Von Prof. Dr. Paul Mulzer, München.

A. Allgemeine Therapie der Syphilis.

Seitdem Blaschko seine „Syphilistherapie« für dieses Werk geschrieben hat (1919), ist eine größere Anzahl neuer Präparate in die Therapie der Syphilis ein- geführt worden. Von den neueren Salvarsanpräparaten, mit denen wir uns zunächst beschäftigen wollen, sind zuerst zu nennen das Salvarsannatrium und ‚das Silbersalvarsan, die beide Bilaschko noch kurz erwähnt hat.

Das Salvarsannatrium enthält den gleichen Arsengehalt wie das Neosalvarsan und stellt in seinem Prinzip ein bereits bei der Fabrikation alkalisch gemachtes Altsalvarsan dar. Die wäßrige Lösung des goldgelben Pulvers reagiert also alkalisch, während bekanntlich die des Neosalvarsans neutral und die des Altsalvarsans sauer reagiert.

Das Salvarsannatrium wird wie das Neosalvarsan dosiert und angewendet. In seiner Wirkung soll es nach E. Hoffmann ein wenig stärker als das Neosalvarsan, dem Altsalvarsan aber unterlegen sein. Die eintretenden Reaktionen und Neben- wirkungen entsprechen etwa denen des Neosalvarsans. Trotzdem hat sich dieses Präparat nicht in die Syphilistherapie einbürgern können; manche Interne (v. Rhom- berg) bevorzugen es indes auch heute noch.

Das Silbersalvarsannatrium, kurz Silbersalvarsan genannt, wurde von Kolle im Verfolg der Ideen von Ehrlich und Karrer dargestellt und 1918 als mächtigstes Antisyphiliticum empfohlen. Es ist ein dunkelbraunes Pulver, das sich leicht im Wasser mit neutraler Reaktion löst und im Tierversuch wirksamer als das Altsalvarsan ist. Es besitzt hier eine etwa dreimal so starke Heilwirkung wie dieses; die spirillo- cide Komponente ist besonders ausgesprochen.

Das Silbersalvarsan wird wie die anderen EE am besten intravenös appliziert. Man löst es in 10—20 cm? einer 04% igen oder physiologi- schen Kochsalzlösung oder aber in frisch destilliertem sterilen Wasser. Die Injektion ist für den weniger Geübten etwas schwieriger, da die dunkelbraune Lösung nicht

gut erkennen läßt, ob bei Aspiration Blut in die Spritze eintritt, bzw. ob die ` Kanüle richtig in der Vene liegt. Die Einspritzung selbst wird langsam ausge- führt und soll etwa 2, bei empfindlichen Personen 5— 10 Minuten dauern. Während der Injektion ist ständig der Puls zu kontrollieren.

Die Dosierung des Silbersalvarsans beträgt im allgemeinen 0'1 0'3 g, die in 4—5tägigen Intervallen gegeben werden. Bei Frauen soll man nicht über 0'2 g als Einzeldosis hinausgehen. Die Gesamtdosis ist je nach dem Stadium, in dem dieses Mittel angewendet wird, verschieden. Bei Abortivkuren wird man etwas mehr, bei Kuren in der Latenz etwas weniger applizieren. Im Durchschnitt gibt man 2mal 01—015, 3—5mal 0'2 und 3—4mal 0'25—0'3 bei kräftigen Erwachsenen.

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. l

2 Paul Mulzer.

Das Silbersalvarsan beeinflußt die klinischen Erscheinungen aller Stadien der Syphilis meist recht gut und übt auch auf die Wassermannsche Reaktion und auf den Liquor in der Regel eine zufriedenstellende Wirkung aus. Die großen Erwar- tungen, die man auf das Silbersalvarsan entsprechend seiner vorzüglichen Wirkung im Tierexperiment gesetzt hatte (v. Nothafft, Gennerich, Walson, Sternthal, Kall, Böttner, Boas, Ullmann u. a.), hat es anscheinend aber doch nicht ganz erfüllt (Heuck, Ähmann, Krösing u. a). Vor allem ersetzt seine alleinige An- wendung nicht, wie man anfänglich geglaubt hatte (Citron, Böttner, Boas u. a.), die kombinierte Hg-Salvarsankur, da man nach alleiniger Silbersalvarsankur doch recht häufig klinische und serologische Rezidive sah (Jersild).

Das Silbersalvarsan entfaltet im allgemeinen auch alle die Nebenwirkungen, die den älteren Salvarsanpräparaten eigentümlich sind. Cyanose, Kongestionen und Venenthrombosen sollen nach van der Velde hier sogar häufiger als beim Neosalvarsan vorkommen. Auch muß man bei diesem Präparat stets mit dem Vorkommen einer Argyrie rechnen, wenn diese bisher auch recht selten beobachtet wurde (Pa- rounagian). Die Nebenwirkungen scheinen hier aber weniger intensiv zu sein und auch schnell wieder vorüberzugehen. Schwere Zufälle nach der Silbersalvarsan- anwendung gehören wohl zu den Seltenheiten.

Gleichzeitig mit dem Silbersalvarsan wurde von Kolle das Sulfoxylatsalvarsan (Präparat Nr. 1495) herausgegeben. Es ist dies eine nicht oxydable und daher in gelöster Form haltbare Arsenobenzolsulfoxylatverbindung. Sie gelangt in 20%iger gelber Lösung, die in Ampullen einge- schmolzen ist, in den Handel und kann ohne weiteres eingespritzt werden. E. Hoffmann spritzt alle 7 Tage 02-03 g ein, Citron beginnt mit 1 cm? der 10%igen Lösung und steigt, in Intervallen von 4—5-—7 Tagen, bis zu 4 cm?.

Dieses Präparat beeinflußt die klinischen Erkrankungen der Sr ebenfalls gut, doch lang- samer und weniger intensiv als die übrigen Salvarsanpräparate (E. Hoffmann, Citron, Kall, Kumer, O. Michaelis), weshalb es sich für die Behandlung der frischen Syphilis nicht eignet ta Hoffmann). Es wird aber bei älterer Syphilis, insbesondere bei Nachkuren (Katz), empfohlen, erner bei Aortenlues, bei cerebrospinaler Syphilis (Citron) sowie bei Tabes und be Paralyse. Da es anscheinend auch viel weniger gut als die anderen Salvarsanpräparate vertragen wird (Kall) und nach E. Hoffmann besonders häufig langwierige und schwere Dermatitiden hervorruft, dürfte sich seine Anwendung doch sehr wenig empfehlen. Soviel mir bekannt, ist das Sulfoxylat auch aus dem allgemeinen Verkehr zurückgezogen worden.

Endlich ist hier noch zu erwähnen das Neosilbersalvarsan, das ebenfalls von Kolle gefunden wurde, u. zw. durch Einwirkung von Neosalvarsan auf Silbersalvarsan unter Einhaltung bestimmter Mengenverhältnisse. Es handelt sich hier um eine ein- heitliche Verbindung, welche im Gegensatz zum Neosalvarsan selbst nach längerem (24stündigem) Stehen an der Luft keine Zunahme der Giftigkeit erfährt.

Das Neosilbersalvarsan ist ein braunschwarzes Pulver, das in evakuierten Röhrchen in den Handel kommt und sich sehr leicht und klar mit hellbrauner Farbe und schwach alkalischer Reaktion in Wasser löst. Sein Arsengehalt beträgt etwa 20%, der Silbergehalt ca. 6%. Hinsichtlich der Toxicität nimmt es nach Kolle im Tierversuch eine Mittelstellung zwischen dem Silbersalvarsan und dem Neo- salvarsan ein; sein chemotherapeutischer Index ist derselbe, wie der des Silber- salvarsans. Kolle bezeichnet es daher als ein durch Einführung der Silberkom- ` ponente biologisch aktiviertes Neosalvarsan.

Nach E Hoffmann wird es in 10—20 cm? destillierten Wassers gelöst und zweimal wöchentlich in Dosen von 0'3—0'45 g bei Männern und 02-04 g bei Frauen intravenös appliziert. Zimmern verwendet im poliklinischen Betrieb eine 10% ige Stammlösung, von der die nötigen Mengen (02—05 cm? mit 10 cm? Wasser verdünnt) entnommen werden. Die Gesamtdosis beträgt 3—4, bzw. 45 g.

Spirochäten, serologische Reaktionen und klinische Erscheinungen sollen im

allgemeinen gut und prompt beeinflußt werden (E. Hoffmann, Fabry und Wolff,

Neuere Syphilistherapie. 3

Zimmern, Duhot, Galewsky, Ullmann, Hanemann, Stühmer, Hornemann, Bruhns, Liebner und Rado, Schiller u.a.), doch treten auch hier Rezidive auf, insbesondere nach ungenügenden Kuren und nach zu langen Intervallen (Zimmern). Nach Dreyfuß wirkt es bei Neurolues nicht ganz so intensiv wie Silbersalvarsan in gleicher Dosis, doch intensiver als die nicht mit Silber kombi- nierten Salvarsanpräparate; nach Ziegler ist es den älteren Salvarsanpräparaten nicht überlegen.

Nebenerscheinungen werden auch nach Anwendung des Neosilbersalvarsans genau wie bei den übrigen Salvarsanpräparaten beobachtet; die schweren Formen sollen fehlen und Dermatosen selten sein (Zimmern, Galewsky). Bruhns sah jedoch gerade hier verhältnismäßig häufig Dermatitiden auftreten. Hübner und Marr loben besonders ein als Neosilbersalvarsan hyperideal bezeichnetes Präparat, bei dem überhaupt keine Nebenerscheinungen mehr vorkommen sollen.

x

Ehe ich nun die anderen neueren Syphilisheilmittel, die nicht zu den Arsen- präparaten gehören, bespreche, möchte ich hier etwas ausführlicher auf die Neben- wirkungen der Salvarsanpräparate eingehen. Unsere Kenntnisse der Salvarsan- schädigungen sowie der Möglichkeiten, sie zu verhüten oder ihnen entsprechend therapeutisch zu begegnen, sind ja seit den diesbezüglichen Mitteilungen von Blaschko wesentlich vermehrt und erweitert worden.

Ganz allgemein gesprochen, wissen wir heute, daß es echte Salvarsan- schädigungen leichter, schwererer und schwerster Art gibt, die einzig und allein der Ausdruck einer Salvarsanintoxikation sind. Wir beobachten sie bei allen der bisher bekannten organischen Arsenpräparate mehr oder weniger häufig und graduell verschieden, aber alle zeigen den gleichen Typus. Sie lassen sich bei keinem dieser Präparate mit Bestimmtheit vermeiden, und wir besitzen keine Möglichkeit, mit Sicherheit vorauszusagen, ob sie bei einem unserer Patienten eintreten werden oder nicht. Zum Glück sind die schweren und schwersten Salvarsanzufälle zurzeit sehr selten geworden. Der praktische Arzt muß aber in jedem Falle, in dem er mit Salvarsanpräparaten arbeitet, auf ihren Eintritt, bzw. auf ihre Vorboten gefaßt sein und Mittel und Wege kennen, ihnen entsprechend zu begegnen. Dazu ist es notwendig, daß er sich genauestens mit der Klinik dieser Nebenerscheinungen vertraut macht und insbesondere ihre Prodrome gut kennt und sie entsprechend zu würdigen weiß. Selbstverständlich muß er auch die Technik der Salvarsananwendung gründlich beherrschen, völlig aseptisch arbeiten und schadhafte Prä- parate von der Verwendung ausschalten.

Es wäre im Interesse der leidenden Menschheit schwer gefehlt, etwa auf die Salvarsanpräparate in Hinsicht auf ihre eventuellen Nebenwirkungen verzichten zu wollen. Es gibt insbesondere in der Syphilistherapie kein wirklich wirksames Mittel, das nicht auch Nebenwirkungen, leider auch oft schwerster Art, entfaltet. Das Sal- varsan ist zurzeit aber unsere mächtigste Waffe, die wir im Kampfe gegen die Syphilis besitzen. Es leistet, richtig und in entsprechender Dosis angewendet, bei der Syphilis aller Stadien, insbesondere aber bei der primären, seronegativen Syphilis, Vorzügliches, worin es von keinem der anderen, uns gegenwärtig zur Verfügung stehenden Mittel übertroffen wird. Wir modernen Syphilistherapeuten können und dürfen darum heute noch nicht auf die Salvarsanpräparate verzichten. Hoffen wir aber, daß es der rastlosen Tätigkeit der chemischen Industrie in Verbindung mit zielbewußten, erfahrenen Forschern gelingen möge, uns ein anderes, gleichwertiges

1*

4 Paul Mulzer.

Präparat zur Bekämpfung der Syphilis zu schenken, das mit dem Arsen nichts zu tun hat und seine ihm und allen seinen Abkömmlingen eigenartigen, unheimlichen Nebenwirkungen nicht besitzt! Bis heute ist dies leider noch nicht der Fall.

Die allgemeinen Nebenwirkungen der Salvarsanpräparate, die ja, wie wir bereits gesehen haben, bei allen Salvarsanpräparaten mehr oder weniger häufig und graduell mehr oder minder verschieden schwer auftreten, hängen in erster Linie natürlich ab von der Güte und Reinheit des Präparates, exaktes Arbeiten, peinlichste Sauberkeit und entsprechende Dosierung seitens des Arztes und zweckmäßiges Verhalten des Patienten als selbstverständlich vorausgesetzt. Beschädigte Ampullen, die zersetztes, in seiner Farbe verändertes Salvarsan enthalten, dürfen nicht verwendet werden. Nach Roth kann sich das Salvarsan aber auch in geschlossenen Ampullen in bezug auf seine Farbe, Lös- lichkeit, Beweglichkeit in. der Ampulle und Toxicität ändern. Man soll es im Eisschrank aufbewahren, weil esdabei am konstantesten bleiben soll. Eine Zeitlang wurde von Fälschern und Schiebern gefälschtes Salvarsan in den Handel gebracht. Solches darf natürlich ebenfalls nicht verwendet werden. In der ersten Zeit der Salvarsanära war das Salvarsan, inklusive des Neosalvarsans, weit giftiger als heute. Ich erinnere an die diesbezüglichen Publikationen aus der Straßburger Hautklinik, die alle auf eigenen, völlig einwandfreien Beobachtungen beruhen. Daß dies heute weit weniger der Fall ist, ist wohl in erster Linie darauf zurückzuführen, daß man im Laufe der Zeit gelernt hat, das Salvarsan mehr zu entgiften und reiner herzustellen. Aber immer noch bedeutet, wie mir von autoritativer chemischer Seite gesagt wurde, die einwandfreie Herstellung der Salvarsanpräparate einchemisches Kunststück, und da kann es immer wieder einmal vorkommen, daß dies weniger gut glückt. Das beweist ja auch die Tatsache, die besonders gehäuft in den Jahren 1920—1921 beobachtet wurde, daß sich ganze Serien von Salvarsanpackungen als höchst giftig erwiesen. Wir haben dies sowohl hier in München, wie überhaupt in Deutschland (z. B. Klinik Arndt, Berlin, Klinik Zinsser, Köln) und in anderen Ländern, in der Schweiz (z. B. Oltramare, Bloch), Holland (van der Velde), Amerika, Frankreich, Spanien u. a. beobachtet. Dubreuilh u.a. fordern daher, die als toxisch gefundenen Kontrollnummern einer Zentralstelle mitzuteilen, die für die Einziehung dieser toxisch wirkenden Serien zu sorgen habe. Es genügt meines Erachtens, sie umgehend der Fabrik in Höchst a.M. mitzuteilen, wodurch wohl das gleiche, doch bedeutend rascher bewirkt werden dürfte. Eine sorgfältige Nummernkontrolle ist zu diesem Zwecke bei der Anwendung der Präparate unbedingt notwendig. Leider sind die Nummern, besonders auf dem Boden der äußeren Packung, nicht immer gut leserlich,

Bei dem Zustandekommen der Nebenwirkungen der Salvarsanpräparate spielt sicher in vielen Fällen auch eine individuelle Überempfindlichkeit gegen diese Medikamente eine große Rolle. Wir besitzen indes noch kein Mittel, um dies mit Sicherheit bei jedem unserer Patienten, die wir mit Salvarsan behandeln werden, vor dieser Behandlung festzustellen. Erst während der Kur bemerken wir dies aus Anzeichen, die weiter unten besprochen werden und auf die wir sorgfältig achten müssen. Die Nebenwirkungen hängen weiter davon ab, ob der Organismus, abgesehen von der syphilitischen Er- krankung, gesund ist. Vor allem müssen Nieren und Leber gut funktionieren, wovon sich jeder Arzt, ehe er eine Einspritzung von Salvarsan vornimmt, bzw. während einer mit Hg kombinierten Sal- varsankur durch jedesmalige diesbezügliche Urinuntersuchung zu überzeugen hat. Nach Wechselmann sind die üblen Zufälle, insbesondere die Todesfälle, nach Salvarsanapplikation auf eine geschädigte Nieren- funktion zurückzuführen, eine Ansicht, die von anderen Seiten indes bestritten wird. So reagierte z. B. nach Weiss und Corson ein Patient mit erhöhtem Reststickstoffgehalt im Blute nicht im ge- ringsten auf Salvarsan, während ein völlig Nierengesunder die schwersten Zufälle zeigte. Der in der Gegenwart zum Glück wieder ziemlich seltene Ikterus wird, wie wir noch sehen werden, vielfach auf eine primäre Erkrankung der Leber zurückgeführt. Auch die Schwächung des Organismus durch interkurrente Erkrankungen, Schnupfen, Bronchialkatarrh, insbesondere durch Grippe und Malaria, aber auch durch Unterernährung, vor allem durch die Kriegs- und Nachkriegskost mit ihrem Fett- und Zuckermangel, spielt entschieden eine große Rolle für das Zustandekommen der üblen Salvarsannebenwirkungen. Jacobsohn und Sklarz stellten an Tierversuchen fest, daß durch Kalium- vorbehandlung die Toxicität minimaler Salvarsandosen erhöht wurde, wodurch die gehäuften Salvarsan- schädigungen bei vorwiegend vegetabilischer Kost erklärt würden. Es ist Pflicht des behandelnden Arztes, sich in jedem Falle vor Beginn einer Salvarsankur durch eine gründliche körper- liche Untersuchung von dem Gesundheitszustand seines Patienten zu überzeugen, insbesondere sollte bei älteren Leuten stets eine Blutdruckmessung (Vorsicht bei erhöhtem Druck!) und eine genaue, eventuell orthodiagraphische Untersuchung des Herzens vorgenommen werden. Selbstverständlich ist während der Behandlung ständig die Temperatur und das Gewicht zu kon- trollieren. Man muß stets auch achten auf eventuell vorliegenden Basedow oder Status lymphaticus, der unter Umständen eine Kontraindikation für Salvarsananwendung bildet. Fritz konnte z. B. bei seinen 7 Todes- fällen (Encephalitis) nach Salvarsan sämtlich Zeichen eines vorhandenen Status thymo-Iymphaticus fest- stellen. Nach Kritschewsky haben alle krankhaften Erscheinungen nach Salvarsananwendung als gemein- same Ursache die Abnahme der Dispersionsfähigkeit des Blutes. In vivo und in vitro soll das Salvarsan eine außerordentliche Fähigkeit besitzen, die Dispersion der Blutkolloide herabzusetzen. Viele der nach Salvarsaneinspritzungen auftretenden Nebenwirkungen, insbesondere die sogenannte „nitroide Krise“, werden von verschiedenen Forschern in Zusammenhang gebracht mit der nach ihrer Ansicht bei jeder Salvarsaninjektion auftretenden hämoklasischen Krise Nach Golay und Benveniste darf diese aber nur dann als positiv betrachtet werden, wenn Leukocytensturz, Blut- drucksenkung und Umkehrung des leukocytären Blutbildes gleichzeitig gefunden werden. Leuko- cytenzählung allein genügt nicht, ein solches Phänomen anzunehmen; alle 3 Erscheinungen vereinigt fanden diese Autoren aber niemals. l

Manche Erscheinungen, insbesondere das Fieber und die Herxheimersche Reaktion, bzw. die Neurorezidive sind teilweise auch zu erklären durch den Einfluß der Endotoxine der unter

Neuere Syphilistherapie. 5

Salvarsanwirkung massenhaft zerfallenden Spirochäten. Verschiedene Kliniker neigen über- haupt zu der Auffassung, die sogenannten Salvarsanschädigungen mehr auf das Konto der vor- handenen Lues zu setzen. Demgegenüber ist zu bemerken, daß wohl fast alle als echte Salvarsan- schäden anzusehenden unangenehmen Nebenwirkungen auch bei Nichtluetischen, die aus irgend einem Grunde Salvarsan eingespritzt erhielten, beobachtet wurden. Belege dafür finden sich zahlreich in dem bekannten Mentbergerschen Buche sowie in der vorliegenden neueren Literatur.

Schließlich ist noch zu erwähnen, daß vielfach, insbesondere von französischer Seite, behauptet wird, die Salvarsanschädigungen würden nur bei intravenöser Applikation beobachtet. Milian betont aber mit Recht, daß diese auch nach subcutaner Anwendung auftreten und im allgemeinen unabhängig von der Größe der Dosis sind. Er beobachtete nach den kleinsten subcutanen Salvarsandosen das Auftreten eines schwersten angioneurotischen Symptomenkomplexes, eine Hirn- schwellung mit tödlichem Ausgang und eine letal endigende Dermatitis.

Um nun auf die allgemeinen Nebenwirkungen der Salvarsanpräparate selbst einzugehen, so ist hier in erster Stelle zu nennen das |

Fieber.

Auch heute noch beobachtet man eine, am häufigsten etwa 10 Stunden nach der ersten Salvarsaninfusion auftretende fieberhafte Reaktion, die nicht selten 39—40° erreicht und meist mit Schüttelfrost einhergeht.

Wir wissen heute, daß für dieses Fieber weder der sog. „organische« (Wechselmann), noch der „anorganische Wasserfehler“ (Emery) oder fehlerhafte Technik in Betracht kommen. Insbeson- dere die Untersuchungen von Mulzer an der Straßburger Hautklinik haben dazu beigetragen, das „Märchen vom Wasserfehler“ illusorisch zu machen. Wir erfahren immer wieder, daß selbst kleine Salvarsandosen mit nur wenig völlig frisch destilliertem und sterilisiertem Wasser in Schalen aus Jenenser Glas gelöst und in Spritzen aus gleichem Glase aufgesogen, hohes Fieber auslösen, und ander- seits sehen wir, daß wir absolut keine fieberhafte Reaktion, insbesonders bei den weiteren Einspritzungen erhalten, selbst wenn wir gewöhnliches Leitungswasser zur Herstellung der Lösung verwenden. Das teuere käufliche „Ampullenwasser“ ist meiner Ansicht und Erfahrung nach völlig unnötig für die Salvarsantherapie. Dieses Fieber, das besonders in der ersten Zeit der Salvarsanära so gut wie regel- mäßig gesehen wurde und uns zwang, allen Patienten anzuraten, sich nach der ersten Infusion für 24 Stunden ins Bett zu legen, wird gegenwärtig weit seltener, aber immer noch häufig genug beobachtet. Es tritt insbesondere bei frischer, florider Syphilis auf und wird daher mit Recht wohl teilweise auf die spirillocide Wirkung des Salvarsan zurückgeführt bzw. als Endotoxinfieber aufgefaßt. Man beobachtet ja bei frischer Syphilis auch nach den ersten Quecksilber- und Wismut- einspritzungen Fieber. Dieses specifische Fieber erreicht aber niemals die Höhe, die das Fieber nach Salvarsaneinspritzungen in der Regel zeigt, selbst bei stärkster Jarisch-Herxheimerscher Reaktion. Dieses Phänomen, das im wesentlichen in einem Anschwellen der Primäraffekte und in einer stärkeren Rötung und Schwellung des Exanthems besteht, wird wohl allgemein ebenfalls auf eine Endotoxinwirkung der unter dem Einfluß des specifischen Mittels zerfallenden Spirochäten zurück- geführt. Daraus und aus dem Umstande, daß das stärkere Fieber auch nach Salvarsaneinspritzungen bei Nichtsyphilitischen auftritt, geht hervor, daß für die Entstehung dieses Fiebers auch die zum ersten Male in den Organismus eingeführte Substanz, eben das Salvarsan (Salvarsan- fieber), verantwortlich gemacht werden muß.

Das Fieber hält gewöhnlich nur kurze Zeit an, ebenso wie die nicht selten gleichzeitig vorhandenen Kopfschmerzen, leichte Übelkeit, Erbrechen, er- schwerte Atmung, Unruhe, Durchfall, Kreuzschmerzen und geringfügige Störungen der Herztätigkeit. |

Einer besonderen Behandlung bedürfen das Fieber und diese geringfügigen Begleiterscheinungen meist nicht. Unter Umständen gibt man etwas Pyramidon (0:1 —0:3) oder Coffein-Natrium benzoicum (0:75), macht kühle Umschläge auf den Kopf und verordnet Ruhe und blande Diät. Erwähnt sei, daß Kopalewski, der die nach intravenöser Salvarsaninfusion auftretenden Erscheinungen, wie Schüttelfrost und Temperatursteigerungen, als anaphylaktische Phänomene bzw. im Sinne einer physikalischen Auffassung der Anaphylaxie als Folge kolloidaler Serum- ausflockungen auffaßt, sie durch Zusatz von 3—4 Tropfen Äther in die konzen- trierte Neosalvarsanlösung und durch langsame Injektion oder durch Wahl einer 20%igen Zuckerlösung als Lösungsmittel vermeiden zu können glaubt.

Wiederholen sich diese Erscheinungen, treten insbesonders nach jeder oder auch nur nach den nächstfolgenden Einspritzungen Tempe- ratursteigerungen auch nur leichter Art auf, dann ist größte Vorsicht

6 Paul Mulzer.

geboten sowohl in der Steigerung der Dosis als auch in der weiteren Verwendung des Salvarsans überhaupt!

An dieser Stelle sei hingewiesen auf die beachtenswerten Mitteilungen von Friedmann, daß durch Salvarsaninjektionen latente Malariafälle provoziert werden können. W. Fischer, Glaser, Sklarz, Isaac-Krieger und Löwenberg, Hanel, Gordon u. a. haben diese Wahrnehmungen gleichfalls gemacht. Nach Gordon sind nach dem Kriege in Deutschland bis Anfang 1923, 70 Fälle von durch Salvarsan provozierter Malaria bekannt geworden. Von diesen hatten 13 Deutschland nie verlassen und 19 waren nicht im Felde gewesen. Von diesen 32 hatten 29 = 897% Lues in der Anamnese, 3=10'3% nicht. Die Tropicaart kann nach Gordon wahr- 'scheinlich überwintern; diese Winterinfektion kann aber auch das Zeichen einer langen, 6—9 Monate dauernden Latenz sein. Da das Salvarsan eine manifeste Tropica- malaria therapeutisch oft nicht beeinflusse, sei es wichtig, auch ohne klinische Anhalts- punkte bei verdächtigen Personen schon nach den ersten Salvarsan- injektionen, insbesondere bei jedem Fieberanstieg, auf Malaria zu fahnden. Der durch Lues und Malaria geschwächte Organismus reagiert nämlich nach Ausbruch der Infektion anders als ein normaler auf Salvarsan. Tatsächlich wurden verschiedene Todesfälle und eine Reihe von schweren Salvarsanschädigungen, ins- besondere solche, die unter dem Bilde einer akuten gelben Leberatrophie verliefen, bei latenten Malariakranken gesehen.

Angioneurotischer Symptomenkomplex.

Im Anschluß an Salvarsaninjektionen beobachtet man ferner häufig Erschei- nungen, die in ihrer Gesamtheit als angioneurotischer Symptomenkomplex bezeichnet werden. Unmittelbar nach oder schon gegen Ende der Injektion tritt Atemnot, Rötung, Cyanose des Gesichtes, starkes Hervortreten der Augen und der Temporal- und Halsgefäße, Schwellungen im Gesicht und im Mund, Erstickungs- gefühl, Üblichkeit, Erbrechen auf. Gelegentlich kann es auch zu Hämorrhagien, zu Asthma und zu Speichelfluß mit Blutbeimischungen kommen. Mitunter tritt gleich- zeitig auch eine universelle Urticaria auf. Dieser Erschetnungskomplex, der graduell verschieden bei allen bisher bekannten Salvarsanpräparaten beobachtet wird, wurde wegen seiner großen Ähnlichkeit mit den Erscheinungen nach Einatmung von Amylnitrit von Milian auch als „nitroide Krise“ bezeichnet. Er unterscheidet hier 3 Formen, nämlich: 1. die gewöhnliche kongestive Form der normalen Krise mit Erbrechen und Durchfall, 2. eine vorübergehende Form mit Synkope und Kongestion und 3. eine schwere, shokartige Form, die er „Crise blanche“ nennt. Nach 10—30 Minuten bis höchstens 2—3 Stunden ist gewöhnlich auch der schwerste Anfall, der sehr bedrohlich aussehen kann, vollkommen vorbei, nur ein leichtes Schwächegefühl bleibt noch für einige Tage bestehen. Die Erscheinungen des angio- neurotischen Symptomenkomplexes treten selten nach der ersten Einspritzung auf. Gewöhnlich stellen sie sich erst nach 3—4 kleineren Gaben ein, treten dann aber regelmäßig auch nach der kleinsten Dosis auf.

Die Ursachen für diese Erscheinungen liegen einmal in der zu schnellen intravenösen Injektion und der zu starken Konzentration der Salvarsanlösung. Wir wissen aber, daß dieser Komplex auch nach subcutaner Applikation des Salvarsans beobachtet wird. Es werden also bei dem Zustandekommen dieser Erscheinung auch noch andere Faktoren eine Rolle spielen müssen. Wechselmann und Tscherbenzow nelımen einen Zusammenhang mit syphilitischen

eränderungen am Centralnervensystem an; nach Wechselmann handelt es sich um einen vom Depressor ausgelösten Reiz. Milian ist der Ansicht, daß die nitroide Krise unmittelbar vom Präparat selbst abhänge. Das saure Salvarsan wirkt ausgesprochen gefäßdilatatorisch und führt fast stets, in 80%, zu Kongestionen. Bei alkalischem Salvarsan tritt eine solche Reaktion nur in 10% der Fälle ein; diese Zahl steigt jedoch bei unvollkommener Alkalescierung. Beim Neosalvarsan will

Neuere Syphilistherapie. 7

er diese Zustinde weit seltener, nur etwa fh 50%, beobachtet haben, was nach meiner Erfahrung aber doch als zu niedrig gegriffen erscheint. Länger der Luft ausgesetztes, bzw. oxydiertes Neosalvarsan verursacht die Krise häufiger. Weiter spielt nach Milian der Zustand des Individuums eine gewisse Rolle. Die betroffenen Individuen haben seiner Ansicht nach nämlich erstens eine Neigung zu Vasodilatation (Ektasophilie), die auf einer humoralen Konstitution beruhen soll, welche die Zersetzung des Salvarsans in toxische Zwischenprodukte begünstige, und zweitens eine Insuffizienz des Gefäß- tonus. Die erstere soll von der Alkalescenz des Blutes abhängen. Die Ektasophilie ist nach Milian lediglich durch Insuffizienz der Nebenniere bedingt und kann durch Adrenalinzuführung behoben werden. Auch die Gehirnschwellung (Apoplexie nerveuse) ist nach Milian nur eine nitroide Krise des Gehirns. Sympathicusstörungen spielen bei diesen Zufällen eine große Rolle, da das Salvarsan seiner Ansicht ach nicht so sehr neurotrop als vielmehr sympathicotrop ist. Zwischen der nor- malen Krise und den sonstigen Arsenschädigungen bestehen sicher Zusammenhänge, so daß schon die normale Krise als ein Warnungszeichen anzusehen ist.

Prophylaktisch wird man, vor allem beim Silbersalvarsan, eine zu rasche intravenöse Infusion der Salvarsanpräparate vermeiden müssen. Wie wir bereits gehört haben, soll sie 7—10 Minuten dauern. Milian rät die stark verdünnte Salvarsanlösung fraktioniert in der Weise zu injizieren, daß man zuerst 1—3 cm? einspritzt, dann '/, Minute wartet und dabei genau den Puls kontrolliert. Bleibt dessen Frequenz gleich, dann fährt man in gleicher Weise fort, bis nach 10 Minuten die ganze Einspritzung vollendet ist. Tritt Pulsbeschleunigung auf, dann soll man warten, bis der Puls sich wieder beruhigt hat. Auch darf die Salvarsanlösung nicht zu konzentriert sein. Es empfiehlt sich z. B. das Neosalvarsan durch- schnittlich in 10—20 cm? Flüssigkeit zu lösen. Wenn man bei der Injektion eine größere Spritze nimmt und nach Einführung der Nadel in die Vene noch einige Kubikzentimeter Venenblut in die Salvarsanlösung aufsaugt, so wird er- fahrungsgemäß die Einspritzung besser vertragen. Flandin schlägt sogar vor, die zur Injektion bestimmte Salvarsanmenge nur in 1 cm? Wasser zu lösen, sie in eine 10 cm? haltige Spritze aufzuziehen und dann noch 9 cm? Blut zu aspirieren. Man soll hierauf 5—10 Minuten warten, ehe man dieses Gemisch injiziert. Durch den Kontakt mit dem Blute würde das Salvarsan desensibilisiert und anaphylaktische Erscheinungen würden dadurch teilweise vermieden („Exohämophylaxie“). Schuh- macher rät, die möglichst hoch schulterwärts angelegte Binde auch während der Infusion und nach Beendigung derselben noch 5 Minuten liegen zu lassen und sie dann langsam und ruckweise zu lösen. Durch Wechsel des Prä- parates vermeidet man oft ebenfalls den Wiedereintritt des angioneurotischen Symptomenkomplexes. |

v. Rhomberg empfahl, kurz vor der Salvarsaninjektion subcutane Ein- spritzungen von 05 1cm?Solutio Adrenalini oder Suprarenini (1: 1000) vorzunehmen. Diese Maßnahme wirkt meist auch ausgezeichnet therapeutisch. Auch Milian gibt prophylaktisch und therapeutisch Adrenalin, u. zw. zur Bekämpfung schwerer Krisen große Dosen, bis 5—7 mg in 1—2 Stunden subcutan, bzw. intramuskulär. Gleichzeitig verabreicht er aber Adrenalin auch intravenös, aber in allerkleinsten Mengen. Es genügt, wenn man hierzu die zur intramuskulären Injektion verwendete Spritze mit 2—3 cm? Kochsalzlösung füllt und diese dann einspritzt. In ihr findet sich spurenweise noch so viel Adrenalin, daß das Herz dadurch bei jeder Vergiftungs- synkope angeregt wird. Reinhard und Eichelbaum geben vor der Salvarsaninfusion 1/,—?/, cm? der 1% gen Suprareninlösung (synthetisches Präparat der Höchster Farbwerke) und die gleiche Menge auch therapeutisch subkutan oder 1. cm? intra- venös, was eine weit intensivere Wirkung auslöst. Man muß bei der Adrenalin- bzw. Suprareninanwendung wissen, daß diese Präparate aber bei intravenöser Appli- kation auch ihrerseits wieder Nebenwirkungen entfallen können, die sich in Schwindel, Erbrechen, Atembeschwerden und Krämpfen der Kiefer-, Hände- und Armmuskulatur äußern können. Besonders mit der intravenösen Einspritzung des Adrenalins muß

8 Paul Mulzer.

man sehr vorsichtig sein, da hiernach die eben besprochenen Nebenerscheinungen dieses Mittels viel ausgesprochener auftreten können.

Sicard nimmt bei Auftreten des angioneurotischen Symptomenkomplexes intravenöse Injektionen von Natrium carbonicum vor, u. zw. 06—0'75 in 30 cm? physiologischer Kochsalzlösung gelöst. Das Mittel wird sterilisiert in hartem Glase zur Verwendung bereit gehalten. O. Salomon empfiehlt, zur Vermeidung des angio- neurotischen Symptomenkomplexes und zur Behandlung einer eventuell auftretenden Urticaria von einer starken Staimmlösung von Calcium chloratum und Aqua destillata ana 10—20 Tropfen in etwa 10 cm? abgekochtem Leitungswasser intravenös zu injizieren, bzw. darin das Salvarsan zu lösen. Dieses Mittel soll ebenso gut wie Afenil- Knoll (Ca-haltig), das von anderer Seite (Stümpke u.a.) empfohlen wurde, wirken, dabei aber wesentlich billiger sein. E. Hoffmann rät ebenfalls, 05—1 cm? einer 50%igen starken Lösung von Calcium chloratum in der Weise zuzusetzen, daß aus der die Lösung enthaltenden Flasche !/,—1 cm? in die Salvarsanlösung aufgesogen und dann langsam, zur Vermeidung des leicht auftretenden Wärmegefühles, injiziert werden. Wiesenac hat experimentell festgestellt, daß eine Toleranzerhöhung gegenüber Salvarsan erzielt wurde durch dessen Auflösung im eigenen oder art- eigenen Serum und nach Anreicherung des Organismus mit intravenös verabreichten Calciumlösungen. Noch größere Toleranz erzielte er durch Kombination dieser Methoden mit Vorlegen einer kleinsten Schutzdosis von Salvarsan 24 Stunden vor Ver- abreichung der letalen Dosis, welches Vorgehen auch Kolle empfohlen hat. Letzteres hat sich auch klinisch allgemein gut bewährt. Wiesenac hat übrigens experi- mentell auch eine Steigerung der Widerstandskraft des Organismus durch die Auf- lösung desSalvarsans in 1 %iger Na-Cl-Lösung und vor allem in 1 %iger Normosal- lösung (Calcium, Kalium, Natrium) gesehen. Assmann allerdings will recht schlechte Erfahrungen gerade mit in Normosal gelöstem Salvarsan gemacht haben, weshalb er auch diese Methode auf das entschiedenste verwirft.

Erwähnt sei noch, daß Scholtz und seine Mitarbeiter die Giftigkeit des Sal- varsans durch Traubenzuckerlösungen herabsetzen wollen. Kolle hat diese Tatsache auch experimentell festgestellt. Salvarsan in Verbindung mit 15 g Trauben- zucker (30 cm? der 50%igen Lösung) soll außerdem doppelt so stark spirochätocid wirken als ohne diesen Zusatz. Auch Kopaczewski, Duhot, Planner und Kyrle und andere Autoren empfehlen die gleichzeitige Applikation von .Traubenzucker- lösungen. Jessner betont dem gegenüber, daß nach Traubenzuckerverwendung häufig Thrombenbildung beobachtet wurde, was diesem Verfahren gegenüber ent- schieden zur Vorsicht mahnt.

Milian rät noch, am Vortage bis zum folgenden Tage nach einer Salvarsan- injektion jede körperliche Anstrengung vermeiden zu lassen und ebenso Nacht- wachen und ähnliche die Nerven reizende Tätigkeit, eine Forderung, die zweifellos berechtigt ist, sich aber praktisch wohl nur selten vollkommen durchsetzen lassen dürfte. Die Salvarsaninjektion soll nicht bei vollem Magen, aber auch nicht ganz nüchtern gegeben werden. 1—3 Stunden nach der EES soll keine Nahrung genommen werden.

Im Anschluß an den angioneurotischen Symptomenkomplex, aber auch ohne denselben, können nach einer Salvarsaninjektion urticarielle und dem Erythema multiforme ähnliche Exantheme entstehen, die zwar meist ebenfalls rasch wieder schwinden, aber doch zu einer gewissen Vorsicht in der weitern Ver- wendung des Salvarsans Anlaß geben. „Alle diese Hautreaktionen deuten auf

Neuere Syphilistherapie. 9

eine Überempfindlichkeit gegen einen im Salvarsan enthaltenen Stoff hin, vergleichbar den Reaktionen, wie sie entstehen nach anderen Medikamenten, am häufigsten nach Antipyrin, Atophan, Nirvancl und nach sog. Autointoxikationen vom Darm aus“ (Pincus). Sie leiten über zu der gefährlichsten der durch Salvarsan hervorgerufenen Erkrankungen der Haut, der sog. |

Salvarsandermatitis.

Die Salvarsandermatitis tritt sowohl nach intramuskulärer als nach intra- venöser Anwendung des Salvarsans auf. Nach letzterer wird sie naturgemäß schon deshalb häufiger beobachtet, weil diese Applikationsmethode gegenwärtig fast aus- schließlich angewendet wird. Sie beginnt in der Regel 8-10 Tage nach der Ein- spritzung, nicht selten im Anschluß an eine Angina. Pincus unterscheidet drei Formen der echten Salvarsandermatitis, nämlich eine leichte Form, die aus einem masern- ähnlichen Ausschlag, der meist unter leichter Temperatursteigerung und erheblichem Krankheitsgefühl auf der Brust und auf den Armen aufzutreten pflegt. Unter reicher Abschuppung verschwindet er gewöhnlich wieder nach 2—3 Tagen. „Diese ganz leichte Form ist recht häufig. Von ihr aus gibt es alle Übergänge bis zu den aller- schwersten, die durch septische Komplikationen zum Tode führen. Deshalb ist es ratsam, sofort die Salvarsanbehandlung auszusetzen. Eine einzige hinzukommende Dosis kann den Fall lebensgefährlich machen" (Pincus). Die mittelschwere Form zeichnet sich dadurch aus, daß die Affektion im Laufe von zwei bis drei Wochen allmählich auf den ganzen Körper übergeht und den Charakter einer universellen Erythrodermie annimmt. Auch sie kann unter trockener, dünner, lamel- löser Schuppung abheilen. Die.schwere Form der Salvarsandermatitits zeichnet sich dadurch aus, daß das Exanthem gleich von Anfang an oder wenigstens sehr bald in eine nässende Dermatitis übergeht. Das Allgemeinbefinden leidet zumeist sehr stark durch Sekundärinfektion. „Der Beginn der großen Gefahr ist der erste Furunkel“ (Pincus). Häufig erfolgt der Tod, doch ist auch Ausgang in Heilung möglich. Diese nimmt dann aber immer mehrere Monate in Anspruch und verlangt peinlichste Pflege und Aufmerksamkeit.

Stühmer, der annimmt, daß alle Nebenerscheinungen, die wir nach der Anwendung von Salvarsan auftreten sehen, vor allem alle Formen von Hauterschei- nungen, nicht durch das intakte Salvarsan erfolgen, sondern daß erst der bei der Fabrikation, beim Lösungsvorgang oder im Organismus vor sich gehende Oxyda- tionsprozeß diese toxische Produkte entstehen lasse (Oxydtoxine), unterscheidet 1. eine akute vasotoxine Salvarsandermatitis, deren Auftreten unmittelbar oder spätestens 1—2 Tage nach der Injektion erfolgt; 2. eine subakute anaphy- laktoide Salvarsandermatitis, die 6—12 Tage nach der ersten Einspritzung erfolgt. Der zeitliche Abstand von der ersten Injektion ist das Wichtigste; sie kann der Vorbote einer Hirnschwellung sein; 3. eine chronische Salvarsan- dermatitis und hier wieder eine Früh- und Spätform. Nach Abklingen der meist mehr urticariellen universellen Krankheitserscheinungen kommt es oft zu hartnäckigen Hautveränderungen an den Prädilektionsstellen des seborrhoischen Ekzems, weshalb ihm die Disposition zu seborrhoischen Ekzematiden eine ätiologische Rolle zu spielen scheint.

Außer dieser Dermatitis, die besonders in den Jahren 1920 bis 1921 recht häufig war und schwer verlief Arndt sah in dieser Zeit an seinem Material 11 schwere Fälle —, gegenwärtig aber doch wieder viel seltener ist, hat man auch andere Derma- tosen nach Salvarsananwendung gesehen, wie maculöse und papulöse Exantheme

10 Paul Mulzer.

und vor allem Hyperkeratosen, Lichen-ruber-ähnliche Ekzeme und Fälle, die ganz einem Lichen ruber planus glichen, mit typischen Schleimhauter- scheinungen im Munde (Buschke und Freymann, Schäfer, Frei und Tachau, E. Hoffmann, Wirz, Kleeberg, Troebs, Ullmann, Naegeli, Albert, Keller u. a.). Die Hyperkeratose findet sich meist an den Follikeln, doch kann es auch zur Ausbildung konfluierender hyperkeratotischer Herde und Schwielenbildung an Hand- tellern und Fußsohlen kommen. Meist sind diese Exantheme mit starker Pigmen- tierung verbunden, besonders an den dem Lichte ausgesetzten Stellen. Ferner hat man Fälle-von Pemphigus foliaceus beobachtet (Nicolas und Massia), die leichter als die klassische Form verliefen, Herpes zoster und, vor allem im Ausland nach Anwendung der Salvarsanersatzpräparate, purpuraähnliche Er- krankungen der Haut (Rabut und Oury, Lespinne und Wydooghe, Jareki, Callomon, Emile-Weil und Isch-Well u. a.). Doch hat auch Pet in Koblenz bei einem Manne nach der ersten Neosalvarsaninjektion flohstichähnliche Haut- blutungen am Unterarm gesehen, die er als eine Warnung vor weiteren Salvarsangaben auffaßt. Mitunter entsteht nur einfaches Hautjucken.

Wie bereits bemerkt, faßt man, im allgemeinen wohl ganz mit Recht, die Dermatitis nach Salvarsananwendung auf als den Ausdruck einer reinen Salvarsanintoxikation. Jadassohn und Zieler sehen in ihrem Auftreten eine „ganz specifische Reaktion des Organismus auf Salvarsan“, Dubreuilh beschuldigt hierfür die Benzolgruppe, nach Emile Weil und Isch Well handelt es sich hier aber mehr um eineSalversanintoleranz, nicht um eine Salvarsanschädigung. Wechsel- mann meint, daß die Hautentzündungen selten nach reiner Salvarsanbehandlung beobachtet würden, sondern meist nach kombinierten Kuren. Er warnt deshalb vor der Zuführung anderer Metalle (Hg, Arg) zum Salvarsan, ein Standpunkt, auf dem er wohl ganz allein steht. Wichtig ist es bei kombi- nierten Kuren natürlich festzustellen, ob das Exanthem seine Entstehung dem As oder dem Hg verdankt, denn darnach wird sich die weitere Therapie zu richten haben. Das ist aber durchaus nicht leicht. Nach Peters gelingt es nur dann mit Sicherheit, wenn Hyperkeratosen auf der Palma oder Planta auftreten; diese seien nämlich immer auf As zurückzuführen. Meirowsky rät, um diese Frage zu entscheiden, dem Kranken auf einen kleinen Fleck der gesunden Haut ein Queck- silberpflaster aufzulegen. Ist die Dermatitis durch Hg hervorgerufen, dann soll sich unter dem Pflaster Rötung und Nässen einstellen.

Die oben erwähnte Ansicht Wechselmanns trifft nicht zu; Hautentzändungen kommen ebenso häufig auch nach oder während reiner Salvarsankuren vor. Die Dermatitis hängt auch nicht ab von der Höhe der Dosis und ist auch keine Kumulativwirkung. Nach Moore kommen auch Ver- unreinigungen, Zersetzungen der Präparate hierfür nicht in Betracht, da sich zeigte, daß oft die Hälfte eines Präparates schwere Hautsymptome auslöste, während die andere keinerlei Er- scheinungen hervorrief. Auch der „Wasserfehler“, bzw. Sekundärinfektionen auf dieser Basis, die mitunter als Erklärung hier herangezogen werden, spielt hier keine Rolle, da die Dermatitis auch nach peinlichster Asepsis auftritt. Die Dermatitis ist auch keine Abart der Herxheimerschen Reaktion, da diese stets lokal, nicht diffus, wie die Salvarsanexantheme, ist. Nach Schiff handelt es sich hier um eine durch das Salvarsan, speziell den As-Kern, hervorgerufene Lähmung der Ca- pillaren, bzw. des Sympathicus. Anaphylaktische Vorgänge und eine durch die Syphilis oder durch As bedingte Leberinsuffizienz, durch welche die Entgiftung des Organismus leidet, sind mit in Betracht zu ziehen.

Die purpuraähnlichen Erkrankungen der Haut werden von Rabut und Oury auf die gerinnungswidrige Wirkung des Salvarsans zurückgeführt, die dieses Präparat in vitro und bei jeder Injektion bis zu 24 Stunden lang entfalten soll. Außerdem soll hier noch die allen As-Präpa- raten eigentümliche gefäßerweiternde Wirkung in Betracht kommen. Für die Lichen-ruber- ähnlichen Exantheme, insbesondere für die Fälle, die sich vom echten Lichen ruber planus nicht unterscheiden lassen, kommt, wie insbesondere die Fälle von Keller, Wirz und E. Hoff- mann zeigen, die Möglichkeit einer Koinzidenz von echtem Lichen ruber und Syphilis in Betracht. Ferner könnte nach Nathan hier in Betracht kommen, daß ein Lichen ruber durch Salvarsan provoziert würde. In der Mehrzahl wird es sich aber doch wohl auch hier um echte Salvarsanexantheme handeln, zumal wenn während der Behandlung die follikuläre Hyperkeratose und die Pigmentierung zunimmt (Nathan, Riecke). |

Prophylaktisch ist zu fordern, daß der Arzt der Haut der Patienten, die er mit Salvarsan behandelt, die größte Aufmerksamkeit schenkt. Jedes, auch das flüchtigste, Exanthem muß hier beachtet werden! Insbesondere bei Patienten, die zu seborrhoischen Ekzemen neigen, muß man stets auf der Hut sein. Ich selbst verlor einen Patienten, einen alten Tabiker, dessen Seborrhöe sich gegen Ende der Kur etwas verschlimmerte und plötzlich in eine schwere, letal endigende univer-

Neuere Syphilistherapie. 11

selle Dermatitis überging. Man muß selbstverständlich auch immer darauf achten, ob nicht eventuell eine latente hämorrhagische Diathese vorhanden ist. Un- regelmäßige reichliche Menstruation, Neigung zu Nasenbluten, Verringerung der Harnmenge bzw. verlängerte Blutungszeit und Verminderung der Blutplättchen müssen den Verdacht auf einen solchen Zustand stets hervorrufen (E. Weil). Nach Milian ist das isolierte Auftreten insbesonders einer einseitigen Conjunctivitis während einer Salvarsankur stets als Warnungszeichen dafür aufzufassen, daß das Salvarsan schlecht vertragen wird. Wird die Behandlung trotzdem weiter fortgesetzt, kommt es gewöhnlich zum Exanthem. Erwähnen möchte ich noch, daß Harrison die beginnende Intoleranz der Haut daran erkennen will, daß ein Fleck Jodtinktur, auf den Ellbogen gepinselt, bei der nächsten Einspritzung noch sichtbar sei.

Therapeutisch wird die Hautentzündung natürlich nach den Grundsätzen der Dermatologie mit Umschlägen, Puderungen, Kühlsalben, weichen Pasten behandelt. Stühmer empfiehlt 1/,%ige Salicylvaseline, die seiner Ansicht nach bei Sebor- rhöe geradezu specifisch wirkt, am besten als !/,%iges Zinköl. Salben werden meist nicht gut vertragen, besser Zinklotio. Auch kurzdauernde Bäder mit Bor- oder Kalium- permanganicum-Zusatz sind zu empfehlen. Kusnitzky und Langner empfehlen die _ Röntgenbehandlung der Dermatitis, sobald der Patient entfiebert ist. Der Juck- reiz soll dadurch vermieden, .die Verhornung angeregt und Pyodermien sollen hintangehalten werden. Von manchen Seiten (Heuck) werden bei beginnenden Pyodermien Trypaflavineinspritzungen empfohlen, von denen allerdings Cal- lomon keine überzeugende Erfolge gesehen haben will.

_ In letzter Zeit wird therapeutisch auch Calcium gegeben, das anscheinend einen leichteren Verlauf der Dermatitis gewährleistet. Ravaut empfiehlt Natrium thiosul- furicum, u. zw. 4—15 g einer 20%igen Lösung intravenös. Er beginnt tastend mit kleinen Mengen und setzt, vorsichtig steigend, die Behandlung dann längere Zeit fort. Auch Mc Bride und Dennie empfehlen diese Methode; sie geben von der sterilen Natrium-sulfuricum-Lösung bei As-Dermatitis sofort 0'3 intravenös, am nächsten Tage 0:45, am 3. Tage 0'6, am 4. Tage 0'9, am 5. Tage 1'2 und am 8. Tage 1'8. E. Hoff- mann empfiehlt ebenfals diese Methode. Das chemisch reine, gut sterilisierte Natrium- chiosulfat wird pro dosi in 10 cm? sterilem Wasser gelöst und intravenös möglichst sofort nach Auftreten des Exanthems injiciert. Der Behandlungsturnus entspricht dem von Mc Bride und Dennie. Das Abblassen des Exanthems soll sofort ein- treten und der Verlauf, der sonst 3—6 Monate in Anspruch nimmt, auf einige Wochen abgekürzt werden. Bei leichter und mittelschwerer Purpura empfehlen E. Weil und Itsch Well subcutane Einspritzungen menschlichen Blutes, bei schweren Blut- transfusion. Feron und Wydooghe raten hier zu Einspritzungen von 0'5g Witte- pepton im Serum.

Buschke und Freymann konnten von 21 schweren Salvarsanexanthemen 10 nachuntersuchen, von denen nur 2 mit Neosalvarsan und 8 auch kombiniert mit Hg behandelt waren. Der weitere Krankheitsverlauf war bei allen diesen Patienten ein so günstiger, daß die Autoren den Schluß zogen, daß Entzündungsvorgänge in der Haut, u. zw. auch nichtspecifische, für den Verlauf der Syphilis von höchster Bedeutung seien, bzw. daß auch gegen die To chäten die Abwehrstoffe, wenigstens zum Teil, in der Haut bereitet werden müßten. Bruck sowie verschiedene andere Autoren (Kusnitzky und Langner, Klaar, Kyrle, Gougerot u. a.) glauben, die Ansichten dieser Autoren bzw. die günstige Wirkung einer Hautentzündung auf die Lues mehr oder weniger bestätigen zu können. Andere wieder lehnen auf Grund ihrer diesbezüg- lichen Beobachtungen einen derartigen Einfluß gänzlich ab (Benveniste), wieder andere glauben, daß die verhältnismäßig seltene günstige Wirkung eines As- oder Hg-Exanthems auf den weiteren Verlauf einer Syphilis auf die hierbei stattgefundene (relative oder absolute) Überdosierung bzw. auf die Menge des hier verwendeten Medikamentes und die dadurch bedingte kräftigere

arzneiliche Durchtränkung der Gewebe zurückzuführen sei und daß daneben auch das Fieber noch Bedeutung habe (Birnbaum, Kleinschmidt).

12 | Paul Mulzer.

Erwähnt sei noch, daß mitunter auch sog. fixe Salvarsanexantheme beob- achtet werden (Gutmann). Man versteht darunter umschriebene erythematöse oder urticarielle Exantheme, die immer wieder nach Salvarsaninjektionen an der gleichen Stelle auftreten und rasch wieder verschwinden.

Ikterus und akute gelbe Leberatrophie.

Daß nach Salvarsananwendung Ikterus und akute gelbe Leberatrophie, u. zw. an einzelnen Orten gehäuft, auftreten können, hat Blaschko bereits erwähnt. In der Folgezeit mehrten sich diese Beobachtungen. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern traten besonders in den Jahren 1919 bis Anfang 1921 diese Komplikationen so gehäuft auf, daß eine große Literatur über sie entstanden ist. Zurzeit sieht man glücklicherweise wieder relativ selten ikterische Komplikationen nach oder im Gefolge der Salvarsanbehandlung. |

Man unterscheidet hier einen Frühikterus, der sich noch im Verlaufe der Kur, schon nach den ersten Spritzen, einstellen kann, einen Spätikterus, der durch- schnittlich 1—3 Monate nach der Kur auftritt, und endlich die akute gelbe Leber- atrophie, in welche beide Formen des Ikterus übergehen können. Aber auch ohne daß diese Erkrankungen vorher beobachtet wurden, kann eine akute Hepatitis entstehen.

Wie häufig diese Erkrankungen in den Jahren 1919 bis 1921 in Deutschland waren, geht aus der von Brandenburg in der „Med. Klinik“ seinerzeit veranstalteten Umfrage hervor, auf die ich hier verweise. Arndt hat in der Zeit von 1920 bis 1921 unter seinem reichen Berliner Material 231 Fälle von Salvarsanikterus beobachtet, darunter 73 im tertiären Stadium. Obwohl in dieser Zeit ikterische Erkrankungen und auch gelbe Leberatrophie auch bei Nichtluetikern entschieden gehäuft vorkamen, betont Arndt doch ausdrücklich, daß er unter vielen Tausenden von Haut- und Tripperkranken in dieser Zeit nur etwa 2—3 Fälle von Gelbsucht gesehen habe. Auch Gennerich, nach dem der Ikterus im Frieden kaum beobachtet wurde, sah während 1916 bis Anfang 1921 400 derartige Fälle, Minkowski beobachtete in der Zeit von 1920 bis 1921 in Breslau das gehäufte Auf- treten des einfachen katarrhalischen Ikterus wie der akuten gelben Leberatrophie. Auch Strümpell (1921) betont das in jener Zeit gehäufte Auftreten dieser Erkrankungen. Die diesbezüglichen Beob- achtungen vieler anderer Kliniker decken sich mit diesen Angaben. Ich möchte nur noch mitteilen, daß ich selbst in dieser Zeit in meiner Privatpraxis 7 Fälle und im hiesigen Standortlazarett 10 Fälle von Ikterus nach Salvarsanbehandlung sah; in einem Falle trat bei einer großen kräftigen Frau, die mit einem Manne, der Papeln am Penis und am After, sowie ein maculo-papulöses Exanthem hatte, verkehrt hatte und bei der ich eine prophylaktische Salvarsankur einleiten wollte, nach der ersten Injektion von 0'3 Neosalvarsan Ikterus auf. Luetische Erkrankungen waren bei ihr nicht vorhanden und sind auch in der Folgezeit nicht aufgetreten.

Aber nicht nur in Deutschland, das ja besonders schwer unter den Folgen des Krieges litt, auch in anderen Ländern sind solche Gelbsuchtepidemien bei Syphilitikern nach oder während einer Salvarsankur beobachtet worden. So stellte z. B. in der Schweiz Oltramare, der 1914 keinen einzigen und 1915 nur 2 Fälle von Ikterus trotz zahlreicher Einspritzungen sah, in der Zeit von April 1915 bis Mai 1920 104 Fälle von Ikterus nach Neosalvarsan fest, u.zw. 85 bei kombinierter Hg- und Neosalvarsankur, 2 nach Galyl und Hg und 4 nach Galyl allein. Außerdem sah er aber auch eine große Anzahl von Icterus simplex in dieser Zeit. Ähnliche Berichte liegen von Todd aus England vor, der über eine im Winter 1921 dort beobachtete Art von Icterus epidemicus nach Neo- salvarsan berichtete. Auch aus Frankreich, Holland und Amerika finden sich ähnliche Mit- teillungen in der Literatur.

Aus diesen Berichten geht nun zweifellos hervor, daß das zeitlich begrenzte gehäufte Auftreten der ikterischen Erkrankungen bei Syphilitikern nach Salvarsanbehandlung zusammenfällt mit einer Häufung dieser Erkrankungen, insbesondere des katarrhalischen Ikterus bei Nichtsyphilitikern. Mit Recht wird man daher wohl die geringere Widerstandsfähigkeit des Organismus infolge mangelhafter Ernährung (fleischarme Kost, das Fehlen von Fett und Zucker, schlechte Ersatzpräparate u. s. w.), unter der in jener Zeit fast alle Länder (auch die Schweiz nach Oltramares Bericht), Deutschland natürlich besonders, litten, mit für das Zustande- kommen dieser Erkrankungen beschuldigen. Minkowski weist beispielsweise darauf hin, daß hier mit großer Wahrscheinlichkeit eine durch die verschlechterten Lebensbedingungen herabgesetzte Widerstandsfähigkeit der Leber gegenüber Schädlichkeiten aller Art, insbesondere infektiöser Natur, verantwortlich zu machen sei. Auch Gennerich kommt zu einem ähnlichen Schluß; er glaubt, daß hier eine parenchymatöse Hepatitis vorliege, bedingt durch intestinale Intoxikationen, bei welcher die Salvarsanzufuhr eine neue Schädigung bedeute. Nach Oltramare wird durch die mangelhafte Ernährung in der Leber ein Locus minoris resistentiae den Spirochäten gegenüber geschaffen, so daß diese leichter für ein Hepatorezidiv empfänglich würde. Wir

Neuere Syphilistherapie. 13

kommen damit zu dem zweiten ätiologischen Faktor, der Syphilis, die gleichfalls hier eine große Rolle spielt, denn wir können, wie wir noch sehen werden, viele Fälle von sog. Salvarsanikterus durch eine vorsichtige specifische Kur heilen. E Mayer hält die Syphilis für den konstanten (vor- bereitenden) Faktor bei der Entstehung der akuten gelben Leberatrophie, zu dem noch besondere aus- lösende Momente (vor allem eine Gallengangsinfektion) hinzutreten können. Ähnlich urteilt Stümpke. Das Fehlen der Syphilis in der Vorgeschichte und der negative Ausfall der Wasser- mannschen Reaktion sollen im Einzelfalle nicht mit Sicherheit gegen eine syphilitische Grundlage sprechen. Auch Tachau, wie übrigens noch viele andere Autoren, die ich hier nicht einzeln erwähnen kann, vertritt den Standpunkt, daß es sich hier zumeist um einen Icterus syphiliticus handle. Demgegenüber ist aber doch daran festzuhalten, daß der syphilitische Ikterus ohne Behandlung immerhin ziemlich selten ist und daß auch die Hg-Therapie allein hierin keine Zunahme erzeugte. Nach Anwendung der Salvarsanpräparate ist dieser Ikterus aber ganz entschieden häufiger geworden, ganz abgesehen von seinem epidemischen Auftreten in den Jahren 1919 bis 1921. Das muß jeder unbefangene Kritiker zugeben!

Das Salvarsan muß und wird also hier ebenfalls eine mitwirkende Rolle spielen. Je nach ihrer te zum Salvarsan überhaupt wird diese Rolle von den verschiedenen Autoren ver- schieden gewürdigt. Heinrichsdorff ist als einer der ersten für die ätiologische Bedeutung des Salvarsans bei dem Zustandekommen der Lebererkrankungen bei mit Salvarsan behandelten Patienten eingetreten. Der Umstand, daß in Fällen, in denen keine Syphilis vorhanden war, nach Salvarsan- darreichung ebenfalls diese Erkrankungen auftreten, sowie die statistische Häufung der Leberatrophie in den letzten Jahren spricht ihm für diese Tatsache. Buschke erblickt im Icterus syphiliticus praecox nach Salvarsanbehandlung eine specifisch toxische Schädigung des Leberparenchyms durch das Salvarsan. Kisch und Freundlich teilen die Ansicht von Buschke und glauben, daß es jedenfalls auch eine reine Salvarsanschädigung der Leber gäbe. Auch Strümpell führt den gehäuft bei mit Salvarsan behandelten Syphilitikern auftretenden Ikterus auf eine gesteigerte Disposition des Körpers auch für andere ikterische Erkrankungen infolge Salvarsanschädigung der Leber zurück. Andere Autoren wieder, wie z.B. Herxheimer und Gerlach, Tachau u. a., lehnen jede Mitwirkung des Salvarsans ab. Ich möchte darauf hinweisen, daB in jene Zeit des gehäuften Auf- tretens der Ikterusfälle nach Salvarsanbehandlung die eingangs erwähnten Beobachtungen ganzer Serien, schlechter Salvarsan-, insbesondere Neosalvarsanpräparate fallen, und bin der festen Überzeugung, daß man in erster Linie diese Tatsache als ursächliche Komponente für das Entstehen dieser Gelbsuchtsepidemien in Betracht ziehen muß. Jetzt, wo die Salvarsanpräparate besser und einwandfreier hergestellt werden, sind, wie die übrigen Nebenwirkungen, auch die Ikterusfälle nach Salvarsanbehandlung weit seltener geworden, obwohl doch für den überwiegenden Teil unseres Volkes die Ernährungsbedingungen auch nicht besser geworden sind. Übrigens glaubt auch be Jakobsohn den Benzolkern meist infolge eines technischen Fehlers bei zersetztem Salvarsan für die toxische Leberparenchymschädigung nach Salvarsangebrauch verantwort- lich machen zu müssen.

Erwähnen möchte ich schließlich noch, daß unter Umständen auch die von Friedemann zum erstenmal erwähnte latente Malaria tropica bzw. ihre Provokation durch Salvarsan eine ätiologische Rolle insbesondere für die akute gelbe Leberatrophie spielen kann, denn diese Fälle treten meist unter diesem Krankheitsbild in Erscheinung.

Prophylaktisch wird man, wie bereits einleitend gesagt wurde, vor allem den Harn Syphilitischer, die man mit Salvarsan behandeln will, vor jeder Injek- tion auf die Gegenwart von Gallenfarbstoffen untersuchen. Für den Praktiker genügen hier vollkommen die allgemein üblichen Methoden (Schlesingers Reagens, Rosin- oder Gmellinsche Probe u. s. w.). Beachtung verdient eine prophy- laktische Maßnahme von Harrison, die darin besteht, dem Patienten eine halbe Stunde vor der Salvarsaninfusion 60 g Zuckerlösung zu geben, da seiner Ansicht nach leere Leberzellen das Arsenobenzol begieriger aufnehmen.

Das therapeutische Vorgehen richtet sich im allgemeinen darnach, ob man den Ikterus nach Salvarsan mehr als ein Symptom der Syphilis oder als eine toxische Wirkung des Medikamentes auffaßt. Da, wie wir gesehen haben, in vielen Fällen die Lues hier ätiologisch mitspielt, wird man, nachdem die akutesten Erscheinungen abgeklungen sind, eine vorsichtige antisyphilitische Behand- lung einleiten. Es empfiehlt sich, wie auch Jadassohn darlegt, unter allen Um- ständen zunächst nur Quecksilbereinspritzungen vorzunehmen, u. zw. ziehe ich: hier lösliche Präparate, das Hg succinimidatum in 1% iger Lösung, vor. Reagiert der Ikterus prompt, dann kann man gewöhnlich auch ohne Schaden und mit gutem Erfolg kleine Dosen Salvarsan weiter geben. Tritt auf die ersten specifischen Injektionen keine Besserung ein, dann muß man rein konservativ vorgehen.

bd

14 Paul Mulzer.

Die schwerste, aber glücklicherweise gegenwärtig ebenfalls wieder sehr seltene Form aller Salvarsanschädigungen ist die

Encephalitis haemorrhagica.

Die Encephalitis haemorrhagica, der Salvarsantod, tritt meistens nach der zweiten, seltener nach späteren Salvarsaneinspritzungen urplötzlich, „wie ein Blitz aus heiterem Himmel“, meist ohne irgendwelche Vorboten katastrophenartig ein und ist unabhängig von Alter und Geschlecht, bevorzugt jedoch junge, kräftige Individuen in den Zwanziger- und Dreißigerjahren, die, abgesehen von ihrer Lues, gesunde innere Organe und vor allem ein intaktes Nervensystem haben. Klassisch schildert sie Pincus folgendermaßen: „Diese Einspritzung (sc. die erste) wird ohne Störung ertragen. Einige Tage bis Wochen später erhält der Patient eine zweite gleicher oder meist höherer Dosis, erkrankt 36—48 Stunden später plötzlich oder nach einer Unruhe von einigen Stunden unter klonischen epileptiformen Krämpfen, wird bewußtlos und stirbt nach einigen Stunden bis zu zwei bis sechs Tagen. Das Gehirn zeigt starkes Ödem, vielfach kleine Blutungen um die kleinen Gefäße der weißen Hirnsubstanz, kann aber auch anscheinend ganz gesund befunden werden. Nicht alle Fälle verlaufen tödlich. Geht der Anfall vorüber, so erwacht der Kranke nach einigen Tagen aus seiner Bewußtlosigkeit, ist sofort vollkommen klar und auch körperlich wieder gesund oder leidet noch lange unter Lähmungs- erscheinungen oder sensiblen Reizerscheinungen der unteren Körperhälfte, die auf Rückenmarkstörungen hindeuten.“

Nach Meirowsky wird diese Encephalitis haemorrhagica am häufigsten in der sekun- dären Periode der Syphilis gesehen. Die Höhe der Dosis ist nach der statistischen Zusammen- stellung dieses Autors für das Zustandekommen dieser Erkrankung von ausschlaggebender Bedeutung. „je höher die Einzeldosis ist, desto häufiger die Encephalitis.« Es muß hier aber daran erinnert werden, daß insbesondere in der ersten Zeit die Todesfälle gerade nach kleinen Salvarsan- dosen beobachtet wurden.

Was die Häufigkeit dieser Todesfälle überhaupt betrifft, so gibt das bekannte Mentberger- sche Buch, das ganz unter dem Eindruck der üblen Erfahrungen geschrieben wurde, welche die Straße burger Hautklinik in den ersten Jahren der Salvarsantherapie mit diesem Mittel, insbesondere mit dem Neosalvarsan, machte, entschieden ein falsches Bild, da es ziemlich wahllos alle Todesfälle, die sich bei mit diesen Präparaten behandelten Menschen ereigneten, aufführt. Darüber ist viel genug in der einschlägi- gen Literatur geschrieben worden. Nach der sog. Kölner Salvarsanstatistik beträgt die Gefahrchance für die Zeit, in der diese Statistik geführt wurde, 1:18815 Injektionen. „Auf Grund der aus dieser Statistik gewonnenen Erfahrungen ist jedoch eine Reihe von Todesfällen nach menschlicher Voraus- sicht vermeidbar gewesen, so daß die unvermeidbare Gefahrchance aller Mittel zusammen (sc. Alt-, Natrium- und Neosalvarsan) auf 1:56445 zu berechnen ist. Bezüglich der einzelnen Mittel beträgt sie beim Altsalvarsan 1:1300), beim Natriumsalvarsan 1:20000, beim Neosalvarsan 1: 162800“ (Meirowsky).

Nun ist aber auch hier wieder das gleiche zu beobachten wie bei allen Salvarsannebenwirkungen: inden nn. 1919 bis 1921 sind auch die Todesfälle nach Salvarsan gehäuft aufgetreten! Während beispielsweise Arndt in den Jahren 1914 bis 1918 im ganzen 4 Todesfälle nach Salvarsanapplikation sah, ereigneten sich 1921 im Bereiche der von ihm geleiteten Universitätsklinik und Poliklinik 12 Todesfälle im unmittelbaren Zusammenhang mit der Anwendung von Salvarsan, 10 davon allein in den Monaten März bis August. Es handelt sich um 1 Encephalitis haemorrhagica, 3 Derma- titiden und 7 Fälle von akuter gelber Leberatrophie. Loeb, der in derZeit von 1910 bis 1918 einen einzigen Fall von Encephalitis nach Salvarsan sah, beobachtete in der Zeit von 1918 bis 1920 bei 6 Patienten Exitus infolge Encephalitis. Fritz (Innsbruck) sah in dieser Zeit 7 Fälle von Encephalitistod nach Salvarsan. Reif hatte 1921 innerhalb weniger Wochen 4 Fälle schwerster Encephalitis haemorrhagica, wovon 2 starben. Eine Überdosierung fand bestimmt nicht statt, auch die einzelnen Intervalle waren genügend groß. Aus der Literatur dieser Jahre lassen sich mühelos eine noch größere Anzahl von Encephalitis und Todesfällen nach Salvarsan zusammenstellen, als in der gesamten Zeit seit Beginn der Salvarsanbehandlung überhaupt und den letzten beiden Jahren zusammen notiert worden sind.

Daraus geht hervor, daß das Salvarsan, u. zw. schlechtes, bei der Fabrikation fehlerhaft hergestelltes, bzw. zersetztes als Hauptfaktor bei dem Zustandekommen dieser üblen Zufälle angesehen werden muß. Daneben mögen und werden gewiß auch alle übrigen Faktoren, die in den vorhergehenden Abschnitten als mitwirkend bei den Salvarsanschäden genannt worden sind, wie verminderte Widerstandskraft des Organismus infolge und Ersatznahrung, Grippeepidemie, Syphilis (Ceelen z. B. führt die Encephalitis auf eine Salvarsanschädigung in Verbindung mit syphilitischen Veränderungen am Gehirn zurück, andere Autoren fassen die Encephalitis

`

Neuere Syphilistherapie. 15

auf als eine Art Herxheimersche Reaktion), Überdosierung (s. oben!) u. a. mehr. Nach Henneberg, der die Präexistenz syphilitischer Veränderungen am Mechanismus des Salvarsanhirn- todes allgemein ablehnt, handelt es sich um eine Giftwirkung des Salvarsans an den Capil- laren oder Gefäßnerven, welche zum anatomischen Bilde der EE führen kann (nicht muß). Im allgemeinen sind sich wohl alle Autoren darin einig, daß die en haemorrhagica aufs engste in Zusammenhang mit dem Salvarsan steht, d. h. eine dire

nebenwirkung darstellt.

Erwähnen möchte ich noch, daß nach Wechselmann Nierenschädigungen, speziell durch gleichzeitige Hg-Behandlung hervorgerufen, eine große Rolle bei dem Zustandekommen der Salvarsan- todesfälle spielen sollen, ebenso wie Thrombose derVena magna Galeni. Löwy und Wechsel- mann wollen auch experimentell nachgewiesen haben, daß mit Sublimat vorbehandelte Kaninchen viel empfindlicher gegen Salvarsan seien als nicht vorbehandelte. Das ist ohne weiteres daraus zu erklären, daß diese Tiere schon an sich Hg so schlecht vertragen, daß sie dadurch natürlich viel schwerer geschädigt werden als Menschen. Ersterem widerspricht ferner die auch vielfach gemachte Wahr- nehmung, daß gerade die Encephalitistodesfälle nicht oder nur ganz wenig mit Hg behandelt worden waren, letzterem, daß bei Sektionen sich durchaus nicht immer jene Thrombosen finden. Wenn dies der Fall ist, so sollen sie nach Dietrich als von den kleinsten Gefäßen aus fortgeleitet entstanden sein. |

Man glaubt, daß man die Encephalitis haemorrhagica vermeiden könne, wenn man nur kleine Dosen (Arndt) gäbe, bzw. nicht über 0'6 bzw. 0.45 Neo- salvarsan hinausgehe (Meirowsky). Wie wir später sehen werden, ist die Behand- lung mit zu kleinen Dosen, wie sie Arndt, Kromayer u. a. vorschlagen, gefährlich; sie begünstigt, wie Plaut und Mulzer experimentell nachwiesen, die Propagation des syphilitischen Virus im Centralnervensystem. Über Cp bzw. 0'45 Neosalvarsan als Einzeldosis soll man auch meiner Ansicht nach, selbst bei der Abortivkur, nicht hinausgehen. Die Encephalitis haemorrhagia wird man aber auch dadurch nicht mit Sicherheit vermeiden können. Man muß stets mit ihrem Eintritt rechnen, wenn man Salvarsan anwendet. Bei richtiger Technik und bei Verwendung ein- wandfreier Präparate tritt sie aber glücklicherweise so selten auf, daß auch diese Gefahr uns nicht abhalten kann und darf, etwa auf das Salvarsan in der modernen Syphilistherapie zu verzichten. l

Therapeutisch stehen wir der Encephalitis ziemlich machtlos gegenüber. Lumbalpunktion, große Aderlässe, Kochsalzeinläufe und Adrenalin- bzw. Suprarenin- (Voithenberg) Einspritzungen werden empfohlen, Maßnahmen, die aber fast stets. völlig vergeblich sind. |

te toxische Salvarsan-

k

Quecksilberpräparate. Von den neueren Quecksilberpräparaten sind hier zu nennen das

Novasurol.

Das Novasurol ist eine wasserlösliche Doppelverbindung von oxymercuri- chlorphenylessigsaurem Natrium und Diäthylmonylharnstoff, die 339% Hg enthält. Es wird von der Firma Bayer in zugeschmolzenen Ampullen gebrauchsfertig in den Handel gebracht, die je 2 cm? einer 10%igen Lösung = 0:068 g Hg enthalten.

Zieler, die dieses Mittel 1917 in die Therapie der Syphilis einführte, verab- reicht 3mal wöchentlich 1—2 cm? in die Glutäalmuskulatur; nach Ledermann besteht beim Erwachsenen eine reine Novasurolkur gewöhnlich aus 15—20 Injek- tionen zu 2 cm?, die jeden 2. oder 3. Tag vorgenommen werden. Im Verlaufe einer 6—8wöchigen Kur gelangen auf diese Weise 12—1'3g Hg in den Körper. Da das Hg aber auch schnell wieder ausgeschieden wird, eignet sich dieses Präparat nach Zieler nicht für energische Kuren bzw. nur für eine Kombination mit grauem Öl oder Kalomel. Gewöhnlich wird man es bei frischer Syphilis allein überhaupt nicht anwenden, sondern nur kombiniert mit Salvarsan. Dies kann entweder ab- wechselnd oder in kombinierter, einzeitiger Form geschehen; auf die letztere Methode werden wir noch ausführlich zu sprechen kommen.

16 ` Paul Mulzer.

Die gute Wirkung des Novasurols auf die verschiedenen Erscheinungen der Syphilis aller Stadien ist außer von Zieler besonders von Auer, Benningson, Treitel, Bruhns, Schönfeld und Schmalz hervorgehoben worden. Sittmann empfiehlt es bei syphylitischen Erkrankungen des Herzmuskels, u. zw. intravenös 1—2 g mit 3—4tägigen Zwischenräumen, da hier besonders seine harn- treibende Wirkung sehr wertvoll ist; „die Entwässerung ist oft überraschend“. Auch bei Syphilis der Nieren soll Novasurol, vorsichtig angewendet, günstig wirken (Sittmann).

Von Nebenwirkungen werden nach O. Seifert erwähnt geringe Schmerzen an der Injektionsstelle (Saxl), leichte Stomatitis in etwa 4% der Fälle, die meist aber ein Aussetzen der Behandlung nicht bedingen (Hegler, Zieler, F. X. Müller und Pitzner), ferner von den meisten Autoren Durchfälle resp. Klagen über Leib- schmerzen in 6%, Erbrechen bei 24%, Übelkeit, Schwindel, Schwächeanfälle, Arzneiexantheme mit oder ohne Fieber in 6%, sowie fixes Exanthem (Gutmann) und Ikterus (Gutmann). Ä

Cyarsal.

Das Cyarsal, das Kaliumsalz einer im Benzolring merkurierten Oxybenzoe- säure (Oelze) mit einem Hg-Gehalt von 46%, wird in Ampullen zu 2 cm? von der Firma Riedel-Berlin in den Handel gebracht; es enthält in 1 cm? 0'01, stärkere Lösungen in 1'5 em? 0'045 metallisches Hg.

Es wurde bei Syphilis in Form von intravenösen Injektionen von Lenzmann sowie von Negendank, in Form intramuskulärer Einspritzung von Oelze emp- fohlen. Bei der stärkeren Lösung sollen sich mitunter blutige Stühle (Lenzmann), seltener Stomatitis (Oelze), leichte Kongestionen und mäßige Pulsbeschleunigung, scharlachähnliches Exanthem (Gutmann), Ikterus (Gutmann), Kopfschmerz, - Schüttelfrost und Übelkeit (Heymann und Fabian) einstellen.

Ebenso wie das Novasurol wird auch das Cyarsal gegenwärtig nur noch in Ver- bindung mit Salvarsan gebraucht, u. zw. in der einzeitigen Form der sog. Cyarsal Mischspritze. Es muß aber auch dabei festgehalten werden, daß das Cyarsal eine recht schwache Wirkung auf die syphilitischen Erscheinungen entfaltet, die auch meiner Erfahrung nach viel geringer ist als die der übrigen Hg-Präparate.

Mercedan.

Das Mercedan der Firma Knoll-Ludwigshafen, das paranukleinsaure Hg, kommt in Ampullen von 1 cm? Inhalt in 25%iger Lösung in den Handel. Jeder Kubikzentimeter enthält 0'025 Hg.

Das Mercedan, von Mulzer und Bleyer hinsichtlich seiner er Wirkung auf die experimentelle Kaninchensyphilis geprüft und als recht gut wirksam befunden sowohl hinsichtlich des Verschwindens der Spirochäten aus den Hodensyphilomen als auch dieser selbst. Allerdings betonen diese Autoren, daß beim Kaninchen, das ja an sich sehr empfindlich dem Quecksilber gegenüber ist, die wirksame Dosis des Mercedans der Dosis toxica anscheinend leider sehr nahe liegt.

Jacoby sah im allgemeinen gute klinische Wirkungen dieses Mittels bei der menschlichen Syphilis, nach Heuck kommt es hierin indes nicht den üblichen Hg- Präparaten gleich. In die Therapie hat es sich keinen Eingang zu verschaffen vermocht.

Neomerlusan.

Das Neomerlusan ist eine kolloidale Tyrosin-Quecksilber-Verbindung, die sich im Gegensatz zum Merlusan auch intravenös und intramuskulär einspritzen

Neuere Syphilistherapie. 17

läßt. Die Firma Dr. Bayer & Co., Budapest, stellt zwei gebrauchsfertige Lösungen her, nämlich eine für die intravenöse Injektion in Phiolen zu 2:2 cm? in 1% iger Lösung, von der 1 cm? 0'004 g Hg enthält, und eine stärkere, 7%ige, in Phiolen a 1:1 cm?, wovon 1 cm? 0'028 g Hg enthält, zur intramuskulären Applikation.

Matzenauer, der dieses Mittel warm für die Therapie der menschlichen Syphilis empfiehlt, beginnt bei intravenöser Anwendung mit 1 cm? der 1%igen Lösung, die zwischen Salvarsaninjektionen jeden zweiten Tag gegeben wird; später steigert er bis zu 3 cm? dieser Lösung. Das Neomerlusan kann auch als Misch- spritze, d.h. gleichzeitig mit Salvarsan, appliziert werden.

Für die intramuskuläre Anwendung, die eine energische Hg-Wirkung ge- währleistet, wählt Matzenauer 1 cm? der 7%igen Lösung jeden zweiten Tag. Das Neomerlusan soll, da es kein körperfremdes Eiweiß enthält, weder koagulierend noch ätzend oder thrombosierend wirken.

Nach Schröder ist das Neomerlusan das erste und einzige Quecksilber-Eiweiß- präparat, das zufolge seiner Resorptionsfähigkeit ohne jede Nebenwirkung auch innerlich gegeben werden kann. Die Wirkung von Merlusantabletten à 0'03 soll bei rezenter wie bei tertiärer Syphilis sehr gut sein.

Von weiteren neueren Quecksilberpräparaten wäre noch zu erwähnen das Depogen, ein 10%iges Hg-Salicylat, u. zw. eine Emulsion in feinstem Paraffinöl, wodurch es sich von der gewöhnlichen Hg-salicylicum-Suspension unterscheidet. Es soll keine freien Hg-Ionen enthalten, sondern nur organisch-gebundenes Quecksilber in feinster Verteilung und infolgedessen keine Reizerscheinungen hervorrufen und rasch und gleichmäßig resorbiert werden.

Ferner die kolloidalen Quecksilberpräparate der Firma Klopfer, Dresden, die intravenös angewendet werden sollen. Teichmann hat das kolloidale Quecksilber dieser Firma geprüft, das sich als gut verträglich und gut wirksam, aber als wenig nachhaltlich erwies, und von kolloidalem Kalomel, Kalomel- diasporal genannt, zwei Stärken. Das stärkere Präparat war zwar sehr wirksam, entfaltete aber so unangenehme Nebenwirkungen, daß es nicht weiter angewendet werden konnte. Das schwächere war auch bedeutend weniger wirksam. Nach Ansicht des Verfassers kommen diese Präparate vorläufig noch nicht allgemein für die Praxis in Betracht, sondern nur bei schweren intoleranten Fällen. Dadurch, daß es gelungen ist, das Schutzkolloid eiweißfrei zu machen, soll das Kalomeldiasporal jetzt ohne Gefahr von Nebenerscheinungen verwendet werden können. Zweig dagegen empfiehlt das Kalomeldiasporal, das in 1'5 cm? 15 mg Kalomel enthält, sehr, besonders bei Lues latens. Selbst Wassermannsche Reaktionen, die durch starke kombinierte Be- handlung nicht beeinflußt wurden, sollen nach einer Kur mit diesem Mittel negativ werden und negativ bleiben. Außerdem soll man es in Fällen anwenden, in denen eine exzessive Hg-Wirkung erwünscht ist. Nach Bardach reicht dieses Mittel jedoch nicht an die Wirkung der starken intramuskulären Injektionen (Kalomel, graues Öl) heran.

Brünauer berichtet in jüngster Zeit über seine Erfahrungen mit einem neuen Hg-Präparat, dem Diphasol, das eine molekulardisperse Lösung von oxybenzoe- sulfosauren Salzen mit einem Gehalt von 5 % metallischem Hg enthält. Bei günstigster Wirkung des sowohl intramuskulär wie subcutan anzuwendenden Mittels soll es

auffallend.geringe Nebenwirkungen entfalten.

Im Auslande wird in neuerer Zeit wieder vielfach die zuerst von Baccelli im Jahre 1894 an- gewendete intravenöse Einspritzung von Quecksilbersalzen geübt, während wir sie in Deutsch-

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 2

18 Paul Mulzer.

land mit Recht so gut wie gar nicht ausführen. So empfahlen vor einiger Zeit Conrad und Mc Cann intravenöse Sublimatkuren, die sie in der Weise vornahmen, daß 2mal wöchentlich anfangs 0:6 cm? einer 1%igen HgCl,-Lösung in physiologischer Kochsalzlösung eingespritzt werden. Wenn diese gut vertragen werden, dann soll 0:1 —2:0 cm? der 1%igen Lösung gegeben werden. Nach 21 In- jektionen ist die Kur abgeschlossen. Auch das Hg. oxycyanatum wird intravenös verwendet; Milian empfiehlt es in dieser Form seiner diuretischen Wirkung wegen besonders bei syphilitischer Nephrose. Lane behandelt die Syphilis mit 1%igem Hg. cyanatum, wovon er jeden zweiten Tag 1 cm? intravenös einspritzt und bessere Wirkung als mit den anderen Hg-Mitteln erzielen will. Chauffard verwendet in gleicher Weise 0'001 Hg-Cyanür mit 2tägigen Intervallen. Marchand sowie Keane und Slangenhaupt empfehlen das Merkurosal der Firma Parc, Davis & Co., ein lösliches, aktiv wirkendes Antisyphiliticum, das intravenös appliziert weit besser und dabei weniger schädigend wirken soll als alle die anderen Hg-Mittel in interner, subcutaner oder intramuskulärer Applikation. Nach Cole leistet es aber noch weniger als die Schmierkur; im Dunkelfeld konnte er kein Absterben der Spirochäten feststellen. In letzter Zeit wurde schließlich auch von Amerika aus (White Hill, Moore und Young, Baltimore) ein neues Quecksilberpräparat, das Flumerin, für die intravenöse Hg- Behandlung empfohlen, welches das Natriumsalz des Oxymercurifluoreszins darstellt. Es soll sowohl See bei der Kaninchensyphilis als auch beim Menschen ausgezeichnet wirken und so wenig giftig sein, daß man es in 8-20mal größeren Dosen, als man sonst Hg gibt, einverleiben kann.

Bei der Besprechung der neueren Quecksilberpräparate möchte ich noch die von Pontopidan und Mulzer in die Therapie der Syphilis eingeführten Queck- silberschmelzstäbchen erwähnen. Die Firmen Merk, Boehringer u. Knoll bringen auf Veranlassung von Mulzer unter dem Namen „Stylone M. B. K.“ fabriksmäßig hergestellte Schmelzstäbchen in den Handel, welche die zur intramuskulären Appli- kation bestimmten Mengen Quecksilber (metallisches Quecksilber, Hg, salicylicum und Kalomel) genau dosiert in feinster Verreibung und völlig gleichmäßiger Verteilung innerhalb einer leicht schmelzenden und gut resorbierbaren Masse

enthalten.

Die Technik der Injektion ist außerordentlich einfach. Die Gelatinekapsel, welche die zu ver- wendende Dosis des Medikamentes enthält, wird durch Scherenschlag geöffnet und das Stylon in eine gewöhnliche, mit einer etwas kürzeren Kanüle armierte 1 cm?-Rekordspritze geschüttet, nachdem vorher Verschlußstück und Stempel derselben entfernt worden sind. Stempel und Verschlußstück werden dann wieder aufgesetzt und die Spritze wird ganz leicht über der Flamme erwärmt. Sofort, bereits bei 30°C, ehe das Stäbchen noch ganz geschmolzen ist, wird das Erhitzen unterbrochen, es jetzt bei leichtem Hin- und Herdrehen der Spritze an der warmen Wand rasch völlig zu Ende schmilzt. Dadurch wird sowohl ein Springen der Spritze unbedingt vermieden, als auch ganz bestimmt verhütet, daß die Masse über ihren Schmelzpunkt hinaus erhitzt wird. Nun wird die Spritze so gehalten, daß die Nadel nach oben zeigt, und der Stempel so weit vorgeschoben, daß die Spritze nur das flüssige Medikament, etwa 0:3— 05 cm?, enthält. Der Druck wird dann fortgesetzt, bis das Medikament an der Spitze der Kanüle erscheint bzw. bis auch diese von der Injektionsmasse erfüllt ist. Es muß verhütet werden, daß die Masse an die Außenseite der Nadel herabfließt, einmal um keinen Verlust am Medikament zu erleiden, und dann, um es nicht in den Stichkanal gelangen zu lassen. Eventuell ist die Nadel vor dem Einstechen noch einmal mit einem sterilen oder in Alkohol getauchten Tupfer abzuwischen. Vor dem Einstechen wird auch die Kanüle zweckmäßig etwas erwärmt.

Die Einspritzung selbst wird in üblicher Weise in die Glutäalmuskulatur, u. zw. in den äußeren oberen Quadranten, gemacht, weil hier am besten größere Gefäße ınd Nerven vermieden werden. Nach dem Einstechen der Kanüle ist etwas zu aspirieren und dann die Spritze abzunehmen, damit man sich überzeugen kann, ob man nicht etwa ein Gefäß getroffen hat und Blut aus der Nadel aus- tritt. Ist das der Fall, so muß man eine andere Einstichstelle wählen, wo nicht, fixiert man die Kanüle mit den Fingern der linken Hand in ihrer Lage und injiziert langsam und gleichmäßig den Inhalt der Spritze. Ein Nachspritzen von Luft ist unnötig, da die in der Kanüle zurückbleibende Menge des Medikamentes bei der Dosierung berücksichtigt worden ist. Es empfiehlt sich, jedesmal eine andere Einstichstelle zu wählen, wenn auch Infiltrate bei Verwendung der Stylone seltener vorkommen. Beim Herausziehen der Kanüle ist die Haut um diese herum fest zusammenzupressen, um zu verhüten, daß das Medikament in den Stichkanal gelangt, was insbesondere bei Verwendung der Quecksilberstylone schmerzhafte Infiltrate, Abscesse und Nekrosen erzeugen könnte. Spritze und Kanüle werden dann sofort mit Alkohol oder Glycerin-Alkohol-Mischung (1:3) wiederholt durchgespritzt; in dieser werden sie zweckmäßig aufbewahrt.

Die Vorzüge der Stylone sind nach Mulzer:

1. Sauberste Handhabung und Unmöglichkeit einer Überdosierung: Das lästige und zeitraubende Umschütteln der bisher üblichen Suspensionen und die unangenehme Schmiererei, die mit dem Aufziehen des Mittels verbunden ist, werden vermieden, desgleichen die Ungenauigkeiten in der Dosierung, die bei Ver- wendung von 40%igen Suspensionen trotz besonderer Spritzen nicht zu umgehen sind; der Gehalt an Hg wird trotz tüchtigem Umschütteln in den Suspensionen gegen

Neuere Syphilistherapie. 19

Ende der Kur stets größer sein, so daß die Gefahr einer Überdosierung hier wohl unvermeidbar ist. Die Stylone tragen die genaue Dosierung auf der Etikette, der geringe Teil, der nach der Injektion in der Kanüle zurückbleibt, ist bei der Dosierung berechnet.

2. Größte Billigkeit: Alle Gläser und insbesondere die Ampullen sind zur- zeit an sich schon sehr teuer. Wesentlich billiger sind die Gelatinekapseln. Dazu kommt noch, daß kein Tropfen des ebenfalls teuren Medikamentes verloren geht; es verbilligt sich die Behandlung der Lues mit Hg-Stylonen dadurch ganz wesentlich, da die sehr teuren Spritzen mit engem Lumen (Zieler und Barthelemysche Spritze) hier unnötig sind. Es kann jede beliebige Injektionsspritze benutzt werden!

3. Weit geringere lokale Beschwerden bei Verwendung der Stylone, da hier weniger Masse eingespritzt und diese auch leichter resorbiert wird.

4. Bedeutend. geringere Infektionsgefahr, da die sterilen Stylone un- mittelbar ohne Anfassen mit Pinzette oder dergleichen aus der sterilen Verpackung in die sterile Spritze geschüttet werden und das Eintauchen einer nicht sterilen, nur in Paraffin aufbewahrten Spritze, wie dies bei dem gewöhnlichen Verfahren doch meist geübt wird, vermieden wird. |

Die Stylone haben sich bisher praktisch recht gut bewährt.

Übrigens hat auch Pinczower ähnliche Schmelzstäbchen zur intramuskulären Injektion un- löslicher Quecksilberverbindungen hergestellt und in den Handel gebracht. Es scheint sich wohl um ein ähnliches Verfahren zu handeln. Soweit sich bis jetzt sagen läßt, muß aber bemerkt werden, daß diese Stäbchen „in die Spritze mittels einer Pinzette hineingelegt werden“. Die Asepsis kann dabei leiden; auch ist es meines Erachtens nicht praktisch, daß die Stäbchen sich zu mehreren in einem Glase befinden. Bei höheren Temperaturen, im Sommer z. B. oder im warmen Zimmer, können und werden sie leicht zusammenbacken.

+

Jodpräparate.

Von den neueren Jodpräparaten seien hier nur einige der wichtigsten erwähnt.

Dijodyl.

Das Dijodyl der Firma Riedel (Berlin) ist ein Ricinstearolsäuredijodid von etwa 46—48% Jodgehalt. Es wird in Gelatinekapseln oder Tabletten zu 0'3 Inhalt täglich in Mengen von 3—5 Stück verabreicht (Oelze). Das Mittel soll den Magen unzersetzt passieren und erst im alkalischen Dünndarminhalt abgebaut werden. Infolgedessen soll es auch nur selten Schnupfen (M. Rheinboldt-Oelze) und Jod- ausschläge (Hoppe-Seegers) hervorrufen.

Es wird besonders bei Lues des Herzens und der Gefäße empfohlen (Seegers, Korcynski). Nach Luft wird hier mit kleinen Mengen mehr erreicht als mit großen anderer Präparate; außerdem soll es viel billiger als diese sein.

Jodival.

Das Jodival (Knoll, Ludwigshafen) der «-Monojodisovalerianylharnstoff, ent- hält ca. 47% (!) Jod und stellt ein gutverträgliches, im Darm schnell lösliches und leicht resorbierbares organisches Jodpräparat dar. Es wird in Tabletten zu 0'30, 3mal täglich 1 Tablette, genommen und besonders für luetische Erkrankungen des späteren sekundären und tertiären Stadiums empfohlen (Heese, Bayer).

Auch reines Jod in Form von Jodtinktur wird neuerdings als billiges und bequemes, innerlich zu nehmendes Jodmittel empfohlen (Winkler, A. Meirowsky). Es ist zu beachten, daß aber 20 Tropfen schon eine recht hohe Dosis darstellen.

20 Paul Mulzer.

Jodipin.

Das Jodipin der Firma Merck (Darmstadt), eine Additionsverbindung von Jod und Sesamöl, wird in zwei Konzentrationsstärken in den Handel gebracht, als 10% iges Jodipin und als 15 % iges Jodipin. Ersteres dient zum inneren Gebrauch und wird durch- schnittlich in Dosen von 1 bis 3 Teelöffeln (1 Teelöffel = 0'35 Jod = 0:45 Jodkali) täglich verabreicht. Die stärkere Lösung, die besonders Klingmüller bei tertiärer Lues empfiehlt, wird intramuskulär injiziert, ist wohl sehr wirksam, leider aber

recht schmerzhaft. Alival.

| Das Alival, ein a-Joddihydroxypropan mit einem Jodgehalt von 628%, kommt in Tablettenform à 0:3 für den innerlichen Gebrauch oder in 50- bzw. 85 % iger Lösung zu subcutaner, intramuskulärer oder intravenöser Applikation besondersbeitertiärer Lues, Tabes und Lues cerebri in den Handel. 20—30 Einspritzungen bilden eine Kur.

Wiesnack sah aber selbst nach wochenlanger Anwendung dieses Mittels keinerlei Nebenwirkungen.

Vor allem ist dann hier zu erwähnen das von Benkö angegebene und von Fröhlich pharmakologisch untersuchte

Mirion, das Kyrle und Planner in die Therapie der Syphilis einführten. Dieses Mittel, eine organische kolloidale Jodverbindung von 177% Jodgehalt, die das Jod im Gegensatz zu den Jodalkalien und den bekannten Jodpräparaten in besonders leicht abspaltbarer Form enthält, so daß man mit viel kleineren Jodmengen als bisher auskommen kann, machte großes Aufsehen in der ärztlichen Welt.

Kyrle und Planner berichteten, daß die klinische Wirkung dieses neuen Mittels auf syphilitische Efflorescenzen ganz ausgezeichnet sei. Mit einer gewissen Gesetzmäßigkeit nehme man an ihnen sogar eine ausgesprochene Jarisch-Herx- heimersche Reaktion wahr. Außerdem wirke es provokatorisch, da in Fällen, die unter energischer Hg-Salvarsan-Behandlung negativ geworden seien, die Wasser- mannsche Reaktion durch Mirioninjektionen wiederholt ins Positive umgeschlagen sei. Das Mittel wirke schon allein zufriedenstellend, werde aber am besten mit Salvarsan kombiniert. Hier sehe man auffallend häufig einen rezidivfreien Verlauf der Syphilis. Die Ursache hierfür erblickt Kyrle in einer Reizwirkung des Kolloids. „Von diesem Gesichtspunkte aus beobachtet, sind natürlich alle Einwände gegen das Mirion, die darauf basieren, daß Mirion eine geringe spirillo- cide Wirkung hat, unberechtigt, und es wäre auch verfehlt, mit Mirion allein, ohne entsprechende, sehr ausgiebige Salvarsanbehandlung Erfolge bei der Syphilistherapie zu erwarten. 20 und mehr Mirioninjektionen à Demi mit 5—6 g Neosalvarsan er- geben aber den Erfolg, daß bei sekundärer Syphilis so gut wie gar keine klinischen Rezidive und auch nur wenig serologische Rückfälle beobachtet werden.“

Schädigungen hat Kyrle durch Mirion überhaupt keine gesehen; selbst bei hochgradiger Idiosynkrasie wurde so gut wie niemals Jodismus beobachtet. Bei offener Tuberkulose soll das Mittel indes nur mit Vorsicht angewandt werden, da tuberkulöses Gewebe in ähnlicher Weise wie das luetische zu reagieren scheint.

Jacobi, Pini, Dietl, Krasser, Zollschau u.a. bestätigen im allgemeinen die guten Erfolge des Mirions insbesondere bei einer Kombination mit Neosalvarsan, während andere Autoren, wie Olivier, Hajos, Urbän, Ruisama, weniger zufrieden damit sind. Eigene Erfahrungen besitze ich nicht.

x%

Neuere Syphilistherapie. 21

Schon vor längerer Zeit hat man versucht, Arsen und Quecksilber zu- sammen in eine Verbindung zu bringen. Es wird hier nur an das bereits 1907 von Uhlenhuth und Manteuffel angegebene atoxylsaure Quecksilber erinnert, das sich sowohl im Tierversuch als auch beim Menschen gleich gut bewährte, aber. doch keinen Eingang in die Syphilistherapie erzielte. In Frankreich fand dagegen ein von Gautier synthetisch hergestelltes derartiges Kombinationsprodukt, das salicylarsen- saure Quecksilber, Enesol genannt (Firma Clin), sehr weite Verbreitung. Von da fand es seiner nicht bestreitbaren Wirkung wegen auch den Weg nach Deutsch- land. Blaschko hat es ja ebenfalls schon erwähnt und als ein „schwach wirkendes, nur für Kuren in der Latenzzeit und bei schwächlichen Personen indiziertes“ Präparat bezeichnet. i

Als während des Krieges die französischen Produkte in Deutschland ausgingen, wurde der Wunsch laut nach einem therapeutisch gleichwertigen deutschen Produkt. Als deutsche Ersatzpräparate des Enesols sind folgende 3 Prāparate anzusehen:

Sarhysol.

Das Sarhysol, eine Verbindung von Succinimidquecksilber mit Natrium- methylarsenat, wurde von Bornemann zur Behandlung der Syphilis empfohlen. Man injiziert pro die 2 cm3 = 1 Ampulle, die 0'02 g Hg und 0:007 g Arsen enthält. Die Einspritzung ist jedoch ziemlich schmerzhaft. Allgemeine Verwendung fand dieses Präparat nicht.

Modenol.

Das Modenol der Firmen Merck, Boehringer, Knoll, Ludwigshafen (MBK- Präparat) eine injektionsfertige Arsen-Quecksilbersalicylat-Lösung, die der 3% igen Enesollösung völlig entspricht, enthält 04% Hg und 06% As. Sie wirkt weniger giftig als seine Komponenten und verbindet die antisyphilitische Wirkung des Queck- silbers mit der tonischen des Arsens. Das Modenol kann als vollwertiger Ersatz . des Enesols angesehen werden und hat auch ziemliche Verbreitung als Syphilis- heilmittel gefunden.

- Seine direkte rückbildende Wirkung auf syphilitische Prozesse wurde von Mulzer und Bleyer im Tierversuch nachgewiesen. In Deutschland wandte zuerst Frey das Arsen-Quecksilbersalicylat in Form des Modenols an. Er berichtet über das Ver- schwinden aller syphilitischen Erscheinungen der primären Lues und sicheres Negativwerden der Wassermannschen Reaktion nach den Modenolinjektionen. Irgend welche unliebsame Nebenwirkungen wurden darnach weder lokal noch all- gemein beobachtet. Sellei berichtet, daß Modenolinjektionen stets gut vertragen werden, an der Einstichstelle kaum Anschwellungen verursachen und fast vollkommen schmerzlos sind. Auf die sekundären und tertiären Syphilide wirkt es langsam, aber sicher. Die positive Seroreaktion wird durch Modenol in eine negative übergeführt, die sich nach zahlreichen Untersuchungen als bleibend negativ erwies.

Fürth behandelte Fälle ganz frischer syphilitischer Infektion mit Modenol. Nach 6—8 Einspritzungen von je 2 cm? Modenol waren die manifesten Erscheinun- gen verschwunden. Nach 25 30 Injektionen war auch dieWassermannsche Reaktion negativ. Modenol wurde durchweg gut vertragen und erzielte bei schwächlichen Personen eine Besserung des Allgemeinbefindens. Lekisch beobachtete bei syphilitisch Erkrankten nach 10—12 Injektionen von Modenol Rückgang der syphilitischen Erscheinungen, negativen Ausfall der Wassermannschen Reaktion und Zunahme des Körpergewichts nn Steigerung des Hämoglobingehaltes bei den mit Modenol Behandelten um 5

is 25%. |

22 Paul Mulzer.

Plaut rühmt die günstige Einwirkung der Modenolinjektionen auf die subjektiven Symptome der Tabes, insbesondere auf die Ataxie und die Sensibilitätsstörungen. Auch er betont die Vorteile des Zusammenwirkens der Quecksilber- und Arsenkomponente im Modenol.

Arsenohyrgol.

Das Arsenohyrgol (chemische Fabrik von Heyden, Radebeul bei Dresden), eine Lösung von Merkurisalicylsäure und Methylarsinsäure, entspricht einem Gehalt von 049% Quecksilber und 0'84% Arsen. Es wird ebenfalls intramuskulär à 2 em? injiziert und soll nach Winkler und Skutezky ein recht brauchbares Anti- syphiliticum sein.

Schließlich wären dann hier noch zu erwähnen das

Kontraluesin (Richter),

das alle drei a in sich vereinigt und in neuer Zeit von Richter wieder warm empfohlen wird. besteht aus einem kolloidalen Gold-Quecksilberpräparat, Arsen und Sozojodol- Chinin-Salicyl. 1 cm? Kontraluesin enthält 0:1 g goldamalgamiertes Hg, dem noch 0'01 e Jod und 0:001 g Arsen beigefügt sind. Nach Richter können durch die Amalgamierung dem Körper in kurzer Zeit größere Hg-Mengen zugeführt werden als durch jedes andere Präparat. Gleichzeitige Gabe von Jod soll die Wirkung erhöhen. Die Applikation ist intramuskulär, in 95% der Fälle nicht schmerzhaft; das Mittel selbst soll ungiftig sein und die bekannten Hg-Nebenwirkungen vermeiden.

Nach Bruck ist das Kontraluesin für die Frische Syphilis nicht geeignet, da es eine zu langsame Wirkung entfaltet. Auch Döhring lehnt es hierab. Nach Richter bewährt es sich besonders bei Lues gravidarum, Meningitis luetica, Nervensyphilis und ganz besonders bei Salvarsan- neurorezidiven. |

Auch das von v. Niessen zusammengestellte

Sylisan (G. Mannfeld, Dresden), enthält Quecksilber, Arsen und Jod und außerdem noch Kaliumdichromat. Das Ganze ist suspendiert in einer mit Campher gesättigten modifizierten physiologischen Kochsalzlösung, Aqua Ringeri sterilisata, der zur Erhöhung der antiseptischen Wirkung noch 2% Formalin zugesetzt sind. Es soll zur intravenösen d Eee dienen; vor Gebrauch wird es eventuell noch verdünnt. Außer- dem ist es auch in Tablettenform vorrätig. v. Niessen will gute Erfolge mit diesem seinem Präparat erzielt haben. Ein Radikalmittel gegen die Syphilis kann und soll es jedoch nicht sein. Ly

Linser hat zum erstenmal versucht, Quecksilber und Salvarsan gleich- zeitig und einzeitig als sogenannte „Mischspritze« zu geben. Er verwendete hierzu Sublimat und Neosalvarsan, ein Verfahren, das sich auch in der Allgemein- praxis außerordentlich rasch eingeführt hat, da es bequem und vor allem absolut schmerzlos ist. Über seine Wirkung und seine eventuellen Gefahren sind, wie wir gleich sehen werden, die Ansichten indes noch recht geteilt. Wir werden zunächst

die Original Linser-Methoden besprechen.

Sublimat + Neosalvarsan in der Mischspritze.

Man bereitet sich nach Linser dieses Gemisch in der Weise, daß man sich zunächst in üblicher Weise eine Neosalvarsanlösung herstellt, diese in die Spritze aufsaugt und dann durch die Kanüle noch die gewünschte Menge Sublimat aufzieht. Es entsteht eine schmutzig-olivgrüne Färbung dieses Gemisches, die es für den weniger Geübten sehr schwer macht zu erkennen, ob die Kanüle richtig in der Vene liegt, bzw. ob Blut durch diese in die Mischung tritt. Man wird. daher Gutmann ohne weiteres recht geben, wenn er die Linser-Methode nur für den Arzt reserviert wissen will, der die Technik der intravenösen Einspritzung völlig beherrscht! Ä

Über die Wirkung der Linser-Kur auf die Syphilis der verschiedenen Stadien liegen eine ganze Anzahl Mitteilungen in der Literatur vor. Schmidt aus der Linserschen Klinik in Tübingen berichtet zusammenfassend über die Resultate dieser Behandlung in den letzten drei Jahren folgendermaßen: Bei seronegativen

Neuere Syphilistherapie. 23

Primäraffekten wurden meist 6 Injektionen von 0'45 Neosalvarsan -+ 0'02 Sub- limat gegeben und nach 6—8 Wochen eine Sicherheitskur von 4 Spritzen ange- schlossen. Bei diesem Verfahren zeigte sich bei 63 Fällen Abortivheilung in 100% (29 Fälle davon waren 3 Jahre lang beobachtet worden). In allen Fällen sero- positiver Lues wurden nach Möglichkeit 10—12 Injektionen von 0'45—0°6 Neo- salvarsan 4 0'02— 0'04 Sublimat gegeben und nach 6—8 Wochen diese Kur wieder- holt. Die Einspritzungen erfolgten alle 3—4 Tage. Auf diese Weise erhielten die Kranken innerhalb der ersten beiden Kuren in 5 Monaten etwa 10'8— 14:4 g Neo- salvarsan + 0'48—09°6 g Sublimat. Je nach Ausfall der Wassermannsche Reaktion wurden nach einem halben Jahr eine dritte und dann ev. eine vierte Kur ange- schlossen. Bei dieser Behandlung traten bei 267 Fällen von seropositiver Lues nur 2 klinische Rezidive auf. 898% wurden .seronegativ, 82% blieben trotz 3—4 Kuren refraktär und 1'8% zeigten serologische Rezidive. Bei zwei endolumbal behandelten Fällen von Tabes, bzw. Taboparalyse (3—4mal in Abständen von 14 Tagen '/, bis 1 mg Neosalvarsan, dem einige Tropfen 1%iges Sublimat zugesetzt wurden) einmal wesentliche klinische Besserung, das andere Mal Rückgang der Pleocytose. Wesent- liche Schädigungen wurden nicht beobachtet, auch keine Häufung des Ikterus (zitiert nach Bruhns).

Ähnliche gute Erfolge mit der Orginal-Linser-Methode sahen Nardelli, Tollens, der bis zu 0'04 Einzeldosis Sublimat hinaufging, Issel und vor allem Fischl und Schnepp. Nach letzterem scheint sogar die eigentliche Domäne der Sublimat-Salvarsan-Spritze die Abortivkur nach Excision des Primäraffektes zu sein, eine Ansicht, die aber durchaus nicht von den meisten anderen Autoren geteilt wird. So beobachtete Mackert, daß stärkere Infiltrate und Drüsenschwellungen schwerer beeinflußbar sind.

Nach Rothmann wurden nach der Linser-Kur eine große Anzahl von Rezidiven beobachtet, die prozentual höher war als bei der getrennten Kombinations- kur. So bleiben z. B. papulöse Efflorescenzen während dieser Kur länger bestehen. „Obwohl die Mischkur ein ungefährliches und schmerzloses Verfahren darstellt, bleibt sie an Wirksamkeit doch hinter den älteren Kombinationskuren zurück.“ Auch Bruhns sah bei der Linser-Kur und ihren gleich zu besprechenden Modifika- tionen keine Dauererfolge, weshalb er sie für die Praxis gänzlich ablehnt. Nagel lehnt die einzeitig kombinierte Hg-Salvarsanmethode gleichfalls ab, da sie nur eine mangelhafte Dauerwirkung entfaltee Nach Ebel sinkt die Zahl der Rezidive mit steigender Salvarsanmenge und steigt umgekelirt. Die meisten klinischen und serologischen Rezidive sah er auftreten nach einer Gesamtmenge von 2—3 g Neosalvarsan; mehr als die Hälfte entfiel auf die ersten 6 Monate nach Abschluß der Kur, die wenigsten Rezidive hatten die Fälle, welche 4—6 g Neo- Salvarsan pro Kur erhalten hatten. Rothmann, Prinz und Bauer konnten bei einschlägigen tierexperimentellen Studien keine erhöhte Dauerwirkung, d. h. rezidivfreie Heilung der Kaninchen-Primäraffekte, feststellen. Auch Kolle und Joachimoglu lehnen auf Grund von Laboratoriumsversuchen und aus theo- retischen Erwägungen die Methode ab.

Insbesondere aus der letzten Beobachtung geht hervor, daß die Hauptwirkung bei dieser ganzen Kur und wohl auch bei ihren Modifikationen dem Salvarsan zukommt. Schon Wolff und Mulzer hatten früher bei der Besprechung der Wirkung der intravenösen Einverleibung des Quecksilbers betont, daß dieses Mittel in dieser Weise nur in zu kleinen Dosen einverleibt werden könne und zu rasch wieder ausgeschieden werde, um wirksam zu sein. Zu gleichen Schlüssen

24 Paul Mulzer.

kommen für das Linser-Gemisch auch Nagel, Reines sowie Eicke und Rose. Letztere Autoren weisen darauf hin, daß bei der Original-Linser-Methode niemals Stomatitis, sondern nur höchstens eine Gingivitis leichter Art beobachtet wurde. Wolff und Mulzer haben den Satz geprägt, „daß ein Quecksilbermittel, das nicht im stande sei, eine Stomatitis hervorzurufen, auch nicht wirksam sei“, und dieser Satz ist hier wohl ohne weiteres zur Erklärung der eigentlichen Wirkung dieser Gemische, nämlich der der Salvarsankomponente, anwendbar.

Rothmann sowie Prinz und Bauer konnten ferner feststellen, daß die Mischung von Hg-Verbindungen mit Arsenobenzolderivaten eine chemothera- peutische Erhöhung der Wirkung derSalvarsanpräparate bedinge. Schuh- macher erklärt die gute Wirkung der Linser-Mischung damit, daß nicht ge- löstes, sondern praktisch bereits unlösliches Hg injiziert würde, das nachweisbar therapeutisch wirksamer wäre, da es in lonenform im Blute vorhanden sei. Das Neosalvarsan würde dabei nicht nennenswert oxydiert und infolgedessen auch nicht erheblich toxischer.

Bezüglich der Nebenwirkungen, welche diese einzeitige Sublimat-Neo- salvarsankur entfalten kann, wird wohl im allgemeinen angegeben, daß diese auf- fallend gering seien. Wie bereits erwähnt, wird insbesondere eine eigentliche Stomatitis anscheinend recht selten gesehen (Tollens).

Bei der von Bruck empiohlenen Novasurol-Neosalvarsankur scheinen indes schon häufiger unerwünschte Nebenwirkungen aufzutreten. So sah Benningson, der diese Modifikation sonst recht empfiehlt, häufig Schüttelfrost nach der ersten Injektion mit Temperaturanstieg und Schweißausbruch. Treitel, der eben- falls gute Erfahrungen mit dieser Mischung zu verzeichnen hatte, fand, daß seine Patienten häufig gegen Ende der Kur über große Mattigkeit und Jucken und Kribbeln in den Beinen klagten. Schmalz beobachtete häufig unangenehme Geschmacks- und Geruchsempfindungen, und Zieler, der übrigens den Eindruck hatte, daB die Gesamtwirkung des Novasurol-Neosalvarsan- gemisches keineswegs eine sehr starke ist und durchaus nicht einer der üblichen getrennten Kombinationskuren mit Hg und Salvarsan entspricht, sah bei wiederholten Kuren oft Nierenreizungen. Heuck sah trotz großer Zahl der In- jektionen 20 zu 0'3 Neosalvarsan +2 cm? Novasurol in '/, der Fälle keine negative Wassermannsche Reaktion am Ende der Kur. Von den negativ gewordenen Fällen zeigte 1. nach ca. 1'/, Monaten Rezidive. Da schließlich verschiedene Autoren auch Todesfälle nach dieser Behandlung sahen, so Neustadt und Marlinger einen und Issel zwei, so wird man am besten die einzeitige Novasurol-Neo- salvarsanbehandlung gänzlich aufgeben.

Als weitere Modifikationen der Sublimat- bzw. Novasurol-Mischspritze wäre dann noch zu erwähnen, daß insbesondere Krebs sowie Weber statt Neosalvarsan Neosilbersalvarsan und Novasurol einzeitig in der Mischspritze injizieren, und daß Tollens sowie Pürkhauer empfehlen, das Neosalvarsan mit einem kolloi- dalen Hg-Präparat, dem oben erwähnten Kalomeldiasporal (der Firma Klopfer- Dresden), zusammen einzuspritzen, weil dann das Neosalvarsan am wenigsten ver-

ändert würde. Cyarsal-- Neosalvarsan in der Mischspritze.

Oelze hat zum erstenmal das bereits oben erwähnte Cyarsal mit Neo- salvarsan gemischt bei der Syphilis angewandt. Ein dem Linser-Gemisch gegen-

Neuere Syphilistherapie. 25

über sofort in die Augen springender Vorzug ist der, daß sich diese Mischung erst nach etwa einer Minute und da nur ganz leicht trübt, so daß sich das Eintreten von Blut in die Spritze hier leicht verfolgen läßt. Oelze verabreicht pro dosi 0'3 . bis 0'45 Neosalvarsan + 1—2 cm? Cyarsal (1 cm? Cyarsallösung = 0'01 g Hg). Die Cyarsal-„Mischspritze“ erscheint Oelze besonders wirksam bei der malignen Syphilis. Schädigungen sah er keine, so daß er zu Nachprüfungen auffordern konnte.

Recht befriedigende Resultate mit dieser Methode hatten zu verzeichnen Lenz- mann, Salomon, Lion, Löwenberg und vor allem Mentberger, der bei Männern 12 Injektionen (5 g Neosalvarsan 4 22 cm? Cyarsal) und bei Frauen 10 In- jektionen (4 g Neosalvarsan 4 20 cm? Cyarsal) als normale Kur anpreist und diese in den meisten Fällen für völlig ausreichend erklärt. Die Wirkung auf die primäre Lues ist nach Mentberger ebenfalls gut, Spirochäten waren durchschnittlich nach der dritten Spritze völlig geschwunden, die Wassermannsche Reaktion wurde ebenfalls gut beeinflußt, desgleichen waren nach seinen Beobachtungen die Dauer- resultate gut. Weniger prompt reagierten die regionalen Lymphdrüsenschwellungen; die Verträglichkeit war sehr gut. Nach Spangenberg werden die Primäraffeke lang- samer beeinflußt; sehr gut soll die Wirkung dieser Mischspritze auf die klinischen Erscheinungen der zweiten und dritten Periode sein.

Auch Gutmann hatte recht befriedigende Resultate bei der Anwendung der Mischspritze; er sah aber auffallend viel Rezidive und auffallend häufig Ikterus, und Krug sowie Mauelshagen und Strempel loben ebenfalls diese Misch- spritze, meinen aber, daß sie doch der üblichen zweizeitig kombinierten Hg-Neo- salvarsankur nachsteht. Nach Laband, Heß, Evening wirkt das Novasurol-Neo- salvarsangemisch besser als die Cyarsalspritze, Negendank sowie Nover lehnen diese indes ganz ab. Ersterer betont, daß das Cyarsal weder intramuskulär noch intravenös irgendwelchen Einfluß auf mittelschwere oder gar schwere luetische Erschei- nungen habe, auch die Spirochäten nicht beeinflusse, so daß in der Misch- spritze nur das Neosalvarsan wirksam sei. Letzterer, der über 500 Patienten damit behandelt hat, spricht ihr jede Wirkung im ersten und zweiten Stadium ab, sah sehr zahlreiche klinische und serologische Rezidive und fast stets. Nebenwirkungen, darunter 7 Fälle schwerer Dermatitis. |

Rothmann führt übrigens die klinisch schwächere Wirkung des Cyarsal-Neosalvarsan- gemisches darauf zurück, daB Hg-Präparate, die mit Salvarsan keine Trübung ergeben, unwirksam seien, da sie zum größten Teil unverändert aus dem Körper ausgeschieden würden. Im Gegensatz hierzu empfiehlt Forster gerade das Cyarsal für derartige Gemische, da hierbei die Hg-Ausscheidung erst beginne, wenn das Gemisch bereits durch den Blutstrom im ganzen Körper verteilt sei.

Erwähnt sei schließlich hier noch, daß Szily und Haller gleichzeitig eine Kombination von Hg, Jod und Neosalvarsan in der Weise einspritzen, daß sie zunächst 1—2 cm? eines zu diesem Zwecke modifizierten Seluesins, das 1915 von Szily empfohlen wurde und ursprünglich aus Hg, Jod und anorganischem As besteht, in eine 10 cm? fassende Rekordspritze aufziehen (Hg. bichlor. corr. 0:3, Natr. jodat. 14°0, Aq. dest. 20). Dazu werden dann 3—6 cm? einer frisch bereiteten 10pro- zentigen Neosalvarsanlösung aufgezogen. Dieses Gemisch wird dann intravenös eingespritzt, wobei die Jodkomponente besonders resorbierend wirken soll.

Li

Zu diesen bisher bekannten Präparaten, die wir, mit vollem Rechte, als Specifica der Lues gegenüber bezeichnen können, tritt nun als viertes specifisch wirkendes Mittel hinzu das

Wismut.

Das Wismut wurde 1920 von Levaditi und Sazerac in die Therapie der Syphilis eingeführt und hat sich im Laufe der Zeit einen ganz hervorragenden Platz innerhalb derselben errungen.

Wismut (Wismut-Ammoniumcitrat) wurde zum ersten Male anscheinend von Balzer im Jahre 1889 zur Behandlung der Syphilis angewandt. Eine irrtümlich für Wismutnebenwirkung ge-

26 Paul Mulzer.

haltene schwere Hornhautentzüngung bei einem Hunde, der, wie sich später herausstellte, staupe- krank war, veranlaßte aber Balzer diese Versuche abzubrechen. Einige Jahre später haben Masucci und Raynold ebenfalls Wismut, u. zw. Wismutprotojoduret, bei der menschlichen Syphilis versucht. Näheres hierüber findet sich nicht in der Literatur; die Wismuttherapie der Syphilis schien in Vergessenheit geraten zu sein.

Mit dem Aufschwung der modernen Chemotherapie der Syphilis wurden auch die Versuche mit Wismut wieder aufgenommen. So hat bereits Uhlenhuth 1908 Wismut in Verbindung mit Arsen erfolgreich bei Trypanosomenkrankheiten angewandt. 1913 stellten Ehrlich und Karrer ein leider unbeständiges und deshalb unbrauchbares Wismut-Arsenobenzol her. 1916 konnten Sauton und Robert zeigen, daß Wismut, u. zw. das Wismut-Kalium-Natriumtartrat, eine präventive und bis zu einem gewissen Grade auch eine heilende Wirkung auf die Spirillose der Hühner und auf die Trypanosomiasis entfalte. Auf Grund dieser Versuche vermuteten schon diese Autoren, daß dieses Mittel auch einen günstigen Einfluß auf die Recurrens und auf die Syphilis entfalten werde. 1919 hatten Kolle und Ritz kolloidales Wismut bei der experimentellen Syphilis der Kaninchen geprüft, die Versuche aber wegen der zu großen Toxicität des intravenös verabreichten Mittels wieder aufgegeben.

Nach dem Tode Sautons im Felde nahmen 1920 Levaditi und Sazerac in Paris die Ver- suche desselben mit einer Wismutbehandlung der Trypanosomiasis und der Syphilis wieder auf. Sie verwendeten Bi-K-Na-Tartrat subcutan, später intramuskulär in 10 %iger öliger Suspension. Die Versuchstiere waren infiziert mit einem „dermotropen“ (Fournier, Schwarz) und einem „neurotropen«, von Levaditi und Morin aus Paralytikerblut gewonnenen Stamm. Außerdem wurden auch Kaninchen, die an originärer Kaninchenspirochätose erkrankt waren, behandelt. |

Levaditi und Sazerac stellten fest, daß die tödliche Dosis der alkalischen wäßrigen Lösung dieses Mittels 0'2 betrage, die toxische 0*1 und die Dosis bene tolerata 0:05 0'06 pro 1 kg Kaninchen. Intravenös wirkten schon 0:005 g prol%g nach ca. 7 Tagen tödlich. Die 10%ige ölige Suspension des Bi-K-Na-Tartrat erwies sich als noch weniger toxisch als die wäßrige und wirkte schon in kleinen Dosen, die weit unterhalb der toxischen Dosis lagen, bei diesen Versuchs- tieren ausgezeichnet, u. zw. in erster Linie spirochätocid.

Levaditi und Sazerac haben dann dieses Mittel, das sie Trepol nannten, auch bei der Syphilis des Menschen versucht, Sie behandelten damit 1 Fall von primärer, 2 Fälle von sekundärer und 2 Fälle von tertiärer Syphilis. Im ersten Falle schwanden die Spirochäten nach 3 Tagen, die Wassermannsche Reaktion wurde und blieb negativ. Bei den sekundären Fällen bildeten sich die Erscheinungen (Primäraffekt, Plaques, Lymphdrüsen, Exanthem) rasch zurück, die Wasser- mannsche Reaktion dagegen blieb positiv. Bei der tertiären Syphilis (Gummen und ein tubero- ne Syphilid) trat Abheilung der Erscheinungen nach je 6 Injektionen ein; die Seroreaktion im Blute blieb in einem Falle positiv. Als Komplikationen sahen sie in einem Falle eine fuso- spirilläre Stomatitis und eine Zahnfleischveränderung ähnlich dem Bleisaum. Die Autoren forderten auf Grund dieser günstigen Ergebnisse ihrer Versuche zur Nachprüfung auf. Diese nahmen in Frank- reich zunächst Fournier und Gu&not, in Belgien Duhot und in Deutschland Hugo Müller vor. Die Resultate dieser Autoren ermutigten bald zur allgemeinen Verwendung dieses Mittels, und so wurde denn auch die Wismutbehandlung der Syphilis zunächst in Frankreich und in den valutastarken Ländern auf der ganzen Linie aufgenommen. Aber auch in Deutschland fand diese Therapie bald Eingang, zumal die deutsche chemische Industrie eigene Wismutpräparate fand, welche die französischen Präparate nicht nur vollständig ersetzen, sondern sie in vielen Fällen noch weit übertreffen.

Im folgenden seien nun zunächst die französischen Originalpräparate genannt und be- sprochen und einige der wichtigsten ihre Zahl ist Legion! ausländischen Ersatzpräpa- rate derselben.

Das Trepol der Firma Chenal und Douilhet-Paris ist ein alkalisches Natrium- Calcium-Wismuttartrat in 10%iger öliger Aufschwemmung, das ca. 64% aktives Wismut enthält. Es kommt gebrauchsfertig in Ampullen in den Handel mit der Vorschrift, daß jeden zweiten bzw. jeden dritten Tag 2-3 cm? = 0'2—3 g Bi-Salz intramuskulär injiziert werden sollen. Später verwendete man jedoch nur 2 g mit 3—5tägigen Intervallen, weil man der Ansicht war, daß dadurch die nachher noch zu besprechenden Nebenwirkungen vermieden würden. Im ganzen sollen bei Erwach- senen durchschnittlich 12—15 Spritzen à 2 g gegeben werden. Für Kinder sind Phiolen zu 0:025 mg Trepol im Handel, deren Inhalt jeden vierten Tag injiziert werden soll.

Nin Posadas macht darauf aufmerksam, daß das von dieser Firma vertriebene Originaltrepol das einzige autorisierte Präparat sei, und daß alle anderen Trepole nur Nachahmungen wären, die in chemischer, wie in physikalischer Hinsicht nicht alle für das Original charakteristischen Eigenschaften zeigten.

Das Trepol indolore, das im allgemeinen weit geringe Nebenwirkungen als das Trépol machen und insbesonders weit weniger schmerzhaft sein soll, wird

Neuere Syphilistherapie. 27

nach Bloch viel besser vertragen als die unlöslichen Quecksilberpräparate. Infolge seiner Viscosität läßt es sich aber etwas schwieriger einspritzen; man muß es erst anwärmen (H. Müller).

Das Neotrepol der Firma Chenal und Douilhet ist ein rein metallisches Wismut, ca. 96%, in isotonischer Suspension. Es wird besonders empfohlen bei tertiärer sowie bei latenter seropositiver Lues. Kindern soll es nicht verabreicht werden.

Außer diesen 3 Originalpräparaten Levaditis werden im Auslande, u. zw. besonders in Frankreich, häufig noch angewendet:

Das Luatol (Poulence frères), ein dem Trépol analoges Präparat in wäßriger Glykoselösung mit Phenolzusatz;

das Tarbisol (Usine de Rhône), ein wäßriges Diäthylenamin-Bi-Tartrat;

das Muthanol (Lemay), ein durch Mesothorium radioaktiviertes Bi-Hydroxyd, das in Frankreich hauptsächlich bei Nervensyphilis angewendet wird, nach Heuck aber bei frischer Syphilis absolut unwirksam ist. Ein anderes Bi-Hydroxyd, Cura- lues genannt, wird von Evrard für Nervensyphilitis empfohlen; Gougerot empfahl es besonders bei arsenresistenten Fällen. Ein drittes, das Spirillan, das wasserlöslich ist, bevorzugt Simon.

Ein anderes lösliches Wismutpräparat, das Gallismuth (Äthylendiamin-Wismut- gallat), wird besonders von Pomaret empfohlen; es soll schneller und besser als die unlöslichen Wismutpräparate wirken.

Das Jodchininwismut von Aubry, Quinby genannt, enthält 30% Wismut und wurde bald nach dem. Trépol in den Handel gebracht. Nach Azoulay hat es sich glänzend bewährt, doch scheint es häufig recht unangenehme Nebenwirkungen zu entfalten. Heuck sah in allen Fällen, bei denen er es anwendete, Nephritis auftreten. | Das Sigmuth (Brisson), eine lösliche Na-K-Bi-Tartratverbindung in einem schwefelhaltigen Lösungsmittel, soll eine recht günstige Wirkung auf die syphilitischen Produkte aller Stadien entfalten, ohne die geringsten Nebenwirkungen auszulösen (Gouin und Jégat). Nach Pautrier soll der Schwefel besonders günstig auf die Ausscheidung des Bi wirken. Es kann intramuskulär und intravenös gegeben werden.

Das Ol&o-Bismuth „Roche“, kurz „Ol&obi-Roche“ genannt, ist eine von der Firma Hoffmann-La Roche in Basel hergestellte, intramuskulär injizierbare, feinst verteilte ölige Suspension von Wismutoleinat, die in Ampullen von 2 cm?, entsprechend 0:1 g metallischem Bi, in den Handel kommt. Nach Ramel (Züricher Klinik) entspricht dieses Präparat in seiner Wirksamkeit dem Trepol, überragt jedoch letzteres bei ` weitem durch seine bessere Verträglickkeit. Experimentell hat Ritz dieses Präparat geprüft; 0'5 cm? desselben (= 0'025 g Bi) pro 1 kg genügen zur sicheren Ausheilung der Kaninchensyphilis. 5

i SE großen Zahl der ausländischen Wismutpräparate seien hier nur einige, die bekannteren, noch erwähnt:

Das Natrol Horta-Ganns (Brasilien), ein lösliches wäßriges Bi-K-Na-Tartrat, das in Deutsch- land Giemsa chemotherapeutisch prüfte;

das Bi-Tartrat Rabello (Portugal);

das Bi-Na-citricum von Paranhos (Brasilien) eingeführt und „Aspir-Natron« genannt. Die Wirkung dieses leicht wasserlöslichen und vollkommen schmerzlos intramuskulär injizierbaren Präparates soll ungewöhnlich stark spirillocid sein (Vaz Luis);

das Bi-K-Na-Tartrat von Calcagno (Spanien), das Nin Posadas besonders wegen seiner geringen Nebenwirkungen empfiehlt; das Bi-Citrat Bernhardt (Polen);

das Bi-Ceriumsubsalicylat von Sicilia (Italien), Bismutum-Cerium subsalicylicum, in 5—10% iger Emulsion. | Das Bismutum subsalicylicum, Wismutsubsalicylat, ein weißes, in Wasser und Alkohol unlösliches Pulver mit einem Gehalt von mindestens 56°4% Bi, wurde ebenfalls von Sicilia, sowie von Nicolas und Greco und Muschietto sowie anabhängig von diesen Autoren von Marcus in Stockholm empfohlen. Nach Dietel wirkt es besser als Quecksilber. Auch das Jonoidewismut

28 Paul Mulzer.

von Fourcade, das Lacapere empfiehlt, isf ein kolloidales Wismufpräparat, ebenso wie ein von Ducrey (Italien) empfohlenes. Das Sorosale ist ein kolloidales Bisulfid, das Machado und Ara Leite (Brasilien) mit gutem Erfolg verwenden. Das Spirillan, ein kolloidales Wismuthydroxyl, wurde von Simon empfohlen, en Wismutkolloid „Zambeletti« von Artom besonders bei Nervensyphilis. Ein weiteres kolloidales Wismutpräparat stellt das „Colmuthol“ dar, welches nach Lousta, Thibaut und Barbier sowohl intramuskulär wie intravenös angewendet werden kann und gut wirken soll.

Das Bismuthion, ein Präparat mit hohem Gehalt an metallischem Wismut olıne kolloidale Eigenschaften, wird von Aleixo (Brasilien) empfohlen.

Ferner ist hier kurz zu nennen das Bisclorol von Pulchor (Oxychlorure de Bismuth), das Radiomuth von Lorot, das Ditrioxybismutobenzol (= Natriumderivat der Trioxybismuto- benzoesäure) von Grenet und Drouin, eine aromatische Triphenol-Bi-Komponente, die auch intra- venös gut vertragen werden soll. Intravenös wird angewendet

das Bismoluol, ein Di-Kaliumbismuttartrat, das von Guzmann und Pogany ein- geführt wurde. Baecker sah zuweilen ernste Nebenwirkungen, nach Heiner soll es dem Salvarsan

ebenbürtig sein. *

Was nun die Wirkung dieser Wismutpräparate auf die Syphilis betrifft, so läßt sich aus den zahlreichen in der diesbezüglichen, hauptsächlich ausländischen Literatur niedergelegten Beobachtungen etwa folgendes sagen:

Wirkung auf die primäre Syphilis.

Die Wirkungen der Bi-Präparate auf die klinischen Erscheinungen der Syphilis machen sich nach Bloch schon nach den allerersten Einspritzungen, oft schon nach der ersten, geltend. Die Primäraffekte verlieren ihre Härte, epithelisieren sich und vernarben. Die Überhäutung beginnt bereits 48 Stunden nach der ersten Injektion - und ist nach der zweiten und dritten Einspritzung vollzogen; nach der vierten und fünften Injektion ist auch das Infiltrat verschwunden (Lehner und Radnay). Ähnliche gute Wirkungen auf den Primäraffekt sahen Fournier und Guénot, Tomasi, de Favento,Covisa,GrenetundDrouin, Braeker,Schubert und viele andere Kliniker. Nach Escher ist der Primäraffekt nach 8— 14 Tagen stets überhäutet und organisiert; die Induration schwindet im Laufe der Behandlung und hinterläßt keine Spuren mehr (Nin Posadas). Nach H. Müller erfolgt die Überhäutung vielleicht langsamer als nach Silbersalvarsan, dafür aber schneller die Resorption. Gerade das Gegenteil will aber Pasini beobachtet haben: Die Primäraffekte epithelisieren rasch, aber das Infiltrat bleibt immer noch lange Zeit bestehen. Auch nach den Beobachtungen von Greco und Muschietto bildet sich der Primäraffekt unter Bi-Einwirkung nur sehr allmählich zurück und läßt, was übrigens auch französische Autoren zugeben, Ver- härtungen zurück. „Gerade dieser Umstand läßt das Präparat für die abortive und sterilisierende Wirkung als unbrauchbar erscheinen.“ Auch Martinotti sowie Schubert beobachteten nur ein langsames Schwinden der syphili- - tischen Infiltrate.

Die Spirochäten verschwinden ziemlich prompt nach Bi-Anwendung. Pasini, Lehner, de Favento, H. Müller, Schubert sehen sie schon nach der ersten, spätestens nach der zweiten Bi-Injektion geschwunden. Nach Nin Posadas erfolgt dies bereits nach 24—36 Stunden; Jeanselme, Escher u.a. sahen nach 48 Stunden keine Spirochäten mehr in den Primäraffekten. Tartaru hält nach dieser Richtung hin die Wismutpräparate für wirksamer als die Salvarsanpräparate, nach H. Müller sind sie hierin aber den großen Silbersalvarsandosen gegenüber unterlegen. Nach Sedlák ist die Spirillocidität des Trépol schwächer als die des Salvarsans, jedoch dem Hg weit überlegen. Zu gleichen Resultaten kommt auch Br. Bloch. Meren- lender sah bei einer Gruppe von mit Wismut behandelten Syphilitikern noch 10 Tage nach Beginn dieser Behandlung Spirochäten. Auch Palenta fand in mehreren Fällen noch nach der 4. und 5. Injektion, bzw. 12—14 Tage nach Kur-

Neuere Syphilistherapie. 29

beginn, Lortat und Jacobi sahen in einem Falle noch nach der 7. Spritze Curalues (insgesamt waren 1'12 Bi gegeben worden) 8—10 Pallidae im Dunkelfeld. Ich selbst . sah bei einem jungen Soldaten noch nach der 7. Neotrepolinjektion im Quetsch- saft eines auch klinisch wenig beeinflußten Primäraffektes lebende Pallidae.

Über die spirochätocide Wirkung der französischen Bi-Präparate, sowie zweier deutscher Präparate im Vergleich mit Quecksilber und Salvarsan gibt umstehender Auszug einer Tabelle einschlägiger tierexperimenteller Studien von Plaut und Mulzer einen guten Einblick (s. p. 30 und 31).

Nach H. Müller sollen insbesondere die begleitenden Lymphdrüsen- schwellungen durch Bi beeinflußt werden. Bei Punktion fand er oft 6-7 Tage nach Beginn der Behandlung keine Spirochäten mehr. Auch Escher kommt zu ähnlichen Resultaten. Bei vergleichender Untersuchung wären nach Behandlung mit Neo- oder Silbersalvarsan hier noch nach 15 (!) Tagen Pallidae vorhanden gewesen. Nach Nin Posadas gehen die specifischen Drüsenschwellungen rapid zurück, de Favento sah aber gerade die Drüsen viel langsamer als sonst bei einer specifischen Therapie beeinflußt werden. Nach Lehner bleibt der Zustand der Drüsen während der Kur völlig unbeeinflußt, eine Beobachtung, die bis zu einem gewissen Grade auch Heuck sowohl wie ich bei Behandlung mit den französischen Originalpräparaten, wie überhaupt bei der Wismuttherapie gemacht haben.

Sekundäre Lues.

Von den sekundären Erscheinungen der Syphilis werden nach den Erfahrungen aller Autoren am günstigsten durch Wismut beeinflußt die maculösen Exantheme und die Schleimhautplaques. Sie schwinden schon nach einigen Einspritzungen. Nach H. Müller verschwinden ebenso prompt durch diese Therapie die sonst so resistenten hypertrophischen Papeln, psoriasiformen Syphilide, luetischen Nagelerkrankungen, Lues cornea plantaris und die kleinpapulösen und pustulösen Exantheme, die ja den Prüfstein einer jeden specifischen Behandlung bilden. Andere Kliniker haben hier jedoch nicht immer eine so gute Wirkung der Bi-Präparate gesehen. So zeigen nach Villemin die hypertrophischen und die primären Papeln dem Wismut gegenüber eine große Resistenz; zu einem ähnlichen Ergebnis kommt de Favento.

Sehr schnell schwinden unter Bi-Darreichung auch die prodromalen Er- scheinungen der Lues (Covisa) sowie Cephalalgia nocturna und gelegentliche Dolores osteocopi (Covisa, H. Müller). Günstig ist im allgemeinen auch die Wirkung auf Pigmentsyphilis (Levy-Bing) und Alopecia specifica. Tommasi sah hier allerdings eine weniger gute Einwirkung, auch figurierte ältere Syphilide wurden nach seiner Erfahrung nicht so prompt beeinflußt.

Meist wird bei den Erscheinungen der sekundären Periode, insbesonders bei der Roseola, eine mehr oder weniger starke Herxheimersche Reaktion beobachtet, die manchmal urticariellen Charakter annehmen kann (Vöhl). Sie wird meist nach der ersten oder zweiten Wismuteinspritzung beobachtet (Bloch, Escher, Ehlers, Schreus, Tommasi u.a.). Nach H. Müller tritt diese Reaktion infolge der weniger rapiden Abtötung der Spirochäten durch diese Mittel erst einige Tage nach der Injektion auf. Auch nach Vöhl erreicht sie erst drei Tage nach der Einspritzung ihren Höhe- punkt. Klauder hat dieses Phänomen übrigens in hochgradiger Weise gelegentlich auch bei syphilitischen Kaninchenhoden gesehen. Auch Plaut und Mulzer sahen wiederholt bei der experimentellen Prüfung antisyphilitischer Mittel, u. zw. insbesondere nach Wismutdarreichung, 24 Stunden später eine enorme Zunahme der Spiro- Chäten, was wohl in ähnlichem Sinne ausgelegt werden muß. Wie wir später noch

30 Paul Mulzer.

Tabelle Tier Stamm Befund am Tage der Behandlung Befund nach 24 Stunden und BE Äis ) Nr Passage Klinischer Befund E + Klinischer Befund Spir.

links: Oberfl. Erosion mit 1:2 cm? 21.7.| 3:2 | links: ) NÉE leg geringer Grundinduration Trepol rechts: ` 293 rechts: kirschkerngroße nm En Periorchitis. e Ba Bi p. 1 kg 8.8.|1:7 | links: Orchitis diffusa ch 07cm? |9.8.|1'7| links: ` 9 22 rechts: Orchitis und Peri- |+++-+! Trepol rechts: ) stat. idem N ‚orchitis diffusa.. "em Ii. H. P. ee Bi p. I Ag KK: 5) 27.9.| 2'1 | links: Periorchitis im unt. |++-++ 1 em? 28.9.| 2:1 | links: stat. idem hpr 22 Pol (16:22:12) mit dorn- Trepol artigem Fortsatz nach oben "e A0 me auf Periorchitis; Primär- _—_ 371 | „Immel affekt (14: 16) mit ca. (a em Bi p. 1 kg (9. 8. 22) breiter derber Randzone MI. H. P. rechts: Hoden entfernt

und verimpft. Liquor: normal.

20) 15. |2°4 | links: Primäraff. (10:14:6)| +++ 0°5 cm 16. |2°4 | links: FC +++ rechts: mantelartige Peri- | +++ | Neotrepol | 11. rechts: SS + 400 Immel 22 orchitis (16:33:10). Starke om | 2 (24. 9. 22) Drüsen beiderseits. Liquor: normal Bi p. 1 kg =) 16.1.130 | links: diffuse Orchitis und | +++ 1 ei 17.1.|3°0 | links: Odem der +++ 23 Periorchitis mit 2-3 linsen- Muthanol 23 Scrotalhaut, sonst großen periorchit. Knoten o. B rechts: Hoden bereits ex- 409 | Mulzer stirpiert. (21. 9. 22) Liquor:3.1.23121/3Zellen. Nonne: Spur Pondy: 0 28) 15. |23| links: etwa walnußgroße | LA 0'5 cm3 16. |2°3| links: ? ++ 11. runde Periorchitis (Durch- Quinby rechts: } stat. idem tr 366 Kolle 22 messer 10) (Bi-Gehalt | 22 9. 22) rechts:ähnl.längliche Peri- | +++ | unbekannt) x. H.P. orchitis mit Praff. (15:19:14) Liquor: normal 29) 27.9.1 27 | links: knotenförm. Peri- | +++ 1 cm3 28.9.| 2:7 | stat. idem -+-+ 22 orchitis im untern Pol Bismogenol | 22 Koll 19 : 21 : 16), daraufsitzend 343 oile rundl. Primäraff. (19:21 :8) Mn CR > rechts: rechter Hoden am De Sr? 14. 9. exstirp. u. verimpft. Liquor: normal | 30) 16. 1.| 2°5 | links: daumenkuppengroße | ++-+ 1 cm3 17.1.| 25| links: - + 23 Periorchitis jape Bismogenol | 23 rechts: } stat, idem Puris 360 Kolle rechts:haselnußgroßePeri- | +++ (1. 8. 22) orchitis u. Primäraff. (9:9:5) X. H. P. Liquor: normal 31) 15. |274 | links: Orchitis diffusa und | 44+ 0:5 cm3 16. | 2'4 | links: stat, idem +++ 395 Immel OI linsengroßer Primäraffekt Milanol 11. RW 9.22) | 22 rechts: o B: 22 SN RP Liquor: normal 34) 4.7.|2'1| links: erbsengroße Peri- | +++ 0°5 cm3 5.7.| 2 | links: e 22 orchitis s KH, 22 rechts: stat. idem TER rechts: zwei kirschkern- | +++ |= 0005 Hg 291 Mulzer große und eine erbsen- BE REH 5, 5. 22 große Periorchitis. A A ANIL HP Liquor: 19 Zellen Hg p. 1 kg Pandy: 0 Nonne: 0 35) 20.1.| 2:7 | links: zirka kirschkern- | ++ 0'6 cm 22.1.| 2'7 | links: stat. idem & Malet 23 große i ER Neosalv. 23 1 rechts: o. B, intravenös Co ée Liquor: 67 Zellen p. 1 4g 022g 36) 13.9.| 2°6 | links: starke Orchitis und | +++ | Neosalv. |14.9!26| links: ) klinisch ab- _- 22 Periorchitis diffusa (18:35 intravenös | 22 solut keine :18). Am unteren Pol sitzt p. 1kg0'04g Ver- kappenartige rupiaähnliche rechts: } änderung _ 340 Kolle ppe : N (21.7. 22) Borke (17:20) auf. Hasel- Drüse: stat. idem -n VIII. H. P nußkerngroße harte Drüse. + LE o rechts: PA (18:24:12). +++

Liquor: normal | |

zu p. 29.

Befund nach 48 Stunden

E Klinischer Befund

Datum

22.7.| 3'2 | links: Borke ab- estoßen, deutlich l., keine Infiltra- tion mehr rechts: stat. idem

| 10.8. | 1'7 | links: Infiltration etwas zurück-

| gegangen und weicher

| rechts:desgleichen

Spir.

Neuere Syphilistherapie.

Befund nach 3-4 Tagen Klinischer Befund

links: stat. idem _ rechts: kleiner und - . weicher

31

Befund nach 5-10 Tagen

v

BI CR. Q

1.8. |32

Klinischer Befund | Spir.

links: vernarbt rechts: erbsengr. weiches Infiltrat

HBI ETI links: weiterer rechts: | Rückgang =

18.8

2.10.| 2'2

links:nurnoch erb- sengroßes weiches Infiltrat

rechts: desgeichen

links: Randinfil« trat geschwunden, Borke nur noch central haftend

|

vereinzelte gut formerhaltene Spir.

20. |2'4 | beiderseits:wei-| ++

11. 22

ll. 22

2.10.|26| Randinfiltrat

22

20.1. 2°5

ter Rückgang

unverändert BEES

unverändert beider- | +++ seits E

t!

völlig SS Ca geschwunden eos Periorchitischer An Knoten (13:18:11) |S d bedeutend weicher Ta gär

links: nur noch SEN Ärd großes Infiltrat rechts: Primär-

des Primäraffekts e Di aff. in Vernarbung |:

20. | 2'4 | vielleicht etwas we-

11. 22

11.7.] 2°1 22

niger derb

links: stat. -—

rechts: | idem

29.9.22 | links: deutlicher |-++4--+] 30.9.| 2'2 | links: stat. idem Schwund d. Rand- ge infiltrates, doch ER starkes Grundin- GER: filtrat (12:15:10) vun GET, "oO P Er 17. | 2'4 | links: kein wesent- 18. | 2:4 | links:keinewes. And. 11. licher Rückgang 11. rechts:Rückgang | +++ 22 rechts: im allge- | +++ | 22 (13:20:10). Infiltr. bed. meinen keine Ver- weicher. Auf Druck änd. Vielleicht et- uilltnekrot. Masse a. was gering. Infiltr. and d. Borkehervor | N | N mee 18.1.| 3:0 | links: stat. idem | ++ |19.1.|30 | links: vielleicht et- | +++ |24.1.| 3 23 23 was weicher 23 17. |24| keinerlei Wirkung! | +++ | 18. |2°4 | keinerlei Wirkung! +++ | 20. | 24 11. +++ | 11. +rr 22 22 E, D D eege wg 29.9.| 2'5 | links:deutlicher - 30.9 | 2:6 | klinisch unverändert 22 Rückgang, ins- 22 besond. des Rand- | 5% infiltrats (19:20: SE 15) ES see en, WR BE WE D D, E D E E eg 18.1.|2°5 | beiderseitsdeut-| ++ |[19.1.|25 | links: Infiltrat wei- 23 licherRückgang | ++ 23 cher und kleiner rechts:8:7:3; wei- u cher 17. 12:4 | links: stat. idem; | +++ | 18. |24 keinerlei Verände- +++ 11. noch hart u. derb! 11. rung! 22 22 6.7.| 2 | links: Jas idem +++ [7.7.| 2 | links: stat. idem +-+ 22 rechts: ? =- 22 EES -y einer

23.1.| 2'7 | links: Rückgang 22 um etwa 1/3

15.9.|2°6 | links: kleiner und | 22 wesentl. weicher, in der Mitte noch härtere Stelle rechts: Randinfil- trat bedeutend zu- rückgegangen Drüse: stat. idem

28.1.| 2:6 | links:stat. idem, nur 22 weicher Dinaar 37!/3 Zellen, wieder 0 6 Neosalv.

18.9.| 2°6 | links: Borke sitzt an _ 22 Rändern losgelöst, ohne jed. Infiltr. auf. Nur in Tiefe noch erbsengroß. Knötch. rechts: kein Inf., nur nochan unt. Stelle et- was Drüsenoch vorh.

LES DE. 22

21.9.| 2°6 22

links: linsengroße Knötchen

Liquor: 20 Zellen wieder 0:6 Neosalv.

links: Primäraffekt ohne Borke (11:15), keinerlei Infiltrat, Drüse bed. kleiner

rechts:nurBorke, keine Spur von In- filtrat

32 Paul Mulzer.

sehen werden, deuten verschiedene Autoren Erscheinungen an der Niere und am Centralnervensystem, die im allgemeinen wohl als toxische Nebenwirkungen an- gesehen werden müssen, ähnlich. H. Müller berichtet über eine nach der zweiten Injektion sehr stark auftretende Schwellung einer Kniegelenkserkrankung bei sekundärer Lues gravis, sowie eine Lokalreaktion bei ausgedehnter Oculomotoriuslähmung mit Ptosis. Truffi beobachte wiederholt schmerzhafte Lymphdrüsenschwellung, die er im gleichen Sinne deutet.

Bei frühulceröser, sog. maligner Syphilis, die auf die bisherige specifische Behandlung erfahrungsgemäß nicht immer gut reagiert, wird die Wismuttherapie durchweg als sehr erfolgreich beschrieben (Escher, Haxthausen, Azoulay, Huber und Massary). Das gleiche ist der Fall bei den Hauterscheinungen der

tertiären Syphilis.

Gummen der Haut und der Schleimhaut sowohl alsauch der Knochen ver- schwinden schnell (H. Müller, Bloch, Haxthausen, Escher, Bäcker, Eliascheff u.a.). Die Wirkung ist hier fast stets ausgezeichnet, geradezu „brillant“ (Tommasi), ja „schneller wie beim Salvarsan“ (Grenet und Drouin). Die Narbenbildung tritt verhältnismäßig rasch ein und das Infiltrat verschwindet prompt (Pasini). Nach Fournier und Guénot wird auch die Leukoplakie durch Wismut weitgehend ge- ‚bessert.

Syphilis der inneren Organe.

Die Wismutbehandlung scheint einen besonders großen Wert bei der Syphilis des Herzens und bei den specifischen Aortitiden zu besitzen (Otero). Nach Villemin bessern sich unter dieser Therapie „rapid“ die Symptome dieser Erkrankung, wie Husten, Dyspnöe, Palpitation und Retrosternalschmerz. Von 6 röntgenologisch kontrollierten Fällen ergab sich einmal ein beträchtlicher Rückgang einer Aorten- erweiterung, einmal ein völliges Schwinden einer Periaortitis descendens. Simon sah von 3 Fällen einer Aortitis 2 schnell gebessert, einer versagte ganz. Laubry und Bordet konnten dagegen bei dieser Erkrankung durch Wismut keine Änderung der auskultatorischen und röntgenologischen Symptome feststellen. Der Aortenschatten wurde unter dieser Behandlung, die durchschnittlich 9 Monate dauerte, sogar breiter, doch besserten sich stets weitgehend nach einer oder mehreren Serien von Wismuteinspritzungen („Quinby“) die funktionellen Störungen nach Maß- gabe des Alters derselben, und dies fast ebenso schnell wie nach großen Dosen der Arsenobenzole. Die dyspnoischen Beschwerden wurden schwächer, die Attacken von Angina pectoris seltener, so daß die Patienten, die durch die drohende Not- wendigkeit, ihren Beruf aufzugeben, sehr beunruhigt waren, vertrauensvoll ihre Be- schäftigung wieder aufnehmen konnten und bei den geringsten Beschwerden wieder nach dieser Behandlung verlangten. Für beide Autoren ist es zweifellos, daß das Wismut die in der Entwicklung begriffenen syphilitischen Aortitiden auf- hält. Nach Bordet hat das Wismut bei den luetischen Aortenerkrankungen zweifellos den Vorzug vor den anderen specifischen Mitteln, daß es besser vertragen wird als diese und daher auch bei alten, komplizierten Fällen angewandt werden kann, bei denen Salvarsan und Hg infolge ihrer Chokwirkung kontraindiziert sind.

Auch die Augenlues soll nach H. Müller durch Bi günstig beeinflußt werden. Gourfin berichtet über Versuche mit Neotr&pol bei Augensyphilis in der Sekundär- und Tertiärperiode. Das Mittel soll sich namentlich in der Sekundär- periode sehr bewähren; Erscheinungen an der Iris schwinden schon nach wenigen Injektionen. Bei Erkrankungen der Opticuspapille rät Duhot aber zur Vorsicht

Neuere Syphilistherapie. 33

betreffs der Wismutbehandlung, da dieses Medikament die Neigung besitze, Pigment in den Capillaren abzulagern.

Nach Otero hat sich dem Bismut gegenüber am empfindlichsten der Ver- dauungstractus erwiesen. Der Icterus specificus bildet nach H. Müller zum mindesten keine Gegenindikation gegen Wismutbehandlung. Auch die specifischen Albuminurien können unbedenklich mit Wismut behandelt werden (Tzanck). Manche als toxisch gedeutete Nierene krankung ist, wie der weitere Verlauf der Behandlung ergab, als syphilitisch zu deuten (Simon, Bueler).

In einer im Jahre 1922 gemachten Zusammenstellung der bis dahin vorliegenden Wismutliteratur hebt Levaditi die ausgezeichnete Wirkung des Wismuts auf die Nervensyphilis, u. zw. besonders auf die akute Hirnhautsyphilis, hervor. Diese, insbesondere umschriebene Gummen, jedoch auch Gefäßerkrankungen, Meningitis basilaris geben auch nach H. Müller bei dieser Therapie gute klinische Erfolge. Auch nach Fournier und Guénot, K. Csepay u. a. wird die frühzeitige Hirn- lues durch Bi rasch gebessert. Simon, der über gute Erfolge bei syphilitischem Kopfschmerz berichtet, sah ausgezeichnete Erfolge in 2 unter 3 Fällen von Neuritis optica. Nach Laubry und Bordet reagierte eine 21. Jahre bestehende, auf Hg- und As-Behandlung in erster Linie wegen Unverträglichkeit dieser Mittel sich nicht bessernde Hirnsyphilis glänzend auf Wismut. Auch Tom masi sah in einem Fall von Hirnsyphilis, die sich jeder anderen Therapie gegenüber refraktär verhielt, besonders gute Erfolge.

Mandel empfiehlt auf Grund eigener Erfahrungen das Wismut dringend bei sekundärer Cerebrospinallues. H. Müller, Lortat und Jacob u. a. berichten über Schwinden hochgradiger Pleocytosen im Liquor sowie der Phase I unter dieser Therapie. Jeansalme empfieht dieses Mittel deshalb gerade bei diesen Erkrankungen, weil es, in wäßriger Form injiziert, schon nach 2 Stunden im Liquor nachzuweisen sei. Scherber hingegen konnte bei Nervensyphilis eine Besserung des Liquors durch Wismut nicht erreichen.

Nach Agramunt wird das Wismut bei der Nervensyphilis besser vertragen als alle anderen Präparate Nin Posadas sieht ebenfalls in der Nervenlues das Hauptgebiet der Wismutanwendung. Alle seine einschlägigen gut auf Wismut reagierenden Kranken waren mit Hg und Salvarsan erfolglos behandelt worden. Die Einverleibung von Bi brachte überraschende Resultate, wie völlige Besserung ein- und doppelseitiger Lähmungen, Herstellung des Geh- vermögens, Besserung der Sprache u. dgl.

Sehr gute Erfolge wurden von manchen Autoren auch bei den Neuro- rezidiven gesehen, insbesondere bei den nicht so seltenen arsenresistenten Fällen. Dies betonen vor allen Emery und Marie, die in einem Falle 4mal innerhalb eines Jahres 3 Wochen nach Abschluß der Salvarsankur ein Neurorezidiv mit schwerem Kopfschmerz sahen. Durch Bi wurde dauernde Heilung erzielt; der Liquor, der vor dieser Behandlung 120 Zellen enthielt, wurde normal.

Erwähnt wurde bereits, daß in Frankreich das Muthanol, Luatol und das Curalues hauptsächlich bei Nervenlues angewendet wird, da es hier einen besonders guten Einfluß entfalten soll (Fourcade, Marie, Otero u.a.). Pinard ist aber der Ansicht, daß man auf die Erfolge der Wismutbehandlung bei Nervensyphilis nicht allzu große Hoffnungen setzen dürfe. Arsen sei dem Wismut überlegen. Man müsse daher nur mit großen Dosen Arsen behandeln, und erst wenn man durch fort- gesetzte Gaben desselben der Situation Herr geworden sei, dürfe man zum Wismut übergehen. So gut wie gar keine Erfolge mit Wismut bei Nervenlues sahen hingegen Escher sowie Baum.

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 3

34 Paul Mulzer.

Tabes.

Von verschiedenen Seiten werden, ähnlich wie beim Salvarsan, auffallende Erfolge der Wismuttherapie bei der Tabes berichtet. Nach Nin Posadas trat bei Tabikern ausschließlich ein Umschlag unter dieser Therapie ein. Bei Inkontinenz stellte sich normale Urinfunktion ein, alle Blasenstörungen wurden zu fast voll- kommener Wiederherstellung gebracht, die schmerzhaften Krisen wurden ausnahms- los beseitigt, so daß Morphium unnötig wurde. In 9 Monaten wurde kein Rezidiv gesehen. Simon, Benech u. a. berichten über Verschwinden von Rhomberg und Pupillenstarre, Besserung der Gehbeschwerden sowie der Inkontinenz der Blase und der Krisen. Gouin und Jégat heben besonders das schnelle Schwinden der lancinierenden Schmerzen hervor. Nach Artom soll die Wirkung des Wismut besonders günstig im Beginn dieser Erkrankung sein, wenn auch der Einfluß auf die Wassermannsche Reaktion und den Liquor nicht sehr ausgesprochen sein soll. Die Herxheimersche Reaktion soll sich bei der Tabes am meisten geltend machen, u. zw. in einer starken Reaktivierung der Krisen. Die Schmerzen werden unerträglich, dauern einige Stunden bis Tage, dann aber tritt der Umschlag zu vollkommener Besserung ein. Auch Scherber sah nach Trepolanwendung in einer Anzahl der Fälle außer einem Negativwerden des Wassermann besonders Besserung der gastrischen Krisen, der Incontinentia urinae und mancher ataktischer Symptome, zuweilen auch der Pupillenreaktion. Ramel berichtet über einen auffallenden Erfolg einer kombinierten Silbersalvarsan- und Oleo-Bi-Therapie bei der ataktischen Form der Tabes. Nach Bloch sind indes diese doch mehr vereinzelten Erfolge bei der Tabes mit Vorsicht aufzunehmen, eine Ansicht, der ich mich in Erinnerung an die anfänglich gleich überschwenglich gemeldeten Erfolge der Salvarsantherapie bei dieser Erkrankung nur voll und ganz anschließen kann.

Paralyse.

Auch über die Wismutwirkung bei der Paralyse liegen ähnliche Berichte vor. So teilt Evrard einen Fall mit, bei dem vor der Behandlung starker Rhomberg bestand, die Knie- und Achillessehnenreflexe vollkommen fehlten, Pupillenträgheit und dazu fibrilläre Muskelzuckungen und andere eindeutige Symptome vorhanden waren. Nach einer Kur von 10 Wismuthydroxylspritzen (Curalues) trat eine auffallende subjektive und objektive Besserung ein und nach Abschluß derselben waren die Reflexe normal, Rhomberg und die früheren Sprach- und Gedächtnisstörungen waren geschwunden und der Patient war wieder arbeitsfähig. In einem anderen Falle will dieser Autor ebenfalls eine auffallende Besserung mit dieser Therapie erzielt haben, so daß er hofft, durch diese wenigstens Remissionen im Verlauf dieser Erkrankung erzielen zu können. Auch Levaditi sowie Lortat und Jacobi berichten über gute Erfolge der Wismutbehandlung der Paralyse. Letzterer empfiehlt hier speziell Chinin-Wismutjodid. Morris und Fourcade sahen indes gar keine Erfolge der Bi-Therapie bei der Paralyse.

Lues congenita.

Nach H. Müller gelingt es auch in sehr schweren Fällen der angeborenen Syphilis, ein schnelles Schwinden von Haut-, Schleimhaut- und Knochen- erscheinungen durch Wismut zu erzielen und das Leben der Säuglinge zu ver- längern. Freilich vermochte Müller in 6 Fällen niemals den Tod nach Ablauf von 3 bis 6 Monaten zu verhüten. Er betont die Toleranz dieser Kranken gegen kleine (0:01) Dosen; bei 0'03 traten indes schwere Diarrhöen auf. M. H. Mery berichtet über

Neuere Syphilistherapie. 35

die außerordentlich günstige Wirkung des Bi (Luatol) bei einem 8 Monate alten congenital-luetischen Säugling, bei dem eine Schmierkur völlig versagte. Sehr gute Erfolge bei congenitaler Lues hatten auch Cajal und Spierer. Sie injizierten pro 1 kg 0'01 Tre&pol und behandelten gleichzeitig auch die Mutter. Auch Marcus, der 0:02 Trepol gibt, sah ähnliche gute Resultate, desgleichen Dejace, Levaditi, der besonders die erbliche Gehirnsyphilis glänzend beeinflußt sah, Walter und Röderer mit Sigmuth und verschiedene andere Autoren.

Schwangerschaft.

Hugo Müller betont zunächst, daß hier das Wismut gut vertragen werde. Das ausgetragene Kind einer bei der Befruchtung infizierten Mutter (papulo-pustu- löses Exanthem), welche als einzige Kur 14 Trepolspritzen à 2 cm? erhalten hatte, schien während der kurzen Beobachtungszeit nach der Geburt serologisch und klinisch gesund zu sein. Müller weist auf die Möglichkeit hin, daß Wismut eventuell durch die Milch auf das Kind übergehen könne.

Serologische Einwirkung.

Nach Fournier und Guénot bleibt die Wassermannsche Reaktion bei primärer, seronegativer Syphilis negativ, Rezidive treten nicht auf. Bei sero- positiver primärer Lues wird die Wassermannsche Reaktion negativ, allerdings oft erst einige Monate nach Abschluß der Behandlung. Wassermann, Sachs-Georgi und Hecht wurden in 6 Fällen, die Escher mit Tr&pol behandelte, innerhalb 5 Wochen nach der ersten Serie (12 Injektionen = 3'6 g}, 2 nach der zweiten Serie und 2 in der Dauer zwischen der zweiten und dritten Kur negativ.

Bei sekundärer Lues wird die Wassermannsche Reaktion unter Wismut- behandlung gewöhnlich noch nicht nach der ersten, sondern meist erst nach der zweiten Serie negativ (Fournier und Guénot, Bloch, Rosner). Nach Escher wurde die Seroreaktion in 25 Fällen sekundärer Syphilis 3mal nach der ersten, 7mal nach der zweiten und in weiteren 7 Fällen nach der dritten, d. h. in 76% der Fällen, negativ. Schreus sah die Wassermannsche Reaktion bei Lues II durch Bi weniger prompt als durch Hg und Salvarsan beeinflußt werden, doch wird die Wirkung immerhin als befriedigend hingestellt.

In der Frühlatenz erzielte Escher in 73% der Fälle und bei Lues Ill in 2 von 6 Fällen ein Negativwerden der Seroreaktion. Barrio de Medina sah gerade in der Latenz eine außerordentlich gute Beeinflussung der Wassermannschen Reaktion durch die Bi-Präparate; sogar solche Fälle wurden negativ, die durch Salvarsan und Quecksilber nicht beeinflußt worden waren. Nach der Meinung dieses Autors ist daher das Wismut in erster Linie indiziert für latente Syphilitiker.

Nach Hudelo und Rabut werden fast alle Syphilitiker unter Bi-Darreichung (Chinin-Wismutjodid) seronegativ, gleichgültig in welchem Stadium sie sich befinden. Otero bezeichnet die Wirkung des Wismuts auf Wassermannsche Reaktion und Liquor als überraschend. Bernhardt sah in 83% der sekundären und in 25% der tertiären Syphilis Negativwerden des Wassermann bei dieser Therapie, auch Sedlak sah im allgemeinen eine ganz ausgezeichnete Beeinflussung der Seroreaktion bei Syphilitikern aller Stadien.

Im allgemeinen sind sich aber doch die meisten Kliniker darin einig, daß die Wassermannsche Reaktion und die anderen einschlägigen Seroreaktionen der Syphilis bei Bi-Darreichung erst nach einiger Zeitnegativ werden (Lehnert), und daß diese weniger intensiv als durch Salvarsan und Quecksilber beein-

er

36 Paul Mulzer.

' flußt werden (Grenetund Drouin, Villemin, Bang und Kjeldaen u.a.). Villemin beobachtete wiederholt, daß eine schwache Wassermannsche Reaktion durch Bi verstärkt würde. Tartaru erblickt in der Tatsache, daß die Wassermannsche Reaktion sich durch Trépol unschwer beeinflussen läßt, einen Vorzug der Bi- Wirkung. Nach seiner Auffassung sind nämlich die Fälle, in denen die Wasser- mannsche Reaktion schnell negativ wird, prognostisch ungünstiger, weil die Abwehr- kräfte geringer sein sollen. Einmal negativ geworden, soll die Reaktion dann hier bedeutend länger negativ bleiben als nach jeder anderen Therapie. Auch Simon hält das Wismut hinsichtlich seiner Dauerwirkung auf die Wassermannsche Reaktion dem Salvarsan überlegen.

Schubertsahnureine „geringeserologischeWirksamkeit“derBi-Therapie. Nach Baeker muß man, was den Einfluß der Wismuttherapie auf die Wassermannsche Reaktion betrifft, zwischen Früh- und Spätformen der Syphilis unterscheiden. Bei den primären und sekundären Fällen ist die Wassermannsche Reaktion bei einem großen Teil Schwankungen unterworfen, bei tertiären zeigt sich überhaupt kein Ein- flu (Bismoluol). Ducrey, Jeanselme, De Bello und andere Kliniker sahen über- haupt keinen Einfluß selbst der stärksten Wismutbehandlung auf die Wassermannsche Reaktion. „Der schwächste Punkt der Bi-Tnerapie scheint in der Einwirkung auf die Wassermannsche Reaktion zu liegen“ (Haxthausen).

*

Leider entfalten die Wismutpräparäte auch mitunter recht unangenehme Nach- wirkungen, die schon frūh erkannt und eingehend studiert wurden. Ich halte es für notwendig, daß auch der praktische Arzt, der sich ja leider schon ziemlich ausgedehnt der Wismutbehandlung in seiner Praxis bedient, genauestens alle, auch diealsnur vereinzelt vorkommend beschriebenen Nebenwirkungen kennt, da er wohl bei jedem Präparat damit rechnen muß. Ich beziehe mich auch hier im wesentlichen auf die ausländische Literatur. Die einschlägigen Erfahrungen der deutschen Autoren, die sich ja im allgemeinen mit diesen decken, werde ich bei der Besprechung der deutschen Wismutpräparate erwähnen.

Lokale Nebenwirkungen.

Lokal verursacht die Einspritzung besonders unlöslicher Wismutpräparate mehr oder weniger Schmerzen, die nach H. Müller besonders von den empfind- licheren romanischen Rassen schon bei dem Tre&pol recht unangenehm empfunden werden sollen. Dieser Umstand hat ja auch zu der Einführung des sog. „Trepol indolore“ geführt. Das Neoti&pol soll schon wieder stärkere Beschwerden machen (Escher). Meine Patienten, fast durchwegs kräftige junge Soldaten, haben beide Präparate als ziemlich schmerzhaft emj funden. Barrio de Medina lehnt die beiden ersten französischen Präparate eben wegen dieser ihrer großen Schmerzhaftigkeit überhaupt ab, desgleichen Nin Posadas, der sogar in enem Falle Absceßbildung nach ihrem Gebrauche beobachtet hat. Auch Lacapere und Galliot, Hudelo und Rabut und viele andere Autoren teilten mit, daß sie ebenfalls die Behandlung mit den Trepolpräparaten aufgäben, weil diese zu schmerzhaft seien.

Nebenwirkungen allgemeiner Art. e Fieber. Fieber findet sich nach H. Müller seltener in Form der ausgesprochen hohen Temperatursteigerung, wie sie nach der ersten Salvarsaninfusion beobachtet wird, jedoch treten leichtere Temperatursteigerungen (38—38°5°) häufiger und nicht nur

Neuere Syphilistherapie. 37

nach der ersten Einspritzung auf. H. Müller sah bei einem Tabiker unmittelbar nach der 14. Spritze (A 1 cm? Trepol) Fieber bis zu 40° auftreten, das innerhalb von 3 Tagen abklang, und Lehnert in einem Falle 3 Stunden nach der zweiten Injektion Schüttelfrost, Brechreiz und darnach hohes Fieber und Stomatitis.

Von leichteren allgemeinen Nachwirkungen beobachtet man nach Wismutdar- reichung gelegentlich Abgeschlagenheit, Kopfschmerz, Erbrechen, Appetit- losigkeit, Gewichtsabnahme (Schindler). Nach Milian haben Wismutein- spritzungen einen merklichen Einfluß auf das Allgemeinbefinden. Am häufigsten beob- achtet man Abspannung, Anorexie, Magenbeschwerden und Gewichtsverlust. Stets wird das Gesicht bleich und gibt allen mit Wismut behandelten Patienten ein charakteristisches Aussehen. |

Simon beschreibt eine „Grippe bismuthique* als häufig, die aus Abgeschla- genheit, Kolik und Kopfschmerzen besteht, übrigens als Herxheimersche Reaktion gedeutet wird. Emery und Morin sahen einige Fälle von völliger Erschöpfung mit Notwendigkeit von Bettruhe, die in allgemeiner Benommenheit, leerem Kopf, Fieber und hypochondrischen Vorstellungen bestanden und meist Blutarme betrafen. Bei ein- zelnen Kranken sahen sie nach jeder Einspritzung Occipitalkopfschmerz auf- treten. Rosner sah häufig Diarrhöen nach Wismutanwendung und Ducrey in zwei Fällen eine Colitis ulcerosa.

v Die häufigste Nebenwirkung der Wismutapplikation ist nach dem Urteil aller Autoren der sog. Wismutsaum.

Er tritt in der Mehrzahl der Fälle nach einigen Bi-Spritzen auf als blaugraue oder blaubraune schmale Randzone der Schneidezahnränder (H. Müller), mitunter kann er aber auch schon nach der ersten Injektion beobachtet werden (Azoulay u. a.). Seinem Auftreten geht nach Nin Posadas ein eigentümliches Gefühl an den Zähnen voraus. Azoulay sowie Milian führen den Wismutsaum auf die Ablagerung von Wismutsulfid in den Bindegewebszellen der Cutis und vor allem in den Gefäßendothelien zurück. Zimmern, der ihn nur in einem kleineren Prozentsatz seiner Fälle und nur bei sehr schlechtem Zustand der Zähne sah, beschuldigt letzteren für das Entstehen dieser Nebenwirkung.

Dieser Wismutsaum ist gewiß an sich harmlos (Bloch). Da er aber wochen- und monatelang nach Beendigung der Wismutbehandlung noch bestehen kann und, wie bereits bemerkt, so gut wie regelmäßig im Gefolge dieser auftritt, so ist der Gedanke von Pincus, daß er verräterisch für die Krankheit seiner Träger wirke, doch mehr zu beachten, um gewisse Unannehmlichkeiten gesellschaftlicher Art zu vermeiden. Aus dem Wismutsaum kann sich weiterhin gar nicht so selten ein weit ernsterer Zustand entwickeln, nämlich die

Wismutstomatitis.

Die eigentliche Wismutstomatitis, als deren leichtester Grad von vielen Autoren der eben besprochene Wismutsaum angesehen wird, dokumentiert sich in etwa 10% der Fälle (Milian) in Form von umschriebenen dunkelbraunen bis schwärzlichblauen, wie tätowiert aussehenden Strichen und Flecken, die in der Schleimhaut der Lippen, der Wangen, der Zunge, des Gaumens und der Tonsillen auftreten. H. Müller betont, daß er diese Verhärtungen bei seinen Fällen, die nur jeden 4. bis 5. Tag gespritzt wurden und zu möglichst guter Zahn- pflege angehalten worden seien, weit seltener beobachtet habe.

In 10—30% der Fälle treten nach Milian, nach den Beobachtungen anderer Autoren auch seltener oder weit häufiger, dann entzündliche Erscheinungen

38 ? Paul Mulzer.

auf in Form von Gingivitis und Ulcerationen, seltener in-Form einer diffusen Stomatitis. Alle Autoren betonen aber, daß auch diese viel gutartiger seien als die bekannten Hg-Stomatitiden und daß sie durchschnittlich in 8-14 Tagen nach Aussetzen der Behandlung heilen. Von der Hg-Stomatitis soll sich diese Form noch dadurch unterscheiden, daß sie plötzlich auftritt, daß die Zunge unversehrt bleibt, daß nur eine geringe Salivation vorhanden ist und daß der Foetor fast vollkommen fehlt (Hudelo, Azoulay u.a.).

Doch kommen auch schwerere Formen vor (Rosner u.a), die weniger leicht abklingen. Simon und Bralez beschreiben als eine besondere Form wuchernde Stomatitiden am Gaumen. H. Müller sah eine solche zwischen den Schneide- zähnen, die ungewöhnlich lang anhielt. Ganz schwere Formen der Wismutstoma- titis, die Azoulay als Stomatitis gravis bezeichnet, können unter schweren Allgemeinsymptomen und Intoxikationen zum Tode führen. Begleitet sind sie gewöhnlich von choleraähnlichen oder blutigen Diarrhöen und Albuminurie, sollen nie beim Menschen nach den üblichen Injektionen, sondern nur, experimentell erzeugt, bei Tieren vorkommen. Doch hat Spak bei vorsichtigster Trepol- und Neotr&epolanwendnng eine schwerste Ulceration der Wangenschleimhaut, verbunden mit Schwellung der gesamten Gingiva (spirillo-fusiforme Infektion!), starkem Foetor ex ore und heftigen Schmerzen gesehen. Es bestand in diesem Falle allerdings eine chronische Nephritis, die schon bei der Aufnahme des Patienten festgestellt worden war.

Ätiologisch kommen für das Auftreten einer Stomatitis bismutica nach Milian und Perin die Größe der angewandten Dosen, der zeitliche Abstand der Injektionen und der Zustand der Zähne in Betracht. Die Verfasser beobachteten diese Komplikation meist nach der 6.— 10. intramuskulären Injektion. Vergrößerte man die Abstände der einzelnen Injektionen, dann trat die Stomatitis seltener und später auf. Bei schlechten Zähnen sah man sie nur an diesen entstehen. Azoulay nimmt an, daß die Ursache hierfür eine Infektion mit banalen Eitererregern im Stadium der Imprägnation sei, worauf dann im Stadium der Ulceration fusiforme Bacillen und Spirillen nachweisbar seien. Diese Annahme erscheint Azoulay gerechtfertigt durch das Tierexperiment, denn beim Hasen gelingt es, wovon auch ich mich stets überzeugen konnte, nicht, experimentell eine Wismutstomatitis zu erzeugen. Er ist Planzenfresser und für diese sollen die genannten Erreger nicht pathogen sein, während sie beim Hunde, dem Karnivoren, vorkommen und krankhafte Erscheinungen hervorzu- rufen pflegen. l :

Histologisch ergab sich nach den Untersuchungen des gleichen Autors im Stadium der Imprägnation, daß der Transport des Wismuts durch die Blutgefäße eıfolgt; die Ausscheidung findet auf der dem Zahne zugekehrten Seite der Gingiva statt, während die von dem Zahn abgewendete Seite derselben mit ihrem starken Epithelbelag nichts durchtreten läßt. Von den behafteten Schichten bis hinauf in die höheren Anteile der Schleimhaut waren zahlreiche Mikroorganismen, u. zw. insbe- sondere Pneumokokken, nachweisbar. Im Stadium der Ulceration zeigt sich eine oberflächliche Schicht, bestehend aus polynukleärem zelligen Detritus und Mikroorganismen und darunter eine nekrotische, fibrinartige Masse mit zerfallenden Leukocyten. Gewebsinfiltration und entzündliche Veränderungen finden sich in der Tiefe an den Gefäßen und in der mittleren und tiefen Schicht reichliche Spirillen. Milian und Perin fanden in zwei Pigmentflecken der Unterlippe: Ablagerung feinster Wismutkörn- chen im Stratum capillare, u. zw. hauptsächlich in den Endothelzellen der Capillarschlingen sowie leichtere entzündliche Reaktion mit Dilatation der Gefäße bis in die tieferen Cutisschichten.

Prophylaktisch kommt in erster Linie eine geordnete Zahn- und Mund- pflege in Betracht und therapeutisch sind zu verwenden alle die Mittel, die wir von der Behandlung der Hg-Stomatitis her kennen. Azoulay empfiehlt Spülungen mit absolutem Alkohol, Touschieren mit Salvarsan, Luargol oder 1%igem Methylenblau, eventuell intravenöse Salvarsanapplikation. Bernhardt rät zu 25%iger Tanninpasta und 2% iger Tannin- lösung. Im Falle stärkerer Entzündung wendet er Pinselungen mit 10—15 %igem Tanninglycerin an oder Tannin in Tinctura gallarum.

Albuminurie und Nephritis.

Blum bezeichnet als häufigste Komplikation der Wismutbehandlung neben der Stomatitis die Albuminurie. In einem Falle beobachtete er nach einer Ein-

Neuere Syphilistherapie. l 39

spritzung von 03 g Trépol neben schwerster Stomatitis eine Albuminurie mit epithelialen, granulierten und hyalinen Cylindern. Albuminurie und Cylindrurie verschwanden nach etwa 20 Tagen. GroBe Mengen abgestoBener Epithelien und Cylinder finden sich sehr häufig im Harnsediment (Thomas). Nach Schreus kommen sehr häufig Nierenreizungen (!/— 1/2% Eiweiß) nach Wismutbehandlung vor. Escher, Lacap£re und Galliot, Bang und Kjeldsen, Radaeli u.a. sowie die meisten französischen Autoren sahen leichte vorübergehende Albuminurien, ein Umstand, den H. Müller nicht so sehr auf die französischen Präparate als viel- mehr auf die von den Franzosen besonders anfangs geübte größere Dosierung in kurzen Intervallen zurückführt. Schwerere Nierenschädigungen, wie sie sich im Experiment leicht erzeugen lassen, sind in der Praxis anscheinend noch nicht beobachtet worden. Nur Simon beschrieb einen Fall, bei dem bei einem kräftigen, 19jährigen Syphilitiker nach 4 Jnjektionen von 0'2 g Wismuthydroxyd, die 2mal wöchentlich verabreicht worden waren, starke Albuminurie mit heftigen Kopf- ` schmerzen und rasch vorübergehenden Delirien auftrat. Innerhalb 3 Wochen klang die Nephritis ab, die Simon als eine lokale Herxheimersche Reaktion und nicht als eine Wismutschädigung auffaßt. Auch Bickler sowie Neuendorf beobachteten bei einem bzw. zwei ähnlichen Fällen intensivere Nierenschädigungen mit positivem Albuminbefund, granulierten Cylindern und Erythrocyten im Sediment. Heuck sah, wie bereits erwähnt, nach Quinby stets Nephritis auftreten; nach den

deutschen Präparaten beobachtete er dies in etwa 5%.

Nach Blum kommt für das Auftreten einer Albuminurie in ersten Linie in Betracht eine Wismutimprägnierung der Niere. Diese verhindert die Ausscheidung und zwingt die Niere zu vermehrter Elimination des Metalls. Ferner begünstigen Schädigungen der Schleimhäute des Mundes eine Sekundärinfektion der Niere. Blum und Wallot sahen in 4 einschlägigen Fällen jedesmal eine leichtere oder schwerere, meist ulcerierende Stomatitis. Schließlich, an dritter Stelle, führt Blum als Ursache für die Albuminurie noch eine traumatische Wismutschädigung des Nieren- parenchyms an.

Bemerkt sei noch, daß Milian und Perin während einer Wismutbehandlung nicht ganz selten ohne jegliche Schädigung des Nierenparenchyms eine Schwarz- färbung des eiweiß- und blutfreien Urins, der aber immer größere Mengen Wismut enthielt, beobachteten. Auch Nin Posadas sah einmal nach 0'2 Bi eine 24 Stunden andauernde tief olivenfarbene Verfärbung des Urins, ähnlich dem Salolharn. Erwähnt sei auch, daß Schreus nach Wismutanwendung eine Balanitis erosiva mit gelblich schwärzlicher Smegmaverfärbung auftreten sah.

Prophylaktisch ist immer, d. h. vor jeder Spritze, eine Untersuchung des Harns, u. zw. nicht nur chemisch, sondern auch mikroskopisch auf Cylinder vorzunehmen; bei pathologischem Befund Aussetzen dieser Therapie, eventuell Wahl eines anderen Wismutpräparates oder überhaupt eines anderen Medikamentes. Duhot empfiehlt als Prophylakticum gegen Nierenkomplikationen reichliche Milch- diät, wie bei Hg. Diese sowie die üblichen konservativen Maßnahmen kommen natürlich auch therapeutisch in Betracht.

Hand in Hand mit den eben erwähnten Albuminurien und Nierenschädigungen sollen auch häufig Pollakisurie und Polyurie beobachtet werden.

Hauterscheinungen.

Auch mannigfache Hauterscheinungen wurden nach Wismutapplikation gesehen. Pinard und Marassi berichteten zum ersten Male hierüber. Bei einem 34jährigen Manne mit unklarer Aortenläsion und positiver Wassermannschen Reaktion trat nach der 13., in wöchentlichen Abständen applizierten intramuskulären Injektion von 0:15 Bi-Hydroxyd plötzlich unter heftigem Juckreiz ein Exanthem auf,

40 Paul Mulzer.

das einer Dermatitis exfoliativa entsprach und besonders am Rumpf, in den Achselhöhlen und in der Inguinalgegend lokalisiert war. Gleichzeitig bestand eine leichte Albuminurie und ein starker Zahnfleischsaum.

Hudelo und Richon sahen nach 8 Injektionen von Bi-Hydroxyd bei einer sowohl gegen Hg wie gegen Salvarsan überempfindlichen Patientin eine besonders in den Gelenkbeugen lokalisierte Erythrodermie in Form großer flächenhafter, unscharf begrenzter Herde, die kleienförmig abschuppten und absolut trocken, nie nässend waren. Gastou und Pontoizeau sahen 2 Tage nach der 3. intravenöen Einspritzung von 3 cm? kolloidalem Wismut (Robin) ein leicht juckendes papulo- squamöses Exanthem mit Einzelefflorenscenzen bis zu 4 mm Durchmesser, das hauptsächlich am Rumpf lokalisiert war. Auch Galliot berichtet über 3 Fälle von Wismuterythem nach 12 Injektionen von Bi-Hydroxyd. Ein scarlatiniformes Exanthem in der Inguinalgegend sah Levy-Frankel nach 2 Injektionen von Quinby auftreten; Urticaria sahen Neuendorff, H. Müller, Lepinay u. a. Nicolas, Gate und Lebeuf beobachteten bei einem Patienten, der nach Neo- salvarsanbehandlung ein scarlatiniformes Exanthem gehabt hatte, das nach 3 Tagen wieder abklang, unter der Wismutbehandlung ein lichenoides Exanthem, das aus peripilären, stark nadelkopfgroßen, leicht zugespitzten Papeln von rosaroter bis dunkelroter Farbe und mit feiner oberflächlicher Schuppenbildung bei geringem Juck- reiz bestand. Jeanselme und Lorotat-Jacob machen übrigens darauf aufmerksam, daß nach einem Salvarsanexanthem sehr oft Überempfindlichkeit gegen Hg und Bi zurückbleibt. Auch nach deutschen Präparaten wurden, wie wir sehen werden, Exantheme beobachtet, doch scheinen sie nach den ausländischen Ersatz-

präparaten des Tre&pols häufiger vorzukommen. |

Freudenberg führt übrigens die Entstehung von Wismutexanthemen auf kleinere arterielle Embolien zurück. :

Auch Hämorrhagien wurden nach Wismutanwendung beobachtet. So sah

Maranon solche bei 3 Syphilitikern auftreten, so daß er zu Vorsicht bei Arterio- sklerotikern und Personen warnt, die zu Hämorrhagien neigen. Erwähnt sei noch, daß Spillmann bei einem Syphilitiker eine nach jeder Wismutinjektion sich wiederholende Conjunctivitis sah.

Schließlich sei noch bemerkt, daß Simon und Bralez im Verlaufe einer Bi- Kur eine Neuritis optica acuta, eine acute Meningitis und eine acute Meningomyelitis, die tödlich verlief, beobachteten. Die Autoren fassen diese Fälle aber nicht als medikamentöse Schädigungen auf, sondern sind der Ansicht, daß sie auf Lues beruhen. Ihrer Ansicht nach sind sie nicht infolge dieser Behand-

lung, sondern trotz ihr entstanden.

Deutsche Wismutpräparate.

Bismogeno!.

Das erste in Deutschland hergestellte Wismutpräparat ist das „Bis- mogenol“ der Firma Tosse-Hamburg. Es stellt eine Suspension eines Wismut- oxybenzoates in entsäuertem Olivenöl dar und enthält 59—60% Wismut, d.h. 1 cm? der gebrauchsfertigen Suspension 0'05— 0:06 g Wismut. Es soll sich hier um ein basisch oxybenzoesaures Wismut, das mit Wismutsubsalicylat identisch oder sehr verwandt ist, handeln. „Nähere Angaben über die Oxybenzoesäure, mit der das Wismut im Bismogenol verbunden ist, wurden bisher nicht gemeldet, es steht somit die Frage noch offen, ob es sich um ortho-, meta- oder para-Oxybenzoe-

säure dreht.“

Neuere Syphilistherapie. dp

H Deselaers führte das Bismogenol in die Therapie der Syphilis ein. Nach seinem Urteil und nach dem zahlreicher anderer Autoren leistet dieses Mittel zum. mindesten das gleiche wie die französischen Originalpräparate. Der Primäraffekt wird gut und prompt beeinflußt (Greif, Voigt, Plöger, Papasoglou, Ritter), wenn auch die Wirkung auf die Spirochäten nicht so hervorragend zu sein scheint. So fand Nagel noch nach 3-4 Injektionen lebende Pallidae. Nach den Beobach- tungen dieses Autors soll auch das Infiltrat der Sklerosen, die sich rasch über- häuten, oft noch länger bestehen bleiben, so daß man wohl Voigt zustimmen muß, wenn er die primäre Syphilis vorläufig noch mit Salvarsan behandelt wissen will. Die sekundäre Lues stellt nach Holländer die Domäne der Bismogenol- therapie dar, auch Eliasow und Sternberg sahen besonders hier gute Resultate. Exanthemerscheinungen papulöser Art schwinden rasch (Plöger); Voigt sowie Zimmern beobachteten dabei häufig eine Herxheimersche Reaktion, die bei zweien der Patienten eine urticariele Form annahm und erst nach 3 Tagen ihren Höhepunkt erreichte. Die Drüsenschwellungen werden nach Nagel auifallend rasch resorbiert, während dies nach Voigt, Neuendorff u. a. aber weniger prompt der Fall ist. Ersterer rät, sie nach dem Vorschlage Herxheimers mit einer 10% igen Bismogenolsalbe zu bedecken, wonach er bessere Resultate ge- sehen haben will. Schreus beobachtete gelegentlich besonders gute Einwirkung auf die Alopecia specifica. Auch die tertiären Erkrankungen verschwinden meist schnell nach einigen Bismogenoleinspritzungen.

Vorsicht ist nach Görl und Voigt sowie nach Voehl bei syphilitischen Herzkrankheiten geboten. Um schwere, lebenbedrohende Zustände, die nach einem zu brüsken Vorgehen hier entstehen können, zu vermeiden, rät er, diese Fälle stets mit Jod oder Hg vorzubehandeln. Auch dürfen hier keine so großen Dosen, wie sie Deselaers empfohlen hat je 1 cm? genommen werden, sondern es muß mit 0'2 cm? begonnen und dann langsam bis 0'8 gestiegen werden. Zimmern sah bei zwei Fällen von Tabes nach Bismogenoleinspritzungen Rück- gang der Ataxie und der lancinierenden Schmerzen.

Über die Wirkung auf die Wassermannsche Reaktion sind die Ansichten ziemlich geteilt. Nagel sah gerade hier eine ganz besonders gute Wirkung des Bismogenols. Ein unverhältnismäßig großer Prozentsatz von den Kranken hatte nach Beendigung der (sc. reinen Bismogenol-) Kur eine negative Wassermannsche Reaktion, nämlich von insgesamt 80 Kranken mit einer positiven Wassermannschen Reaktion wurden nicht weniger als 67 negativ, darunter von 19 Syphilis I/II mit vierfach positiver Wassermannscher Reaktion allein 17 und von 39 Syphilis III mit vierfach positiver Wassermannscher Reaktion 32 und von 8 Lues latens mit vierfach positiver Wassermannscher Reaktion 5. Bei den Nachuntersuchungen von 79 Patienten hatten nicht weniger als 65 eine negative und nur 14 eine positive Wasserman nsche Reaktion. Im seronegativen Primärstadium soll Bismogenol bisweilen provokatorisch wirken insofern, als langsam, aber sicher, oft erst einige Wochen nach Beendigung der Kur, ein Umschlag eintritt, was auch Ritter beobachtete. Einmal negativ geworden, soll die Reaktion dann aber auch dauernd negativ bleiben. Nach den Erfahrungen an- derer Autoren, wie Voigt, W.Richter, Neuendorff, Dietl u. a., wird die Wasser- mannsche Reaktion viel langsamer negativ als nach den anderen Syphilisheil- mitteln. Nach Ritter zeitigt eine Bismogenolkur zwar einen langsamen, aber dafür auch desto intensiveren Erfolg bezüglich der Umstimmung der Wassermannschen Reaktion. Nathan und Martin sahen aber gerade hier oft rasches Umschlagen der negativen Phase in die positive. |

42 Paul Mulzer.

Deselaers beobachtete nach Bismogenoleinspritzungen, die überhaupt nicht schmerzhaft waren, nur in vier Fällen einen leichten Bismutsaum, sonst keinerlei Neben- wirkungen. Auch Grimme sowie Prater halten das Bismogenol für eine ungiftige Verbindung, die gegenüber dem Tr&pol den Vorzug der absoluten Reizlosigkeit besitzen soll, was aber nicht ganz stimmt, denn nicht selten schmerzen, wie auch ich bestätigen kann, auch diese Injektionen sehr (Heuck). Boelsen hat in 54% der von ihm mit Bismogenol behandelten Fälle pathologische Veränderungen in der Mundhöhle be- obachtet, u. zw. bei 44% Zahnfleischsaum, bei 9% Gingivitis, umschriebene Pigmen- tierungen und Saum und in 6% Stomatitis ulcerosa. Neuendorff hatte hier sogar recht unangenehme Nebenwirkungen zu verzeichnen, obwohl er keine zu hohen Dosen anwendete, nämlich 3mal wöchentlich nur à 5 g bis zu 24 Injektionen, also bis zu einer Gesamtdosis von 13 cm?. In 13 Fällen traten dabei Kopfschmerzen, in 4 Fällen Erbrechen, in 3 Fällen starkes Fieber und 15mal Wismutsaum auf. In vier Fällen sah er schwere Nephritis mit Eiweiß, Cylindern und Blutdruck- steigerung. Neuendorff rät daher mit Recht auch bei der Bismogenolbehandlung zur Vorsicht. Dieser Autor beobachtete übrigens hier auch einen Fall, der wismut- resistent war und erst nach Salvarsan abheilte.

Was die Dauerwirkung des Bismogenols betrifft, so ist sie nach Nagel, der von 100 ausschließlich mit diesem Mittel behandelten Patienten 79 nachuntersuchen konnte, ausgezeichnet. „Bei keinem einzigen der 79 Kranken hatte sich ein klinisches Rezidiv eingestellt, trotzdem einzelne bis zu 20 und 23 Wochen nach der ersten Bismogenolkur unbehandelt geblieben waren.“

Jesser, W. Richter sowie Papasoglou empfehlen das Bismogenol besonders zur Behandlung quecksilber- und salvarsanresistenter Fälle.

Milanol.

Das Milanol, das basisch trichlorbutylmalonsaure Wismut, ist ein weißes, lockeres, amorphes Pulver, das in Wasser und Alkohol unlöslich ist. Für die Syphilisbehandlung wird es von der Firma Athenstaedt und Redeker, Hemelingen, in Form einer stabilen Emulsion gebrauchsfertig abgegeben.

Dieses Mittel wird von Felke zur Behandlung der Syphilis empfohlen, da es im Tierversuch recht wirksam die originäre Kaninchensyphilis soll durch (Up g pro 1%g Tier in wenigen Tagen rezidivfrei ausheilen und gut verträglich ist. Auch die Resorption des Mittels soll sehr gut sein. Beim Menschen gab er 10—14 Injektionen innerhalb von 30 bis 40 Tagen, anfangs 1:5 cm? tief intra- muskulär, ebenso und unter den gleichen Vorsichtsmaßregeln wie beim Hg mit 2 freien Tagen zwischen den Injektionen, von der sechsten ab meist 1 cm? mit 3—4 freien Tagen.

Das Milanol stellt nach den Erfahrungen dieses Autors an einer größeren Zahl damit behandelter Syphilitiker aller Stadien ein durchaus brauchbares Anti- syphiliticum dar. Die Rückbildungen der klinischen Erscheinungen beginnt etwa 48 Stunden nach der ersten Einspritzung und pflegt am überraschendsten bei hyper- trophischen Papeln zu sein, Schleimhautpapeln dagegen sollen etwas langsamer weichen. Aus Primäraffekten schwinden die Spirochäten durchschnittlich nach 48—85 Stunden; nur sehr derbe Papeln bewahrten ihre Erreger unter Umständen etwas länger.

Auffallend war die gute Beeinflussung der Serumreaktion durch Milano; bei nicht zu alter Lues trat durchweg im Verlauf der ersten Injektionsserie ein Rückgang bis meist zu vollständigem negativen Ergebnis ein.

Neuere Syphilistherapie. 43

Nebenerscheinungen hat er außer einer gerade bei den mit Milanol behan- delten Patienten am geringfügigsten vorhandenen Wismutimprägnation am Zahnfleisch keine beobachtet. Spirobismol.

Das Spirobismol (Chemisch-pharmazeutische A.G. Bad Homburg) stellt eine Kombination eines wasserlöslichen und eines wasserunlöslichen Wismutpräparates dar. Es enthält in öliger Suspension wasserlösliches Wismutkalium-Natrium- tartrat und unlösliches Wismut-Chininjodid, u. zw. im Kubikzentimeter etwa 35 mg metallisches Wismut, 25 mg Jod und 15 mg Chinin. Für eine Kur sind nach Citron insgesamt etwa 1—12g Wismut erforderlich. Die .intramuskuläre Injektion des Präparates ist schmerzlos und gut verträglich. Tierexperimentell ist es von Fränkel geprüft; es ergab sich, daß es hinsichtlich seiner Wirksamkeit auf die experimentelle Kaninchensyphilis den übrigen Wismutpräparaten mindestens ebenbürtig ist.

Nach Citron, Joseph, Reicher u.a. wirkt es gut in allen Stadien der Syphilis, besonders aber bei Spätsyphilis der inneren Organe. Auch die Taboparalyse wird gut beeinflußt. Auf die Wassermannsche Reaktion wirkt es ebenfalls gut ein (Citron, Joseph). Nebenwirkungen sind so gut wie keine bisher beobachtet worden.

Das Präparat steht dem Quinby nahe; Schuhmacher weist darauf hin, daß hier drei specifische Mittel miteinander kombiniert sind, so daß die Beurteilung der reinen Wismutwirkung unsicher sei.

Nadisan.

Das Nadisan der Firma Kalle & Co., Biebrich, ist das Kaliumsalz der Bismutyl- weinsäure, das mit kolloidalem Wismuthydroxyd gesättigt ist. Im Wasser sich zu einer neutralen, milchig opaken Flüssigkeit lösend, fällt es Eiweißstoffe nicht, auch bleiben die Blutkörperchen unter seinem Einfluß unverändert. Zum Gebrauch wird es in Öl suspendiert. In 1 cn? dieser Suspension sind 0'05 g Wismut enthalten. Das Präparat wird intramuskulär injiziert, in neuerer Zeit von Guttmann auch für die intra- venöse Anwendung empfohlen.

H. Müller, Blass und Kratzeisen untersuchten das Nadisan pharmakologisch und toxikologisch. Es ergab sich dabei, daß es in wäßriger Lösung und bei intra- venöser Einverleibung bis zu 0'001 g (auf Wismut berechnet) pro 1 %g Versuchstier vertragen wird. Die toxische Dosis beträgt 0:0017 und die letale 00051 g. Die thera- peutische Wirkung war im Tierversuch befriedigend.

Beim Menschen wird durchschnittlich 12mal 1 cm? Nadisan=0'1 g Nadisan = 0:05 g Bi appliziert. Die Einspritzung ist meist schmerzlos, wenn nicht, dann kann 1 g steriles Olivenöl mit einigen Prozenten Cycloform zugesetzt werden.

Der serologische Erfolg war nach den Erfahrungen dieser Autoren sehr gut; bei 48 Fällen primärer und sekundärer Syphilis wurde die Wassermannsche Reaktion spätestens nach 12—14 Injektionen negativ. Nach Guttmann wurde die Wasser- mannsche Reaktion in 50% der Fälle negativ. Aber auch die klinischen Resultate waren sehr günstig (Guttmann), wenn auch Versager vorkommen. Der Einfluß von Nadisan auf die Spirochäten entsprach dem anderer Wismutpräparate (Guttmann). H. Müller hebt insbesondere einen Fall von tertiärer Syphilis hervor, in welchem der weiche Gaumen eine in die Pharynxwand übergehende große gummöse Ulceration aufwies und das knöcherne Nasenseptum nekrotisch war. Nach 2 Injek- tionen von Nadisan trat schnelle Reinigung der Geschwüre ein.

Das Präparat wurde durchweg gut vertragen. Gelegentlich können von den üblichen Nebenwirkungen einer Wismutbehandlung beobachtet werden:

44 Paul Mulzer.

Zahnfleischsaum, Stomatitis, Albuminurie, Fieber, Verstopfung, Diarrhöe, Erbrechen, hochgradige Erregung, Schmerzen am Hinterkopf, Geschmacksempfindungen und Speichelfluß (Müller) und von Hautkomplikationen bei 2000 Nadisanspritzen 1 fixes urticarielles Exanthem, I leichte Purpura der Gliedmaßen und 1 scarlatini- formes Exanthem. Anämisches Aussehen trat bei etwa einem Drittel der Fälle auf. Guttmann sah Nierenschädigung nur einmal, rät aber doch zu ständiger Urin- kontrolle während der Wismutbehandlung auf Albuminurie und Nierenepithelien.

Bisan.

Das Bisan der Firma Bayer ist ein wasserlösliches Präparat mit einem Gehalt von 22% Wismut. Seine chemische Zusammensetzung ist noch nicht bekannt.

Nach H. Th. Schreus hat es im Tierversuch nur geringe Giftigkeit gezeigt. Er verwendet es in der Syphilistherapie in öliger Suspension von 20 bis 50%, ent- sprechend einem Wismutgehalt von 004 bis 0'1 g pro lei Zuweilen benutzte er auch eine 5- oder 10%ige wässerige Lösung zu intramuskulären und intravenösen Injektionen. Für eine Kur kommen im allgemeinen 10— 12 Injektionen in Abständen von 2 bis 4 Tagen in Frage. Zur Besserung der Verträglichkeit kann man, wie Felke vorgeschlagen hat, nach der Hälfte der genannten Injektionen eine Pause von 10 bis 14 Tagen einschalten.

Die Spirochäten sollen nach Bisan schneller als nach den anderen Wis- mutpräparaten schwinden, infolgedessen auch höheres Fieber, bis zu 39° und darüber, am Tage nach der Injektion häufiger auftrat. Herxheimersche Reaktion wurde nur einmal stark und einige Male in schwachem Grade gesehen. Die 5% ige Lösung des Präparates ist weniger schmerzhaft, die ölige Suspension aber mehr wirksam. Gelegentlich wurden auch Nierenreizungen gesehen. Die Balanitis erosiva mit Braunfärbung des Smegmas, die Schreus in zwei mit Bisan und in einem mit Trepol behandelten Falle sah, wurde schon an anderer Stelle erwähnt. An Schnellig- keit der Wirkung soll das Bisan dem Salversan nachstehen, das Quecksilber, dessen Nebenwirkungen ernster sind, aber übertreffen.

Auch Evening sah gute Erfolge nach Bisanbehandlung; in einem Falle fand er indes noch nach der 7. Injektion Spirochäten.

Cutren.

Das Cutren der Firma Passek & Wolff, Hamburg, eine Jodoxychinolin-(Yatren-) Wismutverbindung, wurde von Patzschke in einer Anzahl von Fällen primärer und sekundärer Syphilis geprüft. Dieses Präparat scheint weniger spirochätocid als die anderen Wismutverbindungen zu sein, da die Spirochäten in einer größeren Anzahl der Fälle erst nach 6—8 Tagen bzw. erst nach 3 Injektionen, ja öfter sogar erst nach 4—5 Einspritzungen bzw. nach 12—14 Tagen verschwunden waren. Die Seroreaktion wird durch Cutren nicht so gut beeinflußt wie durch Salvarsan; es treten auch häufiger und länger dauernde positive Schwankungen auf. Evening sah bei der Verwendung von Cutren bessere Erfolge als bei Bisan und Bismogenol sowohl hinsichtlich der spirochätociden Wirkung als auch der klinischen Produkte. Patzschke warnt davor, sich bei primärer Lues nur mit einer Wismutkur zu begnügen.

Das Neocutren der gleichen Firma stellt eine ölige Aufschwemmung der durch Kupfer aktivierten Bismutsalze der Jodorthooxychinolinsulfo- und Salicyl- säure im Verhältnis 1:20 dar. D. M. Lewy hat mit diesem Präparat in einer Anzahl von Fällen gute Ergebnisse erzielt, so daß er zur weiteren Nachprüfung auffordert.

Neuere Syphilistherapie. 45

Der gleiche Autor hat auch ein weiteres Wismutpräparat der chemischen Fabrik Passek & Wolff, das sog. Solvitren, das die Bestandteile des Neocutren in wasser- löslicher Form enthält und zur intravenösen Injektion bestimmt ist, geprüft. Er hat damit gleich gute Erfolge gehabt und keine ernsteren Nebenwirkungen gesehen.

Die Firma Stroschein empfiehlt das Wismulen, das nach Bruck und Wein- berg, welche dieses Mittel geprüft haben, ein wasserlösliches Präparat von der Zusammensetzung C,H,,NO,Bi darstellt und ebenfalls intravenös verabreicht wird.

Beide Präparate scheinen mir aber durchaus noch nicht so eingehend klinisch erprobt zu sein, daß eine so apodıktische Reklame und Empfehlung seitens der Fabriken gerechtfertigt ist. Dazu kommt noch, daß es sich hier um intravenöse Wismutanwendung handelt, die, wie wir wiederholt gesehen haben, weit gefährlicher ist als die intramuskuläre. Bei der derzeitigen großen Neigung auch der praktischen Ärzte, die intravenöse Applikation der Syphilisheilmittel zu be- vorzugen, besteht die dringende Gefahr, daß diese, verführt durch die in ihre Hände gelangenden „Gebrauchsanweisungen“ solcher Firmen, Mittel, welche noch nicht genügend erprobt sind, intravenös einspritzen. Ich verweise hier auf die weiter unten folgenden Ausführungen von Kolle und Perrin und empfehle sie dringend der weitestgehenden Beachtung für chemische Fabriken und Ärzte. Unter allen Umständen ist es aber im Interesse der Volksgesundheit zu fordern, daß alle Nebenwirkungen ernster Art, die mit irgend einem neuen Präparat erzielt worden sind, sofort veröffentlicht werden, eventuell durch Rundschreiben der Firmen, welche diese Präparate herstellen und empfehlen! Sovitl ich weiß, sind bereits vor längerer Zeit in Berlin zwei Todesfälle nach intravenöser Wismutapplikation eingetreten, u. zw. gerade einer nach Wismuleninjektion und einer nach Solvitreneinspritzung, ohne daß diese üblen Zufälle meines Wissens bisher veröffentlicht oder sonstwie weiteren Kreisen bekannt gemacht wurden.

Erwähnt sei schließlich noch das Bisuspen der Firma Heyden, Radebeul- Dresden, eine Suspension von Wismutsubsalicylat, welches Heuck sowie Dietel mit zufriedenstellenden Erfolgen in einer größeren Anzahl von Fällen anwendeten, und das Präparat Caspis der Firma Leopold Caselle, Frankfurt, eine „nach be- sonderem Verfahren hergestellte Wismutverbindung“ in öliger Suspension, welche H. Poehlmann ausprobierte und sie dem Bismogenol hinsichtlich ihrer Wirkung auf die klinischen Erscheinungen und auf die Seroreaktion gleichstellte. Sie soll jedoch weniger Nebenerscheinungen als dieses machen.

Wenn wir nun das Vorhergehende kurz zusammenfassen, so müssen wir sagen, daß wir im Wismut ein Mittel besitzen, das im allgemeinen ganz aus- gezeichnet auf die syphilitischen Erscheinungen aller Stadien der Syphilis wirkt, und daß die deutschen Wismutpräparate den französischen Originalpräparaten zum mindesten gleich sind. Hinsichtlich der Schmerz- losigkeit der Einspritzung und des Ausbleibens stärkerer Nebenwirkungen scheinen die deutschen Präparate, so insbesondere das Bismogenol, diese sogar noch zu übertreffen.

Im Tierexperiment ist von Levaditi und anderen Forschern festgestellt, daß die Wismutpräparate ausgesprochen spirochätocid wirken. Auch neuere, diesbezügliche Untersuchungen bestätigen uns dies ständig. Aus der p.30 und 31 angeführten Tabelle geht das gleiche hervor, aber auch, daß diese Wirkung vom Salvarsan weit übertroffen wird, während das Quecksilber dem Wismut hierin entschieden nachsteht. Auch bei der menschlichen Syphilis tritt, wie

46 Paul Mulzer.

wir gesehen haben, gerade diese Wirkung sehr hervor, aber auch die Tatsache, daß es bei allen Präparaten in dieser Hinsicht oft weitgehende Unterschiede gibt, bzw. daß die spirochätocide Wirkung des Wismuts im großen und ganzen lange nicht so einheitlich ist wie beim Salvarsan. Patzschke machte auf diesen Punkt mit Recht besonders aufmerksam.

Nach Kolle unterscheiden sich die Wismutpräparate von den Arsenobenzolpräparaten nach drei Richtungen ` sie bes Gen einen sehr geringen chemotherapeutischen Index (bei intravenöser Ein- verleibung), wirken zumeist sehr langsam und nur indirekt. Sie wirken seiner Auffassung nach nicht spirochätocid wie die Arsenobenzole, sondern nur entwicklungshemmend, während wir, Plaut und ich, im Gegensatz hierzu eine ausgesprochene spirochätocide Wirkung der meisten der von uns geprüften Wismutpräparate feststellen konnten.

Milian bezeichnete hinsichtlich der Wirkung auf die Spirochäten und die klinischen Erscheinungen die Aktionskraft des Quecksilbers mit der Zahl 4, die des Salvarsans mit 10 und die des Wismuts mit 7, ein Verhältnis, das im allgemeinen für die gut wirkenden Wismutpräparate bis jetzt wenigstens zu- treffen dürfte. Nach Heuck, der eine große Anzahl von Syphilitikern der verschie- densten Stadien einer reinen Wismutbehandlung unterworfen hat, dürfte sich diese jedoch im allgemeinen kaum als wirksamer erweisen als eine starke Queck- silberkur.

Der schwächste Punkt der Wismutwirkung scheint mir die Einwirkung der Wismutpräparate auf die serologischen Reaktionen der Lues zu sein, was wohl auch aus den vorstehenden Ausführungen ersichtlich ist.

Auch über die Dauererfolge liegen noch nicht genügend lange Beob- achtungen vor, um die Wirkung der reinen Wismutbehandlung in dieser Hinsicht einwandfrei feststellen zu können. Nur so viel scheint mir bis heute schon klar, daß sich das Wismut allein zur Vornahme einer Abortivkur nicht eignet. Die meisten Autoren, insbesondere auch Kolle, vertreten wohl auch diese Ansicht, auf die ich später noch ausführlicher zurückkommen werde. Patzschke will nur die Fälle von Primäraffekten für die alleinige Cutrenbehandlung reserviert wissen, bei denen nach 1—2 Injektionen keine Spirochäten mehr vorhanden sind; ist das nach dieser Zeit noch der Fall, dann soll man sofort mit Neosalvarsan kombinieren. Ich halte auch dies für falsch, weil dabei viel kostbare Zeit verloren wird. Gerade bei der Abortivkur handelt es sich, wie wir sehen werden, darum, mit möglichst hohen Dosen Salvarsan möglichst baid eine schlagartige sterilisierende Wirkung zu erzielen. Diese entfaltet das Wisınut aber nicht, wenigstens nicht in den bisher bekannten und angewendeten Präparaten. Deshalb möchte ich bis jetzt wenigstens im Gegensatz zu Felke das Wismut überhaupt von der Behandlung der primären Lues, u. zw. sowohl der .seronegativen wie der seropositiven, ausgeschaltet wissen, auch wenn es in Kombination mit Salvarsan ge- schieht. Ausgenommen natürlich sind hiervon die Salvarsan- und Hg-refrak- tären und überempfindlichen Fälle. Diese bilden entschieden die Domäne des Wismuts und schon darum müssen wir Levaditi außerordentlich dankbar sein, daß er der leidenden Menschheit dieses Präparat schenkte.

Die rastlose chemische Industrie ist gegenwärtig immer noch bemüht, die bereits vorhandenen Wismutpräparate zu verbessern. Vielleicht können dann noch günstigere Wirkungen der Wismuttherapie erzielt werden. Zu warnen ist aber, wie ich soeben bemerkt habe, mit Kolle und Perrin ganz entschieden davor, daß Wismutpräparate, die aus spekulativen Gründen auf den Markt geworfen werden, ohne ausgedehnte tierexperimentelle und praktische Unterlagen kritiklos angewendet werden. Dazu ist das Wismut auch als Depot viel zu gefährlich,

Neuere Syphilistherapie. 47

da es als solches noch lange im Körper bleibt. Nur mit tastender Vorsicht darf daher, wie Kolle fordert, die Wismuttherapie klinisch erprobt und angewendet werden, da erst scharfbegrenzte Indikationsgebiete gefunden werden müssen. | Wenn wir die im Vorhergehenden mitgeteilten Resultate der Prüfung der neueren Syphilisheilmittel und ihrer Anwendung überblicken, so fällt uns auf, zw wie ganz verschiedenen Ergebnissen die einzelnen Autoren gelangt sind. Während die einen das oder jenes Mittel als ganz besonders geeignet für die Be- handlung der Syphilis empfehlen, nie oder nur selten Nebenwirkungen gesehen und so gut wie gar keine Rezidive beobachtet haben, lehnen andere gerade diese Mittel als wenig wirksam vollkommen ab und bezeichnen sie als mehr oder weniger toxisch. Es spielt sich hier genau dasselbe ab, wie wir es besonderes in der ersten Zeit der Salvarsanära zu sehen gewohnt waren. Und dabei kann und muß man aber doch annehmen, daß die Prüfungen, die meist an Uhniversitätskliniken oder größeren Fachabteilungen der Krankenhäuser vorgenommen worden sind, von erfahrenen Kennern der Syphilis sine ira et studio und in technisch völlig einwandfreier Weise ausgeführt wurden. Wie ist das zu erklären?! Ist es nicht möglich, daß dies auf eine Verschiedenheit der zur Zeit herrschenden Syphilisinfektionen zurück- zuführen ist? Dieser Gedanke, den in jüngster Zeit auch Evening ausgesprochen hat, hat sich mir schon oft aufgedrängt und bildete auch in erster Linie die Veranlassung, daß ich gemeinsam mit Plaut in der hiesigen Forschungsanstalt für Psychiatrie möglichst zahlreiche Fälle solcher Syphilis verimpfte; die Tatsache, daß es uns gelang, klinisch wie serologisch zwei so grundverschiedene Stämme zu finden, wie es unser Sog. Mulzer-Stamm und der Kolle-Stamm ist, spräche an sich wohl schon dafür. Auch unter den anderen Stämmen, die wir neu anlegen und eine Zeitlang passager weiter- verimpften konnten, glauben wir, gewisse Unterschiede wahrgenommen zu haben, u. zw. in klinischer wie in therapeutischer Hinsicht. Auch Levaditi will bekanntlich 4 verschiedene, im Tierexperiment genau differenzierte Stämme aus dem Blute syphilitischer Menschen isoliert haben. Ähnliche Mitteilungen liegen aus Amerika vor (Nicholls u.a.). Es würde sich wohl verlohnen, derartige Untersuchungen, die natürlich sehr kostspielig sind, auf eine ganz breite Basis zu stellen, da sie vielleicht doch geeignet sind, Licht in viele noch immer unklare Fragen der Syphilisätiologie zu bringen.

B. Spezielle Therapie der Syphilis.

Im Vordergrund unserer therapeutischen Bestrebungen der Syphilis gegenüber

steht zurzeit die Abortivkur der Syphilis.

Auf Grund eingehender tierexperimenteller Studien hat bereits in den Jahren 1907 und 1908 Uhlenhuth sich dahin ausgesprochen, daß man mittels des Atoxyls, eines organischen Arsenpräparates, die Dourine, die Hühnerspirillose und die Syphilis der Kaninchen und der Affen heilen könne. Vorbedingung für eine nachhaltige Wirkung einer derartigen Behandlung aber seien einmal die Verwendung großer Dosen und eine möglichst frühzeitige Behandlung. Auf ähnliche experimentelle Erfahrungen mit dem Salvarsan, dem alten 606, baute ja auch Ehrlich seine Theorie von der „Therapia magna sterilisans“ auf. Er glaubte bekanntlich, die mensch- liche Syphilis generell durch einen großen therapeutischen Schlag heilen zu können. Diese Hoffnung trog! | ,

-48 Paul Mulzer.

Aus der einschlägigen Literatur lieBen sich hiefür zahllose Belege anführen. Ich möchte hier nur zwei eigene Beobachtungen mitteilen, die ich bereits 1912 veröffentlichte, die aber auffallenderweise wenig bekannt zu sein scheinen:

Im ersteren Falle handelte es sich um einen jungen Offizier, der am 21. Februar 1912 in unsere Behandlung kam mit einer typischen, spirochätenhaltigen, etwa linsengroßen Sklerose am Präputium. Der letzte bzw. infektiöse Coitus war vor einem Monat vollzogen worden; vor acht Tagen war das kleine. Geschwür enstanden. Drüsen waren noch nicht fühlbar, die Wassermannsche Reaktion war moch negativ. Am 21. Februar 1912 wurde die Sklerose exzidiert und eine intravenöse Injektion von 0:4 g Salvarsan vorgenommen. Am 26. Februar 1912 war die Wunde per primam geheilt. Am 2. März 1912 fand sich an dem einen Ende der Narbe, in einem Nahtwinkel, eine hirsekorngroße, indurierte, nicht ulcerierte Stelle, die im Quetschsaft Spirochäten enthielt. Aute dem war aber noch ene zweite typische, etwa linsengroße, spirochätenhaltige Primärsklerose neben dem Frenulum im Sulcus coronarius entstanden. Der Patient erhielt nochmals 0:4 Salvarsan intravenös, worauf nach kurzer Zeit diese Symptome völlig abheil.en.

Im anderen Falle war es ein Student, der nach längerer sexueller Abstinenz zum erst nmal wieder am 8. F: bruar 1912 mit einer geheimen Prostituierten den Coitus vollzog. Am 9. Februar 1912 kam er mit frischeingesissenem, noch blutenden Frenulum in unsere Beobachtung; das Frenulum wurde durchtrennt und unterbunden (zwei Nähte). Am 10. Februar 1912 wurden bei diesem Patienten im Urethralsekr-t typische Gonokokken gefunden. Auf seine Anzeige hin wurde uns nun das Mädchen, mit dem er am 8. Februar verkehrt haıte, Käthe L., polizeilich vorgeführt. Bei dıesem Mädchen wurde von uns eine Gonorı hoea acuta, eine Bartholinitis sinıstra mit nicht specifischen Ulcerationen an der Drüsen- öffnung und eine Analfistel festgestellt. Da aber dieses Mädchen noch außerdem eine leicht suspekte An.lfissur und vor allem typische Scleradenitis. universalis hatte, wurde dem Patienten propo- niert, an sich eine prophylaktische Salvarsaninjektion vornehmen zu lassen. Am 11. Februar 1912 erhielt dieser 0'4 Salvarsan intravenös. Zehn Tage später, also am 21. Februar, konnte man am unteren R.nde des Frenulums eine leicht verh: rtete, ein wenig ulcerierte, etwa hirsekorngroße Stelle wahrnehmen, die zunächst als Folge der Naht bew. der Wunde aufgefaßtt wurde. Genau drei Wochen nach dem letzten Coitus, also am 29. Februar 1912, kam der Patient aber wieder und wies jetzt einen typıschen, spirochätenhaltigen, etwa kleinfingernagelgroßen Primär- affekt an der Excisionsstelle auf Nun wurden von neuem 0'4 g Salvarsan injiziert. Nach dei Tugen war die Sklerose überhäutet, aber noch deutlich infiitriert.

Bei beiden Fällen vermochte also eine einmalige intravenöse Injektion von 0:4 Salvarsan, einer immerhin großen Menge, die sehr frühzeitig, in einem Falle acht Tage nach dem Auftreten des Primäraffektes, im anderen gar drei Tage nach der Infektion, vorgenommen wurde, nicht eine Weiterentwicklung des syphilitischen Virus hintanzuhalten. |

Einen ähnlichen Fall veröffentlichte in neuerer Zeit Quioc. Eine Patientin erhielt am 15. Tag nach dem Verkehr mit ihrem sekundärsyphilitischen Mann 0'3 Neosalvarsan. 10 Tage später kam sie mit eınım typischen, spirochätenhaltigen Primäraffekt. Diese Beobachtungen fanden in Jüngster Zeit inre Stütze durch experimentelle Befunde von E Vecchia. Dieser impfte 3 Kanin- chen mit syphiliiischem Material in die Hoden und behandelte je eines dieser Tiere am 2.,4. und 6. Tage mit Ou) Neoarsenbenzol Dillon pro I ke Während das Kontrolltier und das am 6. Tage nach der Infektion behandelte Tier syphilitisch erkrankten, blieben die beiden anderen Tiere gesund und konnten mit Erfolg reinfiziert werden. Einschlägige experimentelle Beobachtungen haben auch andere Autoren (Uhlenhuth und Mulzer, Truffi, Kolle u. a.) gemacht, auf die ich hier aber nicht näher eingehen will.

Es scheint nun aber doch, daß eine Abortivkur der Syphilis gelingen kann, wenn man dem Körper rasch hintereinander möglichst viel hohe Dosen Salvarsan zuführt, selbstverständlich, ohne ihm dadurch zu schaden.

Es würde mich hier zu weit führen, wenn ich ausführlich auf das Pro und Contra dieser Möglichkeit eingehen würde. Auch hier haben wir wieder die eigen- artige Erscheinung, auf die ich kurz vorher aufmerksam machte, daß die einen, hier allerdings die überwiegende Mehrheit, zu der auch ich gehöre, die Möglich- keit einerabortiven Behandlung der Syphilis unbedingt zugeben, während andere sie hier wiederum leugnen. Fest steht, daß der moderne Syphilistherapeut unterallen Umständen wenigstens den Versuch einer Abortivkur derSyphi- lis machen muß. Es ist als ein schwerer Kunstfehler zu bezeichnen, wenn sich der Arzt der Chancen einer derartigen Abortivheilung begibt!

Wann bietet sich ihm diese Gelegenheit, bzw. welche Fälle sind für eine Abortivbehandlung der Syphilis geeignet?

` e EN FE”

Neuere Syphilistherapie. 49

Für eine Abortivkur eignen sich ganz allgemein nur die Fälle, die möglichst frühzeitig dem Arzte zu Gesicht kommen. Die syphilitische Infektion darf noch nicht zu alt sein, bzw. der Primäraffekt darf noch nicht zu lange bestehen. Duhot fordert, daß er nicht älter als 12 Tage sein dürfe, wenn anders eine Abortiv- kur noch Aussicht auf Erfolg haben solle. Nach Fabry ist es wichtig, den Tag der Infektion festzustellen. Primäraffekte, die 2 bis höchstens 3 Wochen post coitum auftreten, können seiner Erfahrung nach leicht coupiert werden. Ältere Primäraffekte sind als zweifelhaft geeignet für eine Abortivkur anzusehen.

Man darf nun aber nicht etwa meinen, daß dies deswegen der Fall sei, weil zu dieser Zeit das syphilitische Gift nicht generalisiert sei, daß, wie Freymann meint, zu dieser Zeit nur „vereinzelte“ Spirochäten im Blute kreisen und nur mehr aus- nahmsweise auch schon in entfernteren Körperorganen nachweisbar seien. Ganz im Gegenteil! Wir wissen.sowohl auf Grund alter klinischer Erfahrungen wie exakter wissenschaftlicher Ergebnisse, daß die Syphilis schon sehr frühzeitig, schon ganz kurz nach der Infektion, generalisiert ist. Ich habe soeben darauf hingewiesen. Es scheint aber, daß immerhin noch eine gewisse Zeit vergeht, bis das Virus so fest an die Gewebe verankert ist, daß wir nicht doch mit einer vollkommenen Sterilisierung durch eine in dieser Zeit, d.h.möglichst früh, einsetzende entsprechende Behandlung rechnen dürfen. Wir nehmen im allgemeinen an, daß dies der Fall ist, wenn, wie bereits bemerkt, der Primäraffektnoch nicht zu lange besteht, noch keine lokalen Lymphdrüsenschwellungen aufgetreten sind und auch die Seroreaktionen (Wassermannsche Reaktion, Sachs-Georgi-Il- und ev. Meinicke- Reaktion) noch völlig negativ sind.

Aus diesem Grunde muß man gerade den ersten Erscheinungen der Syphilis besondere Aufmerksamkeit schenken. Der Primäraffekt gleicht häufig harm'osen Ulcerationen und Erosionen, so daß er dann verkannt und als nicht specifisch angesehen und gewertet wird. Eine richtig ausgeführte Untersuchung dieser Manifestationen würde meist sofort die Diagnose klären, denn gerade hier finden sich gewöhnlich zahlreiche typische Spirochaetae pallidae. Geschieht dies nicht, dann heilt diese unscheinbare Primäraffektion häufig rasch wieder ab und die Lues wird erst offenbar, wenn sekundäre Erscheinungen auftreten. Dann aber ist eine Abortivkur nicht mehr möglich!

Der praktische Arzt muß sich daher daran gewöhnen, jede, auch die unschein- barste Erosion oder Ulceration an den Genitalien „gewissermaßen reflektorisch« (Pincus) auf Spirochäten zu untersuchen. Beherrscht er die Technik dieser an sich einfachen Untersuchung nicht oder vermag er nicht genügend die Pallidae von anderen hier oft saprophytisch vorkommenden mehr oder weniger ähnlichen Spiro- chäten zu unterscheiden, dann soll und muß er rechtzeitig einen Facharzt zu- ziehen oder die Präparate einer entsprechenden Untersuchungsstelle zuschicken. Bis das Resultat der Untersuchung aber einwandfrei feststeht, muß man sich jeder specifischen Therapie enthalten, wenn darüber auch einige Tage vergehen. Man braucht wirklich nicht zu befürchten, daß es sich hier, wie von verschiedenen Seiten (F. Lesser) behauptet worden ist, um Stunden handle, die, versäumt, ver- hängnisvoll wirken könnten.

Selbstverständlich kann es auch Fälle geben, in denen lediglich der klini- sche Befund entscheidet bzw. solche, bei denen man trotz genauer Untersuchung keine Spirochäten findet und doch überzeugt ist, daß eine Lues vorliegt. Einen solchen hatte ich vor kurzem beobachtet. Ein Patient wies einen typischen linsen- großen Primäraffekt im Sulcus coronarius auf, in dem ich weder im Quetschserum

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 4

50 Paul Mulzer.

noch im Punktat aus den Rändern und aus der Tiefe Spirochäten fand. Trotzdem war ich überzeugt, daß hier eine luetische Infektion vorlag. Kurz nach Beginn der specifischen Kur trat denn auch eine „positive Zacke“ in der Wassermann- schen Reaktion auf.

Hat man sich aber einmal, auch in den Fällen, in denen man, ohne daß Erscheinungen vorliegen, prophylaktisch eine Abortivkur vornimmt, meiner Ansicht nach kommen hiefür nur Frauen in Betracht, die mit florid syphilitischen Männern verkehrt haben, da bei ihnen der Primäraffekt häufig so versteckt in den inneren Genitalien liegt, daß er leicht übersehen wird, entschlossen, eine specifische Behandlung zu beginnen, dann muß man diese auch stets in der Stärke durch- führen, die, wie wir gleich sehen werden, notwendig ist, um einen Erfolg einer Arbortivkur einigermaßen zu gewährleisten.

Hinsichtlich der zweiten Uhlenhuthschen Forderung, die Verwendung großer Dosen, wissen wir bereits, daß eine einmalige große Dosis wenigstens der uns zurzeit zur Verfügung stehenden antisyphilitischen Präparate für die menschliche Syphilis nicht genügt, um sie arbortiv zu heilen, auch wenn sie einige Tage nach erfolgter Infektion angewandt wird. Dies gelingt aber in der Mehrzahlder Fälle, wenn wir, wie ebenfalls schon kurz erwähnt, die nötige hohe Dosis etappenweise einverleiben. Wir können dann erst die für eine Abortiv- wirkung notwendige Gesamtmenge des Mittels zuführen, ohne dem Körper zu schaden. Welches Mittel meines Erachtens kommen für die Arbortivkur in erster Linie die starkwirkenden Salvarsanpräparate in Betracht wir auch auswählen, wir müssen es in den größtmöglich hohen Anfangsdosen ein- verleiben. Die Spirochäten müssen, wie Duhot sich treffend äußert, gewissermaßen „im Sturmangriff« abgetötet werden! Bei steigender Dosierung sah dieser Autor 20% Mißerfolge. Auch die Intervalle zwischen den einzelnen Injektionen dürfen nicht zu klein sein.

Ich glaube, daß wohl im allgemeinen Neosalvarsan zur Abortivkur ver- wendet wird und auch vollkommen genügt. Ich führe zurzeit die Abortivkur wie Heuck aus, der bei kräftigen Männern und Frauen während der ersten 3 Tage ` täglich 045 Neosalvarsan, dann am 5. Tage und von da ab alle 5-8 Tage die gleiche Dosis Neosalvarsan bis zu einer Gesamtmenge von 5-6g verabreicht. Dazwischen werden, von der 4. Salvarsanspritze ab, 12— 14 Injektionen graues Öl, 5-6 Teilstriche, vorgenommen, bzw. es wird eine starke Kur mit meinen Hg-metall.-Stylonen dazwischen eingeschoben. Dies kommt für mich indes nur bei Männern in Betracht, bei denen man auch ruhig Op Neosalvarsan wählen kann, bei Frauen kombiniere ich am liebsten mit 30—40 Injektionen des löslichen 1% igen Hg succinimidatum, von dessen trefflicher und nachhaltiger Wirkung ich mich immer wieder überzeugen kann.

E. Hoffmann verabreicht bei der Abortiv- bzw. Frühkur als Anfangsdosis ebenfalls 0:45 Neosalvarsan oder Natriumsalvarsan, bei Frauen und schwächlichen Personen 0'3 und weiterhin 0'6 bzw. 0:45 Neo- oder Natriumsalvarsan; die Inter- valle sollen am besten nicht mehr als 5 Tage betragen. Die Salvarsankur kombiniert auch Hoffmann mit Quecksilber, entweder in Form von Applikation grauen Öles oder als Schmierkur.

Um unangenehme Nebenwirkungen, so insbesondere höheres Fieber, ohne Beeinträchtigung des Ictus therapeuticus maximus auszuschalten, gibt, wie ich schon erwähnte, Spiethoff 24 Stunden vor der ersten Hauptdosis (06—075 Neosal- varsan) '/,—!/,, dieser Dosis. Die Toxicität des Neosalvarsans soll noch weiter

Neuere Syphilistherapie. 51

heruntergedrückt werden durch Auflösen des Neosalversans in physiologischer Koch- salzlösung, in Afenil oder noch besser in Eigenserum. Andere Autoren, wie Scholtz, Duhot, Ullmann u.a., raten, wie bereits besprochen, das Neosalvarsan in Zucker- lösungen (20—25 cm? einer überkonzentrierten Glykoselösung von 38° bzw. in 10 cm? einer 80%igen Zuckerlösung und ähnlich) aufzulösen. E. Hoffmann warnt übrigens vor dem zum ersten Male von Kolle auf Grund experimenteller Erfahrung empfohlenen Vorausschicken kleinster Salvarsandosen, den sog. „Käscherdosen“, da dies nicht ungefährlich sei, weil sie auf die Spirochäten reizend einwirken könnten. Ich komme weiter unten noch ausführlicher auf diesen Punkt zurück.

Für große Salvarsandosen auch im Beginn einer Abortivkur treten ferner ein F. Lesser, Blank, Bering, Mac Kenna, Pinard, Jadassohn, Fabry und viele andere Autoren. Manche unter ihnen bevorzugen zur Abortivkur große Dosen von Silbersalvarsan oder Neosilbersalvarsan, verwenden nur Salvarsanpräparate oder schicken die Quecksilberkur nach. Scholtz verabreicht bei der Abortivkur Altsalvarsan in refracta dosi in der Weise, daß der Patient in 2 oder 3 Tagen 3—4 Injektionen von zusammen 0'85-—10 Altsalvarsan erhält. Dann wird 4 Wochen geschmiert und wöchentlich einmal Hg salicylicum oder Kalomel. injiziert. Nach 4 Wochen wird wieder eine Serie Altsalvarsan mit einer Gesamtdosis von 0:65 0:8 Altsalvarsan injiziert. Ist zu Beginn dieser zweiten Serie die Wassermannsche Reaktion schon negativ, so schmiert der Patient noch 2—3 Wochen; ist die Wasser- mannsche Reaktion noch positiv, dann wird nach 3 Wochen noch eine Serie von etwa 0'6 Altsalvarsan injiziert, der noch etwa 2 Wochen Quecksilberkur folgen.

Scholtz will mit dieser Serienkur zahlreiche Abortivheilungen, über die Silber- stein berichtet, ohne Nachkuren erzielt haben. Auch bei sekundären Fällen mit einer Krankheitsdauer bis zu 2 Jahren wurde sie erfolgreich angewendet.

Andere wieder glauben, wie wir schon gesehen haben, daß auch durch die einzeitige Quecksilbersalvarsananwendung in der Mischspritze abortive Heilung der Syphilis erzielt werden könne. Nach meinen diesbezüglichen Ausführungen wird man sich aber wohl ohne weiteres davon überzeugen können, daß dies nicht der Fall sein kann, ebensowenig wie wir, zurzeit wenigstens, ein für die Abortivkur geeignetes bzw. genügend stark wirkendes Wis- mutpräparat besitzen. |

Zusammenfassend sei also noch einmal betont, daß für die Abortiv- kur, die in allen Fällen seronegativer primärer Lues sobald als möglich eingeleitet werden muß, nach dem heutigen Stande der Wissenschaft nur große, massive Salvarsandosen in Verbindung mit stark wirkenden Quecksilberpräparaten in Betracht kommen.

Daß eine durch ungenügende Salvarsanbehandlung herbeigeführte „Sterilisatio fere absoluta” ünstige Bedingungen für die Entwicklung verschont gebliebener Spirochäten schaffe, hat bereits hrlich angenommen. Dreyfuss, Wechselmann, Zalociecki wiesen mit Nachdruck darauf hin,

daß im sekundären Stadium der Syphilis nur die ungenügende Salvarsanbehandlung zu einer Häufung latenter oder klinisch manılesier Prozesse am Nervensystem Anlaß gebe, eine Ansicht, die jetzt wohl allgemein geteilt wird. Für die nicht zu seltenen Fälle von Rezidiven, die im primären oder präsekundären Stadium blitzartig bei noch negativer Seroreaktion auftreten, dabei aber einen spätsekundären, ja tertiären Charakter zeigen, glaubt Menze annehmen zu müssen, daß sie durch Salvarsan provoziert würden. Diese Provokation erfolge durch Toxine, welche durch den Zerfall von Spirochätenherden geliefert würden, die das Salvarsan verhältnismäßig spät erreichte (Meningen, Liquor), zu einer Zeit, da die übrigen Spirochäten schon in das latente Stadium übergeführt seien. Der spätsekundäre Charakter dieser Rezidive, die sich von den sonst üblichen Rezidiven strenge unterscheiden, ist für Menze der Ausdruck dafür, daß durch eine ungenügende Salvarsan- behandlung ein Allergischwerden der Zellen nicht nur nicht unterdrückt wie vielfach angenömmen wird sondern sogar beschleunigt werde, da durch die Behandlung größere Toxinmengen frei werden als durch die Abwehrkräfte des Organismus allein. In praktischer Hinsicht fordert daher Menze ebenfalls die große Anfangsdosis Salvarsan, die längereZeit hindurch fort-

4*

52 Paul Mulzer.

gegeben werden müsse. Ziemann betont, daß mit fast absoluter Sicherheit anzunehmen sei, daß die Syphilisspirochäten in einem Primäraffekt sich von Anfang an in ihren Erstmerkmalen bezüglich der Resistenz gegen Salvarsan verschieden verhielten, daß also durch eine schwache Therapie mit kleinen Dosen durch Ausmerzung der nicht resistenten Formen schließlich eine Rein- züchtung von resistenten Formen erzeugt werden müsse. Nach Schuhmacher verlangt auch die histochemische Forschung hohe Anfangsdosen bei der Salvarsanbehandiung, „starke Schläge, keine Nadelstiche“.

Plaut und Mulzer haben die Wirkung ungenügender Salvarsanbehandlung auch im Ex- periment studiert und einwandfrei festzustellen vermocht, daß eine ungenügende Behandlung der Syphilis, insbesondere mit Salvarsan, die Virulenz der Spirochäten zu steigern und ihre Neurotropie zu erhöhen vermag. Bei Kaninchen, die mit Kolle-Virus geimpft worden waren, das einem erkrankten Tier entstammte, welches mit Neosalvarsan untersbehandelt worden war, traten jetzt nämlich imLiquor krankhafte ee A auf, und der größere

Teil der mit diesem Virus geimpften Tiere zeigte frühzeitiger und häufiger als sonst intensive

manifeste Erkrankungen einer sekundären Lues. Das sog. „Kolle“-Virus hat sonst in der Regel keinen Einfluß auf den Liquor; manifeste sekundär-syphilitische Erscheinungen traten bei mit ihm geimpften Tieren recht selten auf.

Wenn irgend möglich, soll bei Abortivkuren der Primäraffekt exzi- diert werden. Das läßt sich in den meisten Fällen leicht in Lokalanästhesie be- werkstelligen. Wo dies infolge anatomischer Lage desselben nicht möglich ist, wird er mehrmals täglich mittels Sublimatlösung gereinigt und mit Kalomelpulver (Kalomel, Talcum ana) oder mit Jodol, dem man etwas Kalomel zusetzt (Jodol 5:0, Kalomel 0:5) gepudert. Meirowsky empfiehlt, ihn mit Acidum carbolicum lique- factum zu ätzen oder ihn zu kauterisieren. Geschlossene Sklerosen bedeckt man mit 20%iger Kalomelsalbe oder Hg-Pflastermull, bis die Induration völlig rück- gebildet ist. Duhot empfiehlt lokale Einspritzungen von Hectine oder Sulfarsenat; letzteres spritzt er auch in die Drüsen.

Dringend notwendig ist es ferner, während der ganzen Dauer der Abortivkur so oft als möglich, zum mindesten aber 24Stunden nach der ersten und dann wenigstens alle 8 Tage und noch einige Wochen nach Abschluß der Kur, die Seroreaktion des Blutes, u. zw. sowohl nach Wassermann als auch nach Sachs-Georgi vorzunehmen. Wir machen näm- lich sehr häufig die Beobachtung, daß eine völlig negative Wassermannsche Reaktion nach der ersten starken Salvarsaninfusion positiv wird oder daß bei weiterem negativen Verlauf plötzlich einmal eine „positive Zacke“ auf- tritt. Wir stehen heute auf dem Standpunkt, daß wir nur bei den Fällen Aus- sicht auf das Gelingen einer Abortivkur haben, die von Anfang an negativ waren und während der Kur dauernd seronegativ geblieben sind.

Aber auch bei diesen Fällen besitzen wir leider nicht die absolute Sicherheit, daß sie wirklich abortiv geheilt sind. Finger betont mit Recht, daß das Fehlen klinischer Erscheinungen und serologischer Symptome wohl die Ausheilung einer Syphilis sehr wahrscheinlich machen, aber nicht absolut erweisen könne. Auch Finger hält die Fälle von seronegativer Lues, die dauernd negativ reagieren, für die günstigsten; es gibt aber auch sicher beobachtete Rückfälle bei genügend behandelten, dauernd seronegativ gewesenen Fällen. Der einzig sichere Maßstab für die Ausheilung einer Lues ist nach Finger in der Reinfektion zu erblicken. Aber auch das wird von manchen Seiten bestritten, doch ist hier nicht der Platz, auf die schwierige und noch durchaus nicht völlig geklärte Frage nach dem eigentlichen Wesen der Reinfektion einzugehen. Praktisch ist das auch ziemlich bedeutungslos, denn wir können nicht darauf warten, ob sich ein Patient, den wir als geheilt ansehen, noch einmal mit Syphilis infiziert.

Vielleicht kann uns das Tierexperiment hier helfen. Es sollte möglichst in allen Fällen, die man als gelungene Abortivkuren ansehen zu können glaubt, Blut in der von Uhlenhuth und Mulzer angegebenen Weise verimpft werden. Nach

Neuere Syphilistherapie. 53

meiner diesbezüglichen Erfahrung gelingt es dabei doch immer, einige mißlungene Fälle frühzeitig aufzudecken. Für die Praxis ergibt sich aus allen diesen Erwägungen dies, daß wir kein allzugroßes Gewicht auf den strengen Unterschied von sero- negativer und seropositiver primärer Syphilis legen dürfen, sondern uns auch in den dauernd negativ gebliebenen Fällen nicht mit einer Kur begnügen dürfen, sondern stets noch eine zweite gleichstarke Kur, die man ja als „Sicherheitskur“ bezeichnen kann, nachschicken müssen.

Ich glaube, daß die meisten Kliniker gegenwärtig auf diesem Standpunkt stehen und sowohl die seronegative wie die seropositive primäre Lues mit mindestens zwei energischen kombinierten Hg-Salvarsankuren be- handeln. Der Abstand zwischen den beiden Kuren soll nicht zu groß sein; im Durchschnitt soll er etwa 6—8 Wochen betragen.

Andere Autoren, wieStümpke, Löwenstein, Cormaz, Gouin und Leblanc ' u. a., verlangen sogar auch für diese günstig liegenden Fälle mehrere Kuren selbst auf die Gefahr hin, daß ein oder der andere Patient zu viel behandelt würde, und eine mindestens 2 Jahre lange symptomfreie Behandlungszeit. Ich persönli.h glaube, daß insbesondere für die dauernd seronegative und wohl auch für die vorübergehend seropositive primäre Syphilis zwei energische Hg-Neosalvarsankuren und eine einjährige klinisch wie serologisch symptomfreie Beobachtungszeit völlig genügen, um einen derartigen Patienten als geheilt zu erklären. Wenn irgend angängig, sollte man in solchen Fällen nach Abschluß der Behandlung eine Untersuchung des Lumbal- punktates vornehmen und vielleicht auch noch eine Verimpfung des Blutes auf Kaninchen. Positiver Ausfall dieser Impfungen oder das Auftreten von Pleocytose im Liquor derselben dürfte dann im Sinne einer nicht gelungenen Abortivkur gewertet werden müssen.

Sekundäre Syphilis.

Obwohl von verschiedenen Seiten in letzter Zeit immer wieder versucht wird, die alte klassische Einteilung der Syphilis in ein primäres, sekundäres und tertiäres Stadium umzustoßBen, insbesondere die sekundäre Syphilis bereits vom Auftreten der positiven Wassermannschen Reaktion an zu datieren (Rost u. a.), glaube doch auch ich, daß wir ruhig bei der alten Einteilung bleiben können. Die Behandlung der seropositiven primären Syphilis fällt, wie eben gezeigt, nach meiner Auf- fassung mit der Behandlung der seronegativen Syphilis zusammen. Sie erfordert ebenfalls zwei energische, kombinierte Hg- und Salvarsankuren und eine mindestens ein Jahr lang dauernde, klinische und serologische Beobach- tungszeit. Wismut möchte ich auf Grund der bisher vorliegenden Beobachtungen und zur Verfügung stehenden Präparate auch für dieses Stadium der Syphilis nicht empfehlen, abgesehen natürlich von den Hg- oder As-refraktären bzw. überempfind- lichen Fällen.

Wir wissen, daß durch ein derartiges energisches Vorgehen auch frische sekundäre Fälle von Syphilis völlig geheilt werden können (E. Hoffmann). Ja sogar durch eine derartige Kur kann nach Finger eine sekundäre Syphilis einmal ausheilen. Es gibt sicher auch Fälle von Selbstheilung der Syphilis im Sinne F. Lessers.Im allgemeinen verlangtaber die sekundäre Syphilis besonders im Frühstadium noch eine ganz energische kombinierte specifische Be- handlung, denn nur dann können wir mit ziemlicher SEN auch hier noch auf eine völlige Ausheilung vieler Fälle hoffen.

54 Paul Mulzer.

Nach E. Hoffmann besteht diese bei allen nicht ganz frisch zur Behandlung gekommenen Fällen von sekundärer Syphilis in 3—4 gründlichen Kuren, also 1—2 weiteren starken, kombinierten Kuren. Joseph läßt bei seropositiven Früh- syphilisfällen in den ersten zwei Jahren 4—6 kombinierte Kuren ausführen. Ich pflege mindestens drei starke kombinierte Hg-Neosalvarsankuren in diesem Stadium innerhalb eines Jahres vornehmen zu lassen, so zwar, daß ich durchschnittlich 5—6 g Neosalvarsan und die übliche Quecksilbermenge appliziere.

In der Literatur sind nun auch für das sekundäre Stadium der Lues eine Anzahl von Varianten der Kuren angegeben worden, auf die ich hier nicht weiter eingehen will. Die meisten Autoren, denen auch ich mich anschließe, empfehlen wegen der gerade in diesem Stadium so häufigen Herxheimerschen Reaktion bei Beginn einer derartigen Kur, erst 2—3 Hg-Injektionen vorauszuschicken, ehe man die erste Salvarsanspritze verabreicht. Oppenheim ist der Meinung, daß man jede intensive Jarisch-Herxheimersche Reaktion vermeiden müsse, ` was, wie soeben erwähnt, am besten dadurch geschehe, daß man die Behandlung mittels Schmierkur oder kleineren Hg-Spritzen einleite. Seiner Auffassung nach ist nämlich diese Reaktion im zweiten und dritten Stadium der Syphilis nichts anderes als eine zu starke Abwehrbewegung des Organismus, der sich nicht nur der Spirochäten, sondern auch der Gifte Quecksilber und Salvarsan zu erwehren suche. Eine so intensive Abwehrbewegung schädige den Organismus aber dann immer, so daß der Verlauf der Syphilis ein ungünstiger werde.

Diese Erwägungen dürfen uns aber nicht etwa dazu veranlassen, besonders im frühsekundären Stadium schwächere Kuren zu verabreichen. Im Gegenteil! Auch hier sind, wie ja bereits erwähnt, große Dosen, jedoch nicht über 0:6 Neosalvarsan, notwendig. Auch hier kann die einschleichende Salvarsan- behandlung mit kleinen Dosen bzw. die prinzipielle Gabe kleiner Sal- varsanmengen, wie sie von verschiedenen Autoren (Kromayer, Arndt) ge- fordert wird, schädlich wirken, aus Gründen, die weiter oben ausführlich erörtert worden sind.

Ob hier an Stelle des altbewährten Quecksilbers unterschied- und wahllos Wismut in irgend einer Form treten kann, diese Frage ist meines Erachtens noch keineswegs geklärt. Trotzdem auch ich ein Anhänger der modernen Wismuttherapie bin, möchte ich doch nicht kritiklos jeden Fall sekundärer Syphilis mit Wismut statt mit dem altbewährten Quecksilber behandelt wissen, zumal da die Urteile über die Wirkung dieses Präparates auf die klinischen Er- scheinungen der Syphilis wie auf die Erkrankung selbst noch recht geteilt sind. Ich möchte auch hier Wismut in erster Linie für die Fälle reserviert wissen, die Hg- bzw. Salvarsanüberempfindlich sind, bzw. nicht genügend auf ihre Anwendung reagieren.

Unter allen Umständen muß, worauf ich ebenfalls schon hinwies, verhütet werden, daß durch allzu geschäftsmäßige Aufmachung der Wismutreklame seitens der Fabrikanten oder durch die Tagespresse die an sich leider schon im Laienpublikum bestehende Abneigung gegen Quecksilber oder gar gegen Salvarsan noch verstärkt wird, wie dies leider zurzeit immer wieder geschieht. Im sekundären, u. zw. besonders im frühsekundären Stadium der Syphilis muß noch ausreichend mit Salvarsan behandelt werden, wenn anders wir Dauererfolge, bzw. Heilungen der Syphilis wirklich erzielen wollen. Es ist unverant- wortlich und im Interesse der Volksgesundheit aufs schärfste zu bekämpfen, wenn Krankenkassen, wie es hier in München und wohl auch anderswo geschah,

Neuere Syphilistherapie. 55

die Verwendung von Salvarsan nur für die Abortivkur, und da nur in zu geringen Mengen freigeben und für spätere Kuren nur Quecksilber- oder Wismut- oder sogar nur Jodkuren gestatten wollen! Auf diese untunlichen Verhältnisse hat übrigens vor kurzem auch v. Zumbusch nachdrücklichst hingewiesen.

Durch eine energische kombinierte Behandlung im Frühstadium der Syphilis. gelingt es beinahe regelmäßig, die Seroreaktion völlig negativ zu bekommen. Das muß unter allen Umständen in diesem Stadium das Ziel unserer Behandlung sein! Die Wassermann- sowie Sachs-Georgi- und Meinicke-Reaktion, soweit auch diese Reaktionen angestellt werden, müssen auch weiterhin völlig negativ bleiben, insbesondere während der ersten 3 Kuren {und in der nicht länger als höchstens 2—3 Monate zu bemessenden behandlungsfreien Zwischenzeit. Wir werden also 1 Jahr lang alle 2—3 Wochen die Wassermannsche Reaktion ausführen! Bleibt diese dauernd negativ und treten auch keine klinischen Rezidive auf, dann kann man sich mit diesen 3 starken Kuren auch bei sekundärer Syphilis begnügen. Voraussetzung ist allerdings, daß diese Verhältnisse noch mindestens 1 Jahr lang anhalten. Es ist also auch in der Folgezeit der Patient öfter zu untersuchen und die Seroreaktion wiederholt anzustellen. Ist sie positiv geworden, bzw. zeigt sie auch nur „leichte Schwankungen“, dann muß weiter behandelt werden, möglichst bis sie dauernd negativ ist und bleibt. Brandweiner gibt gemeinhin nach der letzten Wassermannschen Reaktion-Schwankung noch zwei volle Kuren, während welcher die Wassermannsche Reaktion negativ bleiben muß, ein Vorgehen, dem man sich im allgemeinen wohl anschließen kann. Wenn irgend angängig, sollte man auch bei sekundärer Syphilis, gegen Ende der 2. bis 3. Kur etwa, eine Liquoruntersuchung vor- nehmen. Wir wissen, daß sich hier recht häufig, insbesondere nach ungenügen- der specifischerTherapie, krankhafteVeränderungen finden, die im allgemeinen doch dafür zu sprechen scheinen, daß noch aktive Lues vorliegt.

Meirowsky weist nun ganz mit Recht darauf hin, daß es in der Praxis außerordentlich schwer ist, in jedem einzelnen Fall die Lumbalpunktion aus- zuführen oder gar sie des Öfteren zu wiederholen. Das ist für das Frühstadium der Syphilis, wenn es recht zeitlich in Behandlung kommt, auch wohl gar nicht not- wendig. Wir müssen ja annehmen, daß in diesem Stadium der allgemeinen Durch- seuchung auch der Liquor pathologisch verändert sen wird. Wir wissen ferner, daß wir durch eine so energische Behandlung, wie wir sie soeben als Norm bezeichnet haben, ihn auch wieder völlig normal gestalten. können. Wiederholte Punktionen bzw. Untersuchungen des Liquors in diesem Stadium der Lues haben uns aber gezeigt, daß die Ergebnisse hier sehr schwankend sind. Näher hier auf diese ziemlich verwickelten Verhältnisse einzugehen, muß ich mir versagen. Man kann mit Meirowsky indes annehmen, daß 2—21/, Jahre nach der Ansteckung die Liquorverhältnisse ziemlich konstant geworden, bzw. endgültig ent- schieden sein dürften. „Um diese Zeit sind die pathologischen Verände- rungen desLiquors zu ihrer vollen Höhe entwickelt; Fälle mit negativem Liquor pflegen negativzu bleiben. Während Eiweißreaktion und Lymphocyten- zahl in bezug auf ihre Vermehrung schwanken können, sind Wassermann- und Goldsolreaktion im Liquor fast immer positiv und unterliegen am wenigsten spontanen Schwankungen und bleiben in der Regel positiv. Da diese Liquor- veränderungen keine klinischen Symptome hervorzurufen brauchen, gibt es nur die einzige Möglichkeit, sie ausfindig zu machen, nämlich die Lumbalpunktion. Wenn nun auch sicher viele Fälle mit verändertem Liquor keine klinischen Erkran-

56 Paul Mulzer.

kungen des Centralnervensystems aufweisen, so unterliegt es doch keinem Zweifel daß aus diesem Material die Kandidaten für Tabes und Paralyse hervorgehen“ (Meirowsky).

Finden wir bei einer in der oben erwähnten Zeit, also etwa 1. Jahr nach der 3. Kur, vorgenommenen Liquoruntersuchung krankhafte Veränderungen im Liquor, dann werden wir unsere Behandlung weiter fortsetzen. Es gelingt immer in einer Anzahl von Fällen, auch hier noch durch die übliche kombinierte Be- handlung zum mindesten erhebliche Besserung zu erzielen, und dann ist es ja auch gar nicht mit Sicherheit zu sagen, daß solche Fälle wirklich und immer auch prognostisch die ungünstigsten sind. Wir wissen, daß auch bei vollkommen normalem Liquor Tabes eintreten, bzw. vorhanden sein kann.

Ein besonderes Augenmerk müssen wir hier bei der Besprechung der Liquor- veränderungen bei Syphilis richten auf die

Endolumbale Behandlung.

Durch Marinescu, Wechselmann, Swift und Ellis in die Therapie der Syphilis eingeführt, wurde die endolumbale Behandlung besonders von Gennerich geübt und nicht so sehr zur Behandlung der metaluetischen Krankheitsprozesse als vielmehr zur Bekämpfung aller meningealen Entzündungen imFrühstadium empfohlen.

Die neueste Methode Gennerichs besteht darin, daß die Lumbalpunktion an zwei verschiedenen Stellen ausgeführt wird. An jede Punktionsnadel wird ein Schlauch mit einer Bürette angeschlossen. In die obere Bürette läßt man 15 20 cm? Liquor einfließen, in die untere, deren Nadel um 1-2 Segmente tiefer liegt, 50—100 cm? bzw. so viel Liquor, als man überhaupt noch erhält. Der oberen Bürette setzt man dann die zur Infusion bestimmte Menge Salvarsan (135 —3 mg Neo- oder Natriumsalvarsan) zu und läßt dann den Inhalt beider Büretten wieder in den Lumbalsack einlaufen, u. zw. den der oberen zuerst. Der salvarsanfreie Inhalt der unteren Bürette hat im wesentlichen die Aufgabe, den salvarsanisierten Liquor cerebralwärts hinauf zu spülen. Gennerich glaubt, durch 4—5 solche endolum- bale Behandlungen die sog. „histologischen Meningorezidive“, aus denen sich seiner Ansicht nach die metasyphilitischen Prozesse entwickeln, beseitigen zu können, will aber auch bei basaler Meningitis, Pseudotabes und syphilitischer Epilepsie gute Erfolge, bzw. Krankheitsstillstand erreicht haben.

Bei der alten Methode von Gennerich wird nur an einer Stelle punktiert. Man läßt etwa 40—60 cm? abfließen, klemmt den Schlauch ab und setzt dann mit der Pipette die erforderliche Salvarsanmenge zu, worauf man dieses Gemisch wieder in den Lumbalsack einlaufen läßt.

Man muß bei diesen Methoden immer darauf achten, ob nicht Kopf- schmerzen, Pulsverlangsamung oder Brechreiz auftreten. Ist dies der Fall, dann klemmt man den Schlauch ab. Je langsamer der Liquor abtropft, desto seltener treten solche unangenehme Zufälle auf. Nach der Punktion muß der Patient 2mal 24 Stunden streng horizontal auf fester, nicht elastischer Unterlage liegen.

Diese Methoden Gennerichs werden nun sehr verschieden beurteilt. Ich selbst besitze infolge derzeitigen Materialmangels hiemit gar keine Erfahrungen; sie halte ich aber auch für die Allgemeinpraxis für zu umständlich und zu schwierig. Sie können nur für den reserviert bleiben, der sich genauestens mit ihrer Technik ver- traut gemacht hat. Ob sie tatsächlich mehr leisten als eine energische kombinierte Behandlung, insbesonders ob sie auch die entsprechenden Dauererfolge bieten,

Neuere Syphilistherapie. 57

ist immerhin recht fraglich. Boudreau, Fuchs u. a. meinen, daß eine genügend ausdauernde und intensive intravenöse Salvarsanbehandlung mit jahrelang fort- geführter Liquorkontrolle zum mindesten die gleichen günstigen Aussichten auf Erfolg besitze wie die endolumbale, ohne deren große Nachteile. Die Hauptursache der günstigen Wirkung dieser Behandlung erblickt Fuchs bei der Frühlues darin, daß der kranke Liquor unschädlich gemacht und teilweise entfernt werde. Deshalb läßt er bei Beginn einer intravenösen Behandlung, besonders bei Druckerhöhung, ebenfalls Liquor ab. Nach Fuchs besteht bei den Gennerichschen Methoden, insbesondere bei Überdosierung, die Gefahr großer Schädigung bis zu schwerem Siechtum und Lebensbedrohung. Jakobi hat vor kurzem über zwei Todesfälle berichtet, die nach endolumbalen Salvarsaninjektionen auftraten, welche mit allen von Gennerich geforderten Kautelen vorgenommen worden waren.

Käding will übrigens die Gefährlichkeit der endolumbalen Behandlung dadurch herabsetzen, daß er 30—40 cm? Liquor abläßt, diesen aber weggießt und dafür die gleiche MengeSalvarsan in physiologischer Kochsalzlösung einfließen läßt.

Craig, Burns und Barkley sind der Ansicht, daß die Einführung von As- Präparaten in den lumbalen Subarochnoidealraum infolge der Strömungsverhältnisse lediglich eine lokale Behandlung des umgebenden Gewebes darstelle und daher nicht als Heilmaßnahme in Betracht kommen könne bei Erkrankungen höher

gelegener Partien des Rückenmarks oder des Gehirns.

Zur Behandlung der cerebrospinalen Lues sind noch verschiedene andere Verfahren angegeben worden, welche im wesentlichen darauf abzielen, ohne direkte Injektion in den Lumbalsack mehr Medikamente bzw. mehr As dem erkrankten Nervensystem zuzuführen, als es bei der gewöhnlichen intravenösen Behandlung möglich ist. So will Höfer durch reichliche Liquorentziehung im Augenblick der höchsten Konzentration eines Medikamentes in der Blutbahn einen vermehrten Übertritt desselben in das Nervensystem erzielen. Von Weigelt und Zaloziecki ist dieses Verfahren mit zum Teil recht gutem Erfolg auch geprüft worden.

Ein ähnliches Verfahren wendet Dercuman, indem er ebenfalls, u.zw.alle 10 Tage, im Anschluß an die intravenöse Salvarsaninfusion, die am besten in Seitenlage des Patienten ausgeführt wird, durch einfache Punktion reichlich Liquor abläßt. Durch die Lumbalpunktion und die durch sie verursachte Verminderung der Liquormenge mit Druckherabsetzung wird seiner Ansicht nach ein Anreiz auf den Chorioidealplexus zum Ersatz des Verlorenen aus dem Blute geschaffen. Wenn dieses nun zu diesem Zeitpunkt mit Medikamenten überladen ist, so gelangen diese auch reichlich in den Liquor. Dieses Verfahren soll übrigens auch bei As-Refraktären nützen. Weigelt erblickt die Heilwirkung dieser Methode in erster Linie in der primären Hyperämie, die in dem Augenblick eintritt, in dem das Blut mit Salvarsan geladen ist.

Schließlich empfehlen noch Corbus, Budd C., Vincent J. O’Conor, Mary C. Lincoln und Stella M. Gardner in Chicago ein Verfahren, unter welchem es gelinge, ohne Lumbal-

unktion mehr As, als sonst möglich, in den Lumbalsack zu bringen und dadurch die Rückenmarksyphilis rascher und sicherer zu heilen. Ihre Methode besteht in folgendem:

Die Patienten werden ambulatorisch für 8 Uhr morgens bestellt, bekommen um 10 Uhr nach vorangegangenem Bad eine intravenöse Infusion von 100g 15 % igem, also stark hypertonischem Kochsalz. von Körpertemperatur. Kurz darauf spüren die Patienten eine auffallende allgemeine Körperwärme, zeigen Pulsbeschleunigung, es tritt gewöhnlich Harndrang und Stuhldrang auf. 6 Stunden später ohne die geringste Nahrungs- oder Getränkezufuhr erhalten die Patienten die relativ große Dosis von 0°9 Neo- salvarsan intravenös; 1 oder 2 Stunden später wird eine Lumbalpunktion gemacht, 10—15 cm? Flüssig- keit zur Untersuchung entnommen. Erst 4 Stunden nach der Neosalvarsaninjektion bekommen die Patienten wieder etwas zu essen. Außer etwas fieberhafter Reaktion wurde die Behandlung bei allen Patienten vertragen; diese konnten schon nach 24 Stunden Aufenthalt oder Bettruhe das Spital verlassen.

Die Methode beruht auf dem Prinzip eines künstlich erzeugten starken Diffusionsstromes in dem Blutkreislauf durch den Plexus chorioideus zum Lumbalkanal hin. Das Verfahren wird 4- oder 5 mal allwöchentlich wiederholt, in einzelnen Fällen auch öfter und soll viel bessere Erfolge als die intraspinale Salvarsaninjektion selbst ergeben. In der Lumbalflüssigkeit sollen schon kurz nach der Applikation ansehnliche Mengen von As, bis zu 0'01 mg im Kubikzentimeter, nachzuweisen sein.

Tertiäre Syphllis.

Über die Behandlung der tertiären Syphilis mit manifesten Erschei- nungen seitens der Haut und der Schleimhäute läßt sich nichts Neueres sagen. Sie wird in bisher üblicher Weise mit Salvarsan, Quecksilber und vor allem mit Jod, u.zw. dieses in möglichst großen Dosen, behandelt. Jod wird mit Erfolg häufig

58 Paul Mulzer.

auch bei der spätsekundären Syphilis angewendet und angewendet werden müssen. Auch das Wismut kann hier als wirkungs\olles Mittel verwendet werden, besonders in den gerade in diesem Stadium nicht allzu seltenen Hg-refraktären bzw. As-überempfindlichen Fällen.

In diesem Stadium muß man aber ganz besonders darauf achten, ob nicht auch syphilitische Veränderungen an lebenswichtigen inneren Organen, insbesondere den Gefäßen und dem Herzen vorliegen. Meirowsky weist mit Recht darauf hin, daß eine einzige starke Salvarsaneinspritzung hier infolge ihrer Reizwirkung (Herxheimersche Reaktion) von den schlimmsten Folgen für die Gesundheit begleitet sein kann. Dies sollen insbesondere die praktischen Ärzte beachten, die leider oft ziemlich wahllos und schematisch Salvarsan bei allen Stadien der Syphilis anwenden. Meirowsky fordert, es sich zur Regel zu machen, bei allen tertiären Erkrankungen die Behandlung mit einer Schmierkur und Jod einzuleiten und erst etwa 14 Tage nach Anwendung dieser Mittel zum Salvarsan überzugehen. Hier kann und soll man auch immer mit schwachen Dosierungen beginnen und erst allmählich die auch hier zu einer Vollwirkung nötige Gesamtmenge zu erreichen suchen.

Die Wassermannsche Reaktion wird man bei alter tertiärer Lues nur relativ selten völlig negativ bekommen oder dauernd negativ halten können. Daß man dies unter keinen Umständen erzwingen soll, ist ja allbekannt.

Latente Lues.

Jadassohn betont mit Recht, daß die positive Wassermannsche Reak- tion ein genügend sicherer Grund ist, um auch in der Spätlatenz ener- gisch zu behandeln, besonders wenn eine ungenügende Behandlung vorausgegangen ist. Die Furcht vor dem „quieta non movere“ ist nach Jadas- sohn unberechtigt, denn gar oft treten ja Spätrezidive auch ohne „therapeutische Provokation“ auf. Er weist darauf hin, daß man aus solchen Fällen ersehen könne, wie wenig das vermeintlich hergestellte Gleichgewicht zwischen Immunitätszustand und Spirochätenvegetation bestanden habe.

Bezüglich der Wassermannschen Reaktion gilt dasselbe wie bei der tertiären Lues. Man soll bei alter latenter Lues ein Negativwerden nicht erzwingen. „Man beruhige in solchen Fällen die Patienten und lasse sie, wenn sie genügend be- handelt und wenn zurzeit und jahrelang vorher keine klinischen Symptome auf- getreten sind, heiraten, überwache sie und ihre Nachkommen, aber mög- lichst dauernd“ (Mulzer).

‚Wenn ich hiermit meine Ausführungen über die „neuere Syphilistherapie“ schließe, so bin ich mir wohl bewußt, daß diese nicht vollständig sind ohne die Besprechung der Behandlung der Lues der inneren Organe und insbesondere der Tabes und der Paralyse, die ja gerade in der letzteren Zeit aussichtsreiche Neue- rungen erfahren hat. Ich glaube aber, daß diese Gebiete im Rahmen der „Ergebnisse“ noch besonders eingehend behandelt werden, wie dies ja auch bei der „congenitalen Lues“ der Fall ist, die eigentlich auch zu der mir zugeteilten Aufgabe gehört.

Ich füge noch hinzu, daß mir bei der Abfassung dieses Berichtes das im Verlag Springer, Berlin, erscheinende, ausgezeichnet redigierte „Zentralblatt für Haut- und Geschlechtskrankheiten“, insbesondere hinsichtlich der ausländischen Literatur, große Dienste leistete, sowie eine Zusammenstellung der Wismutpräparate und ihrer Wir- kungen von Dr. Messner, Darmstadt (Firma Merck), die er mir im Korrekturabzug in liebenswürdigster Weise zur Verfügung stellte.

Neuere Syphilistherapie. 59

Literatur: Allgemeiner Teil. Neuere Salvarsanpräparate und Salvarsannebenwirkungen.

Ahmann G., Ur. a cut. rer. 1921, Nr. 4, p. 192-195. Arndt siehe Salvarsanfragen. Benvenista, Presse med. 1921, p. 904-905. Birnbaum G., Berl. kl. Woch 1921, Nr. 43, p. 1270-1272. Boas H., Hospitalstidende 1921, Nr. 32. Böttner A. Th. Mon. 1921, H. 12, p. 353-360. Brandenburg K., Med. Kl. 1921, Nr. 19, p. 556-559; Nr. 20, p. 588-590 u. Nr. 25, p. 747-748. Bruhns s. Salvarsanfragen;; Med. Kl. 1922, Nr. 20, p. 627-628. Buschke M,, Zbl. f. Haut- u. Geschlechtskr. 1921, Lief.2; D. med. Woch. 1922, p.1376; Buschke u.W. Freymann, Derm. Woch. 1921, Nr. 36, p. 9455-949. Callomon Fr., Derm. Woch. 1922, Nr. 49, p. 1197-1200. Ceelen, Berl. kl. Woch. 1921, Nr. 40, p. 1195. Citron A. s. Salvarsanfragen. Dietrich A., Münch. med. Woch. 1922, p. 986-987. Dreyfuß G. L., Münch. med. Woch. 1922, Nr. 8, p. 268-269. Dubreuilhe W., Bull. de la soc. franç. de derm. et de syphiligr. 1921, Nr. 10, p. 514-515. Duhot R., R. belge dur et de derm. 1921, Nr.4, p. 88—98; Scalpal 1922, Nr. 39, p. 936-943. Ehrlich u. Karrer zit. nach Bertheim, Chemie der Arsenverbindungen, Festschr. f. Ehrlich 1914. Em mery, La clinique 1912, Nr. 31. Emile-Weil et V. Itsch-Well, Bull. et mem. de la soc. med. des höp. de Paris 1922, Nr. 30, p. 1424-1434. Fabry u. Wolff, Med. KI. 1922, Nr. 4, p. 106-107. Feit H., Münch. med. Woch. 1922, Nr. 37, p. 1345 1346. Fischer W., Derm. Woch. 1921, Nr. 31, p. 826-830. Flandin, Tzermak et Roberti, Bull. et mem. de la soc. med. des höp. de Paris, 1921, Nr. 30, p. 1402-1405. Frei, W. u. P. Tachau, A. f. Derm. u. Syph, 1922, Nr. 36, p. 1079-1080. Friedmann U. Kl. Woch. 1922, Nr. 33, p. 1642 1645. -- Fritz F., A. f. Derm. u. Syph. 1923, H. 3, p. 434-452. Galewsky E, Münch. med. Woch. 1922, Nr. 26, p. 981. Gennerich, D. med. Woch. 1918, Nr. 75; Erg. d. inn. Med. u. Kind. 1921, p. 366-224; Münch. med. Woch 1922, Nr. 42. Glaser, Med. Kl. 1921, Nr. 29, p. 867-868. Golay J., R. med. de la Suisse romaine 1922, Nr. 1, p. 34-40; Golay et Ben- venista, Ann. des malad. vener. 1922, p. 481-486. Gordon J.„ Kl. Woch. 1923, Nr. 10, p. 442—444. Gougerot, Bull. et mem. de la soc. med. des hop de Paris, 1921, Nr. 29, p. 1339—1347. Gutmann C., Derm. Ztschr. 1921, H. 3, p. 135-147. Hanel, Med. Kl. 1922, Nr. 54, p. 1615-1617. Hanemann Fr., Med. Kl. 1922, Nr. 20, p. 627-628. Harrison, Br. med. j. 1922, Nr. 3209, p. 1--14.. Heinrichsdorff, Virchows A. f. path. Anat. u. Phys. 1923, CCXL, H. 3, p. 441-451. Herxheimer G. u. W. Gerlach, B. z. path. Anat. u. z. allg. Path. 1921, H. 1, p. 93—138. Henneberg, Berl. kl. Woch. 1921, Nr. 5, p. 112-113 u. Nr. 25, P: 681 682. Heuck W., Med. Kl. 1921, Nr. 14, p. 578. Hoffmann E., Die Behandlung der

aut- und Geschlechtskrankheiten. Verlag Martins u. Weber, Bonn 1923; D. med. Woch. 1921, Nr. 36, p. 1079-1081. Hornemann, Hospitalstidende 1921, Nr. 25, p. 56-60. Hübner, Münch. med. Woch. 1922, Nr. 26, p. 983; Hübner u. Marr, D. med. Woch. 1922, Nr. 19, p. 624-625. Jadassohn, D med. Woch. 1922, Nr. 1, p. 19-22; Kl. Woch. 1922, Nr. 24, p. 1193-119) u. Nr. 25, p. 1243 1247. Jacobsohn J., F. d. Med. 1922, Nr. 6/7, p. 143-152. wo u. Sclarz, Med. Kl. 1921, Nr. 44, p. 1327-1331. Jarecki M., D. med. Woch. 1922,

r. 49, p. 1197-1203. Jersild, Hospitalstidende 1921, Nr. 32. Jessner Max, Med Kı. 1923, Nr. 25, p. 857-859. Kall K., D. med. Woch. 1922, Nr. 31, p. 1044 1045; Med. Kl. 1921, Nr. 20, p. 69-610. Katz, Derm. Woch. 1921, Nr. 20a, p. 545-549. Keller Ph., Derm. Woch. 1922, Nr. 1, p. 9-13. Klaar J., Wr. kl. Woch. 1922, Nr. 13, p. 297-300. Kleeberg L., Th. Mon. 1921, H. 12, p. 370-374. Kolle W., D med. Woch. 1918, Nr. 43 u. 44; Med. Kl. 1921, Nr. 50, p. 504-507; D. med. Woch. 1922, Nr. 1, p. 17-19. Kopaczewski W., Gaz. des höp. civ. et milit. 1921, Nr. 46, p. 716-739. Kritschewki J. L., Wratschebnoye Dela 1921, Nr. 21/22, p. 563—574. Krösing R., A. f. Derm. u. Syph. 1921, Orig., p. 575-578. 'Kromayer, D med. Woch. 1922, Nr. 21, p. 686-688. Kumer L., Derm. Ztschr. 1921, H. 5/6, p. 322-329. Kussnitzky E. u. W. Langner, Berl. kl. Woch. 1921, Nr. 52, p. 1534-1536. Kyrle J., Derm. Ztschr. 1922, H. 6, p. 313—332. Lespinne u. Wydooyhe, Ann. des malad. vener. 1922, Nr. 4, p. 24i —260. Liebner u. Rado, Med. Kl. 1922, Nr. 31, p. 996-997. Loeb H., A. f. Derm. u. Syph. 1922, p. 252—257. Löwy u. Wechselmann, Berl. kl. Woch. 1913, Nr. 29. Mayer E., Berl. kl. Woch. 1921, Nr. 31, p. 882—884. Meirovsky, Med. Kl. 1921, Nr. 6/7, p. 148-152; Meirovsky u. Pincus, Die Syphilis. Verlag Springer, Berlin 1923. Mc Bridge, W. L. and Ch. C. Dennie, A. of derm. and syph. 1923, Nr. 1, p. 63-76. Michaelis O., Acta dermato- venerol. 1921, H.1, p. 23-34. Minkovsky, Med. Kl. 1921, Nr. 17, p. 49 492. Milian G,., Ann. des malad. vener. 1921, Nr. 1. p. 1-43; Presse med. 1921, Nr. 65, p. 643-644; Revist. med. de Sevilla 1921, Oktoberheft, p. 6-13. Moore J., A. int. med. 1921, Nr. 6, p. 716-747. Mulzer, Die Syphilis in der Allgemeinpraxis. Verlag Lohmann, München 1923. Naegeli, Schweiz. med. Woch. 1921, Nr. 38, p. 883. Nathan, Ztschr. f. Immunitätsforschung u. exp. Th. 1922, Orig. HA p.392-406. Nicolas J. et G. Massia, Ann. de derm. et de syphiligr. 1921, p. 145-155. v. Notthaft, Münch. med. Woch. 1919, Nr. 16, p. 454. Oltramare, Schweiz. med. Woch. 1921, Nr. 5, p. 113; Ann. de malad. vener. 1921, Nr. 4, p. 240—242. Parounagian M. B., A. of derm. a. syph. 1921, Nr. 3, p. 333—337. Peters W., Berl. kl. Woch. 1921, Nr. 35, p. 1057 u. Nr. 44, p. 1303-1305. Rabut R. et P. Oury, Presse med. 1922, Nr. 75, p. 810-813. Ravaut P, Ann. de derm. et de syphiligr. 1922, Nr. 12, p. 494-513. Reif Fr., Münch. med. Woch. 1921, Nr. 1, p. 14-15. Reinhard u. Eichelbaum, D med. Woch. 1922, Nr. 24, p. 804-806. Riecke, Zbl. f. Haut- u. Geschlechtskr. 1922, VII, p. 160. Roth G. B., Publ. health. rep. 1921, Nr. 41, p. 2523-2539. Salvarsanfragen, Med. Kl. 1922, Nr. 8, p. 231 233; Nr. 9, p. 206—268 u. p. 289—293; Nr. 10, p. 320—323; Nr. 12, p. 336-390; Nr. 13, p. 420-422 u. Nr. 15, p. 459-401; Salvarsanfragen, veröffentlicht a. d. Geb. d Medizinalverwalt. 1922, H.7, p. 825- 970. Schäfer F., Zbl. f. Haut- u. Geschlechtskr. 1921, p. 426. Schiff P. et P. Silvestre, Ann. des malad. vener- 1921, Nr. 2, p. 65-76. Schiller R, D. med. Woch, 1922, Nr. 39, p. 1307—1308. Schuh.

60 Paul Mulzer.

macher, Zbl. f. Haut- u. Geschlechtskr. 1921, p. 537-552; Münch. med. Woch, 1922, Nr. 6; p. 175. Sicard et Paraf, Bull. et mém. de la soc. med. des höp. de Paris 1921, Nr. 1, p. 11-16. Sklarz, Berl. kl. Woch. 1922, Nr. 1, p. 28. Sternthal, Med. Kl. 1921, Nr. 16, p. 488-489. Stühmer, Derm. Ztschr. 1921, H. 5/6, p. 304-316. Stümpke, Med. Kl. 1922, Nr. 10, p. 295. Tachau P., D. med. Woch. 1921, Nr. 25, p. 711. Troebs, Derm. Woch. 1921, Nr. 26a, p. 550-554. Ullmann, Zbl. f. Haut- u. Geschlechtskr. 1921, p. 98-99; Wr. kl. Woch. 1922, Nr. 14, p. 316-322. Voithenberg K., D. med. Woch. 1923, p. 217. Walson Ch., Am. j. of med. sc. 1921, Nr. 3, p. 418-437. Wechselmann, D med. Woch. 1911, Nr. 17; Th. d. G. 1921, H. 1, p. 15-20. Wiesenac, Korr. d. Allg. ä. V. v. Thür. 1921, Nr. 3/4, p. 94-95; Berl. kl. Woch. 1921, Nr. 30, p. 815-846. Wirz Pr, Derm. Woch. 1922, Nr. 30, p. 745-751; Nr. 50, p. 1213-1219. Wolff u. Mulzer, Lehrb. d Haut- u. Geschlechtskr., 2. Aufl. Verlag Enke, Stuttgart 1914. Zimmern F. Münch. med. Woch. 1922, Nr. 2, p. 43-44. Zinsser, Münch. med. Woch. 1921, Nr. 41, p. 1322 1323.

Quecksilber- und Jodpräparate; Mischspritzen.

Auer, Th. d. G. 1920, Nr. 12. Bacceli siehe Wolff-Mulzer, Lehrb. der Haut- und Geschlechtskr. Bayer, Allg. Wr. med. Ze 1911, Nr. 35. Benningson, D. med. Woch. 1921, Nr. 18, p. 503. Berdach R., Münch. med. Woch. 1923, Nr. 48, p. 1433. Bornemann C, Med. Kl. 1917, Nr. 45, p. 1193. Bruck, Berl. kl. Woch. 1920, Nr. 2, p. 43. Bruhns, Zbl. f. Haut- u. Geschlechtskr. 1921, p. 396-397. BrünauerSt.R., Kl. Woch. 1923, Nr. 35, p. 1637 1640. Chouffard, Brodin et Debray, Bull. et mém. de la soc. méd. des höp. de Paris 1922, Nr. 26,

. 1311 1314. Cole, J. of am. ass. 1922, Nr. 22, p. 1821 1824. Döring, D. med. Woch. 1915,

r.3. Eicke u. Rosa, Münch. med. Woch. 1921, Nr. 45, p. 1449-1451. Fischl u. Schnepp, Med. Kl. 1921, Nr. 29, p. 873-874. Frey, D med. Woch 1916, Nr. 49. Fröhlich A., Wr. kl. Woch. 1921, Nr. 10, p. 105. Fürth J., Wr. med. Woch. 1918, W 1240. Gutmann C,, Berl. kl. Woch. 1921, Nr. 42, p. 1233 1233. Hajos, Orvosi hetilap 1921, Nr. 46, p. 403-405. Heese, D. med. Woch 1911, p. 10. Hegler, Med. Kl. 1921, Nr. 12, p. 363. Heß Fr., Münch. med. Woch. 1922, Nr. 16, p. 587. Heymann u. Fabian, Derm. Woch. 1921, Nr. 46, p. 1195. Hoppe-Seegers, Berl. kl Woch. 1919, Nr. 49, p. 1164. Issel E., D. med. Woch. 1921, Nr. 48, p. 1462-1463. Jacobi W., Wr. kl. Woch. 1922, Nr. 43, p. 840-841. Jacoby, Berl. kl. Woch 1920, Nr. 32, p._ 761. Keane and Slangenhaupt, J. of ur. 1922, Nr. 3,

. 197-205. Klingmüller, Über [N Verlag G. Thieme, Leipzig 1909. Korcynski,

r. kl. Woch. 1916, Nr. 49, p. 1563. Kratter E, Münch. med. Woch. 1923, Nr. 5, p. 141—143. Krebs, Zbl. f. Haut- und Geschlechtskr. 1922, p. 435. Kyrle u. Planner, Wr. kl. Woch. 1921, Nr. 10, p. 106. Laband, Derm. Woch. 1921, Nr. 50, p. 1285-1288. Lane, Lancet 1921, Nr. 16, p. 796. Ledermann R, Die Therapie der Haut- und Geschlechiskrankheiten. Verlag Oskar Coblentz, Berlin 1921. Lekisch, Wr. med. Woch. 1919, Nr. 39. Lenzmann, Med. Kl. 1921, Nr. 40, p. 1200-1202. Marchand, New-Orleans med. a surg. j. 1921, Nr. 1, p. 476-481. Marlinger B., Med. Kl. 1922, Nr. 4, p. 1113. Martinescu C., Spitalul 1922, Nr. 9, P 258 - 259. Matzenauer, Ztschr. f. Ur. 1922, H. 11, p. 495-496. Meirowsky u. Pincus,

ie Syphilis. Verlag Springer, Berlin 1923. Mentberger, F. d. Med. 1922. Nr. 11, p. 245-248. Milian et Lelong, Bull. et mém. de la soc. méd. des höp. de Parıs 1922, Nr. 26, p. 1163-1167. Müller F. H. u. Pitzner, Münch. med. Woch. 1921, Nr. 12, p. 364. Mulzer u. Bleyer, Münch. med. Woch. 1920, Nr. 41, p. 1163—1166. Mulzer, Münch. med. Woch. 1.23, Nr. 14, p. 428 429. Nagel, Zbl. f. Haut- u. Geschlechtskr. 1922, p. 435. Nardelli, Giorn. ital. d. malatt. vener. e de palle 1921,. H. 1, p. 38—42. Negendank J., Derm. Woch. 1921, Nr. 23, p. 808-809. Nover, D. med. Woch. 1923, Nr. 4, p. 119. Oelze, Derm. Woch. 1921, Nr. 52, p. 1318-1319; Münch. med. Woch. 1921, Nr. 9, p. 271; Derm. Woch. 1920, Nr. 31, p. 744. Olivier, Boelstre L., 62. Generalversammlung der niederländischen Dermatologen, Amsterdam 1921. Pinczover A., D. med. Woch. 1923, Nr. 6, p. 185. Pini, Bull. d. sc. méd. 1922, H. 11/12, p. 265. Plaut, D. med. Woch. 1919, Nr. 48. Pontopidan, Derm. Woch. 1922, Nr. 15, p. 348-349. Reines D. med. Woch. 1921, Nr. 24, p. 689. Richter Ed., Derm. Woch. 1918, Nr. 30, p. 615. Rothmann St., D. med. Woch. 1921, Nr. 3, p. 71 —73; Münch. med. Woch. 1922, Nr. 12, p. 427 429. Saxl u. Heilig, Wr. kl. Woch. 1920, Nr. 8, p. 179. Schmalz, D. mei Woch. 1921, Nr. 35, . 1021 1022. Schmidt, Med. KI. 1922, Nr. 3, p, 74-76. Schönfeld u. Schmalz, D. med. Woch. 1921, Nr. 35, p. 1021. Schröder M., Ztschr. f. Ur. 1922, H. 6, p. 272-276. Seegers K., Berl. kl. Woch. 1920, Nr. 4, p. 87. Seifert O., Die Nebenwirkungen der medizinischen Arznei- mittel, 2. T. Verlag C. Rabitzsch, Berlin. Sittmann s. Mulzer, Syphilis in der Allgemeinpraxis. Verlag Springer, Berlin 1923. Skutezky K. Wr. kl. Woch. 1920, Nr. 4, p. 87. Szily u. Haller, Münch. med. Woch. 1923, Nr. 5, p. 152-153. Teichmann W., Derm. Ztschr. 1923, H. 1/2, p. 25—32. Tollens, Th. Mon. 1921, H. 7, p. 212-213. Treitel, Th. d. G. 1923, Nr.5, p.199. - Uhlenhuth u. Manteuffel s. Uhlenhuth, Exp. Grundl. d. Chemoth., Urban & Schwarzen- berg. Berlin 1911. Urban F., Gyógyászat 1921, Nr. 24, p. 508. Weber H., Derm. Woch. 1922, Nr. 22, p. 523-526. White, Hill, Moore u. Young, J. of am. ass. 1922, Nr. Il, p. 877 bis 884. Wiesnack H., Münch. med. Woch. 1920, Nr. 36, p. 1157. Winkler A. D. med. Woch. 1922, Nr. 41, p. 1388; Th. d. G., 918, Nr. 7, p. 241. Wolff u. Mulzer, Lehrb. Verla Enke. Stuttgart 1914. Zieler, Münch. med. Woch. 1922, Nr. 14, p. 531; 1917, Nr. 39, p. 125 u. 1920, Nr. 45, p. 1355. Zollschau, Wr. kl. Woch 1922, Nr. 51, p. 995-997. Zweig L, D. med. Woch. 1923, Nr. 26, p. 851 852.

Wismut.

Artom, Policl. 1923, XXX, p. 527. Agramunt, Med. pr. 1922, Nr. 36, p. 81 - 87; Siglo medico 1922, LXIX, p.397. Azoulay, Presse med. 1922, p. 134; R.d. derm. 1921, Nr.8; Bull. de la soc. franç.

Neuere Syphilistherapie. 61

de derm. 1922, p.57. Baecker Th. d. G. 1923, H.6, p.227- 232. Balzer, Paris med. 1923, p.726. Barrio de Medina, Medic. iber. 1922, Var 221; Acta dermosifiligr. 1922, XIV, p.226. Benech, R. méd. de l’est 1922, L, p.546; 1923, L, p. 279. Bang u. Kjeldsen, Hospitalstidende 1922, LXV, Nr. 48. Bernhardt, Polska Lekarska Gazeta 1922, I, p.473. Bloch, KI. Woch. 1922, Nr. 38, p. 1884; Br. med. j. 1922 (Epit.), p. 73. Blum P., Paris med. 1922, XII, p. 105. Boelsen, Med. KI. 1923, ` Nr. 22, p. 757 u. 793. Bruck u. Weinberg, Derm. Ztschr. 1923, H.5. Cajal u. Spierer, Presse med. 1923, Nr. 31, p. 354—356. Citron, Med. Kl. 1923, p. 1279; Münch. med. Woch. 1923, p. 928; D. med. Woch. 1923, p. 1003. Covisa, Rev. esp. d. ur. y derm. 1922, XXIV, p. 279. Csepay, Kl. Woch. 1923, p. 765. De Bena, Giorn. ital. d. malatt. vener. e de palle 1923, H. 8, p. 388-398. Dejace, Scalpol 1923, Nr. 20, p. 544-545. Deselaers, Derm. Woch. 1922, p. 949. Dietel, Münch. Med. Woch. 1923, p. 1250. Ducrey, Policl. 1922, XXIX, p. 473. Duhot, R. belge d'ur. et de derm. 1922, V, p. 14. Ehler, Ugeskrift for Laeger 1922, LXXXIV, p. 4. Ehrlich u. Karrer, Festschr. f. Ehrlich 1914. Eliascheff, Presse méd. 1923, p. 491; Bull. de la soc. franç. de derm. et de syph. 1923, Nr. 6. p. 77-78. Emery u. Morin, Paris méd. 1922, Nr. 48, p. 509-515. Escher, Ann. Pasteur 1922, p. 859; Br. med. j. 1923, I, (Epit.), p. 13. Evening, Derm. Woch. 1923, p. 1234. Evrard, Ann. des malad. vénér. 1922, XVII,

. 525. Felke, Münch. med. Woch. 1922, p 1411; 1923, p. 226 u. 227. Farento, Polici. 1923,

XX, p. 233. Fournier et Guenot, Cpt. r. hebdom. des séances de l’acad. des sc. 1921, Nr. 16, p. 674—676; Presse méd. 1922, p. 220; Ann. Pasteur 1922, XXXVI, p. 14. Fränkel E, Med. Kl. 1923, Nr. 46. Freudenberg, D. med. Woch. 1923, p. 1106. Galewsky, Münch. med. Woch. 1923, p. 1164. Galliot, T med. de Paris 1923, Nr. 25, p.509-510 Gaston u. Pontoizeau, Bull. de la soc. franç. de derm. et syph. 1922, Nr. 8, p. 382-383. Giemsa, Münch. med. Woch. wa 1452. Gouin et Jegat, Presse med. 1913, p. 139; Bull. de la soc. de derm. 1923, p. 39. Görl u. Voigt, Münch. med. Woch. 1923, p. 143. Gougerot, Paris med. 1923, p. 726. Gourfin, R. gen. d’ophtalm. 1923, XXXVII, p. 149. Greco u. Muschietti, Semana med. 1921, p. 849; Derm. Woch. 1922, p. 950. Greif, Zbl. f. Haut- u. Geschlechtskr. 1923, p. 168. Grenet et Drouin, Cpt. r. hebdom. des séances de l’acad. de sc. 1922, Nr. 9, p. 647-648. Grimme, F. d. Med. 1922, p. 585; 1923, p. 59. Gutmann, Derm. Woch. 1923, p. 861 u. 892. Guzmann u. Pögany, Orsovi Hetilap 1922, VI, p. 149. 433. Haxthausen, Hospitalstidende 1922, LXII, p. 342. Heiner L., Gyögyäszat 1923, Nr. 8, p. 252-254. Heuck, Verh. a. d. derm. Kongr. in München 1923; A. f. Derm. u. Syph. 1924, p. 338; D. med. Woch. 1923,

. 898; KI. Woch. 1923, p. 1335. Holländer, Derm. Woch. 1923, p. 1173. Horta-Ganus, Brazil. med. 1922, I, p. 81, 483. Huber u. Massary, Bull. et mém. de la soc. med. des höp. de Paris 1923, XXXIX, p. 348. Hudelo, Bull. med. 1922, XXXVI, p. 799; Hudelo, Simon u. Richon, Bull. de la soc. franç. de derm. et de syph. 1923, Nr. 2, p. 72- 75; Presse med. 1923, Nr. 61, p. 727. Jeanselme, Presse med. 1922; Ann. de derm. 1922, Nr. 23; Bull. de la soc. franç. de derm. 1922, Nr. a 13; Bull. med. 1922, XXXVI, p. 313. Jessner M., Med. Kl. 1923, p. 857. Joseph, D. med. Woch. 1923, Nr. 46. Klauder, Ann. of derm. a syph. 1923, Nr. 6, p. 721-744. Kolle, Derm. Woch. 1923, p. 177; D. med. Woch. 1923, p. 898; Kl. Woch. 1923,

. 1334; Kolle u. Ritz, D. med. Woch. 1919, Nr. 18, p. 482. Lacapere-Galliot-Walton,

ull. de la soc. de derm. 1922, p. 2:0; Presse med. 1922, p. 504; Ann. des malad. vener. 1923, p. 285. Laubry u. Bordet, Bull. et mem. de la soc. méd. des höp. de Paris 1922, Nr. 37, p. 1760-1769. Lehner, Derm. Woch. 1923, XXXVII, p. 1107-1108; Lehner u. Radnai, Gyögyäszat 1922, p. 532. Lepinay, Bull. de la soc. franç. de derm. et de syph. 1923, Nr. 3, p. 150-151. -- Levaditi, Presse med. 1922, p. 633; Levaditi u. Sazerac, Presse med. 1922, p. 43 u. 75; Cpt. r. hebdom. de l’acad. des sc., CLXXIV, p. 128. Levy D. M., Kl. Woch. 1924, Nr. 12, p. 480. Lortat, Jakob et Roberti, Presse med. 1922, p. 291; Lortat u. Apert, Pres:e med. 1923, p. 223; Lortat u. Jakob, Presse méd. 1923, d 470. Machado u. Area Leite, Brazil. med. 1922, I, p. 195. Mandel, Zbl. f. Haut- u. Geschlechtskr. 1922, I, p. 120. Marcus, Münch. med. Woch. 1922, p. 1616; Svenska Läkartidningen 1922, p. 863. Maranon, Ann. de la acad. med.-quirurg. spanola 1923, X, p. 379-404. Marie, Presse med. 1921, p. 965; A. intern. de neur. 1922, I, p. 196; Marie u. Fourcade, A. intern. de neur. 1922, XLI, I, p. 58; Ann. Pasteur 1922, XXXVI, p. 14. Merenländer, Polska Gazeta lekarska 1922, Nr. 29, R 592-594. Milian, Presse méd. 1922, p. 189; J. med. franç. 1923, XII, p. 95; Milian-Perin,

ull. et mém. de la soc. méd. des hôp. de Paris 1922, Nr. 3; R. intern. de méd. et de chir. 1922, 'Nr. 2, p. 15—22. Müller H. Münch. med. Woch. 1922, Nr. 15 u. 48; Zbl. f. Haut- u. Geschlechtskr. 1923, p. 289—300; Müller, Blaß u. Kratzeisen, Münch. med. Woch. 1923, p. 625. Nagel, D. med. Woch. 1923, p. 1116. Nathan u. Martin, Presse méd. 1923, p. 81. Neuendorff, Med. Kl. 1923, p. 294; Kl. Woch. 1923, p. 615. Nicolas, Gate u. Lebeuf, Bull. de la soc. franç. de derm. et de syph. 1923, p. 275—277. Nin Posadas, Semana med. 1922, Nr. 29, p. 37. Otero, Ann. de la fac. de méd. 1922, Nr. 4/5, p. 267-271. Papasoglou A. N., Derm. Woch. 1924, Nr. 2, p. 53—54. Paranhos, Brazil. med. 1922, Nr. 23, p. 311. Patzschke W., D. med. Woch. 1923, Nr. 30, p. 984—985. Pautrier, Presse méd. 1923, p. 139, 726; A. intern. de neur. 1923, I, p. 138; Bull. de la soc. de derm. 1923, p. 24. Perrin, R. med. de l'est 1923, Nr. 8, p: 282. Pinard, Marcel u. Morechii, Bull. et mém. de la soc. méd. des höp. de Paris 1922,

r. 30, p. 1434- 1435. Pincus, Med. KI. 1923, P- 438. Plaut u. Mulzer, Münch. med. Woch. 1923, p. 487. Plöger, Zbl. f Haut- u. Geschlechtskr. 1923, IX, p. 234. Poehlmann, D. med. Woch. 1924, Nr. 2. Pomaret, Presse med. 1922, p. 726. Prater, Derm. Woch. 1923, Serie Radaeli, Giorn. ital. d. malatt. vener. e d. palle 1922, Nr. 5. Ramel, Schweiz. med. Woch. 1923, p. 316; Lancet 1923, I, p. 967. Reuter. Th. d. G. 1923, H. 12. Richter W., D med. Woch. 1923, p. 191 u. 912. Ritter, Derm. Woch. 1923, p. 1077. Ritz, Schweiz. Derm. Woch. 1923, p. 504. Robert u. Sauton, Ann Pasteur 1916, p. 261. Rosner, Wr. kl. “Woch. 1922, Nr. 47, p. 919—921. Sazerac u. Levaditi, Cpt. rend. hebdom. des séances de l’acad.

62 Paul Mulzer.

des sc. 1921, Nr. 5, p. 338—340 u. Nr. 23, p. 1201-1204; Ann. Pasteur 1922, H. 1. Scherber, Wr. med. Woch. 1922, p. 1825, 1881, 1929, 1982. Schreus, D. med. Woch. 1923, p. 473. Schuhmacher, Münch. med. Woch. 1923, p. 928. Sedlak, Ceskä derm. 1922, IV, p. 10. Sezary-Pomeret, Pr. med. 1922, p. 85. Sicilia, R. med. de Sevilla 1922, CDXI, p. 12; A. ` dermosifiligr. 1922, III. Nr. 8, p. 35, 36 u. Nr. 9, p. 12. Simon, J. méd. franç. 1923, XII, p. 98;

Presse méd. 1922, p. 1000; Simon, Clement u. Bralez, Bull. med. 1922, Nr. 26, p. 523 - 527; Simon et Bralez, Bull. de la soc. de derm. 1922, p. 354; Presse med. 1922, p. 594. Spak H, Svenska lakartidning 1923, Nr. 14, p. 321-326. Spillmann, Drouet et Smilganitsch, R. med. de l'est 1922, Nr. 17, p. 536—545. Tartaru, Clujul med. 1922, IlI, p. 208. Tomasi, Lo Speri- mentale 1923, LXXVII, p. 104. Truffi, Giorn. ital. d. malatt. vener. e d. palle 1922, LXIII, p. 369. Tzanck, Bull. de la soc. de derm. 1922, p. 197. Uhlenhuth, Arb. Kais. Ges. 1908,- H. 2. Vaz Luis, Brazil. med. 1923, Nr. 20, p. 279-280. Voehl, D. med. Woch. 1923, p. 210; Zbl. f. Haut- u. Gesch'echtskr. 1923, VII, p. 172; Th. d. G. 1923, p. 225. Villemin, The ur. an Cutaneous Rev. 1923, XVII, p. 12. Welter u. Roederer, Bull. de la soc. franç. de derm. et de syph. 1923, Nr. 6, p. 83-85. Zimmern, Derm. Woch. 1923, p. 461. Zollinger, B. z. Chir. 1912, LXXVII, p. 268.

Spezieller Teil.

Bering, Derm. Woch. 1921, Nr. 34, p. 900-902. Blanc, D. med. Woch. 1921, Nr. 21, p. 592-593. Brandweiner, Med. Kl. 1921, Nr. 36, p. 1075. Boudreau, Ann. des malad. vénér. 1921, Nr. 5, p. 394. Citron J., Die Syphilis. Spez. Path. u. Th. inn. Krank. von Kraus und Brugsch, II. Verlag Urban & Schwarzenberg, Berlin 1919. Corbus, Vincent, Lincoln und Gardner, Zbl. für Haut- und Geschlechtskrankheiten 1922, p. 73. Cornaz, R. méd. 1921, Nr. 2, p. 101—109 und 1923, Nr. 3, D: 133—148. Craig, Burns und Berklay, J. of nerv. a. ment. dis. 1922, Nr.2, p.97—114. Dercum, NY, med. j. 1922, Nr.9, p. 504-506. Dreyfuss, D. med. Woch. 1922, Nr. 26, p. 860-861. Duhot, R. belge d'ur. et de derm. syphilogr. 1921, Nr. 3, p. 55-70 u. 1922, Nr. 2, p. 33—46. Ellis u. Swift, J. of expl. med. 1913, XVIII, Nr. 4; Münch. med. Woch. 1913, Nr. 36 u. 37. Fabry, Mei. Kl. 1922, Nr. 43, p. 1369. Finger, Wr. med. Woch. 1921, Nr. 1, p. 11-15; A, f. Derm. u. Syph. 1921, Orig., p. 344—352. Frey- mann, Med. Kl. 1920, Nr. 39, p. 1012. Fuchs, Münch. med. Woch. 1922, Nr. 8, p. 271 —272. Gennerich, Münch. med. Woch. 1916, Nr. 35 u. 36, feldärztl. Beilage; Münch. med. Woch. 1917, 10. ärztl. Beilage; Th. Mon. 1921, H. 22, p. 690—697; Münch. med. Woch. 1922, Nr. 42, p. 1475 - 1479. Hoffmann E., D. med. Woch. 1914, Nr. 23; Th. d. G. 1922, H. 1, p. 11-19. Höfer, Berl. kl. Woch. 1921, Nr. 35, p. 1029— 1031. Jadassohn, KI. Woch. 1922, Nr. 24, p. 1193—1199 u. Nr. 25, . 1243—1247. Jacobi, Th. Mon. 1921, H. 10, p. 307—308. Joseph, D. med. Woch. 1922, r. 15, p. 491. Käding, Münch. med. Woch. 1921, Nr. 19, p. 583. Kolle, D. med, Woch. 1922, Nr. 39, p. 1301 1302. Kromayer, D. med. Woch. 1922, Nr. 21, p. 686—688. Lesser Fr., Med. KI. 1922, Nr. 26, p. 224—228. Löwenstein, Derm. Woch. 1921, H. 4, p. 223; Med. KI. 1922, Nr. 29, p. 924—925. Marinescu, Spitalul 1921, Nr. 1, p. 3—6; R. neur. 1921, Nr. 3, p. 325—327. Meirowsky u. Pincus, Die Syphilis. Verlag Springer, Berlin 1923. Menze, Münch. med. Woch. 1921, Nr. 40, p. 1290—1292. ` Mulzer s. Wolff; Münch. med. Woch. 1921, Nr. 22, p. 664—666; Die Syphilis in der Allgemeinpraxis. Verlag Lohmann, München 1923, s. Plaut. Oppenheim, Wr. klin. Woch. 1923, Nr. 1, p. 710. Pinard, Bull. de la soc. franç. de derm. et de syph. 1921, Nr. 6, p. 304—311. Plaut u. Mulzer, Münch. med. Woch. 1923, Nr. 20. Quioc, 1. d. prat. 1921, Nr. 17, p. 280. Rost, A. f. Derm. u. Syph. 1921, p. 89—97. Schuhmacher, Zbl. f. Haut- u. Geschlechtskr. 1922, p.65. Schubert v., Münch. med. Woch. 1914, Nr. 15. Silber- stein, A. f. Derm. u. Syph. 1923, H. 3, p. 334—364. Spinthoff, Münch. med. Woch. 1921, Nr.21. Stümpka, Med. Kl. 1921, Nr. 12, p. 337—342; Derm. Woch. 1921, H. 4, p. 223. Uhlenhuth P., Die exp. Grundl. d. Chemoth. d. Spir. Verlag Urban & Schwarzenberg, Berlin 1911. Ullmann, Wr. kl. Woch. 1922, Nr. 49, p. 951 951. Vecchia s. Mulzer, Abortivbehandl. Weigelt, D. med. Woch. 1922, Nr. 39, p. 1305 1307. Wolff-Mulzer, Lehrb. d Haut- u. Geschlechtskr., III. Verlag Enke, Stuttgart 1914. I

Vegetatives Nervensystem und psychische Störungen. Von Prof. Dr. Edm. Forster, Berlin *.

Alle psychischen Vorgänge führen zu Reizvorgängen im vegetativen System. Wenn wir uns hungernd ein saftig gebratenes Stück Fleisch vorstellen, fließt das Wasser im Munde zusammen. Ein Schreck läßt uns erblassen, ängstliche Vor- stellungen können zu Herzklopfen, ja zu Durchfällen Veranlassung geben, die Vor- stellung von ekelerregenden Dingen zu Erbrechen. Der Einfluß sexueller Vor- stellungen auf die Genitalorgane braucht nicht erst erwähnt zu werden. Feinere Untersuchungsmethoden, wie der psycho-galvanische Reflex, zeigen, daß die geringsten psychischen Vorgänge schon zu Veränderungen in der lIonenverteilung führen. Alle diese körperlichen Vorgänge in den Eingeweiden, Drüsen und Gefäßen werden durch Reizvorstellungen im vegetativen Nervensystem veranlaßt, Reizvorgänge, die also hervorgerufen wurden durch rein psychisches Geschehen.

Da wir nun die psychischen Vorgänge selbst nicht beobachten können, wohl aber ihre körperlichen Folgeerscheinungen, so ist es klar, daß wir aus diesen letzteren unsere Schlüsse ziehen und uns mit ihrer Hilfe ein Urteil über das Psychische bilden. Es ist nun nur ein Schritt weiter, wenn bei von der Norm abweichendem Verhalten des vom vegetativen Nervensystem gesteuerten Apparates auch auf psychische Abnormitäten geschlossen und das vegetative: Nervensystem für diese psychischen Abweichungen verantwortlich gemacht wird. Für eine solche Auffassung liegen allerdings zunächst keine zwingenden Gründe vor, denn am Gesunden sehen wir zwar, daß psychische Vorgänge konstante körperliche Folge- zustände hervorrufen, aber nicht daß solchen körperlichen Erscheinungen stets ein bestimmter Vorstellungsinhalt zu grunde liegt oder bestimmte psychische Vorgänge auslöst. Wir können streng genommen überhaupt nicht beobachten, daß diese körperlichen Zustände psychische Vorgänge auslösen. Es ist zwar richtig, daß sie für die Psyche nicht gleichgültig sind und daß verstärktes Herzklopfen in der Art, wie wir es bei Angstvorstellungen erleben, wenn es aus anderen rein körperlich bedingten Ursachen auftritt, Beklemmungsgefühle und dann auch Angstvorstellungen auslösen kann: der Vorgang ist dann aber ein ganz anderer. Wir nehmen in diesem Falle das Herzklopfen wahr, wie die Dinge der Außenwelt oder wie einen Schmerzreiz und verarbeiten es psychisch.

Wenn durch Reizvorgänge im vegetativen System hervorgerufene abnorme Er- scheinungen zur Erklärung von nachgewiesenen psychischen Abweichungen heran- gezogen werden oder als Beweis dafür gelten sollen, daß solche Abweichungen vorhanden sein müssen, so bedarf eine derartige Ansicht des Beweises. Unter dem großen Einfluß, den das Buch von Eppinger und Hess über die Vagotonie aus- geübt hat, findet man den Ausdruck Vagotoniker sehr häufig gebraucht, nicht nur um eine bestimmte körperliche Abweichung zu bezeichnen, sondern auch im Hinblick auf eine bestimmte, angeblich für dieses Symptomenbild typische psychische Reaktions-

* Referat, erstattet auf der Jahresversammlung des d. Ver. f. Psych., Jena 1923.

64 Edm. Forster.

weise. Im Zusammenhang hiermit hat die Tatsache, daß man von Vagotonie und Sympathicotonie spricht, dazu geführt, die Störungen der Affektivität, die man bei diesen Tonusstörungen des vegetativen Systems beobachtete, als Störungen des Tonus der Affektivität zu bezeichnen und sogar vom psychischen Tonus überhaupt zu sprechen. Es scheint mir, daß die Autoren, die diesen Ausdruck gebrauchen, sich nicht immer genügend bewußt bleiben, daß es sich bei einer solchen Benennung doch nur um einen Vergleich, einen Sprachgebrauch, handelt.

Schon wenn es sich um die Definition des Tonus der Muskulatur handelt, zeigt sich, daß keine Einigkeit darüber herrscht, was unter dem Begriff Tonus zu verstehen ist. Es ist sehr lehrreich, die Darstellung Lewys! über den Tonusbegriff zu lesen. Auf Grund eingehender Berücksichtigung der Literatur und eigener Untersuchungen kommt dieser Autor zu folgendem Resultat. Muskeln von bestimmtem Bau und chemischer Zusammensetzung können in jedem Zustand der Verlängerung teils auf Grund rein physikalischer (Elastizität), teils auf Grund physikalisch- chemischer Zustände so starr werden, daß sie einer erheblichen äußeren Belastung das Gleichgewicht halten können. Der Muskel leistet dabei keine Arbeit. Solche exquisiten Tonusmuskeln besitzen hauptsächlich die Wirbel- losen. Aber auch die quergestreiften Muskeln der höchstentwickelten Tiere sind unter normalen (und vor allem unter pathologischen) Bedingungen in der Lage, ein angehängtes Gewicht ohne den dem rein tetanischen Vorgang zukommenden Energieverlust längere Zeit zu halten. Hier handelt es sich um einen muskulären, möglicherweise vom vegetativen Nervensystem regulierten Prozeß. Zu den vorzugs- weisen Tonusmuskeln gehören die glatten Muskeln der Wirbeltiere, wenngleich sie neben ihrer tonischen auch noch eine Bewegungskomponente besitzen. Diese Tonus- muskeln besitzen zwei charakteristische Zustandsfiormen den der maximalen Sperrung oder Härte und den einer minimalen. Die quergestreiften Muskeln der Wirbeltiere sind durch einen gleitenden Tonus (Uexküll) charakterisiert die Dehnungsgrenze und der Dehnungskoeffizient ist von der jeweiligen Belastung abhängig. Diese dauernde Anpassung erfordert eine Regulation, die anscheinend auch im quer- gestreiften Muskel durch Vagus und Sympathicus erfolgt. Zum Auslösen und Ver- ändern eines Spannungszustandes bedarf es einer Erregung. Der quergestreifte Muskel befindet sich nun beim reinen „Halten“ nicht nur in einem solchen arbeits- losen Tonus. Er befindet sich nur scheinbar in Ruhe, in Wirklichkeit unterliegt er dauernd minimalen Verlängerungen und Verkürzungen und verbraucht Energie. Diese Längenveränderung ist ein Teil der Koordination, indem durch die ständig, auch vom Muskel selbst, zugehenden Reize (die unabhängig sind vom vegetativen System) eine Dauererregung hervorgerufen wird. Eine solche Dauererregung bedingt eine stete Innervation gewisser Muskeln, besonders solcher, die für die Körperhaltung wichtig sind. Diese klinisch üblicherweise auch unter dem Tonus- begriff subsumierte Tätigkeit gehört richtiger ins Gebiet der Taxis des stellung- gebenden Faktors, der durch gleichzeitige Innervation der Antagonisten eine gewisse Ruhe garantiert. Lewy meint nun: Werde das Gleichgewicht der ant- agonistischen Innervation gestört, so trete Ataxie (eventuell Tremor) auf. Falle die alterative Dauererregung ganz weg, so entstehe die cerebellare Asthenie. Erst der Verlust der muskulären tonischen Komponente rufe die völlige Ataxie hervor. Normaler- weise seien im Leben Stellung (Taxis) und Haltung (Tonus) unlösbar verknüpft.

Vergleichen wir diese Äußerungen mit den Arbeiten von Pekelharing, Riesser, Boeke, so zeigt sich, daß der Tonus der Muskulatur keine so einfache Sache ist, und daß ihm jedenfalls ganz bestimmte komplizierte Vorgänge, die alle

Vegetatives Nervensystem und psychische Störungen. . 65

in ihren Einzelheiten studiert werden müssen und können, zu grunde. liegen. Es fragt sich dann schon sehr, ob es zweckmäßig ist, den Begriff Tonus auf Vorgänge im Nerven zu übertragen, und erst recht muß man sich überlegen, ob es Sinn hat, von einem Tonus der Affekte zu reden. Die Affekte sind doch wirklich kein greif- bares und in gewissem Sinne konstantes Ding wie der Muskel. So viel kann man auch, ohne sich auf eine Diskussion einzulassen, sagen: Die Affekte stellen immer ein kompliziertes psychisches Geschehen dar, bei dem eine große Reihe von Vorstellungen, die zum allergrößten Teil auch innerlich nicht in Worte gefaßt werden, eine Rolle spielen, Vorstellungen, die bei jedem Affekt anders zusammen- gestellt sind. Niemals kann man zwei Affekte vergleichen, wie man zwei Muskeln vergleichen kann, und wenn man von der Gleichheit zweier Affekte bei zwei verschie- denen gesunden Personen spricht, so ist diese „Gleichheit“ eine ganz andere als die Gleichheit des Irismuskels oder des Biceps bei zwei gesunden Personen.

Auch derjenige, der nicht zugeben will, daß alle Affekte schließlich auf den Schmerzsinn, respektive die Organgefühle als letzten Kern zurückgeführt werden können, an den sich alle anderen Empfindungen und Vorstellungen ankrystallisieren, wird nicht bestreiten können, daß bei allen menschlichen Affekten je kultivierter der Mensch ist, desto mehr und desto komplizierter Vorstellungen in großer Menge und stets anderer Zusammensetzung beteiligt sind. Man braucht ja nur z.B. den Affekt des Mißtrauens bei verschiedenen Personen bei Gesunden und Kranken zu analysieren, wie ich? das 1907 auf dem Internationalen Kongreß für Psychiatrie in Amsterdam im Anschluß an Bleulers Schrift: Affektivität, Suggestibilität, Paranoia, Karl Marhold, Halle 1906, getan habe, um klar zu sehen, wie komplizierte Vor- stellungsgruppen jeweils in einem Affekt enthalten sind, den wir trotz seiner ` verschiedenen Zusammensetzung immer mit demselben Wort Mißtrauen bezeichnen, weil bestimmte Vorstellungsgruppen die Beziehungen des Ich zur Außenwelt in gleicher Richtung verlaufen.

Gewiß, wenn wir von Angst, Erwartung, Mißtrauen, Liebe u. s. w. sprechen, können wir uns verständigen. Wir erhalten ein Bild, worum es sich handelt. Aber es ist doch nur ein sehr oberflächliches Bild. Wollen wir genauer wissen, welche Affekte den betreffenden Menschen bewegen und wenn es sich um eine psychiatrische Beurteilung handelt, ist das unbedingt erforderlich —, müssen wir die Vorstellungsgruppen, die in diesen Affekten enthalten sind, so weitgehend wie mög- lich analysieren. Und wie sollte es uns in der Analyse der Affekte weiterbringen, wenn wir diese vergleichen mit dem Tonus, dem lediglich ganz bestimmte kompli- zierte chemische und physikalische Gesetze zu grunde liegen?

Halten wir uns an die Forderung, die Affekte jeweils genau zu analysieren, so zeigt sich besonders deutlich, daß es nur ein Vergleich ist, wenn manche Autoren, die von der tonisierenden Wirkung gewisser pharmakologisch wirksamen Substanzen sprechen und dann die Wirkung auf den „Tonus“ des vegetativen Systems in Parallele setzen zu der Wirkung auf den psychischen Tonus. Gegen einen solchen .Vergleich wäre ja nichts einzuwenden, wenn durch ihn irgend etwas gewonnen würde. Wir wollen untersuchen, ob dies der Fall ist. Fischer? meint, daß der „psychische Tonus“ eng verknüpft sei mit dem Tonus des peripheren, vegetativen Nervensystems. Er schreibt: „Das innersekretorische Hormon ist Tonusregulator für den vegetativen Tonus und für das Affektleben, für psychische und psychomotorische Äußerungsformen. Dabei sind die psychologischen Bedingungen, unter denen psychische Impulse an bestimmten Anteilen des innersekretorischen Systems an- greifen, nicht wahllos, sondern bis zu einem bestimmten Grade specifisch. Ebenso

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 5

66 Edm. Forster.

wie umgekehrt die Hormone der Affektäußerung eine bestimmte Färbung geben.“ Fischer? glaubt, daß das Beispiel der Nebenniere diesen Zusammenhang besonders klar zeige. Im Tierexperiment trete nach den Untersuchungen von Cannon und anderen bei psychischer Erregung eine vermehrte Adrenalinabgabe auf. Anderseits fallen nach Nebennierenexstirpation die den Affekt auf körperlichem Gebiete be- gleitenden Reizerscheinungen aus, weshalb man diese als Nebennierenwirkung auf- gefaßt hat. Gleichzeitig damit ist aber auch die psychische Affektäußerung, die Agressivität, Wildheit und Bissigkeit der Tiere herabgesetzt (Biedl). Demnach wirkt also einerseits der Affekt funktionssteigernd auf die Nebennieren, und anderseits läßt die affektive Ansprechbarkeit des Tieres bei Nebennierenausfall nach. Nun sind die Arbeiten Cannons und seines Mitarbeiters De la Paz gewiß sehr interessant, neu daran ist aber nur, daß die Wirkung der Affekte auf die körperlichen Organe, die wir schon lange kannten und von denen wir wußten, daß sie durch das vegetative System übermittelt werden, einhergehen und gefördert werden mit einer verstärkten Adrenalinabgabe. Wenn Cannon eine Gegensätzlichkeit zwischen Sympathicus und Parasympathicus findet und glaubt, diese am besten charakterisieren zu können, indem er das parasympathische System das anabolische und das sympathische das katabolische nennt, das erstere das aufbauende, das Reserven aufspeichernde, das letztere das Reserven abgebende und dann die Affektwirkung mit den Wirkungen des Krieges vergleicht, bei denen die Künste und Gewerbe, die den Reichtum und die Zufriedenheit im Frieden gebracht haben, vernachlässigt werden müssen, damit mit aller Energie die Reserven bereitgestellt werden können, um in den Streit ge- worfen zu werden, so ist ja ein solcher Vergleich sehr schön, er bringt aber keinerlei neue Erkenntnis und rechtfertigt nicht die Schlußfolgerungen Fischers. Fischer geht aber noch weiter. Nicht nur dem Nebennierenextrakt, auch anderen Drüsen- inkreten schreibt er eine Wirkung auf die sog. „Affektspannung“ zu. So wirke der Ausfall der Epithelkörperchen steigernd auf die Affektspannung, weiter stehe die Pankreasfunktion in Beziehung zum Affekttonus, sie stehe in einem gewissen Antagonismus zur Nebennierenfunktion im Zuckerstoffwechsel. Dämpfung und positive Färbung des Effektes beobachte man während der Verdauung. Fischer spricht auch von der Erotisierung durch die Geschlechtsdrüse. Diese Erotisierung sei keine unmittelbare Wirkung der Geschlechtsdrüse auf das Centralnervensystem, sie gehe durch Vermittlung anderer innerer sekretorischer Apparate, die zu den biologischen Einrichtungen für die Äußerungsformen des Affektlebens gehören. Man könne die innersekretorischen Funktionen nicht zu dem komplexen Affekt- leben in Beziehung setzen, sondern nur zu seinen einzelnen Komponenten, so zur Affektspannung und Affektfärbung. Die Bedeutung der Nebenniere an diesen Vor- gängen zeige sich an den Erscheinungen der Brunst, bei der wir eine Hyperplasie der Nebennieren und gleichzeitig gesteigerte Agressivität und Reizbarkeit der Tiere finden. Während diese Drüse auf die Affektspannung wirke, sei der bekannteste Affektlärber das erotisierende Geschlechtsdrüsenhormon. Die durch Hormone hervor- gerufenen Spannungsanomalien schwanken zwischen Affektschlaffheit über die Labilität bis zur Höchstspannung der epileptischen Explosivität. Die Färbungs- äußerungen schwanken von depressiver Schwermut über den ungefärbten Gleich- mut bis zur Euphorie des Manischen.

Wenn man diese Einteilung in Spannung und Färbung sowie die Abhängig- keit beider jeweils von gewissen Hormonen liest, mag das auf den ersten Eindruck etwas Bestechendes haben. Dringen wir aber tiefer ein und bemühen wir uns, die Dinge möglichst unvoreingenommen zu betrachten und nicht, bestrickt durch theo-

Vegetatives Nervensystem und psychische Störungen. 67

retische Erwägungen, den Respekt vor den Tatsachen zu verlieren, so erkennen wir, daß durch eine solche Einteilung nichts gewonnen wird. Was heißt z. B.: Dämpfung und positive Färbung des Affektes beobachtet man während der Verdauung? Aber das ist doch nichts anderes als die allgemeine Erfahrung, die ich auch schon vor vielen Jahren meiner Affekttheorie zu grunde gelegt habe, daß wir Lustgefühl empfinden, wenn eine unangenehme Empfindung, Schmerz, resp. Organgefühle, beseitigt wird. In diesem Falle also das Hungergefühl. Habe ich zuviel gegessen oder war das Genossene schlecht, so hört das Lustgefühl auf, Muß ich gleich nach einem guten Diner angestrengt arbeiten, während ich lieber eine gute Zigarre rauchen möchte, so ist das Lustgefühl schon kein reines mehr, und kommt ja etwas Neues hinzu, eine Auseinandersetzung mit dem Kellner, eine unerwartete Nachricht, so wird der sich an die Lustempfindung anschließende Vorstellungskomplex (der natürlich auch innerlich nicht in Worte gefaßt wird) ein derartiger, daß trotz gut von statten gehender Verdauung kaum mehr von einer positiven Färbung des Affektes gesprochen werden kann. Und was nützen die paar Stichworte: Affektschlaffheit Labilität Höchstspannung einerseits und depressive Schwermut ungefärbter Gleichmut Euphorie des Manischen anderseits? Das alles muß doch genau analysiert werden. Es gibt leicht erregbare Personen, die infolge guter Erziehung und starken Willens ihre Neigung zu affektiven Explosionen derartig beherrschen können, daß sie als ein Typus der „Affektschlaffheit“ gelten. Wie verschieden setzt sich die Labilität des Affektes zusammen, vom übersättigten Normalen bis zum Debilen zum fahrigen Psychopathen oder leicht Manischen u. s. w. und was heißt „Höchstspannung“? Warum der Epileptiker und nicht der geistig hochstehende, entrüstete Kämpfer, der gegen Ungerechtigkeit, gegen Gewalt und Betrug auftritt? Und erst die „Schwermut“! Der ängstliche Depressive, der Krankheit fürchtet, der Melancholische, der sich für schlecht hält, der nichts leisten zu können glaubt, der seine Familie ins Unglück zu bringen fürchtet in Schande und Hunger und aus diesem Grunde erfüllt ist von Gedanken an Selbstmord, welcher Unterschied in den Vorstellungen, die diese Affekte zusammensetzen! In allen diesen Fällen erweisen sich trotzdem die Hand- lungen klar motiviert aus den Vorstellungen, aus denen die Affekte sich zusammen- setzen, man muß sie nur in ihre Einzelkomponenten zerlegen, um dies zu sehen. Wo bleibt aber das einfache Verhältnis zwischen Hormonen und Färbung und Spannung, wenn man diese Zerlegung vornimmt?

Mit den von Fischer angeführten Tierexperimenten ist ebenfalls nicht viel anzufangen. Wenn nach der Nebennierenexstirpation die Tiere weniger wild und bissig sind, so gibt uns das kein Recht, von einer specifischen Beziehung zu den Affekten zu sprechen. Ganz abgesehen davon, daß diese Affektveränderung bei den Tieren nicht so durchsichtig ist, daß wir sie mit den menschlichen Affektäußerungen vergleichen könnten, können wir bei rein empirischer Betrachtung hierbei auch auf eine allgemeine Intoxikationswirkung schließen. Nach Opiumgaben wird die Wildheit auch geringer. Auch die Verhältnisse bei der Brunst liegen ganz anders. Wir können keinesfalls sagen, daß die in der Brunst wirksamen Hormone die dann entstehende Affektivität direkt hervorrufen. Es ist eine in der Natur der Sache liegende, immer wieder zu beobachtende Tatsache, daß das Bewußtsein, bestimmte körperliche Eigen- schaften zu besitzen, dazu anregt, diese anzuwenden und zu vervollkommnen. Das gilt für das Sehen, für das Hören so gut wie für den Muskelapparat und auch für die Sexualität. Bei der menschlichen Pubertät sind die Verhältnisse psychologisch natürlich besser zu verstehen als bei der tierischen Brunst. Hier ist deutlich zu erkennen, wie die sexuelle Reife (die Wirksamkeit sexueller Hormone) bestimmte,

68 | Edm. Forster.

zunächst unverstandene Organgefühle schafft, die eine komplizierte Gedankentätigkeit anregen, die je nach dem Vorstellungsinhalt des betreffenden Menschen ganz ver- schieden ausfällt und je nach der Persönlichkeit in einem Falle zu rücksichtsloser Befriedigung der sexuellen Bedürfnisse führt, in anderem Falle erst nach vielen Weltschmerzgedanken und Überwindungen von Hemmungen zu sexueller Betätigung Veranlassung gibt. Es besteht nicht der geringste Grund anzunehmen, daß die Absonderung eines Inkrets diese Reaktionsweise direkt verursacht, indem etwa dies Inkret im Hirn vorhandene Apparate direkt zur Tätigkeit veranlaßt. Die geschilderten Reaktionsweisen sind vielmehr abhängig von komplizierten psychischen Vorgängen, die ausgelöst werden als Reaktion auf körperliche Empfindungen.

Auch die allgemein biologischen und pathologischen Verhältnisse illustrieren deutlich, daß wir nicht weiter kommen, wenn wir den Hormonen derartige speci- fische psychische Wirkungen zuschreiben.

Zunächst müßte man erwarten, falls eine solche specifische Wirkung bestünde, daß ganz eindeutige Beziehungen zwischen Körperform und bestimmten effektiven Reaktionsweisen, bestimmten Temperamenten, bestünden, denn die verschiedensten Hormone und unter ihnen nicht zuletzt die Geschlechtshormone üben ja zweifellos einen bestimmenden Einfluß auf die Körperform aus. Solche eindeutige Beziehungen sind aber bisher nicht nachgewiesen oder wahrscheinlich gemacht worden.

Gewiß, schon seit langer Zeit und schon oft sind die Beziehungen zwischen Charakter und Körperform der Gegenstand eingehender Untersuchung gewesen. Die Autoren, die geglaubt haben, feste Beziehungen zwischen bestimmten seelischen Eigenschaften und bestimmten körperlichen Besonderheiten nachweisen zu können, ‚haben besonders beim gebildeten Laienpublikum großen Beifall und weitestgehende Würdigung erfahren. Es ist dies auch leicht verständlich, wenn man daran denkt, wie sehr dies Thema allgemein interessiert, und wenn man liest, wie die bekanntesten dieser Autoren den Bedürfnissen einer breiteren Masse entgegenkommen, indem sie journalistisch gewandt und anregend schreiben, ihre Allgemeinbildung ins rechte Licht zu setzen wissen und den Forderungen nach Wissenschaftlichkeit durch Tabellen, Maße, Zahlen sowie durch das Aufstellen von Thesen und Antithesen genügen, wobei der Wirksamkeit ihrer Argumente zu gute kommt, daß die meisten der Leser die Richtigkeit und Bedeutung der Zahlen und Tabellen nicht beurteilen können. Trotz der großen Verbreitung und der in weite Kreise getragenen Dis- kussion, die durch sie angeregt wurde, haben sich die bisher aufgestellten Thesen aber als falsch erwiesen und das bleibende Verdienst dieser Arbeiten beschränkt sich im wesentlichen auf die Anregung. Das gilt nicht nur für F. J. Gall und Lombroso. Man wird Kretschmer?’ gewiß beistimmen, wenn er sagt: Das Schlimmste bei der ganzen Einteilung ist nun aber das, daß (zum Teil schon in der Namengebung mehr oder weniger implicite enthalten) ein naiver Zusammen- hang zwischen körperlichen und psychischen Eigenschaften unterlegt wird, der in seiner Einfachheit den psychiatrisch geschulten Arzt befremdlich anmutet. Es ist aber auch Kretschmer nicht gelungen, diesen Zusammenhang auf wissenschaftlich gesicherter Grundlage darzutun. Wenn man die Menschheit hauptsächlich in zwei psychische Formkreise einteilt und zwei Haupttypen von Körperformen annimmt, von denen je eine zu einem dieser psychischen Formkreise eine erhöhte Affinität zeigt, und schließlich für diejenigen Körperformen, die Elemente aus beiden in sich vereinigen, eine Mischung beider psychischen Formkreise voraussetzt, so muß die Rechnung selbstverständlich stimmen. Dann ist alles untergebracht. Einen Wert kann eine solche Einteilung aber nur haben, wenn dies strikt zu beweisen ist,

Vegetatives Nervensystem und psychische Störungen. 69

nicht wenn sie im allgemeinen zu stimmen scheint. Prozentzahlen tun es nicht und erst recht nicht ungefähre Eindrücke oder Material, das durch Ausfragen von An- gehörigen gewonnen wurde. Ganz und gar nicht können Briefe, Schriften oder künstlerische Werke längst Verstorbener auch in Verbindung mit mehr oder weniger authentischen oder ähnlichen Porträts und Lebensbeschreibungen, die von Zeit- genossen unter bestimmten Gesichtspunkten angefertigt wurden, einen Ersatz bieten für die allein entscheidende psychiatrische Untersuchung. So wirkt verblüffend, wie Kretschmer leichtfüßig durch den Oiymp schreitet und den Oeistesheroen aller Zeiten seine Zensuren und Diagnosen an den Kopf schleudert. Es kann keine starke These sein, die sich auf solches Material stüzt, aber ganz gewiß geben auch die Ausführungen Kretschmers keinerlei Anhaltspunkt für eine Funktion der Hormone im Sinne Fischers.

Nun die pathologischen Verhältnisse.

Auch bei vorwiegender Erkrankung einer innersekretorischen Drüse finden wir keine eindeutige psychische Abänderung, auch nicht eine eindeutige Temperaments- änderung, die eine Rubrizierung in veränderte Spannung oder veränderte Färbung zuließe. Betrachten wir z.B. die Basedowsche Krankheit. Es bedarf wohl keiner weiteren Ausführung, daß wir hier nicht eine specifische psychische Anomalie vorfinden, die typisch gerade für die Erkrankung der Thyreoidea wäre und als eine specifische Hormon- wirkung resp. Erkrankung des vegetativen Systems aufgefaßt werden könnte. In dem 9. Band des Handbuches der gesamten Augenheilkunde von Graefe-Sämisch hat H. Sattler® unter ungemein sorgfältiger Bearbeitung der Literatur diese Krankheit ausführlich behandelt. Er widmet auch den Veränderungen im Seelenleben einen breiten Platz. Er kommt zu der Schlußfolgerung?”, daß die so häufig bei diesen Kranken vorkommende seelische Veränderung (die hauptsächlich in ungewöhnlicher Reizbarkeit, Erregtheit und Ruhelosigkeit mit Anfällen von Ängstzuständen bestehe) in den meisten Fällen ein ganz bestimmtes Gepräge darbiete, das für den Morbus Basedowii geradezu als symptomatisch bezeichnet werden könnte, daß ferner die ausgesprocheneren Grade dieser Störung von den leichtesten Formen des manisch- depressiven Irrseins nicht scharf zu trennen seien und daß endlich die am häufigsten vorkommende Form der psychischen Erkrankung bei Morbus Bassedowii gerade diejenige sei, welche den Stempel der Aufregung, Ideenflucht, des Bewegungs- dranges oder der ängstlichen Verstimmung und Hemmung an sich trage, die reine Manie, die verschiedenen Zustandsbilder des manisch-depressiven Irrseins und die Melancholie, letztere hauptsächlich im vorgerückten Alter. Als Psychiater wird man auch nach dem von Sattler beigebrachten Material nicht zu der gleichen Ansicht kommen können. Schon die Einteilung ist eine nicht-psychiatrische, die Hysterie wird als die häufigste Komplikation mit anderen nervösen Erkrankungen besprochen, gleich nach der Paralyse und der Tabes und vor der Neurasthenie und traumati- scher Neurose. Erst darnach kommt das Kapitel Veränderungen im Seelenleben, in dem die Beziehungen zur Dementia praecox, zum Zwangsirrsein, halluzinatorische Paranoia, Alkoholirrsein, akute Verwirrtheit, Delirium acutum und Intoxikationsirr- sein thyreogenen Ursprungs ihren Platz finden. Als Psychiater wird man scharf trennen müssen was zufällige Komplikation, was ursächlich durch die Basedow- Krankheit bedingt und was psychische Reaktion auf die körperliche Krankheit ist. Da wird man, worauf später noch näher eingegangen werden muB, finden, daß die von Sattler geschilderte Unruhe und Erregtheit im wesentlichen nur die häufigste Reaktionsweise auf die Erkrankung des Körpers darstellt. Immerhin ist bemerkenswert, daß auch Sattler sagt, es gibt keine specifische Basedowsche Psychose,

70 Edm. Forster.

und daß er nichts von einer direkten Beeinflussung der Psyche erwähnt, sondern annimmt, daß dieselbe Noxe, welche die verschiedenen Symptome der Basedow- schen Krankheit hervorruft, auch die den seelischen Funktionen vorstehenden Teile der Hirnrinde treffe und sie in mehr oder weniger hohem Grade schädige. Er nimmt also an, daß die psychischen Störungen indirekt durch die Hormonwirkung hervorgerufen werden, u. zw. dadurch, daß diese eine Hirnrindenschädigung be- dingt. Dasselbe müssen wir ja für die psychischen Störungen bei Myxödem und bei Kretinismus nach den heutigen Stande unserer Kenntnisse als sicher annehmen. Betrachten wir andere Krankheiten, bei denen eine endokrine Drüse vorwiegend geschädigt ist, so kommen wir zu dem gleichen Resultat. Weder die Akromegalie noch die Addisonsche Krankheit, weder die Fettsucht noch die Zuckerkrankheit, weder die männlichen Kastraten noch die ovariotomierten Frauen zeigen charak- teristische, für den Ausfall jeder Drüse specifische psychische Veränderungen, die die Theorie der Affektspannung und -färbung stützen könnten. Diese Erfahrungen sind so allgemein, daß es nicht nötig ist, darauf näher einzugehen. Selbstverständlich ist es möglich, aus dem Erhaltensein von nichterkrankten endokrinen Drüsen Theorien abzuleiten, die diese Erfahrungen mit der hormonalen Affektspannung in Einklang zu bringen geeignet sind. Gestützt werden kann die Theorie durch das psychische Verhalten dieser Kranken nicht. Fischer selbst gibt ja auch zu, daß es keine psychischen Störungen gibt, die für eine bestimmte Drüse charakteristisch wären. Aber auch sein psychischer Tonus und dessen Abhängigkeit von Hormonwirkungen läßt sich durch die Analyse dieser Fälle nicht verständlich machen. Wenn wir alle Theorien und alle Gelehrtheit weglassen, so finden wir, daß der Behauptung, die Hormone seien von Bedeutung für die Affektspannung und Affektfärbung, eigentlich nur die Beobachtung zu grunde liegt, daß die an endokrinen Störungen leidenden Patienten an bestimmten Zeichen der Affektlabilität leiden und daß vor der Pubertät der Geschlechtstrieb fehlt, ebenso wie oft (allerdings nicht immer) bei Kastraten. Auch wenn man annimmt, daß dies richtig ist, so wird dies nicht erklärt durch die Theorie der Affektspannung und Färbung.

In einer schönen Arbeit über Eunuchoidismus3, in der er mehr Wert auf die Berücksichtigung der Tatsachen als auf die Aufstellung von Theorien legt, hat Fischer neuerdings gezeigt, welche Bedeutung die endokrinen Störungen für die psychiatrische und neurologische Forschung haben, wenn eine präzise naturwissenschaftliche Frage- stellung erfolgt und das Operieren mit verschwommenen Begriffen, wie Affektonus, vermieden wird.

Wäre die Affektfärbung direkt abhängig von einer Drüse, so müßte man erwarten, daß eine typische psychische Reaktion bei Sympathicusreizung oder -erkrankung und die entgegengesetzte bei Vagusreizung oder -erkrankung wahrnehmbar sei, voraus- gesetzt, daß die von Eppinger und Heß’ eingeführte Zweiteilung in Vagotonie und Sympathicotonie stimmt. Nun haben wir aber schon einen specifischen psychi- schen Symptomenkomplex nicht finden können und erst recht keinen, der in ent- gegengesetzten Phasen verläuft und den man je nach Vagus- und Sympathicus- erkrankung als positiv oder negativ bezeichnen könnte. Von nichtpsychiatrischer Seite ist allerdings nicht selten der Versuch gemacht worden, psychische Störungen aus Schädigungen endokriner Drüsen zu erklären und unter dem Einfluß von Eppinger und Heß eine Gegensätzlichkeit im psychischen Verhalten der Vago- toniker und Sympathicotoniker nachzuweisen. Dem Psychiater wird es hierbei erstaunlich erscheinen, wie geringe psychiatrische Kenntnisse und welch geringe eigene Erfahrungen den betreffenden Autoren manchmal ausreichend erscheinen,

Vegetatives Nervensystem und psychische Störungen. 71 "eem `.

nicht nur um ihre eigenen Ansichten zu begründen, sondern auch um neue Theorien zur Förderung der psychiatrischen Erkenntnis aufzustellen. Einer der Schlimmsten auf diesem Gebiet war ja Bossi in Genua. Als Beispiel für die geradezu un- verständlichen Entgleisungen möchte, ich J. Bauer erwähnen, der in seinem dicken Buch: „Die konstitutionelle Disposition zu fnneren Krankheiten«?, den psychischen Störungen viele Seiten widmet. Dabei schreibt er: „Die katatone Reaktionsform wäre durch die wohl größtenteils durch Eigenbeobachtung eruierbare Neigung zu gewissen Stereotypien, Pedanterien, Perseverationen, Negativismen und Bizar- rerien gekennzeichnet. So kann der eine nicht lernen, wenn er nicht eine Steck- nadel oder einen Bleistift in der Hand wirbelt (einer meiner Bekannten schnitzte sich ausschließlich für diesen Zweck lange Holzstäbchen), ein anderer kann es nicht, wenn die Bücher nicht streng parallel zum Schreibtischrand gelegt sind.“ In dieser Weise geht die Psychiatrie weiter, und Bauer warnt dann auch davor, den exogenen psychischen Reaktionstypus Bonhoeffers mit den psychopathischen Konstitutionen Ziehens zu verwechseln. Gewiß, man soll Braustübl nicht mit Brustübel verwechseln. Bauer wird nicht verlangen dürfen, daß in psychiatrischen Kreisen seine Ansichten über die Beziehungen von endokrinen Störungen und psychischen Symptomen Beachtung finden, wenn sie sich auf solche Kenntnisse aufbauen. Unverständlich bleibt allerdings, daß diese Ausführungen, die im Verlage von Springer gedruckt wurden, in der im gleichen Verlag erscheinenden Zeitschrift für die gesamte Neu- rologie und Psychiatrie unter „Ergebnisse“ abgedruckt wurden, vielleicht eine Folge der suggestiven Wirkung, die dicke Bücher ja nicht selten ausüben. Das Fehlen einer genügenden Kenntnis der leichten Formen echter Psychosen, leichter Formen der Depression, beginnender Schizophrenien, Zwangsvorstellungen, die auf dem Boden solcher Psychosen entstehen, paranoider Zustände u.s. w. macht sich auch sonst häufig in der Literatur bemerkbar, besonders wenn psychische Besonderheiten bei an endokrinen Störungen leidenden Patienten, die nicht zu echten Psychosen geführt haben, geschildert und erklärt werden. Dazu kommt, daß das Wesen der hysterischen Reaktion oft völlig verkannt wird, und die infolge einer Zweckreaktion falschen Angaben, z. B. bei einer Sensibilitätsprüfung, verwertet werden, um eine körperlich bedingte Schädigung der Sensibilität zu postulieren. Auch wenn gewisse psychische Zustandsbilder treffend geschildert werden, wird man durch den Autor nicht überzeugt, daß der behauptete Zusammenhang mit den Störungen der inneren Sekretion vorliegt. So sagt z. B. Wiesel: „Es werde sehr häufig übersehen, daß die Pubertätstachykardie, die Neigung zu Schweißen, vasomotorische Stö- rungen aller Art, Diarrhöen, auch psychische Erscheinungen, wie Erregungszustände, Sprunghaftigkeit des Wesens, Stimmungswechsel u. dgl., auch dann thyreoidealer Genese sein könnten, wenn auch eine eigentliche Vergrößerung der Schilddrüse nicht nachweisbar sei.“ Die zuerst erwähnten körperlichen Symptome sind nun zweifellos sympathischer Genese und man wird gern zugeben, daß diese thyreo- idealen Ursprungs sind. Die psychischen Symptome aber, die so allgemein ge- schildert sind, daß eine Beurteilung gar nicht möglich ist und daß man vermuten muß, es wird lediglich eine Reaktionsweise auf unangenehme körperliche Reize geschildert, bieten nicht den geringsten Anhaltspunkt gerade für eine Erkrankung des Sympathicus oder der Thyreoidea. Man möchte sagen, Zahnschmerzen oder Plattfüße können dasselbe psychische Bild hervorrufen. Und man wird gewiß nicht davon reden können, daß man aus diesem psychischen Verhalten eine Gegensätz- lichkeit gegenüber dem Myxödem feststellen muß. Es wird zugegeben werden können, daß es Fälle gibt, bei denen eine Prüfung des Energiestoffwechsels Anhaltspunkte

72 Edm. Forster.

dafür bietet, daß eine Hypothyreose vorliegt, obwohl eine handgreifliche Verkleine- rung der Schilddrüse nicht nachgewiesen werden kann. Wenn man solche Fälle aber, wie Wiesel will, vor allem aus den psychischen Symptomen als Hypothyreose diagnostiziert, so zieht man seine Schlüsse nicht aus genau umschreibbaren Einzel- beobachtungen, sondern nur aus einem verschwommenen Ällgemeineindruck. Wie wenig eine derartige psychiatrische Diagnostik den psychiatrischen Erfahrungen Rechnung trägt, illustriert Wiesel durch folgende Sätze: „Bei dieser Gelegenheit will ich der Pubertätskopfschmerzen gedenken, die so vielfach auf Blutarmut, Chlorose u. dgl. zurückgeführt werden, aber gerade bei dem in Rede stehenden Symptomenkomplex vorzukommen pflegen und durch eine dahin gerichtete Therapie, in diesem Falle Zufuhr von Schilddrüse, leicht zu beheben sind“ und „Auch hier will ich an jene nicht allzu seltenen Fälle erinnern, wo das meistens verfrühte Auf- treten der Menstruation aber auch ohne dieses eine besonders starke Adynamie geistiger und körperlicher Art das Bild beherrscht, bei Fehlen sonstiger Chlorose- symptome. Diese Form der Adynamie, welche sich klinisch wohl von der hyper- thyreoidalen scheiden läßt, erinnert außerordentlich an jene bei Morbus Addisonii«. Welcher Psychiater erinnert sich hier nicht an die bekannte, besonders von Bon- hoeffer immer wieder mit Recht betonte Tatsache, daß jugendliche Depressive außerordentlich oft für blutarm, chlorotisch erklärt und demgemäß falsch behandelt werden!

Ganz besonders deutlich sehen wir den Mangel psychiatrisch geschulten Denkens, wenn Wiesel mißbilligt, daß die endokrinen Störungen nicht richtig bewertet werden, und sagt: „Manche von diesen Symptomen, besonders jene mehr psychischen, werden Charakterveränderungen der Kinder, Einflüssen von außen zur Last geschrieben, bzw. dort, wo sich somatische Zeichen finden, dieselben falsch . gedeutet.“ Erst schildert Wiesel Charakterveränderungen, und dann sollen es keine sein! Es ist ja gerade unsere Aufgabe zu untersuchen, ob und wie die Charakter- veränderungen, die psychischen Symptome mit den endokrinen Störungen zusammen- hängen. Um das beurteilen zu können, müssen wir aber nicht nur die Persönlich- keit des Patienten und die Wirkungen der äußeren Einflüsse, des Milieus, kennen, sondern auch die in Frage kommenden psychischen Krankheitsbilder beurteilen können. Durch Behauptungen wie die Wiesels wird nicht im geringsten bewiesen, daß ein direkter Zusammenhang zwischen Hormonen und psychischer Reaktion besteht. Gerade das Beispiel des Myxödems weist doch darauf hin, daß der Zusammen- hang zunächst in der Richtung gesucht werden müßte, ob nicht die endokrine Störung eine Hirnrindenschädigung hervorruft, die ihrerseits erst die psychischen Anomalien bedingt, oder ob nur eine psychische Reaktion auf die körperliche Krank- heit oder sogar nur eine zufällige Kombination mit einer ganz unabhängigen, mehr oder weniger ausgesprochenen Psychose besteht.

Eine solche Unterscheidung schwebt sicher Lichtwitz!! vor, wenn er die Be- ziehungen der Fettsucht zur Psyche in drei Gruppen einteilt: Gruppe 1. „Die seelische Umstimmung, die Charakterveränderung, ist die Folge der Adipositas; schwache Naturen schränken, wenn ihnen ihr Gewicht zur Last wird, die Bewe- gungen ein, damit ihr Handeln und schließlich auch ihr Wollen. Taubheit, Schlapp- heit, Verflachung des Gefühlslebens sind die Folgen.“ Hier finden wir also eine der Persönlichkeit entsprechende (an sich als normal zu bezeichnende) Reaktions- weise auf die körperliche Krankheit geschildert. Gruppe 2. „Trägheit des Geistes- und Gefühlslebens als Bedingungen der Adipositas ist ein Zusammenhang, wie er dem Urteil des Laien oft genug als gegeben erscheint. Wenn die Analyse dieser

Vegetatives Nervensystem und psychische Störungen. 73

seelischen Verfassung eine Grundlage nicht ergibt, so liegt das an der Unzuläng- lichkeit unserer Erkenntnis und unserer Methoden.“ Gruppe 3. „Parallele Wirkung auf den Stoffwechsel und das Seelenleben. Hierher gehören die meisten Fälle endogener Adipositas.“ Man wird deshalb aber keine direkte Hormonwirkung als Ursache der psychischen Veränderungen annehmen dürfen und auch keinen Änhalts- punkt für eine solche Vermutung in Lichtwitz’ Ausführungen finden. Dagegen wird, wie wir später bei der Betrachtung der Encephalitisfälle noch sehen werden, ein solches Parallelgehen erklärt durch eine Erkrankung im Zwischenhirn, die einer- seits zu Störungen im Gebiete der Motilität, zu verlangsamtem Handeln, anderseits zu Fettsucht führt. In solchen Fällen besteht dann allerdings zunächst keine „Träg- heit des ‚Gefühlslebens“. Sehr gut wird die häufig bei Fettsucht zu beobachtende Schlafsucht, auf die auch Brugsch'? hinweist, durch eine Zwischenhirnerkrankung verständlich.

Ein Gebiet, auf dem sehr häufig ein Zusammenhang des psychischen Ver- haltens mit dem Sympathicus einerseits und dem Vagus anderseits gesucht wurde, ist das der sog. funktionellen Neurosen. In der inneren Medizin wird als Ursache dieser Krankheitsgruppe neuerdings sehr häufig der Status thymico-Iymphaticus ange- nommen. Es wird vermutet, daß dieser Status thymico-Iymphaticus die Grundlage sei, auf der die meisten Störungen des Zusammenwirkens der Drüsen mit innerer Sekretion erwachsen. Hierbei kann das Versagen einer speziellen Drüse, z. B. der Schilddrüse, besonders in Erscheinung treten, wodurch dann ein spezielles Bild, z. B. manche Formen von Basedow, mit vasomotorischen Störungen entstehen. Da nun das Zusammenwirken der einzelnen inneren sekretorischen Drüsen ein außerordent- lich kompliziertes ist und eine Drüse immer auch wieder auf mehrfachem Wege auf die anderen Drüsen einwirkt, ist der Spekulation hier ein weites Feld gegeben. Peritz'3, der den Status thymico-Iymphaticus nicht für eine Störung der inneren Sekretion hält, sondern für eine richtige „Kümmerform“ mit Degeneration der ver- schiedenen innersekretorischen Drüsen, von denen die eine oder andere, z. B. Epithelkörperchen oder Hypophyse, mehr befallen sein könne und dann ein anderes. Bild gebe, im ersten Falle z. B. Spasmophilie, im letzteren Hochwuchs mit kurzem Rumpf und psychischem Infantilismus, wagt sich auch an die Erklärung von Psychosen. Man versteht nicht recht, warum diese Kümmerform, die doch eine Kümmerform der inneren Drüsen ist, keine eigentliche Störung der inneren Sekretion darstellen soll. Jedenfalls bringt Peritz verschiedene innersekretorische Krankheiten darin unter, besonders seine Spasmophilie und die Vagotonie von Eppinger und, Heß, aber auch die Schizophrenie. Er schreibt: „Sieht man sich aber die Abbildungen an, die Kretschmer von seinem schizophrenen Typus gibt, so sieht man, daß. auch diese Menschen den gleichen Habitus zeigen. Es handelt sich also auch hier wieder um denselben Habitus der Lymphatiker.“ ... „Für den, welcher das. Kretschmersche Buch gelesen hat, wird es überraschend sein, welche Ähnlichkeit zwischen den Charakterzügen der Spasmophilen und denen besteht, welche Kretschmer als Schizophrene schildert. Für mich war das nicht überraschend, weil ich aus vielen Untersuchungen wußte, daß die Menschen, welche an einer Schizophrenie erkranken, stets Spasmophile sind. Diese Menschen gleichen auch in ihrem Äußeren durchaus dem Typ, welchen Kretschmer als schizophrenen Typ- beschreibt. Darum ist es auch nicht verwunderlich, daß Kretschmer unter seinen Schizophrenen neben dem ihm echt erscheinenden asthenischen Typus so ver- schiedene Habitusformen findet, denn der Schizophrene ist als Spasmophiler von Haus ein Mensch mit Status thymico-Iymphaticus.“ Schade, daß wir Psychiater bisher

74 Edm. Forster.

davon nichts gemerkt haben. Es wäre interessant zu erfahren, wo Peritz seine vielen Untersuchungen an Menschen, die an Schizophrenie erkrankten (heißt das erkranken werden oder erkrankt sind?), ausgeführt hat und wer die psychiatrische Diagnose stellte. Für Kretschmer wird es jedenfalls sehr interessant sein zu sehen, was man aus seinen Abbildungen alles herauslesen kann. Durch solche Betrachtungen wird aber weder die direkte Hormonwirkung auf die Psyche, noch eine Gegensätzlich- keit im psychischen Verhalten bei Vagotonie und Sympathicotonie bewiesen. Ebenso- wenig wie durch die Schlußausführungen des gleichen Verfassers, in denen dieser die Meinung ausspricht, daß die Inkrete der Schilddrüse und Nebenschilddrüse den größten Einfluß auf den psychischen Reaktionsablauf, auf die Termperamente, haben, erst in zweiter Linie die Hormone der Keimdrüsen, die viel stärker auf unseren Willen wirken. | |

Wir haben bisher hauptsächlich die Drüsenerkrankungen betrachtet. Die Er- krankungen des vegetativen Systems, bei denen Gefäßstörungen im Vordergrunde stehen, bieten kein anderes Bild. Die große Gruppe der vasomotorisch trophischen Neurosen liefert keinen Anhaltspunkt für direkte Hormonwirkung auf die Psyche. Daran, daß diese Gruppe von Erkrankungen auf eine Störung im Sympathicus zurückzuführen ist, ist nicht zu zweifeln. Die Möglichkeit, daß eine innersekretorische Ursache, also eine Hormonwirkung, für die Entstehung dieser Sympathicusstörungen angenommen werden muß, kann nicht bestritten werden. Jedenfalls besteht eine centrale Ursache, denn der ganze Prozeß dieser Erkrankungen, der Sklerodermie, der Raynaudschen Krankheit, des Quinckeschen Ödems, der angiospatischen Zu- stände, die sich mit der Zeit am ganzen Körper bemerkbar machen und die bei geeigneten Untersuchungsmethoden, wie O. Mülier gezeigt hat, schon frühzeitig eine Erkrankung anscheinend gesunder Partien erkennen lassen, ist nur bei einer solchen Annahme verständlich. Trotzdem finden wir keine für diese Erkrankungs- gruppen typischen psychischen Veränderungen, die etwa auf eine psychische Hormon- wirkung zurückgeführt werden könnten. Es ist zwar öfters versucht worden, die die Angina pectoris begleitende Angst als ein direktes Sympathicussymptom hinzu- stellen. Es wurde dabei aber nicht die Frage berücksichtigt, inwieweit diese Angst- reaktion als eine psychisch normale Reaktion auf körperliche Zustände aufgefaßt werden muß. Die Betrachtung dieser Gruppe von Erkrankungen zeigt besonders deutlich, daß die Wagebalkentheorie von Eppinger und Heß nicht haltbar ist. Cassirer nennt sie denn auch schon 1912 in seinem Buche „gescheitert“, nachdem Lewandowsky sie schon vorher abgelehnt hatte. Wenn auch die Frage der Gefäß- dilatatoren und ihrer Innervation durch den Vagus respektive Parasympathicus noch nicht endgültig geklärt ist, so ist jedenfalls doch soviel sicher, daß die Gefäß- - constrictoren unter der Herrschaft des Sympathicus stehen. Bei diesen Erkrankungen findet man keineswegs ein einheitliches Bild weder im Sinne einer Vagotonie noch Sympathicotonie. Die Wagebalkentheorie wird jetzt auch von den inneren Medizinern allgemein aufgegeben, wie sowohl aus den letzten Arbeiten von Bertha Aschner'* und Büscher 5 als auch aus den zusammenfassenden Arbeiten von Dresel und F.H.Levy zur Genüge hervorgeht. Letzterer Autor nimmt an, daß innerhalb des Centralnervensystems Zellen für Vagus und Sympathicus eng vermischt beieinander- liegen und daß innerhalb der dorsalen Vaguskernsäule, die in ihrer Totalität als Vagussystem anzusehen ist, neben den größeren Vaguszellen von mehr motorischem Typ auch kleinere Ursprungszellen sympathischer Fasern liegen. Brüning!‘ gibt als Erklärung für die Tatsache, daß sowohl Sympathektomie des Halssympathicus (Francois Franc, Jonesco, Brüning) als Vagusdurchschneidung (Eppinger und

Vegetatives Nervensystem und psychische Störungen. 75

Hofer auf Anregung Wenckebachs) bei Angina pectoris einen therapeuthischen Erfolg erzielten, an, daß der von letzteren Autoren durchschnittene Vagusast, der Nervus depressor, eine große Menge von Sympathicusfasern erhalte. Bei einer solchen Sachlage wird man natürlich nicht erwarten können, daß ein pathologischer Prozeß, z. B. eine Entzündung oder eine Blutung, sich nur Fasern oder Zellen des einen Nerven aussucht, und man wird sich nicht wundern dürfen, daß bei den tatsächlich vorliegenden Krankheitsprozessen, die zu Erkrankungen des vegetativen Systems führen und über die Büscher in seiner vorhin erwähnten Arbeit eine schöne Übersicht gegeben hat, beide Nerven befallen sind. Das Vorkommen einer reinen Systemerkrankung entweder des Vagus oder des Sympathicus ist bisher noch nicht bewiesen. Es ist auch sehr unwahrscheinlich, daß es eine solche gibt, da sich immer wieder gezeigt hat, daß Erkrankungen des Nervensystems, die früher als System- erkrankungen aufgefaßt wurden, keine sind, sobald unsere besseren Untersuchungs- methoden die pathologische Anatomie und Ätiologie aufgeklärt haben. Die Be- trachtung dieser Fälle liefert also ebenfalls keinen Anhaltspunkt für ein vom Sym- pathicus oder Vagus abhängiges typisches psychisches Bild. Es bleibt nunmehr noch übrig zu untersuchen, ob die Erkrankungen, die die centralen Ursprungs- gebiete des vegetativen Systems befallen, zu einer anderen Auffassung führen.

In der Nähe der vorderen Centralwindung ist, wie auch die Kriegserfahrungen gezeigt haben und worauf ich in meinem Referate 1918 hingewiesen habe, ein die Vasomotoren beeinflussendes Centrum anzunehmen. Es liegt aber keine Veranlassung vor und es ist auch nie behauptet worden, daß deshalb in dieser Gegend eine besondere psychische Lokalisation etwa der Affekte anzunehmen sei oder daß die Erkrankung dieser Gegend specifische Affektstörungen hervorrufe. Ich selbst habe zwar erwähnt, daß bei Hirnverletzten, die keine epileptischen Krampfzustände, wohl aber starke vasomotorische Erregbarkeit hatten, gesteigerte Reizbarkeit und Ver- stimmungen auftreten, und ich habe angenommen, daß es deshalb naheliege, diese Verstimmungen in irgend einen Zusammenhang zu bringen mit Hirnrindenschädi- gungen in den Gegenden, die mit der Regulierung der Vasomotoren in Verbindung stehen. Es liegen aber keinerlei Tatsachen vor, die es wahrscheinlich machen würden, daß dieser Zusammenhang in einer Weise stattfindet, der die Hormontheorien im Sinne Fischers stützen könnte. Es ist vielmehr daran zu denken, daß die Schädi- gungen der Vasomotorenversorgung einen peripheren Reiz ausüben und daß die Verstimmungen als Reaktion auf diesen Reiz eintreten.

Über die Lokalisation der Ausstrahlungen der vegetativen Bahnen aus der Großhirnrinde sind wir noch sehr wenig orientiert. Wir wissen aber aus vielfachen Untersuchungen der letzten Zeit, daß das Zwischenhirn eine centrale Vertretung des vegetativen Nervensystems beherbergt. An dieser Tatsache kann nicht gezweifelt werden, wenn auch die Einzeluntersuchungen zu keinem in allem eindeutigen Resultat geführt haben, und besonders manche interessanten Untersuchungen und Schluß- folgerungen von F. H. Lewy und Dresel mit guten Gründen von Bielschowsky angezweifelt werden.

In den letzten Jahren hat das häufige Auftreten der Encephalitis lethargica, deren entzündliche Prozesse sich ja vorwiegend in diesem Gebiete abspielen, eine reichliche klinische Erfahrung über die bei Schädigungen dieses Gebietes auftretenden Symptome ermöglicht. Hierbei haben nicht nur die zweifellos auf das vegetative System zu beziehenden körperlichen Symptome Beachtung gefunden, wie Salben- gesicht, Exophthalmus, Störungen der Schweiß- und Speichelsekretion, vasomotorische Störungen, sondern man hat auch versucht, psychische Symptome mit der Erkran-

76 Edm. Forster.

kung dieses Gebietes in Beziehung zu bringen. Es sind nun nicht nur psychische Symptome, die in das Gebiet der Affektivität gehören, sondern auch psychomotorische Störungen im Sinne Wernickes mit der Erkrankung dieser Gegend in Beziehung gebracht worden. Um diese Frage entscheiden zu können, habe ch"? diejenigen Krankheitsgruppen untersucht, bei denen eine reine oder fast reine Erkrankung dieser Gegend vorliegt. Ich zog besonders Fälle von Wilsonscher Krankheit, Athetosis duplex, Torsionsspasmus, sowie auch Paralysis agitans und isolierte Herderkrankungen heran. Sowohl die Untersuchungen meiner eigenen Fälle als auch die in der Lite- ratur niedergelegten Erfahrungen führten zu dem Ergebnis, daß die Erkrankung dieser Gegend nicht zu psychischen Störungen führt. Soweit ein auffälliges affektives Verhalten dieser Patienten zur Beobachtung kam, konnte es dadurch erklärt werden, daß entweder infolge von Medikamenten Intoxikationsdelirien entstanden waren oder dadurch, daß, wie dies bet der Paralysis agitans und der Wilsonschen Krankheit Pseudosklerose der Fall ist, bei längerem Bestehen der Krankheit die Hirnrinde in Mitleidenschaft gezogen wird und dadurch psychische Ausfallserscheinungen auf- treten. Die Frage nach psychomotorischen Erscheinungen, deren Auftreten als Folge einer Erkrankung dieser Gegend ich im Gegensatz zu verschiedenen Autoren glaubte verneinen zu müssen, braucht hier nicht erörtert zu werden. Das Auftreten psychischer Symptome bei der Encephalitis lethargica, einer Infektionskrankheit, die nachweisbar in sehr vielen Fällen die Hirnrinde schädigt, in ähnlicher Weise wie dies bei Typhus und Flecktyphus der Fall ist, mußte demnach auf eine Schädigung der Hirnrinde und nicht auf die Erkrankung des Zwischenhirns zurückgeführt werden. Es ist möglich, daß das besondere psychische Bild, das an -Encephalitis erkrankte Kinder darbieten, dadurch entsteht, daß die normale Entwicklung der Hirnrinde durch die Erkrankung der subcorticalen Centren beeinträchtigt wird. Aber auch wenn diese Annahme richtig sein sollte, muß man die psychischen Symptome dieser Patienten auf die Hirnrinde beziehen. Das vorliegende Material bietet jedenfalls keinerlei Anhaltspunkt dafür, daß die Erkrankung der in diesen Gegenden gelegenen vege- tativen Centren psychische Störungen hervorrufen könne.

Um uns ein Urteil darüber bilden zu können, wie die Beziehungen zwischen Vagus, Sympathicus und Psyche sich tatsächlich abspielen, ist es am zweckmäßigsten, zunächst die einfachsten Verhältnisse zu betrachten und sich dabei freizuhalten von allen theoretischen Überlegungen. Die einfachsten Verhältnisse finden wir bei peri- pherenVerletzungen, die zu ausgesprochenenSympathicusstörungenVeranlassung geben. Das sind die von Weir-Mitchell bereits 1864 beschriebenen Causalgien, denen Leriche'® im Kriege seine besondere Aufmerksamkeit gewidmet hat und deren erfolgreiche Behandlung durch Sympathektomie ihn veranlaßt hat, diese Therapie auch auf viele andere Gebiete der Sympathicuserkrankung auszudehnen. Schon Weir-Mitchell beschreibt das psychische Verhalten derartiger Kranker ganz aus- gezeichnet, worauf auch Leriche aufmerksam macht. Die Schilderung beider Autoren ist tatsächlich treffend. Die Patienten werden ängstlich, mißtrauisch, sie isolieren sich, sie bekommen Selbstmordgedanken, sie drehen sich im Bett herum, das Gesicht gegen die Mauer und wollen von nichts etwas wissen. Man ärgert sich über sie und man ist leicht geneigt zu glauben, daß sie übertreiben. So sagt Leriche nach Weir-Mitchell: „Ihr Gesicht drückt Müdigkeit und Leiden aus. Die Nacht ist ohne Ruhe, das Knistern eines Zeitungsblattes, geringer Zug, der Schritt eines Menschen, die Vibrationen, die durch einen militärischen Marsch hervorgerufen werden, der Stoß des Fußes gegen den Boden erhöhen die Schmerzen. Mit einem Wort, der Patient wird ein Hysteriker.« So sah ich auch meine Patienten. Was geht

Vegetatives Nervensystem und psychische Störungen. 77

hier nun vor sich? Die Patienten haben körperliche Schmerzen, die außerordentlich. quälend sind. Bei der Untersuchung können sie keine genauen Angaben machen, wo die Schmerzen sitzen. Die Abgrenzung von Sensibilitätsstörungen glückt nicht, geringe Veränderungen der Temperatur, Bewegungen u. s. w. erhöhen ihre Schmerzen. Diese sind in der Nacht viel schlimmer als am Tage, wenn sie abgelenkt sind. Alles dies paßt nicht in ein gewöhnliches Krankheitsbild. Die Personen ihrer Umgebung und sehr häufig auch der Arzt glaubt ihren Beschwerden nicht, trotzdem diese so außerordentlich quälend sind. Ihr psychisches Verhalten ist die Reaktion auf diese Dinge. Sie fürchten alles, was ihre Schmerzen erhöhen könnte, deswegen sind sie ängstlich und in sich zurückgezogen. Sie vermeiden den Umgang mit Menschen, weil sie sich ärgern über den ihnen so leicht gemachten Vorwurf, daß sie übertreiben. Sie fürchten, schon durch ihre Beschwerden lästig zu fallen. Es ist begreiflich, daß ein solches psychisches Verhalten von vielen als hysterisch bezeichnet wird. Unter Psychiatern brauche ich nicht auszuführen, daß diese Reaktionsweise natürlich nicht das geringste mit hysterischer Reaktion zu tun hat. Wir sehen hier dasselbe psychische Verhalten, wie wir es bei den Erkrankungen des Zwischenhirns, besonders beim Torsionsspasmus, gefunden haben. In diesen Fällen von Sympathicus- verletzung sind die Schmerzen besonders lebhaft, die eigenartige Verteilung der Sensationen findet ihr Verständnis in der segmentären Verteilung des Sympathicus und in der besonderen Weise, in der die Reize sich im vegetativen System ver- breiten, was Guillaume'? anschaulich geschildert hat. Dieselben Schmerzen und unangenehmen Empfindungen finden wir auch bei anderen sympathischen Erkran- kungen, die zunächst peripher auftreten, z. B. bei den Trophoneurosen, bei der Raynaudschen krankheit und der Sklerodermie. Im Beginn sind die Reizerschei- nungen hier nicht so heftig, und die geschilderte psychische Reaktionsweise dem- entsprechend auch nicht so ausgeprägt. Bei weiterem Fortschreiten der Erkrankung kommt es aber zu den gleichen psychischen Bildern. Wird bei solchen Patienten die periarterielle Sympathektomie gemacht und fallen dadurch die krankhaften Reiz- erscheinungen aus, so schwindet auch diese psychische Reaktionsweise, sie werden psychisch völlig normal. Anfangs besteht sogar ein ganz besonderes Wohlbefinden, das ja typisch ist für das Wahrnehmen des Fortfalles von Schmerz.

Vergleichen wir diese Reaktionsweise der Patienten mit unangenehmen körper- lichen Empfindungen von mehr physiologischer Art, so finden wir eine auffällige Ähnlichkeit. Ich denke hier z. B. an die Folgen des Hungers, der Ermüdung oder an die Reaktion auf nicht genügenden Schlaf: Wir sehen auch hier eine gesteigerte Reizbarkeit als Reaktion auf nicht genau zu lokalisierende unangenehme Körperliche Empfindung.

Das psychische Verhalten erklärt sich also als eine Reaktion auf Organgefühle. Es stellt einen exogenen Reaktionstypus dar. Die Frage, in welcher Weise die von ` den Organen dem Hirn und Bewußtsein übermittelten Reize centralwärts geleitet werden, braucht hierbei gar nicht erörtert zu werden. So viel steht fest, die Reize entstehen durch krankhafte oder physiologische Erregung des vegetativen Systems. Nachher werden sie zentripetalwärts dem Hirn zugeführt und bedingen dort die psychische Reaktionsweise.

Es ist dies aber nicht die einzige Reaktionsweise, die durch Reize im vege- tativen System ausgelöst werden kann. Ist das Hungergefühl oder die Ermüdung relativ gering, so bestehen nur geringe unangenehme Allgemeinempfindungen, bei stärkerem Hungergefühl, bei starker Ermüdung ist die Organschädigung eine stärkere und damit auch der vegetative Reiz. Es kommt nun bald zu Organschädigungen,

78 Edm, Forster.

die nicht mehr als physiologisch bezeichnet werden können. Hierdurch kommt es zu Stoffwechselstörungen, die zweifellos sich in Toxinwirkungen äußern, wöbei ganz. gewiß auch Hormone beteiligt sind, und es besteht kein Grund, daran zu zweifeln, daß diese Toxinwirkungen das Hirn direkt schädigen. Hierin befinde ich mich in Übereinstimmung mit Cimbal2%. Diese Toxinwirkung bedingt dann wieder einen. exogenen Reaktionstypus, der durchaus den bekannten exogenen Reaktionstypen Bonhoeffers entspricht, besonders finden wir delirante Zustände und Korsakoff.

Noch eine dritte Form der Schädigung infolge vegetativer Reize kommt in Betracht. Infolge von endokrinen Disharmonien, die durch vegetative Erkrankungen hervorgerufen werden oder auf anderem Wege entstehen und durch Reizung des von ihnen gesteuerten sympathischen Apparates eine Verschlimmerung erfahren, kann es zu Schädigungen der Blutgefäßinnervation kommen. Diese kann sich besonders im Centralnervensystem abspielen und zu Absperrungen der Blutcirculation in gewissen Bezirken durch Angiospasmen oder auch zu Gewebszerstörungen infolge von Blutungen führen. Hierdurch kann es dann zu vorübergehenden oder bleibenden Lähmungen, zu Erscheinungen von Hirndruck mit Stauungspapille und zu aphasi- schen oder anderen durch derartige Hirnschädigungen bedingten psychischen Störungen kommen. Daß endokrine Schädigungen derartige Gefäßstörungen hervor- rufen können, ist schon lange bekannt. Ich brauche nur auf die Erfahrungen des Basedows hinzuweisen, bei dem vasomotorische Störungen und auch Hirnblutungen beschrieben worden sind. Neuerdings hat Zondek?! auf diese Sachen wieder auf- merksam gemacht. Während der Schwangerschaft besteht eine besondere Neigung zu endokrinen Störungen, so daß es während dieser besonders leicht zu derartigen vasculären Hirnsymptomen kommen kann. Vor kurzem hat Westphal?? und später ich? selber einige derartige Fälle beschrieben, bei denen auch epileptische Anfälle zur Beobachtung kamen. In allen diesen Fällen hat die Hormonwirkung also zu cerebralen, respektive psychischen Siörungen geführt, aber niemais direkt in einer Weise, wie Fischer sich das vorstellt, sondern immer nur dadurch, daß sie die Hirnrinde materiell schädigte. Auch bei der besonders von Pal? und von Munk? studierten genuinen Hypertonie kann es leicht zu solchen Blutungen kommen. (Diese Störung hat sicher auch ursächlich mit dem Sympathicus, respektive mit endokrinen Drüsen zu tun, wenn man auch nicht zugeben wird, daß das Nichtausüben des Geschlechtsverkehrs bei Personen, die viel geistig zu arbeiten haben, eine krankhafte Wirkung des Geschlechtshormons bedinge, die diese Krankheit hervorrufe, wie Munk das haben will.)

Es muß nun aber noch berücksichtigt werden, wie die psychischen Wirkungen wieder auf das vegetative System wirken und welche Folgen das hat. Wir haben gesehen, daß jedes psychische Geschehen auf das vegetative System wirkt. Wenn nun infolge endokriner Disharmonien, die so gering sein können, daß sie noch keinerlei deutliche Zeichen machen, schon eine Neigung zu Schädigungen des Gefäßapparates (oder anderer Organe) bestehen kann, so ist es leicht verständlich, daß eine Tonusveränderung, die infolge eines Affektes oder einer anderen psychischen Ursache ausgelöst wird, eine Schädigung hervorruft, die manifeste klinische Erschei- nungen macht. So kann ein plötzlicher Schreck die Ruptur eines dünnen Blutgefäßes bei asthenischen Personen hervorrufen, wie ich dies selbst schon beobachtet habe. Auch das allgemein bekannte Auftreten von Zucker nach seelischen Erregungen oder die Zunahme von striären Symptomen bei Aufregungen findet durch einen solchen Mechanismus leicht seine Erklärung. Die Verhältnisse liegen aber noch komplizierter dadurch, daß nicht nur die Hormone der einen Drüse auf die andere

3 - a: kag mr e

Vegetatives Nervensystem und psychische Störungen. = 79

auf dem Blutwege einwirken, sondern daß auch, wie Hamburger? nachgewiesen hat, durch vegetative Reizung eines Organs in diesem Organ Stoffe freigemacht werden, die die gleiche Reizwirkung haben. So kann also auch ein psychischer Reiz viel stärker wirken, als man zunächst geneigt ist anzunehmen, weil durch diesen Reiz Stoffe ins Blut gelangen, die die Reizwirkung unabhängig von der Psyche verstärken. |

Wir sehen also, wenn wir die Beziehungen zwischen Psyche und vegetativem System überblicken, daß es nicht nötig ist, mystische Vorstellungen oder verscheom - mene Begriffe, wie Tonus oder Spannung der Affektivität, anzuwenden, sondern daß wir weiter kommen, wenn wir naturwissenschaftlich denken und präzise, scharf defi- nierte Ausdrücke gebrauchen.

Literatur. ! F. H. Lewy, Die Lehre vom Tonus und der Bewegung, p. 411 u. ff. J. Springer, Berlin 1923. 2 Forster, Über die Bedeutung des Affektes bei Paranoia. Cpt. r. Premier Congr. internat. de Psych. u. s. w., Amsterdam 2.—7. Sept. 1907, de Bussy, Amsterdam 1908. 3 Fischer, Psychiatrie und innere Sekretion. Psych. neur. Woch. 1922-1923, Jahrg. 24, p. 229. * Fischer, l. c. 3, p. 247 u. 258. 5 Kretschmer, Körperbau und Charakter. J. Springer, Berlin 1921. SH Sattler, Handb. d. ges. Aug. 1909, IX, herausgegeben von Graefe-Sämisch. 7 H. Sattler, l. c. 6 p. 239. 8 Fischer, Über Eunuchoidismus, insbesondere über seine Genese und seine Beziehungen zur Reifung und zum Altern. Ztschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 1923, LXXXVII, p. 314. 9°]. Berner, Die konstitutionelle Disposition zu inneren Krankheiten. Berlin 1921, 2. Aufl. 1 Wiesel, Kl. Woch. 1923, Jahrg. 2, p. 1149. !!Lichtwitz, Über die Beziehungen der Fettsucht zu Psyche und Nervensystem. Kl. Woch., Jahrg. 2, p. 1255. "2? Brugsch, Die Fettsucht. Handb. f. inn. Med., herausgegeben von Kraus-Brugsch. ! Peritz, Einführung in die Klinik der inneren Sekretion. S. Karger, Berlin 1923. Bertha Aschner, Zur Adrenalinreaktion beim Menschen. KI. Woch., Jahrg. 2, Nr. 23, p. 1060. !3 Julius Büscher, Die häufigsten pathologischen Erscheinungs- formen des vegetativen Nervensystems in ihren klinischen Bildern. Kl. Woch, Jahrg. 2, p. 1651. 16 Brüning, Die operative Behandlung der Angina pectoris durch Exstirpation des Hals-Brust- sympathicus und Bemerkungen über die operative Behandlung der abnormen Blutdrucksteigerung. Kl. Woch., Jahrg. 2, p. 777. '! Forster, Linsenkern und psychische Symptome. Mon. f. Psych. u. Neur. 1923, LIV, p. 215. 18 Leriche, Presse Lyon chirurgical 1920-1923 und Presse médicale 1919-1923. R. d. chir. 1922, p. 553; Leriche et Wertheimer, J. med. fr. 1921. X, Nr. 6. 9 Guillaume, Le sympathique et les systèmes associés. Masson et Co., Paris 1921. Cimbal, Die unters. Bedeutung im autonomen und spinalen Gebiet. Derm. Woch. 1923, LXXVII, p. 885; Die Neurosen der seelischen Kämpfe. Erg. d. inn. Med., herausgegeben von Brugsch u. Schitten- helm 1924. 2! Zondek, Über pluriglanduläre Insuffizienz. D. med. Woch. 1923, XLIX, p. 339. 22 A. Westphal, Organische Erkrankungen des Centralnervensystems und ihre Beziehungen zu vorausgegangener operativer Entfernung endokriner Drüsen. Kl. Woch., Jahrg. 2, p. 1008. 2? Forster, Behandlung der Epilepsie durch Sympathektomie. Münch. med. Woch. 1923, p. 1114. ?* Pal, Zur Pathologie der herzbeschleunigenden Nerven. Med. Kl. 1917; Klinisches und Therapeutisches über Angina pectoris. Wr. A. f. inn. Med. 1923, VI. 2 Munk, Erg. d. inn. Med. und Kinderheilk. 1922. 23 Hamburger, Über eine neue Form von Zusammenwirkung zwischen Organen. Kl. Woch. 1923, Jahrg. 2, p. 1297.

Mn.

A

Die Asthenie des Weibes.

Von Prof. Dr. Walther Hannes, Breslau. Mit 3 Abbildungen im Text.

Die moderne von Martius inaugurierte Konstitutionsforschung hat die Abgrenzung und Feststellung bestimmter Konstitutionstypen geschaffen. Manches, was unseren ärztlichen Altvorderen mehr gefühlsmäßig bekannt und geläufig war, und was dann wieder Generationen hindurch völlig aus dem Wissensschatz der ` jeweils geltenden Schulmedizin verschwand und in Vergessenheit geriet, ist durch die Konstitutionsforschung neu ans Tageslicht gezogen, biologisch begründet und nunmehr feststehend präzisiert worden. So sprach bereits Hippokrates und nach ihm die klassische Humoralpathologie von Menschen mit schlaffer Faser, ein Zustand, der im wesentlichen nach den Lehren der modernen Konstitutions- forschung mit dem von ihr geschaffenen Begriff der Asthenie bzw. der asthenischen Konstitution identisch ist.

Ohne hier näher auf die ungemein anregende, interessante und ausgiebige Diskussion über die Fassung und Auslegung des Begriffes der Konstitution, an welcher sich vor allem Martius, Lubarsch, Bauer, Hart, Tandler, Siemens u. a. beteiligt haben, eingehen zu wollen, scheint es mir für unsere Zwecke der Klinik und Praxis am richtigsten, die Definition dieses Begriffs, wie sie der auf dem Gebiete der Konstitutionsforschung beim Weibe besonders verdienstvoll tätig gewesene Fachgenosse Mathes faßte, uns zu eigen zu machen. Mathes erklärt Konstitution „als die durch die Beschaffenheit der elterlichen Keimzellen verursachte persönliche Eigenart eines Menschen, so zu sein, wie er es in jedem Augenblicke seines Lebens gerade tut“. Mithin wird im gleichen Augenblick, in welchem der männliche Samenfaden die weibliche Eizelle befruchtet, die Konstitution des neu- geschaffenen Individuums besiegelt. Diese ist also unwandelbar; nicht wandelbar durch Ereignisse (Krankheiten, ärztliche Kuren u. s.w.) während des menschlichen Lebens. In letzter Linie hat wohl fraglos jedes Individuum seine ganz eigene Kon- stitution, da höchstens abgesehen von den eineiigen Zwillingen kaum zwei Menschen völlig identisch konstitutioniert sein dürften. Daraus folgt weiter, daß der Begriff „normale Konstitution“ nicht basiert ist auf wirklich möglichen Beobach- tungen an einer Reihe sozusagen konstitutioneller Normalmenschen, sondern eben nur begrifflich das umreißt, was nach Maßgabe der Konstitutionsforschung in den Rahmen einer also gewissermaßen fiktiv konstruierten normalen Konstitution ein- zuordnen ist. |

Nennenswerte und in ihrem Symptomenkomplex charakteristische Abweichun- gen von diesem als normale Konstitution supponierten Zustand bezeichnen wir als Konstitutionsanomalien. Die moderne Konstitutionslehre faßt gewisse regelmäßig sich wiederholende Vergesellschaftung anatomischer und physiologischer Kon- stitutionsanomalien, namentlich wenn diese Momente, wie Hart ausführt, „dem

Die Asthenie des Weibes. 81

einzelnen Individuum ein mehr oder minder charakteristisches Gepräge“ geben, in dem Begriff des Konstitutionstypes zusammen. Diese Konstitutionstypen werden meist dem wissenden Beschauer schon offensichtlich durch die Art und Weise des Gesamthabitus der betreffenden Person. Nach Hart sind die drei wichtigsten Kon- stitutionsanomalien der Lymphatismus, der Infantilismus und die Asthenie.

Wie schon erwähnt, sind wohl die Menschen der schlaffen Faser,. welche die alte Medizin bereits kannte, und welche beispielsweise Soranus für ungeeignet zum Stillgeschäft erachtete, im wesentlichen das, was wir heute als asthenische Individuen betrachten. Nichtsdestoweniger ist die genaue Fixierung und systematische sowie die symptomatologische und diagnostische Abgrenzung des asthenischen Konstitutions- komplexes erst Errungenschaft der letzten Jahrzehnte.

Nachdem Tuffier die Enteroptose als eine Inferiorit& physiologique des tissus angesprochen hatte, war es Stillers Verdienst, die Senkung der Eingeweide als einen essentiellen Bestandteil der Körperbeschaffenheit zu erkennen, die er mit dem hierfür seither anerkannten Namen der Asthenie bzw. Asthenia universalis congenita belegte.

Wenn wir nun kurz umreißen wollen, welcher Symptomenkomplex ein Indi- viduum zu einem asthenischen macht, so sei zunächst mit Stiller u. a. hervor- gehoben, daß gerade bei der Asthenie der Gesamthabitus der betreffenden Person meist ein so charakteristischer ist, daß häufig Astheniker, worauf auch von gynäko- logischer Seite vor allem von Mathes hingewiesen wurde, schon in völlig beklei- detem Zustande augenfällig sind. Alles am Astheniker, seine Gewebe, seine Haltung und sein Gesichtsausdruck zeugt von Schwäche und Schlaffheit. Seine inneren Organe, namentlich die der Verdauung, Respiration, Circulation und Excretion manifestieren deutlich eine funktionelle Schwäche und Minderwertigkeit und sind damit zu allen möglichen Störungen und Erkrankungen besonders disponiert. Als besonders atonisch erweist sich beim asthenischen Individuum die Muskulatur, u. zw. sowohl die quer- gestreifte Körpermuskulatur als auch die glatte Muskulatur der inneren Organe. Hierauf wird später noch näher einzugehen sein.

Wie zuerst von Stiller erkannt wurde, liegt die Ursache für das oben erwähnte Augenfälligsein des asthenischen Zustandes im Gesamthabitus der betroffenen Person, vor allem in gewissen charakteristischen Anomalien des gesamten Skelets. Schon am Kopf fällt die relative Kleinheit des Gesichts auf, die als Folge der besonderen Zartheit = und Schmalheit der Gesichtsknochen, wie vor allem des Unterkiefers, der Nase und des Jochbogens aufzufassen ist; gleichzeitig finden wir den Gaumen schmal und steil gestellt und einen ausgesprochen langen schlanken Hals. Wie Mathes u.a. sagen, sehen infolgedessen asthenische Individuen nicht selten jünger aus, als sie in Wirklichkeit sind.

Die steil abfallenden Rippen mit ihren weiten Intercostalräumen und den her- vorstehenden Schulterblättern und Schlüsselbeinen lassen den langen, schmalen und flachen Brustkorb des Asthenikers mit seinem spitzen epigastrischen und vertebralen Winkel als einen ausgesprochenen Thorax paralyticus erscheinen.

Von Stiller ist des weiteren, schon bei seinen ersten Veröffentlichungen über die Asthenia universalis darauf hingewiesen worden, daß mit markanter Regelmäßig- keit bei den Individuen dieser Konstitutionsanomalie eine sog. Costa decima fluctuans zu finden und meist schon ganz augenfällig ist. Infolge angeborenen Defektes der Knorpelspange hat die zehnte Rippe keine Anheftung mehr am Brustkorb gefunden, sondern endet frei, sie ist „fluctuans“ geworden. Nach Stiller kann in gewissen Fällen auch schon das Ende der neunten Rippe in mäßigem Grade frei tastbar werden. Über die specifische Zugehörigkeit dieses Stigmas der frei beweglichen

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 6

82 Walther Hannes.

zehnten Rippe zur Asthenie gehen nach reichlicher Diskussion der Autoren auch heute die Meinungen noch zum Teil auseinander. Immerhin ist es bedeutsam, daß Stiller auch jetzt noch auf Grund seiner fortlaufend eingehenden Untersuchungen und seiner wohl auf diesem Gebiete ausschlaggebenden großen Erfahrung an der specifischen Bedeutsamkeit dieses Costalstigmas festhält und seine Ansicht zu dieser Frage dahin zusammenfaßt, daß in Fällen, wo sonst der Thorax annähernd normal gebaut ist, wo sich aber die Costa decima fluctuans findet, dies allein bereits den Orga- nismus zum asthenischen stempelt. Ist dem so, dann muß die Asthenie ein konstanter angeborener Zustand sein.und nicht, wie Brugsch u. a. meinen, ein auf Grund äußerer Verhältnisse erwor- Fig. 2. bener. Hier schlägt Mathes gewissermaßen eine ver- mittelnde Brücke, indem er den Begriff des sog. astheni- schen Anfalles prägt, in dem die vorher bald mehr oder weniger latent gewesene asthenische Anlage klinisch offensichtlich wird. Ohne sich nun aber prinzipaliter auf das Costalstigma festzu- legen, führt Mathes weiter aus, daß es in der sozusagen anfallsfreien Zeit immer möglich ist, diese zu asthe- nischen Anfällen disponie- rende konstitutionelle An- lage stets und, was beson- ders wichtig sein muß, auch bereits vor dem ersten An- fall klarzulegen. Hierzu kann wohl sicherlich das Stiller- sche Stigma von der beweg- lichen zehnten Rippe sehr viel beitragen, die nach Bauer zwar nicht als ein Frau mit normalem Thorax besonders bedeutsames De- 37jährige Frau mit typischer Asthenie (nach Mathes in Halban-Seitz). generationszeichen anzu- E nee Lee | sehen ist, aber am astheni- schen Brustkorb häufiger zu finden ist als an anders konstitutionierten.

Daß diese eigenartige Thoraxform nicht ohne Einfluß auf den gesamten übrigen Organismus sein kann, lehrt allein schon ein Blick auf die beiden obenstehend wieder- gegebenen Bilder (Fig. 1 u. 2). Die Richtung des Verlaufes der Rippen ist auf beiden Abbildungen mittels Jodstriches gekennzeichnet. Dies macht die auch sonst schon deutliche Differenz der beiden Brustkörbe noch besonders offensichtlich. Als deutliche Folge des asthenischen Thorax ist ferner bei Betrachtung dieser beiden Abbildungen zu registrieren, daß unter Äbflachung der auch an sich tiefer als normal befindlichen Lendenlordose eine ausgesprochene Rückenkyphose besteht. Die Nates erscheinen flacher und weniger prall; die Unterbauchgegend imponiert als gesenkt und über-

Fig. 1.

Die Asthenie des Weibes. 83

hängend. Hingewiesen sei auch auf die im ganzen muskelschwache und schlaffe Haltung und den überaus müden, schlaffen, deprimierten Gesichtsausdruck der Asthenica.

Eine weitere Folge der skizzierten asthenischen Form des Rumpfskeletes ist, wie Mathes ausführt, eine offensichtliche Änderung des Tiefendurchmessers der Eingeweidesäule. Wie die untenstehenden, der Mathesschen Arbeit entnommenen schematisierten Zeichnungen (Fig. 3) deutlich zur Anschauung bringen, ist beim normal konstitutionierten Rumpf der Tiefendurchmesser der Eingeweidesäule oben, d. h. im Thorax, groß, und unten, d. h. im Bauch, klein; beim asthenisch konstitutio- nierten Rumpf ist es umgekehrt. Die Folge dieses Geschehens ist die Enteroptose. Hierzu kommt, daß das Zwerchfell tiefer steht als normal, u. zw. ohne Änderung seiner Niveauverhältnisse zu den Rippen, ausschließlich infolge der Längensteigerung des Brustkorbes (Stiller). Dieser bis zu einem gewissen Grade also nur scheinbare

Fig. 3.

Schematisch; links normal konstitutionierter Rumpf, rechts asthenisch konstitutionierter Rumpf (nach Mathes in Halban-Sei tz).

Tiefstand des Zwerchfelles bewirkt oft eine Steilstellung des bei diesen Individuen an sich kleinen Herzens infolge des nun größeren Abstandes des dem Herzen als Unterlage dienenden Zwerchfelles von den großen Gefäßen, dem „Aufhängeapparat“ des Herzens. So kommt es nach Stiller zu dem sog. Tropfenherzen.

Alle Organe und Funktionen der Astheniker stehen im Zeichen der Schwäche, der Schlaffheit und der Atonie (Stiller, Mathes, Hart u. a.). Hiervon sind nicht nur die inneren Organe, die glatten und quergestreiften Muskeln und das Bindegewebe betroffen (Vogel), sondern vor allem ist auch dem gesamten Nervensystem der gleiche Stempel aufgedrückt. Hierbei sei jedoch gleich betont, daß zwar die Astheniker eine ausgesprochene Disposition zu depressiven Verstimmungen zeigen (Stiller, Mathes u. a.) daß sie aber im Gegensatz zu den ja so reichlichen Zeichen körperlicher Degeneration im allgemeinen keine Symptome psychischer Degeneration aufzuweisen pflegen (Stiller). Neben dieser ausgesprochen neur- asthenisch-depressiven Veranlagung finden wir nach Stiller, Mathes u. a. eine nervöse Überempfindlichkeit in Gestalt übermäßiger Reaktion auf normale bzw. sogar auf geringe Reize. Namentlich äußert sich das in spinalen, kardialen,

ch

84 Walther Hannes.

sexuellen und vor allem in splanchnischen Nervenstörungen bei den Asthenischen. Diese letzteren überwiegen und drücken dem Gesamtbefinden des betreffenden asthenischen Individuums ihren besonderen Stempel auf in Gestalt der nervösen Dyspepsie, wenn der Sympathicus mit in diese konstitutionelle Nervenschwäche einbezogen ist. Daß solch ein asthenisches vegetatives Nervensystem ganz besonders auch in der Sexualsphäre zu typischen und häufig krankhaften Erscheinungen führen kann und muß, werden wir später noch zu erörtern haben. Nach Mathes offenbart sich die Asthenie des Sympathicus besonders auch in seiner Schmerzhaftigkeit, u. zw. gibt es nach ihm ganz typische Druckpunkte, die links im allgemeinen typischer als rechts sind. Solche Druckpunkte sind am Rande der Lendenwirbelsäule und im Hypo- gastrium, wo der sich teilende Grenzstrang den hinteren Teilen des Darmbeines auf- liegt. An dieser Stelle besteht starker Tiefendruckschmerz und eine beim Aufheben einer Hautfalte deutlich werdende Überempfindlichkeit der Haut. Auf eine gesteigerte Erregbarkeit des Sympathicus lassen auch die bei solchen Individuen im Anschluß an die Entblößung dieser Teile erscheinenden roten Hautflecke an Hals und Brust schließen, sowie die gesteigerte Dermographie und die vermehrte Schweißabsonderung an Händen, Füßen und in der Achselhöhle.

Diese soeben kurz und im Rahmen unserer Abhandlung nur skizzenhaft dar- gelegte Hyperästhesie des gesamten Nervensystems der Asthenischen ist zwar stets nachweisbar, aber hinsichtlich ihrer Erscheinungen und ihres Manifestwerdens ist sie zeitlichen Schwankungen unterworfen. Namentlich Mathes hat von Anbeginn seiner Beschäftigung mit diesen Fragen den Standpunkt vertreten und nachdrücklich betont, daß häufig mehr oder weniger offensichtliche äußere Einflüsse auf das Ein- setzen der von solchen Nerven- und Innervationsstörungen bedingten asthenischen Erscheinungen auslösend wirken können.

Auch die Chlorose wird von vielen Autoren (Meynert, Stiller, Mathes) als eine Manifestation der asthenischen Konstitution angesehen; der alsbald noch zu erörternde sog. asthenische Anfall findet bei solcher Manifestation der asthenischen Konstitutionsanomalie eine Parallele im chlorotischen Anfall. So haben z. B. die Untersuchungen von Hösslins ergeben, daß sehr häufig bei Asthenischen, u. zw. namentlich bei den zeitweise oder ständig blaB aussehenden, eine ausgesprochene Lymphocytose bestand. So fand ferner Borchardt, daß bei Asthenikern durch Nucleinsäureinjektion eine erheblich stärkere Lymphocytose auszulösen ist als bei anderen Menschen. Er sieht deswegen die Asthenie als eine Form reizbarer Kon- stitution mit so ausgedehnten Hypoplasien der Muskulatur und der Stützgewebe an, daß die Erscheinungen erhöhter Reaktionsfähigkeit im allgemeinen ganz in den Hintergrund treten. Schiff, welcher bereits von einem typischen asthenischen Habitus (Wetzel wies ihn bereits beim Säugling nach) im frühen Kindesalter spricht, findet neben Labilität der Temperaturregulierung bei solchen Kindern eine leichte Ermüd- barkeit infolge konstitutioneller Schwäche der Blutcirculation (kleines Herz, enge Gefäße). Auch die Gefäßwände sind primär anomal; nicht nur ist bei diesen scheinanämischen Kindern (Strauß), die auch zu häufigem Farbwechsel neigen, der schlecht gefüllte Puls leicht unterdrückbar, sie zeigen auch bei Injektionen von 05 mg Adrenalin keine Blutdrucksteigerung. Ursache dieser sog. asthenischen Gefäßreaktion ist eine mangelhafte Gefäßanlage. Schwächt man den autonomen Tonus der Gefäße durch Atropinvorbehandlung u. s. w., so verhalten sich auch dann noch diese Kinder refraktär gegen die Adrenalininjektion.

Von seinen Beobachtungen und Erfahrungen ausgehend, hat Mathes, wie schon mehrfach angedeutet, den Begriff des sog. asthenischen Anfalles geprägt.

Die Asthenie des Weibes. 85

Sämtliche vegetativen Funktionen sind, wie Mathes sagt, bei seinem Ausbruch in Aufruhr. Unter Erbrechen, Dyspnöe, Auftreibung des Leibes, Leibschmerzen oft unbestimmter Lokalisation, Angstgefühl, kaltem Schweiß u. s. w. entwickelt sich ein Zustand, der ohne nähere Kontrolle und Beobachtung von Puls und Temperatur, die normal sind, bei dem nicht Erfahrenen den Verdacht einer beginnenden Peritonitis erwecken können. Dauer und Intensität dieser Anfälle können verschieden sein; sie können sich ebensowohl plötzlich aus scheinbarem Wohlbefinden, namentlich wie Mathes meint, als Ausdruck psychischer Konflikte entwickeln, als auch ganz all- mählich entstehen.

Der asthenische Anfall ist also zwar als idiopathisch für die asthenische Konstitutionsanomalie anzusehen, doch ist es keineswegs nötig, daß es bei jedem asthenischen Individuum einmal zur Auslösung solch eines Anfalles kommt.

Wenn wir auch nach allem bisher Gesagten den asthenischen Habitus als einen angeborenen und nicht als einen erworbenen Zustand anzusehen haben, so vertreten doch eine Reihe auf diesem Gebiet besonders erfahrener Forscher (Brugsch, Aron u.a.) den Standpunkt, daß es wenigstens in gewissen Fällen und unter gün- stigen hygienischen, diätetischen und therapeutischen Bedingungen möglich ist, diese asthenische Anlage bessernd zu beeinflussen, bzw. den aus der Anlage sich ergebenden Dispositionen und Neigungen zu verschiedenen Anomalien und Krankheiten vorzu- beugen. Einige meinen, daß Frühgeborensein zur Asthenie disponiere. Die Anschauung der Autoren geht ziemlich eindeutig dahin, daß die Individuen asthenischer Konstitution besonders disponiert sind für Tuberkulose, Magen- und Duodenalgeschwüre auf der Basis dyspeptischer Zustände, ferner zu Chlorose und orthotischer Albuminurie und schließlich zu einer ausgesprochenen reizbaren Schwäche des gesamten Nerven- systems. Um sich aber anderseits vor einer Überwertung der Bedeutung der Asthenie für Leben und Gesundheit der betreffenden Individuen zu schützen, soll man sich bewußt sein, daß, worauf bereits Mathes hinwies, in gewissen Gegenden der Habitus asthenicus anscheinend ganz besonders gehäuft auftritt, daß er nach Wencke- bach z.B.in Friesland geradezu zu den Rasseeigentümlichkeiten des dortigen Menschen- schlages gehört. Man muß sich auch ferner immer vor Augen halten, daß Asthenie zwar eine Konstitutionsabweichung von dem ganz fiktiven Begriff der Normal- konstitution bedeutet, daß anomale Konstitution aber noch keineswegs gleich- bedeutend mit Kranksein oder mit Krankwerdenmüssen ist. Während noch Stiller bei seinen ersten Publikationen über dieses Gebiet fälschlicherweise, wie uns in- zwischen die Konstitutionsforschung lehrte, von einer asthenischen Konstitutions- krankheit spricht, müssen wir heute als vollgewichtiges Ergebnis der modernen Konstitutionsforschung registrieren, daß asthenische Individuen keineswegs immer ihrer Konstitution wegen erkranken müssen. Bleiben ihnen auslösende somatische und psychische Insulte erspart, so braucht ihre asthenische Konstitution nie in einer ihr typischen krankhaften Affektion manifest zu werden. Wir registrieren auch noch als nicht unwichtig für die Beziehungen zwischen asthenischer Konstitution und Krankheitserscheinungen, daß die Klinik der Konstitutionspathologie uns gezeigt hat, daß anderseits die Asthenischen gegenüber gewissen Krankheiten geradezu als geschützt zu betrachten sind. Es sind dies vor allem Diabetes, Fettsucht und Gicht, ferner schwere degenerative Herz- und Gefäßerkrankungen, sowie chronischer Gelenkrheumatismus und chronische Nierenerkrankungen. "Go bleiben sie namentlich auch vor Apoplexien bewahrt. |

Wie wir gesehen haben, ist diese Konstitutionsanomalie, die Asthenie, hinsichtlich ihres Manifestwerdens an kein Lebensalter gebunden, sie ist beim Säugling und Kinde,

86 Walther Hannes.

wie wir ausgefüht haben, ebenso bereits erweisbar wie beim Erwachsenen. Auch männ- liches und weibliches Geschlecht werden von ihr wohl ziemlich unterschiedslos betroffen. Nichtsdestoweniger soll im folgenden nur noch von der Asthenie des Weibes und ihren Erscheinungsformen die Rede sein. Wir werden auseinander- zusetzen haben und sehen, daß beim Weibe die Asthenie gerade den Organen und Funktionen der Genitalsphäre ihren konstitutionspathologischen Stempel aufdrückt, so daß schon aus diesem Grunde allein eine gesonderte Behandlung der Asthenie des Weibes vollkommen berechtigt erscheinen muß.

Nun kommt auch gerade wieder beim Weibe die Asthenie häufig nicht als eine völlig reine und unkomplizierte Konstitutionsanomalie zur Beobachtung, sondern vielfach, ja nach der Ansicht mancher wie Mathes u.a. meist vergesell- schaftet mit anderen Anomalien, u. zw. im wesentlichen vergesellschaftet mit Hypo- plasie und Infantilismus. Mathes, v. Kemnitz u.a. sprechen fast nur vom astheni- schen Infantilismus des Weibes. Über die Häufigkeit und Bedeutung der Hypoplasie bzw. des Status hypoplasticus (Bartel) für die Genitalsphäre des Weibes finden wir eingehende anatomische Untersuchungen bei E. Herrmann. Er fand an den Eier- stöcken solcher Personen Bindegewebsvermehrung mit regressiver Veränderung des Follikelapparates; er fand ferner überhaupt in über der Hälfte der einschlägigen anatomisch untersuchten Hypoplasiefälle eine bald mehr bald weniger ausgesprochene Genitalhypoplasie. Diese hatte sich auch klinisch bei den betreffenden Individuen dokumentiert in Menstruationsstörungen und Sterilität. Von 90 Frauen mit Genital- . = hypoplasie waren 54:45% steril, von 67 ohne Genitalhypoplasie nur 209%.

Der Begriff des Infantilismus ist von Lasegue in die Medizin eingeführt worden; A. Hegar und W. A. Freund sind jedoch die ersten gewesen, die grund- legend die hierher gehörenden Störungen beobachteten und deuteten.

Recht eingehend hat sich A. Mayer mit der Bedeutung von Hypoplasie und Infantilismus beim Weibe beschäftigt. Er legt dar, daß die der Asthenie eigentüm- lichen Erscheinungen, Ptose u. s. w., oft auch mit ausgesprochenen, zum Infan- tilismus gehörenden Entwicklungshemmungen, wie Chlorose (Meinert) oder wie infantiler Uterus (Mathes), kombiniert sich finden. A. Mayer macht dann weiter auf das auffallend weite Herabreichen der Darmschlingen in den hinteren Douglas bei gleichzeitiger Genitalhypoplasie aufmerksam und erinnert daran, daß von Hausmann u.a. die abnorme Beweglichkeit einzelner Darmteile für ein Symptom asthenischer Konstitution angesehen wird. Nach ihm gehören die Asthenischen Stillers, die „inferieurs“ Tuffiers und die von A. Hegar als „unfertig“ bezeichneten Infantilen in dieselbe Kategorie. wenn man nicht wie Strauß u.a. Infantile und Asthenische völlig miteinander identifizieren will.

Manche, wie v. Kemnitz ua, sehen in dem Infantilismus als dem Stehen- bleiben auf kindlicher Entwicklungsstufe etwas nach der Geburt Erworbenes und somit essentiell anderes als die sozusagen ererbte Asthenie. Da doch zweifellos vielen der gerade uns hier interessierenden Erscheinungen des Infantilismus endo- krine Störungen zu grunde liegen, worauf näher einzugehen ich mir im Rahmen dieser Abhandlung versagen muß, so können meines Erachtens der Infantilismus und seine Erscheinungen und seine Auswirkung nicht ausschließlich als nur etwas während des extrauterinen Daseins Erworbenes angesehen werden. Hier spielt beim Infantilismus doch wohl eine Erblichkeits- bzw. eine konstitutionelle Komponente auch noch mit.

Wenn Mathes sagt, daß zur „funktionellen Minderwertigkeit“ der Asthenie sich die „morphologische Eigentümlichkeit“ des Infantilismus gesellt, und wenn

Die Asthenie des Weibes. 87

v. Kemnitz ausführt, daß beim ererbten Kraftmangel der Asthenie „mit ihrer enorm raschen Ermüdbarkeit und geringen Widerstandskraft“ sich dieser Kraft- mangel auch bei allen Zellfunktionen, also auch bei der Entwicklung, geltend macht und somit eine Entwicklungshemmung, ein Infantilismus resultiert, so kann man eben in diesem Infantilismus meines Erachtens dann auch nur eine weitere Erscheinungsform der Konstitutionsanomalie sehen.

v. Jaschke und Jacobs sind am Material der Gießener Frauenklinik der Frage nachgegangen, wie oft sich überhaupt konstitutionelle Anomalien bei gynä- kologischen Kranken feststellen lassen. Von 200 untersuchten Frauen und Mädchen fand sich bei 85% irgend ein auf Asthenie weisendes Stigma. Das zeigt schon, wie häufig bei den unsern Rat in Anspruch nehmenden Kranken zum mindesten eine Anlage zur Asthenie vorhanden ist. Ausgesprochene Asthenie war auf Grund der nachweislich vorhandenen charakteristischen Befunde bei 11% der Fälle erweislich. In 135% ihrer Fälle, also bei 27 Frauen, fanden v. Jaschke und Jacobs ohne sonstige Zeichen von Asthenie eine ausgesprochene partielle Hypotonie, namentlich in der Kombination von Pes planus, Varizen und Enteroptose; mit Tandler sind wohl auch ohne sonstige somatische und nervöse Asthenieerscheinungen solche Individuen hypotonischer Anlage zur Gruppe der Astheniker einzureihen, wenn auch nur bei drei Frauen dieser Gruppe noch andere asthenische Stigmata evident waren. Nicht unerwähnt soll bleiben, daß v. Jaschke diese Frauen nicht zu den Asthenikern gezählt wissen will.

Hierzu kommt, daß im Gießener Material bei 36 Frauen mit infantilen Stigmen auch dieser erwähnte Hypotoniekomplex sich fand. Dies weist meines Erachtens auf die von Mathes immer und immer wieder betonte häufige Kom- bination von Infantilismus und Asthenie hin. So fanden sich unter den Gießener Fällen neben den 22 (11%) ausgesprochenen Asthenikerinnen 21 Kranke, bei denen eine Entscheidung, ob Asthenie oder Infantilismus, objektiv gar nicht möglich schien.

Infantile Zustände am Genitale fanden sich am besagten Materiale in 405%; doch weist mit Recht Jacob darauf hin, daß wohl. bei mancher Frau, die bereits geboren hatte, früher ein noch infantiles Genitale bestanden haben mag, das dann eben noch ausreifte, da ja doch diese konstitutionelle Anomalie nichts Unwandel- bares darstellt.

Gehen wir nun zur Klärung der Frage über, weile Anomalien und krank- hafte Erscheinungen in der weiblichen Genitalsphäre besonders bzw. ausgesprochen oft sich auf der Basis asthenischer Konstitution entwickeln. bzw. durch sie Vorschub geleistet bekommen, so haben wir zunächst der Menstruation und ihren Störungen unsere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Dies umsomehr, als Mathes, M. Hirsch u.a. die sexuellen Vorgänge als die häufigsten Ursachen der aus der Asthenie sich ent- wickelnden Gesundheitsstörungen ansehen und betonen, daß die Asthenie besonders oft und typisch in der Pubertät manifest wird.

Mathes hat die Menstruation das physiologische Urbild des asthenischen Anfalles genannt. Seit Goodmans Darlegungen über die Wellenbewegung im Leben des Weibes wissen wir, daß alle vegetativen Funktionen während der Menses bis zu einem gewissen Grade gehemmt sind, daß anderseits die Frau gewissen Einflüssen der Umgebung gegenüber in dieser Zeit sozusagen empfänglicher wird, so daß sie auch auf solche Einflüsse und Reize von außen mit ihrem Nervensystem ganz anders reagiert als zu anderen Zeiten. Zweifellos sind die daraus an Psyche und Soma resultierenden Erscheinungen während der Menstruation bei asthenischen Frauen und Mädchen viel heftiger und nachhaltiger als bei kräftig konstitutionierten

88 Walther Hannes.

Individuen. Nach Mathes sind die „handgreiflichen Elemente“ des asthenischen Anfalles Hyperästhesie und psychische Depression. Diese beiden Komponenten sind zum mindesten andeutungsweise wohl fast stets während der Menses auch bei solchen Frauen erweislich, die sich körperlich subjektiv für völlig unbeeinflußt während der Menstruation halten. Wieviel mehr aber in den Fällen, die auch für den Laien mit ausgesprochenen somatischen und psychischen Beschwerden während der Periode behaftet sind. Die Dysmenorrhöe hat in allen ihren Erscheinungen eine ausgesprochene Affinität zur weiblichen Konstitution bzw. Konstitutionspathologie. Bereits Menge und Krönig waren geneigt, die Dysmenorrhöe als nervös bedingt anzusehen. Mathes weist darauf hin, daß man bei allen Dysmenorrhöen die für ` Asthenie charakteristischen schmerzhaften Druckpunkte des Sympathicus am Bauch findet; ebenso fiel ihm auf, daß selbst bei Gesunden und nicht an Dysmenorrhöe leidenden Frauen die sonst so gut wie unempfindliche Cervixschleimhaut intra menses auch schon für leise Sondenberührung auffallend schmerzempfindlich wird. Auch die wechselnde Stärke der dysmenorrhoischen Beschwerden im Einzelfalle und ihre offensichtliche Abhängigkeit vom körperlichen und psychischen Allgemein- befinden dokumentiert ihre innigen Beziehungen zur Konstitution und macht es selbstverständlich, daß besonders Asthenikerinnen und vor allem auch gerade wieder solche mit infantil hypoplastischem Genitale unter dysmenorrhoischen Qualen zu leiden haben. K. Hegar fand bei hypoplastischem Uterus in etwa 50% und A. Mayer noch häufiger Dysmenorrhöe. Hirsch sieht in der Dysmenorrhöe „eine örtliche Minderleistung im Rahmen der konstitutiven Reaktionsmöglichkeiten und Reaktionsfähigkeiten des Organismus, also eine Konstitutionsstörung“. 85% seiner Dysmenorrhöefälle gehören dem schizoiden Typus Kretschmers an und dieser Typ koinzidiert nach M. Hirsch am gynäkologischen Material im wesent- lichen mit der Astheniee M. Hirsch fand weiter, daß bei 20% seiner mit Dysmenorrhöe behafteten Asthenischen die Ursache im wesentlichen in der Ein- geweideptose zu finden war; bei diesen war die Dysmenorrhöe nicht in der Pubertät, sondern erst nach der Entbindung aufgetreten. Hier kann operative Plastik am Beckenboden, Fettansatz und aktive Gymnastik zur Muskelkräftigung nach Hirsch Besserung, ja Heilung bringen. In 60% fand Hirsch Hypoplasie der Genitalien. Bei diesen besteht meist neben einer besonderen Kürze und Straffheit des Bindegewebes auch eine ganz besonders leicht entzündliche Reizbarkeit des- selben; ferner lange Cervix uteri mit spitzwinkliger Anteflexion. Für diese .Fälle kommt Hirsch zu folgender Erklärung der Dysmenorrhöe. In dem starren und entzündlich reizbaren Bindegewebe, welches der Hand in Hand mit der menstruellen Hyperämie gehenden serösen Durchtränkung weniger leicht zugänglich ist als ` normales Bindegewebe, sind die sensiblen Nervenendigungen schmerzhaftem Druck und Zug ausgesetzt. Mit zunehmender seröser Durchtränkung und Auflockerung des Gewebes: wird die „Asensibilisierung“ erzielt. Ähnlich wie bei der Infiltrations- anästhesie, sagt Hirsch, kehrt dann am Ende der Menses der Schmerz oft noch einmal schwächer und kurzdauernd zurück. Mittels Organtherapie, Eisen, Arsen, Bädern und Gymnastik soll man eine Besserung der Hypoplasie in diesen Fällen anstreben; nach Hirsch ist hier auch eine normale Vita sexualis von Einfluß. So registriert Hirsch bei 40% seiner Dysmenorrhoischen „deutliche Mängel der Sexualität oder Übergänge zum andern Geschlecht“. Er registriert dann weiter bei 50% seiner mit Dysmenorrhöe behafteten Asthenischen Schwäche des vegetativen Nervensystems, Neurasthenie und Psychasthenie u. zw. oft unter dem Bilde der Vagotonie und Sympathicotonie; in 30% bestand sogar ausgesprochene Spasmophilie.

Die Asthenie des Weibes. ` 89

Hier hat eine allgemeine Behandlung mit Bädern, hochgespannten Strömen, intra- venöser Kalkzufuhr einzusetzen, lokale gynäkologische Behandlung ist sinn- und zwecklos. Jacobs fand am Material der Gießener Klinik unter 12 Dysmenorrhöe- fällen sechsmal typisch infantilen Uterus und einmal eine schwere Asthenie mit Retroflexio uteri.

Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die Asthenischen und namentlich die Infantil-asthenischen einen besonders großen Prozentsatz zu den mit Dysmenorrhöe behafteten Frauen und Mädchen stellen; dies soll man, wie auch schon angedeutet, bei der. Aufstellung des einzuschlagenden Heilplanes genau so berücksichtigen wie im Einzelfall& etwa vorliegende ebenfalls diagnostisch aufklärungsbedürftige endokrine Störung (Ovarium, Thyreoidea, Hypophyse u. s. w.); damit darf meines Erachtens aber für die konstitutionell bedingte Dysmenorrhöe keineswegs abgegangen werden von der typischen Standardbehandlung der Dysmenorrhöe, nämlich der Dilatation, die nach meiner Erfahrung auch in den schweren Fällen konstitutionell bzw. endokrin bedingter Dysmenorrhöe recht Gutes leistet und trotz anderer ätiologisch scheinbar viel besser begründeter Heilverfahren gar nicht zu entbehren ist. Wenn wir nach Menges Anschauung annehmen, daß die zur Zeit der Menses physio- logischen Zusammenziehungen der Gebärmutter bei geschwächten vegetativen. Nervensystem als schmerzhaft empfunden werden, so können wir verstehen, daß eine mittels Laminaria oder anderer geeigneter Methode vorgenommene Erweite- rung des gesamten Gebärmutterkanals und namentlich seiner physiologisch engsten Stelle am inneren Muttermund auch den Infantilen und Asthenischen häufig eine Besserung ihrer dysmenorrhoischen Beschwerden bringen wird.

Ganz analog der Dysmenorrhöe hat uns die Konstitutionsforschung gezeigt, daß die Asthenie zu Anomalien der monatlichen Blutausscheidung, u. zw. namentlich in Richtung der übermäßigen Blutung, der sog. Menorrhagie, disponiert. Seitz vertritt auf Grund des Materials der Gießener Klinik den Standpunkt, daß bei Blutungen des geschlechtsreifen Alters im Menstruationstyp, also bei der sog. Menorrhagie oder Hypermenorrhöe, vorwiegend Infantilismus, ja noch häufiger Asthenie oder auch die Kombination beider feststellbar ist. Da nach Ausweis des mikroskopischen Schleim- hautbildes in diesen Fällen der ovariell bedingte Cyclus völlig normal war bzw. völlig regelrecht ablief, so sieht Seitz die Ursache der Blutung in einer organischen Schwäche aller Elemente der Gebärmutter (Muskulatur, Nerven, Gefäße, Bindegewebe u. s. w.), also in der asthenischen Konstitution. Ganz analoge Fälle mit Neigung zu übermäßigen und im Typus eventuell anomalen Blutungen sind die, für welche Teil- haber, der z. B. eine Patientin beobachtete, die stets im Zorn zu bluten begann, den Begriff der Insufficientia uteri bildete. So stellt weiterhin van der Hoeven fest, daß ein Drittel seiner Patientinnen, die wir mit Mathes zu den mit Enteroptose behafteten rechnen müssen, selbst bei anteflektiertem Uterus profuse monatliche Blutungen aufwiesen. Mit Besserung des allgemeinen Muskeltonus sah dann van der Hoeven auch ohne lokale Behandlung diese Blutungen sich bessern. Auch Walthard mißt dieser Hypotonie der Gebärmutterkörpermuskulatur Bedeutung bei, u. zw. nicht nur für die in Rede stehenden Menorrhagien, sondern auch als Ursache für zu frühes Ein- treten und zu spätes Erlöschen der Menses. Ganz ähnliche Anschauungen entwickelt Mathes. Er mißt namentlich der Asthenie des sympathischen Ganglienapparates als Regulationsorgan für die Speicherung der Ovarialhormone eine große Bedeutung bei für das Auftreten starker monatlicher und auch atypischer Blutungen. Mathes geht ja noch weiter und sieht in der so typisch um die Zeit der Menarche ein- setzenden und häufig mit Störungen der Menstruation (Amenorrhöe, Dysmenorrhöe,

90 Walther Hannes.

Menorrhagie u. s. w.) einhergehenden Chlorose eine Auswirkung infantil-asthenischer Konstitution bzw. einer PE mit besonderer Beteiligung des blut- bildenden Apparates.

Im Gegensatz zu dem am Schluß meiner Auseinandersetzung über die Be- deutung der Asthenie für die Dysmenorrhöe Gesagten ist hier zu betonen, daß lokale Behandlung dieser konstitutionell bedingten Blutungsanomalien keinerlei Aussicht auf Erfolg habe und demzufolge absolut zu verwerfen ist. Dagegen kommen neben allgemeinen therapeutischen Maßnahmen zur Hebung des Gesamtzustandes tonus- steigernde Mittel, wie Hypophysenpräparate, Ovarialpräparate u. s. w.,in Betracht. Nach meinen Erfahrungen ist hier Luteoglandol besonders wirksam. Zu warnen ist vor der Ausschabung der Gebärmutter; zu empfehlen ist dagegen Verabreichung von Kalk, Kalzan use

Neben den soeben abgehandelten Menstruationsstörungen bekommen wir von den Asthenikerinnen, wie fast alle Beobachter übereinstimmend angeben, Klagen über Fluor und Kreuzschmerzen zu hören. Daß die ausflußartige Sekretion aus den Genitalien in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle nichts mit Endometritis, die man früher geradezu mit dem Begriff des Fluors identifizierte, zu tun hat, haben bereits die mikroskopischen Untersuchungen der Schleimhaut durch Hitchmann und Adler bahnbrechend klargelegt. Die Entwicklung einer anomalen Scheidenflora ist, wie Schröder, Löser, Döderlein u. a. gezeigt haben, oft gleichbedeutend mit Hypersekretion, mit Fluor. Schon die Erfahrung, daß die Chlorose in so enger Be- ziehung zum Auftreten von Ausfluß steht, macht die Bedeutung der Konstitution für das Fluorproblem offensichtlich. Löser ua fanden bei Asthenischen die beim Vorhandensein von Fluor bedeutsame Verschlechterung des Reinheitsgrades der Scheidenflora. Wie auch von Löser u. a. erwiesen wurde, ist der Glykogengehalt der Scheidenschleimhaut ausschlaggebend für den Aufbau der mikrobiotischen Scheidenflora; er ist bei pathologischer Scheidenflora, d. h. beim Fluor, deutlich gemindert. Niederehe fand bei Asthenie deutliche Verminderung des Glykogen- gehaltes und Disposition zur Verschlechterung der Scheidenflora. Mathes faßt den Fluor der Asthenica auf als eine Hypersekretion des Endometriums analog der asthenischen Hypersekretion der Magenschleimhaut. In diesen Fällen ist die lokale Behandlung auf ein Minimum zu beschränken (Kamillenwaschungen, Dialon- puderungen u.s. w.) und eine allgemeine zur Hebung der Kräfte führende Behandlung einzuleiten; unbedingt zu unterlassen sind Ätzungen und Ausschabungsbehandlung des Uterus. Mathes, v. Kemnitz u.a. registrieren als Beschwerden, die fast stets in Gemeinschaft mit dem Fluor geklagt werden, die Kreuzschmerzen und die Sterilität.

Daß die mit Hypoplasie und Infantilismus so oft kombinierte Asthenie recht . häufig unter den sterilen Frauen angetroffen wird, nimmt nicht wunder; so fand Jacobs unter 16 sterilen Frauen wesentliche Genitalinfantilismen.

Was nun die so regelmäßig nach Ausweis der einschlägigen Literatur von den asthenischen Frauen und Mädchen geklagten Kreuzschmerzen anlangt, so muß hier eine gewisse Gegenüberstellung von verschiedenen Gruppen stattfinden; einmal von solchen weiblichen Individuen, bei denen tastbar durch bimanuelle Untersuchung keinerlei Abweichung vom regelrechten Tastbefund erweislich ist, und in solche, bei denen neben der allgemeinen Asthenie der Gewebe auch noch manifeste Ab- weichungen und Erkrankungen der Genitalorgane tastbar sind. Bei den Fällen, wo keinerlei Abweichungen am Genitale tastbar sind, muß man, wenn auch das für die Asthenie mit den Kreuzschmerzen charakteristisch vergesellschaftete Ermüdungs- gefühl im Kreuz vorhanden ist, nach weiteren konstitutionspathologischen Merkmalen

Die Asthenie des Weibes. 91

und Zeichen forschen; ein schwerer Fehler wäre es, einzig auf dieses Symptom des Kreuzschmerzes hin, eine gynäkologische Behandlung einzuleiten. Leider dies muß ohne Beschönigung zugegeben werden wird in diesem Punkte noch seitens vieler Gynäkologen von diesem Grundsatze abgewichen. Auf Grund der Untersuchungen W. A. Freunds an den Lendenwirbel-Kreuzbein-Verbindungen der Infantilen ist Mathes geneigt, diese Kreuzschmerzen den typischen Plattfußbeschwerden an die Seite zu stellen.

Die anomalen bimanuellen Tastbefunde, die wir bei nicht wenigen der mit Kreuzweh behafteten Asthenischen und Asthenisch-Infantilen vorwiegend oft erheben, sind die sog. Parametritis posterior W. A. Freunds und die Retroflexio uteri. Die kurze der Ligamenta sacrouterina ist zweifellos oft als eine Entwicklungshemmung im Sinne des Infantilismus aufzufassen. L. Fraenkel vertritt die Anschauung, daß es sich hier um eine verminderte Elastizität und eine atrophische Entartung des Bindegewebes handle. Aus diesen Gründen wollen Mathes und Bauer wenigstens einen großen Teil der einschlägigen Fälle dem asthenischen Infantilismus zugezählt wissen, zumal auch Bab den Standpunkt vertritt, daß infolge von Infantilismus so häufig gerade Frauen mit Parametritis posterior absolut bzw. relativ steril sind. Auch die Tatsache, daß nach L. Fraenkel die Parametritis posterior in ca. 10% ‚Hauptbefund und 61:7% Nebenbefund bei gynäkologisch kranken Frauen sei, nimmt Mathes für die Tatsache in Anspruch, daß hier die infantil-asthenische Konstitutions- anomalie eine nicht unwichtige Rolle spiele. Es ist wohl sicher richtig, daß ein nicht kleiner Teil der mit Parametritis posterior behafteten Frauen und Mädchen, worauf schon W. A. Freund hinwies, nicht durch lokale gynäkologische Therapie . gebessert oder gar geheilt werden kann, sondern nur durch allgemeine thera- peutische bzw. diätetische Maßnahmen, die auf eine Hebung des allgemein körper- lichen und nervlichen Zustandes abzielen. Es sind dies die weiblichen Individuen, bei denen wir durch den Befund an den Ligamenta sacrouterina aufmerksam gemacht, unschwer andere für Asthenie und Infantilismus charakteristische Stigmata finden. Einzig und allein aus dem gewiß recht häufigen Befund der verkürzten, infiltrierten, entzündlich schmerzhaften Ligamenta sacrouterina auf eine allgemein mangelhafte und krankhafte Veranlagung zu schließen, ist aber durchaus zu verwerfen. Es muß immer wieder einmal ausdrücklich hervorgehoben werden, daß gar nicht wenige dieser sog. Parametritis-posterior-Fälle anatomisch Reste und Endstadien von intra- peritoneal im Douglas, also vollkommen extraparametran abgelaufenen Entzündungen darstellen, d. h. es handelt sich hier um intraperitoneale Verlötungen und Verklebungen im Douglas in der unmittelbaren Umgebung der Ligamenta sacrouterina. Hier ist manches aus der Anamnese differentialdiagnostisch verwertbar; hier in diesen Fällen erzielt die gynäkologische Therapie (Tamponade, Badebehandlung, Diathermie, Massage, eventuell auch operative Lösung) gute Erfolge. Gewiß gibt es Autoren, die wie Payr u.a. glauben, daß bei allgemein konstitutioneller Schwäche auch die Serosadeckzellen minderwertig seien und somit bei Asthenischen häufiger zu Adhäsionsbildung post laparatomiam führen, doch ist diese Neigung zu postoperativen Verwachsungen auf konstitutionell asthenischer Basis von anderen Autoren wie von Vogel aufs nachdrücklichste bestritten worden, obwohl ja im übrigen gerade Vogel die Asthenie gewissermaßen als eine allgemeine Bindegewebsdyskrasie be- trachtet und sie für schlechte Wundheilung und Bildung wenig resistenter Narben bei solchen Individuen ätiologisch in Anspruch nimmt.

Und nun zur Bedeutung der Retroflexion für den ganzen Komplex der uns hier interessierenden Fragestellungen! Daß die Retroflexio uteri auch bei völliger

92 Walther Hannes.

Beweglichkeit des Organs als eine Anomalie aufzufassen ist, weil eben nur die Anteflexio uteri sich als die Normallage erwiesen hat, wissen wir seit B. S: Schulze. Vor allem Küstner hat dann darauf hingewiesen, daß in einem nicht kleinen Teil der Fälle die Retroflexion als ein angeborener Zustand aufzufassen ist, daß hier eine Hemmungsbildung, oft ein ausgesprochener Infantilismus vorliegt. Des weiteren ist es vor allem auch wieder Küstner, welcher immer und immer betont, daß unter den Trägerinnen der ätiologisch aufs Wochenbett zurückgehenden Retro- flexionen vorwiegend Individuen der schlaffen Faser sich befinden und daß diese Retroflexion nur als ein Teil der Enteroptose aufzufassen sei. Diese Angaben und Beobachtungen erweisen schon deutlich, daß die Asthenie und der asthenische Infantilismus zahlreiche Vertreterinnen unter den Trägerinnen einer Retroflexio erkennen lassen. Die Retroflexio uteri, die ja meist auch mit einem mindestens geringen Descensus uteri vergesellschaftet ist, und ebenso der noch später im Zusammenhang unserer Äuseinandersetzung zu erörternde Prolaps sind in diesen Fällen als zugehörig zur asthenischen Enteroptose anzusehen. Wer nur einigermaßen darauf achtet, wird leicht finden können, wie auffallend oft auch namentlich bei Multiparen die Retroflexio uteri mit ausgesprochener Senkung aller bzw. einzelner Bauchorgane wie Niere, Leber, Magen u.s.w. vergesellschaftet ist, worauf neben Küstner, Menge, Martin, Heinrizius, Langerhaus, van der- Hoeven u. a. hingewiesen haben. Van der Hoeven fand bei 58 klinisch beob- achteten Enteroptosen 36mal Lageanomalien der Genitalien, u. zw. 2mal Retropositio und 18mal Retroflexio uteri und ferner 7mal Prolaps mit Anteflexio und Ymal mit Retroflexio uteri. Unter 101 poliklinisch beobachteten Frauen mit meist auch Gastroptose zeigenden Nephroptosen fand van der Hoeven 38 Retroflexionen, 23 Prolapse und 40mal Änteflexio uteri. Da nach van der Hoevens Anschauung ein vom Centrum des Bauches aus wirkender Druck die Organe auf der ihnen zu- kommenden Stelle halte, so führe der allen diesen Individuen gemeinsame Er- schlaffungszustand der Muskelelemente und des Bindegewebes zu den gefundenen Lageanomalien. Mathes fand bei 83 Frauen mit asthenischer Enteroptose 33 mal Lageanomalien der Gebärmutter. Van der Hoeven führt dann nach eingehender Gliederung seines Material aus, daß die Menstruationsanomalien, der Fluor albus, der Urindrang und die Unterleibsschmerzen als Retroflexionsschmerzen bei den einschlägi- gen Fällen aufzufassen sind, daß dagegen die oft geklagten Magensymptome und Schmerzen in den oberen Partien des Bauches auf die Ptose des betreffenden Organes zurückzuführen seien, und daß schließlich Kopfweh, Reizbarkeit u. s. w. dieser mit Retroflexion behafteten Asthenischen als Erscheinungen ihres geschwächten Nervensystems aufzufassen sind. Auch van Teutem fand unter dem Retroflexions- material der Leydener Klinik in 47% der Fälle Asthenie registriert.

Wenn wir also annehmen, daß die Retroflexio uteri in vielen Fällen nur ein Stigma bzw. Symptom der Asthenie oder des asthenischen Infantilismus ist, so er- hebt sich die wichtige Frage: Bedarf so eine auf konstitutioneller Basis entstandene Retroflexion einer Behandlung für sich, oder nur im Rahmen der gesamten vor- handenen Konstitutionsanomalie? Eine ganze Reihe Autoren, wie Feuchtwanger, Krönig, Theilhaber, Mathes u.a., lehnen ja auch wirklich die Behandlung der Retroflexio uteri mobilis als Erkrankung sui generis ab. Meines Erachtens ist die ganze Fragestellung nach folgenden Gesichtspunkten zu entscheiden. Eine ge- sonderte Behandlung ist nicht nötig, wenn es als erwiesen zu betrachten ist, daß die unkomplizierte mobile Retroflexio uteri keinen besonderen Symptomen- bzw. Beschwerdenkomplex auslöst, oder wenn eine rationelle, auf Besserung der ätiologi-

Die Asthenie des Weibes. 93

schen Konstitutionsanomalie abzielende Therapie Aussicht auf Erfolg hat. Dagegen ist eine gesonderte Behandlung dann meines Erachtens am Platze, wenn es mit ihr möglich ist, die bestehenden Beschwerden zu beseitigen.

Abgesehen von gewissen Formen der Kreuzschmerzen, namentlich wenn sie mehr einseitig auftreten und die Tendenz zeigen, ähnlich der Ischias hüft- und ober- schenkelwärts auszustrahlen, haben wir auch den Harndrang, das Druckgefühl auf den Mastdarm, die Menorrhagien und den Fluor als in ätiologischer Abhängigkeit zur Retroflexion stehend zu betrachten. Auch die Sterilität. bei Nulliparen steht zweifellos im Zusammenhang mit einer bestehenden Retroilexion, da wohl jeder Gynäkologe über nicht wenige Fälle eigener Erfahrung verfügt, wo nach kurzer oder längerer Ehe prompt nach Beseitigung der Retroflexion Conception eintrat. Besonders vor Augen steht mir unter vielen ein Fall meiner Praxis, wo nach mehr- fachen von anderen Gynäkologen vorgenommenen Sterilitätsbehandlungen von mir nach bereits 10jähriger steriler Ehe der Retroflexion wegen eine Verkürzung der Ligamenta rotunda nach Alexander-Adams vorgenommen wurde mit dem Erfolge, daß innerhalb dreier Monate nach der Operation die ersehnte Conception eintrat. Ebenso sieht man vielfach oder allmählich nach Behebung der Retroflexion die Menorrhagien einer normalen Menstruation Platz machen. Eine rationelle und durch- greifende Hebung der asthenischen Konstitution der Retroflexionsträgerinnen durch tonisierende und roborierende diätetische und medikamentöse Maßnahmen ist zur- zeit wohl noch sehr wenig aussichtsreich. Hingegen haben wir in der sog. ortho- pädischen Behandlung der mobilen Retroflexion, welche in Aufrichtung der Gebär- mutter, Pessar und Maßnahmen zur Kräftigung besonders des Tonus der Unter- leibsorgane (Badebehandlung, Massage u. s. w.) besteht, eine Methode, die in vielen Fällen erreicht, daß in ca. einem Jahr der Uterus auch ohne Pessar oder sonstige Maßnahmen in Normallage, d. h. in schwebender Anteflexion, liegen bleibt. Ist dieses Ziel nicht zu erreichen, oder ist aus Gründen oder Erwägungen heraus, die im Rahmen dieser Abhandlung eine Erörterung nicht finden können, von vornherein eine Pessarbehandlung unangängig, dann soll man bei Bestehen der oben skizzierten Beschwerden meines Erachtens doch eine lagekorrigierende Operation vornehmen. Man könne, sagen Autoren wie Mathes, Stiller u.a. beim Status asthenicoptoticus nicht jedes einzelne aus seiner Normallage dislozierte und gesenkte Organ durch Naht fixieren, um die Enteroptose zu beseitigen; denn damit würden ja gar nicht alle die in der vorliegenden anomalen Konstitution ursächlich begründeten somati- schen und nervösen Beschwerden radikal beseitigt. Zudem seien streng genommen diese Organe ja gar nicht aus ihrer Normallage gesenkt, sondern infolge der oben erörterten veränderten Statik befinden sie sich gewissermaßen normalerweise in ge- senktem Zustande. Doch wird keiner der Autoren dieser Richtung die Leibbinde als höchst schätzbares orthopädisches Behandlungsmittel des Status asthenicoptoticus entbehren wollen; gewiß, versagt sie, so wäre eine operative Fixur der gesamten Eingeweide ein wohl unausführbares Unterfangen; dem ist aber nicht so, wenn bei der Retroflexio uteri die oben skizzierte orthopädische Behandlung versagt. Zudem besitzen wir gerade bei der mobilen Retroflexio uteri in Gestalt der Verkürzung der Ligamenta rotunda nach Alquie-Alexander-Adams eine Methode, welche anatomisch völlig normale und ideale Lageverhältnisse am Uterus herstellt, indem das Organ nirgends selbst mit seiner Wand fixiert wird, sondern es wird nur durch die Ligamentverkürzung eine regelrecht frei bewegliche schwebende Anteflexion erzielt, wodurch die volle und ungestörte Funktion des Organs gewährleistet ist. Van der Hoeven hat vollkommen recht, wenn er sagt, daß der, welcher nur das

94 Walther Hannes.

Nervensystem behandelt und den Uterus in Retroflexion liegen läßt, ebenso falsch handelt, wie der, welcher bei Behandlung der Retroflexion den Zustand der andern Bauchorgane völlig außer acht läßt. Ich habe seinerzeit 71 Frauen, die mittels Alexander-Adams operiert worden waren, nachuntersucht und gefunden, daß nur 7 von ihnen keine Besserung bzw. Beseitigung ihrer Beschwerde hatten. Sind also Beschwerden oder funktionelle Störungen bei Asthenischen vorhanden, die an sich oder in ihren zu erwartenden Folgezuständen als ursächlich bedingt durch die Retro- flexion anzusehen sind, so ist diese sachgemäß zu behandeln und zu beheben.

Unter den zu erwartenden Folgezuständen ist die weitere und weitestgehende Auswirkung der Enteroptose auf die weiblichen Genitalien zu verstehen, nämlich ` der Prolaps. Gewiß wird man bei einer Nullipara einem auf asthenischer Basis sich entwickelnden virginellen Prolaps im allgemeinen durch die Beseitigung einer Retro- flexion meist nicht vorbeugen können, wohl aber sehr oft bei einer zu Erschlaffungs- zuständen neigenden Frau, die geboren hat und mit einer Retroflexio uteri behaftet ist; namentlich wenn man hier außer dem Alexander-Adams auch eine exakte plastische Rekonstruktion des erschlafften Beckenbodens vornimmt.

Wenn Pribram ausführt, daß die beste Therapie des Prolapses in der Prophy- laxe bestehe und daß systematische Muskel- und Atemübungen sowie Bewegungen im Freien und entsprechende Ernährung, besonders bei jungen Mädchen, gar nicht hoch genug einzuschätzen wäre, so ist ihm zweifellos zuzustimmen. Weshalb dann aber von ihm und anderen Autoren die Beseitigung einer Erscheinungen machenden Retroflexion abgelehnt wird, ist mir nicht recht verständlich. Wenn man auch Pribram zugeben kann, daß der extrem retroflektierte Uterus, durch den intra- abdominalen Druck nach abwärts getrieben, möglicherweise Halt an der Becken- bodenplatte findet, so doch eben nur dann, wenn sie normal ist, was bei Astheni- schen im allgemeinen und namentlich nach Geburten, nicht mehr der Fall ist. Ehe aber der auf der Basis konstitutioneller Schwäche seines Haft- und Bandapparates zur Retroflexion und Senkung neigende Uterus in steilste extreme Retroflexion ge- langt ist, wird er, wie Küstner erwies, in der in solchen Fällen üblichen mäßigen Retroflexionsstellung durch den hier in verhängnisvoller Richtung zur Auswirkung kommenden intraabdominalen Druck schon längst weitestgehend descendiert und prolabiert sein. Und es wird niemandem einfallen, die Korrektur eines auf konsti- tutioneller Schwäche basierten Prolapses nicht doch auf operativem Wege vornehmen zu wollen. i |

Mit Mathes, v. Jaschke, Pribram ua stehen wohl heute die meisten Gynä- kologen auf dem Standpunkt, daß beim virginellen Prolaps so gut wie immer asthenische Konstitution feststellbar ist; nicht selten auch gerade wieder deutlich kombiniert mit dem Infantilismus, indem zur Entstehung des virginellen Prolapses, wie W. A. Freund, A Mayer u.a. betonen, der abnormen, als infantil aufzufassen- den Tiefe des Douglas eine ätiologische Bedeutung zukommt. Noch in einer Rich- tung ist nach Mathes gerade im asthenischen Infantilismus die Ursache des Pro- lapses zu suchen, indem diese Individuen auf Grund ihrer ganzen Einstellung zum sexuellen Leben in einem großen Prozentsatz zu den alten Erstgebärenden zählen, und weil sie ferner, was auch v. Jaschke betont, auf Grund ihrer Konstitutions- anomalie ganz besonders zu schweren mit schweren Weichteilverletzungen einher- gehenden Geburten disponiert sind.

Unter 490 mit Prolaps behafteten Frauen und Mädchen fand Pribram bei 447 ausgesprochene Zeichen der Asthenie, wie außerordentliche Schlaffheit der Muskulatur und der bindegewebigen Stützsubstanzen, was bei ihnen neben dem Pro-

Die Asthenie des Weibes. 95

laps Hängebauch, Enteroptose, Wanderniere, Hernien, Hämorrhoiden, Rectusdiastase, Plattfuß, Varizen zur Folge gehabt hatte. So betont ferner v. Graff, daß bei der Asthenikerin oft schon nach einer einzigen, selbst leichten Geburt in kürzester Zeit der Prolaps zur Entwicklung kommt. Ähnlich fand Jacobs unter 34 Frauen mit Prolaps bei 28 hypotonisch-asthenische Stigmata; bei drei Frauen hatte sich der Prolaps nach einer einzigen Geburt entwickelt.

Wenn wir auch durchaus den Standpunkt vertreten mūssen, daß eine richtige Erziehung unserer jungen Mädchen, namentlich der mit schlaffer Faser zu Sport, Gymnastik, Turnen u. s. w. manches prophylaktisch wird bessern können, so wird es doch kaum möglich sein, damit die asthenische Konstitution umzuwandeln. Gewiß wird dann noch durch rechtzeitig im Wochenbett einsetzende gymnastische Übungen auch weiterhin an einer möglichst weitgehenden Erstarkung der Bauch- und Becken- bodenmuskulatur zu arbeiten sein. Bedeutsam in dieser Hinsicht ist auch das Früh- aufstehen im Wochenbett, das von Küstner bereits vor über 30 Jahren inauguriert viel später erst von Krönig u.a. lebhaft propagiert wurde. Es konnte nachgewiesen werden (Heimann), daß beim Frühaufstehen (3.5. Tag) viel weniger Retroflexionen sich im Wochenbett entwickelten, als bei Spätaufstehen (9.— 10. Tag). Nie darf Früh- aufstehen jedoch gleichbedeutend sein mit Früharbeiten; nie dürfen Verletzte, Fiebernde, auf Gonorrhöe Verdächtige früh aufstehen. Nichtsdestoweniger wird wohl auch die Zukunft lehren, daß beim Infantilismus und bei der Asthenie und bei der Kombination dieser beiden Konstitutionsanomalien der in Konstitution und Habitus ätiologisch begründete und durch die Geburt ausgelöste Prolaps nicht verschwinden, ja vielleicht nicht einmal an Häufigkeit gemindert werden wird. Durchaus möglich scheint es mir, daß die oben angedeuteten Maßnahmen bei den Nicht-Asthenischen und Nicht- Infantilen erfolgreich hinsichtlich Minderung der Prolapshäufigkeit sein werden.

Ist der Prolaps manifest geworden, so bedarf er auch bei den Asthenischen, bei denen wir, wie schon erwähnt, meist auch einzelne oder mehrere der anderen Stigmata des Status asthenicoptoticus, wie Hängebauch, Enteroptose, Hernien, Obstipation, Hämorrhoiden, Varizen, Hängebrust u.s. w., finden, der entsprechenden operativen Korrektur. Diese ist stets mit einer gut sitzenden und die vordere Bauchwand tat- sächlich hebenden und stützenden Leibbinde zu kombinieren.

Von allen Autoren, die sich eingehend mit der Asthenie und ihrer Sympto- matologie befassen, wird auf die Hyperästhesie der Haut, u. zw. ganz besonders auch der. Bauchhaut hingewiesen. Dies muß man sich immer vor Augen halten, wenn man nicht bei Asthenischen namentlich im asthenischen Anfall Gefahr laufen will, eine Peritonitis, Adnexitis oder Appendicitis zu mutmaßen, wo es sich eben um nichts anderes als um den asthenischen Anfall handelt. Albrecht, Mathes, A. Mayer u.a. weisen darauf hin, daß wohl in so manchem Falle, wo bei negativem objektiven Befund und mehr oder weniger starken subjektiven Beschwerden eine kaum oder gar nicht veränderte Appendix entfernt wird, ohne daß die Patientinnen beschwerdefrei werden, neben Asthenie auch das als infantile Hemmungsbildung nach Tandler anzusehende Coecum mobile die Ursache der Beschwerden ist.

Eine analoge Fehldiagnose kann noch, wie auch Mathes erwies, dem Ungeübten bei Asthenischen hinsichtlich der Cystitis unterlaufen. Für die asthenische Konstitutions- anomalie sind nach Mathes, Stiller u.a. die schon erwähnte orthostatische Albu- minurie und die Phosphaturie als ihr eigentümliche Funktionsstörungen der Niere aufzufassen. Besteht nun im asthenischen Anfall Urindrang und Brennen beim Ent- leeren des salzreichen Urins, so kann dem Ungeübten sehr leicht in solchen Fällen die Fehldiagnose Cystitis unterlaufen.

06 ‘Walther Hannes.

Es erhebt sich nun weiterhin die Frage, ob wir unter den gynäkologischen Geschwulstträgerinnen die Asthenikerinnen besonders reichlich vertreten sehen. Hier- über findet sich bisher nur sehr wenig in der einschlägigen Literatur. H. Freund meint, daß die Hypoplasie eine Rolle bei der Myomentwicklung spiele. Er fand unter seinen 300 Myamfällen 21 Frauen mit allgemeinem und 15 mit partiellem Infantilismus, ferner 7 mit ungeheilter Chlorose und 4 mit ausgesprochenem Uterus duplex. Im ganzen waren bei 66 Frauen konstitutionelle Anomalien nachweisbar. Jacobs dagegen fand unter 11 Myomträgerinnen nur 2 Infantile. Hier. werden erst noch weitere umfängliche Beobachtungsreihen anzustellen sein, ehe man wird zu einem irgend wie abschließenden Urteile gelangen können, wenn auch v. Kemnitz meint, daß bereits jetzt erwiesen sei, daß bei Asthenikerinnen eine besondere Neigung zur Entwicklung von Eierstocks- und Gebärmuttergeschwülsten bestehe.

Nunmehr ist noch darzulegen, ob und in welcher Weise die infantile und asthenische Konstitutionsanomalie das Fortpflanzurgsgeschäft beeinflußt. Hegar, Mathes u.a. weisen darauf hin, daß bei den Infantilen und Asthenischen primär der Sexualtrieb oft schon offensichtlich darniederliege, weswegen, wie Mathes ausführt, es auch nicht verwunderlich ist, daß die an absoluter Zahl nur wenigen Virgines einer poliklinischen Krankenklientel fast alle Infantil-Asthenische sind. Auch neigen wieder anderseits diese Individuen nach Ansicht von Mathes, W. A. Freund, L. Fraenkel u. a. zur Masturbation, welche diese Autoren zum Teil geneigt sind, ätiologisch für die oben schon erörterte Parametritis posterior in Anspruch zu nehmen. Hier spielen ja schon sicherlich psychasthenische Vorgänge mit, die wohl nach Walthard u.a. bei der Dyspareunie und dem Vaginismus eine ganz bedeutsame Rolle haben. Doch darf man natürlich nicht vergessen, daß die infantil hypoplastische Scheide auch schon rein anatomisch prädisponiert ist zu Dyspareunie und Vaginismus. Auf die Beziehungen zwischen hypoplastisch asthenischem Zustande der Genitalien und Sterilität ist bereits früher hingewiesen worden. W. A. Freund machte auf die infantile Verlängerung und Schlängelung der Tuben aufmerksam; diese können, wie Bumm ausführt, als Grund für Sterilität angesehen werden oder aber sie begünstigen, wie W.A.Freund, Neusser, Mathes, Stiller u. a. annehmen, das Zustandekommen einer Eileiterschwangerschaft. Abgesehen davon, daß die Erfahrung lehrt, daß es bei Infantilen und Asthenischen häufig und meines Erachtens ganz besonders häufig in der ersten Schwangerschaft zur Fehl- oder Frühgeburt kommt, sind, wie Mathes, v. Kemnitz u. a. betonen, die Molimina graviditatis viel größer bei ihnen und werden von ihnen viel störender und nachhaltiger empfunden. Die Hyperemesis gravidarum ist nach Mathes besonders ausgeprägt bei den Infantil-Asthenischen, ja für die so konstitutionierten Schwangeren geradezu ein Kennzeichen.

Daß wir bei den Infantilen relativ oft mit einem allgemein verengten Becken zu rechnen haben werden, sei nur der Vollständigkeit wegen erwähnt. Aus dem asthenicoptotischen Zustande der Eingeweide ergeben sich ebenfalls für die Zeit der Schwangerschaft und des Wochenbettes besondere Störungen und Gefahren. Mit Recht weist Albrecht auf die relative Häufigkeit der Pyelitis gravidarum bei den Asthenikerinnen hin, für welche meines Erachtens die Nephroptose die Grundlage abgibt. Die Asthenischen bedürfen in der Gravidität einer ganz besonders guten und frühzeitig anzulegenden Stütze für ihre schlaffe und zu Überdehnungen neigende Bauchwand. Der asthenicoptotische Hängeleib schafft, wenn nicht durch Binde oder Wickelung gestützt, die Vorbedingungen für Lage- und Haltungsanomalien der Frucht in dem im ungestützten Hängeleib stark nach vorn überfallenden und mit dem Muttermund demzufolge von der Beckenachse abweichenden hochschwangeren

Die Asthenie des Weibes. 97

Fruchthalter. Die Lageanomalien des Uterus im Sinne der Retroflexion und des Descensus können in den ersten Monaten der Ausbildung einer Retroflexio uteri gravidi incarcerata Vorschub leisten, was eine weitere Erhöhung der Gefahrenquote für die Schwangerschaft der Asthenischen ergibt. Varizen gehören ja zum typischen Bild der Asthenie, sie werden in der Schwangerschaft sich besonders vergrößern, wenn sie nicht frühzeitig durch Wickeln oder Gummistrumpf in mäßigen Grenzen gehalten werden. Typisch ist auch der Plattfuß, der häufig diesen Schwangeren besonders viel Beschwerden macht und unbedingt sachgemäßiger Behandlung zuzu- führen ist.

Hängeleib, Rectusdiastase, Lageanomalien der Frucht, infantiler Uterus, enges Becken, das sind ja alles Komplikationen, die sich im Einzelfalle ganz ver- schieden dann unter der Geburt in allen möglichen Störungen und Schwierig- keiten auszuwirken pflegen, auf die hier weiter nicht eingegangen zu werden braucht. Erinnert sei nur an die Wehenschwäche und die lange Geburtsdauer und die allein hieraus schon für Mutter und Kind erwachsenden Gefahren. Zur Illustration der Gebär- tüchtigkeit der Infantil-Asthenischen seien nur einige Angaben der Arbeit Jacobs entnommen. Von 5 kompletten Dammrissen bei operativer Entbindung handelte es sich Amal um genitalinfantile Frauen. Von 100 besser konstitutionierten Frauen hatten 80 geboren, von 100 schlechter konstitutionierten nur 46; in der ersten Gruppe hatte jede zweite Frau eine pathologische Geburt gehabt, in der zweiten Gruppe von 3 Frauen immer 2. Sellheims Worte, daß „die Art der Absolvierung der Fortpflanzungsgeschäfte durch die Frau geradezu das Maß ihrer Konstitution bildet“ sind voll und ganz zu unterschreiben.

Der Ablauf des Wochenbettes ist in vielem zwangsläufig gebunden an die Art des Geburtablaufes. Geburtsstörungen ziehen auch Störung der Wundheilung und der Rückbildung im Wochenbett nach sich. Auf die Gefahren der Prolaps- entwicklung in und nach dem Wochenbett bei den Asthenischen wurde bereits hin- gewiesen und dabei schon die Prophylaxe in Gestalt von Frühaufstehen, Gymnastik, Massage u,s. w. erörtert. Die Gymnastik und das Frühaufstehen sind namentlich auch bei den mit Varizen behafteten Asthenischen zur Vorbeugung der Thrombose angezeigt.

Nachdem in unseren vorstehenden Erörterungen aufgezeigt worden ist, in welchen Erscheinungen und bei welchen Gelegenheiten die Asthenie des Weibes besonders offensichtlich und bedeutsam wird, ist zu sagen, daß eine erschöpfende Darstellung dieses Gebietes zurzeit gar nicht möglich ist, weil notwendigerweise noch sehr viel klinisches und anatomisches kasuistisches Material wird gesammelt, gesichtet und zusammengestellt werden müssen, um die bisherigen auf dem Gebiete der weiblichen Asthenie durch die konstitutionspathologische Forschung aufgedeckten Beziehungen und Auswirkungen noch zu klären, zu vertiefen und zu erweitern. Aber schon jetzt ist klar, daß es unbedingt Aufgabe und Pflicht des einzelnen Arztes ist, bei der Untersuchung und Beobachtung seiner gynäkologisch Kranken, mehr als dies im allgemeinen schon geschieht, auf deren Konstitution bzw. Konsti- tutionsanomalie zu achten. Daß hierdurch der Zusammenhang so mancher schein- bar ganz verschieden klinischen und .pathologischen Erscheinungen und Befunde mit einer bestimmten Konstitution bzw. Konstitutionsanomalie dann offensichtlich werden kann und wird, ist im vorstehenden an der Asthenie gezeigt worden. Je mehr im Einzelfall der Arzt auf diese Zusammenhänge aufmerksam wird, um so eher wird er gerade auf dem Gebiete der Asthenie die Möglichkeit haben, durch

geeignete Maßnahmen sachgemäße und erfolgreiche Prophylaxe zu treiben. Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 7

98 | Walther Hannes,

Literatur: Erschöpfende Literaturangaben in den Werken und Monographien von Ascher, Bauer, Hart, Mathes, Martius, Siemens, Stiller u.a. Adler, Studie über Minderwertigkeit von Organen. Urban & Schwarzenberg 1907. Albrecht, Der asthenische Infantilismus des weiblichen Geschlechtes und seine Bedeutung für die allgemeine und spezialistische ärztliche Praxis. Ärztlicher Verein, München 29. September 1913. Albu, Bewertung der Visceralptose als Konstitutionsanomalie. Berl. kl. Woch. 1909, 7. Anton, Infantilismus. Münch. med. Woch. 1906, 30. Bab, Die Pathologie der infantilistischen Sterilität. Volkmanns Vorträge 198-200. Bartel, Status thymico-lymphaticus und Status hypoplasticus. Deuticke 1912. Bartel u. Herrmann, Über die weibliche Keimdrüse bei Anomalie der Konstitution. Mon. f. Geb. u. Gyn. 1911. Bauer, Die konstitutionelle Disposition zu inneren Erkrankungen. Springer 1921. Benjamin, Beobachtungen über Asthenie im Kindesalter. Kl. Woch. 1923, p. 1528. Borchardt, Untersuchungen über die veränderte Reaktionsfähigkeit bei Asthenikern. Verein für wissenschaftliche Heilkunde, Königsberg 15. Januar 1923. Burckardt, Splanchnoptose. Erg. d. Chir. u. Orth. IV. Fischer, Über das klinische Bild der infantilen Sterilität. Dissertation. Halle 1920. Fränkel L., Sexualphysiologie. Vogel 1914; Referat. Ztschr. f. Geb. LXIV. Freund H., Ztschr. f. Geb. LXXIV, 1. v. Graff, Zur Ätiologie des Prolapses. A. f. Geb. u. Gyn. CXX. Greil, Richtlinien der Konstitutionspathologie, Bedeutung der Gestations- toxonosen. Zbl. f. Gyn. 1922, 17. Hannes, Die Dauererfolge des Alexander-Adams. Zbl. f. Gyn. 1908, 49. Hart C., Konstitution und Disposition. Bergmann 1922; Ztschr. f. Geb. LXXIV. Hegar, Entwicklungsstörungen. Münch. med. Woch. 1905, p. 377. Herrmann, Die klinische Bedeutung der Veränderungen am weiblichen Genitale bei Status hypoplasticus (Bartel). Gyn. Rund- schau 1913. Hirsch, M., Dysmenorrhöe in Beziehung zu Körperbau und Konstitution. A. f. Gyn. 120. v. Hösslin, Uber Lymphocytose bei Asthenikern und Neuropathen und deren klinische Bedeutung. Münch. med. Woch. 1913, 21/22. van der Hoeven, Die Asthenie und Lageanomalien der weiblichen Genitalien. Fischer 1909. en Beobachtungen über die Häufigkeit von Kon- stitutionsanomalien bei SE Kranken. Dissertation. Gießen 1922. v. Jaschke, Beob- achtungen über die Häufigkeit konstitutioneller Anomalien bei Erkrankungen des weiblichen Genital- apparates. Ztschr. f. angewandte Anatomie und Konstitutionslehre VI; Der Genitalprolaps im Lichte der Konstitutionspathologie. A. f. Gyn. CXX. Kehrer, Die Entwicklungsstörungen beim weiblichen Geschlecht. Hegars Beiträge, XV. v. Kemnitz, Der asthenische Infantilismus in seinen Beziehungen zur Fortpflanzungstätigkeit und geistigen Betätigungen. Dissertation. München 1903. -— Kermauner, Dysmenorrhöe. Mon. f. Geb. u. Gyn. XXVI. Kretschmer, Körperbau und Charakter. Springer 1922. - Krönig, Uber die Bedeutung der funktionellen Nervenkrankheiten für die Diagnostik und Therapie in der Gynäkologie. Thieme 1902. Mathes, Die asthenische Enteroptose. Nothnagel- Supplement, Il; Der Infantilismus, die Asthenie und deren Beziehungen zum Nervensystem. Karger 1912; Prolaps und Retroflexionsfragen. Zbl. f. Gyn. 1921, 40; Was bedeutet Konstitution? Münch. med. Woch. 1923, 8; Die Konstitutionstypen in der Gynäkologie. Kl. Woch. 1923, 7; Über den Konstitutionsbegriff u. s. w. Ztschr. f. angewandte Anatomie u. Konstitutionslehre. VI; Die Kon- stitutionstypen des Weibes. Halban-Seitz, Handbuch, III. Mayer, Infantilismus und Hypoplasie. Münch. med. Woch. 1910, p. 513; Hypoplasie und Infantilismus in Geburtshilfe und Gynäkologie. Hegars Beiträge, XV; Uber die Bedeutung der Konstitution in der Geburtshilfe und Gynäkologie. Münch med. Woch. 1922, 50. Menge, Das Wesen der Dysmenorrhöe. Zbl. f. Gyn. 1901, p. 1367; Eröffnungsrede. A. f. Gyn. 120. Niederehe, Beitrag zur Glykogenhypothese. A. f. Gyn. 119, 2. Pribram, Konstitutionspathologie und Prolapsfrage. Kl. Woch. 1923/24. Schiff, Das asthenische Kind. Kl. Woch. 1923, p. 228. Seitz, Der konstitutionelle Faktor in der Pathogenese gynäkologi- scher Blutungen. A. f. Gyn. 120. Sellheim, Ztschr. f. Geb. LXXX. Siemens, Konstitutions- und Vererbungspathologie. Springer 1921. Stieda, Chlorose und Entwicklungsfehler. Ztschr. f. Geb. XXXII. Stiller, Grundzüge der Asthenie. Enke 1916; Die asthenische Konstitution. Ztschr. f. angewandte Anatomie u. Konstitutionslehre, VI. van Teutem, Ztschr. f. Geb. LXXVII, 2. van der Velden, Zur Lehre vom Infantilismus. Ztschr. f, Geb. LXXIV. Vogel, Die allgemeine Asthenie der Bindegewebe. Münch. med. Woch. 1913, 16; Über Bauchfellverwachsungen. Erg. d. Chir. u. Orth. XVI. Walthard, Der Einfluß des Nervensystems auf die Funktionen der weiblichen Genitalien. Pr. Erg. d. Geb. u. Gyn. II. Wetzel, Die Stillersche Konstitutionsanomalie im Säuglings- alter. Ges. f. Kinderheilk. München, 13. Juli 1923.

Die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens bei gestörter Schlagfolge.

Von K. Fahrenkamp, Stuttgart. "Mit 36 Kurven im Text.

——.

L

In dieser Darstellung wird die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens von der besonderen Fragestellung aus besprochen, ob eine die Herzinsuffizienz begleitende Störung der Schlagfolge für die Digitalisbehandlung besondere Richt- linien ergibt, oder ob ganz unabhängig von der gestörten oder ungestörten Rhythmik lediglich der Grad der Herzschwäche für den Erfolg der Digitalisbehand- lung maßgebend ist.

Wenn hier also die Störungen der Schlagfolge im Zusammenhang mit der Insufficientia cordis vera (A. Fraenkel) als häufiges Begleitsymptom der Herzschwäche ganz bewußt den Kernpunkt des Interesses bilden sollen, so wird nicht einseitig die Digitalistherapie von der Seite der Herzrhythmusstörungen aus betrachtet, sondern es wird der Versuch gemacht, diejenigen klinischen Erfahrungen und Beobachtungen kritisch zusammenzufassen und ihren praktischen Wert für die Digitalisbehandlung im ganzen herauszuschälen, die am Krankenbett und in der Praxis im Zusammen- hang mit der Anwendung der Digitalis bei Störungen der Schlagfolge und dem gleichzeitigen Versagen des Herzens gesammelt wurden. Bei dem Versuch, das Tatsächliche unserer Kenntnisse bei dieser speziell gerichteten Frage darzulegen, muß sich zeigen, ob das rhythmusgestörte insuffiziente Herz andere Wege und Ziele für die Digitalisbehandlung als das rhythmusnormale insuf- fiziente Herz ergibt. Die Behandlung dieser Frage würde sich erübrigen, wenn nicht in Lehrbüchern und Spezialabhandlungen die Rhythmusstörungen im Zusammen- hang mit der Herzinsuffizienz und der Digitalisanwendung sehr verschiedenartig be- wertet würden.

Über „Digitalistherapie“ hat Jarisch im II. Band dieser Ergebnisse berichtet, ohne ausführlicher auf die Digitaliswirkung bei Rhythmusstörungen einzugehen, und auch A. Weber streift in einem Aufsatz über Herzinsuffizienz im IV. Band dieser Ergebnisse bei der Digitalistherapie die Rhythmusstörungen so kurz, daß man den Eindruck gewinnen kann, als ob diese speziell gerichtete Frage kein besonderes Interesse mehr beanspruchen könne.

Wir werden im folgenden unter Hinweis auf die jetzt übliche lehrbuchmäßige Darstellung (Lewis, A. Hoffmann, Romberg, Makenzie, Krehl, Edens' u. a. m.) an einigen Beispielen sehen, wie weit die Ansichten der verschiedenen Autoren in der uns hier beschäftigenden Frage auseinandergehen.

Magnus kommt in einer Abhandlung über die Digitalis und ihre therapeu- tische Anwendung im Anschluß an die im Original mitgeteilten Richtlinien Witherings aus dem Jahre 1785 zu der Schlußfolgerung: „Man kann sogar sagen, daß neben dem Neuen, was die letzten Jahrzehnte der Digitalisforschung gebracht

100 K. Fahrenkamp.

haben, auch viel Verwirrung angerichtet wurde, so daß mancher Praktiker zum Schaden seiner Patienten unsicher geworden ist“ (1923).

Zu diesem „Neuen“ muß man ja wohl auch, vor allem seit Einführung des Saitengalvanometers in die klinische Untersuchungsmethodik, das Studium und die Forschungsergebnisse der Lehre von den Herzunregelmäßigkeiten rechnen. Wenn ein so hervorragender Kenner der Herzkrankheiten wie A. Fraenkel 1923 zu dem Urteil kommt, es sei keine Unterschätzung der großen, physiologischen und klinischen Bedeutung des namentlich durch die Elektrokardiographie befruchteten Studiums der Rhythmusstörungen, wenn dessen praktischer Wert für die Indikation zur Digitalis- therapie zurzeit noch gering erscheine, und wir anderseits an die Stellung Wencke- bachs und Edens denken:

„Während beim normalen Herzmechanismus die Insuffizienz die Ursache der Pulsbeschleunigung ist, ist beim Vorhofflimmern wenigstens zu einem wichtigen Teil die Pulsbeschleunigung die Ursache der Insuffizienz« und Edens bei- spielsweise in dem dauernden Vorhofflimmern mit rascher Kammerfrequenz die chronische Digitaliskur für die gegebene Behandlung ansieht, so stellen wir selbst unter den besten Kennern dieser Frage eine weitgehende Meinungsverschieden- heit fest, denn Fraenkel kommt mit Doll in seiner Darstellung weiter zu dem Ergebnis, auch in den meisten Rhythmusstörungen, die eine Herzschwäche verursachen oder begleiten, im Grunde kein digitalisförderndes oder -hemmendes Moment erblicken zu können.

„Ebensowenig bietet aber eine Irregularitas perpetua Aussicht auf einen größeren Digitaliserfolg, als man ihn etwa bei Herzschwächen mit regelmäßigem Puls erzielen kann“ (A. Fraenkel und Doll).

Und von Wenckebachs Stellung: „Die Arhythmie verlangt an sich eine spezielle Behandlung, weil sie der Ausdruck einer für den Kreislauf schädlichen Störung des Herzmechanismus ist, wenigstens steht die Therapie gänzlich unter dem Zeichen des gestörten Pumpmechanismus“ zu der Ansicht A. Fraenkels finden wir in den Lehr- büchern alle möglichen mehr nach der einen oder anderen Seite zielenden Auf- fassungen in der Darstellung dieser Frage.

So nimmt beispielsweise Romberg den Standpunkt ein, die Dynamik des Herzens bestimme neben der Reaktion der Gefäße vorwiegend oder neben anderen Bedingungen die Wirkung der Digitalis, und während Romberg auf der einen Seite in der Arhythmia perpetua ein dankbares Anwendungsgebiet der Digitalis erblickt, macht er auf der anderen Seite die Einschränkung, daß nach seinen persönlichen Erfahrungen die Aussichten der perpetuellen Arhythmie auf gute Digitaliserfolge allerdings nur mäßig größer seien als bei rhythmischer Herztätigkeit.

Wenn A.Fraenkel und Doll einen so extremen Standpunkt einnehmen, so mag nach meinem Dafürhalten diese Stellungnahme aus ihren Erfahrungen erwachsen sein, daß häufig vor lauter Berücksichtigung einer Arhythmie und durch unberechtigte theoretische Bedenken praktisch wertvolle Digitaliserfolge nicht zu stande kommen, und daß in diesem Sinne die praktischen Ergebnisse der klinischen Elektrokardio- graphie noch gering sind oder um hier die Worte von R. Magnus zu wieder- holen „auch viel Verwirrung angerichtet wurde“ zum Schaden unserer Kranken.

Sehr wesentlich erscheint mir noch ein Moment, auf das Leo Müller für die Digitalis schon 1908, also vor der elektrokardiographischen Methodik, hingewiesen hat:

„So überragend auch die Verwendung der Digitalis in der Behandlung Herz- kranker ist, so vielgestaltig und different ist anderseits die Art und Weise der Medikation in ihrer Indikationsstellung und Ausführung, nicht nur auf den ver-

Die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens bei gestörter Schlagfolge. 101

schiedenen Kliniken und Krankenhäusern, die gewissermaßen traditionell den einen oder anderen Modus der Digitalisbehandlung ausgebildet haben, sondern jeder Arzt hat eigentlich für sich seine persönliche Methode der Digitalistherapie.“

Diese stark individualisierende Stellung des einzelnen Arztes zur Digitalistherapie ist meines Erachtens durch die mehr oder weniger anerkannten praktischen Ergebnisse der klinischen Elektrokardiographie in den letzten Jahren immer mehr in Erscheinung getreten, und manche Ärzte haben eher eine gewisse Unsicherheit bekommen, da, wie dies schon vorher angedeutet wurde, die Stellung der Lehre von den Herz- unregelmäßigkeiten zu der Frage der Herzinsuffizienz und Digitalis sowohl lehrbuch- mäßig als auch unter den Autoren, die sich besonders mit dieser Frage beschäftigt haben, zurzeit noch eine sehr verschiedenartige ist.

So machen wir mit einem Hinweis auf die ausführlichen Darstellungen von Lewis, Makenzie, Wenckebach, A. Hoffmann, Krehl, Romberg, Edens u.a. m. den Versuch, die eingangs gestelte Frage zu beantworten. Um dies einigermaßen erschöpfend zu tun, müßten die Ergebnisse der experimentellen und klinischen Elektrokardiographie zusammenfassend kritisch bewertet werden. Eine diesbezügliche Darstellung von dem derzeitigen Stande der tierexperimentellen und klinischen Forschungsergebnisse seit Einführung des Saitengalvanometers in die Klinik kann nicht das Ziel dieser Arbeit sein. Um aber die Fragestellung dieser Abhandlung doch einigermaßen zu beantworten und der Kritik standzuhalten, muß man vor Beantwortung der speziell gerichteten Frage den Begriff „bei gestörter Schlagfolge“ für das hier zu behandelnde Thema möglichst klar präzisieren. Bei diesem Versuch denken wir an die Worte von Edens, die er in einem dieser Abhandlung verwandten Kapitel seines Buches folgen läßt:

„Unser Kapitel über die Wirkung der Digitalis auf die unregelmäßige Herz- tätigkeit ist komplizierter geworden als erwünscht, aber es erschien mir zunächst keine Vereinfachung möglich, ohne der Sicherheit unserer Erkenntnis und unserer Behandlung zu schaden. Nicht Flucht vor den Schwierigkeiten, sondern ihre Durch- dringung ist der einzige Weg, um zu möglichst einfachen Vorstellungen zu gelangen.“

„Und zu einfachen und einheitlichen Vorstellungen müssen wir gelangen, wenn die praktisch wichtigen Ergebnisse aus der Lehre der Herzunregelmäßigkeiten in ihren Hauptpunkten Allgemeingut der Ärzte werden und für unsere Kranken beim therapeutischen Handeln wertvoll sein sollen.“

IL

Wenn ich daher im folgenden trotzdem versuche, die Frage einfacher zu be- antworten, so ziehe ich einmal ausschließlich die Ergebnisse und Erfahrungen zu Rate, die sich mir in einer mehr als zehnjährigen Beschäftigung mit der hier aufgestellten Frage ergeben haben. So muß ich für diese Darstellung grundsätzlich eine Aus- einandersetzung mit den überaus fruchtbaren und wichtigen tierexperimentellen Forschungsergebnissen der Elektrokardiographie außer acht lassen. Wir werden uns also nur mit kurzen Hinweisen begnügen müssen. Das gleiche gilt für die für die Klinik und Praxis selteneren Störungen der Schlagfolge, zumal diese theoretisch überaus wichtigen, selteneren Rhythmusstörungen für die Frage „Digitalis und Herz- insuffizienz“ in der Praxis weit in den Hintergrund treten. So engen wir ganz bewußt die Fragestellung in der Weise ein, welches klinische Ergebnis bei dem klinischen Studium der Herzrhythmusstörungen im Zusammenhang mit der Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens als gesichert und wichtig angesehen werden kann.

102 K. Fahrenkamp.

Die Beantwortung der Fragestellung, die dieser Arbeit zu grunde gelegt ist, wird aufgebaut auf einer langjährigen eigenen klinisch-experimentellen und klinisch-praktischen Beschäftigung mit der Elektrokardiographie am herzkranken Menschen. Wenn ich daher im folgenden nur eigene Untersuchungsergebnisse, auch in SE und Tabellen, den Ausführungen zu grunde lege, so ist dies keine Vernachlässigung zahlreicher anderer Beobachter, die gleiches oder ähnliches feststellten, sondern ich glaube, das klinisch Wichtige klarer und vor allem auch einfacher darstellen zu können, wenn ich hier, ohne Auseinandersetzung mit der Literatur, die objektiv in eigenen Beobachtungen festgelegten Erfahrungen, die die Sicherheit der Erkenntnis in dieser Frage beweisen können, zusammenfasse.

Ich möchte bei dem Studium der Elektrokardiographie beim herzkranken Menschen zwei Ziele besonders voneinander trennen: das eine Ziel der klinischen Elektrokardiographie hat eine von keiner anderen Methode übertroffene diagno- stische Bedeutung, denn wir sind jetzt durch das Saitengalvanometer in die Lage versetzt, eine Störung der Schlagfolge des Herzens mit Sicherheit zu erkennen und zu analysieren, und das Einreihen einer Störung der Reizentstehung und Reizleitung in eine der Gruppen der „Arhythmieformen« ist durch diese Methodik in einfachster Weise ermöglicht.

Das andere Ziel der klinischen Elektrokardiographie hat durchaus den Charakter

einer experimentellen Methodik, indem wir die feinsten Veränderungen des Erregungsablaufes beim herzkranken Menschen beispielsweise im Zusammenhang mit therapeutischen Maßnahmen (Digitalis, Atropin, Vagusdruck, Chinidin u. a. m.) objektiv feststellen können. Nehmen wir z. B. bei unseren Herzkranken ganze Serien von Elektrokardiogrammen im Verlaufe einer Digitalisbehandlung auf, so können wir in einfacher Weise Veränderungen feststellen, die mit Sicherheit ursächlich auf die Digitalis zurückzuführen sind. Im Zusammenhang mit einer derartigen Behandlung erkennen wir im Elektrokardiogramm die verschiedenartige Einwirkung des Vagus- . druckversuches auf den Erregungsablauf in den verschiedenen Perioden der Be- handlung. , Wir können feststellen, welche Störungen der Reizentstehung und Reizleitung unter dem Einfluß bestimmter Medikamente auftreten und verschwinden, und wir können uns vor allem einwandfrei davon überzeugen, welche Wand- lungen eine an sich einheitliche Störung der Herzrhythmik z. B. die Arhythmia perpetua im Verlaufe einer Behandlung oder im Verlaufe mehrerer Jahre bei dem gleichen Kranken durchmachen kann. Dabei konstatieren wir fließende Übergänge der einen Kurvenform in eine andere Kurven- form auf dem Boden der gleichen Grundstörung bei dem gleichen Kranken und erkennen den Zusammenhang scheinbar ganz verschiedener Pulsbilder auf der Grundlage einer gleich gerichteten Grundstörung. Vor allem sehen wir, wie nach Aufhören einer bestimmten Behandlung das unter der Behandlung völlig veränderte Kurvenbild mehr oder weniger bald wieder das Bild vor der Behandlung zeigt, und wie scheinbar ganz verschiedene Zustandsbilder aus einer primären Grundstörung bei dem gleichen Kranken ineinander über- gehen und reversibel sind. Eine ganz besondere Bedeutung dieser experimentellen Seite der klinischen Elektrokardiographie tritt dann in Erscheinung, wenn wir pharmakologisch besonders differente Mittel bei gestörter Herzrhythmik intravenös verwenden, weil man, wie wir später sehen werden, graphisch vor allem die Ver- änderungen festhalten kann, die unmittelbar nach der intravenösen Einverleibung auftreten. |

Bei dieser Art der Betrachtung möchte ich auf einen Punkt hinweisen, den man in der Literatur kaum erwähnt findet: das ist ein gewisses Bedenken, die überaus reichen Ergebnisse der tierexperimentellen Elektrokardiographie auf die

Die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens bei gestörter Schlagfolge. 103

Ergebnisse der Elektrokardiographie am herzkranken Menschen zu übertragen. Wir pflegen doch meist das Ergebnis des Tierexperimentes der Deutung der Befunde am herzkranken Menschen zu grunde zu legen. So scheint es mir wertvoll, die Ergebnisse der klinischen Elektrokardiographie beim Menschen an einem großen und technisch einwandfreien Material einmal selbständig zu betrachten unter dem Gesichtspunkte, daß doch gerade für die Dauerzustände der Störungen der Herzrhythmik beim Menschen zwischen dem Tierexperiment und der Klinik dadurch zurzeit noch eine unüberbrückbare Kluft besteht, daß wir gerade jene Dauerzustände ich erwähne die Arhythmia perpetua im Zusammenhang mit den klinischen Erscheinungen der chronischen Herzinsuffizienz beim Tier nicht nachahmen können. Aus dieser Art der Betrachtung heraus scheint es mir berechtigt, ganz unabhängig von den Ergebnissen des Tierexperimentes die praktisch und klinisch wichtigen Resultate aus dem Studium der Elektrokardiographie des herzkranken Menschen im Zusammen- hang mit der Frage der Digitalisbehandlung mit den nötigen Unterlagen zusammen- zustellen. | HI.

Nachdem wir durch das Saitengalvanometer die Fülle der elektrokardiographi- schen Bilder der Rhythmusstörungen des herzkranken Menschen zu klassifizieren und die Wichtigkeit besonderer Störungen für die Praxis zu erkennen gelernt haben, benutzen wir für diese Darstellung die von Brugsch und Schittenhelm in ihrer klinischen Diagnostik gewählte Einteilung der Störungen der Schlagfolge . als Ausgangspunkt der Betrachtung. Diese Autoren grenzen 5 Gruppen von- einander ab.

1. Gruppe: Die extrasystolischen Pulsunregelmäßigkeiten; Anhang: Die paroxys- male Tachykardie.

2. Gruppe: Der Pulsus irregularis perpetuus (Arhythmia perpetua).

3. Gruppe: Überleitungsstörungen; Anhang: Störungen der Reizbarkeit, die Hemisystolien. |

4. Gruppe: Sinusarhythmien.

5. Gruppe: Der inäquale Puls.

Ich wähle diese Einteilung, weil wir bei ihr in der 1. und 2. Gruppe eine klare Gegenüberstellung der beiden praktisch wichtigsten Störungen der Herz- rhythmik für unsere spezielle Frage finden, denn wir werden die eingangs gestellte Frage, ob die Insufficientia cordis vera, gleichviel auf welcher ursächlichen Grund- lage diese entstanden sein mag, für die Digitalisbehandlung bei gleichzeitig gestörter Schlagfolge besondere Richtlinien ergibt, am ersten beantworten können, wenn wir uns auf die praktisch wichtigen Rhythmusstörungen beschränken.

Die folgenden Darlegungen stützen sich auf den Befund von mehr als 4000 Elektrokardiogrammen, die wir als objektives diagnostisches und als experi- mentell-methodisches Hilfsmittel bei unseren Herzkranken sammelten’. Wir reihen die elektrokardiographischen Beobachtungen in das Gesamtbild des klinischen Geschehens ein, um vor allem nicht in den Fehler zu verfallen, durch eine ein- seitige Betrachtung und Beschäftigung mit den Rhythmusstörungen den weit wichtigeren klinischen Gesichtspunkt: die gestörte Dynamik, die ungleiche Blut- verteilung, zu vernachlässigen.

* Herr Geheimrat Krehl gestattete mir gütigst, meine große Sammlung aus der Zeit meiner

Tätigkeit an der Heidelberger Mediz. Klinik (1912 bis 1920) mit dem Material aus der eigenen Praxis in dieser Zusammenfassung zu verwerten.

104 = K. Fahrenkamp.

llla.

Wir beginnen mit der Darstellung der Arhythmia perpetua oder dem Pulsus irregularis perpetuus. Dabei ist zuerst die Frage zu beantworten, ob die Bezeichnung für diese überaus wichtige und häufige Störung der Herzrhythmik einigermaßen ein- heitlich aufgefaßt wird. Wir stellen fest, daß in der Abgrenzung dessen, was als Pulsus irregularis perpetuus oder als Arhythmia perpetua zu bezeichnen ist, auch heute noch die einzelnen Forscher und Kliniker mehr oder weniger voneinander abweichen, wie auch in der Beurteilung der klinischen Bedeutung dieser Rhythmus- störung. Während man heute weiß, daß z. B. die extrasystolischen Rhythmusstörungen eine ganz verschiedenartige pathognomonische Bedeutung haben und nur im Zusammenhang mit dem übrigen klinischen Befund bewertet werden können, wird zum Teil der Arhythmia perpetua eine selbständigere Stellung eingeräumt. Man sieht in ihr vielfach den Ausdruck schwererer, irreparabler organischer Veränderungen des Herzens sowie Zeichen oder Folge der drohenden Herzschwäche. Diese Auf- fassung wird unterstützt durch die Bezeichnung „perpetuus“, die ja gewissermaßen eine klinische Prognose vorwegnimmt. Auf der anderen Seite wird die Arhythmia perpetua klinisch weit weniger wichtig bewertet, zumal man auch durch das Studium der vorübergehenden Form dieser Rhythmusstörung ihr selbständiges Auftreten ohne schwere Herzmuskelveränderung kennengelernt hat. Die einen Autoren legen bei der Bezeichnung der Arhythmia perpetua aus- schließlich den Schwerpunkt auf das Verhalten der Vorhöfe und wählen den Aus- druck „Flimmerarhythmie“ (Klewitz). Durch diese Form der Betrachtung wird der Begriff der Arhythmia perpetua außerordentlich stark eingeengt. Andere Autoren vermeiden nicht den Begriff der „Extrasystolie« bei dieser Rhythmusstörung.

So schreibt beispielsweise Magnus Alsleben (1922): „Die elektrokardiographi- sche Untersuchung zeigt, daß manchmal eine mäßige Zahl von Extrasystolen ein- gestreut ist,“ und im Hinweis auf die verschiedenartigen Pulsbilder kommt Magnus Alsleben zu dem Schluß: „Der Name Arhythmia perpetua erschöpft also nicht mehr alles Dazugehörige, die Arhythmie spielt an sich sicher eine viel geringere Rolle, als man zunächst anzunehmen geneigt ist. Dafür sprechen experimentelle Beobachtungen, und vor allem auch die klinische Erfahrung. Leute mit Arhythmia perpetua sind öfters jahrelang von völlig ausreichender Leistungsfähigkeit. Es ist bei der Beurteilung solcher Kranken stets im Auge zu behalten, daß eine Arhythmia perpetua an sich keineswegs eine ungünstige Prognose bedingen müsse, wenn sie auch freilich auf eine organische Erkrankung des Herzens hinweist. An eine bestimmte Herzkrankheit, an ein charakterisierbares, anatomisches Substrat ist sie auf Grund unserer jetzigen Kenntnisse dagegen nicht gebunden.“

Vor allem wird von einem Teil der Autoren bei der Arhythmia perpetua die rhythmische Vorhofstachysystolie als eine nicht zur Arhythmia perpetua gehörige Störung angesehen und anderseits werden auch blockartige Zustände von dieser Anomalie abgegrenzt. Es ist bemerkenswert, daß beispielsweise Klewitz die Bezeichnung „Flimmerarhythmie“ und „perpetuelle Arhythmie« synonym gebraucht. Er schildert das Flimmern und Flattern der Vorhöfe, die ausgeprägte rhythmische und arhythmische Vorhoftachy- systolie schließt er aber scheinbar aus. So wird der Begriff Arhythmia perpetua nicht nur stark eingeengt, sondern auch die Verständigungsmöglichkeit unter den einzelnen Autoren sehr erschwert. Ganz abgesehen von der Forderung, daß man heute für einen so geläufigen Begriff wie Arhythmia perpetua wenigstens einigermaßen etwas Gleichsinniges verstehen und schildern sollte. Die Schwierigkeit in der Verständigung

Die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens bei gestörter Schlagfolge. 105

wächst noch dadurch, daß die Bezeichnung Extrasystolie so häufig mit der Arhythmia perpetua verbunden wird. Ich erwähne als Beispiel eine Schilderung von E. Meyer in seinem Aufsatz über rectale Digitalistherapie 1922.

„In einem Fall von kombiniertem Mitralfehler mit hepatischer Stauung, der auf intravenöse Injektionen mit ‚Bigeminie‘ reagierte, erhielten wir erst bei länger durchgeführter rectaler Anwendung ‚Bigeminie‘ und Extrasystolie.“

Da ich nicht zweifle, daß dieser Kranke eine Arhythmia perpetua hatte (kom- binierter Mitralfehler), so führe ich diese Nomenklatur E Meyers deshalb an, um zu zeigen, wie wenig einheitlich auch heute noch der Begriff Arhythmia perpetua gebraucht wird.

Das sind nur wenige Beispiele, die sich beliebig vermehren ließen. Jeder, der mit der dies- bezüglichen Literatur vertraut ist, wird mir darin zustimmen, daß eine einheitliche Verwendung des Begriffes „Arhythmia perpetua“ noch keineswegs erreicht,ist. Und wollen wir praktisch wichtige klinische Ergebnisse herausheben und diskutieren, so muß die Nomenklatur eine möglichst einheitliche und eindeutige sein.

So fassen wir unsere Beobachtungen unter dem besonderen Ziel zusammen festzustellen, in welchem Umfange wir durch die Befunde am herzkranken Menschen berechtigt sind, die Bezeichnung Arhythmia perpetua als einen einheitlich klinischen Begriff anzuwenden.

Bekanntlich hat Hering 1903 die Bezeichnung Pulsus irregularis perpetuus in die Nomenklatur eingeführt. Inden Hering durch diese Definition die Genese des Pulsus irregularis perpetuus auf Vorhofsflimmern zurückführte, betonte er seine schon früher hervorgehobene Meinung, in der 1903 beschriebenen Pulsform eine besondere und eigenartige Rhythmusstörung des Herzens dargestellt zu haben, während andere Autoren, z. B. A. Hoffmann, Krehl, Gerhardt, Wenckebach u. a., mehr zu der Ansicht neigten, daß in dem sog. Pulsus irregularis perpetuus verschiedene Herzrhythmus- störungen verborgen sein könnten.

Nun wäre ja der Name, den man für eine bestimmte Form der Arhythmie wählt, weniger wichtig, wenn er allgemein im gleichen Sinne angewendet würde und gewissermaßen eine klinische Einheit darstellte; aber gerade bei der Arhythmia perpetua hat sich gezeigt, wie wenig einheitlich diese Bezeichnung heute noch gebraucht wird. So werden wir also im folgenden das klinische Elektrokardiogramm des herzkranken Menschen zu grunde legen und, ohne erst einmal den Begriff des Vorhofsflimmerns, der für Hering maßgebend war, zu sehr in den Vordergrund treten zu lassen, prüfen, welche Zustandsbilder wir bei dem Pulsus irregularis per- petuus finden und welche wir dann schließlich nach dem Befund im Elektrokardio- gramm mit diesem Namen bezeichnen können. |

So möchten wir also heute unter dem Pulsus irregularis perpetuus nicht mehr den klinischen Begriff des alten „Delirium cordis“ verstehen, sondern in Anlehnung an die Heringschen Arbeiten und die Ergebnisse der elektrokardiographischen Untersuchungen der letzten 10 Jahre als Arhythmia perpetua eine ganz einheitliche klare Störung der Reizentstehung und Reizleitung bezeichnen, die wir auch beim verhältnismäßig noch gut leistungsfähigen und sonst keine Krankeitserscheinungen zeigenden Herzen finden können und die manchmal auch das einzige Zeichen einer Herzstörung darstellen kann.

Nach unseren heutigen Kenntnissen dürfte die gewöhnliche Form der Arhythmia perpetua dadurch charakterisiert sein, daß im Elektrokardiogramm neben einer Tachysystolie der Vorhöfe eine völlig arhythmische, meist beschleunigte Kammer- tätigkeit gefunden wird. Dabei können die Vorhöfe eine rhythmische oder arhythmische Tachysystolie in einer Frequenz von 200 oder 300 oder 500 Er- regungen in der Minute zeigen, die Kammern schlagen völlig arhythmisch, aber der Erregungsablauf bietet ein normales Bild. Diese Rhythmusstörung kann man als die unkomplizierte Form der Arhythmia perpetua bezeichnen. Zeigen die Vorhöfe

106 K. Fahrenkamp.

eine höhere Frequenz an, so bezeichnet man dies bekanntlich als Vorhofsflattern. Und sind endlich die Potentiale, die wir von den Vorhöfen ableiten können, so schwach, daß man sie nicht mehr mit Genauigkeit auszählen kann, so spricht man von flimmernden Vorhöfen. Dabei kann der Ablauf des Kammer-Elektrokardio- gramms durchaus normal sein. Es besteht also eine einwandfrei festzustellende Störung in der Reizentstehung der Vorhöfe. Daneben besteht immer ein mehr oder weniger hoher Grad einer Überleitungsstörung mit einer unregelmäßigen Schlag- folge der Kammern.

An dieser Stelle möchte ich nur hinweisen auf die Vorstellungen, die man sich heute nach tierexperimentellen Studien über das Flimmern und Flattern der Vorhöfe macht, und mich beschränken, die Darlegungen Rothbergers zu erwähnen, die sich mit seinen neuen Theorien über dieses Problem beschäftigen. Wenn ich gleichzeitig die Monographie de Boers über die Physiologie und Pharma- kologie des Flimmerns (1923) anführe, so möchte ich an dieser Stelle, ohne auf dieses Problem ein- zugehen, nur zum Ausdruck bringen, daß ich glaube, daß meine einheitliche Auffassung der Arhythmia

rpetua nach klinischen Befunden, was das Verhalten der Vorhöfe angeht, in den Darlegungen von Rethberger (1922) ganz besonders eine Stütze finden dürfte.

Erkennt man das hier skizzierte einfache Bild der Arhythmia perpetua an, so kann man mit Sicherheit sagen, daß wir es bei dieser Form der Arhythmia perpetua einmal mit einer mehr oder weniger stark ausgeprägten Überleitungsstörung zu tun haben, und daß mit Sicherheit die regelrechte Tätigkeit der normalen Reizbildungs- stätte, des Sinusknotens zum mindesten funktionell dauernd ausgeschaltet ist. Diese Feststellung und ihre Anerkennung in der Klinik ist von grundsätzlicher Bedeutung, sofern man zu einer einheitlichen Verständigung gelangen will. Nun ist es weiter zweckmäßig, bei derals Arhythmia perpetua definierten Rhythmus- störung Kammererregungen, die nicht den normalen Erregungsablauf des R.-T.-Komplexes zeigen, ausschließlich als abnorme Erregungen zu bezeichnen und die Bezeichnung Extrasystolie zu vermeiden. Unter solchen abnormen Erregungen verstehen wir dann solche Erregungen, die jenseits des Hisschen Bündels irgendwo im Bereich des Reizleitungssystems in den Herz- kammern ihren Ursprung haben. |

Man nennt dann diese abnormen Erregungen entweder nach dem Vorschlag von Krauß und Nikolai und A. Hoffmann nach der Form des Kammer-Elektro- kardiogramms mit dem Buchstaben A, Bund C, oder man bezeichnet sie kurzer Hand mit dem Buchstaben A=abnorm, um so eine völlige Trennung von dem Begriff Extrasystolie herbeizuführen. Denn wir können den Begriff der Extrasystolie (oder den der Parasystolie Kaufmanns und Rothbergers) für die Arhythmia perpetua nicht benutzen, ohne Verwirrung anzurichten.

Bei der gewöhnlichen unkomplizierten Form der Arhythmia perpetua treten für gewöhnlich solche abnorme Kammerkomplexe erst unter dem Einfluß bestimmter Medikamente auf. Dies zeigt die nachstehende Tabelle (I).

Diese gewöhnliche Form .der Arhythmia perpetua zeigt also lediglich eine verschieden stark ausgeprägte Veränderung der Vorhofserregungen. Die Kammer- erregungen verlaufen an sich normal. Der Grad der Überleitungsstörung ist außer- ordentlich wechselnd. Grundsätzlich ist die normale Reizbildungsstätte: der Sinus- knoten, dauernd ausgeschaltet. In dieser Tatsache besteht der prinzipielle Unterschied zu allen denjenigen Rhythmusstörungen, die wir später als extrasystolische Arhythmien bezeichnen werden.

Ohne an dieser Stelle auf theoretische Erörterungen einzugehen, welche das Verhalten der Vorhöfe bei der Arhythmia perpetua und das Verhalten der Kammern im Zusammenhang mit der Überleitungsstörung darlegen müßten, sind im folgenden die Kurven abgebildet, die wir heute mit Sicherheit als zur Arhythmia perpetua

Die Digitalisbehandlung des insuftizienten Herzens bei gestörter Schlagfolge. 107

Tabelle I.

Zahl der

Verhalten der Anzahl der | TC ar

N Die abnormen Err en a

registrierten traten anf ` ` SC

r

= = | 1 | Tachysystolie (300) normal 1004 0 JO 12 2 e 240/300) e 1774 0 |O -— 16 3 v 60/400) e 1060 0 j0 15 di e 400) e 1474 0 |O _ 18 5 | Übergänge oe e 654 0 |O H D e 400/500 e 776 0 |0 11 7 e (400/500 e 1155 0 |0 _ 20 8 | Tachysystolie (300/400) e 1803 0 10 _ 20 | 9 | Übergänge (400/500) e 1174 0 10 _ 20 10 » 400/500) 676 0 |0 _ 10

11 | Tachysystolie (400) 655 1 |015 spontan H

12 | Übergänge (400/500) e 610 1 017 nach Strophanthin 11 113 | Tachysystolie (300/400) 922 1 | 008 spontan 15 14 |_ e 300 e 1097 3 10:28 nach Strophanthin 15 15 | Übergänge (400/500) e 537 3 10:56 nach Digitalis 9 16 » 400/500 e 1364 4 \0'29 nach Strophanthin u. Vagusdruck| 20 17 | Tachysystolie (350/400) n 1352 5 |037 nach Vagusdruc 19 18 n 300 v 1005 6 |059 spontan 10 19| _ e (400) e 1347 9 |0°66!nach Strophanthin u. Vagusdruck| 22 120 | Übergänge (400/500) e 830 10 |12 nach Digitalis 18 121 | Tachysystolie (400) e 924 10 | 108 spontan 12 122 | Übergänge (400/500) e 2167 10 |046 nach Digitalis 20 24 » (400/500) e 935 18 [192 e D 14 25 e (400/500) e 1822 91 15 nach Strophanthin 29

gehörig bezeichnen können, u. zw. deshalb bezeichnen können, weil wir am Kranken- bett die Zusammengehörigkeit der verschiedenen Kurven immer wieder dadurch feststellen konnten, daß wir sahen, wie die eine Pulsform in die andere überging, besonders unter dem Einfluß medikamentöser Maßnahmen, und wie bei dem gleichen Kranken z. B. aus einer Bradykardie mit flimmernden Vorhöfen wieder eine gewöhn- liche Arhythmia perpetua mit Vorhofstachysystolie und beschleunigter Kammertätig- keit wurde. Und endlich sahen wir im Verlauf der sich fortentwickelnden Krank- heitsprozesse bei dem gleichen Kranken den Übergang der einen Elektro- kardiogrammform in die andere und lernten so die Störungen. mit ihren ganz verschiedenen Pulsbildern kennen, die wir auf eine einheitliche Grundstörung nach den Befunden am Krankenbett zurückführen müssen. Wenn wir also im folgenden die verschiedenen Elektrokardiogramme bei der Arhythmia perpetua zur Darstellung bringen, so sei ausdrücklich betont, daß ich diese überaus mannigfaltigen „Pulsbilder“ einheitlich zur Arhythmia perpetua rechne, vor allem deshalb, weil uns klinische Beobachtungen am herzkranken Menschen gezeigt haben, daß diese Pulsbilder einmal untereinander reversibel sind, und daß sie uns den Werdegang der Arhythmia perpetua beim Herzkranken zeigen.

| IIb. Die verschiedenen Formen der Arhythmia perpetua beim Menschen.

Fig. 4 zeigt die gewöhnliche Form einer unkomplizierten Arhythmia perpetua. Die Vorhöfe schlagen tachysystolisch-arhythmisch, die Schlagfolge der Kammern ist bei normalem Erregungsablauf unregelmäßig und frequenter als normal. Schon auf dem Boden dieser Störung können wir, vor allem nach körperlichen An-

108 K. Fahrenkamp.

strengungen, typische Anfälle von arhythmischem Herzjagen finden. Wir werden im folgenden immer wieder sehen, wie häufig wir gerade bei der Arhythmia perpetua rhythmische und vor allem arhythmische Kammertachykardien am Kranken- bette erwarten können.

Fig. 4.

Fig. 5 zeigt bei dem gleichen Kranken der Fig. 4 das gleiche Bild an den Vorhöfen bei nunmehr verminderter Kammerschlagfolge.

Fig. 5.

Während man in Fig. 4 und 5 eine unregelmäßige Vorhoftachysystolie feststellt, kann man bei anderen Kranken mit Sicherheit die rhythmische

Fig. 6.

Vayu solr. l.

Tachysystolie der Vorhöfe finden. Vor allem sind die diastolischen Pausen bei der Beurteilung wertvoll, in denen die Interferenzerscheinungen durch die Kammer- erregungen wegfallen und wir bei einwandfreier Technik die Erregungen in den Vorhöfen beurteilen können (Fig. 6).

Die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens bei gestörter Schlagfolge. 109

Es besteht nach meinen Beobachtungen für mich kein Zweifel, daß man bei der Arhythmia perpetua weit häufiger in der Lage ist, die in den Vorhöfen ent- stehenden Erregungen gut zu beurteilen und ihre Regelmäßigkeit festzustellen, als dies meistens in der Literatur angenommen wird. Da die Potentiale dieser Vorhof- erregungen sich in keiner Weise von den Erregungen normaler Vorhofkontraktionen

Fig. 7.

JS A ZZ A AS A AS AC SZ KS AN E AS

(ULI

unterscheiden, so kommt für diese Potentiale der Begriff des Flatterns meines Er- achtens nicht in Frage.

Von der ausgeprägten regelmäßigen oder unregelmäßigen Vorhofstachysystolie finden wir, bei genügend häufiger Kontrolle durch das Elektrokardiogramm, bei dem gleichen Kranken häufig im Verlaufe seiner Krankheit die Übergänge zum

Fig. 8.

R

Vorhofsflattern und Vorhofsflimmern. Diese drei verschiedenen Formen der Erregungen in den Vorhöfen kann man in den Kurven leicht differenzieren.

Fig. 7 zeigt den tachykardischen Anfall eines Kranken mit Arhythmia perpetua und Fig. 8 zeigt das Verhalten der Vorhöfe dieses Kranken außerhalb des Anfalles. Es ist leicht festzustellen, daß eine Tachysystolie der Vorhöfe vorliegt. Sehr schön kommen die Interferenzerscheinungen zum Ausdruck in 8, die die Beurteilung erschweren können. |

110 K. Fahrenkamp.

Fig. 9 zeigt eine auffallend langsame rhythmische Vorhofstachysystolie bei unregelmäßiger Kammerbradykardie. Fig. 10 zeigt den gleichen Kranken in tachy- kardischem Anfall.

Fig. 9.

Ich rechne nach meinen Beobachtungen grundsätzlich diese nicht sehr häufiger Fälle zu den Erscheinungsformen und Möglichkeiten der Arhythmia perpetua, weil ich mehrfach auch bei solchen Kranken auch unregelmäßige Vorhofstachysystolien,

Fig. 11.

besonders unter dem Einfluß medikamentöser Behandlung, bis zu flimmernden Vor- höfen feststellte und im Verlauf der Beobachtung die Rückbildung in das alte Zustands- bild der Fig. 9 registrieren konnte.

Die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens bei gestörter Schlagfolge. 111

Ehe wir die echte Flimmerarhythmie darstellen, zeigen wir an drei kleinen Kurven- stücken jenes Vorstadium des Flimmerns, das man als Vorhofsflattern zu bezeichnen

Fig. 12.

pflegt. Auch hier sind stellenweise noch gut auszählbare Vorhofserregungen zu erkennen, aber die Bilder sind doch mit Leichtigkeit von der Tachysystolie der Vor- höfe abzugrenzen (vgl. Fig. 11, 12, 13).

Fig. 13.

pasina

Fig. 11 zeigt eine fast rhythmische Kammerbradykardie bei nunmehr flimmernden Vorhöfen. Diese Form der Arhythmia perpetua kann sich zurückbilden und grundsätzlich das gleiche Bild wieder zeigen wie Fig. 4 und 5.

Fig. 14.

R

In den Fig. 15 und 16 stellen wir fest, daß bei flimmernden, flatternden oder tachysystolischen Vorhöfen das letzte ist sehr selten der Erregungsablauf in den Kammern dadurch verändert ist, daß neben den für die einzelnen Kranken als. normal anzusehenden Kammererregungen auch abnorme Erregungen einge- streut sind. Ist erst einmal die Hetorotopie in den Kammern erwacht (nach Digitalis), so können bei dieser Form der Arhythmia perpetua wieder sehr leicht Anfälle von

112 K. Fahrenkamp.

Kammertachykardie auftreten in Form der „paroxysmalen Tachykardie“, wie dies in zwei weiteren Beispielen gezeigt wird (Fig. 17 und 18).

Fig. 15.

Fig. 16.

III?

BEL

Fig. 17.

A

4

l

HA f ! | | | |

Fig. 18.

Nehmen wir endlich noch hinzu, daß wir beispielsweise bei einer jugend- lichen Kranken mit einem kombinierten Mitralvitium (vorwiegend Mitralstenose)

Die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens bei gestörter Schlagfolge. 113

die beiden in Fig. 19 und 20 dargestellten Kurven im Verlauf der Krankheits- entwicklung verzeichnen konnten und wir hinzufügen, daß wir bei dieser Kranken von der hohen P-Zacke aus alle Stadien der gestörten Vorhofstätigkeit über die Vorhofstachysystolie bis zum Vorhofsflimmern unter dem Bilde der Arhythmia perpetua festhalten konnten, und daß alle diese Kurvenbilder bei dieser Patientin reversibel waren, so wollen wir hier nicht auf die Entstehungsmöglichkeiten der Arhythmia perpetua eingehen, sondern aus solchen Befunden nur ableiten, daß man bei Menschen berechtigt ist, eine möglichst einheitliche Auffassung der Arhythmia perpetua anzustreben.

Fig. 19.

Nun gibt es aber Kranke, bei denen bei flimmernden Vorhöfen echte dauernde rhythmische Bardykardie besteht, die der Rückbildung nicht mehr fähig ist. Derartige Kranke mit rhythmischer Kammerbradykardie bei flimmenden Vorhöfen bieten klinisch nach unseren Erfahrungen stets zahlreiche Erscheinungen von schweren Veränderungen des Herzens dar. Wir verstehen, daß solche Kranke bei dem gleichzeitigen Bestehen einer Arhythmia perpetua in Gefahr sind, einmal

Fig. 20.

.perp. nach Diyitatis Vorhofe 2

Frequenz’ 34.

eine dauernde und nun ganz rhythmische Bradykardie’zu bekommen; denn es kann sich bei ihnen, wie beim echten Herzblock, als Teilerscheinung einer Myo- karditis auch eine bleibende Schädigung der Überleitung entwickeln. Eine der- artige Bradykardie wäre der Rückbildung nicht mehr fähig. Für die Kammern - wären dann die Bedingungen wie beim echten Herzblock gegeben. Die tertiären Kammercentren bilden die Erregungen in völliger Unabhängigkeit von den Vor- höfen. Also wie beim echten Herzblock, der aber seinerseits stets mit erhaltener Vorhoftstätigkeit einhergeht, schlagen jetzt bei flimmernder Vorhofstätigkeit die Kammern auch automatisch regelmäßig in langsamer Schlagfolge. Das Elektro- kardiogramm zeigt uns aber noch an, daß einmal eine gewöhnliche Arhythmia

perpetua vorausgegangen ist, ehe sich diese Pulsverlangsamung herausbildete. Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 8

114 K. Fahrenkamp. Tabelle Il.

4 verschiedene Formen von „Herzblock“« und herzblockähnlichen Zuständen.

I. Form von Vorhöfe rhythmisch-tachysystolisch, z. B. 200 in der Minute. Bradykardie Kammerfrequenz 30—40 pro Minute.

Kammerschlagfolge nicht ganz rhythmisch.

Anfälle von paroxysmaler Kammertachykardie.

II. Form von Vorhöfe flimmern. Bradykardie Kammerfrequenz 30—40 pro Minute. Kammerschlagfolge nicht ganz rhythmisch.

Dieser Zustand meist nach Digitalisgebrauch. Bleibt Digitalis fort: Auftreten der gewöhnlichen Arhythmia perpetua.

III. Form von Bradykardie

Arhythmia perpetua.

Vorhöfe flimmern. Kammerfrequenz 30—40 pro Minute.

Kammerschlagfolge ganz regelmäßig. Auch bei Fortlassen der Digi- talis keine Anderung dieser Bradykardie mehr.

Bradykardie Kammern. Kammererregungen unabhängig von den Vorhofs- erregungen: rhythmisch.

Nie Kammertachykardie. |

IV. Form von | Vorhöfe schlagen rhythmisch, meist 2,- 3- oder 4 mal so oft als die |

Digitalis auf die Kammerfrequenz ohne Wirkung. Höchstens Erre- gung tertiärer Centren: Auftreten abnormer Kammererregungen.

echter Herz- block

Fig.21 zeigt einmal eine rhythmische Bradykardie bei flimmernden Vorhöfen, dann aber auch das Auftreten „abnormer Kammererregungen“ in Form eines „Bigeminus“. Sehr häufig wird diese Pulsform als extrasystolische Bigeminie bezeichnet. Dies beruht

Fig. 21.

nach dem bisher Gesagten auf einem Irrtum. In Tabelle II sind übersichtlich in scharfer Abgrenzung von dem echten Herzblock in I— III die Formen des Pseudoherzblocks, wie er auf dem Boden einer Arhythmia perpetua vorkommen kann, zusammengestellt.

Nach dieser Übersicht der verschiedenen Erscheinungsformen kommen wir zu dem Ergebnis, daß die Bezeichnung Arhythmia perpetua einen wohl charakterisier- baren Zustand kennzeichnet, der freilich eine außerordentlich große Mannigfaltigkeit der verschiedenen Pulsbilder zeigt. Bei der Vielgestaltigkeit der Bilder werden wir an die Ausführungen Krehls über die Arhythmia perpetua erinnert:

„Die Schlagfolge der Kammern ist sehr verschieden frequent, meist beschleunigt, 70—90 oder gegen 100, zuweilen noch höher, selten von mittlerer Zahl oder sogar verlangsamt. Meist unregelmäßig, häufig ganz regellos ist die Schlagfolge nur recht selten annähernd regelmäßig. Immer fehlt eines: das ist jede Regel.

Die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens bei gestörter Schlagfolge. 115

Eine Beschreibung der Verhältnisse zwischen Vorkammer und Kammersystolen ist sehr einfach: Wir können keine Beziehung feststellen.“

Gerade diese Regellosigkeit der zahlreichen Erscheinungsmöglichkeiten der Arhythmia perpetua hat aber wieder etwas durchaus Charakteristisches und bei länger dauernder Beobachtung hilft sie in hohem Maße dazu, diese Zustände auch ohne technische Hilfsmittel häufig zu erkennen. Denn diese verschiedenen Pulsbilder treten ja ganz besonders erst unter der Behandlung auf (Digitalis). Davon wird später die Rede sein. Kompliziert wird die präzise Festlegung des Begriffes „Arhythmia perpetua“ dadurch, daß es auch eine vorübergehende Form dieser Störung gibt. An sich ist ja die Bezeichnung vorübergehende Arhythmia perpetua ein Widerspruch in sich selbst. Die Definition dieses Begriffes ist aber einfach: denn wie bei der dauernden Arhythmia perpetua finden wir anfallsweise Vorhofstachysystolie, Vorhofsflattern oder Vorhofsflimmern mit Überleitungsstörungen und Kammerarhythmie. Häufig treten diese Anfälle geradezu unter dem Bilde der paroxysmalen Kammertachy- kardie auf. Besonders eindeutig ist das Elektrokardiogramm bei diesen Fällen in diagnostischer Beziehung, wenn wir den Übergang der normalen Vorhofstätigkeit in die für Arhythmia perpetua charakteristische Form oder umgekehrt registrieren können. Dies zeigt Fig. 22.

Fig. 22.

Vagusdruck

Vagusdruck rechts. Kammertachykardie Normaler Erregungsablauf

Fall 1I. L. Ende eines tachykardischen Anfalles mit Vorhofflimmern durch Vagusdruck rechts. Übergang zu Bradykardie mit normalem Erregungsablauf.

Die vorübergehende Arhythmia perpetua kann Stunden, Tage, Wochen, Monate und Jahre dauern, sie kann in stetem Wechsel mit dem normalen Erregungsablauf auftreten und ein Vorstadium der dauernden Arhythmia perpetua bilden. Dies gilt wohl besonders für Kranke mit kombiniertem Mitralfehler. Aber wir sind doch so außerordentlich selten in der. Lage, die Entstehung der Arhythmia perpetua bei unseren Kranken im Elektrokardiogramm zu verfolgen. In den meisten Fällen stellen wir eines Tages ihre Anwesenheit fest, und es wäre für die tiefere Erkenntnis dieser so überaus häufigen Rhythmusstörung gerade bei den großen Gruppen der Kranken mit postrheumatischer Endokarditis des Mitralostiums besonders wichtig, die Erscheinungen des Erregungsablaufes festzuhalten, die auftreten, ehe das voll- ausgebildete Bild dieser Rhythmusstörung nachweisbar ist. Also gibt es einmal bei diesen Kranken die vorübergehende Arhythmia perpetua. Weit häufiger tritt sie in späterem Lebensalter als Teilerscheinung einer Arteriosklerose, Lues u. s. w. auf. Manchmal eine Herzinsuffizienz auslösend, manchmal als ganz harmloser Neben- befund. Das hängt von dem Zustande des betroffenen Herzmuskels ab und sehr oft auch von der Dauer ihres Bestehens. Oder wir finden diese vorübergehende

HS

116 K. Fahrenkamp.

Form der Arhythmia perpetua nach Infektionskrankeiten (z. B. Deist) oder im Gefolge von thyreotoxischen Zuständen. An anderer Stelle habe ich über diese Form früher schon ausführlich berichte. Nach meinen Erfahrungen in der Privatpraxis spielt jedenfalls die Arteriosklerose bei älteren Kranken eine große Rolle. Daß man diese Anfälle im Krankenhause und in der Klinik weniger sieht, liegt wohl daran, daß diese Anfälle im ganzen nicht zu einer Krankenhausbehandlung zu führen pflegen. Wenn diese Anfälle nicht lange dauern und gehäuft auftreten, sind sie mehr lästig als für den Kreislauf gefährlich. Die kurzen Anfälle von einigen Tagen pflegen die Leistungsfähigkeit der Kranken aber doch mehr zu beeinträchtigen als jene Anfälle, die wochen- und monatelang dauern. Das Moment der Vorhofpfropfung spielt neben dem Zustand des Herzmuskels jeweils eine große Rolle. Die immer wechselnde Rhythmik führt bei kurzen Anfällen eher zu Stauungserscheinungen, während sich bei den langdauernden Anfällen scheinbar der Kreislauf leichter auf die veränderte Rhythmik einstellt. Aber gerade weil die kurzdauernden Anfälle kurz sind, erscheint mir die Beurteilung therapeutischer Maßnahmen außerordentlich schwierig; wir werden später bei der Digitalisbehandlung davon sprechen müssen. Nach meinen Erfahrungen an der Klinik, im Sanatorium und in der Praxis sind aber im ganzen die Anfälle vorübergehender Arhythmia perpetua doch lange nicht so häufig, als es nach den Angaben in der Literatur den Anschein hat. Sie können außer- ordentlich leicht verwechselt werden mit komplizierten Störungen extrasystolischer Natur, die prinzipiell nichts mit der Arhythmia perpetua zu tun haben. Am Krankenbett ist die Diagnose oft nicht möglich, aber das Elektro- kardiogramm läßt die extrasystolische Störung ohneweiters erkennen.

Somit hätten wir diejenigen Kurven und die Pulsbilder, die sich ohneweiters aus unseren Befunden als zur Arhythmia perpetua gehörig ergeben, im wesentlichen charakterisiert. Für alle diese Formen der gestörten Herzschlagfolge kann man den Begriff der „Arhythmia perpetua“ als klar umschriebene klini- sche Einheit verwenden.

Eine präzise, weitgefaßte Begriffsbestimmung der Arhythmia per- petua erschien aus der klinisch-elektrokardiographischen Erfahrung und aus dem klinischen Bedürfnis, zu einer einheitlichen Verständigung zu gelangen, erforderlich.

Hc.

Nachdem wir für unsere Fragestellung den Begriff „bei gestörter Schlagfolge“ festgelegt haben, wenn die Störung der Schlagfolge auf dem Boden der Arhythmia perpetua entstanden ist, verständigen wir uns zweckmäßig weiter über diesen Begriff, wenn die Störung der Schlagfolge extrasystolischer Natur ist.

Wir stellen bei sämtlichen Störungen der Schlagfolge, die wir nunmehr als extrasystolische Arhythmien bezeichnen, in klarer Gegenüberstellung zur Arhythmia perpetua fest, daß bei diesen die reizbildenden und reizleitenden Stätten ihre normale Tätigkeit noch bewahrt haben, auch wenn neben den primären Centren sekundäre oder tertiäre Stationen, oder alle drei abwechselnd, vorübergehend reizerzeugend werden. Dadurch kann dann das Bild einer völligen Herzunregelmäßigkeit entstehen. Einfache extrasystolische Arhythmien mit den typi- schen interpolierten Extrasystolen oder denen, die eine kompensatorische Pause zeigen, bieten ja diagnostisch keine weiteren Schwierigkeiten, aber es gibt doch so komplette Herzunregelmäßigkeiten extrasystolischer Natur, daß wir sie nur durch das Elektrokardiogramm analysieren können, aber diese komplizierten extrasystoli- schen Arhythmien sind meist flüchtiger Natur und machen den normalen Vorgängen

Die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens bei gestörter Schlagfolge. 117

in der Reizentstehung und Reizleitung wieder Platz. Wir verstehen also unter extra- systolischer Arhythmie in ganz klarer Gegenüberstellung zur Arhythmia perpetua alle diejenigen Störungen der Schlagfolge, bei denen nachgewiesen werden kann, daß die normale Tätigkeit des Sinusknotens bei normalem Ablauf der Erregungen entweder im wesentlichen vorherrscht oder jedenfalls nicht dauernd aufgehoben ist. Nennen wir jeden die normale Schlagfolge störenden neuen Reiz ohne Rücksicht auf den Ort der Entstehung „eine Extrasystole“, so kann schon durch eine länger andauernde, unregelmäßige Reizentstehung im primären Centrum also schon durch Sinusextrasystolen das Bild einer völligen Herzunregelmäßigkeit entstehen. Natürlich tritt eine sehr frequente und unregelmäßige Kammerschlagfolge mit zahl- reichen frustranen Contractionen auf, wenn neben dem primären Centrum sekun- däre oder tertiäre Centren ihrerseits Reize bilden. Derartige komplizierte extrasysto- lische Arhythmien kann man dann sehr leicht mit einem vorübergehenden Pulsus irregularis perpetuus verwechseln.

Fig. 23.

N E Or PE on DER ZEx Eh

AW SKS P | | |

3. | R, ae Hk EL p

lt | P

Fall IV. H. K. Kurze Anfälle von Tachykardie durch wechselnd auftretende Erregungen aus primaren, sekundären und tertiären Stätten.

Fig. 24.

Fall III. D. Herzunregelmäßigkeit durch Erregungen aus primären, sekundären und tertiären Stätten,

Zwei Abbildungen mögen das oben Gesagte belegen. Für die uns hier be- schäftigende Frage kann gleich angefügt werden, daß wir bei der Herzinsuffizienz, die eine Digitalisbehandlung erfordert, außerordentlich selten diese komplizierteren extrasystolischen Störungen finden.

Die vereinzelten Extrasystolen, die als belangloser Nebenbefund bei einer Herzinsuffizienz, gleichviel auf welcher ursächlichen Grundlage, festgestellt werden, und ebensogut unter der Digitalisbehandlung auftreten wie verschwinden können, bieten diagnostisch keine Schwierigkeiten.

Therapeutisch spielen diese vereinzelten Extrasystolen deshalb keine Rolle, weil sie für die Digitalisbehandlung belanglos sind. Hier ist für die Digitalis-

118 u K. Fahrenkamp.

anwendung immer der Grad der Herzschwäche maßgebend. Vereinzelte Extra- systolen während einer Digitalisbehandlung als Zeichen der „Überdosierung“ an- sehen zu müssen mit Recht anzusehen dürfte zu den größten Seltenheiten gehören.

Ich habe bei meinen Kranken die komplizierten extrasystolischen Rhythmus- störungen, die zu einer Verwechslung mit einer Arhythmia perpetua Veranlassung geben können, äußerst selten als auslösende Ursache oder Begleiterscheinung der Herzinsuffizienz gesehen. Die komplizierten Störungen der Schlagfolge dieser Art tragen meist einen selbständigen Charakter und machen eine Digitalisbehandlung meistens nicht erforderlich, die auch häufig zu versagen pflegt.

Nach dieser Darstellung der für die Digitalisbehandlung und somit für die Praxis wichtigen Störungen der Schlagfolge brauchen wir auf die selteneren Störungen der Reizentstehung und Reizleitung hier nicht einzugehen. Bei dem par- tiellen und dem echten Herzblock ist der Grad der Herzinsuffizienz für die Indikation und Digitalisbehandlung ausschlaggebend. Was die besonderen Richtlinien in dieser Beziehung angeht, so muß ich auf die Darstellung von Lewis und Edens verweisen. Will man die elektrokardiographischen Ergebnisse der Lehre der Herzunregelmäßig- keiten im besondern Hinblick auf die Frage Arhythmie und Digitalis für die Praxis wertvoll gestalten, so muß man nach meinen Erfahrungen die Einteilung der wich- tigsten Arhythmieformen durchaus den Beobachtungen am Krankenbett anpassen und eine Vereinfachung in der Verständigung erzielen. Das erscheint mir nur möglich, wenn man die in der Praxis wichtigsten Rhythmusstörungen ganz klar voneinander abgrenzt, und eine Vereinfachung der Nomenklatur hiebei erzielen kann.

Nach dem bis hier Gesagten genügt für die Verständigung durchaus der ein- heitliche Begriff der Arhythmia perpetua auf der einen Seite, und der der extra- systolischen Arhythmie auf der anderen Seite. Diese Vereinfachung ist keine Scheu, die Schwierigkeit des ganzen Arhythmieproblems zu umgehen, sondern das Bedürfnis nach Vereinfachung der ganzen Arhythmiefrage für die Praxis ergibt sich aus der Tatsache, daß auch gute Kenner dieses Spezialgebietes sich immer schwerer unter- einander verständigen können, und es kam mir hier darauf an, nach rein klinischem Gesichtspunkte klinische Einheiten aufzustellen, die sich bei der für jeden Arzt wichtigen Digitalistherapie mir in jahrelanger Beschäftigung mit dieser speziell gerichteten Frage ergeben haben. Ohne eine Vereinfachung der Lehre der Herz- unregelmäßigkeiten nach klinisch wichtigen Gesichtspunkten wird die Unsicherheit des Arztes, die heute zweifellos in der uns hier beschäftigenden Frage besteht, zum Nachteil seiner Kranken nicht beseitigt werden können.

IV. Über die Frequenzfrühwirkung der Digitalis bei Herzinsuffizienz und. gestörter Schlagfolge.

Über die Einwirkung der Digitalis bei insuffizientem Herzen und gestörter Schlagfolge kann man sich nunmehr verständigen, wenn man bei der Herzinsuffizienz als praktisch wichtig auf der einen Seite die Arhythmia perpetua, auf der andern Seite die extrasystolische Arhythmie im Auge hat.

Wir wenden uns zuerst der Anfangswirkung der Digitalis zu, weil wir bei Herzinsuffizienz und gestörter Schlagfolge unter besonderen Verhältnissen eine Früh- wirkung der Digitalis ganz vorwiegend auf die Herzfrequenz finden, die wir in gleicher Intenstät nie bei Herzinsuffizienz und normaler Schlagfolge beobachten. Wir werden also gesondert betrachten: den Beginn einer Digitalisbehandlung von dem mehr chroni- schen Abschnitt der Kur. Es soll also, absichtlich abgetrennt von der übrigen Digitaliskur,

"a

Die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens bei gestörter Schlagfolge. 119

jene allererste Zeit der Digitalisdarreichung besprochen werden, in der wir Kranke dieser Art unvorbehandelt mit Digitalis oder jedenfalls einige Zeit unbehandelt in ihrer Reaktion auf die Digitalis beobachten können. |

So beginnen wir wieder mit Arhythmia perpetua. Nehmen wir diejenigen Kranken vorweg, bei denen ohne die eigentlichen Zeichen der Herzinsuffizienz lediglich die Herzunregelmäßigkeit auf dem Boden einer Arhythmia perpetua oder durch diese ausgelöste tachykardische Anfälle einen Versuch mit Digitalis veranlassen, so wissen wir, daß oft erst größere Mengen der Mittel gegeben werden müssen, um die ge- wünschte Beeinflussung der Kammerfrequenz zu erzielen. Die Gruppe dieser Kranken, bei denen tachysystolische Vorhöfe mit beschleunigter unregelmäßiger Kammertätigkeit häufig das einzige Symptom einer Herzstörung sind, ist nicht klein bzw. in den ver- schiedenen Gegenden scheinbar verschieden häufig. Man sieht diese Kranken z. B. entweder mit einem gut kompensierten kombinierten Mitralfehler oder mit den leichten Erscheinungen der Arteriosklerose, seltener nur bei essentieller Hypertonie, oder man sieht diese Form nach Infektionskrankheiten oder bei thyreotoxischen Zuständen. Dann pflegt diese Störung auch häufig, wie erwähnt, vorübergehender Natur zu sein. Nicht so selten führt aber doch auch, ohne die greifbaren Zeichen der Herzinsuffizienz, das subjektive Gefühl der verringerten Leistungsfähigkeit zum Arzt und zur Digitalisanwendung, und meist gelingt es bei diesen Kranken, mit großen Digitalisdosen (2—3 g etwa in 10 Tagen) die erwünschte Kammerfrequenz- erniedrigung zu erzielen. Der Erfolg hängt in hohem Maße von dem Grundleiden ab. Anders verhalten sich die Kranken, wenn die Zeichen der Herzinsuffizienz meist chronischen Herzinsuffizienz mehr oder weniger stark ausgeprägt sind. Ich denke hier vor allem an die Kranken, die „wegen des Magens“ (chronische Stauung, meist vergrößerte Leber, im Harn Uhrobilin) oft fälschlicherweise als Magenkranke behandelt werden oder wegen eines chronischen Lungenkatarrhs (Stauungskatarrh, im Röntgenbild typischer Stauungshilus) wegen der Lunge behandelt werden (Asthmatiker! Pneumatische Kammer!). Bei diesen Kranken tritt die erwünschte Kammerfrequenzabnahme schon nach einer mittleren Gabe von 1 bis 2g Digitalis ein.

Gleichzeitig mit dem Sinken der Kammerfrequenz beobachten wir bei diesen Kranken einen Übergang von tachysystolischen zu flimmernden Vorhofserregungen, und der vorher negative Vagusdruck fällt während oder nach der Behandlung stark positiv aus, und endlich ist eine dritte Gruppe von Kranken in bezug auf die Frequenz- verminderung schon bei verhältnismäßig kleinen Mengen der gegebenen Mittel sehr empfindlich. Bei dieser Gruppe sehen wir eine Wirkung der Digitalis bei der Insufficientia cordis mit gestörter Schlagfolge, die wir nur dann konstatieren können, wenn die gestörte Schlagfolge bestimmte Formen der Arhythmia perpetua zur Grundlage hat. Es ist dies eine ganz specifisch ausgeprägte chronotrope Frühwirkung der Digitalis, die wir bei keiner anderen Rhythmusstörung finden. Bei diesen Kranken bewirkt dann der Vagusdruck meist schon vor, stets aber nach der Behandlung, eine starke Abnahme der Kammer- schlagfolge. Bei diesen Kranken gehen unter der Digitalisbehandlung gleichzeitig mit dem immer stärker ausgeprägten Ausfall des Vagusdruckversuches die noch vorhan- denen tachysystolischen in Flatter- und Flimmererregungen über, und die Abnahme der Kammerschlagfolge kann so erheblich sein, mit einer gleichzeitigen Regularisierung, daß wir das Pulsbild der „Eürhythmie“ (Gerhardt) oder des „Pseudoherzblocks“ vor uns haben. Während nach meinen Beobachtungen so gut wie alle Kranke mit Mitralinsuffizienz und Stenose im Verlaufe ihrer Krankheit alle möglichen Stadien

120 K. Fahrenkamp.

der Digitalisempfindlichkeit und die verschiedensten Erscheinungsmöglichkeiten der Arhythmia perpetua durchmachen, scheint dies bei Herzkranken, deren Insuffizienz auf anderer Basis entsteht, z. B. Lues, Arteriosklerose, bei weiten nicht in diesem Maße der Fall zu sein. Es scheint mir klinisch noch völlig ungeklärt, ob die Bedin- gungen für das Auftreten einer Arhythmia perpetua bei den einen und den anderen

Fig. 25.

a Se 23.26 29, 30. BER EE ee SC Lige | CCTCTTTITTITII KEE E (SSES EC ER EES RE EFFE: BR BB DU SSES e EES EE OË: RSR gt Ree EES EES EES LUNERUNENEEERSERFPCENE TRITT IWN TI A AL TA MV BEE A EE EECHER

N SS?

C4

Kranken so nah verwandt sind, wie es den Anschein hat. Nach eigenen Erfahrungen neige ich mehr dazu, die specifische Wirkung der Digitalis bei Herzinsuffizienz auf dem Boden eines kombinierten Klappenfehlers und gleichzeitiger Arhythmia perpetua einheitlich als eine hervorragende Vaguswirkung aufzufassen, als bei den übrigen Formen von Herzinsuffizienz, bei denen die Arhythmia perpetua mehr ein Zufallsbefund ist

Fig. 26.

und nicht so geradezu klassisch zum Krankheitsbilde gehört wie bei den kombinierten Mitralfehlern. So gelten also diese Richtlinien für die Digitalisbehandlung in ganz beson- derem Maße für die verschiedenen Zustände von Herzschwäche bei kombinierten Mitral- fehlern, die ja so gut wie ohne Ausnahme eine Arhythmia perpetua als Teilerscheinung aufweisen.

In allen Fällen aber, in denen wir eine auffällige Frühwirkung der Digitalis auf den Rhythmus feststellen konnten, ergibt sich immer eine Wechselwirkung zwischen

Die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens bei gestörter Schlagfolge. 121

dieser Digitalisfrühwirkung und der frequenzvermindernden Wirkung des Vagusdrucks. Diese Beobachtung spricht doch für die Annahme, daß in solchen Fällen vielleicht der wesentliche Erfolg der Digitalisbehandlung durch die vaguserregende Wirkung: dieser Mittel erzielt wird. |

An anderer Stelle habe ich über diese EEN mit ausführlichen Belegen berichtet (1916).

Ehe wir auf die chronische Digitalisbehandlung in unserem Zusammenhang eingehen, müssen wir die für die Arhythmia perpetua und nur für diese Rhythmusstörung charakteristische Frequenzfrühwirkung der Digitalis aus der Digitalisbehandlung im ganzen herausstellen, weil diese Frequenzfrühwirkung auch in diagnostischer Beziehung eine außerordentlich einfache Handhabe bietet. So möchte ich nur in zwei typischen Pulskurven und drei Tabellen zeigen, was sich mir bei gewissenhafter Nachprüfung immer wieder gezeigt hat (Fig. 25 und 26).

Die zwei Pulsbilder veranschaulichen, wie je nach der verschiedenen Digitalis- empfindlichkeit bei der Arhythmia perpetua auch schon ganz kleine Mengen der Digitalis eine Wirkung hervorrufen, die man weder bei der extrasystolischen Arhythmie noch bei normalem Grundrhythmus und Herzinsuffizienz je beobachten kann.

Was diesen Pulskurven im Elektrokardiogramm zu grunde liegt, einmal im Zusammenhang der Digitalis mit dem Erregungsablauf in den Vorhöfen und das. andere Mal im Vergleich zu der immer wieder in Erscheinung tretenden Wechsel-. beziehung: Digitalis und Vagus, veranschaulichen am einfachsten die Tabellen III und IV.

Tabelle III. Das Verhalten der Vorhofs- und Kammererregungen vor und nach der Behandlung.

l Elektrokardiogramm vor der Behandlung Elektrokardiogramm nach der Behandlung

Bemerkungen Auftreten abnormer 1. der Vorhöfe Ee Kammererregungen Tachysystolie normal 115 Flimmern normal 52 | zahlreiche abnorme

Erregungen

n 128 nm n 50 a

n 102 e P 58 vereinzelte abnorme Erregungen Ä

e P 100 n e 48 zahlreiche abnorme |: Errregungen

e P 144 e " 66 vereinzelte abnorme Erregungen

n P 174 S 45 zahlreiche abnorme Erregungen

II nN 150 n n 42 pm

H L 132 n 38 SZ

n n 120 "n n 50 Ka

n 160 H H 60 GE

e " 140 n n 50 vereinzelte abnorme Erregungen

n P 124 D y 48 T

Vergleicht man diese beiden Übersichtstabellen, so ist es ganz augen- fällig, welche Ähnlichkeit zwischen dem Ausfall des Vagusdruckversuches und einer guten Digitaliswirkung in diesen Fällen besteht. Selbstverständlich läßt sich diese Übereinstimmung der Vaguswirkung und der medikamentösen Erfolge nur für einen gewissen Teil der Kranken mit Arhythmia perpetua feststellen, weil es sich dabei um Veränderungen handelt, deren nähere Ursachen wir noch nicht genügend, kennen.

122 K. Fahrenkamp.

Tabelle IV. Das Verhalten der Vorhofs- und Kammererregungen vor und nach Vagusdruck.

Elektrokardiogramm vor Vagusdruck Elektrokardiogramm nach Vagusdruck

Traten abnorme Kammer-

erregungen auf? Vorhöfe Kammern nen

Kammer- frequenz

Tachysystolie normal 108 | Flimmern normal 62 zahlreiche abnorme , Erregungen 170 | Übergänge n 88 zahlreiche abnorme zu - Erregungen Flimmern 114 D 60 H 102 e 24 _ 190 e 110 zahlreiche abnorme Kammererregungen . 110 | Flimmern » 22 114 " e 38 _ 06 n n 24 T 102 n e 68 _ 120 | e " 60 _ 138 | Übergänge e 84 zahlreiche abnorme zu Erregungen Flimmern Ä 124 | Flimmern e 72 =-

Die ausgesprochene Frequenzfrühwirkung veranschaulicht am einfachsten eine Übersichtstabelle (Tabelle V). In der ersten Spalte war bei den Kranken die Schlag- folge gestört durch eine Arhythmia perpetua, in Spalte 2 und 3 lag eine extra- systolische Arhythmie oder ein normaler Rhythmus zugrunde. Bei allen hier auf- geführten Kranken war eine ausgesprochene Herzinsuffizienz vorhanden.

Ein Blick auf die Tabelle genügt, die eklatante Tatsache festzustellen, daß bei der Arhythmia perpetua + Herzinsuffizienz schon ganz geringe Mengen der Digitalis in zwei bis drei Tagen eine erhebliche Abnahme der Kammerfrequenz bewirken können.

Etwas Ähnliches finden wir bei der Herzinsuffizienz + extrasysto- lischer Arhythmie und Herzinsuffizienz-- normalem Rhythmus über- haupt nie.

So sehen wir, daß das durch eine Arhythmia perpetua charakterisierte insuf- fiziente Herz ohne Zweifel durch eine besondere Empfindlichkeit der ansprechenden reizerzeugenden und reizleitenden Apparate ausgezeichnet ist. Das erkrankte, insuf- fizient werdende Herz, das neben den sonstigen Erscheinungen auch noch eine Erkrankung der reizerzeugenden und reizleitenden Apparate in einer der viel- gestaltigen Erscheinungsformen der Arhythmia perpetua zeigt, bietet uns bei der Behandlung mit Digitalis außer den übrigen Angriffspunkten ganz besonders in dem Reizleitungsapparate noch eine andere Möglichkeit der Heilwirkung dar.

Die Frühwirkung dieser Mittel in der Beeinflussung der Kammer- schlagfolge darf als erwiesen gelten. Sehen wir von den seltenen Fällen von vor- übergehender Arhythmia perpetua ab, so können wir bei dieser Störung eine bleibende Veränderung der reizbildenden und reizleitenden Stätten annehmen, wenn auch die pathologisch-anatomischen Untersuchungen dieser Veränderung kein einheitliches Ergebnis ergeben haben. Wir können aber nach den klinischen Ergebnissen sicher sagen, daß die Tätigkeit der normalen Reizbildungsstätten des Sinusknotens dauernd in der Weise verändert ist, daß bei der Arhythmia perpetua zahlreiche Vorhofs-

123

Die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens bei gestörter Schlagfolge.

6-8 86 col "PI " 6-8 d G8 TE 0.8 9.9F 09 GII “Lo GC d 071 dl TI Sp 0 06 06 “6 8.5 v.89 0% ` oci L0 LO d pII 124 "TS “og 2-91 001 Aa TC Ge G9 GE 071 L0 d col col "éi Le d 06 06 24 08 09 071 "90 GC

ag OI) PI ol “926 0-66 0L 06 Ql SS PR 06 981 9.0 IZ 06 08 001 "TI "6 9.9 89 CL "TP "T 9.07 G6 091 "90 0%

LI 96 Fol “9 “08 2-9 PR 06 $ “97 0.57 09 OI! "90 61

9.9 SII dal “6 “0 £.9 GL 08 $ “9T Sp 08 Ori 9.0 CH

SO 06 G6 Do H “08 d G6 001 TT: L QT Ft 09 801 “90 LI

LP 001 col "TO 6f 6-9 06 G6 “g I ER GO pII 7 8.0 d Ce GL 001 "D “61 6-2 0L 9L “9 “or LI col gpI "00 GI

SE 88 c6 "e. `. “61 6-2 0L G Lt RAP 09 GII Ou pI

Chi 001 GA OI LT 0 G6 G6 “9 “07 9.89 06 GLI “00 el d G6 G6 Se; “81 GL RL 08 . OT 1.68 0L GII “00 cl 0 001 001 “8 LI SE: 06 ZZ “04 8.87 89 021 “0 u d 88 88 6 “LI 6-8 08 G8 "TS "TH WPS G8 oeIl "30 OI d 001 001 “9 “et 6.9 06 96 TS OF 8-63 08 pII "vo 6 LU 9L 08 $ "II 89 0L 08 > 60 &-L8 GO SI "70 8 GI 88 001 “9 “80 9 v8 001 G “08.0 Op CL GEI $0 L 0 vol SOL 8 WI 6-7 8L GR "TC 8.0 8.88 09 86 SO H 0 001 001 "TS L0 8-26 pII GC “6 80 £-FF 8 UA Eu G. 0 9L 9L $ LO 0 G6 G6 G "00 0.19 0% Del "08.0 y

6-6 08 06 = L0 LA 001 OI 2 2 Ga LE 09 86 “80 £

7-6 08 88 6 9.0 8-T SOL UE 2.8 PA 2.89 Up SOL “0 é

9.8 S6 Þor | usdeLg ! 3980 0 0L 0L weLTz | 280 Sp | e 081 380 II

Of ut jne HOA ui yvu u yoru Din o Im uoA ydeu

GE seia ste 3a smeyrdta zuanbaljıawwey Be] 1əp 19p Zuanbaiiiam gea wie 1əp 22P zuanba1jJ132wwey de] IP ap 1p awyeugy Iyezuvy 33uaw Jəp awyeugy Iyezuy sZuaw Ip amwyeugy Iqezuy EIDEN IN snwuyzAyy wapwwıou pg `I SjwyzAysy UOyISjj0J8Äs81)x3 3ƏP ag "II enzədsəd wjwujAysy 433P ag `I

:PWwWegoagq apına sıendiq yomp zuənbəayəwwry ap Zunsenuutaag 2u2111032e2a8 37519 AQA

walyunzjlagsay Swyeugezuanbaijsawwey IpasuIyIawəq 3Upə IIA ‘uryzusydoszs 1əpo ste}; ig uoa uaduaw uauspaıyasıaA 210 A >SII2qeL

124 K. Fahrenkamp.

erregungen an die Stelle der sonst normalen regelmäßigen Vorhofsreize getreten sind. Diese Vorhofserregungen sind so geartet, daß sie unter der Einwirkung der Digitalis abgeschwächt werden können. Dies tritt mit großer Wahrscheinlichkeit auf dem Wege der Vaguserregung ein. Gleichzeitig besteht neben der Veränderung der Reizentstehung eine Veränderung der Reizleitung. Beide Veränderungen zu- sammen zeigen engste Beziehung zu dem Vagusapparat. Es bestehen also von der Norm völlig abweichende, der Rückbildung nicht mehr fähige Bedingungen für die Tätigkeit der Reizbildung, Reizleitung und für die mit diesen Stätten ver- bundenen Vagusendapparate.

Auf Grund immer wieder nachgeprüfter Beobachtungen kann man auch die komplizierteste und scheinbar schwerste extrasystolische Rhythmusstörung für die Digitalisbehandlung dem rhythmusnormalen insuffizienten Herzen gleichstellen. Man braucht hier weder mit besonderen Gefahren bei der Digitalisanwendung zu rechnen, auf die wir bei der Frage der chronischen Digitalisbehandlung kurz ein- gehen werden, noch kann man eine Frühwirkung der Digitalis in solchen Fällen erwarten. `

Das bisher Gesagte gilt für jene Kranken, bei denen eine Herzinsuffizienz als Teilsymptom entweder eine Arhythmia perpetua oder eine extrasystolische Arhythmie zeigt, und wir haben hier besonders hervorgehoben, wie zu Beginn einer Digitalis- behandlung, die durch eine Arhythmia perpetua komplizierte Herzinsuffizienz ganz andere und anerkannte Digitalisfrühwirkungen auslöst, die wir bei der Herzinsuf- fizienz mit extrasystolischer Störung nicht finden.

Das betont auch Magnus in seiner Darstellung der Digitalistherapie (1923), aber er trennt auch die Tachysystolie der Vorhöfe von den flimmernden Vor- höfen ab und stellt die besondere Wirksamkeit der Digitalis nur für das Vorhofs- flimmern fest: |

„Wo man einen beschleunigten, unregelmäßigen und inäqualen Puls (Arhythmia perpetua, Pulsus irregularis perpetuus, Delirium cordis) neben Erscheinungen der Herzinsuffizienz findet, kann Digitalis in einigen Tagen das Bild völlig ändern. Die Dyspnöe läßt nach, die Cyanose verschwindet, die Odeme nehmen ab, die Diurese wird überschießend, der Puls deutlich verlangsamt.“

Nach den bisherigen Mitteilungen halte ich nach unseren elektrokardiographi- schen, experimentellen und diagnostischen Befunden eine Abtrennung der Vorhofs- tachystolie und Vorhofsflimmern nicht für angezeigt, denn wir finden bei ein und dem- selben Kranken fließende Übergänge von dem einen in den anderen Zustand der Vorhöfe und das ganz vor allem unter dem Einfluß der Digitalisbehandlung, vor allem aber auch in der Entwicklun der Arhythmia perpetua im Verlaufe der Krankheit. Daß flimmernde, Vorhöfe als Dauerzustan registriert, dann häufig in Kombination mit einem höheren Grad der Überleitungsstörung, der bis zum Pseudoherzblock führen kann, meist mit einem späteren oder gar Endzustand des Krankheits- bildes zusammen angetroffen werden, ist außer Zweifel. Aber wie schon erwähnt wurde, ist hier sicher die Grunderkrankung z. B. kombinierter Klappenfehler oder arteriosklerotische Myokard- veränderungen von grundlegender Bedeutung.

eh fehlt zurzeit noch eine klinische Trennung, die mir durchaus möglich erscheint.

V.

| Wir haben uns noch kurz zu beschäftigen mit der Frage, ob die Digitalis- behandlung bei Herzinsuffizienz mit gestörter Schlagfolge besondere Wege weist, wenn die Rhythmusstörung nicht Begleitsymptom, sondern auslösende Ursache der Herzinsuffizienz wird. Wenckebach hat uns ja gelehrt, welch große Bedeutung dem Zusammenfallen vor Vorhofs- und Ventrikelsystole: der Vorhofspropfung, zu- kommt. Wenn beide Abteilungen des Herzens auch kräftig schlagen, so kann der Nutzeffekt für den Kreislauf trotzdem sehr gering sein. Die Ventrikel werden nicht genügend gefüllt und zu gleicher Zeit können die Vorhöfe ihren Inhalt nicht durch die verschlossenen Klappen in die Ventrikel pressen und werfen ihn in die Venen zurück.

Die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens bei gestörter Schlagfolge. 125

„Bei der systematischen Durcharbeitung des ganzen Gebietes der Arhythmie treffen wir immer wieder die Tatsache, daß es die Vorhofspfropfung ist, welche die bedenklichsten Kreislaufstörungen hervorruft“ (Wenckebach).

Es liegt auf der Hand, daß sowohl bei bestimmten Formen der Arhythmia perpetua als auch bei komplizierten Formen der extrasystolischen Arhythmie, vor allem aber bei der paroxysmalen Tachykardie, auf der einen oder anderen Grund- lage die ernstesten Stauungserscheinungen sich ausbilden können, und wir sahen ja, daß ein Teil der Fälle von paroxysmaler Tachykardie und dieser Anteil ist nicht klein hineingehört in die Gruppe der Arhythmia perpetua, denn wir stellten an den Kurven fest, daß in vielen Fällen die Bedingungen gegeben sind, die einen Anfall unter dem Bilde der paroxysmalen Tachykardie auslösen können. Das gleiche gilt für komplizierte extrasystolische Arhythmien, auch hier können geeignete Bedingungen allein durch die fohe Frequenz ausgelöst werden, welche Ventrikel und Vorhofsschläge so zusammendrängen, daß die Entleerung der Vorhöfe und die Füllung der Ventrikel fast unmöglich wird. Gelingt es alsdann, den hohen Grad der Arhythmie zum Verschwinden zu bringen, so nimmt häufig die Kreis- laufstörung alsbald ihr Ende. So wird es also nicht so wenig Fälle geben, wo die Arhythmie als solche eine spezielle Behandlung erfordert.

Für diejenigen Kranken, bei denen derartige Zustände von Herzinsuffizienz selbständig auf dem Boden einer Arhythmia perpetua ausgelöst werden, ist die Digitalis ein unentbehrliches Mittel, und wir werden später bei der chronischen intermittierenden Digitalisbehandlung diese Fälle berücksichtigen müssen.

Häufig gelingt es mit einer Strophanthininjektion, den durch die Arhythmia perpetua ausgelösten tachykardischen Anfall zu coupieren. Oft sind große Digitalis- mengen nötig, manchmal läßt uns die Digitalis im Stich. Jedenfalls kann man bei Zuständen auf dem Boden dieser Grundstörung einen Erfolg von der Digitalis erwarten. Anders liegen die Verhältnisse bei schweren Störungen im Sinne Wencke- bachs, wenn die Störung der Schlagfolge extrasystolischer Natur ist. Hier empfiehlt Wenckebach vor allem das Chinin, eventuell kombiniert mit Digitalis. Nach meinem Dafürhalten hängt bei diesen Fällen der Digitaliserfolg weit mehr ab von der Digitalis- reaktivität im Sinne Fraenkels (Herzmuskel), als von der Angriffsmöglichkeit der Digitalis auf das Reizleitungssystem. Denn hier fehlt die specifische Digitaliswirkung, die wir von der Arhythmia perpetua her kennen. Ehe wir die chronische Digitalis- behandlung besprechen, sei kurz das noch sehr umstrittene Kapitel der Behandlungs- möglichkeit vor allem der vorübergehenden Arhythmia perpetua gestreift. Ich meine das Ziel der Behandlung, die Rhythmusstörung das Vorhofsflimmern zu beseitigen. Die Erfolge einer zielbewußten Chinidintherapie in dieser Richtung sind erwiesen. Ich verweise auf die Untersuchungen von Frey, dem wir die Einführung des Chinidins für diese Fälle verdanken. Aber die Frage, ob es möglich ist, durch Chinin oder Chinidin eine „dauernde“ Arhythmia perpetua, oder, wie es in der Literatur heißt, "das Vorhofsflimmern“ zu beseitigen, wird von den verschiedenen Autoren noch sehr verschieden beurteilt. Bei kombinierten Mitralfehlern habe ich eine Rückbildung im vorgeschrittenen Krankheitsstadium nie gesehen. Bei älteren Kranken mit arterio- sklerotischen Herzveränderungen oder auch bei Kranken, bei denen sich im Anschluß an einen Infekt oder beispielsweise eine thyreotoxische Störung, eine Arhythmia perpetua einstellt, wird die Wirksamkeit der Chinidintherapie besonders gerühmt. Ich persönlich glaube nicht, daß bei wirklich vollausgebildeten Dauerzuständen das Vorhofsflimmern so häufig für dauernd verschwindet, wie es nach der Literatur den Anschein hat. Anders liegt es ja bei den vorübergehenden Formen. Aber die vor-

126 K. Fahrenkamp.

übergehenden Formen sind eben doch, wie der Name sagt, flüchtiger Natur, und ich halte eine Beurteilung medikamentöser Maßnahmen bei diesen flüchtigen Er- scheinungsformen für außerordentlich schwierig. Ich kenne eine Anzahl Kranker, bei denen entweder auf dem Boden eines Mitralvitiums sich im jugendlichen Alter zeitweise ein Irregularis perpetuus einstellte, wieder verschwand, wiederkam und dann Dauerzustand wurde, oder bei denen, und das sind vor allem die älteren Kranken mit Arteriosklerose, irgend eine Erscheinungsform, Anfälle vorübergehender Arhythmia perpetua auftraten, die Stunden, Tage, Wochen oder Monate dauerten. Vor allem sah ich auch bei dem gleichen Kranken den einen Anfall sehr kurz, den anderen sehr lang dauernd. Ich erinnere an die Angaben in der Literatur, wie stark die Auslösung dieser Anfälle von nervösen Einflüssen abhängen kann und daß sie auch aufhören können in dem Moment, wo man mit der Nadel die Haut vor der Einspritzung berührt, ohne die Injektion auszuführen. Wie anders würde man den therapeutischen Effekt beurteilen, wenn der Anfall eine Minute später nach erfolgter Injektion aufgehört hätte. |

Jedenfalls wird man einen Versuch mit Chinidin, eventuell auch in Kombination mit Digitalis, machen, aber bei einer derartigen Behandlung nie außer acht lassen, daß alsdann eine besonders sorgfältige Überwachung des Kranken erforderlich ist wegen etwaiger Gefahren von seiten des Herzen oder des Centralnervensystems, auf die von allen Autoren, die sich mit der Chinidintherapie beschäftigt haben, immer hingewiesen wird. Mir persönlich erscheint die Chinidintherapie bei Arhythmia perpetua als Allgemeingut für die Praxis noch nicht spruchreif. Ich möchte weitere klinische Untersuchungen mit möglichst zahlreichen und beweiskräftigen Elektro- kardiogrammen abwarten.

Wie hier immer wieder betont wurde, ist für die Beurteilung eines Digitaliserfolges eine ein- wandfreie elektrokardiographische Diagnose Grundbedingung. Ich halte in zahlreichen Fällen die Deutung des Elektrokardiogramms im tachykardischen Anfall für unmöglich. Gelingt es, den Übergang zur normalen Schlagfolge festzuhalten, oder durch Vagusdruck größere diastolische Pausen zu erzielen, so ist die Diagnose sehr leicht. So macht also nicht nur das klinische Pulsbild, sondern auch die Trennung einer Arhythmia perpetua von einer schweren extrasystolischen Störung im Elektrokardio- gramm oft große Schwierigkeit.

Im Hinblick auf unsere spezielle Frage können wir jedenfalls bei der echten vorübergehenden Arhythmia perpetua mit einer energischen Digitalistherapie (Stro- phanthin) eine Reaktion der Vagusendapparate und somit eine Beseitigung des Anfalles erwarten, während bei der schweren extrasystolischen, anfallsweise auftretenden Arhythmie weit mehr der jeweilige Zustand des Herzmuskels für den Digitaliserfolg ausschlaggebend sein dürfte. |

An dieser Stelle möchte ich aus eigenen Erfahrungen einige technische Bemer- kungen über die klinische Elektrokardiographie einfügen.

Wir finden eine ganz besonders klare Darstellung aller wissenswerten Einzelheiten, die bei der klinischen IE We zu beachten sind, bei Schrüm f zusammengestellt. Im übrigen findet man ja überall ähnliche Abhandlungen, vor allem bei Hoffmann, Schittenhelm, Kraus und Brugsch, Romberg u. a. m. A. Hoffmann hat vor allem auch auf die Fehler in der Technik hingewiesen. Ich beschränke mich darauf, lediglich einige Fehler kurz zu streifen, die bei der Benutzung des großen Edelmannschen Saitengalvanometers in Frage kommen, da mir eigene Erfahrungen über den von Siemens und Halskeschen Oscillographen fehlen. Das große Edelmannsche Saitengalvanometer ist ja wohl in Deutschland sowohl für muskelphysiologische als auch für elektrokardiographische Studien das am meisten verwendete Instrument.

Die nachstehenden Ausführungen stützen sich vor allem auf eigene Erfahrungen im Physiologischen Institut in Leiden bei Einthoven und in Würzburg bei M.v. Frey und P. Hoffmann.

‚Ich halte an sich bei der Aufstellung einer elektrokardiographischen Station es für einen technischen Vorteil, wenn analog physiologischer Arbeitsmethoden keine Schaltschemata zur Verwendung kommen,

Die Digitalisbehandiung des insuffizienten Herzens bei gestörter Schlagfolge. 127

sondern alle Schlüssel, Leitungen, Widerstände und Hilfsapparate so aufgebaut sind, daß sie jeder- zeit auslösbar und kontrollierbar sind. Der Untersucher sollte also in der Lage sein, seine sämtlichen Leitungen mühelos in jedem Augenblick übersehen zu können und so auch kleine Fehler (Lockerung der Drähte, schlechte Isolation u. s. w.) auszuschalten. Die Grundbedingung für das Arbeiten mit einem so empfindlichen Instrument, wie es das Saitengalvanometer ist, dürfte eine möglichst erschütterungsfreie Aufstellung sein. Am günstigsten wird diese Frage zu lösen sein, wenn das Instrument in einem Kellerraum ohne Berührung mit den Seitenwänden des betreffenden Hauses auf einem erschütterungsfreien Sockel ganz allein für sich Aufstellung findet. NebenderErschütterung bedeutet die Induktion die zweitgrößte Gefahr für das Arbeiten mit dem Saiten- galvanometer. Dabei handelt es sich nicht nur um elektrische Störungen durch Wechselströme, sondern auch in hohem Maße um statische Ladungen, die unter Umständen ein Arbeiten unmöglich machen können. Es liegt auf der Hand, welche enorme Störungen ein Instrument erleidet, wenn durch Befestigun an einer Hauswand oder durch die Nähe einer Straßenbahn, eines Röntgenzimmers, ja schon durc die Anwesenheit eines Steckkontaktes der Lichtstromleitung mit Wechselstrom die Möglichkeiten der mechanischen oder elektrischen Störung ohne weiteres gegeben sind. Eine Saitengalvanometer-Arbeits- stätte, mag sie nun zu physiologischen oder elektrokardiographischen Untersuchungen benutzt werden, sollte vor mechanischen Erschütterungen gesichert sein. Gegen elektrische Störungen schützt eine einliche Isolation des gesamten Stromkreises mit Einschluß des Patienten, und nachdem ich diese solation bis in alle Einzelheiten mit Starkstromisolatoren und dem Vermeiden der statischen Ladung und der Einwirkung von irritierenden Wechselströmen nach dem Vorgange Einthovens immer durchgeführt habe, registriere ich nur dann verzitterte Kurven, wenn der Patient wirklich keine anderen liefert und die Zahl derartiger Patienten ist nach meinen Erfahrungen eine sehr kleine. Eigentlich sind es nur bei wiederholten Aufnahmen schwerere thyreotoxische Kranke, die ja immer einen sehr oßen Ruhestrom haben und bei denen tatsächlich auch im übrigen die Kurve sehr leicht trotz eachtung aller Vorsichtsmaßregeln verzittert ist (Muskelaktionsströme).

Nur technisch einwandfreie Kurven ermöglichen die Lösung einer Frage, wie wir sie hier behandeln. Diese technischen Bemerkungen erschienen mir angebracht, besonders auch im Hinblick auf die Frage der Häufigkeit der vorübergehenden Rhythmusstörungen. Was die Art der Ableitung angeht, so sehe ich für klinische Zwecke kein Bedürfnis, eine andere Art der Ableitung zu wählen: als die mit Hilfe der Wannenelektroden oder der von Einthoven angegebenen Bindenelektroden. Bei einwandfreier Technik kann man für Untersuchungen am Krankenbett nach meinem Dafürhalten die Straubschen Nadelelektroden entbehren. Die scheinbaren Vorteile, die diese neuerdings von Straub eingeführte Methode haben soll, werden durch eine sonst einwandfreie Technik ausgeglichen. Ich halte sie auch als Ableitungs- art auf die Dauer kaum für durchführbar.

Kehren wir zum Ausgangspunkt zurück, so war die Frage, ob eine vorüber- gehende Rhythmusstörung, die selbständig eine Herzinsuffizienz auslöst, für die Digitalisbehandlung besondere Richtlinien ergibt. Da kommt für die vorübergehende Arhythmia perpetua in hohem Maße das Chinidin in Frage an Stelle der Digitalis, im übrigen läßt sich für diese Fälle eine generelle Antwort nicht geben, und man wird je nach der Lage des Falles versuchen, den Anfall zu beseitigen, ohne hier von der Digitalis zuviel erwarten zu dürfen. Bei der dauernden Arhythmia perpetua als selbständiger Ursache der Herzinsuffizienz können wir nach dem Vorhergesagten eher einen Digitaliserfolg erwarten, vor allem, wenn es gelingt, durch eine chronische Digitaliskur die kritischen Frequenzen zu vermeiden und die Pulszahl zwischen 60 und 70 zu erhalten. Daß hier die einzelnen Krankheitsfälle verschieden reagieren, je nach der ätiologischen Grundlage der Rhythmusstörung, wurde vorher gesagt.

So fassen wir für unsere Fragestellung noch einmal das klinische Ergebnis der klinischen Elektrokardiographie dahin zusammen, daß die sichere Diagnose über die Art der vorliegenden Herzunregelmäßigkeit für die Digitalisbehandlung von praktischer Wichtigkeit "st, denn es verhält sich das durch Extrasystolen unregel- mäßig schlagende Herz in bezug auf die Frequenz gegenüber der Digitalis wesentlich anders als das durch eine Arhythmia perpetua klinisch unter dem gleichen Bilde unregelmäßig schlagende Herz. Das durch Extrasystolen arhythmisch schla- gende Herz unterscheidet sich der Digitalis gegenüber nicht von dem in seinem Rhythmus ungestörten insuffizienten Herzen.

128 K. Fahrenkamp.

Dagegen ergaben die dauernd bestehenden Veränderungen der Reizentstehung und Reizleitung bei der Arhythmia perpetua besonders günstige Möglichkeiten für die Digitalisbehandlung. Das war die geschilderte Frequenzfrühwirkung, die wir bei dem durch Extrasystolen arhythmischen sowie bei dem insuffizienten Herzen mit regelrechter Schlagfolge nicht kennen. Dabei sahen wir, daß in der hier nieder- gelegten Auffassung die Bezeichnung Arhythmia perpetua auf Grund der elektro- kardiographischen Befunde eine gut umschriebene klinische Einheit darstellt. Über etwaige Gefahren in der Art der Digitalisanwendung bei der Herzinsuffizienz bei der einen oder anderen Arhythmieform wird in dem Abschnitt über die kontinuier- liche Digitalisbehandlung zu sprechen sein.

VI. Über den kontinuierlichen Gebrauch der Digitalis bei gestörter Schlagfolge.

Wir haben bisher ganz bewußt den Beginn der Digitalisbehandlung in den Vordergrund gestellt. Die charakteristische chronotrope Digitalisfrühwirkung haben wir nur bei der Arhythmia perpetua feststellen können, nicht aber bei der extrasystolischen Arhythmie und bei normalem Grundrhythmus. Unsere bisherige Auf- fassung steht durchaus im Einklang mit den Ergebnissen der experimentellen Pharmakologie. Ehe wir auf den chronischen Digitalisgebrauch im folgenden ein- gehen, führe ich deshalb die Ansicht Gottliebs an, weil aus ihr hervorgeht, wie wichtig experimentelle Therapie am Krankenbett, wie wir sie durchgeführt zu haben glauben, für das Digitalisproblem im ganzen ist. Ich füge zusammengefaßt einiges aus der diesbezüglichen Darstellung Gottliebs an: Da die Empfindlichkeit jedes dieser Angriffspunkte durch krankhafte Störungen in besonderer Weise verändert wird, ist es verständlich, daß die Digitalisbedürftigkeit ebenso wie die Digi- talisempfindlichkeit der Herzkranken im Einzelfalle wesentlich verschieden sein kann, Màn weiß, daß eine durch Arhythmia perpetua bedingte oder in ihrem Gefolge auftretende Herzinsuffizienz allein schon durch die chronotrope Wirkung selbst kleiner Digitalisgaben günstig beeinflußt werden kann, und es ist auch bekannt, daß Herzinsuffizienzen ohne Störung der Reizbildung und Reizleitung im Sinne der Arhythmia perpetua im allgemeinen erst durch größere Digitalisdosen beein- flußbar sind. Bei der Arhythmia perpetua handelt es sich nicht um ein primäres Versagen der Contractionsfähigkeit der Kammern wie etwa bei der Kompensationsstörung eines hypertrophischen Herzens, sondern um eine schwere Störung von Ort und Tempo der Reizbildung (1921).

Da die Digitalisanwendung schon in kleinen Gaben imstande ist, eine langsam und weitgehende Regulierung der vorher völlig arhythmischen und stark be- schleunigten Kammerpulse herbeizuführen, so erklärt sich die günstige Wirkung der Digitalis in solchen Fällen allein schon aus der Pulsverlangsamung, die das Mittel hervorruft. Wenn wir uns also jetzt zudem chronischen Digitalisgebrauch bei Herzinsuffizienz mit gestörter Schlagfolge zuwenden, so haben wir im folgenden nur solche Krankheitsfälle im Auge, bei denen der optimale Grad der Kompensation nach einer zielbewußten Digitalisbehandlung erreicht wurde. Also jene Kranken, bei denen .es die Aufgabe des Arztes ist, nach eingetretener völliger oder relativer Kom- pensation eine neue schwere Insuffizienz zu verhüten. Häufig dürfte es viel leichter sein, die groben Erscheinungen der Herzinsuffizienz zu beseitigen, als das nunmehr suffizient gewordene Herz suffizient zu erhalten. Da eine Herzinsuffizienz mit extra- systolischer Rhythmusstörung nach dem bisher Gesagten sich der Digitalis gegen- über in keiner Weise unterscheidet, wie das insuffiziente Herz bei normalem Grund-

D

Die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens bei gestörter Schlagfolge. 129

rhythmus, so können wir uns auch hier wieder auf die Herzinsuffizienz mit Arhythmia perpetua beschränken. Durch die Übersicht einiger typischer Pulskurven, denen große Serien von Elektrokardiogrammen zu grunde liegen, werden wir am einfachsten feststellen können, welche der uns hier interessierenden Krankheitsfälle ganz besonders eine chronische Digitalisbehandlung erfordern.

Dabei stellen wir noch einmal fest: Abgesehen von der hier gesondert be- trachteten Frequenzfrühwirkung, wird man die Digitalisdarreichung bei Herzinsuffizienz und gestörter Schlagfolge fortsetzen, bis der optimale, für den einzelnen Fall charak- teristische (besonders auch für die Prognose [vgl. A. Fraenkel]) Grad der Kompen- sation erreicht ist. Über die zu verabfolgende Menge der Digitalis läßt sich ein Schema nicht aufstellen. Während aber bei Herzinsuffizienz und extrasystolischer Arhythmie ebenso wie bei Herzinsuffizienz und ungestörter Schlagfolge Mengen von 3 bis 5 oder gar 6 g Digitalis etwa in 10—14 Tagen von seiten des Reiz- leitungsapparates und auch vom Herzen im ganzen meist gut vertragen werden oder meist auch nicht in die Gefahrzone der „Überdigitalisierung“ führen, liegen die Verhältnisse bei Herzinsuffizienz und Arhythmia perpetua doch anders.

Fig. 27.

Nach 06g Digitalis (6X 0'8 mg Verodigen) tritt eine lang anhaltende, erwünschte, niedrige Kammerfrequenz ein.

Wir können hier naturgemäß nur ganz wenige Pulsbilder wiedergeben, an Hand derer aber erörtert werden kann, wie die Digitalisanwendung bei Herzinsuffi- zienz + Arhythmia perpetua sich doch nach Möglichkeit jeweils auf die ganz individuelle Reaktion des Kranken auf den Rhythmus anzupassen hat. In dem einen Beispiel der Fig. 27 tritt schon nach einer Gabe von 0'6 g Digitalis eine lang- anhaltende, erwünschte, niedrige Kammerfrequenz ein. In einem solchen Fall wird man, sofern die Kompensation erreicht ist, doch zweckmäßig Digitalispausen eintreten lassen. Darüber wird kurz in einem nächsten Abschnitt zu reden sein.

Geht aber, wie in Fig. 28, die Kammerfrequenz bei Aufhören der Digitalis? @arreichung gleich wieder in die Höhe, so wird man wohl genötigt sein, über weit längere Zeit, vielleicht dauernd Digitalis zu geben. Aber auch bei solchen Kranken erzielt man dann meistens bei lang andauernder Digitalisierung die Möglichkeit, kürzere oder längere Pausen einzuschalten, ohne daß die Kammerfrequenz in die Höhe geht.

Fig. 29 zeigt, daß das eine Mal eine unerwünschte weitere Abnahme der Kammerfrequenz dazu Veranlassung gibt, mit der Digitalis aufzuhören. Das andere Mal zeigt eine weitere Fig. 30, daß durch das Auftreten abnormer Kammerregungen die starke Abnahme der Kammerfrequenz verdeckt werden kann. In therapeutischer

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI Q

130 K. Fahrenkamp.

Beziehung liegen die Verhältnisse bei derartigen Kranken in.der Fig. 29 und 30 deshalb besonders ungünstig, weil auf der einen Seite die Digitalis unerwünscht stark die Frequenz herabdrückt, anderseits häufig die Insuffizienzerscheinungen noch

Fig. 28. Fig. 29. Z.191%. E mi: pri d" Eu , SE Ur E A E au e elle: ee RE TEE EES IA BEZRERIZEREAE N KE Il EE e EE Starke Einwirkung der Digitalis (Oitalin) auf die sehr Die weitere Abnahme einer SE erhöhte Kammerfrequenz, flüchtiger Natur. Auffallend bei flimmernden Vorhöfen und Arhythmia große Differenz zwischen Herz- und Hand- petua durch Digitalis. Bemerkungen: 7. V. Fli Ge pulszahlen. Etwa 80 Herzcontractionen sind am Ra- mern der Vorhöfe, Vagusdruck 60:54 links, dialispulse nicht auszählbar. Bemerkungen: 11. JI. Tachy- 2: 54 rechts. 9. V. Flimmern ger Vorhöfe systolie der Vorhöfe. 12. If. Vagusdruck 108 : 80 links, 3. V. Vagusdruck 54 : 42 links, 54 : 36 rechts. 108 : 50 rechts. 14. II. Übergänge zu Flimmern. 23. II. 14 V. keine abnorme Erregung, Flimmern der wie am 14. Il. 23. Il. Vagusdruck 100:90 links, 100 : 75 Vorhöfe.

"rechts. Keine abnorme Erregung.

nicht genügend beseitigt sind. Ich persönlich neige dazu, in solchen Fällen dann lieber durch andere Mittel Campher, Coffein, Scilla erst abzuwarten, bis die Kammerfrequenz um 60 liegt, weil ich in der intensiven Weiterdigitalisierung eine Gefahr erblicke.

Fig. 30. Fig. 31.

Ss

B. le 15 16 1? 18 19 0A 2232

EMT

TEROR SE BEER ER WS HAARE IS E Re E E EE KEE e E eg Ke ; Leiden in Tng Nach 06 g Digital 6x .0'8 Verodi ® reten abnorme Brregungen, starke Abnahme de Peer Kammerfrequenz und dıe übrigen bekannten Er- scheinungen auf. Bemerkungen: 6. II. Vagusdruck 84 : 60 links, 84 : 50 rechts. 11. Il. keine abnorme Rhythmische Kammerbradykardie bei Vorhofsflimmern. Erregung, Flimmern der Vorhöfe. 15. II. Vagus- Eine Abnahme der Kammerfrequenz durch Digitalis druck 00:48 links, 60:48 rechts. 16 II. Flimmern u nicht auf. Bemerkungen: Flimmern der Vorhöfe, der Vorhöfe. 21. Il. vereinzelte abnorme Erregung, sdruck 42:42 links, 42:42 rechts. 22. I. spontan Flimmern der Vorhöfe 54:46 links, 54 : 44 rechts. u and: bei Vagusdruck abnorme Erregung 42: 84 links, 23. Il. Übergänge zu Tachysystolie 65 : 50 links, 42:84 rechts. 26. I. Flimmern der Vorhöfe 42: 84 65:48 rechts. links, 42:84 rechts.

Anders liegen die Verhältnisse bei Kranken, die eine Pulskurve wie Fig. 31 zeigen. Es besteht eine rhythmische Kammerbradykardie bei Vorhofsflimmern als Dauerzustand. Auch große Digitalisgaben beeinflussen die Frequenz nicht mehr.

Die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens bei gestörter Schlagfolge. 131

Ich mußte diese Beispiele der Vollständigkeit halber anführen. Zwischen den Beobachtungen der Fig. 29 und 30 und denen der Fig. 27 und 28 liegen außer- ordentlich vielgestaltige Möglichkeiten.

Das: eine Mal geht das Zurücktreten der Herzinsuffizienz durchaus parallel mit der Abnahme der Herzfrequenz auf eine beispielsweise mittlere Zahl von 65 Schlägen in der Minute, das andere Mal sind die Zeichen der Herzinsuffizienz noch vorhanden und die Frequenz so stark gesunken, daß man lieber eine Pause mit Digitalis ein- treten läßt, und schließlich gibt man ganz lange Zeit auch große Einzeldosen, z.B. 03-05 pro die und erzielt gar keinen nennenswerten Effekt weder auf die Frequenz noch auf die pathologische Blutverteilung und die immer mehr erlahmende Herzkraft. Kurz, gerade diese Kranken erfordern ein ganz besonderes Studium des Arztes, und hier kommt das individuelle Moment der Digitalistherapie ganz scharf zum Vorschein.

Überblickt man im einzelnen die hier wiedergegebenen Pulsbilder im Zusammen- hang mit dem Befund im Elektrokardiogramm, so ergibt sich als erstes, daß man die Frage der chronischen Digitalisierung nicht schematisieren kann. Man sieht, daß die Menge der verabreichten Mittel verhältnismäßig gering sein kann und daß man oft vorwiegend durch die chronotrope Wirkung allein schon einen wesentlichen therapeutischen Erfolg erzielen und festhalten kann. Es ergibt sich weiter die Tat- sache, daß die gleiche kleine Gabe, wenn sie ununterbrochen gegeben wird, mehr erzielen kann als den gewünschten Erfolg. Die Pulsfrequenz kann dann weit unter 50 Schläge absinken. Man wird also nach Möglichkeit versuchen, nach Eintreten der Kompensation mit möglichst kleinen Dosen den Erfolg festzuhalten. Dies gelingt nach zahlreichen Beobachtungen häufig nur in der Weise, daß man für jeden ein- zelnen Kranken erst einmal unter sorgfältigster Beobachtung feststellt, in welchen Zwischenräumen Digitalis gegeben werden muß, um die Frequenz niedrig zu erhalten und so eine neue Dekompensation zu verhüten. Denn häufig genug kommen gerade Kranke mit dieser Rhythmusstörung bei ihrem an sich schwer geschädigten Herz- muskel in ein neues Stadium der Herzinsuffizienz, wenn die Herzfrequenz wieder emporschnellt. Schwieriger gestaltet sich die Frage, was zu geschehen hat, wenn bei dem Versuch der Beseitigung einer akuteren Herzinsuffizienz jene Zustände von „Pseudoherzblock“ mit Vorhofsflimmern auftreten. Diese Zustände sind deshalb nicht ganz gefahrlos, weil man nicht vorher wissen kann, ob bei einer durch die Digitalis immer weiter sinkenden Kammerfrequenz entweder ein Dauerherzblock entsteht oder zeitig genug die Heterotopie in den Kammern die sinkende Kammerschlagzahl paralysiert. Erwacht diese Heterotopie nicht oder bildet sich kein kompletter Herz- block als Dauerzustand heraus, so kann eine Digitalisbehandlung einmal eine Gefahr bedeuten, auf der anderen Seite nutzt sie nichts. Das sind jene gar nicht sehr seltenen Fälle von Herzinsuffizienz mit Arhythmia perpetua, die überdigitalisiert wurden, ohne daß die krankhafte Blutverteilung beseitigt werden konnte. Häufig sind es in der Praxis jene Kranke, bei denen ohne nötige Berücksichtigung der übrigen Faktoren (Flüssigkeitseinschränkung, Kochsalzeinschränkung, strengste Bettruhe, Beeinflussung der Diurese durch andere Mittel) zu einseitig der Digitalis vertraut wurde.

Ich stimme durchaus der Ansicht Fraenkels bei, daß jeweils der Grad der Insuffizienzerscheinungen maßgebend für die zu verabreichende Digitalismenge ist, aber in Hinblick auf die vorstehenden Pulskurven läßt sich die Tatsache nicht leugnen, daß das durch eine Arhythmia perpetua rhythmusgestörte insuffiziente Herz besondere Vorteile, aber auch Nachteile und Gefahren bei der Digitalisbehandlung in sich birgt, die ganz vorwiegend durch die Rhythmusstörung bedingt sind. Mit einem Hinweis

D

132 K. Fahrenkamp.

auf die im Original nachzulesende klinisch überaus wichtige Darstellung von Fraenkel und Doll möchte ich hier über die in der Literatur viel erörterten Gefahren bei der intravenösen Strophanthintherapie nur hervorheben, daß ich für meine Person dann in der intravenösen Strophanthintherapie eine Gefahr: erblicke,

Bea ae aaa Bee Be I —— E A N | BEE GE / | ee tt TI UV SI. E EE le J.

30

Beispiele einer flüchtigen Kammerfrequenzabnahme nach intravenöser Strophanthininjektion, die nach einer Stunde wieder ab-

geklungen ist. Bemerkungen: 1. Tachysystolie der Vorhöfe, Kammererregungsablauf normal, keine abnormen Erregungen (Fall

r. 1460). 2. Vorübergehend tritt Flimmern der Vorhöfe auf, Kammererregungsablauf normal (Fall Nr. 1460). 3. Sofort nach der Injektion Flimmern, um 5 Uhr Tachysystolie, keine abnormen Erregungen.

wenn die von A. Fraenkel nicht sehr hoch bewertete Digitalis-Vagusfrühwirkung und die immer wieder bei der Herzinsuffizienz und der Arhythmia perpetua in Erscheinung tretende, oft unerwünschte Einwirkung aller Digitaliskörper auf die Kammerschlagzahl nicht sorgfältig beobachtet wird. Wenn wir an den drei Fig. 32,

Fig. 33.

Bad. Bean DE

H

Bemerkungen: 7. Tachysystolie der Vorhöfe, Kammererregungsablauf normal, keine abnormen Erregungen (Fall Nr. 1214). 8. Tachysystolie der Vorhöfe, sofort nach der Injektion, Übergänge zu Flimmern, keine abnormen Erregungen (Fall Nr. 1214). 9. Tachysystolie der Vorhöfe, sofort nach der Injektion Flimmern der Vorhöfe, Kammererregungsablauf normal (Fall Nr. 1025).

33 und 34 sehen, daß unmittelbar nach der Injektion von Strophanthin unter Um- ständen ein brüsker Abfall der Kammerfrequenz eintreten kann, so darf man sich nicht der Tatsache verschließen, daß unter Umständen die intravenöse Strophanthin- therapie eine Gefahr bedeutet, freilich nicht in der Hand des Kundigen, aber wohl in der Hand des weniger erfahrenen Arztes, und ich glaube nicht, daß es eine

Die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens bei gestörter Schlagfolge. 133

falsche Vorsicht ist, wenn ich bei Herzinsuffizienz mit Arhythmia perpetua mit einer Strophanthintherapie eher zur Vorsicht mahne. Ganz anders liegen ja die Dinge bei dem rhythmusnormalen insuffizienten Herz, bei diesem auch wenn es noch so sehr durch Extrasystolen arhythmisch schlägt, scheint mir eine lege artis durchgeführte

Fig. 34.

6.

Bemerkungen: 4. Tachysystolie der Vorhöfe, sofort nach der Injektion Flimmern, keine abnormen Erregungen (Fall Nr. 1460). 5. Tachysystolie der Vorhöfe, keine abnormen Erregungen, sofort nach der Injektion Flimmern (Nr. 964). 6. Tachysystolie der Vorhöfe, Kammererregungsablauf normal, keine abnormen Erregungen (Fall Nr. 1214).

Strophanthinbehandlung vollkommen gefahrlos. Daß schließlich und endlich einmal die uns hier ganz besonders beschäftigende Wirkung der Digitalis auf die Frequenz erlischt, zeigt die Fig. 35.

Fig. 35.

5X bis 9. hi. B.I ta bis 211% Digitalis | Digitalis Digitalis s I | Te I.

Das schließliche Versagen der Digitalis.

Fassen wir die Frage des chronischen Digitalisgebrauches bei der Herzinsuf- fizienz mit Arhythmia perpetua nunmehr zusammen, so müssen wir immer wieder hervorheben, daß sich eine schematische Vorschrift nicht geben läßt. Die besten Kenner dieser Frage stellen in dieser Richtung die verschiedensten Forderungen auf. So hält Edens bei dauerndem Vorhofsflimmern mit rascher Kammerfrequenz die chronische Digitaliskur für die gegebene Behandlung und intermittierende Digitalis- kuren für einen Fehler. Darin hat Edens sicher recht, daß es bei derartigen Kranken besonders wichtig ist, auch unnötigen Frequenzsteigerungen vorzubeugen, „denn wir

134 K. Fahrenkamp.

wissen nie, ob sich nicht aus einer kurzen Überanstrengung eine rettungslose Herz- schwäche entwickeln wird“. An dieser Darstellung von Edens möchte ich nur als an einem Beispiel zeigen, wie wichtig es ist, daß man sich über eine einheitliche Nomenklatur bei der Arhythmia perpetua einigt, denn nach den Ausführungen in den hier gegebenen Darstellungen müßten wir Kranke mit flimmernden Vorhöfen und immer hohen Kammerfrequenzen mehr oder weniger als Endzustände auf- fassen, bei denen schließlich und endlich die Digitalis in ihrer Wirkung auf die Frequenz versagt.

Schon lange vor der Zeit der RE E ist der Wert der chroni- schen Digitalisbehandlung von den Klinikern erörtert und anerkannt worden. Ich erinnere nur an die Ausführungen von Kussmaul, Naunyn und J. Grödel aus dem Jahre 1899. Die alten Kliniker haben, wie dies Naunyn schildert, den chroni- schen Digitalisgebrauch geübt und anerkannt (Fräntzel) und in einer großen Zahl von Fällen hat nach den Krankengeschichten eine der zahlreichen Erscheinungs- formen der damals elektrokardiographisch noch unbekannten Arhythmia perpetua den Grund für das klinische Postulat abgegeben, bei einer nicht kleinen Zahl von chronisch Herzkranken mit größtem Nutzen über Wochen, Monate und Jahre (vgl. Kussmaul und J. Grödel Kongr. f. inn. Med. 1899) auch ohne die Indikation der abnormen Blutverteilung dauernd kleine Mengen Digitalis zu geben.

Ob man diese Form der an sich fortlaufenden Digitalisbehandlung nach Penzolt periodischen, nach J. Grödel kontinuierlichen oder nach Goldscheider chronischen Digitalisgebrauch nennt oder schließlich die Bezeichnung chronisch- intermittierend wählt, ist deshalb weniger wichtig, weil wir bei den Kranken, die uns hier interessieren, doch immer ganz individuell vorgehen müssen, und bei dem gleichen Kranken bald mehr die eine oder andere Bezeichnung berechtigt ist.

Für die chronisch intermittierende Digitalisbehandlung wählt man natürlich zweckmäßig die Medikation per os, aber man wird bei der peroralen Darreichung häufig nicht zum Ziele kommen. Es hat sich mir in völliger Übereinstimmung mit den Angaben von E. Meyer als besonders wertvoll die Behandlungsart gezeigt, die perorale Therapie mit der rectalen abwechseln zu lassen. Eichhorst hat schon 1916 und dann E. Meyer (1922) die rectale Digitalistherapie aus dem Bedürfnis der konsultativen Praxis heraus empfohlen. Meyer setzt den Wert der rectalen An- wendungsform in ihrer Wirkung in Parallele mit der intravenösen Einverleibung und betont, daß man noch Erfolge erzielt, wo die perorale Therapie versagt. Nach eigenen Erfahrungen kann ich den großen Wert der rectalen Digitalistherapie, wie ihn E Meyer ausführlich geschildert hat, nur bestätigen. Auf der einen Seite kann man bei der rectalen Therapie gegebenenfalls die Digitalis mit einem weiteren Medikament gleichzeitig geben (z. B. Teophyllin, Morphin u. al und so Magen- störungen vermeiden, auf der andern Seite kann man die intravenöse Behandlung für Zustände aufsparen, die ein besonders energisches Eingreifen erforderlich machen. Für die uns hier ganz besonders interessierenden Krankheitsfälle mit Arhythmia perpetua ist die zeitweise mit der peroralen Darreichung abwechselnde rectale Digitalistherapie geradezu die Methode der Wahl, denn gerade bei diesen Kranken finden wir andeutungsweise oder ausgeprägt die Voraussetzungen gegeben, für die E. Meyer die rectale Verabfolgung besonders angezeigt hält:

1. Bei ungünstiger Lage der Hautvenen und hochgradigsten Ödemen;

2. bei Thrombose- und Emboliegefahr;

3. bei sehr lang dauernder hepatischer Stauung, in Fällen, in denen man nicht dauernd aus äußeren Gründen intravenös injizieren kann. Hier empfiehlt sich oft

Die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens bei gestörter Schlagfolge. 135

abwechselnde intravenöse und intrarectale Therapie. Der jetzt vielfach gebräuchliche Modus, mehrere Tage Digitalis per os zu geben und 1—2mal wöchentlich intra- venös zu injizieren, wirkt bei noch bestehender hepatischer Stauung nicht so gut wie die abwechselnde intravenöse und intrarectale Anwendungsart.

Wenn auch Fraenkel ohne Zweifel mit Recht darauf hinweist, daß wir in einer zielbewußten intravenösen Strophanthintherapie nicht nur einen quantitativen Digitalisversuch mit wertvollen Aufschlüssen für die Prognose haben, sondern daß wir auch anderen Kranken noch helfen können in Fällen, wo jede, also nach Fraenkels Ansicht auch die rectale Digitalistherapie versagt, so kann ich mir doch eine intermittierend chronische Strophanthintherapie bei den Kranken unserer speziell gerichteten Fragestellung allein schon aus rein äußeren Gründen nicht als durchführbar denken, und es erscheint mir bei einer jahrelangen Versorgung der- artiger Kranken die rectale Therapie sehr wertvoll zu sein.

Nach diesen Ausführungen hätten wir die chronische Digitalis- behandlung der Herzinsuffizienz bei gestörter Schlagfolge auf extra- systolischer Grundlage zu erörtern. Diese deckt sich mit der chronischen Digitalisbehandlung der Herzinsuffizienz bei ungestörter Schlagfolge. Somit fällt eine Auseinandersetzung mit dieser Frage nicht mehr in den Rahmen dieser Ab- handlung. Daß auch das extrasystolisch arhythmisch schlagende Herz nach Besei- tigung der Erscheinungen der Herzinsuffizienz im Stadium der Kompensation digi- talisbedürftig ist, haben, wie schon erwähnt, die alten Kliniker immer wieder be- tont. Ohne diese Seite der Frage weiter zu erörtern, gehen wir für die Herzinsuf- fiiienz mit Arhythmia perpetua noch auf eine kurze. Erörterung der Frage „Digitaliskumulation oder -gewöhnung“ ein. Aus unseren Befunden der klinischen Elektrokardiographie kann man die engen Zusammenhänge zwischen dem Erfolg der Digitalisbehandlung und der vaguserregenden Wirkung der Digitalis immer wieder feststellen.

Wahrscheinlich spielt bei der Arhythmia perpetua der mit den normalen Reiz- bildungs- und Reizleitungsstätten in engem Zusammenhange stehende Vagusapparat und seine verschiedene Empfindlichkeit der Digitalis gegenüber eine große Rolle.

Vielleicht ist die Arhythmia perpetua in allen Erscheinungsformen vorwiegend Ausdruck einer verschieden schweren Erkrankung der mit der specifischen Musku- latur verflochtenen Vagusendigungen. Dann könnte man das verschiedene Verhalten dieser Kranken bei Digitalis- und Strophanthinbehandlung so erklären, daß der Vagusapparat erst in einem bestimmten Zeitabschnitt der fortschreitenden Erkrankung besonders stark durch diese Mittel erregt wird. Derartige Kranke kommen ja tat- sächlich einmal in eine Zeit besonderer Digitalis- und Vagusempfindlichkeit.

Man wird mithin versuchen, diese Zeit der Digitalisempfindlichkeit durch kleine Mengen der Mittel lange auszudehnen. Das schließliche Versagen der Digi- talis kommt bei diesen Kranken dadurch zu stande, daß die vorher auf diese Stoffe ansprechenden Stätten ihre Empfindlichkeit durch Gewöhnung oder auch durch das Fortschreiten krankhafter Veränderungen in den reagierenden Stätten verloren haben. Anderseits würde möglicherweise dann aber auch zu einer Zeit, in der die Digitalisempfindlichkeit noch nicht eingetreten ist, eine fortgesetzte wirkungslose Digitalisbehandlung diese Kranken schädigen; denn eine solche Kur könnte eben- falls durch Gewöhnung die Anspruchsfähigkeit der auf die Mittel reagierenden Apparate vorzeitig herabsetzen. Aus unseren Krankengeschichten sehen wir ja, daß diese Kranken draußen oft große Mengen eines Digitalispräparates ohne wesent- lichen Erfolg einnehmen. Die beschleunigte unregelmäßige Kammerfrequenz, die

136 K. Fahrenkamp.

oft besonders nach geringen körperlichen Anstrengungen als paroxysmale Tachy- kardie aufgefaßt wird, ist nicht so selten bei Kranken dieser Art das einzig nach- weisbare Zeichen einer ernsteren Herzstörung, das eine langdauernde Digitaliskur angezeigt erscheinen läßt. Es ist bei solchen Kranken, bei denen die erwünschte Abnahme der Kammerschlagsfolge durch Digitalis nicht eintritt, nun aber zweck- mäßig, aus den angeführten Gründen Digitalispräparate in größeren Mengen nicht zu geben, um die später einmal eintretende Digitalisempfindlichkeit nicht vorzeitig durch Gewöhnung abzuschwächen.

Das hier mehrfach gebrauchte Wort „Gewöhnung“ wird allgemein für Digi- talis abgelehnt, die Pharmakologie trennt den Begriff Gewöhnung scharf von den Begriff der Kumulation. Hierzu äußert sich Edens, wie folgt: „Hin und wieder kann man die Ansicht hören, man solle Digitalis nicht dauernd geben, da sonst Gewöhnung eintrete und das Mittel wirkungslos würde. Unsere Beobachtungen führten zu dem Schluß, daß die Digitalis dann nicht mehr wirkt, wenn infolge zu schwerer Schädigung des Herzens das Organ reaktionsunfähig geworden ist.“

Meine vorherigen Ausführungen stützen sich lediglich auf die am Krankenbett immer wieder gemachten Beobachtungen, daß Herzkranke mit Arhythmia perpetua ganz verschiedene Stadien der Vagusempfindlichkeit der Digitalis gegenüber durch- machen, und es scheint doch alles darauf anzukommen, in dem Abschnitt des Krank- heitsverlaufes, in dem unsere Kranken die höchste Vagus-Digitalisempfindlichkeit zeigen, bei möglichst großem Effekt die kleinsten Dosen solange wie möglich aus- zunutzen. Ebensowenig wie bisher bewiesen ist, daß es eine Gewöhnung an Digi- talis im üblichen Sinne gibt, ebensowenig ist der Gegenbeweis erbracht, daß das Abnehmen der Digitalisempfindlichkeit und Vagusempfindlichkeit nicht zum Teil auch auf eine Gewöhnung der Nervenendapparate zurückzuführen ist. Ich finde in der Literatur nur einmal im Zusammenhang mit der Digitalis den Begriff der Gewöhnung bei Gottlieb: Überschreiten tägliche Gaben nicht die- jenige Größe, welche durch Ausscheidung und Zerstörung unschädlich gemacht werden kann, so braucht es auch bei langdauernder Änwen- dung nicht zur Kumulation zu kommen. Ja es macht sich unter diesen Umständen sogar ein gewisser Grad von Gewöhnung geltend. Ich kann dies durch einen Versuch mit täglicher subcutaner Injektion von Digi- puratum belegen.

An der Katze führen Gaben von 001 g nach 3—4 Tagen zur Kumulation, die Tiere verweigern die Nahrung, es kommt zu Speichelfluß3 und Erbrechen. Injiziert man nun die gleiche Dosis trotz dieser Erscheinungen täglich weiter, so steigern sie sich nicht, sie werden vielmehr z. B. nach 10 Tagen überwunden; das Tier wird wieder normal, das Erbrechen hört auf, es stellt sich wieder Freßlust ein u. s. w. Erhöht man die tägliche subcutane Gabe, so kommt es nach kurzer Zeit, z. B. nach 3 Tagen, wieder zu den gleichen toxischen Nebenwirkungen, aber diese ver- schwinden wieder bei fortdauernder Zuführung der erhöhten Dosis. So erhielt z. B. eine Katze durch 40 Tage hindurch 0:63 g Digipuratum und nahm dabei an Gewicht zu.

Ähnliche Erfahrungen hat man auch bei der chronisch durchge- führten Digitalistherapie am Menschen mit kleinen Gaben gemacht.

Wir sehen, in allen für die Digitalistherapie wichtigen Punkten hat die experi- mentelle Forschung der letzten Jahre neue Gesichtspunkte gewonnen. Überall gehen klinische Arbeit und pharmakologisches Experiment Hand in Hand, um der Einsicht in die Vorgänge bei der Digitaliswirkung näher- zukommen. (Med. Kl. 1913, Nr. 50.)

—_

Die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens bei gestörter Schlagfolge. 137

Ich möchte also den Begriff der Gewöhnung nur in diesem ganz speziellen Zusammenhang mit klinischen Beobachtungen bei der Arhythmia perpetua erwähnt haben.

Über die Wahl des Mittels kommt es, wie dies immer wieder betont wird, ganz vor allem darauf an, daß der Arzt „sein Präparat“ kennt. Ein häufiger Wechsel- in den zahllosen verfügbaren Digitalispräparaten, die täglich noch an Zahl zunehmen, führt ohne Zweifel zu Unsicherheit in der Beurteilung. Neben der Digitalis als Infus und in Pulverform habe ich so gut wie ausschließlich das Digipuratum Knoll und später das Verodigen Böhringer verwendet. Die Anwendungsmöglichkeit des Digipurats in jeder Form gab ihm vor dem Verodigen den Vorzug, solange das Verodigen intravenös nicht anwendbar war. Seitdem wir auch Verodigen intra- venös anwenden können (1922), steht es nicht mehr hinter dem Digipurat zurück; ich habe den Eindruck, daß besonders bei Störungen der Schlagfolge im Sinne der Arhythmia perpetua das Verodigen stärker auf den Rhythmus einwirkt als Digipurat. Das hängt vielleicht damit zusammen, daß Verodigen „Gitalin« ist. Ohne diese Annahme experimentell belegen zu können, wollte ich sie nach klinischen Ein- drücken nicht unerwähnt lassen. Nimmt man noch das Strophanthin Böhringer als unentbehrliches Herzglykosid hinzu, so hat man Digitaliskörper zur Verfügung, auf die man sich für alle klinischen Bedürfnisse verlassen kann. Über Scilla wird im nächsten Abschnitt kurz zu sprechen sein. Das Digipuratum Knoll wurde, wie dies aus den Eintragungen der Kurven us e hervorgeht, so gut wie immer in allen dieser Arbeit zu grunde liegenden Beobachtungen verwendet, wo „Digitalis“ vermerkt ist.

Es hat sich mir in seiner allen Bedürfnissen entsprechenden Anwendungs- möglichkeit ganz besonders bewährt.

Es seien noch einige kurze Angaben über die Dosierung der Digitalis im Gebrauch für die Praxis angefügt. Häufig kommen chronisch Herzkranke in die Behandlung des Arztes, nachdem schon vorher große Dosen Digitalis meist peroral verwendet wurden. So sehen wir solche Kranke in ungenügender Kompen- sation mit nicht ganz beseitigten Stauungserscheinungen einzelner Organsysteme (Lunge, Leber, Nieren u. sel Liegt als Teilerscheinung der Herzinsuffizienz eine Arhythmia perpetua vor, so ist nicht zu selten der Puls sehr langsam, ohne daß eine relative Suffizienz erzielt wurde. Es empfiehlt sich dann erst einmal, ganz mit Digitalis auszusetzen und bei Beobachtung strengster Schonungsmaßnahmen Bett- ruhe Flüssigkeitsbeschränkung, Tee- oder Milchtage, kochsalzfreie und stickstofffreie Ernährung allein durch Campher entweder als Injektion, 2—4 cm? in 24 Stunden oder peroral Campfergelatinetten 4—8 Stück pro die den Kreislauf zu stützen. Gleichzeitig bringt dann eine rectale Theophyllinbehandlung 2—-3mal täglich 02 bis 0'3 g Theophyllin als Suppositorium die oft mangelhafte Diurese schon in Gang.

Die Kombination von Theophyllin und 0'01 e Morphin am Abend als Suppo- sitorium leistet für die ersten Nächte gute Dienste. Ich dehne diese digitalisfreie Zeit gerne aus, solange es mir im Interesse des Kranken .möglich erscheint, z. B. 8-10 Tage. Die Bradykardie pflegt dann meist einem frequenteren und unregel- mäßigeren Puls wieder Platz zu machen. Bestanden also noch Stauungserscheinungen, und wurde Digitalis peroral schon häufig und lange in früheren Krankheitsabschnitten gegeben, so sehe ich in solchen Fällen grundsätzlich von einer erneuten peroralen Digitalisbehandlung ab.

In derartigen Zuständen bewährt sich dann meist als „Wiederbeginn“ der Digitalisbehandlung die rectale Darreichung ausgezeichnet. Liegt keine Bradykardie

138 KK Fahrenkamp.

vor, sondern ein sehr frequenter, irregulärer Puls mit zahlreichen frustranen Con- tractionen und stand der Kranke bis zum Eintritt in die Behandlung „unter Digitalis“ aber ohne den gewünschten Erfolg so schalte ich trotz der frequenten Herz- aktion doch eine digitalisfreie Zeit in der geschilderten Weise ein. Der Campher als

Injektion oder peroral als Gelatinetten leistet hier unschätzbare Dienste. In den ersten

Tagen wird man die Injektion nicht vermeiden können. Auch ist Morphium bis zu 002 e oft unentbehrlich. Für diese schweren, aber nicht seltenen Krankheitsfälle führe ich ein Beispiel an, das ich absichtlich aus der konsultativen Praxis der jüngsten Zeit wähle.

Es handelte sich um eine 64jährige Patientin, die im Herbst 1923 im Anschluß an eine leichte Grippe allmählich immer schwerer insuffizient geworden war, die unter der Behandlung ihres Haus- arztes wochenlang digitalisiert wurde, dabei aber im Hause dauernd tätig war. Ich fand die Patientin, nachdem sie noch ihre Hausarbeit unter großen Mühen am Tage verrichtet hatte, abends außer Bett mit folgendem objektiven Befund: schwere chronische Herzinsuffizienz wohl auf dem Boden einer arteriosklerotischen Myokarditis mit einem typischen Irregularis perpetuus bei einer Pulsfrequenz von annähernd 170 Schlägen in der Minute mit zahlreichen frustranen Contractionen, hochgradige Be- wegungsinsuffizienz, Stauungskatarrh auf den Lungen, erhebliches Transsudat rechts, schwere Unter- schenkel- und Oberschenkelödeme, Anasarka im Rücken, Lebertumor, Milztumor, schwerste Störung der Nachtruhe durch Dyspnöe, dauernder Hustenreiz u. s. w. Behandlung: strengste Bettruhe, 3 Tee- tage, in 24 Stunden 1000 e dünnen schwarzen Tee in 5 Portionen (Milch war aus äußeren Gründen nicht zu beschaffen), 4mal 1 cm? Campher am Tage, rectal 3mal 0'3 g Theophyliin: Theophyllini 0'3, Olzi cacao 2:0, abends dazu 0'01 Morphini mur. Nach 3 Tagen 8mal eine Camphergelatinette 0'1, statt Campherinjektion, allmählich eiweißarme, kochsalzfreie Ernährung, Flüssigkeit einschließlich der festen Nahrung nicht über 1000 cm?. Stuhlgang durch kleine Einläufe oder Istizin 3—4 Tabletten geregelt. Es setzt eine überschießende Diurese ein. Am 6. Tage Beginn der Digitalisbehandlung; um in der Dosis je nach Bedarf wechseln zu können, werden Suppositorien folgender Zusammensetzung bereit- gestellt: Digipuratum 0'05 g oder Verodigen je 0:4 mg + Theophyllin 0'2 g+ Oleum cacao 2:0 g, außer- dem die gleichen Zäpfchen mit der doppelten Digipurat- bzw. Verodigendosis. In den ersten Tagen werden 3mal Zäpfchen mit 0'8 Verodigen bzw. 0'1 Digipurat verabreicht bzw. der halben Digitalis- dosis. Nach 14 Tagen hat die Patientin 9 kg Wasser verloren. Gleichzeitig ist die Pulsfrequenz auf etwa 90 heruntergegangen. Weitgehende objektive und subjektive Besserung. Nach 3 Wochen es waren im ganzen gegeben worden: 20 Tage je Imal 0'8 Verodigen bzw. 0:1 g Digitalis und 2mal täglich 0°4 mg Verodigen bzw. 005 g Digipurat, also im ganzen 4 g Digitalis war der optimale Grad der Suffizienz erreicht.

Eine vorsichtige, streng kontrollierte Digitalisbehandlung hatte gezeigt, daß bei dieser Kranken eine Frequenzfrühwirkung der Arhythmia perpetua nicht eintrat und daß doch verhältnismäßig große Mengen Digitalis nötig waren, um den opti- malen Grad der Kompensation herzustellen. Ich führe gerade dieses Beispiel gerne an, um zu zeigen, daß die klinisch-theoretischen Erwägungen bei der Arhythmia perpetua nicht dazu führen dürfen, bei schweren Insuffizienzerscheinungen durch theoretische Bedenken zu wenig Digitalis zu geben. Die Kranke ist nun seit Monaten bewegungssuffizient, versieht ihren ganzen Haushalt, macht 2—3stündige Spazier- gänge und ist subjektiv und objektiv in dem für ihre Krankheitsveränderung best- möglichen Zustande. Sie ist meines Erachtens dauernd digitalisbedürftig und erhält von ihrem Hausarzt jetzt seit Monaten in Pausen von 2—4 Tagen Digitaliszäpfchen mit 0'05 Digipurat ohne Theophyllin. Ohne chronisch intermittierende Digitalisierung wird es nach meinen Erfahrungen nicht möglich sein, diese Kranke in dem jetzt sehr guten Zustande möglichst lange zu erhalten. Die Digitalisbehandlung wechselt jetzt auch ab mit Scillaren, das ebenfalls rectal gegeben wird. Einmal oder 2mal ein Suppositorium aus je 2 Tabletten 0'2 g Scillaren. Dauernde Selbstkontrolle des Körpergewichtes, Innehaltung einer im bürgerlichen Haushalt gut durchführbaren Diätvorschrift, 2—3 e Kochsalz zum Selbstsalzen „bei sonst salzfreier Diät“ erlaubt. Die Patientin spart in dieser Weise häufig Kochsalz ein, da sie mit 2 g Kochsalz ohne Beschwerde auskommt. Im übrigen reizlose Kost und Beachtung der Flüssigkeitszufuhr.

Da diese Kranke keine Frequenzfrühwirkung auf Digitalis zeigt, so hätte vor- aussichtlich bei dieser Kranken eine konsequente Strophanthinbehandlung wahr-

scheinlich einen gleich guten, vielleicht einen schnelleren Erfolg erzielt. Bei der

Die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens bei gestörter Schlagfolge. 139

Empfindlichkeit der Patientin und den äußeren Verhältnissen hätte sich eine lang- dauernde Strophanthinbehandlung eines Tages als unmöglich erwiesen. Wenn man in einem so schweren Krankheitszustande wie dem hier geschilderten, den optimalen Grad der Kompensation durch eine gut beobachtete rectale Digitalistherapie erreichen kann, so möchte ich aus zahlreichen Erfahrungen der Praxis dieser Behandlungs- methode nicht nur aus theoretischen, sondern auch aus praktischen Gründen doch häufiger den Vorzug geben, als Fraenkel und seine Schule dies in ähnlich liegenden Fällen zu tun pflegen.

Als anderes Beispiel führe ich noch einen Kranken an, den ich 1920 erstmals konsultativ sah: Es bestand auf dem Boden eines prostrheumatischen kombinierten Mitralfehlers + Arhythmia perpetua die Neigung zu chronischen Insuffizienzerschei- nungen. Ich sah den Kranken erstmals mit Stauungserscheinungen von seiten der Leber mit starken Schmerzen, die auf „Gallensteine« bezogen wurden. Es bestand etwas Stauungsbronchitis und auf dem Boden der Arhythmia perpetua Neigung zu Tachy-Arhythmien. Eine langdauernde perorale Digitalisbehandlung hatte den Leber- tumor nicht beseitigt. Behandlung wie bei der schwerkranken Patientin des vorigen Beispieles. Nach 5 digitalisfreien Tagen und Behandlung wie oben überschießende Diurese, dann in 5 Tagen nach 2mal 0'8 mg Verodigen -+ 0'2 g Theophyllin: Leber- schmerzen verschwunden, Leber wesentlich weicher, beginnende Eurythmie. Hier also deutliche Frequenzfrühwirkung. Der Kranke wird bald beschwerdefrei. Trotzdem hier die Insuffizienzerscheinungen nicht sehr hochgradig waren und der Kranke ohne seine „Öallensteinkolik“ sicherlich noch wochenlang in seinem großen Betriebe weitergearbeitet hätte, wurde zu Hause strengste klinische Behandlung wie bei ganz Schwerherzkranken durchgeführt, um den optimalen Grad der Kompensation zu erzielen und für den chronischen Digitalisgebrauch die nötigen Erfahrungen für diesen Kranken zu sammeln. Der Kranke nimmt jetzt in Abständen von 3—4 Wochen immer wieder 8—10 Tage 2mal 0'4 mg Verodigen bzw. 0'05 Digipurat 2mal täglich oder 2—3 Wochen 2—3 Scillarentabletten und ist jetzt mehrere Jahre völlig arbeits- fähig geblieben. Er hat es gelernt, auch leichteste Insuffizienzerscheinungen selber zu erkennen und richtig einzuschätzen und kurze Digitalisbehandlung selber ein- zuschalten. Bis jetzt gelingt es in einem Zeitraum von 3 Jahren, durch kleinste Digitalisdosen die Pulsfrequenz zwischen 60 und 70 zu halten. Der Kranke ist dauernd voll arbeitsfähig, hat es aber gelernt, durch Umstellung in seiner Lebensführung bis jetzt neue Insuffizienzerscheinungen zu vermeiden.

An diesen zwei Beispielen möge nur andeutungsweise gezeigt werden, wie wichtig es ist, daß der Arzt sein Digitalispräparat kennt. Ein Versagen der Digitalis- therapie bei derartigen Kranken dürfte viel weniger in dem betreffenden Medikament zu suchen sein als in der Art der Darreichung. Zwischen diesen zwei Bei- spielen liegen unendlich viele Möglichkeiten, im einzelnen Fall die Be- handlung durchzuführen. Immer wieder wird es darauf ankommen, die Digitalisempfindlichkeit des einzelnen Kranken zu studieren und sich nicht davor zu scheuen, auch bei leichten Insuffizienzerscheinun- gen wenigstens für einige Tage strengste klinische Gesichtspunkte in der Behandlung durchzuführen und nicht allein der Digitalis zu vertrauen. Das ist auch in der Praxis draußen, auch unter einfachsten Verhältnissen immer möglich. Die beiden hier angeführten Fälle können nicht „als Schema“ aufgefaßt werden. Jeder Herzkranke erfordert ein neues Studium. Das macht die klinische Seite des Digitalisproblems so außerordentlich reizvoll und vielgestaltig.

140 K. Fahrenkamp.

Über das Einsparen der Digitalis.

Nach dem bisher Gesagten haben wir bei der Digitalisbehandlung der Herz- insuffizienz bei gestörter Schlagfolge in ganz besonderer Weise immer nur als gestörte Schlagfolge die Arhythmia perpetua angeführt und wir können uns für Klinik und die Praxis auf diese so häufige Störung der Schlagfolge beschränken,

Fig. 36.

1916. IT. 10. 11. 12. 13. 14. 15.16.17. Go _20 21. 22. 23. 24. 25. Ae 20.28.

E din GE Ge Zoe d a garget -425g 2 Län D d ei WOI 4

Bay SE AT == ege Re

Bemerkungen: 10. II. zahlreiche „Extrasystolen“, normaler Erregungsablauf, en ohne Wirkung. 25. 1I. immer noch starker echsel im Auftreten der Extrasystolen. Vagus o.

60

weil wir wissen, daß man die durch Extrasystolen hervorgerufene Schlagfolge in bezug auf die Digitalis der ungestörten Schlagfolge, d. h. dem Rhythmus normaler Herzen, gleichsetzen könne; das zeigen in einfacher Weise zwei Pulsbilder (Fig. 36, 37).

Das durch Extrasystolen arhythmisch schlagende Herz bietet eben auf Grund der elektrokardiographischen Ergebnisse in gleicher Weise wie das rhythmusnor-

Fig. 37

nn ntrabernöos Gi A Wéi (0I (GI a

EERE Zu

Bemerkungen: 12. X. zahlreiche Extrasystolen; spontan starker Wechsel, sonst normales Elektrokardiogramm. 22. X. spontan starker Wechsel: wie am 12. X. 31. X. vor und nach der Behandlun : Vagusdruck ohne wesentliche Wirkung. Wie am 12. X. starker Wechsel auch der Häufig eit der Extrasystolen.

male Herz nicht die Angriffspunkte für die Digitalis, wie wir dies bei der Arhythmia perpetua sahen. Da wir hier nur die Frage uns zur Beantwortung gestellt haben, die Digitaliswirkung bei gestörter Schlagfolge zu behandeln, so erübrigt es sich, über die extrasystolischen Rhythmusstörungen im weitesten Sinne wie bei Herz- insuffizienz zu sprechen, denn hier gibt nicht die Rhythmusstörung, sondern nur der wirkliche Grad der Herzinsuffizienz die Indikation der Digitalisdarreichung ab.

Wenn ich an dieser Stelle noch einmal anführe, was Fraenkel im Zusammen- hang zu unserer Frage sagt, so zeigen uns seine Ausführungen vor allem wieder

Die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens bei gestörter Schlagfolge. 141

das eine, daß ohne eine einheitliche Nomenklatur eine Verständigung kaum mög- lich ist.

„Von der Bedeutung der die Herzschwäche begleitenden Rhythmusstörungen war oben schon die Rede. Während sie das Eintreten eines vollen Digitaliserfolges nur ausnahmsweise behindert, ist ihrem Auftreten während der Behandlung natür- lich Beachtung zu schenken. Es ist dies eigentlich selbstverständlich, scheint aber, wie die ungünstigen Erfahrungen anderer Autoren lehren, oft nicht genügend beachtet zu werden. In Betracht kommt in erster Linie die Digitalisbigeminie, von der Edens sagt, daß sie eine unökonomische Herzleistung bedingt, also das Gegenteil dessen, was man durch die Therapie anstrebt. Diese jetzt vorwiegend als Steigerung der Reizbarkeit und Reizbildung in den tertiären Centren erkannte Digitalisnebenwirkung ist zu beachten, weil sie nicht nur den therapeutischen Effekt bedroht, sondern auch dem Kranken sehr lästig ist. Dagegen ist sie nicht so gefährlich, wie Edens sie ansieht. Jedenfalls gelingt es fast immer, durch Verkleinerung der Dosen oder Ver- größerung der Intervalle die Therapie doch durchzuführen, wobei allerdings zu- zugeben ist, daß die Bigeminie auch schon nach kleinen Dosen auftreten kann. Das gleiche gilt von der harmloseren, einfachen Digitalisextrasystolie. Sie ist meist flüchtiger Natur und pflegt nach Herstellung der Suffizienz zu verschwinden.

Noch seltener sind die Leitungsstörungen durch Digitalis bei normalem Er- regungsablauf, die sich als Systolenausfall bemerkbar machen. Sie hindern die Digitaliswirkung nicht und sind, wie Weil gezeigt hat, durch gleichzeitige Atropin- darreichungen zu bekämpfen. Wir beobachteten einen Kranken, bei dem ein A— V- Intervall von 0'5 Sekunden durch 0'75 mg Atropinum sulfuricum sich um 0'2 Se- kunden verkürzte.

Zuweilen hat eine energische Digitalisierung bei Vorhofsflimmern eine exzessive Bradykardie zur Folge, wenn die negativ dromotrope Wirkung das Reizleitungs- vermögen im Hisschen Bündel zu stark herabseizt. Man braucht dann nur mit den Dosen zurückgehen, um dadurch die Wirkung festzuhalten, ohne sie zu steigern.“

Die hier wörtlich wiedergegebenen Ausführungen von Fraenkel bedürfen nach den Darlegungen in dieser Arbeit keines Kommentars. Der Leser wird sich ohne- weiters davon überzeugen können, daß die praktischen Ergebnisse der klinischen Elektrokardiographie am Krankenbett uns nicht berechtigen, die Frage Herzinsuffi- zienz + Digitalis + gestörte Schlagfolge so einfach abzutun. Sie ist durch die Viel- gestaltigkeit der Arhythmia perpetua im Grunde doch recht kompliziert.

Für die Frage der chronischen Digitalistherapie ohne besondere Berücksichti- gung einer zu grunde liegenden Rhythmusstörung verweise ich auf die Arbeiten von Kussmaul, Naunyn, Eichhorst, E. Meyer, A. Fraenkel u.a. m. Die Be- sprechung dieser Frage geht weit über das Ziel dieser Arbeit hinaus.

Aber wir haben festgestellt, daß die Arhythmia perpetua eine außerordentlich häufige und vielgestaltige Begleiterscheinung der chronischen Herzinsuffizienz ist. Und wir sahen, daß wir eine chronisch intermittierende Digitalisbehandlung gerade bei diesen Kranken mit größtem Vorteil verwenden können und müssen. Da die Versorgung dieser Kranken meist sich über viele Jahre erstrecken wird, werden wir bei dieser Aıt der Behandlung immer wieder den Versuch machen, alle die Mittel zur Anwendung zu bringen, die Pausen in der intermittierenden Digitaliskur möglichst auszudehnen und die Digitalis einzusparen. Unter diesen Mitteln kommt für unsere spezielle Frage dem von Mendel wieder in die Therapie ein- geführten Bulbus scillae eine große Bedeutung zu. Dies gilt vor allem seit wir dieses Mittel in reiner und gut verträglicher Form durch die Einführung des

142 K. Fahrenkam p.

Scillarens besitzen. Der Wert des Scillarens wird noch sehr verschiedenartig beurteilt. Die einen Kliniker setzen es den Digitalispräparaten gleich, die anderen lehnen es ganz ab. Die klinischen Erfahrungen über Scillaren scheinen mir noch keineswegs abgeschlossen. Nach eigenen Untersuchungen an 92 Kranken möchte ich meiner- seits, ohne an dieser Stelle im übrigen auf die Scillafrage einzugehen, das Scillaren

Fig. 38.

Cha ER

SEET AN EES SEET EE

Fast rhythmische Kammerbradykardie bei Arhythmia perpetua mit flimmernden Vorhöfen bei einem Kranken, der sich ohne

Behandlung schnell erholt. Bei Digita isdarreichung tritt sehr bald wieder ein „Digitalis-Herzblock” ein. Bemerkungen:

5, XI. Flimmern der Vorhöfe. 12. XI. Digitaliskur (schwere Herzinsutfizienz). Vom 5.—12. XI. Bettruhe, Campher, Koffein. 19. XI. Flimmern der Vorhöfe.

30

als ein besonders wertvolles Medikament erachten, das uns dann die besten 'Dienste leisten kann, wenn es sich darum handelt, das wieder suffizient gewordene insuffi- ziente Herz über lange Zeit suffizient zu erhalten, und gerade für unsere Kranken hat es sich gezeigt, daß man das Scillaren lange Zeit an die Stelle der Digitalis

Fig. 39.

12.13.14. 15. í E E t haag e HHE er SEREREEHERBAFRENE z bas SS

FERRFFEREENE (JC DAT A N AW 7P CME HH aa © BU Ta UAA ON TTT WAMA INA Aa N "e KKK kaKT CTT T T FR ER EN U! EE EE

Der Rückgang eines „Digitalis-Herzblocks* unter Fernhaltung von Digitalis bei Bettruhe. Bemerkungen: 26. I. keine abnormen Erregungen, Flimmern der Vorhöfe. 1. II. Vagusdruck 50:38 links, 50:38 rechts. 2. II. Flimmern der Vorhöfe. 8. Il. dasselbe, 60:60 rechts, 60:60 links. D II. keine abnormen Erregungen, Übergänge von Flimmern zu Tachysystolie.

dëi

treten lassen kann, und daß es gelingt, die Digitalispräparate für unsere Kranken einzusparen.

Ich habe an anderer Stelle über meine Erfahrungen mit Scillaren ausführlich berichtet. Nach den Erfahrungen, die von klinischer Seite bisher vorliegen, kann man das Scillaren, was die Indikationsbreite dieses Medikamentes angeht, vorerst

Die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens bei gestörter Schlagfolge. 143

heute dahin zusammenfassen, daß dieses Mittel eine wertvolle Bereicherung der Behandlungsmöglichkeit der chronischen und subakuten Herzschwäche (bei noch reichlich vorhandener Digitalisreaktivität nach Fraenkel) ist.

Die Indikationsstellung hingegen erscheint nach den vorliegenden Mitteilungen der Literatur für den einzelnen Fall noch individueller gestaltet als bei der Digitalis. Die einzelnen gut reagierenden Fälle, und solche gibt es ohne Zweifel, sind schwerer herauszufinden, aber mit Sicherheit von den einzelnen Autoren beobachtet worden. Gerade diese erschwerte generelle Indikationsstellung, die vielleicht eine besondere Eigentümlichkeit der Scilla ist, hat bis jetzt die so verschiedenartige Beurteilung. dieses Mittels bewirkt. Für die Praxis liegt gerade bei dem chronischen Digitalis- gebrauch bei Einschaltung von Scillarenperioden, in diesem Mittel wegen seiner außerordentlich geringen Kumulationsfähigkeit sicherlich ein Vorteil. Daß wir häufig gezwungen sind, mit der Digitalis auszusetzen und anderseits doch nicht in der Lage sind, das Herz und den Kreislauf unbeeinflußt zu lassen, zeigen die Puls- kurven Fig. 38 und 39.

Neben dem Scillaren kommt für unseren Kranken der chronischen Campher- behandlung eine große Bedeutung zu. Seit wir in der Lage sind, in. wirksamer Form den Campher auch peroral über lange Zeit unseren Kranken zu geben und nicht auf die Campherinjektion mehr in dem Umfange wie früher angewiesen sind, kann man dieses Mittel bei der chronischen Behandlung Herzkranker nicht mehr entbehren. Die von Vieth in die Therapie eingeführten Camphergelatinetten haben sich in einer größeren Beobachtungsreihe mir ausgezeichnet bewährt.

Das Ziel dieses Vorgehens ist immer wieder, die digitalisfreien Zeiten bei unseren Kranken nach Möglichkeit auszudehnen. So kann man dann ohne Zweifel den Nutzeffekt der Digitalis besonders ausdehnen und vergrößern. Vielleicht kommen für das Einsparen der Digitalis auch andere, der Digitalis verwandte Körper, wie. Convalleria majalis (Adonispräparate, Spartein u. a. m.) in Betracht. Hierüber fehlen mir eigene Erfahrungen für die Gruppe der Kranken, die uns hier besonders. beschäftigen. Der Arzt, der jahrelang Kranke dieser Art zu versorgen hat, wird in jedem Falle dankbar sein für jedes Mittel, das ihm die unersetzliche Digitalis ein- sparen hilft.

Wenn in dieser Abhandlung eine einigermaßen erschöpfende Darstellung der Digitaliswirkung auf das insuffiziente Herz bei gestörter Schlagfolge gegeben werden sollte, so mußten wir doch mehr Einzelheiten ausführlich besprechen, als dies für eine einfache Beantwortung der Frage wünschenswert erschien. Aber auf der anderen Seite konnten wir zeigen, daß man die Beantwortung dieser speziellen Digitalis- frage, die für die Praxis ohne Zweifel von größter Wichtigkeit ist, weil sie uns bei der größten Zahl unserer schweren Herzkranken immer wieder begegnet, dann einfach und verständlich gestalten kann, wenn man nach den Erfahrungen der Elektro- kardiographie und aus dem Bedürfnis für unser therapeutisches Handeln den Begriff der Arhythmia perpetua auf der einen Seite und den der extrasystolischen Arhythmie auf der anderen Seite scharf voneinander abgrenzt und in dem 'Umfange erweitert, als es durch die Ergebnisse am herzkranken Menschen berechtigt ist.

Literatur: Ich führe nur einige speziellere Arbeiten an, um Wiederholungen zu vermeiden, und kann auf die ausführlichen Literaturverzeichnisse in den Lehrbüchern von Romberg, Krehl, Wenckebach, A. Hoffmann, Mackenzie, Levis u.a. verwiesen werden. Magnus E Alsleben,, Über die Entstehung der Herzreize in den Vorhöfen. A. f. exp. Path. u. Pharm. 1911, LXIV, p. 229. Arjeff M., Über Chinidinbehandlung der Flimmerarhythmie. D. med. Woch. 1923, 49. Jahrg., Nr. 18, p. 576; Kl. Woch., 2. Jahrg., Nr. 34, p. 1615. v. Bergmann, Zur Digitalistherapie. Ta Ver. Frankfurt, v. 19. Februar 1923; Ref. KI. Woch., 2. Jahrg., Nr. 19, p. 902; Zur Chinidintherapie-

144 K. Fahrenkamp.

bei Herzkrankheiten. Med.-biol. Abend. Frankfurt, 13. Juni 1922; Ref. Kl. Woch., 1. Jahrg., Nr. 44, p. 2214. Boden u. Neukirch, Klinische und experimentelle Beobachtungen über die Herz- wirkung des Chinidins. D. A. f. kl. Med. 1921, CXXXVI, p. 181. Böhme, Erkennung und Behand- lung der Herzunregelmäßigkeiten an der Hand des Elektrokardiogramms. Med. Gesellschaft Bochum, Sitzung v. 18. Oktober 1922; Kl. Woch., 2. Jahrg., Nr. 5, p. 229. de Boer S., Die Prädisposition der Vorhöfe zum Flimmern. KI. Woch., 1. Jahrg., Nr. 6, p. 269; Über die Wirkung von Chinin bei Vorhof- flimmern. Ref. Kl. Woch., 1. Jahrg., Nr. 20, p. 1015; Die Beziehung zwischen Flimmern und Alternans. Hundertjahrfeier deutscher Naturforscher und Ärzte in Leipzig v. 19. September 1922; Kl. Woch. 1923, 2.Jahrg., Nr.1, p.45; Die Physiologie und Pharmakologie des Flimmerns. Erg. d. Phys. 1923, XX1, Abt. I. Böttcher G. B., Über die klinische Verwertbarkeit von Nadelelektroden (Straub) bei der Elektrokardio-

aphie. Kl. Woch., 2. Jahrg., Nr. 29, p. 1357. Boros J., Die Behandlung der Rhythmusstörungen des Eiere mittels Chinidin. Budapester Ärzteverein, 4. Januar 1922; Kl. Woch., 1. Jahrg., Nr.9, p. 444. Cahn A., Über das neue Herzmittel Scillaren. Ref. Kl. Woch., 2. Jahrg., Nr. 36, p. 1719. d hristen C. H. R., Lundsgaard, Über die klinische Pulsuntersuchung bei Patienten mit unregelmäßigem Puls, namentlich bei Arhythmia perpetua. RL Woch, 1.Jahrg., Nr. 10, p. 461 - 466. Deist H., Über den Ablauf einer Rhythmusstörung des Herzens während einer akuten Infektionskrankheit. Kl. Woch., 2. Jahrg., Nr. 45, p. 2075. Edens E., Neues über Theorie und Praxis der Digitalisbehandlung. Kl. Woch. 1921, 1. Jahrg., Nr. 8, p. 378-381; Uber atrio-ventrikuläre Automatie u. s. w. D. A. f. kl. Med. 1921, CXXXVI, p. 205; Über das Wesen der Reizleitungsstörung. D. A. f. kl. Med. 1921, CXXXV, p. 32; Die praktischen Ergebnisse der Elektrokardiographie. Freiburger Med. Gesellschaft, 16. Januar 1923; Ref. KI. Woch., 2. Jahrg., Nr. 11, p. 517. Eichhorst, Über die Behandlung von Herzkrankheiten. Korr. f. Schw. A 1911, 41. Jahrg., Nr. 28. Einthoven W., Uber Bindeelektroden nebst einigen Bemerkungen über das Kinder-Elektrokardiogramm. Wr. med. Woch. 1916, Nr. 14. Fahrenkamp K. Uber die verschiedene Beeinflussung der Gefäßgebiete durch Digitoxin. A. f. exp. Path. u. Pharm. 1911, LXV, p. 367; Uber das Elektrokardiogramm bei Arhythmia perpetua. D. A. f. kl. Med. 1913, CXII, p. 302; Elektrokardiographische Untersuchungen über die Einwirkung der Digitalis bei der Arhythmia perpetua mit Demonstrationen. Verh. d. D. Kongr. f. inn. Med. 1914, p. 379; Vorübergehende komplette Herzunregelmäßigkeiten unter dem klinischen Bilde der Arhythmia perpetua mit Beobachtungen über Vaguswirkung. D. A. f. kl. Med. 1914, CXVII, p. 1-12; Klinische und elektrokardiographische Untersuchungen über die Einwirkung der Digitalis und des Strophanthins auf das insuffiziente Herz. D. A. f. kl. Med. 1916, CXX, p. 1-78; Zur Kenntnis der vorübergehenden Arhythmia perpetua mit Beobachtungen über Vagusdruck. D. A. f. kl. Med. 1917, CXXIV, p. 88; Über das Herzklopfen bei Kranken mit Rhythmusstörungen. I. Mitt. Med. Kl. 1921, Nr. 21; Über das Herzklopfen bei Kranken mit Mitralstenose. II. Mitt. Med. Kl. 1922, Nr. 31; Die Campherbehand- lung chronischer Kreislauferkrankungen. Med. Kl. 1923, Nr. 50; Uber die klinische Stellung der Scilla unter den Digitaliskörpern. Erscheint im D. A. f. kl. Med. Fleischhauer K., Über die klinischen Begleiterscheinungen des Vorhofflimmerns beim Menschen und über die Bezeichnung „Pulsus irregularis perpetuus“. Ztschr. f. kl. Med. LXXXVıll, H.5 u. 6. Fränkel A., Über Digitalistherapie. Erg. d. inn. Med. u. Kinderheilkunde. 1908, I, p. 69; Chronische Herzinsuffizienz und intravenöse Strophanthintherapie. Münch. med. Woch. 1912, Nr. 6 u. 7. Fränkel A. u. Doll H., D. A. f. kl. Med. 1923, CXLIII, p. 66-86. Frey W., Uber Vorhofflimmern beim Menschen und seine Beseitigung durch Chinidin. Berl. kl. Woch. 1918, Nr. 18, p. 417 u. Nr. 19, p. 450; Der innere Mechanismus der verschiedenen Formen von extrasystolischer Arhythmie. Zbl. f. Herz- u. Gefäß- krankheiten. 1918, 10. Jahrg., H. 13, p. 145; Chinidin zur pe der absoluten Herzunregel- mäßigkeit (Vorhofflimmern). D. A. f. kl. Med. 1921, CXXXVI, p.70; Zur Kenntnis der atrio-ventri- kulāren Schlagfolge des menschlichen Herzens. D. A. f. kl. Med. 1916, CXX, p. 192; Weitere Erfah- rungen mit Chinidin bei absoluter Herzunregelmäßigkeit. Berl. kl. Woch. 1918, Nr. 36, p. 849. Gerhardt D., Uber Beziehungen zwischen Arhythmia perpetua und Dissoziation. Zbl. f. Herz- krankh. u. d. Erkrankungen d. Gefäße. 1910, 2. Jahrg., Nr. 10 u. 11. Gottlieb R., Über Digitalistherapie. Med. Kl. 1913, Nr. 50; Zur Theorie der Digitaliswirkung. Verh. d. D. Kongr. f. inn. Med. XXXI. Kongr. Wiesbaden 1914, p. 374; Haben therapeutische Digitalisgaben Gefäßwirkung? Th. Mon. Juli 1912, 26. Jahrg. Grödel J., Bemerkungen zur Digitalisbehandlung bei chronischen Kreislaufstörungen, insbesonders über kontinuierlichen Gebrauch von Digitalis. Verh. d. XVII. Kongr. f. inn. Med. 1899, 2. Aufl., 1907; Bemerkungen zur Digitalisbehandlung bei chronischen Kreislaufstörungen, insbesonders über kontinuierlichen Gebrauch von Digitalis. Verh. d. XVII. Kongr. f. inn. Med. Karlsbad 1899. Hamburger W. W., Wirkungen der Behandlung mit Chinidinum sulfuricum auf das Vorhofflimmern., J. of am. ass. 1921, LXXVII, Nr. 23, . 1797. Heineke A., Uber die Behandlung des kardialen Odems. Zbl. f. Herz- o Gefäßkrank- eiten, Mai 1921, 13. jahre., Nr. 9; Theoretisches und Klinisches zur extrarenalen Ausscheidung kar- dialer Odeme. D. A. f. kl. Med. 1919, CXXX, H. 1, p. 61-94; Hering H. E., Analyse des Pulsus irregularis perpetuus. Prag. med. Woch. 1903. 28. Jahrg.; Bemerkungen zur Erklärung des unregel- mäßigen Pulses. Prag. med. Woch. 1902, XXVII, Nr. 1 u. 10. Howlett A. W. u. Sweeney J. P. Die Chinidinbehandlung des Vorhofflimmerns. J. of am. ass. 1921, LXXVII, Nr. 23, p. 1793.. v. Hösslin H., Zur Kenntnis des Kammerwühlens am Menschen. Kl. Woch., 2. Jahrg., Nr. 1, p. 15. Hoffmann A., Die Unregelmäßigkeiten des Herzschlages. Jahreskurse f. ärztl. Fortbildung 1913, 4. Jahrg., H.2; Uber Digitalistherapie. Jahreskurse f. ärztl. Fortbildung 1914, H. 2. Joseph Don R, Untersuchungen über die Herz- und Gefäßwirkungen kleiner Digitalisgaben bei intravenöser Injektion. A. f. exp. Path. u. Pharm. 1913, LXXIII, p. 81. Jungmann, Zur Behandlung der Herzinsuffizienz mit Bulbus scillae. Ver. f. inn. Med., Berlin, 16. Januar 1922; Ref. Kl. Woch., 1. Jahrg., Nr.9, p. 444. Kahn R. H. u. Münzer E., Über einen Fall von Kammerautomatie bei Vorhofflimmern. Zbl. f. Herz- u. Gefäßkrankheiten, 4. Jahrg., H. 11, p. 361. v. Kapf W., Weitere Erfahrungen in der Behandlung der Arhythmia perpetua mit Chinidin und Digitalis. D. med. Woch. 1922, 48. Jahrg., Nr. 14, p.445. - Kauffmann F., Zur Scilla-Chinidin-Therapie des Herzens. Münch. med. Woch. 1923, 70. Jahrg., Nr. 17,

Die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens bei gestörter Schlagfolge. 145

p. 521; Kl. Woch., 2. Jahrg., Nr. 34, p. 1615. Kaufmann R. u. Rothberger C. J., Über einfache zahlenmäßige e d zwischen normalem und Extrareizrhythmus bei atrioventrikulären und ventrikulären Extrasystolen. Kl. Woch., 1. Jahrg., Nr. 37, p. 1840. Klewitz F., Klinik der Flimmer- arhythmie. Kl. Woch., 1. Jahrg., Nr. 32, p. 1611, vgl. ebenda Rothberger 1922, Nr. 2 u. Magnus- Alsleben. 1922, Nr. 1. Meyer E., Über rectale Digitalistherapie. Kl. Woch., 1. Jahrg., Nr. 2, p. 57. Mosler E., Verzitterte Elektrokardiogramme. Kl. Woch., 1. Jahrg., Nr. 47, p. 2321; Gesteigerte Vorhofs- tätigkeit und Elektrokardiogramm. Kl. Woch., 2. Jahrg., Nr. 18, p. 822. Müller L., Beiträge zur Kenntnis der Digitalisbehandlung. Münch. med. Woch. 1908, Nr. 51. Naunyn B., Zur Digitalis- therapie in Herzkrankheiten. Th. d. G. Mai 1899. Okushima K., Uber die pharmakologische Stellung des Scillaglykosids unter den Digitalisstoffen. A. f. exp. Path. u. Pharm. 1922, XCV, H. 5/6, p. 258; Kl. Woch., 2. Jahrg., Nr. 27, p. 1277. Oppenheimer B. S. u. Mann H., Klinische Erfah- rungen mit Chinidin bei Vorhofsflimmcrn. J. of am. ass. 1921, LXXVII, Nr. 23, p. 1800. A. Pongs, Der Einfluß tiefer Atmung auf den Herzrhythmus (Sinusrhythmus) und seine klinische Verwen- dung. Springer 1923 (Ref. KI. Woch., 2. Jahrg., Nr. 28, p. 1328) Rothberger C. J., Uber Extrasystolen und das Hervortreten der Automatie untergeordneter Centren. Kl. Woch., 1. Jahrg., Nr. 43, p. 2150 u. Nr. 44, p. 2198; Bemerkungen zur Theorie der Kreisbewegung beim Flimmern. Kl. Woch., 2. Jahrg., Nr. 30, p. 1407; Neue Theorien über Flimmern und Flattern. Kl. Woch., 1. Jahrg., Nr. 2, p. 82. Rothberger C. J. u. Winterberg H., Studien über die Bestimmung des Ausgangs- punktes ventrikulärer Extrasystolen mit Hilfe des Eiektrokardiogramms. A. f. d. ges. Physiologie. 1913, CLIV, p. 571; Uber Vorhofflimmern und Vorhofflattern. A. f. d. ges. Physiologie. 1914, CLX, p. 42; Experimentelle Beiträge zur Kenntnis der Reizleitungsstörungen in den Kammern des Säugetierherzens. Ztschr. f. d. ges. exp. Med. 1917, V, H. 4/6, p. 264. Sachs H., Anwendung von Nadelelektroden zur subcutanen und intravenösen Ableitung von Elektrokardiogrammen. Kl. Woch., 2. Jahrg., Nr. 5, p: 209; Uber die Anwendung von Nadelelektroden zur subcutanen und intravenösen Ableitung von

lektrokardiogrammen. Kl. Woch., 1. Jahrg., Nr. 48, p. 2383. Semerau M., Über Rückbildung der Arhythmia perpetua. D. A. f. kl. Med. 1918, CXXVI, H. 3, p. 161; Uber die Beeinflussung des Blockherzens durch Arzneimittel. D. A. f. kl. Med. 1916, CXX, p. 291. Singer R. u. Winter- berg H., Chinin als Herz- und Gefäßmittel. A. f. inn. Med. Wien 1921, IH, p. 329. Stahl R. Zur Ableitung menschlicher Elektrokardiogramme mittels Nadelelektroden nach Straub. KI. Woch., 2. Jahrg., Nr. 11, p. 492. Starkenstein E., Die pharmakologische Bewertung der Chinin-Digitalis- kombination bei Herzkrankheiten. D. med. Woch. 1922, 48. Jahrg., Nr. 13, p. 414 u. Nr. 14, p. 448. Staub H., Zur Kenntnis des vorübergehenden Vorhofflimmerns und seine Beeinflussung durch intra- venöse Strophanthintherapie. Zbl. f. Herz- u. Gefäßkrankheiten. Ze 1919, 11. Jahrg., Nr. 12. Straub W., Uber einen vereinfachten Weg der Ableitung von Elektrokardiogrammen. Kl. Woch., 1. Jahrg., Nr. 33, p. 1638. Stross W., Beiträge zur Pharmakologie des Camphers. A. f. exp. Path. u. Pharm. 1922, XCV, H. 5/6, P 304; KI. Woch., 2. Jahrg., Nr. 27, p. 1277. Strubell A., Uber intravenöse Digitalistherapie. Zbl. f. Herz- u. Gefäßkrankheiten. 1913, 5. Jahrg, H. 15, p. 345. Taschenberg, Beiträge zur klinischen Elektrokardiographie. D. A. f. kl. Med. 1921, CXXXVII, p. 101. Velden R. von den, Intravenöse Digitalistherapie mit Strophanthin. Münch. med. Woch. 1906, Nr. 44. Weil A., Beiträge zur klinischen Elektrokardiographie. D. A. f. kl. Med. 1914, CXVI, B 486, 1. Mitt. Beiträge zur klinischen Elektrokardiographie. 2. Mitt. ; Ergebnisse des Vagusdruckversuches.

‚A. f. kl. Med. 1916. Werth, gt er perpetua mit Vorhofflimmern. Med. Gesellschaft Göttingen 18. Mai 1922, Ref. Kl. Woch., 1. Jahrg., Nr. 35, p. 1765. Wiechmann E., Untersuchungen über das Chinidin, seine Antagonisten u. s. w. Kl. Woch., 1. Jahrg., Nr. 34, p. 1683, vgl. auch D. Med. Woch. 3921, Nr. 1 u. D. Med. Woch. 1922, Nr. 14. Winterberg, Extrasystolen als Interferenz- erscheinung. A. f. inn. Med. Wien 1923, VI, H.1, p. 251; Kl. Woch., 2. Jahrg., Nr. 28, p. 1329. Zitron J., Klinische Indikationen zur Anwendung von Digitalis- und Adonispräparaten. Med. KI. 1923, 19. Jahrg., Nr. 6, p. 170.

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 10

Die Extrauteringravidität.

Von Professor Dr. O. Pankow, Leiter der Frauenklinik an der medizinischen Akademie in Düsseldorf.

Mit 25 Abbildungen im Text.

Die extrauterine Implantation des Eies kann in der Tube, im Ovarium oder in der freien Bauchhöhle erfolgen. Dementsprechend kann die Extrauterinschwanger- schaft eine Graviditas tubaria, ovarialis oder abdominalis sein. Am häufigsten von ihnen ist die Tubargravidität. Das erklärt sich dadurch, daß das menschliche Ei wahrscheinlich in der Tube, u. zw. zumeist wohl in ihrem ampullären Teil, befruchtet wird und erst nach etwa 8tägiger Wanderung durch das Tubenrohr in die Gebär- mutter hineingelangt. Verhältnismäßig oft jedoch wird das befruchtete Ei irgendwo auf seiner Wanderung durch den Eileiter festgehalten und kommt dann hier zur Haftung und Entwicklung. Je nach dem Ort, in dem das Ei in der Tube zur Implan- tation gelangt, unterscheidet man eine Graviditas tubaria ampullaris, isthmica und interstitialis. Seltenere Formen der Tubargravidität sind die Graviditas tubo-uterina, bei der das Ei zum Teil im Uterus sitzt, die Graviditas tubo-ovarialis, bei der Tube und Ovarium den Fruchthalter bilden, und die Graviditas tubo-abdominalis, bei der die Implantation teils in der Tube, teils auf dem Peritoneum der Bauchhöhle erfolgt ist. In vereinzelten Fällen ist auch die Haftung des Eies auf der Fimbria ovarica oder in einer sog. akzessorischen Nebentube beobachtet worden (s. Fig. 40).

Ätiologie. Die Ursache für die Entstehung einer Eileiterschwangerschaft kann im Ei oder in der Tube gelegen sein. Zum Verständnis einer durch das Ei selbst

bedingten Haftung in der Tube sei kurz auf folgendes hingewiesen.

. Der Vorgang der Befruchtung und der ersten Entwicklung des befruchteten Eies ist beim Menschen noch nicht beobachtet worden. Auf Grund zahlreicher vergleichender Befunde im Tierreich können wir aber annehmen, daß die Befruchtung des menschlichen Eies in ähnlicher Weise erfolgt, wie sie O. Hertwig! zuerst beim Seeigel direkt beobachtet und beschrieben hat. Darnach dürfen wir weiter voraussetzen, daß auch beim Menschen sogleich nach der Befruchtung die Furchungsvor- gänge einsetzen. Dafür spricht wenigstens der überaus interessante Befund eines in Furchungskugeln geteilten Affeneies (Macacus), den Hubrecht? erheben konnte (s. Fig. 41). Der Vorgang der Furchung spielt sich so ab, daß sich das Ei zunächst in zwei gleiche Hälften teilt, die sog. Furchungskugeln oder Blastomeren, die sich unter fortgesetzter Teilung rasch vermehren. Dadurch entsteht zunächst ein kugliges, maulbeerähnliches Gebilde, die sog. Morula (s. Fig. 42). Schon in diesem Entwicklun stadium tritt eine Sonderung der Eizellen in zwei Schichten ein, indem ein innerer Zellhaufen, die sog. Embryonalkugel, aus der sich der Embryo selbst entwickelt, von einem äußeren Zellager umgeben wird, der die erste Anlage des Trophoblasts darstellt, das die spätere Ernährung des Eies zu über- nehmen hat. Indem sich zwischen diesen beiden Zellsorten an dem einen Pol der Eizelle ein mit Flüssigkeit gefüllter Spalt, die sog. Keimhöhle, bildet, entsteht aus der Morula die Blastula (s. Fig. 43). In diesem Stadium der Entwicklung befindet sich wahrscheinlich auch das mensch- liche Ei, wenn es nidationsreif geworden und unter normalen Verhältnissen in den Uterus gelangt ist. Wahrscheinlich nat auch bis zu diesem Stadium der Entwicklung eine Größen- zunahme des Eies nicht stattgefunden. Während dieser Entwicklungszeit ist die das Ei zunächst umhüllende Zona pellucida verlorengegangen, so daß jetzt die äußere Zellreihe der Blastula, der Trophoblast selbst, die äußere Hülle des Eies darstellt. Dieser Trophoblast besitzt nun eine intensive histeolytische Eigenschaft, und sie ist es, die es dem Ei ermöglicht, sich aus eigener Kraft an der Stelle einzugraben, wo es zur Einnistung kommt.

Denkbar wäre es nun, daß bei bestimmten Unregelmäßigkeiten im Ablauf dieser Vorgänge ein Hängenbleiben des wandernden Eies in der Tube erfolgen

Die Extrauteringravidität. 147

könnte. Träte z. B. eine mit einer überstürzten Entwicklung des Eies verbundene zu frühe Abstoßung der Zona pellucida ein und befände sich das Ei dann noch in der Tube oder wäre es infolge dieser überstürzten Entwicklung bereits zu groß geworden, um das enge uterine Ende des Tubenrohres noch zu passieren, so bestände die Möglichkeit, daß das nidationsreife Ei irgendwo in der Tube zur Haftung gelangte.

Fig. 40.

uw

Die Möglichkeiten der Eieinnistung.

1 = Oraviditas uterina. 4=Gravidität auf der Fimbria ovarica.

2 = Tubargravidität (2a =Oraviditas tubaria interstitialis, 5= Qravidität in einer akzessorischen Nebentube. 2b= Graviditas tubaria isthmica, 2c = Oraviditas tubaria 6 = Primäre Abdominalschwangerschaft, s. dazu Fig. 61. ampullaris). (Die Implantation kann auch an andern stellen der

3 = Ovarialgravidität. Bauchhöhle erfolgen.)

Aber auch bei zeitlich normaler, nicht überstürzter Entwicklung des befruchteten Eies wäre es theoretisch dann möglich, daß das Ei schon in der Tube selbst nidations- reif würde, wenn der Weg, den es von dem Befruchtungsort bis zum Eintritt in den Uterus zurücklegen müßte, ein abnorm langer wäre. ‘Das kann bei der sog. äußeren Überwanderung des Eies der Fall sein. Man versteht darunter, daß das auf der einen Seite ausgestoßene Ei nicht in den Eileiter dieser Seite, sondern in die Bauchhöhle und von da durch den Saugstrom der Tube in den Eileiter der anderen Seite hineingelangt. Wird ein solches Ei schon gleich nach seinem Austritt

10*

148 O. Pankow.

aus dem Ovarium befruchtet, so besteht theoretisch die Möglichkeit, daß es auf dem verlängerten Weg durch die Bauchhöhle bis in den Eileiter der anderen Seite zu früh nidationsreif geworden ist, in der Tube zur Haftung gelangt und dann in ihr zur Entwicklung kommt.

Schließlich ist auch die Ansicht ausgesprochen worden, daß Veränderungen des Eies selbst die Ursache für seine extrauterine Entwicklung abgeben können. Das ist aber eine ganz unbewiesene Annahme, für deren tatsächliches Vorkommen jede Unterlage fehlt. Sie ist jedoch erst jüngst wieder von Poorten? ausgesprochen worden. Jede Zelle, meint er, habe eine gewisse Lebensenergie, die aber selbst bei Zellen gleicher Art sehr verschieden sein könne. Eier, die zur tubaren Im- plantation kämen, verfügen über ein „Plus an Aktivität und Entwicklungskraft«, und diese „Überenergie“ befähigt sie, auf dem ungeeigneten Boden der Tube Fuß zu fassen und sie sei die Ursache für das schnelle und tiefe, zerstörende Eindringen

Fig. 41. Fig. 43.

Macacusei in Furchung. (Aus Morula (schematisch). (Aus Blastula (schematisch). Selenka: Menschenaffen.) v.Jaschke-Pankow, (Aus v. Jaschke-Pankow, Lehrbuch der Oeburtshilfe.) Lehrbuch der Geburtshilfe.)

des Tubeneies in das Gewebe der Eileiterwand. Normale befruchtete, jedoch nicht mit einer Überenergie begabte Eier würden sich, auch wenn sie durch ein Hindernis in der Tube aufgehalten würden, nicht dort implantieren, sondern einfach zugrunde gehen. Man müsse deshalb den Schluß ziehen, daß das zerstörende Wachstum des Eies bei der Tubargravidität nicht die Folge eines ungenügenden Nährbodens in der Tubenmucosa, also etwas Sekundäres, sei. Vielmehr sei die Ausstattung des befruchteten Eies mit einer Überenergie an Entwicklungskraft das Primäre und das, was seine Haftung in der Tube und die Art seines Tiefenwachstums bedinge.

Diese Auffassung, die sich ja ebensowenig direkt beweisen wie widerlegen läßt, besteht aber doch wohl nicht zu Recht.

Poorten verbindet mit dem Begriff der Überenergie den des intensiveren Tiefenwachstums und der ausgedehnteren Zerstörung des anliegenden Gewebes, d. h. also eines gesteigerten histeolytischen Vermögens, und sieht in dieser Über- energie die Ursache dafür, daß das Ei bereits sehr bald nach erfolgter Befruchtung irgendwo extrauterin zur Haftung kommt und gar nicht bis in den Uterus gelangt.

Nun besteht doch aber die unbestreitbare Tatsache, daß sich das von Poorten als Ausdruck der Überenergie aufgefaßte tiefere Eindringen des Eies in die Frucht- halterwand und ihre weitgehende Zerstörung nicht bloß bei der Tubargravidität, sondern sehr häufig auch bei der Haftung des Eies im Isthmus uteri, bei der Pla- centa praevia, findet.

Wie kommt es, muß man sich fragen, daß diese angebliche Überenergie stets in der Tube, so oft im Isthmus und so selten in dem zwischen beiden liegenden Corpus uteri zur Auswirkung kommt? Das kann an dem Ei selbst nicht liegen, denn es wäre nicht zu verstehen, was das Ei veranlassen könnte, auf die

Die Extrauteringravidität. 149

Betätigung seiner Überenergie, die so stark diesseits und jenseits des Corpus uteri zum Ausdruck kommt, gerade im Uteruskörper selbst zu verzichten.

Wer die anatomischen Verhältnisse dieser drei Abschnitte: Tube, Corpus und Isthmus uteri, kennt, wird auch wissen, warum die Implantationsart in ihnen eine so verschiedene ist.

In der Tube ist die dünne Schleimhaut so gut wie gar nicht imstande, aus- giebig decidual zu reagieren, und niemals fähig, für das Ei allein das Bett abzu- geben. Da also der Platz nicht ausreicht, muß das Ei stets über die Grenze der Schleimhaut hinaus in die Muscularis eindringen.

Im Isthmus uteri ist die Entwickelung der Schleimhaut schon im nicht- schwangeren Zustande ungleichmäßig hinsichtlich der Dicke und der Ausbildung des Stromas und der Drüsen. Ungleichmäßig ist darum auch ihre Fähigkeit bei der Bildung des Eibettes. Ist sie dick genug und ist ihre decjduale Umwandlung gleich der des Corpus uteri, so wird das Ei in ihr allein sein Nest bilden und nicht in die Tiefe zu wachsen brauchen. Ist sie zu dünn und zu wenig decidual reaktionsfähig, so kann oder muß das Ei über die unzulängliche Mucosa hinaus bis an oder bis in die Uteruswand vordringen.

Im Corpus ist die gesunde Schleimhaut stets im stande, allein das Bett für das Ei herzugeben. Finden wir aber trotzdem eine echte Adhärenz der Placenta und das Tiefen- wachstum der Zotten bis an und in die Muskulatur hinein, dann sind auch fast stets Dinge vorhergegangen, die die Untüchtigkeit der Schleimhaut veranlaßt haben, Endo- metritiden, schwere puerperale Erkrankungen, häufigere Geburten oder Aborte, Aus- schabungen etc. Besonders deutlich zeigt sich das, wenn nach einem Corpuskaiserschnitt die Wunde schlecht heilt und nun eine Schwangerschaft eintritt. Dann findet man nicht selten eine partielle Adhärenz des Eies im Gebiet der Narbe, wenn dort nur eine dünne, kümmerliche Mucosa vorhanden ist, während drum herum, wo die Schleim- haut unverletzt geblieben war, die Implantation in normaler Weise erfolgt ist.

Es wäre doch wirklich merkwürdig, wenn sich eine Überenergie überwiegend nur auf solchem Boden auswirken sollte! Was aber ist denn allen diesen Dingen, Implantation in der Tube, im Isthmus und unter den genannten Bedingungen im Corpus uteri, gemeinsam? Das ist der ungeeignete Implantationsboden. Er ist es, der die Vorbedingung für die Erscheinungen bildet, die Poorten als „Über- energie“ auffaßt. In ihnen liegt unseres Erachtens also auch die Ursache für die Vorgänge in der Tube, und der Begriff der völlig unbewiesenen Überenergie des Eies ist nicht nötig zu ihrem Verständnis.

Wahrscheinlich spielt also die im Ei selbst gelegene ursächliche Möglichkeit nur eine sehr geringe Rolle. Den Eindruck gewinnt man wenigstens, wenn man bei der Frage nach der Ursache der tubaren Entwickelung des Eies den Eileiter selbst untersucht. In ihm sind Veränderungen nachgewiesen worden, die ohne Zwang eine Erklärung für das Aufhalten des befruchteten Eies in der Tube und seine dort erfolgte Implantation geben.

Wie weit hypoplastische und infantile Bildungen des Tubenrohres und eine damit verbundene mangelhafte Flimmerung des Epithels oder eine Schwäche der Muskulatur dabei eine Rolle spielen, die beide für den Weitertransport des be- fruchteten und unbefruchteten Eies in der Tube verantwortlich gemacht werden, ohne daß wir heute noch sagen können, welche dieser beiden Kräfte von größerer Bedeutung ist, bleibe dahingestellt. Solange es noch völlig ungeklärt ist, wie weit wellenförmige, vom Ostium abdominale nach dem Uterus hin gerichtete Contrac- tionen der Tube überhaupt zum Transport des Eies nötig sind und eventuell durch

150 ; O. Pankow.

eine mangelhafte Entwickelung der Muskelwand beeinflußt werden können, ist über ihren Einfluß auf die Entstehung der Tubargravidität nichts Bestimmtes zu sagen. Dasselbe gilt für die Frage, wie weit angeborene oder erworbene Defektbildungen des Flimmerbesatzes eine Transportstörung des Eies bedingen. Nach experimentellen Untersuchungen über die Bedeutung der Tubenflimmerung auf die Fortbewegung corpusculärer Elemente im Eileiter ist aber wohl sicher anzunehmen, daß Störungen der Flimmerfunktion tatsächlich die Fortbewegung des Eies verhindern oder doch wenigstens verzögern können. Wie weit eine solche Anomalie im Einzelfalle tat- sächlich von ätiologischer Bedeutung bei der Entstehung der Tubenschwangerschaft gewesen ist, das wird sich allerdings schwer feststellen lassen. Bei Untersuchungen früh schwangerer Tuben ist jedenfalls wiederholt ausdrücklich hervorgehoben worden, daß ein völlig unversehrter Epithelüberzug mit ungeschwächtem Cilien- schlag in der Umgebung des Eies nachweisbar war. Eine erheblichere Rolle scheint danach der Tubenflimmerung praktisch doch nicht zuzukommen.

Ebenso bleibt es unsicher, wieweit andere, seltenere Entwicklungsstörungen mit der tubaren Haftung des Eies in ursächlichen Zusammenhang gebracht werden dürfen. Man sieht aber doch, gelegentlich bei der Operation frischgeplatzter Tubar- graviditäten, angeborene grobmechanische Veränderungen, die man wohl für die Haftung des Eies im Eileiter verantwortlich machen könnte.

11. Mai 1923. Frau G., 27 Jahre alt, seit 1'/, Jahren verheiratet. Erste Periode mit 13 Jahren, immer unregelmäßig, meist nur alle 6-8 Wochen von 5- bis 6tägiger Dauer und mit mäßigem Blut- verlust. Seit der Verheiratung dauern die unregelmäßigen Blutungen oft 14 Tage lang, sind aber auch nur immer schwach. Vier Wochen nach der Periode setzen regelmäßig heftige Kopf- und Leib- schmerzen ein, die bis zum Eintritt der Menses anhalten. Letzte Periode vor 14 Wochen 4-5 Tage lang, diesmal besonders stark. Seit Anfang April blutet die Patientin ständig. Dabei war das Blut einmal hell, einmal dunkel. Stücke sind nie abgegangen. Seit 4 Wochen treten alle 2—3 Tage heftige Schmerzanfälle auf, die auf der linken Unterleibseite lokalisiert sind. Die Schmerzen gehen dann auf den ganzen Leib über und strahlen bis auf die Magengegend aus. Während der Schmerzanfälle, die meist 6—8 Stunden anhielten, war das Urinieren ebenfalls schmerzhaft. Vor 14 Tagen wurde Patientin wegen starken Blutabganges in ein Krankenhaus aufgenommen, mit Tamponade, Eisblase und Bett- ruhe behandelt und nach 8 Tagen entlassen. Da in den letzten 8 Tagen die Beschwerden unverändert anhielten, wird Patientin zur Aufnahme geschickt. Mittelgroße Frau in mäßigem Ernährungszustande. Muskulatur und Fettpolster gut entwickelt, Gesichtsfarbe gelblichblaß, Puls 112, Schleimhaut schlecht durchblutet. Herz und Lunge ohne Besonderheiten. Hämoglobin 55%, Erythrocyten 2:8 Millionen, Leukocyten 9400. Auf der linken Seite des Abdomens sieht und fühlt man einen bis zum Nabel hinaufreichenden Tumor von etwa Faustgröße, der sich in das kleine Becken hinein verliert. Die Vagina ist blaß verfärbt, Portio zapfenförmig, Cervicalkanal verschlossen. Der Uterus liegt anteflek- tiert, fühlt sich verhältnismäßig derb an, ist nicht vergrößert, Sondenlänge 7!/, cm. Links oberhalb des Uterus, von der kurzen straffen Vagina aus mit Mühe erreichbar, fühlt man von der linken Uterus- kante ausgehend einen im ganzen kindskopfgroßen Tumor, der bis zum Nabel reicht. Rechts ist die Tube am uterinen Ende schlank zu fühlen, das Ovarium nicht zu tasten. Diagnose: Linksseitige Tubargravidität mit peritubarer Hämatocelee Operation: Querschnitt durch Haut und Fascie, Eröffnung des Bauches in der Mittellinie. Unmittelbar in der Medianlinie sieht man links einen bläulichschwarz durchschimmernden Tumor, der der Bauchwand breit anliegt und mit ihr verwachsen ist. An seiner oberen und teilweise auch an seiner Vorderseite ist er mit Netz bedeckt, das ebenfalls mit ihm verklebt ist. Nach unten geht der Tumor über in die linken Adnexe, von denen das Ovarium den unteren Pol dieses Tumors bildet und sich deutlich von ihm abhebt. An der medialen Fläche des Tumors bestehen ausgedehnte Verwachsungen mit der Flexur und dem Dünndarm. Nach Lösung der Netzadhäsionen werden die Därme vorsichtig abgelöst. Hierbei reißt der Tumor selbst ein und es entleeren sich reichlich dicke alte Blutgerinnsel aus ihm. Jetzt erkennt man deutlich, daß der ganze Tumor von der schwangeren abdominellen Tubenhälfte gebildet wird, und daß die Tube von der Uteruskante aus ziemlich steil nach obenhin verläuft. Unter Zurücklassung des Ovariums wird die

anze Tube abgetragen und das Wundbett versorgt. Die Hämatocelenschwarte wird überall von der Geesse und dem Darm vorsichtig abgelöst und alte Blutgerinnsel aus dem Douglas entfernt. Dann heißt es weiter im Operationsprotokoll: Zur Erklärung des hohen Sitzes der Extrauteringravidität ist vielleicht die Tatsache heranzuziehen, daß auch das rechte Ovarium, das mangelhaft descendiert ist, ausgezogen, 1'!/, Fingerglied-lang in der Gegend der Linea innominata liegt, und daß auch die rechte Tube nach obenhin bis über die Linea innominata verläuft, und ebenfalls lang ausgezogen, aber offen und schlank ist. Irgendwelche Zeichen vorausgegangener Entzündungen sind an den rechten Adnexen nicht vorhanden.

In diesem Falle, in dem es sich zweifellos um eine Entwicklungsstörung insofern gehandelt hat, als die Adnexe nicht genügend tief in das kleine Becken

Die Extrauteringravidität. 151

herabgestiegen waren, könnte man wohl daran denken, daß in dieser Anomalie die Ursache der Tubenschwangerschaft zu suchen ist, umsomehr als die histologische Untersuchung des linksseitigen Tubenrohres Divertikelbildungen und Faltenver- schmelzungen, auf die wir als Ursache der Tubargravidität gleich noch eingehen werden, nicht erkennen ließ.

Das gleiche gilt von den mechanischen Momenten, die gelegentlich dadurch geschaffen werden können, daß Myome oder Ovarialtumoren, besonders wenn sie intraligamentär entwickelt sind, die Tube verziehen, verdrehen, komprimieren oder abknicken und so die Passage des befruchteten Eies stören.

Am häufigsten hat man bisher jedenfalls bestimmte gröbere Veränderungen der Tube nachweisen können, die mit der Tubargravidität in ursächlichem Zusammen- hang stehen und deren Entstehung heute zumeist noch mit entzündlichen Erkran- kungen der Eileiter in Zusammenhang gebracht wird. Schon Werth®, dem wir eine ausgezeichnete Bearbeitung der Extrauterinschwangerschaft in dem v. Winckelschen Handbuch verdanken, kam auf Grund seiner Studien zu der Auffassung, es müsse „neben den vereinzelt beobachteten und beschriebenen seltenen Hindernissen in der Eibahn ein für die große Mehrzahl der Fälle gültige einheitliche Erklärung gefunden werden“.

J. Veit? sieht als eine solche einheitliche Grundlage den Tubenkatarrh an. Er sagt: „Ich finde die Hauptursache der Tubenschwangerschaft in einem in der Abheilung begriffenen Tubenkatarrh.“ Dabei betont er ausdrücklich, daß der Katarrh nicht etwa nur durch eine Gonorrhöe bedingt zu sein braucht, sondern daß „alle übrigen Keime“ in gleicher Weise wirken können. Allerdings ist es ihm niemals gelungen, Keime in der schwangeren Tube nachzuweisen. Deshalb meint er auch, daß es mehr die Folgezustände des Katarrhs seien, die die Einbettung des Eies in der Tube verschulden, wie eine gewisse Hypersekretion und Epithellücken, die zur Verlangsamung der Flimmerung führen, und ein abnormes Verhalten der Schleim- haut überhaupt. Das Wesentlichste von den postkatarrhalischen Schleimhautverände- rungen scheinen für Veit die Epithellücken zu sein, die er direkt für nötig zu halten scheint, wenn die Tubareinnistung des Eies erfolgen soll. Jedenfalls meint er, müsse man doch davon ausgehen, daß das Ei durch das Epithel in das subepitheliale Bindegewebe hineingelange. Es sei aber noch keineswegs erwiesen, daß das Ei normales Epithel der Tube etwa auflösen könne. In diesen Annahmen Veits sind aber zwei große Unwahrscheinlichkeiten enthalten. Wir haben eingangs bereits hervorgehoben, daß das nidationsreife Ei sich mit seiner Trophoblastschale an das Oberflächenepithel anlegt, und daß das Trophoblast eine ungemein starke gewebs- auflösende Eigenschaft besitzt. Wenn diese histolytische Kraft so groß ist, daß sie sogar Bindegewebe und Muskulatur auflöst und zerstört und die derben Gefäßrohre durchfrißt und eröffnet, so besteht keinerlei Grund anzunehmen, daß sie nicht auch im stande wäre, das zarte Tubenepithel aufzulösen, ebenso wie das ja auch mit der Epitheldecke des Uterus bei der physiologischen Implantation geschieht. So besteht also tatsächlich kein Grund, eine Epithellücke für die Implantationsmöglich- keit des Eies in der Tube vorauszusetzten. Diese Voraussetzung enthält auch bereits die zweite Unwahrscheinlichkeit der Veitschen Annahme. Das Epithel als solches hat überall eine ganz außerordentlich große Regenerationsfähigkeit und läßt keine unbekleideten Lücken zwischen sich bestehen. Heilt also ein Katarrh, selbst wenn er wirklich hie und da das Epithel zerstört hat, ab, dann verwachsen entweder die epithellosen Stellen wieder miteinander oder sie werden rasch wieder von den Seiten her epithelisiert.

152 O. Pankow.

Die ganze Auffassung V eits von der Bedeutung eines in der Abheilung begriffenen Tubenkatarrhs für die Tubareinnistung des Eies entbehrt also zu sehr der anatomischen Grundlage, als daß man sie mit Befriedigung annehmen könnte.

Man kann es umsoweniger, als heute anatomische Untersuchungen der schwan- geren Tube vorliegen, die unseres Erachtens der Forderung Werths nach einer einheitlichen Erklärung der Entstehung der Tubargravidität genügen. Auf Grund dieser Untersuchungen möchten wir die Tubargravidität auf zwei Dinge zurückführen, auf Divertikelbildungen der Schleimhaut, die mehr oder minder tief in die Muskulatur der Tube und selbst bis in die Serosa vordringen, und auf Faltenverschmelzungen der Mucosa. Schon über die ätiologische Bedeutung dieser beiden Anomalien, die vielfach gleichzeitig in der- selben Tube gefunden werden, gehen die Ansichten auseinander. Die einen sehen die Hauptursache der Tubenschwangerschaft vor allem in der Faltenverschmelzung, durch die das befruchtete Ei an seinem Eindringen in den Uterus verhindert werden, die anderen dagegen in Divertikelbildungen, in die das befruchtete Ei hineingeraten soll. Umfangreiche anatomische Untersuchungen aus unserer Klinik durch Schön- holz® haben uns ebenfalls zu der Überzeugung gebracht, daß von beiden Möglich- keiten doch wohl der Divertikelbildung der Schleimhaut die größere Bedeutung für die tubare Einnistung des Eies zukommt. Trifft das zu, dann ist damit aber nur ein Teil des Problems nach der eigentlichen Ursache der Tubenschwangerschaft gelöst. Will man ihm bis ins Letzte nachgehen, so muß man sich die Fragen vorlegen:

1. Sind die Veränderungen, die man als Ursache der tubaren Einnistung des Eies erkannt hat, stets oder überwiegend entzündlicher Natur?

2. Ist die nachgewiesene vorausgegangene Entzündung der Eileiter tatsächlich zumeist eine gonorrhoische gewesen, wie viele Autoren heute noch annehmen?

3. Können die Divertikelbildungen und Schleimhautverschmelzungen auch anderer als entzündlicher Herkunft sein?

Die Schleimhautverschmelzung und Divertikelbildungen sind vielfach Gegenstand eingehender Bearbeitung gewesen. Das Vorkommen von intramusculär gelegenen, mit Epithel ausgekleideten Hohlgängen in der Wand der schwangeren Tube wurde schon sehr früh gelegentlich beobachtet. W erth wies dann auf den Zusammen- hang dieser Hohlräume mit dem Lumen der schwangeren Tube hin. Er kam jedoch zu der Auffassung, daß diese Schleimhautdivertikel nicht als eine Ursache, sondern als Folge der tubaren Einnistung des Eies aufzufassen seien, die sich erst unter dem Reiz des benachbarten Eies entwickeln sollten. Er stand damit im Gegensatz zu einer Reihe von Forschern, die in derartigen Divertikelbildungen gewissermaßen Fanggruben sahen, in die das Ei hineingelangen konnte, um sich dann an Ort und Stelle zu implantieren. Es lag nahe, daß alle diese Forscher die Frage aufwarfen, woher dann solche Muskelausstülpungen der Schleimhaut und damit die letzte wirkliche Ursache für die tubare Implantation des Eies stammten.

Die Tatsache, daß sich solche epithelbekleidete Hohlgänge besonders häufig in knotigen Verdickungen der Tubenwand nahe an ihrem Übergang zum Uterus fanden, eine Veränderung, die zuerst Chiari?” eingehend beschrieb und die Schauta® dann als Salpingitis isthmica nodosa bezeichnete, vergrößerte die Unsicherheit dieser Deutung erheblich. Von Chiari, Schauta u. a. als entzündlichen Ursprungs ange- sprochen, trat dann v. Recklinghausen? in einer ausführlichen Arbeit dafür ein, daß diese Bildungen mit einer Entzündung nichts zu tun hätten, sondern wirkliche Neubildungen seien, Adenomyone, die von den Resten der Wolffschen: Kanäle abgeleitet werden müßten. Sein Schüler Schickele!? vertrat dann die Anschauung

Die Extrauteringravidität. 153

daß auch die ohne gleichzeitig vorhandene knotige Verdickungen der Tube nachweis- baren epithelausgekleideten Muskelgänge Abkömmlinge von Urnierenresten darstellen. Nach dieser Auffassung müßte man also annehmen, daß die Tubar- gravidität durch das Hineingelangen eines befruchteten Eies in persi- stierende, mit dem Tubenlumen zusammenhängende Reste der Wolffschen Kanäle entstanden sei. Die Auffassung von v. Recklinghausen hat sich jedoch nicht halten lassen. In Sonderheit hat R. Meyer!! durch Untersuchungen an zahl- reichen Tuben von neugeborenen Kindern und Erwachsenen niemals irgendwelche Bestandteile der Urniere in den Müllerschen Gängen nachweisen können. R. Meyer wie eine große Zahl anderer Untersucher bekannten sich vielmehr zu der Auffassung Chiaris und Schautas, die in den Divertikelbildungen die Folge einer chronischen Entzündung sahen.

Auf eine gleiche entzündliche Ursache wurden auch die Faltenverschmelzungen zurückgeführt, die man uterinwärts von dem Eibett in dem Lumen der Tube hat nachweisen können und auf die besonders Opitz’? als die nach seiner Ansicht hauptsächliche Ursache der Eileiterschwangerschaft hingewiesen hat. Solche Falten- verschmelzungen sind in der Tat in entzündlichen Tuben nicht selten nachweisbar. Sie können so ausgedehnt sein, daß das ganze Lumen dadurch in eine Reihe neben- einander und ineinander laufender Kanäle aufgeteilt erscheint, oder sie befallen einen Teil der Schleimhautfalten, so daß neben dem größeren Rest des eigentlichen Lumens eine Reihe wieder zum Hauptlumen stoßender oder blind endigender Hohlgänge entsteht. Fehlt die vollkommene gitterförmige Verlagerung des Tubenrohres und sind nur die partiell gebildeten Hohlräume neben einem noch gut durchgängigen Rest des Lumens vorhanden, so erklärt es sich, meint Opitz, zwanglos, warum bei derlei Frauen eine oder mehrere ungestörte Eipassagen durch eine solche Tube mit nachfolgender Intrauteringravidät erfolgen, und warum dann gelegentlich, wenn ein Ei in solche zu enge oder blind endigende Hohlräume hineingelangt, eine Tuben- schwangerschaft entstehen könne. Jedenfalls sieht Opitz in diesen Veränderungen der Eileiter die häufigste Ursache für die Tubareinnistung des Eies. Aber auch er hat in zahlreichen der von ihm untersuchten Tuben Schleimhautdivertikel gesehen, die mehr oder minder tief in die Muscularis hineindrangen und von denen Opitz in einem Falle auch sah, daß sich das Ei in einem solchen Divertikel implantiert hatte. Er lehnt jedoch die Annahme, daß das Hineingelangen des Eies in sie die Ursache für die Tubenschwangerschaft abgebe, deshalb ab, weil ihr Verlauf meist nicht in der Wanderungsrichtung des Eies gelegen sei.

Somit können wir also zunächst zwei Auffassungen registrieren. Die eine, die die Schleimhautdivertikel, die andere, die die Faltenverschmelzungen als die häu- figste Ursache für die Tubargravidität ansieht. Beide Auffassungen stehen aber auf gemeinschaftlichem Boden insofern, als beide diese Veränderungen als Folgezustände vorausgegangener Entzündungen ansehen. Nach der Auffassung von Opitz sind es gerade die leichteren entzündlichen Vorgänge der Eileiter, die zu einem Epithelverlust der Falten und zu einer Verschmelzung führen, so leicht, daß später nicht einmal mehr die Reste der Entzündung histologisch an den Falten erkennbar zu sein brauchen.

Auch für die Divertikelbildungen nehmen manche Autoren an, daß sie ohne schwere eitrige Wandveränderungen entstehen können. So glauben Chiari und R. Meyer, daß allein schon der starke Druck, unter dem eine entzündlich ge- schwollene Tubenschleimhaut stände, genüge, um die Schleimhaut zu solchen Aus- stülpungen in die Muscularis hinein anzuregen. Demgegenüber vertritt Höhne die

154 O. Pankow.

Ansicht, daß es sich bei der Entstehung dieser intramusculären Schleimhautabzwei- gungen um ÄAusheilungsvorgänge der gar nicht so seltenen Tubenwandabscesse handele. Höhne setzt also schwer entzündliche Veränderungen der Tube für die Entstehung der Divertikel voraus. Das ist ein sehr wichtiger Punkt für die Frage, welcher Art denn hauptsächlich die Entzündungen sind, die solche Veränderungen hervorrufen.

Chiari und Schauta haben schon für die Entstehung der Salpingitis isthmica nodosa die Gonorrhöe verantwortlich gemacht, die Martin und eine Reihe anderer Autoren auch als die Hauptursache der Tubenverschmelzungen ansehen. Auf die Zusammenhänge mit der Gonorrhöe hat dann in jüngster Zeit Höhne"? in seiner ausführlichen Arbeit von neuem hingewiesen. Indessen hebt schon R Meyer hervor, daß nicht nur die Gonorrhöe und die Tuberkulose zu einem derartigen adenomatösen Tiefenwachstum der Schleimhaut führen, sondern daß derartige Ver- änderungen auch bei Entzündungen jeder anderen Art vorkommen und sich in allen Teilen der Tube finden können. Die meisten Autoren stehen jedoch auch heute noch auf dem Standpunkt, daß es in erster Linie gonorrhoische Veränderungen sind, die die Entstehung einer Tubargravidität zur Folge haben.

Wir können diesen Standpunkt nicht teilen, u. zw. aus klinischen und patho- logisch-anatomischen Erwägungen heraus. Klinisch ist es eine unbestreitbare Tat- sache, daß die Verbreitung der Tubargravidität mit der Häufigkeit der Gonorrhöe durchaus nicht Hand in Hand geht. Wohl ist früher das Gegenteil behauptet worden, aber schon Wertheim hat seinerzeit darauf hingewiesen, daß der damals häufiger gewordene Nachweis einer Tubenschwangerschaft doch wohl nur auf die besseren diagnostischen Kenntnisse zurückgeführt werden könne, die man sich mit dem Ausbau der operativen Gynäkologie erworben hatte. Wir können jedenfalls an einem sehr großen gonorrhoischen Material feststellen, daß mit der in und nach den Kriegsjahren gestiegenen Häufigkeit der Gonorrhöe die Tubenschwangerschaft bei uns nicht in gleicher Weise zugenommen hat, und zweitens, daß wir bei den von uns beobachteten Tubenschwangerschaften die Gonorrhöe meist mit Sicherheit haben ausschließen können. Ebenso haben wir auch früher vor dem Kriege an einem bezüglich des Anteils der‘Gonorrhöe sehr verschiedenen Material derartige Zusammenhänge zwischen der Häufigkeit der Gonorrhöe und der Tubargravidität nicht beobachten können. Wir hatten Gelegenheit, vor dem Kriege Jahre hindurch ein verhältnismäßig an Gonorrhöe armes Material in Freiburg und im Gegensatz dazu ein an Gonorrhöe reiches in Düsseldorf zu beobachten. In Freiburg haben wir feststellen können, daß nur etwa 45% aller entzündlichen Adnexerkrankungen gonorrhoischen Ursprungs waren. In Düsseldorf hingegen ist der Anteil der Go- norrhöe an dieser Gruppe von Erkrankungen ungefähr doppelt so groß. Trotzdem aber kann von einem häufigeren Vorkommen der Tubenschwangerschaft an unserem Düsseldorfer Material keineswegs die Rede sein. Auch in anderen an Gonorrhöe reichen Städten und Ländern ist eine gesteigerte Häufigkeit der Tubenschwanger- schaft durchaus nicht beobachtet worden.

Aber auch aus anderen klinischen Beobachtungen heraus erscheinen uns die vielfach angenommenen ursächlichen Zusammenhänge zwischen Tubargravidität und Gonorrhöe nicht wahrscheinlich. Wer sehr viel ascendierte Gonorrhöe gesehen hat, der kennt die Folgen des Eindringens der Gonokokken in die Tube und weiß, daß mit dem Übergreifen der Gonorrhöe auf die Eileiter das Schicksal der Frauen hin- sichtlich ihrer Conceptionsfähigkeit meist besiegelt ist.

Fast ausnahmslos tritt bei der eitrigen Entzündung derEileiter nicht bloß eine mehr oder minder ausgedehnte Zerstörung der Schleimhaut ein, sondern es wird

Die Extrauteringravidität. 155

auch durch Einkrempelung des Ostium abdominale und Verklebung seiner Serosa- fläche untereinander und mit der Umgebung oder durch Verwachsung der Serosa der Tubenampulle mit dem Peritoneum der Nachbarschaft der Eingang in die Eileiter meistens so dauernd verlegt, daß die Vereinigung von Sperma und Ei dadurch unmöglich wird. Opitz betont deshalb auch ausdrücklich, daß es gerade die leichten Entzündungen der Eileiter seien, die zu den von ihm so hochbewerteten Faltenverschmelzungen führen. Wenn man das für richtig annehmen und ebenso auch zugeben wollte, daß, wie z. B. Robert Meyer betont, schon leicht entzünd- liche Schwellungszustände der Mucosa zur Enstehung der Muskeldivertikel Anlaß geben könnten, dann müßten wir annehmen, daß sehr zahlreiche gonorrhoische In- fektionen der Eileiter gewissermaßen schattenartig über die Tube hinweghuschen, ohne schwerere anatomische Veränderungen zu machen. Das widerspricht aber durchaus unseren klinischen Beobachtungen und dem, was wir über die zerstörende Tätigkeit der Gonokokken sonst wissen. Sind sie einmal in die Tube eingedrungen, dann führen sie hier meist auch zu einer solchen Entzündung, daß auf ganze Strecken hin die Epithelien zu grunde gehen, die dann trotz ihrer ungeheueren Regenerations- fähigkeit die defekt gewordene Stelle nicht wieder überkleiden können. Dann bleibt aber auch in den allermeisten Fällen der gonorrhoische Prozeß nicht auf diesen Vorgang allein beschränkt, sondern greift durch das abdominelle Ende auf das Peritoneum über und führt weiter fortschreitend zu den bekannten tiefgreifenden Zerstörungen der Tubenmuskulatur, wie sie Höhne beschrieben hat. Diese Ver- änderungen haben aber unzweifelhaft eine außerordentlich geringe Neigung zur Ausheilung und darum so häufig eine dauernde Sterilität zur Folge. Wir selbst haben wenigstens unter überaus zahlreichen Fällen von Gonorrhöe mit deutlichen Erscheinungen der Ascension nur einen einzigen Fall erlebt, bei dem die entzünd- lichen Schwellungen der Tube rasch wieder zurückgingen und dann später noch eine Oravidität, u. zw. eine intrauterine, beobachtet werden konnte. Niemals haben wir bisher einen Fall von ascendierter Tubengonorrhöe oder auch nur von klinisch nachweisbarer Reizung der Adnexe bei gonorrhoischer Endo- metritis gesehen, bei dem später eine Tubargravidität erfolgte. Daran kann auch gar kein Zweifel sein, daß die anatomischen Veränderungen der Tube bei gonor- rhoischen Erkrankungen ganz andere sind als bei den septischen, wie wir sie nach Geburt und Abort, nach intrauterinen Eingriffen und bei Fortleitung entzündlicher Prozesse, z. B. vom Appendix aus, beobachten können. Jeder Gynäkologe weiß, daß, selbst wenn es in solchen septischen Fällen zu den allerschwersten Eiterungen mit faustgroßen doppel- seitigen Tumoren der Adnexe gekommen ist, doch noch in oft überraschend kurzer Zeit eine vollständige Rückbildung eintreten und sogar manchmal verblüffend rasch eine er- neute Conception erfolgen kann. Derartige Dinge kennen wir aber bei der Gonorrhöe nicht. Es kann demnach kaum ein Zweifel darüber bestehen, daß die Gonokokken und ihre Toxine eine ganz andere zerstörende Fähigkeit auf die befallene Tube ausüben als z. B. die Streptokokken mit ihren freigewordenen Endotoxinen. Schon P. Zweifel!* konnte vor Jahren darauf hinweisen, daß bei den Streptokokkeneite- rungen der Tube „an keiner Stelle das Epithel geschwunden“ war. In sehr ein- gehenden Untersuchungen über die eitrigen Entzündungen des Eileiters bestätigte Gchriddei diesen Befund. Er sagt darüber: „Das Epithel der Tubenfalten erleidet nur mäßige Schädigungen. Zwar kommt es zur Abstoßung von Epithelzellen, zum teilweisen Verlust der Flimmern und zu einer Unterdrückung der Funktion der Sekretionszellen, in keinem Falle aber zu einer auch nur beschränkten Zerstörung des Epithels, zur Geschwürsbildung. Dementsprechend trifft man auch keine Ver-

156 O. Pankow.

klebung der Falten an und daher wird man auch bei abgelaufenen Prozessen keine verwachsenen Falten sehen.“ Aus allen diesen Erwägungen heraus möchten wir uns dahin ausdrücken:

„So häufig die chronische Gonorrhöe die Ursache für den Tuben- verschluß und damit für die bleibende Sterilität der Frau abgibt, so selten kommt sie als Ursache für die Entstehung der Tubenschwanger- schaft in Frage.“

Das gilt auch für die akuten gonorrhoischen Entzündungen. Man hat gesagt, daß bei der akuten Entzündung die Mucosa eine derartige Schwellung der Schleim- haut aufweise, daß dadurch das Lumen erheblich verengt und das Ei auf seiner Wanderung aufgehalten werden könne. Der Nachweis einer akuten Gonorrhöe der Tube mit positivem Gonokokkenbefund im Eileiter bei gleichzeitiger Tubar- gravidität, wie das in einzelnen Fällen gelungen ist, spricht jedoch durchaus noch nicht dafür, daß diese gonorrhoische Infektion nun auch die Ursache der bestehen- den Tubargravidität ist. Beide Erkrankungen, pathologische Eiinsertion und Gonorrhöe, können sehr wohl derselben Cohabitation ihren Ursprung verdanken. Es kann aber die Gonorrhöe ser leicht auch erst nach der Haftung des Eies auf die Tube über- gegriffen haben. Dagegen spricht auch nicht der überaus seltene Befund von Gono- kokken in dem Abschnitt der Tube, der jenseits des das Lumen der Tube aus- füllenden Eies nach der Bauchhöhle zu gelegen ist. Wenn es nach den Untersuchungen von Micholitch'! und nach den neueren Untersuchungen, die an unserer Klinik Schönholz an einem größeren Material angestellt hat, bewiesen ist, daß das Ei meistens in einem Schleimhautdivertikel zur Einnistung kommt, so steht den Gono- kokken zunächst gar kein Hindernis auf ihrem vordringenden Weg nach dem Ostium abdominale an dem das Ei enthaltende Schleimhautdivertikel vorbei, im Wege. Ver- größert sich jetzt das Eibett, greift es auf das Lumen über und füllt es ganz mit aus, so können die Gonokokken bereits jenseits davon gelegen sein und dann bei der Operation eines solchen Falles auch leicht bauchhöhlenwärts vom Ei nach- gewiesen werden. Schließlich erscheintes doch auch überdies sehr fraglich, ob eine akut entzündliche gonorrhoisch veränderte Schleimhaut trotz freier Passage für das Ei implantationsfähig bleibt und ob nicht ein so zartes Gebilde, wie das frei wandernde Ei, durch die Entzündungsprodukte. in der Tube so schwer geschädigt wird, daß es rasch darin abstirbt.

Wir selbst möchten jedenfalls ebenso wie der chronischen auch der akuten gonorrhoischen Erkrankung der Tube eine nur sehr untergeordnete Rolle bei der Entstehung der Tubargravidität zubilligen.

Fraglich bleibt es schließlich immer, wieweit überhaupt nachweisbare entzünd- liche Veränderungen der Tube, welchen Ursprungs sie auch seien, mit der be- stehenden Tubargravidität in ursächlichen Zusammenhang gebracht werden dürfen. Jedenfalls genügt der Nachweis älterer oder frischerer entzündlicher Auflagerungen und Verwachsungen auf der Tube bei der Operation noch nicht, um daraus zugleich eine ältere Entzündung zu diagnostizieren und sie sofort in ursächlichen Zu- sammenhang mit der Eileiterschwangerschaft zu bringen. In Fällen von Tubarabort, bei denen vor der Operation meistens schon länger zurückliegende Blutungen vor- ausgegangen waren, ist immer zu bedenken, daß diese Blutungen selbst erst die Ursache für die Adhäsionsbildungen abgegeben haben können und dann nicht als die Ursache, sondern als die Folge der Tubargravidität angesehen werden müssen. Uns ist jedenfalls immer wieder an unserem operativen Material frisch geplatzter Tuben aufgefallen, wie außerordentlich häufig an der schwangeren Tube selbst und

Die Extrauteringravidität. 157

vor allem an dem mitschwangeren Eileiter der anderen Seite makroskopisch nach- weisbare entzündliche Veränderungen vollkommen fehlten, nämlich unter 49 Fällen von Tubenruptur, in denen sich verwertbare Angaben im Operationsprotokoll fanden, 33mal, d. h. in 67%. Aber auch wenn man in solchen Fällen einmal leichte, ent- zündlich aussehende Auflagerungen auf der Serosa solcher Tuben findet, ist man nicht berechtigt, diese sofort immer mit der Schwangerschaft in ursächlichen Zu- sammenhang zu bringen. Wenn Opitz bei seinen Fällen, in deren Krankengeschichten leider gar nichts über die Art, Häufigkeit und die zeitliche Entstehung der Blutung enthalten ist, häufiger neben älteren Adhäsionen „je näher am Ei um so stärker auch frisch blutige Auflagerungen oftmals in Organisation betroffen“, erwähnt, so haben solche Befunde nicht viel zu sagen. Wissen wir doch aus den schönen Unter- suchungen Aschoffs!”, daß sehr häufig in dem Gebiete des Eies die Zotten bis an und durch die Serosa vordringen, und daß über ihm, durch den Reiz der vor- dringenden Zotten bedingt, Ausschwitzungen und fibrinöse Auflagerungen entstehen, die durchaus den Eindruck „entzündlicher« Veränderungen machen können. Aber selbst da, wo ältere derbe Adhäsionen nicht durch die bestehende Schwangerschaft bedingt sein können und auch gleiche Veränderungen in der anderen nichtschwangeren Tube zeigen, daß sich tatsächlich entzündliche Prozesse in den Eileitern oder um sie herum abgespielt haben, ist noch nicht gesagt, daß dieser Prozeß nun auch die Haftung des Eies in der Tube bedingt habe. Dazu wären wir nur berechtigt, wenn tatsächlich eine Entzündung die Vorbedingung für die Entstehung der Faktoren wäre, die wir als die Hauptursachen für die tubare Einnistung des Eies ansehen müssen, und wenn diese Faktoren in wirklich gesunden Tuben nicht nachweisbar wären. Da sie aber in der Tat auch in gesunden Tuben häufig vorkommen, so hat es durchaus nichts Gezwungenes anzunehmen, daß alte entzündliche Veränderungen, die man bei der Operation nachweisen kann, von höchst nebensächlicher Bedeutung hinsichtlich der Haftung des Eies für eine Tube sein können, die die Vorbedingung dazu schon vor der früher durchgemachten Entzündung in sich trug.

Wir haben als die beiden Möglichkeiten, die wahrscheinlich in überwiegendem Maße die Implantation des Eies in der Tube veranlassen, die Faltenverschmelzungen und vor allen Dingen die Schleimhautausstülpungen kennengelernt. Entgegen der Ansicht von Opitz haben wir jedoch auf Grund eingehender Untersuchungen unseres eigenen Materials, die Schönholz vorgenommen hat, der nach dieser Richtung hin auch ein größeres Material des Pathologischen Instituts zu Dortmund verarbeiten konnte durchaus den Eindruck gewonnen, daß von den beiden er- wähnten Veränderungen die Schleimhautdivertikel in der Mehrzahl der Fälle die Ursache für die Haftung des Eies abgeben. Die Tatsache, daß diese Veränderungen auch in Tuben gefunden wurden, in denen jede Spur von Entzündung fehlte, hat uns nun immer wieder die Frage aufgedrängt, ob denn diese Veränderungen, soweit sie in sonst wegsamen Tuben gefunden werden, überhaupt auf entzündliche Ver- änderungen zurückgeführt werden müssen und nicht vielmehr Bildungsstörungen

darstellen. In einer ausführlichen Arbeit über die Epitheliofibrosis und Epitheliomyosis der

Tube haben sich Schridde und Schönholz* eingehend mit den Divertikelbildungen befaßt und Schönholz (l. c.) hat dann an dem Material unserer Klinik diese Frage weiter verfolgt und ihre Beziehung zur Entstehung der Tubargravidität studiert. Beide Autoren weisen darauf hin, daß sowohl bei der Ausbildung von Wandabscessen als auch bei den zur Faltenverklebung führenden schwereren Entzündungen der Eileiter

* Noch nicht erschienen.

158 O. Pankow.

Veränderungen übrig bleiben, die der histologischen Untersuchung nicht entgehen. Bei den Absceßbildungen tritt an Stelle des entzündlichen Herdes innerhalb der Tubenmuskulatur als Ausheilungsprodukt eine Narbe, durch die die Regelmäßigkeit im Aufbau der Tubenmuskulatur erheblich gestört wird. Bei den entzündlichen Verwachsungen der Falten zeigt sich die fibrinöse Grundsubstanz, die normalerweise parallel der Verlaufsrichtung der Falten angeordnet ist, durch ein Granulationsgewebe ersetzt, durch das der Aufbau des Faltenstromas gestört wird. Nun sind derartige entzündliche Reste sehr häufig weder bei den Divertikelbildungen noch bei den Faltenverschmelzungen zu erheben. Das hat ja auch dazu geführt anzunehmen, daß es nicht die schwereren, sondern die sehr raschen und leichten Entzündungen des Eileiters sein sollen, die zu diesen Veränderungen führen und so leicht ablaufen, daß sie keine anderen Spuren der früheren Entzündung hinterlassen. Wir haben oben bereits auseinandergesetzt, daß wir diese Annahme für höchst unwahrscheinlich halten und daß wir uns nicht gut vorstellen können, wie so geringfügige Erkrankungen zu derart schweren bleibenden Veränderungen führen sollen. Das drängt uns also zu der Annahme, diese Befunde als Bildungsanomalien der Tube auf- zufassen. Diese Vermutung ist auch schon von früheren Untersuchern ausgesprochen worden. v. Franqu&'!® z. B. nennt neben den entzündlich entstandenen Epithel- ausstülpungen und Divertikelbildungen unter den seltneren durch congenitale Miß- bildungen bedingten Ursachen der Tubenschwangerschaft wiederum „Divertikel- bildung und nach dem Uterus zu blind endigende Gänge“. Auch Werth erwähnt in seiner Monographie einen Fall von Tubargravidität, den Henrothin und Herzog beschrieben haben, bei dem man das Ei „in einem gröberen, mit der Tube in Ver- bindung stehenden Blindgang“ sah, und er sagt dazu, daß es sich in diesem Falle „um einen groben Entwicklungsfehler, eine partielle Verdopplung der Tube“ handle. Daß aber solche Divertikelbildungen auch in ganz normalen Tuben vorkommen darauf hat Krömer! in einer sehr schönen, durch Serienschnitte und Modell- rekonstruktionen belegten Arbeit hingewiesen. Er fand auch an der ganz normalen Tube blindsackartige Ausstülpungen der Schleimhaut in einer Form, die nach seiner Ansicht die entzündliche Genese völlig ausschloß, und die er für sehr häufig hält. Immerhin könnte man auch hier wieder den Einwand erheben, daß es sich bei dem Befund Krömers um die Tube einer Erwachsenen gehandelt habe, bei der doch eben leichte Entzündungen vorausgegangen sein könnten, die keine klinischen Er- scheinungen gemacht hätten. Will man sich aber auf diesen Standpunkt, der durch nichts bewiesen ist, stellen, dann müßte man schließlich bei der Häufigkeit solcher Bildungen annehmen, daß fast bei jeder geschlechtsreifen Frau einmal eine Ent- zündung, u. zw. überaus häufig sogar eine gonorrhoische Entzündung der Eileiter bestanden habe. Diese Annahme ist aber selbstverständlich ohne weiteres abzulehnen. Es drängt deshalb auch der häufige Befund solcher blindsackförmiger Ausstülpungen, wie ihn Krömer nachgewiesen hat, immer wieder zu der Auffassung hin, daß es sich bei einem sehr großen Teil der Fälle von Divertikelbildungen nicht um Ent- zündungsprodukte, sondern um Abweichungen in der Anlage und Ausdifferenzierung der Müllerschen Gänge handelt, eine Auffassung, wie sie jüngst übrigens auch von Lahn!8a vertreten worden ist. Dagegen spricht auch nicht, daß man in den Tuben Neugeborener diese Bildungen noch so verhältnismäßig wenig gefunden hat. Die Zahl der untersuchten Fälle ist dafür noch zu gering. Während Robert Meyer solche Divertikelbildungen in der Tube Neugeborener überhaupt nicht nachweisen konnte, fand Schridde bei einem viermonatigen Kinde im isthmischen Teil der Tube bereits solche mit Schleimhaut ausgekleidete Gänge, die bis in die Muskulatur hinein-

Die Extrauteringravidität. 159

reichten. Die Frage, wie und wann diese Schleimhautdivertikel in der Entwicklungs- zeit entstehen, ist noch nicht hinreichend geklärt und bedarf noch weiterer Unter- suchungen. Jedenfalls zeigt ihr Nachweis bei einem viermonatigen Kinde, daß sie ohne eine Entzündung der Eileiter entstehen können. Das gleiche gilt auch für die

Fig. 44.

Schnitt durch die Tube eines neugeborenen Mädchens. Das Tubenrohr ist in eine Reihe von ungleichmäßigen Gängen aufgesplittert.

Faltenverschmelzungen. So konnte Schönholz bereits an einem in unserer Klinik totgeborenen Mädchen das congenitale Vorkommen dieser Bildungen beweisen.

In diesem Falle ist es im mikroskopischen Schnitt infolge des Alters des Leichen- präparates zu Zusammenballungen der Epithelien beim Schneiden des Präparates

Fig. 45.

Schematische Darstellung einer durch Operation einer Graviditas tubo-abdominalis gewonnenen graviden Tube. E = Eisitz in

dem erweiterten Tubenpavillon. (Das Ei war zugleich zwischen den Blättern des Ligamentum latum und am Colon pelvinum

implantiert.) D. = nach mikroskopischen Schnitten rekonstruiertes mächtiges Divertikel. Im Tubenrohr und im Divertikel be-

standen zahlreiche Faltenverschmelzungen. Weder in der Wand, vor allem weder in der Umgebung des Divertikels und in

seinen Wandungen noch in den Falten bestanden irgendwelche Zeichen vorausgegangener Entzündungen. 7, 2 und 3 zeigen die Stellen, denen die Figuren 46, 47 und 48 entsprechen.

gekommen, so daß dadurch die Zeichnung der Epithelauskleidung der einzelnen Gänge etwas gelitten hat. Ganz einwandfrei geht aber dennoch daraus hervor, daß die typische Kanalisierung des Tubenrohres ausgeblieben ist und sich ein System von Kanälen gebildet hat, die wir wohl als den Anfang der im späteren Leben nachweisbaren Faltenverschmelzungen auffassen können.

Beweisen solche Befunde bereits, daß beide Bildungen, Divertikel und Falten- verschmelzungen, ohne eine vorausgegangene Entzündung der Eileiter selbst im frühesten Lebensalter gefunden werden können, so lassen auch die mikroskopischen

160 O. Pankow.

Bilder Erwachsener vielfach eine andere Deutung als die einer Entwicklungsstörung gar nicht zu. Zum Beweise gebe ich den Fall einer Tubargravidität wieder, der in unserer Klinik operiert worden ist und in dem die schwangere Tube in überaus schöner Weise die ausgedehnte Divertikelbildung und die Faltenverschmelzung

Fig. 46.

Schnitt durch die in Fig. 45 schematisch EE $e Tube, der Linie 1 entsprechend. T. = Tubenrohr, D. = Divertikel. Die

Divertikelwand zeigt einen anderen Bau als die Tubenwand insofern, als sie eine dem Tubenlumen fehiende Lage von innerer

Längsmuskulatur (J. L. M.) zeigt. Nirgends Narbenbildungen als Reste eines ausgeheilten Abscesses. Im Lumen des Tuben-

rohres und des Divertikels ausgesprochene verschmeung der ane Falten, die keinerlei Zeichen vorausgegangener Ent- zūndung zeigen.

erkennen läßt, ohne daß irgendwelche Reste einer Entzündung nachweisbar sind, die doch mit Sicherheit nicht fehlen würden, wenn eine solche bestanden und zu so tief greifenden, weit in die Muscularis hinein vordringenden Veränderungen geführt hätte, wie die Abbildungen sie zeigen.

In diesem Falle handelt es sich um eine Patientin, die klinisch in den letzten 8 Jahren sorgfältigst beobachtet worden war. Niemals hatten bei der Zweitgraviden

Schnitt durch die in Fig. 45 schematisch dargestellte Tube, der,Linie 2 entsprechend. E AE des Divertikels vom Tuben-

lumen. G. = Grenze zwischen Tubenlumen und Divertikel, 7. = Tubenlumen, D.= Divertikel, J. L. M.= innere Längsmuskulatur,

die hier das ganze Divertikel umgibt und teilweise auch auf das Tubenlumen übergeht. Auch hier ausgedehnte Faltenverschmel- zungen. Nirgends in der Wand oder in den Falten die geringsten Zeichen vorausgegangener Entzündung.

Die Extrauteringravidität. 161

irgendwelche Krankheiten seit den Kinderjahren bestanden, vor allen Dingen nie- mals irgendwelche Unterleibsentzündungen und niemals auch das geringste Zeichen

von Fluor. Auch bei der Opera- tion wurden an der exstirpierten Tube und an den zurückge- lassenen Adnexen der rechten Seite keinerlei Zeichen einer vorausgegangenenEntzündung gefunden.

Es ist vollkommen un- denkbar, daß so ausgedehnte Veränderungen, wie sie hier nachgewiesen sind, ohne klini- sche Erscheinungen und ohne

histologisch nachweisbare Narbenbildungen entstanden

Fig. 48.

wären, wenn sie tatsächlich schnitt durch die in Fig. 45 schematisch Se Tube, de, Linie 3 ent- . . e e sprechend. 7.=Tubenlumen, D.= Divertikel, J. L. M.= innere Längsmuskula- mit einer Entzündung in Zu- E uin e? EL I kar an tine kine cl: ee nt as Diver- s el aber nach dem Tubenlumen zu als besonders kräftige Muskellage um-

sammenhang gestanden hätten gibt. Ausgedehnte Faltenverschmelzungen im Tubenlumen und im Divertikel.

und wenn man gar den in der schematischen Abbildung

Keinerlei Zeichen vorausgegangener Entzündung, weder in der Wand noch

in den Falten.

wiedergegebenen Hohlgang neben der Tube auf einen ausgeheilten Absceß zurück.

führen wollte (s. Fig. 45 —48).

Nirgends in den ganzen Präparaten haben sich auch mikroskopisch weder in

Querschnitt durch eine schwangere Tube, uterinwärts vom Sitz des Eies. 7.= Tubenlumen, D.= Divertikel, die besonders zahlreich bis an die Serosa heran ent- wickelt sind. Die Schleimhautfalten des größten Diver- tikels zeigen eine ausgesprochene deciduale Umwand- lung {= Dec.) Um das Tubenlumen herum und um die Divertikel (hier nur stellenweise) ausgesprochen eine innere Längsmuskulatur.

den Falten noch in der Tubenwand irgend- welche Reste von Narbenbildungen nach- weisen lassen.

Das gleiche gilt von einer anderen in Fig. 49 wiedergegebenen Tube. Tief in die Muscularis hinein, an manchen Stellen sogar bis an die Serosa heran, reichen hier die Divertikel, die zum Teil mächtig entwickelt sind und deren Schleimhaut teilweise eine ausgesprochene deciduale Umwandlung zeigt. Nirgends ist aber auch in dieser Tube irgend ein Zeichen einer vorausgegangenen Entzün- dung zu finden, weder in Form von Narben- bildungen um die Divertikel oder das Tuben- lumen herum, noch an den Falten des Lumens und der Divertikel. Eine entzündliche Erkran- kung der Tube, die so starke Veränderungen zur Folge gehabt hätte, müßte aber unbedingt noch andere Zeichen der vorausgegangenen Erkrankung tragen als die Divertikel selbst, wenn man diese schon auf eine Entzündung zurückführen wollte.

Nach allen diesen Beobachtungen und sehr eingehenden, sorg- fältigen anatomischen Untersuchungen scheint unsdie letzte eigentliche und häufigste Ursache für das Haftenbleiben des befruchteten Eies in

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI.

11

162 O. Pankow.

der Tube, das wir in erster Linie in den Schleimhautdivertikeln, seltener in den Tubenverschmelzungen sehen, doch hauptsächlich auf Entwick- lungsvorgängen im Eileiter und weniger auf entzündlichen Erkrankun- gen zu beruhen. Wie und wann diese Bildungen entstehen, das festzu- stellen, bedarf noch weiterer Forschungen.

Wieweit durch entzündliche Verwachsungen, Verziehungen, Verdrehungen und Abknickungen vielleicht die Strom- und Bewegungsrichtung in der Tube geändert und dadurch das Hineingeraten des befruchteten Eies in ein schon vorher vor- handenes Divertikel begünstigt werden kann, das bleibe noch dahingestellt.

Unbestritten bleibt dabei, daß entzündliche Prozesse der Tube zu Divertikel- bildungen und Faltenverschmelzungen führen können. Aus ihrem Vorhandensein allein die Diagnose einer überstandenen Entzündung der Tube zu stellen, dazu sind wir jedoch nicht berechtigt. Das dürfen wir nur dann, wenn wir Reste der vorausgegangenen Erkrankung noch nachweisen können. Da das aber in dem von uns untersuchten Material von Tubengraviditäten, besonders an der frisch geplatzten Tube, meist nicht möglich war, halten wir die Bedeutung der vorausgegangenen Entzündung in der Ätiologie der Tubargravidität für wesentlich geringer als die der nicht auf entzündlicher Grundlage entstandenen Divertikelbildungen und Falten- verschmelzungen.

Bland Sutten?? hat sich einmal dahin ausgesprochen, daß eine gesunde Tube in viel höherem Grade zum Schwangerwerden geeignet sei als eine, die früher ent- zündet war. |

Richtiger wäre es, wenn man Tuben mit Divertikelbildungen und Faltenver- schmelzungen, die nicht entzündlichen Ursprungs sind, doch nicht mehr als gesund be- zeichnen will, zu sagen: „Eine nicht entzündlich veränderte Tube gibt einen günstigeren Boden für die Implantation des befruchteten Eies ab als eine entzündlich erkrankte.“

Wir glauben darum bezüglich der Ätiologie der Tubargravidität folgende Schlüsse ziehen zu können.

1. Die Tubargravidität entsteht in der Mehrzahl der Fälle dadurch, daß das Ei in einen Schleimhautdivertikel der Muskulatur hineingelangt. Seltener ist die Ursache in den Faltenverschmelzungen zu suchen.

/ 2. Diese beiden Anomalien der Tube sind wahrscheinlich in erster Linie als Entwicklungsstörungen aufzufassen.

3. Auch durch entzündliche Erkrankungen der Tube können solche Verände- rungen bedingt sein.

4. Sofern diese Entzündungen gonorrhoischer Art waren, führen sie meistens durch Verklebung oder Verlegung des Ostium abdominale zu einem dauernden Verschluß der Tube und damit zur völligen Sterilität. Die Gonorrhöe spielt des- halb als Ursache der Eileiterschwangerschaft wahrscheinlich eine nur sehr unter- geordnete Rolle.

Die Einbettung und weitere Entwicklung des Eies in der Tube.

Die Einbettung des Eies in der Tube erfolgt ebenso wie im Uterus in der Weise, daß es sich zunächst an das Epithel der Schleimhaut des Lumens oder eines Divertikels anlegt und sich vermöge seiner histeolytischen Kraft durch die Epithel- decke hindurch in das darunter gelegene Gewebe einsenkt. Infolge der grundsätz- lichen Unterschiede im anatomischen Bau der Uterus- und Tubenschleimhaut ist aber die eigentliche Nestbildung des Eies und seine Weiterentwicklung in der Tube eine ganz andere als im Uterus.

Die Extrauteringravidität. 163

Im Uterus liegen die Dinge bekanntlich so, daß sich die bereits im Prämenstruum stark rk Schleimhaut unter dem Reiz des befruchteten Eies immer mächtiger verdickt. Die chleimhaut erfährt ihre deciduale Umwandlung, und man kann nun besonders deutlich an ihr eine dem Cavus zugewandte kompakte und eine der Muscularis zugewandte spongiöse Schicht unter- scheiden. In die kompakte Schicht der Mucosa senkt sich bei der intrauterinen Gravidität das Ei hinein und in ihr bleibt es bei seiner ganzen weiteren Entwicklung auch liegen. Niemals greift das Eibett unter normalen Verhältnissen auf die Muskulatur des Uterus über. Nur da, wo infolge vor- EUER RENT Entzündungen oder Vernarbungen (z. B. Kaiserschnittnarbe im Corpus uteri) die Schleimhaut ein anormales Verhalten zeigt, oder wo sie wie gelegentlich in den Tubenecken und vor allen Dingen in dem Isthmus uteri von Hause aus in manchen Fällen eine kümmerliche Ent- wicklung zeigt und decidual nicht so reaktionsfähig ist wie sonst, sehen wir auch, daß das Ei über die Grenze der Mucosa hinaus bis in die Muscularis hinein vordrängt.

Bei der Tube dagegen ist diese Schichtung der Schleimhaut nicht vorhanden und eine mangelnde deciduale Reaktionsfähigkeit physiologisch. Darum ist auch die Mucosa der Tube nicht im stande, gleichgültig, ob sie das Lumen oder die Divertikel auskleidet, allein das Bett für das Ei abzugeben. Die Bildung einer Decidua fehlt demgemäß auch bei der Tubenschwangerschaft in dem Eileiter fast vollkommen oder tritt nur ausnahmsweise zuweilen herdförmig, selten in ganzer Ausdehnung der Tubenschleimhaut auf. Wir selbst sahen sie einmal in einer mit zahl- reichen Divertikeln versehenen Tube in einzelnen dieser Divertikel sehr deutlich ausgebildet, während sie in den durchmusterten Schnitten des Lumens und in anderen Schnitten vollkommen fehlten. Jedenfalls ist die deciduale Reaktion der Mucosa, selbst wenn sie am Orte der Eianlagerung Columnare Einbettung (nach Kreisch). Das Ei sitzt in einer großen auftritt, niemals derart mächtig, daß sie Falte, die Tubenwand Se Gel dE E geblieben von der im stande wäre, allein das Eibett ab- zugeben. Stets durchbricht deshalb das Ovulum die Schleimhaut und senkt sich kraft seiner gewebeauflösenden Eigenschaft in die Muskulatur selbst ein. Auch in den Fällen, wo das Ei die seltenere, von Werth als „columnare“ bezeichnete Einbettung zeigt und in einem dicken Faltenstamm zur Haftung kommt, durch- bricht es die Epitheldecke und kommt in einer Stromafalte zur Entwicklung. Einen derartigen Fall von besonderer Schönheit hat Kreisch?! beschrieben, den ich hier in der Figur wiedergebe (s. Fig. 50). Er ist interessant auch deshalb, weil er in dem Durchschnitt noch eine Reihe von Schleimhautdurchschnitten erkennen läßt, so daß wir annehmen können, daß die Haftung des Eies auch hier durch das Hineingeraten in einen Gang dieser dicken Schleimhautfalten entstanden ist. Diese Art der columnaren Einbettung Werths tritt aber weit zurück hinter der ge- wöhnlichen . Einbettung innerhalb der Muscularis. Wie tief das Ovulum hierbei in die Muskulatur selbst hineingelangt, das hängt von der Art der Implantation ab. Früher nahm man an, daß sich das Ei zwischen zwei Falten an die Schleim- haut des Lumens irgendwo anlege (die intercolumnare Implantationsart) und sich nun von hier aus mehr oder minder tief in die Muscularis hineingrabe. Diese Auffassung besteht unseres Erachtens für die Mehrzahl der Fälle wohl nicht. Wir glauben vielmehr, wie schon gesagt, daß die meisten Tubargraviditäten dadurch

11*

164 O. Pankow.

entstehen, daß das Ei unter Benutzung eines Schleimhautdivertikels von vornherein in das Gebiet der Muskulatur hineingelangt und deshalb, sobald es die dünne Epithelschicht dieses Divertikels durchbrochen hat, sofort innerhalb der Muskulatur liegt. Nur dadurch, daß man das Hineinmünden des Anfangsteiles solcher Divertikel in das Eibett hinein verfolgt, kann man dann noch die ursächlichen Zusammen- hänge dieser Bildungen zur Implantation erkennen. Wir möchten deshalb bei der Tubargravidität 3 Implantationsarten unterscheiden:

1. die Divertikelimplantation,

2. die intercolumnare und

3. die columnare Implantation.

Da die Divertikel oft nur bis in die inneren Lagen der Muskulatur hinein- reichen und oft auch, wenn sie tiefer hineingehen, so eng sind, daß sie ein weiteres Vordringen des Eies verhindern, so ist es kein Wunder, daß das Ei in der Tubenwand häufig so gelegen ist, daß die Schicht, die es nach dem Tubenlumen hin begrenzt, dünner ist als die nach der Serosa zu gelegene. Mit fortschreitendem Wachstum des Eies drängt es sich dann nach dem Lumen zu weiter vor und plattet das Lumen so ab, daß es wie eine Sichel dem intramuskulären Ei aufliegt. Dabei muß gleichzeitig, um Raum für das wachsende Ei zu gewinnen und die Eihülle zu vergrößern, die Muskulatur der Tube in einem größeren Umfange zerstört ‚werden. Diese zerstörende Wirkung ist nicht etwa nur eine dem Tubenei anhaftende Eigen- schaft, sondern sie kommt auch bei der physiologischen Haftung des Eies im Uterus in gleicher Weise zur Auswirkung. Während sich hier aber diese zerstörende Tätig- keit auf die Schleimhaut beschränkt und die Muskelwand völlig intakt läßt, muß die Raumgewinnung bei dem Wachstum des Tubeneies auf Kosten der Muscularis erfolgen.

Inder Entfaltung derphysiologischenKräftedesEies am ungeeigneten Ort liegt das Verhängnis der Tubargravidität, und allein dadurch werden die Bedingungen für die klinischen Erscheinungen geschaffen, die den gewöhnlichen Ausgang der Tubargravidität bilden. Hat sich das Ei inmitten der Muskulatur eingebettet, sei es von einem Divertikel aus, sei es auch intercolumnar vom Lumen der Tube aus, so ist es nach der Serosa und nach der Mucosa der Tube hin von einer mehr oder minder dicken Gewebslage eingehüllt. Die meist dünnere innere Bedeckung wird gewöhnlich von einer dünnen Muskelplatte und der Mucosa, die äußere von einer dickeren Muskelplatte und der Serosa gebildet. Da zunächst, wie auch bei der physiologischen Haftung des Eies am Uterus, die Trophoblastschale allseitig rings um das ganze Ei herum in Wucherung gerät und die Zotten des Eies damit nach allen Seiten hin vordringen und zur Bildung des intervillösen Blutraumes und zur Eröffnung mütterlicher Gefäße führen, so wird deshalb auch die schützende Schale des Eies nach allen Seiten hin mehr oder minder ausgiebig zerstört. Gerade in der lumenwärts gelegenen dünneren Wandlage findet man dann an Stelle der ursprünglichen Wandbestandteile oft nur noch ein nekro- tisches, fibrinös entartetes Gewebe, das bei weiterem Wachstum des Eies den Dehnungs- ansprüchen nicht genügt und deshalb zerreißt. Diesen Vorgang der Zerreißung des nach dem Tubenlumen hin gelegenen Anteils der Fruchtschale hat man als den inneren Fruchtkapselaufbruch bezeichnet. Man versteht also darunter das, was klinisch früher unter dem Namen tubarer Abort bekannt war. Sitzt das Ei in dem engen, nach dem Uterus zu gelegenen Teil der Pars isthmica der Tube, dann sieht man nicht selten, wie die in das enge Lumen durchbrechenden Zotten sich in die gegen- überliegende Wand des Lumens wieder einsenken und wie so allmählich das ganze

Die Extrauteringravidität. 165

enge Tubenlumen mit in das Eibett hineingezogen wird. Man kann dann, wenn man ein solches Eibett in Serienschnitten untersucht, sehen, wie das Schleimhautrohr vom abdominellen Ende her frei in das Eibett mündet, im Gebiete des Eibettes unterbrochen ist und uterinwärts wieder wohlerhalten weiterverläuft.

Ebenso wie nach innen wird aber auch bei dem allseitigen Vordringen der Zotten und fötalen Zellen die Tubenwand nach den Seiten und der Serosa hin

Fig. 51.

Querschnitt durch eine schwangere Tube im Bereich des Eibettes (E.). Das Tubenlumen (7.) ist plattgedrückt.

zerstört. Macht man Längs- und Querschnitte durch eine solche Tube, so sieht man, wie das Ei sich ganz oder größtenteils außerhalb des meist plattgedrückten Tuben- lumens in der Muskulatur entwickelt hat (s. Fig. 5l und 52). In seltenen Fällen kann sich das Ei sogar circulär innerhalb der Muskulatur vollkommen um das Tuben- lumen heraus ausdehnen und so buchstäblich die Mucosa mit einer inneren Muskel- schicht von der Serosa mit der äußeren Muskelschicht abspalten (s. Fig. 53). Dabei

Fig. 52.

Längsschnitt durch eine schwangere Tube (schematisch) E.- E,.=Eibett, das ganz außerhalb des Tubenlumens 7.—-T.; in der Wand der Tube gelegen ist.

dringen die Zotten und fötalen Zellen, wie gesagt, nicht bloß nach dem Lumen, sondern auch nach der Serosa zu vor. Aschoff hat darauf hingewiesen, wie bei diesem Vordringen der Zotten die Serosa vielfach durchbrochen und wie der Bauch- fellüberzug mit allerfeinster Perforation siebartig durchlöchert werden kann (sog. miliare Perforationen). Diese Durchbruchstellen sind aber so fein, daß sie zunächst klinische Erscheinungen gar nicht hervorzurufen brauchen, umsoweniger, als sich infolge des Reizes der vordringenden Zotten Ausschwitzungen und fibrinöse Auf- lagerungen bilden, die die so entstehenden feinen Lücken gewissermaßen prophy-

166 O. Pankow.

laktisch wieder zudecken. Diese Veränderungen der Serosa, mit denen durch den Reiz der vordringenden Zotten nicht selten auch Einstülpungen und cystische Erwei- terungen des Serosaepithels in die Tubenwand hinein verbunden sind, wurden früher,

Fig. 53.

Querschnitt durch die schwangere Tube im Bereich des Eibettes (nach Füth). Das Ei (E.) hat sich so unterhalb der Muskulatur um das Tubenlumen (T.) herum entwickelt, daß das Tubenlumen mit einer inneren Muskellage von der äußeren Muskellage und der Serosa wie abgesplittert erscheint.

worauf wir oben schon hingedeutet haben, nicht selten als sichere Zeichen einer vorausgegangenen Entzündung gedeutet. Sie haben aber damit gar nichts zu tun, sondern sind erst infolge der Reizwirkung des implantierten Eies in der Tube ent-

Fig. 54. Fig. 55.

Äußerer Fruchtkapselaufbruch. Aus dem Riß ragen Blutkoagula (B.) und Zotten (Z.) heraus.

standen. Diese vielfachen sog. miliaren Perforationen, die man auch als ver- borgene Ruptur bezeichnet hat und die auch in der inneren Fruchtkapsel in der gleichen Weise gefunden werden, haben eine sehr große klinische Bedeu- be Dome ett äm, äu (UNE. Sie sad es die ert de Haupt- i ' “in die Bauchhöhle hineinhängen. Ingung für den Zustand bilden, den

wir als den äußeren Fruchtkapselaufbruch bezeichnen (s. Fig. 54 und 55). Die letzte auslösende Ursache für die ausgedehnten Zerreißungen, die besonders bei dem äußeren Fruchtkapselaufbruch, der sog. Tubenruptur, so stürmisch in die Erscheinung treten, ist ja häufig in anderen

Die Extrauteringravidität. 167

Dingen zu suchen. Wird z. B. durch starkes Pressen bei der Defäkation oder bei schwerer Arbeit der Blutdruck in dem zarten intervillösen Raume oder in den bereits schwer veränderten Gefäßen der Tubenwand erhöht, oder eröffnen die vordringenden Zotten ein größeres Gefäß, und kommt es dadurch zu einer plötz- lichen starken Blutung in das Ei hinein, so können diese Dinge ganz unerwartet die Eikapsel in größerem Umfange zersprengen. Die eigentliche tiefere Ursache, die die Vorbedingung für solche katastrophalen Rißblutungen schafft, liegt aber in der Art der Implantation und im Wachstum desEies, dessen Zellelemente die Muskelwand in ausgiebiger Weise vorher zerstört haben. Wie schon erwähnt, kann dabei die Fruchtkapsel nach innen, nach dem Tubenlumen, oder nach außen, nach der freien Bauchhöhle zu, zerreißen, und es kann zum inneren Fruchtkapselaufbruch, Tubarabort, oder zum äußeren Fruchtkapselaufbruch, zur Tuben- ruptur, kommen.

In jedem Falle ist der Fruchtkapselaufbruch, ob er nun nach innen (Tubarabort) oder nach außen (Tubenruptur) erfolgt, mit Blutungen verbunden. Die Art, wie diese Blutungen verlaufen und klinisch in die Erscheinung treten, ist aber gewöhn- lich bei beiden Arten eine sehr verschiedene. Man kann sagen, daß der innere Fruchtkapselaufbruch meist mit leichteren und oft über Wochen sich ausdehnenden Blutabgängen, die Ruptur dagegen gewöhnlich mit einer heftigen stürmischen Blutung verbunden ist. Die Ursache für diese Verschiedenheiten liegt in den anato- mischen Verhältnissen. Der bei der Implantation des Eies in der Tube, ebenso wie im Uterus gebildete intervillöse Raum tritt zur weiteren Ernährung des Eies mit der mütterlichen Blutbahn in Verbindung. Die Ausbildung. der mütterlichen Gefäße ist nun in den submukös gelegenen Schichten der Tubenmuskulatur und in der Schleimhaut, die bei dem inneren Fruchtkapselaufbruch durchbrochen werden, eine wesentlich geringere als. in den äußeren Schichten der Tubenwand, die die größeren Gefäße führen. Wird nun die innere Kapsel allmählich durch die vordringenden Zotten nach dem Tubenlumen hin zerstört, so kommt es meist zunächst nur zu geringfügigem Blutaustritt. Das Blut kann dabei zum Teil durch den Uterus nach außen, zum Teil durch das abdominelle Tubenende in die Bauchhöhle fließen und zum Teil kann es auch im Tubenlumen liegen bleiben und gerinnen. Dann bildet es, besonders wenn es noch in festere Verbindung mit der Schleimhaut tritt, gewisser- maßen einen Pfropf, der die Durchbruchstelle abdecken hilft. Dazu kommt, daß die gegenüberliegende Wand der Tube einen Gegendruck auf die ins Lumen vorspringende, der Zerreißung am meisten ausgesetzte Eikapsel ausübt und dadurch ebenfalls einen gewissen Schutz bildet. Dementsprechend sehen wir auch, daß sich die Blutungen bei dem inneren Fruchtkapselaufbruch meist wochenlang mehr oder minder stark wiederholen und so allmählich zu schubweisen Blutungen nach außen oder innen führen. Kommt es dabei nun durch Eröffnung größerer und besonders auch arterieller Gefäße neben der Zerreißung des intervillösen Raumes zu einem stärkeren Blut- erguß in die Eihöhle hinein, so kann die plötzliche Drucksteigerung die nach dem Tubenlumen hin gelegene Eikapsel in größerem Umfange sprengen. Hierbei kann dann das Ei teilweise oder ganz aus seinem Bett herausgerissen werden und in das Tubenlumen gelangen, wenn es nicht sofort in die Bauchhöhle gedrängt wird. Da aber die Zotten bei der Tubarimplantation des Eies tief in die Muskulatur der Wand vordringen, so ist auch in solchen Fällen die Ausstoßung so gut wie niemals eine vollständige, sondern es bleiben auch in solchen Fällen immer noch abgerissene Zottenreste in der Tubenwand zurück, durch deren histologischen Nachweis man oft noch lange danach die alte Haftstelle des Eies in der Tube erkennen kann. Für

168 O. Pankow.

gewöhnlich aber wird das gelöste Ei nicht sofort in die Bauchhöhle hinaus- geschleudert, sondern es bleibt zunächst ganz oder teilweise im Tubenlumen hängen, während die Eikapsel selbst durch ein Hämatom ausgefüllt wird. Um die abgelösten Eiteile herum lagert sich dann meist ebenfalls das Blut ab und hüllt so allmählich das Ei vollkommen ein, das schließlich in einer aus Blutgerinnsel und Fibrin gebildeten Schale liegt. Durch eine derartige Umbildung wird dann die schwangere Tube allmählich zu einem deutlich tastbaren Tumor umgewandelt (s. Fig. 56). Man hat dieses Häma- tom, in dessen Centrum man dann beim Durch- schneiden nicht selten das abgestorbene, nun teilweise schon zu grunde gegangene Ei finden kann, als „Blutmole“ bezeichnet. Wenn sich

diese Blutmole allmählich eindickt und den Schwangere ee rau en Blutfarbstoff zum Teil verloren hat, so bekommt

sieein mehrrosafarbiges Aussehen und wird dann als „Fleischmole“ bezeichnet. Eine solche Blut- oder Fleischmole schließt jedoch das Tubenlumen fast niemals vollständig ab, vielmehr kann sich neben ihr das Blut weiterhin

Fig. 56.

Fig. 57.

Hämatocele retrouterina, U.= Uterus, l. T.=linke schwangere Tube, /. Ov.= linkes Ovarium, r. T.— rechte Tube, r. Ov.= rechtes Ovarium, #.= Hämatocelensack, der durch zahlreiche Adhäsionen mit der schwangeren Tube, dem linken Ovarium, Uterus und Därmen verklebt ist. (Nach Döderlein-Krönig: Operative Gynäkologie.)

nach außen und innen ergießen. Infolge dieser andauernden Blutungsnachschübe in die Bauchhöhle hinein bildet sich eine mehr oder minder große Blutansammlung, die ge- wöhnlich in der tiefsten Peritonealaussackung zwischen Uterus und Rectum, im Douglas- schen Raume gelegen ist und als Haematocele retrouterina bezeichnet wird (Fig. 57).

Die Extrauteringravidität. 169

In seltenen Fällen, bedingt durch die Lage der schwangeren Tube, findet sich diese Blutung auch in der flachen Peritonealaussackung vor dem Uterus (Hameatocele anteute- rina) und noch seltener um die Tube herum (Haematocele peritubaria). Wodurch es kommt, daß das anfangs doch nur in kleinen Schüben ausgetretene Blut nicht sofort vom Peritoneum resorbiert wird, wie man das bei anderen intraabdominellen Blutungen und bei experimentell und therapeutisch eingeführtem Blut beobachtet hat, ist noch ungeklärt. Ob die Ursache darin zu suchen ist, daß das Blut, das viel- leicht auch mit Gewebsfetzen untermischt ist, teilweise schon in geronnenem Zustande in die Bauchhöhle hineingelangt, oder ob es daran liegt, daß das Douglasperitoneum gegenüber dem Peritoneum der oberen Bauchhöhlenabschnitte eine geringere Resorptionsfähigkeit besitzt, das bleibe dahingestellt. Über dieser im Douglas erfolgten Blutansammlung bildet sich dann gewöhnlich nach Werth zu- meist von dem Bauchfell der schwangeren Tube aus eine Abdachung, die die Blutansammlung mehr oder minder fest von der freien Bauchhöhle abschließt und in die das abdominelle Ende der schwangeren Tube selbst hineintaucht. Diese Abdachung der Hämatocele kann aber auch dadurch erfolgen, daß sich Dünndarm, Dickarm oder Netz dem Bluterguß auflegen und in feste Verbindung untereinander und mit ihnen treten und so einen vollkommen festen Abschluß nach oben bilden. In der Wand dieser abdeckenden Organe und ebenso auch an der Hinterwand des Uterus, der Scheide, der Ligamenta lata, in der Vorderwand des Rectums und an der Auskleidung der seitlichen Beckenwände bildet sich rings um den Erguß herum eine ausgesprochene, oft sehr derbe und mit dem Organ festverwachsene Kapsel, die manchmal nur mit Mühe und oft gar nicht von ihnen abzuziehen ist. Dieses nach oben hin abschließende Dach bildet einen verhältnismäßig großen Schutz bei stärkeren Blutungen in den Hämatocelensack hinein. Es kann allerdings auch vorkommen, daß bei einer besonders starken Nachblutung das abschließende Dach zersprengt wird und dann eine schwere, selbst tödliche Blutung in die freie Bauchhöhle hinein erfolgt. In solchen Fällen kann dann klinisch das Bild des äußeren Fruchtkapselaufbruches, der Tubenruptur, ganz unerwartet zu dem des inneren Fruchtkapselaufbruches, des Tubarabortes, hinzutreten. Gleichzeitig muß aber auch betont werden, daß die Entstehung einer großen Hämatocele durch inneren Fruchtkapselaufbruch nicht davor schützt, daß die weiter wachsenden Zotten die Serosa nach außen hin durchbrechen und daß so auch anatomisch eine Tuben- ruptur zu dem bereits erfolgten tubaren Abort hinzukommen kann.

Eine besondere Form der Hämatocelenbildung, die noch nicht erwähnt worden ist, ist die intraligamentäre Hämatocele, bei der die Blutansammlung zwischen den Blättern des Ligamentum latum zu finden ist. Bei ihrer Entstehung kann es sich einmal darum handeln, daß der äußere Fruchtkapselaufbruch, d. h. die ZerreißBung der äußeren Wandschichten, an der nicht mehr von der Serosa überkleideten Stelle der Tubenbasis erfolgt und nun das Blut in das lockere Gewebe der Mesosalpinx hineintritt, die Blätter auseinanderdrängt und zu einer mehr oder minder großen Blutansammlung führt. Es kann die Blutung aber auch dadurch entstehen, daß die Zotten bei ihrem Vordringen die Grenzen der Tube überschreiten, in die Mesosal- pinx hineingelangen und die hier liegenden Gefäße arrodieren und dadurch den großen intraligamentären Bluterguß herbeiführen.

Anders wie bei dem inneren ist dagegen der Hergang gewöhnlich bei dem äußeren Fruchtkapselaufbruch, obwohl die eigentliche Ursache die Zerstörung der die Eiskapsel nach der Bauchhöhle zu umhüllenden Muskulatur und Serosa durch die fötalen Zellen in ganz gleicher Weise erfolgt wie die Zerstörung der inneren

170 O. Pankow.

Fruchtkapsel. Wir erwähnten bereits, wie durch das Vordringen der Zotten die Serosa oft siebartig durchlöchert wird und wie sich unter dem Reiz der vordringen- den fötalen Zellen das Peritoneum verdickt und durch fibrinöse Ablagerungen über dem Eibett verstärkt hat.. An der Außenseite der Tube fehlt jedoch der Gegendruck der gegenüberliegenden Tubenwand wie bei dem inneren Fruchtkapselaufbruch und festhaftender Blutgerinnsel, von deren schützender Wirkung beim inneren Fruchtkapselaufbruch wir oben gesprochen haben. Frei und ungeschützt liegt viel- mehr die Serosa da. Ist nun die äußere Deckschicht durch die zerstörende Tätig- keit der Zotten schon weitgehend geschwächt und tritt dann eine plötzliche Drucksteigerung in der Eihöhle ein, so wird die äußere Kapsel für gewöhnlich weitgehend aufgesprengt und das Blut ergießt sich aus den größeren zerrissenen Gefäßen frei in die Bauchhöhle hinein. Hierbei wird die Frucht und oft auch das Ei mit aus seinem Bett herausgerissen und teilweise oder vollständig in die Bauchhöhle hineingetrieben. Eine solche plötzliche Drucksteigerung kann allein durch Arrosion eines größeren Gefäßes und die dadurch erfolgte Blutung in das Eibett bedingt sein. Die Zerreißung der Gefäße kann aber auch durch Er- höhung des intraabdominellen Druckes bei starken körperlichen Anstrengungen, bei erschwerter Defäkation oder durch Druck oder Schlag auf den Leib entstehen. Alle diese Dinge können also gelegentlich die auslösende Ursache des äußeren Fruchtkapselaufbruches bilden. Die Hauptvorbedingung aber das sei noch einmal ausdrücklich betont wird durch die zerstörende Tätigkeit des Eies selbst geschaffen, die schon vorher die Muskulatur und die Serosa in weitgehendem Maße zerfressen hatte. Es ist deshalb auch in manchen Fällen der äußere Fruchtkapselaufbruch an mehreren Stellen zugleich beobachtet worden.

Ebenso aber, wie der innere Fruchtkapselaufbruch gelegentlich unter dem Bilde der Tubenruptur, so kann ausnahmsweise auch der äußere Fruchtkapselauf- bruch unter dem Bilde des Tubarabortes verlaufen. Wenn z. B. bei dem äußeren Fruchtkapselaufbruch nicht gerade ein großes Gefäß verletzt ist, so können lang- same, schleichende Blutaustritte die Folge sein und die Blutmassen ‚können sich dann um das Tubenrohr herum ansammeln und so zur Entstehung der bereits erwähnten seltenen Hämatocele peritubaria führen. Im übrigen ist die Schwere der Blutung nicht abhängig von der Größe des Loches, das bei der Ruptur gesetzt wird, sondern davon, ob die Ruptur durch Arrodierung eines größeren Gefäßes erfolgt ist oder ob beim Platzen der Wand gerade ein größerer Ast getroffen ist.

Die bisher eingehend beschriebenen Vorgänge stellen den gewöhnlichen Aus- gang der meist in der 6.— 12. Woche zur Unterbrechung gelangenden Tubargravi- dität dar. Im allgemeinen erfolgt die Beendigung der Gravidität um so früher, je näher das Ei in dem engeren, isthmischen Teil der Tube der Uteruskante zu ge- legen ist. Doch sind auch andere Ablaufmöglichkeiten gegeben. Zunächst einmal kann eine Tubargravidität schon verhältnismäßig früh, und ohne daß sich die bisher beschriebenen weitgehenden Veränderungen bilden, zur Spontanausheilung kommen. Eine Reihe von Autoren haben über Befunde berichtet, die sie gelegentlich anderer Operationen als Zufallsbefunde erheben konnten, und die ganz einwandfrei die Aus- heilung einer Tubargravidität erkennen ließen. Wir selbst fanden z. B. bei der Operation eines äußeren Fruchtkapselaufbruches in der anderen Tube einen hasel- nußgroßen Knoten, der ganz wie eine junge Schwangerschaft aussah und zur Ent- fernung der Tube Veranlassung gab. Die histologische Untersuchung ließ in der Tat Zotten erkennen, die aber schon abgestorben und mehr oder minder vollständig verkalkt waren, während von der Frucht selbst nichts mehr zu finden war. Solche

Die Extrauteringravidität. 171

Spontanausheilungen können dann entstehen, wenn schon in einem sehr frühen Entwicklungsstadium des Eies eine stärkere Blutung in die Eihöhle hinein erfolgt war, die zwar das Ei aus seinem Verbande mit dem Mutterboden losgelöst und zum Absterben gebracht, aber nicht ausgereicht hatte, die noch verhältnismäßig wenig geschwächte Fruchtkapsel nach innen oder nach außen hin zu durchbrechen. Wie häufig eine Tubargravidität auf diese Weise beendet werden kann, ist auch nicht einmal schätzungsweise anzugeben. Vielleicht aber finden doch mehr Extrauteringraviditäten auf diese Weise ihr Ende, als man bei der Spär- lichkeit derart veröffentlichter Fälle anzunehmen berechtigt ist.

Ein häufigerer Ausgang der Tubenschwangerschaft als dieser ist der, daß die Gravidität nicht in der 6.— 12. Woche unterbrochen wird, sondern einen längeren Bestand hat und selbst bis zum normalen Ende der Schwangerschaft ausgetragen werden kann. Mitteilungen über Tubargraviditäten mit lebenden Früchten am Ende der Zeit sind durchaus keine Seltenheit. Wird der Zustand richtig erkannt, so können dann auch lebende und lebensfähige Kinder durch Operation geboren werden. Bei solchem längeren Fortbestehen der Tubargravidität sind zwei Möglichkeiten gegeben. Entweder liegt die Frucht nach wie vor in dem geschlossenen Tubensack, oder sie ist durch das abdominelle Ende der Tube oder durch eine Usurstelle der Wand in die Bauchhöhle ausgetreten. Wird die Tubenschwangerschaft überhaupt bis in die späteren Monate oder gar bis ans Ende ausgetragen, dann handelt es sich meistens um eine Implantation des Eies in dem ampullären Teil der Tube. Werth sieht die Ursache dafür in dem Umstand, „daß die größere Weite dieses Tubenabschnittes allein die Möglichkeit bietet, daß der Eikörper sich in das Lumen hinein entwickelt und das Tubenrohr dem steigenden Raumbedürfnis entsprechend allseitig erweitert“. Demgegenüber muß jedoch betont werden, daß es bisher noch unbewiesen ist, daß in solchen Fällen stets oder doch nur meistens eine Hinein- entwicklung der Frucht in das Tubenlumen erfolgt ist. Es ist durchaus möglich und dieser Punkt müßte in solchen Fällen noch genauer erforscht werden —, daß auch trotz ausgetragener Schwangerschaft das Ei entsprechend seiner Entwicklung in einem Divertikel außerhalb des Lumens der Tube liegen bleibt und daß dieses irgendwo bei genauer Durchsicht der Präparate als feiner Spalt neben der Eihöhle gefunden wird. Dann aber sind auch im isthmischen Teil der Tube Schwanger- schaften in späteren Monaten und selbst ausgetragene Öraviditäten beobachtet worden. Immerhin besteht die Tatsache, daß ausgetragene Tubargraviditäten weit häufiger im ampullären als im isthmischen Teil der Tube ihren Sitz haben. Sowohl im ampullären wie im isthmischen Teil der Tube sind sie indessen nur denkbar, wenn zu der rein mechanischen Dehnung der Wand durch das wachsende Ei ein echtes Wachstum der Muskulatur hinzukommt. Das ist auch tatsächlich der Fall, und ohne das würde die dünne Tubenwand nicht im stande sein, der ungeheuren Dehnung standzuhalten, die durch das Wachstum der Frucht bis ans Ende der Schwangerschaft bedingt ist. Warum nun in den meisten Fällen selbst in dem geräumigen und besser dehnungsfähigen ampullären Teil der Tube die Gravidität doch für gewöhnlich durch inneren oder äußeren Fruchtkapselaufbruch in den ersten Monaten unterbrochen wird und warum andererseits selbst in dem schlecht dehnungsfähigen und engen Isthmus gelegentlich eine Gravidität unter Beibehaltung der Tube als Eisack ausgetragen werden kann, das ist noch nicht geklärt. Sehr beachtenswerte Befunde zur Klärung dieser Dinge hat Lichtenstein? gegeben. Er konnte zwei Fälle von Tubargravidität mit ausgetragener Frucht beobachten, bei denen jedesmal die Entwicklung der Placenta nach der Mesosalpinx hin erfolgt

172 O. Pankow.

war. Er ließ nun aus der Literatur die Fälle von Tubargravidität aus der zweiten Hälfte der Schwangerschaft zusammenstellen und fand die gleiche Implantationsart der Placenta nach der Mesosalpinx zu in 90% aller Fälle. Auch Lichtenstein betont die Wichtigkeit der histeolytischen Wirkung der fötalen Zellen für die Ent- stehung der inneren und äußeren Fruchtkapselaufbrüche. Er meint aber, daß die Frage, wann und wo diese Ereignisse erfolgten, im wesentlichen von der Art und dem Ort der Placentarbildung in der Tube abhängen.

Denkt man sich das Tubenrohr, wie es in dem beigegebenen Schema zu sehen ist (s. Fig. 58 und 59), in 4 Quadranten eingeteilt, von denen der eine nach der Mesosalpinx, der andere nach dem entgegengesetzten Teil der Tube, die beiden anderen nach den Seiten gerichtet sind, so kann man sich das Ei in jedem der- . selben entwickelt vorstellen. Hierbei sind nun jedesmal zwei Möglichkeiten gegeben. Die Entwicklung der Placenta kann zentripetal (s. Fig.58) oder centrifugal (s. Fig. 59)

Fig. 58.

$ e un e e rm mm e mm mm mm

lôn. lr: M. Lon,

lr M Zentripetale Implantation des Eies in der Zentrifugale Implantation des Eies in der Tube (nach Lichtenstein). U. = Ute- Tube (nach Lichtenstein). U. = Ute- rus, /.z = Ligamentum rotundum, M. = rus, /.r.= Ligamentum rotundum, M. = Mesosalpinx, 4. O p.= Ligamentum Mesosalpinx; / O.p.=Ligamentum ovarii ovarii proprium, 7. = Tubenlumen. proprium, 7. =Tubenlumen, b J.=

basiotrope Implantation.

gerichtet sein. In allen Fällen von zentripetaler Entwicklung der Placenta, meint Lichtenstein, sei die Neigung zum inneren Fruchtkapselaufbruch und damit zum tubaren Abort groß. Wenn es nicht dazu kommt, sondern sich die Placenta um das Lumen herum oder durch das Lumen hindurch, ohne daß es dabei zum Tubar- abort kommt, in die gegenüberliegende Seite hin entwickelt, so sei die Einnistung in dem oberen Quadranten am günstigsten, weil sich die Placenta dann nach der Mesosalpinx hin entwickeln und hier reichlich Raum zur weiteren Entfaltung finden könne. Entwickelt sich die Placenta zentrifugal, so sei die Ansiedlung im unteren Quadranten nach der Mesosalpinx, also nach der Basis der Tube, am günstigsten. Diese Art der Entwicklung, dieLichtenstein als die basiotropelmplantation bezeichnete, (Fig.59 b.J.) ist es nun, die er in 90% der Fälle von langer oder ausgetragener Gravidität nachweisen konnte. Es wird weiterer Nachprüfun- gen bedürfen, um festzustellen, ob diese Erklärung Lichtensteins zu Recht besteht. Zu Bedenken hinsichtlich der Lichtensteinschen Behauptung könnte vielleicht der Punkt Veranlassung geben, daß im unteren Quadranten die Gefäßentwicklung am größten ist und daß gerade die Arrosion solcher Gefäße zu Blutungen und

Die Extrauteringravidität. 173

zur frühzeitigen Beendigung der Schwangerschaft Veranlassung geben könnte. Andererseits aber läßt sich auch nicht bestreiten, daß gerade die Anwesenheit größerer Gefäße die Bildung des intervillösen Raumes erleichtert und dadurch sehr günstige Bedingungen für die weitere Entwicklung der Frucht bietet. Jedenfalls ist es, wie gesagt, bemerkenswert, daß Lichtenstein aus den Fällen der Literatur in 00% eine derartige basiotrope Implantation nachweisen konnte.

Das Verhalten des Fruchtsackes zu dem Uterus ist in solchen Fällen weiter bestehender Tubenschwangerschaft ein verschiedenes. Bleibt die Frucht allseitig von der Tube umgrenzt, so schiebt sich der vergrößerte Fruchtsack in die freie Bauch- höhle hinauf und hängt verhältnismäßig schmal gestielt am Uterus, der durch ihn nach unten und nach der entgegengesetzten Seite verdrängt wird. Hat die Placenta- tion dagegen bei der basiotropen Haftung auf die Mesosalpinx selbst übergegriffen, sich tiefer in sie hineingesenkt und die Blätter des Ligamentum latum stark aus- einandergedrängt, so kann sich auch der untere Eipol in das Ligamentum latum hineinschieben und dem Uterus breit anliegen. In solchen Fällen wird die Gebär- mutter dann für gewöhnlich mehr nach vorn und nach oben verdrängt.

Häufig bildet aber nicht die Tube allein das Eibett, an dessen Bildung viel- mehr die freie Bauchhöhle mit beteiligt ist. Hierbei kann der Hergang für eine derartige Entwicklung so sein, daß sich das Ei von vornherein auf der Fimbria ovarica oder im Pavillon der Tube sehr nahe am Ostium abdominale einnistet und sich nun schon frühzeitig unter Verschiebung des dünnen, nach der Schleimhaut zu gelegenen Kapselteiles in die Bauchhöhle hinein entwickelt. Der Hergang kann aber auch so sein, daß das Ei zunächst irgendwo in der Tubenwand allseitig von der Tube umschlossen gelegen hat und daß dann nach ZerreiBung der Kapsel die Frucht durch die Rißstelle hindurch in die Bauchhöhle hineingelangt. Das setzt natürlich voraus, daß es sich dabei nicht um ausgedehnte Zerreißungen mit stürmi- schen Blutungen handelt, sondern um schleichend eintretende. Zersprengung der Kapsel. Gelegentlich machen die Kranken auch Angaben über Schmerzen und Blut- abgänge, die auf den Zeitpunkt des erfolgten Austritts der Frucht hinweisen. Gelegentlich aber ist dieser auch völlig symptomlos erfolgt.

Durchbricht die Frucht die sie schützende Hülle, die in manchen Fällen, z. B. beim Sitz des Eies auf der Fimbria ovarica oder im Eingang in die Ampulle, nur eine sehr dünne ist, so tritt sie in den Eihäuten, oder wenn auch diese gleichzeitig mit zerreißen, vollständig ohne Bedeckung in die Bauchhöhle aus. Bekommt man sie bald danach bei einem operativen Eingriff zu Gesicht, so kann man sie voll- ständig nackt zwischen den Därmen in der Bauchhöhle liegend finden. Wird die Bauchhöhle erst einige Zeit nach erfolgtem Durchbruch eröffnet, so ist die Frucht nicht selten in eine Membran eingehüllt, die man früher ohne weiteres als Eihäute gedeutet hat. Zweifellos handelt es sich aber in vielen solcher Fälle nicht um die Eihäute, sondern um eine sekundäre Membranbildung, die erst durch den perito- nealen Reiz der ausgetretenen Frucht selbst in der Bauchhöhle entstanden ist. Dafür spricht jedenfalls die Tatsache, daß man zuweilen zwischen diesen Membranen noch echte Eihautfetzen gefunden hat, während die Reste der Eihäute in der Riß- stelle der Tube in geschrumpftem Zustande nachgewiesen werden konnten. Ist der Austritt der Frucht in die Bauchhöhle hinein erfolgt, ein Ereignis, das gewöhnlich schon in der ersten Hälfe der Gravidität eintritt, dann zieht sich die überdehnte Tube zusammen und verkleinert damit die Rißstelle und das Placentarbett oft so stark, daß man später die Austrittsstelle an der Tubenwand nur noch als einen schmalen Spalt erkennt, der in eine kleine geschrumpfte Höhle hineinführt, die von

174 O. Pankow.

der Placenta ausgefüllt wird. In anderen Fällen findet man jedoch auch die Placenta im Abdomen liegen und durch feste Verwachsungen mit den Organen der Bauch- höhle verbunden. Es ist dann manchmal recht schwer zu entscheiden, ob diese Ver- bindung wirklich eine Implantation darstellt, ob es sich also um eine echte primäre . Bauchschwangerschaft handelt, oder ob die Placenta nur sekundär mit dem Organ verklebt ist. Wird das Ei in toto aus der Rupturstelle herausgerissen und aus seiner Trophoblastschale gelöst, so ist nicht anzunehmen, daß es noch implantationsfähig in der Bauchhöhle bleibt. Feste Verwachsungen, die man in solchen Fällen auch an der Placenta gefunden hat, sind dann wohl ebenso wie die schwartigen Kapsel- bildungen bei Hämatocelen als peritoneale Reizerscheinungen aufzufassen. An eine erneute Implantation des Eies auf dem Bauchfell mit der Möglichkeit der Weiter- ` entwicklung der Frucht ist nur dann zu rechnen, wenn bei einem schleichend auf- tretenden Fruchtkapselaufbruch zunächst nur Teile der Placenta aus dem ursprünglichen Bett heraustreten, während noch ein genügender Rest in dem alten Fruchtbett haften bleibt, der im stande ist, die Ernährung und Weiterentwicklung der Frucht zu gewährleisten. Wird dann bei weiterem Wachstum, nachdem nun auch der in der Bauchhöhle zur Haftung gekommene Teil der Placenta zur Erhaltung der Frucht mit beiträgt, der Abschnitt der Tube, in dem das Ei sich eingebettet hat, durch Ausziehung oder Torsion von dem übrigen Teil des Eileiters abgeschnürt, wie das tatsächlich beobachtet ist, so kann das Ei tatsächlich, obwohl es ursprünglich in der Tube gelegen hat, bei der Operation völlig isoliert von den Adnexen in der Bauch- höhle gefunden werden und tatsächlich den Eindruck eines primär auf dem Peritoneum implantierten Eies machen. |

Stirbt, wie häufig, die ausgetretene Frucht oder das ganze Ei ab, so kann ihr Schicksal ein verschiedenes sein. War die Frucht nackt in den Eihüllen vor dem dritten Monat ausgestoßen, so geht sie meist rasch dem Zerfall entgegen und verschwindet bald restlos aus der Bauchhöhle. Je älter die Schwangerschaft war, je fester das Skelet der Frucht und seine äußere Hülle, umso leichter kann die völlige Auf- saugung ausbleiben. Wie bei der intrauterin abgestorbenen, tritt auch bei der extrauterinen Frucht eine Maceration ein. Infolge der Verklebung der ausgestoßenen Frucht oder der Eihüllen mit den Nachbarorganen kann dann durch Überwanderung von Darmkeimen, aber wohl auch durch Verschleppung von Bakterien auf dem Wege der Blutbahn eine Infektion und Verjauchung eintreten. In günstigen Fällen kann dann der Herd nach außen, nach dem Darm, in die Blase oder nach der Scheide durchbrechen und es sind in solchen Fällen stückweise die Skeletteile ent- leert und so Spontanheilungen beobachtet worden. Bricht die Entzündung in die Bauchhöhle durch, so geht die Frau an Peritonitis zu grunde.

Treten Entzündungen oder Verjauchungen des Eies nicht ein, so trocknet die Frucht allmählich ein, mumifiziert und es kann schließlich zu Kalkablagerungen auf den Eihäuten oder der Frucht selbst und damit zu Bildungen der sog. Stein- kinder, Lithopädien, kommen. Küchenmeister*? hat drei Arten der Verkalkung unterschieden:

1. Verkalkt nur die die Frucht umhüllende Schicht, bleibt der Foetus dagegen frei davon und liegt frei in der Schale, so spricht er von einem Lithokelyphos.

2. Greift die Verkalkung auf den mit der Fruchthülle verwachsenen Foetus über, so bezeichnet er das als Lithokelyphopädion.

3. Verkalkt die frei in der Bauchhöhle liegende Frucht selbst, indem die Kalk- ablagerungen mit der Vernix caseosa als Grundlage den schrumpfenden Foetus wie eine Kruste umhüllen, so spricht er von einem echten Lithopädion.

Die Extrauteringravidität. 175

Am häufigsten von diesen dreien ist die zweite Form, bei der Kalkablagerungen der Eihüllen auf die Frucht übergreifen. Die Verkalkung ist nur dadurch erklärlich, daß die Kalksalze aus der mütterlichen Blutbahn an Ort und Stelle abgelagert werden. In der Kalkschale findet man manchmal nur die nackten Knochen. Es sind aber auch Fälle beobachtet worden, bei denen die Skeletteile noch mehr oder weniger von Weichteilen umhüllt werden. Derartige Lithopädien in weiterem Sinne sind verhältnismäßig recht oft als Ausgang einer Ovarialschwangerschaft beobachtet worden. Sie brauchen die Trägerinnen gar nicht zu belästigen und sind gelegentlich jahr- zehntelang bis zum Tode von den Kranken getragen worden. Interessant ist, daß ganz selten sogar trotz des Vorhandenseins eines solchen Lithopädions noch eine normale Schwangerschaft eingetreten und ausgetragen ist.

Erwähnt sei schließlich noch, daß man Veränderungen, die man bei Intrauterin- schwangerschaften beobachten kann, auch bei der extrauterinen findet, nämlich die Bildung von Blasenmolen und schließlich auch die Entstehung eines Chorionepithelioms.

Haben wir bisher nur von den häufigsten Arten der Tubargravidität, von der Einnistung des Eies im ampullären und isthmischen Teil der Tube, gesprochen, so. müssen wir jetzt noch einige. seltenere Arten erwähnen.

Die interstitielle Tubenschwangerschaft.

Von einer interstitiellen Tubenschwangerschaft sprechen wir dann, wenn das Ei sich in dem je nach der Dicke der Uteruswand etwa 1 —1t/, cm langen und !/,— 1 mm breiten, leicht bogenförmig durch die Uteruswand durchziehenden Teil der Tube fest- setzt. Die anatomischen Verhältnisse dieser Form der interstitiellen Tubargravidität sind zum Teil noch recht unklar, vor allem auch bezüglich der Ursache für die Ansiedlung des Eies in diesem Tubenstück. Da wir aus vergleichend anatomischen Forschungen doch wohl annehmen müssen, daß eine wirkliche Vergrößerung des Eies während seiner Entwicklung bis zur Nidationsreife nicht stattfindet, so kann man die Enge des Kanals allein für die Implantation an dieser Stelle nicht verantwortlich machen. Wäre das der Fall, dann müßte man ja eigentlich die Mehrzahl aller Fälle von Tubar- gravidität in diesem Abschnitt erwarten, in dem sie aber tatsächlich nur außerordentlich selten zu finden ist. Wahrscheinlich muß man auch die Entstehung der interstitiellen Tubargravidität auf das Hineingelangen des Eies in Divertikelbildungen zurückführen. Gerade an dieser Stelle finden sich ja nicht selten meist mit Wandverdichtungen ein- hergehende, als Tubenwinkeladenome bekannte Gebilde, an denen man zahlreiche Schleimhautgänge findet, die mit dem Tubenlumen in Verbindung stehen und die das wandernde Ei auffangen können. Gelegentlich will man auch Polypen im inter- stitiellen Teil der Tube gefunden haben, und man hat sie mit der Entstehung der interstitiellen Tubenschwangerschaft in Verbindung gebracht, indem man annahm, daß durch sie das Ei an seinem Eintritt in den Uterus verhindert und zur Implan- tation in der Tube gezwungen würde. Beweisen hat sich diese Annahme bisher nicht lassen. Ebenso unbewiesen ist die Annahme einer sog. inneren Überwanderung des Eies, die man ebenfalls mit der interstitiellen Tubargravidität in ursächlichen Zu- sammenhang gebracht hat. Man versteht darunter, daß das z. B. aus der rechten Tube in den Uterus gelangte befruchtete Ei entlang dem Fundus uteri in den Anfangsteil der linken Tube hineingerät und hier zur Haftung kommt.

Das implantierte Ei entwickelt sich auch bei der Graviditas interstitialis in der Muscularis, und auch hier fehlt die Bildung einer Decidua für gewöhnlich mehr oder minder gänzlich. Bei weiterem Wachstum treibt dann das Ei das betreffende Uterushorn in charakteristischer Weise vor sich her, u. zw. meist in der Richtung

176 O. Pankow.

nach hinten und oben. Es entsteht dadurch ein diagnostisch wichtiges Merkmal, das darin besteht, daß an dem durch die Eiimplantation steil- oder schiefgestellten Uterushorn die Adnexe und besonders die Tuben eine höher gelegene Abgangs- stelle haben als die der gesunden Seite und nicht am Scheitel des Uterushornes ansetzen, sondern an seiner Seite. Ebenso wie die Graviditas tubaria isthmica und ampullaris erfährt auch die interstitielle Gravidität ihre Unterbrechung am häufigsten in der ersten Hälfte der Schwangerschaft, u. zw. entsprechend der charakteristischen Entwicklungsrichtung durch äußeren Fruchtkapselaufbruch in die freie Bauchhöhle hinein. Gerade bei diesen Rupturen sind die Blutungen meist sehr heftig, so daß die Frauen rasch zu grunde gehen, wenn nicht operative Hilfe gebracht werden kann. Nur in ganz seltenen Fällen hat man auch hier eine schleichende Ruptur und die Entstehung einer sekundären Bauchschwangerschaft beobachtet. Gelegent- lich hat man bei der interstitiellen Gravidität auch gesehen, daß das Ei sich nach unten in die Uteruswand hineingrub. Es ist dann die Möglichkeit gegeben, daß durch inneren Fruchtkapselaufbruch die Frucht in den Uterus und von da nach außen geboren wird. Derartige Fälle scheinen aber doch nur verhältnismäßig sehr selten zu sein. In solchen Fällen von Mitbeteiligung des Uterus an dem Fruchtbett des Eies hat man von einer Graviditas tubo-uterina gesprochen. Wenn man aber unter Graviditas tubo-uterina nur solche Fälle verstehen will, bei denen die Implantation des Eies und die Placentarbildung zum Teil in der Tube und zum Teil auf der Schleimhaut des Uterus in der Tubenecke erfolgt war, so sind solche Fälle mit Sicherheit noch nicht beobachtet worden.

Die Ovarialschwangerschaft.

Das Vorkommen einer echten Ovarialgravidität, das früher vielfach abgeleugnet worden ist, ist heute nicht mehr zu bestreiten. Es sind einwandfreie Fälle aus allen Zeiten der Gravidität, auffallend oft sogar mit ausgetragener Frucht, beobachtet worden. Das könnte wundernehmen, da in dem Ovarium eine dehnbare elastische Muskel- hülle vollkommen fehlt, und es läge nahe anzunehmen, daß gerade eine im Eier- stock entwickelte Schwangerschaft besonders früh und leicht zur Ruptur der Frucht- kapsel führen müsse. Es sei aber daran erinnert, daß dem Eierstock eine ganz ungewöhnliche Fähigkeit zu Gewebsbildung innewohnt, die besonders auffallend bei den rasch wachsenden Ovarialtumoren zutage tritt, deren oft gewaltige Cysten immer noch von einer relativ dicken und festen Wand umhüllt sind. Selbst bei den sog. Riesentumoren, bei denen die Ovarialgeschwulst schwerer ist als die von dem Tumor befreite Frau, haben sich immer noch auffallend dicke Wandungen gefunden, die eben eine ganz ungeheure Gewebebildungsfähigkeit voraussetzen. Diese. Fähigkeit des Ovarialgewebes ist es wohl auch, die so verhältnismäßig oft das Austragen einer Eierstockschwangerschaft ermöglicht hat. Für die Entstehung einer Ovarialgravidität sind zwei Möglichkeiten gegeben. Bei der häufigeren wird beim Platzen des Follikels das Ei nicht mit herausgerissen und die in dem Follikel eindringenden Spermatozoen befruchten es an Ort und Stelle. Der zuletzt geplatzte Follikel, der sich dann auch zum Corpus luteum graviditatis umbildet, gibt also das Eibett ab. In sehr schöner Weise sind diese Verhältnisse an dem von van Tussenbroek**? veröffentlichten Falle zu erkennen, in dem man sehen kann, wie das Ei in dem einen Pol des Corpus luteum sitzt und von dessen Haupt- masse durch eine feine fibrinöse Membran abgeschlossen ist (s. Fig. 60). Ähnliche Befunde sind auch von späteren Untersuchern erhoben worden. Ist das Ei im Follikel befruchtet, so gräbt es sich im subepithelialen Gewebe ein.

Die Extrauteringravidität. 177

Bei den selteneren Formen der Ovarialgravidität handelt es sich um eine Ansiedlung des eben aus dem Follikel ausgetretenen und befruchteten Eies auf der Oberfläche des Ovariums, wahrscheinlich in irgendeiner der zahlreichen Ober- flächeneinsenkungen, in die es hineingerät. An der Anlegungsstelle der freien Ober- fläche durchbricht das Ei dann die Epithelschicht und kommt auch hier wiederum im subepithelialen Bindegewebe zur weiteren Entwicklung. Bei dieser Implantationsart ist die das Ei nach der freien Bauchhöhle zu umhüllende Schicht wesentlich dünner als bei der Implantation im Follikel selbst, und es ist deshalb auch die Gefahr der frühzeitigen ZerreiBung größer. Die Art der Eieinbettung und Entwicklung unter- scheidet sich im übrigen kaum von der in der Tube. Auch im Ovarium fehlt die Deciduabildung und die Zotten dringen nach allen Seiten hin in das Gewebe ein.

Fig. 60. Eihöhle Chorionzotten

Eisack, gebildet durch Ausweitung der Wand des Corpus luteum

Blutcoagula

Divertikel des Corpus luteum

Hilus ovarii

Offnung des Corpus luteum mit Fibrinbelag

Follikel Divertikel des Corpus luteum

Graviditas ovaria nach Kouwer van Tussenbroek.

Sie können dann, wie das an dem beigegebeneu Bilde ersichtlich‘ ist, zum Kapsel- aufbruch nach der freien Bauchhöhle hin führen. Erfolgt die Bildung der Placenta mehr nach dem Plus zu und wohl gar in das Ligamentum latum hinein, also basiotrop im Sinne Lichtensteins, so ist verständlich, daß dann der Fruchtkapsel- aufbruch fehlen und das Ei sich weiter bis ans Ende der Zeit entwickeln kann, zumal.dann eben die große Gewebevermehrungsfähigkeit des Eierstocks die Frucht vor der ZerreiBung der Kapsel durch Überdehnung schützen kann. Es wäre inter- essant festzustellen, ob bei den verhältnismäßig zahlreichen ausgetragenen Ovarial- graviditäten tatsächlich die von Lichtenstein für die Persistenz der Tubenschwan- gerschaft angenommene basiotrope Implantation sich auch hier findet. Bei der weiteren Entwicklung des im Ovarium implantierten Eies kann das Wachstum des Eierstocks so vor sich gehen, wie bei den Ovarialtumoren auch. Das ganze Ovarium kann gut gestielt in der freien Bauchhöhle liegen und den Uterus überlagern, der dann meist nach unten verdrängt ist. Erfolgt dagegen, wie das auch bei Ovarialtumoren beob- achtet wird, die Entwicklung zum Teil wenigstens zwischen die Blätter des Liga- Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 12

178 O. Pankow.

mentum latum hinein, dann sitzt das gravide Ovarium dem Uterus breitbasig an, füllt das kleine Becken mehr oder minder aus und drängt den Uterus nach der entgegengesetzten Seite hin.

Die Frage, ob es sich im gegebenen Falle um eine Ovarialgravidität handelt, die ja klinisch kaum je zu entscheiden ist, ist manchmal sogar anatomisch nicht sicher zu beantworten. Eine Eierstocksschwangerschaft darf nur dann angenommen werden, wenn neben dem schwangeren Gebilde das Ovarium fehlt, wenn die Tube einschließlich der Fimbria ovarica wohlerhalten geblieben ist und wenn auch eine Schwangerschaft in einer Nebentube mit absoluter Sicherheit ausgeschlossen werden kann.

Die Abdominalgravidität.

Das Vorkommen einer echten Abdominalgravidität, d. h. eine primäre Implan-

tation des Eies auf dem Peritoneum der Bauchhöhle, ist noch bis vor kurzem

Fig. 61.

Richters Fall von primärer Abdominalschwangerschaft auf der vorderen Wand des Rectum am Boden des Douglasschen Raumes. bezweifelt worden. Die Tatsache der Implantationsmöglichkeit des Eies auf der Oberfläche des Ovariums mit Entwicklung in die freie Bauchhöhle hinein ließ schon theoretisch die Möglichkeit der Implantation des Eies auf dem Peritoneum trotz des immerhin anatomisch anders gestalteten Implantationsbodens nicht mehr ganz unmöglich erscheinen. Inzwischen sind nun auch in jüngster Zeit Fälle von primärer Abdominalgravidität mitgeteilt worden, die jeder Kritik standhalten können. So die Fälle von Richter, Czyzewicz,2° Köhler,” Walker?® u. A. Die Autoren, die diese Fälle veröffentlicht haben, geben ausdrücklich an und bringen auch den anatomischen Beweis dafür, daß nirgends ein Zusammenhang mit der Tube und dem Ovarium bestand und daß auch das Ei in lebender Verbindung mit dem Boden gefunden wurde, aus dem es bei der Operation herausgeschält werden mußte. Fig. 61. zeigt den Fall vonRich ter, der als primäre Bauchhöhlenschwangerschaft wohl kaum bestritten werden kann. Wahrscheinlich erfolgt die Implantation des Eies so, daß es auch hier in das subepitheliale Bindegewebe eindringt. Es ist dann nach der Bauchhöhle zu nur von

Die Extrauteringravidität. 179

einer sehr dünnen Schicht umhüllt, die bei dem weiteren Wachstum leicht platzen kann, wenn nicht frühzeitige Verklebungen in dem Nachbarorgan die Hülle verstärken helfen. Der klinischen Diagnose werden sich solche Fälle von echten primären Abdominalschwangerschaften entziehen und sie werden immer erst entdeckt werden, wenn der Fruchtkapselaufbruch zu einer Blutung führt und zur Operation zwingt.

Der größte Teil der früher als primäre Abdominalgravidität gedeuteten Fälle gehört aber zweifellos in die Reihe der sekundären Bauchschwangerschaften, die wir oben bereits erwähnt haben und auf deren weiteren Verlauf wir schon eingegangen sind.

Einige Besonderheiten bei der Extrauteringravidität.

Bleibt die Extrauteringravidität über die ersten Monate hinaus erhalten und entwickelt sie sich gar bis ans Ende, dann finden sich nicht selten Abweichungen im Verhalten der Placenta, der Eihäute, des Fruchtwassers und der Frucht selbst.

Die Placenta kann sich in gleicher Weise als runder Kuchen entwickeln wie bei der Intrauteringravidität. Wie man aber schon auf dem ungeeigneteren Placen- tationsboden bei der Placenta praevia im Isthmus uteri eine nicht selten mehr flächen- hafte gelegentlich rund um die Isthmusinnenfläche herum sich entwickelnde Placenta beobachtete, die dann meist auch dünner ist als normal, so sieht man diese Art eines mehr flächenhaften Wachstums auch bei der Tubargravidität. Ebenso ist hierbei die Bildung lappiger Placenten öfter beobachtet worden. Die besonders kräftige Entwicklung der Placenta ähnlich der im Corpus uteri scheint bei der zentrifugalen basiotropen Implantation Lichtensteins zu überwiegen. Der Gefäßreichtum an dieser Stelle würde diese Entwicklung erklären.

Die Eihäute brauchen, solange die Entwicklung im geschlossenen Frucht- sack erfolgt, keine Abweichungen zu zeigen. Wird die Fruchtkapsel dagegen durch- brochen und entsteht dann aus der tubaren eine tubo-abdominale Gravidität, dann können dabei auch die Eihäute mit zerreißen. Reste davon können gelegentlich an der Frucht hängen bleiben und dann später inmitten peritonealer Adhäsions- membranen gefunden werden, wie das bereits oben erwähnt worden ist.

Das Fruchtwasser ist bei der überwiegenden Mehrzahl der Fälle länger dauernder oder ausgetragener Extrauteringraviditäten auffallend spärlich vorhanden gewesen. Es hängt das doch wohl mit der mangelhaften Durchblutung des dem Uterus gegenüber minderwertigeren Fruchtsackes und mit ihrer Bedeutung für die Amnionfunktion zusammen. In manchen Fällen ist auch eine Vermehrung des Frucht- wassers sogar in ausgesprochenem Hydramnion beobachtet worden. Solche Fälle von sog. Hydramnion bei in der Bauchhöhle liegenden Früchten müssen jedoch mit Vorsicht gedeutet werden. Es kann sich dabei sehr wohl auch um Sekundär- ansammlung von Flüssigkeit infolge einer exsudativen Entzündung des Bauchfells gehandelt haben. Auf diese Weise werden jedenfalls alle die Fälle gedeutet werden müssen, in denen die das „Fruchtwasser“ umkleidende Hülle nicht von den Eihäuten, sondern von entzündlichen Membranen gebildet war.

Die Frucht zeigt bei der ektopischen Schwangerschaft, worauf v. Winckel besonders hingewiesen hat, sehr häufig, in etwa 50%, Verunstaltungen und Miß- bildungen. Am häufigsten sind sie an den Eipolen, am Kopf und Beckenende gefunden worden. Bei dem Bestreben des extrauterinen Fruchtsackes, Kugelgestalt anzunehmen, ist der verstärkte Druck auf die Fruchtpole verständlich und man hat auch nicht selten die Frucht wie zusammengerollt (sog. Igelform) im Fruchtsack liegend gefunden. Die geringe Menge Fruchtwasser, die Dünne der Fruchtsackwand, die den Gegendruck der harten Beckenwände oder solider Nachbarorgane nicht

12*

180 O. Pankow.

genügend abhalten kann, wirken zweifellos als ungeeignete Belastungen, die imstande sind, solche Belastungsdeformitäten hervorzurufen. Solche Verunstaltungen können sich auch noch an dem in die freie Bauchhöhle ausgestoßenen Kinde auswirken und so erst post mortem Verunstaltungen erzeugen. Ob die beobachteten Mißbildungen und Verunstaltungen erst in späteren Monaten entstanden sind, ist zweifelhaft. Es wäre lohnend, Früchte, die durch inneren und äußeren Fruchtkapselaufbruch in den ersten drei Monaten ausgestoßen sind, daraufhin zu untersuchen, ob nicht bei ihnen schon die abnorme Form und Lagerung in der Eihülle zu Deformitäten geführt hat.

Wir glauben, das bestimmt annehmen zu können auf Grund einer Beobachtung einer Graviditas tubo-abdominalis. Hier fand sich in dem Fruchtsack, der teils im ampullären Teil der Tube, teils zwischen den Blättern des Ligamentum latum und teilweise am Colon pelvinum saß, eine lebende Frucht von 10 cm Länge. Sie zeigte deutlich schon Verunstaltungen am linken Fuß und am linken Knie und eine tiefe Impression am linken Unterkieferwinkel, in die die kleine Schulter hineinpaßte. Die ganze Frucht war seitlich gewissermaßen abgeknickt und hatte in der engen Höhle eine ausgesprochene Igelform*.

Zwillingsschwangerschaft bei Extrauteringravidität.

Ebenso wie bei Intra- sind auch bei Extrauteringraviditäten Zwillinge und in selteneren Fällen sogar auch Drillinge beobachtet worden. Dabei sind nach ihrer Häufigkeit geordnet beide Früchte in einer Tube, oder je eine Frucht in jeder Tube, oder eine Frucht im Uterus und eine in einer Tube gefunden worden. MacDonald?? konnte sogar über eine Drillingsschwangerschaft berichten, bei der ein Ei im Uterus, das zweite in der einen und das dritte in der anderen Tube ent- wickelt war. Erwähnt sei hierbei, daß auch ein Fall von gleichzeitiger Uterin- und Ovarialschwangerschaft bekannt geworden ist. Dieser Fall ist dadurch besonders bemerkenswert, daß 6 Tage nach der Geburt des uterinen Zwillings der andere durch Operation noch lebend entwickelt werden konnte. Die anatomischen Ver- hältnisse bei der Zwillingsgravidität in einer Tube sind die gleichen wie bei der einfachen Tubenschwangerschaft. Dabei können die Eier in einem Fruchtsack liegen oder sich in zwei durch eine Strecke normalen Tubengewebes getrennten Eihöhlen vorfinden. Der Fruchtkapselaufbruch nach innen oder außen kann nur in einem oder in beiden Eibetten erfolgen. Es ist aber auch neben dem Absterben der einen Frucht die Fortentwicklung der anderen beobachtet worden. Noch häufiger als bei intra- uterinen, besonders zweieiigen Zwillingen sind ungleichmäßig entwickelte Früchte bei extrauterinen Graviditäten festgestellt worden. Sicher nicht mit Recht hat man solche Beobachtungen früher gern als Beweise für eine Superfoetatio angesehen, d. h. für eine Befruchtung des zweiten Eies, nachdem die Implantation des zuerst befruchteten Eies der vorhergehenden Ovulationsperiode bereits erfolgt war. Nach allem, was wir bis heute über die Beziehung von Schwangerschaft und Eierstock- funktion wissen, müssen wir jedoch annehmen, daß nach erfolgter Gravidität die Ovulation und damit auch die weitere Ausstoßung befruchtungsfähiger Eier aufhört. Schon aus diesem Grunde ist also die Annahme einer Superfoetatio bei ungleich- mäßig entwickelten Früchten nicht berechtigt.

Besteht gleichzeitig eine Intra- und Extrauteringravidität, so kann der Ablauf ein verschiedener sein. Im Anschluß an das Absterben der ektopischen Frucht und

* Anmerkung bei der Korrektur: Im Ztb. f. Gyn. 1923, p. 1567, hat Katz über Beob- achtungen „an unbehandelt gebliebenen ektopischen Schwangerschaften mit tötlichem Ausgang“ be-

richtet. Dabei gibt er an, daß er bei keinem der Föten, die eine Nacken-Steißlänge von 10-260 mm aufwiesen, eine „offenkundige Mißbildung“ beobachtet habe.

Die Extrauteringravidität. 181

an Blutungen infolge eines Fruchtkapselaufbruches tritt nicht selten auch der Abort der intrauterinen Frucht ein. In einer weiteren Reihe von Fällen ist die Ausstoßung des Eies aus dem Uterus im Anschluß an die operative Entfernung des extrauterinen Zwillings beobachtet worden. Dabei muß es immer unentschieden bleiben, ob der zur Operation führende Blutverlust oder der Eingriff selbst die Ursache für den intrauterinen Abort abgegeben hat. Wissen wir doch, daß auch nach anderen Ein- griffen in der Bauchhöhle, ohne daß sie mit Blutungen verbunden waren, ein Abort nicht so ganz selten die Folge ist. In einer Reihe von Fällen ist aber auch nach Absterben der extrauterinen Frucht oder nach ihrer operativen Behandlung die intra- uterine Schwangerschaft bis zum normalen Ende ausgetragen worden. In selteneren Fällen ist sogar beobachtet worden, wie nach Geburt des intrauterin gelegenen Kindes das andere noch eine Zeitlang weiterlebte und dann wie in dem oben erwähnten Falle von gleichzeitiger Uterus- und Ovarialgravidität durch Operation sogar noch lebend zur Welt gebracht werden konnte. Betont sei, daß der gleich- zeitige Nachweis einer Gravidität in beiden Tuben nicht immer als Zwillings- schwangerschaft gedeutet werden darf, sondern daß es sich dabei gelegentlich um Graviditäten handelt, die monate- und jahrelang auseinanderliegen können und bei denen das Ei der älteren Gravidität nur noch nicht resorbiert worden war.

e Wiederholte Tubargraviditäten.

Wiederholte Tubenschwangerschaften, erst in der einen, dann in der anderen Tube, sind häufig, u. zw. in etwa 7%, beobachtet worden. Es ist deshalb von manchen Opera- teuren die unseres Erachtens übertriebene Forderung aufgestellt worden, bei der Opera- tion einer Tubenschwangerschaft grundsätzlich auch die andere Tube mit zu entfernen. In einer Reihe von Fällen war sogar das Implantat der einen Tube noch nicht ver- schwunden, als die Gravidität der anderen Tube eintrat, Fälle, von denen bereits gesagt wurde, daß sie nicht als Zwillingsschwangerschaft gedeutet werden dürfen. Aber auch in der gleichen Tube sind wiederholte Graviditäten beobachtet worden. Wenn wir daran denken, daß die Tubargravidität zumeist dadurch entsteht, daß das Ei sich in einem Divertikel angesiedelt hat und oft genug das Tubenlumen bis auf die Durchbruchsstelle des inneren Fruchtkapselaufbruchs völlig freiläßt, so ist ohne weiteres zu verstehen, daß eine solche Perforationsstelle ausheilen kann und für die Vereinigung von Ei und Sperma kein Hindernis zu bilden braucht. Diese Annahme der vollfunktionsfähigen Ausheilung solcher Tube hat erst recht nichts Gesuchtes, wenn wir daran denken, wie häufig nach Unterbindungen und selbst nach Unter- bindung und Durchschneidung der Tube, die zwecks Sterilisierung vorgenommen wurden, sich doch wieder der Tubenkanal hergestellt hat und Schwangerschaften beobachtet worden sind. Wir selbst haben ebenfalls einen Fall beobachtet, bei dem ein Jahr vorher die linke Tube wegen Tubenschwangerschaft entfernt wurde und nün bei der noch kinderlosen Frau die rechte Tube schwanger wurde. Der Befund war so eindeutig, daß an der Richtigkeit der Diagnose nicht gezweifelt werden konnte. Unter wochenlanger konservativer klinischer Behandlung, die gewählt wurde, um der Frau die Conceptionsfähigkeit noch zu erhalten, heilte die Tubenschwanger- schaft aus. Im nächsten Jahr wurde die Patientin intrauterin schwanger, abortierte aber leider im A Monat der Gravidität. Schließlich sind wiederholte Schwanger- schaften in derselben Tube dann beobachtet worden, wenn man bei der Operation die gravide Tube nicht völlig entfernte, sondern einen Stumpf stehen ließ. Auch wir verfügen über einen Fall, bei dem dann in dem uterinen Stumpf der Tube eine Gravidität eintrat und eine erneute Operation nötig machte.

182 O. Pankow.

Der Einfluß der Extrauteringravidität auf den Gesamtorganismus. Von den Veränderungen, die der übrige Körper der Frau beim extrauterinen Sitz des Eies durchmacht, sind die des Uterus besonders bemerkenswert. Obwohl das Ei nicht in ihm sitzt, ist doch die prämenstruelle Schwellung, die der ausge- bliebenen Periode vorausging, unter dem Einfluß des befruchteten Eies in gleicher Weise gesteigert, wie das bei der Intrauteringravidität der Fall ist. Gleichzeitig zeigt die Schleimhaut die für die Intrauterinschwangerschaft charakteristische deciduale Umwandlung, die allerdings in manchen Fällen bei der extrauterinen Schwanger- schaft nicht so stark ausgebildet sein soll wie bei der intrauterinen. Außerdem findet eine ausgesprochene Vergrößerung und Auflockerung des ganzen Organs statt, so daß der Palpationsbefund des Uterus in der ersten Zeit einer intra- und extrauterinen Gravidität ein vollkommen gleicher sein kann. Erst vom dritten Monat ab pflegt öfters wieder eine geringe Verkleinerung des Uterus einzutreten. Es sei aber betont, daß ebenso wie die Dicke der Deciduabildung auch die Größen- zunahme des Uterus bei der Extrauteringravidität keine Pero; gleichmäßige ist. Neben Fällen mit starker Vergrößerung und Auflockerung des Uterus, der die Hegarschen Schwangerschaftszeichen, vor allem die supracervicale Erweichung, deutlich tasten läßt, finden sich andere, allerdings seltenere, in denen die Gebärmutter atffallend wenig vergrößert ist und eine ausgesprochene Auflocke- ‘rung kaum erkennen läßt. Die Decidua zeigt meistens dasselbe Verhalten wie beim intrauterinen Sitz des Eies und bildet die beiden Schichten, die innere nach dem Lumen zu gelegene kompakte und die der Muskulatur angelegene spongiöse. Ebenso wie die Dicke der Decidua manchmal bei extrauterinen Schwangerschaften eine ge- ringe ist, kann auch die Ausbildung dieser beiden Schichten a a Extra- zuweilen eine weniger vollkommene sein. Wird die Gra- vidität spontan oder durch Operation unterbrochen, so stößt der Uterus die Decidua stückweise oder im ganzen aus. Ist das letztere der Fall, so kann man sie als einen dreizipfligen Sack mit drei Öffnungen erkennen, von denen die größere den Eingang in die Cervix, die beiden feineren den Eingängen in die Tuben entsprechen (s. Fig. 62). Derart ausgestoßene, zusammenhängende Deciduaausgüsse des Uterus haben insofern auch eine praktische Bedeutung, als sie von der sachunkundigen Hebamme oder von der Patientin selbst als Frucht angesprochen werden. Es kommt dann nicht so ganz selten vor, daß der bei fortdauernder Blutung hinzugezogene Arzt auf dieser Angabe fußend, ohne genügend gesicherte Diagnose eine Ausschabung der Gebärmutter vor- nimmt. Das ist aber nicht ungefährlich, weil damit einmal einer Infektion die Wege ge- bahnt werden können, und weil anderseits durch die Manipulationen gelegentlich eine Ruptur ausgelöst werden kann. Erwähnt sei noch, daß man bei allen Arten ektopischer Schwangerschaft Deciduabildungen auch an den verschiedensten Stellen des Perito- neums und des Netzes beschrieben hat. Solche Bildungen sind aber nicht etwa nur der Extrauteringravidität eigentümlich, sondern sie können häufig auch bei der Intrauterin- schwangerschaft nachgewiesen werden. Im übrigen findet man bei der Extrauterin- schwangerschaft alle die objektiven und subjektiven Schwangerschaftszeichen, die von der Intrauteringravidität her bekannt sind, die aber zuweilen weniger deutlich in die Erscheinung treten. Selbst Schwangerschaftstoxikosen und die schwerste Form der- selben, die Eklampsie, ist bei der Extrauteringravidität beobachtet worden.

Die Extrauteringravidität. 183

Klinischer Verlauf und Diagnose.

Die Diagnose einer Extrauteringravidität ist in den ersten Wochen, solange das Ei in der Tube, im Ovarium oder in der Bauchhöhle intakt ist, nicht zu stellen. Kommt eine solche Frau nach Ausbleiben der ersten Menses zum Arzt, um fest- stellen zu lassen, ob sie gravid ist, so ist um diese Zeit das Tubenei noch so klein, daß es der Palpation entgeht, umsomehr, als die Einlagerung des Eies charak- teristische Konsistenzunterschiede in diesem Abschnitt der Tube nicht erkennen läßt. Man wird vielmehr, da auch der Uterus eine Graviditätsvergrößerung zeigt, stets die Diagnose auf eine Intrauterinschwangerschaft stellen. Subjektive Beschwerden, die nicht als gewöhnliche Schwangerschaftsbeschwerden gedeutet werden können, fehlen um diese Zeit vollständig. Selbst bei ausgetragener Extrauteringravidität können in günstig gelegenen Fällen, bei denen die Frucht im geschlossenen Frucht- sack liegen bleibt, sogar auffallende, direkt auf den pathologischen Sitz des Eies hinweisende Erscheinungen vollkommen fehlen. Leichte oder stärkere ziehende Schmerzen in der Seite des Schwangerschaftssitzes oder Verdrängungs- und Druck- erscheinungen seitens der Blase und des Mastdarms werden zwar hinterher, wenn die Abnormität der Situation erkannt ist und man nun daraufhin gerichtete Fragen stellt, von den Frauen meist angegeben, bleiben vorher aber öfters völlig unbe- achtet. In solchen Fällen setzt dann am normalen Ende der Oravidität eine regel- mäßige Wehentäligkeit des Uterus ein, durch die die Decidua ausgestoßen wird und die dann allmählich wieder vollkommen aufhört. Erst dadurch oder durch das Auf- hören der Kindsbewegungen werden dann Patientin, Arzt und Hebamme auf die Vermutung gebracht, daß etwas nicht in Ordnung sei und vielleicht eine Extra- uteringravidität vorliege.

Für gewöhnlich aber lenken die mit dem inneren oder äußeren Fruchtkapsel- aufbruch einhergehenden Blutungen die Aufmerksamkeit auf eine Extrauteringravi- dität hin. Der Verlauf beim inneren Fruchtkapselaufbruch ist dann gewöhnlich fol- gender:- Die Menses sind ein- oder zweimal ausgeblieben. Die Frau fühlt sich schwanger. Beschwerden im Unterleib bestehen zunächst nicht oder die Frauen geben an, daß sie von Zeit zu Zeit in der betreffenden Seite ein Ziehen verspürten. Mit einem Male treten dann meist leichte Blutabgänge nach außen auf. Die Frauen empfinden häufig ohne besondere äußere Ursache, nicht selten aber auch im An- schluß an körperliche Anstrengung, stechende Schmerzen in der einen Seite des Unterleibs, die zuweilen mit einem gewissen Gefühl von Schwäche oder einer leichten Ohnmachtsanwandlung begleitet sind. Nur in ganz seltenen Fällen ist gelegentlich auch bei vorgeschritteneren Fällen die Angabe gemacht worden, daß mit dem Auftreten dieser subjektiven Beschwerden nicht Blut, sondern eine wäßrige Flüssigkeit (Fruchtwasser) abgegangen sei. Schwäche und Ohnmachtsgefühl deuten darauf hin, daß ebenso wie nach außen auch nach innen in die Bauchhöhle hinein eine Blutung erfolgt ist. Die Frau selbst glaubt in solchem Falle gewöhnlich, sie bekommt eine Fehlgeburt, legt sich ins Bett oder schont sich wenigstens und die = Blutungen hören dann nicht selten wieder auf. War dabei der Bluterguß nach innen reichlicher, so kann man leichte Temperatursteigerungen um 38° herum beobachten. Veit meint zu diesen Temperatursteigerungen, sie wiesen darauf hin, daß in der Ätiologie der Tubargravidität die Infektion eine gewisse Rolle spiele. Das ist aber bestimmt nicht richtig, vielmehr sind diese Temperaturerhöhungen nur als ein Zeichen der Resorption des ergossenen Blutes aufzufassen. Sind die Blutungen nach außen hin erheblicher gewesen, dann entdeckt die aufmerksame Patientin darin vielleicht die ausgestoßene Decidua, hält sie für das Ei und glaubt,

184 O. Pankow.

die Schwangerschaft sei erledigt. Bald aber setzen von neuem Blutungen ein, die wiederum mit Schmerzen in der Seite verbunden sind, und nun erst kommen viel- fach die Patientinnen zum Arzt. Charakteristisch ist bei diesen Blutungen die Angabe der Frauen, daß das abgegangene Blut zunächst hellrot, dann dunkelrot war und daß die abzegangenen Massen schließlich ein mehr bräunliches oder schwarzes, teerartiges Aussehen zeigten. Diese Beobachtung, die auf einen Zerfall des ausge- stoßenen und länger in der Tube gelegenen Blutes hinweist, kann man bei der Untersuchung häufig bestätigen. Infolge der gleichzeitig fortbestehenden Resorption des ergossenen Blutes kommt es dann bei manchen Frauen auch zu einem meist aber nur leicht ikterischen Aussehen, das nur selten stärkere Gerade erreicht. Sind die bei dem inneren Fruchtkapselaufbruch in die Bauchhöhle ergossenen Blut- mengen erheblicherer Art gewesen und haben sie bereits zu einer größeren An- sammlung in der Bauchhöhle geführt, dann tritt auch eine deutliche Blässe der Haut und Schleimhaut ein und auch der Puls erfährt gewöhnlich eine leichte Beschleunigung und wird kleiner, als er früher war. Gelegentlich können solche Blutungen in die Bauchhöhle hinein eintreten, ohne daß überhaupt ein Tropfen Blut nach außen abgeht, und dann sind die damit verbundenen Schmerzen in der Seite eigentlich das einzige, das auf die Möglichkeit einer Extrauterinschwanger- schaft hinweist. Diese Schmerzen sind wahrscheinlich darauf zurückzuführen, daß infolge der Blutung in die Eihöhle hinein eine erhöhte Spannung der Tubenwände eintritt und daß gleichzeitig Contractionen der Tubenwand einsetzen, die darauf hinzielen, die im Tubenlumen liegende Blutmole oder das Ei herauszubefördern. - Derartige Schmerzen können zuweilen ganz ungewöhnlich intensiv auftreten. Es sind Fälle beobachtet worden, bei denen mit den heftigsten Koliken Tenesmen, Drängen nach unten und Sphincterkrämpfe verbunden waren. Wir haben erst vor kurzem eine Patientin beobachtet, bei der die erste stärkere Blutung von so heftigen Darmkoliken und sicht- und fühlbaren Darmsteifungen seitlich und oberhalb eines links dicht unter dem Nabel tastbaren Tumors begleitet war, der vor einer Tubo- abdominalgravidität gebildet wurde, und so heftige Tenesmen und so außerordentlich schmerzhafte Sphincterkrämpfe bestanden, daß vom Gynäkologen und Chirurgen zunächst die Vermutung ausgesprochen wurde, es handelte sich um einen Obtura- tionsileus, bis der Nachweis der retrouterinen Hämatocele, die sich dann allmählich bildete,’ die richtige Diagnose auf Extrauteringravidität ermöglichte. Besteht gleich- zeitig noch infolge des peritonealen Reizes des ausgetretenen Blutes eine ausge- sprochene Empfindlichkeit der Bauchdecken und ist daneben auch noch, wie nicht selten, ein Meteorismus nachweisbar, so kann auch der Verdacht auf eine Per- forationsperitonitis sehr leicht geweckt werden. Das Gefühl des Drängens nach unten und der Tenesmen tritt besonders dann auf, wenn es infolge wiederholter Blutungen zu einer Ansammlung größerer Blutmengen im Douglas, zur Ausbildung der Haematocele retro-uterina, gekommen ist. |

Das sind die klinisch leichteren Erscheinungen, die bei der Tubargravidität auftreten und die man als typisch für den meist langsamer verlaufenden inneren Fruchtkapselaufbruch ansehen kann.

Ganz anders dagegen ist der Verlauf bei dem äußeren Fruchtkapselaufbruch, der Tubenruptur. Bei oft bestem Wohlbefinden, nachdem zuweilen ziehende und stechende Schmerzen in der kranken Unterleibsseite vorausgegangen waren, kann sich die Katastrophe, die Zerreißung der Tubenwand mit heftiger Blutung in die freie Bauchhöhle, einstellen. Sie ist gewöhnlich mit einem intensiven Schmerzanfall in der betreffenden Seite verbunden und die Patientinnen geben manchmal direkt

Die Extrauteringravidität. 185

an, daß sie das Gefühl gehabt hätten, als sei innerlich etwas zerrissen. Die Patien- tinnen brechen oft ohnmächtig zusammen, da das in die Bauchhöhle stürzende Blut zugleich einen heftigen peritonealen Chok auslöst. War der Blutverlust nur ein geringer, dann geht die Ohnmacht bald wieder vorüber, und die Blässe weicht wieder einer gesünderen Rötung der Haut und der Schleimhaut. Auch der Puls, der anfänglich klein und stark beschleunigt war, wird wieder voller und kräftiger. War die Blutung sofort eine sehr starke oder hält sie fortdauernd an, dann bleibt nach Abklingen des peritonealen Choks die Anämie bestehen, der Puls wird all- mählich immer kleiner und erneute Ohnmachten stellen sich ein. Dabei ist der Leib gewöhnlich stark aufgetrieben und bei der leisesten Berührung so außer- ordentlich schmerzhaft, daß eine genaue Palpation ganz unmöglich ist. Das Cha- rakteristische des ganzen klinischen Bildes ist, daß es aus zwei Erscheinungen zu- sammengesetzt ist, aus denen der Blutungen mit nachfolgender Anämie und denen der peritonealen Reizung, die durch das ausgetretene Blut hervorgerufen wird. Erlangt der anhaltende Blutverlust gefährliche Grade, so bekommt die Patientin Lufthunger, fängt an zu gähnen und wirft sich im Bett umher. Haut und Lippen werden immer blasser, Schweiß bedeckt das kalte spitze Gesicht, die Pupillen werden weit, der Blick unbestimmt und trübe und der Tod tritt ein, wenn nicht noch rechtzeitig durch einen operativen Eingriff die Blutung zum Stehen gebracht werden kann.

Die Diagnose dieses äußeren Fruchtkapselaufbruches ist gewöhnlich leicht. Im Zusammenhang mit der Anamnese, die gerade bei der Diagnose der Tuben- schwangerschaft von allergrößter Bedeutung ist, und durch den Perforationsschmerz auf der entsprechende Seite wird ein Zweifel an der Erkrankung kaum möglich sein. Gewiß können in seltenen Fällen Blutungen aus einem geplatzten Ovarial- follikel oder aus einem Ulcus des Intestinaltractus oder in ganz seltenen Fällen auch durch eine geplatzte Vene, wie man das z.B. bei Uterusmyomen beobachtet hat, zu den gleichen Erscheinungen führen. In allen Fällen aber steht das Bild der akuten inneren Verblutung so stark im Vordergrund, daß das therapeutische Handeln, die sofortige Operation, dadurch in jedem Falle diktiert ist. Beträgt nun ein solcher Blutverlust mehr als 12, dann kann man ihn meist durch die Perkussion nach- weisen. Charakteristisch ist, daß, wenn das Blut in der Bauchhöhle schon teilweise geronnen ist, die Dämpfung über dem ergossenen Blut oft weniger deutlich in abhängigen Partien des Abdomens ist, als vielmehr oberhalb des Schambeinastes der erkrankten Seite.. Es kommt das daher, daß die geronnenen Blutklumpen, nach- dem das kleine Becken ausgefüllt ist, auf der Seite der Tubenschwangerschaft den Schambeinast überragen und dadurch diese charakteristische Dämpfungslinie be- dingen. Selbstverständlich darf eine volle Blase bei derartigen Untersuchungen nicht übersehen und falsch gedeutet werden. Mit der Palpation von außen ist gewöhnlich in solchen Fällen nichts zu erreichen, weil infolge der hochgradigen Spannung und Schmerzhaftigkeit der Bauchdecken ein genaues Durchtasten unmöglich ist. Zuweilen, jedoch nicht immer, fühlt man bei der vaginalen Untersuchung eine leichte schwappende Vorwölbung des hinteren Vaginalgewölbes, die durch die Blut- ansammlung im Douglas bedingt ist. In manchen Fällen kann, worauf Cullen zu- erst hingewiesen hat, eine bläulich durchschimmernde Verfärbung des Nabels auf eine intraabdominelle Blutung hinweisen. Besonders bei Nabelhernien, bei denen die Bauchwand an der Bruchstelle zuweilen sehr dünn ist, kann dieses Zeichen von Bedeutung sein. In zweifelhaften Fällen muß man unter Umständen eine Punktion des Douglas vornehmen. Doch soll man mit einer solchen Punktion nicht

186 O. Pankow.

zu freigiebig sein, da sie unter Umständen den Anlaß zur Infektion der im Douglas _ angesammelten Blutmassen geben kann. Daß dieses ganze Krankheitsbild gelegent- lich, wenn der Bluterguß mit heftigen Darmkoliken verbunden ist, mit einer Per- forationsperitonitis verwechselt werden kann, haben wir bereits erwähnt. Differen- tialdiagnostisch von besonderer Wichtigkeit ist auch hier wiederum die Anamnese, zumal das Verhalten der Temperatur und des Blutbildes häufig im Stich lassen. Findet man doch einmal ebenso wie bei der Perforationsperitonitis auch bei intra- abdominellen Blutungen sehr häufig erhöhte Temperaturen, die ja übrigens gerade bei den schwersten Formen der Peritonitis fehlen können, und kann man doch anderseits, ebenso wie bei der Peritonitis, auch bei intraperitonealen Blutungen regelmäßig eine oft sehr starke Hyperleukocytose nachweisen. Auch die Prüfung der Senkungsgeschwindigkeit der roten Blutkörperchen ist in solchen Fällen nicht eindeutig. Ist die Senkungsgeschwindigkeit nicht beschleunigt, dann kann man unter gewöhnlichen Verhältnissen einen entzündlichen Prozeß wohl ausschließen. In der Schwangerschaft tritt eine Änderung im Verhalten der Senkungsgeschwindigkeit insofern ein, als sie normalerweise von der Mitte der Gravidität an beschleunigt ist. Aber auch in den früheren Monaten der Schwangerschaft, in denen die Ruptur der Tube meist erfolgt, ist die Verwertung dieser Probe deshalb unsicher, weil bei starken Anämien, wie sie mit der Tubenruptur stets verbunden sind, eine erheb- liche Beschleunigung der Senkungsgeschwindigkeit gewöhnlich vorhanden ist. Schließlich sei daran erinnert, daß auch die Stieldrehung eines Ovarialtumors zu den gleichen Erscheinungen führen kann, besonders wenn zugleich auch eine starke Blutung in den Tumor hinein damit verbunden ist. Auch die Stieldrehung hat fast regelmäßig Temperatursteigerung und Hyperleukocytose zur Folge. Ist der Ovarial- tumor größer und liegt er oberhalb des kleinen Beckens, dann gelingt es jedoch meist, ihn trotz der Bauchdeckenspannung herauszutasten und bei vorsichtiger Perkussion die charakteristische nach oben konvexe Dämpfungslinie festzustellen. Handelt es sich um einen kleinen, im Becken liegenden Tumor, dann fühlt man bei der vaginalen Untersuchung einen so prallen Widerstand neben oder hinter dem Uterus, wie er bei der frischen Ruptur nie vorhanden ist.

Gegenüber diesem äußeren Fruchtkapselaufbruch ist die Diagnose des inneren Fruchtkapselaufbruches oftmals wesentlich schwieriger. Vielfach kommen die Kranken erst zur Untersuchung, wenn die Blutungen bereits einige Zeit angehalten hatten. Man hat auf die Wichtigkeit der Blutungskurve in solcnen: Fällen hingewiesen. Werth hat drei Hauptgruppen unterschieden:

1. Das Einsetzen einer Dauerblutung mit der ersten nach erfolgter Befruch- tung rechtzeitig einsetzenden Menstruation. | 2. Verfrühter Eintritt solcher Blutungen schon vor Ablauf des letzten Menstrua- tionsintervalles und vor Einsetzen der nächsten zu erwartenden Periode.

3. Einsetzen der Dauerblutung nach ein- oder mehrmaligem Ausbleiben der Menses.

Es ist zweifellos richtig, daß man in vielen Fällen solche Kurven bei der Extrauterinschwangerschaft beobachten kann. Andererseits muß aber betont werden, daß derartige Blutungen doch nicht pathognomonisch für einen Tubarabort sind. Man hat auch bei Ovarialtumoren, besonders bei den Follikelcysten, derartige anhaltende Blutabgänge ebenso beobachtet, wie man sie gelegentlich selbst bei einfachen ent- zündlichen Adnexerkrankungen sehen kann. Ebenso muß man bedenken, daß auch bei einem intrauterinen Abort nicht selten derartig protrahierte Blutungen vorkommen, besonders dann, wenn sich zu dem Abort noch eine Infektion mit Übergreifen auf

Die Extrauteringravidität. 187

die eine oder die andere Tube hinzugesellt hat. In frischem Stadium einer solchen Entzündung ist zwar für gewöhnlich höheres Fieber vorhanden, während das Resorptions- fieber bei der intraabdominellen Blutung meist 38° nicht übersteigt. Häufig kommen aber solche Patientinnen nicht zu Beginn solcher akuten Entzündung zur Unter- suchung, sondern erst einige Zeit später, nachdem eine gewisse Abkapselung bereits erfolgt ist. Dann aber sind auch Temperaturerhöhungen meistens nur in mäßigem Grade oder gar nicht vorhanden und unterscheiden sich nicht von denen der intra- abdominellen Blutungen. Auch das Verhalten der Leukocyten läßt dann für gewöhnlich im Stich, da nach erfolgter Abkapselung entzündlicher Prozesse in der Tube die Vermehrung der weißen Blutkörperchen meistens ebenfalls nur eine geringe ist oder auch ganz fehlen kann. Auch der palpatorische Nachweis nur einseitiger Verände- rungen ist diagnostisch nicht zu verwerten. Wenn auch die gonorrhoischen Adnex- entzündungen stets und die Tuberkulosen überwiegend doppelseitig auftreten, so sind doch die septischen Adnexerkrankungen, wie sie besonders auch nach intrauterinen Aborten auftreten, sehr häufig nur einseitig und lassen auch Unterschiede in der Größe und Konsistenz gegen- über dem Tubarabortbefund nicht erkennnen.

Auf einen Punkt sei jedoch bei der Diffe- rentialdiagnose zwischen entzündlicher Adnex- erkrankung und Tubarabort besonders hinge- wiesen. Bei allen entzündlichen Erkrankungen der Tube ist das Tubenrohr in seiner ganzen Ausdehnung verhärtet oder mehr oder minder stark verdickt. Man fühlt deshalb die Tube schon unmittelbar an ihrem Abgang vom Uterus als hartes derbes Rohr von Bleistift- bis Fingerdicke, das nach dem abdominellen Ende zu meist noch p” allmählich weiter aufschwillt. Bei der Tubar- Schwangere Tube. Der uterine Teil ist schlank und gravidität dagegen pflegt der Anfangsteil dr irn Pe de fapa talich Tube neben der Uteruskante für gewöhnlich ganz weich und nicht verdickt zu sein, um dann ganz plötzlich und unvermittelt im Bereich der Eiimplantation und der Hämatombildung zu einem hühnereigroßen oder noch größeren Tumor aufzuschwellen (s. Fig. 63). Sitzt die Schwangerschaft wie in selteneren Fällen dagegen im Anfangsteil der Tube nahe der Uteruskante, dann kann dieses palpatorische Merkmal allerdings versagen.

Die Wahrscheinlichkeitsdiagnose Tubargravidität und Fruchtkapselaufbruch wird noch wesentlich vergrößert, wenn man die schwangere Tube in Verbindung mit einem weicheren Tumor fühlt, der im Douglas oder in den seitlichen Beckenpartien gelegen ist und von dem sich die schwangere Tube selbst durch eine größere Derbheit abhebt. Man fühlt dann den Douglas ausgefüllt von einer prallen Geschwulst, die das hintere Scheidengewölbe vorbuchtet, aber durchaus nicht immer das Gefühl der Fluktuation gibt. Die Berührung dieser Geschwulst ist bei der bimanuellen Palpation manchmal fast unempfindlich, häufig aber sehr schmerzhaft, u. zw. besonders in den oberen Partien, wo die gravide Tube dem Bluterguß aufliegt und wo das durch sie selbst und die mit ihr verwachsenen Nachbarorgane (Darm, Uterus, Netz) gebildete Dach der Hämatocele unter erheblicher Spannung steht. Der Uterus selbst erscheint durch diese Blutansammlung im Douglas gewöhnlich nach oben oder auch nach der gesunden Seite hin verdrängt. Zuweilen kann man ihn deutlich noch

Fig. 63.

188 O. Pankow.

vergrößert und aufgelockert fühlen, nicht selten aber ist er klein und von normaler Konsistenz. Sehr unklar können die Verhältnisse und schwierig kann die Diagnose dann sein, wenn bei diesem Befund im Douglas hohes Fieber besteht und die Hämatocele bereits in Verjauchung übergegangen ist. Mit diesem Ereignis muß man bei länger fortbestehender Blutansammlung zwischen Mastdarm und Uterus immer rechnen. Dann ist es oft ganz unmöglich, ohne weiteres zu entscheiden, ob es sich in einem solchen Falle um einen septischen, vom Generationsorgan oder vom Darm ausgehenden Douglasabsceß oder um eine vereiterte Hämatocele handelt. Die Diagnose wird dann um so schwieriger, weil und das ist besonders schön durch die kombinierte Recto- und Vaginaluntersuchung festzustellen in solchen Fällen häufig ein sekundäres entzündliches Ödem oder auch eine Exsudatbildung im retroperitonealen Bindegewebe der Ligamenta sacro-uterina und ihrer Umgebung eintritt, wodurch dann die Annahme, daß es sich nicht um eine Extrauteringravidität, sondern um eine entzündliche Erkrankung handelt, noch bestärkt wird. Erst eine Punktion kann in solchen Fällen Klärung bringen, die dann bei einer reinen Ent- zündung reinen Eiter, bei der verjauchten Hämatocele blutige oder blutigeitrige Massen ergeben wird.

Schwieriger als bei der retrouterinen Hämatocele wird die Diagnose dann, wenn die Blutansammlung mehr in der seitlichen Beckenhälfte liegt und nur teil- weise oder gar nicht auf den Douglas übergegangen ist. Dann fühlt man neben dem Uterus eine gänseei- bis faust- oder kindskopfgroße Geschwulstmasse, die ebenso wie bei der retrouterinen Hämatocele häufig von ungleicher Konsistenz ist, weil sie zum Teil aus frischerem Blut, zum Teil aus älteren eingedickten Blutungs- resten und dem prallen Fruchtsack selbst gebildet wird. Eine sorgfältige Anamnese und die Angabe, daß häufig einseitige Schmerzen auftreten, deuten auch hier wiederum auf eine Extrauteringravidität hin. Ist an den Erguß von der Scheide aus heranzukommen, so wird auch hier gegebenenfalls wiederum die Probepunktion Klärung bringen können. Warnen möchten wir vor der Ausschabung der Uterus- höhle zu differentialdiagnostischen Zwecken. Wenn auch der Nachweis einer Decidua- bildung in der ausgeschabten Masse bei vollständigem Fehlen von Zotten und fötalen Zellen dann mit einiger Sicherheit auf die Diagnose Extrauteringravidität hinweist, so ist doch die Ausschabung selbst, wie schon erwähnt, nicht ungefährlich, da sie in unsauberen Fällen zur Infektion führen und anderseits Rupturblutungen auslösen kann. Sehr schwierig kann die Diagnose dann werden, wenn die Frauen erst verhältnismäßig: spät in die Beobachtung kommen und wenn nun voraus- gegangene, teilweise bereits zurückgebildete Blutergüsse zu ausgedehnten Ver- wachsungen im ganzen kleinen Becken und vor allem auch an den Adnexen der anderen Seite geführt haben. Fehlen dann einigermaßen zuverlässige anamnestische Angaben, so sind Verwechslungen mit entzündlichen Adnexerkrankungen, post- appendicitischem Senkungsabsceß, Tuboovarialcysten u. s. w. sehr leicht möglich. In derartigen Fällen ist es dann zuweilen ganz unmöglich, aus dem Palpations- befund allein die richtige Diagnose zu stellen, und sicherlich ist manche Tuben- schwangerschaft schon bei solchem Befund als entzündliche Adnexerkrankung gedeutet und unter konservativer Behandlung zur Ausheilung gebracht worden. Diagnostisch sehr kompliziert liegen die Verhältnisse auch dann, wenn es sich um eine interstitielle Tubargravidität handelt. Bekanntlich erfolgt die physiologische Einsenkung des Eies im Uterus meist extramedian auf der Vorder- oder Hinterwand des Corpus uteri. Ist die extramediane Lagerung eine starke oder kommt das Ei nahe der Einmündung des Eileiters an der Tubenecke zur Haftung, dann ist palpatorisch diese Uterus-

Die Extrauteringravidität. 189

kante oft so stark vorgewölbt und so weich, die andere Uterushälfte dagegen so deutlich von ihr abgesetzt und so viel derber, daß nicht selten schon dieser Befund als Extrauterinschwangerschaft und besonders als eine interstitielle gedeutet warden ist. Wiederholt ist in dieser irrtümlichen Ansicht sogar schon die Bauchhöhle ge- öffnet worden. Es wird in solchen Fällen oft nur sehr schwer möglich sein, die richtige Diagnose zu stellen. Im Anfang der Gravidität fühlt man in beiden Fällen die betreffende Tubenecke ausgebuchtet und man kann den Abgang der Tube, und das ist das palpatorisch wichtige Merkmal, zunächst in beiden Fällen an dem Scheitel der Ausbuchtung palpieren. Bei der Tubeneckenplacenta bleibt der Tast- befund auch bei fortschreitender. Gravidität der gleiche. Bei der interstitiellen Tuben- schwangerschaft dagegen ändern sich die anatomischen Verhältnisse, indem das wachsende Ei, wie im anatomischen Teil bereits geschildert, die Uteruswand nach oben und nach außen ausbuchtet und immer weiter über den Tubenansatz hinaus in die Höhe steigt. Dadurch wird der Tubenansatz vom Scheitel des Uterus nach der Seite abgedrängt, steht aber infolge der Wachstumsstreckung der entsprechenden Uterushälfte höher als der Tubenansatz der anderen Seite. Dabei nimmt der Uterus selbst durch das überwiegende Wachstum der Implantationshälfte eine ausgesprochene Schiefstellung an.

Immerhin sind diese bei der Operation häufig in typischer Weise ausgebildeten Erscheinungen klinisch nicht leicht herauszupalpieren, so daß die Diagnose einer interstitiellen Tubargravidität stets schwierig bleibt. Nicht selten endet übrigens die interstitielle Tubargravidität durch den äußeren Fruchtkapselaufbruch schon früher, bevor noch die charakteristische Umgestaltung des Uterus stattgefunden hatte.

Recht schwierig kann unter Umständen die Erkennung der Tubenschwanger- schaft in der Zeit vom A bis 6. Monat der Oravidität sein.

Gerade in diesen Monaten kann die oft sehr starke Aussackung bei der Tuben- eckeninsertion des Eies leicht mit einer Extrauteringravidität verwechselt werden. Indessen liegen die Dinge hier so, daß häufiger eine Intrauterinschwangerschaft für eine Extrauteringravidität gehalten wird als umgekehrt. Man muß versuchen nach- zuweisen, ob die Tube tatsächlich in diese Aussackung aufgegangen ist, oder ob nicht vielmehr Tube und Ovarium erst von der Seitenwand dieser Ausbuchtung ihren Abgang nehmen. Das ist selbstverständlich nicht immer leicht und nötigen- falls muß eine Narkosenuntersuchung vorgenommen werden, um die Sachlage zu klären. Es kommt hinzu, daß hier differentialdiagnostisch noch eine Anomalie mit in Frage kommt, die wir am Schluß noch besonders besprechen werden, das ist die Schwangerschaft in einem Nebenhorn des Uterus. Das Nebenhorn sitzt dem Uterus gestielt auf. Wird es schwanger, so geht der Fruchtsack nicht breitbasig unabgrenzbar in den Uterus über, sondern es ist ein deutlicher, meist 1—2querfingerdicker Ver- bindungsstiel zwischen Uterus und Fruchtsack zu tasten, während man erst an der Seitenkante des Nebenhornes den Abgang des Ligamentum ovarii proprium und der Tube fühlen kann. Gelingt der Nachweis der Adnexe nicht, dann wird das schwangere Nebenhorn meist für einen gestielten Ovarialtumor, oder, wenn Anamnese und Beschwerden auf eine Gravidität hindeuten, für eine Schwangerschaft im istnmischen Teil der Tube gehalten. Ebenso wie mit dieser seitlichen Ausbuchtung oder einer ausgesprochenen Lateralflexion des Uterus ist nicht selten auch eine Verwechslung zwischen Tubargravidität und der Retroflexio uteri gravidi beobachtet worden. Sie kann um so leichter erfolgen, als der extrauterine Fruchtsack für ge- wöhnlich nicht wie der schwangere Uterus in die freie Bauchhöhle hinauifsteigt, sondern häufig den Douglas mehr oder minder vollkommen ausfüllt und dadurch

190 O. Pankow. `

den Uterus so stark nach vorn und oben verdrängt, daß der Palpationsbefund der Portio und der Cervix dem bei der Retroflexio uteri gravidi sehr ähnlich wird. Bei der Retroflexio uteri gravidi ist ja die Portio immer sehr stark nach oben ver- lagert und steht oft hinter der Symphyse. Die von ihr ausgehende Cervix liegt dann dem retroflektierten Corpus uteri auf, ist häufig elongiert und derber als der UÜteruskörper und wird deshalb nicht selten für den ganzen nicht graviden Uterus gehalten. Bei der genauen Palpation, nötigenfalls wiederum in Narkose, kann man jedoch an diesem vermeintlichen Corpus den Abgang der Adnexe nicht nachweisen. Man kann ferner, wenn man gleichzeitig die Portio anhakt und vorsichtig nach unten zieht, den Zusammenhang mit dem Corpus fühlen, dessen vorsichtige Auf- richtung dann in der Narkose oft möglich ist. Des weiteren gibt, wenn man die angehakte Portio nach unten zieht, das Verhalten der Ligamenta sacro-uterina einen Anhaltspunkt dafür, ob der gefühlte derbe Körper tatsächlich den ganzen Uterus darstellt oder nur die Cervix. Untersucht man rectal, so kann man den Abgang der Ligamenta sacro-uterina vom Uterus nachweisen, die ja bekanntlich von der Cervix aus nach hinten ziehen. Fühlt man den Abgang der Ligamenta sacro-uterina etwa 1—2querfingerbreit oberhalb des äußeren Muttermundes und über ihrem Ansatz noch ein Stück des fraglichen Körpers, so muß der darüberliegende Abschnitt das Corpus uteri sein. Setzen dagegen die Ligamenta sacro-uterina an dem oberen Rande des derber gefühlten Körpers an, dann besteht dieser ganze Teil tatsächlich aus der Cervix uteri. Jedenfalls soll man immer, wenn anamnestisch Schwanger- schaft vorliegt und wenn das kleine Becken durch einen Tumor ausgefüllt oder eine starke einseitige, dem Uterus breit aufsitzende weiche Schwellung nachweisbar ist, an die Möglichkeit dieser beiden Anomalien, der Ausbuchtung der Tubenecken und der Retroflexio uteri gravidi, denken, ehe man sich zur Diagnose Tubar- gravidität entschließt.

Auch die Diagnose der Extrauteringravidität der letzten Monate kann große Schwierigkeiten verursachen. Lebt die Frucht, sind Kindsbewegungen deutlich und die kindlichen Herztöne mit Sicherheit zu hören, steht also die Diagnose Gravi- dität als solche fest, dann ist es manchmal nicht leicht, ihren extrauterinen Sitz nachzuweisen. In vielen Fällen fällt die seitliche Lagerung des ganzen Uterus im Abdomen auf. Fühlt man dabei gleichzeitig die Portio stark nach unten gedrängt, und von ihr ausgehend nach hinten und nach der entgegengesetzten Seite ver- lagert, die Cervix ziehen und hat man dabei gar das deutliche Gefühl, daß der Cervix noch ein breiteres kleineres Corpus aufsitzt, dann liegt die Diagnose Ex- trauteringravidität sehr nahe. Man denke jedoch daran, daß auch bei Mißbildungen des Uterus sehr leicht der gleiche Befund erhoben werden kann, so vor allem beim Uterus duplex separatus, bei dem die Verschmelzung der Müllerschen Gänge aus- geblieben ist und zwei getrennte Uteri nebeneinander liegen, und beim Uterus bicornis unicollis, bei dem die Uteruskörper getrennt geblieben, die beiden Hals- teile des Uterus aber zu einer Cervix verschmolzen sind. Beim Uterus duplex wird der Nachweis zweier Scheidenteile und zweier Muttermundsöffnungen leicht auf die richtige Diagnose hinleiten, besonders wenn gleichzeitig noch eine doppelte Vagina nachweisbar ist. Diese Merkmale fallen jedoch bei dem Uterus bicornis unicollis for. Hier kann es direkt unmöglich sein zu bestimmen, ob eine Intra- oder Extrauteringravidität vorliegt. Handelt es sich um eine Intrauteringravidität mit einem solch mißbildeten Uterus, so zeigt die Geburt, wenn sie auch infolge ungenügender Wehenarbeit des halben Uteruskörpers häufig verlangsamt ist, doch insofern keine Abweichungen, als die Spontangeburt oder die artifizielle Geburt

Die Extrauteringravidität. 191

auf natürlichem Wege tatsächlich möglich ist und meist erfolgt. Bei der Extrauterin- gravidität wird dagegen nach erfolgloser Wehenarbeit die Geburtstätigkeit wieder aussetzen und nun wird meistens die Sachlage erst geklärt. Besonders hingewiesen sei in solchen Fällen, bei denen es fraglich ist, ob die Frucht innerhalb oder außerhalb des Uterus sitzt, auf das Gefühl, das der Fruchtsack bei der Untersuchung selbst gibt. Die Unklarheit der Sachlage bringt es ja mit sich, daß die Palpation hier eine besonders genaue und länger dauernde ist. Während der Untersuchung wird man nun bei intrauterinem Sitz der Frucht sehr häufig einen Konsistenz- wechsel des Uterus nachweisen können, bedingt durch wechselnde Contractions- zustände, die man an den Fruchtsackwandungen des extrauterin sitzenden Eies nicht wahrnehmen kann. Das ist ein Merkmal, an das man stets denken soll, wenn man die Entscheidung in solchen Fällen zu treffen hat. Findet sich bei der einseitigen Lagerung des Fruchtsackes die Portio nicht, wie oben besprochen, nach unten, sondern vielmehr nach oben und nach der dem Fruchtsack entgegen- gesetzten Seite hinter die Symphyse oder dem Schambeinast verlagert, dann ist in den späteren Schwangerschaftsmonaten dieser Befund außerordentlich verdächtig auf einen extrauterinen Sitz des Eies. Die Diagnose wird um so wahrscheinlicher, wenn irgend ein anderer Tumor, der den ganzen schwangeren Uterus nach oben verdrängt haben könnte, nicht nachweisbar ist. Wird in allen diesen Fällen die Diagnose nicht rechtzeitig gestellt, so wird unter allen Umständen die Aufmerk- samkeit auf den extrauterinen Sitz dadurch gelenkt, daß, wie wiederholt erwähnt, am Ende der Zeit nach vergeblicher Wehenarbeit, durch die nur die Decidua aus dem Uterus ausgestoßen wird, die Kindsbewegungen aufhören.

Ist das Absterben der Frucht dagegen nicht erst im Anschluß an solche ver- gebliche Wehentätigkeit am Ende der Zeit, sondern bereits im Laufe der Gravidität erfolgt, wie das ja auch beim intrauterinen Sitz der Frucht oft genug zu beobachten ist, so fehlt zunächst jeder Hinweis auf eine Extrauteringravidität. Sucht die Frau dann, weil sie überhaupt keine Kindsbewegungen gefühlt hat oder nicht mehr fühlt, den Arzt auf, so wird wiederum die oben erwähnte Lagerung des Fruchtsackes im Abdomen und die Verschiebung der Portio und Cervix den Verdacht auf eine Extrauterinschwangerschaft erwecken müssen. Recht schwierig aber können die Ver- hältnisse werden, wenn die Frucht nicht mehr in dem geschlossenen Fruchtsack, sondern bereits in der Bauchhöhle gelegen ist. Neben der Heranziehung der Röntgenuntersuchung wird dann auch die Perkussion des Abdomens von Bedeu- tung sein und auf die richtige Diagnose hinleiten, wenn über dem vermeintlichen Fruchthalter teils gedämpfter, teils tympanitischer Schall nachweisbar ist. Ob die Frucht nackt und frei zwischen den Därmen liegt oder in den Eihäuten, oder ob sie erst sekundär durch peritoneale Membranbildungen an einer Hülle umkleidet wird, stets werden die die Frucht überlagernden oder ihr anliegenden und mit ihr verwachsenen Därme zur Folge haben, daß eine unregelmäßige Dämpfungszone, unterbrochen von tympanitischen Stellen, perkutorisch festzustellen ist. Auch die Anamnese wird gerade in diesem Falle wieder von besonderer Wichtigkeit sein. Oft geben die Frauen an, daß die Kindsbewegungen, solange sie bestanden, ganz besonders schmerzhaft waren. Ist das Kind abgestorben und ist es nun Verwach- sungen mit dem Nachbarorgan eingegangen, dann können zuweilen erst von da an 'hochgradige Beschwerden eintreten, und sich selbst ileusartige Erscheinungen bemerkbar machen. Sind also in Zweifelsfällen derartige Symptome vorhanden, so wird dadurch die Vermutungsdiagnose einer Extrauteringravidität sehr viel wahr- scheinlicher gemacht. Sind Zweifel darüber vorhanden, ob es sich in solchen Fällen

192 O. Pankow.

überhaupt um eine Schwangerschaft oder um irgend einen Tumor im Abdomen handelt, so muß vor allem wiederum die Röntgenuntersuchung zu Hilfe genommen werden, durch die man die Skeletbildung der Frucht in der zweiten Hälfte der Gravidität meist ohne weiteres erkennen kann. Zum Schlusse unserer Erörterungen über die Dia- gnose der Extrauteringravidität sei noch daran erinnert, daß man in fraglichen Fällen, in denen überhaupt unsicher ist, ob eine Schwangerschaft besteht oder nicht, auch die Reaktionen diagnostisch heranziehen kann, die die Schwangerschaft als solche erkennen lassen. Die wichtigste dafür ist die serologische Untersuchung nach Abderhalden?®. In jeder Schwangerschaft sind im Blute der Mutter Eiweißstoffe vorhanden, die von fötalen Zellelementen herstammen. Sie führen zur Bildung der von Abderhalden als Abwehrfermente bezeichneten Stoffe im mütterlichen Blut, durch die das fötale resp. das Placentaeiweiß abgebaut und unschädlich gemacht wird. Diese Abwehrfermente sollen schon 8 Tage nach Eintritt der Befruchtung eintreten und bis 2—3 Wochen nach Ausstoßung der Placenta nachweisbar bleiben. Auf deren Nachweis, für den Abderhalden zwei Methoden, das Dialysier- und das Polarisationsverfahren, angegeben hat, beruht die Abderhaldensche Schwanger- schaftsdiagnose. Diese Verfahren sind jedoch für die Durchführung in der allgemeinen Praxis nicht geeignet und können nur in Instituten vorgenommen werden, umso- mehr, als sie die allersorgsamste und peinlichste Arbeit bei der Gewinnung des Materials und der Anstellung der Reaktionen verlangen. Fällt die Abderhalden- sche Schwangerschaftsreaktion negativ aus, so ist mit einer sehr großen Wahr- scheinlichkeit eine, Gravidität ausgeschlossen. Fraglich ist nur, wieweit man diese Methode gerade in unsicheren Fällen von Tubargravidität verwerten kann, bei denen das ganze Ei aus der Tube herausgestoßen in der Bauchhöhle liegt und die Placenta nicht mehr in organischer Verbindung mit der Blutbahn der Mutter steht. Untersuchungen über derartige Fälle liegen bisher nicht vor Fällt die Abder- haldensche Schwangerschaftsuntersuchung positiv aus, so wächst dadurch die Wahrscheinlichkeit, daß eine Gravidität vorliegt, obwohl die Reaktion nicht für die Schwangerschaft absolut specifisch zu sein scheint.

Eine andere Methode, die Schwangerschaft nachzuweisen, baut sich auf der Erfahrung auf, daß während der Oravidität nicht selten eine alimentäre Glykosurie renalen Ursprungs sich ausbildet. Auf der künstlichen Erzeugung einer solchen rein renalen Glykosurie beruht die Methode, die auch von dem Praktiker leicht aus- geführt werden kann und keinerlei komplizierte Untersuchungen verlangt, und die von Kamnitzer und Joseph?! zuerst für den Schwangerschaftsnachweis angewandt wurde. Sie wiesen darauf hin, daß bei Injektion von 5 mg Phloridzin eine Glykos- urie entsteht. Bei der schwangeren Frau konnten sie diese Glykosurie schon bei einer Injektion von 2 mg erzielen, bei Nichtschwangeren dagegen war sie mit dieser Dosis nur in Einzelfällen nachweisbar. Kamnitzer und Joseph folgern daraus, daß eine Schwangerschaft nicht vorliegt, wenn 1'/, Stunden nach der Injektion von 2 mg Phloridzin keine Glykosurie auftritt, und sie meinen, daß ihr Auftreten nach dieser Zeit zum mindesten eine Gravidität wahrscheinlich macht. Für die Tubar- gravidität hat allerdings bereits Zondek? betont, daß nur „bei vollständig erhaltenem Placentarkreislauf“ die Methode anwendbar sei. Die Ausführung ist sehr einfach: Hat man festgestellt, daß eine Zuckerausscheidung bei der zu unter- suchenden Frau nicht vorhanden ist, so werden 2 mg Phloridzin, das unter dem Namen Maturin in Ampullen von Schering-Berlin geliefert wird, morgens nüchtern injiziert. Darnach läßt man die Frau 1/, l Wasser oder Tee trinken. In Pausen von einer halben Stunde wird der Urin auf Zucker untersucht. Ist er bis spätestens

Die Extrauteringravidität. 193

II Stunden im Harn nachweisbar, dann soll es sich um eine Schwangerschaft handeln. f

Andere Untersuchungen des Blutes, das Verhalten des Hämoglobins, die Zahl der roten Blutkörperchen, der Gerinnungsablauf, die Alkalescenz, die Senkungs- geschwindigkeit der roten Blutkörperchen us w. sind für die Diagnose der Gra- vidität als solche nicht zu verwerten, da die Schwangerschaft keinen specifischen Einfluß auf diese Dinge ausübt.

Therapie.

Die Anschauungen über die Behandlung der Extrauteringravidität haben sich im Laufe der letzten Jahrzehnte wesentlich geklärt. Einheitlich ist die Auffassung bezüglich der Therapie des katastrophal einsetzenden äußeren Fruchtkapselaufbruches, der sog. Tubenruptur. Hier steht man auf dem Standpunkt, daß grundsätzlich sofort operiert werden soll, u.zw. am besten per laparotomiam. Dabei wird man den kranken rupturierten Eileiter vollständig entfernen und ihn am besten aus der Uteruskante exzidieren. Ob man dabei das Ovarium der betreffenden Seite mitnehmen soll, ist eine rein technische Frage. Wenn irgend möglich, wird man selbstverständlich darauf verzichten. Der Zustand solcher Kranken verlangt jedoch sehr oft eine möglichste Abkürzung der Operation. Man wird deshalb, wenn irgendwie Verklebungen zwischen Ovarium und rupturierter Tube vorhanden sind, deren Lösung und Versorgung den Eingriff ungebührlich verzögern würde, den: Eierstock mit entfernen können, wenigstens wenn das andere Ovarium noch vorhanden ist. Ausdrücklich sei darauf hingewiesen, daß man in solchen Fällen von Tubenruptur mit schwerster Blutung die Gefährlichkeit des Zustandes wegen der Kleinheit des Pulses nicht überschätzen und als zu schlecht für einen Transport ins Krankenhaus oder für eine Notoperation im Hause auffassen darf. Es sei noch einmal betont, daß der schwere Allgemein- zustand und der schlechte Puls nicht allein auf Kosten des Blutverlustes zu setzen, sondern zum großen Teil auf den schweren peritonealen Chok zurückzuführen sind, den die starke intraabdominelle Blutung hervorruft. Es ist immer wieder über- raschend zu sehen, wie sich bei derartigen Kranken nach Eröffnung der Bauch- höhle und mit der damit verbundenen Entlastung des Bauchfells der Puls noch während der Narkose und Operation zuweilen auffallend bessert. Der Erfolg wird noch größer und oft überraschender, wenn man zugleich bei der Operation die von Thies? empfohlene intravenöse Reinfusion des in der Bauchhöhle befindlichen flüssigen Blutes vornimmt. Das Verfahren ist einfach und bedeutet entschieden einen großen Fortschritt in der Behandlung schwer entbluteter Kranker, wie sie der Gynäkologe ja gerade bei der Tubenruptur so häufig sieht. Es ist immer wieder verblüffend zu beobachten, von wie hervorragender Wirkung diese Reinfusionen sind und wie überaus rasch sich solche Kranke gegenüber anderen, bei denen die Reinfusion nicht vorgenommen werden konnte, erholen. Mehr als 300, höchstens 500 cm? soll man dabei nicht in die Vene einfließen lassen. Wir verfahren in letzter Zeit so, daß wir das aus der Bauchhöhle geschöpfte Blut durch eine Gazefilter in einen Trichter und von hier aus ohne -jeden Zusatz sofort wieder in die Cubital- vene einfließen lassen. Hat man schwere Blutungen im Privathause zu operieren und die Apparatur zur Reinfusion nicht zur Hand, so kann man kleinere Mengen unter Umständen subcutan oder intramuskulär injizieren oder schließlich auch sie der Kranken rectal wieder zuführen.

Warnen möchten wir davor, diese Reinfusionen gewissermaßen dadurch vor- nehmen zu wollen, daß man das Blut in der Bauchhöhle beläßt. Auf alle Fälle

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 13

194 O. Pankow.

müssen bei der Operation die dicken Blutgerinnsel entfernt werden, da ihre Resorption doch nur außerordentlich langsam vor sich geht und_sie anderseits einen sehr guten Bakteriennährboden abgeben. Aber auch das flüssige Blut entfernt man am besten soweit wie möglich. Trotz aller Asepsis können wir doch nicht immer mit einer absoluten Keimfreiheit des Operationsfeldes rechnen und wir schaffen durch das zurückgelassene Blut unter Umständen Bedingungen, die eine trotz aller Vorsicht eingetretene Infektion begünstigen und die Entstehung einer allgemeinen Peritonitis erleichtern können.

Vielfach ist die Frage erörtert worden, ob man grundsätzlich bei der operativen Behandlung der Tubargravidität die andere Tube mit entfernen soll. Wir haben bereits betont, daß wiederholte Schwangerschaften erst in der einen, dann in der anderen Tube vorkommen. Sie sind in etwa 7% aller Fälle beobachtet worden. Manche Operateure haben daraus die Folgerung geschlossen, grundsätzlich auch die nicht erkrankte Tube mit zu entfernen. Da dadurch die Fortpflanzungsfähigkeit überhaupt aufgehoben wird, erscheint uns diese Forderung nicht berechtigt zu sein.

Einheitlich wie in der Therapie der Tubenruptur war bis vor kurzem auch die Behandlung der Tubenschwangerschaft mit lebender Frucht, indem man auch hier auf dem Standpunkt stand, grundsätzlich durch Operation den abnormen Zustand zu beenden. Dagegen haben sich vor kurzem Sittner®* und Lichtenstein gewandt. Lichtenstein, der ja für das Austragen der Schwangerschaft die basiotrope Implan- tation des Eies in der Tube verantwortlich macht, kommt zu der Schlußfolgerung, daß er sagt: „Wenn wir heute wissen, daß bei einer einmal bis in die zweite Hälfte gediehenen Extrauterinschwangerschaft meistens eine basiotrope Placenta vorhanden ist, die eine ungestörte Weiterentwicklung gewährleisten kann, hat der Gedanke nicht so sehr Abschreckendes mehr, bei klinischer Beobachtung bis zu Ende abzu- warten, wenn sich die Mutter wohl befindet, das Kind lebt und ein lebendes Kind gewünscht wird, oder so lange zu warten, bis ein unreifes Kind wenigstens als frühreifes, aber lebensfähiges entwickelt werden kann. Gewiß eine kühne, aber ideale Indikationsstellung.“ Gegen diese Indikationsstellung hat schon Zweifel?, der Chef Lichtensteins, seine Bedenken geäußert. Er betonte, daß er einen Fall erlebt habe, bei dem die Gravidität fast bis zur Reife des Kindes gediehen war, die Frau operiert werden sollte und noch am Tage vor der festgesetzten Operation durch Berstung des Fruchtsackes und große Blutung zugrunde ging. Auch uns scheint die Forderung Lichtensteins übertrieben zu sein, und der eine von ihm selber beobachtete Fall spricht außerordentlich dagegen. Hier handelte es sich um eine Frau, die ihre letzte Periode im September 1917. hatte. Im Oktober, November, Dezember traten unregel- mäßige Perioden auf. Im Januar 1918 erfolgte plötzlich Abgang von blutigen Schleim, der mit starken Leibschmerzen verbunden war. Der damals zugezogene Arzt stellte eine Schwangerschaft im vierten Monat mit Verdacht auf Geschwulstbildung fest: Im Mai 1918 bekam die Frau wieder heftige Schmerzen im Leib und in den Beinen, die nach mehrtägiger Bettruhe besser wurden. Anfang Juni traten dann plötzlich heftige Leibschmerzen auf, die längere Zeit anhielten. Der Arzt stellte eine Quer- lage bei uneröffnetem Muttermund fest und schickte die Frau, da Ödem und Ikterus bestand, 5 Tage später in die Klinik. Hier fand man bei der Operation den Fruchtsack geborsten, das Kind frei in der Bauchhöhle liegend. Es dürfte doch wohl ein sehr glückliches Ereignis sein, daß hier die Ruptur des Fruchtsackes ohne schwere und tödliche Blutungen abgegangen ist. Lichtenstein müßte eigentlich aus dem Ablauf dieses Falles sehen, daß doch auch die basiotrope Implantation, um die es sich in diesem Falle gehandelt hat, nicht vor der Ruptur sichert. Daß aber in solchen Fällen

Die Extrauteringravidität. 195

selbst unter klinischer Beobachtung eine ganz abundante Blutung rasch zum Tode führen kann, ist doch nicht zu bestreiten. Wir glauben deshalb, daß man an dem Standpunkt festhalten soll, jede Extrauteringravidität mit lebender Frucht durch Operation zu beenden, umsomehr, als diese wenigen seltenen Fälle volkswirtschaftlich von gar keiner Bedeutung sind. Nur wenn unter vollem Hinweis auf die schweren Gefahren, denen sie sich aussetzt, von der Frau selbst aus Sehnsucht nach einem lebenden Kinde, die Aufschiebung der Operation gewünscht wird, könnte man davon absehen. |

' Einheitlich ist drittens das therapeutische Handeln in den Fällen, in denen eine Hämatocele in Verjauchung übergegangen ist. In diesen Fällen wird man von der Scheide her den Herd eröffnen und drainieren, dagegen von einer Exstirpation der kranken Tube selbst absehen.

Einheitlich ist schließlich das therapeutische Vorgehen auch dann, wenn eine extrauterine Frucht am Ende der Zeit oder vorher abgestorben war und nun als solche in der Bauchhöhle liegend erkannt wird. Bestehen Beschwerden seitens der Abdominalorgane dann noch nicht, so wird man doch daran denken müssen, daß Verjauchungen, Vereiterungen und Verwachsungen mit den Nachbarorganen ein- treten können, die nun lebensbedrohliche Zustände hervorzurufen geeignet sind, und man wird deshalb gut tun, die in der Bauchhöhle gelegene Frucht zu entfernen. Man wird den Weg erst recht gehen, wenn Beschwerden bestehen, die die Frauen zum Arzt führen und die auf die Verklebung mit den Nachbarorganen zurück- geführt werden müssen, unter denen Verwachsungen mit den Därmen und Ileus- erscheinungen eine besondere Rolle spielen. Sind dann peritoneale Erscheinungen noch nicht vorhanden, besteht kein Fieber, so wird man auch hier den ganzen Frucht- sack entfernen. Hierbei kann die Herausnahme der Placenta besondere Schwierig- keiten machen, wenn sie, sei es bei primärer, sei es bei sekundärer Bauchhöhlen- implantation, in feste Verbindung mit den Organen der Bauchhöhle eingetreten ist. In solchen Fällen, besonders wenn die Placenta auch mit der Leber in organische Verbindung getreten ist, ist es zu schweren und tödlichen Blutungen gekommen. Man hat deshalb vorgeschlagen, dann nur die Frucht zu entfernen, den Fruchtsack aber in die Bauchdecken einzunähen und tamponieren. Aber selbst dann sind noch tödliche septische Arrosionsblutungen beobachtet worden. Für derartige Fälle ist eben ein einheitliches Verfahren nicht anzugeben und der Operateur muß sich den gegebenen Verhältnissen anpassen und entscheiden, ob er nur die Frucht oder auch die Placenta mit herausnehmen kann und will.

Nicht so einheitlich wie bei den eben besprochenen Zuständen ist dagegen das therapeutische Vorgehen bei den zahlreichen Fällen von innerem Fruchtkapsel- aufbruche, durch den die Schwangerschaft so oft in den ersten Monaten beendet wird. Ein Punkt sollte auch hier entscheidend auf die therapeutischen Maßnahmen einwirken. Das ist die Tatsache, daß trotz erfolgten inneren Fruchtkapselauibruches, ja trotz Ausstoßung der Frucht das Ei weiter- leben und weiterwachsen und durch Arrosion größerer Gefäße oft ganz unerwartet noch das Bild des schweren äußeren Fruchkapselaufbruches hervorrufen kann. Wir selbst haben drei Fälle gesehen, bei denen unter klinischer Beobachtung und konservativer Therapie ein deutlicher Rückgang der Hämatocele und auch der Tubenschwellung nachweisbar war und bei denen einmal 6, einmal 7 und einmal 9 Wochen nach Beginn der klinischen Behandlung ganz plötzlich eine schwere Rupturblutung sich einstellte, die eine sofortige Operation nötig machte. Diese Tatsache der Möglichkeit einer Ruptur trotz erfolgter Hämatocelenbildung

13:

196 O. Pankow.

sollte zum mindesten dazu zwingen, jeden Fall von Extrauteringravidität der klini- schen Behandlung zuzuführen. Hier wird man dann wählen können, ob man operativ oder konservativ vorgehen soll. Im allgemeinen stehen wir heute auf dem Standpunkt, in jedem Fall operativ einzugreifen, u. zw. aus drei Gründen: Der erste ist die Möglichkeit der sekundären Ruptur, die wir eben erwähnt haben. Der zweite ist die Tatsache, daß die konservative Behandlung sehr lange Zeit erfordert und daß die Frau oft wochen- und monatelang liegen muß, eine Forderung, die gerade in unserer Zeit schwer durchzuführen ist. Der dritte ist der, daß die Hämatocele bei längerem Bestand nicht ganz selten infiziert werden und in Verjauchung oder Vereiterung übergehen kann, indem Keime von dem Darm oder der Blutbahn her in sie eindringen. Diese Komplikation bedeutet ebenso wie die sekundäre Ruptur eine erhebliche Gefährdung für die Frau. Dem steht gegenüber, daß die operative Therapie des inneren Fruchtkapselaufbruches bei nichtinfizierten Fällen außer- ordentlich günstige Resultate ergibt und die Behandlungsdauer auf durchschnittlich zwei Wochen abkürzt.

Aus allen diesen Tatsachen heraus stehen wir heute auf dem Standpunkt, auch bei dem inneren Fruchtkapselaufbruch das operative Vorgehen zu bevorzugen. Eine Ausnahme wird man nur dann machen, wenn bei wiederholter Schwangerschaft auch in der zweiten Tube noch keine Kinder vorhanden sind und der Kinder- wunsch die Frauen selbst dazu führt, um die Unterlassung der Operation zu bitten. Wir haben, wie bereits erwähnt, in einem solchen Falle in der Tat eine dritte Schwangerschaft intrauterin eintreten gesehen, die allerdings im vierten Monat durch Abort endete.

Hat man sich zur Operation entschlossen, so ist die Frage, welchen Weg man wählen soll, den abdominellen oder den vaginalen. Wir stehen auf dem Standpunkt, grundsätzlich abdominell vorzugehen. Die topischen Verhältnisse der Organe werden durch die Bildung der Hämatocele, durch die Heranziehung der Nachbarorgane, vor allem des Darmes und des Netzes zu ihrer Abdachung und durch die damit verbundenen ausgedehnten Schwartenbildungen so verwaschen und unklar, daß man beim Vorgehen von der Scheide aus niemals eine so klare Übersicht über die Dinge hat und so sorgfältig die Blutung stillen kann, wie das von oben der Fall ist. Gerade die Blutstillung ist bei solchen Operationen aber von großer Bedeutung, weil es sonst nicht selten wiederum zu Ansammlungen im Douglas kommt, die dann infolge der fast unvermeidlichen Keimübertragung bei der Opera- tion sehr leicht in Verjauchung übergehen und dann für die Frauen gefährlich werden können.

Die Durchführung aller operativen Maßnahmen wird allerdings dadurch manchmal unmöglich werden, daß die Kranke sie aus Angst vor dem Messer ab- lehnt. Immerhin sollte auch in diesen Fällen der behandelnde Arzt die Über- weisung in die Klinik verlangen. Er muß zum mindesten die Angehörigen auf die Gefahr hinweisen, die mit einer doch noch möglichen Ruptur verbunden ist, und sollte stets die Verantwortung für den weiteren Verlauf der Dinge ablehnen, wenn seinem Wunsche nach Überführung ins Krankenhaus nicht gefolgt wird. Hat er dann die Behandlung zu Haus durchzuführen, so muß der oberste Grundsatz absolute Bettruhe sein. Daneben muß er durch eine leichte Diät und unter Um- ständen durch regelmäßige Einläufe und Abführmittel dafür sorgen, daß bei der bettlägerigen Frau Verstopfung nicht eintritt, die einmal Schmerzen verursachen und zweitens durch das damit verbundene Pressen zu Blutungen und damit zur Gefahr der Zerreißung führen kann. Im Anfange der Behandlung wird man daneben

Die Extrauteringravidität. 197

kalte Umschläge oder eine Eisblase auf das Abdomen legen lassen und, wenn ein- seitige Schmerzen auftreten, Opium oder Morphium verabfolgen. Mit dieser ein- tönigen Therapie muß so lange fortgefahren werden, bis nicht bloß ein Stillstand im Anwachsen der Hämatocele und des Tubentumors, sondern ein deutliches Rück- gehen derselben zu beobachten ist. Erst wenn das der Fall ist und wenn gleich- zeitig auch in den uterinen Abgängen die ausgestoßene Decidua auf den Frucht- ` tod hingewiesen hat, kann ganz vorsichtig zu Prießnitzschen Umschlägen über- gegangen werden. Haben sich unter dieser Behandlung die Hämatocele und der Tubentumor weiter verkleinert und bleiben schließlich nur noch eine Verdickung der Tube und Verwachsungen der Adnexe als Reste der Erkrankung übrig, so kann dann zu einer resorbierenden Hitzebehandlung übergegangen werden in der gleichen Weise, wie das bei chronisch entzündlichen Adnexerkrankungen der Fall ist. Immer aber muß sich der Arzt bewußt sein, daß er bei der konservativen Therapie mit Überraschungen rechnen muß, und es muß unter allen Umständen bei Zeichen innerer Blutung eine Überführung der Kranken in die Klinik vorgenommen oder ein Operateur sofort ins Haus gerufen werden. Operationen der Tubenruptur sind häufig unter primitivsten Verhältnissen ausgeführt worden und haben auch da manche Fälle gerettet, die sonst verloren gewesen wären.

Die Nebenhornschwangerschaft.

Anhangsweise muß hier noch einer Implantationsanomalie des Eies gedacht werden, die zwar nicht zu der eigentlichen Extrauteringravidität gehört, ihr aber in den ganzen klinischen Erscheinungen und ihrem Verlauf so ähnelt, daß sie ihr praktisch gleichgestellt werden kann. Das ist die Gravidität in einem Neben- horn des Uterus.

Bei einem Uterus mit Nebenhorn hat nur der eine der beiden Müllerschen Gänge, aus deren Verschmelzung der normale Uterus entsteht, eine volle Aus- bildung erfahren, während der Teil des anderen, dem die Bildung des Corpus uteri obgelegen hätte, mehr oder minder unvollkommen entwickelt geblieben ist. Dieses als Nebenhorn bezeichnete Gebilde kann alle Grade der Entwicklungshemmung vom dünnen, lumenlosen Muskelstrang bis zu einem verhältnismäßig kräftigen, mit einer Schleimhaut ausgekleideten Hohlmuskel zeigen. Das Ei kann selbstverständ- lich in ihm nur zur Implantation kommen, wenn ein Lumen vorhanden ist. Je vollkommener die Schleimhaut ausgebildet ist, um so eher wird das implantierte Ei in ihr allein das Nest bilden können. In solchen Fällen kann die Nebenhorn- schwangerschaft ausgetragen werden, ohne daß es zur Zerreißung des Fruchthalters zu kommen braucht, umsomehr, als die Muskelwand, die viel kräftiger ist als die der Tube, eine starke Hypertrophie erfahren kann. Je kümmerlicher dagegen die Schleimhaut entwickelt und je geringer dann ihre deciduale Reaktionsfähigkeit ist, umsoweniger wird sie als Eibett allein genügen und um so ausgedehnter und tiefer werden die Zotten in die Muskulatur selbst eindringen, sie zerstören und dadurch den gewöhnlichen Ausgang der Nebenhornschwangerschaft, die Ruptur, begün- stigen. Erleichtert wird der Fruchtkapselaufbruch dadurch, daß das Nebenhorn meist eine sehr ungleichmäßige Beteiligung an der Schwangerschaftshypertrophie und Dehnung zeigt. Für gewöhnlich ist es so, daß der nach außen und unten gelegene Teil des Fruchthalters verhältnismäßig dick und kräftig ist und an der Entfaltung kaum oder nur geringen Anteil hat, während die nach oben und innen zu gelegenen Wandabschnitte eine mächtige, immer mehr fortschreitende Verdünnung erfahren. Ist dabei gleichzeitig die allgemeine Schwangerschaftshypertrophie des Nebenhorns

198 O. Pankow.

nicht stark genug, um diese Überdehnung auszugleichen, so erfolgt die Ruptur, ` die sich deshalb meist an der nach oben und innen gerichteten Seite findet. Da aber die Wand des Nebenhorns von vornherein dicker ist als die der Tube, und in geringer Weise wohl stets eine Hypertrophie erfährt, so tritt die Ruptur nicht wie bei der Tube am häufigsten im zweiten und dritten, sondern erst im vierten ` und fünften Monat der Schwangerschaft ein. Hierbei ist die Blutung im allgemeinen viel stärker als bei der Tubenruptur und deshalb sind Verblutungen beim Platzen des Fruchtsackes einer Nebenhornschwangerschaft auch besonders gefährlich. Bei der Ruptur wird gewöhnlich auch die Fruchtblase zerreißen, und die Frucht wird in die Bauchhöhle geschleudert. Das entleerte Nebenhorn zieht sich zusammen. Dabei kann die Placenta ebenfalls abgelöst und in die Abdominalhöhle ausgestoßen werden. Löst sie sich jedoch nicht, dann kann man sehen, wie sie aus dem Rup-

Fig. 64.

Nebenhornschwangerschaft. Uterus mit linken Adnexen, N. = Nebenhorn, M. = subseröses, intraligamentär entwickeltes Myom des Uterus, P.= eege über dem Myom, er = Placenta, die aus der Rupturstelle ( R.) des Nebenhorns herausquillt.

turloch teilweise herausgedrängt wird und es wallartig überragt. Das ist sehr schön an einem Fall von geplatzter Nebenhornschwangerschaft, den wir vor kurzem operiert haben, zu erkennen (s. Fig. 64). Die Placenta selbst kann bei der Gravidität im Nebenhorn wohlgebildet sein wie bei der normalen Haftung des Eies im Uterus. Sehr häufig aber zeigt sie ein mehr flächenhaftes Wachstum und kann unter Um- ständen die ganze Innenwand des Nebenhorns auskleiden. Das ist wahrscheinlich dann der Fall, wenn eine mangelhaft gebildete Schleimhaut EEN ist, die nicht im stande ist, in normaler Weise decidual zu reagieren.

Die Entstehung der Nebenhornschwangerschaft kann dann leicht erklärt werden, wenn der Verbindungsstiel zwischen Nebenhorn und Uterus kanalisiert ist und das Lumen des Uterus in direkter Verbindung mit dem des Nebenhorns steht. In den meisten Fällen ist das aber nicht der Fall, sondern das Verbindungsstück stellt einen soliden Strang dar. Dann sind zwei Möglichkeiten für die Entstehung der

Die Extrauteringravidität. 199

Nebenhornschwangerschaft gegeben. Sitzt das Corpus luteum graviditatis in dem zum Nebenhorn gehörenden Ovarium, so kann die Befruchtung nur dadurch erfolgt sein, daß die Spermatozoen durch die normale Uterushälfte und die ihr zugehörige Tube in die Bauchhöhle und von da auf die andere Seite hinüber gelangt sind. Verhältnismäßig häufig aber hat man bei der Nebenhornschwangerschaft das Corpus luteum graviditatis in dem Ovarium der anderen Seite gefunden. In allen diesen Fällen ist die Enstehung der Nebenhornschwangerschaft durch die sog. äußere Überwanderung, deren wir schon oben gedacht haben, zu erklären.

Der klinische Verlauf der Nebenhornschwangerschaft ist ganz wie der einer Extrauteringravidität. Die meisten Fälle enden vorzeitig, wie gesagt, im vierten bis fünften Monat durch den äußeren Fruchtkapselaufbruch. Andere Fälle können bis Ende der Schwangerschaft ausgetragen werden und machen dann die gleichen Er- scheinungen wie jede andere Extrauteringravidität mit ausgetragener Frucht im ge- schlossenen Fruchthalter. |

Die Diagnose bei der Nebenhornschwangerschaft wird sehr häufig nicht ge- stellt und die allermeisten Fälle werden erst bei der Operation als solche erkannt. Es gibt aber bestimmte Merkmale, die schon verhältnismäßig frühzeitig auf die richtige Diagnose hinleiten können. Dadurch, daß es nicht zur Verschmelzung der Müller- schen Gänge gekommen ist, sondern der vorhandene, eigentlich nur halbe Uterus von einem Müllerschen Gang gebildet worden ist, zeigt er sehr häufig eine charakte- ristische seitliche Verziehung, und man kann in günstigen Fällen bei der Palpation auch fühlen, daß die Form des Uterus eine andere ist als sonst. Die Abweichung von dem normalen besteht darin, daß der aus einem Müllerschen Gang gebildete Uterus gewöhnlich nicht die birnenförmige Figur mit der Abplattung und Verbreiterung des Fundus zeigt, sondern konisch nach oben zu läuft und in die Tube übergeht. Das zweite Zeichen, das für die Diagnose wichtig ist, ist das Verhalten des ge- tasteten Tumors zum Uterus und den ihm zugehörigen Adnexen. Man kann ge- wöhnlich feststellen, daß das Verbindungsstück zwischen Uterus und Nebenhorn nicht das Gefühl der schlanken Tube gibt, neben der dann noch das Ligamentum ovarii proprium zu tasten ist, sondern einen gleichmäßig entweder fingerdicken, runden oder mehr flachen Strang darstellt, der breit auf dem Tumor übergeht. Tastet man den Tumor selbst ab, so kann man unter Umständen einen Konsistenz- wechsel während der Palpation nachweisen, der schon darauf hindeutet, daß der Fruchtsack nicht von der Tube gebildet wird. Kann man dann noch den Abgang der Tube und des Ovariums von seiner Seite her nachweisen, dann ist die Diagnose: Nebenhornschwangerschaft sicher. In den späteren Monaten, wenn die Neben- hornschwangerschaft schon das kleine Becken ausfüllt, wird man allerdings die Adnexe neben ihm kaum noch fühlen und es ist dann auch, wenn man überhaupt an.Schwangerschaft außerhalb des Uterus denkt, kaum zu entscheiden, ob es sich um eine Eileiter- oder Nebenhornschwangerschaft handelt. Ist, wie das in manchen Fällen geschehen ist, die Nebenhornschwangerschaft als solche erkannt worden, so muß man selbstverständlich operativ vorgehen. Man darf nicht darauf rechnen, daß sich vielleicht die Frucht bis zur Lebensfähigkeit in dem Fruchtsack entwickeln kann, um dann erst operativ vorzugehen, da jederzeit infolge der eigenartigen, oben beschriebenen Entwicklung des Fruchtsackes die Ruptur eintreten kann, die dann wegen der außerordentlichen Blutungen sehr rasch den Tod der Frau herbeiführt.

Tritt, wie meist, in früheren Monaten die Ruptur ein, dann muß selbstver- ständlich sofort operiert werden.

200 O. Pankow.

Literatur: ! O. Hertwig, Beiträge zur Kenntnis der Bildung, Befruchtung und Teilung des Tiereies. Morph. Jahrb. 1876, I u. 1877, II. ?Hubrecht s. Selenka, Menschenaffen, 5. Lief., Wiesbaden 1903. 3 Poorten, Zbl. f. Gyn. 1922, p. 756. * Werth, Die Extrauterinschwanger- schaft in v. Winckels Handb. d. Geb., Wiesbaden 1904, II, 2.T. 5J. Veit, Die Extrauterin- gravidität in A. Döderleins Handb. d. Geb., Wiesbaden 1916, II, p. 327ff. *Schönholz, Über angeborene Tubenanomalien, Ztschr. f. Geb. u. Gyn., LXXXVII. ’Chiari, Zur pathologischen Anatomie des Eileiterkatarrhs, Ztschr. f. Heilk., VIII. 8Schauta, Über die Diagnose der Frühstadien chronischer ee A. f. Gyn., XXXIII. ?v. Recklinghausen, Die Adenome und Cystadenome der Uterus- und Tubenwand, Berlin 1896; D. med. Woch 1893. 1 Schickele, Über die Herkunft der Cysten der weiblichen Adnexe, ihrer Änfangsgebilde und der Adenomyome des lateralen Tubenabschnittes. Virchows A., CLXIX. "R. Meyer, Uber Drusen, Cysten und Adenome im Myometrium bei Er- wachsenen. Ztschr. f. Geb. u. Gyn., XLII u. XLIV. % Opitz, Über die Ursachen der Ansiedlung des Eies im Eileiter. Ztschr. f. Geb. u. Gyn., XLVIII, H. 1. 3 Höhne, Intramuskuläre Abzweigungen des Tubenlumens. A. f. Gyn., LXXIV. 'P. Zweifel, Uber Oophorektomie. A. f. Gyn., XXXIX, p. 353. Schridde, Die eitrigen Entzündungen des Eileiters. 1910, Verlag Gustav Fischer. 16 Micholitsch, Ztschr. f. Geb. u. Gyn., XLIX, H. 1. Aschoff, Zbl. f. allg. Path. u. path. Anat. 1901, Nr.12. $88 v. Franqué, Tubargravidität inMenge-Opitz’ Handb. d. Frauenh., Wiesbaden 1913. 18a Lahm, A. f. Gyn. 1921, Nr. 4 und Zbl. f. Gyn. 1921, Nr. 38. '% Krömer, Untersuchungen über den Bau der menschlichen Tube, Leipzig 1906 und A. f. Gyn., LXVII, H.1. 2 Bland Sutten, zit. nach Werth4. 2!Kreisch, Beitrag zur Anatomie und Pathologie der Tubargravidität. Mon. f. Geb. u. Gyn. 1897, IX. 2 Lichtenstein, Zbl. f. Gyn. 1920, p. 657. 3 Küchenmeister, Uber Lithopädion. A. f. Gyn., XVII, p. 153. 24 van Tussenbroek, Ann. de gyn. Dec. 1899. 25 Richter, A. t. Gyn., XCVI, p. 461. 2 Czyzewicz, A. f. Gyn., XCVII, p. 161. 27? Köhler, Mon. f. Geb. u. Gyn. 1918, XLVIII, p. 8. # Walker, A. f. Gyn. 1919, CXI, p. 342. Mac Donald, J. of am. ass. 1913,

. 1766. 29 Abderhalden, Abwehrfermente des tierischen Organismus u. s. w. J. Springer, erlin 1913. 3! Kamnitzer u. Joseph, Th. d. G. 1921, Nr.9 u. 12. 32 Zondek, Zbl. f. Gyn. 1922, Nr. 21, p. 851. 3 Thies, Zbl. f. Gyn. 1914, Nr. 34, p. 1190. 34 Sittner, D. med. Woch. 1906, p. 1201. ® P. Zweifel, Zbl. f. Gyn. 1920, p. 1483.

Ausführliche Literaturangaben über die Extrauteringravidität finden sich in Werth, Die Ex- trauterinschwangerschaft, v. Winckels Handb. d. Geb. 1904, II; J. Veit, Die Extrauteringravidität, Döderleins Handb. d. Geb. 1916, II, p.327. Spätere Literatur mut eingehenden Literatur- angaben: Höhne, Die Atiologie der Oraviditas extrauterina. A. f. Gyn., CVII; Grieser, Zur Atiologie der Tubargravidität, Zbl. f. Gyn. 1921, p. 495; Kratzeisen, Zur Pathologie der Tubar- gravidität. A. f. Gyn. 1923, CXVI; Löhnberg, Zur Klinik der Tubargravidität insbesondere über das spätere Schicksal der operierten Fälle u. s. w. Ztschr. f. Geb. u. Gyn. 1922, LXXXIV. A. Ausgetragene Extrauteringravidität: Höhne, Uber die weiter und weitest vorgeschrittene Tubenschwangerschaft. Zbl. f. Gyn. 1923, Nr. 4; Hisgen, Ausgetragene Extrauteringravidität. Zbl. f. Gyn. 1921. Nr. 14; John Olow, Zur Frage der exspektativen Behandlung der fortgeschrittenen ex- trauterinen Schwangerschaft. Zbl. 1921, p. 488; Runge, Ausgetragene Extrauteringravidität. Zbl. 1921, p. 1107; Tschamer, Extrauteringravidität mit skeletierter Frucht im IX. Lunarmonat. Mon. f. Geb. u. Gyn. 1922, LIX. B. Beiderseitige Tubargravidität: Borell, Gleichzeitige Schwangerschaft beider Tuben (mit spontaner Rückbildung der einen Seite). Zbl. f. Gyn. 1921, Nr. 4; Fink, lntra- tubare Untergangsformen der Eileiterschwangerschaft. Mon. f. Geb. u. Gyn. 1922, LVIII; Schiffmann, Uber die Spontanheilung junger Tubargraviditäten, zugleich ein ne zur Kenntnis der interstitiellen Schwangerschaft. A. f. Gyn., CXII, H. 1; Brossmann, Ein Fall von beiderseitiger Eileiterschwanger- schaft. Zbl. f. Gyn. 1920, p. 174. C. Zwillinsschwangerschaft bei Tubargravidität: B. Leslie Arey, The cause of tubal pregnancy and tubal twinning (Die Ursache der Tubargravidität und der Tubenzwillinge). Americ. journ. of. obstetr. gyn. 1923, V, Nr. 2. Two embryologically important specimens of tubal twins. Includinc critical summaries of all known cases (Zwei embryologisch wichtige Präparate von tubaren Zwillingen mit einem kritischen Referat über alle bekannten Fälle). Surg. gynecol. a. obstetr. 1923, XXXVI. D. Wiederholte Extrauteringravidität: Benzel, Wieder- holte Tubenschwangerschaft bei derselben Frau. D. med. Woch. 1923, p. 687; Gudden, Über die Fälle wiederholter Extrauteringravidität an der Universitätsfrauenklinik Kiel. Zbl. 1921, p. 1479; Hanak, Ein Fall von Ileus, kombiniert mit zum zweitenmal auf derselben Seite aufgetretener Tubar- gravidität. Wr. kl. Woch. 1920, Nr. 46; Joseph, Ein Fall von dreimaliger Tubargravidität. Berl. kl. Woch. 1921, p. 452; Sigwart, Wiederholte Extrauteringravidität der gleichen Seite Zbl. f. Gyn. 1922, p. 690. E. Interstitielle Gravidität: Eckpardt, Zur Frage der interstitiellen Gravidität. D. med. Woch, 1921, Nr. 34; Albert Stein, Interstitielle Gravidität. Inaug.-Diss., Halle 1918; Littauer, Interstitielle Schwangerschaft. Zbl. f. Gyn. 1923, Nr. 23; Rübsamen, Zwei Fälle von interstitieller 1921, LVII; Robert Meyer, Zur Frage der Behandlung der Tube der gesunden Seite bei Operation Gravidität. Zbl. f. Gyn. 1920, p. 131; Zuntz, Interstitielle Gravidität. Ztschr. f. Geb. u. Gyn. 1923, LXXXVI, p. 1. F. Tubenstumpfgravidität: Diemer, Uber Dee Mon. f. Geb. u. Gyn. der graviden anderen Seite. Zbl. f. Gyn. 1919, p. 1001; H. A. Dietrich, Zur Therapie der Tubargravidität. Zbl. f. Gyn. 1921, Nr. 14. G. Nebentubenschwangerschaft: Ekler, Gravidität in einer Neben- tube. A. f. Gyn., CXII, H. 3. H. Intraligamentäre Tubenschwangerschaft, Graviditas ovarica fimbriae ovaricae et Be und Tuboovarialgravidität: Burghardt, Über einen Fall von ausgetragener Tuboovarialgravidität mit basiotroper Placentation. A. f. Gyn., CXX; Höhne, Über echte intraligamentäre und parametrane Tubenschwangerschaft. Zbl. f. Gyn. 1923, Nr. 2. Uber Graviditas ovarica, über Graviditas fimbriae ovaricae und über Graviditas para- tubaria. Zbl. f. Gyn. 1923, Nr. 1; Kuncz, Ein Fall von ausgetragener Tuboovarialgravidität. Mon. f. Geb. u. Gyn. 1919, XLIX. J. Ovarialgravidität: Boeing, Klinische und anatomische Betrach- tungen über ara dan Ovarialgravidität. Mon. f. Geb. u. Gyn. 1923, LXII; Dorsch, Ein Fall von ausgetragener Ovarialgravidität. Inaug.-Diss, Würzburg 1921; Jaeub, Ein Fall von ausgetragener

Die Extrauteringravidität. 201

Ovarialschwangerschaft. Zbl. f. Gyn. 1923, Nr. 5; v. Jaschke, Ovarialgravidität mit wohl erhaltenem Embryo. Ztschr. f. Geb. u. Gyn. 1916, LXXVIII; Liebe, Echte Eierstocksschwangerschaft. Mon. f. Geb. u. Gyn. 1921, LIV; Sfakianakis, Über Graviditas ovarica. Kl. Woch 1923, Nr. 19. X. Gleich- zeitige Schwangerschaft in Uterus und Tube: Sippel, Heterotope Zwillingsschwangerschaft in Uterus und Tube mit nachfolgender Tubenschwangerschaft der anderen Seite. D. med. Woch. 1922, p. 1202. 2L.Abdominalschwangerschaft: Broer, Fünf Fälle von selteneren Extrauteringraviditäten. Mon. f. Geb., L, p. 1919; Brugnatelli, Primäre ausgetragene Abdominalschwangerschaft. Zbl. 1922, p. 1831; Czyzewicz, Die Bauchhöhlenschwangerschaft im Lichte neuer Beobachtungen. A, f. Gyn., XCVII; Fleischhauer, Primäre Abdominalschwangerschaft. Zbl. 1917, Nr. 27; Köhler, Primäre Abdominalschwangerschaft. Mon. f. Gyn. 1918, XLVIII; Reifferscheid, Primäre Abdominalschwanger- schaft. Zbl. 1921, p. 38; Seeligmann, Über primäre Abdominalgravidität. Zbl. 1923, Nr. 5; Walker, Ein Fall von primärer Abdominalschwangerschaft. A. f. Gyn. 1919, CIX/3. M. Nebenhornschwanger- schaft: Benthin, Zwillingsschwangerschaft im atretischen rudimentären Horn bei Uterus duplex. Zbi. f. Gyn. 1921, Nr. 6; Conrad, Schwangerschaft im rudimentären Nebenhorn. Zbl. f. Gyn. 1923, p. 1402; Carl Justi, Uber Schwangerschaft im verkümmerten Nebenhorn der einhornigen Gebär- mutter. Zeitschrift für angewandte Anatomie und Konstitutionslehre, CXI, H. 3/4; Thaler, Über eine ungewöhnliche Schwangerschaftskomplikation (Lithohelyphos, ausgehend von einem rupturierten atre- tischen Nebenhorn, als Komplikation einer Vollhornschwangerschaft). Zbl. f. Gyn. 1919, p. 828; Vischer, Ausgetragene Gravidität in der verschlossenen Hälfte eines Uterus bilocularis. Ztschr. f. Geb. u. Gyn. 1918.

Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit.

Von Dr. Thorkild Rovsing, Professor der klinischen Chirurgie an der Universität in Kopenhagen.

Mit 7 Abbildungen im Text und 2 farbigen Tafeln.

Wenn wir heutzutage die Probleme der Indikationsstellung und der Operations- wahl für die chirurgische Behandlung der Gallensteinkrankheit zu lösen versuchen wollen, dann müssen wir uns erst eindringlich mit dem Pathogeneseproblem be- schäftigen. Denn die gewaltigen Fortschritte der ärztlichen Wissenschaft im letzten halben Jahrhundert verdanken wir ja eben dem Studium der Ätiologie und Patho- genese der Krankheiten, welches durch Pasteurs Entdeckung der Bakterien als Krankheitserreger inauguriert wurde. Es wurde hierdurch ermöglicht, bei zahlreichen Erkrankungen an die Stelle einer rein symptomatischen Therapie die kausale Behand- lung treten zu lassen.

Was nun die Therapie der Gallensteinkrankheit anbelangt, hat man dasselbe angestrebt, und die heutige Oallensteintherapie, speziell die chirurgische, so wie sie von der Majorität der Chirurgen aller Welt heutzutage geübt wird, beruht auf der schon im Jahre 1886 vom französischen Arzt Galippe aufgestellten, später von Naunyn ergriffenen und weiter ausgebauten Pathogenesetheorie, gemäß welcher jede Gallensteinbildung auf einer infektiösen Cholecystitis in einer Stauungs- blase beruht. Infektion und Gallenstase sind die notwendigen Bedingungen jeder Gallensteinbildung.

Im Vertrauen auf die Naunynsche Theorie haben die Chirurgen konsequent die Cholecystektomie als Normalverfahren, als den einzig indizierten radikalen Eingriff angenommen. Die von verschiedenen Seiten erhobenen Bedenken gegen die Entfernung eines vielleicht wichtigen Organs wurden durch die von Langenbuch verfochtene Annahme, daß die Gallenblase ein ganz unnützes und überflüssiges Organ sei, beseitigt.

Es hat sich nun aber gezeigt, daß die Naunynsche Theorie in jeder Beziehung ganz unrichtig ist: daß weder Infektion, Cholecystitis noch Stauung in der Gallen- blase für die Gallensteinbildung von Bedeutung sind, ja daß die Gallensteine in der Leber entstehen und in der Gallenblase nur weiter wachsen, wie sie es auch in den Gallengängen tun können.

Endlich hat eine Reihe von Experimenten und klinischen Erfahrungen dargetan, daß die Annahme, die Gallenblase sei ein überflüssiges, nutzloses Organ, gar nicht stichhaltig ist. |

Unter diesen Umständen wird es natürlich notwendig, die ganze Lehre von der Jndikationsstellung und der Operationswahl in der chirurgischen Behandlung

Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. 203

der Gallensteinkrankheit zu revidieren, nachdem wir uns den heutigen Standpunkt des Pathogeneseproblems möglichst klar gemacht haben.

Ich werde zuerst eine kurze] kritische Darstellung der bisherigen Theorien über die Entstehungsweise der Gallensteine vorausschicken.

Theorien über die Entstehungsweise der Gallensteine.

I. Meckel von Hemsbachs Theorie.

Die erste zuverlässige, wirklich wissenschaftliche Grundlage zum Aufbau einer haltbaren Theorie des Ursprungs der Gallensteine verdanken wir Meckel von Hemsbach. Dieser studierte die Mineralogie der Gallensteine, wies nach, daß sie in der Hauptsache aus Cholesterin oder Pigmentkalk oder diesen beiden Bestand- teilen zusammengesetzt seien, daß aber diese krystallinischen Substanzen durch ein organisches Bindemittel zu einem Stein verkittet wären. Zur Erklärung der Herkunft dieses Bindemittels stellte Meckel die Theorie vom „steinbildenden Katarrh“ als einer notwendigen Voraussetzung jeder Steinbildung auf.

Dabei blieben nun zwei wichtige Fragen offen: was verursachte diesen stein- bildenden Katarrh, und was die Ausfällung von Cholesterin und Pigmentkalk?

Zu Anfang des vorigen Jahrhunderts, wo es Mode war, Krankheiten unbe- .kannter Ursache durch eine dem Patienten innewohnende „Diathese“, d. h. eine angeborene oder ererbte Disposition, zu erklären, suchte man auch hier die Deutung in einer Gallensteindiathese, ebenso wie man Nierensteine durch „harnsaure Diathese« erklärte. Wie man Harngrieß oder Nierensteine in ganzen Geschlechterfolgen gewisser Familien auftreten sah, so auch Gallensteine, und in solchen Fällen hielt man es für richtig und berechtigt, die Bildung von Gallensteinen als Ausdruck einer ange- borenen Diathese anzusehen, worunter man sich eine angeborene Stoffwechsel- anomalie, d. h. Regelwidrigkeiten bei den im Körper sich vollziehenden chemischen Umwandlungen, vorstellte. Die zahlreichen Fälle, wo außer dem Patienten kein anderes Familienmitglied an Gallensteinen gelitten hatte und somit eine erbliche Disposition auszuschließen war, erklärte man damit, daß der Patient sich die Disposition durch eine verkehrte Lebensweise erworben habe: zu kräftige, namentlich zu fette Kost, zu wenig Bewegung und infolgedessen Obstipation. Die ärztliche Behandlung war daher wesentlich diätetisch. Nun sind allerdings die Diathesen längst aus der Mode gekommen, verhaßt und verachtet, wie alle entthronten Tyrannen, eine undankbare und sicherlich nicht ganz zu rechtfertigende Behand- lung; denn, wie ich später nachweisen werde, können wir sie letzten Endes doch nicht immer ganz entbehren. Sie werden wieder auftauchen, wenn die Theorie, die sie verdrängte, sich als mehr oder weniger unhaltbar erwiesen hat. |

Es war die Infektionstheorie, welche beim Aufblühen der Bakteriologie auf diesem wie auf so zahlreichen anderen Gebieten sich der Geister bemächtigte und alle früheren Vorstellungen beiseite warf.

IL Galippe-Naunyns Infektionstheorie.

Im Jahre 1886 stellte der Franzose Galippe die Behauptung auf, daß jede Konkrementbildung, sowohl in den Gallen- wie in den Harnwegen, auf Infektion zurückzuführen sei. Diese in Wirklichkeit ganz lose Behauptung griff der ange- sehene deutsche Kliniker Naunyn auf, und es ist merkwürdig zu sehen, wie dieser Kliniker im Glauben an jene Lehre alsbald der klinischen Beobachtung den Rücken wandte und ihre Diathesen und Stoffwechselanomalien in Acht und Bann tat, um

204 Thorkild Rovsing.

mit Hilfe von Mikroskop und Tierexperimenten eine überaus künstliche Theorie der Entstehungsweise der Gallensteine aufzubauen.

Nach dem natürlichen Gang der Dinge hätte nun Naunyn ungesäumt eine systematische Untersuchung darüber anstellen müssen, ob sich denn nun auch wirklich bei einer großen Anzahl von Gallensteinkrankheitsfällen Infektion nach- weisen ließe oder nicht. Dazu macht er jedoch gar keinen Versuch; ja, er läßt sich auch dadurch nicht beirren, daß Gilbert und Dominici bei systematischen Unter- suchungen an der Leiche nur bei einem Drittel der Fälle von Gallensteinerkrankung Bakterien fanden, ein Umstand, der wohl geeignet gewesen wäre, ernste Zweifel an der Richtigkeit seiner Theorie zu wecken. Noch in seinem Werk von 1921 be- schränkt er sich auf ganz nichtssagende Bemerkungen darüber, daß der Gehalt des Duodenums an Bacterium coli, das leicht in die Gallenwege eindringen könne, seiner Theorie in hohem Grade zur Stütze gereiche. Auch hat er selbst eine Anzahl Gallensteine, besonders schwarze Pigmentkalksteine, untersucht, aber nur ein einziges Mal Mikroben darin gefunden. Nicht einmal dieser Befund scheint seine Überzeugung erschüttern zu können. Tatsächlich nimmt Naunyn das, was zu beweisen ist, als ge- geben an und sucht nun durch die mikroskopische Untersuchung von Galle aus entzündeten Gallenblasen zu zeigen, wie die Steinbildung von Anbeginn vonstatten geht.

Naunyn behauptet, daß die Gallensteine in ihrem ersten Stadium aus Chole- sterin beständen, daß dieses aber nicht aus der Galle ausgefällt sei, sondern einfach ` ein Produkt der durch die Entzündung geschwollenen und abgestoßenen Epithel- zellen der Gallenblasenschleimhaut darstelle. Während in einer normalen Gallen- blase die Kerne der Epithelzellen unter dem Mikroskop in klarem Protoplasma liegen, findet man bei Cholecystitis und namentlich bei Patienten mit Gallensteinen das Protoplasma um den Kern herum mit Fetttropfen oder Myelinkonglomeraten erfüllt. Unter dem Mikroskop glaubte Naunyn zu bemerken, wie diese Myelin- konglomerate von den Zellen ausgestoßen wurden und frei in der Galle umher- schwammen, wo sie sich zu größeren Klumpen einer stark lichtbrechenden, glas- artigen, strukturlosen Masse zusammenballten. Von diesen Myelinklumpen behauptet nun Naunyn, daß sie aus reinem Cholesterin beständen und die erste Anlage der Gallensteine darstellten. Er schließt dies daraus, daß sich neben diesen weichen Klumpen andere fänden, worin das Cholesterin in beginnender Krystallisation erscheine. „Es handelt sich hier“, sagt Naunyn, „schon um kleine, echte Steine, von denen viele zum Teil aus Bilirubinkalk zusammengesetzt sind."

Die weitere Entwicklung der Konkremente ist nach Naunyn auf zwei ver- schiedene Prozesse zurückzuführen: 1. Auflagerung neuer Schichten, und 2. eine fortgesetzte Infiltration der Steine mit auskrystallisierendem Cholesterin. Die Voraus- setzung für die Ablagerung von Pigmentkalk ist, daß die Galle in die Gallenblase hineingelangt, während Cholesterinbildung sehr wohl in einer Gallenblase erfolgen kann, deren Verbindung mit dem Gallenstrom aufgehoben ist.

Die großen krystallinischen Cholesterinsteine, die man nicht gerade selten antrifft: eiförmig, die ganze Gallenblase oder deren Hals ausfüllend, die schon Meckel von Hemsbach für sekundäre Bildungen erklärte, werden auch von Naunyn als sekundäre Umbildung eines gewöhnlichen Gallensteins durch Infitra- tion mit Cholesterin betrachtet, das durch Infiltrationskanäle in den Gallenstein ein- gedrungen ist und den Bilirubinkalk verdrängt hat, um an dessen Stelle seinerseits in den Kanälen auszukrystallisieren.

Naunyn behauptet, daß die Gallensteinbildung nur in der Gallenblase vor sich gehe, u. zw. nur in solchen Gallenblasen, die der Sitz einer infektiösen Ent-

Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. 205

zündung und in ihrer Entleerung behindert seien: sog. „Stauungsgallenblasen«. Für Naunyn ist es eine conditio sine qua non, daß die Gallenblase sich nicht auf normale Weise entleeren kann, weil sonst die kleinen Myelinklümpchen, bevor sie Gallensteine werden könnten, fortgespült werden würden. Nach einem Beweise dafür, daß wirklich eine solche Stauung oder erschwerte Entleerung der Steinbildung vor- hergehe, sucht man vergebens.

Seltsam genug eroberte sich Naunyns neue Lehre sozusagen im Handumdrehen die ganze Welt. Nur von zwei Seiten erhob sich ein nennenswerter Widerstand. Von klinisch-bakteriologischer Seite widersprach Chauffard, der geltend machte, daß Naunyns Theorie der alltäglichen klinischen Beobachtung widerstreite, wobei er besonders auf die Erfahrungen bei Febris typhoidea und Icterus catarrhalis hinwies. Bakteriologisch untersuchte er einen Gallensteinkern, ohne Mikroben nachweisen zu können. Von seiten der physiologischen Chemie richtete der deutsch- gebürtige Professor der pathologischen Chemie in London, Thudichum, einen heftigen Angriff gegen Naunyns Theorie, wobei er zunächst geltend machte, daß das Cholesterin in menschlichen Gallenblasen von einer Galle herrührte, deren Cholesterinlösungsvermögen infolge von Spaltung der Glykocholsäure in Cholal- säure und Glykokoll herabgesetzt sei; sodann wies er auf die für Naunyn unerquick- liche Tatsache hin, daß bei Ochsen und Schweinen niemals Cholesterin in Gallen- steinen gefunden werde, ein Umstand, der Naunyns Theorie von der Pathogenese der Gallensteine bei diesen Tieren unmöglich und für den Menschen unwahr- scheinlich mache. |

Im übrigen aber wurde Naunyns Theorie überall mit kritikloser Begeisterung auf- genommen, nicht zum mindesten von den Chirurgen, erst und vor allen von Langen- buch, denen sie aus dem Grunde besonders zusagte, weil sie die Gallensteinbildung für einen streng auf die Gallenblase lokalisierten Prozeß erklärte, so daß also nicht nur die Krankheit, sondern auch die Anlage dazu mit der Gallenblase radikal beseitigt werden könnte.

Il. C. Langes Theorie.

C. Lange äußerst sich 1893 im speziellen Teil seiner Pathologischen Ana- tomie über die Pathogenese der Gallensteine und warnt im Hinblick auf die In- fektionstheorie davor, alle Gallensteine über einen Kamm zu scheren. Er betont, daß die drei Hauptformen der Gallensteine: die Pigmentkalksteine, die ge- schichteten multiplen und die solitären Cholesterinsteine, nicht nur in Aussehen und Struktur verschieden seien, sondern auch unter so verschiedenen Verhältnissen angetroffen würden, daß sie wahrscheinlich auch eine verschieden- artige Pathogenese hätten. Lange macht erstmalig darauf aufmerksam, daß die Pigmentsteine in der Regel in gesunden Gallenblasen vorkommen, während Cho- lesterinsteine vorzugsweise in entzündeten, stark veränderten Gallenblasen anzu- treffen sind. Lange konnte sich daher allenfalls denken, daß die Cholesterin- steine ihren Ursprung einer Infektion verdankten, nicht aber die Pig- mentkalksteine.. Indem er zwischen den aseptischen Uratsteinen und den auf infektiösem Wege entstandenen Phosphatsteinen der Harnwege und den Pigment- kalk- und Cholesterinsteinen der Gallenwege eine Parallele zieht, führt er diesen Vergleich in sehr verführerischer Weise weiter, wobei er die geschichteten Gallen- steine von gemischter Struktur den gemischten Steinen der Harnwege mit einem Kern von Urat oder Oxalat und einem Mantel von Tripelphosphat an die Seite stellt.

C. Lange äußert hier seine Meinung auf Grund allgemeiner Eindrücke aus einer großen Erfahrung als pathologischer Anatom; er hat sich nicht weiter in

206 Thorkild Rovsing.

diese Frage vertieft und traut sich nicht zu, eine eigene Theorie aufzustellen, aber er spricht klare, kluge Worte, die blitzartig Naunyns Theorie als ein Luftschloß entschleiern, das auf einer Idee, einem Einfall aufgebaut ist, bei welchem Naunyn vergaß, was die Klinik und der Sektionstisch uns gelehrt haben.

IV. Boysens Theorie.

Boysens Abhandlung „Über die Struktur und Pathogenese der Gallen- steine“ erschien 1900 als Doktordissertation; sie steht unter entschiedener Ein- wirkung zweier älterer Forscher, Meckel von Hemsbach und C. Lange. Der erstere hat seine Kritik und sein Mißtrauen gegen Naunyns Theorie geweckt, während des letzteren „mineralogische« Methode der Gallensteinuntersuchung ihm als ein aussichtsvollerer Weg zur Lösung der Frage nach der Pathogenese er- schienen ist als die chemische Analyse. So ist es denn wesentlich die mikroskopi- sche Untersuchung der Struktur der Gallensteine an Dünnschliffen, womit Boysen seine interessanten Resultate erzielte.

Sein Material umfaßte Gallensteine aus etwa 200 Gallenblasen und stammte im wesentlichen aus dem Sezierzimmer des Städtischen Krankenhauses in Kopenhagen.

Mit einer sehr dünnen, stark erwärmten Messerklinge schnitt oder vielmehr schmolz er die Steine entzwei, u. zw. so, daß der Schnitt den Kern traf. Zu einem richtigen Strukturbild gehört nämlich auch der Kern. Dieser sowie die gesamte übrige Struktur treten besonders klar bei geschliffener Oberfläche zutage. Den Schliff bewirkte Boysen auf einer Glasplatte mit einer Aufschlämmung des gröbsten Schmirgels. Zur Entfernung der Schmirgelreste polierte er zuletzt den Dünnschliff mit feinem Seidenstoff. Mit diesem Verfahren gelang es Boysen, so dünne Einzel- schnitte ganzer Steine herzustellen, daß sie mikroskopisch untersucht werden konnten, nachdem sie mit Kanadabalsam auf einem Objektträger befestigt worden waren.

Boysen ging nun bei seiner Arbeit von folgender logischen Erwägung aus: Will man auf mineralogischem Wege Klarheit über die Pathogenese der Gallen- steine erhalten, dann muß man die Untersuchung zuerst und vor allem auf die kleinsten, die jüngsten Konkremente richten. Als kleinste erwiesen sich nun die stacheligen, schwarzen, in der. Größe zwischen feinem Grieß und Stecknadel- kopfgröße schwankenden Pigmentsteine. Bei der Untersuchung am Schnitt erwiesen sich diese als aus reinem Pigmentkalk bestehend und als gleichmäßig durch orga- nische Substanz zusammengekittet, ohne Schichtung und ohne Cholesterin. Diese Objekte sind alle von gleicher Größe und Form, so daß man vermuten darf, sie seien alle gleichzeitig infolge einer mehr oder minder akuten, vorübergehenden Abnormität bei der Galleerzeugung entstanden. Daß sie die einfache Folge von Ausfällung aus normaler Galle einer Gallenblase mit erschwertem Abfluß sein sollten, glaubt Boysen ausschließen zu können, teils weil er jederzeit Pigment- steine in gesund aussehenden Gallenblasen gefunden hat, teils weil der Haupt- bestandteil der Pigmentsteine, das Bilihumin, in normaler Galle nicht vorkommt. Die Pigmentsteine sind nach Boysens Meinung auch gar nicht in der Gallenblase, sondern weiter rückwärts in den Lebergängen entstanden und mit dem Gallenstrom in die Gallenblase gelangt. In dieser können sie nach Boysen nicht in der bis- herigen Weise weiter wachsen, sondern nur noch durch geschichtete Anlagerung anderer Substanzen, wodurch sie ihre charakteristische Form und Farbe verlieren. Zu diesem Ergebnis gelangte er durch die Untersuchung der nächsten Größen- klasse, der kleinsten unter den facettierten Steinen.

Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. 207

Die Prüfung dieser Steine zeigte nämlich, daß deren Kerne regelmäßig aus schwarzem Pigmentkalk bestehen, um welchen herum Cholesterin und Bilirubinkalk abgelagert ist. Werden die Steine älter und größer, so sieht man, daß der Pigment- kern sich verkleinert, in eine centrale Höhlung zu liegen kommt und von einer halbflüssigen, weichen Masse umhüllt ist. In Spalten, die radiär vom Centrum aus- strahlen, bemerkt man Pigmentstreifen und daneben am Rande auskrystallisiertes Cholesterin (vgl. Tafel II).

Nach Boysens Auffassung handelt es sich hier um osmotisches Eindringen von Cholesterinlösung in den Stein. Das Cholesterin infiltriert das Stroma und der Stein schwillt und platzt. Dann löst und verdrängt das Cholesterin das Pigment, wobei letzteres durch die entstandenen Risse und Spalten austritt, während das Cholesterin auskrystallisiert und im Inneren des Steines feste Form einnimmt.

Diese Substitution von Pigmentkalk durch Cholesterin kann nun einen solchen Grad erreichen, daß der erstere nahezu oder vollständig aus dem Stein verdrängt wird. So kann ein Gallenstein, der als kleiner schwarzer Pigmentstein begonnen hat, als ein großer, weißer, reiner Cholesterinstein enden!

Mag nun diese Boysensche Theorie richtig sein oder nicht, so ist sie doch unstreitig die erste Theorie, die insofern voll befriedigt, als sie alles erklärt, nichts bei ihr ganz unverständlich und nichts mit ihr unvereinbar bleibt, während es bei der Naunynschen Theorie gänzlich an einer Erklärung des Ursprungs und der Bedeutung der reinen Pigmentkalksteine fehlt. Tatsächlich hat Naunyn sich gar nicht getraut, sich mit diesen Steinen zu befassen in dem klaren oder vielleicht unklaren Bewußtsein, daß sie mindestens zwei Hauptsätzen seiner Lehre den Garaus machen würden: 1. daß alle Gallensteine sich in der Gallenblase bilden, und 2. daß sie anfangs aus reinem Cholesterin bestehen, das von den abgestoßenen Epithel- zellen der Gallenblasenschleimhaut herstammt. Denn Pigmentsteine entstehen nicht in der Oallenblase und enthalten kein Cholesterin. An einer Stelle seiner ersten Abhandlung sagt Naunyn selbst, daß. man in den Lebergängen oft kleine Kon- kremente aus schwarzem Pigmentkalk antreffe.

Wie stellt sich nun Boysen zur Frage der Infektion? Hier stoßen wir allerdings auf eine schwache Stelle seiner Arbeit. Da er nur Steine, aber niemals die zugehörigen Gallenblasen untersucht hat, da er ferner keine bakteriologische Untersuchung ausgeführt und ebensowenig die Krankengeschichten der betreffenden Patienten studiert hat, kann er sich hier nur mit großer Zurückhaltung äußern. Immerhin vertritt er einen bestimmten Standpunkt, der sich teils auf eigene, teils auf fremde, hauptsächlich C. Langes Beobachtungen stützt. Daß die Gallensteine einer Entzündung ihren Ursprung verdanken sollen, hält er für ganz unwahr- scheinlich, weil er die primären Pigmentkalksteine stets in vollkommen gesund aus- sehenden Oallenblasen gefunden hat.

Wenn er weiterhin sagt, daß die facettierten und die Cholesterinsteine in der Regel in entzündeten Gallenblasen anzutreffen seien, und es daher für wahrscheinlich hält, daß die Infektion die Ursache der Weiterentwickelung der Steine sei, so stützt er sich dabei offenbar einzig und allein auf die Autorität C. Langes

V. Aschoffs und Bacmeisters Theorie.

Aschoff ist bekanntlich von den lebenden pathologischen Anatomen Deutsch- lands der angesehenste, und Bacmeister ist einer seiner vormaligen Assistenten. Dies ist die natürliche Erklärung dafür, daß diese beiden Forscher die Frage von

208 Thorkild Rovsing.

einem sehr einseitigen, pathologisch-anatomischen Standpunkt aus angefaßt haben. In der Einleitung schreiben sie folgendes:

„Die nachfolgenden Mitteilungen gründen sich auf ein Material von rund 250 lebenswarm oder doch sehr bald nach der Operation fixierten Gallenblasen. Leider wurden die meisten vor dem Einlegen in die Fixierungsflüssigkeit ihres Inhalts, soweit es sich wenigstens um Steine handelte, beraubt. Nur in Ausnahmefällen war der Chirurg so opferwillig, auch die Steine zur vorläufigen Orientierung mitzu- geben. Insofern steht das Material noch nicht durchweg auf der Höhe, doch konnten die etwaigen Lücken durch ein sorgfältig kontrolliertes Leichenmaterial von ca. 50 Gallenblasen in erwünschter Weise ergänzt werden. Leichenmaterial allein ist natürlich ebensowenig zuverlässig wie bei der Appendicitis. Es empfiehlt sich auch hier, die verschiedenen Entwickelungsstufen nacheinander zu betrachten.“

Es handelt sich hier also um makro- und mikroskopische Untersuchung ge- härteter Gallenblasen, deren Inhalt die betreffenden Chirurgen bei der Operation entleert und zurückbehalten hatten. Von einer Krankengeschichte oder auch nur ` einem Operationsprotokoll mit Angabe von Aussehen, Form und Lage der Gallen- blase und des Ductus cysticus, ihrer Beziehungen zu den benachbarten Organen, vor allem aber von einer Angabe über dieLage und Anordnung der Gallensteine in der Gallenblase, in deren Hals und im Ductus cysticus ist nicht die Rede, ebenso- wenig von einer ziffermäßigen Feststellung, wie oft der eine oder andere Gallen- blasentypus bzw. die eine oder andere Gallensteinform im Material vertreten war. Bakteriologische Untersuchungen sind überhaupt nicht vorgenommen worden. Aus- nahmsweise ist ein Chirurg so „opferwillig“ gewesen, ihnen die Steine zur „vor- läufigen Orientierung“ zu leihen. Die wirkliche Grundlage für Aschoffs und Bac- meisters weitgehende Folgerungen muß daher das erwähnte Material von 50 Gallen- blasen aus dem Sezierzimmer abgeben.

Die Theorie der Entstehung der Gallensteine, die die beiden Forscher auf dieser Basis aufstellen, schließt sich derjenigen Naunyns insoweit an, als sie mit der Behauptung beginnen, daß Gallenstauung in der Gallenblase infolge von behindertem Abfluß die DEER und jede Gallensteinbildung begleitende Ursache sei.

Hier sowohl wie bei Naunyn sucht man vergebens nach dem Beweis für die Richtigkeit dieser Behauptung, oder auch nur nach einem Operations- oder Sektionsbefund, der sie erklären oder stützen könnte. Statt dessen müssen wir uns daran genügen lassen, daß die Verfasser eine Reihe von Ursachen aufzählen, von denen sich denken ließe, daß sie eine Stauung verursachen könnten: senile Atrophie der Gallenblase, unzweckmäßige Kleidung, Wanderniere. Gastrocoloptose u.s.w. (vgl. Aschoff und Bacmeister: Die Cholelithiasis, 1909, p. 20).

Damit ist indessen die Übereinstimmung mit Naunyn zu Ende; denn Aschoff-Bacmeister sind der Ansicht, daß die Gallensteinbildung im Beginn stets ein aseptischer Prozeß sei. Einfache Stase in der Gallenblase genügt, um das Cholesterin aus der Galle auszufällen, wodurch dann ein runder oder ein- förmiger Solitärstein im Gallenblasenhals entsteht. In dem Verhältnis, wie dieser an Größe zunimmt, legt sich der Gallenblasenhals fester und fester um ihn herum, so daß er eine Sperre gegen die Gallenblase bildet und zu einem „Verschluß- stein“ wird. Als solcher bleibt er nun nach Aschoff und Bacmeister wie ein „harm- und symptomloser Fremdkörper“ liegen, sofern keine Komplikationen hin- zutreten; in Wirklichkeit bildet er aber nur das Vorspiel „zu dem eigentlich ent-

Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. 209

zündlichen Gallensteinleiden mit allen seinen Qualen und Komplikationen“. Denn die durch den „Verschlußstein« verursachte, dauernde oder vorübergehende Ab- sperrung von der Gallenblase „erleichtert die bakterielle Infektion“, die zur Chole- cystitis und zur Bildung multipler Gallensteine führt, von denen Aschoff und Bacmeister also meinen, daß sie stets auf Infektion zurückzuführen seien.

In der Einleitung zu ihrem Buch bemerken die Verfasser, den Anstoß zu ihrer Arbeit habe ihnen das häufige Vorkommen eines eiförmigen Cholesterin- steins im Blasenhals mit einer dahinter gelagerten, größeren oder geringern Menge von facettierten Steinen gemischter Zusammensetzung gegeben. Sie haben sich selbst die Frage vorgelegt, wie wohl der von allen anderen Steinen gänzlich ver- schiedene Aufbau des „Verschlußsteines* aus Cholesterin, der ihnen mit Naunyns Lehre von der gleichartigen Bildungsweise aller Gallensteine im Widerspruch zu stehen und auch der Naunynschen Lehre von der Umwandelbarkeit der Gallen- steine zu widerstreiten scheint, zu erklären sei. In Wahrheit ist denn auch ihre oben wiedergegebene Theorie der Gallensteinbildung nur eine Erklärungshypothese, für deren Richtigkeit sie nachträglich Beweise beizubringen versucht haben, was ihnen, wie sie offenbar selbst überzeugt sind, auch gelungen sei.

Da Aschoff und Bacmeister mit ihrer Theorie die Grundlage von Naunyns Theorie, die ja überall in der Welt als wissenschaftlich begründet gilt, umstürzen, so haben sie es für notwendig gehalten, seinen grundsätzlich abweichenden Stand- punkt zu entkräften, nach welchem Cholesterin nicht aus Galle ausgefällt werden kann, sondern von den durch eine infektiöse Cholecystitis veränderten und abge- stoßenen Schleimhautzellen herrührt. Ähnlich wie eine Reihe von Schülern und Anhängern Naunyns (Jankau, Kausch) sich zur Aufgabe machten, die sehr not- wendigen wissenschaftlichen Beweise für Naunyns Theorie herbeizuschaffen, und bewiesen, daß Galle kein Cholesterin ausscheiden könne, und ferner durch Experi- mente schlagend den Nachweis führten, daß echte, cholesterinhaltige Gallensteine nur auf künstlichem Wege bei Tieren zu erzeugen seien, wenn Naunyns Voraus- setzungen, Stauung in der Gallenblase und infektiöse Cholecystitis, zuträfen, ebenso haben auch Aschoffs Schüler die höchst notwendigen „wissenschaftlichen« Beweise ` für das gerade Gegenteil beigebracht (Bacmeister, Kramer und Aoyama).

Sowohl Aschoff und Bacmeister wie Aoyama bekennen sich auf Grund dieser Forschungsergebnisse, insbesondere des nach subcutaner Injektion von Cho- lesterin erhöhten Cholesteringehalts der Galle, von neuem zu der alten Diathesen- theorie, die Naunyn und Miyake gerade für alle Zeit abgetan zu haben glaubten.

Sie sind der Ansicht, daß jede Gallensteinbildung mit der Entstehung eines Cholesterinsteins in aseptischer, in der Gallenblase stagnierender Galle beginne, und da man ja oft genug Gallenstase ohne Steinbildung beobachtet hat, so suchen sie die Erklärung dafür, daß ein gewisser Prozentsatz solcher Patienten Gallenstein bekommt,.in einer Cholesterindiathese.

Anderseits und gleichsam als Trost für Naunyn erklären Aschoff und Bac- meister alle facettierten Gallensteine mit Wechsellagerung von Cholesterin und Pigmentkalk für Erzeugnisse einer infektiösen, eiterigen Entzündung in der Gallen- blase. Sie haben das deutliche Empfinden, der Welt eine Erklärung dafür schuldig zu sein, wo der viele Kalk in den facettierten Steinen eigentlich herstammt. Ihre Erklärung läuft darauf hinaus, daß der Kalk in der Hauptsache aus dem Sekret der Schleimdrüsen stamme, das einen Gehalt an kohlensaurem Kalk aufweist. Ein Kri- tiker könnte hier den Einwand machen, die Verfasser hätten in einem früheren

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 14

210 Thorkild Rovsing.

Abschnitt ihres Buches darauf hingewiesen, daß die Schleimdrüsen ausschließlich im Gallenblasenhals lokalisiert seien, wobei sie eine Parallele mit der Harnblase ziehen, wo man ja ebenfalls Schleimdrüsen nur im Blasenhals findet. Es würde daher logischer erscheinen, wenn der im Gallenblasenhals entstandene und ein- geklemmte „Verschlußstein“, anstatt aus reinem Cholesterin ohne eine Spur von Kalk zu bestehen, reich an Kalk wäre, und man vermag schwer einzusehen, wes- halb gerade die hinter dem „Verschlußstein“ in dem drüsenlosen Teil der Gallen- blase entstandenen facettierten Steine so überwiegend aus Kalk bestehen sollen. Man fühlt sich nicht nur nicht überzeugt, sondern faßt unwillkürlich ein starkes Mißtrauen gegen die Richtigkeit jener Erklärung der ganzen Theorie.

Es ist nun interessant zu sehen, wie Aschoff und Bacmeister die dritte Gruppe von Gallensteinen, die schwarzen Pigmentsteine, behandeln, die ebenso- wenig in ihre wie in Naunyns Theorie hineinpassen. Ganz wie Naunyn schieben sie daher diese Steine als bedeutungslos mit folgender, etwas gewagter Redewendung beiseite: „Ihre praktische Bedeutung scheint keine große zu sein, da gewöhnlich ihre in frischem Zustande weiche Konsistenz und geringe Größe keine klinischen Komplikationen hervorzurufen vermögen.“ Diese geringschätzige Behandlung der reinen Pigmentsteine ist um so auffallender, als beide Naunyn und Aschoff- Bacmeister, das häufige Vorkommen dieser Konkremente in den intrahepatischen Gallengängen erwähnen, was ihnen schon allein ein sehr großes Interesse verleihen müßte. Bei Aschoff und Bacmeister erscheint dieses Verhalten ganz unzulässig, weil diese beiden Verfasser am Schluß ihres Buches (p. 107) ihre Bekanntschaft mit Boysens Abhandlung offenbaren, obschon sie sagen, sie sei erst nach dem Abschluß ihrer Arbeit in deutscher Sprache erschienen. Die fundamentale und wohlbegrün- dete Bedeutung, die Boysen den primären schwarzen Pigmentsteinen beilegt, hätte sie eigentlich zu ernstem Nachdenken und zu einer gründlichen Revision ihrer unklaren und allen anderen Theorien widerstreitenden Erklärung der Pathogenese der Gallensteine veranlassen müssen.

Zusammenfassende Kritik der verschiedenen Theorien.

Nachdem ich im vorstehenden die verschiedenen Theorien dargelegt habe, halte ich es für nützlich, ja für nötig, sie zusammenfassend zu kritisieren. Wir wollen untersuchen, worin sie übereinstimmen und in welchen Punkten sie aus- einandergehen; wir wollen ferner den Wert der Versuche, Beobachtungen und Erörterungen, auf welche die Folgerungen sich stützen, prüfen und auf diese Weise uns darüber klar zu werden suchen, was sie uns mit Sicherheit lehren, und welche Fragen noch ungelöst bleiben.

Eigentlich ist es nur ein einziger Punkt, über den vollständige Einigkeit herrscht, nämlich daß die gänzliche oder teilweise Behinderung des Ab- laufs aus der Gallenblase und die dadurch bedingte Stauung der Galle in derselben eine notwendige Begleitursache oder Bedingung jeder Gallensteinbildung sei. Seitdem Naunyn vor einem Menschenalter diese Behaup- tung aufstellte, kehrt dieselbe bei allen Verfassern und in allen Handbüchern wieder, und Aschoff und Bacmeister, die ja im übrigen Naunyns Lehre so energisch angegriffen haben, stellen den gleichen Satz in Sperrdruck als eine unerschütterliche Tatsache hin. Da sollte man doch annehmen, daß dieser Lehrsatz auf einem großen und zuverlässigen Beweismaterial beruhe. Leider sucht man nach einem solchen ganz vergebens.

Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. 211

Die obenerwähnte Behauptung von der Stauung in der Gallenblase als con- ditio sine qua non hängt ja mit einer anderen von Naunyns weitgehenden Behaup- tungen zusammen, nämlich daß die Gallensteinbildung ein ganz lokaler Prozeß sei, der sich ausschließlich in der Gallenblase vollziehe und auf deren infektiöse Entzündung zurückzuführen sei. Alle die früheren Theorien von Diathese und Stoffwechselanomalien werden daher für ganz veraltet erklärt. Diese Behauptungen haben nicht nur in aller Welt Glauben gefunden, sondern auch die Grundlage für die Therapie sowohl die medizinische wie die chirurgische der letzten 30 Jahre abgegeben. Da ist es doch sehr wichtig zu untersuchen, ob diese Behauptungen auch wohlbegründet sind.

Die bestbegründete scheint bei oberflächlicher Betrachtung die von der Gallensteinbildung als einem auf die Gallenblase beschränkten Krankheitsprozeß zu sein. Aschoff anerkennt und wiederholt sie in seinem Buch von 1909, aber Naunyn hat in seiner letzten Abhandlung zugeben müssen, daß Gallenstein sich überall in den Gallenwegen bilden könne, wenn er auch daran festhalten muß, daß „Gallensteine in der Regel ihr Heim in der Gallenblase haben“. Mittler- weile hat er noch ein zweites Zugeständnis machen müssen, nämlich daß die schwarzen Pigmentsteine stets in den intrahepatischen Gängen entstehen; aber da nun Boysen behauptet, alle Formen von Gallensteinen entwickelten sich aus Ablagerungen von Cholesterin und Bilirubinkalk um einen Pigmentstein herum, so folgt daraus, daß, wenn Boysen mit seiner Behauptung, jede Gallen- steinbildung beginne in der Leber, recht behält, damit auch das ganze theoretische Gebäude Naunyns zusammenfällt und die älteren Theorien wiederum ihr Haupt erheben dürfen.

Bei der Untersuchung eines geeigneten, d. h. eines großen, alle die verschie- denen Gallensteintypen naturgetreu veranschaulichenden Materials ist es daher von größter Wichtigkeit festzustellen, ob Boysens Beobachtungen richtig sind oder nicht.

Gehen wir nun schließlich zu der dritten fundamentalen Frage nach der Bedeutung der Infektion über, so zeigt sich, daß mit Bezug auf diesen Punkt alle diese Theorien in unlösbarem Widerspruch zueinander stehen!

Nach Naunyns Theorie ist ja die Infektion eine conditio sine qua non. In seiner ersten Arbeit, die ja bis 1921 Geltung hatte, war eine infektiöse Chole- cystitis absolut notwendig; aber nachdem Naunyn in seiner letzten Veröffent- lichung hat zugeben müssen, daß Gallensteine überall in den Gallenwegen ent- stehen können, erklärt er für diese Fälle eine infektiöse Cholangitis als not- wendig.

Infektion ist und bleibt also für Naunyn die unerläßliche Voraussetzung für die Bildung von Gallensteinen.

Auf welches wissenschaftliche Beweismaterial stützt sich nun diese Behauptung, die in der Ärztewelt so allgemein Glauben gefunden hat? Ja, es ist bedauerlich, es sagen zu müssen: bei Naunyn findet sich absolut nichts, was diesen Namen verdiente, nicht einmal der schwächlichste Anlauf, Beweismaterial beizubringen, auch kein Versuch, die Probe auf die Richtigkeit seiner Behauptung zu machen. Man vermißt ferner eine systematische Untersuchung der bei der Operation von Gallensteinkranken frisch entnommenen Galle auf Mikroben. Noch merkwürdiger ist es, daß dieser Kliniker gar nicht daran gedacht hat, eine klinische Probe auf die Brauchbarkeit der Theorie anzustellen, indem er untersuchte, ob die Gallen- steinpatienten nun auch mit einiger Regelmäßigkeit oder doch wenigstens regel-

14*

212 Thorkild Rovsing.

mäßig beim ersten Anfall neben den eigentlichen Gallensteinsymptomen die gewöhnlichen Infektionssymptome aufwiesen. Was ihm, abgesehen von Galippe, seine Idee eingegeben hat, ist das häufige Vorkommen entzündlicher Zustände bei Cholelithiasis, zugleich das einzige, was er zur Stütze seiner Behauptung anführt.

Aber es geht doch nicht an, dies, wie geschehen, als Beweis dafür zu betrachten, daß Infektion eine notwendige Voraussetzung für die Gallensteinbildung beim Menschen ist.

C. Langes Theorie geht davon aus, daß Pigmentsteine in normalen Gallenblasen vorkommen, während Cholesterinsteine und die gemischten facettierten Steine in infizierten, entzündeten Gallenblasen zu finden seien. Seine Theorie hat vor derjenigen Naunyns zwei große Vorzüge: 1. daß Lange sich auf die Eindrücke einer langjährigen anatomisch-pathologischen Erfahrung im Sektionszimmer stützt, und 2. daß er seine Theorie glaubhaft macht durch eine geistreiche Parallele zwischen der Steinbildung in den Harn- und Gallenwegen, indem er die Pigmentkalksteine mit den Harn- und Oxalatsäuresteinen vergleicht, deren Bildung in den aseptischen Harnwegen vor sich geht, die Cholesterinsteine hingegen mit den Tripelphosphatsteinen, die durch Infektion mit harnstoffzersetzenden Entzündungsmikroben entstehen. Schließlich vergleicht er die facettierten, zusammen- gesetzten Steine mit den zusammengesetzten Steinen der Harnwege, bei denen ein Harnsäurekern von Tripelphosphat umgeben ist. Aber auch diese viel vertrauen- erweckendere Theorie ermangelt des zuverlässigen wissenschaftlichen Fundaments. Statt des weniger zuverlässigen Augenscheins, von welchem Lange sich leiten läßt, möchte man eine genaue, zahlenmäßige Angabe darüber wünschen, wie oft Pigmentsteine in normalen und wie oft Cholesterinsteine in unzweifelhaft entzün- deten Gallenblasen gefunden wurden. Hier wie bei Naunyn fehlt die ganze bak- teriologische und klinische Probe auf die Richtigkeit der Theorie.

Boysen schließt sich hinsichtlich der Infektionsfrage Lange an, stützt sie aber nicht weiter durch eigene Untersuchungen, weder pathologisch-anatomische noch klinische oder bakteriologische.

Was nun schließlich Aschoff und Bacmeister betrifft, so geraten diese in unlösbaren Widerspruch mit allen übrigen Forschern, wenn sie behaupten, daB die Cholesterinsteine, die nach allgemeiner Überzeugung der anderen Untersucher auf Infektion zurückzuführen sein sollen, stets in einer asep- tischen Gallenblase entstehen, während die facettierten, gemischten Steine stets die Folge von Infektion seien.

Ist diese Behauptung nun so gut begründet, daß sie vor der Kritik bestehen kann? Keineswegs. Denn sie fußt ausschließlich auf der pathologisch-anatomischen Untersuchung von Gallenblasen, die von einem einzigen Operateur, Kehr, bei der Operation entfernt wurden, der bekanntlich nur bei weit fortgeschrittenen, ernsten Fällen von Gallenstein operierte, also einem sehr einseitigen Material, bei dem die frühen, unkomplizierten Fälle ganz fehlen, Dazu kommt, daß die Verfasser nur aus- nahmsweise die Gallensteine zu sehen und niemals den übrigen Gallenblaseninhalt zur mikroskopischen und bakteriologischen Untersuchung bekommen haben. Gleicher- maßen vermißt man gänzlich einen Bericht über den klinischen Verlauf der Fälle, von denen die untersuchten Gallenblasen herrühren.

Da hiernach alle diese Theorien von der Bedeutung der Infektion für die Gallensteinbildung in absolutem Gegensatz zueinander stehen und keine davon durch Beweise gestützt ist, die uns auch nur notdürftig von ihrer Richtigkeit

Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. 213

überzeugen könnten, so muß die ganze Frage von neuem in Angriff genommen werden.

Wenn trotz der großen Arbeit, die den besprochenen Theorien der Gallen- steinbildung zu grunde liegt, nur Verwirrung und einander widerstreitende Ergeb- nisse zutage gefördert worden sind, so liegt das zuerst und vor allem daran, daß diese Forscher die Frage nach der Infektion ohne bakteriologische Untersuchungen lösen zu können geglaubt haben. Weiter und dies ist ein Vorwurf, der namentlich den Kliniker Naunyn trifft liegt es daran, daß er diejenige Untersuchungs- methode, von der man glauben sollte, daß sie dem Kliniker am nächsten liege, die klinische Beobachtung, ganz versäumt hat. Eine wissenschaftliche, methodisch- klinische Bearbeitung einer langen Reihe von Gallensteinfällen würde Naunyn wahrscheinlich vor großen Irrtümern bewahrt haben.

Eigene Untersuchungen.

Schon in meinen Vorlesungen über die Gallensteinkrankheit im Jahre 1899 sprach ich die Überzeugung aus, daß Naunyns und andere Therrien von infektiösem Ursprung der Gallensteine gänzlich verkehrt seien, wobei ich mich teils auf das klinische Bild der Krankheit, teils auf die bakterielle Untersuchung der Galle in den wenigen Fällen stützte, die ich damals operiert hatte. Meine Erfahrungen schienen mir damals zu gering, um im Auslande den eingewurzelten Anschauungen gegen- über Eindruck zu machen. Ich fuhr deshalb geduldig fort mit diesen Forschungen und mit dem gesamten Studium der Gallensteinkrankheit, ihren Ursachen und deren Bedeutung für die Behandlung dieses Leidens.

Diese 23jährigen Forschungen haben die Richtigkeit des Standpunktes, den ich 1899 gegenüber Naunyns Theorie einnahm, durchaus bestätigt, ja sie haben mich in den Stand gesetzt, eine andere und nach meiner Meinung richtigere Lehre von der Pathogenese der Gallensteine aufzustellen und die Frage nach den wahren Beziehungen zwischen den Gallensteinen und der bei ihnen so häufig eintretenden Infektion zu klären. Die Resultate dieser Forschungen habe ich im September 1922 in einer Festschrift der Universität Kopenhagen und später in deutscher Sprache in den Acta chirurgica Scandinavica veröffentlicht und werde darüber hier so kurz wie möglich referieren.

I. Untersuchungen über Anzahl, Form und Struktur der von 530 Patienten

durch Operation entfernten Gallensteine, sowie über die bei Sektionen

im Reichshospital von 1910 bis 1920 an der Leiche gefundenen Gallen- konkremente.

Ich habe von Anbeginn meines 30jährigen Studiums der Gallensteinkrankheit bei jedem operierten Fall alle entfernten Gallensteine in einer besonderen Glasschale aufbewahrt, mit genauer Aufschrift des Namens des Patienten, des Datums der Operation, so daß ich noch heute die Steine von meinen sämtlichen 530 operierten Patienten zur Verfügung habe. Wir werden nun sehen, was die systematische Untersuchung derselben uns lehren kann.

1. Anzahl der Steine. Ein einzelner Stein fand sich in 84 Fällen.

Multiple Steine fanden sich in 442 Fällen.

Gallengrieß oder Grießkonglomerate fanden sich in 27 Fällen; in 4 der- selben als einziger Befund, in den übrigen 23 Fällen zusammen mit teils wohl- erhaltenen, teils im Zerfall begriffenen Steinen.

214 Thorkild Rovsing.

Die Zahl der multiplen Steine war folgende: In 140 Fällen fanden sich 2— 20 Gäallensteine

#3 u 7 11— 20 n „n 38 u n n 21 —, 30 pI ó po a 31= 40 29 n n n 41— 50 n " 19 nu n 51— 60 n 7) 18 n n n 61— 70 nm „n 15 ,ẹ n 71— 80 n „n 20 „n 7 wv 81- 90 n u d n nu 91—100 7 66 u 7 101—200 n 5 » » 201—300 n n 3 n n 301—400 n " 1 Fall n 401—500 7 " 3 Fällen 501—600 nv 3 e 601—700 7 1 Fall nm 1050 n u 1 " nu n 1259 n nu 1 n n n 4600 nu

Wir sehen also, daß in 162% der Fälle sich nur ein einzelner Stein vorfand; in 264% fanden sich 2—10, in 258% zwischen 11 und 50 Gallensteinen, in 152% zwischen 51 und 100 und in 158% von 100 bis hinauf zu 4600.

2. Größe der Steine. Untersuchen wir nunmehr an diesem Gesamtmaterial von Gallensteinen die Größenverhältnisse, so finden wir, daB sie zwischen Stecknadelknopf- und Hühnereigröße Schwanken.

Die großen Steine sind in zwei Gruppen vertreten; die meisten finden wir unter der Gruppe der Solitärsteine. Diese bestand aus 84 Fällen; in 77 davon war der Stein groß, u. zw. wechselte seine Größe zwischen einer großen Nuß und einem Hühnerei. In den übrigen 7 Fällen war er von der Größe einer Erbse. Die zweite Gruppe, in welcher wir den Rest der großen Steine antreffen, ist die bei der Aschoff-Bacmeisterschen Theorie so eingehend besprochene, wo wir im Blasenhals einen großen, runden „Verschlußstein“ und dahinter multiple kleine Steine antreffen. Mein Material enthält 20 Fälle dieser Art.

Sehr interessante Verhältnisse finden wir nun, wenn wir in jedem Einzelfall die Größe der multiplen Steine untersuchen, wobei sich nämlich ergibt, daß in der großen Mehrheit der Fälle die Steine von gleicher Größe sind, woraus wir schließen dürfen, daß sie alle zu gleicher Zeit entstanden und zusammen auf ganz gleichartige Weise gewachsen sind. In einer Minderheit von Fällen finden wir Steine von zwei, drei, sehr selten auch von mehr Größenklassen, so daß wir also offenbar eine entsprechende Anzahl Bruten von Gailensteinen vor uns haben. Anderseits finden wir niemals alle möglichen Größenklassen vereinigt, mit allmählichem Übergang der einen in die andere, wie man es erwarten sollte, wenn die bestimmende Ursache zur Gallensteinbildung ununterbrochen wirksam wäre.

Bezüglich der Pathogenese geben uns also die Größenverhältnisse die sehr wichtige Aufklärung, daß die bestimmende Ursache oder Bedingung der Gallen- steinbildung in den meisten Fällen nur in einem einzelnen Zeitpunkt von recht

Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. 215

kurzer Dauer wirksam ist, daß sie in kürzerem oder längerem zeitlichen Abstand wiederkehren kann, aber niemals dauernd wirksam zu sein scheint.

Selbst in dem Falle, wo ich 4600 Steine fand und entfernte, schienen diese zu einer einzigen Brut zu gehören. |

Diese Tatsache, daß sämtliche Steine in einer Gallenblase am häufigsten gleich- alterig sind, ist, wie ich später zeigen werde, von der größten Bedeutung für die Erklärung.der Pathogenese, wie auch für die Behandlung.

Auf Tafel I veranschaulichen Fig. 2 und 7 Fälle, wo alle Steine von einerlei Art, von einer Generation sind, während Fig. 6 unter den 7 Steinen, die sich bei dem betreffenden Patienten fanden, zwei Generationen- zeigt.

3. Form und Bau der Steine. Die Untersuchungen über die äußere Form und den inneren Bau bei meinem Gallensteinmaterial haben mir gezeigt, daß die Beschreibungen, die man nicht nur in großen Lehrbüchern, sondern auch bei Forschern findet, die, wie Naunyn, Aschoff und Bacmeister, Boysen, Kehr u. s. w., sich am eingehendsten mit dem Gegenstand beschäftigt haben, mehr oder minder, meist aber sehr mangelhaft sind. In der Hauptsache werden da nur zwei Formen erwähnt: erstens die großen, runden, ei- oder kugelförmigen, die gleichsam einen Abguß des Gallenblasenhalses darstellen und wesentlich aus Chole- sterin bestehen, und zweitens die facettierten multiplen Steine. Diese Facettierung stellt man sich als eine notwendige Folge des Druckes vor, womit die Gallenblase die Steine, solange sie noch weich und nachgiebig sind, gegeneinander preßt. Naunyn behauptet dies mit der größten Bestimmtheit. Boysen findet mit dieser Erklärung schwer vereinbar die Regelmäßigkeit, die in jedem Einzelfalle die Facet- tierung auszeichnet, und auf der anderen Seite die sehr verschiedene Form, die die Facettierung in den verschiedenen Fällen annimmt: bald als sechsseitige Prismen, bald pyramiden- oder würfelförmig. Nichtsdestoweniger schließt Boysen sich Naunyn an, indem er sagt: „Es besteht kaum ein Zweifel, daß der Druck der wesentlichste Faktor bei der Bildung der Facetten ist. Wenn Gallensteine von der- selben Struktur wie facettierte Steine solitär sind, so wird die Form rundlich, oder sie richtet sich nach der Form der Gallenblase.“

Daß diese Auffassung unrichtig ist, geht aus meinem Material in mehrfacher Hinsicht hervor. In vier von den Fällen, wo nur ein einziger Gallenstein angetroffen wurde, war derselbe facettiert, und in sieben Fällen fanden sich nur vereinzelte oder ganz kleine Steine, in einzelnen Fällen allerdings zahlreiche, aber so kleine Steine, daß sie die Gallenblase nur zum Teil ausfüllten. In allen diesen zahlreichen Fällen kann, kurz gesagt, von einem nennenswerten Druck nicht die Rede sein.

Aber noch deutlicher spricht gegen die Theorie der Facettierung durch Druck die Beobachtung, daß in nicht weniger als 117 meiner Fälle von multiplen Gallensteinen diese kugelrund waren. Die multiplen runden Steine kommen in zwei verschiedenen Typen vor; in 44 Fällen war ihre Oberfläche wie die einer zusammengesetzten Frucht gestaltet, und da diese Steine bei ihrer Größe und gelben Farbe ganz der Himbeere oder Maulbeere gleichen, so habe ich diese Gruppe als die himbeer- oder maulbeerähnlichen Gallensteine bezeichnet. In den übrigen 73 Fällen waren die Steine ganz rund und glatt, in der Regel von Senf- korngröße und oft sehr zahlreich. Alles dies beweist, daß die Form der multiplen Gallensteine nicht einfach dadurch modelliert wird, daß die Gallenblase sie durch ihre Contractionen gegeneinanderpreßt, sondern daß sie wahrscheinlich ein Aus- druck der Eigentümlichkeit des Stoffes ist, aus welchem der Stein besteht eine Tatsache, die uns ja aus der Steinbildung in den Harnwegen wohlbekannt ist, wo

216 Thorkild Rovsing.

z. B. oxalsaurer Kalk kugelrunde, oft maulbeerähnliche Steine im Gegensatz zu den flach-ovalen Uratsteinen bildet. Eigentümlich ist der Umstand, daß die runden, multiplen Gallensteine in der Regel eigelb aussehen.

Aber abgesehen von diesen Formen, habe ich in einer Anzahl von Fällen einen eigentümlichen Gallensteintypus angetroffen, den ich noch nie beschrieben gefunden und Tikal-Stein genannt habe, weil er genau so gestaltet ist, wie die siamesische Silbermünze, der Tikal, der bei U-förmiger Gestalt ein konvexe Außen- fläche und eine kokave Innenfläche aufweist. In meiner Statistik habe ich diese Steine mit zu den facettierten gezählt, weil man sehr wohl die Außen- und Innenflächen als Facetten bezeichnen kann, wenngleich sie sich im übrigen erheblich von allen anderen facettierten Steinen unterscheiden. Daß im übrigen die facettierten Gallen- steine sowohl in bezug auf Form wie auf Farbe reich sind an charakteristischen Varianten, will ich hier nur nebenbei bemerken. Diese Varietäten sind oft von höchster Schönheit, so die schneeweißen, perlmutterglänzenden Steine, die meistens würfelförmig sind, oder die Steine in Form eines dreieckigen Hutes, deren glatt- geschliffene Seitenflächen auf buntem oder einfarbigem, sanft abgetöntem Untergrund ein Muster verschlungener Linien zeigen, das an moderne Keramik erinnert.

Schließlich muß ich nun noch etwas länger bei einem weiteren Vorwurf ver- weilen, der gegen die früheren Forscher auf diesem Gebiet jedoch mit alleiniger Ausnahme von Boysen! erhoben werden muß, nämlich die vollständige Ver- nachlässigung oder oberflächliche Behandlung, welche sie einer sehr charakteristischen und bedeutsamen Gruppe von Gallenkonkrementen zuteil werden lassen, nämlich den schwarzen, reinen Pigmentsteinen.

Wie im vorhergehenden Abschnitt gezeigt, werden die Pigmentsteine immer nur im Vorbeigehen als ganz bedeutungslose Gebilde bezeichnet, die meistens in den intrahepatischen Gallengängen entstehen und angetroffen werden und wegen ihrer geringen Größe und weichen Beschaffenheit ohne klinische Bedeutung sind. Die großen facettierten Steine und die großen eiförmigen Cholesterinsteine haben eben alles Interesse für sich in Anspruch genommen.

Wenn ich mich im Gegensatz dazu schon früh für diese schwarzen Pigment- steine interessiert habe und geneigt gewesen bin, ihnen große Bedeutung zuzu- schreiben, so liegt dies daran, daß ich zu Anfang des Jahres 1899 zum ersten Male unter sehr interessanten Umständen auf diese eigenartigen Gebilde gestoßen bin. Es war bei der Operation eines kaum 1'/, Jahre alten Kindes soviel ich weiß, des jüngsten Menschenkindes, das jemals an Gallenstein operiert worden ist —, wo ich das unterste Ende des Ductus choledochus durch eine Menge kohlschwarzer, fein verästelter Konkremente verstopft fand (s. Fig. 65). Oberhalb davon war der Ductus choledochus bedeutend erweitert, und der kleine Patient hatte starken Ikterus. Die Galle war steril; nicht das geringste Anzeichen von Entzündung war nachweisbar. Das Alter des Patienten veranlaßte mich, an die Möglichkeit zu denken, daß hier die primäre Form von Gallenstein vorliege, das Anfangsstadium zu den allgemein bekannten Formen, die man im späteren Leben antrifft.

In dieser Auffassung wurde ich bestärkt, als ich ein Jahr später Boysens Doktordissertation kennen lernte. Wie die Leser aus dem im vorigen Abschnitt gegebenen Bericht über diese Arbeit wissen, kam Boysen auf Grund „mineralogischer“ Untersuchung der Gallensteine von etwa 200 Leichen aus dem Sektionszimmer des Städtischen Krankenhauses gerade zu dem Resultat, daß ein kleines Konkrement von schwarzem Pigmentkalk den Anfang: zu jedem Gallenstein mache. Boysens Aus- gangspunkt ist die einfache, logische Erwägung, daß derjenige, der den Ursprung

Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. 217

der Gallensteine erforschen will, nach den kleinsten Konkrementen suchen muß, die selbstredend auch die jüngsten sein müssen während man erwarten muß, in den älteren, großen Konkrementen die ursprüngliche Struktur verwischt zu finden. Als die kleinste Konkremente fand er die reinen, schwarzen Pigmentsteine. Er fand sie in etwa 20 Gallenblasen also in 10% der Fälle als einzige Steinform vor; später aber zeigte er, daß der Kern aller facettierten Gallensteine aus schwarzem Pigmentkalk gebildet werde, und daß, je kleiner, d. h. je jünger diese Steine sind, um so größer und schwärzer der Kern ist. Boysen behauptet wie übrigens auch Naunyn —, daß die Pigmentkalksteine unter gewissen, bis jetzt noch unauf- geklärten Umständen in der Leber entstehen und mit dem Gallestrom in die Gallen- blase gelangen; hier können sie weder sich bilden noch wachsen, weil Bilihumin- kalk, aus dem diese Konkremente bestehen, in der Galle nicht vorkommt. Deshalb finden sich nur kleine Steine dieser Art; wachsen können sie in der Gallen- blase nur durch Auflagerung von Cholesterin sowie von Bilirubin- und Biliverdin- kalk, der in der Gallenblase ausgefällt werden kann. Die facettierten Gallensteine deren Zusammensetzung aus regelmäßigen, konzentrischen Lagen verrät, daß der Stein durch einfache Apposition gebildet wurde, durch Ablagerung der einen Schicht um die andere herum, teils von Cholesterin, teils von verschiedenen Pigment- kalkverbindungen, die dem Stein ihre oft außerordentlich schöne, farbige Zeichnung verleihen —, können nun nach und nach ihre Form und Farbe verändern, ja sie können sich sogar in runde, weiße oder weißgelbe Cholesterinsteine verwandeln. Dies ist eine Folge der sog. inneren Strömungen in den Steinen, wobei Chole- sterin durch enge Spalten bis zum Kern vordringt und dessen Pigmentkalk auflöst, der nun nach außen strömt, ein Vorgang, der sich in einer radiär vom Centrum ausstrahlenden Streifung kundgibt. Auf diese Weise verkleinern sich und schwinden der Pigmentkern und die Pigmentringe, und zuletzt kann aller Pigmentkalk ver- schwunden sein, womit die Verwandlung eines reinen Pigmentkalksteins in einen reinen Cholesterinstein vollzogen ist.

Um zur Lösung dieser Frage beizutragen, habe ich eine mineralogische Unter- suchung und Gruppierung der Gallensteinkonkremente von meinen sämtlichen 530 operierten Fällen vorgenommen.

In 30 Fällen also bei 56% fanden sich reine, schwarze Pigment- kalksteine. Ä

In 290 Fällen fand ich multiple facettierte Gallensteine, jedoch in 20 von diesen Fällen zusammen mit einem großen, eiförmigen Blasenhalsstein, Aschoffs „Verschlußstein“, und in 23 Fällen waren sie von Gallengrieß begleitet und selbst mehr oder minder im Zerfall begriffen.

In 117 Fällen fand ich multiple runde Steine, die in 44 Fällen „zusammen- gesetzt“, maulbeerähnlich, in den übrigen 73 aber glatt waren.

In 84 Fällen fand sich nur ein einziger, „solitärer“ Stein, der in 77 Fällen dem Typus der großen Cholesterinsteine angehörte, in 4 Fällen facettiert, in einem cylindrisch-oval, in einem damenbrettsteinförmig und in einem wurmförmig war.

Endlich fand sich in 4 Fällen nur Gallengrieß.

Es sei bemerkt, daß die kleinen, schwarzen Pigmentsteine nur in 56% aller Fälle gefunden wurden, also nur wenig mehr als halb so oft, wie Boysen sie bei der Leiche fand. Das könnte vielleicht diesen und jenen verleiten, die Bedeutung der Pigmentsteine als Grundlage jeglicher Gallensteinbildung etwas skeptischer zu betrachten; in Wirklichkeit scheint mir dieser Umstand aber eine Stütze dafür zu sein. Es ist ja einleuchtend, daß wir im allgemeinen nur bei einer Minderzahl von

218 Thorkild Rovsing.

Fällen erwarten dürfen, das Anfangsstadium in seiner ganzen Reinheit anzutreffen, aber besonders bei einem klinischen und vor allem chirurgischen Material dürfen wir verhältnismäßig selten darauf rechnen, ihm bei unseren Operationen zu begegnen, die ja meistens an sehr alten, vorgeschrittenen und oft komplizierten Fällen aus- geführt werden. Auf dem Sektionstisch anderseits, wo wir auch diejenigen Steine antreffen, die niemals Symptome gemacht haben, darf man viel häufiger Pigment- steine zu finden erwarten als auf dem Öperationstisch. Es scheint daher gut mit der Theorie übereinzustimmen, daß Boysens Prozentzahl von Pigmentsteinen doppelt so groß ist wie die meinige. Boysens Sektionsstatistik ist ja freilich nicht sehr um- fangreich, und es erschien mir daher als wünschenswert, größere Zahlen als Unter- lage zu erhalten. Leider hat Scheel in seiner Statistik von 1911 diesen Punkt un- berücksichtigt gelassen. Anderseits hatSvend Hansen in einer neuerdings erschienenen Arbeit die diesbezüglichen Verhältnisse bei etwa 300 in den Jahren 1920 und 1921 im Sektionszimmer des Städtischen Krankenhauses festgestellten Gallensteinfällen eigens. zu dem Zweck ermittelt, um seine Zahl mit meiner im Operationszimmer gewonnenen zu vergleichen. Hansen verzeichnet unter seinen 293 Fällen 58 mit Pigmentsteinen, also 197% oder etwa viermal soviel. Zur größeren Sicherheit habe ich mit Prof. Fibigers Erlaubnis und freundlicher Unterstützung das ganze Sektions- material des Reichshospitales von seiner Eröffnung im Jahre 1910 an bis heute, also aus 12 Jahren, daraufhin durchgesehen und im Hinblick auf die vorliegende Frage folgendes gefunden:

Die Gesamtzahl der Gallensteinfälle betrug 285, und unter diesen fanden sich 48mal nur kleine, schwarze Pigmentsteine in der Gallenblase, also in 168% der Fälle. Diese Zahl liefert somit einen weiteren Beleg dafür, daß, während die reinen Pigmentsteine bei Gallensteinoperationen recht selten gefunden werden, in etwa 5% der Fälle, sie als zufälliger Sektionsbefund recht häufig sind. Chirurgen wie Kehr, die nur in sehr bedenklichen, fortgeschrittenen Fällen operieren, werden wohl niemals die reinen, schwarzen Pigmentsteine antreffen, und dies erklärt vielleicht von seiten der deutschen Kliniker die Beurteilung dieser Konkrementform als äußerst selten und klinisch ganz bedeutungslos; aber wenn ein pathologischer Anatom wie Aschoff das gleiche Urteil abgibt, dann kann das wohl nur darauf beruhen, daß er sich mit dem begnügen mußte, was er von den Chirurgen bekam, aber eine systematische Untersuchung seines Sektionsmaterials ganz unterlassen hat.

Es ist doch nicht zu leugnen, daß der häufige Befund von Pigmentsteinen im Sektionszimmer und ihre Seltenheit bei Operationen in hohem Grade dafür spricht, daß wir hier das jüngste Stadium der Gallensteine vor uns haben. Die Frage steht nun so, ob Boysen darin recht hat, daß die Pigmentsteine den Kern, den Anfang zu allen anderen Gallensteinformen, bilden, oder ob sie nur eine andere, nebensächliche, seltenere Art von Gallensteinen sind.

Im Vergleich mit anderen Steinen und ganz abgesehen von ihrer chemischen Zusammensetzung, sind ja die schwarzen Pigmentsteine in mehrfacher Hinsicht sehr eigenartig. Erstens scheinen sie, solange sie alle ganz klein und von gleicher Größe sind, in der Gallenblase gar nicht durch Auflagerung von Pigmentkalk zu wachsen. Bisweilen hat es den Anschein, als fänden sich einzelne größere Konkremente; sieht man aber genauer zu, dann erweisen sie sich als einfache Anhäufung der kleinen, spitzzackigen, verästelten Konkremente, die sich miteinander verfilzt haben und ohne Schwierigkeit wieder voneinander zu trennen sind. Diese Verhältnisse hat Boysen so gedeutet, daß Pigmentsteine in der Gallenblase weder entstehen noch wachsen können. Er befindet sich hier in Übereinstimmung mit Naunyn, Aschoff und

Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. 219

vielen anderen Forschern, die die Pigmentsteine in den intrahepatischen Gängen beobachtet haben und der Ansicht sind, daß sie allemal hier entstünden. Es ist daher kein Zweifel, daß die Pigmentsteine intrahepatisch entstehen können und in der Regel entstehen, unter gewissen vorübergehenden krankhaften Zuständen im Organismus, deren Natur noch unklar ist. |

Eine zweite bedeutsame Eigentümlichkeit der Pigmentkalksteine ist ihre Form und der Charakter ihrer Oberfläche. Während alle anderen Gallensteine, seien sie nun rund oder facettiert, eine glatte Oberfläche besitzen, sind die Pigmentsteine rauh, stachelig, oft verästelt (Fig. 65). Wenn die Gallenblase sich zusammenzieht, um die Galle zu entleeren, dringen diese Spitzen und Verästelungen in die

Fig. 65.

k , SS.

- ai = a nn

Bilihuminkalkkonkremente, gefunden in Choledochus und Gallenblase eines Patienten, der an einer lange dauernden Pyonephrose gestorben war.

Schleimhaut ein und verhindern mit ihren Widerhaken, daß das Konkrement zu- gleich mit der Galle die Blase verläßt. Es bleibt also zurück und erzeugt dabei die häufig wiederholten Verletzungen und die ständige Reizung der OGallenblasenschleim- haut: den traumatischen, aseptischen, „steinerzeugenden“ Katarrh, den ich seinerzeit bei den Nieren geschildert habe. Dort ist es die Ausfällung der spitzen Harnsäurenadeln und der scharfen Oxalatkrystalle, hier die spitzen Pigment- kalkbildungen, die kleine Blutergüsse und Epithelsabschürfungen hervorrufen und damit das zur Verkittung der Krystalle und zum Aufbau der Steine erforderliche Material liefern.

Wie man sich erinnern wird, war es ja eine von den großen Schwierigkeiten, die Naunyn hatte, um seine Theorie von den kleinen Myelintropfen als Anfangs- stadien jeder Gallensteinbildung einigermaßen wahrscheinlich zu machen, zu erklären, weshalb diese ganz glatten, kleinen Gebilde nicht mit der Galle fortgespült würden, sondern in der Blase verblieben und Zeit fanden, zu richtigen Oallensteinen heran- zuwachsen. Er mußte daher eine neue und seltsame Voraussetzung für die Oallen- steinbildung ausfindig machen, die „Stauungsgallenblase“, um die Retention jener Körperchen zu erklären, ebenso wie er genötigt war, seine Zuflucht zu der Hypothese von der infektiösen Gallenblasenentzündung zu nehmen, um den steinbildenden Katarrh zu erhalten, den die kleinen Myelintropfen allerdings ganz und gar nicht zuwege bringen konnten. Hätte Naunyn nur das Glück gehabt, bei seiner Theorie mit den Pigmentkalksteinen anstatt mit den Cholesterinsteinen zu beginnen, dann

220 Thorkild Rovsing.

hätte er sich zwei von seinen Hypothesen sparen können, denn die Besonder- heiten der Pigmentkalksteine machen alle künstlichen Erklärungen über- flüssig.

Es läßt sich doch nicht bestreiten, daß alles, was wir beim Studium der äußeren Form der Gallensteine und der Häufigkeit des Vorkommens der verschiedenen Formen vermuten und folgern können, es sehr wahrscheinlich macht, daß die reinen Pigmentkalksteine in der Leber entstehen, mit der Galle in die Gallenblase gelangen, wo sie vermöge ihrer stacheligen Oberfläche zurückgehalten werden, einen stein- bildenden Katarrh hervorrufen und zu Centren der Entstehung der gewöhnlichen Gallensteinformen werden, wobei die normalen Gallenbestandteile, Cholesterin und Bilirubin- bzw. Bilverdinkalk, um den Pigmentkern herum ausgefällt werden. Der

Fig. 66.

Großer Solitärstein (a) scheint von außen gesehen ganz von Cholesterin gebildet; der Durchschnitt (b) zeigt aber einen Pigmentkalkkern im Begriff der Auflösung.

Beweis dafür kann allerdings nur durch die Untersuchung der inneren Struktur der Gallensteine geliefert werden.

So habe ich denn auch Gallensteinschnitte von jedem einzelnen meiner 530 Fälle untersucht mit dem Ergebnis, daß in sämtlichen Steinen facettierten wie rundlichen mit einer einzigen Ausnahme ein Kern von schwarzem Pigment angetroffen wurde. Die einzige Ausnahme bildete ein großer, eiförmiger Cholesterinstein (Tafel I und II, Fig. 1). Es ist durchaus richtig, wie Boysen betont, daß der Pigmentkern in den kleinsten Steinen am größten und dichtesten ist, während er in den großen an seiner Peripherie in Auflösung begriffen ist und vom Centrum aus in Gestalt von dunklen, radiär verlaufenden Streifen in den Kanälen und Spalten austritt, durch welche das Cholesterin ein- getreten ist. Am schönsten erscheint der schwarze Pigmentkern in den sog. reinen Cholesterinsteinen, wo offenbar um den Pigmentkalkstein herum sich reines Cholesterin abgeschieden hat. Diese Steine sind fast schneeweiß, bald multipel, facettiert und dann mit einer glänzenden, glatten, perlmutterartigen Schale versehen, bald solitär, groß, eiförmig, oft mit einer welligen, unebenen, matten, gelbweißen Oberfläche. Schneidet man nur eine Scheibe oder nur die Kuppe eines solchen Steines ab, so hat man den Eindruck, daß er durch und durch gleichmäßig weiß sei; spaltet man ihn aber bis zum Centrum, dann findet man das erstemal zu großer Über- raschung den kohlschwarzen Kern (Tafel I und II, Fig. 9 und Fig. 66 a und b). Es ist möglich, daß der einzige Stein meiner Sammlung, der keinen Pigmentkern

Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. 221

aufwies und durch und durch aus Cholesterin zu bestehen schien, die Tatsache veranschaulicht, daß in seltenen Fällen ein Cholesterinstein primär entstehen kann; viel annehmbarer scheint mir aber die Deutung zu sein, daß es sich um einen Stein handelt, dessen Pigmentkern im Laufe der Zeit restlos aufgelöst und ausgelaugt worden ist. In dieser Auffassung bin ich nachdrücklich bestärkt worden bei der Verfolgung der verschiedenen Stufen der Auflösung des Pigmentkalks bis zu dem Stadium, wo keine Spur von Pigment mehr zu entdecken war. Für mich ist es daher nicht zweifelhaft, daß die Umwandlung reiner Pigmentkalksteine in reine Cholesterinsteine, wenn sie auch in der Regel unvollständig bleibt, bisweilen doch ganz zu Ende geführt wird.

Wir können daher diesen Abschnitt meiner eigenen Untersuchungen mit der Feststellung schließen, daß Konkremente von reinem Pigmentkalk, die in der Leber entstehen, in der Regel den Kern für die andersgeformten Steine abgeben, die sich in der Gallenblase finden. Inwieweit es zur Ausfällung von Cholesterin und Kalk- verbindungen, aus denen die in der Gallenblase um den Pigmentkern herum abgelagerte Schicht besteht, noch besonderer Bedingungen bedarf, wie nament- lich Naunyn und Aschoff behaupten, wollen wir im nächsten Abschnitt unter- suchen.

Ich kann dieses Kapitel nicht verlassen, ohne noch kurz darauf hinzuweisen, welche Bedeutung ich dem Gallengrieß beilege, der in meiner Statistik als Befund in 27 Fällen figuriert. Ich muß darauf zu sprechen kommen, weil Naunyn und andere in diesem Material die Anfänge von Gallensteinen erblickt haben wollen, die chaotische Masse, aus welcher die Steine sich bilden sollen. Ich bin indessen im Gegenteil der Ansicht, daß die Sache sich in der Regel genau umgekehrt ver- hält, daß nämlich der Gallengrieß die Überreste zerfallener, aufgelöster Steine darstellt. Ich schließe dies daraus, daß in den 23 Fällen, wo Steine gleichzeitig mit Grieß vorgefunden wurden, der größte Teil derselben im Zerfall begriffen war, u. zw. handelte es sich dabei um größere Steine oder um Bruchstücke solcher, während man, wenn der Grieß der Anfang der Steinbildung wäre, erwarten sollte, daneben einige ganz kleine, frisch entstandene Steine zu finden. Anderseits habe ich in einzelnen Fällen eine oder mehrere stachelige, den ganzen Blasenhals ausfüllende schwarze Pigmentsteine mit einer Umhüllung von dicklichem, fest- weichem, hellgelbem Gallengrieß vorgefunden. Hier handelte es sich jedenfalls um einen rasch wachsenden Gallenstein bei massenhafter Ausfällung von Cholesterin um die Pigmentsteine herum.

Il. Untersuchungen über das Verhältnis zwischen Infektion und Gallen- steinen, mit besonderer Berücksichtigung von deren Pathogenese.

Bezüglich der Frage nach dem Verhältnis zwischen Infektion und Gallensteinen gibt es, wie früher erwähnt, drei Theorien, die der Infektion der Gallenblase und der Gallenwege eine größere oder geringere Bedeutung für die Entstehung der Gallensteine zuschreiben: 1. Naunyns Theorie, die die Infektion als eine conditio sine qua non für alle Formen der Gallensteine erklärt, 2. Boysens und C. Langes Theorie, die die Pigmentkalksteine als Bildungen auf aseptischer Grundlage betrachtet, während Cholesterinsteine ihren Ursprung stets einer infektiösen Entzündung ver- danken sollen, und 3. Bacmeisters und ÄAschoffs Theorie, nach welcher die Cholesterinsteine regelmäßig in aseptischen, Pigmentkalksteine in infizierten und entzündeten Gallenblasen entstehen.

222 Thorkild Rovsing.

Es leuchtet ja ohneweiters ein, daß diese drei Theorien in hoffnungslosem Widerspruch zueinander stehen. Es fragt sich nun, ob eine dieser Theorien und welche richtig ist, eventuell wieviel Richtiges jede für sich enthält.

Von allen diesen Theorien gilt, daß sie reine Hypothesen sind, die wohl in gewissen vereinzelten Tatsachen ihre Stütze suchen, wofür jedoch der endgültige Beweis vollständig fehlt. Im Hinblick auf Naunyns Theorie kann man, wie ich bereits vor 23 Jahren in meinen Vorlesungen gezeigt habe, schon aus der klinischen Erfahrung heraus seine Behauptung, daß die infektiöse Cholecystitis eine notwendige Voraussetzung für die Gallensteinbildung sei, als ganz unwahrscheinlich, um nicht zu sagen: unmöglich, bezeichnen. Wenn er nämlich recht hätte, dann müßten in der Regel die Gallensteinpatienten die sehr charakteristischen Symptome der infektiösen Cholecystitis schon lange vorher gezeigt haben, vor allem aber konstant nach ein- getretener Gallensteinbildung. Nun verhält sich aber die Sache im Gegenteil so, daß die meisten Gallensteinträger niemals Symptome von seiten ihrer Gallenblase gezeigt haben. Sie gehen zu Grabe, ohne eine Ahnung von ihren Gallensteinen gehabt zu haben. Wir wissen das aus Zufallsfunden von Gallensteinen bei Obduktionen. Je mehr die Aufmerksamkeit auf diese interessante Frage hin- gelenkt, je sorgfältiger bei den Sektionen nach Gallenstein gesucht wird, desto häufiger zeigt sich das Vorkommen symptomloser, bei Lebzeiten unbeachtet ge- bliebener Gallensteine.

Bei uns in Dänemark war Kristian Poulsen der erste, der eine Sektions- statistik aus dem Städtischen Krankenhaus veröffentlichte und beim Studium der Sektionsprotokolle aus den Jahren 1870—1890 fand, daß 37% der Leichen Gallen- steine gehabt hatten, u. zw. von männlichen Leichen 33%, von weiblichen 59%. Als dann später Scheel sich eigens vornahm, während der vier Jahre 1906—1910 alle Leichen auf Gallensteine zu untersuchen, fand er solche bei nicht weniger als 15% der Sektionen. Endlich hat Svend Hansen bei einer womöglich noch sorg- fältigeren Untersuchung des Sektionsmaterials des Städtischen Krankenhauses aus den Jahren 1920 und 1921 bei 25% aller Leichen Gallenstein gefunden. In den aller- meisten Fällen fanden sich hier die Gallensteine in Gallenblasen, die keinerlei An- zeichen von Entzündung aufwiesen.

Aber selbst bei dem geringen Prozentsatz von Gallensteinträgern, die wirklich dazu kommen, „an Oallenstein zu leiden“ und auf Grund genauer Untersuchung an dieser Krankheit behandelt zu werden, finden wir, daß bei einer großen Zahl von diesen Patienten weder vor- noch nachdem die Gallensteine ihre Gegenwart durch ausgesprochene Symptome verraten haben, Anzeichen von Infektion oder Entzündung an der Gallenblase aufgetreten sind. Bei den zahlreichen Gallenstein- patienten, die gerade deshalb in Behandlung kommen, weil sie Fieber oder sonstige Entzündungssymptome darbieten, sind diese sehr häufig erst nach jahrelangem, fieberfreiem Gallensteinleiden aufgetreten. Obwohl diese einfachen und klaren klini- schen Erfahrungen, deren Richtigkeit jeder Kliniker von einiger Praxis bestätigen muß, für Naunyns Theorie vollständig vernichtend waren, haben meine Argumente die klinischen Kollegen im In- und Auslande nur wenig anzufechten vermocht. Das fanatische Zutrauen der meisten zur Theorie des großen deutschen Klinikers war so eingewurzelt, daß sie immer noch darauf schwören und darnach handeln, d h. ihre Patienten behandeln. Einzelne sind freilich durch meine Einwände zum Nachdenken und zu einer wenn auch nur vorsichtigen Opposition gegen Naunyn veranlaßt worden. Als eine solche vorsichtige Opposition muß jedenfalls auch Aschoffs und Bacmeisters Theorie von 1909 betrachtet werden.

Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. 223

Diese beiden Forscher sind sich ganz klar darüber gewesen, daß Naunyns Theorie ganz unhaltbar ist, weil sowohl Klinik wie Sektionstisch dafür zeugen, daß Gallensteine auf aseptischer Grundlage entstehen können. Ebenso wie C. Lange und Boysen gewinnen sie daraus die Überzeugung, daß die primären Gallensteine in der aseptischen Gallenblase entstehen, aber bei ihrer Verstrickung in Naunyns Gedankengang betrachten sie es als Tatsache, daß Cholesterin die primäre Grund- lage der Gallensteinbildung darstellt, und kommen nun auf die eigentümliche Idee, daß, wenn die aseptischen Cholesterinsteine sich vergrößern, sich im Gallenblasen- hals festklemmen und zu dem Gebilde werden, was Aschoff „Verschlußstein“ nennt, dies Infektion und Entzündung in der dergestalt mehr oder weniger abgesperrten Gallenblase bewirke. In dieser sollen dann infolge der infektiösen Cystitis multiple, facettierte, aus Cholesterin und Pigmentkalk bestehende Mischlingssteine entstehen. Hätte Aschoff, als er seine Theorie aufzustellen begann, Boysens Arbeit gekannt, dann würden ihm wahrscheinlich auch die Augen darüber aufgegangen sein, daß er gerade in den so verachteten, kleinen schwarzen Pigmentsteinen die aseptischen, primären Gallensteine vor sich habe.

Wie dem auch sei, der Gedanke, daß gewisse Formen von Gallensteinen oder daß die äußeren Schichten bei den zusammengesetzten Steinen auf Infektion zurückzuführen seien, ist a priori nicht von der Hand zu weisen. Vielmehr hat dieser Gedanke a priori eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich, wenn man, wie C. Lange, ganz unbefangen die Konkremente der Gallen- und Harnwege vergleicht. Neben der von mir in meiner Dissertation (1889) nachgewiesenen Befähigung der harnstoffzersetzenden Mikroben zu rapider Tripelphosphatbildung könnte man sehr wohl an eine ähnliche Fähigkeit gewisser anderer Mikroben denken, Galle zu zersetzen und dadurch Stein- bildung oder Ablagerung: neuer Schichten auf primären aseptischen Steinen zu be- wirken.

Das entscheidende Kriterium für den Wert der drei Theorien kann uns nur die systematische bakteriologische Untersuchung der in einer großen Anzahl von Fällen bei der Operation unter allen antiseptischen Kautelen entnommenen Galle liefern. Das war mir von vornherein klar, als ich vor 30 Jahren begann, Gallenstein- operationen auszuführen und dabei genötigt war, mich für die Pathogeneseprobleme zu interessieren; und deshalb habe ich bei jeder Operation Galle zur bakteriologi- schen Untersuchung nach folgendem Verfahren entnommen: Nachdem die Gallen- blase freigelegt und vom übrigen Peritonealraum durch Gazekompressen abgegrenzt ist, fasse ich den Fundus mit zwei Moynihanschen Pinzetten und punktiere da- zwischen die Gallenblase mit einem Troikart, wobei die Galle unmittelbar in einem sterilen Reagensglas aufgefangen wird, das sogleich ins Laboratorium gelangt, wo unverzüglich Impf- und andere Kulturen angelegt werden.

Wenn die Wandungen der Gallenblase verändert, verdickt oder entzündet erscheinen, werden Stücke davon für die mikroskopische Untersuchung entnommen. Im letzten Semester habe ich außerdem einige von den Gallensteinen in sterilen Gläsern aufgefangen, abgespült, getrocknet, zerschnitten und von ihrem Kern auf verschiedene Nährböden abgeimpft.

Die Ergebnisse dieser Untersuchungsreihe werde ich im folgenden für jede | einzelne Steingruppe besonders angeben.

Gruppe I: Solitäre Steine fanden sich in 84 Fällen.

In 48 derselben erwies sich der Inhalt der Gallenblase als steril = 57:1 % 36 n u n n n u „infiziert = 429%

224 Thorkild Rovsing.

Gruppe Il: Multiple runde Gallensteine fanden sich in 117 Fällen. In 73 derselben erwies sich der Inhalt der Gallenblase als steril = 624% 44 " " mn n " n infiziert = 376% Gruppe II: Multiple facettierte Steine fanden sich in 247 Fällen. In 144 derselben erwies sich der Inhalt der Gallenblase als steril = 58:3 % 103 n n v » ny À n v infiziert = 417% Gruppe IV: Kleine schwarze Pigmentkalksteine fanden sich in 30 Fällen. In 17 derselben erwies sich der Inhalt der Gallenblase als steril =566% 13 " " nv » n n infiziert = 43:4 % Gruppe V: Ein solitärer runder „Verschlußstein“ und multiple facet- tierte Steine fanden sich in 20 Fällen.

In 14 derselben erwies sich der Inhalt der Gallenblase als steril = 700% 6 " " n » „on " infiziert = 300% Gruppe VI: Gallengrieß und Steintrümmer fanden sich in 23 Fällen. In 13 derselben erwies sich der Inhalt der Gallenblase als steril=565% 10 n n non » n " „infiziert = 435% Gruppe VII: Gallengrieß fand sich in 4 Fällen. In 1 derselben erwies sich der Inhalt der Gallenblase als steril = 250% „3 nm " n nu n infiziert = 750% Gruppe VIII: In 5 Fällen waren die Steine vor der Operation abgegangen: In 4 derselben erwies sich der Inhalt der Gallenblase als steril = 800% 1 " nn n n " infiziert = 20:0 % Somit war der Inhalt der Gallenblase bei 530 Operationen

steril in 314 Fällen = 593%

infiziert in 216 Fällen = 407%

Betrachten wir nun diese Zahlen näher, so müssen wir konstatieren, daß sie von erfreulicher Klarheit sind. Sie lassen sich nicht mißverstehen oder wegdeuten.

Naunyns Theorie, daß jede Gallensteinbildung auf infektiöse Cystitis zurück- zuführen sei, muß hiernach als endgültig widerlegt aus der Erörterung ausscheiden. Auf die an und für sich schwerwiegenden, rein klinischen Einwände gegen seine Theorie, daß alle die gewöhnlichen klinischen Symptome bei Infektion und Ent- zündung in so zahlreichen Fällen sowohl vor- wie nachdem die Gallensteinbildung sich durch Schmerzanfälle offenbarte, hat Naunyn geantwortet, daß die Bakterien eben die ganz schwach virulenten Kolibacillen seien und die von ihnen erzeugte Cholecystitis so geringfügig, daß sie oft gar keine Symptome mache. Nun ist aller- dings keine Mikrobe so leicht durch Impfung und Mikroskopie nachzuweisen wie gerade Bacterium coli, das, virulent oder nicht, eine enorme Vermehrungsfähigkeit und eine fast störende Neigung hat, auf den gewöhnlichen Nährböden zu wachsen. Sicherlich sind es denn auch Anhänger Naunyns gewesen der oben erwähnte Japaner Miyake gehört z. B. auch dazu —, die angesichts früherer, sowohl umfang- reicher wie auch spärlicher bakteriologischer Untersuchungen mit negativem Resultat den Einwand gewagt haben, daß die Bakterien, die die Steinbildung verursacht hätten, unter der bactericiden Wirkung der Galle bereits vor der Operation abge- storben gewesen seien. Die Untersuchung der Galle sollte daher keine Beweiskraft haben; wenn man aber einen Stein durchschnitte und von seiner centralen Partie abimpfe, dann würde man schon Bakterien finden.

Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. 225

Dazu ist folgendes zu bemerken. Ohne Zweifel können Mikroben in einer ent- zündeten Gallenblase ausnahmsweise einmal bei Empyemen, die lange Zeit hindurch völlig abgekapselt gewesen sind, aus Nahrungsmangel oder als Opfer ihrer eigenen Toxine abgestorben sein, aber anderseits darf es wohl als eine der bestbegründeten Erfahrungstatsachen der Pathologie bezeichnet werden, daß nichts mehr geeignet ist, Infektion und Entzündung in einem Organ zu unterhalten als die Anwesenheit von Konkrementen oder anderen Fremdkörpern. Noch niemals hat man es erlebt, daß bei Harnstein eine komplizierende Infektion abheilte, ohne daß der Stein entfernt wurde. Denn die Steine halten den Infektionsstoff fest und unterhalten durch ihre Irritation der Gewebe die Entzündung. Ganz die gleichen Verhältnisse machen sich naturnotwendig auch bei den Gallensteinen geltend. Mit Rücksicht auf Miyakes Behauptung haben wir im letzten Semester auch das Innere der Steine durch Impfung und Mikroskopie untersucht, aber niemals Mikroben darin gefunden, wenn die Galle steril war.

Naunyn selbst hat bis jetzt alle in der Literatur erschienenen Mitteilungen über negative Befunde bei bakteriologischer Untersuchung des Gallenblaseninhalts unbeachtet gelassen. Das geht aber nun nicht länger mehr an.

Jeder Unbefangene wird doch begreifen, daß, wenn eine sorgfältig aus- geführte bakteriologische Untersuchung von 530 Gallensteinfällen in 60% der Fälle die Galle als steril erweist, damit Naunyns Infektions- theorie widerlegt ist.

Es bleibt nun noch die Frage nach der Haltbarkeit der übrigen Theorien zu beantworten, die davon ausgehen, daB gewisse Formen von Gallenstein zu ihrer Entstehung oder zu ihrem Wachstum einer infektiösen Cholecystitis bedürfen.

Nehmen wir zunächst die Lange-Boysensche Theorie, daß die Chole- sterinsteine auf infektiöser Basis entstehen, so finden wir die Antwort darauf in unserer Gruppe I, die 84 Fälle von solitärem Cholesterinstein umfaßt. Es zeigt sich nämlich, daß in nicht weniger als 48 (= 571%) dieser Fälle die Galle steril war. Die Cholesterinsteine verhalten sich bis auf einige Dezimalen genau so wie die kleinen schwarzen Pigmentsteine, die nach Lange und Boysen im Gegensatz zu den Cholesterinsteinen immer nur in aseptischen Gallenblasen zu finden sein sollen. Bei den Pigmentsteinen war die Galle nämlich in 58°6% steril und in 414% infiziert. Damit ist auch Lange und Boysens Infektionstheorie gefallen.

Es bleibt nun noch Aschoffs und Bacmeisters Theorie übrig, die davon ausgeht, daß die Cholesterinsteine in der aseptischen Gallenblase ent- stehen, während alle gemischten facettierten Gallensteine einer infektiösen Chelecystitis ihren Ursprung verdanken sollen, die oft davon herrührt, daß ein großer Cholesterinstein sich zum „Verschlußstein“ ausgebildet hat, während hinter ihm in der Gallenblase eine infektiöse Entzündung entstanden ist.

Das Schicksal dieser Theorie entscheidet sich nach Gruppe HI und V.

Gruppe IlI enthält 247 Fälle von multiplen facettierten Gallensteinen; in 144 Fällen (= 583%) erwies sich der Gallenblaseninhalt als steril.

Gruppe V betrifft die 20 Fälle, die mein Material von jenem Typus enthält, auf dem Aschoff hauptsächlich seine Theorie aufgebaut hat: ein großer solitärer „Verschlußstein« und multiple facettierte Steine. Aber auch diese lassen ihn im Stich, indem hier nicht weniger als 70% der Fälle einen sterilen Gallenblasen- inhalt zeigten.

Damit ist schließlich auch Aschoffs-Bacmeisters Theorie erledigt.

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 15

226 Thorkild Rovsing.

Diese Untersuchungen haben also mit Sicherheit gezeigt: erstens, daß bei der Mehrzahl der zur Operation gelangenden Fälle gar keine Infektion besteht, und zweitens, daß alle die verschiedenen Steinformen sich gegen- über der Frage „Infektion oder Sterilität« ganz gleichartig verhalten.

Damit erscheint auch bewiesen, daß die Infektion, wo sie vorkommt, nur als eine oft recht unangenehme Komplikation des Gallensteinleidens aufzufassen ist, und dies stimmt, wie ich schon wiederholt hervorgehoben habe, damit überein, was die tägliche Beobachtung am Krankenbett uns lehrt. Ganz ausgeprägte Gallen- steinanfälle verlaufen im Beginn, ja oft viele Jahre lang vollständig afebril, bis plötzlich mitten in einem Anfall Frostschauer oder Schüttelfrost und Temperaturerhöhung auftreten. Dies namentlich dann, wenn der Anfall zum erstenmal von Ikterus begleitet ist, was als Anzeichen dafür gilt, daß ein Stein endlich in den Ductus choledochus gelangt ist und sich dort eingeklemmt hat. Wie ich im Jahre 1899 in meinen Vor- lesungen ausführte, hat dies zur Folge, daß der Sphincter choledochi erschlafft und der Weg für das Eindringen von Bakterien aus dem Duodenum in die Gallenwege frei wird. So kommt es zur Infektion, die in der hinter dem Stein stagnierenden Galle die besten Entwicklungs- und Ausbreitungsbedingungen findet.

In einem einzelnen Punkte hat Naunyns Theorie insofern eine klinische Stütze gehabt, als gewisse Beobachtungen am Krankenbett dazu beitrugen, die Auffassung zu begünstigen und zu verbreiten, daß der Typhusbacillus eine gallensteinbildende Mikrobe par excellence sei. Es hat sich ja gezeigt, daß, wenn Patienten nach Ablauf des typhoiden Fiebers „Typhusbacillenträger“ blieben, dies daher rührte, daß die Bacillen einen dauernden Aufenthalt in der Gallenblase gefunden hatten, und bei Operationen solcher Bacillenträger hat es sich weiter gezeigt, daß sie in der Regel Gallensteine haben. Unter dem Einfluß der Naunynschen Theorie hat man da gefolgert, daß diese Steine durch die Tätigkeit der Typhusbacillen in der Gallen- blase entstanden seien. Wie aus einem späteren Kapitel hervorgehen wird, ist mir der Gedanke, daß ein typhoides Fieber zur Gallensteinbildung führen könne, keines- wegs fremd, jedoch in einem ganz anderen Sinne. Nach allem, was meine Unter- suchungen über das Verhältnis zwischen Infektion und Gallenstein uns gelehrt haben, gestaltet sich nach meiner Auffassung das Verhältnis zwischen Typhusbacillen und Gallenstein ganz natürlicherweise so, daß die Bacillen, mögen nun die Gallensteine schon vor dem typhoiden Fieber vorhanden gewesen oder während desselben ent- standen sein, für die Gallensteine ganz ohne Bedeutung sind, während im Gegenteil die Gallensteine schuld daran sind, daß die Typhusbacillen in der Gallenblase zurück- gehalten werden und den Patienten zu einer Gefahr für seine Umgebung machen. Ein triftiger Beweis dafür ist die Tatsache, daß bei meinen Fällen die Entfernung der Steine durch Cholecystotomie genügte, um den Patienten von seinem Gallen- steinleiden zu befreien und seine Rolle als Bacillenträger zum Abschluß zu bringen, während nach Naunyns Theorie die Entfernung der Gallenblase dazu nötig sein sollte, weil sonst die Typhusbacillen in der Gallenblase alsbald neue Gallensteine bilden würden.

Die Infektion ist also nur eine Komplikation, allerdings eine sehr ernste, namentlich weil sie oft zur Operation nötigt und ihre Prognose so sehr von der Art der Infektion abhängt. Der günstigste Fall ist der, wo es sich um eine reine Infektion mit Bacterium coli handelt, und dies kommt wohl am häufigsten vor; oft aber sind auch pyogene Staphylokokken und Streptokokken vorhanden, und sehr oft finden sich im Gegensatz zu Naunyn überhaupt keine Colibacillen, sondern Strepto- und Staphylokokken in Reinkultur.

Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. 227

Obwohl ohne direktes Interesse für die Frage nach der Pathogenese, ist es doch als Korrektiv für die Naunynschen Angaben wichtig festzustellen, daß ich unter . meinem Material als einzige Mikrobe den Streptococcus pyogenes in 28 Fällen und den Staphylococcus aureus in 36 Fällen angetroffen habe.

IL Untersuchungen über das Verhältnis zwischen Gallenstase und Gallensteinbildung. |

Schon lange vor Naunyn hat man die Vorstellung gehabt, daß Gallenstase für die Gallensteinbildung von Bedeutung sein könnte. Sehr natürlich, da bei der Stagnation die Galle sich verdickt und dieser Prozeß als die Ursache der Aus- fällung der festen Gallenbestandteile betrachtet werden konnte, die sich sonst in der normalen Galle in Lösung befinden und die wir in den Gallensteinen antreffen.

Anderseits ist Naunyn der erste gewesen, der die Gallenstase, insbesondere in der Gallenblase (die „Stauungsgallenblase“), als eine unerläßliche Bedingung für die Gallensteinbildung hingestellt hat. Freilich bringt Naunyn nicht den ge- ringsten Beweis dafür bei, daß Stauungsblase für die Bildung von Gallensteinen notwendig sei.

Nichtsdestoweniger findet sich die Behauptung von der Stauungsgallenblase als conditio sine qua non als Dogma nicht nur in jedem Lehrbuch, angefangen von Langenbuchs Monographie in der „Deutschen Chirurgie“ bis zu den neuesten ` Lehrbüchern, sondern sozusagen in allen wissenschaftlichen Spezialwerken oder -abhandlungen. Selbst Aschoff und Bacmeister, die in anderen Punkten Naunyns Lehre so energisch angreifen, beginnen ihr Buch mit dem Satz, „daß Stauung in der Gallenblase infolge behinderter Entleerung die notwendige Begleitursache jeder Gallensteinbildung“ sei.

Im Jahre 1913 beginnt Helene Zellweger in der Zeitschrift für angewandte Anatomie und Konstitutionslehre eine Abhandlung über „die Bedeutung des Lymphatismus und anderer konstitutioneller Momente für Gallensteinbildung“ mit folgenden Sätzen: |

„Die Entstehung der Gallensteine ist durch Naunyn, Aschoff, Bacmeister u.a. klargelegt worden. Wenn auch die Autoren nicht in allen Punkten einer Meinung sind, so stimmen sie doch darin überein, daß das Hauptmoment für das erste Zustandekommen der Cholelithiasis die Gallenstauung ist.“

Dieses Zitat ist ein Beispiel von vielen; so wie hier geht einstimmig aller- wegen das Gerede, ein neuer, bedauerlicher Beleg dafür, wie eine ganz oberfläch- liche Arbeitshypothese in die Literatur übergeht und überall als wissenschaftlich bestätigte Tatsache hingenommen wird.

Es ist nun sehr interessant zu beobachten, wie sich die Sache weiter ent- wickelte, als viele Jahre später verschiedene Chirurgen und pathologische Anatomen sich veranlaßt sahen, dieses „Vorstadium“ der Gallensteinblase, die „Stauungsblase*“, zu studieren.

Man sollte ja erwarten, zum mindesten in weit vorgeschrittenen Fällen von „Stauungsblasen“ die Anfänge der Gallensteinbildung zu finden, in jedem Falle aber dann, wenn Infektion bestand. Aber nur bei einer einzigen der veröffentlichten Beobachtungen hat man das erwartete Anfangsstadium gefunden (J. Berg). Aber nicht einmal dieser Fall läßt sich in Wirklichkeit in diesem Sinne verwerten; denn John Berg fand nur die kleinen, reinen Pigmentsteine, welche gar nicht in der Gallenblase, sondern in der Leber entstehen.

15*

228 Thorkild Rovsing.

v. Schmieden und C. Rohde haben die Frage zunächst in einer kleinen Arbeit im Zentralblatt für Chirurgie 1912, Nr. 41 und später in der Festschrift für Bier im Archiv für klinische Chirurgie, Bd. 118 in einer größeren Abhandlung ` „Die Stauungsgallenblase mit besonderer Berücksichtigung der Ätiologie der Gallen- stauungen“ erörtert. Darin führen die Verfasser 14 Fälle von typischer. Stauungs- blase an, die zu einem nach ihrer Meinung charakteristischen Krankheitsbilde führten, welches jedoch bei näherer Betrachtung von demjenigen bei Gallensteinen oder Cholecystitis nicht verschieden zu sein scheint. In allen diesen Fällen war die Gallenblase stark dilatiert, aber in keinem dieser Fälle fand sich auch nur eine Spur von Gallensteinanlage. Nichtsdestoweniger werden diese Stauungs- blasen als „Vorstadium", ja sogar als „Latenzstadium der Gallensteinblase“ bezeichnet. In Wahrheit können diese Fälle besser als Beweis des Gegenteils dienen, nämlich daß Stauungsblase und Gallenstein nichts miteinander zu tun haben; in jedem Falle zeigen sie, daß Gallenstase lange bestehen und weit fortgeschritten sein, ja sogar gallensteinähnliche Symptome machen kann, ohne daß sich auch nur eine Andeutung von Gallensteinbildung nachweisen ließe. Es ist dies eine interessante kleine Gruppe von Fällen, die jeder mit der Chirurgie der Gallenwege vertraute Operateur kennt, weil sie ihn dann und wann zur Operation verleitet haben in der Erwartung, daß es sich um Gallenstein handle. Nur wer für die Stasetheorie ganz voreingenommen und auf sie eingeschworen ist, kann solche Beobachtungen als Stütze für diese Theorie anführen, aber Fälle dieser Art, die deutliche Gallenstein- symptome darbieten, ohne daß sich in Wirklichkeit eine Spur von Gallenstein findet, als das „Latenzstadium der Gallensteinblase“ zu bezeichnen, scheint doch jeder Logik zu widerstreiten.

Alle Forscher, die für die Gallenstauungstheorie plädieren, suchen eine wesent- liche Stütze dafür in der Tatsache, daß die Frauen sich unter den Gallenstein- patienten in so großer Mehrheit befinden. Es erscheint ihnen als naheliegende An- nahme, daß die Enteroptose, jene häufige Folge von Korsettmißbrauch, Schnü- rung und Hängebauch nach Geburten, die Ursache von Zerrungen und Knickungen beim Ductus cysticus abgibt, von denen man annehmen dürfte, daß sie die Entleerung der Gallenblase hindern und Stauungsblase hervorrufen könnten, und daß die Häufigkeit von Gallenstein bei Frauen gerade diesen Umständen zu- zuschreiben sei.

Ich habe übrigens selbst den Gedanken erwogen, ob nicht die Enteroptosen, besonders die Hepato- und Gastroptosen bei der Verlagerung, die die Gallenblase und die großen Gallenwege dadurch so oft erfahren, und die man häufig als die Ursache eines erschwerten Übertritts der Galle aus der Gallenblase in den Darm ansehen muß, die Erklärung für das Überwiegen der Frauen unter den Gallenstein- patienten abgeben könnte. Ich habe daher in den 25 Jahren, während deren sowohl die Gallenstein- wie die Ptosekrankheit Gegenstand meines unausgesetzten Studiums waren, den Beziehungen zwischen Gallenstein und Hepato-Gastroptose meine be- sondere Aufmerksamkeit geschenkt. Das Ergebnis, zu welchem ich bei der Unter- suchung der Tausende von Ptosefällen, die ich behandelte, bezüglich dieser Frage gelangte, hat mich sehr überrascht. Denn entgegen meiner Erwartung hat es sich gezeigt, daß Ptosen auffallend selten mit Gallenstein kompliziert sind. Für die große Mehrheit der Ptosefälle, wo ich in der Lage war, der Ptose mit Bandagen und Diät wirksam abzuhelfen, kann ich nur sagen, daß keiner derselben auch nur das geringste Anzeichen von Gallenstein dargeboten hat. Deshalb kann natürlich sehr wohl der eine oder andere dieser Patienten symptomlose Gallensteine

Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. 229

mit sich herumgetragen haben. So oft ich bei einzelnen Ptosepatienten Gallenstein- symptome fand, habe ich ihm allemal zur Operation geraten, weshalb diese Fälle auch unter meinen Gallensteinoperationen figurieren.

Besonders zuverlässige Aufklärungen habe ich anderseits bei meinen ope-- rierten Fällen gewinnen können. Ich weiß genau: erstens, bei wie vielen meiner wegen Ptosesymptome operierten Fälle ich zufällig Gallensteine fand, und zweitens, bei wie vielen meiner wegen Oallensteine operierten Fälle ich Ptose fand.

Bei 8 von 300 Gastro-Coloptose-Patienten fand sich bei der Opera- tion gleichzeitig Gallenstein, also bei 26%. Wenn man bedenkt, daß dies nur die allerernstesten Enteroptosefälle waren, wo die Operation nur als ultimum refu- gium ausgeführt wird, nachdem alle medizinische und Bandagebehandlung sich als wirkungslos erwiesen hat, dann versteht man erst richtig, wie auffallend gering dieses Vorkommen von 26% Gallenstein ist. Noch deutlicher tritt dies hervor, wenn wir uns aus der Statistik von Scheel und Hansen erinnern, daß das Gallen- steinprozent bei Frauen im ganzen 21:6 und 31% beträgt. Ptosepatientinnen neigen also weit weniger zu Gallenstein als Frauen im allgemeinen.

Untersuchen wir nun weiter, bei wie vielen von meinen 530 an Gallenstein operierten Patienten sich zufällig Gastro-Coloptose fand, so war das nur bei 18 Frauen und einem Manne der Fall, und in keinem derselben wurde die Operation der Ptose für notwendig befunden.

Diese Zahlen sind interessant und nicht mißzuverstehen. Sie zeigen uns, daß Enteroptose nicht nur nicht zu Gallenstein disponiert, sondern daß dieses Leiden sogar auffallend selten bei Ptosepatienten auftritt, d.h. bei Frauen, die an ihrer Ptose schwer leiden. Es verdient Beachtung, daß Gallen- stein bei den virginellen Ptosepatientinnen noch seltener war als bei den mater- nellen, ungeachtet der stets vorhandenen Formveränderungen, der starken Knickung des Ductus cysticus und choledochus und der oft ausgedehnten Adhäsionen, die man gerade bei den ersteren antrifft.

Auch dieser Befund deutet darauf hin, daß Korsett und Ptose nicht das starke Überwiegen der Frauen bedingen, namentlich nicht in den jüngeren Altersklassen der Gallensteinpatientinnen.

Er zeigt uns ferner, daß die „Stauungsgallenblase“, eine so häufige Erschei- nung gerade bei Ptosepatienten, für die Oallensteinbildung nicht die Bedeutung hat, die man ihr hat beimessen wollen.

Warum ist denn aber Gallenstein seltener bei Ptosepatientinnen als bei anderen Frauen? Ohne irgendwie Anspruch darauf zu erheben, diese Frage endgültig beant- worten zu können, möchte ich mir doch erlauben, auf die Möglichkeit hinzuweisen, daß der meist elende Ernährungszustand der Ptosepatienten hier von Bedeutung sein könnte; denn während Naunyn kurzerhand alles Gerede von Diathese, Ernährung und Konstitution als Ursachen beiseite schob zu gunsten einer zufälligen Infektion, waren sich die Lehrbücher ganz einig darüber, daß besonders die fetten Individuen zu Gallensteinen disponiert seien. Auch nach meiner Erfahrung ist eine große Menge von Gallensteinpatienten sehr fett und überernährt, die meisten wohl- genährt und sehr wenige von magerem Typus.

Wie schon früher bemerkt, ist es ganz eigenartig, daß ein Kliniker wie Naunyn gar nicht den Weg über die Klinik, über seine und anderer klinische Erfahrungen gewählt hat, um Stützen für seine Theorie zu suchen oder die Probe auf ihre Richtigkeit anzustellen. So auch dem Staseproblem gegenüber. Hier ver- säumte er dasStudium der zahlreichen Fälle von chronischem oder lang-

230 | Thorkild Rovsing.

dauerndem Ikterus, der durch das eine oder andere mechanische Hindernis für den Galleabfluß bedingt ist natürlich abgesehen von Steinokklusion.

Wäre Gallenstase das entscheidende Moment, dann müßten wir hier allemal Konkremente oder doch Anfangsstadien solcher in den mächtig erweiterten „Stauungs- gallenblasen“ finden, die wir in solchen Fällen antreffen, oder in den erweiterten Gallengängen, sowohl den intra- wie den extrahepatischen.

Und wenn es richtig ist, daß zur Gallensteinbildung Infektion und Gallenstauung gehört, dann müßte doch Gallenstein eine häufige Folge von epidemischem, infektiösem Ikterus sein, und wir müßten doch bei der Operation oder Sektion von Patienten mit langdauerndem, infek- tiösem Ikterus bestimmt auf Gallensteine rechnen können, u. zw. Gallen- steine in allen Entwicklungsstadien als Resultat dieses langdauernden Zusammenwirkens von Gallenstauung und Infektion.

Daß Gallenstauung allein, selbst bei langer Dauer, nicht immer zur Bildung von Gallenstein führt, wissen wir aus einigen vereinzelten Berichten. Treves operierte ein 16jähriges Mädchen, das seit der Geburt Ikterus infolge angeborener Atresie des Ductus choledochus hatte, fand aber keinen Stein. Körte fand bei einer Frau, die infolge von Kompression des Ductus choledochus durch ein Aneurysma 26 Jahre lang Ikterus gehabt hatte, farbige Galle, aber keinen Stein. Kausch hat einen Fall von mächtiger Dilatation der Gallenblase und der Gallenwege als Folge eines kleinen Tumors an der Mündung des Ductus choledochus in das Duodenum veröffentlicht, wobei nicht die Spur von Steinen gefunden wurde, vielmehr Gallen- blase und Gallenwege durch hydropische „weiße Galle“ erweitert waren.

Derartige Angaben sprechen natürlich an und für sich durchaus dagegen, der pathologischen Gallenstase irgendwelche entscheidende Bedeutung für die Gallen- steinbildung beizulegen, aber noch viel überzeugender würde eine systematische Untersuchung eines großen Materials solcher Fälle sein.

Ich habe daher gesammelt:

L alle von mir selbst behandelten Fälle von aseptischem und infek- tiösem Ikterus, der auf Hindernisse in den Gallenwegen, ausgenommen Gallen- steine, zurückzuführen war;

Il. alle im Pathologisch-anatomischen Universitätsinstitut seit Er- öffnung des Reichshospitals im Jahre 1910 obduzierten Fälle von aseptischem oder infektiösern Ikterus, der auf Hindernisse in den Gallenwegen, ausgenommen Gallen- steine, zurückzuführen war.

Es dreht sich hier im ganzen um 62 Fälle von langdauerndem Ikterus, und in keinem einzigen dieser fand sich bei der operativen oder postmortalen Autopsie auch nur eine Andeutung von Gallensteinbildung. In 18 Fällen handelte es sich um eine infektiöse Cholangitis und Cholecystitis. Die Naunynsche Theorie fordert ja eben die Kombination von Stase und Infektion. Nichts kann sich daher besser als Gegenprobe auf die Naunynsche Theorie eignen als eine solche Anzahl Fälle von infektiösem Staseikterus.

Auf Grund dessen darf daher wohl gesagt werden, daß die hier dargelegten Tatsachen in hohem Grade dagegen sprechen, daß pathologische Gallenstase mit oder ohne Infektion für die Bildung von Gallensteinen bei Menschen eine irgendwie bedeutende Rolle spiele. Und wenn wir unsere Untersuchungsergebnisse mit dem vollständigen Mangel an positiven Beweisen für die Richtigkeit der Stase- theorie bei den Vätern und Vorkämpfern der Theorie in Verbindung bringen, dann kommen wir sowohl bezüglich jener Theorie wie auch der Infektionstheorie zu der

Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. 231

Feststellung, daß es die reinsten Schreibtischphantasien sind, zu welchen man sich durch die Häufigkeit der Gallenstase („Stauungsblase“ und Dilatation der Gallen- wege mit begleitendem Ikterus) bei Gallenstein verleiten ließ, ebenso wie der häufige Befund von Infektion bei Gallenstein Naunyn dazu verleitete, darin die Ursache der Gallensteinbildung zu erblicken. Die Sache verhält sich in Wirk- lichkeit genau umgekehrt: Gallenstein ist die häufigste Ursache der Gallenstase und der Infektion der Gallenwege.

Des Verfassers Theorie der Pathogenese der Gallensteine.

Die Gallensteinbildung beginnt nach meiner Meinung stets oder doch der Regel nach in der Leber mit der Ausfällung von schwarzem Pigmentkalk, der sich in den engen intrahepatischen Gallengängen zu den eigentümlich verästelten, stacheligen und knotigen Konkrementen formt, die oft im Sektionszimmer, weniger oft bei Operationen in ihrer reinen, ursprünglichen Gestalt in der Gallenblase gefunden werden. Ihre Ausfällung verdanken sie in der Regel einer vorübergehenden „Diathese“, entsprechend der periodischen Ausfällung von Harnsäure, harnsauren Salzen und oxalsaurem Kalk in den Nieren. Ein Teil, vermutlich der größte, dieser Pigmentsteine nimmt seinen Weg durch den Ductus hepaticus und choledochus direkt in den Darm; ausnahmsweise bleibt einer oder einige davon hier und da in diesem oder in den intrahepatischen Gallenwegen hängen oder richtiger gesagt: mit seinen Stacheln stecken; in großer Zahl gelangen sie in die Gallenblase mit der Galle, wo sie zu Boden sinken und sich zusammenballen, wobei ihre Veräste- lungen, Knoten und Zacken sich miteinander verfilzen; dabei erlangen sie eine solche Größe, daß sie den Ductus cysticus nicht mehr passieren können. Dazu tragen auch ihre stacheligen Prominenzen bei, die sich in dem System von Klappen, das den Ausgang im Gallenblasenhals versperrt, festhaken und verfangen.

In der Gallenblase wachsen sie nun zu typischen Oallensteinen heran, indem die stacheligen Pigmentkonkremente durch Schleimhautreizung Epithel- verlust und kleine Blutergüsse verursachen, d.h. den erforderlichen, „stein- bildenden Katarrh“, der das organische Material zum Aufbau der Steine liefert, das die normalerweise in der Galle gelösten festen Stoffe: Cholesterin und Bilirubin- oder Biliverdinkalk, die nun um die Fremdkörper herum ausgefällt werden, zu- sammenbindet. Das ist der gleiche Prozeß und die gleiche Gesetzlichkeit wie in der Harnblase, wo ein aseptischer Fremdkörper sich unweigerlich mit den im Harn gelösten Salzen inkrustiert und, mag es sich nun um einen Nierenstein oder um ein abgebrochenes Stück eines Katheters oder anderen Instruments handeln, schließlich zum Kern eines Blasensteins wird.

In der Gallenblase sind die Bedingungen zur schnellen Ausfällung der festen Stoffe ganz besonders günstig, indem daselbst während des Verweilens der Galle in der Blase durch Resorption von Wasser eine sehr bedeutende Kon- zentration der Galle eintritt, wie es seinerzeit durch Hammarstens bekannte Untersuchungen nachgewiesen wurde. Ich habe diese Verhältnisse auf meiner Ab- teilung bei einer großen Anzahl von Gallensteinpatienten untersuchen lassen, u. zw. durch Vergleichung der Konzentration der bei der Operation aufgefangenen mit der in den darauffolgenden Tagen durch das Drain in das Sammelgefäß abge- flossenen Galle, die ohne Aufenthalt die Gallenblase passierte.

Dabei zeigte sich, daß die während der Operation durch Punktion entnommene Galle 5-10mal mehr konzentriert war als die frei aus- fließende. Das erklärt uns vielleicht die viel häufigere Steinbildung in der Gallen-

232 Thorkild Rovsing.

blase im Vergleich zur Harnblase, die im Gegenteil die Aufgabe hat, so wenig wie möglich zu resorbieren. Die durch die starke Konzentration bedingte schnelle und intensive Ausfällung der festen Normalbestandteile der Galle ist wahrscheinlich die Ursache, daß es so verhältnismäßig selten gelingt, reine schwarze Pigment- steine in der Gallenblase aufzufinden.

Meine Theorie hat vor den anderen den großen Vorzug, daß sie im Gegen- satz zu jenen in keinem Punkt unklar oder mit den tatsächlichen Verhältnissen im Widerspruch ist. Die Gallensteinbildung hat hier eine einfache, ungekünstelte Er- klärung, die nicht ihre Zuflucht zur Infektion oder zur pathologischen Stase oder zu anderen unhaltbaren oder leichtfertigen Phantasien zu nehmen braucht.

Den Beweis dafür, daß beim Menschen ein schwarzer, aus Bilihuminkalk bestehender Pigmentstein den Kern und Anfang eines jeden Gallensteins bildet, habe ich mit der Tatsache geliefert, daß mit einer einzigen Ausnahme sämt- liche von meinen 530 operierten Gallensteinpatienten herrührenden Gallensteine, soweit sie nicht reine Pigmentsteine waren, einen Kern von schwarzem Pigmentkalk zeigten und daß, je kleiner der Stein, um so größer und dichter dieser Kern war.

Der Beweis dafür, daß die Pigmentkalkausscheidung und der sie verursachende krankhafte Zustand vorübergehend ist, liegt in der eben- falls allgemein anerkannten Tatsache, daß die Gallensteine, wo sie multipel auftreten, entweder sämtlich von gleicher Größe und Form sind, oder verschiedenen Bruten angehören, deren Individuen alle von einerlei Art sind und, kurz gesagt, den Stempel gleichzeitiger Entstehung an sich tragen (Tafel I und Il). Wenn es sich um eine bei dem betreffenden Patienten ständig vorhandene Diathese zur Gallensteinbildung handelte, müßte die letztere gleichmäßig und ständig vor sich gehen, und man würde dann in jeder Gallenblase mit multiplen Steinen alle möglichen Größen und Entwicklungsstufen vertreten finden. Aber dergleichen beob- achten wir niemals, nicht einmal in den Fällen, wo wir Tausende von Steinen in derselben Gallenblase antreffen.

Es bleibt nun noch die schwierige Frage nach der Natur und den Uer- sachen der vorübergehenden Stoffwechselanomalie zu beantworten, die die Leber veranlassen, Bilihuminkalk auszuscheiden. Mein erster Gedanke bei der Erwägung dieser Frage war, ob ein Fingerzeig zu ihrer Lösung nicht zu finden wäre beim Studium des sehr verschiedenartigen Verhaltens der Gallensteine bei den beiden Geschlechtern: ihr im allgemeinen weit häufigeres Auftreten beim weiblichen Geschlecht, besonders aber ihre ganz überwiegende Häufigkeit bei der Frau im jüngeren, zeugungskräftigen Alter. Ich habe daher und mit sehr befriedigendem Erfolge ein vergleichendes Studium meiner Operationsstatistik und dreier dänischer Obduktionsstatistiken vorgenommen.

Des Verfassers Operationsstatistik.

Altersklasse weiblich männlich , insgesamt

1-10 Jahre... . 2.2.2... 1 0 l 10-20 a ee 1 0 1 20—30 » o she 75=914% 7—= 80% 82 30240: u, un Se A 110 = 859% 18 = 141% 128 40—50 n ren 95 = 785% 26 = 215% 121 50—69 5 ware see 103 = 763% 32 = 237% 135 60—70 n re. 36 = 607:9 % 17 = 321% 53 T080 n ae Ne el e TTT % 2 = 223 % 9 428 = 807% 102 = 19 3% 530

Verlag voj

Tafel II, Ergebnisse der gesamten Medizin, VI.

Thorkild Rovsing: Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit.

EEE AE

ZE i

ET Läd ste SC K S d P

ZE, E E Lafer Cé: N GI RE EE N FI PEN. N e es ZE EE EE A Sch a: As PAARA S REJE

Véi EEN E, EEE EN a a

1-10 entsprechen den Nummern der Tafel I, indem dieselben Gallensteine hier durchgeschnitten ge- zeigt werden: / reiner Cholesterinstein; 74 reine Pigmentkalksteine. Die übrigen zeigen Mischung von Pigmentkalk und Cholesterin, mit einem Kern aus Pigmentkalk und die von diesem irradiierenden Spalten.

Verlag von Urban & Schwarzenberg in Berlin u. Wien.

ZZ, Z—1"Ö“ÖÖÖee een

Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. 233

Von sämtlichen Operierten waren also 4283—=807% Frauen, während nur 102 oder 193% auf das männliche Geschlecht entfielen. Bei einer Sonderung in Privat- und Krankenhauspatienten finde ich die sehr interessante Tatsache, daß unter den mehr wohlhabenden Patienten der Privatklinik sich ein bedeutend höherer Prozentsatz Männer befindet als unter den hauptsächlich der arbeitenden Klasse angehörigen Hospitalpatienten, indem nämlich die Privatklinik 275%, das Krankenhaus dagegen nur 138% Männer aufweist.

Man hat nun behauptet, diese Operationsstatistiken bewiesen gar nicht, daß Gallensteine bei Frauen häufiger seien als bei Männern, sondern nur, daß Oallensteine bei ersteren viel häufiger zu Erkrankungen führten, die eine Operation nötig machten. Das ist ja auch in der Tat richtig, und man muß hier umsomehr auf der Hut sein, als das stärkste Überwiegen bei den Frauen in das Alter zwischen 20 bis 50 fällt, in welches hauptsächlich die Geburten fallen, und es ist ja auch nicht zu leugnen, daß die Erklärung, die ich in meinen Vorlesungen vom Jahre 1899 gab (p. 9): „daß der Zusammenhang lediglich darin besteht, daß die angestrengte Geburtsarbeit und der intraabdominale Druck Gallensteine, die vielleicht jahrelang ruhig in der Gallen- blase gelegen haben, in die Gallenwege hineingeschoben haben“, sehr plausibel klingt. Aber wie aus dem folgenden hervorgeht, bedarf es einer viel kritischeren und genaueren Vergleichung der Operationsstatistik mit den Sektionsstatistiken, wenn man nicht durch die eine oder die andere irregeführt werden will. Wie bei einer viel früheren Gelegenheit betont, gilt es hier zu allererst die kleinen Statistiken zu verwerten, die auf der persönlichen Sektionsarbeit des an einer Einzelfrage besonders interessierten Forschers beruhen, anstatt der vielleicht größeren, bei denen Auszüge alter Sektionsprotokolle als Grundlage gedient haben. Wir besitzen ja glücklicher- weise bei uns in Dänemark zwei derartige Statistiken aus dem Sektionszimmer des Städtischen Krankenhauses von Viktor Scheel und Svend Hansen.

Ich werde nunmehr die Statistiken von Victor Scheel und Svend Hansen hier zum Abdruck bringen und im Anschluß daran eine Statistik über 3503 Sektionen mitteilen, die von September 1910 bis 31. Dezember 1921 im Pathologisch-anatomi- schen Institut der Universität ausgeführt worden sind.

L Viktor Scheels Statistik über 2753 Sektionen von Individuen über 20 Jahren mit 406 Fällen von Gallenstein, d.h. ca. 15% ausgeführt im Sektionszimmer des Städti- schen Krankenhauses in Kopenhagen in den Jahren 1907-1910.

Männer Frauen

Alter Sektionen Oallensteine o Sektionen Gallensteine % 20—30 Jahre 137 0 0 128 7 6 30-40 291 10 3 157 17 10 40-50 349 24 6 207 29 14 50-60 , 334 37 9 176 44 25 60-70 u 260 34 13 189 55 29 über 70 » 219 60 27 256 89 35

Von 1640 Männern hatten 165 Oallensteine, d. h. 10:1 %. Von 1113 Frauen hatten 241 Gallensteine, d. h. 216%.

IL Svend Hansens Statistik über 1191 Sektionen.

Männer Frauen

Alter Sektionen Oallensteine Ki Sektionen Gallensteine Kl 21-30 Jahre 55 1 1:8 48 6 12:5 31-40 , 75 5 6:7 51 10 19:6 41-50 , 94 12 12:8 78 22 28:2 51-60 ,ẹ 135 10 14:0 94 34 36:2 61—70 , 155 39 25:1 131 43 32:8 über 70 ,„ 135 47 34-8 140 55 39:3

Es fanden sich also Gallensteine in 25% aller Fälle, bei 19% der Männer und bei 31% der Frauen.

234 Thorkild Rovsing.

HI. Statistik über 3503 Sektionen des Pathologisch-anatomischen Unversitäts- instituts von September 1910 bis 31. Dezember 1921.

Männer Frauen

Alter Sektionen Gallensteine? % Sektionen Gallensteine % 0-9 Jahre 425 1 0:23 328 1 0:3

10—20 123 0 0 138 0 0 21-30 177 2 1-1 258 14 D'A 31-40 201 6 30 236 23 9:7 41-50 249 19 T6 265 40 15:0 51—60 » 322 28 8-6 235 46 195 61-70 e 227 21 92 135 46 33-8 über 70 » 64 12 19:0 56 18 32:1 Alter unbekannt 21 1 4:7 42 4 95

Von sämtlichen 3503 Individuen hatten also 281 Gallensteine, d. h. 8%. Von 1809 Männern hatten 90 Gallensteine, d. h. 49%. Von 1694 Frauen hatten 191 Gallensteine, d. h. 11'27%.

Wir wollen nun die drei Sektionsstatistiken unter dem Gesichtspunkt studieren, von dem wir ausgegangen sind: Stammt die überwiegende Mehrheit der Frauen in den Operationstatistiken nur daher, daß die Gallensteine wegen der Besonderheiten des weiblichen Geschlechts bei der Frau häufiger Erkrankungen verursachen, die eine Operation erfordern, als beim Manne? Zum Teil scheint diese Annahme unzweifel- haft richtig zu sein, da nach den Operationsstatistiken das Überwiegen der Frauen . mehr als doppelt so groß ist als nach den Sektionsstatistiken; aber wir finden doch auch in Sektionsstatistiken unter den Gallensteinfällen nicht nur prozentual doppelt soviel Frauen als Männer, sondern auch die außerordentlich interessante und in bemerkenswertem Grade unterschätzte Tatsache, daß, während der Mann vor dem 30. Jahre nur ganz ausnahmsweise Gallensteine produziert, die Frau schon vom 20. Jahre an plötzlich so stark damit einsetzt, daß die Sektionsstatistiken bei5—12% aller weiblichen Leichen Gallensteine nach- weisen, und daß von diesem Zeitabschnitt an das Prozentverhältnis un- unterbrochen bis zum Lebensende ansteigt, wobei es sich ständig über das Gallensteinprozent des Mannes erhebt.

Was kann jeder von uns mit Sicherheit den Statistiken entnehmen? Daß Gallenstein auf allen Alterstufen vorkommt. Wie ich schon in meinen Vorlesungen im Jahre 1899 gezeigt habe, gibt es in der Literatur eine kleine Anzahl von Beob- achtungen von angeborenem Gallenstein bei Kindern im zarten Alter. Ich selbst habe schon einen Fall mitgeteilt, wo ich bei einem 1'/, jährigen Kinde durch Operation ein Menge schwarzer Pigmensteine entfernte, die den Ductus choledodus verstopft hatten. Svend Hansen gibt an, er habe ähnliche Gallensteine bei der Sektion eines einjährigen Kindes vorgefunden. In der von mir hier mitgeteilten Statistik aus dem Pathologisch-anatomischen Universitätsinstitut finden sich zwei derartige Fälle: einer bei einem drei Monate alten und einer bei einem sieben Monate alten Kinde. Damit ist festgestellt, daß wir Gallensteine in jedem Alter finden können. Aber ebenso sicher ist es, daß bis zum 20. Jahre Gallensteine sowohl auf dem Operations- wie auf dem Sektionstisch nur ganz vereinzelt angetroffen werden, so selten, daß Scheel und Hansen sich veranlaßt gesehen haben, die beiden ersten Dezennien unberücksichtigt zu lassen und ihre Statistik erst mit dem 20. Jahre zu beginnen.

Diese Statistiken sprechen eine ganz überzeugende Sprache zu gunsten der großen Bedeutung der Schwangerschaft für die Gallensteinbildung. Wir finden Gallensteine bei ganz vereinzelten jungfräulichen Patientinnen in den Zwanzigerjahren, ebenso wie bei vereinzelten Männern des gleichen Alters, was nur ein

Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. 235

Ausdruck dafür ist, daß es noch andere gemeinsame Ursachen der Gallensteinbildung bei beiden Geschlechtern gibt; aber daß die große Mehrheit der Frauen unter den Gallensteinpatienten dieser Altersklasse gerade von denjenigen gebildet wird, die schwanger sind oder geboren haben, macht doch die besondere Bedeutung der Gravidität evident. Und das gleiche Verhältnis zwischen virginellen und maternellen Frauen in allen Altersklassen der weiblichen Gallensteinpatienten spricht über- zeugend dafür, daß an und für sich das Überwiegen der Frauen im Hinblick auf Gallensteine dem Einfluß der Schwangerschaft zuzuschreiben ist.

Schon im Jahre 1912 erschien eine von Grube und Graff ausgeführte Unter- suchung über das Verhältnis zwischen verheirateten und unverheirateten Frauen mit Gallensteinen, welche ergab, daß auf jede unverheiratete sechs verheiratete Frauen kamen, und daß von 657 verheirateten Frauen 613 geboren hatten, 44 aber nicht. Noch deutlicher tritt dieses Verhältnis bei Operationsstatistiken hervor, zweifellos aus dem Grunde, weil die Geburtsarbeit die Steine in Bewegung bringt und des- halb besonders häufig bei dieser Gruppe von Gallensteinträgern Gallensteinleiden erzeugt, die eine Operation erforderlich machen. So hat William Mayo eine Operations- statistik über 3075 Frauen veröffentlicht, von denen 90% geboren hatten, unter diesen hatten 90% die ersten Symptome während oder gleich nach der Schwangerschaft bemerkt. |

Ich selbst habe gefunden, daß 344 von den 428 Frauen, die ich wegen Gallen- stein operierte, geboren hatten, also über 80%.

Wie läßt sich nun der Zusammenhang zwischen Schwangerschaft und Gallen- steinbildung erklären? In meinen Vorlesungen habe ich auf zwei Momente hingewiesen, die jedes einzeln oder vielleicht in Verbindung miteinander die Ausfällung von Pigmentkalk in der Leber, worum es sich ja eigentlich handelt, verursachen könnten. Das eine ist die zu geringe Flüssigkeitszufuhr zur Leber infolge der großen Wassermengen, die der Foetus und die Milchabsonderung für sich in Anspruch nehmen. Viele schwangere Frauen, namentlich diejenigen, welche an Schwangerschaftserbrechen leiden, wären gar nicht imstande, durch Trinken dieses Wasserdefizit in der Leber zu decken, was man sich als mitwirkende Ursache dafür denken kann, daß der Pigmentkalk nicht länger in Lösung bleiben kann und daher ` ausgefällt wird. Wir kennen ja den entsprechenden Vorgang von den Harnorganen her, wo bei Durstkuren oder habituellem Mangel an Durst Nierengrieß ausgefällt wird.

Eine zweite Möglichkeit besteht im Übertritt toxischer Stoffe aus dem Foetusin den mütterlichen Kreislauf als Ursache zu Stoffwechselveränderungen, die dann zur Ausfällung von Pigmentkalk führen. Solche werden in hohem Grade wahrscheinlich gemacht durch Forschungen der letzten Jahre über die sowohl bei pathologischer wie bei normaler Schwangerschaft in der Leber vor sich gehenden Veränderungen. Es ist ja schon lange u.a. durch Albecks und Lohses Arbeiten bekannt gewesen, daß bei Eclampsia gravidarum, der schwersten Graviditäts- intoxikation, die wir kennen, die Leber hochgradig affiziert wird, aber neuerdings haben namentlich französische und amerikanische Forscher gezeigt, daß die Leber bei der Elimination giftiger Stoffwechselprodukte eine weit wichtigere Rolle spielt, als man früher annahm, ja man glaubt sogar, eine wichtigere als die Niere. Milescu hat festgestellt, daß die Leber selbst während einer anscheinend normalen Schwangerschaft eine Stätte von Degenerationsherden ist, wobei die Leberzellen mit Fett infiltriert und ein Sitz für andere Veränderungen sind; er nennt diesen Zustand „Graviditätsleber“. Hofbauer, der ebenfalls Lebern von Schwangeren, die keine Symptome von Leberleiden gezeigt hatten, einer Untersuchung unter-

236 Thorkild Rovsing.

zogen hat, gibt folgende Charakteristik der Graviditätsleber: 1. Fettinfiltration im centralen Teil der Acini und Mangel an Glykogen; 2. Gallenstase und Pigment- ablagerung im Inneren der Lobuli mit Erweiterung der Gallencapillaren; 3. Ektasie der Venae centrales und der darin einmündenden Capillaren.

Der sog. Graviditätsikterus, den man früher allgemein als einen durch den graviden Uterus hervorgerufenen Kompressionsstase-Ikterus auffaßte, wird gegen- wärtig von vielen (Braun, v. d. Velden, Kehrer) als Folge einer embryogenen Toxämie betrachtet.

Es sei bemerkt, daß diese Untersuchungen, namentlich aber Hofbauers Hinweis auf Pigmentauflagerung in der Leber bei anscheinend normaler Gravidität, die besten Stützpunkte abgeben für das Verständnis der Gallensteinbildung während der Gravidität und als Wirkung einer embryonalen Toxämie, die zur Ausfällung von Pigmentkalk in der Leber führt.

Schwieriger ist die Frage zu beantworten, die nun noch übrig bleibt: Welche für Männer und Frauen gemeinsamen Ursachen liegen der Gallenstein- bildung bei Männern und virginellen Frauen zugrunde?

Ich halte es für logisch, aus den Erfahrungen bei Graviditätsgallensteinen zu schließen, daß krankhafte Zustände, die eine Verarmung des Körpers an Flüssig- keit und gleichzeitig eine Toxämie bedingen, Pigmentkalkausscheidung in der Leber und infolge davon Gallensteinbildung nach sich ziehen müssen. Ich bin in dieser Anschauung dadurch bestärkt worden, daß eine große Anzahl dieser Patienten früher eine oder mehrere langdauernde Infektionskrankheiten durchgemacht hatte.

Es ist ein altbekannter Lehrsatz, daß Üppigkeit, Überernährung und Mangel an Bewegung zu GOallensteinen disponieren. Meine klinische Erfahrung hat bei mir den Eindruck erweckt, daß es damit, trotzdem Naunyn und seine Anhänger die Bedeutung der konstitutionellen und diätetischen Momente durchaus bestreiten, doch seine Richtigkeit hat. Es hat sich ja gezeigt, daß gerade die fetten, wohlgenährten Frauentypen mit überwiegender Häufigkeit unter den Gallenstein- patienten vertreten waren, während ich Gallenstein auffallend selten bei Ptose- patienten fand. Ferner ergab sich das interessante Verhältnis, daß unter meinen privaten, der besitzenden Klasse angehörigen Patienten der männliche Prozentanteil doppelt so groß war als unter den Krankenhauspatienten: 275% gegen 138%.

Inwieweit diese Momente die Pigmentausfällung in der Leber, die in der Regel als notwendige Voraussetzung der Gallensteinbildung anzusehen ist, bedingen können, getraue ich mich nicht zu sagen; jedoch erscheint es nach allen experimentellen Erfahrungen als sicher, daß der Cholesteringehalt der Galle in hohem Grade von der Ernährung abhängt. Und vom Gehalt der Galle an Cholesterin hängt auch die Schnelligkeit ab, mit welcher das kleine Pigmentkorn zu einem richtigen Gallen- stein heranwächst, ja oft genug auch die Aussicht, überhaupt zu einem solchen zu werden. Man kann sich in jedem Fall sehr wohl denken, daß die kleinen Pigment- steine in den Fällen, wo sie sich nicht so schnell inkrustieren, die Gelegenheit wahrnehmen, die Gallenblase wieder mit der Galle zu verlassen.

Es gibt leider keine systematische Reihe von Untersuchungen dieser Frage von der Hand eines internen Klinikers, dafür aber Einzelbeobachtungen sehr angesehener Internisten, die deutlich darauf hinweisen, daß Diätfehler bei dazu disponierten, fetten Individuen sogar eine akute Ausfällung von schwarzem Pigmentkalk direkt ins Leberparenchym zur Folge haben können, die sich durch Erbrechen und mit „Leberkolik“ bezeichnete Schmerzen in der ganzen Lebergegend kundgeben, wobei gleichzeitig große Mengen kleiner Körner und Klumpen von

Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. 237

schwarzem Pigmentkalk entleert werden. Schon Frerichs, der sich so große Verdienste um die Klinik der Leberkrankheiten erworben hat, hat derartige Beobach- tungen mitgeteilt und bei der Sektion solcher Fälle Massen von kleinen, schwarzen Pigmentkonkrementen in allen Gallengängen der Leber bis in die Capillaren ange- troffen. Vor einigen Jahren hat Aufrecht in Magdeburg einen Fall beschrieben, wo eine 48jährige, sehr korpulente Dame nach einem reichlichen Mittagessen an akuter Intoxikation mit Aufstoßen, Durchfall und heftigen Schmerzen in der Leber- gegend erkrankte, und wo die Untersuchung der Faeces eine Menge typischer, kleiner schwarzer Pigmentkonkremente bis zu Hirsekorngröße ergab. In einem zweiten Falle, wo bei der Sektion in den feinen Gallengängen der Leber kleine Pigmentkonglomerate vorgefunden wurden, hat Aufrecht das Lebergewebe mikro-

Fig. 67.

3 Di i A d. ur Hr CN As Li ~ PF ge k r ` $ d k x Fa >

a Ausscheidung von Bilihuminkalk in den Leberzellen; b Übertreten des Pigmentkalkes in die Gallencapillären (Aufrecht).

skopisch untersucht und Ausfällung von schwarzem Pigmentkalk in den Leber- zellen selbst nachgewiesen, von denen einige in seiner Abhandlung abgebildet sind (Fig. 67 a und b).

Dies ist also genau die gleiche Beobachtung, die Hofbauer an der OGraviditäts- leber machte, und dies bestätigt in hohem Grade meine Erklärung der Gallenstein- bildung bei Männern und jungfräulichen Frauen als auf einer vorübergehenden Toxämie beruhend, die zwar anderen Ursprungs ist, aber in Übereinstimmung mit der Graviditäts- toxämie von einer ÄAusfällung von Pigmentkalk in den Leberzellen begleitet ist.

Diese Pigmentausfällungen werden wohl in der Regel mit dem Gallenstrom, nachdem dieser wieder normal geworden ist, in den Darmkanal befördert; bisweilen bleibt die eine oder die andere in den Gallengängen der Leber hängen und erzeugt hier einen aseptischen, „steinbildenden Katarrh“ (Epithelverlust, kleine Blutergüsse), und wir verstehen, weshalb wir dann und wann Gallensteinbildung sich in der Leber, im Ductus hepaticus und choledochus vollziehen sehen; in vielen Fällen aber bleiben die Pigmentsteine wegen ihrer stacheligen, verästelten Gestalt in der Gallen- blase zurück und geben hier die Kerne ab für die Gallensteinbildungen, die wir gewöhnlich bei Operationen und Sektionen antreffen. Die vielen Verschiedenheiten derselben in Farbe, Form und Zusammensetzung sind von dem bei den verschiedenen Individuen und zu den verschiedenen Zeiten wechselnden Gehalt der Galle an Cholesterin, Kalk und Farbstoff abhängig, und diese hängen natürlich wiederum von der Lebensweise des betreffenden Individuums ab.

238 Thorkild Rovsing.

II. Die Bedeutung des Pathogeneseproblems für die Behandlung der Gallensteinkrankheit und die Bedeutung des Kurerfolges als Gegen- probe auf die Richtigkeit der Pathogenesetheorie.

Wie schon in der Einleitung hervorgehoben und im weiteren Verlauf der Darstellung gelegentlich angedeutet, hat die Frage nach der Entstehungsweise der Gallensteine nicht nur eine wissenschaftliche, sondern zugleich im hohen Grade eine praktische Bedeutung, indem sie einen entscheidenden Einfluß auf die Behand- lung, sowohl die medizinische wie die chirurgische, gehabt hat und haben muß. In Übereinstimmung mit der Naunynschen Theorie mußte die medizinische Be- handlung in erster Linie darauf ausgehen, durch die Verabreichung antiseptischer Medikamente die Infektionsstoffe zu vernichten, vielleicht auch durch Impfung und Serumbehandlung den Organismus unangreifbar zu machen gegenüber den Mikroben, um die es sich in der Regel dabei handelt: die Gruppe des Bacterium coli. Merkwürdig genug scheinen Naunyn und seine Kollegen diese naheliegende, oder richtiger gesagt: zwingende Konsequenz der Infektionstheorie nicht gezogen zu haben. Nach wie vor läuft die Gallensteinbehandlung der Mediziner darauf hinaus, die Gallensteine aus der Blase herauszubefördern, namentlich mit Hilfe der Karlsbader Kur.

Ganz anders haben die Chirurgen, die ohne Zögern und mit Begeisterung der Naunynschen Theorie ihre Zustimmung gaben, die Konsequenzen aus dieser Theorie gezogen.

Der deutsche Chirurg Langenbuch, der, obwohl bei weitem nicht der erste, der Gallenstein operativ behandelte, mit einem gewissen Recht der Vater der Gallensteinchirurgie genannt wird, weil er zuerst die Forderung aufstellte, daß die Cholelithiasis als ein ausschließlich chirurgisches Leiden zu betrachten sei, hatte bereits im Jahre 1882 die Cholecystektomie die totale Entfernung der Gallen- blase ausgeführt und als einen zulässigen Eingriff empfohlen, weil die Gallen- blase seiner Meinung nach ein ganz unnützes Organ sei was er daraus folgerte, daß das Pferd und gewisse andere Tiere gar keine Gallenblase hätten. Nachdem Naunyn seine Theorie aufgestellt hatte, die Langenbuch in seiner „Chirurgie der Leber und Gallenblase« 1897 begeistert als wissenschaftlich fundiert behandelt, bezeichnet er als notwendige Konsequenz dieser Theorie die Gallenblasenexstirpation als einzig rationelle und radikale Therapie bei Gallenstein. Da nach Naunyns Theorie die Gallenblase die einzige Bildungsstätte für alle Gallensteine ist ohne Gallenblase kein Gallenstein können wir nur durch ihre Beseitigung den Patienten gegen ein Rezidiv schützen.

Dieser wirklich logische Standpunkt begegnete anfangs, namentlich von Riedels, aber auch von Kehrs und anderer Seite, starkem Widerspruch, nicht weil diese Forscher die Richtigkeit der Infektionstheorie anzweifelten, sondern weil sie angesichts der physiologischen Funktion, die man vernünftigerweise der Gallenblase als Reservoir der Galle im Körperhaushalt zuschreiben mußte, die Folgen von deren Beseitigung fürchteten. Dazu kam, daß die Cholecystotomie ein sehr kleinerer und weniger gefährlicher Eingriff war. Darauf entgegneten jedoch Langenbuch und die anderen Vorkämpfer der Cholecystektomie, daß die operierten Patienten. die Gallenblase nicht im geringsten zu entbehren schiener, sowie mit dem erneuten Hinweis darauf, daß auch gewisse Tiere keine Gallenblase hätten. Hier erhebt Langenbuch sich zu hohem dichterischen Fluge mit folgenden Ausführungen:

„Der arme Mensch hat zwar ein größeres Gehirn als die Geier und Eulen, diese können aber fliegen, haben immer zu essen und sind in Sachen des Gallen-

Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. 239

abflusses weit besser gestellt als der Mensch, vermutlich auch glücklicher als so viele der homines sapientes. Wenden wir uns jetzt zur Abwechslung einmal dem Pferde zu. Dieses Tier dürfte vielfältig weniger glücklich sein als viele Menschen oder teilt wenigstens mit diesen nur zu häufig die Mühseligkeiten einer unter- geordneten sozialen Lage, aber auch dieses hat keine Gallenblase!«

Diese Betrachtungen und die nicht sehr logische Folgerung, daß die mensch- liche Gallenblase ein ganz sinnloses und überflüssiges Gebilde sei, weil die Geier, Eulen und Pferde dieses Organ nicht besäßen, hat merkwürdigerweise starken Eindruck gemacht; insbesondere wird jene Folgerung immer wieder in Diskussionen zu gunsten der Cholecystektomie geltend gemacht. Ja ich habe sogar kürzlich die peinliche Wahrnehmnng machen müssen, daß dieser Glaubenssatz als wissenschaft- liche Tatsache bei dem angesehenen schwedischen Anatomen und Embryologen Ivar Broman umgeht, der in seiner kleinen Abhandlung „Über die Phylogenese der Gallenblase« im Jahre 1921, in der Hauptsache gestützt auf den Chirurgen Lennander, den Satz schreibt: „Die Gallenblase scheint also vom funktionellen Standpunkt aus ein gleichgültiges Organ zu sein“, und die Hypothese aufstellt, daß die.Gallenblase nur als „rudimentäres Organ“ zu betrachten sei, ungeachtet dessen, daß Broman zugeben muß, daß die frühzeitige Anlage der Gallenblase im übrigen dafür sprechen würde, daß sie gerade ein funktionell wichtiges Organ darstellt.

Dies ist, neben dem bereits oben angenagelten, ein neues Beispiel dafür, wie eine ganz leichtfertige Hypothese, wenn sie nur ein gewisses Alter erreicht hat, als wissenschaftlich feststehende Tatsache weiterlebt, auf der dann neue, leere Hypothesen errichtet werden, die nach etwas aussehen und als Beweise für die Richtigkeit der früheren dienen müssen die „wissenschaftliche Zwickmühle“. Ich habe es für sehr nötig gehalten, dieses letzte Beispiel aufzudecken, weil Bromans Name als eines Vertreters der Wissenschaft dafür bürgt, daß seine kleine Abhand- lung von den begeisterten Anhängern der Gallenblasenexstirpation als ein „rein wissenschaftliches«, höchstwillkommenes Argument für die Überflüssigkeit der Gallenblase verwertet werden wird.

Beruhigt durch die Behauptungen von der Bedeutungslosigkeit der Gallen- blase, ging die Mehrheit. der Chirurgen in aller Welt, nachdem Naunyns Infek- tionstheorie allgemeinen Glauben gefunden hatte, zur Cholecystektomie über. Selbst Kehr und Wm. Mayo, die lange Zeit hindurch die Cholecystotomie als die richtige Normalmethode bezeichneten, gingen zur Ektomie über. Folgendes waren die drei Beweggründe für diesen Standpunkt:

1. Jede Gallensteinbildung vollzieht sich in der Gallenblase, des- halb muß deren Beseitigung uns absolut gegen Rezidive schützen.

2. Da die Steinbildung in der Gallenblase auf eine Entzündung der Schleimhaut zurückzuführen ist, die der Steinbildung vorausgegangen und von der deshalb nicht zu erwarten ist, daß sie durch die Entfernung der Steine ver- mittelst Cholecystotomie werde geheilt werden, so muß diese letztere Operation in allen oder doch den meisten Fällen ein Rezidiv zur Folge haben.

3. Die Gallenblase ist ein ganz unnützes Organ, welches zu schonen zwecklos ist, da ihre Beseitigung für die Patienten keine schädlichen Folgen haben kann. |

Indem wir nun die Probe auf die Richtigkeit dieser drei Behauptungen an- stellen, können wir gleichzeitig die Gegenprobe auf die Richtigkeit der Theorien machen, die die unbestreitbare logische Konsequenz jener Behauptungen sind.

340 Thorkild Rovsing.

Zu 1. Es ist bisher schwierig gewesen, sich aus der Literatur Material zur Beurteilung der Frage zu verschaffen, wie oft nach der Exstirpation der Gallenblase Rezidive vorkommen, u. zw. infolge eines bedauerlichen Mangels an Nachunter- suchungen seitens der Chirurgen, die über ein großes Material von Cholecystek- tomien verfügen. Das kann daran liegen, daß die große Mühe des Aufsuchens der oft weit zerstreut wohnenden Patienten abschreckend gewirkt hat, oder daran, daß man ein Rezidiv für unmöglich und daher die Nachuntersuchung für überflüssig gehalten hat. Daß aber derartige Nachuntersuchungen keineswegs überflüssig sind, geht aus dem Einblick hervor, den man vor kurzem in das Material einer Cystek- tomiecentrale, nämlich der Chirurgischen Uhniversitätsklinik in Gießen, hat tun können, deren Leiter Professor Popper ist. Die von Dr. Otto Specht besorgte Durchsicht des Materials ist keineswegs in der Absicht vorgenommen worden, nach Rezidiven zu suchen, sondern um die Cystektomie gegen eine von vielen Seiten erhobene unbequeme Behauptung zu verteidigen, auf die ich später noch zurück- kommen werde, nämlich daß sich nach Cystektomie häufig eine neue Gallenblase an der Stelle bilde, wo der Ductus cysticus in den Ductus chole- dochus mündet. Zur Beleuchtung dieser Frage hat Specht den Fällen nachgehen müssen, in denen man auf Grund rezidivierender Gallensteinsymptome genötigt war, die Relaparotomie zu machen.

In der Gießener Universitätsklinik wurden 3032 Cholecystektomien wegen Gallenstein ausgeführt, bei 502 von diesen Fällen gleichzeitig Choledochotomie. In 68 Fällen, also in 224% sämtlicher Fälle, mußte auf Grund rezidivierender Anfälle die Relaparotomie gemacht werden. Bei 55 derselben war bei der ersten Operation nur die Cholecystektomie, bei den übrigen 12 gleichzeitig die Choledochotomie gemacht worden. Da die ganze Arbeit nur darauf hinausläuft, zusammenzuzählen, wie oft eine Dilatation des Cysticusstumpfes vermerkt ist, so findet sich keine genaue Angabe darüber, wie oft Steine angetroffen wurden, aber eine solche wird gelegent- lich beim Bericht über diesen oder jenen der Fälle gemacht, so daß man in wenigstens 18 Fällen einen Steinfund konstatieren kann. Nun muß man ja bei der Deutung dieser Funde sehr vorsichtig sein und wohl beachten, daß Choledochussteine oft übersehen oder vielmehr bei denjenigen Operationen nicht gefühlt werden, wo der Ductus choledochus unberührt bleibt. Solche falsche Rezidive darf man unter keinen Umständen mit den echten verwechseln, was aber im Einzelfalle sehr schwierig sein kann. In 10 jener Fälle hatte man bei der ersten ‘Operation den Ductus choledochus normal angetroffen und trotz sorgfältiger Palpation keinen Stein darin finden können, während man bei der Relaparotomie ihn stark dilatiert und ausgebuchtet fand. Wenn Specht schreibt: „Da der Ductus choledochus damals nicht eröffnet worden war, muß angenommen werden, daß die Steine früher übersehen worden waren“, so lautet dies sehr unwahrscheinlich nach der genauen Untersuchung bei der ersten Operation und der bestimmten Angabe von dem vollständig negativen Befund im Gegensatz zu dem sogleich in die Augen fallenden Befund der Dilatation und der Steine bei der zweiten. Es ist ja möglich, daß einige falsche Rezidive sich unter diesen Fällen befinden, aber das Wahr- scheinlichste ist doch, daß es sich bei den meisten um echte Rezidive gehandelt hat, um Steine, die seit der letzten Operation im Choledochus entstanden sind. In zwei Fällen hatte man bei der Cholecystektomie infolge von Verwachsungen die Gallenwege nicht sondieren oder palpieren können. Hier muß man es für das Wahrscheinlichste halten, daß die Gallensteine schon bei der ersten Operation vor- handen waren, wenn auch die Möglichkeit eines echten Rezidivs nicht ausge-

Die Pathogenese und die operative Behandiung der Gallensteinkrankheit. 241

schlossen werden kann. In den übrigen 6 Fällen war aber bei der ersten Operation die Choledochotomie mit Entfernung von Steinen und anschließender Drainage des Choledochus ausgeführt worden, worauf zunächst Heilung, dann aber nach Verlauf eines Jahres Rezidiv eingetreten war. Bei der Relaparotomie wurden in der Regel mehrere Steine im Choledochus angetroffen. In einem dieser Fälle fand man zuerst nur einen Stein im Choledochus, nach Verlauf zweier Jahre traten neue Schmerzanfälle auf, und diesmal fanden sich nicht weniger als neun Chole- dochussteine. Bei dieser ganzen Gruppe können wir nicht darüber im Zweifel sein, daß es sich um echte Rezidive gehandelt hat. Nun ist zu bedenken, daß diese 68 Patienten mit Rezidiven nur diejenigen darstellen, die aus eigenem Antrieb sich in der gleichen Klinik wieder vorgestellt haben und sicherlich nur einen Bruchteil der rezidivierten Fälle bilden, die zu Hause geblieben waren oder wegen der bei der ersten Operation gemachten ungünstigen DE sich anderweitig in Behandlung begeben hatten.

Dieser Einblick in das Material einer großen Cystektomiecentrale hat uns also gezeigt, daß es mindestens 224%, wahrscheinlich aber weit mehr „Rezidivfälle« gibt, und daß es sich bei einer bedeutenden Prozentzahl derselben um echte Rezi- dive handelt.

Daß solche vorkommen, kann ich übrigens durch einen Fall aus meiner eigenen Erfahrung bekunden, der so instruktiv ist, daß ich die Krankengeschichte in aller Kürze hier wiedergeben will.

Charlotte N., 68 Jahre alte Gutsbesitzerswitwe. Abteilung C des Reichshospitals. Aufgenommen am 17. September 1921. Begann zu Weihnachten 1912 an typischen Gallensteinanfällen ohne Ikterus zu leiden. Am 27. Februar 1913 erfolgte ihre Aufnahme ei Abteilung C. Empfindlichkeit in der Gallenblasengegend, Achylia gastrica. Am 5. März 1913 wurde die Cholecystektomie ausge- führt, weil die Gallenblase im Stadium beginnender Gangrän angetroffen wurde. Es wurden zwei kugelförmige, maulbeerähnliche Konkremente entfernt, das eine von Nuß-, das andere von Erbsen-

öße. Galle sterıl. Weder im noch am Choledochus etwas Abnormes zu fühlen. Darnach gesund is vor 2!/, Jahren, wo die Schmerzanfälle wiederkehrten, aber nun in Begleitung von Ikterus.

Am 9. Juli 1915 wurde die Choledochotomie ausgeführt und dabei ein Don langes, schwarzes, festweiches Konkrement von Pigmentkalk entfernt. Darnach war Patientin sung bis zum Oktober 1918, wo sie abermals mit starken Schmerzen und Ikterus aufgenommen wurde

Am 27. Januar 1918 wurde zum zweiten Male die Choledochotomie gemacht und dabei mit der Curette eine Menge kleiner, facettierter Gallensteine sowie Gallengrieß entfernt. Darnach blieb die Patientin 1'/, Jahre gesund, erkrankte dann aber wiederum an schwachen Anfällen mit Ikterus. In den letzten drei Wochen hat sie infolge von sieben schweren Anfällen das Bett hüten müssen. Sie wurde daher von neuem zur Operation auf die Abteilung verlegt. Es besteht starker Ikterus und heftiges Aufstoßen, in dessen Verlauf die Patientin plötzlich zwei linsengroße Gallensteine erbricht, worauf Schmerzen, Ikterus und Fieber schnell verschwanden, so daß auf Operation verzichtet und die Patientin am 4. November 1921 als gesund entlassen wurde.

Dieser Fall ist ein sicherer Beweis dafür, daß die Gallensteinbildung keines- wegs an die Gallenblase gebunden ist, und zeigt recht anschaulich, wie in Über- einstimmung mit meiner Theorie die Gallensteinbildung vor sich geht. Bei dem ersten Anfall, zwei Jahre nach der Cholecystektomie, finden wir nur ein frisches Agglomerat von schwarzem Pigmentkalk, später mehr oder minder ausgebildete Gallensteine, die sich in der Zwischenzeit durch Ablagerung aus den normalen festen Gallenbestandteillen um Pigmentkerne von derselben Brut wie die bei der ersten Operation entfernten entwickelt haben.

Außer diesem Rezidivfall nach eigener Cholecystektomie habe ich drei Patienten wiederholt operiert, deren Gallenblase von anderen Chirurgen entfernt worden war.

Der erste betrifft eine 59jährige Dame, bei der vor 15 Jahren die Gallen- blasenexstirpation ausgeführt worden war. Die Anfälle kehrten schon sehr bald wieder, und seitdem wurde die Patientin in zunehmendem Grade davon heim-

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 16

242 Thorkild Rovsing.

gesucht. Bei der Choledochotomie am 20. Oktober 1920 wurden vier facettierte Gallensteine entfernt. Ich halte es für das Wahrscheinlichste, daß hier ein falsches Rezidiv vorliegt, Steine, die bei der ersten Operation übersehen wurden.

Im zweiten Falle war es gleichfalls eine 59jährige Dame; aber hier war außer der Cholecystektomie auch die Choledocholithotomie mit vorläufig gutem Resultat ausgeführt worden. Nach Verlauf eines Jahres traten von neuem Schmerzen auf, und es wurden bei der Reoperation eine Anzahl Steine nebst Gallengrieß ent- fernt. Wahrscheinlich ein echtes Rezidiv. |

Im dritten Falle war bei einer 6ljährigen Frau ein Jahr zuvor die Chole- cystektomie gemacht worden, aber ohne Erfolg; es bildete sich eine Fistel, und jedesmal, wenn sie sich schließen wollte, entstanden Schmerzen, Ikterus und Fieber. Bei der Reoperation fand ich den Choledochus und Hepaticus stark erweitert und mit Steinen und Grieß angefüllt, nach deren Entfernung die Patientin sich schnell erholte. Ohne Zweifel ein falsches Rezidiv: Choledochus- und Hepaticussteine, die bei der ersten Operation übersehen worden waren.

Schließlich habe ich bei zweien meiner eigenen Patienten mit Choledochus- steinen, wo die Oallenblase bei der Cholecystotomie geschrumpft und leer ange- troffen wurde, und nach der Entfernung eines solitären, eiförmigen Steines aus dem Choledochus schnelle, vollständige Heilung eintrat, nach mehreren Jahren echtes Rezidiv mit totalem Ikterus als Folge von Verstopfung des Choledochus mit Steinen beobachtet.

Es könnte scheinen, als wenn der Ductus choledochus nach Entfernung oder Schrumpfung der Gallenblase die Funktion der Gallenblase als Bildungsstätte für Gallensteine übernähme, was auch gar nicht verwunderlich wäre, da er, wie im folgenden näher ausgeführt werden wird, in zahlreichen Fällen auch deren Rolle als Gallenreservoir übernimmt. Im übrigen ist es noch sehr die Frage, ob nicht die Choledochussteine im ganzen genommen häufig primär im Choledochus um direkt aus der Leber kommenden Pigmentkalk herum gebildet werden. Bisher ist man bei Choledochussteinen, selbst wenn in der Gallenblase oder im Cysticus keine Steine gefunden wurden, stets davon ausgegangen, daß sie in der Gallenblase entstanden und von da in den Choledochus befördert worden seien, im Vertrauen auf Naunyns Theorie. Jetzt, da wir wissen, daß .die Gallenstein- bildung in der Leber beginnt, sind wir vielleicht geneigt, diese Frage etwas anders aufzufassen.

Die Verehrer der Gallenblasenexstirpation, die das Pferd als Beweis für die Überflüssigkeit der Gallenblase ins Treffen zu führen pflegen, will ich aber doch auf etwas aufmerksam machen, was sie nicht zu wissen scheinen, nämlich daß das Pferd nichtsdestoweniger oft an Gallenstein leidet.

Die hier angeführten Tatsachen beweisen, daß die Gallensteinbildung nicht an die Gallenblase gebunden ist, und daß die Entfernung der Gallenblase nicht vor Rezidiven schützt.

Zu 2. Wäre Naunyns Infektionstheorie richtig, dann müßten die Operationen, bei denen die Gallenblase erhalten bleibt, eine Unzahl von echten Rezidiven auf- weisen, was ja auch der Hauptpunkt der Argumentation gegen die Cholecystotomie seitens der Ektomiefreunde ist. Eine Untersuchung der wirklichen Verhältnisse klärt uns jedoch bald darüber auf, daß Naunyns Theorie hier auch nicht die schwächste Stütze findet. Soweit meine Literaturkenntnis reicht, besitzen wir keinen vollgültigen Beweis dafür, daß echte Steinrezidive in der Gallenblase überhaupt vorkommen. Wohl fehlt es nicht an Mitteilungen über „Rezidive“, aber die betreffenden Ver-

Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. 243

fasser scheinen es sich niemals klar gemacht zu haben, wie schwer es ist, zwi- schen einem Rezidiv und einem bei der Operation übersehenen Stein zu unterscheiden. Wenn einzelne Verfasser diejenigen Fälle, wo die Patienten auf die schematische Frage antworten, daß sie nach der Operation Gallenstein- schmerzen gehabt hätten, als Rezidiv buchen, dann gehen sie dabei gänzlich fehl, weil derartige Schmerzen viele andere Ursachen haben können: Neuralgien der Narbe, Adhäsionsbildungen, Suturen, kleine Hernien u.s. w. Verständlicher ist es, wenn Abgang von Steinen mit dem Stuhlgang nach Schmerzanfällen manche Forscher verleitet hat, solche Fälle als Rezidive aufzuführen, aber in Wirklichkeit ist das nicht zulässig, denn es beweist ja lediglich das Vorhandensein von Steinen, läßt aber unentschieden, inwieweit diese Steine bei der vorigen Operation über- sehen oder seitdem neu gebildet wurden. Nun darf man nicht vergessen, daß auch die Chirurgen Menschen sind, die natürlich, solange es geht, die wiederholte Er- krankung lieber der Natur als ihren eigenen Kunstfehlern zur Last legen. Wir müssen daher gegenüber den Angaben der Chirurgen über Gallensteinrezidive besonders kritisch sein.

Ohne Autopsie bei wiederholter Operation oder bei Obduktion läßt sich die Frage: Rezidiv oder vergessener, übersehener Oallenstein? im Einzellfall überhaupt nicht entscheiden, und auch dann kann die Entscheidung noch schwierig genug sein. Finden wir in der Gallenblase oder im Ductus cysticus einen oder ganz wenige Steine vom gleichen Typus wie bei der vorhergegangenen Operation, oder finden wir Steine im Ductus choledochus oder hepaticus, wo diese bei der ersten Operation geöffnet und genau untersucht worden waren, dann brauchen wir nicht daran zu zweifeln, daß es sich um Steine handelt, die der Operateur nicht bemerkt hatte —, ein in vielen Fällen sehr unschuldiges Versehen. Nur wenn wir in einer Gallen- blase, die wir das letztemal ihrer Steine entleert hatten, eine ganz neue Brut von Gallensteinen finden, die die Gallenblase ausfüllen oder doch in solcher Menge vorlıanden sind, daß von einem Übersehenwordensein nicht die Rede sein kann, dann können wir von einem echten Rezidiv in der Gallenblase sprechen —, ebenso wie wir von einem Rezidiv im Choledochus sprechen dürfen, wenn wir nach sorgfältiger Entfernung der Steine bei der ersten Operation ihn neuerdings mit einer frischen Brut angefüllt finden.

Was nun mein eigenes Material betrifft, so habe ich für alle vor dem 1. Januar 1921 nach Gallensteinoperation entlassenen Patienten eine Nachuntersuchung veranstaltet. Es ist mir gelungen, von 340 Auskunft zu erhalten, von 163 der Universitätsklinik und von 177 meiner Privatklinik, deren Patienten natürlich leichter wiederzufinden waren. Von diesen 340 handelte es sich bei 302 um Cholecystotomie.

Die Resultate waren bei diesen 302 cystotomierten Gallensteinpatienten folgende:

Ganz gesund seit der Operation. . . 2. 2 2220. 280 Es klagten über Schmerzen nach der Operation. . . . 22 Davon sicher echte Rezidive. . . . 2.22.2220... e] Zweifelhaft echte Rezidive. . .. . 2.22 220... 2 Unzweifelhaft falsche Rezidive . . . . 2. 2. 2 22200. 19

Was die letzte, von mir als unzweifelhaft falsche Rezidive bezeichnete Gruppe betrifft, so bemerke ich zur Aufklärung, daß elf derselben auf Grund der rezidivierenden Schmerzen teils von mir, teils in einigen wenigen Fällen von anderen Chirurgen reoperiert wurden. Bei der Reoperation wurden nur in zwei Fällen Steine in der Gallenblase gefunden; beidemale war eine Fistel zurück-

16*

244 Thorkild Rovsing.

geblieben, weshalb ich bei der Reoperation einen bzw. zwei übersehene Steine entfernte. In neun Fällen war die Gallenblase leer. Bei drei dieser Fälle fand sich ein Stein im Ductus cysticus eingeklemmt, bei drei weiteren ein Stein im Choledochus, und bei den letzten drei wurde überhaupt kein Stein angetroffen.

Was nun die übrigen acht nicht reoperierten Fälle anbetrifft, so handelte es sich hier nur um Schmerzen unbestimmten Charakters nach Cystotomie.

Die beiden als zweifelhaft echte Rezidive bezeichneten Fälle zeigten folgende Verhältnisse. Der eine Patient war eine Dame, die 15 Jahre später, nach- dem ich durch Cystotomie 17 Steine aus der Gallenblase, fünf aus dem Cysticus und drei aus dem Choledochus entfernt hatte, plötzlich wieder Schmerzen und Ikterus bekam, und wo ich bei der Reoperation einen kleinen facettierten Stein von ganz demselben charakteristischen Typus wie früher weiß, perlmutterglänzend in der Gallenblase fand, während ein nußgroßer des gleichen Typus im Chole- dochus angetroffen wurde. Die geringe Anzahl und der Typus der Steine machen es in hohem Grade wahrscheinlich, daß dies zwei seinerzeit zurückgebliebene Steine waren, von denen sich der Choledochusstein nun zufällig eingeklemmt und durch Ikterus und Schmerzen seine Gegenwart verraten hatte; aber einen zwingenden Beweis dafür, daß die Sache sich wirklich so verhält, kann ich natürlich nicht führen. Der zweite Patient war eine Dame, bei welcher zwei Jahre zuvor durch Cystotomie 54 Gallensteine aus der Blase entfernt worden waren. Zwei Jahre nach- dem bekam sie wieder Schmerzen, und diesmal wurde ein Konkrement von der Größe eines Sperlingseies in der Gallenblase vorgefunden.

Bei 302 mit Cholecystolithotomie behandelten Gallensteinpatienten habe ich also nur ein einziges, zweifellos echtes Rezidiv zu verzeichnen. Bei diesem Patienten entfernte ich im Jahre 1905 einen solitären, runden, pflaumengroßen Stein; im Jahre 1919, also 14 Jahre später, kehrten die Anfälle wieder, und bei der Operation in einem anderen Krankenhaus wurden diesmal sechs facettierte Steine entfernt.

Außerdem habe ich in einem anderen Falle, wo ein Chirurg in der Provinz bei der ersten Operation zahlreiche facettierte Steine entfernt hatte, drei Jahre später bei einem Rezidiv drei maulbeerförmige Steine in der Gallenblase gefunden.

Es zeigt sich also, daß echte Rezidive nach Cholecystolithotomie so selten sind, daß sie, selbst wenn wir die zweifelhaften Fälle mitrechnen, nur 1—2% und, wenn wir uns an die sicher konstatierten halten, in weniger als 1% der Fälle eintreten.

Die große Seltenheit des echten Rezidivs bei Gallensteinkrankheit zeigt uns aufs neue, daß die Infektion bei der Gallensteinbildung gar keine Rolle spielt; sie befindet sich auch in guter Übereinstimmung mit meiner Theorie, daß die Stein- bildung einer ganz vorübergehenden Ursache zuzuschreiben ist, was seinen Ausdruck darin findet, daß in der Regel alle Steine von gleicher Größe, Form und Farbe sind. Bisweilen findet man zwei Bruten, oft mit bedeutendem Größenunterschied, als Ausdruck dafür, daß die vorübergehende Ursache sich wiederholen kann. Daher mußte man auch erwarten, daß nach der operativen Entfernung von Gallensteinen in einer bestimmten Anzahl von Fällen Rezidive eintreten würden, und es hat mich nur in Erstaunen gesetzt, daß Rezidive so selten sind, wie es nach obigem den Anschein hat.

Zu 3. Wir kommen nun zum letzten Argument der Ektomisten, daß nämlich die Gallenblase ein ganz unnützes Organ sei, dessen Beseitigung niemals Schaden anrichten könne. Viele Jahre lang stand ich recht allein mit meiner Behauptung,

A

Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit! 245

ganz bedeutungslos könne eine so komplizierte und sinnreiche Einrichtung wie die Gallenblase kaum sein, da doch in ihr, wie uns Hammarsten schon 1894 gelehrt hat, die Galle eingedickt wird, so daß sie 8— 10mal reicher an festen Bestandteilen wird als die Lebergalle, und da aus ihr doch die Galle in großer Menge und gleichzeitig in starker Konzentration in den Darm entleert werde, u.zw. in dem Augenblick, wo sie im Körperhaushalt gebraucht werde. Allgemein wurde mir entgegnet, daß die cholecystektomierten Patienten sie niemals entbehrten und, ebenso wie das Pferd, auch ohne Gallenblase glücklich seien. Seit 1912 beginnt man aber Nachuntersuchungen des Befindens cholecystektomierter Patienten anzu- stellen, und nun zeigt es sich, daß eine große Anzahl derselben an Dyspepsie, Kardialgie, Aufstoßen, Verstopfung und Diarrhöe leidet. Ich selbst hatte oft in meinen Vorlesungen auf das bemerkenswert häufige Auftreten von Achylia gastrica bei Gallensteinpatienten aufmerksam gemacht und gerade einen meiner Assistenten mit Untersuchungen über den Magensaft bei Cystektomie betraut, als Hohlweg mit seinen Untersuchungen cholecystektomierter Patienten hervortrat und zeigte, daß diese sehr oft an Achylie leiden. Er untersuchte dann die Magen- tätigkeit bei einer Reihe von Patienten, bei denen die Gallenblasenfunktion infolge von Oallenstein oder Cholecystitis aufgehört hatte, und fand bei 97% derselben Achylie oder Hypochylie. Auf Grund dessen, sowie von Tierversuchen stellte Hohl- weg die Lehre auf, daß der Verschluß des Ductus cysticus Achylie zur Folge habe. Von vielen verschiedenen Seiten kamen darauf hin Mitteilungen, die Hohlwegs Beobachtungen bestätigten (Ohly, v. Aldor, Wohl, Magnus, Boss und Miyake). Bei uns in Dänemark brachte 1918 Carl Wessel die Frage stark in Fluß durch eine Anzahl bemerkenswerter Beobachtungen von Patienten mit Cysticussperre durch Gallenstein. Von 22 Patienten mit Cysticussperre hatten 16 totale Achylie, zwei Hypochylie und vier Normochylie. Im Jahre 1919 zeigten Mogens Fenger und Ludwig Krafft, daß Achylie bei Cysticussperre oft fehlt, und leugneten daher die Richtigkeit von Wessels Behauptung, daß Cysticussperre stets Achylie verursache. Anfangs 1920 veröffentlichte Frode Rydgaard eine bedeutsame Arbeit „Chole- lithiasis und Achylie“, worin er zunächst über eine Untersuchung meines Materials berichtet, soweit dabei eine gründliche Magenuntersuchung vorgenommen worden war, d. h. von 158 Fällen, worauf er an der Hand meiner und aller veröffentlichten, daraufhin untersuchten Reihen von Fällen eine Samm elstatistik über insgesamt 471 operierte Gallensteinpatienten aufstellt. Er findet bei im ganzen 52% derselben Achylie oder Hypochylie, dann aber analysiert er die Achyliefälle, um zu ermitteln, durch welche Verhältnisse die Achylie bedingt ist. Er zeigt, daß Geschlecht, Alter und die Anwesenheit von Ikterus gar keine, hingegen der Sitz der Gallensteine die größte Bedeutung hat. In der Gruppe der Fälle, wo Steine nur in der Gallen- blase gefunden wurden, hatten 25% der Patienten Hypo- oder Achylie, wo Steine im Cysticus oder Choledochus gefunden wurden, stieg das Verhältnis auf 558% und wo endlich der Cysticus ganz gesperrt war, auf 749%.

Es zeigt sich also, daß Cysticussperre bei einer sehr großen Anzahl von Fällen, jedoch keineswegs bei allen, zu Achylie oder Hypochylie führt.

Können wir uns nun erklären, weshalb die Salzsäuresekretion in 25% der Fälle wirkungslos bleibt? Ich halte es für sehr naheliegend, die Ursache in der sehr wechselnden Suffizienz des Sphincter choledocho-duodenalis zu suchen.

Dieser Schließmuskel ist beim Menschen, wie die Untersuchungen von Oddi, Hendrickson, Helly und Broman gezeigt haben, bald schmal, schwach und unvermögend, die Galle im Choledochus zurückzuhalten, bald breit und kräftig.

246 Thorkild Rovsing.

Den gleichen Befund haben wir bei Hunden, und welche Bedeutung dies bei Cysticussperre gewinnt, lernen wir aus Franz Rosts ausgezeichneter experimenteller Arbeit „Die funktionelle Bedeutung der Gallenblase«. Es zeigte sich nämlich, daß sich bei Insuffizienz des Sphincter oft oder ständig ein schwacher Gallenstrom in das Duodenum ergießt, während die Galle bei leistungsfähigem Schließmuskel im Choledochus und in den größeren Lebergängen, die dabei tagtäglich erweitert werden, zurückgehalten wird. Wenn nun auch die Gallenblase regelrecht arbeitet, dann wird die gesamte Gallenmenge reflektorisch auf einmal ins Duodenum entleert, sobald der Chymus nach der Mahlzeit aus dem Magen in den Darm hinüberzu- treten beginnt, wo alsdann die Salzsäure neutralisiert wird.

In einem Falle von Cysticussperre bei vollkräftigem Sphincter wird also alles auch weiter normal verlaufen, und die Natur hat ihrerseits keine Veranlassung, durch besondere Maßregeln die ätzende Wirkung von der Schleimhaut des Duodenums fernzuhalten; ist aber der Schließmuskel teilweise insuffizient, dann entsteht eine Gefahr, welcher, wie ich mir denke, der Organismus durch reflektorische Unter- brechung oder Verminderung der Salzsäureerzeugung im Magen begegnet.

Es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, daß die Verdauungsstörungen: Kardialgie, Appetitlosigkeit, Aufstoßen, Erbrechen, die wir so oft bei Gallenstein- erkrankung und nach Cholecystektomie beobachten, dem Aufhören oder der Störung der physiologischen Funktion der Gallenblase durch gänzliche oder teilweise Cysticus- sperre zuzuschreiben sind.

Daraus erhellt, daß die Gallenblase keineswegs ein unnützes oder überflüssiges Organ ist, und daß der Chirurg die Gallenblase nur dann entfernen darf, wenn ganz besondere Verhältnisse es notwendig machen.

Ein weiterer Beweis für die Bedeutung der Oallenblase für den Organismus liegt in der bei Rosts Tierversuch nachgewiesenen interessanten Tatsache, daß die Entfernung der Gallenblasse zu einer sehr bedeutenden Sekretionsverminderung nicht nur der Galle, sondern auch des Pankreassaftes führt. Bei cholecystekto- mierten Hunden wurde nur ein Drittel soviel Galle-+ Pankreassaft ent- leert wie bei normalen Hunden (bei gleichzeitig ein und derselben Er- nährung).

Endlich haben sowohl Tierversuche von Oddi, Nasse, de Vogt, Clairmont und Haberer, als auch Beobachtungen am Menschen von v. Stubenrauch, Kehr, Riedel, Flörken, Rost, Wessel und Specht gezeigt, daß, sofern nach Oallenblasen- exstirpation nur ein kurzer Stumpf vom Cysticus zurückbleibt, sich daraus eine neue Gallenblase entwickelt. Specht, der selbst acht derartige Fälle unter reoperierten Patienten aufzuweisen hat, bemüht sich sehr darum zu beweisen, daß es sich, wie aus dem Epitheltypus hervorgehen soll, nicht um eine wirkliche, neu- gebildete Gallenblase, sondern nur um eine Erweiterung des Ductus cysticus handelte. Wenn Specht, ein eifriger Anhänger der Cystektomie, hierauf soviel Gewicht legt, so deshalb, weil er auch an Naunyns Theorie glaubt, daß Gallensteine nur in der Gallenblase entstehen können, und weil er dadurch die Cholecystektomie als die ein Gallensteinrezidiv absolut ausschließende Radikaloperation rehabilitieren zu können vermeint. Für uns aber, die wir wissen, daß die Gallensteinbildung allemal in der Leber beginnt und in den großen Gallenwegen fortgesetzt werden kann, ist dieser Punkt ja ganz gleichgütig, und ich muß sagen, daß es mir niemals eingefallen ist, daß es sich hier um etwas anderes handeln könnte als um eine durch Erweiterung des Cysticusstumpfes geschaffene neue Gallenblase. Aber dieses Faktum an und für sich, nämlich daß der Organismus sofort ein neues Gallenreservoir bildet, wenn die

Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. 247

Chirurgen das naturgegebene entfernt haben, ist ja ein interessanter Ausdruck dafür, wie wichtig ein Organ die Gallenblase ist.

Der Hinweis auf die Achylie als häufige Folge aufgehobener Gallenblasen- funktion und das Studium der damit verbundenen Verhältnisse hat auch Licht auf die Frage geworfen, wie die Infektion, die bei so zahlreichen, zur Operation kommenden Gallensteinfällen die Krankheit kompliziert und sowohl Krankheitsbild und Prognose in hohem Grade ungünstig beeinflußt, entsteht. Wessel hat nämlich gefunden, daß 15 von 18 Patienten mit In- fektion der Gallenwege Achylie oder Hypochylie hatten, und daß bei 15 von 25 Patienten mit Achylie Infektion bestand. Dies ist in Wirklichkeit sehr natürlich, da wir ja wissen, daß die Salzsäure das wirksamste Antisepticum des Magens ist, das unter normalen Verhältnissen die Nahrung so gut sterilisiert, daß der Inhalt des Duodenums nach Überimpfung auf die gewöhnlichen Nährböden kein Wachstum ergibt. Bei Achylie ändert sich das sofort; es wimmelt von lebenskräftigen und oft sehr patho- genen Mikroben, die, wenn derSphincter choledochi von Natur oder aus pathologischen Ursachen schlaff ist, in die normalerweise sterilen Gallenwege eindringen können. Rydgaard hat mein Material auf diese Frage hin untersucht und bei 59% der infizierten Fälle Achylie oder Hypochylie angetroffen, während nur 27 von 66 Patienten mit Achylie Infektion hatten, also ein bedeutend geringerer Prozentsatz als bei Wessel. Rydgaard erklärt dies zum Teil damit, daß es sich bei einem wesentlichen Prozentsatz der nicht infizierten Fälle um Hydrops oder totalen Verschluß der Gallenblase gehandelt habe. Die Infektion hat einfach keinen Zutritt gehabt. Es er- scheint mir übrigens als sehr erklärlich, daß in vielen Fällen von Achylie die Infektion der Gallenwege ausbleibt, nämlich als Ausdruck der wechselnden Suffizienz der Sphincter choledochi. Wo dieser einigermaßen kräftig ist und einen zuverlässigen Abschluß herstellt, wird die Infektion ferngehalten; wo er aber schlaff ist und offen steht, da dringt die Infektion ein. |

Ich habe mich übrigens schon im Jahre 1899 in meinen Vorlesungen mit dieser Frage beschäftigt und die Wanderung der Steine durch den Chole- dochus als einen für die Pathogenese der Infektion sehr wesentlichen Faktor bezeichnet. Zu dieser Anschauung gelangte ich damals auf dem Wege der klinischen Beobachtung, indem ich zeigte, das die erste Temperatursteigerung, der erste Schüttelfrost, kurz die ersten Anzeichen einer Infektion, bei Gallensteinpatienten während der Wanderung eines Steines durch den Ductus choledochus aufträten, zumal wenn diese Erscheinungen von Ikterus begleitet seien. Das Eindringen der Infektion erklärte ich in der Weise, daß die Einklemmung eines Steines im Chole- dochus zwei Folgen habe, die den Übertritt von Bakterien aus dem Duodenum in hohem Grade begünstigten: 1. eine Erschlaffung des Sphincter in der Art, wie wir sie bei Verschluß von anderen muskulösen Kanälen im Körper beobachten: Offenstehen des Anus bei Ileus oder der Ureterenmündung bei Steineinklemmung im Ureter und 2. Unterbrechuug des Gallenstromes, der sonst die Gallenwege reinspült und das Ein- dringen von Darminhalt in die Gallenwege verhindert. Was es in einem solchen Augen- blick bedeutet, ob vorher, als Folge der Cysticussperre, Achylie bestanden hat und aus diesem Grund das Duodenum von Mikroben wimmelt liegt nun klar zutage.

Ich glaube, daß es mir durch diese Untersuchungen im wesentlichen gelungen ist, die Pathogenese der komplizierenden Infektionen bei Oallensteinen klarzulegen.

Was nun speziell die Cholecystektomie betrifft, so wird deren bedenkliche Wirkung gegenüber einer Infektion nun auch wohl klar sein. Bei schon zuvor be- stehender Infektion ist es einleuchtend, daß diese Operation in allen Fällen, wo der

248 | Thorkild Rovsing.

Sphincter suffizient ist, die Infektion aufrechterhält, die dann auf die mehr oder weniger erweiterten Lebergänge übergreift, mit Cholangitis und Hepatitis als un- vermeidlichem Folgezustand. Bei aseptischen Gallenwegen führt sie bei erschlafftem Sphincter sehr leicht zu sekundärer Infektion vom Duodenum her, das in der Regel wegen der Achylie, die auf die Cholecystektomie folgt und auf Grund von Cysticus- sperre bei Gallenstein oft schon lange vorher bestanden hat, reich an virulenten Mikroben ist. Ebenso wie Inkontinenz der Harnblase bei Frauen allemal schnell zu Bakteriurie führt, weil die beweglichen Bakterien dem langsam ablaufenden Urin entgegen durch den erschlafften Sphincter hindurch wandern, ebenso bildet auch der schwach sickernde Gallenstrom ein Brücke zwischen Duodenum und Choledochus, einen bequemen Verbindungskanal, durch welchen die Mikroben in die Gallenwege eindringen. Daraus ergibt sich, daß es ganz unverantwortlich ist, die Gallenblase zu entfernen, wo nicht ernsthafte Indikationen dazu zwingen. Deren gibt es kaum mehr als drei: totale Gangrän, impermeable Stenose des Ductus cysticus und Krebs in der Gallenblase.

Die Cholecystotomie hat, ganz abgesehen von der Erhaltung der Gallenblase, den Vorteil, daß wir durch sie hindurch die infizierten Gallenwege drainieren können, bis sie wieder aseptisch sind. In Fällen von Choledochotomie entlastet sie den Choledochus vom Gallendruck und gibt weit günstigere Bedingungen für die Heilung. Die Rezidivgefahr, von welcher so viel geredet wird, ist, wie gezeigt, sehr gering, 1—2%, und erscheint geringer, jedenfalls nicht größer als bei Gallenblasen- exstirpation. Endlich hat man geltend gemacht (Borelius und viele andere), daß bei einer Gallenblase, die Steine enthalten habe, nicht daran zu denken sei, daß sie ihre Funktionsfähigkeit wiedergewinnen werde. Das ist ein großer Irrtum. In allen Fällen, wo ich aus dem einen oder anderen Grunde Jahr und Tag nach einer Chole- cystotomie bei einer wiederholten Operation oder bei der Sektion die Gallenblase wieder zu Gesicht bekam, fand ich sie funktionsfähig und, abgesehen von Adhäsionen, von ganz normalem Aussehen. Für die Mehrzahl der Fälle, die nicht durch Infektion kompliziert waren, und wo die Gallenblasenwandung nicht ernstlich gelitten hatte, ist dabei ja auch nichts Merkwürdiges, aber selbst in Fällen, wo man die Gallen- blasenwandungen diffus entzündlich infiltriert, steif und verdickt findet, schwinden diese Veränderungen nach Entfernung der Gallensteine und nach Drainage von einiger Dauer, und man kann dann eine vollständig normale Gallenblase antreffen, die von dem überstandenen schweren Krankheitsprozeß keine Spur mehr erkennen läßt. Bei einer der sehr zahlreichen Diskussionen über diesen Gegenstand in der Dänischen chirurgischen Gesellschaft (1921) teilte Hartmann ein ganz schlagendes Beispiel dafür mit. Eine 75jährige Frau mit Gebärmutterkrebs bekam schwere Gallensteinkolik und mußte dieserhalb operiert werden. Bei der Operation fand sich die Gallenblase stark entzündet und in Adhäsionen .eingelagert. Als die Patientin sechs Wochen später an ihrem Krebsleiden starb, wurde die Gallenblase in natürlichem Zustand, ohne Adhäsionen und offenbar im Wiederbesitz ihrer vollen Funktionsfähigkeit vorgefunden.

Auf pathologisch-anatomischer Seite sind von Aschoff eingehende Unter- suchungen dieser Frage vorgenommen worden mit dem Ergebnis, daß in der Regel vollständige Restitutio ad integrum eintritt, selbst nach phlegmonöser und ulceröser Cholecystitis. Im letzteren Falle schiebt sich das Epithel vom Grunde der Luschka- schen Kanäle nach und nach über das Granulationsgewebe hinüber.

Nur wenn die Gallenblasenwandung in ganzer Ausdehnung gangränös ist, erscheint die 'Exstirpation indiziert, während man sich bei partieller Gangrän

Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. 249

mit einer Resektion begnügen kann, die den noch lebenskräftigen Teil be- stehen läßt.

Aber je weniger angegriffen dieGallenblase ist, desto größer ist natür- lich die Aussicht, daß die Gallenblase ihre volle Funktionsfähigkeit wiedergewinnt, und deshalb gilt es im Gegensatz zu Kehr und seiner Schule, die die Operation nur in fortgeschrittenen Fällen für indiziert halten —, so zeitig wie möglich zu operieren, namentlich bevor Anzeichen von Infektion vor- liegen; ist aber eine solche erst konstatiert, dann darf auch nicht länger gezögert werden.

Die Technik der Gallensteinoperationen.

Die Ductus hepatici und choledochus liegen immer sehr tief und schwer zu- gänglich, ja selbst der Ductus cysticus und die Gallenblase können bei den oft sehr fettleibigen Gallensteinpatienten schwer zu erreichen sein. Um die Organe dem Operateur näher entgegenzuführen, ist die von Mayo-Robson erst angegebene Lagerung des Patienten eindringlich zu empfehlen: an der Grenze der dorsalen und lumbalen Wirbel wird ein hohes, festgestopftes Kissen eingeschoben und dadurch der Leberrand gehoben, während die Därme nach unten verschoben und die Ductus hepatici et choledochus wesentlich näher an die vordere Bauchwand gebracht werden.

Sehr wichtig ist es, danach einen guten Bauchschnitt zu wählen, der eine ausgiebige Freilegung des Operationsfeldes gestattet, ohne die Muskeln und Nerven der Bauchwand schwer zu verletzen. Kochers Schrägschnitt, parallel mit dem Rippenrande verlaufend, sowie Sprengels Querschnitt schonen die Nerven, aber führen wegen der vollkommenen Durchtrennung der Muskeln oft zu großen, lästigen Ventralhernien. Dies gilt noch mehr von Kehrs sog. Wellenschnitt, der eigentlich mehr bajonettförmig mit einem Längsschnitt in der Mittellinie beginnend in einem Querschnitt, welcher den Rectusmuskel ganz quer durchtrennt, fortsetzt und in einem Längsschnitte an dem äußeren Rand des Rectus, womit die an den Rectus tretenden Nerven kupiert werden, endet.

Aus dreißigjähriger Erfahrung empfehle ich folgende Schnittführung als auf einmal sehr schonend und reichlich Raum gebend: |

Winkelschnitt durch Haut und subcutanes Fettgewebe, beginnend als ein Schrägschnitt parallel mit und zwei Fingerbreiten entfernt von dem Rippenbogen von der Linea media bis zu der Mittellinie des rechten Musculus rectus, und von hier als Längsschnitt beliebig nach unten fortgesetzt. Diese longitudinale Incision spaltet gleich die vordere Rectusscheide, und stumpf wird dann der eigentliche Muskel in zwei Seitenhälften geteilt und endlich die hintere Rectusscheide samt dem Peritoneum mit zwei Pincetten gefaßt und gehoben und zwischen diesen geöffnet. Sind die Gallensteine noch in der Gallenblase und Ductus cysticus lokalisiert und liegen diese bequem, reicht die longitudinale Teilung des Muskels aus. Liegt aber die Gallenblase retrahiert, in Adhärenzen eingebettet, und kommen Choledochussteine in Frage, dann wird die mediane Hälfte des Muskels von dem oberen Ende des Längsschnittes schräg nach innen nach Bedarf durchgeschnitten.

Die Abgrenzung des Operationsgebietes von der Abdominalhöhle geschieht am besten mittels einer einzigen großen Serviette, welche an der äußeren Seite mit Gummizeug (Macintosh oder Mosetigbatist) bekleidet ist, um jede Adhärenzbildung befördernde Irritation der Peritonealbekleidung der Eingeweide zu vermeiden.

Die linke Hand wird dann zu vorläufiger diagnostischer Abtastung der Gallen- wege durch die Wunde eingeführt. Hat man Gallensteine in der Gallenblase gefühlt

250 Thorkild Rovsing.

und die Diagnose insoweit gesichert, werden zwei Fädenzügel im Fundus ange- bracht zum Fixieren und Hervorziehen der Gallenblase, während die explorierende Hand weiter längs Ductus cysticus zum Choledochus und den Hepatici gleitet. Diese werden nun systematisch genau durchgetastet, am besten nach Kehrs Anweisung, indem der Operateur dem Patienten den Rücken wendet. Besondere Schwierig- keiten sind mit der Palpation der Pars pancreatica choledochi und der Ductus hepa- tici verbunden und eben an diesen Stellen verstecken sich oft Gallensteine. Bei Einklemmung von Gallensteinen in der Pars pancreatica liegt die Schwierigkeit darin,

Fig. 69.

Fig. 70. Fig. 71.

Fig. 68.

Troikart zur Punktion der Gallenblase.

Mayos- Löffel. Oallensteincuretten.

daß wir durch das dicke, knotige Pankreasgewebe palpieren sollen, wobei es oft sehr schwierig ist, Steine und Gewebsknoten voneinander zu unterscheiden. Fühlt man eine verdächtige harte Verdickung, soll man medialwärts den Choledochus fest zwischen zwei Fingern zuklemmen, um den Stein aus seiner Nische auszu- hebeln und in den zugänglichen Teil des Choledochus hinzutreiben. Cholecystotomie. Zwischen den zwei Fädenzügeln wird nun die Gallenblase punktiert (Fig. 68) und ihr flüssiger Inhalt in sterile Gläser aufgefangen zu bakterio- logischer und mikroskopischer Untersuchung. Nach Anbringung des von Wm. Mayo (Fig. 69) angegebenen Löffels zur Aufnahme der ausströmenden, vielleicht eitrigen Galle wird der Fundus der Gallenblase mit Messer oder Schere so weit geöffnet, daß die Gallensteincurette (Fig. 70 und 71) eingeführt werden kann. Ich benutze

Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. 251

immer die alte, löffelförmige Curette Recamiers (Fig. 71), in deren längliche Ver- tiefung die Gallensteine sich schön reihenweise anordnen. Nachdem die Gallenblase nun vollkommen frei von Gallensteinen geworden, palpiert der Operateur nochmals den Ductus cysticus, und befinden sich hier Gallensteine auf Wanderung, werden diese in die Gallenblase zurückbefördert in der Weise, daf der Operateur eben hinter den weitest vorgerückten Stein den Ductus zwischen zwei Fingern fest zu- sammendrückt und nun immer klemmend die Finger gegen die Gallenblase hervor- schiebt. Bei der Ankunft in die Gallenblase werden die Steine in der Curette auf- gefangen und herausbefördert. Wenn Gallensteine auch im Choledochus gefunden sind, gelingt es auch sehr oft, diese in den Ductus cysticus zu leiten und dann weiter in die Gallenblase zu verschieben.

Nachdem nun alle Steine entfernt sind, wird ein Gummidrainrohr dicht in der Gallenblase mittels Catgutnähte eingenäht oder es wird ein Pezzer-Katheter ein- gelegt und die Wunde rings um denselben dicht genäht.

Die Gallenblase wird in ihre normale Lage reponiert, die Drainstelle und das Drainrohr werden durch eine gummibekleidete Serviette von der Abdominalhöhle abgegrenzt und nun die Wunde nach oben und unten von der Drainstelle in drei Etagen vereinigt: Peritoneum. mit Catgut, Fascie und Haut mit Aluminiumbronze. Das Drainrohr wird verlängert und in ein an der Seite des Bettes fixiertes Glas geleitet.

Nachbehandlung: Zur Durchspülung der Leber und Verdünnung der Galle werden in den ersten Tagen, bis die Patienten selbst reichlich trinken können, 2 / physiologische Kochsalzlösung subcutan gegeben. Am fünften oder sechsten Tage wird die gummibekleidete Serviette aus der Wunde entfernt. Nach 14 Tagen werden die Hautnähte und das Drainrohr entfernt.

Cholecystotomie mit Choledochotomie: In Fällen, wo Steine in den Hepatici und dem Choledochus gefunden wurden, wo es aber nicht gelang, die- selben in den Ductus cysticus zurückzuleiten, muß eine Choledochotomie angeschlossen werden. Unter Traktion auf der Gallenblase und Ductus cysticus, wobei der Chole- dochus dem Operateur näher gebracht wird, werden mitten an der freigelegten Vorderwand des Choledochus zwei Catgutschlingen einander gegenüber angebracht und zwischen diesen eine Längsincision gemacht, durch welche die Steine, wenn sie frei beweglich sind, ausgedrückt oder, wenn sie in der Pars pancreatica einge- keilt sind, mittels der Curette herausbefördert werden. l

Nachdem der Operateur sich mittels Einführung von Bougies der freien Passage ins Duodenum vergewissert hat, wird die Choledochusincision mittels Cat- gutnähte genau vereinigt. Wie oben beschrieben, wird die Gallenblase drainiert, wobei die primäre Heilung der Choledochusincision gesichert und die schwierige, oft zu Striktur führende Drainierung von Choledochus vermieden wird.

Ideale Cholecystotomie oder Cholecystendysis, die von Meredith im Jahre 1883 zuerst ausgeführte Cholecystotomie mit Primärvereinigung und Ver- senkung der Gallenblase nach Entfernung der Gallensteine, wurde ganz natürlich in den Bann getan, nachdem die Naunynsche Infektion allgemein Zutrauen erworben hatte Nun wird diese Operation, bei welcher natürlich postoperative Adhäsionen am besten vermieden werden, wahrscheinlich neue Anerkennung erwerben und in den häufigen Fällen, wo die Galle aseptisch und die Gallenblase funktionstüchtig gefunden wird, Anwendung finden.

Cholecystektomie. Diese Operation, welche von Langenbuch 1882 erst angegeben und als Normaloperation empfohlen wurde, ist, nachdem die Naunyn-

252 Thorkild Rovsing.

sche Theorie gefallen ist, nur bei Carcinomverdacht, Gangrän der Gallenblase oder des Ductus cysticus indiziert.

Der Peritonealüberzug wird durch eine hufeisenförmige Incision, deren bogen- förmiger Beginn am Fundus sich in zwei Längsincisionen seitlich der Gallen- blase fortsetzt, abgelöst und dann die Gallenblase ausgeschält, bis sie als eine Birne an ihrem Stiel dem Cysticus hängt. Nach Unterbindung der Arteria cystica wird der Ductus cysticus so nahe wie möglich am Choledochus mit Catgut unter- bunden und der Stumpf mit Peritoneum oder Oment übergenäht. Bei Verdacht auf Choledochusstein wird allgemein empfohlen, dünne Sonden durch den Cysticus- stumpf vor dessen Abbindung in den Choledochus einzuführen. Man darf sich aber nicht auf diese Untersuchung verlassen, denn die Sonde kann teils an dem Stein vorbeigleiten, teils günstig gelegene Steine auf sehr ungünstige Stellen verschieben. Daher ist es vielmehr rationell, den Choledochus zu inzidieren, um dann mit einer Curette die ganze Passage zu explorieren und eventuell gefundene Steine damit gleich zu entfernen.

Literatur: Albeck u. Lohse, Paavisning af Eklampsigiften ad exp. Vej. Hospitalstid. 1908, p. 894. Aoyama, Experim. Beitrag zur Frage der Cholelithiasis. D. Ztschr. f. Chir. 1915, CXXXII, p. 234. Aschoff, Über die Entstehung der Gallensteine. Kl. Woch. 1922, Nr. 27. Aufrecht, Der Ursprung der Gallensteine. D. A. f. kl. Med. 1919, CXXVIII. Bacmeister: Über Aufbau und Entstehung der Gallensteine. Zieglers Beiträge z. allg. Path. u. path. Anat. 1908, XLIV, H. 3, p. 528. Beneke, Gallensteinbildung, Arterienentartung und Fettbildung. D. A. f. kl. M. 1876, XVIII, p.l. Berg John, Bitrag till kännedomen om godartade stenoser i gallgångarna av annan orsak än gall- sten. Beretning fra Nord. kirurgisk Forenings Mode i Kobenhavn. 1913; Einige Fragen der Gallen- wegepathologie in klinischer Beleuchtung. Nord. med. Arkiv 1914, Nr. 5; Studien über die Funktion der Gallenblase unter normalen und gewissen abnormen Zuständen. Nord. med. Arkiv. 1917/18, L, H. 3 og 5. Boysen, J., Galdestenenes Struktur og Pathogenese. Doktorafhandling. 1900. Kjöbenham; Über die Struktur und die Pathogenese der Gallensteine. Mit einem Vorwort von Prof. Dr. Th. Rovsing, Kargers Verlag. Berlin 1909. Brauer, Ztbl. f. Gyn. 1903. Broman Ivar, Uber die Phylogenese der Gallenblase. Upsala Läkarefhdl. 1921, XXVI, H. 5/6. Chauf- fard A., Valeur clin. de l'infection comme cause de lithiase biliaire. Revue de Medecine 1897, XVII. Clairmont u. Haberer, 33. Chirurgenkongreß in Berlin, 1904. Fenger Mogens, Om Achpyli efter Cholecystektomi. Hospitalstidende 1919, Nr. 48. Flörken, D. Ztschr. f. Chir. CXIII. Frerichs, Klinik der Leberkrankheiten. 1861, I. Galippe, Journal des connaiss. med. 1886. Gilbert u. Dominici, La lithiase biliaire est-elle de nature microbienne? Société de biologie. 16. Juni 1894. - Gilbert u. Fournier, Société de biologie. 8. Februar 1896. Gilbert, Note pour servir à l’historie de la theorie microbienne etc. Arch. gen. de médecine 1898, Nr. 8. u.9. Grube u. Graff, Die Gallensteinkrankheit. Jena 1912. Hammarsten, Nova acta Reg. soc. Scient. Upsal. 1894, XVI. Hansen Svend, Undersogelser over Cholelithisasis. Ugeskr. f. Læger 1922, Nr. 17. Hartmann I. P., Diskussionsbidrag i Dansk kirurg. Selskab 1921. Hof- bauer, Sammlung klin. Vortr. Nr. 454 und Ztschr. f. Geb. LXI. Hohlweg, D. A. f. kl. Med. 1912, CVIII. Joest Ernst, Spec. pathol. Anatomie der Haustiere. Just, Fenger-, Diskussionsbidrag. Beretning fra nord. kirurg. Sel-Skabs Mode i Stockholm. 1911. Kausch, Hydrops der ges. Gallen- systems etc. Mitt. a. d. Gr. 1911, XXIII, H. 1. Kraft L.udv., Cholecystotomi eller Cholecystektomi. Dansk kirurgisk Selskabs Forhdl. Hospitalstitende. 1920, Nr. 4 og 5. Kramer, Journ. of exper. medicin. 1907, III, p. 9. Kehrer, Sammlung klin. Vorträge Nr. 398 und Zbl. f. Gyn. 1917. Lange C., Speciel patologisk Anatomi og Pathogenese, 1893. Langenbuch, Chirurgie der Leber und Gallenblase. 1897. Lindquist Silas, Till frågan om hydrops i hela gallvägssystemet. Upsala Läkares. Förh. N. F. XVII, H. 3. Mignot, L’origine microbienne des calculs biliaires. Arch. de medecine T. 192, 1898. Meckel v. Hemsbach, Mikrogeologie. Berlin, 1856. Melchior Laur., Diskussionsbitrag i med. Selskab d. 26. Januar 1915. Miyake, Mitt. a. d. Gr., 1900, VI, p. 479; A. f. kl. Chir., 1913, CI. Marcantonio, Sulla genesi dei calcoli biliari. Riforma med. Vol. 8, 1892. Mayer Jaques, Experim. Beiträge zur Frage der Gallensteinbildung. Virchows A. 1894, CXXXVI, p. 561. Nasse, A. f. kl. Chir., XLVIII. Naunyn, Klinik der Cholelithiasis, Leip- zig 1892; Verhdl. des Kongr. f. innere Medicin. 1892; Die Gallensteine, ihre Entstehung und ihr Bau. Mitt. a d. Gr. 1921, XXXI. Oddi, Arch. ital. de Biol. 1887. Poulsen Kr., Om den kirurgiske Behandling af Cholelithiasis. Hospitalst. 1891, Nr. 50 und Nord. med. Arkiv 1892. Rost Franz, Die funktionelle Bedeutung der Gallenblase. Mitt. a. d. Gr. 1913, XXVI, p. 736; Pathol. Physiologie des Chirurgen. Leipzig 1921, Vogel. Rovsing Thorkild, Galdestenssygdommen og dens Behand- ling. Tre Proveforelzsninger holdte ved Kobenhavns Universitet ved Concurrencen om et Professorat

Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. 253

i Kirurgi i September 1899; Underlivskirurgi, Anden del. 1915. Syvende og ottende Forelæsning. Ruge Ernst, Beiträge zur chir. Anatomie der großen Gallenwege. A. f. kl. Chir. LXXXVII, H. 1. Rydgaard Frode, Cholelithiasis og Achyli. Hospitalstitende 1920, Nr. 1 og A. f. kl. Ch. CXV, H. 3. Scheel Victor, Undersogelser over Cholelithiasis. Ugeskr. f. Læeger 1911, Nr. 48. Schmieden u. Rohde, Die Stauungsgallenblase. A. f. Chir. 1921, CXVIII. Specht Otto, Ein Beitrag zur Frage über die Neubildung der Gallenblase nach Cystektomie. Bruns B. z. Chir. CXXIII, p. 507. Schröder, Dissertation. Straßburg, 1832. v. Stubenrauch, A. f. kl. Chir. LXXXII, p. 667. Thomsen Ejnar, Studier over neurogen og celluler Achyli. Disp. 1921. Thudichum, Über den chemischen Prozeß der Gallensteinkrankheit. Virchows A. 1899, CLVI. Wessel Carl, Ventrikelundersogelser hos Patienter med Galdesten. Dansk kir. Selskabs Forhdl. 9. Marts 1918. Hospitalstitende 1918, p. 1233. de Voogt, Nederl. Tijdschr. voor geneesk. 1918, II. -— Williams. Surgery. Gynzcology and Obstetrics 1. und Ztbl. f. Gyn. 1905. Zellweger H., Die Bedeutung des Lymphatismus und anderer konstitutioneller Momente für die Gallensteinbildung. Ztschr. f. angew. Anatomie u. Konstitutionskrankheiten 1915. I, H. 1.

Die Behandlung der Phlegmone. Von Prof. Dr. Ernst Unger und Dr. Heinz Heuß!". Mit 5 Abbildungen im Text.

Als Phlegmone bezeichnet man eine meist flächenhaft fortschreitende Ent- zündung, welche bei der Anwesenheit von Eitererregern zur Eiterbildung, beim Vorhandensein von Fäulniserregern zu Gasbildung und Gangrän neigt und das lockere Bindegewebe der Subcutis sowie alle anatomischen Zwischenräume mit lockerem Bindegewebe (z.B. zwischen den Muskeln, in der Umgebung der Speiseröhre, das Mediastinum) befällt (Lexer). Die Behandlung einer solchen phleg- monösen Entzündung kann sein: 1. konservativ; 2. operativ und 3. sero- oder chemo- therapeutisch.

Allgemeine Behandlung.

Konservative Maßnahmen können wir bei phlegmonösen Prozessen im allgemeinen nur als Unterstützung oder Vorbereitung zu der operativen Behandlung ansehen; nur wenige, ausgesuchte Fälle machen von dieser Regel eine Ausnahme (z. B. Gesichtsphlegmonen). Von dem Rüstzeug der alten Chirurgen, den anti- phlogistischen Mitteln, den Adstringentien und Derivantien ist heute nichts mehr geblieben; die Behandlung mit Blasenpflaster, mit Zinksulfat oder Bleiacetat, mit Höllenstein, Jodtinktur und Moxen, mit gekochten Pflaumen und gekautem Butter- brot gehört der Geschichte an. Zum Schaden der Kranken ist aber die Behandlung mit stark wirkenden Antisepticis noch nicht restlos verschwunden; trotz wiederholter Warnungen werden heute noch Verbände mit Carbolwasser, Lysol- oder Sublimat- lösung verordnet. Es’ kann nicht dringend genug vor diesen schweren Gewebs- giften gewarnt werden! Eine ähnliche wenn auch nicht so intensive Wirkung schreibt Klapp den Dauerumschlägen mit essigsaurer Tonerde zu und fordert, daß diese aus der Behandlung der Phlegmone verschwinde, eine Forderung, die sicher zu weit geht. Allgemeine, für alle Fälle passende Richtlinien zur Behandlung einer in Form, Ausdehnung und Schwere so sehr variierenden Erkrankung wie der Phleg- mone zu geben, ist unmöglich; stets muß die besondere Eigenart und die Kon- stitution des Kranken berücksichtigt werden. Im Vordergrunde steht meist der Schmerz; er kann fehlen bei Rückenmarkerkrankungen, Somnolenten und Geistes- kranken. Ein zweckmäßiger Verband, der das betroffene Glied ruhigstellt, ohne es zu drücken, wird diesen Schmerz lindern. Stets sei man aber darauf bedacht, diese Ruhigstellung nicht zu weit und nicht zu lange auszudehnen; manches gesunde Gelenk ist schon unter einem unnötigen oder unzweckmäßigen Schienenverband versteift! Die schmerzhafte Schwellung, das Ödem, in der Umgebung der Entzündung kann durch Suspension oder Hochlagerung des betreffenden Gliedes vermindert werden. Das Gefühl der Spannung der Haut wird gemildert durch Bedecken der

1 Ein kleiner Teil der Abhandlung stammt von Herrn Dr. Wohlgemuth.

e

Die Behandlung der Phlegmone. 255

betroffenen Partie mit Salbenlappen; man nehme aber nur indifferente Salben, nicht solche, die mit stark wirkenden Chemikalien versetzt sind. Um das Gefühl der Hitze zu beseitigen, werden Umschläge mit verdünnter essigsaurer Tonerde oder Alkohol oft angenehm empfunden; empfehlenswert ist folgende Mischung: '/, / Alkohol + !/, ¿ Wasser mit Zusatz von 2—4 EBlöffel essigsaurer Tonerde. Kurze Zeit angewandt schaden sie nicht und wirken schmerzstillend; wir können sie daher nicht wie Klapp und Beck völlig verwerfen. Längere Anwendungssdauer dagegen ist wegen der starken Maceration der Haut nicht- zweckmäßig. Oft werden diese feuchten Ver- bände viel zu klein angelegt; sie müssen weit über das entzündete Gebiet hinaus- reichen. Von der Behandlung mit Eisblase raten wir wegen der Gefahr der Nekrose ab. Unter günstigen Bedingungen, bei geringer Virulenz der Erreger können beginnende Phlegmonen unter Ruhigstellung, Lagerung, Salben- oder feuchtem Verband völlig zurückgehen.

Ein seit langer Zeit bewußt oder unbewußt als Heilmittel bei entzündlichen Prozessen angewandtes Verfahren ist die Erzeugung. von Hyperämie, sowohl aktiver wie passiver. Bier war der erste, der die Hyperämiebehandlung systematisch aus- gearbeitet, ihr die theoretischen Unterlagen gegeben und ihre Anwendungsmethoden ausgebaut hat. Durch Verstärkung des nützlichen Vorgangs der Entzündung will Bier eine Steigerung der natürlichen Abwehrvorgänge bewirken und so das Gewebe in stand setzen, selbst mit der Infektion fertig zu werden. Operative Maßnahmen sollen durch die Hyperämiebehandlung nicht völlig ausgeschaltet, aber auf ein not- wendiges Minimum reduziert werden. Zur Erzeugung aktiver Hyperämie bedient man sich der Wärme. Ihre Anwendung kann in verschiedenen Formen geschehen: durch heiße Umschläge (Leinsamen, Kamillen, Haferflocken), Bäder, heißen Sand, Thermophore und heiße Luft. Wir bedienen uns aller dieser Mittel bei beginnenden Phlegmonen, die noch keine Einschmelzung an irgend einer Stelle zeigen; leichtere Infektionen können sich ganz zurückbilden, schwerere lassen meist schon nach kurzer Zeit eine fluktuierende Stelle erkennen, an der wir dann sofort die Incision vornehmen. Man hüte sich davor, zu lange mit dem Einschnitt zu warten! Fällt die Temperatur nicht, werden die Schmerzen größer oder breitet sich der phlegmonöse Prozeß weiter aus, dann inzidiere man, auch ohne daß deutliche Fluktuation fest- zustellen ist. Die Bäderbehandlung spielt eine größere Rolle in der Behandlung der Phlegmone nach der Incision besonders derjenigen der Hand, des Armes und des Fußes. Die warmen Bäder werden von den Kranken sehr angenehm empfunden. Da gleichzeitig die Tamponade auf ein Minimum beschränkt wird, fällt der schmerz- hafte Verbandwechsel fort. Das Austrocknen der Wunde wird verhindert, und schließ- lich können wir frühzeitig mit Bewegungen beginnen. Wenn Sachs glaubt, jede Phlegmone nur durch Bäderbehandlung ohne jede Incision ausnahmslos heilen zu können, so hat sich diese Behauptung bei Nachprüfung (Tietze) als unrichtig erwiesen. Die Behandlung in den für jedes Glied besonders konstruierten Heiß- luftkästen hat im allgemeinen keine besonderen Vorzüge und konnte sich daher in der Praxis auch nicht einbürgern, mit einer Ausnahme: dem Kopflichtkasten. Dieser mit 2—4 elektrischen Lampen zu heizende Kasten erzeugt eine Wärme bis 100° und spielt bei der Behandlung phlegmonöser Prozesse im Gesicht eine bedeut- same Rolle.

Wichtig ist ferner die Stauungshyperämie nach Bier (passive Hyperämie). Sie findet besonders Anwendung bei Phlegmonen der Extremitäten, kann aber auch am Hoden und am Kopf erzeugt werden. Zur Änlegung der Stauung an Arm oder Bein bedient man sich einer etwa 6 cm breiten Gummibinde, die central von der

256 Unger-Heuß.

erkrankten Partie unter mäßigem Druck um die Extremität herumgelegt wird; die Bindentouren sollen sich nicht ganz decken sondern einen größeren Teil des Gliedes umfassen. Die Binde soll gerade so fest liegen, daß der venöse Rückfluß gehemmt, der arterielle Zustrom aber nicht behindert ist; der Puls an den Gefäßen der betref- fenden Extremität muß also stets zu fühlen sein. Das gestaute Glied bekommt eine blaurote Farbe, es schwillt mäßig an und wird heiß. Daß die Binde richtig liegt, soll daran zu erkennen sein, daß der Entzündungsschmerz bald schwindet. Werden die Schmerzen stärker, wird der gestaute Gliedabschnitt kühl oder verschwindet der arterielle Pulsschlag, dann ist die Binde sofort zu entfernen. Bei richtiger Anwendung soll die Stauungsbinde 20—22 Stunden liegen bleiben, dann 4 (bzw. 2) Stunden abgenommen werden; während dieser Zeit lagert man die Extremität hoch, um das Ödem zum Verschwinden zu bringen. Hat sich unter der Behandlung eine Stelle des entzündlichen Infiltrats erweicht, dann wird hier eine kleine Stichincision gemacht; die Wunden werden nicht tamponiert; vom ersten Tag an werden aktive und passive Bewegungen ausgeführt. Für die Stauungsbehandlung phlegmo- nöser Prozesse am Kopf (Lippenfurunkel, Nasenfurunkel, Orbitalphlegmone u. a.) wird eine etwa 3 cm breite Gummibinde um den Hals gelegt. Am Hoden bedient man sich zur Stauung eines Gummischlauches, der um die Radix scroti gelegt wird.

Soweit sich aus der Literatur ersehen läßt, wird -die Stauungsbehandlung bei akut entzündlichen Prozessen nicht viel angewendet, und es sind schwerwiegende Bedenken gegen sie geltend gemacht worden; Lexer hält daran fest, daß „der Haupt- nachdruck auf die frühzeitige Beseitigung oder Verminderung der Infektionsstoffe“ zu legen sei; man soll dem Gewebe den Kampf gegen die Bakterien und ihre Toxine, deren Resorption durch die Stauung noch künstlich vermehrt wird, nicht allein über- lassen, sondern man soll ihm nach Möglichkeit diesen harten Kampf ersparen; d. h. praktisch gesprochen: Die Stauungsbehandlung eignet sich nur für leichte Fälle; mittelschwere und schwere erfordern ausgiebige und frühzeitige Incisionen; in der weiteren Behandlung kann die Stauungshyperämie von Nutzen sein. Lexer hat eine Reihe von Fällen beobachtet, bei denen trotz frühzeitig einsetzender Stauungs- behandlung schwere Verschlimmerungen und Komplikationen eingetreten sind, die nach seiner Auffassung der Methode zur Last gelegt werden müssen.

Wir sind der Ansicht, daß die Stauungshyperämie eine Behandlungs- methode darstellt, die sich für den Praktiker nur selten eignet. Die Tech- nik ist nicht einfach. Es bedarf großer praktischer Erfahrung, um den richtigen Grad der Hyperämie zu erzeugen, und es ist unbedingt erforderlich, daß man einen Patienten mit einer schweren Phlegmone, dem man eine Stauungsbinde angelegt hat, dauernd unter Aufsicht behält; schließlich müssen wir uns darüber klar sein, daß diese Behandlungsmethode durchaus keine einfache und harmlose ist, daß die komplizierten Vorgänge, die sich in dem gestauten Glied abspielen, unserer Erkennt- nis noch sehr fern sind. Leichte Infektionen können unter frühzeitig einsetzender Stauungsbehandlung völlig zurückgehen; aber auch unter einem einfachen, ruhig- stellenden Verband und einem feuchten Umschlag sehen wir ja beginnende Phleg- monen sich noch zurückbilden. Wenn wir also über den Wert der Stauungstherapie nicht Biers Ansicht sind, so stimmen wir doch völlig mit ihm überein in der For- derung des Fortlassens der Tamponade und des frühzeitigen Beginnes mit aktiver und passiver Bewegung.

Um eine Stauung von einer bestimmten Dauer mit einer ebenso bestimmten staufreien Zeit abwechseln zu lassen, hat Thies einen Apparat zur rhythmischen

Die Behandlung der Phlegmone. 257

Stauung beschrieben. Das Verfahren, so geistreich es auch ist, ist für die Praxis zu kompliziert.

Um an allen Stellen des Körpers, an denen eine Stauungsbinde nicht angelegt werden kann, auch eine passive Hyperämie erzeugen zu können, hat Klapp vor- geschlagen, sich der Sauggläser zu bedienen. Es sind das starke Glasflaschen von verschiedener Größe, in denen durch einen aufgesetzten Gummiball oder eine ange- schlossene Luftpumpe ein luftverdünnter Raum hergestellt werden kann. Damit die Gläser der Haut gut anhaften, wird ihr Rand dick mit Vaseline bestrichen. Die Saug- behandlung soll etwa 30—45 Minuten täglich angewandt werden, nach je 5 Minuten nimmt man die Glocke ab und läßt eine Pause von 1—2 Minuten eintreten. Dieses Verfahren wird besonders zur Behandlung der eitrigen Mastitis (mit und ohne gleich- zeitige Incision), von Furunkeln und Karbunkeln empfohlen; besondere, für die Finger passende Saugcylinder sind zur Behandlung von Paronychien und Panaritien angegeben. Über den Wert dieses Saugverfahrens können wir uns Lexers Ansicht anschließen, der es geeignet hält für „alle abgekapselten Herde ohne Fieber und ohne Neigung zum Fortschreiten“; diese werden durch die Saugung „rasch und schonend ihres Eiters und der Infektionsstoffe beraubt“. Abzulehnen ist die Saugbehandlung, „wenn die Infiltrate noch nicht erweicht sind und Neigung zum raschen Fortschreiten unter Fieber haben oder in der Nähe deutliche Zeichen von Thrombophlebitis (meist bei Gesichtsfurunkeln) vorhanden sind“. Die Saugbehand- lung der Panaritien wird in der Praxis kaum geübt.

Als das Normalverfahren bei der Behandlung phlegmonöser Entzündungs- prozesse ist die frühzeitige, genügend große operative Spaltung anzusehen. Wir inzidieren dort, wo wir beginnende oder schon eingetretene Erweichung fest- stellen können; tritt aber unter den besprochenen konservativen Maßnahmen eine Erweichung nicht ein und verschlechtert sich das Allgemeinbefinden, steigt die Temperatur und nehmen die Schmerzen zu, dann verliere man keine unnütze Zeit, sondern verschaffe den Infektionsstoffen durch Incision Abfluß nach außen. Denn es gibt eine große Anzahl phlegmonöser Prozesse, bei denen es nicht zur Erweichung kommt. Von den großen Incisionen bis ins gesunde Gewebe hinein, die man früher empfahl, ist man abgekommen; die Eröffnung muß aber ausgiebig genug sein, um dem Eiter freien Abfluß zu gewähren; Stichincisionen genügen bei fort- schreitenden Phlegmonen nicht, sie haben nur Berechtigung bei abgekapselten Abscessen. Die-Operationen sollen im allgemeinen in Voll- oder Rauschnarkose vorgenommen werden; man operiere, wenn irgend möglich, nicht allein, sondern mit genügend Assistenz; an den Extremitäten wende man in allen zweifelhaften Fällen die Esmarchsche Blutleere an. Vor dem Gebrauch der Infiltrations- anästhesie bei phlegmonösen Prozessen ist dringend zu warnen! Die Anästhe- sierung durch Äthylchloridspray ist meist schmerzhafter als die Operation selbst. Ausgedehnte, fortschreitende Phlegmonen gehören in klinische Behandlung.

Während man früher die Operationswunden bis in alle Winkel hinein tam- ponierte, beschränkt man seit Biers Arbeiten die Tamponade auf ein Minimum. Der Tampon wirkt als störender Fremdkörper, er trocknet die Gewebe aus, ruft Nekrosen hervor und verursacht bei jedesmaligem Wechsel dem Kranken große Schmerzen. Wir begnügen uns meist damit, bei kleineren Incisionswunden zwischen die Wund- ränder nach der Operation einen kleinen lockeren Gazestreifen zu legen, um das Verkleben der Hautwunde zu verhüten. Dieser "Tampon wird nach Möglichkeit bereits am nächsten Tag am besten im warmen Bad entfernt und nicht mehr erneuert. Bei tiefen Wunden ist bisweilen Einlegung eines Drains erforderlich. Um

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 17

258 Unger-Heuß.

die Wundränder ohne Tamponade offen zu halten, hat Tiegel Spreizfedern und Schmerz Drahtschlingen angegeben; diese Hilfsmittel sind unnötig. Auch das Ver- fahren von Chiari, die Wundränder an die benachbarte gesunde Haut durch Nähte zu fixieren, erscheint für phlegmonöse Prozesse nicht sehr zweckmäßig, da man eine Eintrittspforte für die Erreger schafft und die Fäden bald durchschneiden. Besser ist der Vorschlag von Schubert, „aus dem den Eiterherd von der Außenwelt trennenden Gewebe kreisrunde Fenster auszuschneiden“.

Stark wirkende Chemikalien (Carbolsäure, Sublimat, Jodtinktur etc.) bringe man nicht in die Wunde. Sie zerstören unnötig Gewebe, ohne ihren eigentlichen Zweck, die Abtötung aller Bakterien, zu erreichen. Ist sehr reichliche eitrige Sekretion vor- handen, so kann man die Wunde vorsichtig mit möglichst indifferenten Flüssig- keiten ausspülen (Kochsalzlösung, Borwasser, Wasserstoffsuperoxyd).

Während des Krieges hat man ausgiebig Gebrauch gemacht von der verband- losen oder offenen Wundbehandlung. Einige Autoren (Braun, Schmerz u. a.) empfahlen, diese Art der Behandlung auch in der Friedenspraxis anzuwenden. Das Wesentliche der Methode besteht darin, daß der typische geschlossene Wundver- band fortgelassen wird. Das erkrankte Glied wird auf einer Schiene fixiert, die Wunde bleibt entweder ganz frei (zum Schutze gegen Fliegen wird höchstens ein dünner Gazeschleier herübergelegt), oder sie wird mit feuchten Kompressen bedeckt, um die Austrocknung zu vermeiden; auch eine Dauerberieselung der Wunde kann unter Umständen angebracht werden. Sichere Vorteile dieses Vorgehens sind: die Ersparnis an Verbandmaterial und der Fortfall der schmerzhaften Verbandwechsel. Dagegen muß betont werden, daß die offene Wundbehandlung mehr Sorgfalt und Aufsicht verlangt als der geschlossene Verband. Für die Nachbehandlung der inzi- dierten Phlegmone scheint sie uns im allgemeinen keine großen Vorteile zu bieten; auf jeden Fall aber kann sie nur in einem Krankenhaus, nicht im Privathaus oder ambulant durchgeführt werden.

Der letale Ausgang phlegmonöser Prozesse ist nicht selten auf eine vom Erkrankungsgebiet ausgehende thrombophlebitische Pyämie zurückzuführen. Für derartige Fälle hat man vorgeschlagen (Bumm, Küttner, Lexer u.a.), die abführenden Venenstämme unter Umständen sogar prophylaktisch zu unterbinden. Hierfür kämen in Betracht die Unterbindung der Vena angularis nasi oder Vena jugularis bei Gesichtsphlegmonen, die der Venae spermaticae, hypo- gastricae und Vena cava bei Eiterungen des Beckenraumes und schließlich die Unter- bindung der Vena subclavia und der Vena iliaca externa oder interna bei Phlegmonen der Extremitäten. Der Wert dieser Operationen ist mangels größerer Erfahrungen nicht sichergestellt, wenn auch eine Reihe desolater Fälle nach der Operation geheilt ist.

In ganz wenigen Fällen, die jeder Behandlung trotzen, bei denen trotz aus- giebiger Incisionen, trotz Stauung, Venenunterbindung oder sonstiger Maßnahmen der phlegmonöse Prozeß nicht zum Stillstand kommt, bei denen hohe intermittierende Temperaturen und Schüttelfröste eine Pyämie anzeigen, bei denen der Kranke von Tag zu Tag elender und widerstandsloser wird, ist man genötigt, die Absetzung eines Gliedes vorzunehmen. Der Entschluß hierzu ist gewiß stets schwer; man soll aber in absolut notwendigen Fällen ihn nicht lange hinausschieben.

Während die Serumtherapie bei phlegmonösen Erkrankungen in Deutsch- land im Gegensatz zu anderen Ländern, speziell Frankreich nur eine ganz untergeordnete Rolle spielt, hat die Chemotherapie in Form der Tiefenantisepsis an Bedeutung gewonnen. Die von Morgenroth und seinen Mitarbeitern (Abraham, Schnitzer u. a.) hergestellten Antiseptica (Vucin, Eukupin, Rivanol) bilden den Mittel-

Die Behandlung der Phlegmone. 259

punkt des Interesses. Die stark bakterientötende Kraft dieser Stoffe, besonders Strepto- kokken gegenüber, ist durch Morgenroths Versuche bewiesen; im Tierversuch gelang es ihm, künstlich erzeugte Streptokokkenphlegmonen durch Vucininfiltration (1:500) „in einem hohen Prozentsatz der Fälle, aber nicht regelmäßig... zu heilen, wenn die Behandlung 4—6 Stunden nach der Infektion einsetzt“. Die Erfahrungen am Menschen haben die Erwartungen, die man auf das Vucin bei der Behandlung der fortschreitenden Phlegmone gesetzt hat, enttäuscht. Nur wenige Chirurgen (Rosenstein) haben diese Behandlungsmethode empfohlen. Weitaus die Mehrzahl der Autoren (Keppler und Hoffmann, Brunner und v. Gonzenbach, Keysser u.a.) stehen ihr ablehnend gegenüber. Die intravenöse und intraarterielle Injektion, meist verbunden mit gleichzeitiger Abschnürung der Extremität, stellen Experimente dar, vor denen die meisten Autoren warnen.

Mit Rivanol gelang es Morgenroth, bei der Maus eine vollentwickelte 18stün- dige Streptokokkenphlegmone durch dreimalige Infiltration des entzündeten Herdes mit je 3 cm? Rivanol 1:4000 fast immer zu heilen. Die Erfolge beim Menschen stimmen mit dem Tierexperiment bis heute nicht überein. Allerdings schreibt Rosenstein: Eine der auffälligsten Eigenschaften des Rivanols zum Unterschied vom Vucin ist die geringe Reizung des Gewebes. Injiziert man z. B. in ein akut entzündetes Gebiet der Haut oder etwas tieferer Phlegmonen Vucin 1:500, so entsteht zunächst eine ziemlich erhebliche Steigerung aller Entzändungserscheinungen, das betreffende Organ schwillt an, wird etwas stärker ödematös durchtränkt, die Rötung steigert sich und der Schmerz ist am ersten Tag ziemlich erheblich, läßt vom nächsten Tag an aber nach. Aber trotz der guten Erfolge, die wir mit der Rivanolbehandlung abgekapselter Eiterungen (besonders Gelenkempyeme und Peritonitis) erzielen konnten, müssen wir in Übereinstinmung mit der Mehrzahl der anderen Autoren die Infiltrations- behandlung bei fortschreitenden phlegmonösen Prozessen ablehnen. Da die Injektionen in das entzündete Gewebe selbst äußerst schmerzhaft sind, müssen ‚sie in Narkose ausgeführt werden; man müßte also den Kranken täglich oder jeden zweiten Tag narkotisieren. Häufig gehen phlegmonöse Eiterungen unter dieser Be- handlung nicht zurück, es sind sogar Fälle besonders schnellen Fortschreitens beob- achtet; kommt der akut entzündliche Prozeß aber zum Stillstand, dann bleiben, wie = wir beobachten konnten, große, schmerzhafte Infiltrate zurück, die jeder weiteren Behandlung trotzen.

Am eingehendsten hat sich Brunner am Tier und Menschen mit der Frage der Tiefenantisepsis befaßt. Auf seine außerordentlich lehrreichen Ausführungen (s. Literaturangaben) kann hier nur hingewiesen werden. Es dürfte die beste Arbeit sein, die wir zurzeit auf diesem Gebiet besitzen. Nicht nur die Frage der modernen Chemotherapie wird von Brunner eingehend studiert, sondern auch an einer Reihe von Beispielen schwerer phlegmonöser Prozesse gezeigt, was von einer zielbewußten Behandlung zu fordern ist. Das Problem, wie weit können Antiseptica, in das Gewebe gespritzt, helfen, scheitert an dem Dilemma: zu geringe Desinfektionskraft hemmt die Entwicklung der Bakterien nicht, zu starke Konzentration schädigt das Gewebe des Organismus selbst; das lehren uns die Untersuchungen von Schöne, Brunner und v. Gonzenbach u.a. Die Sache liegt aber anders, wenn es sich um Reinigung von vorhandenen Hohlräumen (Gelenke, Schleimbeutel, geschlossene Abscesse, Pleura) handelt. Da tritt die Oberflächenwirkung und die direkte Vermischung des Anti- septicums mit dem Eiter in deri Vordergrund.

‚In einigen Fällen von Sepsis im Anschluß an schwere Phlegmonen haben wir den Kranken Rivanol in Form der intravenösen Dauertropfinfusion einverleibt.

17°

260 Unger-Heuß.

Wir haben den Eindruck, mit diesem Verfahren den Krankheitszustand günstig be- einflußt zu haben; ein abschließendes Urteil steht uns nicht zu.

In neuester Zeit sind Präparate hergestellt worden, die eine Kombination von Vaccine- und chemo-therapeutischen Mitteln darstellen. Wir prüften von diesen das Staphyloyatren und das Streptoyatren, das wir in steigenden Dosen intravenös injizierten. Es scheint, daß diese Mittel eine wirksame Unter- stützung unserer anderen Maßnahmen bilden können, und daß sie besonders bei septischen Prozessen eine günstige Wirkung entfalten.

Ein Wort noch über Farbstoffe, deren Anwendung bei septischen Prozessen an Bedeutung gewinnt. Es sei darüber ausführlicher berichtet, weil hier ein weiteres Feld für neue Forschungen in Aussicht steht (vgl. Baumann, Wattwil). Die anti- septische Kraft der Farbstoffe beruht auf der Färbung der Bakterien, die in der Regel der Konzentration der Farblösung parallel geht. Schwächer gefärbte Bak- terien können sich noch vermehren und die Farbstoffe wieder abgeben, stärker gefärbte werden in ihrer Entwicklung gehemmt. Stilling, Wortmann, Jaenicke, Zurakowski haben insbesondere das Methylviolett geprüft. Im Handel ist Pyo- ktanin (Methylviolett Merck) und Trypaflavin (ein Methylacridiniumchlorid), letz- teres gehört aber zur Reihe der Acridinfarbstoffe, aus denen Morgenroth das Rivanol gewonnen hat. Trypaflavin ist nicht lichtbeständig, muß dunkel aufbewahrt werden, bei innerer Darreichung Erbrechen, kann Harndrang und Nierenreizung verursachen Eigenschaften, die dem Pyoktanin nicht anhaften. So hat sich in mehrjährigem Gebrauch bei Baumann das Pyoktanin anderen Farbstoffen über- legen erwiesen; man hat den Farbstoff auch mit anderen Medikamenten kombiniert: MethylenblausSilber (Argochrom) oder Trypaflavin-Silber (Argoflavin. Baumann gibt an, mit Argochrom intravenös besonders gute Erfolge bei Bakteriämien erzielt zu haben. Bei eiternden Wunden benützt er Blaugaze (in Rollen von 5 cm Breite, Firma Hartmann), stark gequetschte, verunreinigte, zerfetztee Wunden betupft Bau- mann mit 2—3%iger Pyoktanintinktur und drainiert mit 1—2 Blaugazedochten. Alte, vernachlässigte Wunden werden locker tamponiert; die Verbände können Hinger liegen bleiben als bei anderer Behandlung (bis zu 7 Tagen). Tiefere Kanäle, eiternde Gänge, Sehnenscheidenphlegmonen werden mit 2—3 % iger Pyoktanintinktur ausge- spritzt (bei Sehnenscheidenphlegmonen Durchziehen von Gummistreifen, aus dünnem Gummischlauch geschnitten, oder in Vaseline getauchte Blaugazestreifen). Nebenbei sei erwähnt, daß Baumann bei Sehnennähten die Nahtstelle mit Blaugaze ein- wickelt ohne Schaden für das sehr empfindliche Sehnengewebe. (Die Entfernung der Flecke in der Wäsche geschieht wie folgt: Halbstündiges Behandeln mit warmem Wasser [30— 40°], dem 1% Wasserstoffsuperoxyd [30%] und 2% Soda beigefügt ist, mit nachherigem Auswaschen im kalten Wasser und Trocknen. Farbbeschmutzte Hände werden sofort rein durch Abreiben mit 3%igem Salzsäurealkoho|.)

Wenn wir unsere allgemeinen Richtlinien kurz zusammenfassen, können wir folgendes sagen: Für die Mehrzahl der fortschreitend phlegmonösen Pro- zesse ist die frühzeitige Incision die Methode der Wahl. Leichte Infek- tionen mit geringer Virulenz der Erreger können unter konservativen ' Maßnahmen (Ruhigstellung, feuchte Verbände, aktive und passive Hyper- ämie) völlig zurückgehen. Führt die konservative Behandlung nicht in 24—48 Stunden eine wesentliche Besserung herbei, dann operiere man. Die Infiltrationsbehandlung mit Antisepticis ist abzulehnen. Intravenöse Injektionen von sero- oder chemotherapeutischen Mitteln können die Heilung begünstigen. |

Die Behandlung der Phlegmone. 261

Eine gewisse Ausnahme von diesen allgemeinen Regeln macht die Behandlung der Phlegmonen bei Diabetikern. Die meist durch Staphylokokken hervor- gerufenen phlegmonösen Prozesse der Zuckerkranken haben eine äußerst geringe Heilungstendenz und führen häufig zu jauchig-schmieriger Nekrose des befallenen Gewebes. Als oberster Grundsatz gilt hier, so enthaltsam wie möglich mit chirur- gischen Eingriffen zu sein; es ist bekannt, daß in direktem Anschluß an die Operation in manchen Fällen ein Koma aufgetreten ist. Diese Gefahr ist am größten bei schon bestehender Acetonurie. Ist der Eingriff einige Zeit hinauszuschieben dann raten wir, die Behandlung mit Diät und Insulin, wie sie Wilder, Boothly und Woodyatt (zit. nach Staub) anwenden, vorzunehmen: zuerst Diät ohne Insulin. Wird der Patient damit zuckerfrei, verschwindet Hyperglykämie und können noch 500 Calorien über den Grundumsatz zugelegt werden, dann kein Insulin. Wird mit Diät Zucker ausgeschieden, so wird aus der Differenz der zugeführten Kohlenhydrate und des ausgeschiedenen Zuckers (Grundtoleranz) die erste Insulindosis berechnet. Nach der Erfahrung vermag eine Insulineinheit beim schweren Diabetiker 2—2'/, g, beim leichten 5—6 g Zucker mehr auszunützen. Die benötigte Dosis wird auf 2 bis 3 Portionen verteilt und am besten 30 Minuten vor der Mahlzeit gegeben. Muß sofort operiert werden oder besteht ein präkomatöser bzw. komatöser Zustand, dann muß Insulin subcutan oder intravenös in hohen Dosen, 100 und mehr Einheiten, kom- biniert mit gleichzeitiger peroraler oder parenteraler Kohlenhydratzufuhr, gegeben werden ohne Rücksicht auf die Zuckerausscheidung und Hyperglykämie (zit. nach Staub). Bei schnell fortschreitendeh Phlegmonen an den Extremitäten entschließt man sich beim Diabetiker früh zur Amputation. (Kurzdauernde Narkose, keine Infiltrationsanästhesie.) Über die Vaccinetherapie nach Wolfsohn und ihre Erfolge fehlen größere Erfahrungen. Jede Phlegmone ist für den Diabetiker eine lebens- gefährliche Komplikation.

Es sei darauf hingewiesen, daß beim Syphilitiker Phlegmonen oft schlecht heilen und die chirurgische Behandlung mit antisyphilitischer zu verbinden ist”.

Phlegmonen der einzelnen Körpergegenden.

Phlegmonen des Gesichtes und Halses.

Jeder phlegmonöse Prozeß im Gesicht ist als eine ernste, das Leben gefährdende Krankheit zu betrachten. Die meisten Gesichtsphlegmonen gehen von Lippen- oder Nasenfurunkeln aus. Das Ausdrücken von Furunkeln ist ein schwerer Fehler, der nicht nur von Laien, sondern auch von Ärzten noch begangen wird. Wir halten jede von furunkulösen Prozessen ausgehende Gesichts- phlegmone für ein absolutes noli me tangere für die Hände und In- strumente des Chirurgen. Die erkrankte Partie wird mit einem Salbenlappen bedeckt, der öfters zu erneuern ist; Tag und Nacht lassen wir Hitze einwirken am besten in Form von Breikompressen (Leinsamen oder Kamillen), die das halbe Gesicht bedecken, oder eines weichen Thermophors. Ein- bis zweimal täglich erhält der Kranke ein Kopflichtbad, 20—40 Minuten lang. Die Temperatur in dem Licht- kasten soll etwa 80° betragen (damit die einmal erreichte Temperatur nicht weiter steigt, schalte man die Hälfte der Lampen aus). Die Augen bedecke man mit einem dunklen, feuchten Tuch. Unter keinen Umständen lasse man den Kranken, solange

* Anmerkung während der Korrektur: Auf dem Chirurgenkongreß 1924 berichteten

Heidenhain und Fried über sehr günstige Resultate, die sie mit ganz kleinen Röntgendosen bei der Behandlung von phlegmonösen Prozessen sahen.

262 Unger-Heuß.

er unter dem Lichtkasten liegt, allein; es kommen plötzliche Erregungszustände vor, bei deren Eintritt oder möglichst schon vorher der Kasten sofort entfernt werden muß. Ist der phlegmonöse Prozeß im Rückgang begriffen, und zeigt sich an einer oder mehreren Stellen umschriebene Fluktuation, dann kann man an diesen Stellen eine kleine Incision vornehmen.

Die Stauungsbehandlung und Sauggläser wenden wir nicht an. Die rein konservative Behandlungsweise, wie wir sie geschildert haben, will Lexer nur bei den Fällen . ‚ohne schwere Begleiterscheinungen“ angewandt wissen; bei rascher Vergrößerung, hohem Fieber, Schüttelfrösten soll man nach seiner Ansicht „nicht zögern mit dem einzigen Mittel, das noch retten kann, mit großen Incisionen, welche den Lippenraum in ganzer Ausdehnung spalten und quer zu diesem Schnitte das Infiltrat der Oberlippe und Wange durchtrennen“. Während wir früher eben- falls diese großen Incisionen machten, verhalten wir uns jetzt absolut. abwartend. Daß auch ganz schwere Fälle unter konservativer Behandlung heilen können, zeigt folgende Beobachtung:

Ein 21jähriger Arbeiter bemerkt seit 6 Tagen einen kleinen Furunkel dicht unterhalb der Unterlippe; wegen Ausbreitung der schmerzhaften Schwellung Krankenhausaufnahme (14. Juli 1923). Befund: Kräftiger junger Mann; Sensorium frei; Temperatur 39°, Puls 90. Die Unterlippe ist besonders in der Nähe des linken Mundwinkels geschwollen und gerötet; dicht unterhalb des Lippenrots ein fünfmarkstückgroßer Furunkel; Submaxillardrüsen beiderseits geschwollen und schmerz- haft. Behandlung: Heiße feuchte Umschläge, Thermophor. 15. Juli. Unterlippe auf etwa Daumendicke angeschwollen; das entzündliche Infiltrat erstreckt sich bis zum Kinn. 17. Juli. Temperatur 39°, Puls 140. Auch die Halsgegend unterhalb der Kiefer beiderseits phlegmonös intiltriert. Kopflicht- kasten; Omnadin intramuskulär. 18. Juli. Die Unterlippe ist noch mehr geschwollen, ganz starr, mit Eiterpusteln übersät. Die Infiltration erstreckt sich auch über die rechte Wange. Ulceröse Stoma- titis. Kopflichtbad, Omnadin. 20. Juli. Leichte Nackensteifigkeit. Lumbalpunktion: Ablassen von etwa 20 cm? Liquor, Injektion von 10 em? Eucupin. hydrochlor. (1'0:1000'0). Rechtes Auge voll- kommen zugeschwollen; sehr starke ulceröse Stomatitis. 3mal Kopflichtbad. 21. Juli. Im Liquor 0:25% Alb. Im Eiterabstrich: Staphylokokken, Streptokokken, Bacillus fusiformis, Anaerobier. Kopf- lichtbad. Excitantien. 23. Juli. Allgemeinbefinden etwas gebessert; Schwellung des rechten Auges zurückgegangen. 26. Juli. Am rechten Mundwinkel und unterhalb des Kinns an 4 Stellen Fluk- tuation; 4 Stichincisionen,; im ganzen entleert sich etwa ein Teelöffel dicker gelber Eiter. Stomatitis

ebessert. 30. Juli. Abscedierung unterhalb des rechten Auges; Stichincision. 17. August. Die esichtsphlegmone ist vollkommen abgeheilt. (Patient bekam im Anschluß hieran eine Osteomyelitis des Unterkiefers, die nach Sequestrotomie heilte.)

Daß operative Spaltungen großer Gesichtsphlegmonen nur in Narkose vor- genommen werden sollen, ist selbstverständlich. Klinger schlägt vor, eine Leitungs- anästhesie herzustellen durch Einspritzen von 2 cm? 1%iger Novocainlösung in die Gegend der Fossa canina von der oberen Umschlagsfalte der Schleimhaut des Vesti- bulum oris aus. Wir möchten vor jeder Injektion in die Nähe des Entzündungs- herdes dringend warnen. Für ausgedehnte Prozesse kann diese Anästhesie auch gar nicht genügen. |

Weiter bilden Insektenstiche den Ausgangspunkt phlegmonöser Gesichtsprozesse. Auch in diesen Fällen raten wir durchaus zu konservativer Behandlung mit heißen Umschlägen und Kopflichtbad. Wie verhängnisvoll unangebrachte Incisionen sein können, dafür folgende Beobachtung:

Ein 19jähriger Lehrling wurde am 29. Juli 1922 von einer Mücke am Kinn gestochen; in den nächsten Tagen schwoll die Gegend stark an. Am 2. August schnitt er sich selbst mit einer ausge- kochten (?) Schere eine rundliche Offnung in die Schwellung; keine Besserung. Am 3. August erweiterte ein Arzt diesen Schnitt und legte einen zweiten unterhalb des Kiefers an. 5. August. Krankenhaus- überweisung. Befund: Sensorium frei; Temperatur 39°, Puls 130. Die ganze linke Gesichtshälfte vom unteren Augenlid bis zur Submaxillargegend stark gerötet und geschwollen; Lippen ödematös, mit Borken bedeckt. Dicht unterhalb des linken Mundwinkels eine linsengroße, schmierige Wunde, die von einer Incisionswunde quer durchschnitten wird; in der Submaxillargegend eine fast verheilte 5 em lange Incisionswunde. Der Mund kann kaum geöffnet werden. Atmung stark beschleunigt, etwas mühsam. Behandlung: Salbenverband, Thermophor. 6. August. Allgemeinbefinden verschlechtert ; Benommenheit, große Unruhe. Puls 150; zunehmende Cyanose. AderlaB von 100 em? In der Nacht vom 6. zum 7. August Exitus. Die Obduktion zeigte ungewöhnlich zahlreiche septische In- farkte und embolische Abscesse in den Lungen.

Die Behandlung der Phlegmone. 263

In seltenen Fällen schließen sich schwere Phlegmonen an kleine Verletzungen des Gesichtes an. Wie schwer auch solche zunächst ganz harmlos erscheinende Infektionen verlaufen können, lehrt folgende Beobachtung:

Ein 35jähriger Lehrer hat sich 10 Tage vor Krankenhausaufnahme beim Rasieren in die linke Wange geschnitten; seitdem schmerzhafte Anschwellung in der Umgebung; wegen auftretender Schüttel- fröste Krankenhausaufnahme. Befund: Patient ist leicht benommen; Temperatur 39°, Puls 100. An der linken Wange eine kleine, schmierig belegte Wunde; Umgebung stark entzündlich infiltriert; nirgends Fluktuation. Behandlung: Feuchtwarme Umschläge, Thermophor, Excitantien. Nachts Exitus. Die Sektion ergab als Todesursache allgemeine Sepsis.

Vor kurzer Zeit hat Läwen ein neues Verfahren zur Behandlung fortschreitender pyogener Prozesse im Gesicht angegeben: die U mspritzung mit Eigenblut. Das gesunde Gewebe um die erkrankte Partie herum, in die ausgiebige Incisionen gemacht werden, wird mit frisch aus der Vena cubitalis entnommenem Blut prall infiltriert; es genügen im allgemeinen 30—40 cm?. Unter den von Läwen mitgeteilten geheilten Fällen befindet sich bisher nur ein wirklich schwerer Prozeß. Weitere Erfahrungen liegen über diese Behandlungsmethode noch nicht vor.

In einigen Fällen von eitriger Thrombophlebitis bei Gesichtsphlegmonen gelang es Lexer u.a,durch Venenunterbindung (Vena angularis, Vena jugularis interna) den Prozeß zum Stillstand zu bringen.

Eine seltenere, aber sehr schlimme Lokalisation progredient eitriger Prozesse im Gesicht bilden die Phlegmonen der Orbita. Als Behandlung wird im allgemeinen frühzeitige Incision (Lexer, Schwarzkopf u.a.) empfohlen, auch wenn noch keine Einschmelzung des Gewebes erfolgt ist; in ganz schweren Fällen hat man bisweilen die Exenteratio orbitae vorgenommen. Wir glauben, daß Incisionen vom Lid aus diesen schweren Prozeß nicht aufhalten können; wir raten daher zu möglichst konserativer Therapie mit heißen Umschlägen und Kopflichtbad; intravenöse Vaccineinjektionen können die Behandlung unterstützen. Wie schnell trotz Incisionen solche Phlegmonen tödlich verlaufen können, lehrt folgender Fall:

Bei einem 6jährigen Kinde bemerkt die Mutter 4 Tage nach Abheilung eines Gerstenkorns zunehmende Schwellung des rechten Augenlids und Vortreibung des SE Bei der Aufnahme (12. Dezember 1922) schwerstes Krankheitsbild; Temperatur 39°. Protrusio bulbi. Mehrfache Incisionen am rechten Oberlid (vom Augenarzt), Eröffnung der Periorbita, Tamponade 13. Dezember. Verlegun auf chirurgische Abteilung, Temperatur 39°, Puls 140; Protrusio bulbi beiderseits. Salbenverband, Kopf- lichtbad. 14. Dezember. Meningitische Erscheinungen. Mittags Exitus.

Prognostisch nichtso ungünstig wie die bisher geschilderten Gesichtsphlegmonen sind die Parotisphlegmonen zu beurteilen. Wenn durch die geschilderten kon- servativen Maßnahmen die Entzündungserscheinungen nicht bald zurückgehen, werden wir bei dieser Art der Phlegmone eher zur Incision raten als bei den anderen. Der Einschnitt wird meist am besten parallel zum horizontalen Unterkieferast gelegt und muß stets die derbe Fascia parotideo-masseterica durchtrennen; man hüte sich vor Verletzungen des Facialis und Ductus Stenonianus!

Die Phlegmonen der Schädelkapsel schließen sich an Kratzeffekte (Läuse!), Schädel- wunden u.s.w.an und müssen wegen der Gefahr eines Übergreifens auf den Knochen und die Venen (Sinusthrombose!) frühzeitig gespalten werden. Es ist nicht ratsam, mit der Incision zu warten, bis deutliche Einschmelzung feststellbar ist.

Die oberflächlichen Phlegmonen des Halses stellen leichtere Infektionen dar, die nach einfacher Incision heilen. Schwerer zu behandeln und in ihrer Prognose viel ernster ist die tiefe Halsphlegmone, die ihren Ausgang von den submaxillären Drüsen nimmt (Angina Ludovici). Diese Erkrankung bedarf frühzeitigen und fach- kundigen chirurgischen Eingreifens, da bei längerem Bestehen die entzündliche Schwellung auf die Rachenwand übergehend zum Glottisödem führen kann. Die Incision, die stets in tiefer Narkose mit genügender Assistenz auszuführen ist, muß

264 Unger-Heuß.

Haut, Platysma und oberflächliche Halsfascie durchtrennen; dann dringt man weiter stumpf mit einer Kornzange in die Tiefe auf die Glandula submaxillaris vor und legt diese vollkommen frei. Nerven- und Gefäßverletzungen sind sorgfältig zu ver- meiden! Trotz dieser ausgiebigen und frühzeitigen Incision hat Rehn 3 Fälle von Angina Ludovici verloren und hält daher diese Methode noch für nicht genügend. Er fordert, daß stets die Submaxillardrüse mit allen ihr anhaftenden Lymphknoten völlig exstirpiert wird.

Gefährlich sind die Phlegmonen, die entlang dem Gefäßspalt der Carotis und Jugularis weiterkriechen. Hier nützen nur ausgedehnteste Incisionen mit Freilegung der Gefäßscheiden und eventuell deren Eröffnung. Küttner und de Quervain empfehlen große musculocutane Lappenschnitte, durch die das ganze seitliche Hals- dreieck aufgeklappt wird. Man hüte sich davor, Drainröhren direkt auf die Gefäße zu legen (Arrosionsblutungen!).

Sitzt die Eiterung tiefer, zwischen Pharynx und Wirbelsäule, dann sprechen wir von einer retropharyngealen Phlegmone. Wir inzidieren diese meist vom Munde aus mit einem Messer, das wir bis 1cm vor die Spitze mit Pflaster umwickeln; nach Incision der Schleimhaut an der Stelle der größten Druckempfindlichkeit und Ödems (vorher mit 10% iger Cocainlösung bepinselt), gehe man nur stumpf in die Tiefe. Der Mund wird durch einen Sperrer offengehalten oder dadurch, daß man mit einem Finger der linken Hand von außen her die Wange zwischen die Zahnreihen einstülpt. Entleert sich Eiter, dann lasse man den Kopf nach vorn beugen und den Mund mit Wasserstoffsuperoxyd spülen. Sehr große retropharyngeale Phlegmonen kann man auch von der seitlichen Halsgegend aus eröffnen, wenn sie hier durchzu- brechen drohen. (Es fehlt in dieser Arbeit an Raum für die perioesophagialen und mediastinalen Phlegmonen.)

Im Nacken kommt es häufig zu phlegmonösen Prozessen im Anschluß an Furunkel und Karbunkel. Diese Phlegmonen haben meist eine große Tiefenausdehnung;; sie durchbrechen fast immer die Fascie und greifen bisweilen auf die tiefe Nacken- muskulatur über. Wenn nach einer kurzen konservativen Behandlung durch heiße Kompressen u.s. w. nach 24 bis höchstens 48 Stunden der Prozeß nicht deutlich zurückgeht (was nur selten der Fall ist), dann muß diese Phlegmone ganz ausgiebig gespalten werden; oberflächliche und kleine Incisionen nützen gar nichts. Man eröffnet am besten durch einen Kreuzschnitt oder einen ——4—}—- förmigen Schnitt; die Incisionen müssen bis in das gesunde Gewebe (auch in der Tiefe!) hinein geführt werden; die von miliaren Abscessen durchsetzten, der Nekrose verfallenen Hautlappen werden abgetragen. Die vielen spritzenden Gefäße zu fassen, hat keinen Sinn, da in dem morschen Gewebe keine Unterbindung hält; man bedecke die stark blutende Wundfläche kurze Zeit mit einer mit heißer Kochsalzlösung getränkten Kompresse und tamponiere die Wunde für etwa 24 Stunden mit steriler oder antiseptischer Gaze (uns hat sich Albertangaze sehr bewährt). Manche Autoren raten, um die Blutung zu verringern, anstatt mit dem Messer mit dem Glühbrenner zu operieren. Injektionen von Vucin oder Rivanol in das phlegmonöse Gewebe lehnen wir ab. Die Klappsche Saugglocke kommt nur in Betracht bei völlig begrenzten Prozessen ohne Neigung zum Fortschreiten. Man vergesse nie, jeden Kranken mit von Furunkeln oder Karbunkeln ausgehenden Phlegmonen auf Diabetes zu untersuchen!

Phlegmonen des Rumpfes.

Eitrige Entzündungen der Brustdrüse kommen hauptsächlich in drei Lebens- perioden zur Beobachtung: 1. in den ersten Tagen nach der Geburt (Mastitis neonatorum),

Die Behandlung der Phlegmone. 265

2. während der Pubertät (Mastitis adolescentium) und 3. im Wochenbett (Mastitis puerperalis). Die erste Form geht meist ohne Behandlung zurück; selten bildet sich ein kleiner Absceß, der nach Incision schnell ausheilt. Auch die zweite nicht häufige Form verlangt selten einen chirurgischen Eingriff (feuchtwarme Umschläge, Thermophorbehandlung). Anders ist es mit der phlegmonösen Form der Mastitis puerperalis. Wenn wir auch ganz beginnende Mastitiden durch Hochbinden der Brust und feuchte Hitze zum Schwinden bringen können, so verlangt die aus- gebildete Phlegmone stets einen operativen Eingriff. Die Saugbehandlung (Bier, Klapp) können wir mit Küttner u.a. bei der nicht abgekapselten Form der Mastitis weder für sich allein noch in Verbindung mit kleinen Stichincisionen für eine geeignete Therapie halten. Größere, radiär zur Mamilla gestellte Incisionen, die den Herd genügend freilegen, sind notwendig. Um die narbige Entstellung der Brust nach dieser Operation zu verringern, hat v. Angerer vorgeschlagen, die Incisionen bis auf ein Drainrohr wieder zu vernähen. Besser ist wohl noch die Methode von Bardenheuer (v. Hopmann), den Schnitt halbkreisförmig unter der Mamma an- zulegen, diese von der Fascie abzulösen und hochzuklappen; von hier aus kann man Drainröhren nach jeder Richtung hinführen.

Die Injektionsbehandlung der infiltrativen Form der Mastitis mit Vucin oder Rivanol, wie sie Klapp, Rosenstein, Steichele empfehlen, üben wir nicht aus. Die Nachteile, die wir dabei feststellen konnten, sind folgende: Die Injektionen sind sehr schmerzhaft, erfordern daher jedesmal Narkose; die Behandlungs- dauer ist nicht kürzer als bei der operativen Behandlung; der kosmetische Erfolg ist nicht wesentlich besser als nach der Incision, da derbe, schmerzhafte Infiltrate zurückbleiben, die die Brust auch entstellen; schließlich mußten wir nach längerer Injektionsbehandlung doch inzidieren. Handelt es sich um abgekapselte Eiterherde, dann kann man mit der Saug- oder Injektionstherapie Erfolge erzielen; ein besonderer Nutzen scheint uns aber auch nicht vorzuliegen, da wir ÄAbscesse der Brust auch nach einfacher Punktion oder Füllung der Höhle mit steriler Kochsalzlösung heilen sahen.

Sind bei einer Mastitis am Körper Kratzeffekte zu sehen, so fahnde man auf Scabies! Manche beginnende Mastitis kann durch eine Schwefelsalbenkur noch zur Heilung gebracht werden.

Die subpectorale Phlegmone muß sofort inzidiert werden; nur schnelles Ope- rieren kann die schlechte Prognose dieses Leidens bessern. Man inzidiert parallel mit dem lateralen Rand des Pectoralis maior. Die Phlegmonen können sich bis zum Brustbein und zur Fossa supraclavicularis erstrecken (cave Arteria subclavia!).

Die Eiterungen in der Achselhöhle haben ihren Sitz in der Haut mit ihren Anhangsgebilden (Lymphgefäßen, Haarbälgen, Schweißdrüsen) und in den tiefer gelegenen Achseldrüsen, die ihrerseits wieder durch Lymphstränge mit den sub- pectoralen Drüsen in Verbindung stehen (subpectoraler Absceß!).

Da die Achseldrüsen das Lymphfilter für die Brust (Mamma und Haut), die seitliche Thoraxwand und den ganzen Arm darstellen, sind sie bei jeder Eiterung in diesem Quellgebiet mitbeteiligt. Diese Lymphadenitis kann auch dann noch be- stehen, wenn die periphere Eingangspforte für die Eitererreger abgeklungen ist. (S. auch Bubo inguinalis!) Durch das Weiterschreiten der Lymphdrüsenentzündung auf das umgebende Gewebe entsteht die Achselphlegmone. Ihre Behandlung besteht in der Spaltung der Haut und des erkrankten Gewebes parallel mit den Hautfalten. Das Schultergelenk stellt man ruhig. Die einfache Lymphdrüsenschwellung ver- schwindet nach Abheilen des peripheren Herdes spontan. Durch konservative Maß-

266 Unger-Heuß.

nahmen (feuchte Wärme, Proteinkörpertheranie, s. allgemeiner Teil) kann man das Abklingen der Lymphadenitis beschleunigen.

Die Eiterungen der Haut und Hautanhangsgebilde gehören zwar nicht zu den Phlegmonen, wegen ihrer praktischen Bedeutung seien die Schweißdrüsenabscesse aufgeführt. Sie haben keinen gelben Pfropf wie die Furunkel und zeichnen sich durch ihren chronischen Verlauf aus, der sie zu einer wahren Crux für Arzt und Patienten stempelt. Talke und Rost wiesen nach, daß es sich bei den Schweißdrüsenabscesen um eine Lymphangitis um die Drüsen herum handelt, von der aus die Schweißdrüsen erst sekundär befallen werden. Man behandelt die Schweißdrüsenphlegmonen erst konservativ, kleine Absceßbildungen werden inzidiert. Nicht immer kommt man damit zum Ziel, es bilden sich neue Infiltrate, wir raten dann zu einer Röntgenbestrahlung (!/;—'!/, der Hauteinheits- dosis; wie alle Bestrahlungen von einem erfahrenen Röntgenologen auszuführen!), nach der der Prozeß überraschend schnell verschwinden kann. Auch Proteinkörpertherapie leistet nach monatelangem Bestehen noch Gutes. Verhalten sich die Schweißdrüseninfiltrate gegen jegliche Behandlung refraktär, dann bleibt als ultima ratio die radikale Exstirpation des ganzen infiltrierten Gebietes übrig, ein großer Eingriff, zu dem man sich erst nach reiflicher Überlegung entschließt.

Für die von Furunkeln und Karbunkeln des Rückens ausgehenden Phleg- monen gelten dieselben Behandlungsgrundsätze wie für die Nackengegend.

Die oberflächlichen Phlegmonen der Bauchdecken, die ihren Sitz im Unter- hautbindegewebe haben, bieten der Therapie, die in einer einfachen Incision besteht, keinerlei Schwierigkeit. Anders ist es mit den phlegmonösen Prozessen, die sich in den tieferen Schichten, also innerhalb der Rectusscheiden oder zwischen Bauch- muskulatur und Peritoneum, abspielen; bei ersteren muß die Rectusscheide eröffnet, bei letzteren die Muskulatur noch stumpf durchtrennt werden, um auf den Eiter- herd zu gelangen. Die operative Eröffnung soll möglichst frühzeitig erfolgen. Nicht selten gehen diese Phlegmonen von eitrigen Entzündungen innerer Organe (Wurm- fortsatz, Gallenblase, Niere etc.) aus oder entstehen postoperativ; die Behandlung dieser Erkrankungen zu schildern, würde unser Thema überschreiten.

Retroperitoneale Phlegmonen sind meistenteils Folgezustände eitriger Prozesse von inneren Organen (besonders Pankreas, Niere, Gallenblase, Wurmfort- satz); sie erfordern breite Eröffnung durch lumbale Incisionen; wegen ihres stark progredienten Charakters haben sie eine schlechte Prognose.

In seltenen Fällen kommt es nach nicht (oder falsch) behandelten eingeklemmten Hernien durch Darmgangrän und -perforation zu einer kotigen Phlegmone der Bauchwand. Sofortige weiteste Eröffnung ist hierbei notwendig. Dauerbäder können die Behandlung wesentlich unterstützen und abkürzen. Die fast immer zurückbleibende Kotfistel erfordert eine spätere Operation.

Beckenphlegmonen.

Die Phlegmonen des Beckens schließen sich an Erkrankungen 1. der Weichteile und Knochen des Beckens und 2. der im Becken liegenden Organe, des männlichen und weiblichen Urogenitalapparats und des Mastdarms, an. Ihrer Lage entsprechend teilt man sie in oberflächliche und tiefe Beckenabscesse ein.

Zu den oberflächlichen Weichteilphlegmonen ist der Decubitus bzw. die phlegmonöse Ein- schmelzung des Gewebes im Anschluß an Decubitalgeschwüre zu rechnen. Sie nehmen bei kachektischen Patienten und besonders solchen mit Rückenmarksläsionen oft riesige Ausdehnung an und trotzen sehr häufig jeder Behandlung. Charakteristisch ist ihre Taschenbildung und ihre Progredienz nach der Tiefe bis auf den Knochen. Therapeutisch steht an erster Stelle die Prophylaxe: also keine Falten im Bett, Luftring oder Wasserkissen, häufiger Lagewechsel und peinlichste Sauberkeit dieser der Be- schmutzung durch Urin und Stuhl ausgesetzten Gegend. Häufiges Abwaschen mit kaltem Wasser und nachfolgendes Pudern sowie spirituöse Einreibungen dienen zur Härtung der Haut. Kontraindiziert sind feuchte Verbände, weil sie die Haut macerieren. Ist es zum Decubitus gekommen, bestreut man die Wunde mit antiseptischem Puder (Dermatol, Airol u.s. w.) und wendet Heißluft (Fön) an. Greift der Decubitus trotz aller Sorgfalt weiter um sich, so helfen noch Dauerbäder auf einem untergespannten Laken oder Fischernetz (Nordmann), die so lange durchgeführt werden, als es der Patient verträgt, also über Stunden und Tage hinaus. Während des Dauerbades ist die Verabreichung von Alkohol per os empfehlenswert. In der Zwischenzeit suche man durch häufigen Lagewechsel und Pudern eine Reinigung der Wundhöhle zu erreichen. Sehr geeignet sind auch Verbände mit Campherwein oder Campherwein und Chlorwasser aa. Wenn sich das Grundleiden nicht bessern läßt, sind alle Mittel vergeblich.

Die Behandlung der Phlegmone. 267

Am Gesäß kommen ferner oberflächliche und tiefe Phlegmonen nach Injek- tionen, Quetschungen u. s. w. vor. Zur Eröffnung kann man sich der Schnittführung von Melchior (s. Fig. 72) bedienen, die den Glutäus schont, oder man in- zidiert die Haut und geht im Faserverlauf des Glutäus in die Tiefe, wie das Till- manns für die tiefen Glutäalabscesse angegeben hat. Man vermeidet es jedenfalls, den Schnitt über die Incisura ischiadica anzulegen (Blutungen aus der Arteria glu- taea superior und inferior). Nach Tillmanns legt man den Schnitt etwa 3 cm lateral von der Articulatio sacroiliaca 3 Querfinger oberhalb des Trochanter maior in der Verbindungslinie zwischen Spina iliaca anterior superior und posterior. Zur Ab- kürzung des Heilungsverlaufes sind Sitzbäder 1—2mal täglich bei allen Phlegmonen im Bereich des Beckens Rig: 12. angebracht.

Die häufigste oberflächliche Phlegmone stellt am Becken der Bubo inguinalis und cruralis dar. Als Lymph- filter für das ganze Bein, die Genitalien, den Unterbauch und die Haut des Gesäßes sind sie fast stets sekundär befallen und oft ist die Eintrittspforte (Scheuerwunde am Fuß, venerische Infektion) schon abgeheilt, bis es zur Periadenitis kommt.

Bei Abscedierung sind schräge Incisionen, etwa dem Leistenband entsprechend, besser als Punktionen mit In- jektion von Antisepticis. Stets muß man sich vor der Incision über den Verlauf der großen Gefäße orientieren. m= Schnittführung zur Eröffnung Den scharfen Löffel wendet man in der Leistengegend (et Glutialabscesse (nach Melchior); lieber nicht an.

Differentialdiagnostisch wichtig. ist die Tatsache, daß sich hinter einem ober- flächlichen Leistendrüsen- und Glutäalabsceß eine unter die Haut durchgebrochene tiefe Beckenphlegmone verbergen kann. Am Leistenband kann ein Psoas- und lliacal- absceß, eine Phlegmone der Bursa iliaca, ein parametraler und paravesicaler Ab- sceß zum Vorschein kommen. Eine Verwechslung mit einer Schenkelhernie ist bei oberflächlicher Untersuchung möglich, besonders dann, wenn es infolge Incarceration und Gangrän zur Kotphlegmone gekommen ist. Eine genaue Untersuchung und Vorsicht bei der Operation ist also auch beim „gemeinen Bubo“ notwendig. Nach der Glutäalgegend können Iliacal- und paraproktitische Phlegmonen durchbrechen.

Dem Verlauf des Psoas folgen meist die kalten Abscesse (Spondylitis tuberculosa), mitunter handelt es sich um eine Wirbelkörperosteomyelitis oder Phlegmone retro- peritonealer Lymphdrüsen. Gegen die Psoasabscesse sind die Iliacalabscesse abzugrenzen, die sich innerhalb des Beckengürtels zwischen dem Musculus iliacus und der Darm- beinschaufel bilden (Beckenknochenosteomyelitis, Vereiterung der tiefen Beckendrüsen, Phlegmone der unter dem Musculus iliacus auf dem Schambein gelegenen Bursa iliaca).

Sie können bei ihrem Durchbruch 4 Wege einschlagen (Tillmanns): 1. entlang dem Musculus iliacus bis unter die Haut der Leistengegend; 2. Durchbruch durch die Incisura ischiadica in die Glu- täalmuskulatur und Oberschenkelbeuger; 3. entlang der Kreuzbeinaushöhlung mit Perforation in das Cavum ischiorectale und Rectum; 4. kranialwärts nach der Lumbalgegend. Bei einer Kommunikation der Bursa iliaca mit dem Hüftgelenk kann es zur Sekundärinfektion in diesem kommen.

Schließlich kommen in der Leistengegend noch Phlegmonen von zum Teil extraperitonal gelegenen Bauchorganen zur Beobachtung (subseröse Abscesse nach Tillmanns: Appendix, Parametrium, Blase).

Die Eröffnung der Beckenphlegmonen geschieht am Leistenband durch Schräg- schnitt. Man geht schrittweise durch die Haut und Muskulatur unter peinlichster

268 Unger-Heuß.

Schonung des Peritoneums und drainiert entlang dem Psoas oder Iliacus. Bei Per- foration nach der Glutäalgegend wählt man die im Kapitel Glutäalphlegmone ange- gebene Schnittführung. Nach Tillmanns kann man bei einer Iliacalphlegmone auch ` durch Trepanation des Darmbeins dem Eiter Abfluß verschaffen und behandelt durch die Aufmeißelung gleichzeitig eine etwa bestehende Darmbeinosteomyelitis. Schließlich führt ein Weg durch die Fossa ischiorectalis zu den tiefen Beckenphleg- monen. Zur Eröffrrung einer prävesicalen Phlegmone wählt man den unteren Median- schnitt zwischen Nabel und Symphyse (Zuckerkand|). Sitzt die Phlegmone am Blasenboden, so kann man entweder suprapubisch oder vom Perineum bzw. von der Vagina aus eingehen. Tillmanns empfiehlt bei diesen mit dem retroperitonealen Bindegewebe kommunizierenden Phlegmonen eine Gegenincision in der Lumbal- gegend zu machen.

Beispiele für Iliacalabsceß. 16jähriger Junge, 8 Tage vor Krankenhausaufnahme plötzlich mit heftigen Schmerzen in der linken Hüfte erkrankt. Temperatur 39 und darüber. Keine Verletzung am Bein, keine Angina. Wirbelsäule ohne krankhaften Befund. Linkes Bein etwas außenrotiert. Hüftgelenk frei. Intensiver Druckschmerz handbreit oberhalb des linken Trochanter maior in der Glutäalmuskulatur, geringere Druckempfindlichkeit lateral vom linken Sartorius unterhalb der Spina iliaca anterior superior. Unterbauch beiderseits nicht erheblich schmerzhaft. Beckengürtel links etwas klopfempfindlich. Rectal: linke Beckenhälfte etwas geschwollen und druckempfindlich; Röntgenaufnahme kein krankhafter Befund. Incision handbreit oberhalb des linken Trochanters in der Mitte zwischen Spina iliaca anterior superior und posterior, reichlich Eiter aus der Gegend der Incisura ischiadica. Probepunktion unterhalb der Spina iliaca anterior superior lateral vom Sartorius, gleichfalls Eiter. Von hier aus führt ein Gang nach dem kleinen Becken unter dem Leistenband hindurch. Mit der Kornzange gelangt man auf rauhen Knochen. Darauf Schnitt parallel und oberhalb des Leistenbandes, Abschieben des Peritoneums, Frei- legen der ventra'en Darmbeinschaufel und Trepanation des Darmbeins. Heilung.

lliacalabsceß mit Perforation nach allen 4 Richtungen. 26jähriger Mann. Plötzlich mit Schmerzen am linken Unterbauch und hohem Fieber erkrankt. Nach 10 Tagen Schwellung am linken Oberschenkel, besonders auf der Beugeseite. Vom behandelnden Arzt für Ischias gehalten. Hüftgelenk links frei. Zu- nehmende Schmerzen am linken Glutäus. Mehrfache Probepunktionen im Bereich der linken Adduc- toren ergaben angeblich keinen Eiter. Etwa 3 Wochen nach Beginn der Beschwerden Odem und Schmerzen in der Lumbalgegend links. Bei der Aufnahme: Deutliche Fluktuation in der linken Lumbal- gegend. Linker Unterbauch etwas schmerzhaft. Schwellung und Fluktuation an der medialen Ober- schenkelseite im proximalen Drittel, im Bereich der Beuger. Schwappende Schwellung der linken Glutäalgegend. Rectal: Links deutliche Fluktuation und Schwellung. Linkes Hüftgelenk frei. Operation: Schrägschnitt in die linke Lumbalgegend. In hohem Bogen entleert sich gelber Eiter. Man gelangt in eine Höhle, die kranialwärts bis über die Niere hinausreicht. Linkes Darmbein an mehreren Stellen von Periost entblößt. Zirka 40 cm langer Kanal zwischen Darmbein und Musculus iliacus, in dem eine Uterus- sonde bis zum Heft verschwindet, die Spitze wird handbreit unterhalb des Sıtzbeins an der Beugeseite des Oberschenkels gefühlt. Gegenincision. Im Bereich der Oberschenkelbeuger etwa zweifaustgroße Höhle, die sich bis unter die Glutäen erstreckt. Röntgenaufnahme ergab Be des Darmbeins. Darauf- hin Freilegen des linken Darmbeins durch Schnitt 2 Querfinger unterhalb des Beckenkamms, breite Aufmeißelung der osteomyelitischen Knochen mit gleichzeitiger Perforation des Darmbeins zur Drai- nage nach der Beckeninnenwand.

Die Behandlung der Parametritis, Pelveoperitonitis und des Douglasabscesses gehört nicht zum Thema.

Paraurethrale Phlegmone.

Die paraurethrale Phlegmone (Folge von Harnröhrenstrikturen, Vereiterung der Cowperschen und Skeneschen Drüsen) wird durch Incision am Scrotum, Damm oder vaginal eröffnet. Am Damm wählt man entweder einen Mittelschnitt in der Raphe oder einen queren bzw. bogenförmigen Schnitt zwischen beiden Sitzbeinhöckern und geht stumpf in die Tiefe. Die Behandlung der Strikturen geschieht besser im nicht entzündlichen Stadium entweder durch Bougierung oder Exstirpation der Striktur mit nachfolgender Naht der Harnröhre.

37jähriger Mann, vor 12 Jahren Gonorrhöe. In der letzten Zeit erschwertes Urinlassen, starkes Pressen notwendig. Erkrankt 5 Tage vor der Einlieferung an Schüttelfrost, heftigem Fieber bis 40°, un- bestimmten Beschwerden. Im Laufe der nächsten Tage Schmerzen am Damm. Inspektion: Damm nicht gerötet, nicht geschwollen. Palpation: Nur an einer pfenniggroßen Stelle links neben der Scrotalwurzel intensiver Druckschmerz. Rectal: o. B. Schichtweises Vorgehen links neben der Raphe eröffnet einen kleinen paraurethralen Absceß dicht oberhalb der Pars bulbosa urethrae, ein Fingerhut voll Eiter. Am gleichen Tag Fieberabfall. Heilung. Harnröhre war nur für filiformen Katheter durchgängig.

Die Behandlung der Phlegmone. 269 Prostataphlegmone.

Die Vereiterung der Prostata (häufig verkannt, daher bei unklarem Fieber stets rectal untersuchen!) führt, nicht rechtzeitig erkannt, zu Phlegmonen in der Umgebung des Rectums, des Damms und durch das Cavum pelvirectale weiter aufwärts zu Phlegmonen am Bauch und der Lendengegend (oft genug als kryptogenetische Sepsis behandelt).

Die Eröffnung der Phlegmone kann erfolgen: a) vom Mastdarm aus, 5) vom Perineum. Zur rectalen Incision eignet sich die angeschärfte Vogel-Rottersche Kornzange, die man auf einer vorher in den Absceß eingestochenen Punktions- kanüle vorschiebt. (Die Arme der Zange nicht zu weit spreizen, nicht unnötig im Prostatagewebe bohren, sonst Gefahr heftiger Blutungen.)

Bei multiplen kleinen Prostata-Abscessen sei vor Massage gewarnt, besser ist es, die Vorsteherdrüse wie zur Prostatektomie perineal freizulegen (Zuckerkand)).

Phlegmonen am Scrotum bzw. Testis werden durch Längsincisionen über der betreffenden Scrotalhälfte eröffnet. Sitzbäder, täglich 2mal 1 Stunde, kürzen den Heilungsverlauf wesentlich ab. Stets lagere man im akuten Entzündungszustand den Hodensack hoch durch ein Suspensorium oder ein ausgeschnittenes gepolstertes Hodenbrettchen.

Urinphlegmone.

Wegen ihrer deletären Folgen ist die Urinphlegmone besonders gefürchtet. Sie schließt sich an eine Perforation (Verletzung, fehlerhafte Bougierung u. s. w.) der Blase und Harnröhre an. Man unterscheidet: a) Stadium der Urininfiltration, b) Stadium der Phlegmone, d Stadium der Urosepsis. Häufig besteht eine Misch- infektion mit gasbildenden Bakterien.

Hauptziel der Behandlung ist, den Urin abzuleiten, um eine weitere Infiltration zu verhüten, und das infiltrierte Gewebe zu drainieren. Zur Orientierung, ob die Harnröhre verletzt ist, empfehlen wir, einmal vorsichtig und ganz aseptisch zu katheterisieren (sofort aufhören, wenn es blutet). Im Stadium der Infiltration legt man die Blasen- bzw. Harnröhrenwunde frei und versucht, sie zu übernähen. Die extraperitoneale Blasenfreilegung nimmt man durch unteren Mittelschnitt zwischen Nabel und Symphyse vor; liegt die Verletzungsstelle am Blasenhals oder der Urethra, macht man eine Urethrotomia externa vom Perineum aus. In beiden Fällen wird der Urin aus der Blase durch einen Dauerkatheter abgeleitet, der 8-14 Tage liegen bleibt.

Besteht schon eine Phlegmone, so verzichtet man auf jede Naht und leitet den Urin, falls die Einlegung eines Dauerkatheters mißlingt, durch eine Blasenfistel (Sectio alta) ab. Weniger gut und nur im Notfall bei unzureichenden äußeren Ver- hältnissen ist eine Blasenpunktion, zu der man eine mitteldicke Kanüle dicht ober- halb der Symphyse in die Blase sticht, die man nach der Urinentleerung entfernt, oder man stößt einen dicken gebogenen Troikar in die Blase und schiebt durch die Troikarhülse einen Gummikatheter, der als Verweilkatheter in den Bauchdecken liegen bleibt, nachdem die Troikarhülse über ihm herausgezogen ist. Wir bevor- zugen die Sectio alta und binden in die Blasenwunde ein fingerdickes Gummidrain ein. Zum ÄAbsaugen des Urins hat sich die Barthsche Heberdrainage sehr bewährt (Nordmann, Philipovicz u.a.), mit der es möglich ist, den Patienten lange Zeit trockenzuhalten. |

Die Barthsche Heberdrainage (Fig. 73) besteht aus drei 2-3/ enthaltenden Flaschen, von denen zwei einen Glastubus am Boden besitzen. Dieser Tubus der Flasche 2 und 3 wird mit einem Gummi- schlauch verbunden, die Flasche 2 mit Wasser gefüllt und Flasche 3 tiefgestellt; Flasche 2 steht durch

270 Unger-Heuß.

einen Schlauch luftdicht mit Flasche 1 in Verbindung, die den Urin durch einen weiteren Schlauch vom Patienten aufnimmt. Fließt nun das Wasser der Flasche 2 in die Flasche 3, so entsteht in Flasche 2 und 1 ein negativer Druck, der den Urin aus der Blase aspiriert. Wenn Flasche 2 leer gelaufen ist, tauscht man sie gegen die Flasche 3 aus und setzt nur den Stopfen b von Flasche 2 auf 3. Die Heberdrainage funktioniert gut und bedarf keiner groBen Wartung, wenn die Stopfen a und b dicht sind. Man schließt die Heberdrainage entweder an den Dauerkatheter (Harnröhre) oder den in die Blasenfistel eingebundenen Schlauch an.

Barthsche Heberdrainage.

Dem zweiten Behandlungsziel, der Entfernung des im Gewebe befindlichen Urins bzw. Eiters, genügt man durch breite Spaltung und Drainage des ganzen phlegmonösen Gewebes (Damm, Scrotum, Penis, Unterbauch, Lumbalgegend); gleich- zeitig Herzmittel und Harndesinfizientien geben! Je nach der bestehenden Cystitis spülen wir die Blase durch den Dauerkatheter oder den Schlauch in der Blasenfistel 1—2mal täglich. Zur schnelleren Säuberung der Wunden empfehlen wir vom 4.—5. Tag ab tägliche Vollbäder.

Mastdarm.

Die. Phlegmonen in der Umgebung des Mastdarms breiten sich subperitoneal im Cavum pelvirectale (oberhalb des Levator ani) mit direkter Kommunikation zum retroperitonealen Bindegewebe oder in der Fossa ischiorectalis (unterhalb des Levator ani) aus. Sie können auch in den Wandschichten des Rectums (submukös) oder vor dem Sphincter ani subcutan liegen. Man teilt sie (A. Borchard) in die diffusen Eiterungen und die circumscripten periproktitischen Entzündungen ein.

„Zu den diffusen gehört die diffus septische Phlegmone nach zufälligen Verletzungen oder Mast- darmoperationen, sie sind dann am gefährlichsten, wenn sie im Cavum pelvirectale entstehen, und enden meist letal. Neben dieser foudroyanten Phlegmone gibt es noch eine durch Gasbildung aus- gezeichnete Zellgewebsentzündung (Kraske), die durch das Bacterium coli verursacht wird und einen milderen Verlauf zeigt... . Von dieser mit Gasbildung einhergehenden Zellgewebsentzündung ist der Gasbrand die Gasphlegmone zu unterscheiden. Eine andere Form die diffus gangränöse Zell- gewebsentzündung entsteht gewöhnlich scheinbar spontan (man untersuche auf Diabetes!) oder nach schweren Infektionen, z. B. nach Einspritzung eines Klysmas in das pelviproktale Gewebe anstatt ins Rectum (A. Borchard).“ .

„Zu den circumscripten periproktitischen Entzündungen gehören die oberflächlichen Abscesse unter der Haut am Rande des Afters. ..... Die submukösen sitzen dicht über dem Aftereingang und können sich nach unten in das subcutane, nach oben in das höher gelegene submuköse Gewebe der Pars pelvina recti ausbreiten... . Die Abscesse in der Fossa ischiorectalis entstehen entweder auf dem Lymphwege vom Mastdarm oder durch direkte Verletzung, oder von Abscessen aus der Nachbarschaft (Prostata, Blase, weibliches Genitale). . . . Werden solche Abscesse nicht rechtzeitig eröffnet, so können Durchbrüche nach verschiedenen Richtungen stattfinden, wenn es glücklich geht, nach der Haut oder zwischen Sphincter externus und internus, oder über dem Sphincter internus in das Rectum. Der Eiter kann sich im Cavum ischiorectale seitlich ausbreiten und die Mittellinie überschreitend in das Cavum ischiorectale der anderen Seite eindringen, und so unterhalb des Levators den Sphincterteil ringförmig als sog. dissezierende Phlegmone umgreifen..... Die schlimmsten Folgen zieht die Perforation in den pelvi- rectalen Raum wegen der Fortleitung in das retroperitoneale Bindegewebe nach sich (A. Borchard).*

„Der pelvirectale Absceß kann von Erkrankungen der Rectumschleimhaut (Geschwüren, Strik- turen), durch Perforation benachbarter Abscesse, bei weitem am häufigsten in mehr als der Hälfte der Fälle von der pyogenen und tuberkulös entzündeten Prostata (Zeller 1888), selten von Eiterungen der Wirbel- und Beckenknochen her entstehen.“

Die Behandlung der Phlegmone. 271

„Die Behandlung (A. Borchard) kann nur eine operative sein und soll so frühzeitig wie möglich statthaben, um Durchbrüchen und Unterwühlungen vorzubeugen. Bei den subcutanen und submukösen Abscessen ist die bedeckende Haut und Schleim- haut in ganzer Ausdehnung mit einem zum After radiären Schnitt unter Schonung des Sphincters zu spalten. Der ischiorectale Absceß wird mit einem von vorn nach hinten dem Sphincter parallel verlaufenden Schnitt eröffnet. Ist der AbsceB bereits über die Mittellinie auf der anderen Seite vorgedrungen, dann wählt man am besten einen Schnitt in der hinteren Raphe, der zwischen After und Steißbein verläuft und den Sphincter externus durchschneidet. Von diesem Schnitt aus spaltet man seitlich die Absceßhöhlen und drainiert nach beiden Seiten.“ Da die pelvirectalen Abscesse meist von der Prostata ausgehen und vor dem Rectum liegen, eröffnet man sie wie bei der perinealen Prostatektomie oder per rectum (Borchard). Bei der Behandlung der diffusen Formen empfehlen wir Spülungen und Tampons: mit Farbstoffen (Trypaflavin, Pyoktanin), von denen wir in einzelnen Fällen recht gute Erfolge sahen.

Phlegmonen der Extremitäten.

Bei jeder Phlegmone an den Extremitäten ist als erste Behandlungsmaßnahme die Ruhigstellung notwendig. Da mit jeder Immobilisierung die Gefahr der Gelenk- - versteifung verknüpft ist bei Erwachsenen ist sie größer als bei Kindern soll jedes Gelenk in einer Stellung fixiert sein, die selbst bei Ankylosierung die beste Gebrauchsmöglichkeit gewährleistet. Die Schulter wird am geeignetsten in recht- winkliger Abduction immobilisiert, das Ellbogengelenk in fast rechtwinkliger Beugung und halber Supination. Das Handgelenk fixiert man in leichter Dorsal- flexion, nur in dieser Stellung können die Finger bei einer Versteifung des Hand- gelenks kräftig zur Faust geschlossen werden. Zur Ruhigstellung des Beines wählt man eine leichte Abduction im Hüftgelenk, das Knie soll etwas gebeugt sein und der Fuß zur Vermeidung von Spitzfußcontracturen rechtwinklig zum Unterschenkel stehen. Nur bei vorhandener Verkürzung des Beines ist eine Immobilisierung in Spitz- fußstellung angebracht, da der Patient zum Ausgleich der Verkürzung einen Spitz- fuß notwendig hat. Die Immobilisierung selbst kann durch einfache Lagerung oder gut gepolsterte Schienen vorgenommen werden und soll nur während der akut entzündlichen Erscheinungen durchgeführt werden. Zur Schienung des Unterschenkels ist zu bemerken, daß die Ferse stets hohl liegen muß, sonst entsteht neben Schmerzen ein Decubitus an der Ferse, der manchmal länger zur Heilung braucht als der ganze phlegmonöse Prozeß.

Mit der Ruhigstellung verbindet man die Hochlagerung durch Kissen, Sus- pension (Arm) oder schiefe Ebene (Bein). Bei der Suspension des Arms ist darauf zu achten, daß der Verband nicht schnürt. Es ist falsch, einfach eine Schlinge um das Handgelenk zu legen und den Arm daran aufzuhängen, vielmehr soll die Binden- schlinge, in der der Arm suspendiert wird, auch bei der Suspension des Unterarms am Oberarm angreifen. Ferner muß auch die Hand an dieser Aufhängeschlinge ange- wickelt werden, da ihr schlaffes Herabhängen für den Kranken unangenehm und schmerzhaft ist. Schließlich soll der Oberarm durch untergeschobene Kissen so weit gehoben werden, daß der Unterarm im Verband weniger hängt als schwebt. Bei der Hochlagerung des Beins mit oder ohne Schiene bzw. schiefer Ebene soll stets das Knie leicht gebeugt gelagert werden.

In jedem Fall ist bei den Weichteilphlegmonen an den Extremitäten die Ursache klarzustellen (Osteomyelitis, perforiertes Gelenkempyem, Senkungsabsceß u. s. el

272 Unger-Heuß.

wichtig auch Urinuntersuchung: Eiweiß, Zucker (Koma, Insulinbehandlung!), und schließlich ist der Eiter steril aufzufangen und zu untersuchen.

Die Phlegmonen an den Extremitäten breiten sich subcutan, subfascial, inter- muskulär bzw. entlang den Sehnen oder subperiostal aus. Als Kriegsfolgen entstehen sie auch in der Umgebung alter Schußverletzungen, die jahrelang reaktionslos ver- narbt waren. Durch eine Gelegenheitsursache (Stoß, Überanstrengung, Angina) werden die im Narbengewebe latent ruhenden Eitererreger wieder virulent und führen zu Phlegmonen und Abscessen. Bei der Eröffnung solcher Abscesse entleeren sich mit dem Eiter manchmal Sequester und Geschoßsplitter.

Zur Sicherung der Diagnose sind in unklaren Fällen Probepunktionen beson- ders bei tief gelegenen Phlegmonen und Abscessen oft notwendig. Sie sind aber mit Vorsicht zu verwenden bei paraartikulären Phlegmonen wegen der Gefahr der Gelenkinfektion. In solchen Fällen ist eine Stichincision und vorsichtiges Eingehen bis auf die Gelenkkapsel zur Diagnose gefahrloser.

An den Extremitäten sind Längsincisionen die Regel; wo es notwendig ist, werden Gegenincisionen gemacht. Nach Möglichkeit vermeidet man es, die Incisions- wunden und Drains in die Nähe der großen Gefäße zu legen (Arrosionsblutungen), war man aber dazu gezwungen, in unmittelbarer Nähe der Gefäße zu operieren, muß ein Esmarchscher Schlauch am Bett hängen, um bei einer Blutung zur Hand zu sein. |

Phlegmonen am Arm.

Primäre Phlegmonen am Oberarm kommen selten zur Beobachtung, sie schließen sich an direkte Verletzungen der Haut, Weichteile und des Knochens an. Meist entsteht die Oberarmphlegmone sekundär aus einer Humerusosteomyelitis, einer aufsteigenden Unterarmphlegmone oder Lymphangitis, ganz selten kann es sich um eine Erkrankung im Muskel selbst handeln. Von circumscripten Eiterungen sind die eitrigen Schleimbeutelentzündungen (die Bursitis subdeltoidea, subcoracoidea, sub- acromialis, olecrani u. s. w.) und Spritzenabscesse zu erwähnen. Diese tief gelegenen Schleimbeutel erkranken wie an sämtlichen Extremitäten, seltener nach Traumen (vereiterte Hämatome u. s. w.), häufiger lokalisieren sich in ihnen pyämische Meta- stasen.

Die Schleimbeutelabscesse am Schulter- und Ellbogengelenk entleert man durch Längsincisionen, die dem Faserverlauf des Deltoideus bzw. Triceps entsprechen, oder durch mehrfache Punktionen (kos- metisch besser). Mit der Punktion verbindet man eine Injektion von Rivanol (1:1000), Jodoformglycerin, Trypaflavin, nicht so gut ist Jodtinktur. (Über die Nachteile dieser Absceßbehandlung s. allgemeiner Teil).

Von chirurgischen Eingriffen am Oberarm erwähnen wir die Nößkesche Ope- ration zur Behandlung schnell fortschreitender Lymphangitiden, die die Gefahr einer Septicopyämie in sich schließen. Insbesondere bei infizierten Bißwunden (Ratten-,. Schlangen-, Menschenbiß) leistete uns die Methode Gutes. Nordmann, Eden u.a. empfehlen sie gleichfalls. Die Nößkesche Operation besteht in der circulären Durch- trennung der Haut am Oberarm bis auf die Fascie, dadurch werden sämtliche ober- flächlichen Lymphgefäße quer durchschnitten. Die Wunde bleibt offen und heilt per secundam. Lymphstauungen haben wir als Folge der Operation nicht gesehen.

Als Besonderheit muß für die Ellbeuge das Salvarsaninfiltrat erwähnt werden, da es bei Un- kenntnis der Anamnese leicht mit einer Phlegmone verwechselt werden kann. Es ist außerordentlich hartnäckig und verursacht lange dauernde Induration. Seine Behandlung ist konservativ. Über eine an des Unterarms nach intravenöser Salvarsaninjektion in die Cubitalvene berichtete vor kurzem Schlosser.

Findet man am Unter- und Oberarm sowie in der Ellbeuge kleine perivenöse Phlegmonen, so handelt es sich meist nicht um eine Thrombophlebitis bzw. Periphlebitis unklarer Ätiologie, sondern um intravenös spritzende Morphinisten.

Die Behandlung der Phlegmone. . 273

Wir können innerhalb des Rahmens dieser Arbeit nicht auf die Differential- diagnose der verschiedenen Zellgewebsentzündungen an den Extremitäten eingehen, insbesondere nicht auf die Abgrenzung des Panaritiums in subcutane Phlegmone, Sehnenscheidenphlegmone mit oder ohne Beteiligung der Knochen und Gelenke. Wir verweisen auf die ausgezeichnete Arbeit von Klapp und Beck (mit ausge- dehntem Literaturverzeichnis). Für die Behandlung liegen die Fälle günstig, in denen sich die Eiterung auf das subcutane Gewebe beschränkt, ohne die Sehnenscheiden oder die Sehnen selbst zu erreichen. Das ist der Fall bei den Interdigitalphlegmonen, die den Raum der „Schwimmhautlagen“ (Klapp) einnehmen. Im Chloräthylrausch unter Blutleere Einschnitt an der Stelle, die am schmerzhaftesten ist (man findet diese Stelle bei der Untersuchung des nichtnarkotisierten Kranken oft besser, wenn man mit einer Knopfsonde vorsichtig das entzündete Gebiet abtastet, und dabei einen leichten Druck ausübt, als mit der Fingerpalpation), spreizt mit der Kornzange die Haut und macht, falls die Eiterung die Gegenseite erreicht hat, hier eine Gegen- incision. (Außer Messer und Schere scharfe Instrumente vermeiden, nicht mit scharfen Haken das Gewebe. aufreißen, alles behutsam!) Einlegen eines etwas eingefetteten oder feuchten Tupfers für 24 Stunden, dann warme Handbäder, ist die Methode, die wir im allgemeinen befolgen. Klapp und Beck empfehlen Mulltupfer mit Rivanol 1:1000°0, jeden 1.—2. Tag gewechselt. Die Behandlung derjenigen Hohlhandphleg- monen, bei denen die Sehnenscheiden noch intakt sind, ist in entsprechender Form vorzunehmen. Man tut gut, nicht allzugroße Incisionen in der Hohlhand zu machen, sondern nach Entleerung des Eiters, mit der Kornzange in die Eiternische eingehend, die Haut an weiteren 1—2 Stellen zu spalten und für guten Abfluß zu sorgen (hier. zu auch ein Einlegen feinster Glasdrains geeignet). Es ist von außerordentlicher Wichtigkeit, bei der Freilegung rechtzeitig zu erkennen, daß die Sehnenscheiden selbst noch intakt sind: denn eröffnet man eine Sehnenscheide, die zwar außen vom Eiter umspöült, aber innen noch frei ist, so trägt man die Infektion erst hinein und gefährdet die Sehne.

Zur Behandlung der Sehnenscheidenphlegmonen gehören genaue anatomische Kenntnisse und eine exakte Diagnose; wir sind ferner der Ansicht, daß wirklich schwere Sehnenscheidenphlegmonen gut nur klinisch behandelt werden können und zur Operation genügende Assistenz vorhanden sein muß. Erst nachdem wir uns aus den Angaben des Kranken und dem objektiven Befund genau orientiert haben, wo die größte Schmerzhaftigkeit, welche Sehnenscheide und in welcher Ausdehnung sie ergriffen ist (die ganze Sehnenscheide ist in der Minderzahl der Fälle befallen [Klapp und Beck]), gehen wir an die Operation heran. Längst sind wir von aus- gedehnten Spaltungen mit weiter Freilegung der Sehnen selbst abgekommen, denn eine völlig freiliegende Sehne geht man kann fast sagen ausnahmslos zu grunde. Es ist Biers Verdienst, dies nachdrücklichst betont zu haben; kleine Inci- sionen, Verzicht auf Tamponade und Antiseptica, in der Nachbehandlung die Stauung und frühe Bewegungsübungen. Klapp fügte die Eröffnung der Sehnenscheiden durch laterale Schnittführung hinzu (Fig. 74; auch von Nordmann empfohlen).

„Die Sehne wurde niemals von der Beugeseite, sondern immer von der seit- lichen Fläche des Fingers eröffnet, wie das früher schon oft ausgeführt wurde. Der Hautschnitt hat nicht die ganze Länge der entsprechenden Phalanx. Im Bereich einer jeden Phalanx wurde das Sehnenfach lang eingeschnitten, so daß die Sehne stets gut, und soweit der Hautschnitt reichte, sichtbar war. War an der einen Seite eröffnet, so wurde eine Hohlsonde durch die Sehnenscheide gegen die andere Seite des Fingers geführt und von außen mit gleich langem Schnitt eingeschnitten oder auch

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 18

274 Unger-Heuß.

ein schmales Scalpell vor der Sehne durchgeführt und nach der anderen Seite durch- gestoßen. War das an allen Phalangen ausgeführt, so wurde noch an den drei mittleren Fingern von der Handfläche aus schräg gegen das centrale Ende der Sehnenscheide eingeschnitten und ebenfalls nach der anderen Seite geöffnet.

An den langen Scheiden der Beugesehnen von Daumen und kleinem Finger wurden je nach Bedarf noch ein bis zwei paarige Schnitte von der Länge der vorigen angebracht.“

„Durch die in der Länge der Phalanx geführten seitlichen Schnitte, die noch dazu paarig angelegt sind, wird der beste und reichlichste Abfluß gewährleistet. Beugt man einen so behandelten Finger, so sperren sich die in Streckstellung angelegten Schnitte weit auf und der Eiter fließt ohne Hindernis ab. Die Sehnenscheide wird schließlich von allen Öffnungen aus mit warmer physiologischer Kochsalzlösung aus- gespült, die Wunden werden mit Salben- lappen bedeckt, aber weder drainiert noch tamponiert. Hand und Arm können mit einem Alkoholverband umgeben werden. Der Patient kommt dann am besten ins Bett, der Arm wird horizontal gelagert. Täglich Verbandwechsel und in den ersten 2 bis 3 Tagen !/,stündiges Bad mit warmer physio- logischer Kochsalzlösung. Aktive und passive Bewegungen vom ersten Tage an. Sobald die Eiterung versiegt und die Entzündungs- erscheinungen abgeklungen sind, füge ich zur Erhöhung der Mobilisierung Heißluft- behandlung im Kasten oder mit dem Heiß- luftstrom hinzu, was von den Patienten sehr gerühmt wird und die Funktion zusehends

ER mine e a ren hebt“ (Klapp und Beck).

E nn So eröffnet man also zuerst die Sehnen- scheide an der Stelle, die am meisten schmerzhaft ist, macht den Schnitt auf der Gegenseite, indem man sich mit einem Elevatorium von der inzidierten Seite aus die Haut abhebt und darüber inzidiert. Ubt man nun von distal oder proximal einen Druck aus, so erkennt man, aus welcher Richtung der Eiter quillt, und kann dann das nächstfolgende Sehnenfach eröffnen; man schont soviel als möglich die straffen Bänder, die die Sehnen festhalten, die Sehnen selbst läßt man unberührt in ihrem Fach liegen. Haertel schlägt vor, etwas abweichend von Klapp, den Schnitt nicht in der Mitte des Gliedes, also über der Diaphyse anzulegen, sondern über der Gelenkgegend. Lexer wählt statt zweier gegenüberliegender Schnitte die Spaltung abwechselnd; ein Fach wird rechts, das andere links gespalten, ein Vorgehen, das Klapp verwirft. Klapp spült dann mit physiologischer Kochsalzlösung, führt unter jede Hautbrücke zwei dünne in Rivanol 1:4000'0 getränkte Mullstreifen und ver- bindet in leichter Beugestellung. Die Streifen werden alle 2 Tage gewechselt, der übrige Verband entsprechend der Eiterung bisweilen täglich. Bei großen Schmerzen wird die Wunde erst mit 2—3 % iger Novocainlösung durchgespült, dann ein neuer Streifen durchgezogen. Wir selbst ziehen lang ausgedehnte Bäder vor, vom 2. oder 3. Tage ab, wenn sorgsames Pflegepersonal vorhanden ist. Der Arm des liegenden

Fig. 74.

Die Behandlung der Phlegmone. 275

Kranken wird so bequem wie möglich in großer Armbadewanne gelagert, heißes Wasser bei starker Infektion 2—3 Krystalle Kalium permanganicum zugesetzt und ermahnen den Kranken immer wieder, leichte Bewegungen auszuführen. Bei sehr verständigen Kranken geben wir die Bäder auch nachts und glauben, daß wir mehreren Kollegen mit dieser Behandlung trotz erheblicher Infektion Sehnen und Finger beweglich erhalten haben. Läßt die Eiterung nach, dann Salbenverbände, Heißluftbehandlung, Massage. Auch bei günstigem Verlauf ist mit einer mehr- wöchigen Behandlung zu rechnen. (Über das Verfahren Baumanns mit Blaugaze s. p. 260).

Zeigte sich beim Eröffnen der Sehnenscheide die Sehne mißfarben und ohne ihren natürlichen Glanz, so ist von vornherein mit einer Nekrose zu rechnen. Trotzdem soll man sie nicht abtragen, sondern warten, bis sie sich allein abstößt, oder wenigstens ein großer Teil ihrer Fasern aus der Wunde heraushängt, und diese dann abtragen. Wir stimmen hier mit Klapp und Beck überein, während Nößke die Extraktion der nekroseverdächtigen Sehne empfiehlt.

Nößke unterscheidet zwei prinzipiell verschiedene Stadien der Sehnenscheidenphlegmone: die durch die bakterielle Infektion hervorgerufene eitrige Entzündung der Sehnenscheide und die im Anschluß an die Zerstörung der Sehnenscheide eintretende demarkierende Eiterung. Die letztere bringt bei längerem Bestande ernste Gefahren für die befallene Extremität mit sich. Sie begünstigt hauptsächlich den Einbruch in benachbarte gesunde Gewebe und führt, besonders bei den von Daumen und Kleinfinger ausgehenden Phlegmonen, häufig zur Entwicklung der sog. „V“-Phlegmone.

In der möglichst frühzeitigen Kupierung der demarkierenden Eiterung sieht Nößke eine der wichtigsten Aufgaben in der Behandlung dieser Phlegmonen. Im allgemeinen ist beim Erwachsenen das Schicksal einer Sehne schon nach 4—5tägigem Bestande einer schweren Infektion entschieden. Selbst wenn es durch entsprechende Incisionen noch gelingt, einen Teil der in Sequestrierung be- griffenen Sehnen zu erhalten, ist ein solches Glied infolge der anhaltenden Eiterung und entzündlichen Infiltration der Umgebung funktionell meistens ungünstiger daran als ein Finger, dem frühzeitig die ganze Sehne entfernt wird, und der dadurch im Besitze normaler Gelenke und Bänder bleibt.

NößBke demonstriert das günstige funktionelle Resultat nach frühzeitiger Extraktion der Sehne des Flexor pollicis longus bei einem 52jährigen Manne, bei dem die Phlegmone bereits in die radiale Bursa vorgedrungen war und auf den Kleinfinger überzugreifen drohte. Die Sehne wurde oberhalb des Handgelenks durchschnitten und über der Grundphalanx extrahiert. Der Daumen hat im Grund- gelenk seine normale Beweglichkeit behalten, und das Endglied ist passiv gut beweglich geblieben.

Ebenso günstig gestaltete sich der Verlauf einer schweren fortgeschrittenen „V“- Phlegmone bei einem älteren Diabetiker. Hier wurden die Flexorensehnen des Kleinfingers und Daumens oberhalb des Handgelenks durchschnitten und im Handteller extrahiert.

Bei der Incision bedient sich Nößke fast ausschließlich der queren und schrägen Schnitte, die die besten Narben geben.

Für alle volaren Phlegmonen empfiehlt Nößke als das technisch einfachste und zuverlässigste Anästhesierungsverfahren die Injektion von je 2-3cm? einer 4%igen Novocainlösung an den Medianus und Ulnaris unmittelbar am oder etwas oberhalb des Handgelenks und unter gleichzeitiger Anlegung eines im Sinne der Stauung wirkenden Gummischlauches dicht vor der Injektionsstelle. Die Anästhesie tritt nach ca. 15 Minuten ein und ist stets komplett. Die Nachschmerzen sind auffallend gering.

Nößke empfiehlt zur Behandlung der volaren Phlegmonen die Injektion von 2—3 cm? einer 4%igen Novocainlösung an den Medianus und Ulnaris. Wir warnen vor Operationen in Lokalanästhesie bei phlegmonösen Prozessen.

Handelt es sich aber nicht nur um eine Sehnenscheideneiterung mit Sehnen- nekrose, sondern ist bereits der Knochen oder eines der Fingergelenke ergriffen, bemerkt man ein Fortschreiten der Rötung und Schwellung in der Hohlhand, so ist ein Erhalten der Fingerfunktion nicht zu erwarten; im günstigsten Fall kommt es zur Versteifung des Fingers, er wird funktionsunfähig. Da empfehlen wir, soweit der 2.—5. Finger in Betracht kommt, frühzeitige Abtragung, während beim Daumen alles daran zu setzen ist, ihn, wenn auch versteift, zu erhalten. Die Ansichten gehen darüber auseinander, ob man frühzeitig die Finger abtragen soll oder warten. Wir haben den Eindruck, daß der Prozeß schneller zum Stillstand kommt, wenn man nach der Erkenntnis, daß doch nichts Brauchbares aus dem Finger wird, ihn frühzeitig abnimmt; und weiter ist man sich nicht einig, ob man in solchen Fällen exartikulieren (zwischen Metacarpus und Grundglied) oder das Köpfchen des ersteren gleich mit

18*

276 Unger-Heuß.

fortnehmen soll. Wir empfehlen, zunächst einfach zu exartikulieren und erst später, wenn die Wunde gesäubert und mit Granulationen bedeckt ist, das Köpfchen fort- zunehmen. Bei der Abnahme der Finger und Sehnen zerre man die Sehne nicht hervor, sondern trage sie einfach im Niveau der Wunde ab.

Falls die Sehnenscheiden im Bereich der Hohlhand infiziert sind, so legt man (ebenfalls in Blutleere) die Sehnenscheiden frei und macht kleine Einschnitte; entleert sich nur etwas trübe Flüssigkeit, so hebt man mit stumpfen Häkchen die Sehne etwas an, führt ein dünnes Gummirohr ein und spült mit Rivanol 1: 10000 oder H,O, sowohl aufwärts wie abwärts, legt rivanolgetränkte Tupfer ein und beginnt am nächsten Tag mit Bädern. Schwimmen aber die Sehnen völlig in Eiter, müssen die Scheiden weit eröffnet werden. Allerdings ist damit in den meisten Fällen das ` Schicksal der Sehne besiegelt.

Die Sehnenscheiden des 2.— 4. Fingers reichen bis etwa 2cm proximal von den Metacarpophalangealgelenken und kommunizieren nicht miteinander, während die Sehnenscheiden des kleinen Fingers und Daumens mit dem Hohlhandschleimbeutel und untereinander in Verbindung stehen. Dies erklärt das Zusammentreffen von Sehnen- scheidenphlegmonen am 1. und 5. Finger gleichzeitig („V“-Phlegmone). Klapp und Beck empfehlen, bei dieser Form einen Einschnitt im Bereich der Hohlhand zu machen u. zw.in Form der einfachen Spaltung.

„Das Auffinden der carpalen Schleimbeutel im Bereich des Daumens und des kleinen Finger- ballens erleichtern wir uns, indem wir von der Incision über dem Handfach eine Sonde centralwärts vorschieben und auf sie inzidieren. Am Daumenballen darf man den Schnitt nicht zu nah an das Ligamentum carpi transversum heranführen, da man sonst Gefahr läuft, den zum Daumenbailen führenden wichtigen Ast des Nervus medianus zu verletzen. Bei der voll ausgebildeten „V“-Phlegmone genügt eine Incision hart distal des queren Hohlhandbandes, da ja die Scheidewand zwischen beiden Synovialsäcken durch die Eiterung zerstört ist. Bei der isolierten Bursitis radialis bzw. ulnaris muß man dagegen mehr radial bzw. ulnar auf den erkrankten Synovial:ack einschneiden.

Eine Durchtrennung des queren Hohlhandbandes, wie sie früher geübt wurde und wie sie Forsell zur Entlastung wieder vorgeschlagen hat, erscheint bei ausgiebiger Eröffnung der Synovial- säcke distal und hart proximal des Ligamentes unnötig.

Um ein Verkleben der Incisionen, das bei der tiefen Lage besonders des radialen Synovialsackes rasch eintreten würde, zu vermeiden, führen wir auch hier wieder nach Rivanoldurchspülung mit Rivanol

etränkte Mulldochte von einer Incision zur andern. Das Wechseln dieser Streifchen geschieht in ein- acher Weise dadurch, daß wir den neuen Streifen mit einem Seidenfaden an das Ende des alten knüpfen und so beim Entfernen des einen den andern gleich durchführen. Die weitere Behandlung entspricht der oben angegebenen; vor allen Dingen legen wir auch dabei Wert auf frühzeitige aktive Bewegung“ (Klapp und Beck).

Über progrediente Phlegmonen des Unterarms.

„Am Unterarm sind lange und richtig angelegte Schnitte am Platze, die klare und übersichtliche Wundverhältnisse schaffen“ (Klapp und Beck). Diesem Satze kann man nur zustimmen; der Chirurg, der an schwere Eiterungen am Vorderarm herangeht, muß über genaue anatomische Kenntnisse verfügen und sich dessen bewußt sein, daß es oft schwerer ist, Eiterungen der Muskeln und Sehnen an Arm und Hand zu behandeln, als einen entzündeten Wurmfortsatz zu entfernen. Handelt es sich primär um eine Sehnenscheideneiterung der Hand, die zum Unterarm fort- schreitet, so geht die Eiterung entlang der Sehnen, Muskeln und innerhalb der Muskelbündel weiter; liegt der leichtere Fall vor, daß die Eiterung nur das sub- cutane Gewebe betrifft, oder in der Form, daß die Muskeln lediglich von außen umspült werden (es ist dies bei metastatischen Eiterungen oder im Anschluß an Erysipel gelegentlich der Fall), so genügen größere Stichincisionen mit Drainage. Man hüte sich, Räume zu eröffnen, die noch gesund sind. Die Muskeln des Vorder- armes sind in Logen zusammengeschlossen: auf der Streckseite die Strecker, an der Radialkante die lateralen Strecker, auf der Beugeseite a) oberflächlich: der Flexor

Die Behandlung der Phlegmone. 277

digitorum sublimis, 5) tief: der Flexor digitorum profundus, Pronator quadratus und Flexor pollicis longus (Fig. 75).

„In dieser Beugerloge, u. zw. meist zwischen dem oberflächlichen und dem tiefen Fingerbeuger finden wir die Eiterung. Wir müssen also radial der Palmaris- longus-Sehne bleiben, wenn wir eine Nervenverletzung vermeiden wollen. Von einem Längsschnitt an dieser Stelle kommen wir leicht und ohne stärkeren Blut- verlust an die Stelle der Eiterung, in den Paronaschen Raum. Von hier aus läßt sich leicht ein Drain unter dem Handgelenksband zur Hohlhand führen. Die Abfluß- bedingungen sind aber nicht sehr günstig.

Zweckmäßiger geht man in der von Kanavel und Klapp empfohlenen Weise vor: Die Incision wird an der radiovolaren Seite des Unterarms hart volar der

Fig. 75.

Loge der dorsalen Strecker

Tiefe Beugerloge Loge des lateralen Sireckers Nervus und Arteria ulnaris—

Arteria und Nervus radialis

Nervus interosseus internus und Arteria interossea volaris

Nervus medianus

Oberflächliche Beugerloge

` Fascienlogen des linken Vorderarmes. Halbschematisch. (Aus Corning, Topogr. Anatomie.)

deutlich tastbaren Radiuskante in einer Ausdehnung von etwa 4 cm parallel zum Radius angelegt. Nach Durchtrennung der Haut schiebt man eine Kornzange hart am Knochen entlang in die Tiefe, so daß Radius und Ulna mit dem Pronator quadratus dorsal der Kornzange, sämtliche Gefäße, Nerven und Sehnen volar von ihr liegen. Man kann mühelos das Instrument bis zur ulnaren Seite durchschieben und auf dasselbe parallel zur Ulna eine Gegenincision anlegen. Ein in dieser Weise eingeführtes Drainrohr wirkt günstiger als das neben der Palmaris-longus-Sehne eingeführte, da die Weichteile bei leichter Beugestellung der Hand keinen Druck ausüben, ja die Wunde von selbst klafft, während das quere Handgelenksband bei der Drainage vom Unterarm nach der Hohlhand sich straff über das Drain spannt und leicht Schmerzen und Druckerscheinungen macht. Nach Kanavels Ansicht kann man diese seitlichen Incisionen beliebig weit nach oben verlängern. Das erscheint aber nicht zweckmäßig, da bei weiter Verlängerung der radialen Incision man auf den Musculus brachioradialis und Flexor carpi radialis und die mit ihnen verlaufenden Gefäße stößt. Auch an der ulnaren Seite stößt man bei der Incision entlang der Ulna auf Schwierigkeiten. Zweckmäßiger erscheint, wenn es sich darum handelt, eine Phlegmone des ganzen Unterarms freizulegen, das Eingehen in der Mitte der Vola, also die zuerst angegebene Schnittführung. Diesen Schnitt kann man beliebig nach proximal verlängern, ohne in Kollision mit Nerven oder Gefäßen zu kommen.

Der Schnitt beginnt hart proximal des queren Hohlhandbandes und hat eine Länge von 15—25 cm je nach der Ausdehnung der Eiterung. Eine Verletzung des Nervus medianus können wir bei diesem Schnitt sicher vermeiden, wenn wir ihn erst nach den Incisionen in der Hohlhand auf ein von da unter dem Ligament

278 Unger-Heuß.

‚bis hart unter die Haut geführtes Instrument anlegen. Nach der Spaltung der Haut und oberflächlichen Fascie gehen wir stumpf vor und lösen erst den radialen Handbeuger von dem Rest des oberflächlichen Muskelpaketes ab, was entlang der die Beugerloge umgebenden Fascie ohne Schwierigkeiten gelingt. Der Rest der oberflächlichen Beuger läßt sich nun ebenso leicht stumpf von der tiefen Muskel- schicht ablösen bis zum ulnaren Rand hin, wo wir eine Gegenincision in gleicher Länge anlegen.

Die anatomischen Verhältnisse sind dann etwa folgende: radial der ersten Incision verlaufen Muskel und Sehne des radialen Handbeugers und die Arteria und Nervus radialis. Den Boden der so geschaffenen Wundhöhle bilden proximal die Muskelbäuche des Flexor pollicis longus und Flexor digitorum profundus, distal ihre Sehnen und der Pronator quadratus. In der abgelösten Hautmuskelbrücke ver- laufen von radial nach ulnar zu nebeneinander: Palmaris longus, Nervus medianus, Flexor digitorum sublimis, Arteria und Nervus ulnaris und der Flexor carpi ulnaris“ (Klapp und Beck).

(Wir haben die Ausführungen von Klapp und Beck hier ganz entnommen, weil nur wenige Autoren sich so eingehend geäußert haben.) Wir drūcken dann heiße Kochsalzkompressen auf die Wunde, lösen die Blutleere, versorgen spritzende Gefäße, führen lockere Mullstreifen ein und lagern den ganzen Arm auf eine Schiene- (Kramerschiene, von der Schulter bis zur Hand reichend, in der Ellbogengegend leicht gebeugt). Statt den Arm vollkommen mit einer Binde einzuwickeln, genügt oft das Herumlegen breiter Tücher. Je nach dem Allgemeinbefinden bleibt der Verband 1—2 Tage liegen, dann wenn möglich heiße Bäder (s. ol Bei jedem Ver- band ist auf Eiterverhaltung genau zu achten, besonders an der Innenseite des Ober- arms. Monatelange Nachbehandlung ist oft erforderlich. Ferner muß der Arzt vom ersten Tag an darauf achten, die Beweglichkeit der Gelenke weitgehend zu erhalten, um Versteifungen zu verhüten.

Kurz hingewiesen sei auf das Verhalten und die Behandlung der Sehnen- scheidenphlegmonen bei Syringomyelie (Rost), weil es selten vorkommt. Das starke Ödem an den Händen und die hohe Temperatur lassen an eine ausgedehnte Phleg- mone denken, man inzidiert, findet nur wenige Tropfen trübserösen Exsudats; auch in der Nachbehandlung ist man erstaunt, wie gering die Eiterung bleibt. Zur Be- seitigung der Ödeme empfiehlt Rost das sog. Schrotbad, er läßt den Patienten die Hand täglich 1—2mal 1—2 Stunden in einen mit Schrotkugeln gefüllten Kasten stecken und die Hand bzw. die Finger in dem Kasten bewegen. Das Ödem wird dann durch das Gewicht der Schrotkugeln beseitigt. Nach dem Schrotbad Umwickeln der Hand mit Gummi- oder Idealbinde.

Schließlich seien noch die Tintenstiftphlegmonen erwähnt (Erdheim, Glas), die nach Verletzungen mit Tintenstiften entstehen, besonders wenn die Spitze ab- gebrochen im Gewebe steckengeblieben ist. Die Wunden fisteln nicht, verkleben, durch den Gewebssaft wird der Tintenstift aufgelöst, und es entwickelt sich eine Gewebsnekrose mit sehr verlangsamter Heilungstendenz. Bei einer solchen Verletzung, die wir beobachteten, kam es zur teilweisen Gangrän des verletzten Fingers. Thera- peutisch wird radikale Exstirpation bzw. Exkochleation des ganzen blau-imbibierten Gewebes empfohlen.

Bei Phlegmonen nach Bißverletzungen muß neben der Behandlung der Phleg- mone noch die Ätiologie des Bisses beachtet werden. Bei einem Hundebiß ist stets der Verdacht auf Lyssa gegeben. Recht gefährlich kann ein Menschenbiß werden (Fiebernde, Geisteskranke, Betrunkene). Eine von ihrem grippekranken Kinde ge-

Die Behandlung der Phlegmone. 279

bissene Mutter bekam eine Gangrän des gebissenen Zeigefingers und Pyämie mit Metastasen in beiden Schultergelenken und rechtem Knie. Neben Syphilis können beim Menschenbiß unter anderm auch die Erreger der Angina Plaut-Vincent (Henessy und Fletcher, Schelenz) auf die Wunde geimpft werden (therapeutisch für beide Salvarsan).

Treten nach einer Rattenbißverletzung 1—3 Wochen später unklare Fieber- anfälle, Exanthem, Lymphangitis auf, so handelt es sich um die durch die Spiro- chaeta morsus muris hervorgerufene Rattenbißkrankheit Sodoku, die außer in Japan auch in Europa vorkommt (Vorpahl, Fasiani, Miyake, eigene Beobachtung u. a.). Zur Behandlung der Rattenbißinfektion ist Salvarsan empfohlen.

Phlegmonen am Bein.

Für die Entstehung der oberflächlichen und tiefen Phlegmonen am Ober- und Unterschenkel gelten sinngemäß die im Kapitel Oberarm gemachten Ausführungen. Als besondere Erkrankungen sind für den Oberschenkel die oberflächlichen Spritzen- abscesse und die Senkungsabscesse auf der Beugeseite (s. tiefe Beckenabscesse!), für Ober- und Unterschenkel die Lymphangitis und Thrombophlebitis sowie die Vereiterung von Varixknoten zu erwähnen. Am Unterschenkel müssen die von einer Fußphlegmone aufsteigenden intermuskulären und Sehnenscheidenphlegmonen her- vorgehoben werden. Die Grundzüge der Therapie sind schon geschildert.

Bei der Behandlung der Lymphangitis und Thrombophlebitis der unteren Ex- tremität beschränken wir uns auf absolute Ruhigstellung und feuchte Umschläge. Zur Vermeidung unnötiger Bewegungen geben wir dem Patienten mehrmals täglich Morphium und sorgen für leichten Stuhlgang, um unnötiges Pressen zu vermeiden. Schreitet eine oberflächliche Thrombophlebitis am Oberschenkel fort, so ist die Unter- bindung der Saphena an der Einmündungsstelle in die Femoralis angezeigt. Die Unterbindung muß weit von der Thrombose entfernt erfolgen, sonst kann während der Operation die tödliche Embolie entstehen.

Die am Bein entstehenden Abscesse werden durch Längsincisionen eröffnet; wie am Oberarm vermeidet man es auch am Bein, die Schnitte und Drains in die Nähe der großen Gefäße zu legen. Blutet es infolge Arrosion aus der Arteria femoralis, so unterbindet man die Arterie wenn möglich distal vom Abgang der Arteria femo- ralis profunda, weil sich dann häufig ein genügender Collateralkreislauf ausbildet. Für Arrosionsblutungen am Unterschenkel ist zur Unterbindung der Ort der Wahl die Kniekehle.

Die am Unterschenkel aufsteigenden Phlegmonen, die vom Fuß den Sehnen folgen, spaltet man über den ergriffenen Sehnen. Wenn es geht, schont man das Ligamentum cruciatum am Fußgelenk, sonst verlieren die Sehnen ihre Fixation. Gegen die Austrocknung der Sehnen sind Salbenverbände und Fußbäder empfehlenswert.

Einer kurzen Besprechung bedürfen die am Hüft- und Kniegelenk gelegenen Schleimbeutel- entzündungen.

Die Bursitis subiliaca hat schon bei den Beckenabscessen Erwähnung gefunden. Um den Tro- chanter maior liegen an den Ansätzen der Glutäen die Bursa trochanterica profunda, die Bursa glutaei medii und minimi, die Bursa tendinis obturatorii und auf dem Trochanter noch die Bursa trochanterica subcutanea. Bei einer eitrigen Erkrankung begnügt man sich mit einer Längsincision oberhalb oder hinter dem Trochanter über der Stelle des intensivsten Druckschmerzes. Häufiger beob- achtet man die Phlegmone der Bursae praepatellares (Bursa praepatellaris subcutanea, subfascialis, sub- tendinea), die bisweilen auf die Umgebung des Knies übergreifen. Spaltung der Phlegmonen ist besser als Punktion und Injektion von Rivanol (etwa gleich der Hälfte des abgesaugten Eiters). Man inzidiert entweder beiderseits neben der Patella oder längs mitten über der Kniescheibe oder bogenförmig quer zum Ligamentum patellae. Nach Bier genügt eine Stichincision mit folgender Stauung. Das gleiche gilt für die Bursitis infrapatellaris subcutanea und profunda. Die tiefe spaltet man beiderseits neben dem

igamentum patellae, da sie Zwerchsackform hat.

280 Unger Heup,

Von untergeordneter Bedeutung sind die Eiterungen in der Bursa bicipitis (cave Nervus

eroneus), anserina, semimembranosa und poplitea, die bei Perforation zu Eiterungen in der Kniekehle ühren. Phlegmonen der Kniekehle entstehen ferner aus vereiterten Lymphdrüsen (selten), Varixknoten oder gehen von einer epiphysären Osteomyelitis aus. Bei alten Schußverletzungen und nach Traumen hüte man sich vor Verwechslung von Aneurysma, abscediertem Aneurysma und Phlegmone, Zur Eröff- nung der Kniekehlenphlegmone empfehlen wir den Schnitt über dem medialen und lateralen Condylus femoris zu legen (Schnittführung nach Payr oder Kroh für Kniegelenkempyeme), um dem Getäß- nervenbündel aus dem Wege zu gehen.

Die paraartikuläre Fußgelenkphlegmone inzidiert man auf dem Dorsum unter möglichster Schonung des Ligamentum cruciatum oder bogenförmig hinter beiden Malleolen. Der Phlegmone der Bursa achillea anterior und posterior verschafft man durch Längsschnitte auf bzw. neben der Achillessehne Abfluß.

Die tiefe Fußsohlenphlegmone schließt sich meist an eine Zehenphlegmone oder Zehengangrän (Diabetes!) an und bereitet mitunter diagnostische Schwierigkeiten (Fig. 76).

Fig. 76.

Aponeurosis plantaris und . Arteria plantaris lateralis Spatium plantare mediale Arcus plantaris

Arteria plantaris medialis

Spatium plantare laterale Spatium plantare mediale

j A Verbindung der Arteria plantaris lateralis mit der Arteria dorsalis pedis

SCH E

E eg 7 =,

= Be ` we a Ee: esche SE , "ee w / e E

Arteria dorsalis pedis

Spatia intermetatarsalia

Fascia pedis dorsalis Spatium pedis dorsale

(Aus Corning.)

Sie kann in 3 Fascienlogen lokalisiert sein, die von der Plantaraponeurose gebildet werden: der Großzehen-, Kleinzehenloge und dem Fascienraum zwischen diesen beiden Logen, der unter anderm den kleinen Zehenbeuger und die langen Flexorensehnen enthält. Plantarwärts sind diese Logen durch die feste Plantaraponeurose abgeschlossen, über der noch das derbfaserige subcutane Gewebe und schwielige Fußsohlenhaut liegt. Die anatomischen Verhältnisse sind wichtig für Diagnose und Behand- lung. Der unter Druck stehende Eiter bahnt sich seinen Weg entlang den Flexorensehnen bis zum Fußgelenk und Unterschenkel hinauf, oder er bricht nach dem Dorsum durch, und kann die Mittel- fuß- und Fußwurzelgelenke und -knochen infizieren. Wie bei der Hand täuscht sehr häufig das kolla- terale Fußrückenödem über den eigentlichen Sitz der Phlegmone auf der Planta pedis.

Die chirurgische Behandlung der tiefen Fußsohlenphlegmone kann nur in einer radikalen Eröffnung der infizierten Fascienlogen liegen, man darf sich also nicht mit einer Incision der Haut und Subcutis begnügen, sondern muß auch die Plantaraponenrose in ihrer ganzen Ausdehnung, also bis zu ihrem Ansatz am Calcaneus eröffnen. Am besten operiert man in Blutleere und tamponiert für 24—48 Stunden die Wunde, später reichlich Fußbäder. Zur Eröffnung der Fascien- logen kann man entweder den Längsschnitt über die Fußsohle wählen, oder man dringt nach Becker von einem lateralen und medialen Schnitt am Fußrand unter das Fußskelett und schiebt die Weichteile ab. Der Vorteil der letzteren Methode liegt in der günstigeren Lage der Narben. Die Wunden pflegen nur langsam zu heilen, wiederholte Incisionen können notwendig werden. Insbesondere sind Arrosions-

Die Behandlung der Phlegmone. 281

blutungen und Miterkrankung der Knochen und Gelenke bei protrahiertem Verlauf gar nicht so selten, so daß man sich schließlich genötigt sehen kann, den Fuß zu amputieren.

Gegenüber der tiefen Phlegmone an der Fußsohle verlieren die oberflächlichen und die Sehnenscheidenphlegmone am Fußrücken wegen ihrer leichteren Diagno- stizierbarkeit an Bedeutung. Die nötigen Incisionen legt man am Fußrücken parallel mit den Strecksehnen und Nerven an.

Von lokalisierten Abscessen sind noch die Interdigitalphlegmonen und die Vereiterung der normalen und pathologischen Schleimbeutel (Hallux valgus!) zu erwähnen.

Zehenphlegmonen.

Die Zeheneiterungen entsprechen in ihrem Verlauf und ihrer Behandlung im großen und ganzen denen der Finger, auch hier kann es sich um subcutane, Sehnen- und Knochenpanaritien handeln. Im Gegensatz zur Hand wird man sich aber bei einem langwierigen eitrigen Prozeß am Fuß eher zur Opferung einer oder mehrerer Zehen entschließen. Die Bedeutung der Zehenphlegmone liegt mehr in der Gefahr des Übergreifens auf den Fuß (Fußsohlenphlegmone). Eine Sonderstellung nehmen die Zehen durch das häufige Ergriffensein bei Gangrän jeder Ätiologie ein. Neben der Sicherstellung der Herkunft einer Gangrän (Diabetes, Arteriosklerose, Endarteriitis obliterans, Raynaud, Ergotismus, Carbol, Erfrierung, Verbrennung, Embolie und Thrombose u. s. w.) muß man bestrebt sein, die Gangrän in ein trockenes Mumi- fizieren zu überführen durch Heißluft, Puderverbände u. s. w. (keine feuchten Ver- bände). Daneben sucht man die Circulationsverhältnisse zu bessern (Hochlagerung, Heißluft, Wechselbäder, Gefäßoperationen wie Sympathektomie oder Transplantation der Arteria femoralis in die Vene nach Wieting; beide noch umstritten). Bei der Diabetesphlegmone Insulinbehandlung und Diät. Man wartet bei der Gangrän die Demarkierung ab, nur bei Phlegmonen im Anschluß an den Brand soll man bald amputieren. Bei Arteriosklerose und Diabetes stehen wir auf dem von Heidenhain gekennzeichneten und von v. Bergmann stets vertretenen Standpunkt, die Amputation im Oberschenkel vorzunehmen, wenn der Brand bis zur Fußwurzel fortgeschritten ist (glatte Amputation ohne große Hautplastik).

Anhang: Gasödemerkrankung.

Hier: ist unsere Handlungsweise nach den Kriegserfahrungen so aktiv wie nur möglich. Die Gasödemerkrankung stellt sich in der Friedenspraxis durch schwere, mit Erde verschmutzte Verletzungen (Überfahrung, Explosionen u.s.w.) ein (Brunner); als seltene Komplikation ist sie in letzter Zeit nach Injektionen von Ampulleninhalt (Knauer, Kemkes, Koopmann, Nauwerk u. a.) beschrieben worden, nach deren Applikation (Asthmolysin, Afenil, Coffein u.s.w.) sich in 24—48 Stunden typischer Gasbrand entwickelte, Die Gasödemerkrankung ist eine Mischinfektion von Anaerobiern aus der Gruppe der Rauschbrand-, Pararauschbrändbacillen und des Fränkelschen Gasbacillus, von denen Aschoff die Pararauschbrandbacillen, Zeißler den Fränkel- schen Gasbacillus für die Haupterreger hält. Die klinische Einteilung in Gasbrand (Fränkel) und malignes Ödem hat sich nach Aschoff auf Grund der Kriegs- erfahrungen nicht bewährt, da beide Krankheitsbilder sich vermischen, er empfiehlt die Bezeichnung „Gasödemerkrankung“. Wegen der kurzen Inkubation (3— 12 Stunden nach Wieting, 11—20 Stunden nach Schöne) und des rapiden Fortschreitens ist schnellstes chirurgisches Eingreifen am Platze. An erster Stelle steht die Prophylaxe:

282 Unger-Heuß.

Excision des ganzen Wundkanals unter breiter Freilegung aller Taschen und Ent- fernung aller Nekrosen bei jeder verschmutzten und verdächtigen Wunde (Garre, Ritter, Sauerbruch, Kroh). Tappeiner, Bier, Sehrt empfehlen Dauerstauungen, bei denen die Binde bis 14 Tage nicht gelöst wird. Klapp, Dönitz u.a. wandten die Tiefenantisepsis (Vuzin) an. Gute Erfolge hat man während des Krieges mit dem „Fränkel-Serum Höchst 1001“, das gegen den Fränkelschen und die Para- rauschbrandbacillen wirksam ist, bei prophylaktischer Infektion gesehen; von nicht prophylaktisch gespritzten starben 74%, von gespritzten nur 9% an Gasödem (Klose zitiert nach Aschoff). Weinberg berichtet über 50 Heilungen bei 60 Gas- ödempatienten, die er mit seinem französischen Serum (Serum antiperfringens, anti- vibrion septique, antioedematiens und antihistolyticum) behandelte. Zeißler empfiehlt die prophylaktische intravenöse Seruminjektion z. B. auch bei mit Gasödembacillen infizierten Aborten, wenn die Erreger im Blut nachgewiesen sind.

Bei ausgebildeter Gasphlegmone (braunroter oder bläulicher erysipelartiger Schwellung, Lymphangitis, Knistern im Gewebe, ikterischer Verfärbung) ist von der Serumtherapie nicht mehr viel zu erwarten. Man kann dann die ergriffenen Weich- teile rücksichtslos bis auf die Knochen inzidieren mit möglichster Entfernung des befallenen Gewebes. Spülungen mit sauerstoffreichen Lösungen (H,O,, Kalium per- manganicum, Dakinscher Lösung) und damit getränkte Tampons sind geeignet, die Wachstumsbedingungen der Anaerobier zu verschlechtern. Machen sich trotzdem die geringsten Zeichen des Fortschreitens bemerkbar, so ist die hohe Amputation bzw. Exartikulation das Verfahren, das das Leben noch retten kann. Da in den seltensten Fällen Fränkel-Serum zur Hand sein wird, dürfte es für die Praxis stets am besten sein, bei Nachweis von Gasentwicklung gleich zu amputieren, u. zw. hoch im Oberarm, wenn der Unterarm ergriffen ist, und hoch im Oberschenkel bei Gasbrand der unteren ‚Extremität. Aber auch dann sind die Resultate quoad vitam nach unseren Erfahrungen schlecht. Nachahmenswert scheint uns der Vor- schlag Coenens, bei Gasödemerkrankungen eine vitale Bluttransfusion vorzunehmen, mit der es ihm gelang, zwei aussichtslose Fälle zu retten: „Was nach der Absetzung der gasfaulen Extremität Ströme von Campher, Koffein, Kochsalzlösung, Digipurat nicht vermocht hatten, vollbrachte das übergeleitete lebende Blut mit einem Gchlage Auch Heim berichtet einen geheilten Fall (Gasbrand des Uterus), dem er nach der Totalexstirpation Blut transfundierte.

Literatur. Aschoff, K1. Woch. 1923, Nr. 49. Baecker, Zbl. f. Gyn. 1922, Nr.31. Baumann, Münch. med. Woch. 1916, Nr. 51; 1918, Nr. 47; 1923, Nr. 23/24. Becher, Münch. med. Woch. 1918, Nr. 47. Bertelmeyer, Münch. med. Woch. "1906, Nr. 14. Bier, Hyperamie als Heilmittel. B. z. kl. Chir. C; Berl. kl. Woch. 1917. Bier, Braun, Kümmel, Chir. Operat ehre 1923. Braun, B.z.kl. Chir. XCVIII: Zbl. f. Chir. 1916, Nr.3. Breslauer, Zbl. f. Chir. 1918, Nr. 17. Brunner, Zbl. f. Chir. 1922, Nr. 39; "1923, Nr. 12; KI. Woch. 1924, Nr. 7. Brunner, v. Gonzenbach u. Ritter, A.f. kl. Chir. CXI, H. 3. Brunner u. v. Gonzenbach, AÀ. f. kl. Chir. CXXV/2; CXXX;/2. Brunner u. Ritter, Kl. Woch. 1923, Nr. 27. A. Borchard, Hdndb. f. d. pr. Chir. Bumm, Med. Kl. 1923, Nr. 1. Busch, A. f. kl. Chir. CIX. Chiari, Zbl. f. Chir. 1922, Nr. 35. Coenen, B. z. kl. Chir. CII, H. 3; Erg. d. Chir. u. Orth. 1919, XI. Dönitz, Berl. kl. Woch. 1918, p. 175. Eden, Handb. d. pr. Chir. V. Erdheim, A. f. kl. Chir. CVI, H. 1; CXIII, H.4. Fasiani, Rif. med. Jahrg. 38, Nr. 13. Felber, Ztschr. f. ur. Chir. IX, H. 4/5. - Fründ, B. z. kl. Chir. CXIV. Garre, B. z. kl. Chir. XCVI. Glas, D. med. Woch. 1922, Nr. 41. Guisez, Bull. d’oto-rhino-laryng. XX, Nr. 1. Hamant, R. med. de l'est L, Nr. 2. Heim, Ztschr. f. Geb. LXXXVII. Haertel u. v. Kishalmy, D. med. Woch. 1921, Nr. 48. - Henessy u. Fletcher, Lanc. CIC, Nr. 5055. Hofmann, Zol. f. Chir. 1903, Nr. 31; 1918, Nr. 51. Kemkes, D med. Woch. 1923, Nr. 18. Kepler u. Hoffmann, A. f. kl Chir. 'CXIII, HA Keysser, D. Z. f. Chir. CLXII, H. 1/2; B. z. kl. Chir. CXVI, H. 1. Klapp, Münch. med. Woch. 1905, Nr. 16; B. z. kl. Chir. CXHI, H. 1; D. med. Woch. 1921, Nr. 40. Klapp u. Beck, Das Panaritium (Hirzel 1923). Knauer, KI. Woch. 1924, Nr. 5. Koopmann, Med. KI. 1921, p. 465. Krabbel, D. med. Woch. 1921, Nr. 12. Kroh, Zbl. f. Chir. 1919, Nr 3; B. z. kl. Chir. CHL Küttner, Bier, Braun, Kümmel, Chir. Operat. -Lehre 1923. Laewen, Zbl. f.

Chir. 1923, Nr. 22; 1923, Nr. 39. Láng, D. Z. f. Chir. CLVIII, H. 5/6; Erg. d. Chir. u. Orth. 1922, XV. Lexer, Münch. med. Woch. 1906, Nr. 14; Handb. d. pr. Chir. 1922; Allg. Chir. 1920. -

Die Behandlung der Phlegmone. 283

Martens, A. f. kl. Chir. CXV1/4. Melchior, B. z. kl. Chir. XCV. Miyake, Mitt. a. d. Gr. V. Morgenroth, Kl. Woch. 1922, Nr.8. Morgenroth u. Abraham, D. med. Woch 1920, Nr.3. Morgenroth u. Schnitzer, D. med. Woch. 1923, Nr. 23. Morgenroth, Schnitzer u. Rosen- berg, D. med. Woch. 1921, Nr. 4. Nauwerk, Münch. med. Woch. 1918, p. 945. Neufeld, A. f. kl. Chir. CXXI. Nordmann, Prakticum d Chir. Nötzel, Zbl. f. Chir. 1918, Nr. 3. Nößke, Münch. med. Woch. 1913. Payr, D. Z. f. Chir. CXXXIX. Philipowicz, A. f. kl. Chir. CX. Pika u. Billroth, Handb. d. Chir. 1865. Rehn, Kl. Woch. 1922, Nr. 43. Ritter, B. z. kl. Chir. XCVII; Münch. med. Woch. 1918, Nr. 2; Kl. Woch. 1923, Nr. 2. Rosenstein, D. med. Woch. 1921, Nr. 44; Berl. kl. Woch. 1918, Nr. 7. Rost, Münch. med. Woch. 1918, Nr. 51; Kl. Woch. 1922, Nr. 46. Sachs, Berl. kl. Woch 1920, Nr. 14; 1921, Nr. 33. Sauerbruch, Kriegschir. Erfahrungen, Berlin 1916. Sauerbruch, Bier, Braun, Kümmel, Operat.- Lehre 1923. Sehrt, Münch. med. Woch. 1915, Nr. 37; Med. Kl. 1916, Nr. 28. Schelenz, Berl. kl. Woch. 1921, Nr. 40. Schloffer, Zbl. f. Chir. 1924, Nr. 3. Schöne, D Z. f. Chir. CXLIII; Handb. d. ärztl. Erfahrungen im Weltkrieg 1914/18. Schubert, Zbl. f. Chir. 1923, Nr.3. Staub, Kl. Woch. 1924, Nr. 2/3. Steichele, Zbl. f. Gyn. 1922, Nr. 27. Steinthal, Handb d pr. Chir. Tappeiner, D. Z. f. Chir. CXLVII. Thies, Münch. med. Woch. 1916, Nr. 32. Tillmanns, D. med. Woch. 1908, Nr. 42. Völker-Wossidlo, Urol. Operat.-Lehre 1918. Vorpahl, Münch. med. Woch. 1921, Nr. 9. Wieting, D. Z. f. Chir. CXLI. Wolfsohn, A. f. kl. Chir. CXIV/3. Zeißler, Kl. Woch. 1923, Nr.33. Zuckerkandl, Handb. d. pr. Chir.

Das Schielen und seine Behandlung. Von Priv.-Doz. Dr. W. Comberg und Prof. W. Meisner, Berlin. Mit 5 Abbildungen im Text.

Inhaltsübersicht.

I. Begriff des Schielens: Konkomitierendes Schielen und Lähmungsschielen. I. Physiologisches über Augenbewegungen und binokulares Sehen:

Die Augenbewegungen (Einfach koordinierte und symmetrisch koordinierte Bewe- gungen); Augenbewegungen und binokularer Sehakt; verschiedene Grade des binokularen Sehaktes.

IL Die gewöhnlichen Schielformen: Ein- und Auswärtsschielen; latentes Schielen; scheinbares Schielen. Zeitweises und dauerndes Schielen; monokulares und alternierendes Schielen.

IV. Qualitative Schielgrade: Verhalten der Richtungsgemeinschaft; Verhalten des Schiel- augenbildwertes; Verhalten der Fusion.

V. Klinisches Bild der gewöhnlichen Schielformen: Strabismus convergens; Strabis- mus divergens.

VI. Heterophorie; Insuffizienz der Konvergenz.

VII. Ursache des Schielens: Der Standpunkt von Albrecht v. Gräfe, von Donders, Javal, Alfred Gräfe, Worth, Bielschowsky und Tschermak; Bedeutung der Erblichkeit.

VIII. Untersuchungsmethoden des Schielens: Feststellung des Schielwinkels; Prüfung des Binokularsehens; Prüfung der Fusion und des Tiefensehens; Prüfung von Adduction und Abduction. Praktischer klinischer Untersuchungsgang.

IX. Therapie: Allgemeines. Korrektion der Ametropie. Besserung der Schielamblyopie. Hebung des Fusionsvermögens. Schieloperationen. Behandlung der Heterophorie.

I. Begriff des Schielens.

Mit dem Worte Schielen verbindet jeder Laie einen ganz bestimmten Begriff: ein Auge schielt, wenn es abseits steht und nicht richtig auf den betrachteten Gegen- stand hinblickt. Man wird sich solcher einfacher Definition im wesentlichen anschließen können. Ein Auge schielt, wenn seine Einstellung bei der beidäugigen Betrachtung von Dingen fehlerhaft ist. Während des normalen binokularen Sehaktes schneiden sich beide Gesichtslinien, d h. die durch Fovea und optischen Mittelpunkt (den Knoten- punkt) gehenden Graden, genau in dem fixierten Punkt. Dieser wird also beiderseits in der Fovea abgebildet. Der Bewegungsmechanismus der Augäpfel ist so fein ein- gestellt, daß mit jeder Blickänderung automatisch eine passende Neueinstellung der

Das Schielen und seine Behandlung. 285

beiden Gesichtslinien einhergeht. Bei Betrachtung ferner Gegenstände sind sie parallel, bei Nahfixation in wechselndem Grade konvergent, aber stets bleibt die Anpassung die richtige.

Zieht nun eine der beiden Gesichtslinien nicht direkt zu dem fixierten Objekt- punkte hin, sondern an diesem vorbei, so spricht man vom Schielen. Das Schielen kann bedingt sein: |

1. Durch eine Lähmung der Augenmuskeln. Dieses sogenannte Lähmungs- schielen ist zurückzuführen auf bestimmte organische Erkrankungen des motorischen Apparats und muß in einem besonderen Abschnitt zusammen mit der Lehre von den Augenmuskellähmungen behandelt werden (Lähmungsschielen, Strabismus para- Iyticus).

2. Durch einen funktionellen Einstellungsfehler, ohne daß eine Muskellähmung vorhanden ist. Daß in diesem Falle keine Lähmung der Grund der Abweichung ist, zeigt sich daran, daß die Bewegungen des Schielauges nach Zudecken des andern bei allen frischen Erkrankungen ungehindert sind und daß das Auge dem vor- gehaltenen Finger zu folgen vermag. Das schielende Auge begleitet deshalb auch das andere in einer festen Schielstellung (Strabismus concomitans; Begleitschielen). Diese Art des Schielens ist die gewöhnliche und dem Laien als „Schielen“ bekannt. Das konkomitierende Schielen kann sich aus anatomischen Ursachen (fehlerhafter Bau der Augenhöhlen und des Muskelapparates), aus physiologischen Gründen im Zusammenhang mit Refraktionsfehlern (falsche Konvergenzimpulse bei Kurzsichtigen oder Weitsichtigen) oder aus einer Dysfunktion des Nervensystems (mangelhafte Aus- bildung höherer Centren) herleiten. Es sind zwei wesentliche Unterschiede gegen- über dem Lähmungsschielen vorhanden:

a) Der Grad der Abweichung beim konkomitierenden Schielen ist im Gegen- satz zum Lähmungsschielen für alle Blickrichtungen (z. B. geradeaus, rechts, links) in einem mittleren Blickbereich genau der gleiche. Die Exkursionen des Schielauges sind nicht gehindert wie bei Lähmungen; das Schielauge begleitet das andere, daher der Name konkomitierendes Schielen.

b) Der primäre und der sekundäre Schielwinkel sind beim konkomitierenden Schielen gleich, beim Lähmungsschielen verschieden. Unter primärem Schielwinkel versteht man den Grad der Abweichung des gewöhnlich schielenden Auges beim freien Blick, unter sekundärem Schielwinkel die Abweichung des gewöhnlich nicht schielenden Auges, die eintritt, wenn man dieses mit der Hand bedeckt und das andere zur Einstellung bringt. Wenn man beim konkomitierenden Schielen einen Gegenstand fixieren läßt und das nichtschielende Auge verschließt, so daß das vor- her schielende Auge nun in Fixierstellung geht, dann zeigt sich an dem jetzt ab- geblendeten Auge der gleiche Schielwinkel wie vorher am andern. Bei Lähmungen ist dagegen der sekundäre Schielwinkel deshalb größer als der primäre, weil zur Fixiereinstellung des gelähmten Auges ein viel stärkerer Impuls gehört und dieser sich dem verdeckten Auge mitteilt.

II. Physiologisches über Augenbewegungen und binokulares Sehen.

Die Stellung der Augen beim beidäugigen Sehen ist außer von gewissen anatomischen Vorbedingungen hauptsächlich abhängig von den Bewegungen der Augenmuskulatur und den zugehörigen nervösen Impulsen. Zum Verständnis des Schielens wird es notwendig, hier zunächst einiges über die Physiologie der Augen- bewegungen und den binokularen Sehakt vorauszuschicken.

286 Comberg-Meisner.

- Charakteristik der Augenbewegungen. Man könnte die Stellungsänderung eines Punktes der Augapfeloberfläche bei jeder Bewegung mit Hilfe der drei Raum- koordinaten bestimmen. Da der Augapfel jedoch einer Kugel vergleichbar ist, die ihre Bewegungen in der Augenhöhle nur durch Drehungen auszuführen vermag, so ist es am einfachsten, jede dieser Bewegungen eben wie die Bewegung einer Kugel in einem Lager auf Grund der Drehung um verschiedene Achsen zu beschreiben. Man hat dabei am besten 3 Hauptachsen zu unterscheiden: Eine, die in frontaler Richtung horizontal verläuft, eine vertikale und eine sagittale Achse. Mit Hilfe der Kombination von Bewegungen in diesen drei Achsen läßt sich jede Bewegung des Augapfels darstellen. An der sichtbaren Vorderfläche des Augapfels markieren sich die Bewegungen um diese Achsen entweder als Hebung oder Senkung, als Links- oder Rechtswendung oder bei Drehung um die sagittale Achse als sogenannte „Rollung“, die entweder im Sinne des Uhrzeigers oder in gegenläufiger Richtung gehen kann. Die Achsen aller Bewegungen schneiden sich im Drehpunkt des Auges, der etwa 1'/,—2 mm hinter der Mitte der sagittalen Augenachse liegt.

Die Bewegungen der Augäpfel unterliegen den Gesetzen einer Koordi- nation. Es kann nicht ein Augapfel in eine bestimmte Richtung bewegt werden, ohne daß der zweite Augapfel eine zugehörige, für die Einstellung zum beidäugigen Sehen passende Mitbewegung macht. Die Gesetze, nach denen diese Bewegungen verlaufen, sind ziemlich genau bekannt; man unterscheidet: die einfach koordinierten und die symmetrisch koordinierten Bewegungen.

Einfach koordinierte Bewegungen der Augen sind solche, bei denen der Abstand des Blickpunktes unverändert bleibt, z. B. solche, bei denen die Augen das Gesichtsfeld in der Ferne absuchen. In diesem Falle nehmen beide Augen in jedem Punkt ihrer Bahn stets die gleiche Stellung ein, u.zw. eine solche, als wäre diese nach dem Listingschen Gesetz aus der Primärstellung heraus zu stande gekommen. Dabei ist Bewegungsrichtung, Bewegungsgrad und eventuelle Drehung für jeden Augapfel gleich. Waren die Augenachsen parallel, so bleiben sie es auch, hatten sie eine bestimmte Konvergenz, so wird diese nicht geändert, kommt eine Drehung zu stande, so erfolgt sie beiderseits in gleichem Sinne; beide Netzhäute bleiben gleich orientiert.

Anders verhält es sich bei den symmetrisch koordinierten Bewegungen; das sind solche, die mit einer Änderung der Konvergenz der Gesichtslinien einher- gehen. Hierbei wird die Gesichtslinie jedes Auges in annähernd symmetrischer Weise zu der Gesichtslinie des mitten zwischen beiden zu denkenden Cyklopenauges derart verschoben, daß sie mit dieser mehr oder weniger konvergieren. Dabei treten häufig symmetrische Rollungen der Augäpfel hinzu, derart, daß die anatomischen Vertikal- meridiane der Netzhäute dann nicht mehr parallel stehen:

Bedeutung der Augenbewegungen für das binokulare Sehen. Der physiologische Reiz, der bei den einfach koordinierten Bewegungen die Augäpfel leitet, ist also ein anderer als der der symmetrischen Impulse. Jedoch sind beide Arten der Bewegung unerläßlich zur korrekten binokularen Orientierung im Raum. Während für die fernen Gegenstände das Einhalten der Augenstellung mit parallelen Achsen genügt, um die beiderseitige genaue Abbildung der fixierten Punkte auf der Stelle des schärfsten Sehens zu gewährleisten, muß bei näherer, wechselnder Entfernung mit dem genauen Hinblicken von Punkt zu Punkt auch ein wechselnder Konvergenzgrad verbunden werden, d. h. die Augenachsen müssen in wechselndem Grade wohl reguliert zueinander hingeneigt werden. Der Zweck dieser mit großer Genauigkeit betätigten Stellungsregulation ist die Erlangung größter Fein-

Das Schielen und seine Behandlung. 287

heit beim binokularen Sehen und die Vermeidung von störenden Doppelbildern. Denn wenn stets beide Maculae auch beim schnellen Umherblicken im Raum das Bild der fixierten Objektpunkte erhalten und identische oder nahezu identische, d. h. gleich weit und gleichsinnig von den Maculae auf der Netzhaut orientierte Punkte das Bild der im gleichen Horopterkreise liegenden Außendinge empfangen, dann vermag die Psyche auf Grund dieser gleichsinnigen Netzhautorientierung ein einheitliches Bild aufzunehmen (einfaches binokulares Sehen), das meistens auch noch mit großer Genauigkeit bezüglich der.Tiefe ausgedeutet werden kann (binokulares Tiefensehen).

Die Leichtigkeit, mit der die genaue Einstellung unterhalten wird, ist anderer- seits wieder abhängig von der Güte des beidäugigen Sehens. Je besser das beidäugige Sehen ist, je müheloser und je präziser der damit verbundene psychische Akt abläuft, um so genauer fallen auch in jedem Augenblick die automatischen Impulse aus, die zur Korrektion der dazugehörigen Augenbewegungen dienen. Ähn- lich wie die gute Funktion der sensiblen Bahnen zum sicheren Gehen und Greifen nötig ist und man z. B. beim Tabiker die hier allerdings in der Zuleitung liegende Störung des sensiblen Reizempfanges sofort an der Unsicherheit des Ganges und der Hantierungen untrüglich erkennen kann, so spiegelt sich auch die Ungenauig- keit in der psychischen Aufnahme der binokularen Netzhautbilder sofort in einer Unsicherheit und Ungenauigkeit der zugehörigen binokularen Augeneinstellung wider. In der Erkenntnis dieses Umstandes liegt eins der wichtigsten Momente zum Verständnis des konkomitierenden Schielens.

Abstufung des binokularen Sehens. Die Leistung des binokularen Sehens läßt sich in verschiedene Grade einteilen, u. zw. kann man sie danach ab- stufen, inwieweit die Augen befähigt sind, die auf identische und benachbarte Punkte der beiden Netzhäute fallenden Bilder zu einem psychischen Gesamtbild umzuarbeiten. Besteht ein völliger Mangel dieser Fähigkeit, so ist häufig geradezu eine Abwehrtendenz der Psyche vorhanden, die sich gegen die gleichzeitige Auf- nahme der Bilder beider Augen richtet; da das eine dieser Bilder wegen der Ver- schiedenheiten der Details nur stören würde, so wird es meist im Bewußtsein unter- drückt. Besteht aber die gut ausgebildete Fähigkeit zur Vereinigung auch solcher Bilder, die sich zwar ähnlich sind, aber relativ geringe Verschiedenheiten zeigen, die durch den verschiedenen Standpunkt beider Augen zu dem gesehenen Gegenstand bedingt sind, dann kommt es zu einer höheren Ausbildung des binokularen Sehaktes, d. h. es werden dann mit Hilfe dieser Bildverschiedenheiten die Tiefenunterschiede erkannt, und es entsteht die Fähigkeit zum stereoskopischen Sehen. Die Psyche hat es gelernt, aus dem Grade der Verschiedenheit ein Urteil über die Stellung der Dinge im Raume abzuleiten und die Tiefe plastisch zu empfinden. Natürlich muß zu dieser höchsten Leistung auch die muskuläre Einstellung besonders genau geregelt sein.

Man kann bezüglich der Verhältnisse, die bei der Verarbeitung beider Netzhaut- bilder gültig sind, folgende Einteilung vornehmen:

1. Die Fähigkeit zum binokularen Sehakt ist überhaupt nicht vorhanden. Als- dann finden sich stets Einstellungsfehler eines Auges, und beim beidäugigen Hin- blicken wird zur Vermeidung von Doppelbildern die Wahrnehmung der mit einem Auge gesehenen Dinge mehr oder weniger psychisch gehemmt oder, wie man sagt, „unterdrückt“.

2. Es besteht die Fähigkeit zum einfachen Binokularsehen, aber Unfähigkeit, die bei dem natürlichen Sehen vorkommenden Abweichungen von der identischen Lage auf der Netzhaut beider Augen genügend zu verarbeiten, es fehlt also das binokulare Tiefensehen. Auch hierbei ist die binokulare Einstellung häufig mangelhaft.

288 Comberg-Meisner.

3. Es besteht binokulares Sehen mit lebhafter Tendenz, durch angepaßte Be- wegungen die nötige Stellung der Augenachsen automatisch zu korrigieren und das Bild beider Augen zu einem einheitlichen zu verschmelzen (Fusionstendenz). Man hat hier zwei weitere Grade zu unterscheiden:

a) Das Tiefensehen ist nicht richtig entwickelt oder es wird wegen häufiger Unterdrückung des Bildes einer Netzhaut nicht ausgenutzt.

b) Es besteht fein entwickeltes Tiefensehen; bei dem höchsten Grade dieses Tiefensehens sind beide Augen ganz oder nahezu gleichwertig.

Eine feste Klassifikation dieser für das Verständnis des Schielens wichtigen Stufen des binokularen Sehens wird deshalb schwierig, weil selbst bei gut ausge- bildetem und unter günstigen Bedingungen vorzüglichem Tiefensehen eine gewisse Tendenz bestehen. kann, das Bild eines Auges gelegentlich zu unterdrücken. Der Normale hat diese Tendenz nur, wenn beide Augen ganz verschiedene Bilder sehen, wie z.B. beim Mikroskopieren. Bei Minderwertigkeit des binokularen Sehaktes tritt diese „Exklusion“ indes auch auf, wenn beide Augen gleiche oder nahezu gleiche Bilder erhalten; sie dient zunächst dazu, bei fehlerhafter Stellung die Wahrnehmung von Doppelbildern zu verhindern. Die Unterdrückung des Bildes an einem Auge ist daher als eine Art psychischer Fähigkeit zu betrachten, die, einmal erlernt, nicht so leicht wieder verlernt werden kann. Leider spielt diese „Kunst“ bei den Schielenden eine große Rolle, und alle Bemühungen unserer Therapie können daran scheitern, daß es nicht gelingt, eine Verstärkung der Tendenz zu gleichzeitiger psychischer Ausdeutung der beidäugigen Eindrücke zu erwecken, die bei jedem Normalsehenden ohne weiteres vorhanden ist und spielend betätigt wird.

III. Übersicht über die verschiedenen Schielformen.

Man muß sich vorstellen, daß die vorher charakterisierte Fähigkeit der Augen zur Einstellung für den binokularen Sehakt häufig aus einer Reihe von später zu erörternden Gründen nicht erlernt, mangelhaft ausgebildet oder sogar wieder ver- lernt wird, und daß die physiologischen Kräfte, welche die Augenachsen sonst einrichten, alsdann nicht mehr genügend wirksam werden. In diesem Falle kommt es nur noch zur richtigen Einstellung eines, u. zw. gewöhnlich des Auges, welches die besseren Sehbedingungen hat, während das andere zugleich mit der richtigen Einstellung auch die feine Kontrolle durch den nervösen Apparat verliert und sich aus diesem Grunde in auffallender Weise der Wirkung der richtenden Kräfte ent- zieht. Die Einstellung des Auges wird falsch, das Auge schielt. Im folgenden soll zunächst eine kurze Übersicht über die verschiedenen Formen des Schielens gegeben werden.

Einwärts- und Auswärtsschielen. Die häufigste Art des Schielens ist durch eine Abweichung des Auges in der Horizontalebene gekennzeichnet. Man spricht von Konvergenzschielen (Strabismus convergens), wenn die Blicklinien schon für die Ferne gekreuzt sind und bei Betrachtung näher gelegener Gegenstände stets eine stärkere Einwärtswendung aufweisen, als notwendig ist. Die Gesichtslinie des Schielauges zieht nasenwärts an der Richtung zum Objekt vorüber. Diesem Einwärts- schielen entgegengesetzt ist das Auswärts- oder Divergenzschielen (Strabis- mus divergens). Während beim Einwärtsschielen die Verschiebung der Gesichts- linie des schielenden Auges in derselben Richtung erfolgt wie beim natürlichen Sehen unter der Konvergenz und man diese Schielform somit auch durch eine über- mäßige Einmischung eines physiologischen Vorganges, nämlich des Konvergierens,

Das Schielen und seine Behandlung. 289

erklären könnte, findet sich die beim Divergenzschielen vorhandene Einstellung der beiden Blicklinien, wenigstens soweit sie sich beim Blick in die Ferne zeigt, während des physiologischen Sehens niemals. Die Gesichtslinie des schielenden Auges zieht nach temporalwärts von der fixierten Stelle des Objektes vorbei, und die Blicklinien schneiden sich hinter dem Auge des Schielenden.

Der quantitative Grad des Schielens zeigt sich an der Größe des Schielwinkels, d. h. des Winkels, welchen die Gesichtslinie des Schielauges beim Blick in die Ferne mit der normalen Fixierlinie einschließt. Da beim konkomitierenden Schielen, wie vorher erwähnt, das Schielauge das normale Auge in allen Stellungen mit annähernd gleichem Schielwinkel begleitet, so resultiert daraus, daß das schielende Auge beim Konvergenzschielen in der entsprechenden seitlichen Blickrichtung eine vermehrte Adduction, beim Strabismus divergens eine vermehrte Abduction zeigt. Der Grad dieser Adductions- und Abductionsvermehrung richtet sich nicht nur nach dem Schielwinkel, sondern ist, auch aus anatomischen Gründen, individuell verschieden. Bei länger bestehendem Schielen tritt auch öfter ein Mangel an Beweglichkeit beim Blick in der entgegengesetzten Richtung auf, d.h. auch bei monokularer Prüfung folgt das Auge dem vorgehaltenen Finger nicht bis in die normale Endstellung (verminderte Abduction beim Konvergenzschielen, verminderte Adduction beim Divergenzschielen). Diese Beweglichkeitsverminderung wird durch Mangel an Übung erklärt.

Höhenschielen. Es gibt auch Schielformen mit mehr oder weniger starker Höhenabweichung; indes ist Höhenschielen ohne Seitenabweichung höchst selten. Meist handelt es sich nur um eine Höhenablenkung, die mit einem Konvergenz- und Divergenzschielen verknüpft ist.

Die Erscheinungen, die man bei diesem Höhenschielen beobachtet, sind zum Teil recht komplizierte. Nicht alle Fälle zeigen nämlich bezüglich der Höhenkomponente das anfangs erwähnte Merkmal des konkomitierenden Schielens, daß nach Verdecken des gewöhnlich fixierenden Auges mit der Einstellung des Schielauges das andere denselben Schielwinkel zeigt. Es müßte bei der Höhenablenkung, wenn vorher eine Abweichung des Schielauges nach oben bestand, nunmehr das andere Auge um denselben Betrag nach unten abweichen. Das tut es aber nur in einem Teil der Fälle. Man hat vielmehr den Eindruck, als ob die Höhenabweichung eines Auges häufig durch einen isolierten reflektorischen Impuls veranlaßt sei, und spricht in solchen Fällen von nicht konkomitierenden dissoziierten Vertikalablenkungen (Biel- schowsky).

Latentes Schielen. Den manifesten Schielformen sind die latenten gegenüber- zustellen. Beim latenten Schielen (der sogenannten „Heterophorie“) besteht nur eine gewisse Neigung zur falschen Einstellung des Auges; beim gewöhnlichen binokularen Sehen kommt es aber nicht zum Schielen, weil eine starke physiolo- gische Tendenz vorhanden ist, diese Neigung zu überwinden, nämlich eben die schon vorher gekennzeichnete, für das gute binokulare Sehen so förderliche Fusions- tendenz. Auch die Heterophorie läßt sich meist als latentes Einwärts- und Aus- wärtsschielen charakterisieren. Manchmal kann sich aus dem latenten Schielen später ein manifestes Schielen entwickeln. Meist besteht nur eine erschwerte Einstellung für bestimmte Blickrichtungen und bei bestimmter Entfernung des Ob- jektes. Das letztere zeigt sich als Insuffizienz der Konvergenz, falls für entfernte Objekte die Augenstellung zwanglos richtig ist, dagegen auf dynamischem Wege ein Widerstand überwunden werden muß, wenn die Augenachsen bei Betrachtung naher Objekte stärker konvergent gemacht werden sollen.

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 19

290 Comberg-Meisner.

Die latenten Schielformen treten äußerlich gewöhnlich nicht in Erscheinung; man sieht es den daran Leidenden ohne nähere Untersuchung nicht an, daß ein Fehler vorliegt. Trotzdem kann das latente Schielen sehr unangenehm sein, da die Neigung zu falscher Einstellung dauernd durch eine entgegenwirkende Muskel- anspannung wettgemacht werden muß und da der hierzu nötige Mehraufwand an Innervation häufig als starke Anstrengung empfunden wird. |

Scheinbares Schielen. Schielen kann dadurch vorgetäuscht werden, daß die Stelle des schärfsten Sehens weiter als gewöhnlich von der geometrischen Achse des Auges entfernt liegt. Dann entsteht zwischen Gesichtslinie und Augenachse ein meß- barer Winkel (Winkel Gamma). Obzwar sich Augenachse und Gesichtslinie niemals völlig decken, ist dieser Winkel für gewöhnlich so klein, daß das Auge schein- bar stets mit der optischen Achse annähernd auf die fixierten Gegenstände gerichtet ist. Liegt die Fovea exzentrischer, dann geht die Gesichtslinie an der Pupillenmitte vorbei und der vordere Pol des Augapfels weicht deutlich nach auswärts oder ein- wärts ab. Hierdurch wird fälschlich der Eindruck des Schielens hervorgerufen.

Liegt die Macula zu weit nasal, dann sieht das Auge scheinbar nach auswärts, und man spricht von positivem Winkel Gamma; im entgegengesetzten Falle nennt man den Winkel negativ. Geringe Positivität des Winkels Gamma ist so häufig, daß das entsprechende geringfügige scheinbare Divergenzschielen auch vom Laien meist nicht als Schielen angesehen wird. Die Augen scheinen etwas verträumt in die Ferne zu schauen, und der Fixierpunkt scheint stets etwas weiter zu liegen, als er in Wirklich- keit ist. Während der positive Winkel Gamma meist keinen Schönheitsfehler bedeutet, vielmehr oft einen interessanten Blick verleiht, macht das scheinbare Einwärtsschielen einen auffallend unangenehmen Eindruck. Es ist viel seltener als das scheinbare Aus- wärtsschielen. Ob ein Auge nur scheinbar schielt, läßt sich sehr leicht feststellen, wenn man während des Fixierens das andere zudeckt; macht das scheinbar abge- wichene alsdann keine Einstellung und besteht keine Schwachsichtigkeit, dann handelt es sich nur um scheinbares Schielen.

Verschiedene Arten des Schielens. Nach der Art des Auftretens und der Verteilung des Schielens auf beide Augen unterscheidet man verschiedene Formen, u. ZW.:

1. Gelegenheitsschielen;

2. periodisches Schielen;

3. dauerndes Schielen.

Bezüglich der Beteiligung der einzelnen Augen unterscheidet man: 1. Monokulares Schielen;

2. alternierendes Schielen.

Die erste hier genannte Form des Schielens, das Gelegenheitsschielen, braucht nur sehr selten bemerkbar zu werden. Es kommt zu stande aus den ver- schiedensten Ursachen. Manchmal ist eine mangelhafte Einstellungslage der Augen, d. h. also latentes Schielen, die Ursache. Bei irgend einer Gelegenheit kann jeder, der eine Heterophorie besitzt, für einen kurzen Augenblick eine mangelhafte Ein- stellung zeigen. Bei den meisten dieser Menschen ist das aber nur der Fall, wenn ein Auge zufällig vorher vom Sehen ausgeschlossen wurde, oder bei abnormer An- spannung der Konvergenz etc. Auch bei nahezu normaler Ruhelage können Gelegen- heitsursachen ein Schielen hervorrufen, wenn der binokulare Sehakt nicht gut aus- gebildet oder noch nicht eingeübt ist. Mangelhafte Einübung des binokularen Sehaktes ist vor allen Dingen bei den Säuglingen vorhanden, bei denen jeder, der sie beob-

Das Schielen und seine Behandlung. 291

achtet, ab und zu eine Schielstellung wahrnehmen kann, ohne daß ein dauerndes Schielen daraus resultiert. Ungenügend ist der binokulare Sehakt dauernd, wenn eine Exklusionstendenz für ein Auge besteht, oder wenn optische Hindernisse vorliegen (Hornhauttrübungen, Star, fehlerhafte Refraktion), oder wenn aus andern Gründen Schwachsichtigkeit auf einem Auge besteht. Bei all diesen Menschen kann, auch wenn sie nicht dauernd schielen, hin und wieder eine Schieleinstellung sichtbar werden, da hier die gute reflektorische Kontrolle für den motorischen Apparat nicht vorhanden ist. Unmittelbarer Anlaß zum zeitweisen Auftreten des Schielens ist das Vorhandensein abnormer Reize im Nervensystem, wie es bei starker körperlicher Ermüdung, während starker Erregungen etc. vorkommt. Wenn eine latente Abweichung besteht, so kann auch im Anschluß an stärkere Ermüdung, z. B. beim Lesen nach vorhergehender anstren- gender Tagesarbeit oder beim Lesen kleiner Druckschrift unter schlechter Beleuchtung, das Schielen zeitweise manifest werden.

Das echte periodische Schielen kann eine Abart des hier gekennzeichneten Gelegenheitsschielens sein, wenn abnorme Reize periodisch auftreten. Manchmal findet sich auch ein periodisch zur Erscheinung gelangendes Schielen als Vorläufer des dauernden Schielens.

Das dauernde Schielen entsteht aus den ersten beiden hier genannten Formen, wenn die Schielursache in verstärktem Maße oder andauernd weiter wirkt, u. zw. namentlich bei jugendlichen Individuen und bei ungünstiger Art des Augengebrauchs. Bevorzugt für die Erkrankung am konkomitierenden Schielen sind solche Menschen, bei denen die Beanspruchung der Konvergenz während des gewöhnlichen Sehens eine zu starke oder eine zu geringe ist, wie das namentlich bei Refraktionsfehlern vorkommt. Der Übersichtige muß zum scharfen Sehen auf alle Dinge stärker ak- kommodieren als der Normale, und da mit der Akkommodation die Konvergenz physiologisch zusammengekuppelt ist, so wird mit den Akkommodationsimpulsen stets automatisch ein stärkerer Konvergenzimpuls einhergehen, als nötig wäre. Es entsteht eine dynamische latente Konvergenz, die erst durch einen weiteren Muskel- impuls paralysiert werden muß. Zur Einhaltung des richtigen Konvergenzgrades hat also der Übersichtige erst eine besondere Anstrengung aufzubringen. Geht die An- strengung über einen gewissen Grad hinaus, oder ist das Mißverhältnis zwischen der natürlichen und der nötigen Konvergenzeinstellung zu groß, so tritt schließlich Ermüdung ein, und das Einhalten des richtigen Konvergenzgrades wird nicht möglich. Das Auge folgt dann dem mit der Akkommodation verbundenen starken primären Konvergenzimpuls und geht in konvergente Schielstellung über. Umgekehrt ist es bei der Kurzsichtigkeit; bei dieser wird die Akkommodation weniger und manchmal gar nicht gebraucht, wenn der Fernpunkt so nahe liegt wie die fixierten Gegen- stände. Die natürliche Einstellung ist hier die einer relativen Divergenz und auch aus dieser primären Einstellung muß derrichtige Konvergenzgrad erst dynamisch erzwungen werden. Auch hier tritt schließlich Ermüdung ein oder bei stärkerem Mißverhältnis zwischen natürlicher und zum binokularen Fixieren gebrauchter Einstellung ist die Aufrechterhaltung der nötigen Konvergenz schließlich nicht mehr möglich. Es entsteht zunächst Divergenzschielen beim Blick in die Nähe; dieses wird häufig später dauernd und bleibt auch beim Blick in die Ferne.

Sowohl beim latenten Konvergenz- wie beim latenten Divergenzschielen kommen häufig akzidentelle Ursachen vor, die dann daraus schließlich ein manifestes Schielen entstehen lassen; solche sind vorübergehende Lähmungen mit zurückbleibenden Schwächezuständen, das Auftreten von Hornhautflecken im Anschluß an Erkran- kungen des Auges, Störung der scharfen Abbildung aus anderen Ursachen, wie das

19*

292 Comberg-Meisner.

Auftreten von grauem Star, Glaskörpertrübungen us e Auch das Auftreten ein- seitiger Kurzsichtigkeit, das Vorhandensein von Astigmatismus kann das Schielen begünstigen. Schließlich gibt es auch dauernd wirkende Störungen für die Zusammen- arbeit beider Augen noch anderer Art, z. B. die verschiedene Bildgröße auf den Netz- häuten nach der Staroperation eines Auges oder nach der Korrektion einseitiger starker Kurzsichtigkeit.

Das Schielen tritt weniger leicht auf, wenn vorher schon ein sehr guter bin- okularer Sehakt bestand und die Augen auf Fusion gut eingeübt waren; es kann aber die Neigung zum Schielen auch in kurzer Zeit sich fest einnisten, wenn das gute binokulare Sehen noch nicht ausgebildet war, wie z. B. beim kleinem Kind-

Monokulares Schielen. Bei. diesem schielt immer dasselbe Auge. Deckt man das nichtschielende Auge zu, so geht das vorher schielende in die Fixierstellung über, falls es noch eine genügende Sehschärfe hat. Gibt man das gute Auge jetzt wieder frei, so übernimmt dieses aber sofort aufs neue die Fixation und das Schielen zeigt sich wieder am anderem Auge.

Alternierendes Schielen. Weniger häufig als das einäugige Schielen ist das abwechselnde beider Augen. Der Patient schielt zeitweise mit dem einen, zeitweise mit dem anderen Auge. Es ist das daran zu erkennen, daß entweder spontan oder jederzeit nach Zudecken des zunächst nichtschielenden Auges das andere dauernd die Fixation übernimmt und auch beibehält, wenn man das zuerst nichtschielende wieder freigibt. Indes ist auch bei dieser Art des Schielens meist ein Auge bevorzugt. Es schielt das Auge häufiger, welches die schlechteren optischen Bedingungen hat. Oft entwickelt sich auch aus dem alternierenden Schielen schließlich noch ein einseitiges Schielen, indem das anfangs nur in geringem Maße bevorzugte Auge schließlich allein fixiert und das andere dauernd schielt. Das sieht man vor allen Dingen häufiger bei zunehmender Kurzsichtigkeit, wo das schielende Auge schließ- lich auch bedeutend schwachsichtiger wird.

Es gibt aber auch ein besonderes Bild des alternierenden Schielens bei fast normaler oder gänzlich normaler Refraktion beider Augen. Das Schielen tritt als- dann in den ersten Lebensjahren auf, bleibt das ganze Leben hindurch bestehen und trotzt jeglicher Therapie. Beide Augen haben volle Sehschärfe, aber eine richtige Zusammenarbeit beider Augen (Fusion) läßt sich durch kein Mittel erzielen. Weil diese Art des Schielens meist sehr früh entsteht, weil trotz guter Selhschärfe beider Augen der binokulare Sehakt durch nichts therapeutisch beeinflußt werden kann, hat man angenommen, daß bei diesen Patienten ein angeborener Mangel des Fusions- vermögens besteht.

IV. Die qualitativen Schielgrade.

Man kann sich die verschiedenen Schielfälle in mehrfacher Beziehung qualitativ als abgestuft vorstellen. Diese Abstufungen betreifen:

1. das Verhalten des Schielaugenbildwertes; 2. das Verhalten der Richtungsgemeinschaft; 3. das Verhalten des Fusionsvermögens.

1. Das Verhalten des Schielaugenbildwertes.

Der Wert des Netzhautbildes für den psychischen Sehakt kann wechseln, meist geht eine Änderung des Bildwertes mit der Ausbildung der anomalen Sehrichtungs-

Das Schielen und seine Behandlung. 293

gemeinschaft Hand in Hand. Es ist lange Zeit darüber gestritten worden, ob eine mangelhafte Anlage der zum binokularen Sehen dienenden Bahnen und Centren das Schielen verursache, oder ob man anzunehmen habe, daß diese bei jedem Menschen zunächst in annähernd normaler Weise vorhanden sind und erst durch das Sehen in der Schielstellung eine mangelhafte Entwickung erfahren bzw. verkümmern.

Bei normalen Augen entspricht für gewöhnlich das Aufmerksamkeitscentrum jederseits dem fovealen Gebiet. Beim Auftreten des Schielens würden zunächst äußerst störende Doppelbilder zustande kommen, da sich die Bilder der Foveae nicht mehr decken. Das Sehorgan kann sich nur helfen durch:

a) Unterdrückung der Aufmerksamkeit für die Wahrnehmungen eines Auges. Hiervon wird fast stets das optisch schlechtere Auge betroffen; der Schielende erlernt die Exklusion des zugehörigen Bildes. Bei nicht voll ausgebildeter Exklusion wird das Bild nur dunkler gesehen, ist aber infolgedessen schon weniger störend, so daß Doppelbilder für gewöhnlich nicht mehr empfunden werden; bei stärkeren Graden der Exklusion ist die Wahrnehmung des Bildes gänzlich unterdrückt. (Auch bei normalen Augen kann man bekanntlich das Bild des einen Auges nach einiger Übung leicht unterdrücken, wenn es dem andern gar nicht ähnlich ist, wie das z. B. beim Mikroskopieren oder beim Augenspiegeln vorkommt. Hier lernt jeder, auch der Ungeschickteste, sehr bald vom Bilde des nicht gebrauchten Auges gänzlich zu abstrahieren.) Die Erlernung der Exklusion ist anscheinend aber eine Fähigkeit, die nicht alle Schieler gleich leicht zu stande bringen. Wenn es sich um zwei gleich gute oder zwei nahezu gleich gute Netzhautbilder handelt und besonders wenn die Bilder nicht allzuweit voneinander liegen, würden doch störende Doppelbilder auf- treten können; deshalb kommt es

b) im Laufe des Schielens häufig zu einer Abstandsvergrößerung der beiden Doppelbilder, indem der Schielwinkel zunimmt. Dadurch wird das Bild des vom führenden Auge fixierten Gegenstandes im schielenden Auge weiter von dem Kern- punkt der Aufmerksamkeit (d. h. dem Fixierpunkt des richtig eingestellten Auges) fortgerückt. Mit der Macula des nichtschielenden Auges kommt alsdann eine periphere Netzhautstelle des Schielauges zur Deckung; je peripherer sie ist, um so weniger mengt sie sich beim Sehen durch Wettstreit ein. Durch die Zunahme des Schielwinkels, die augenscheinlich muskulären Impulsen zuzuschreiben ist, wird also insofern indirekt eine qualitative Änderung des Bildwertes für das Schielauge herbeigeführt.

Mit der muskulären Anspannung zugleich kann unter Umständen beim Schielen eine krampfartige Betätigung der Augenmuskeln entstehen vielleicht ist das die Ursache des Nystagmus, den man bei Schielenden öfter wahrnehmen kann. Man müßte sich dann vorstellen, daß hier eine Tendenz zur Vereinigung der Bilder und gleichzeitig eine weitere Tendenz besteht, welche bestrebt ist, durch Abstandvergrößerung das minderwertigere Netzhautbild weiter von dem Bilde des richtig eingestellten Auges fortzuverlagern, und daß zwischen diesen beiden Tendenzen eine Art Wettstreit besteht, der das Augenzittern herbeiführt.

c) Bei längerer Dauer des Schielens wird nicht nur die Aufmerksamkeit für das Bild des Schielauges überhaupt unterdrückt, sondern es geht auch häufig die Fähigkeit verloren, mit dem Schielauge selbst nach Zudecken des besseren Auges kleinere Details zu sehen. Es leidet also die Sehschärfe des Auges, auch wenn der optische Apparat unterdessen nicht schlechter geworden ist. Auf diese Weise kommt es zur Ausbildung der Schielamblyopie.

294 Comberg-Meisner.

2. Das Verhalten der Sehrichtungsgemeinschaft.

Bei völlig normalen Augen besteht eine Sehrichtungsgemeinschaft zwischen den sog. identischen Netzhautpunkten. Solche identischen Punkte sind z. B. die Foveae centrales und alle gleich weit und gleich gerichtet von ihnen entfernt auf der Netzhaut liegenden Punkte. Die Richtung, in der ein Reiz lokalisiert wird, ist für alle identischen Punkte an beiden Augen dieselbe. Die Lokalisation am Schielauge zeigt aber sehr häufig ein abweichendes Verhalten; es bildet sich unter dem Einfluß der Schielstellung eine neue Lokalisation aus, d.h. es kommt zu einer Verlagerung der Raumwerte. Das Verhalten der Richtungsgemeinschaft bei den Schielenden läßt sich in mehreren Abstufungen darstellen; man kann dann folgende Grade unter- scheiden:

a) Schielen mit normaler Lokalisation;

b) Schielen mit anomaler Lokalisation, die dem Schielwinkel entspricht;

c) Schielen mit anomaler Lokalisation, die dem Schielwinkel nicht mehr ent- spricht, bei Erhaltensein monokularer Centralfixation;

d) Verlust der monokularen centralen Fixation am Schielauge und weitestgehende Umänderung der Richtungsgemeinschaft.

Durch Versuche hat man ziemlich gut Einblick gewonnen (Tschermak, Bielschowsky u. a.) in welchem Grade die ursprüngliche normale Richtungs- gemeinschaft der Augen bei Schielenden noch vorhanden ist resp. wie weit sie sich verändert hat. Man hat gefunden, daß auch bei weitestgehender Änderung fast immer noch mit bestimmten Methoden eine Andeutung der normalen Lokalisation nachzuweisen ist. Bei allen hierher gehörigen Versuchen gilt aber die Tatsache, daß die Resultate immer nur für die Bedingungen des betreffenden Versuchs gültig sind und sich stark ändern können, wenn man andere Bedingungen wählt.

Zur klinischen Prüfung des Verhaltens der Richtungsgemeinschaft eignet sich am besten die Nachbildmethode von Hering. Man läßt einen Glühfaden mit in der Mitte gelegenem Fixierpunkt monokular erst vom normalen Auge so fixieren, daß er als vertikaler leuchtender Strich erscheint, alsdann vom Schielauge bei horizontaler Darbietung. (Es ist wichtig, daß die hier angegebene Reihenfolge ein- gehalten wird.) Die Lokalisation der im Anschluß entstehenden Nachbilder erfolgt in einer für die vorhandene Richtungsgemeinschaft der Augen charakteristischen Weise. Werden die Nachbilder normal lokalisiert, dann muß vertikaler und horizon- taler Strich zusammen im Nachbild als Kreuz mit gleich langen Schenkeln erscheinen. Wird aber auf einem Auge anomal lokalisiert (wodurch auch eine Anomalie der Richtungsgemeinschaft angezeigt wird), dann steht das horizontale Nachbild seitlich zu dem vertikalen Nachbild des Fadens verschoben. Man kann nun hierbei die schon oben aufgezählten Grade unterscheiden, u. zw.:

a) Unter den Bedingungen dieses Versuchs zeigt sich normale Lokalisation der Nachbilder; es erscheint ein Kreuz. Es ist möglich, daß trotz dieses Resultats beim Sehen unter den gewöhnlichen Verhältnissen schon eine anomale Lokalisation mitspielt, aber die normale Korrespondenz ist dann doch meist, wenn auch latent, in deutlicher Weise erhalten, und der Schluß ist erlaubt, daß nach operativem Ausgleich der falschen Augenstellung die Wiederherstellung der normalen Sehrichtungsgemein- schaft ziemlich leicht von statten gehen wird.

b) Das Auge zeigt anomale Lokalisation, d. h. der an den einzelnen Augen vorher in der Maculagegend abgebildete vertikale und horizontale Glühfaden werden im binokularen Nachbilde nicht zu einem Kreuz vereinigt, sondern das

Das Schielen und seine Behandlung. 295

Bild des Schielauges, d. h. der horizontale Faden, wird seitlich von dem vertikalen lokalisiert, u. zw. entspricht der Grad der Lokalisationsabweichung genau dem Grade des Schielwinkels. Es wird damit dargetan, daß sich eine neue Beziehung zwischen den Netzhäuten ausgebildet hat, wobei von dem Schielauge die Dinge so lokalisiert werden, wie es dem Grade der Abweichung entspricht (es besteht Harmonie der motorischen und sensorischen Anomalie [Tschermakl)).

c) Es besteht ebenfalls anomale Lokalisation, doch entspricht diese nicht mehr dem Grade des bei der Untersuchung meßbaren Schielwinkels (Diskrepanz der motorischen und sensorischen Anomalie [Tschermak]). Dies Verhalten ist wohl so zu erklären, daß vorher einmal längere Zeit hindurch ein anderer Schielwinkel bestanden hat, und daß sich unter dem Einfluß dieses Schielwinkels eine neue Richtungsgemeinschaft ausbildete, daB aber später der Schielwinkel sich weiter änderte und mittlerweile das Bild des Schielauges aus irgend welchen Gründen so minderwertig geworden war, daß nur für die vorhergehende Schielablenkung eine feste, auch jetzt noch bestehende neue lokalisatorische Beziehung zur Ausbildung gekommen ist. Das kann entweder dadurch verursacht sein, daß der Schielwinkel zu groß wurde, so daß das Bild des Schielauges mit seinem macularen Teil zu weit seitlich im Sehfelde und damit zu weit vom Centrum der Aufmerk- samkeit entfernt lag, oder daß die Amblyopie des Schielauges, resp. die Fähigkeit, dessen Bild zu unterdrücken, unterdessen so zugenommen hat, daß die Ausbildung neuer lokalisatorischer Zusammenhänge aus diesem Grunde unterblieb.

d) Die weitestgehende Umänderung der Richtungsgemeinschaft findet sich zusammen mit hoher Schwachsichtigkeit des Auges; die Schielamblyopie ist alsdann so stark, daß auch bei Verdecken des besseren Auges keine foveale Einstellung mehr erfolgt und beim monokularen Sehen mit dem Schielauge exzentrisch fixiert wird. In diesem Falle kann natürlich der Nachbildversuch mit dem Glühfaden unter den gestellten Bedingungen nicht mehr ausgeführt werden.

3. Das Verhalten des Fusionsvermögens.

Das Fusionsvermögen ist die Fähigkeit, die Netzhautbilder des binokularen Sehens so aufzunehmen und so zu verarbeiten, daß ein gemeinschaftliches richtiges Bild daraus entsteht. Dabei kann man eine sensorische Komponente, eine motorische Komponente und den eigentlich psychischen Akt der Fusion unterscheiden. Die motorische Komponente ist beim Schielen immer gestört, denn normale Einstellung kann nur vorhanden sein, wenn die normale muskuläre Leistung aufgebracht wird, die nötig ist, um Doppelbilder zu vermeiden und die Netzhautbilder zur bestmöglichen Deckung zu bringen. Die sensorische Komponente des Fusionsvermögens ist aber ebenfalls häufig gestört, denn (wie weiter unten noch näher darzulegen ist) man findet bei Schielaugen sehr häufig mangelhafte Sehschärfe auf einem Auge oder Unter- drückung eines Netzhautbildes. Es zeigt sich ferner, daß auch nach künstlicher Kor- rektion des Einstellungsfehlers und nach Besserung der Sehschärfe durch korrigierende Gläser das Fusionsvermögen durchaus ungenügend ist, weil es nicht richtig ausge- bildet oder während des Schielens nicht mehr geübt wurde. Es hat als Regel zu gelten, daß die Störung des Fusionsvermögens um so schlimmer und um so weniger repa- rabel ist, je frühzeitiger sie entstand. Bei älteren Kindern, die von früher Jugend her dauernd geschielt haben, gelingt es nicht so leicht, durch Übungen später noch das Fusionsvermögen zu wecken. Beim Divergenzschielen dagegen, das fast immer viel später auftritt, war das Fusionsvermögen vorher fast stets schon so gut ausgebildet,

296 Comberg-Meisner.

daß nach der operativen Richtigstellung der Augen auch die normale Fusion und das Tiefensehen wieder leicht zu erlernen ist,

Trotz guter Fusionstendenz ist die Verschmelzung gestört oder erschwert bei (manifesten oder latenten) Einstellungsfehlern. Geringe Fehler werden dynamisch durch Muskelaktion ausgeglichen. In der Stärke der Prismen, die noch überwunden werden, erhält man ein Maß der Fusionsbreite. Die normale Adductionsbreite beträgt 50°, die Abductionsbreite 8°, die vertikale Fusionsbreite 1— 2°.

V. Klinisches über die gewöhnlichen Schielformen.

1. Strabismus convergens. Der Strabismus convergens tritt schon häufig in der ersten Jugend auf; über 30% aller Fälle entstehen vor dem zweiten Lebensjahr und die meisten anderen in der Zeit vom zweiten bis vierten Jahre. Es ist ganz augen- scheinlich, daß dabei die Konvergenz der Sehachsen eine Rolle spielt, die jedesmal auftritt, wenn das kleine Kind einen ihm besonders interessierenden nahen Gegen- stand fixiert. Da die Akkommodation eine sehr weitgehende Annäherung gestattet, und da der Arm des kleinen Kindes sehr kurz ist, so wird der Gegenstand sehr dicht vor das Auge gehalten, und mit der Akkommodation entsteht zugleich ein sehr starker Konvergenzimpuls. Wie durch diese Konvergenzimpulse schließlich das Schielen zu stande kommt, wurde an anderer Stelle (s. p. 291) geschildert.

Die Entstehung des Konvergenzschielens bleibt zunächst leider häufig unbemerkt oder wird nicht genügend beachtet, da alle Säuglinge und kleinen Kinder gelegentlich einmal schielen. Deshalb merken nur die aufmerksameren Mütter wirklich früh genug, wenn ein Auge häufiger abweicht. Es wurde wohl beobachtet, daß bei irgend einer Beschäftigung in der Nähe das Auge nicht richtig stand, aber es wurde kein besonderer Wert darauf gelegt. Erst im Anschluß an schwächende Krankheiten, an Masern, Scharlach u. s. w., fällt auf, daß das Kind nun wirklich häufiger oder gar dauernd schielt. Wieviel bei den Angaben dem Tatsächlichen entspricht, ist manchmal schwer zu beurteilen; daß aus der schon vorher bestehenden Schielneigung unter dem schwächenden Einfluß von Erkrankungen, unter der Wirkung abnormer Darmreize (Würmer) tatsächlich das Schielen manifest werden kann, darüber liegen viele Zeugnisse vor.

In der ersten Zeit ist das Schielen fast regelmäßig ein Gelegenheitsschielen, das mehr oder weniger periodisch auftritt. Es kann vorkommen, daß der Arzt zunächst gar nichts findet; er soll sich aber hüten, deswegen zu glauben, daß das Kind nicht geschielt habe. Manchmal gelingt es doch mit gewissen Kunstgriffen, in solchen Fällen bei der Untersuchung das Schielen hervorzurufen. Das Einwärts- schielen tritt vor allen Dingen leichter auf beim Blick nach unten und bei der Nahfixation. Man nimmt also am besten irgend einen kleinen Gegenstand, der die Aufmerksamkeit des Kindes ersichtlich auf sich zieht, ein kleines Papier- schnitzelchen oder den Augenspiegel und hält dem Kinde dies so vor, daß es dabei nach unten sieht. Alsdann läßt man durch einen Gehilfen die Augen nach- einander verdecken; dabei zeigt sich dann an einem schielenden Auge deutlich eine Einstellung. Man kann diese Probe auch so anstellen, daß man mit dem Augenspiegel, der dicht vor den Kopf des Kindes gehalten wird, durch Zuspiegeln auf beide Augen zunächst die Aufmerksamkeit erweckt und alsdann zunächst das eine, darauf das andere Auge spiegelt und beobachtet, ob beim Übergang von einem zum anderen Auge eine passende Stellungsänderung des zweiten Auges auftritt.

Das Schielen und seine Behandlung. 297

Es ist bekannt, daß das Konvergenzschielen im allgemeinen im frühern Alter entsteht als das Divergenzschielen. Das entspricht der Erfahrung jedes Augenarztes und hat sich auch aus vielen Statistiken ergeben. Aus einer besonders groß angelegten Statistik von Worth kann man zur besseren Veranschaulichung für das Konvergenz- schielen folgende Prozentsätze bezüglich des Eintritts in den verschiedenen Lebens- altern berechnen. |

Prozent

Vor dem 1. Lebensjahr . . 2: 2: 2 EEE nn. 16 Zwischen dem 1. und 2. Lebensjahr . .. 22:2 2 2200. 181 2 A Pe EEE Er éi 22:1 In A en en 18 4 u 5 gege ei A ae 11:9 „» Be 6. SEENEN 6°5 In späteren Lebensjahren . . . . aoao a 1:35

Es zeigte sich dabei ein auffallender Unterschied bezüglich der Zeit der Entstehung für die Fälle von einseitigem Schielen und alternierendem Schielen. Von dem einseitigen Schielen entstanden nur 32% vor dem zweiten Lebensjahr, von den alternierenden Fällen in der gleichen Zeit über 53%. Nach Worth spricht dieser Unterschied dafür, daß es sich bei dem alternierenden Schielen um ein an- geborenes Fehlen der Fusion handelt.

Es zeigt sich aus der Statistik auch, welche wesentliche Bedeutung die Hyperopie für das Zustandekommen des Konvergenzschielens hat; die große Mehrzahl der Fälle von Strabismus convergens ist mit Hyperopie verbunden. Aus der Umrechnung einer Worthschen Statistik auf die Prozentzahlen ergibt sich folgendes:

Unter 1D Hyperopie 7'2% der Schielkinder 5— 6D Hyperopie 145% der Schielkinder

1-2D ,„ 109% : 6- 71D , 55% n i 2-3D » 4g» » 7- 8D , 22% ! 3-D 20 e, i 8- 9D) , 12% » , 4-5D 20 ë , e 9-0D , 07% » i

Auch der Astigmatismus spielt beim Konvergenzschielen eine gewisse Rolle, wie das ebenfalls aus Statistiken zu ersehen ist. Unter 1384 Schielfällen fand Worth am schielenden Auge Astigmatismus von weniger als 05D 628mal, von mehr als 05 756mal; am nicht schielenden Auge Astigmatismus unter 0'5 D 836mal, über 05D 547mal.

Gegenüber der großen Zahl der Fälle mit hyperopischer Refraktion spielen die anderen kaum eine nennenswerte Rolle. Worth fand unter 1636 Einwärts- schielenden nur 23=1'/,% mit beiderseits myopischen Augen. Meist sind das dann Menschen mit starken anatomischen oder neurogenen Einstellungsfehlern oder solche, bei denen eins der Augen oder beide ganz schwachsichtig sind, bei denen ein Mikrophthalmos besteht u. s. w.

Wenn das Schielen nicht bald behandelt wird, so nimmt es in dem Durch- schnitt der Fälle insofern einen vom therapeutischen Standpunkt aus unangenehmen Verlauf, als es späterhin fast regelmäßig zu einer schwereren Störung in den normalen Beziehungen zwischen den Netzhäuten kommt. Sehr häufig wird der Wert des Schielaugenbildes auch dadurch noch weiter herabgesetzt, daß sich Schwachsichtigkeit ausbildet. An den Kindern, bei welchen das Schielen erst in etwas späterem Alter beginnt, kann man recht gut beobachten, daß diese Entwick-

2983 Comberg-Meisner.

lung eine allmähliche ist, und daß in der ersten Zeit allemal noch eine gewisse Tendenz zur Rückkehr in die normale Stellung besteht. Sehr häufig haben optische Hilfsmittel, d. h. die Korrektion der Hyperopie, wie im therapeutischen Teil weiter ausgeführt werden wird, alsdann allein schon einen guten Erfolg. Wenn eine richtige Brille verordnet wird, kehrt das Auge entweder dauernd für die Zeit des Gläser- tragens in die richtige Stellung zurück, oder das Schielen tritt nur bei besonderen Gelegenheiten auf. Dieser Zustand kann stationär bleiben, und Patient wie Arzt können davon nicht unbefriedigt sein, wenn der Operation aus irgend welchen Gründen Schwierigkeiten entgegenstehen und wenn das Tragen des Glases wegen der Stärke des Refraktionsfehlers ohnehin erforderlich wäre.

Erst der gänzliche Mangel an Übung des richtigen Binokularsehens führt zu der weiteren unangenehmen Entwicklung. Findet das Auge eine einigermaßen bestimmte neue Einstellung und bleibt der Schielwinkel für einige Zeit derselbe, dann besteht ein gewisser Anreiz zur Ausbildung einer neuen Beziehung zwischen den Netzhäuten, die als anomale Lokalisation vorher schon gekennzeichnet wurde. Es muß dabei festgehalten werden, daß diese neue Beziehung an Festigkeit keines- wegs mit der normalen irgendwie zu vergleichen ist. Diese Art der Lokalisation bleibt stets ziemlich ungenau, und wenn durch sekundäre Muskelcontraction oder durch eine Veränderung des Schielwinkels infolge Brillentragens eine andere Ein- stellung gefunden wird, dann kann sich auch die Lokalisation wieder ändern.

Sehr häufig bleibt auch die alte Lokalisation ein Glück für die Therapie noch neben der neuen Lokalisation erhalten, so daß manchmal mit ent- sprechenden Übungen und Gläsertragen die Rückbildung des normalen Zustandes gelingen kann.

Am schlimmsten für die Behandlung ist es, wenn auch die Sehschärfe des Schielauges stark gelitten hat, was bei längerem Fehlen des binokularen Sehaktes schließlich häufig die Folge ist. Man kann die stärksten Amblyopien daran erkennen, daß alsdann das Auge, auch bei Verdecken des guten Auges, nicht mehr zur richtigen Fixation gebracht wird, sondern sich auf die betrachteten Dinge exzentrisch einstellt.

Was die Größe des Schielwinkels anbelangt, so steht dieser in keiner festen Beziehung zu- den einzelnen Faktoren, welche das Schielen hervorrufen. Ist das Auge einmal von dem binokularen normalen Sehakt ausgeschaltet, dann irrt es, mehr oder weniger sich selbst überlassen und zufälligen anatomischen und nervösen Einflüssen preisgegeben, ab, ohne daß man, unter noch so sorgfältiger Berück- sichtigung aller Umstände, anzugeben vermöchte, wie die schließliche Einstellung sein wird. In den Kinderjahren nimmt der Schielwinkel meist mit der Zeit mehr oder weniger zu, doch nach unseren Erfahrungen beim Einwärtsschielen gewöhnlich nur bis zum 12. bis 15. Lebensjahre.

Manchmal scheint es, als ob für das Schielauge sogar eine gewisse Flucht vor der annähernd richtigen Einstellung vorhanden wäre, falls die Sehschärfe des Schielauges noch gut ist und die richtige Lokalisation noch in gewissem Sinne mitwirkt. Es würde sich das dadurch erklären lassen, daß bei annähernd richtiger Stellung nahe nebeneinander liegende Doppelbilder vorhanden sind, während bei einem größeren Schielwinkel die Doppelbilder weiter voneinander entfernt liegen. Nahe zusammenliegende Doppelbilder stören aber wesentlich mehr als Doppel- bilder, bei denen das eine ganz weit seitlich liegt.

Vielleicht ist diese Tendenz zur Vermeidung nahe aneinander liegender Doppel- bilder der Grund, weswegen der Schielwinkel in den ersten Jahren des Schielens schnell zunimmt. Ist das Auge nach einigen Jahren stärker schwachsichtig geworden,

Das Schielen und seine Behandlung. 299

so kann man, namentlich bei älteren Kindern und in der Zeit der Pubertätsjahre, doch häufiger beobachten, daß der Schielwinkel wieder abnimmt; mindestens ist das häufiger der Fall, wenn gleichzeitig die korrigierenden Gläser getragen werden.

Abgesehen von dieser mit hochgradiger Minderwertigkeit des Schielauges ein- hergehenden „Selbstheilung“, ist sie aber sehr selten. Einer idealen Forderung ent- spricht die Selbstheilung mit Schwachsichtigkeit auch nicht.

Sowohl die weitgehende Umänderung der normalen Sehrichtungsgemeinschaft wie das Vorhandensein einer Schielamblyopie sind eine ernstliche Erschwerung für die augenärztliche Therapie. Alle therapeutischen Bestrebungen sollten deshalb sobald wie möglich einsetzen; wenn das Schielauge so weit geschädigt ist, daß nur noch Handbewegungen gesehen werden und daß exzentrische Fixation besteht, dann wird es nicht mehr möglich sein, den normalen binokularen Sehakt wieder- herzustellen.

2. Strabismus divergens. Während die Mehrzahl der Konvergenzschieler aus Hyperopen besteht, haben die meisten Menschen, die an Divergenzschielen leiden, eine myopische Refraktion. Bei den Kurzsichtigen mit Divergenzschielen zeigt sich die Ab- hängigkeit des Schielens von dem Refraktionszustande womöglich noch deutlicher als bei den Hyperopen. Der Strabismus beginnt durchschnittlich viel später als das Einwärts- schielen der Hyperopen, u. zw. sehr häufig mit zunehmender Kurzsichtigkeit. Meist sind es Schulkinder, die mit Strabismus divergens zum erstenmal in Behandlung kommen. Auffallend ist, daß sie sehr häufig noch keine Brille getragen haben. Die Zeit, in der das Auswärtsschielen am häufigsten auftritt, ist nach Worth die Zeit etwa zwischen dem 11. und 12. Lebensjahr.

Daß das Divergenzschielen fast immer mit der Myopie vergesellschaftet ist, weiß jeder Arzt. Daß der Zusammenhang von Akkommodation und Konvergenz dabei eine Rolle spielt, wird ebenfalls leicht ersichtlich. Zunächst tritt das Divergenz- schielen regelmäßig beim Nahesehen auf, während beim Blick für die Ferne noch die richtige Stellung eingehalten wird, auch wenn das Auge nicht korrigiert ist. Später ändert sich das häufig, insofern als dann dauernd die Schielstellung eingehalten wird. Setzt man solchen Kindern das richtige Glas auf, so gelingt es aber manch- mal noch nur durch diese Maßnahme, die Augenstellung zu regulieren und den normalen binokularen Sehakt wieder herbeizuführen. Die Ursache ist sehr einfach; durch das Brillenglas muß der Kurzsichtige zum erstenmal wieder in richtigem Maße akkommodieren, damit stellt sich auch der richtige Konvergenzimpuls ein, und die Augenachsen erhalten ihre normale Stellung wieder zurück. Das Divergenzschielen ist also zunächst fast immer nur ein relatives für den Blick in die Nähe, wird erst später mit der Zunahme des Schielwinkels dauernd und bleibt dann auch beim Blick in die Ferne bestehen.

Wichtig für die Entstehung des Divergenzschielens ist häufig der Astigmatis- mus; astigmatische Augen weichen beim Lesen besonders leicht ab, da sie ohne Korrektion unter keiner Bedingung ein scharfes Netzhautbild bekommen. Wenn später das zweite Auge stärker kurzsichtig wird, so kann es vorkommen, daß das Schielauge den geringeren Refraktionsfehler hat, aber unterdessen so amblyopisch geworden ist, daß das stärker kurzsichtige trotzdem die Führung behält und weiter- hin richtig fixiert.

Der Schielwinkel nimmt mit dem längeren Bestehen des Divergenzschielens oft weiter zu; es liegt dies im gewissen Sinne im Interesse des Schielers, insofern dadurch eventuelle Doppelbilder weniger störend werden.

200 Comberg-Meisner. Divergenzschielen findet sich außer bei Myopen

a) sehr selten bei Hyperopen. Meist sind das sehr starke Hyperopien, und das Schielen besteht von der ersten Kindheit an. Diese Patienten haben oft nur in Zerstreuungskreisen gesehen und es ist bei ihnen nie zu einer richtigen Akkommo- dation gekommen. Da das Schielen nicht unter dem Einfluß der verstärkten Akkommo- dation, wie bei den übrigen Hyperopen, entstanden ist, konnte sich hier trotz der Hyperopie ein Divergenzschielen entwickeln. Daß Schielen auftrat, wird verständlich, weil scharfe Netzhautbilder niemals vorkamen; diese sind aber zur Fusion und zur Aufrechterhaltung richtig koordinierter Augenbewegungen unerläßlich.

b) Bei Neuropathen. Es handelt sich hier meistens um Patienten, die keinen Refraktionsfehler haben; es besteht aber eine gesteigerte Erregbarkeit von Jugend an. Das Schielen ist in diesen Fällen ersichtlich auf den veränderten reflektorischen Tonus der Muskulatur zurückzuführen.

c) Bei erblindeten Augen. Man sieht das Schielen nicht so sehr nach doppel- seitiger Erblindung, sondern meist nach Schädigung nur eines Auges, ja auch nach einseitig auftretender stärkerer Schwachsichtigkeit, wie beim grauen Star u. s. w. Es kommt alsdann auch Konvergenzschielen vor, aber das Divergenzschielen ist häufiger, weil in der Ruhelage die Mehrzahl der Augen zur Divergenz neigt.

VI. Die Heterophorie und Insuffizienz der Konvergenz.

Mit dem Ausdruck Heterophorie wird der Zustand des latenten Schielens bezeichnet. Es besteht alsdann eine Tendenz zur Schielabweichung, doch wird diese Tendenz beim binokularen Sehen durch das Fusionsbestreben dynamisch ausgeglichen. Der Anreiz zur dynamischen Korrektur fällt aber fort, wenn man z.B. en Auge ver- deckt. Das bis dahin latente Schielen wird alsdann manifest und damit meßbar.

In allen Fällen, wo angeborene oder erworbene Schwachsichtigkeit die Güte des Netzhautbildes bei einem Auge stärker herabsetzt, auch in den Fällen zu- nehmender Anisometropie, wo beide Augen nicht gleichzeitig auf ein Objekt optisch gleichwertig eingestellt sein können, wird mit der Herabsetzung des Fusionsanreizes die Gefahr akut, daß aus dem latenten ein manifestes Schielen entsteht.

Die Störung in der Gleichgewichtslage der ruhenden Augen ist in der Mehr- zahl der Fälle angeboren und alsdann meist durch eine Anomalie des Knochenbaues oder eine Anomalie der Muskulatur resp. der Lage der Muskelansätze begründet; es kann aber auch infolge der geänderten dynamischen Verhältnisse bei Vorhanden- sein eines Refraktionsfehlers der Zusammenhang zwischen Akkommodation und Kon- vergenztätigkeit einen ungünstigen Einfluß auf die dynamische Einstellung bekommen und eine Art dynamischer Heterophorie hervorrufen. Vom echten Schielen unterscheidet sich jedoch die Heterophorie dadurch, daß eine lebhafte Tendenz zum binokularen Sehen besteht, die so stark ist, daß die vorhandenen Fehler noch verhältnismäßig gut über- wunden werden, so daß sich beim gewöhnlichen Sehakt kein Schielen zeigt.

Infolge der besonderen dynamischen Innervation, die dauernd aufgebracht werden muß, um den Fehler auszugleichen, kommt es relativ leicht zur Ermüdung. Das Lesen kleiner Schrift, aufmerksames und schnelles Verfolgen kleiner Objekte, wie es bei manchen technischen und wissenschaftlichen Hantierungen unbedingt nötig ist, aber auch zur Anfertigung von Handarbeiten etc. schon häufig gebraucht wird, kann stark ermüdend wirken. Das zeigt sich häufig erst in den letzten Arbeitsstunden und nament- lich gegen Abend bei schlechtem Lampenlicht.

Das Schielen und seine Behandlung. 301

Von großer Bedeutung ist auch der allgemeine Gesundheitszustand. Robuste Menschen sind besser imstande, den Fehler ohne Beschwerden zu ertragen als zart gebaute, nervöse Personen. Krankheiten wirken oft auf lange Zeit hinaus schwächend ein. Alles, was den reflektorischen Mechanismus in stärkeren Tonus versetzt, wird häufig auch die Beschwerden einer Heterophorie vergrößern oder überhaupt zum erstenmal merkbar machen. oo.

Arten der Heterophorie. Man unterscheidet:

a) Latentes Auswärtsschielen: Exophorie.

b) Latentes Einwärtsschielen: Esophorie.

c) Latentes Höhenschielen: Hyperphorie.

d) Latentes Rollungsschielen: Cyclophorie.

Mäßige Grade von Exophorie und Esophorie kommen sehr häufig vor; voll- kommene Ausgeglichenheit der Ruhelage beider Augenachsen ist keineswegs die Regel. Die Beschwerden sind aber nicht gleich stark für die gleichen Grade latenter Innen- und Außenabweichung. Das hängt damit zusammen, daß die Außenabweichung wegen der starken willkürlichen und erlernbaren Beeinflussung der Konvergenz leichter dynamisch korrigiert und dadurch erträglich gestaltet werden kann, wenn nur ein genügendes Fusionsbestreben vorhanden ist. Man findet bei genauer Untersuchung die Exophorie wohl ziemlich häufig; die Beschwerden sind aber meist gering oder ganz unmerklich.

Anders bei der Esophorie. Die normale Divergenzbreite beträgt nur 6—8 Grad und eine Esophorie von 4 bis 5 Grad erfordert also schon eine relativ starke, eine solche von 6 bis 7 Grad eine nahezu maximale Einengung der Divergenzimpulse. Der damit verbundenen Anspannung folgt bald ein ausgeprägtes Gefühl von Un- behagen mit Benommenheit und Kopfschmerz, und vor allen Dingen stellt sich leicht Ermüdung ein. Noch schlimmer ist es, wenn nicht die normale Divergenzbreite besteht. Darum muß man den Fusionsbereich feststellen, falls man ein präzises Urteil abgeben will.

Neben dem Fehler in der seitlichen Ausrichtung der ruhenden Gesichtslinien kommt ein Fehler in der Höhenausrichtung vor. Auch diese Patienten, bei denen dynamisch während des binokularen Sehens allezeit der Ausgleich erzwungen werden muß, stellen einen Teil der Fälle, welche über asthenopische Beschwerden klagen, u. zw. umsomehr, als keine Art der Muskelaktion möglich ist, durch die eine Kor- rektion dynamisch erzwungen werden kann, wenn der Fehler einen etwas stärkeren Grad überschreitet. |

Man unterscheidet zwischen der eigentlichen Heterophorie und einer Insuffizienz der Konvergenz. Unter Heterophorie versteht man im strengeren Sinne nur eine Störung des Muskelgleichgewichtes für den Blick in die Ferne, während bei unge- nügender Konvergenzleistung in den Fällen, wo für die Ferne keinerlei Störung besteht, eine Störung des symmetrischen Einstellungsimpulses als Ursache angenommen werden muß. Geht man allerdings von der Voraussetzung aus, daß ein Konvergenz- und ein Divergenzcentrum bestehe (Hofmann, Bielschowsky), dann könnte man sich vorstellen, daß die Ruhelage auch für den Blick in die Ferne einem tonisch unterhaltenen Gleichgewicht zwischen Konvergenz und Divergenz entspricht, nicht anders als beim Blick in die Nähe. Aus dieser Auffassung würde sich ergeben, daß Übergänge zwischen Heterophorie und Insuffizienz der Konvergenz vorkommen können. Man kann jedoch eine Reihe von Veränderungen als Ursache für die Kon- vergenzstörung in Betracht ziehen; neben einer Lähmung des Konvergenzaktes könnte eine muskuläre Schwäche oder auch eine anatomische Behinderung (wie z. B. Donders für die langgebauten Augäpfel der Myopen angenommen hat) vorliegen.

302 Comberg-Meisner. VII. Ursache des Schielens.

Albrecht v. Gräfe hat als erster auf den grundlegenden Unterschied zwischen Lähmungsschielen und Konvergenzschielen hingewiesen. Er wußte, daß die Exkursion des Schielauges in einem mittleren Bereich des konkomitierenden Schielens stets die gleiche ist, wie die des nichtschielenden Auges, und ebenfalls, daß die Sekundärablenkung gleich der Primärablenkung bleibt. Aus diesen beiden Tat- sachen zog er den Schluß, daß der Strabismus concomitans mit einer Lähmung nichts zu tun habe. Er glaubte, daß überhaupt keine Innervationsstörung vorliege, wobei er allerdings noch nicht unsere heutige Kenntnis von den symmetrisch koordinierten Augenbewegungen hatte. Ihm schien nach Aus- schluß aller anderen Möglichkeiten nur denkbar, daß es sich um ein Mißverhältnis der Muskellängen und Anomalien der Befestigung handeln könne. Damit schien in Übereinstimmung zu sein, daß das Bewegungsgebiet des schielenden Auges häufig nach einer Seite hin verschoben ist, wie das besonders beim Einwärtsschielen hervortritt, wenn verminderte Abduction und vermehrte Adduction besteht.

Donders hat das bleibende Verdienst, auf den plıysiologischen Zusammenhang zwischen Akkom- modation und Konvergenz hingewiesen zu haben und auf die Bedeutung, die dieser Zusammenhang bei Refraktionsfehlern für die Entstehung des Schielens gewinnt. Das Schielen entsteht nach Donders ungefähr folgendermaßen: Mit jeder Akkommodationsanstrengung ist zunächst eine ganz bestimmte natür- liche Konvergenzeinstellung verbunden, die nur in gewissem Grade dynamisch verändert werden kann. Wird die Akkommodation auf einen bestimmten Punkt eingestellt, dann kann in dem Bereich der so- genannten Konvergenzbreite der Konvergenzgrad vermehrt werden (positive Konvergenz) oder ver- mindert werden (negative Konvergenz). Bei Emmetropen mit normaler Ruhelage für die Ferne ist auch beim Blick in die Nähe eine solche dynamische Umänderung gewöhnlich nicht nötig, da die Kon- vergenz alsdann dem natürlichen Bedürfnis angepaßt ist, so daß, wenn das Auge z. B. auf einen Gegen- stand in 20 em akkommodiert, auch automatisch die nötige Konvergenz der Sehachsen hergestellt wird. Es entsteht aber sofort ein Mißverhältnis zwischen den benötigten Akkommodations- und Konvergenz- graden, wenn ein Refraktionsfehler vorhanden ist. Der unkorrigierte Weitsichtige muß bekanntlich zur Einstellung auf irgendeinen Punkt stärker akkommodieren als der Normale und der Kurzsichtige ohne Glas akkommodiert auf alle Dinge, die hinter seinem Fernpunkt liegen, gar nicht und auf alle näher- gelegenen Punkte viel zu schwach. Beim Weitsichtigen werden deshalb die Konvergenzimpulse stets zu stark ausfallen und beim Kurzsichtigen werden sie zu gering sein. Bei allen fehlerhaften Brechungs- zuständen des Auges muß also der zur richtigen Einstellung der Sehachsen nötige Konvergenzgrad erst durch einen weiteren .regulatorischen Impuls dynamisch richtiggestellt werden. Ist die dazu nötige Anstrengung eine übermäßige, sind die Bedingungen zum Sehen für ein Auge ungünstig, ist irgendein Fehler vorhanden, der die Zusammenarbeit beider Augen beeinträchtigt, dann kann der nötige Kon- vergenzgrad schließlich nicht mehr aufrecht erhalten werden und ein Auge weicht ab. Aus der latenten Schielneigung des Ametropen kann auf diese Weise dauerndes Schielen entstehen. `, `

Javal konnte sich, wie die meisten Autoren, die sich nach Donders mit der Ätiologie des Schielens beschäftigt haben, der Wichtigkeit der Dondersschen Darlegungen nicht gänzlich ver- schließen. Trotzdem glaubte Javal, daß in dem zen mit dem Refraktionsfehler wenigstens beim Konvergenzschielen nur ein sekundäres Moment für die Entstehung gegeben sei, welches nicht als die eigentliche direkte Ursache des Schielens angesehen werden dürfe, u. zw. umsoweniger, als man Menschen mit allen möglichen Graden von Refraktionsfehlern findet, die niemals schielen, und als die Häufigkeit des Schielens ganz offensichtlich nicht mit der Verbreitung und Stärke des Refrak- tionsfehlers parallel geht. Es müssen noch besondere schwächende Ursachen angenommen werden, durch die plötzlich der Strabismus manifest wird. Als Ursache für die Entstehung des Schielens sieht Javal eine Akkommodationsparese an und er glaubt, daß eine so'che namentlich bei Kindern häufig im Anschluß an Scharlach, Masern u. s. w. entstehe. Alsdann ist eine stärkere Akkommodationsanstrengung nötig und mit dieser zugleich geht eine verstärkte Konvergenz einher. Diese Erklärung gilt natürlich nur für den Strabismus convergens; für das Divergenzschielen hält sich Javal an Erklärungen, die der Dondersschen ziemlich ähnlich sind. Es entstehe zunächst eine relative Insuffizienz oder eine Ver- minderung der Konvergenz infolge mangelnder Akkommodationsimpulse, und bei schwachsichtigen Augen und namentlich solchen, die an Astigmatismus leiden, komme es alsdann zunächst während des Lesens und später dauernd zum Schielen. Daß die Störung des reflektorischen Tonus der Augenmusku- latur nach vorhergehenden Krankheiten und bei Schwächezuständen eine Umstellung des Muskelgleich- gewichts auslösen kann, befindet sich in Übereinstimmung mit vielfachen anderen Konstatierungen. Jeder Augenarzt wird wissen, daß auch von gewissenhaften und gut beobachtenden Eltern häufig die Angabe gemacht wird, daß ein Kind erst im Anschluß an eine Erkrankung zu schielen begonnen habe; man kann an dieser Tatsache nicht ganz vorübergehen. Außerdem sieht man doch auch manchma sogar bei älteren Patienten, daß im Anschluß an eine Lähmung eine Störung zurückbleibt, die schließ- lich in echtes konkomitierendes Schielen übergeht.

Alfred Gräfe machte als erster verschiedene Beobachtungen über die abweichende Lokalisation des schielenden Auges. Er glaubte aber, daß die Lokalisation nicht von der Stellung der Netzhaut bzw. der Einstellung des Augapfels, sondern daß sie von dem motorisch:n Impulse abhängig sei, und kam so zu der anfechtbaren Annahme, daß nicht nur bei Lähmungen, sondern auch bei dem seiner Ansicht nach ebenfalls auf Innervationsstörungen zurückzuführenden Strabismus die falsche Lokalisation auf diese Weise entstehe. Er stellte weiterhin fest, daß das Netzhautbild des Schielauges mehr oder weniger stark unterdrückt werden kann, daß aber die Stelle der Fovea des Schielauges im gemeinschaftlichen Sehfelde überwiegt und es also zu einer Art regionärer Exklusion kommen kann. Schließlich machte er auch bemerkenswerte Feststellungen über die neuen Jdentitätsverhältnisse, die sich bei dauernder Ein- haltung eines bestimmten Schielwinkels zwischen vorher nicht identischen Netzhautpunkten ausbilden. Er erkannte, daß die Störungen des binokularen Sehens häufig von der Exklusion oder der Heran- bildung neuer Netzhautbeziehungen abhängig sein müsse, und wies schon vor Tschermak darauf hin, daß dies Verhalten individuell ein ganz verschiedenes ist.

Das Schielen und seine Behandlung. 303

Worth ging noch einen Schritt weiter; er gelangte zu der Annahme, daß dem Akt der binoku- laren Verschmelzung bzw. den dabei vorliegenden Störungen eine ganz besondere Bedeutung für das Auftreten des Schielens zukomme. Er betonte, daß es für die mühelose, richtige binokulare Einstellung von besonderer Wichtigkeit ist, wenn das Fusionsvermögen eine möglichst hohe Ausbildung erfährt. Von ihm stammt die statistische Feststellung, daß der Durchschnitt der Fälle mit alterjerendem Schielen besonders frühzeitig erkrankt, und er betonte, daß bei diesen eine gänzliche Unfähigkeit zur Vereinigung der Bilder beider Augen bestehe. Weil in diesen Fällen ein gänzlicher Fusionsmangel vorhanden ist, das Schielen von der ersten Jugend an auftritt und jeder Therapie trotzt, zog er weiterhin den Schluß, daß hier ein angeborener Fehler des Fusionsvermögens vorliegt; er vertrat auch die Ansicht, daß eine fehlerhafte Entwicklung des Fusionsvermögens ganz allgemein die wichtigste Ursache des Schielens sei.

Von den neueren Untersuchungen kommt denen Bielschowskys und Tschermaks eine be- sondere Stellung zu; beide konnten die Lehre vom Schielen noch in vielen Punkten erweitern und vervollständigen.

Bielschowsky hat im wesentlichen alle die Momente zusammengestellt, die auch nach der modernen Auffassung für die Entstehung des Schielens einen stichhaltigen Wert haben. Er unterschied schärfer zwischen der Wirkung der topographisch-anatomischen Verhältnisse und deren Beziehung zu der Nachbarschaft, d.h. den mechanischen Faktoren und der nervösen Beeinflussung der Augenstellung, unter der er die Umänderungen durch Willensimpulse, Fusionstendenz, Assoziation von Akkommodation und Konvergenz sowie durch Veränderung des Muskeltonus versteht. Während am normalen Auge ein natürliches Gleichgewicht aufrecht erhalten wird, kommen unter pathologischen Veränderungen viel- fache Abweichungen vor, die sich entweder als latente Schielneigung oder als manifestes Schielen aus- wirken können. Tschermak, der selbst an einem alternierenden Schielen mit äußerst kompliziertem Verhalten leidet, konnte auf Grund eigener Beobachtungen unter Anwendung sehr genauer Methoden eine Reihe von wichtigen Feststellungen machen. Vor allen Dingen zeigte er, daß die anomale Seh- richtungsgemeinschaft sehr veränderlich war, und daß die Sehschärfe des Schielauges größer wurde, wenn Fixationsabsicht für das Bild des Schielauges bestand, auch falls die Güte der Netzhautbilder nicht geändert wurde. Die Leistung des Schielauges und die Art seiner binokularen Betätigung wechselt also unter dem Einfluß psychischer Einstellungen und Hemmungen. Besonders wertvoll sind die Unter- suchungen über das Verhallen der neuen Sehrichtungsgemeinschaft. Tschermak glaubt, daß in Uber- einstimmung mit der Auffassung Herings an der alten strengen Identitätslehre im Sinne Müllers nicht festgehalten werden könne. Identität bestehe gewiß insofern, als zwei korrespondierende Stellen auf Grund angeborener sensorischer und motorischer Einrichtungen a priori eine identische Sehrichtung zukomme; damit stehe aber nicht in Widerspruch, daß unter anomalen Bedingungen eine anomale Sehrichtungsgemeinschaft auftreten könne, die der fakultativen Sehrichtungsgemeinschaft ähnlich sei, welche Hering für das stereoskopische Sehen angenommen hat.

Überschaut man rückblickend, wie weit unsere Kenntnisse über das Schielen durch die hier angeführten Autoren gefördert wurden, so sieht man schon aus der kurzen Aufstellung, wie mühsam der Weg der Forschung gewesen ist. Albrecht v. Gräfe drang, trotz genauester Erkenntnis vieler symptomatischer Erscheinungen des Schielens, nicht über eine gewisse mechanische Betrachtung hinaus vor, weil er den Einfluß der symmetrischen Augenbewegungen nicht mit in Rechnung stellen konnte; er hielt deshalb auch daran fest, daß die Ursache des Schielens in einem Miß- verhältnis der Muskellängen zu suchen sei. Donders brachte eine glänzende Theorie von größtem Wert hervor; indes hat sich später gezeigt, daß man damit allein die Entstehung des Schielens auch nicht erklären kann. Wenn auch das Mißverhältnis zwischen den zur richtigen Einstellung benötigten Akkommodations- und Konvergenz- impulsen bei den Ametropen besteht und latentes Schielen hervorruft, so ist damit noch nicht erklärt, weshalb es nur bei einem kleinen Teil der Hyperopen tatsächlich zum Schielen kommt. Hier gab Javal als erster richtige Fingerzeige, indem er auf das schwächende Moment von Krankheitszuständen und die Bedeutung des allgemeinen reflektorischen Tonus hingewiesen hat. Wesentlich sind auch zweifelsohne für die Manifestation des Schielens die Störungen des Binokularsehens, die Alfred v. Gräfe in den Vordergrund gestellt hat, und als eine der interessantesten Theorien muß zurzeit jedenfalls die Ansicht von Worth diskutiert werden, der einen angeborenen Fusionsmangel als Hauptursache des Schielens ansieht.

In letzter Zeit hat man einer Tatsache besondere Aufmerksamkeit geschenkt, die schon den ältesten Ärzten, z.B. Hippokrates, aufgefallen war. Dieser sagte einmal, es sei bekannt, daß der Sohn eines Schielers gleichfalls ein Schieler werden würde. Bei sehr vielen späteren Autoren finden wir dann gelegentlich eine Notiz über familiär gehäuftes Auftreten von Strabismus, 10% —70% der Fälle sollen erblich sein. Wenn

304 Comberg-Meisner.

man aber mit den streng wissenschaftlichen Forderungen der modernen Erbforschung an die Frage nach dem Erbgang des Strabismus herantritt, ergeben sich sehr große Schwierigkeiten, die bisher noch von einer Lösung weit entfernt sind. Wir können aus dem bisher vorliegenden erbkundlich genau durchgearbeiteten Material nur den Schluß ziehen, daß man von einer Vererbung des Schielens in dem Sinne, wie man sie bisher vielfach verstanden hat, überhaupt nicht reden darf (Clausen). Selbst die vielfach als vererbbar angesprochenen Teilfaktoren (Refraktionsanomalien, Hetero- phorie, Fusion, anatomische Varietäten der orbitalen Topographie und der Muskulatur) dürfen keineswegs ohne weiteres als einfache Vererbungsmerkmale betrachtet werden. Um zu Klarheit zu kommen, bedarf es nicht nur einer weit ausgedehnteren Stamm- baumforschung, als sie uns heute zur Verfügung steht, sondern auch genauer Unter- suchungen sowohl der Schielenden selbst als auch ihrer nichtschielenden Angehörigen. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich bei den meisten Schielfällen um einen sehr komplizierten EENEG dessen Erforschung beim Menschen große Schwierigkeiten macht.

Für unsere allgemeinen Ansichten über die Ätiologie des Strabismus haben wir aus den erbkundlichen Betrachtungen wenigstens den Gewinn gezogen, daß wir wohl kaum je eine einzelne von der Norm abweichende Eigenschaft des Seh- organs als Ursache anzusehen haben, sondern einen ganzen Komplex, der im Einzel- falle auch durchaus nicht immer der gleiche zu sein braucht.

VIII. Untersuchung des Schielens.

Die Unvollständigkeit und vor allem die Ungleichmäßigkeit des Untersuchungs- programms sind, wie Bielschowsky hervorhebt, zum guten Teile schuld daran, daß man noch immer so divergierenden Auffassungen über das Wesen des Schielens, über die Grundsätze der Therapie und auch über die zu erreichenden oder angeblich erreichten Erfolge begegnet. Doch darf nicht verkannt werden, daß auch die Schwierigkeit des Schielproblems hierfür als Ursache angesehen werden muß. Die Verhältnisse sind häufig so kompliziert, daß nur ein sehr bewanderter Spezialist alle Details überschauen kann; ebensowenig wie die Therapie wird auch die genaue Untersuchung der Schielfälle jemals Sache des nicht spezialistischen Arztes werden.

Schon aus diesem Grunde allein, nicht minder auch wegen des gebotenen Raumes, kann eine eingehende Schilderung des Untersuchungsganges und der zugehörigen Methodik hier nicht gegeben werden. Wir beschränken uns auf eine kurze Darstellung der wichtigsten Fragen für den Untersuchungsgang in der Form, wie sie von modernen Kennern des Schielens empfohlen wurde (Bielschowsky), und geben weiterhin eine etwas nähere Schilderung von den wichtigsten einzelnen Untersuchungsmethoden, soweit diese die Messung des Schielwinkels, die Prüfung der Lokalisation und des binokularen Sehaktes zum Gegenstand haben.

A. Anhaltspunkte für den Gang der Untersuchung.

Die Anamnese hat etwaige in der Familie des Patienten, besonders bei Eltern oder älteren Geschwistern, vorkommende Schielfälle zu berücksichtigen. Wichtig ist Art und Verlauf des Leidens bei diesen, insbesondere ob das Schielen in späterer Jugend spontan geheilt ist. Auch nach neuropathischer Belastung muß gefragt werden.

Am Kranken selbst interessieren die Zeit des Auftretens sowie unmittelbar vorhergegangene Krankheiten oder Unfälle. Wir fragen, ob das Schielen zunächst periodisch, bzw. unter welchen Bedingungen es aufgetreten ist: ob nur morgens

Das Schielen und seine Behandlung. 305

früh (Anomalie der Ruhelage, die durch Einfluß der Fusion ausgeglichen wird) oder abends oder bei Erregung, Ängstlichkeit u. s. w. (nervöse Komponente); ob es anfangs alternierend oder gleich einseitig war, ob der Schielwinkel größer oder kleiner geworden ist, ob anfangs Doppelbilder vorhanden waren. Auch eventuelle

frühere Behandlung muß beachtet werden. |

Bei der Untersuchung muß das allgemeine physische und psychische Befinden des Patienten beachtet werden. Asymmetrien von Schädel und Gesicht sind zu notieren. Sodann verschafft man sich einen vorläufig orientierenden Überblick über die Art des Schielens, während der Patient ein feines Objekt fixiert. Handelt es sich um wirkliches oder scheinbares Schielen (großer Winkel Gamma)? Ist das Schielen manifest oder tritt es erst bei Verdecken eines Auges auf? Besteht Strabismus con- vergens oder divergens? Ist die Beweglichkeit normal? Findet sich ein Überschuß an Exkursionsfähigkeit nach der einen, ein Zurückbleiben eines Auges in der ent. gegengesetzten Richtung? Ist das Schielen alternierend, vorwiegend oder ausschließ- lich monolateral?

Es folgt die objektive und subjektive Bestimmung des Brechzustandes und der Sehschärfe, sodann vielfach mit und ohne Gläser (bei Strabismus convergens jüngerer Individuen stets), dasselbe nach ausgiebiger Atropinisation. Anzuschließen ist die Messung des Schielwinkels (eventuell vor und nach Atropinisierung, mit und ohne Korrektion, auch in verschiedenen Blickrichtungen). Beachtung verdienen besondere Eigentümlichkeiten, vor allem eine eventuelle Höhenkomponente.

Sodann forscht man nach subjektiven Symptomen, vor allem Diplopie unter verschiedenen Bedingungen (rotes Glas, Höhen ablenkendes Prisma vor einem Auge), man prüft die Lokalisation mit einer der angegebenen Methoden. Wird der Schiel- winkel auch subjektiv festgestellt, so achte man darauf, ob er dem objektiven ent- spricht. Eine Inkongruenz deutet auf anomale Lokalisation. Endlich ist auf Binokular- sehen und Fusion zu untersuchen (s. p. 308), falls das möglich ist.

Diese Untersuchungen müssen von Zeit zu Zeit wiederholt werden, um den Einfluß der inzwischen angewendeten Behandlung zu kontrollieren.

B. Wichtige klinische Untersuchungsmethoden.

1. Feststellung des Schielwinkels.

a) Prüfung nach Albrecht v. Gräfe. Dieser legte eine kleine Platte an das Unterlid, welche in der Mitte einen Nullpunkt und daran anschließend nach jeder Seite eine kleine Skala hatte. Es mußte die Stelle des vertikalen Hornhautmeridians am Schielauge auf der Skala abgelesen werden; natürlich ergaben sich große Fehler wegen des verschiedenen Baues der Augen.

b) Prüfung nach Hirschberg. Diese großen Fehler wurden von Hirsch- berg zum Teil vermieden, indem er die Linie des horizontalen Hornhautdurchmessers als eine Art Skala benutzte. Er ließ eine Kerze anvisieren und beobachtete mit seinem dicht über der Flamme gehaltenen Auge die Lage des Reflexbildchens auf der Horn- haut des Schielauges. Liegt das Bildchen in der Mitte der Hornhaut, so ist der Schiel- winkel gleich Null; Lage des Bildchens am Limbus entspricht einem Schielwinkel von etwa 45°. Liegt das Bildchen mitten zwischen Centrum und Limbus, so würde also ein Schielwinkel von 221/,° vorhanden sein. Falls der Reflex bei mittelweiter Pupille auf dem Pupillenrand liegt, so soll der Schielwinkel nach Hirschberg zirka 15° betragen. Natürlich wird bei dieser Methode der Winkel Gamma (vgl. oben über scheinbares Schielen) gar nicht berücksichtigt.

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 20

306 Comberg-Meisner.

c) Prüfung am Perimeter. Der Patient wird so vor das Perimeter gesetzt, daß das Schielauge genau im Centrum des Bogens ist, alsdann richtet man das nichtschielende auf eine normale Primärstellung ein, u. zw. am genauesten ohne Akkommodation, indem man ein Licht fixieren läßt, das in der entsprechenden Rich- tung mehrere Meter entfernt angebracht wurde. Bequemer, jedoch weniger genau ist es, den Untersuchten auf die Fixiermarke blicken zu lassen, die am Drehpunkt des Perimeter- bogens steht. Sind die Augen des Patienten auf diese Weise in die richtige Stelluug gebracht, dann kann man den Schielwinkel des abweichenden Auges messen, ohne ` daß eine weitere Änderung in der Blickrichtung des Untersuchten nötig ist. Dazu nimmt der Arzt eine Kerze oder eine kleine elektrische Lampe und hält sie so an

Fig. 77.

Bestimmung des Schielwinkels an der Tangentenskala von Maddox. (Diese Abbildung wurde aus dem im gleichen Verlage erscheinenden Lehrbuch von Römer entnommen.)

den Perimeterbogen, daß ein Reflexbildchen auf der Hornhaut des untersuchten Auges entsteht, und beobachtet die Lage dieses Bildchens, indem er sein eigenes Auge unmittelbar über die Lichtquelle bringt; man führt das Licht so lange an dem horizontal gestellten Perimeterbogen entlang, bis man die Stelle gefunden hat, bei welcher das Reflexbild mitten auf der Pupille des Schielauges liegt. Der an diesem Punkt des Bogens angegebene Winkel ist der Schielwinkel des Patienten.

Wenn man kein passendes Licht hat, so kann man zur Hervorbringung des Reflexbildchens auch einfach den Augenspiegel nehmen und damit das Licht eines Fensters in das untersuchte Auge werfen.

d) Prüfung an der Maddoxschen Tangententafel. Diese Tangententafel hat die Form eines Kreuzes mit zwei seitlichen und zwei vertikalen Armen; in der Mitte befindet sich als Fixierpunkt eine kleine Lichtquelle und auf den Armen sind seitlich Zahlen angegeben, die für 1 und 5 Meter Untersuchungsabstand gelten. Diese Zahlen geben den Winkel an, um welchen das auf sie eingerichtete Auge von

Das Schielen und seine Behandlung. -+ 307

der Richtung gegen die Mitte abweicht (vgl. Fig. 77). Zur Messung des Schielwinkels mit Hilfe der Tangententafel kann man mehrere Verfahren benutzen:

1. Man stellt in ähnlicher Weise, wie das vorher für das Perimeter beschrieben ist, die Zahl fest, welche das Schielauge mit seiner Gesichtslinie berührt, während das normale Auge den Mittelpunkt fixiert, indem man mit einer Lichtquelle oder einem Spiegel von der Skala aus an dieser entlanggehend dem Schielauge Licht zuwirft. Am einfachsten für diesen Zweck ist es, die Tangententafel frei im Raum aufzustellen, oder man kann auch in eleganterer Weise (Krusius) die Zahlen auf einer Glastafel an- bringen lassen.

2. Eine einfache, allerdings etwas ungenaue Methode, die aber recht häufig angewandt wird, besteht darin, daß man mit dem normalen Auge eine seitliche Zahl fixieren läßt, bei der der Reflex des im Kreuzmittelpunkt befindlichen Lichtes mitten auf der Pupille des Schielauges liegt. Diese Art der Messung geht von der Annahme aus, daß es sich stets um ein konkomitierendes Schielen handelt, bei dem der Grad der Abweichung für alle seitlichen Blickstellungen des normalen Auges der gleiche ist. Das ist aber keineswegs immer der Fall; wie schon vorher erwähnt, macht sich namentlich bei den stärkeren Schielgraden eine Insuffizienz der Abduction für das Konvergenzschielen und der Adduction für das Divergenzschielen bemerkbar. In allen diesen Fällen ist das Resultat der Messung nicht ganz genau.

3. Recht bequem ist die subjektive Methode, bei welcher der Patient den Schiel- winkel selbst ablesen kann. Diese Methode basiert darauf, daß man Doppelbilder von dem Licht erzeugt, welches sich in dem Centrum der Maddox-Skala befindet. Anwendbar ist ein solches Verfahren zur Messung des Schielwinkels aber immer nur, wenn eine normale Lokalisation vorhanden ist. (Betreffend Prüfung der Lokalisation vgl. p. 294).

Die Doppelbilder macht man bei der subjektiven Methode z. B. dadurch sicht- bar, daß man ein Prisma mit horizontaler brechender Kante vor das Schielauge hält und dadurch dem Bild dieses Auges einen Höhenabstand vor dem anderen gibt. Dann wird das Bild auch den meisten Schielaugen bemerkbar. Es liegt über oder unter einer Zahl der Skala, die zugleich den Schielwinkel bezeichnet und die der Patient dann selbst ablesen kann. Bielschowsky nimmt zur Ablenkung des Bildes ein einfaches Prisma; man kann auch das Maddoxsche Doppelprisma nehmen, bei dem zwei Prismen mit den Kanten zusammengelagert sind und zwei Bilder entworfen werden, von denen das eine über und das andere unter die Skala zu liegen kommt. Noch bequemer ist die Anwendung des sog. Maddox-Streifens (vgl. Fig. 78). In einer Brillenglasfassung liegen mehrere kleine parallele Glascylinder, welche das Bild einer Lichtquelle als einen vertikal zur Achse orientierten Lichtstreifen erscheinen lassen. Ist dieser Lichtstreif durch Färbung des Glases noch auffallender gemacht, dann wird er auch von ziemlich minderwertigen Schielaugen deut- lich wahrgenommen. Die Messung ist sehr einfach, denn die Zahl, durch die dieser vom Schielauge gesehene Lichtstreif für das nicht schielende zu gehen scheint, gibt den Schielwinkel an.

2. Das Verhalten der Lokalisation.

Zu seiner Prüfung und Beurteilung dient der schon vorher eingehend ge- schilderte Nachbildversuch (vgl. p. 294). | 20*

308 Comberg-Meisner. 3. Die Prüfung des Binokularsehens, der Fusion und des Tiefensehens.

Für die Therapie besonders bedeutungsvoll ist die Feststellung, ob und in welchem Grade das binokulare Sehen bei den Schielenden vorhanden ist. Die Ver- hältnisse sind ziemlich kompliziert; man kann sich vorstellen, daß zwei einander entgegenarbeitende Tendenzen bestehen können, welche sich im wechselnden Grade bei den einzelnen Fällen bemerkbar machen. Es handelt sich um

a) die Fusionstendenz, d. h. die psychische Verarbeitungstendenz für binokulare Eindrücke, und | |

b) die Exklusionstendenz, d. h. eine im negativen Sinne wirkende Fähigkeit, das eine der beiden Bilder zu unterdrücken.

Die beste Entwicklung der Tendenz a) kann häufig nicht den vollen Nutzen bringen und beim binokularen Sehen nicht die Höchstleistungen ergeben, wenn die Tendenz 5) in stärkerem Maße entwickelt ist. Ist die durch 5) entstehende Hemmung

Fig. 79.

Amblyoskop nach Worth.

aber nur unwesentlich und besteht die normale Beteiligung beider Netzhautbilder am Aufbau des binokularen Sehfeldes, dann wird auch schon bei einer geringgradigen Entwicklung von a) wenigstens das einfache Binokularsehen unter allen Umständen vorhanden sein. Ist aber a) dabei gut ausgebildet, dann geht regelmäßig damit Hand in Hand die Fähigkeit zur höchstwertigen Ausdeutung des binokularen Bildes, das heißt, es ist gutes Tiefensehen vorhanden.

Auf einfaches Binokularsehen prüft man folgendermaßen:

1. Man setzt dem Patienten eine Brille mit einem roten und einem grünen Glas auf und läßt eine Fläche mit roten und grünen Glasfenstern ansehen. Durch das rote Brillenglas kann nur das rote Fenster, durch das grüne nur das grüne Fenster erkannt werden, da die gegenfarbigen Lichter die Brillengläser nicht passieren können. Sieht der Untersuchte gleichzeitig rotes und grünes Fenster, so besteht auch binoku- lares Sehen. Eine ähnliche Probe benutzt rote und grüne Buchstaben auf Papier.

2. Man nimmt ein Stereoskop und zeigt darin Bilder, die auf jeder Seite ganz verschiedene Details enthalten; z. B. ist auf dem rechten Teilbilde ein vertikaler Strich, auf dem linken ein horizontaler angebracht. Wenn binokulares Sehen vor- handen ist, dann müssen beide Striche gleichzeitig sichtbar sein.

3. Besonders brauchbar bei Schielenden ist das Amblyoskop (Fig. 79), ein Apparat mit zwei verstellbaren Röhren, in welchem jedem Auge in der Richtung seiner Gesichtslinie zueinander passende Teilbilder dargeboten werden, z. B. das Bild

Das Schielen und seine Behandlung. 309

eines Mannes, welcher nur auf einem Teilbild in der rechten Hand einen Schirm hält und nur auf dem anderen Teilbild auf seinem Kopf einen Hut trägt. Bei binokularem Sehen muß dann sowohl der Hut wie der Schirm an dem Bilde gesehen werden.

Die Fusionsbreite (d.h. den Winkelbereich, innerhalb dessen Doppelbilder durch dynamische Muskelaktion beseitigt werden) prüft man durch Feststellung der stärksten Prismen, die noch überwunden werden können oder durch Messung der Einstellungs- breite am Amblyoskop und Haploskop.

Die Fusionstendenz prüft man am Stereoskop oder am Amblyoskop z. B. mit dem stereoskopischen Bild von zwei in verschiedenen Entfernungen liegenden Ringen.

a) Bei einfachem binokularen Sehen mit leidlicher Fusionstendenz, aber unvoll- kommener Ausbildung des Tiefensehens wird an solchem Bilde der fixierte Punkt und der zugehörige Ring binokular einfach gesehen. Der zweite Ring zerfällt in Doppelbilder, von denen das eine unterdrückt werden kann.

b) Bei ausgeprägten Tiefensehen erscheint ein eindeutiges plastisches Bild. Die beiden Ringe werden gleichzeitig gesehen, u. zw. in einer bestimmten zu- gehörigen Tiefenentfernung.

Das Vorhandensein des stereoskopischen Sehens prüft außerdem:

1. Der Stäbchenversuch. Man läßt durch ein Blendenvisier (am besten ist dazu ein leicht konisches Rohr von 20cm Länge, 15 cm Durchmesser der größeren und 10cm Durchmesser der kleineren Öffnung) nach drei vertikalen Stäben blicken, die so auf- gestellt sind, daß man den Fußpunkt nicht sehen kann. Die Stäbe stehen zunächst in einer frontalen Ebene nebeneinander. Geringgradiges Verschieben des mittleren Stabes zum Beobachter hin oder vom Beobachter weg muß sofort richtig erkannt werden. Der Kopf des Untersuchten darf dabei nicht bewegt werden.

2. Herings Fallversuch. Der Patient sieht durch einen horizontal gestellten Spalt nach einer an einem Faden aufgehängten und meist mit dem Blendenkasten, der zur Beobachtung dient, fest verbundenen Glasperle. Man läßt die Glasperle an dem Faden fixieren und andere Glasperlen dicht davor oder dicht dahinter herunter- fallen. Der Patient muß angeben können, ob es davor oder dahinter war.

4. Prüfung der Abduction und Adduction.

Das normale Auge soll bei forcierter Abduction, d. h. bei stärkstmöglicher Wendung nach der temporalen Seite, mit dem Limbus gerade den äußeren Lidwinkel erreichen, bei forcierter Adduction dagegen mit der Hornhaut so weit hinter der Carunkel verschwinden, daß die mittelweite Pupille mit ihrem nasalen Rande gerade über dem unteren Tränenpunkt steht. Bei länger bestehendem Schielen ändert sich häufig die Abductions- und Adductionsfähigkeit des Auges. Beim Konvergenzschielen ist die Adduction häufig vermehrt, so daß die Hornhaut manchmal ganz hinter der Carunkel verschwindet, wenn man nach einwärts blicken läßt, und, allerdings weniger häufig, auch manchmal die Abduction vermindert. Beim Divergenzschielen dagegen findet sich häufiger eine vermehrte Abductions- fähigkeit.

Meist genügt schon die Feststellung, daß ein Plus oder Minus an Adduction oder Abduction vorhanden ist. Es läßt sich aber auch messend das Verhalten dieser Fähigkeiten verfolgen; man kann sich dann mit dem Millimetermaß auf den inneren und äußeren Lidwinkel beziehen.

310 Comberg-Meisner.

C. Praktischer klinischer Untersuchungsgang.

Wünschenswert für alle praktischen Bestrebungen ist die Einhaltung eines ein- ` fachen klinischen Untersuchungsganges. Die Untersuchung wird am besten folgendermaßen vorgenommen:

1. Anamnese: Wann ist der Augenfehler zuerst bemerkt? Schielte der Patient zeitweise oder dauernd, einseitig oder alternierend? Traten Doppelbilder auf?

2. Art des Schielens, convergens oder divergens, periodisch oder ständig, mono- lateral oder alternierend, Beweglichkeit der Augen (+ an Adduction, an Abduction, besondere Höhenkomponente u. s. el

3. Messung des Schielwinkels, objektiv (Tangentenskala, Perimeter), subjektiv (Doppelbilder durch Höhen ablenkendes Prisma oder Maddox-Streifen), dasselbe mit Korrektion (s. sp.).

4. Funktionsprüfung beider Augen ohne und mit Gläsern, Bestimmung der Re- fraktion, eventuell unter Atropin.

5. Untersuchung der relativen Lokalisation; diese läßt sich bereits erschließen aus dem Verhältnis des objektiv festgestellten Schielwinkels zu der subjektiven Lokalisation des Bildes des Schielauges unter 3. Stimmen beide nicht überein, so besteht anomale Lokalisation, allerdings muß immer wieder betont werden, daß die Zahlen nur gelten für die besonderen Verhältnisse, unter denen geprüft wurde. Diese Methode wird ergänzt durch die Nachbildprüfung mit dem Glühfaden (s. p. 294).

6. Untersuchung auf Binokularsehen und Fusion am Haploskop oder Amblyoskop.

Die hierdurch gefundenen, im Einzelfalle sehr verschiedenen Verhältnisse sind bestimmend für die Therapie.

IX. Therapie.

Vorbedingung für Anwendung einer jeden rationellen Therapie ist die genaue ‚Kenntnis der Ursachen des betreffenden Leidens. Eine solche besitzen wir aber vom Schielen, wie früher ausgeführt ist, noch keineswegs. Wohl kennen wir verschiedene Momente, die das Auftreten einer Schielablenkung begünstigen bzw. die bei der Mehrzahl derartiger Patienten festzustellen sind, aber ihre ursächliche Bewertung ist noch immer Gegenstand der Diskussion.

Wir beschäftigen uns zunächst mit der Behandlung des Strabismus convergens.

Die älteste Ansicht über seine Entstehung ging aus von dem hervorstechendsten Symptom, der falschen Stellung des Schielauges, das bei geradeaus in die Ferne ge- richtetem Blick nasenwärts abgelenkt ist. Es lag nahe, dafür eine angeborene Störung der beiden Muskeln anzunehmen, die den Augapfel in der Horizontalebene bewegen, also ein Überwiegen des Musculus rectus internus über den rectus externus (muskuläre Theorie v. Gräfes) (s. p. 302). Als geeignete Abhilfe erschien Schwächung des einen oder Stärkung des Antagonisten oder beides zugleich. So behandelte man seit Dieffenbach (1839) den Strabismus convergens durch eine Tenotomie des Rectus internus. Man durchschnitt die Sehne desselben an ihrem Ansatz an der Sclera, der Muskel zog sich etwas zurück und verwuchs mit dem Augapfel etwas hinter der ursprünglichen Insertionsstelle. Oder man durchtrennte den Rectus externus und nähte ihn näher am Limbus wieder an, wodurch seine Zugkraft verstärkt wurde.

Donders zuerst lenkte die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, daß der Strabis- mus convergens in weitaus der Mehrzahl der Fälle mit Hyperopie verbunden war, die er in dem oben dargelegten Sinne für die falsche Augenstellung verantwortlich machte (s. p. 302). Die logische Folge für die Behandlung bestand in der Vollkor- rektion der Hyperopie.

Das Schielen und seine Behandlung. 311

Von dem Gesichtspunkte ausgehend, daß ein ideales Muskelgleichgewicht, eine Orthophorie, zu den Ausnahmen gehört, daß aber trotzdem normalerweise stets eine Einstellung beider Augen auf den fixierten Gegenstand durch das Fusionsvermögen erreicht wird, sah Worth in dessen angeborenem Fehlen oder wenigstens dessen rudimentärer Ausbildung den Hauptgrund zur Abweichung eines Auges. In diesem Falle befinden sich die beiden Augen gewissermaßen in einem labilen Gleichgewicht, und es bedarf nur eines geringen Anstoßes, um ein Schielen eintreten zu lassen. Dieser Anstoß kann sowohl in einer abnormen Ruhelage (Heterophorie) als in einer Hyperopie oder in der geringeren Sehschärfe eines Auges oder in einer Kombination mehrerer dieser Momente bestehen. Abhilfe kann nur geschaffen werden, wenn es gelingt, das Fusionsvermögen durch zweckmäßige Übungen wieder zu heben.

Die moderne Schielbehandlung hat alle die genannten Mittel zu benutzen, um zum Ziel zu kommen. Worin besteht dieses? Der Laie, d.h. der Patient, hält sich an das vorstechendste Merkmal des Schielens, die abnorme Augenstellung, die äußerst entstellend ist. Diesen Schönheitsfehler will er beseitigt haben. Genügt das dem Arzt? Für diesen steht ebenso in erster Linie die Funktionseinbuße des Sehorgans, die dem Kranken kaum zum Bewußtsein kommt. Schon die häufige, manchmal außerordentlich beträchtliche Verminderung der Sehschärfe des Schielauges wird von den wenigsten Schielenden wahrgenommen, selbst wenn sie älter sind. Meist sind sie vielmehr sehr erstaunt, wenn sich bei monokularer Sehprüfung die geringe Leistung des einen Auges herausstellt. Kaum jemals sind sie sich über das Fehlen des körperlichen Sehens im klaren, das an den binokularen Sehakt geknüpft ist. Der Arzt dagegen muß gerade auf die weitestmögliche Wieder- erlangung dieser Funktionen das größte Gewicht legen, weil nur dann auch ein kosmetischer Dauererfolg sicher gewährleistet ist. Wir müssen also als das Ideal erstreben eine möglichst weitgehende Herabminderung der Schwachsichtigkeit des Schielauges, die ja fast stets nicht congenital oder durch Fundusveränderungen bedingt, sondern eine sog. Amblyopia ex anopsia, d. h. durch Nichtgebrauch, entstanden ist, und eine Hebung des Fusionsvermögens. Genügt beides nicht zur Wiederherstellung normaler binokularer Einstellung, dann erst tritt die operative Korrektion in ihre Rechte. Meist haben wir Mühe, den Patienten oder seine Ange- hörigen, die zu schneller Beseitigung des kosmetischen Fehlers und damit zur Ope- ration drängen, auf diesem etwas mühevollen und umständlichen Wege zum Ziele zu führen. Es muß aber, von ganz besonderen Umständen abgesehen, als Kunstfehler gelten, einen Schielenden nach der ersten Untersuchung gleich zu operieren. Unser Vorgehen ist verschieden, je nach der Lage des einzelnen Falles, nach dem Alter des Patienten u. s.w. `

Vorbedingung für eine erfolgreiche Behandlung ist eine genaue Untersuchung nach der oben angegebenen Weise. Sind wir dann orientiert über Art des Schielens, monokular, alternierend, Größe des Schielwinkels, Refraktion, Sehschärfe und Fusions- vermögen, so muß, je nachdem, was wir gefunden haben, die Behandlung beginnen.

Korrektion der Ametropie.

Besteht eine Hyperopie bzw. ein Astigmatismus, so muß der Brechungsfehler auskorrigiert werden. Da der Übersichtige es wird sich stets um jüngere Individuen handeln gewohnt ist, ständig zu akkommodieren, muß der Ciliarmuskel völlig ge- lähmt werden. Das geschieht durch Einträufeln von 1—2 Tropfen 1% iger Atropin- lösung an mehreren Tagen hintereinander. Worth empfiehlt sogar, 3mal täglich 3 bis

312 Comberg-Meisner.

8 Tage hindurch Atropin zu geben. Das kann zu Hause geschehen; bei kleinen Kindern, die das Einträufeln manchmal sehr erschweren, ist es besser, eine Salbe von gleicher Konzentration einstreichen zu lassen.

Es ist zu beachten, daß gelegentlich leichte Vergiftungserscheinungen nach Atro- pin beobachtet werden. Diese äußern sich in ihren Anfängen in fliegender Röte des Gesichts und Trockenheit im Halse, in höherem Grade können leichte Verwirrtheits- stadien auftreten. Dann muß natürlich das Medikament abgesetzt werden, und man muß sich mit geringeren Dosen begnügen. Eventuell kann man eine zu starke Re- sorption dadurch verhindern, dad man nach Einbringung des Tropfens in den Bindehautsack etwa fünf Minuten den Tränensack durch den daraufgelegten Finger fest komprimieren läßt und so ein Eindringen des Giftes in Nase und Rachen verhindert.

Die Bestimmung der Refraktion geschieht dann im Dunkelzimmer mit Hilfe der Skiaskopie. Auch ein etwa vorhandener Astigmatismus muß. genau festgestellt werden. Selbst bei Säuglingen gelingt auf diese Weise eine genaue objektive Ermitt- lung des Brechzustandes. Ältere Kinder fordert man auf, den Spiegel zu fixieren, kleinere blicken schon von selbst nach diesem leuchtenden Punkt im dunklen Zimmer. Die Untersuchung des Schielauges geschieht am besten bei Verdeckung des führenden. Nur die wenigen Fälle, bei denen die centrale Fixation bei verdecktem besseren Auge nicht möglich ist, machen größere Schwierigkeiten. Man kommt aber auch dort ge- wöhnlich noch zum Ziel, sonst muß man sich zunächst begnügen, dessen Refraktion angenähert zu bestimmen, eventuell unter Berücksichtigung des besseren. Man ver- schiebt dann die exakte Feststellung auf eine spätere Untersuchung, wenn es viel- leicht gelungen ist, durch die gleich zu SEH Methode die Amblyopie zu bessern.

Wenn die Kinder schon Zahlen lesen Können oder doch einigermaßen die besonders für jüngere bestimmten Tafeln mit Figuren erkennen können, schließt sich an die objektive Bestimmung die subjektive an. Wenn die Augen unter Atropin- wirkung stehen, so gibt auch diese Prüfung die totale Hypermetropie wieder, muß also mit der objektiv gefundenen übereinstimmen. Als Brille verschreibt man dann um 0'5 D niedrigere Gläser, also z. B. bei + 5'0 gibt man + 4'5. Unter der Atropin- einwirkung ist nämlich auch der normale Tonus des Ciliarmuskels erschlafft, so daß man mit den ‚unter Atropin angenommenen Gläsern nach Abklingen der Atropin- wirkung eine geringe Überkorrektion und damit eine etwas schlechtere Fernseh- schärfe erhalten würde. Bestmögliche Sehschärfe ist aber eine Vorbedingung für Hebung der Funktion.

Kinder von 3—4 Jahren können schon, wenn man sie zu interessieren versteht und die Untersuchung nicht bis zur Ermüdung ausdehnt, ganz gute Angaben machen, wie weit sie die gebotenen Sehzeichen erkennen. Es sind verschiedene Proben im Gebrauch, schwarze und farbige Bilder von Gegenständen in verschiedenen Größen, die dem Kinde vertraut sind, eine Uhr, eine L£iter, ein Vogel, ein Kochtopf, eine Tasse u. s. w. Mir hat meist ausgezeichnete Dienste geleistet der sog. Snellensche Haken, der auch für erwachsene Analphabeten in Gebrauch ist, ein lateinisches E, das nach oben, nach unten, nach rechts oder links geöffnet ist. Man gibt dem Kind einen gleich gestalteten Haken, an dem ein Stab zum Anfassen ist, etwa in dieser Form I in die Hand, zeigt ihm, daß der Käfig oder die Falle oder wie man es sonst nennen will, an einer Seite offen ist und dort der Vogel oder die Maus hereinschlüpfen kann, und zeigt ihm das an der Figur, die es in der Hand hält. Dann zeigt man ihm zunächst an der Sehprobentafel aus der Nähe die größte Figur, die es sicher erkennen kann,

Das Schielen und seine Behandlung. 313

und fordert es auf, dem Zeichen, das es in der Hand hält, dieselbe Richtung zu geben wie der Figur, die man ihm an der Tafel zeigt. Nach kurzem Üben geht die Prüfung meist sehr schnell und sicher vor sich. Man darf sich natürlich nie mit einer Probe allein begnügen, sondern muß sich aus jeder Reihe der Tafel mehrere Figuren zeigen lassen.

Sind die Gläser ermittelt, so werden sie aufgesetzt, solange die Atropinwirkung noch nicht abgeklungen ist, nötigenfalls gibt man nochmals 1—2 Tropfen. Die Brille soll ständig getragen werden, sie wird morgens nach dem Waschen aufgesetzt und erst vor dem Schlafengehen abgelegt. Die Kinder machen meist keine Schwierig- keiten, sie selber sind noch nicht eitel, höchstens ihre Eltern.

Großer Wert muß auf richtigen Sitz der Brille gelegt werden, die Gläser müssen groß und rund sein, so daß der Träger nicht darüber weg oder seitlich daran vorbei- sehen kann. Manche geben kleinen Kindern aus diesem Grunde senkrecht ovale Gläser. Die Fassung ist am besten aus gutem Material, das nicht rostet. Mit zu- nehmendem Wachstum muß die Fassung erneuert werden. Die Gläser müssen für die Ferne zentriert sein und sollen nahe genug vor dem Auge sitzen, allerdings ohne die Wimpern zu berühren. Der Nasensteg muß breit und flach sein und der Form der Nasenwurzel sich anpassen. Biegsame Reitfedern sollen das ganze Ohr umfassen; es muß von den Eltern stets darauf geachtet werden, daß die Brille nicht von der Nase abrutscht, so daß dann die Kinder doch darüber weg sehen. Für ganz kleine Kinder unter drei Jahren empfiehlt Worth seitlich kurze, nur bis vor das Ohr reichende, sog. Damenfedern mit einem Schlitz hinten, durch diesen werden Bändchen hindurchgezogen, die um den Kopf herumgebunden werden. Vor dem Ohr werden die Federn mit Wolle umwickelt, um das Wundscheuern der Haut zu verhüten.

Selbst Kinder von mehreren Monaten können schon Brillen tragen (sie sollen es auch aus gleich zu erörternden Gründen). Da das Sehvermögen dadurch gebessert wird, gewöhnen sie sich ohne Schwierigkeiten daran, hindurchzusehen. Die Be- fürchtung der Eltern, daß sehr lebhafte Kinder die Brillengläser zerbrechen und die Glasscherben das Auge verletzen, ist gänzlich unbegründet. Ich habe nie einen Schaden dadurch gesehen, und auch die Autoren, die besonders Gewicht auf frühes Brillentragen legen, wie Worth, Bielschowsky u. a., berichten ausdrücklich gleiches. |

Findet man keine Hyperopie, sondern eine Myopie bzw. einen myopischen Astigmatismus, so soll auch dieser voll auskorrigiert und die Korrektion ständig getragen werden. Es kommt eben alles darauf an, eine möglichst gute Sehschärfe zu erreichen. Freilich kann eine Akkommodationsanstrengung schon beim Fernsehen hier nicht als Ursache für den Strabismus angesehen werden, es muß vielmehr eine abnorme Ruhelage im Sinne einer Konvergenzstellung oder eine nervöse Ätiologie angeschuldigt werden, die neben einer Fusionsschwäche in seltenen Fällen auch bei myopischer Refraktion zum Konvergenzschielen führen können (s. p. 297).

Warum muß großer Wert auf frühestmögliche Korrektion der Ametropie gelegt werden? Schon eine geringe Unterwertigkeit des Netzhautbildes im Schielauge, wie es durch dessen häufig stärkeren Refraktionsfehler gegenüber dem führenden Auge gegeben ist, erschwert die Fusion der beidäugigen Eindrücke zu einem Bilde und erleichtert die Unterdrückung des unschärferen (Exklusion). Wir haben gesehen, daß die unverhältnismäßig schlechte Sehschärfe des schielenden Auges, die wir, je länger der Zustand besteht, um so ausgeprägter finden, fast niemals auf objektiven Sehnerven- oder Netzhautveränderungen beruht, sondern größtenteils eine Folge des Schielens ist; je eher also das Schielauge ein scharfes Netzhautbild bekommt, desto besser.

314 Comberg-Meisner. Die zweite Aufgabe der Behandlung besteht in der

Besserung der Sehschärfe.

Wo schon ein manifester Strabismus besteht, würde allein die Verordnung einer passenden Brille nur in den wenigsten Fällen genügen, dieses Ziel zu erreichen, denn die fortbestehende Ablenkung verhindert ja das abgelenkte Auge überhaupt an der Wahrnehmung des auf der Netzhautmitte Abgebildeten. Wir haben aber ein sehr einfaches Mittel, das zu erzwingen, nämlich den Ausschluß des führenden Auges. Wenn die nachfolgend beschriebenen Übungen zur Verbesserung des Fusions- vermögens Erfolg haben sollen, so muß das sehschwächere Auge nach Worth mindestens eine Sehschärfe von etwa °/,, haben. Viele sehen aber bedeutend weniger, können sogar die centrale Fixation überhaupt verloren haben. Wie bereits früher hervor- gehoben, ist aber diese Schielamblyopie einer wesentlichen Besserung fähig. Am sichersten ist es, zunächst für 2—3 Wochen das führende Auge durch eine gut sitzende, lichtdicht schließende Klappe aus weichem schwarzen Tuch, die das Tragen der Brille nicht verhindert, völlig anszuschalten. Auch das Einklemmen von einem Bausch Watte hinter das Glas, der eventuell durch Heftpflaster oder einige Bindentouren fixiert wird, ist empfohlen worden. Adam hat besondere Brillen angegeben, die nach der Art einer Autobrille anschließen, aber an der Seite des nicht schielenden Auges vorne mit undurchsichtigem Glas versehen werden, während von dem Schielauge das korrigierende Glas getragen wird. In den ersten Tagen ist große Achtsamkeit der Ange- hörigen von nöten, die dafür sorgen müssen, daß dieser Abschluß des besseren Auges völlig durchgeführt wird. Das Kind ist also auf das amblyopische Auge allein ange- wiesen. Wenn nach 2—3 Wochen eine bedeutende Besserung der Amblyopie festzu- stellen ist, empfiehlt Worth, das bessere Auge wieder freizugeben, aber noch einige Zeit in dieses einen Tropfen Atropin täglich einzuträufeln. Ist die Schwachsichtigkeit ‘noch wenig verringert, wird die Behandlung durch Verbinden fortgesetzt, aber nicht länger als 2 Monate. Das atropinisierte bessere Auge wird dann meist für die Ferne gebraucht, für die Nähe aber, zum Spielen, Lesen u. s. w., ist das Kind zur Benutzung des schwächeren Auges gezwungen, das bei einer Sehschärfe von !/,„— '/, nahe Gegen- stände besser erkennt als ein atropinisiertes. Manche verzichten auch überhaupt auf vollständige Okklusion eines Auges und geben nur Atropin in das bessere Auge. Das Kind wird alle Monate etwa einmal kontrolliert. Eine nutzlose Quälerei aber ist es, wenn man, wie es früher wohl empfohlen wurde, beide Augen atropinisiert. Die zwecklosen, im Interesse des deutlich Sehens von dem Kinde unternommen Versuche zur Akkom- modation vergrößern höchstens die Schielstellung.

Wenn die Sehschärfe beider Augen etwa die gleiche wird, zeigt sich das meist darin, daß das bisher führende Auge während der Atropinbehandlung in Schiel- stellung geht. Mitunter tritt das bereits nach dem einseitigen Verbinden ein. Wir müssen dann in der Behandlung haltmachen, meist wird dann in kurzem doch wieder das ursprünglich bessere Auge die Führung übernehmen, sonst kann das alte Schielauge auch einmal Atropin bekommen. Anderenfalls atropinisiert man das bessere Auge nochmals. Durch diesen Wechsel wird es doch nicht selten gelingen, die Schielamblyopie auf dem besseren Auge hintanzuhalten und meist die des schlechten zu heben. Ist das gelungen, so beginnt man mit den

Übungen des Fusionsvermögens.

Wir bedürfen dazu eines Stereoskops und passender Bilder. Die gewöhnlichen Stereoskope haben den Nachteil, daß die Entfernung der Halbbilder nicht in ausreichen-

Das Schielen und seine Behandlung. 315

dem Maße geändert werden kann, d.h. nicht entsprechend dem Schielwinkel. Es muß nämlich jedes Halbbild in die Sehachse des betreffenden Auges gebracht werden. Die meisten Apparate können daher nur gebraucht werden, wenn der Schielwinkel sehr klein bzw. durch Operation fast beseitigt ist. Auch das von Tornier-Leipzig verbesserte Modell gestattet gerade beim Strabismus convergens keine ausreichenden Verschiebungen. Die Übungen sollen aber nicht erst nach einer solchen gemacht werden, sondern schon vorher. Am besten ist das sog. Amblyoskop von Worth, dem bereits mehrfach genannten Londoner Augenarzt, dem wir gerade in der Schiel- therapie wertvolle Hilfe verdanken.

Er selber beschreibt dieses folgendermaßen:

Der Apparat besteht aus zwei durch ein Scharnier in A (Fig. 79) verbundenen Hälften, deren jede von einem sehr kurzen Messingtubus gebildet wird, an welchem sich ein längerer Tubus unter einem Winkel von 120° ansetzt. Der Durchmesser dieser Rohre beträgt 3:75 cm. Jede Hälfte des Apparats wird in AX von einer flachen, ovalen Messingplatte verschlossen; in AX befindet sich innen in beiden Hälften ein ovaler Spiegel. GH, GH sind die Träger für die Figurenplatten, die aus Vorlagen bes chen, welche auf durchsichtigem Papier gezeichnet und auf Glasstreifen aufgeklebt sind. In AB befindet sich eine Konvexlinse mit einer Brennweite von 10:5 cm, der Entfernung des reflektierten Bildes von GH entsprechend. AB, AB sind Nuten, die bei vertikaler Ablenkung Prismen, Basis oben bzw. unten, aufnehmen können.

D, E, F stellt einen Messingbogen mit zwei Schlitzen vor, einem kurzen Schlitz mit der Klemm- schraube D und einem langen mit der Schraube F. Wird letztere gelockert, dann lassen sich die beiden Hälften des Apparats zusammenbringen, um einer Konvergenz der Sehachsen bis zu 60° zu entsprechen oder sich trennen, um einer Divergenz bis zu 30° zu entsprechen. Wird jedoch die Schraube E fest- gezogen und die Schraube D in dem kurzen Schlitz gelockert, dann beschränkt sich die Beweglichkeits- amplitude auf nicht mehr als ca. 10°.

Die Beleuchtung der durchsichtigen Bilder geschieht durch zwei Lampen und wird je nach Bedarf für das rechte oder linke Halbbild durch Annäherung oder Ent- fernung der zugehörigen Lampe gesteigert oder vermindert. In Deutschland hat Krusius einen gleichen Apparat und eine bequemere, freilich auch kostspieligere Art der Beleuchtungsveränderung angeben. Die Vorlagen die von Worth und Krusius eignen sich dazu, ebenso andere auf durchsichtigem Papier gedruckte enthalten drei Klassen je nach dem Grade des vorhandenen Fusionsvermögens.

Die der ersten verlangen noch keine Verschmelzung, sondern nur gleichzeitige Wahrnehmung der beidäugigen Eindrücke, zeigen z. B. einen Vogel auf einem, den Käfig auf dem andern Bild, oder eine Maus und eine Falle u.s.w. Die Probe wird bestanden, wenn beide Gegenstände zugleich wahrgenommen werden.

Bei der zweiten Klasse haben beide Bilder eine Figur oder einen wesentlichen Teil einer solchen gemeinsam, dem einen Halbbild fehlt ein wichtiger Teil, auf dem anderen ist dieser vorhanden, dagegen ist ein anderer auf dem ersten vorhandener ausgelassen. So zeigen hierher gehörende Bilder von Worth links einen Mann mit einem Hut auf dem Kopf und einem Regenschirm in der Hand, aber ohne ein linkes Bein, auf dem rechten Halbbild ist dieses vorhanden, nicht aber Hut und Regen- schirm. Das doppelt vorhandene Objekt muß einfach gesehen, also rechts- und links- äugiger Eindruck verschmolzen werden. Daß dem so ist und nicht etwa: nur das Netzhautbild eines Auges wahrgenommen wird, geht daraus hervor, daß die jedem Bilde besonderen Merkmale gleichfalls an dieser Figur vorhanden sind, im oben er- wähnten Falle also beide Beine, Hut und Regenschirm.

Vorlagen der dritten Klasse werden richtig nur dann gesehen, wenn die Betrachter über stereoskopisches Sehen verfügen, also das Gesamtbild in Tiefendimension erscheint (z. B. Bild eines aufrecht oder umgekehrt stehenden Eimers).

Alle Figuren müssen sehr einfach und dem Verständnis der Kinder, denn um solche handelt es. sich fast stets, angepaßt sein.

316 Comberg-Meisner.

Nach Worth soll mit diesen Übungen schon bei Patienten von 3—3'/, Jahren begonnen werden. Es gelingt dann, in wenigen Wochen zum Ziele zu kommen; zwischen dem 5. und 6. Jahr dauert es wesentlich länger, später sind sie nur noch ausnahmsweise von Erfolg.

Vorbedingung ist eine genügende Sehschärfe des Schielauges; besteht starke Amblyopie (DOLL, so muß zunächst in der oben angegebenen Weise die Sehschärfe gehoben werden. Je kürzer das Schielen dauert, desto günstiger die Aussichten. Ein Refraktionsfehler muß korrigiert sein. Man beginnt mit den Bildern der Klasse I und bringt durch Verschieben der Amblyoskoparme jedes Bild in die Sehrichtung des betreffenden Auges. Zunächst wird nur das Bild des führenden Auges wahrgenommen werden. Dann wird durch Änderung der Beleuchtung dieses abgeschwächt, das andere erhellt, worauf meist das erstgesehene verschwindet, zu gunsten des zweiten Halb- bildes. Nach Anpassung der Beleuchtung gelingt es dem Kinde, allmählich beide Bilder wahrzunehmen. Durch Änderung des Abstandes wird allmählich der Vogel in den Käfig, die Maus in die Falle schlüpfen u. a. m.

Dann wird Serie II vorgenommen. Werden beide Bilder been SO sucht man durch langsames Hin- und Herbewegen der Bilder die Fusionsbreite zu erhöhen.

Wenn das Kind eine etwas größere Fusionsamplitude erworben hat, so besitzt es meist auch stereoskopisches Sehen, d. h. es erkennt die Bilder der UL Serie richtig.

Ist das erreicht, so versucht man langsam die Belichtung beider Bilder auszu- gleichen. All dies läßt sich in der Regel bei jüngeren Kindern in 5—6 Sitzungen, je eine in der Woche, erreichen. In manchen Fällen kommt es dann zu spontaner Heilung des Schielens, da in dem Patienten der Trieb, einfach zu sehen, stark genug geworden ist, um die etwaigen Widerstände (Anomalie der Ruhelage etc.) auszugleichen. Sonst gelingt es wenigstens durch in größeren Zwischenräumen, etwa allmonatlich, vorgenommene Übungen, das wieder erworbene Fusionsvermögen zu erhalten. Nimmt trotz Korrektion des Brechungsfehlers und leidlicher Fusionsbreite der Schiel- winkel nicht mehr ab, so kann eine Operation die Geradestellung erleichtern, eine Vorlagerung des Externus mit oder ohne Tenotomie des Internus. Der Rest des Schiel- winkels wird dann in der Regel durch Fusion überwunden und diese sichert den Erfolg des Eingriffs.

Während ein großer Teil der Fälle von Strabismus convergens unilateralis durch diese Übungsmethoden das Fusionsvermögen wieder erlernen kann, besteht diese Aus- sicht bei dem alternierenden Schielen weniger. Hier ist auch häufig keine Amblyopie vorhanden, dagegen eine Schwäche oder nach Worth ein congenitales Fehlen der Fusion überhaupt, das auch durch Übungen nicht zu beheben ist.

Wir müssen in diesen Fällen die Refraktionsfehler korrigieren und, wenn der Patient etwas älter geworden ist, operieren. Die Prognose ist schlechter als bei vor- handener Fusion, manchmal tritt hartnäckiges lästiges Doppelsehen ein; ein Operations- erfolg kann, da die gute Stellung nicht durch Fusion erhalten wird, wieder zurück- gehen.

Die Operation

deren Indikation in obigen Ausführungen bereits zum Teil gegeben ist, soll grundsätz- lich nicht zu früh erfolgen, wenn nicht ein wiedererlangtes Fusionsvermögen ein Dauerresultat wahrscheinlich macht. Sie soll tunlichst unter Lokalanästhesie vorge- nommen werden, da in der Narkose der Schielwinkel sich manchmal wesentlich

Das Schielen und seine Behandlung. 317

verändert und also keinerlei Dosierung möglich ist. Als Regel soll nicht die tech- nisch einfachere Tenotomie des Internus vorgenommen werden, weil sie durch Zurücksinken der Carunkel kosmetisch schlechter ist und manchmal durch Er- schwerung der Konvergenz auch funktionelle Beschwerden beim Nahsehen her- vorruft. Es muß wenigstens ein Plus an Adduction vorhanden sein, d. h. die Hornhaut muß bei Einwärtswendung zum Teil hinter der Carünkel verschwinden. Eine Vorlagerung kann einen Schielwinkel von 15 Grad ausgleichen, ist dieser noch größer, so muß die Tenotomie des Internus hinzugefügt, eventuell auch am ‘anderen Auge der Externus vorgelagert werden.

Die Tenotomie des Musculus rectus medialis wird (nach Bielschowsky im „Lehrbuch und Atlas der Augenheilkunde“ von Axenfeld, dem auch die nach- folgenden Skizzen Fig. 80 und 81 entnommen sind) folgendermaßen ausgeführt (Fig. 80):

Tenotomie (Rücklagerung).

1. Durchtrennung der Conjunctiva über dem Sehnenansatz, d. i. ca. 3 mm ent- fernt vom Limbus.

2. Aufsuchen der in die Fascia eingehüllten Sehne und Abtrennung der- selben an ihrer Insertionsstelle; man behält die Sehne in der (chirurgischen) Pinzette und führt

3. einen feinen schwarzen Seidenfaden von der hinteren (bulbären) Fläche des Muskels nach vorne hindurch (von a nach b) und sodann in gleicher Weise durch die Bindehaut, die ihn deckt. Sodann geht man mit demselben Faden von der Hinter- fläche aus durch die Limbusbindehaut bei d.

Die Fadenenden werden nicht angezogen, sondern lose geschlungen.

Diese Naht wird gelegt, um den Muskel durch Anziehen des Fadens etwas mehr der alten Insertionsstelle zu nähern, falls in den nächsten Tagen die Wirkung der Rück- lagerung sich als zu stark erweist, d. h. falls schon bald Parallelstellung oder gar leichte Divergenz des operierten Auges auftritt. Es muß vielmehr, da der Effekt der Tenotomie sich noch etwas steigert, zunächst eine leichte Konvergenz bestehen bleiben.

4. Anlegung eines einseitigen Verbandes für 3—4 Tage.

318 Comberg-Meisner.

Die Vorlagerung nimmt Bielschowsky in dieser Weise vor (s. Fig. 81):

1. Die Bindehaut über dem Sehnenansatz wird, wie oben beschrieben, ein- geschnitten.

2. Die Sehne wird mit chirurgischer Pinzette gefaßt, am Ansatz abgetrennt und sodann mit einer Klemmpinzette festgehalten.

3. Ein doppeltarmierter Seidenfaden wird bei a und a! am Limbus etwas ober- und unterhalb des horizontalen Meridians durch Bindehaut und oberste Skleral- lamellen eingeführt und in der Bindehautwunde vor der alten Insertionsstelle aus- gestochen (b und 51), der mittlere Teil des Fadens bleibt auf der Hornhaut liegen. -

4. Beide Nadeln werden bei c und c! von hinten durch Sehne und Binde- haut gestochen.

5. Hierauf die Sehne, je nach Bedarf, um ein gewisses vor den Fäden ge- legenes Stück gekürzt (Vorsicht, dabei die Fäden nicht durchschneiden).

Fig. 81.

Vorlagerung.

6. Die eine Nadel wird durch die auf der Hornhaut liegende Schlinge geführt, dann beide Fädenenden angezogen, geknotet und abgeschnitten. Die Sehne kommt dadurch auf b, bt zu liegen.

7. Binokulus für 5—6 Tage. Entfernung des Fadens nach 8 Tagen.

Da der Effekt der Vorlagerung in einigen Tagen noch beträchtlich zurück- geht, so muß anfänglich eine Überkorrektion vorhanden sein.

Bei beiden Fällen muß man beim Verbandwechsel kontrollieren, ob die Horn- haut nicht durch ein auf ihr liegendes Fadenende gescheuert wird.

Es ist selbstverständlich, daß die Eingriffe nur bei sauberen Lidrändern und Bindehaut vorgenommen werden dürfen. Es kann sonst zu unangenehmen Horn- hautgeschwüren, ja selbst zu Panophthalmie und Verlust des Auges kommen.

Strabismus divergens, der sich vielfach bei myopischer Refraktion findet, bedingt ebenso wie der convergens zunächst Vollkorrektion des Brechungsfehlers. Bei guter Sehschärfe des Schielauges gelingt es so, das Divergenzschielen in Früh- fällen, namentlich wenn es erst zeitweise auftritt, wieder zum Verschwinden zu bringen. Auch Übungen können versucht werden, das Fusionsvermögen ist meist gut; da diese Abweichung meist wesentlich später eintritt als das Konvergenzschielen, haben beide Augen geraume Zeit zusammengearbeitet. Häufig aber wird man erst durch eine Vor- lagerung eines oder beider Interni die binokulare Einstellung ermöglichen müssen.

Das Schielen und seine Behandlung. 319

Da der Effekt einer Vorlagerung erfahrungsgemäß im Laufe der Zeit etwas zurückgeht, im Gegensatz zur Tenotomie, so muß anfangs ein leichter Übereffekt vorhanden sein, im Sinne einer geringen Konvergenz. Ist kein Brechungsfehler vorhanden oder ist das abgewichene Auge schwachsichtig meist handelt es sich nicht um eine Schiel- amblyopie, sondern die schlechte Sehschärfe ist durch krankhafte Veränderungen des Auges, Maculae corneae, Linsentrübungen oder Aphakie, Verletzungsfolgen, Hinter- grundveränderungen bedingt so muß gleichfalls die operative Geradestellung versucht werden. Bei Sehschwäche ist die Prognose für eine Dauerheilung nicht sehr gut, allzu häufig tritt eine Divergenz später wieder auf. In all diesen Fällen ist unser Ziel wesentlich niedriger gesteckt als bei Konvergenzschielen, wir müssen uns mit einem kosmetischen Erfolg begnügen, der freilich dem Patienten fast stets völlig genügt.

Eine Behandlung der Heterophorie wird in den meisten Fällen durchaus unnötig sein, da diese von der weitaus größten Anzahl der Träger gar nicht empfunden wird. Sie ist jaauch, wie erwähnt, als das Häufigere und die Orthophorie als Selten- heit anzusehen.

Eine Störung der Funktion tritt bei latenter Divergenz (Exophorie) meist erst bei höheren Graden ein, bei latenter Konvergenz (Esophorie), wie oben erwähnt, sehr viel eher und häufiger. Die Gründe sind bereits dargelegt. Die Beschwerden äußern sich besonders bei Naharbeit, also beim Lesen, Schreiben, feineren mechani- schen, also auch Handarbeiten, in vorschneller Ermüdung, Ineinanderlaufen der Zeilen und Doppelbildern. Besteht eine Ametropie, so wird deren Korrektion nicht selten helfen, namentlich wenn wie gewöhnlich die Exophorie mit Myopie, die Eso- phorie mit Hyperopie verknüpft ist. In beiden Fällen wird durch Tragen des den Brechungsfehler ausgleichenden Glases das Verhältnis von Konvergenz und Akkom- modation dem bei Emmetropie bestehenden normalen genähert, wie dies schon beim Strabismus erklärt ist. Sehr unangenehm können aber die Fälle von Divergenz bei Hyperopen und Konvergenz bei Myopen sein, beide Male steigern wir durch Korrektion der Ametropie die Neigung zu fehlerhafter Divergenz bzw. Konvergenz.

Wir besitzen ferner in den Prismengläsern ein Mittel, die Abweichung der Augen bis zu einem gewissen Grade auszugleichen, indem wir bei Exophorie die. Basis des Prismas nasal, die brechende Kante temporal setzen. Bei Esophorie ist die umgekehrte Lage erforderlich. Die Gläser werden in gleicher Stärke vor beide Augen gegeben, und es ist durchaus nicht nötig, auch vielfach gar nicht möglich, die Abweichung voll auszugleichen, der Abstand der Doppelbilder wird aber doch wesentlich verringert, und es wird dem Patienten in vielen Fällen gelingen, den Rest mit Hilfe seines Fusionsvermögens auszugleichen. Die Verordnung von mehr als 3, allerhöchstens 4 Grad Prismen vor jedem Auge ist wegen der bei stärkeren Prismen auftretenden farbigen Zerstreuung des Lichtes meist nicht tunlich. Gelegent- lich werden auch noch stärkere Grade vertragen.

Die Prismengläser können zusammen mit sphärischen Gläsern verordnet werden. Prismatische Wirkung wird auch durch Dezentrierung der sphärischen Gläser er- reicht; indem wir z. B. bei Konkavgläsern die Pupillardistanz etwas größer an- geben (etwa 2—3 mm), als den Verhältnissen entspricht, erreichen wir dasselbe wie mit einem schwachen Prisma, Basis nasal. Umgekehrt empfiehlt sich bei Hyperopie mit Exophorie eine etwas geringere Distanz der Gläser. Sinngemäß ist bei Höher- oder Tieferstand eines Auges zu verfahren, verschiedene Höheneinstellung der Gläser, ein Hilfsmittel, das bisweilen vom Patienten selbst aufgefunden und benutzt wird. Anderseits ist eine schlechtsitzende Brille im stande, durch störende Prismenwirkung dieselben Beschwerden hervorzurufen wie eine Heterophorie.

320 Comberg-Meisner.

Bezüglich der Wirkung der Dezentration merke man sich folgende Regel: Die Dezentration einer Linse um 1 cm hat eine prismatische Wirkung von eben- soviel Dioptrien, als die Linse Brechkraftsdioptrien zählt.

Die genannten friedlichen Mittel genügen meist, wenn die Divergenz erst bei Naharbeit lästig wird, es sich also genau genommen, um eine Insuffizienz der Kon- vergenz handelt. Zerfallen aber bereits bei Blick in die Ferne die Objekte leicht in Doppelbilder (gekreuzte), so muß man sich gelegentlich zu einer vorsichtigen Vor- lagerung eines oder beider Interni mit einem anfänglichen Übereffekt entschließen. Von einer Tenotomie der Antagonisten ist hier stets abzusehen.

Die Indikationen für die Behandlung der verschiedenen Formen der Tuberkulose.

Von Dr. H. Ulrici, Ärztlicher Direktor des Städtischen Tuberkulosekrankenhauses Waldhaus-Charlottenburg, Sommerfeld-Osthavelland.

So häufig die beiden schlimmsten Geißeln der zivilisierten Völker, die Tuber- kulose und die Syphilis, in ihrer nosologischen Form als chronische infektiöse Seuchen und in den Phasen ihrer Pathogenese zueinander in Parallele gestellt worden sind, so wenig verfolgt die therapeutische Idee bei beiden gleiche Ziele oder geht gar gleiche Wege. Die Heilung der Syphilis, deren infektiösen Charakter man freilich von jeher sozusagen vor Augen hatte, wird auf dem Wege der Abtötung der Infektionserreger gesucht, systematisch allerdings erst, nachdem Schaudinn vor 20 Jahren den Erreger gefunden hatte; da der Primäraffekt auf der äußeren Haut liegt und in der Regel bemerkt und erkannt wird, kann die kausale Therapie kurze Zeit nach der Infektion und vor dem Stadium der Generalisation oder doch zu seinem Beginn einsetzen. Bei der Tuberkulose aber bestehen große Schwierigkeiten, den rechten Zeitpunkt für ein radikales Vorgehen gegen die Krankheitserreger ab- zupassen, da der Primäraffekt in den inneren Organen, meist in der Lunge, liegt und fast niemals frühzeitig bemerkt wird. Es bestände wohl die Möglichkeit, die Infektion mit Tuberkelbacillen alsbald festzustellen, doch wäre heute der einzige Weg die regelmäßig in kurzen Abständen wiederholte Prüfung der Tuberkulinempfind- lichkeit vom Säuglingsalter an, also ein umständliches Verfahren, das zweifellos höchst unpopulär sein und sich deshalb für die planmäßige Anwendung bei der Bekämpfung der Tuberkulose nicht eignen würde. Aber der Schwierigkeiten einer kausalen Therapie sind noch mehr. Während der syphilitische Primäraffekt unbehandelt regelmäßig in das Stadium der Generalisation übergeht, das sich durch multiple Schleimhaut- herde und Drüsenschwellungen als Zeichen der hämatogenen und Iymphogenen Ver- breitung der Spirochäten und außerdem recht auffällig durch das Exanthem als Ausdruck der eingetretenen Allergie dokumentiert, bleiben etwa */, der tuberkulösen Infekte ohne jede Behandlung im Stadium des Primärkomplexes Primärinfekt + Infekt der regionären Lymphdrüse endgültig stecken, überschreiten also niemals die Schwelle klinischer Bedeutung und bedürfen keiner Behandlung. Da wir aber keinerlei Möglichkeit haben, zu erkennen, ob ein tuberkulöser Infekt stecken bleiben wird oder nicht, müßte die frühzeitige kausale Therapie alle Infektionen umfassen, hätte also gleichsam mit 80% Leerlauf zu arbeiten, eine unökonomische Methode, die mit dem energischen Widerstand der Eltern der gesunden Kinder zu rechnen hätte. Schließlich sind die Spirochäten sehr empfindliche Bakterien, und wenn ihnen gegenüber das Problem der Therapia sterilisans magna noch nicht restlos gelöst ist, so sind die Aussichten, den Tuberkelbacillus, der durch seinen Wachsmantel gegen äußere Schädigungen aller Art so gut geschützt und deshalb recht widerstands- fähig ist, im lebenden Organismus durch specifische oder unspecifische Gifte ab-

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 21

322 H. Ulrici.

zutöten, nicht gerade gut. Da aus den geschilderten Gründen der Angriff nicht gegen wenige frisch eingedrungene Bacillen gerichtet, sondern erst eingeleitet werden kann, wenn die tuberkulöse Infektion klinisch als tuberkulöse Erkrankung erkennbar wird, so ist der geeignete Zeitpunkt für die kausale Therapie umsomelır verpaßt, als der ohnehin resistente Bacillus inzwischen in Schlupfwinkeln liegt, wo er schwer zu er- reichen ist, z.B. in mortifiziertem oder abgekapseltem Gewebe, das nur sehr be- schränkt am Säfteaustausch teilhat, und die große Zahl der Bacillen würde zu ihrer Vernichtung sicherlich eine so große Dosis des Heilmittels erfordern, daß der Organismus darunter leiden oder gar daran zu grunde gehen müßte; auch könnte die plötzliche Abtötung großer Mengen von Bakterien Toxinmengen frei machen, die für den Organismus eine Gefahr bedeuten (Tuberkulinchoktod!).

So steht die kausale Therapie der Tuberkulose heute vor Aufgaben, die viel komplizierter sind, als sie vor vier Jahrzehnten nach der Klärung der Ätiologie der Tuberkulose zunächst erscheinen mochten, und es kann daher nicht wundernehmen, daß wir bisher nur bescheidene Ansätze zu dem großen Unternehmen der Radikal- behandlung zu verzeichnen haben, rudimentäre Versuche specifischer und chemo- therapeutischer Art, auf die näher einzugehen für den Kliniker sich nicht verlohnt.

Zum Glück besitzt der menschliche Organismus, in den tuberkulosedurch- seuchten Zonen wenigstens, eine große Widerstandsfähigkeit gegen die Tuberkulose, die sich in der eminenten Neigung tuberkulöser Herde zur Spontanheilung zeigt. Wäre das nicht der Fall, so müßten die Völker Europas und der Neuen Welt von dieser chronischen Seuche längst vom Erdboden getilgt sein. Der Weg dieser Selbst- heilung ist merkwürdigerweise nicht der der Erregereliminierung. Was wir klinisch an solcher Eliminierung beobachten, ist ein Pyrrhussieg des Organismus, der sich zwar durch die Gewebseinschmelzung ungeheurer Massen von Bakterien entledigt, dabei aber eine so schwere Schädigung der eigenen Organe und ihrer Funktion erfährt, daß er häufig daran zu grunde geht. Der Weg der Heilung ist vielmehr die Demarkation gegen das kranke Gewebe, die bindegewebige Induration der kleineren und die schwielige Abkapselung der größeren Herde. So isoliert der Organismus im Krankheitsherd den eingedrungenen Feind, macht ihm schranken- lose Ausbreitung unmöglich und findet zugleich einen eigenartigen Modus vivendi mit dem Bacillus in der relativen Immunität, die von den Tuberkelbacillen und den von ihnen gesetzten Gewebsveränderungen unterhalten wird und die den Organismus gegen die endogene Metastasierung und gegen die exogene Super- infektion schützt. Welcher Art freilich die Abwehrkräfte sind, die der Organismus aus sich heraus oder unter dem gegnerischen Anreiz aufbringt, ob die etwa Iymphogen oder hämatogen vagabundierenden Bacillen durch humorale Antikörper abgetötet werden, ob sie oder intrakanalikulär neu aufgenommene Bacillen durch celluläre Kräfte am Eindringen in das Gewebe gehindert und so der Möglichkeit der Ver- mehrung beraubt oder ob sie nach dem Eindringen in die Zellen abgebaut werden, das alles sind offene Fragen, in denen die Therapie einstweilen vom Organismus noch nichts lernen und deshalb noch nicht speziell unterstützend eingreifen kann. Die Antikörper, die vielleicht in diesem grandiosen, aber geheimnisvollen Kampfe eine Rolle spielen, sind vorerst hypothetische Gebilde, die noch nicht dargestellt sind, und es ist durchaus zweifelhaft, ob eine Antikörperbildung durch specifische Reize (Tuberkulin) hervorgerufen oder gesteigert werden kann. Auch die specifische Therapie kann daher als eine kausale Behandlung nicht angesprochen werden, und die Erforschung der ursächlichen Zusammenhänge zwischen der mehr geglaubten als bewiesenen klinischen Heilung der Tuberkulose durch Tuberkulinbehandlung

Die Indikationen für die Behandlung der verschiedenen Formen der Tuberkulose. 323

und den Vorgängen im kranken Gewebe sowie im Gesamtorganismus und dem Schicksal der Krankheitserreger ist nach der Aufstellung einer Anzahl interessanter Tuberkulintheorien (Sahli, Wassermann und Bruck, Wolff-Eisner, Selter) ins Stocken geraten.

Für das ätiologisch einheitliche Krankheitsbild der Tuberkulose hat die Therapie heute kein einheitliches Heilverfahren. Es liegt das aber keineswegs allein an der Unzulänglichkeit der ärztlichen Wissenschaft und der Heilkunst insbesondere, sondern ist tief in der Natur der Krankheit verankert. Die Tuberkulose ist eben keine ein- fache Infektionskrankheit mit akutem Beginn und typischem Ablauf, sondern ein langwieriger komplexer Vorgang, der zwar bestimmte Entwicklungsphasen, aber innerhalb dieser Phasen einen außerordentlichen Reichtum der Formen zeigt, der zweitens die Eigentümlichkeit hat, lokal abzuheilen und alsbald an anderer Stelle weiterzuschreiten, also von der Regression zur Progredienz übergeht und umgekehrt. Schließlich ist für die therapeutischen Bestrebungen von größter Bedeutung, daß die Tuberkulose neben rückbildungsfähigen entzündlichen Veränderungen in der Hauptsache Herde setzt, die morphologisch und vor allem klinisch in gewissem Grade den Charakter der Neubildung bieten, indem sie das Organgewebe durch- setzen und zerstören. So wird das Wesen der Infektionskrankheit oft ganz und gar verdeckt durch die klinischen Erscheinungen der chronischen Organerkrankung und die Therapie hat immer die doppelte Aufgabe, die Infektionskrankheit zu bekämpfen und das beschädigte Organ in den bestmöglichen Zustand zu versetzen.

Es ist eine Binsenwahrheit, daß die frühzeitige Behandlung der Tuberkulose die besten Aussichten für ihre Heilung bietet. Hier steckt die Schwierigkeit. Die klinische Beobachtung der Einwirkung der Tuberkulose auf den Organismus und die Ermittlung des tuberkulösen Herdes hat gröbere Veränderungen zur Voraus- setzung; die klinisch sicher nachweisbare Tuberkulose ist also immer über den ersten Beginn der Krankheit schon ein Stück hinaus. Man hat seinerzeit große Hoffnungen auf den diagnostischen Wert des Tuberkulins gesetzt, aber neben der Bedeutung der Tuberkulinproben für die wissenschaftliche Erkenntnis des Tuberkuloseablaufs und der Verbreitung der Infekte verschwindet fast ihr praktischer Wert. Die Lokal- reaktion und die Allgemeinreaktion weisen jeden tuberkulösen Infekt, auch den seit 10 Jahren latenten, nach und sind deshalb für die Diagnose der tuberkulösen Er- krankung nicht zu brauchen. Die Herdreaktion aber fällt nur sehr ausnahmsweise, bei welchem Organ es auch sei, unzweideutig positiv aus und wenn man mit größerer Dosis eine deutliche Antwort erzwingen wollte, würde man Gefahr laufen, erheblichen Schaden anzurichten. Zuverlässig ist die Tuberkulindiagnostik nur im negativen Ausfall der exakten Cutanprobe und auch das noch mit Einschränkungen, sowie allenfalls im Säuglingsalter. Neuerdings sucht man das Problem serologisch zu lösen (Besredka, v. Wassermann u. a.). Aber die alternative Fragestellung der „Aktivitäts- diagnostik“ entspringt doch mehr dem Bequemlichkeitsbedürfnis der Praxis als der wissenschaftlichen Betrachtung des Ablaufs der Tuberkulose. Wenn die relative Tuberkuloseimmunität auf der Anwesenheit virulenter Erreger im Organismus und den durch sie gesetzten Gewebsveränderungen beruht (Neufeld, v. Wassermann), so besteht beim klinisch Gesunden bereits eine Wechselwirkung zwischen Wirts- organismus und Bacillus und zwischen dieser Beziehung und der schweren Tuber- kulosekrankheit gibt es nur fließende Übergänge, aber keine qualitative Differenz. Das außerordentliche feine biologische Reagens, das wir im Tuberkulin besitzen spricht doch der durch die Tuberkelbacillen sensibilisierte Organismus bereits auf die Intracutanprobe mit 0'1 cm? der Alttuberkulinverdünnung 1:10 Millionen deutlich

21*

324 | H. Ulrici.

an gestattet keine Unterscheidung zwischen der sog. latenten und aktiven Tuber- kulose, vielmehr zeigt die allergische Kurve, das heißt die kurvenmäßige Darstellung der Tuberkulinempfindlichkeit über lange Perioden, bei der klinisch latenten Tuber- kulose ungefähre Übereinstimmung mit der Kurve der fortschreitenden Tuberkulose bis in das weit vorgeschrittene Stadium der tertiären Phthise hinein (Lange). Auch der Versuch von Deycke und Much, mit einem differenzierten Tuberkulin, den Partialantigenen, den pathologischen Vorgang für therapeutische Zwecke zu analysieren, kann nicht als geglückt angesehen werden. Nach diesen Erfahrungen erscheint es zweifelhaft, ob es möglich ist, eine biologische Reaktion so einzustellen, daß wir eine für die Tuberkulosetherapie auszuwertende Antwort erhalten. Anderseits zeigen die Versuche, aus der Morphologie des Blutes (weißes Blutbild) oder dem Chemismus des Serums (Blutkörperchensenkung, Lipasebestimmung, Globulin-Albumin-Titer) für die Diagnose der aktiven Tuberkulose Nutzen zu ziehen, daß diese unspecifischen sekundären Veränderungen, in denen sich die pathologische Physiologie der Tuber- kulose widerspiegelt, nicht durch eine den Organismus überschwemmende Noxe . im Beginn der Erkrankung plötzlich hervorgerufen werden, sondern sich ganz all- mählich entwickeln und Abstufungen zeigen, die weniger der Ausdehnung der Krankheitsherde als der Intensität des pathologischen Vorgangs zu entsprechen scheinen; können doch tuberkulöse Herde von erheblicher Ausdehnung in der Lunge z. B. vorhanden sein, ohne daß solche Veränderungen den Krankheitsvorgang deutlich anzeigen, und die Kurven aller dieser Reaktionen steigen weiterhin gradatim an. Während also die specifische Reaktion jede Infektion nachweist, weiterhin aber keine Unterscheidung der Krankheitsvorgänge zuläßt, treten die unspecifischen humoralen Veränderungen erst im Laufe der weiteren Entwicklung der Tuberkulose allmählich auf, u. zw. in der Regel so spät, daß sie für das frühzeitige Einsetzen der Therapie nicht brauchbar sind. In diesen specifischen und unspecifischen Anzeichen markiert sich der Beginn einer Periode der Aktivität nicht und es ergibt sich auch kein Anhalt dafür, daß sie sich regelmäßig von dem vorausgegangenen Spiel und Wider- spiel scharf abhebt. Was sich uns klinisch selten genug übrigens als akuter Beginn einer Tuberkulose präsentiert, entpuppt sich bei näherer Betrachtung, ab- gesehen von der außerordentlichen Beobachtung primärer Infektionen, als eine häma- togene oder intrakanalikuläre Dissemination, die von einem älteren, in der Regel als aktiv anzusehenden Herde ausgeht; das, was wir als den typischen klinischen Hergang bezeichnen müssen, ist die schleichende Entwicklung der Tuberkulose, deren Anfänge nicht bemerkbar sind. Bis heute ist die Bedeutung der Complement- bindung nach Besredka oder v. Wassermann für die Ermittlung der „aktiven“ Tuberkulosen noch strittig (Jacob und Moeckel, Schloßberger, Hartsch, Lusene und Prigge) und sie wird es voraussichtlich bleiben. Biologisch gibt es, außer dem Zeitpunkt der Infektion, der klinisch in der Regel nicht interessiert, keinen Beginn der Tuberkulose und die Erfahrung der Klinik stimmt damit überein; die scharfe Grenze, die von der Aktivitätsdiagnostik gesucht wird, ist im chronischen Ablauf der Tuberkulose nicht vorhanden. Nicht als ob die manifeste Tuberkulose und der seit Jahrzehnten latente Primärinfekt sich nicht serologisch unterscheiden sollten; aber die allmähliche Entwicklung des tuberkulösen Prozesses muß sich auch serologisch abgestuft zu erkennen geben. Was die Klinik braucht, ist daher wohl- verstanden nicht die Alternativprobe: hie aktiv, hie latent, sondern der Ausbau der Methoden für die Abschätzung der Bedeutung tuberkuläser Infekte und Herde.

Mehr noch, als es heute schon der Fall ist, sollte die Klinik sich zum Ziel setzen, anatomisch und physiologisch den pathologischen Vorgang zu differenzieren.

Die Indikationen für die Behandlung der verschiedenen Formen der Tuberkulose. 325

Denn wenn der Tuberkulose gegenüber eine einheitliche Therapie nicht zur Ver- fügung steht, so ergibt sich von selbst, daß die Art der Behandlung sich der vor- liegenden Erkrankungsform anzupassen hat. Pathogenetisch und pathologisch-ana- tomisch hat die Arbeit des letzten Jahrzehnts immerhin schon wichtige Fortschritte für die Diagnostik und damit auch die Therapie gebracht. Ranke hat, wenn nicht als erster, so doch am klarsten und überzeugend, auf Grund sorgfältiger anatomi- scher und klinischer Studien die mannigfachen Erscheinungen der Tuberkulose in ihre pathogenetischen Zusammenhänge eingeordnet, den Formenkreis der drei Phasen fest umschrieben und damit ein übersichtliches Bild des Tuberkuloseablaufs geschaffen. Die Rankesche Stadieneinteilung kann heute als bekannt vorausgesetzt werden und es mögen daher einige kurze Bemerkungen über die Bedeutung der drei Stadien, soweit sie für die Therapie von Interesse ist, genügen. Vorausgeschickt sei noch, daß die Frage, ob eine Infektion mit humanen oder bovinen Tuberkel- bacillen vorliegt, für die Therapie ohne Belang ist, nicht nur weil sie klinisch kaum jemals, jedenfalls nicht nach dem klinischen Bilde, zu beantworten ist, son- dern auch weil die Behandlung der beiden Tuberkulosearten sich nicht unter- scheiden würde; selbst die specifische Therapie kann aus der Unterscheidung heute nicht mit einiger Sicherheit einen Nutzen ziehen.

Der tuberkulöse Primäraffekt sitzt nach Ghon, der die umfangreichsten und gründlichsten darauf gerichteten Untersuchungen angestellt hat, weit überwiegend in der Lunge; Ghon fand bei etwa 750 Kindersektionen nur etwa 21/,% sichere und einzige extrapulmonale Primärherde. Ghons Zahlen werden zwar neuerdings angezweifelt (Hübschmann, Engel u. a.), doch bleibt unter allen Umständen bestehen, daß die Lunge die weitaus wichtigste Einfallspforte für die Tuberkelbacillen ist. Für das Weiterschreiten der Tuberkulose vom Einfallsort aus wo er auch sei gilt zunächst Cornets Lokalisationsgesetz, indem regelmäßig auf dem Lymph- wege die nächstgelegene Lymphdrüse von Tuberkulose befallen wird. Diesen Abschnitt: Primärinfekt und Erkrankung des regionären Lymphknotens, bezeichnet Ranke als Primärstadium oder Primärkomplex. Es wurde schon erwähnt, daß die specifische Diagnostik zwar die eingetretene Infektion nachweisen kann, u. zw. nach einer Inkubationszeit von etwa 2—4 Wochen, daß sie aber keine Auskunft darüber gibt, ob die Infektion progredient oder längst latent ist. Selbst bei Säug- lingen bedeutet nach neueren Erfahrungen keineswegs jede Infektion fortschreitende Erkrankung (Langer, Harms). Klinisch macht die frische tuberkulöse Infektion kaum irgendwelche Erscheinungen, jedenfalls keine, die auch nur eine Wahrschein- lichkeitsdiagnose gestatteten. Der frische tuberkulöse Primärherd wird höchst selten einmal gefunden, u. zw. nur bei röntgenologischen sog. Umgebungsuntersuchungen, d. h. Untersuchungen der Kinder offen Tuberkulöser, wie sie gelegentlich in Kliniken oder großen Fürsorgestellen zu wissenschaftlichen, neuerdings wohl auch zu prak- tisch-diagnostischen Zwecken vorgenommen werden (Harms, Langer, Grass). In diesen bis heute vereinzelten Fällen vermag die Behandlung zwar durch besonders gute Ernährung und sorgfältige Haltung des Kindes und Fernhaltung anderer Infekte unterstützend zur Überwindung der Infektion eingreifen, aber von einer eigentlichen Therapie kann nicht wohl die Rede sein. Das Primärstadium ist also leider für die Therapie heute noch so gut wie bedeutungslos. Der gelegentlich gemachte Vorschlag, alle Kinder mit nachweisbarem Infekt (Tuberkulinprobe) speci- fisch zu behandeln, kann, ganz abgesehen von der Frage der Notwendigkeit und der Kosten, nicht ernst genommen werden, weil der Beweis fehlt, daß eine solche Therapie der frischen Infektion die Abheilung unterstützt.

326 H. Ulrici.

Mit der Ausbreitung der Infektion über den angegebenen Bezirk hinaus leitet sich Rankes zweites Stadium der Tuberkulose ein. Es ist charakterisiert durch die Empfindlichkeit des Organismus gegen die Tuberkelbacillen und ihre Toxine; durch die mehr oder weniger hemmungslose Ausbreitung der Tuberkulose in den Lymph- und Blutbahnen (Generalisation), die Allgemeinreaktion auf die Infektion und die exsudative Gewebsreaktion sowie die Überempfindlichkeit gegen Tuber- kulin. Wir können von der Proliferation vom Primärherd aus hier absehen, weil sie klinisch erst in einem weit vorgeschrittenen Stadium der allgemeinen Tuber- kulose erkennbar wird. Wichtig ist aber für die Therapie die Vorstufe der Generali- sation, die tuberkulöse Erkrankung der ganzen Drüsengruppe, weil sie die erste Etappe darstellt, die eine klinische allgemeine und topische Diagnose gestattet. Die Diagnose der Tuberkulose einer Halsdrüsengruppe macht diagnostisch zwar keine Schwierigkeiten; ob sie aber regelmäßig von einem Primärherd im Zufluß- gebiet dieser Drüsen ausgeht, ist noch nicht geklärt, weil der Primärherd nur ganz ausnahmsweise zu finden ist. Außerdem ist zu bemerken, daß heute in der Praxis so manches als Halsdrüsentuberkulose angesehen wird, was mit Tuberkulose sicherlich nichts zu tun hat, sondern als Drüsenschwellung anderer Ätiologie zu deuten ist. Viel komplizierter liegen die Verhältnisse bei der Tuberkulose der centralen Drüsen- gruppen, sowohl bei den Mesenterialdrüsen wie besonders bei den Bronchialdrüsen. Die isolierte Mesenterialdrüsentuberkulose, bei der in der Regel der Primär- herd klinisch wie auch autoptisch so wenig gefunden wird wie bei der Halsdrüsen- tuberkulose, kommt zwar wohl nicht so ganz selten vor, aber die Allgemeinerschei- nungen und die Herderscheinungen sind so unbestimmt, daß die sichere Diagnose erst möglich wird, wenn die Tuberkulose in ihrer weiteren Entwicklung, z. B. bei Übergreifen auf das Bauchfell, ausgesprochene Allgemein- und Organerscheinungen macht, oder wenn die lokalen Erscheinungen infolge irriger Diagnose zur Operation etwa wegen Verdachts auf Appendicitis und damit zur Autopsie in vivo geführt haben. Während aber die Mesenterialdrüsentuberkulose nicht so sehr viel häufiger diagnosti- ziert wird, als sie tatsächlich vorkommen mag, ist die Diagnose Bronchialdrüsen- tuberkulose geradezu ein Steckenpferd vieler Praktiker, Kinderärzte und auch Fürsorgestellen für Tuberkulöse geworden, obwohl auch diese Diagnose ganz außer- ordentliche Schwierigkeiten bietet und mit hinreichender Sicherheit nicht häufig und nur mit allen klinischen Mitteln gestellt werden kann. Da der tuberkulöse primäre Herd so gut wie regelmäßig in der Lunge sitzt und der Infektionsweg von desem Herd aus stets zur regionären Bronchialdrüse führt, kommt den Bronchial- drüsen im pathogenetischen Bilde der Tuberkulose fast immer eine gewisse Bedeu- tung zu. Es fehlen uns aber alle Unterlagen für die Beurteilung, wie oft anatomisch diese Etappe der Bronchialdrüsentuberkulose einen Umfang erreicht, der deutliche Allgemeinerscheinungen und Herdsympiome nicht ganz unwahrscheinlich macht. Bei der großen Mehrzahl der Lungenkranken, auch der intelligenten und ärztlich gut beobachteten Kranken, fehlen in der Anamnese alle Anzeichen für ein Stadium der Bronchialdrüsentuberkulose, durch das sie doch fast alle hindurchgegangen sein müssen. Es mag indessen hier der Hinweis auf die oft betonten Schwierigkeiten der Diagnose genügen (Voigt, Kleinschmidt, Engel, Ulrici u. a.).

Das ausgebildete Sekundärstadium Rankes bietet die Merkmale der Generali- sation des tuberkulösen Virus. Wir können heute drei Grade dieser Generali- sation unterscheiden: die akute und subakute hämatogene Miliartuberkulose, die sog. milde generalisierte Tuberkulose und die peripheren Tuberkulosen hämatogenen Ursprungs; ihnen schließen sich noch die universellen Erscheinungen an, die nicht

Die Indikationen für die Behandlung der verschiedenen Formen der Tuberkulose. 327

durch den Bacillus selbst, sondern durch seine Toxine hervorgerufen werden. Während die hämatogene Miliartuberkulose, zu der man in diesem Sinne auch Lan- douzys Typhobacillose und Neumanns Septicotuberkulose rechnen mag, als abgeschlossenes Krankheitsbild keiner weiteren Erörterung bedarf, ist die milde generalisierte Tuberkulose in den wenigen Jahren, die man sie zu kennen glaubt, ein Sammeltopf diagnostischer Irrtümer und Irrlehren geworden, in den jeder, der diesen Begriff zu umschreiben unternahm, etwas anderes hineintat (Ranke, Much, Liebermeister, v. Hayek, Hollo u. a.). Es ist für unsere Frage nicht notwendig, auf die Einzelheiten des umstrittenen Gebiets einzugehen; es sei aber hervorgehoben, daß weder die mannigfachen Störungen im Bereiche des vegetativen Nervensystems, die ein wesentliches Kontingent der Symptome dieser Krankheits- gruppe stellen, die Diagnose der generalisierten Tuberkulose stützen können, wenn sie nicht an nachweisbare Metastasierungen geknüpft sind, noch eine erfolgreiche Tuberkulinbehandlung als eine Therapie, die sowohl specifische als auch unspecifische Reize setzen kann, die Diagnose ex juvantibus begründet. Zu den peripheren Tuberkulosen des sekundären Stadiums gehören die multiplen Knochen-, Gelenk- und Weichteiltuberkulosen und die multiple hämatolymphogene Drüsen- tuberkulose, während die isolierten, vielfach sehr chronischen Erkrankungen im Knochensystem bereits auf der Grenze zum dritten Stadium Rankes stehen, in das sie oft übergehen. Zur letzten Gruppe, den toxischen Fernwirkungen tuber- kulöser Herde, gehören die sog. skrofulösen Hauterkrankungen und Schleim- hautkatarrhe, vielleicht auch der tuberkulöse Gelenkrheumatismus Poncets, dessen Beziehung zur Tuberkulose aber noch nicht endgültig geklärt ist.

Auf der Grenze zum Tertiärstadium stehen neben der Nierentuberkulose und den erwähnten Knochentuberkulosen gewisse - Lungenphthisen der Kinder und Jugendlichen, die neben der ÖOrgantuberkulose noch Reste der Iymphogenen Generalisation aufweisen und durch die von vornherein und meist im ganzen Verlauf exsudative Gewebsreaktion bei in der Regel chronischem Verlauf ausge- zeichnet sind. Ihnen sind anzureihen Lungentuberkulosen Jugendlicher, bei denen die Reste Iymphogener Generalisation zwar fehlen, die aber durch ihren morpho- logisch exsudativen Charakter jener Gruppe nahestehen.

Das Tertiärstadium der Rankeschen Einteilung, das Stadium der iso- lierten Organtuberkulose, wird im wesentlichen repräsentiert durch das Heer der chronischen Lungenphthisen. Es ist charakterisiert durch die Beschränkung des tuberkulösen Prozesses auf das eine besonders anfällige Organ, in dem er in der Hauptsache im vorgebildeten Kanalsystem fortschreitet, während die Iymphogene und hämatogene Ausbreitung nicht mehr zur Entstehung neuer Krankheitsherde führt, sondern abortiv bleibt. Der vorwiegend produktiven Gewebsreaktion mit ihrer Neigung zur Induration entspricht der chronische Ablauf, vielleicht auch eine gewisse Unempfindlichkeit gegenüber dem Tuberkulin. Wenn dieser Beschränkung der Tuber- kulose auf ein Organ und eine bestimmte Ausbreitungsweise wirklich eine sog. relative Immunität, also die Wirksamkeit specifischer Abwehrkräfte, zu grunde liegt, so ist doch das Wesen dieser Immunität und die Natur der Abwehrkräfte noch durchaus umstritten. Demnach ist auch das Erlahmen der Abwehrkräfte während interkurrenter Krankheiten und schließlich im Endstadium der Phthise, das häufig eine erneute hemmungslose Ausbreitung des tuberkulösen Prozesses zeigt, nicht mehr als eine brauchbare Hypothese.

Die Rankesche Einteilung als eine genetische Betrachtung des ganzen Ablaufs der Tuberkulose befriedigt klinisch um deswillen nicht ganz, weil von dem, was

328 H. Ulrici.

wir klinisch als Tuberkulose weitaus am häufigsten sehen und als einheitliches, dabei aber äußerst mannigfaltiges und in Perioden und mit Remissionen ablaufendes Krankheitsbild kennen, eben den Lungenphthisen, nur ein Vortrupp dem zweiten Stadium angehört, das Gros aber dem Tertiärstadium, in dem es eine weitere Unter- teilung nicht mehr erfährt. Dem Bedürfnis nach einer solchen Unterteilung entsprechend, setzt nun hier die neuere klinische Gruppierung der Lungenphthisen ein. Wenn sie mit ihrer Anlehnung an die anatomischen Grundprozesse die phthisio- genetischen Zusammenhänge nicht immer zu respektieren scheint, so entspricht sie doch dem klinischen Zweck, indem sie die Möglichkeit schafft, das Zustandsbild seiner Morphologie gemäß zu beurteilen und dem Wesen des vorliegenden Prozesses, sonach auch der prognostischen Wertung und den therapeutischen Erfordernissen näher zu kommen. Freilich ist die Klinik heute noch nicht in der Lage, die patho- logisch-anatomische Differenzierung zu erreichen, sie muß sich mit einer ziemlich groben Annäherung an die anatomische Erkenntnis genügen lassen. Die morpho- logischen Veränderungen, die durch den vom Tuberkelbacillus ausgehenden Reiz entstehen, stellen sich, in der Lunge zumal, als exsudative und produktive dar, also kurz angedeutet, als akut entzündliche Anfüllung der Alveolen mit Exsudat oder als chronisch entzündliche verdrängende und infiltrierende Neubildung. Nicht immer sind diese Vorgänge scharf zu trennen, vor allem begleiten exsudative Erschei- nungen häufig den produktiven Prozeß und das autoptische Bild zeigt nicht selten exsudative und produktive Herde scheinbar regellos nebeneinander. Aber für die Klinik hat sich die prinzipielle Feststellung des überwiegenden Prozesses doch als überaus fruchtbringend erwiesen und vor allem hat sich gezeigt, daß die physikalische Untersuchung, das Röntgenbild und die klinische Beobachtung vielfach die beiden Typen räumlich zu unterscheiden vermögen und häufig in der Lage sind, das Neben- einander, das sich dem Pathologen präsentiert, im klinischen Ablauf in ein Nach- einander, in Einzelvorgänge, aufzulösen, für die zuweilen die Ursachen oder aus- lösenden Momente zu erkennen sind und Aussichten auf therapeutische oder vor- beugende Maßnahmen sich ergeben können. Für klinische Zwecke genügt die Unterscheidung folgender Haupttypen:

1. Die acinös-nodöse produktive Tuberkulose (chronisch);

2. die cirrhotische Phthise (exquisit chronisch);

3. die lobuläre exsudativ-käsige Phthise (akut bis subchronisch) ; 4. die lobäre käsige Pneumonie (perakut).

Während die lobuläre exsudative Phthise eine außerordentlich häufige, in ihren klinischen Erscheinungen sehr mannigfaltige Form der Lungentuberkulose darstellt, die sich zudem im Verlauf und besonders im Endstadium der produktiven Tuberkulose, dem Typus des chronischen Krankheitsverlaufs, recht häufig zuge- sellt, ist die lobäre käsige Pneumonie zwar ein seltenes Krankheitsbild, aber in ihrem klinischen Verlaufe so wohlcharakterisiert, daß ihr eine Sonderstellung ein- geräumt werden muß. Auch die Aufstellung der cirrhotischen Phthise als eigenes Bild ist nicht in ihrer Morphologie begründet, da die bindegewebige Induration lediglich einen in der Entwicklungsrichtung des tuberkulösen Herdes liegenden sekundären Vorgang darstellt. Aber das Vorwiegen der indurativen Form verändert den klinischen Charakter so wesentlich und führt durch die Schrumpfungsvorgänge zu so prägnanten Erscheinungen und Folgezuständen, daß die Abtrennung der cirrhotischen von der produktiven Tuberkulose, aus der sie in der Regel hervor- geht, klinisch notwendig erscheint. Ebenso gut wie die cirrhotische Induration

Die Indikationen für die Behandlung der verschiedenen Formen der Tuberkulose. 329

könnte die Erweichung und Kavernenbildung als besonderes Krankheitsbild auf- gestellt werden; wie die Induration als Abheilungsprozeß, so hat die Erweichung als progressiver und destruktiver Sekundärvorgang entsprechende klinische Bedeu- tung. Aber einmal kommt die Verkäsung und Erweichung bei allen Formen der Lungentuberkulose vor, und zweitens ist die erweichende käsige Pneumonie mit der gereinigten Kaverne in klinischer Hinsicht nicht gleichzustellen. Es ist des- halb klinisch zweckmäßig, die Kavernenbildung ebenso wie die, wenn man will, quartäre Ausbreitung der Tuberkulose in Kehlkopf und Darm als Komplikation der Lungentuberkulose anzusehen; alle drei Komplikationen sind übrigens für die Prögnose wie für die Therapie von größter Wichtigkeit. Die klinischen Bilder der einzelnen Lungentuberkuloseformen können als bekannt vorausgesetzt werden; ein- gehende Darstellungen finden sich in den einschlägigen neueren Arbeiten von Aschoff, Nicol, Fraenkel und Gräff, Gräff und Küpferle, Bacmeister, Romberg, Ulrici, sowie in den neuesten Auflagen der Lehr- und Handbücher von Brauer, Schröder und Blumenfeld, Bandelier und Roepke, Bacmeister, Ulrici.

Dem Reichtum der Formen der Tuberkulose steht eine große Mannigfaltig- keit therapeutischer Methoden gegenüber. Grundsätzlich sind bei der Tuberkulose- therapie zu unterscheiden einerseits die operative Entfernung des Krankheits- herdes, anderseits die Allgemeinbehandlung und die Behandlung des kranken Organs und des einzelnen tuberkulösen Herdes.

Die operative Entfernung des Krankheitsherdes kommt nur in Be- tracht, wenn es sich um einen Herd oder doch um einzelne Herde handelt. Von den Erkrankungen des Sekundärstadiums eignet sich die isolierte Tuberkulose der Halsdrüsen für die Radikaloperation und hier zeitigt sie schöne Erfolge, wenn sie rechtzeitig, das heißt vor der völligen Erweichung der Drüsen, vorge- nommen wird. Von den zentralen Drüsengruppen sind die Bronchialdrüsen, die am häufigsten befallen sind, operativ nicht zu erreichen, wenigstens nicht so, daß an eine Radikaloperation zu denken wäre, und auch bei den Mesenterialdrüsen ist, ganz abgesehen von der erwähnten Schwierigkeit der sicheren Diagnose, die voll- ständige Entfernung aller erkrankten Drüsen kaum möglich, auch ist bei der rela- tiven Outartigkeit dieser Erkrankungsform eine so mißliche Operation nicht ange- zeigt. Die peripheren tuberkulösen Erkrankungen, die häufig die Indikation zur Radikaloperation geben, stehen auf der Grenze des zweiten zum dritten Stadium der Rankeschen Einteilung oder gehören ganz dem dritten Stadium an. Es sind dies neben der Tuberkulose der Sehnenscheiden und manchen Formen des Lupus und der Haut- und Weichteiltuberkulose vor allem manche Knochen- tuberkulosen, so die des Schädeldaches, auch des Jochbeins und der Rippen, ferner von den Tuberkulosen der Extremitätenknochen die isolierten Herde der Diaphysen, namentlich dann, wenn nach ihrer Lage ein Durchbruch nach dem benachbarten Gelenk zu befürchten oder röntgenologisch ein Sequester nachzu- weisen ist. Die Tuberkulose der größeren Gelenke, die stark beansprucht, vor allem belastet werden, also die der unteren Extremitäten, gibt bei der konservativen Therapie bei Erwachsenen so fragliche Aussichten auf dauernde Heilung, erfordert außerdem eine so langwierige Behandlung im Streckverband, daß vielfach die Resektion des kranken Gelenkes vorzuziehen ist. Schwere Gelenkzerstörungen sind bei Erwachsenen weder durch konservative Behandlung noch durch Resektion zur Heilung zu bringen; sie erfordern wegen der Gefährdung des Organismus durch Überschwemmung mit Virus (Miliartuberkulose, Bildung neuer tuberkulöser Herde)

330 H. Ulrici.

oder mit Toxinen (dauerndes Fieber mit Kachexie, Amyloidosis) dringend die recht- zeitige Absetzung des Gliedes. Bei Kindern sind einerseits die Aussichten, Tuber- kulose der größeren Gelenke, auch solche mit größeren Knochenherden durch konservative Behandlung zur auch funktionell befriedigenden Ausheilung zu bringen, wesentlich besser als bei Erwachsenen, und führt anderseits die Gelenkresektion durch die Zerstörung der Epiphysenlinie zu einer schweren Wachstumshemmung der beteiligten Röhrenknochen und damit zu einem funktionell ganz unbefrie- digenden Ergebnis; die Radikaloperation kommt daher bei Kindern kaum in Be- tracht, ebensowenig wegen der besseren Heiltendenz auch der schweren Prozesse kaum jemals die Amputation. Die Tuberkulose der kleineren Gelenke und auch der Gelenke der oberen Extremität gibt auch bei Erwachsenen bei konservativer Behandlung bessere funktionelle Resultate als die Resektion und ist deshalb vorzu- ziehen, zumal sie allenfalls auch ambulant durchzuführen ist. Von den Tuberkulosen der inneren Organe ist bei der einseitigen Nierentuberkulose die Entfernung des kranken Organs die Methode der Wahl, ebenso bei der einseitigen Hoden- tuberkulose, weil beide eine geringe Spontanheilungstendenz haben, vielmehr per continuitatem fortzuschreiten pflegen und therapeutisch anderweit nur wenig zu beeinflussen sind; die Heilungen durch Tuberkulinbehandlung sind wenigstens noch sehr umstritten. Bei der tuberkulösen Pyosalpinx dagegen läßt die Größe des not- wendigen Eingriffs und die Gefahr, das Peritoneum tuberkulös zu infizieren, die Operationsanzeige gegenüber anderen Verfahren, vor allem der Röntgenbestrahlung, zurücktreten. Schließlich bleibt von Operationen zur Exstirpation des tuberkulösen Herdes zu erwähnen die Resektion des Coecums wegen tuberkulösen Ileo- coecaltumors und die Excision oder kaustische Spaltung der tuberkulösen Mast- darmfistel sowie die operativen Eingriffe am Kehlkopf (Excisionen, Kaustik, Amputation des Kehldeckels u. s. w.), bei denen die Indikationsstellung aber weit- gehend von dem Status und der Prognose der begleitenden Lungentuberkulose abhängt.

Jede tuberkulöse Erkrankung ist, auch wenn nur ein Krankheitsherd vor- handen ist, eine Allgemeinerkrankung und bedarf daher der Allgemeinbehand- lung, auf die auch nicht verzichtet werden kann, wenn die operative Ausschaltung des Herdes möglich ist; der Zustand des Kranken entscheidet, ob diese Behand- lung schon vor der Operation einzusetzen hat, um die unmittelbare Gefahr des Eingriffs herabzusetzen; zur endgültigen Überwindung der Infektion ist längere Behandlung nach der Operation unter allen Umständen erforderlich.

Allgemeinbehandlung der Tuberkulose ist ein ziemlich verschwommener Be- griff, der einer Erläuterung bedarf. Das Ziel ist die Kräftigung des Organismus zur Unterstützung der Spontanheilung der Tuberkulose, das Mittel die Herstellung best- möglicher äußerer Bedingungen für die Genesung, die Verhütung interkurrenter Erkrankungen, die Regelung der gesamten Lebensführung unter dem Gesichts- winkel der speziellen Erkrankung, die Hebung des Körperzustandes durch geeignete Ernährung und der Widerstandskraft durch roborierende Maßnahmen sowie schließ- lich die Stärkung des Willens: zur Gesundung.

Von den Aufgaben der Allgemeinbehandlung gilt ein Teil für alle Formen der Tuberkulose, in erster Linie die Herstellung der bestmöglichen Bedingungen für die Heilung, die wir unter dem Begriff der Hygiene des Wohnens und Schlafens, der Kleidung und der allgemeinen Körperpflege zusammenfassen können und hier nicht näher zu erläutern brauchen; ferner die Verhütung interkurrenter Erkrankung durch Fernhaltung der Infektionsmöglichkeit (Masern, Keuchhusten, Grippe u. s. w.).

Die Indikationen für die Behandlung der verschiedenen Formen der Tuberkulose. 331

Ob dieses Ziel im Rahmen häuslicher Behandlung zu erreichen ist oder bereits Ortswechsel oder gar Anstaltsbehandlung nötig macht, richtet sich nach dem sozialen Milieu, in dem der Kranke lebt.

Alle weiteren Maßnahmen der Allgemeinbehandlung machen eine Differen- zierung nach den Erscheinungsformen der Tuberkulose notwendig. Sowohl für die Regelung der Ernährung, im engeren Sinne die diätetische Behandlung, .die der Hebung des Kräftezustandes dienen soll, wie insbesondere für die Entscheidung, was dem Körper an Ruhe und Bewegung zu verordnen ist, gelten zwei grund- sätzlich verschiedene Prinzipien, das der Schonung des kranken Organismus und das der Übung, welch letzteres allmählich zur Leistungssteigerung der Arbeit leistenden Organe, also der Skelettmuskulatur und insbesondere des Herzens, und im Verein mit der Erhöhung der Widerstandskraft gegen äußere Einflüsse durch Abhärtung zur völligen Gesundung führen soll, zur Wiederherstellung eines nütz- lichen Mitgliedes der menschlichen Gesellschaft, gleich fähig für die Arbeit wie für verständigen Lebensgenuß.

Entscheidend ist dabei, wie weit der Organismus unter den Toxinwir- kungen des tuberkulösen Prozesses steht und in welchem Grade der Allge- meinzustand unter der Erkrankung gelitten hat. Die Tuberkulosen des sekundären Formenkreises mit ihrer Überempfindlichkeit gegen das Virus selbst und gegen die von ihm produzierten Toxine gehen großenteils auch mit toxischen Krankheits- erscheinungen einher; das gleiche gilt für die Mehrzahl der exsudativen Lungen- tuberkulosen, gleichgültig, ob der Prozeß von vornherein in der exsudativen Form aufgetreten oder die akute Form auf eine chronische aufgepfropft ist. Bei vielen chronischen tertiären Tuberkulosen dagegen, sowohl bei monoartikulären Knochen- tuberkulosen, manchen Tuberkulosen des Urogenitalsystems und vor allem bei den produktiven und den cirrhotischen Lungentuberkulosen treten die toxischen Er- scheinungen zurück oder beherrschen doch keineswegs das Krankheitsbild.

Unter den toxischen Symptomen steht in vorderster Reihe das Fieber, nicht nur, weil es den pathologischen Vorgang auf das deutlichste charakterisiert, sondern weil es auch einen exakten Maßstab gibt für die klinische Beurteilung und für die therapeutische Maßnahme. Freilich bestehen nicht geringe Schwierigkeiten bei der Bewertung der subfebrilen Temperaturen, die etwa 37:5° C (Mundmessung) nicht überschreiten. Denn so bekannt diese erhöhten Temperaturen als Symptom der Tuberkulose sind, so häufig gibt es subfebrile Zustände anderer Ätiologie; ja es können diese Fieberbewegungen bei Tuberkulösen unabhängig sein vom tuberkulösen Prozeß. Diese erhöhten Temperaturen sind vielfältig die Ursache irriger Diagnosen, insbesondere der unrichtigen Diagnose Tuberkulose, und häufig eine wahre Crux für den Therapeuten, denn wenn sie durch die Tuberkulose bedingt sind, geben sie den Maßstab für die Allgemeinbehandlung, sind sie aber unspecifisch, so be- dürfen sie im Rahmen der Tuberkulosetherapie keiner direkten Berücksichtigung. Das Charakteristische der Fieberbewegungen bei den sekundären Formen der Tuberkulose ist der Wechsel, indem längere oder kürzere ganz fieberfreie Perioden abgelöst werden durch Fieberbewegungen ganz verschiedener Höhe und Dauer; eine gewisse Regelmäßigkeit der Fieberkurve pflegt sich erst einzustellen, wenn sich größere Herde gebildet haben, die in Erweichung übergehen, z. B. bei den abscedierenden Knochentuberkulosen. Regelmäßige subfebrile Tempera- turen sind in dieser Phase der Tuberkulose selten, finden sich aber um so häufiger bei vorgeschrittenen tertiären Prozessen und zeigen hier im allgemeinen übernormale Tagesschwankungen (etwa 36'2—375), starke Beeinflussung durch

332 H. Ulrici.

körperliche Bewegung einerseits, durch Antifebrilia anderseits, und werden bei fort- schreitender Besserung abgelöst durch einen Zustand der Fieberbereitschaft, d. h. durch große Tagesschwankungen der Körpertemperatur, die normale Werte bei vollkommener Ruhe des Kranken nicht überschreiten (36'0—37'1° C), bei körper- licher Bewegung und kleinen Störungen aber (Menses, Obstipation, Bad, Auf- regungen) sofort in subfebrile oder höhere Temperaturen übergehen. Ergibt die klinische Beobachtung subfebrile Temperaturen, aber auch die sorgsamste Unter- suchung mit allen Mitteln keinen sicheren tuberkulösen Herd, so bleibt die Diagnose Tuberkulose in suspenso und es ist an andere Infekte zu denken (Gonorrhöe, Lues, Erkrankungen der Rachenorgane, chronische kryptogenetisch-septische Prozesse, schwere Anämien, Malaria u. s. w.), bei denen diese leichten Fieberbewegungen vorkommen; sie gleichen dem durch Tuberkulose bedingten leichten Fieber durch die Größe der Tagesschwankungen und die Reaktion auf körperliche Bewegung, sprechen aber auf Antifebrilia weniger an. Schließlich sind die Hyperthermien bei neuropathischen Personen, die auch bei Kindern nicht selten sind, diagnostisch und therapeutisch zu berücksichtigen, sowie die Temperatursteigerungen, die bei Frauen, auch bei gesunden Frauen, im Zusammenhang mit den Menses auftreten; diese Hyperthermien zeigen eine erhöhte Lage der ganzen Tagestemperatur bei geringen Tagesschwankungen und kaum Beeinflussung durch körperliche Bewegung und durch Antifebrilia.

Neben dem Fieber sind die anderen toxischen Symptome bei der Tuber- kulose von untergeordneter Bedeutung. Die Neigung zu lokalen oder allgemeinen Schweißen bei geringer Anstrengung sind als ein Anzeichen toxischer Störung der Wärmeregulierung auch dann zu werten, wenn die Körpertemperatur ganz normales Verhalten zeigt, während die Nachtschweiße meist mit ausgesprochenen Störungen des Temperaturablaufs in Zusammenhang stehen oder ein Symptom der Kachexie sind. Die Circulationsstörungen toxischer Natur sind außerordentlich schwer zu beurteilen. Der Blutdruck ist meist normal, wenn er sich auch häufig an der unteren Grenze des Normalen hält; die Pulskurve zeigt regelmäßige und regelrechte Aus- schläge und nur selten Arhythmien, die aber nichts Charakteristisches haben; bei der außerordentlich häufigen Tachykardie ist die toxische von der psychischen Komponente kaum zu trennen. Auch ist es kaum möglich, eine Kurzatmigkeit, die außer Verhältnis zur Quantität der Lungenschädigung steht, also wohl als kardial- toxisch aufzufassen ist, oder die Appetitlosigkeit, die Mattigkeit und mancherlei Unlustgefühle, die immerhin toxisch bedingt sein mögen, klinisch-therapeutisch auszuwerten, da auch diese Erscheinungen vielfach von der krankhaften psychischen Einstellung überlagert sind.

Neuere morphologische und chemisch-physikalische Blutuntersuchungen geben indessen die Möglichkeit, die Einwirkung der Tuberkulose auf den Gesamtorganismus genauer abzuschätzen und zu verfolgen; als klinisch brauchbare Methoden haben die Differentialzählung der Leukocyten und die Senkungsprobe zu gelten. Das weiße Blutbild, dessen Bedeutung für die Beurteilung der Tuberkulose von Romberg studiert ist, zeigt bei günstig verlaufenden Tuberkulosen Normalwerte oder Lympho- cytose und Eosinophilie mäßigen Grades, bei progredienten Erkrankungen Leuko- cytose, die im Endstadium wieder verschwindet, Neutrophilie. Lymphopenie und Linksverschiebung. Die Senkung der Erythrocyten nach Fahräus, am besten zu beurteilen nach der Methode von Westergren, erfährt bei der Tuberkulose eine Beschleunigung bis über 100 mm in der Stunde, je nach der Schwere der Erkran- kung. Beide Blutveränderungen, sowohl die des weißen Blutbildes wie die der Blut-

Die Indikationen für die Behandlung der verschiedenen Formen der Tuberkulose. 333

körperchensenkung, entsprechen in ihrem Grade mehr der Progredienz als der Ausdehnung des tuberkulösen Prozesses, sind also abhängig von der toxischen Einwirkung der Tuberkulose auf den Organismus und geben daher einen guten Maßstab für die prognostische Beurteilung. Auch die Flockungsreaktionen nach Daranyi und nach Matefy zur Feststellung der Vermehrung der Serumglobuline auf Kosten der Albumine, die vielleicht eine der Ursachen der Senkungsbeschleuni- gung ist, scheinen toxische Veränderungen durch die Tuberkulose anzuzeigen, ebenso die Verminderung der Blutlipasen (Kollert und Frisch, Kremer), die durch Ermitt- lung der Zeit des Abbaus einer Tributyrinlösung stalagmometrisch nachgewiesen wird, doch sind diese Methoden klinisch noch nicht genügend erprobt, auch ist die letztere Untersuchung recht umständlich.

Gerade bei der Tuberkulose ist die Grenze zwischen Krankheit und praktischer Gesundheit schwer zu ziehen. Aber für den therapeutischen Zweck kann man den Begriff des kranken Organismus nach der positiven Seite schon einigermaßen sicher umschreiben. Solange toxische Allgemeinsymptome der beschriebenen Art bestehen, die klinisch mit hinreichender Bestimmtheit auf die Tuberkulose zu beziehen sind, muß der Organismus im ganzen als krank angesehen werden; damit soll natürlich nicht gesagt sein, daß mit der Überwindung dieser Erscheinungen die Gesundung erreicht wäre. Der in diesem Sinne kranke Körper bedarf der Schonung, u. zw. je nach dem Maße dieser toxischen Symptome. Die vollständigste Schonung besteht in der Bettruhe;; sie schützt den Körper vor Wärmeverlusten, die durch eine Steigerung der Verbrennungsvorgänge ausgeglichen werden müßten, ebenso aber auch vor Wärmeüberproduktion durch körperliche Bewegung, sie reduziert die Leistung des Herzens auf das Minimum und bringt durch Ausschaltung des Leistungsumsatzes den Stoffwechsel auf den Grundumsatz herunter. Durch eine geeignete leicht ver- dauliche Diät werden auch die Verdauungsvorgänge im weitesten Sinne erleichtert, so daß auch hier Kräfte gespart und Reize verschiedener Art ausgeschlossen werden können. In diesem Zusammenhang kann vielleicht auch die Herabsetzung des Fiebers durch Antifebrilia als Einschränkung des Energieverbrauchs, somit als Schonungs- behandlung aufgefaßt werden.

Diese absolute Schonung ist nur für die akuten fieberhaften Phasen der oben genannten Tuberkuloseformen angezeigt. Der leider viel verbreitete ärztliche Miß- brauch des Prinzips der Schonung, der dem Verständnis und manchen unterbewußten Wünschen des Kranken, und nicht nur des Schwerarbeiters, so weitherzig entgegen- kommt, richtet im übrigen gerade bei der Behandlung der Tuberkulose recht viel Schaden an, u. zw. nicht nur im Sinne einer Vergeudung von Kräften und Mitteln, sondern entgegen dem wohlverstandenen Interesse des Kranken, dem die Rücksicht- nahme auf seinen Gesundheitszustand schließlich nicht Lebensziel werden darf. Darum müssen wir von der Schonung so bald wie möglich zur Methode der Leistungssteigerung durch Übung gelangen. Das ist möglich, sobald die akute Phase überwunden ist, d. h. die toxischen Erscheinungen, vor allem das Fieber abgeklungen sind. Natürlich muß die Gewöhnung an Leistung jeder Art ganz allmählich und unter steter Berücksichtigung der Krankheitserscheinungen vor sich gehen. Indem man von der Schonungsdiät zur Normaldiät, von der Bettruhe zur Freiluftliegekur übergeht, den Kranken langsam wieder an körperliche Bewegung und nach und nach an wirkliche körperliche Leistung gewöhnt, schließlich durch eine Art allgemeiner Reizbehandlung (Klimatotherapie, Freiluftbäder, Kaltwasser- behandlung u. s. w.) einen möglichst hohen Grad von Widerstandsfähigkeit zu erreichen sucht, wird man eine Kräftigung des Organismus erzielen können, die schließlich

334 H. Ulrici.

im Rahmen der Behandlung zu tüchtiger körperlicher Leistung ohne Gefährdung des Patienten ausgebaut werden kann. Die Heilanstalt soll aus ihren Mauern, ebenso die Privatbehandlung aus ihrer Fürsorge soweit irgend möglich frische und leistungsfähige Menschen zur Arbeit zurückkehren lassen; es bleiben genug Kranke übrig, bei denen dieses Ziel wegen der Art und der Ausdehnung ihres Leidens nicht erreicht werden kann, auch genug solche, die Hypochondrie und Furcht vor dem Schaden der Arbeit zu Stammgästen der Heilstätten oder Sanatorien werden läßt. Je nach den klinischen Erscheinungen der Tuberkulose und dem Umfang und der Art der Organveränderungen hat die Allgemeinbehandlung an verschiedenen Punkten einzusetzen, ihr Tempo einzurichten, Pausen einzuschalten und ihr Ziel zu stecken. Es wäre verfehlt, für solche Therapie ein Schema aufzustellen; wenn irgendwo, so ist hier Individualisieren der Inhalt der ärztlichen Kunst, freilich ein Individuali- sieren, das nach strengen klinischen Indikationen handelt. Auf die Darstellung der Technik der Allgemeinbehandlung kann hier verzichtet werden.

Die Behandlung des tuberkulosekranken Organs hat auch ihrerseits zum Ziel, die bestmöglichen Bedingungen für die Ausheilung zu schaffen und die Leistungsfähigkeit des Organs soweit möglich wiederherzustellen. Auch hier begegnen wir also dem Prinzip der Schonung einerseits, der Übung anderseits, aber im engeren Rahmen: die Aufgabe ist spezialisiert und die Methoden sind daher andere. Freilich erfüllt die Allgemeinbehandlung schon einen Teil dieser Spezial- aufgabe, denn die Schonung, die sie dem ganzen Organismus auferlegt, kommt natürlich in einem gewissen Grade auch dem kranken Organ zugute, desgleichen die Übung. Indessen die Therapie will und kann hier doch mehr erreichen, indem sie das kranke Organ noch vollständiger und für längere Zeit ruhig stellt, ohne die absolute Ruhe des ganzen Körpers nötig zu machen, und indem sie bei der Übung spezielle Ziele verfolgt. Nehmen wir als Beispiel die Gelenktuberkulose. Durch den fixierenden Verband, sei es das Gipsbett, den Gipsverband oder die Lagerung nach Rollier-Bier, wird jede Bewegung im kranken Gelenk ganz und gar oder doch bis auf bestimmte passive Beugung und Streckung ausgeschaltet; bei der Tuberkulose der Gelenke der oberen Extremität gestattet diese Behandlung dem Kranken nicht nur körperliche Bewegung, sondern in gewissem Umfang auch Arbeit, so daß die Allgemeinbehandlung sich ganz unabhängig von der Organ- behandlung lediglich nach den Allgemeinsymptomen richten kann; bei der Erkran- kung der Wirbelsäule und der Gelenke der unteren Extremität ist das freilich nur in sehr beschränktem Maße möglich, da eine Belastung der Gelenke selbst unter Anwendung von Stützverbänden nicht angängig ist, solange klinisch noch Zeichen der Entzündung oder der Progredienz bestehen. Hier sind auch die fixierenden Operationen zu nennen, die das kranke Gelenk für immer außer Funktion setzen wollen, um die dauernde Heilung sicher zu erreichen; solche Operationen sind die Aufpflanzung eines knöchernen Tibiaspanes auf die Dornfortsätze der erkrankten und der oben und unten benachbarten gesunden Wirbel nach Albee und die Fixierung des besonders schwer zur Ausheilung zu bringenden Hüftgelenks durch Einheilung einer Knochenleiste vom Trochanter major zwischen Becken und Femur- hals nach Lorenz. ,

Aber auch bei der Lungentuberkulose spielt die Ruhigstellung des erkrankten Organs heute eine große Rolle. Während man sich früher damit begnügen mußte, die Bewegung und Beanspruchung der kranken Lunge durch völlige körperliche Ruhe stark einzuschränken, ist man heute in der Lage, durch die sog. Kollaps- therapie wenigstens bei den einseitigen Erkrankungen die ergriffene Lunge von der

Die Indikationen für die Behandlung der verschiedenen Formen der Tuberkulose. 335

Beteiligung an der Atmung auszuschließen und die Blut- und Lymphcirculation in ihr stark zu verlangsamen. Die dafür in Betracht kommenden Methoden unter- scheiden sich grundsätzlich insofern, als die Pneumothoraxbehandlung eine vor- übergehende Ruhigstellung der Lunge bewirkt, die Thorakoplastik aber und die Paraffinplombierung nach extrapleuraler Lösung der verwachsenen Lunge einen irre- parablen Zustand setzen. Merkwürdigerweise wird dieser wichtige, ja grundlegende Unterschied nicht, wie er verdiente, in erster Linie berücksichtigt, vielmehr die Pneumothoraxbehandlung, hauptsächlich, weil sie ein verhältnismäßig leichter, un- blutiger und nicht entstellender Eingriff ist, fast immer vorgezogen, wenn ein freier Pleuraspalt sie ermöglicht, die Thorakoplastik aber nur dann in Betracht gezogen, wenn die Pneumothoraxbehandlung wegen totaler Verwachsung der Lunge nicht möglich ist.

Als Indikation für die Kollapsbehandlung gilt kurz gesagt die schwere Erkrankung einer Lunge bei praktisch gesunder anderer Lunge. Aber so einfach liegen die Verhältnisse nicht, daß solche diagnostische Feststellung mittels der physikalischen Untersuchung und der Röntgenaufnahme genügen könnte, vielmehr ist es nötig zu erwägen, ob nach der physikalischen Beschaffenheit der kranken Lunge und nach dem Charakter des vorliegenden Lungenprozesses von der Kollaps- behandlung ein günstiger Einfluß auf den Heilungsvorgang erwartet werden kann. Fragen wir zunächst nach den mechanischen Verhältnissen, so ist Voraus- setzung, daß die Lunge kollabieren kann. Die durch dichtstehende produktive Herde, durch derbes cirrhotisches Gewebe oder gar durch konfluierende Pneumonie prall infiltrierte Lunge kann nicht kollabieren; bei der Pneumothoraxanlegung erhält man besten Falles einen schmalen, mantelförmigen Pneumothorax, einen sog. Verdrän- gungspneumothorax, bei dem die Lunge nach der anderen Seite ausweicht, und durch die Thorakoplastik wird natürlich auch nichts anderes erreicht, als daß die Lunge mitsamt dem Mediastinum und den in ihm liegenden Organen nach der anderen Seite verschoben wird. Das Gewebe der ganz infiltrierten Lunge hat auch keine Neigung und Möglichkeit zu erheblicher Schrumpfung, so daß auch nach- träglich ein wesentlicher Erfolg der Kollapstherapie nicht erwartet werden kann.

Von größter Wichtigkeit für die Frage der Kollapsbehandlung ist der Cha- rakter der vorliegenden Lungenerkrankung. Die produktive Tuberkulose, insbesondere die zur Induration neigende Form gibt ohneweiters die Anzeige für den Eingriff; bei dieser Form kann die Behandlung auch noch angezeigt sein, wenn die andere Lunge praktisch nicht ganz frei ist, z. B. disseminierte Herde in einem Teil des Oberlappens zeigt (Röntgenplatte). Die exsudativen Phthisen sind nur ausnahmsweise für die Kollapsbehandlung geeignet. Die lobäre käsige Pneu- monie kommt hierfür gar nicht in Betracht, weil sie gar keinen Kollaps der erkrankten Partie zuläßt und weil sie keinerlei Heilungstendenz besitzt; mit der konfluierenden lobulären käsigen Pneumonie steht es aus denselben Gründen nicht viel besser. Die sublobuläre oder acinöse disseminierte exsudative Phthise bietet schon etwas bessere Chancen, doch kommt es auch bei dieser Form auf das gesamte Krankheitsbild an. Die mit dauerndem höheren Fieber einhergehenden Phthisen, die von vornherein in der akuten Form aufgetreten sind (galoppierende Schwind- sucht der Jugendlichen), haben eine schlechte Prognose und geben auch für die Kollapsbehandlung kaum Aussichten; ebenso refraktär verhalten sich ähnliche Formen älterer Personen. Etwas günstiger steht es mit exsudativen Prozessen, die sich auf ältere produktive Tuberkulosen aufgepfropft haben, wenn es sich um subakute Schübe geringeren Umfangs handelt. Es empfiehlt sich, in solchen Fällen neben

336 H. Ulrici.

dem klinischen Bilde auch das weiße Blutbild und die Senkungsprobe zur Gewinnung prognostischer Anhaltspunkte zu berücksicktigen. Exsudative Herde der besseren Seite schließen die Kollapstherapie jeder Form unter allen Umständen aus, da sie . bei Überlastung der besseren Seite zu raschester Progredienz neigen. Ein scheinbar günstiger Allgemeinzustand, der sich bei diesen akuten Formen der Lungentuber- kulose gar nicht selten findet und selbst ein fast blühendes Aussehen solcher Kranken darf übrigens nicht zu einer optimistischen Auffassung der Prognose und zum voreiligen Versuch der Kollapstherapie verleiten. Und immer muß man im Auge behalten, daß gerade bei den exsudativen Phthisen neben wenigen schönen Erfolgen die Mißerfolge in Gestalt der schweren Komplikationen des künstlichen Pneumothorax (Exsudatbildung mit hartnäckigem hohen Fieber, tuberkulöses Empyem, Spontandurchbruch in den Pneumothorax mit Sekundärinfektion und Bildung eines heißen Empyems) weit überwiegen, wenn die Indikation nicht mit aller erdenk- lichen Sorgfalt gestellt wird.

Die Frage, ob Pneumothoraxbehandlung, ob plastische Operation gegebenen- falls die Methode der Wahl ist, wird von den Chirurgen anders beantwortet wie von den innern Medizinern. Das hat wohl in der Hauptsache darin seinen Grund, daß der Chirurg verhältnismäßig oft die erwähnten schweren Komplikationen in die Hände bekommt, Fälle also, die für diese Behandlung meist von vornherein ungeeignet waren, deren unglücklicher Verlauf und Ausgang ihn aber gegen die ganze Methode mißtrauisch macht. Richtig angesehen, liegen die Dinge aber so, daß die beiden Methoden der Kollapstherapie gar nicht Konkurrenten sind, sondern verschiedene Indikationen haben. Die Pneumothoraxbehandlung ist angezeigt, wenn der tuberkulöse Prozeß die Lunge noch nicht in großem Umfang ergriffen oder gar zerstört hat; denn nach Ausheilung der tuberkulösen Herde, die stets mit erheblicher Schrumpfung einhergeht, soll die Lunge den Pleuraraum wieder aus- füllen, ohne durch zu starke Verziehung des Mediastinums nach der kranken Seite hin zur Überdehnung, zum vikariierenden Emphysem der anderen Lunge zu führen, ohne also eine schwere funktionelle Schädigung der besseren Lunge zu setzen. Allerdings bedarf es zum Ausgleich dieses meist unterschätzten Nachteils nicht immer plastischer Operationen, vielmehr kann zunächst durch die Exairese des Nervus phrenicus der kranken Seite nach Sauerbruch Lähmung und Hochstand der Zwerchfellhälfte bewirkt und damit der Thoraxraum dieser Seite für die Dauer in einem Grade verkleinert werden, der die nicht allzu erhebliche Schrumpfung der kranken Lunge genügend ausgleicht. Ist freilich die Lunge in großer Ausdehnung erkrankt, sind insbesondere größere Kavernen vorhanden, so ist nach der Aus- heilung dieser Lunge eine so erhebliche Schrumpfung zu erwarten, daß weder die Lunge den Thoraxraum wieder ausfüllen, noch die Lähmung der Zwerchfellhälfte eine genügende Verkleinerung dieses Raumes herbeiführen kann. In diesen Fällen sollte der Versuch der Pneumothoraxbehandlung überhaupt nicht unternommen, sondern sogleich die plastische Operation vorgeschlagen werden; in praxi läuft die Sache freilich anders, indem der Kranke der Operation nicht zustimmt und nun- mehr nichts anderes übrigbleibt, wie den Versuch der Pneumothoraxbehandlung zu machen, ein Versuch, der auch um deswillen zu mißlingen pflegt, weil fast immer erhebliche Verwachsungen vorhanden sind, die einen genügenden Kollaps der Lunge nicht zulassen. Die Kavernen liegen häufig lateral oder reichen durch ihre Größe an die laterale Thoraxwand heran; in diesen Fällen besteht in der Umgebung der Kaverne fast immer eine derbe Verwachsung der Pleurablätter, und wenn der Pneumothorax auch im übrigen einen guten Kollaps der Lunge bewirkt,

Die Indikationen für die Behandlung der verschiedenen Formen der Tuberkulose. 337

so bleibt doch gerade die Kaverne ausgespannt; damit ist das wichtigste Ziel dieser Therapie, die Schrumpfung der Kaverne, unerreichbar geblieben und der Kranke bleibt den schweren Gefahren, die ihm von seiner Kaverne drohen, ausgesetzt. Zuweilen, aber nicht häufig, sind solche Verwachsungen strangförmig; dann können sie unter Umständen nach Jacobaeus unter Leitung des Thorakoskops endo- thorakal kaustisch durchtrennt werden, wodurch vereinzelt der gewünschte Kollaps noch erreicht wird. Als Kriterium, ob der erzielte Kollaps ausreicht, muß das ` Postulat gelten, daß der Auswurf keine Tuberkelbacillen mehr enthält. In der Regel aber machen diese Fälle partielle oder ganzseitige plastische Operationen oder Paraffinplombierung nach extrapleuraler Pneumolyse notwendig. Ist die Pneumo- thoraxbehandlung wegen völliger Verwachsung der Pleurablätter von vornherein unmöglich, so tritt die Plastik in ihr Indikationsgebiet ein, ebenso wenn der Pneumothorax nur partiell möglich war und vor Erreichung der klinischen Aus- heilung verödet. Ist in solchen Fällen die Lunge nur disseminiert erkrankt, so genügt zur Erzielung eines ausreichenden Kollapses die typische paravertebrale Resektion nach Sauerbruch, die sich mit der Resektion von etwa je 5 cm der l. bis 11. Rippe begnügt; ist die Lunge aber schwer erkrankt, sind insbesondere größere Kavernen vorhanden, so ist die Lunge weitgehend zu mobilisieren, z. B. in Form der subscapularen paravertebralen Resektion nach Brauer, bei der die 11 Rippen in von oben nach unten zunehmender Länge von 3—15 cm fortgenommen werden. Riesenkavernen lassen übrigens eine Operation nur zu, wenn die Tagesauswurf- mengen nicht gar zu groß sind (etwa bis 60 crn?); bei sehr großen Auswurfmengen ist die Gefahr der Aspiration von Kaverneninhalt nach der gesunden Lunge eine Kontraindikation jedes operativen Eingriffs. Zweckmäßig wird nach Sauerbruch jeder plastischen Operation die Exairese des Nervus phrenicus der kranken Seite als Belastungsprobe der besseren Lunge vorausgeschickt.

Bei der Kehlkopftuberkulose wird die Ruhigstellung des erkrankten Organs durch das Schweigegebot erstrebt; in häuslicher Behandlung dürfte eine solche Therapie kaum jemals durchzuführen sein. Vereinzelt ist die Ruhigstellung durch die Tracheotomie erzwungen worden; da die Kehlkopftuberkulose meist eine Be- gleiterscheinung der schweren Lungentuberkulose ist, verbietet sich dieser Eingriff in der Regel, weil die Entleerung größerer Auswurfmengen durch die Kanüle dem Kranken unerträgliche Qualen schafft. Der Ruhigstellung sowohl der kranken Lunge wie insbesondere des Kehlkopfs dient bis zu einem gewissen Grade die symptoma- tische Erziehung zur sog. Hustendisziplin wie auch die EES der SES dienlichen Narkotica.

Der Versuche, den tuberkulösen Herd direkt oder indirekt therapeutisch anzugehen, sind eine große Zahl. Da sind zunächst chirurgische Eingriffe zu nennen; nicht die Radikaloperationen sind hier gemeint, von denen oben die Rede war, sondern Eingriffe zur Entfernung von Krankheitsprodukten und zur Reinigung und Desinfektion von Körperhöhlen oder Abscessen. Man kann diese Eingriffe als symptomatische Operationen bezeichnen. Eine typische Operation dieser Art ist die Laparotomie bei exsudativer Peritonitis tuberculosa, bei der bekanntlich unter breiter Eröffnung des Peritoneums in der Regel lediglich das Exsudat abgelassen, jeder weitere Eingriff aber vermieden wird; nur ausnahmsweise werden etwa schon vorhandene Verwachsungen gelöst. Der Erfolg der Operation ist nicht nur in der Vermeidung von Verwachsungen der Darmschlingen zu erblicken, sondern bekannt- lich heilt die tuberkulöse Peritonitis, merkwürdigerweise muß man sagen, nach diesem Eingriff in der Regel aus, ohne irgend welche Spuren zurückzulassen. Bei

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 22

338 H. Ulrici.

der Pleuritis exsudativa wird die breite Eröffnung vermieden. Die Indikation zur Punktion der Exsudate wird mit Recht erheblich weiter gezogen, seit man dazu übergegangen ist, das Exsudat durch Luft zu ersetzen. Es muß heute die Ablassung jedes größeren Pleuraexsudates gefordert werden, soll nicht nur die Bildung dicker und derber Pleuraschwarten, die der Funktion der Lunge schweren Abbruch tun, verhindert, sondern bei Anfüllung des Pleuraraumes mit Luft auch die völlige Ver- wachsung der Pleurablätter hintangehalten werden; partielle Verwachsungen treten allerdings regelmäßig ein und der Einfluß der Punktion auf den Krankheitsablauf ist nicht immer deutlich. Auch das tuberkulöse Empyem ist nicht breit zu eröffnen, sondern zu punktieren und mit Kali hypermanganicum oder Preglscher Lösung auszuwaschen und durch Luft zu ersetzen. Ist das Exsudat sehr fibrinreich, so daß die Kanüle sich immer wieder mit Gerinnseln verstopft, so empfiehlt sich die Ver- dauung des Fibrins durch Pepsin-Salzsäure nach dem Vorgange von Sauerbruch. Ein im Prinzip ähnlicher Eingriff, bei dem aber die Druckentlastung ganz im Vordergrund seiner klinischen Bedeutung steht, ist die Lumbalpunktion bei der Meningitis tuberculosa; die Besserung der Erscheinungen nach der Punktion ist oft augenscheinlich, ihr therapeutischer Wert aber trotz einzelner Berichte von Heilungen problematisch. Eine große Rolle spielt die entlastende Punktion bei den tuber- kulösen Gelenkergüssen und den tuberkulösen Abscessen; über Wert oder Unwert der Füllung solcher Höhlen mit desinfizierenden Lösungen, insbesondere mit Jodo- formglycerin, sind sich die Chirurgen heute nicht einig. Die breite Eröffnung wird nur bei nachgewiesener Mischinfektion als angezeigt angesehen. |

Die indirekten Methoden, auf den tuberkulösen Herd einzuwirken, fassen wir heute unter dem Begriff der Reizbehandlung zusammen, eine Bezeichnung, die ganz richtig vieles Gemeinsame der verschiedenen Verfahren hervorhebt; wir haben bei der Tuberkulose eine unspecifische und eine specifische Reizbehandlung zu unterscheiden.

Als unspecifische Reizbehandlung wird dieProteinkörper- und die Chemo- therapie sowie die Bestrahlung heute in sehr großem Umfang geübt; ob sich diese Methoden ihrer Beliebtheit nicht allzu sehr der bequemen Applikationsweise halber erfreuen, die auch ambulante Behandlung gestatten, zum Teil auch des imponierenden äußeren Effekts wegen, den man mit der Bestrahlung erzielen kann, ist noch recht zweifelhaft. Es ist seit Robert Koch bekannt, daß körperfremde Substanzen, z. B. Albumosen, dem Organismus parenteral beigebracht, Fieber er- zeugen. Da der Tuberkulöse sich vielfach in einem labilen Temperaturgleichgewicht befindet, spricht er auf jeden Reiz besonders leicht an und antwortet er mit starkem Ausschlag. Die Stoffe, mit denen man solchen Reiz ausüben kann, sind fast beliebig zu variieren, da nicht nur mit Eiweißarten, sondern auch mit anderen organischen, ja sogar mit anorganischen Substanzen, z. B. mit Schwermetallen in kolloidaler Form, Reaktionen auszulösen sind. Solche Allgemeinreaktionen treten auch auf, wenn die Injektionen wegen anderer Erkrankungen vorgenommen werden. Ob aber neben dem Allgemeinreiz auch ein Reiz auf den tuberkulösen Herd aus- geübt wird, ist für die Proteinkörper, die für diese Tuberkulosetherapie ange- wendet werden, nicht erwiesen; für diejenigen Stoffe, die zur sog. Chemo- therapie der Tuberkulose dienen, im wesentlichen Salze von Schwermetallen und Farbstoffe, wird die Herdwirkung als eine Art specifischer Reaktion von manchen Autoren behauptet, von anderen angezweifelt. Eigene umfangreiche Unter- suchungen mit den verschiedensten Substanzen (Aolan, Caseosan, Milch, Eigen- serum und artfremdem Serum, Elektrokollargol, Krysolgan, Triphal u. s. w.) haben

Die Indikationen für die Behandlung der verschiedenen Formen der Tuberkulose. 339

wohl häufig Allgemeinreaktionen, jedoch keine einwandfreien Herdreaktionen er- geben; es ist allerdings hervorzuheben, daß klinisch die sichere Feststellung einer Herdreaktion auf die größten Schwierigkeiten stößt, mit einziger Ausnahme des Lupus. Die Reiztherapie der Tuberkulose mit Proteinkörpern wie auch mitSchwer- metallsalzen oder mit Farbstoffen hat als eine allgemeine Reizbehandlung ihr In- dikationsgebiet in den tertiären torpiden Formen der Tuberkulose, bei denen zwar biologisch zwischen Erreger und Wirtsorganismus ein Gleichgewichtszustand, eine Art Waffenstillstand zu bestehen scheint, zugleich aber durch die chronische Krank- keit der Allgemeinzustand mehr oder minder erheblich gelitten hat und sich nicht recht ändern will, von der Allgemeinreaktion also der Anstoß zu lebhafterem Stoff- umsatz erwartet werden kann.

Wichtiger als Proteinkörper- und Chemotherapie der Tuberkulose ist die Reizbehandlung durch Bestrahlung. Es ist zu unterscheiden zwischen der - Allgemeinbestrahlung (Sonne und künstlicher Ersatz) und der Herdbestrahlung (hauptsächlich Röntgenstrahlen). Seit Bernhard (St. Moritz) und Rollier (Leysin) über glänzende Heilerfolge der Sonnenlichtbehandlung bei der Tuberkulose der Knochen und Gelenke berichtet haben, ist der therapeutische Wert der Sonnen- bestrahlung nicht mehr angezweifelt worden, vielmehr die Besonnung und nicht nur im Hochgebirge ein wesentlicher Bestandteil der Tuberkulosetherapie ge- worden. Die Besonnung setzt nicht nur einen sehr intensiven Allgemeinreiz, sondern, wie die Lungenblutungen und das Aufbrechen alter Fisteln nach unzweckmäßiger Bestrahlung beweisen, auch einen Herdreiz; beides kann therapeutisch ausgenutzt werden. Geeignet für die Sonnenbestrahlung sind in erster Linie die Tuberkulosen der Drüsen und der Knochen und Gelenke, also Formen, die zum Teil der zweiten, zum Teil auch schon der dritten Phase der Rankeschen Einteilung angehören. Diese klinische Erfahrung scheint auf den ersten Blick der Rankeschen Auffassung insofern zu widersprechen, als die Überempfindlichkeit des zweiten Stadiums gegen- über dem Virus und seinen Toxinen jeden neuen Reiz als Störung, als kontra- indiziert erscheinen lassen sollte. In der Tat ist auch das akute Stadium dieser Er- krankungsformen mit seinen an den Fieberbewegungen kenntlichen Toxinwirkungen von der Besonnung auszuschließen, da die Sonnenwirkung das Fieber nicht etwa beseitigt, sondern steigert, eine Beschleunigung des Heilungsvorgangs unter diesen Umständen nicht zu erwarten ist und eine klinische Besserung, die auf die Bestrah- lung zu beziehen wäre, auch tatsächlich nicht erkennbar wird, solange diese Fieber- attacken immer wiederkehren. Für die Bestrahlung eignen sich daher nur die sub- akuten und chronischen Stadien jener Tuberkuloseformen. Die Allgemeinbestrahlung ist ohne Zweifel von weit größerer Bedeutung als die lokale Besonnung. Die Reaktion, auch die Herdreaktion, ist ja nicht etwa eine direkte Strahlenwirkung, da die Tiefe, bis zu der das Licht direkt wirkt, sehr gering ist, sondern eine Reaktion des Organismus und des Herdes auf die Erhöhung des Stoff- und Wärmeumsatzes in der Haut durch den intensiven Hautreiz; immerhin mag die lokale Besonnung als Ergänzung der Allgemeinbestrahlung durch die lokale Erwärmung den Herdreiz herbeiführen helfen.

Über die Sonnenbestrahlung bei der Lungentuberkulose liegen noch recht wenig Erfahrungen vor. Unsere eigenen Beobachtungen an einem größeren Material sind nicht ganz eindeutig oder lassen doch wenigstens Art und Grad der Wirkung nicht recht erkennen. Während die oben erwähnten Tuberkuloseformen regelmäßig in den Sommermonaten erheblich schnellere Besserung zeigen als in den Winter- monaten, ist das bei der Lungentuberkulose keineswegs so überzeugend der Fall. .

22°

340 H. Ulrici.

Sichere Herdreaktionen haben wir ebensowenig beobachtet wie imponierende Besserung des lokalen Befundes, doch zeigten unsere besonnten Kranken sonst in jeder Hinsicht besonders gute und zuverlässige Fortschritte, so daß man wohl an ` eine günstige Allgemeinwirkung glauben mag. Für die Besonnung kommen die exsudativen Phthisen, bei denen der Kranke ohnehin schon unter dem Toxinreiz steht, gar nicht in Betracht, vielmehr nur die ganz fieberfreien produktiven und cirrhotischen Phthisen von nicht zu großer Ausdehnung mit gutem Allgemein- zustand; Kavernen schließen die Sonnenbestrahlung wegen der Blutungsgefahr aus, es sei denn, daß sie durch einen gut wirkenden Pneumothorax zum mindesten gut entspannt und in Schrumpfung begriffen sind. Lokale Besonnung wirkt auf die Tuberkulose des Kehlkopfs günstig ein, indem die begleitenden Entzündungs- erscheinungen sich zurückbilden; bei Darmtuberkulose, Peritonitis tuberculosa, Pleuritis wirkt die lokale Erwärmung schmerzlindernd.

Jede künstliche Bestrahlung ist ein kümmerlicher Ersatz der Sonnenwirkung. Wir haben bei der Knochentuberkulose zwischen gar nicht bestrahlten und den mit künstlichen Lichtquellen bestrahlten Kindern kaum einen Unterschied gesehen; noch weniger ist es uns gelungen, Indikationen für die verschiedenen Strahlengemische zu finden. Daß die Quarzlampe mit ihrem Reichtum an ultravioletten Strahlen anderen Lampen in der Wirkung überlegen sei, ist unbewiesen; Grad und Art der Pigmentierung dürfen dabei natürlich nicht als Maßstab‘ dienen, aber gerade dank dieser auffälligen Pigmentierung erfreut sie sich bei Ärzten und Kranken einer Beliebtheit, die im krassen Mißverhältnis zur Heilwirkung steht. Andere Lampen (Heliollampe ungefähr Sonnenspektrum, Aureollampe und Kischlampe vorwiegend rote Strahlen) stehen der Quarzlampe nicht nach, leisten aber auch nicht mehr, als daß sie einen gelinden Allgemeinreiz von zweifelhafter Wirksamkeit setzen. Die Indikationen der künstlichen Bestrahlung decken sich mit denen der Sonnen- bsstrahlung; fiebernde Kranke sind höchstens lokal zu bestrahlen.

Die Röntgenbestrahlung der Tuberkulose unterscheidet sich von den anderen Methoden der unspecifischen Reizbehandlung dadurch, daß sie unter Aus- schließung des Allgemeinreizes die sichere Applikation des Reizes am Krankheits- herd gestattet. Während man bis vor kurzem der Röntgenbestrahlung der Tuber- kulose die Idee zu grunde legte, wenn nicht die Tuberkelbacillen selbst, so doch das tuberkulöse Gewebe wie bei der Carcinombestrahlung so zu schädigen, daß die Zellen absterben, mindestens aber die Gewebsproliferation abgestoppt wird, hat man nach bösen Erfahrungen durch Einschmelzung der bestrahlten Herde und akute Ausbreitung der Tuberkulose sich darauf beschränkt, kleine Dosen Röntgen- strahlen im Sinne des Arndt-Schulzschen Gesetzes gerade zur Anregung der Gewebsproliferation und damit weiter zur bindegewebigen Induration zu benutzen. Für diese streng lokalisierte, immerhin noch intensive und deshalb nicht gleich- gültige Herdreiztherapie kommen nur die chronischen fieberfreien Drüsen- und Knochentuberkulosen, Tuberkulose der weiblichen Genitalorgane und chronische indurierende Lungenphthisen ohne Kavernen "ohne Fieber und Kachexie in Betracht; die Erfolge sind nach den neuesten Berichten recht gut (Strauß, Bacmeister, Stephan, Schröder u. a.).

Je torpider ein Krankheitsprozeß ist oder im Laufe der Behandlung geworden ist, desto intensiver darf der allgemeine und der Herdreiz sein, von dem man eine günstige Wirkung erwarten kann; in der untenstehenden Reihe wird man demnach im Verlaufe einer langen erfolgreichen Behandlung von unten nach oben steigen müssen.

Die Indikationen für die Behandlung der verschiedenen Formen der Tuberkulose. 341

BE | Lokaler Reiz | ee Ke Rönigenbestrehlung u | fehlt WI mäßig stark, sekundär ` SE cke E Sonnenbestrahlung . . ... sees sehr stark ; ' stark o deutlich EZ

hb = ER ne Chemotherapie... . .. . | fehlt mäßig stark nicht sicher nachzuweisen Proteinkörper . . | Se ` 1 tenit í deutlich. 5 zweifelhaft

el en Ir re mh AEAN SE GE Künstliche Bestrahlung . . | stark | deutlich | nicht nachzuweisen

Die specifische Reiztherapie der Tuberkulose ist ein viel umstrittenes Gebiet. Es besteht bei jedem Tuberkuloseinfizierten eine Empfindlichkeit gegenüber dem Tuberkulin, von v. Pirquet als Allergie bezeichnet. Diese Allergie ist der Zank- apfel der Tuberkulintherapeuten. Die einen (Krämer, Bandelier und Roepke, v. Hayek u. a.) erblicken in der hohen Allergie ein Zeichen der Toxinwirkung, also der Aktivität des Prozesses, und suchen sie durch eine einschleichende Tuber- kulinisierung, die Reaktionen ganz vermeidet, zu überwinden; sie erstreben eine Unempfindlichkeit gegen hohe Dosen Tuberkulin, eine sog. positive Anergie (anergisierende Methode). Die anderen (Schröder, Selter) halten hohe Allergie für den Ausdruck einer hohen Immunität und erstreben mit ihrer Reiztherapie mit kleinsten Tuberkulindosen diesen Allergiegrad zu erhalten, wenn möglich noch zu steigern (anaphylaktisierende Methode).

Die reaktionslose Tuberkulinisierung mit steigenden Dosen ist eine Giftgewöh- nung, eine Mithridatisation. Eigene Erfahrungen bewiesen uns, daß man mit der einschleichenden Methode bei hochallergischen schwerkranken Phthisikern reaktionslos zu sehr hohen Dosen gelangen kann (300 400 mg Alttuberkulin); eine solche Tuber- kulingewöhnung hat aber auf den Krankheitsablauf gar keinen Einfluß: über kurz oder lang gehen die Kranken an der fortschreitenden Phthise zu grunde. Der Ein- wand, es handle sich hier um negative Anergie, um ein völliges Erlahmen der Ab- wehrkräfte sub finem, ist nicht berechtigt, denn man kann doch nicht aus hoher Allergie durch Tuberkulinisierung eine negative Anergie machen. Nach diesen Be- obachtungen, wie sie ähnlich Schröder schon berichtet hat, muß der therapeutische Wert der reaktionslosen anergisierenden Tuberkulinisierung angezweifelt werden. Es gibt nur eine Krankheitsgruppe, bei der sie vielleicht indiziert ist, das sind die Fernwirkungen tuberkulöser Herde, die sich als sog. skrofulöse Ekzeme, Schleimhaut- katarrhe, Phlyktänen u. s. w. äußern und wahrscheinlich auf einer Überempfindlich- keit gegenüber dem Tuberkulin oder tuberkulinähnlichen Toxinen beruhen. In der Tat sind die Erfolge der anergisierenden Tuberkulintherapie bei diesen Krankheits- zuständen gut.

Aber wie die Überwindung der starken Tuberkulinempfindlichkeit als Zeichen der klinischen Besserung, so ist auch die Annahme hoher Allergie als Ausdruck vorhandener Immunität eine Hypothese, die mit der praktischen Erfahrung nicht immer übereinstimmt, denn wir finden hohe Allergie, wie oben bereits erwähnt, gar nicht selten auch bei vorgeschrittener Tuberkulose, die bei noch erhaltener gewisser Erholungsfähigkeit doch eine ganz schlechte Prognose hat. Hohe Allergie bleibt nach unseren Untersuchungen (Lange) nicht selten bis wenige Wochen vor dem Tode bestehen, kann also nicht als therapeutisches Leitmotiv dienen. Dazu kommt, daß bei den kleinsten Dosen der anaphylaktisierenden Methodik nur aus-

342 H. Ulrici.

nahmsweise eine Reizwirkung erkennbar wird, mithin auch die Erhaltung oder gar Erhöhung der Allergie durch diese Dosierung oft ein Versuch mit untauglichen Mitteln ist. Eine Indikation dieser Form der Tuberkulinbehandlung für bestimmte Formen der Tuberkulose läßt sich nicht aufstellen, weil ihre Wirksamkeit lediglich abhängig ist von der Tuberkulinempfindlichkeit, die bei derselben Tuberkuloseform verschieden, aber bei verschiedenen Formen gleich sein kann.

Immerhin steckt in der anaphylaktisierenden Methodik als Kern das ursprüng- liche Kochsche Prinzip der Reaktionsbehandlung, wenn auch in unzweckmäßig modifizierter Form. Es muß gerade für die therapeutische Auswertung daran fest- gehalten werden, daß nur für die Herdreaktion die sicheren Unterlagen vorhanden sind, die eine genaue Beobachtung von Heilungsvorgängen gestatten. Die Tatsache, daß der tuberkulöse Herd auf einen genügenden Tuberkulinreiz mit perifokaler Hyperämie und Exsudation antwortet, ist tierexperimentell, klinisch (Lupus!) und auch autoptisch (Virchow) sichergestellt. Daß solche Reaktion den Heilungsvorgang einleiten kann, indem sie zur perifokalen Iymphocytären Infiltration und weiter zur bindegewebigen Induration, somit zur Abkapselung des Herdes führt, entspricht nicht nur pathologisch-physiologischer und anatomischer Beobachtung, sondern auch klinischer Erfahrung; leben doch heute noch Leute, die von einer manifesten Lungen- tuberkulose während der ersten Tuberkulinära durch eine Behandlung mit heftigen Reaktionen geheilt worden sind. Ebenso zweifellos freilich auch das lehrte die erste Tuberkulinära können starke Tuberkulinreaktionen klinisch irreparablen Schaden anrichten, wenn die perifokale Exsudation nicht in Induration, sondern in fortschreitende Verkäsung übergeht.

In Robert Kochs Prinzip der Tuberkulinanwendung steckte zweifellos die richtige Idee: die Erzielung der Herdreaktion; aber zwei Fehler der Ausführung ließen es zunächst nicht zur systematischen, therapeutisch zuverlässig gewinnbringenden Ausnutzung des Gedankens kommen: Fehler der Dosierung und Fehler der Indi- kationsstellung. Die ersten Dosen schon lagen zu hoch und die Festlegung einer Dosierung für alle Formen der Tuberkulose ist ein Unding. Der Indikationsstellung aber war die Klinik vor dreißig Jahren überhaupt nicht gewachsen, weil ihr die diagnostischen Hilfsmittel und Kenntnisse fehlten, über die wir heute verfügen.

Sieht man als das wirksame Prinzip der Tuberkulintherapie die Herdreaktion an, so verliert der in seinem Wesen und in seinen Äußerungen noch keineswegs erkannte Allergiegrad seine therapeutische Einschätzung, und die Dosierungsfrage hat nicht mehr grundsätzliche, sondern nur methodische Bedeutung; übrig bleibt nur die Notwendigkeit, die Reizschwelle zu erreichen, überflüssig aber erscheint es, sie künstlich in die Höhe zu treiben.

Die Tuberkulintherapie erfährt durch diese Auffassung keineswegs eine Verein- fachung. Die Indikationsstellung für die Herdreiztherapie hat vielmehr zur Voraus- setzung eine qualitativ und quantitativ spezialisierte Diagnose, die Klarheit darüber schafft, ob im gegebenen Fall eine Herdreaktion zum Guten oder zum Schlimmen ausschlägt, das heißt, ob die zu setzende Entzündungszone in Induration oder in fortschreitende Verkäsung übergehen wird. Die Dosierungsfrage für diese Therapie aber ist bis heute noch nicht gelöst, denn wir wissen nicht, ob jede Allgemein- reaktion mit einer Herdreaktion einhergeht und ob nicht die Herdreaktion schon mit einer kleineren Dosis zu erzielen ist als die Allgemeinreaktion, haben also an der Allgemeinreaktion keinen zuverlässigen Führer und sind auf tastendes Suchen angewiesen. Den physikalischen Nachweis der Herdreaktion als Maßstab zu nehmen, ist nicht angängig, denn er hat eine so erhebliche perifukale Entzündung zur Vor-

Die Indikationen für die Behandlung der verschiedenen Formen der Tuberkulose. 343

aussetzung, daß der therapeutisch zweckmäßige Grad der Reaktion weit über- schritten sein muß. Der Kreis der Tuberkuloseformen, die sich für die Behandlung mit specifisch herbeigeführten Reaktionen eignen, ist nicht groß, denn es kommen nur die zur bindegewebigen Induration neigenden chronischen Tuberkulosen, nicht aber diejenigen Formen in Betracht, bei denen exsudativ-entzündliche Vorgänge eine Rolle spielen. Demnach sind von den sekundären Äußerungen der Tuberkulose nicht die unter den toxischen Zeichen der frischen Generalisation stehenden, son- dern die stationär gewordenen Phasen für die specifische Reiztherapie geeignet; dabei scheiden die Knochen- und Gelenktuberkulosen noch aus, da man bei ihnen von der Tuberkulinbehandlung im allgemeinen keine wesentlichen Erfolge erwarten zu können scheint. Von den Lungentuberkulosen können die exsudativen Formen nicht Gegenstand einer solchen Therapie sein, weil sie ohnehin schon unter der Reizwirkung toxischer, dem Tuberkulin ähnlicher Substanzen stehen und weil sie den Gewebsreiz mit fortschreitender Entzündung beantworten. Die produktiven Tuberkulosen, die subchronisch verlaufen und zu rascher konfluierender Verkäsung neigen, werden durch intensive Reizbehandlung meist ungünstig beeinflußt, indem die perifokale Entzündung das Konfluieren der Herde begünstigt, statt die Demar- kierung herbeizuführen. Nur die chronischen indurierenden Formen, die ohne Fieber verlaufen, nicht zu weit vorgeschritten sind, insbesondere keine größeren Zerfallsherde und keine Impfherde in Kehlkopf und Darm und keine Kachexie gesetzt haben, lassen den Versuch der intensiven Reizbehandlung zu. Es kann sich immer nur um einen Versuch handeln, weil erstens die spezielle Diagnose nicht immer vollkommen exakt gestellt werden kann, weil zweitens die Möglichkeit besteht, inaktive Herde, insbesondere nicht bekannte Herde in anderen Organen zu mobilisieren, und weil drittens ein schädliches Überschreiten des Reizes nicht sicher zu vermeiden ist. Die Herdreiz- behandlung der Tuberkulose begegnet also mancherlei Schwierigkeiten und Be- denken und ist keineswegs die gegebene Lösung der therapeutischen Aufgabe.

Haben die verschiedenen Tuberkulinpräparate auch verschiedene Indikationen ? Es ist, leider muß man sagen, in drei Jahrzehnten in Deutschland viel wissenschaft- licher Fleiß auf die Gewinnung des überlegenen Präparates verwendet worden. Und immer wieder hat sich herausgestellt, daß es sich bei dem neuen Heilmittel eben auch nur um die bekannte Tuberkulinwirkung handelte. Das gilt sowohl für die Partigene von Deycke und Much wie auch nach den letzten Arbeiten für das neueste Präparat von Toeniessen. Wir sind bis heute nicht einen Schritt über die Kochschen Präparate hinaus.

Nachdem die Modifikation des Präparates sich erschöpft hatte, ist man auf die Modifikation der Beibringungsart verfallen. Aber auch das hat die specifische Therapie nicht wesentlich gefördert. Daß die Haut die Aufgabe hat, den Orga- nismus vor äußeren Schädlichkeiten, auch solchen bakterieller und toxischer Art zu schützen, kann nicht bezweifelt werden; bleibt doch die Berührung der Haut mit allen möglichen chemischen und bakteriellen Giftstoffen, die von der Schleimhaut aus höchst intensiv wirken, ohne jeden Effekt. Daß diesem Schutz neben der besonderen, dem speziellen Zweck glänzend angepaßten morphologischen Struktur dieses Organs eigene biologische Funktionen dienen, die auf dieses Ziel eingestellt sind, ist nach mancherlei klinischen Erfahrungen bei Erkrankungen, die auf und in der Haut sich abspielen (Erysipel, Pemphigus, Furunkel, Milzbrand, Lupus, Tetanus u. s. w.), zum mindesten nicht wahrscheinlich. Mit dieser Hypothese aber fällt die wissenschaftliche Begründung der cutanen Tuberkulintherapie und übrig bleibt nur die technische Modifikation. Sahli versucht seine Intracutanbehandlung durch die

344 H. Ulrici.

Notwendigkeit der Beobachtung der Reaktion zu motivieren; er bleibt nur den Beweis schuldig, daß Lokal. Allgemein- und Herdreaktion jeweils parallel gehen. Nach eigenen Beobachtungen liegen die Reizschwellen auf sehr verschiedenen Höhen, u. zw. nicht nur der absoluten Dosis, sondern auch im Vergleich der drei Reak- tionsarten untereinander; darnach wäre die Cutanreaktion ein recht schlechter Indi- kator für die therapeutische Dosis. Petruschkys Präparate dringen, wie wir nach- gewiesen zu haben glauben (Ulrici, Kremer), überhaupt nicht in solcher Menge durch die intakte Haut, daß irgend eine Reaktion zu stande käme; sie sind un- schädlich und unwirksam. Das Ektebin von Moro setzt zwar Lokalreaktionen; ob es aber darüber hinaus eine therapeutisch zweckmäßige Wirkung hat, steht dahin. Daß ihm unter den Tuberkulinen eine Sonderstellung zukäme, weil es abgetötete, aber noch färbbare Tuberkelbacillen enthält, soll erst noch bewiesen werden. Die Applikationsweise des Ektebins ist ein Notbehelf, weil sie auf die exakte Dosierung verzichtet. Schließlich Ponndorfs Verfahren verglich unlängst Grau sehr hübsch mit dem Herumtappen des Elefanten im Porzellanladen; in der Tat kann eine gröbere Methode nicht gefunden werden. Es leuchtet ohneweiters ein, daß den cutanen Tuberkulinanwendungen ein eigenes Indikationsgebiet nur insoweit zukommt, als kleine und große Kinder jede Injektion verweigern.

Wie die vorstehenden Ausführungen zeigen, befriedigt der Versuch, zwischen den uns bekannten Formen der Tuberkulose und den praktischen therapeutischen Verfahren obligate Beziehungen zu finden, einstweilen nicht recht. Von der pathologischen Physio- logie der Tuberkulose ist viel zu wenig bekannt, um von hier die Brücke zur Therapie zu schlagen. Die therapeutischen Methoden sind vielmehr teils empirisch, teils ex- perimentell gefunden; und wenn der Empirie die wissenschaftliche Grundlage nach- gehinkt kommt, so fehlt der experimentellen Pathologie, mag sie vom chemischen Versuch oder vom Tierexperiment herkommen, der unmittelbare Anschluß an den pathologischen Vorgang im menschlichen Organismus. Es resultiert immer eine ge- wisse Disharmonie, die für die wissenschaftliche Betrachtung schwer zu eliminieren ist.

Literatur: Aschoff, Z. f. Tb. XXVII, p. 28. Bacmeister, D. med. Woch. 1918, p. 340; Lungenkrankheiten. 3. Aufl., Thieme 1923. Bacmeister u. Rickmann, de e ee d. Lungentb. Thieme 1924. Bandelier u. Roepke, Klinik d. Tb. 1924, 3. u. 4. Aufl. Bernhard, Sonnenlichtbehandlung i. d. Chirurgie. Enke 1917. Besredka, Annales de l'institut Pasteur 1921. Brauer u. Spengler, Handbuch d. Tb. von Brauer, Schröder, Blumenfeld, 3. Aufl. 1923, II, p. 449. Brunner, Die Oe dE Behandlung der Lungentuberkulose. Barth 1924. Cornet, Die Tuberkulose. 2. Aufl. 1907. Deycke, Lehrbu.h der Lungentuberkulose. 2. Aufl. 1922. Engel, Tub.-Bibliothek, H. 12. Feldt, Beitr. 7. Klin. d. Tb., LVII, p. 269. Fraenkel u. Gräff, Münch. mei. Woch. 1921, p. 445. Gräff u. Küpferle, Beitr. z. Klin. d. Tb., XLIV, p. 165. Grass, Tuberkuloseärzteversammlung Coburg 1924. Harms, Beitr. z. Klin. d. Tb., LVI, p. 318. v. Hayek, Das Tuberkuloseproblem. 3. u. 4. Aufl. 1923. Hübschmann, Tuberkuloseärzteverrammlung Coburg 1924. Jacob u. Moeckel, Münch. med. Woch. 1924, p.539. Kleinschmidt, Handbuch d Tb. von Brauer, Schröder, Blumenfeld. I. Krämer, Beitr. z. Klin. d. Tb., LVII, p. 444. Kraus, Handbuch d. Tb. von Brauer, Schröder, Blumenfeld, I. Kremer, Klin. Woch. 1924, p. 934. Lange, Z. f. Tb. XL, p. 241. Langer, Tuberkuloseärzteversammlung Coburg 1924. Lydtin, Z. f. Tb., XL, p. 261. Moro, Beitr. z. Klin. d. Tb. LIII, p. 156. Neufeld, Z. f. Tb. XXXIV, p. 606. Nicol, Beitr. z. Klin. d. Tb. XXX, p. 231. Petruschky, Grundriß d. spez. Diagnostik u. Therapie d. Tb. 1913. Ponndorf, Die Heilung d. Tb. pp., Weimar 1921. Ranke D. A. f. klin. Med. CXIX, p. 201 u. 297; CXXIX, p. 224; Beitr. z. Klin. d. Tb. LII, p. 212. Rollier, Heliotherapie d. Tb. 2. Aufl. 1924. Romberg, Münch. med. Woch. 1914, p. 1833; Z. f. Tb. XXXIV, p. 191. Sahli, Uber Tuberkulinbehandlung und über das Wesen des Tuberkulins und seiner Wirkung; Schweiz. med. Woch. 1923, p. 877. Sauerbruch, Chir. d. Brustorgan:. 2. Aufl., Springer 1920. Schloßberger, Hartsch, Lusena u. Prigge, D. med. Woch. 1924, p. 869. Schröder s. Baeuchlen, Beitr. z. Klin. d. Tb. LIX, p. 7. Selter, D. med. Woch. 1921, p. 285. Stephan, Beitr. z. Klin. d. Tb. LII, p. 281. Strauß, D. med. Woch. 1923, p. 825. Toeniessen, Münch. med. Woch. 1922, p. 957; D. med. Woch. 1924, p. 629, 665, 708. Ulrici, Beitr. z. Klin. d. Tb. XLVI, p. 38 und LI, p. 63; Klin. Woch. 1923, p. 20; Diagnostik und Therapie der Lungen- und Kehlkopf- tuberkulose. Springer 1924. Wassermann u. Bruck, D. med. Woch. 1906. v. Wassermann,

Z. f. Tb. XXXIV, p. 596; D. med. Woch. 1923, p. 303. Westergren, Ergebn. d. inn. Med. u. Kinderheilk. XXVI, 1924. Wolff-Eisner, Tuberkulosediagnostik und -therapie, Tauchnitz 1924.

Die Entzündungen am weiblichen Genitale mit Ausnahme der Gonorrhöe.

Von Fritz Heimann, a. o. Universitätsprofessor in Breslau.

Mit 6 Abbildungen im Text und einer farbigen Tafel.

Wie das Thema anzeigt, sollen in diesem Artikel die Entzündungen der weib- lichen Genitalien von der Vulva bis zum Pelveo-Peritoneum besprochen werden. Bei dem innigen Zusammenhang der einzelnen Organteile ist ein Übergreifen von einem zum anderen selbstverständlich, und so werden sich natürlich Hinweise bei der Be- sprechung der Entzündung eines Teiles auf die eines anderen nicht umgehen lassen. Die Genitalien gehören ja sowohl in ihrer arteriellen wie venösen, ihrer Iymphati- schen wie nervlichen Versorgung zu einem Ganzen, und so sehen wir täglich, daß entzündliche Affektionen der Vulva Reaktionen im Uterus hervorrufen, und um- gekehrt. Die Gonorrhöe als solche wird nicht besonders besprochen, trotzdem wird auf die gonorrhoische Infektion in gleicher Weise wie auf die tuberkulöse, syphilitische und septische Bezug genommen werden, da ja der Gonokokkus bei den entzünd- lichen Affektionen der Genitalien eine ungeheure Rolle spielt. Die pathologisch- anatomische Bedeutung der Entzündung sei nur kurz gestreift. Sieht man von jenen Entzündungen ab, die durch mechanische, chemische, thermische Schädlichkeiten hervorgerufen werden, wobei die Bakterien in letzter Linie eine dominierende, wenn auch sekundäre Rolle spielen, so ist es die Infektion, das primäre Eindringen der Krankheitserreger, die für die Entzündung hauptsächlich in Betracht kommt. Das Eindringen der Bakterien, mögen es Kokken, mögen es Bacillen sein, ist zwar der intakten Haut oder Schleimhaut gegenüber nicht ganz leicht, da die gesunde Haut oder Schleimhaut alles daran setzt, um den Eintritt zu erschweren, jedoch die kleinste Läsion macht jeden Widerstand unmöglich, und ist erst der Erreger im Körper, so entfaltet er, sei es durch Produktion von Toxinen, sei es durch Zerfall seiner Nähr- substrate oder durch seinen eigenen Tod und die dadurch frei werdenden giftigen Endotoxine sofort seine verheerende Wirkung. Wir wissen ja leider zu genau, wie häufig unter solchen Umständen die lokale Reaktion in die allgemeine Entzündung, d. h. in Allgemeininfektion, übergehen kann. Noch heute bestehen die 4 Symptome, die die älteren Pathologen als die charakteristischen Zeichen einer Entzündung an- gegeben haben, völlig zu Recht: Tumor, Dolor, Calor und Rubor, wozu noch später als 5. Symptom die Functio laesa hinzugerechnet wurde. Die makro- und mikro- skopischen Bilder bei dem Entstehen einer Entzündung sind zu bekannt, als daß hier ausführlich darauf eingegangen zu werden brauchte. Wir wissen heute besonders durch die Studien unserer hervorragendsten deutschen Forscher Virchow und Rokitansky, wie es am Orte der eingedrungenen Bakterien zur Reaktion kommt. Mit dem Plasma des Blutes treten Leukocyten und Erythrocyten heraus, das Trans- sudat wird durch stärkere Beimengung der weißen Blutkörperchen zum Exsudat, die Gewebsinfiltration geht in das Nachbargewebe weiter und übt dort ihre zer- störende, degenerative Wirkung aus. Mit aller Macht versucht der Organismus dem

346 Fritz Heimann.

weiteren Eindringen durch Errichtung eines Schutzwalles Einhalt zu tun; nicht nur die Nachbarschaft des erkrankten Herdes beteiligt sich mit ihren Fibroblasten, Leuko- cyten u.s.w. an der Errichtung des Walles, der Organismus bringt seine gesamten Abwehrkräfte heraus, hauptsächlich um den Prozeß zu lokalisieren, ihn oberflächlich zu halten. Handelt es sich bei der oberflächlichen Entzündung nur um einen sog. Katarrh, bei dem wir im mikroskopischen Bild Teile des oberflächlichen Epithels mit weißen und roten Blutkörperchen angefüllt finden, so sehen wir bei tiefen Entzündungen bereits abgestorbene und abgestoßene Teile des Gewebes. Von hier aus ist es zur Allgemeininfektion zuweilen nur ein kleiner Schritt. Der Wall wird von den Erregern durchbrochen, die Lymph- und Blutgefäße sind offen und der Weg ist den Bakterien frei. Ob es dann zu den Erscheinungen, die wir als Sepsis oder Pyämie bezeichnen, kommt, hängt von den Umständen ab, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll, da sie für unsere Besprechung nicht von Bedeutung sind. Ein Wort noch zur Heilung der Entzündung. Erste Bedingung ist dafür, daß die Erreger kampfunfähig gemacht werden. Erst wenn der Organismus mit seinen Abwehrkräften, wobei die Phagocyten die erste Rolle spielen, die Oberhand ge- wonnen hat, kann mit der Regeneration begonnen werden. Die Resorption des Exsudates, der im Entzündungsherd liegenden nekrotischen Massen von Gewebe besorgen auch hier wieder vornehmlich die Phagocyten. Gewisse lösende Fermente werden abgeschieden, um die Aufsaugung zu erleichtern. Defekte im Gewebe werden durch die Bindegewebszellen neu aufgebaut. Das Narbengewebe zeigt schließlich an, wo die Entzündung früher gesessen hat. Diese Vorgänge sollten kurz gestreift werden, ehe wir an die Besprechung der einzelnen Kapitel herangehen.

Zunächst sei die Entzündung der Vulva besprochen. Die Anatomie dieses Teiles zeigt mit einigen Abweichungen das Bild der normalen Haut. Der Pigmentreichtum ist hier größer als an anderen Stellen, und die Verteilung der Schweißdrüsen an den einzelnen Teilen der Vulva verdient Beachtung. So zeigt die Gegend um die Klitoris besonders reichlich Talgdrüsen, deren starke Sekretion eine Erkrankung vortäuschen kann. Im großen und ganzen sind die Vorbedingungen für eine Vulvitis gegeben. Die Hautpartien sind mit Bakterien mannigfacher Art besiedelt, die im gegebenen Augenblick virulent werden und ihre verheerende Wirkung ausüben können. Glücklicherweise ist dies im Leben seltener, als man darnach annehmen könnte. Das Epithel schützt einerseits in ausgezeichneter Weise, andererseits wirkt, wie Menge nachweisen konnte, das Scheidensekret bactericid und vermindert da- durch die Anzahl der Mikroben. Kommt es aber zur Entzündung, so ist die Ver- letzung, die Aufquellung des Epithels erste Bedingung für die Entstehung der Vulvitis. Mancherlei Faktoren sind von Bedeutung. Rein mechanisch kann das Epithel durch Onanie, rohe Cohabitation, Kratzeffekte u. s. w. verletzt werden. Die Infektion spielt eine große Rolle. Nicht aseptisch ausgeführte Operationen, die gewöhnlichen Geburts- vorgänge können schwerste Entzündungen hervorrufen. Die Gonorrhöe muß Er- wähnung finden, wenn auch hier das Epithel dem Eindringen der Gonokokken er- hebliche Schwierigkeiten bereitet; anders ist es bei der Vulvovaginitis der kleinen Mädchen, wo das zarte Epithel dem Erreger das Eindringen erleichtert. Der Soor- pilz ist ferner zu nennen. Beim Diabetes sieht man häufig, daß der zuckerhaltige Urin, der dauernd die Vulva benetzt, Macerationen des Epithels hervorruft. Das gleiche ist der Fall bei Erkrankungen der höher gelegenen Teile der Genitalien mit ihren ätzenden und beißenden Sekreten, bei Fisteln nach Darm oder Blase. Wir sehen, daß bei allen ätiologischen Faktoren die Verletzung des Epithels die Conditio sine qua non ist.

Die Entzündungen am weiblichen Genitale mit Ausnahme der Gonorrhöe. 347

Die Symptome einer Vulvitis bestehen in einer intensiven Rötung der ge- samten Partien, deren leichte Berührung außerordentliche Schmerzen hervorruft. Starke ödematöse Schwellung verleiht der Haut ein glänzendes Aussehen. Allmählich kommt es zu einer serösen, schleimigen, eventuell eitrigen Sekretion, die häufig mit Blut untermischt ist. Jetzt bilden sich besonders an den kleirmen Labien kleinste Wärzchen aus, die nicht mit spitzen Kondylomen verwechselt werden dürfen. Es handelt sich um einfache Hyperplasien der Schleimhaut.

Die Diagnose der gewöhnlichen Vulvitis ist leicht und aus den Symptomen sofort zu erkennen. Schwierig gestaltet sich die Erkenntnis, welche Form der Erkran- kung vorliegt. Die Untersuchung auf Gonokokken ist unerläßlich, und bei Vor- handensein der Erreger ist die Diagnose geklärt. Es soll jedoch hervorgehoben werden, daß auch der: Nachweis erhebliche Schwierigkeiten machen kann. Häufige, zu ganz verschiedenen Zeiten ausgeführte Untersuchungen ergeben stets ein negatives Resultat, bis endlich das Kulturverfahren die Diagnose klärt. Auch die Bartholinsche Drüse mit ihren Sekreten, die ja den Lieblingssitz der Gonokokken darstellt, muß ein- gehend untersucht werden. Bei der aphthösen Form sehen wir, daß die Pilzfäden nicht tief hineingehen. Die diphtherische Form ist eine Erkrankung, die wir neben der Scharlach- und Masernvulvitis besonders im Kindesalter beobachten. Der Nachweis der Bacillen gelingt meist. Die Erkrankung kann auftreten, auch ohne daß eine solche des Rachens vorliegt. Schwerste Excoriationen und Beläge treten als Begleiterscheinungen auf und sind besonders in ihren Folgeerscheinungen, der späteren Verklebung dieser Partien, der Atresie, zu fürchten. Die Aktinomykose, Infektionskrankheiten, wie Typhus, Ruhr u.s. w., können ebenfalls zu Geschwürs- bildungen an der Vulva führen.

Die Therapie muß natürlich in allererster Linie die Grundkrankheit berück- sichtigen. Lokal wird man die Teile ruhig stellen, d. h. die Patientinnen streng zu Bett liegen lassen. Jedes differente Mittel, Sublimat, Carbol, Lysol, ist zu vermeiden. Je indifferenter die Abrieselungen, Spülungen, Sitzbäder sind, also abgekochtes Wasser, Borsäure-, ganz dünne Kaliumpermanganatlösung u. s. w., desto eher führt die Behandlung zum Ziel. Prophylaktische Maßnahmen sind bei der gewöhnlichen Vulvitis, da sie außerordentlich leicht rezidiviert, sehr zu empfehlen. Auch hier wird die Grundkrankheit natürlich die erste Rolle spielen. Häufige warme Sitzbäder mit Bolus alba (zwei gehäufte EBlöffel pro Sitzbad), Abreibungen mit 2% igem Salicyl- spiritus verrichten gute Dienste.

Die akute Vulvitis kann in die chronische übergehen. Man findet klinisch dann eine derbe, spröde Haut, die zahlreiche Excoriationen, von Kratzeffekten her- rührend, zeigt. Histologisch sieht man in einer solchen Haut die Charakteristica der überstandenen Entzündung, also in erster Linie die kleinzellige Infiltration, daneben sind Neubildungen von Gefäßen zu beobachten. Die chronische Vulvitis ist eine Erkrankung, die die Patientinnen außerordentlich in ihrem körperlichen und seelischen Zustand herunterbringt. Das Hauptsymptom, das Jucken, auf das ich unten noch ausführlich zu sprechen komme, ist so quälend und aufreibend, daß man häufig gezwungen wird, zu Narkotica zu greifen, nur um den Frauen wenig- stens für kurze Zeit Ruhe und Erholung zu schaffen. Selbstverständlich wird man in dieser Hinsicht allergrößte Vorsicht walten lassen. Die übrige Behandlung muß auch hier eine eventuelle Grundkrankheit berücksichtigen, vor allen Dingen aber auf möglichste Erleichterung in den Beschwerden sehen; mit indifferenten Mitteln kommt man zunächst am besten zum Ziel. Sitzbäder, Umschläge, bei starker Sekretion eventuell Trockenbehandlung mit Boluspräparaten, peinlichste Sauberkeit verrichten

348 Fritz Heimann.

oft gute Dienste. Man wird ausprobieren müssen, welches Mittel der Kranken am besten hilft, niemals darf man sich auf die Durchführung einer bestimmten Kur versteifen. Wie ich bereits bei der akuten Vulvitis erwähnte, kann es besonders leicht bei der chronischen Form zu Ulcerationen kommen, die der Therapie erhebliche Schwierigkeiten machen. Die venerischen Erkrankungen seien nur kurz gestreift. Ich nenne hier das Ulcus molle, das durch den Ducreyschen Streptobacillus hervor- gerufen wird und an seinem scharfen Rande und seinem speckigen Geschwürs- grund gut zu erkennen ist. Die Schmerzhaftigkeit ist groß und dadurch differential- diagnostisch leicht vom syphilitischen Ulcus zu unterscheiden. Die Lymphdrüsen (Glandulae inguinales) werden zeitig befallen und zeichnen sich durch ihre große Schmerzhaftigkeit aus (Bubonen). Auch die Gonorrhöe kann bei sehr reichlichem Sekret Geschwüre an der Vulva hervorrufen. Hier wird man im Abstrich natürlich Gonokokken finden. Der Lues sei gedacht, die in allen 3 Stadien: als Primär- affekt, als maculo-papulöses Syphilid und in ihrer tertiären Form an der Vulva vor- kommt. Schließlich tritt (zit. nach Schröder) ein von Lipschütz zuerst beschrie- benes sog. Ulcus vulvae acutum bei Virgines auf; die Innenflächen der großen und kleinen Labien zeigen am häufigsten diese Erkrankung, die im großen und ganzen eine gute Prognose dartut.

Drei Geschwürsformen müssen gemeinsam besprochen werden, da sie patho- logisch-anatomisch große Ähnlichkeit besitzen können, d. i. das Ulcus rodens vulvae, die Elephantiasis und die Tuberkulose, soweit die beiden letzteren Formen ulce- rierend auftreten.

Unter dem Ulcus rodens vulvae oder Esthiomene versteht man ein schleichend beginnendes serpiginöses Geschwür, das von der Fossa navicularis oder Urethral- mündung ausgeht und sich durch seine durch nichts zu beeinflussende, in die Tiefe vordringende Tendenz auszeichnet. .Fistelbildung nach Blase und Mastdarm. Histo- logisch findet man ein zellreiches Gewebe mit vielen Leukocyten und Plasmazellen, im übrigen das Bild der chronischen Entzündung. Sehr häufig ist diese Erkrankung gepaart mit einer Mastdarmstriktur, auf einer Stauung in den Lymphgefäßen beruhend, und gerade dieser Vorgang hat die Erkrankung in Zusammenhang mit der Lues bringen lassen, obwohl an und für sich das Ulcus rodens nichts mit der Lues zu tun hat. Gleichwohl kommt die Krankheit meist bei Prostituierten zwischen dem 20. und 40. Lebensjahre vor, und eine gewisse Basis können Syphilis und Tuberkulose abgeben. Der Verlauf ist ein außerordentlich quälender. Brennen und Jucken, Blutungen, Beschwerden beim Wasserlassen bringen die Patientin bald enorm her- unter. Die Diagnose hat gegen Lues, Tuberkulose, Carcinom und eventuell ulcerös auftretende Elephantiasis zu unterscheiden. In letzter Linie hilft das Mikroskop. Die Prognose ist schlecht. Die Therapie wird versuchen, das stark sezernierende Geschwür möglichst trocken zu halten. Aufstreuen von trockenen Pulvern und Pudern, eventuell Ätzungen mit Argentum, Chromsäure u. s. w. In manchen Fällen wird man mit der Excision der erkrankten Partien nützen können (s. Tafel III, Fig. 1).

Die Elephantiasis vulvae tritt meistens in der sog. hypertrophischen Form auf. Es handelt sich um eine Stauung im Lymphgefäßapparat, die zum Teil durch ent- zündliche Erkrankungen, zum Teil, besonders in den Tropen, durch das Einwandern der Filaria in die Lymphgefäße hervorgerufen wird. Die Stauung kann so bedeutend sein, daß Tumoren von ungeheurer Größe (Siedentop) resultieren. Die großen und kleinen Labien hängen als enorme Geschwülste herab und belästigen die Trägerin außerordentlich. Histologisch handelt es sich hauptsächlich um eine Hypertrophie der Hornschicht, die Cutis zeigt die Entzündung, also besonders kleinzellige In-

Die Entzündungen am weiblichen Genitale mit Ausnahme der Gonorrhöe. 349

filtration. Zuweilen treten Ulcerationen auf, und in diesem Zustand kann die Differentialdiagnose gegen das Ulcus rodens sehr schwer sein. Die Therapie muß eine chirurgische sein.

Schließlich sei die Tuberkulose erwähnt, die als einfache Hauttuberkulose, als Lupus vulgaris, recht selten vorkommt. Etwas häufiger ist die ulceröse Form, die dann mit den beiden oben erwähnten Erkrankungen große Ähnlichkeit haben kann. Das Geschwür selbst sieht wie angefressen aus. Die Ränder sind nicht infiltriert, der Belag meist käsig. Tuberkelbacillen werden zuweilen nachzuweisen sein, beweisen jedoch noch nicht die tuberkulöse Ätiologie, da sie von höheren Orten mit dem Sekret heruntergekommen sein können. Erst die mikroskopische Untersuchung, die die Anwesenheit von Tuberkeln mit Riesenzellen und nun- mehr das Vorhandensein von Bacillen feststellt, sichert die Diagnose. Die Infektion ist stets sekundär, entweder vom Blutweg aus oder per continuitatem vom Darm aus. Die Therapie wird die für Hauttuberkulose üblichen Maß- nahmen, Licht-, Strahlen-, Salbenbehandlungen, eventuell Tuberkulin, berücksichtigen.

In engem Zusammenhang, vielleicht auf dem Boden einer chronischen Vulvitis, entstehen einige nicht ganz seltene Krankheitsbilder. Zunächst seien die spitzen Kondy- lome genannt (Fig. 82). Hat man diese Erkrankungen früher mit der Gonorrhöe in einen direkten ätiologischen Zusammenhang gebracht, so weiß man heute, daß dies absolut nicht der Fall zu sein braucht. Gewöhnlich ist es das ätzende, beißende Sekret einer Vaginitis oder eines Uteruskatarrhs, das diese Bildung hervorruft. Histologisch findet man bei diesen die großen und kleinen Labien be- deckenden, papillär aufsitzenden, leicht blutenden Wärz- chen eine starke Wucherung des Papillarkörpers. Die Zeichen der chronischen Entzündung, mächtige An- häufungen von Leukocyten und Plasmazellen, sind vor- handen. Häufig werden die Excrescenzen durch Druck a Hd E rein mechanisch abgeplattet und sind dann den breiten luetischen Kondylomen nicht ganz unähnlich. Klinisch klagen die Kranken über sehr starkes Brennen und Jucken. Kommt es zur Sekretion, dann entsteht übler Geruch. Therapeutisch hat man Ätzungen mit Chrom- oder Salpetersäure, Vereisung mit Chlor- äthyl empfohlen. Ist die Erkrankung ausgedehnter, kommt man mit diesen Methoden nicht zum Ziel. Hier hilft nur chirurgisches Vorgehen. Abschneiden jedes Wärzchens mit der Schere und sofortiges Betupfen der blutigen Stellen mit dem Paquelin. Die Rönt- genbehandlung hat nach meiner Erfahrung nicht sehr günstige Erfolge aufzuweisen.

Histologisch bietet das gegenteilige Bild der soeben beschriebenen Erkrankung die Craurosis vulvae, die Schrumpfung, die zuerst Breisky 1885 beschrieben hat. Hier handelt es sich in erster Linie um eine narbenähnliche Beschaffenheit des Papillarkörpers, Talg- und Schweißdrüsen fehlen, das Pigment schwindet und gibt auch klinisch diesen Partien ein weißliches, narbenähnliches Bild. Hauptsächlich die Labia minora und Damm werden betroffen, und durch ihre Schrumpfung kann eine sehr starke Verengerung der Vagina eintreten. Die Kraurosis stellt das End- produkt einer Entzündung dar. Häufig geht dieser Erkrankung eine Epithelver- dickung, die besonders das Stratum corneum betrifft und sich klinisch ebenfalls in

Fig. 82.

350 Fritz Heimann.

weißlichen Flecken äußert, voraus, die sog. Leukoplakie, die mit Syphilis in keinem Zusammenhang zu stehen braucht. Die Kranken klagen dabei über Spannung und unerträgliche juckende und fressende Empfindungen. Da es leicht zu Fissuren kommt, stellen sich auch erhebliche Beschwerden ein. Cohabitationsbeschwerden treten infolge Stenosierung auf. Die Behandlung macht Schwierigkeiten. Von Salben und Schüttelmixturen hat man wenig Erfolg gesehen, obwohl ein Salbenverband diese Stellen vor dem Sekret der Vagina schützt. Auch die Röntgenstrahlen lassen häufig im Stich, obwohl man sie versuchen soll (3-mm-Aluminiumfilter höchstens 30 X bei 26 cm F. H., alle 3—4 Wochen wiederholen. Küstner hat die Excision der erkrankten Partien mit eventueller Transplantation empfohlen (s. Tafel UL Fig. 2).

Schon bei der ersten Affektion wurde als ein Symptom das Jucken, der Pru- ritus vulvae, genannt, eine Erkrankung, die die Patientin außerordentlich quälen und körperlich und seelisch herunterbringen kann. Wir unterscheiden einen sympto- matischen und einen essentiellen Pruritus. Ersteren sehen wir bei allen Katarrhen der Genitalien. Das Carcinom mit seinen ätzenden und beißenden Sekreten kann ebenfalls unerträgliches Jucken hervorrufen. Beim Diabetes wird der zuckerhaltige Urin die Ursache abgeben. Ekzem, Soor, Acne seien ferner ätiologisch genannt. Der essentielle Pruritus tritt auf, ohne daß irgendwelche Ursachen aufzufinden wären. Olshausen ebenso wie Walthard nehmen eine Neurose an. Die Veränderungen der Haut sehen sie als eine Folge des Kratzens an. Die Haut selbst ist beim Pruritus lederartig verändert. Hypertrophie des Bindegewebes bei gleichzeitiger Atrophie des Epithels. Subepithelial ist reichlich kleinzellige Infiltration zu beobachten. Die Therapie hat in erster Linie die Grunderkrankung zu behandeln. Beim essentiellen Pruritus soll man sich heute auf lokale Behandlung (Pinselung mit 5%iger Carbol- lösung, Mesothan mit Oleum olivarum ana u. s. w.) nicht einlassen, da wir in der Röntgenbehandlung ein ausgezeichnetes Verfahren in die Hand bekommen haben. Technik wie bei der Kraurosis.

Schließlich müssen bei der Entzündung der Vulva auch die Erkrankungen genannt werden, die in erster Linie den Dermatologen interessieren. Ich nenne hier das Ekzem, besonders das intertriginöse, die Furunculose und den Herpes genitalis. Die Behandlung besteht nach den in der Dermatologie üblichen Grundsätzen, d. h. neben peinlichster Sauberkeit Behandlung mit trockenen Pudern. Ist die Entzündung recht hervortretend, so wird man zunächst durch Umschläge mit essigsaurer Ton- erde diese zurückbringen.

Spricht man von der Entzündung der Vagina, so sind die anatomischen Kennt- nisse zum Verständnis erste Vorbedingung. Die Scheide hat ein vielschichtiges Pflaster- epithel, das normalerweise ein Eindringen der Keime verhindert; Drüsen fehlen, die Mikroflora der Vagina ist außerordentlich zahlreich. Neben grampositiven und -negativen Kokken und Bacillen findet man in der normalen Scheide in erster Linie kürzere oder längere grampositive Stäbchen, die von Döderlein als die typischen Bewohner der Scheide erkannt worden sind. Sie sind es, wie wir noch hören werden, die infolge der Milchsäurebildung im Kampf gegen die eingedrungenen Bakterien siegreich die Gesundheit der Scheide garantieren. Auch die Trichomonas vaginalis muß unter den Scheidebewohnern genannt werden. Nicht viel größer als ein weißes Blutkörperchen mit einem Geißelfaden ruft sie nach Höhne im Gegen- satz zu Schröder und Löser starke Entzündung hervor. Die Gonokokken dringen in das gesunde Scheidenepithel der Erwachsenen nicht ein, obwohl Wert- heim am Schnittpräparat auch dieses zeigen konnte; kommt es jedoch zu Ver- letzungen des Epithels durch ätzende Sekrete, dann ist es dem Gonokokkus ein

Die Entzündungen am weiblichen Genitale mit Ausnahme der Gonorrhöe. 351

leichtes, in das Gewebe einzudringen. Das zarte Epithel der Kinder bietet dem Gonokokkus absolut keinen Widerstand. Die gonorrhoische Vulvovaginitis der kleinen Mädchen ist eine sehr unangenehme, therapeutisch schwierig zu beeinflussende Erkrankung. Wir sehen aus diesen kurzen Auseinandersetzungen, daß es beim Ent- stehen einer Vaginitis auf zwei Momente besonders ankommt, erstens welche Arten von Bakterien die Oberhand gewinnen und ihren unheilvollen Einfluß ausüben, und zweitens wie sich die Nährböden in diesem Falle Epithel und Scheidenwand den Bakterien gegenüber. verhalten. Durch irgend welche deletären Einflüsse, mögen diese mechanischer, chemischer oder thermischer Art sein, kann die Mikroflora sich ver- mehren, der normale Nährboden geschädigt werden und dadurch dem Eindringen der Bakterien keinen Widerstand mehr leisten. Wir sehen dann das Bild entstehen, das wir mit Vaginitis bezeichnen. Ätiologisch spielen die mannigfachsten Faktoren eine Rolle. In erster Linie ist es die Infektion; auf die Gonorrhöe gehe ich nicht näher ein. Schon oben wurde erwähnt, daß die Gonokokken zwar normalerweise dem Scheiden- epithel nichts anhaben können, daß aber jede Schädigung desselben die Entzündung hervorruft. In noch stärkerem Maße geschieht dies durch nicht aseptisch ausgeführte Operationen; der Streptokokkus ist in erster Linie die Ursache der Infektion. Auch der Soorpilz, besonders bei Diabetes und in der Oravidität, kommt ätiologisch für eine Vaginitis. in Betracht. Man erkennt die Erkrankung an den weißen Pilzrasen und der stark geröteten Schleimhaut. Auch die Nähe des Darmes gibt zuweilen Veranlassung zu Entzündungen der Scheide, mögen es Darmbakterien sein, die in die Scheide einwandern, mögen andere Parasiten die Vaginitis hervorrufen. In. erster Linie sind die Oxyuren zu nennen, die die Scheide besiedeln. Vielleicht sind es gar nicht die Würmer selbst, die die Erkrankung hervorrufen, eher die Folge- erscheinungen; durch das infolge des Juckens bewirkte Kratzen entstehen Epithel- effekte, die zu unangenehmen Entzündungen führen. Auch chemische Ätzwirkungen sind als ätiologische Faktoren zu nennen, zum Teil können dies Sekrete sein, die durch Erkrankung der oberen Teile des Genitales, also besonders des Uterus, ab- gesondert werden, hauptsächlich spielen aber Medikamente eine Rolle, die man zu therapeutischen Zwecken verwendet. Ich nenne hier besonders Carbol, Sublimat, Lysol u.s. w. Auch bei der Verwendung der heißen Spülungen ist Vorsicht geboten, der Temperaturgrad ist genauestens der Patientin anzugeben. Ich habe schon nach ungenauen Angaben schwerste Verbrühungen gesehen. Entzündungen in der Umgebung der Vagina können sehr leicht auf die Scheide übergreifen. Wir wissen heute, daß die Infiltration der Parametrien beim Uteruscarcinom häufig auf einer Infektion beruht und nichts anderes als eine Phlegmone darstellt, hervorgerufen durch die im Affekt sitzenden Streptokokken. Wir haben uns bei der Röntgen- bestrahlung derartiger Fälle überzeugt, daß beim Verschwinden des Ulcus auch die Phlegmone zurückgeht, da den Bakterien gewissermaßen der Nährboden entzogen wird (Küstner, Heimann). Auch sonst kann ein eitriger Prozeß, der sich z. B. im Wochenbett im Paravaginalgewebe abspielt, auf die Scheide leicht übergreifen. Schwere Veränderungen, zum Teile entzündlicher Natur zeigt die Vagina bei großen Prolapsen. Hier geben Ernährungsstörungen oder mechanische Insulte der Scheide das ursäch- liche Moment für die Vaginitis ab; die Schädigung kann so weit gehen, daß schwere Ulcerationen, sog. Decubitalgeschwüre resultieren. Schließlich darf der Verletzungen nicht vergessen werden, mögen sie durch therapeutisch eingelegte Instrumente (Pessare) hervorgerufen sein oder handelt es sich um masturbatorisch oder infolge Perversion in die Scheide eingebrachte Fremdkörper. Auch beim Stuprum hat man Verletzungen mit anschließenden Entzündungen häufig gesehen.

352 Fritz Heimann.

Pathologisch-anatomisch unterscheidet man eine Vaginitis granularis und eine Vaginitis simplex. Bei der ersteren sind hauptsächlich die Papillenspitzen ergriffen, wodurch die ganze Scheide ein rotgesprenkeltes Aussehen erhält. Bei der simplex ist die gesamte Scheide entzündet. Hier sieht die Vagina flammenrot aus, das Epithel zeigt Verletzungen und Macerationen und die Folge des Epithelverlustes ist eine leb- hafte Sekretion, herrührend aus dem Transsudat des großen Venenplexus, der sich unter der Epidermis der Scheide befindet. Ist der Prozeß nur oberflächlich, so haben wir es mit der katarrhalischen Form zu tun. Geht die Erkrankung in die Tiefe, so kann es zur Abstoßung ganzer Membranen kommen (Vaginitis pseudomembranacea). Hier spielen in der Ätiologie außer schweren Infektionskrankheiten, wie Typhus, Scharlach u. s.w., auch chemische Agenzien, Sublimat, Carbol u. s. w., eine- wichtige Rolle. Auch unter dem Einfluß der Lues kann es, abgesehen vom Primär- affekt, zu tiefgreifender Zerstö- rung und Entzündung der Scheide kommen (Vaginitis gummosa). Von der Diphtherie ist dieser Zu- stand bekannt. Erst kürzlich ist an unser Klinik ein Fall von Fräulein Dr. Kühn beschrieben worden, bei dem es sich um eine Aus- stoßung des gesamten Vaginal- rohres bei echter Diphtherie ge- handelt hat.

Unter den Symptomen sehen wir den Ausfluß in erster Linie, der von milchig weißer Be- schäffenheit alle Grade bis zu reinem Eiter annehmen kann. Auf diesen „Ausfluß“ sei etwas näher eingegangen.

Die Anatomie zeigt, daß im ganzen Oenitalschlauch nur die Vulva und die Cervix echte Sekrete hervorbringen. Die Scheide hat ein mehrschichtiges Pflasterepithel und besitzt keine Drüsen, und in dem normalen Corpus uteri sehen wir, wie ich bei der Besprechung des normalen menstruellen Cyclus zeigen werde, nur in der Sekretionsphase ein schleimähnliches Produkt, das nur selten exzessive Formen annimmt. Trotzdem kann außer von Cervix und Vulva noch Flüssigkeit in der Scheide abgesondert werden, u.zw. handelt es sich um ein Transsudat aus den unter dem Epithel der Scheide liegenden, sehr ausgedehnten venösen Plexus- bildungen; geringste Hindernisse im Abfluß des venösen Blutes werden also sofort eine seröse Durchtränkung des Epithels und damit eine Transsudation zur Folge haben. Sehen wir also, daß der Fluor zunächst aus Flüssigkeit besteht, so ist der zweite Hauptbestandteil die Epithelien, die vom Pflasterepithel der Scheide stammen, die dritte, vielleicht die wichtigste Komponente stellen die Bakterien dar, die von außen schon 8—12 Stunden nach der Geburt in die Scheide einwandern. Der Bakteriengehalt der Scheide nimmt eine Sonderstellung ein. Untersucht man die Scheide gesunder Frauen, so findet man nur eine Form von Bakterien, kurze oder längere, grampositive Stäbchen,' die sog. Vaginalbacillen nach Döderlein. Dieser

Fig. 83.

Erster Reinheitsgrad des Scheideninhalts (nach Schröder).

Tafel II. Ergebnisse der gesamten Medizin, VI. Fritz Heimann: Die Entzündungen am weiblichen Genitale mit Ausnahme der Gonorrhöe.

La $ TN

DEA

ge Lacerationsectropiums, Fluor

klagt seit einem Jahre über kontinuier-

Fig. 2.

re alt, ervixkatarrh infol (nach Küstner).

an

48 n.

ie

Craurosis vulvae. Frau T. liches Jucken an den Genital

Fig. 1.

(nach Küstner).

Esthiomene. Ulcus rodens vulvae

Verlag von Urban & Schwarzenberg in Berlin u. Wien.

Die Entzündungen am weiblichen Genitale mit Ausnahme der Gonorrhöe. 353

Befund ist nach Manu af Heurlin als erster Reinheitsgrad (Fig.83) bezeichnet worden. Je mehr die pathogenen Keime, wie Kokken, Diplokokken, Staphylokokken und

Fig. 84.

Zweiter Reinheitsgrad des Scheideninhalts (nach Schröder).

Streptokokken, überwiegen und die Vaginalbacillen verdrängen, wobei auch Epithelien und Leukocyten in stärkerem Grade auftreten, umsomehr müssen wir

Fig 85.

Dritter Reinhei tsgrad des Scheideninhalts (nach Schröder).

von pathologischen Bildern sprechen. Manu af Heurlin hat diese Bilder als

zweiten und dritten Reinheitsgrad bezeichnet (Fig. 84 und 85). Wie erklärt sich dieses Ver-

halten der Scheide? Hier setzen die Untersuchungen von Löser, Schröder u.a. ein. Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 23

354 Fritz Heimann.

Die Selbstreinigung der Scheide gelang auch im Reagensglas nachzuweisen. Menge und Krönig wiesen nach, daß der Vaginalinhalt pathogene Keime abzutöten ver- mag, eine Tatsache, die um so größere Bedeutung hat, da wir sonst in der Bakterio- logie nichts Ähnliches kennen, daß irgend ein Produkt gegen alle Keime bactericid wirkt. Löser war es, der zuerst den Schluß zog, daß bestimmte Beziehungen zwischen den Bakterien, also Vaginalbacillen, und dem Plattenepitbel der Scheide bestehen müssen, was er als latenten Mikrobismus bezeichnet. Dadurch ist man der Lösung bedeutend näher gekommen. Die Plattenepithelien enthalten ein zuckerartiges Nährmaterial in der Form des Glykogens. Das Glykogen ist das Nährsubstrat, aus dem die Vaginal- bacillen große Mengen von Milchsäure bilden, und die Anwesenheit der Milchsäure, ihre vermehrte oder verminderte Menge, ist für den Reinheitsgrad maßgebend. Es soll hervorgehoben werden, daß die Bildung des Glykogens in den Epithelien dauernd variiert. Gräfenberg ist es gelungen, den Säuretiter unter verschiedenen Bedingungen festzustellen. Wir kennen heute die Beziehungen, die zwischen Ovarialtätigkeit bzw. Men- struation und Säuregehalt des Vaginalsekretes bestehen. Schädigungen des Epithels werden also den Säuregehalt brechen, dadurch die Selbstreinigung der Scheide aufheben.

Neben dem Ausfluß ist das Wundsein ein Symptom, das die Patientin außer- ordentlich belästigt. Gewöhnlich ist es mit sehr unangenehmem Brennen und Jucken verbunden.

Die Prognose hängt von der Schwere des Prozesses ab, die Diagnose ist leicht und bei der Untersuchung immer zu stellen.

Die Therapie wird zunächst die Grundursache angehen. Handelt es sich um mechanische Schädlichkeiten, so sind diese zu beseitigen. Ein drückendes Pessar wird entfernt. Bet Spülungen mit differenten Mitteln sind diese zu verbieten. Man wird zunächst lokal behandeln, darf jedoch, um dies gleich zu betonen, die Allgemein- behandlung nicht vernachlässigen. Wie Schröder betont, muß das Ziel der Be- handlung sein, den ersten Reinheitsgrad wiederherzustellen, also einerseits die Mikro- flora umzustellen, anderseits die Scheidenwand wieder mit glykogenhaltigen Epi- thelien zu versehen. Peinlichste Sauberkeit und Ruhestellung der erkrankten Teile, strengste Bettruhe ist also bei der akuten Entzündung selbstverständlich. Um die Sekretion einzuschränken, hat man drei Arten von Behandlungen, die Spülung, die Trocken- und die Tamponbehandlung. Spülungen müssen mit dem Irrigator mit auskochbarem Mutterrohr, am besten in liegender Stellung, ausgeführt werden. Man wird bei einer akuten Entzündung mit ganz indifferenten Mitteln (Kochsalz 1 Eßlöffel, Alaun 1 Kinderlöffel, Soda 30 g auf 1/ Wasser) arbeiten, niemals sind Sublimat, Lysol, Chlorzink u. s. w. zu verwenden. Je indifferenter ein Mittel ist, um so schneller kommt man zum Ziel. Handelt es sich um chemische Prozesse, wird man es zunächst mit 1 —2 % iger Borsäure versuchen; Milchsäurespülungen (1 —5 % ig) führen häufig zum Erfolg. Zu empfehlen sind ferner 10% iges Perhydrol (50 g auf 1), 50% iges Alsol (1 EB- löffel auf 1/). Mit Bepinselung der Schleimhaut (1% iges Zinkchlorid oder Jodtinktur) sei man vorsichtig. Die Trockenbehandlung ist durch Nassauer in die Medizin ein- geführt worden. Häufig sieht man Gutes von dieser Behandlung. Ich mache es ge- wöhnlich so, daß ich im Milchglasspeculum Bolus alba mit oder ohne Zusatz von Lenicet, Argentum, Protargol u.s. w. in die Vagina einbringe und nun mit einem Wattebausch das Pulver in die Scheidenwand einreibe. Nach 3— 4 maliger Einreibung wird eine heiße Kamillenspülung von 3—4 / gemacht. Diese Behandlung, 2 bis 3 Wochen durchgeführt, gibt häufig gute Erfolge. Bei diesem Vorgehen sind Instrumente zum Einblasen nicht notwendig, ja ich glaube sogar, daß die Methode wirksamer zum Ziel führt als der „Siccator“, der das Pulver zu sehr verklumpt. Auch die

Die Entzündungen am weiblichen Genitale mit Ausnahme der Gonorrhöe. 355

Tamponbehandlung erwähne ich. Mit Glycerin als Grundlage in gewisser Verbindung mit Ichthyol, Teer, Thigenol werden Wattebäusche getränkt in die Vagina eingeführt und 24 Stunden darin gelassen. Nach Entfernung des Tampons wird eine Spülung mit Kamillen oder ganz dünner Kalium-permanganat-Lösung gemacht. Um die Milchsäure- bildung zu verbessern, ist von Kuhn das Einbringen einer konzentrierten Zuckerlösung empfohlen worden. Von dem gleichen Gedanken ging Löser mit seinem sog. Bacillosan aus, das aus Milchzucker und lebenden Milchsäurebakterien besteht. Aus dem Milch- zucker entsteht durch die Bakterien Milchsäure, die normale Verhältnisse schafft. Schließlich habe ich sehr gute Erfahrungen mit dem Thyoparametron gemacht. Diese Tabletten enthalten hauptsächlich Thigenol und Jothion in eigenartiger Bindung. Drei- mal wöchentlich wird abends 1 Tablette in die Scheide eingeführt, am nächsten Morgen schließt sich eine heiße, ganz dünne Kalium-permanganat-Spülung an.

Bespricht man die Scheidenentzündung, so darf man die Erwähnung der Folgezustände, die sich unter bestimmten Voraussetzungen entwickeln, nicht ver- gessen. In erster Linie sind es die Stenose und Atresie der Scheide. Die Ätiologie der Stenose ist einleuchtend. Eine Verletzung oder Entzündung bringt das Scheiden- epithel zum Schwinden und dort, wo es fehlt, kommt es zu Obliterationen. Die Prädilektionsstellen sind die Gegenden der Scheide, wo der Beckenbodenmuskel die Scheide umschließt, also die obere Hälfte der Scheide. Auch instrumentelle oder chemische Verletzungen können die Verengerung hervorrufen; der Fremdkörper, der Pessare, sei gedacht. Die Indolenz der Patientinnen läßt die Pessare monate-, ja jahrelang liegen, Druckgeschwüre sind die Folge, die bei ihrer Heilung die Stenose verursachen. Schließlich sei des physiologisch auftretenden senilen Scheiden- ringes gedacht, bei dem es sich um eine narbenähnliche Veränderung des Binde- gewebes handelt. Viel komplizierter ist die Ätiologie des völligen Scheidenverschlusses, der Atresie. Wir wissen, daß gewisse Infektionskrankheiten des Kindesalters, be- sonders Masern und Scharlach, eine Scheidenentzündung hervorrufen, die zum Ver- lust des Epithels und zu völliger Verklebung der Scheide führt. Glaubte man bis- her, daß eine Atresie auch dadurch bedingt sein kann, daß der untere Teil des Müllerschen Ganges solid geblieben ist, so ist diese Ansicht durch die Unter- suchungen von Robert Meyer, Veit und Nagel erschüttert worden, da diese Autoren auf dem Standpunkt stehen, daß nur dann eine Atresie entstehen könne, wenn die Verwachsung der beiden Müllerschen Gänge ausbleibt. Küstner schließt sich dieser Ansicht nicht an. Auch die fötale Entzündung Kußmauls als Ätiologie der Atresie war Gegenstand eifriger Studien. Hat Veit alle derartigen Entzündungen für postnatal erklärt, so teilt Kermauner keineswegs diesen Standpunkt. Zu einer Zeit des fötalen Lebens, gewöhnlich bei der Verschmelzung der Gänge, kommt es durch chemische Einflüsse zu einer Koagulationsnekrose der Zellen, und die Folge ist die Atresie. Schließlich muß der gonorrhoischen Vulvovaginitis der Kinder, die für den Scheidenverschluß eine höchst wichtige Rolle spielt, gedacht werden. Von großem Interesse, auch hinsichtlich der Ätiologie, ist ein Symptom, die Hämatosal- pinx, die Blutansammlung in der Tube. Man findet dabei das Fimbrienende ver- schlossen, und Nagel und Veit schließen daraus, daß es sich um eine Entzündung bei der Atresie handeln müsse. Dieselbe Schädlichkeit, die in der Scheide zur Atresie führt, hat auch den Verschluß des Fimbrienendes hervorgerufen. Andere Autoren, be- sonders Hofmeier, glauben, daß das Blut, das gewisse infektiöse Stoffe enthält, peri- toneale Exsudationen und Verklebungen veranlaßt. Die Symptome der Stenose er- strecken sich meist auf Hindernisse bei der Cohabitation und unter der Geburt. Die Atresie wird in der Pubertät Erscheinungen machen, wenn das Blut sich in der Scheide

REN

356 Fritz Heimann.

(Hämatokolpos) im Uterus (Hämatometra) und in der Tube (Hämatosalpinx) sammelt. Die Diagnose ist leicht und sofort bei der Untersuchung zu stellen. Die Therapie wird bei der Stenose eine Erweiterung beabsichtigen, eventuell durch Incision und geeignete Vernähung der Wundränder. Bei der Atresie kommt es darauf an, wie tief dieselbe geht; hier müssen eventuell Transplantationen vorgenommen werden.

Bei der Entzündung des Uterus ist zunächst eine Trennung zwischen Corpus einerseits und Cervix bzw. Portio anderseits zu machen. Die Vorgänge in beiden Teilen sind so verschieden, die histologischen Veränderungen so differenziert, daß eine gemeinsame Besprechung nicht möglich ist. Der Isthmus uteri Aschoffs, das obere Cervixsegment Küstners, das untere Uterinsegment Schröders, derjenige Teil am Uterus, der zwischen Cervix und Corpus liegt, soll hierbei vernachlässigt werden. Zunächst sei die Entzündung am Corpus uteri besprochen. Es ist bekannt, daß am Uterus eine Submucosa fehlt. Die Erkrankungen des Endometriums werden daher meist auf die Muskulatur übergehen, in gleicher Weise die Affektionen des Myometriums die Schleimhaut affizieren. Eine Trennung von Endometritis und Metritis ist eigentlich gar nicht möglich, und so hat es sich im Laufe der Zeit ein- gebürgert, von einer Endometritis-Metritis zu sprechen, beide Ausdrücke synonym für einander zu gebrauchen. Schröder, Robert Meyer, Hitschmann und Adler haben in den letzten Jahren die Erkrankung des Endometriums zum Gegenstand eifrigster Studien gemacht. Ihnen ist es, das können wir ruhig heute behaupten, gelungen, die alte Lehre der Endometritis auf eine neue Basis zu stellen. Es ist notwendig, auf die Mikroflora des Genitalkanals noch einmal kurz zu sprechen zu kommen. Wie ich schon oben sagte, ist die normale Scheide von einer bunten Flora von Bakterien besiedelt. Ein leichtes Eindringen von hier in die höheren Regionen, also in den Uterus, ist leicht möglich, sobald der normalerweise die Cervix verschließende, bactericid wirkende Schleimpfropf ausgestoßen wird. Es brauchen gar nicht besondere Umstände vorzuliegen, damit dies geschieht. Nicht die Geburt oder Fehlgeburt allein, nicht nur der operative Eingriff entfernt den Schleimpfropf, die Menstruation macht alle 4 Wochen durch Ausstoßung dieser Barriere den Weg für die Bakterien nach dem Endometrium frei. Man muß demnach im Genitalkanal einen bakterienhaltigen und einen bakterienfreien Abschnitt unterscheiden. Zu ersterem rechnen wir Vulva und Scheide, zu letzterem Uterus und Tube. Die Untersuchungen des Cervixhalsstückes auf Bakterien haben kein eindeutiges Resultat ergeben. Wäh- rend Döderlein, Menge und Krönig in diesem keine Bakterien fanden, glaubt Winter auf Grund seiner Befunde den bakterienfreien Abschnitt erst vom inneren Muttermund an rechnen zu dürfen. In gleicher Weise wie das Scheidensekret bac- tericid wirkt, tut dies auch der Schleim der Cervix. Experimentelle Studien hier- über ergaben, daß Pyocyaneus, in. die normale Cervix gebracht, zu grunde ging, da das Uteruscavum später steril gefunden wurde.

Die akute Endometritis entsteht durch das Eindringen von Bakterien bzw. durch die Schädigung durch die von den Bakterien produzierten Toxine. In erster Linie sind zu unterscheiden die septische und saprophytische, wenn diese Trennung überhaupt noch erlaubt ist, da die gleichen Erreger diese „verschiedenen“ Erkran- kungsformen hervorrufen können, ferner die gonorrhoische, tuberkulöse, luetische und diphtherische. Bei der septischen Endometritis sind es Streptokokken oder Stap!ıylokokken, die in die verletzte Schleimhaut eindringen. Meist ist das Puer- perum die Gelegenheit, doch auch im Anschluß an Operationen oder instrumen- telle Eingriffe kommt es zu jenen Erkrankungen. Im Gegensatz zu der pyogenen Form glaubte man, daß die saprophytische durch obligate- anaerobe Bakterien, die

Die Entzündungen am weiblichen Genitale mit Ausnahme der Gonorrhöe. 357

nur auf totem Material (Placenta, Tumor u. s. w.) gedeihen, hervorgerufen wird. Hier seien die ausgezeichneten Untersuchungen Heinz Küstners erwähnt, der fand, daß alle Krankheitsprozesse, bei denen sich abgestorbenes, mit Fäulniskeimen besiedeltes Gewebe im Erkrankungsherde befindet, zu schweren Allgemeininfek- tionen prädisponiert, wenn gleichzeitig Streptokokken vorhanden sind, da diese durch die Verwesungsvorgänge in ihrer Virulenz gesteigert werden können. Krönig sah, daß beim Einbringen von Streptokokken und Saprophyten letztere im Kampf unter- liegen. Wie ich schon andeutete, haben die Untersuchungen besonders von Schott- müller und dem leider so früh verstorbenen Oskar Bondi ergeben, daß auch die Saprophyten invasive Eigenschaften erringen können. Mikroskopisch sieht man bei der pyogenen Form die Bakterien weit ins Gewebe eindringen. Der Granu- lationswall, der sich zur Abwehr bildet, ist durchbrochen, und die Bakterien haben die Muskulatur erreicht. Die gonorrhoische Endometritis ist verhältnismäßig selten, meist siedeln sich die Gonokokken in der Cervix an, die Ascension findet beim . Fehlen des Schleimpfropfes statt. Das anatomische Bild der akuten gonorrhoischen Endometritis zeigt die Charakteristica der akuten Entzündung, starke, kleinzellige Infiltration, die Schleimhaut selbst ist 4—5 mm dick, succulent, mit Eiter bedeckt. An vielen Stellen fehlt das Oberflächenepithel. Der Nachweis der Gonokokken im Gewebe ist schwierig, obwohl ihr Vordringen bis in die Muskulatur beobachtet wurde. Eine Eigentümlichkeit der gonorrhoischen Infektion hat Küstner zuerst beobachtet, die Umwandlung von Cylinder- in Plattenepithel. Die tuberkulöse Endo- metritis kann primär durch Eindringen von tuberkulösem Sperma darauf wird weiter unten noch genauer eingegangen oder sekundär von einer tuberkulösen Peritonitis oder Salpingitis entstehen. 3 Formen unterscheidet man, die akute miliare, die interstitielle und die ulceröse Form. Mikroskopisch sind diese Formen am charakteristischen Bau der miliaren Knötchen, an den Riesenzellen, eventuell am Vorhandensein der Bacillen leicht zu erkennen. Die syphilitische Erkrankung der Schleimhaut tritt an Bedeutung gegenüber den Erscheinungen am Gesamtorganismus zurück. Sekundärerscheinungen und gummöse Ulcera sind beschrieben worden. Auch die diphtherische Endometritis ist selten. Meist sind bei bakteriologischen Untersuchungen als Erreger Streptokokken gefunden worden, doch haben Bumm und Küstner echte Diphtheriebacillen nachweisen können. Schließlich sei der Formen gedacht, die bei akuten Infektionskrankheiten, Typhus, Ruhr u. s. w., auftreten. Meist handelt es sich hierbei um Toxinwirkung, da die Mikroben im Endometrium nicht nachzuweisen sind, mikroskopisch sieht man das Bild der hämorrhagischen Erkrankung. Selbstverständlich kann jene oben erwähnte akute Erkrankung ins chronische Stadium übergehen. Meist wird man unter diesen Umständen die Erreger nicht mehr nachweisen können, da die eigenen Stoffwechselprodukte sie zum Absterben bringen. Trotzdem wird sich anatomisch der Nachweis leicht erbringen lassen, daß eine Entzündung vorliegt, da wir im Gewebe die Zeichen der überstandenen Ent- zündung sehen. Anderseits finden wir und das ist das Bedeutsame bei den Affek- tionen des Endometriums eine Form der Erkrankung, die nicht durch Bakterien hervorgerufen wird. Hier spielen chemische, thermische, mechanische Momente, also nichtinfektiöse Prozesse, eine Rolle. Man wird natürlich unter diesem Gesichtspunkt niemals eine akute Erkrankung zu Gesicht bekommen.: Der Begriff der Entzündung der Endometritis ist für diese Formen eigentlich nicht mehr zu verwenden. Tut man es doch noch, so ist es nur die Gewohnheit von alters her. Will man diese Formen richtig verstehen, so sind kurz die Vorgänge bei der Menstruation, wie sie uns die neue Forschung gezeitgt hat, zu besprechen. Nachdem Pflüger

358

Fritz Heimann.

seine Theorie aufgestellt hatte, wonach ein und derselbe Anlaß eine starke Blut- überfüllung des ganzen Unterleibes verursacht, Menstruation und Ovulation also dadurch hervorgerufen wird, war Leopold der erste, der in systematischer Weise

die Beziehungen studierte, die zwisch

70 Er =

o o Zaff E. Geo

S EBRO

(193Po1y>3S ydeu) sny uajjansusu uspeurou səp gwy

SH SA, 77 ` T 7 DT CT e e # IIA LANG A #7 7 [| de Ga, £ e ) | | ` L

Re et Er Ge / ER way NN Bh | 8

ID A Ce | | |

BROC

‚98 319

en Ovulation und Menstruation beständen.

Er glaubt, aus seinen Untersuchungen schließen zu müssen, daß beide Vorgänge sich fast kontemporär abspielen, das Eichen ca. 2—3 Tage vor der Menstruationsblutung ausgestoßen werde.

Nachdem Born und besonders L.Fraen- kel die Bedeutung des Corpus luteum für die Menstruation zuerst erkannt hatten, wobei sie behaupteten, daß das Corpus luteum die Menstruationsblutung hervorriefe und die Schleimhaut für die Nidation des Eies vor- bereite, waren es besonders Schröder, Hitschmann und Adler, Robert Meyer, die sich eingehend mit diesem Thema be- faßten. Als Resultat ihrer Studien kann heute zunächst festgestellt werden, daß Ovulation und Menstruation keineswegs kontemporär verlaufen, sondern der erstere Vorgang ca. 14 Tage kleine Schwankungen sind mög- lich vor dem zweiten stattfindet. In aus- gezeichneten Untersuchungen konnte Fraen- kel diese Behauptung beweisen, indem er systematisch bei Operationen den Zusammen- hang zwischen Periode und Corpus-luteum- Bildung studierte. Glaubt also Fraenkel, daß es das Corpus luteum sei, das inner- sekretorisch die Wandlung der Gebärmutter- schleimhaut veranlaßt, so schreibt Schröder dem reifenden Follikel diese Rolle zu. Das ausgestoßene Eichen bleibt 14 Tage am Leben, d. h. befruchtungsbereit, um die Samen- fäden aufzunehmen; geht es zu grunde, so wird sein Tod durch die neue Menstruation angezeigt. Hitschmann und Adler und besonders Robert Schröder waren es, die das mikroskopische Bild des Endometriums, das unter dem Einfluß von Follikelreifung und Corpus luteum einem ständigen, sich cyclisch wiederholenden Wechsel unterworfen

ist, studierten. Nach Schröder unterscheidet man im Endometrium 2 Schichten, die Basalis, die mit den Veränderungen der Schleimhaut nichts zu tun hat, und die Functionalis, die den Hauptbestandteil bildet (Fig. 86). Blutet es infolge der Men- struation 4 Tage, so beobachtet man das Wachstum des Follikels vom 5. Tage an. Gleichzeitig beginnt die Erneuerung der Functionalis, die während der Menstruation abgestoßen war. Diese Phase bezeichnet man als Proliferationsphase der Schleim-

Die Entzündungen am weiblichen Genitale mit Ausnahme der Gonorrhöe. 359

haut. Die Drüsen vergrößern sich, deutliche Kernteilungsfiguren, am 14. Tage hat die Functionalis bereits ein Vielfaches der Dicke der Basalis angenommen. Nun wird das Eichen ausgestoßen, der Follikel wandelt sich zum Corpus luteum um, im Endometrium beginnt die Phase der Sekretion, die Drüsen hypertrophieren, füllen sich stark mit Sekret, die Zellen werden Ödematös größer, die Färbbarkeit des Kernes ist besonders stark, gleichzeitig hat sich das Corpus luteum zur vollsten Blüte entwickelt (Vascularisation). Das Eichen selbst ist am Leben und befruchtungs- bereit. Tritt die Befruchtung nicht ein, so stirbt das Ei ab, sein Tod wird, wie bereits erwähnt, durch die Blutung angezeigt; Stroma und Epithel zerreißen, die strotzend gefüllten Capillaren sprengen die Umgebung und ergießen ihr Blut nach außen. Die Functionalis wird ausgestoßen. Auch über diesen letzteren Punkt herrschte lange unter den Autoren Uneinigkeit; während die einen, besonders Möricke, West- falen, Gebhard, glaubten, daß Uterusschleimhaut bei dem Menstruationsvorgang nicht verloren gehe, stehen andere hier sind die Untersuchungen von Käte Lindner aus der Fraenkelschen Klinik besonders zu nennen auf dem eben auseinander- gesetzten Schröderschen Standpunkt. Der 2. Tag der Menstruation zeigt nur noch die Basalis, von wo aus die weitere Regeneration stattfindet, das Corpus luteum bildet sich zurück, der neue Follikel kann reifen. Diese Vorgänge muß man sich vor Augen halten, will man die neue Lehre der Endometritis verstehen. Die Auf- fassung von Ruge und Veit, die eine Endometritis glandularis und interstitialis unterschieden, besteht nicht mehr zu Recht. Hitschmann und Adler waren es, die dieser Lehre eine neue Basis gaben. Bei der chronischen Endometritis muß man unterscheiden, ob es sich um eine tatsächliche Entzündung oder einen hyperplasti- schen Zustand handelt. Ich hebe hierbei hervor, daß wohl nirgends im Organismus Entzündung und Tumorbildung so innig ineinander übergehen, wie es an der Schleimhaut der Gebärmutter der Fall ist. Die mikroskopische Untersuchung läßt diese beiden Zustände sicher erkennen. Die Entzündung spielt sich im Bindegewebe, die Hyperplasie an den Drüsen ab. Die Entzündung muß ihre Charakteristica auf- weisen: Plasmazellen, eine besondere Form der Exsudatzellen, über deren Herkunft noch nicht völlige Klarheit herrscht, ob es sich um ausgewanderte Bindegewebs- zellen oder veränderte Leukocyten handelt, müssen vorhanden sein, Herde klein- zelliger Infiltration, Atheromatose der Gefäße, Bindegewebshyperplasie machen die Diagnose „Entzündung“ sicher. Küstner hat zuerst beschrieben, wie unter ent- zündlichem Einfluß besonders ruft der Gonokokkus diese Veränderung hervor es zu einer Umwandlung von Cylinderzellen in Plasterepithel kommt. Ein ganz anderes Bild zeigt die Endometritis hyperplastica oder glandularis. Hier ist von einer Entzündung keine Rede, also darf eigentlich der Name Endometritis hierfür nicht gebraucht werden. Wir haben es mit einer tatsächlichen Neubildung zu tun. Hitsch- mann und Adler glauben nun, daß die hyperplastische Endometritis nichts anderes sei als die prämenstruelle Schleimhaut. Sie haben darin recht, da der prämenstruelle Zustand dasselbe mikroskopische Bild zeigt wie die glanduläre Endometritis; nur ist dieser Zustand nicht ein vorübergehender wie im Cyclus, sondern ein dauernder, und damit ein pathologischer geworden. Sowohl die chronische Endometritis wie den hyperplastischen Zustand beobachten wir bei einer Reihe von Erkrankungen. Die erstere Form finden wir bei Lageveränderungen des Uterus, letztere kommt bei Geschwülsten, beim submukösen Myom, beim Carcinom der Cervix und Portio, wo sie von Landau sogar für ein Sarkom gehalten wurde, beim Abort als die von Küstner und Opitz in ihren mikroskopischen Feinheiten studierte Endometritis post abortum, bei entzündliche Adnexen und häufiger Schädigung des Genitalkanals

360 Fritz Heimann.

vor. Damit habe ich schon eine große Reihe ätiologischer Faktoren genannt. Zuweilen ist nichts davon zu eruieren. Pankow hat blutende Uteri mikroskopisch untersucht und fand keinerlei Veränderungen, die die Blutung erklären ließen. Er nannte das Krankheitsbild Metropathia haemorrhagica; die Ursache der Erkrankungen liegt wohl in einem übergeordneten Centrum, d. h. Störungen in der Funktion der Ovarien oder anderer innersekretorischer Drüsen müssen ätiologisch in Anspruch genommen werden.

Die Symptome der akuten Endometritis werden häufig bei dem schweren Krankheitsbild, das die Allgemeinerkrankung hervorruft, in den Hintergrund treten. Wie bei jeder akuten Entzündung werden hohe Temperaturen vorhanden sein, mag es sich um eine septische oder gonorrhoische Form, die häufigsten Ursachen, handeln. Schmerzen treten gewöhnlich erst auf, wenn das Peritoneum beteiligt ist, doch kann der Druckschmerz des Uterus schon sehr frühzeitig sich bemerkbar machen. Starke Sekretion ist meist vorhanden. Der gonorrhoische Eiter zeichnet sich durch seine Dünnflüssigkeit aus. Auch die Erkrankung der Bartholinschen Drüse sichert die Diagnose auf Gonorrhöe. Bakteriologischer Nachweis ist notwendig. Die Entnahme geschieht bei Verdacht auf septische Ätiologie am besten mit einem dünnen gebogenen, von Döderlein empfohlenen Glasröhrchen. Die Technik ist einfach, jedoch ist streng darauf zu achten, daß das Sekret auch tatsächlich aus dem Uterus und nicht aus der Scheide entnommen wird. Querbett der Patientin und Sichtbarmachung der Portio bzw. des Muttermundes ist erste Bedingung. Bei der Gonorrhöe wird das Sekret mit einem von Asch angegebenen kleinen scharfen Löffel entnommen. Selbstverständlich müssen Cervix und Urethra untersucht werden. Bei der letzteren Untersuchung ist 3 Stunden vorher kein Urin zu lassen. Nur die Gramsche Färbung gibt zuverlässige Resultate, Methylenblau genügt nicht. Die Behandlung der akuten Endometritis ist kurz abgetan. Auch hier wird sie sich in dem Rahmen der Allgemeinbehandlung einfügen, da ja schon diese strikteste Bettruhe erfordert. Eine lokale Behandlung ist unter allen Umständen zu unterlassen.

Symptomatisch wird man versuchen, die einzelnen Beschwerden zu lindern. | Bei der chronischen Endometritis handelt es sich bezüglich der Symptome in erster Linie um Menstruationsanomalien. Starke Blutungen, unregelmäßig und atypisch auftretend, stehen im Vordergrund. Daneben kann jede Menstruation von starken Schmerzen begleitet sein. Recht häufig sieht man als ein Charakteristicum der Endometritis den sog. Mittelschmerz auftreten. Hierbei handelt es sich um Beschwerden, die rechts oder links im Bauch zwischen zwei Menstruationen vor- handen sind. Glaubt Fehling, daß es sich hierbei um die Flutwelle der neuen Menstruation handelt, so ist die Ansicht Fraenkels, daß die Beschwerden auf die Ovulation zurückzuführen sind, nach den heutigen Anschauungen mehr gerecht- fertigt. Schwere im Unterleib, lästige Empfindungen in der Tiefe des Beckens, die zur Zeit der Periode besonders empfunden werden, Beschwerden von seiten der Blase und des Mastdarms, Erschwerungen der Conceptionsfähigkeit gehören zu den typischen Bildern der Erkrankung. Ein Symptom belästigt die Kranken ganz besonders, das ist der Ausfluß, eine Erscheinung, die in der Pathologie der weiblichen Sexual- organe, wie ich bereits erwähnte, eine recht große Rolle spielt. Die mehr oder minder starke Sekretion empfinden die Kranken als besonders lästig, und häufig ist es überhaupt nur dieses Symptom, das die Patientin in die Sprechstunde des Arztes führt. Hieran schließt sich eine Reihe von nervösen Beschwerden, die wir sonst als hysterische Stigmata kennen, Migräne, Clavus, Globus, Ovarie u. s. w. Die Diagnose der Endometritis ist leicht. Andere Erkrankungen, Lageveränderungen, Tumoren,

Die Entzündungen am weiblichen Genitale mit Ausnahme der Gonorrhöe. 361

Entzündungen der Adnexe werden durch die bimanuelle Tastung ausgeschlossen, und so wird die Diagnose hauptsächlich per exclusionem gestellt. Die Untersuchung mit der Sonde ist nur dem Geübten erlaubt, im großen und ganzen zu widerraten, da Verletzungen leicht vorkommen. Die Austastung mit dem Finger ist weit ungefährlicher, doch stellen sich der Erweiterung des Muttermundes erhebliche Schwierigkeiten entgegen. Mit Hilfe der Metalldilatatoren ist eine so erhebliche Durchgängigkeit des Muttermundes nur auf Kosten starker CervixzerreißBungen zu erreichen. Das Einlegen von Quellstiften, sog. Laminaria, hat ebenfalls gewisse Nachteile, da der Infektion Vorschub geleistet wird. Die blutige Erweiterung, d. h. die Discission des Muttermundes, ist ein operativer Eingriff, zu dem die Beherrschung der Asepsis unbedingt gehört. Eine Forderung muß strengstens beachtet werden. Vor jedem intrauterinen Eingriff ist die genaueste Untersuchung auf Anwesenheit von Gono- kokken notwendig. Auch nur bei Verdacht auf eine gonorrhoische Erkrankung ist jeder intrauterine Eingriff strengstens kontraindiziert. Unterläßt man diese Vorsicht, so rächt sich der Eingriff bitter. Die Ascension der Gonokokken ist unvermeidlich, und die Patientin hat den an und für sich harmlosen Eingriff mit schwerstem Krankenlager und eventuell dauernder Verstümmelung erkauft. Um sich über Menge und Art und besonders mikroskopische Beschaffenheit des Sekretes zu orientieren, wurde früher die Einlegung des Schulzeschen Probetampons empfohlen. Es handelt sich hierbei um einen mit Glycerin und Tannin zu gleichen Teilen getränkten Wattebausch, der 24 Stunden vor die Cervix gelegt wird. Bei normaler Beschaffen- heit soll der Tampon nach 24 Stunden trocken sein, bei Erkrankung des Uterus befindet sich das Sekret auf dem Tampon und kann für die mikroskopische Unter- suchung verwendet werden. Leider läßt der Tampon bei der Hyperplasie im Stich, d2 hierbei nur sehr wenig Sekretion stattfindet. Er zeigt vor allen Dingen die Erkrankungen der Cervix an. Die zuverlässigste Methode, um Aufschluß über die Beschaffenheit der Schleimhaut zu bekommen, ist die Herausnahme von Schleim- hautstücken, die Abrasio. Dieser Eingriff stellt schon unter gewissen Voraussetzungen eine therapeutische Maßnahme dar, da häufig das Curettement allein die Heilung der Endometritis herbeiführt. Damit gehe ich zur Behandlung über. Hier muß besonders betont werden, daß die Abrasio keineswegs ambulant gemacht werden darf. Es handelt sich um eine Operation, die nicht nur die notwendigen Vorbereitungen, sondern auch die gewissenhafteste Nachbehandlung erheischt. Zur Dilatation des Muttermundes sind Metalldilatatoren zu verwenden. Laminaria lehne ich ab. Das Curettement selbst mache ich mit der halbscharfen Curette. Ätzungen mit Jod- ` tinktur, zu der ich die Playfair-Sonde benütze, ein leicht gebogenes, mit Watte umwickeltes Metallstäbchen, schließe ich an die Abrasio an und wiederhole diese am 4. und 6. Tage. So lange ist die Patientin als behandlungsbedürftig anzusehen. Steht keine Klinik zur Verfügung, so wird der Eingriff im Hause gemacht. Im übrigen muß die Behandlung eine symptomatische sein. Ist die Sekretion aus dem UÜteruscavum sehr stark, so kann die Einlegung eines Rohres, das dem Sekret günstigen Abfluß verschafft, schon gut wirken. Kommt man damit nicht zum Ziel, so wird man sich zur intrauterinen Behandlung entschließen müssen. Noch einmal sei hier das, was ich schon oben sagte, ausdrücklich betont, daß vor jedem Eingriff die absolute Gonokokkenfreiheit garantiert sei. Hier genügt nicht das einmalige Nachsehen; mehrfache Untersuchungen, zu verschiedener Zeit ausgeführt, müssen ein negatives Resultat ergeben. Auch die Adnexe sollen völlig frei sein. Ist das nicht der Fall, so rächt sich der intrauterine Eingriff durch eine Exacerbation des Prozesses. Für die Behandlung des Cavums empfehle ich Lugolsche Lösung, 50% Carbol-

362 Fritz Heimann.

säure, 5—10% Alumnol u.s. w. Chlorzink ist wegen seiner tiefgreifenden Ätzung zu vermeiden. Schwere Ulcerationen, die die Drüsenfundi, von denen die Regeneration der Schleimhaut wieder ausgeht, zerstören, beobachtet man. Die Folge sind Ob- literationen des Cavums, die ihrerseits unangenehme Erscheinungen zeitigen. Die Applikation der Medikamente geschieht entweder mit der bereits erwähnten Playfair- Sonde oder dem Senger-Stäbchen, einem elastischen, mit Watte umwickelten Metall- stäbchen. Siegwart empfiehlt ein von ihm angegebenes Instrument, das das Medika- ment recht intensiv in das Cavum hereinbringt. Ich bin der Ansicht, daß die Stäb- chen genügen. Eine Methode hat besondere Vorteile, ist in ihrer Anwendung bequem und Wirkung ausgezeichnet, die Ätzung mit Formalin nach Menge. Menge hat für diese Zwecke mit Watte umwickelte Hartgummistäbchen empfohlen, die in 30—50 %ige Formalinlösung tauchen. Die Methodik ist so, daß unter strengster Asepsis eine Erweiterung des Muttermundes von 4—5 mm genügt, um mit dem Stäbchen hineinzukommen. Die Einwirkung geschieht einige Sekunden. Nach 3 und 6 Tagen, eventuell öfter, findet eine Wiederholung statt, Überschüssiges Formalin ist sorgsam aus der Scheide durch Tupfen zu entfernen. Der Eingriff selbst sei nie ambulant gemacht. Die Anwendung der Braunschen Spritze halte ich wegen ihrer unkontrollierbaren Dosierung für gefährlich. Zu leicht geschieht es dabei, daß das Medikament durch die Tube in die Bauchhöhle tritt. Schwere Komplikationen sind die Folge, wenn das Medikament nicht indifferent ist. Das gleiche gilt von den Ätzstiften, deren Wirkungsweise ebenfalls nicht zu beobachten ist. Uterus- spülungen sind von Vorteil, doch besteht auch hier wie bei der Braunschen Spritze die Gefahr, daß bei zu hohem Druck die Spülflüssigkeit durch die Tuben ins Peritoneum kommt. Gegen die Blutungen, die in Form der Meno- oder Metrorrhagien auftreten, anzukämpfen, ist erste Bedingung. Man versucht zunächst mit Secale- Präparaten auszukommen. Secacornin, Tenosin, Erystyptikum, Gynergen und viele andere verrichten häufig gute Dienste. Während der Blutung ist strengste Bettruhe einzuhalten. Eisblase auf den Leib ist nützlich. Recht zu empfehlen sind sog. Wechsel- spülungen. -Mit einem Irrigator werden hintereinander Spülungen mit Wasser von 38—40° und solche von 20—22°C gemacht. Zusatz eines leichten Adstringens (Kochsalz) ist anzuordnen. Zur Tamponade des Uterus oder der Vagina entschließe ich mich wegen der Infektionsgefahr nur sehr schwer. Länger als 24 Stunden darf der Tampon unter keinen Umständen liegen bleiben. Auch bei der Endometritis soll man die Einverleibung von Ovarialsubstanzen, besonders von Luetoglandol, versuchen. Sehr häufig sah ich darnach ein Aufhören der Blutung. Das beste Ver- fahren, wenn auch in letzter Zeit dagegen Stellung genommen wird, ist die bereits erwähnte, 1874 von Olshausen angegebene Abrasio. Das Curettement hat nur das Succulente der Schleimhaut zu entfernen. Die Drüsenfundi sind zu erhalten, da von ihnen die neue Regeneration ausgeht. Werths Untersuchungen haben unsere Kennt- nisse über die Schleimhaut naclı der Ausschabung wesentlich bereichert. Zuerst bildet sich das fibrilläre Bindegewebe wieder, und in dieses wachsen die Drüsen von ihren Fundi aus gegen die Oberfläche zu. Erst ganz zuletzt bildet sich das Oberflächenepithel. Die Schorfe, die sich unmittelbar nach der Auskratzung bilden, werden natürlich zuerst abgestoßen und entfernt. Leider gibt es eine Reihe von Fällen, die auf diese Maßnahmen nicht reagieren. Die Blutung geht weiter. Mehr- fache Curettements, Injektion von Serum, am besten Menschenserum, 10—20 cm? 1—2mal intraglutäal injiziert, die früher vielgeübte, jetzt aber wegen der Gefahr der Obliteration völlig verlassene Atmokausis von Snegireff und Pinkus, d.h. das Einbringen von heißem Dampf in das Uteruscavum, versagen, und so haben wir

Die Entzündungen am weiblichen Genitale mit Ausnahme der Gonorrhöe. 363

heute in den Röntgenstrahlen ein Mittel in die Hand bekommen, das als souverän bezeichnet werden kann. Auch junge Frauen können der Strahlentherapie zugeführt werden. An großem Material habe ich bei Nachuntersuchungen nach 5jährigem Zwischenraum gesehen, daß gerade bei jungen Frauen nach einigen Jahren die Menstruation wieder auftritt, niemals mehr so exzessiv wie früher, sondern in normaler Stärke. Es werden eben bei jungen Frauen nicht alle Follikel zerstört, ein kleiner Teil bleibt erhalten und kommt nach einigen Jahren wieder zur Reifung. Scheut man sich trotzdem, bei jungen Frauen die Ovarien zu bestrahlen, so hat die in der letzten Zeit vielfach angewendete Milzreizbestrahlung gute Erfolge zu ver- - zeichnen. Theoretisch ist die Wirkung wohl so zu erklären, daß der Untergang der Lymphocyten die Anregung zur Bildung des Gerinnungsfermentes gibt. Selbst- verständlich muß bei alten Frauen vor der Bestrahlung ein Corpuscarcinom aus- geschlossen werden. Ich bestrahle derartige Patientinnen nur, wenn ich mich vor der Bestrahlung durch eine Ausschabung und mikroskopische Untersuchung des Geschabsels von der absoluten Carcinomfreiheit überzeugt habe. Die Technik der Bestrahlung ist sehr einfach. Bei den gutartigen Erkrankungen kommt man mit der einfachsten Apparatur aus. Die modernen Tiefentherapieapparate sind nicht not- wendig. Auch die Anwendung der Hydrotherapie ist zu empfehlen, die in Form von Bädern, Umschlägen u.s.w. zu Hause angewendet werden kann. Ausgezeichnete Dienste verrichten Moorbäder in gut eingerichteten Badeorten.

Über die Metritis brauche ich nach den eingangs erwähnten Bemerkungen, daß die,Erkrankungen des Myo- und Endometriums aufs engste zusammenhängen, ja stets ineinander übergehen, nicht mehr viel zu sagen. Die Eingangspforten im Myometrium sind die gleichen wie bei der Erkrankung der Schleimhaut. Ist der Prozeß chronisch geworden, so fällt im mikroskopischen Bild die starke Blut- überfüllung, die Abnahme der Muskulatur und Zunahme des Bindegewebes auf.

Besonderes Interesse erwecken die Entzündungen der Cervix bzw. der Portio. Hier handelt es sich um rein entzündliche Vorgänge, da es eine Hyperplasie der Schleimhaut, wie wir sie im Corpus gesehen haben, nicht gibt. Diese Erkrankung kann sowohl kombiniert mit einer Affektion der Corpusschleimhaut auftreten als auch ohne sie völlig selbständig. An der Portio beobachtet man die Affektion klinisch in Gestalt eines roten Hofes, der sich rings um den äußeren Muttermund bildet. Die Portio selbst ist dick, geschwollen, succulent. Man hat dieser Erkrankung den Namen Erosion gegeben, fälschlicherweise, da es sich hierbei keineswegs um ein Geschwür, wie es leider auch noch heute von vielen bezeichnet wird, handelt, nicht um eine epithelentkleidete, sondern um eine statt mit Pflasterepithel mit Cylinderepithel bekleidete Stelle. Schon am kindlichen Uterus können wir, durch congenitale Ursachen bedingt, diese Anomalie sehen. Robert Meyer hat diese Vorgänge genauer studiert. Bis in die zweite Hälfte des Fötallebens hinein ist die untere Hälfte der Cervix mit Pflasterepithel bekleidet. Erst dort beginnt das Cylinder- epithel. Normalerweise sieht man, daß die Cylinderzellen das Plattenepithel der unteren Cervixpartie verdrängen, so daß beim Neugeborenen, wie ja auch im späteren Leben, die Grenze zwischen Cylinderzellen und Plattenepithel am äußeren Muttermund liegt. Macht das Cylinderepithel dort nicht halt, geht der Prozeß über den Mutter- mund hinaus, dann sehen wir beim Neugeborenen die Affektion, die man als Erosion bezeichnet. Amann hat den sehr guten Vorschlag gemacht, statt von einer Erosion, von einer Pseudoerosion zu sprechen. Im Leben der Erwachsenen sind es ätzende und beißende Sekrete, die aus höheren Partien dauernd über die Portio laufen und das Epithel zum Schwinden bringen. Wir sehen daraus, daß also zu einer bestimmten

364 Fritz Heimann.

Zeit eine wirkliche Erosion, eine tatsächlich epithelentkleidete Stelle, sich bildet. Nur sehen wir diesen Vorgang sehr selten. Erst im Stadium der Heilung, wie Fraenkl meint, wo dieser wirkliche Defekt mit Cylinderzellen von der Nachbarschaft aus bekleidet wird, bekommen wir die Erosion zu Gesicht. Spontane Ausheilung ist möglich. Es ist bedeutungsvoll, daß es sich bei diesem Heilungsvorgang nicht um eine Metaplasie des Epithels handelt, indem sich die Schleimzellen in Pflaster- epithel umwandeln, sondern letzteres unterwächst, hebt jenes ab. Häufig handelt es sich bei der Pseudoerosion um einen ganz anderen Vorgang. Die Erosion wird dargestellt durch hervorgequollene Cervixschleimhaut, da infolge starker Geburts- einrisse der Muttermund zum Klaffen gebracht wird. Die Diagnose ist leicht im Speculum zu stellen. Kleine Retentionscysten, deren Entstehen so zu erklären ist, daß das wuchernde Epithel eventuell auch die begleitende Entzündung, die Aus- führungsgänge der Cervixdrüsen verlegt, sog. Ovula Nabothi, erleichtern bei dieser Affektion die Diagnose. Unter den Symptomen ist es besonders die Sekretion des Schleimepithels, die die Patientin in die Sprechstunde des Arztes führt; zuweilen können Blutungen auftreten. Die Therapie hat die Aufgabe, die Ursache zu beseitigen, also die Sekrete in Wegfall zu bringen. Spülungen mit Borsäure, Alaun, Alsol u.s. w. sind zu empfehlen. Werden sie lange genug fortgesetzt, so ist tatsächlich eine Heilung zu beobachten. Schneller gelangt man zum Ziel, wenn man das Schleimepithel rein mechanisch entfernt. Betupfen mit verdünnter Salzsäure, Holzessig, Formalin, Argen- tum nitricum zerstört die Cylinderzellen, schafft eine richtige Erosion und gibt dem Plattenepithel Gelegenheit, über das Ulcus herüberzuwachsen. Vielleicht noch besser wirkt der Paquelin. Landau hat für die Behandlung der Erosion 1899 die Hefe- therapie empfohlen, von der Ansicht ausgehend, daß in derartigen Scheiden Milch- säure fehle und daher den pathogenen Keimen Gelegenheit gegeben wurde, ihre Wirkung auszuüben. Die Bedeutung dieser Therapie liegt in verschiedenen Momenten. Zum Teil werden durch das Einbringen von Hefe in die Scheide infolge des Gärungs- prozesses den Bakterien Stoffe entzogen, die sie zum Leben brauchen. Die Hefe selbst aber produziert Stoffe, die die Bakterien schädigen. Vielleicht handelt es sich dabei um die Entstehung besonders von Alkohol und Kohlensäure. Auch die autolytische Kraft der Hefe soll eine Rolle spielen. Schließlich wird auch, wie ich bereits erwähnte, Milchsäure gebildet, und alles dies wirkt mit, um die pathogenen Bakterien zum Absterben zu bringen. Bei der Behandlung empfiehlt Landau, derart vorzugehen, daß 2—-3mal wöchentlich die mit Bier verdünnte Hefe, ca. 20 cm?, in die Scheide eingebracht und 24 Stunden darin belassen wird. Auch die direkte Einbringung von Milchsäurebacillen das Verfahren von Schröder und Löser, das ja der Hefebehandlung biologisch. recht gibt in Form des Bacillosans wird zuweilen bei der Behandlung der Erosion gute Dienste verrichten. Evermann empfiehlt die Biersche Stauung der Portio, zunächst alle paar Tage, dann täglich. Das Vorgehen ist derart, daß nach 5 Minuten Stauung eine Pause von 5 Minuten einsetzt. Sechsmal soll die Stauung vorgenommen werden. Manche Autoren versprechen sich von der Blutentziehung mancherlei. Entweder durch die Scarification, d.h. die Stichelung der Portio mit dem spitzen Messer, etwas, was bei ausgedehnten Ovula Nabothi ohnehin notwendig ist, oder durch das Ansetzen von Blutegeln, eine Maßnahme, die heute ganz verlassen ist. Handelt es sich um tiefe Cervixrisse, die die Ursache der Erosion abgeben, so kommt man mit diesen Maßnahmen nicht aus. Hier muß das operative Verfahren einsetzen. Der Roser-Emmetschen Operation sei gedacht, die die An- frischung der Risse und ihre Vernähung zum Ziel hat. Sind mehrere Risse vor- handen, ist die Portio im ganzen dick und geschwollen, so würde die Emmetsche

Die Entzündungen am weiblichen Genitale mit Ausnahme der Gonorrhöe. 365

Operation eine neue Mißstaltung der Portio hervorrufen, und muß man sich zu ihrer Amputation entschließen. Man wird aber selbst bei dieser kleinen Operation die Indikation sehr streng stellen, namentlich wenn es sich um Frauen handelt, die noch im conceptionsfähigen Alter stehen. Man darf über dieser Therapie natürlich nicht die Behandlung des Grundleidens vergessen. Liegt die Ursache in einer sehr starken Sekretion der Corpusschleimhaut, so wird man mit der Behandlung der Erosion die Therapie des Uteruscavums kombinieren. Am schnellsten und sichersten wird in solchen Fällen die Auskratzung zum Ziel führen.

Im Kapitel der Entzündungen der weiblichen Sexualorgane spielt wohl die der Tuben und Ovarien die wichtigste Rolle, da die Folgen für die Trägerin überaus traurige und häufig irreparable sind. Die Erkrankungen der Eileiter und Eierstöcke treten meist gemeinsam auf; infolge der topographischen Lage dieser Organe geht die Affektion des einen auf das andere über. Trotzdem will ich besonders in patho- logisch-anatomischer Hinsicht eine Trennung machen. Zunächst seien die Tuben- erkrankungen besprochen. Auf diejenigen nichtentzündlichen Ursprungs, die jedoch im ersten Augenblick wie entzündlich aussehen, sei nur kurz hingewiesen. Hier handelt es sich um Circulationsstörungen, die bei Erkrankungen des Respirations- bzw. Circulationsapparates, bei Lebererkrankungen auftreten. Akute Infektionen, Ver- giftungen, von denen ich die mit Phosphor besonders hervorhebe, Lageveränderungen bei Stieldrehungen des Ovars, wo es zu Torsionen und Strangulationen der häufig bis zu 20 cm verlängerten Tube kommt, seien genannt. Ich betone, daß bei diesen Affektionen die Pars isthmica am stärksten betroffen wird. Die starke Hyperämie der Tube mit Blutaustritten, die trübe Schwellung der Epithelien mit Untergang der Flimmerung lassen an eine entzündliche Ursache denken. Das Fehlen der Mikro- organismen, die zum Bilde der Entzündung gehören, läßt jedoch diese Zustände zu den nichtentzündlichen rechnen. Von den Mikroben, die bei der Entzündung die Hauptrolle spielen, nenne ich in erster Linie die Gonokokken und Tuberkelbacillen. Die Tube gehört ja zu den keimfreien Organen der Sexualorgane. Ist der Wall durchbrochen, konnten die Bakterien besonders sind es die Gonokokken nach Ausstoßung des bactericiden Schleimpfropfes in den Uterus gelangen, so steht der weiteren Ascension kein Hindernis mehr entgegen. Sie finden in den festweichen Spalten der Uterusschleimhaut einen ausgezeichneten Nährboden und dringen von da mit Leichtigkeit höher hinauf. Daß die Gonokokken auch die Tiefe des Gewebes besiedeln, hat Wertheim bewiesen. Beim Gonokokkus ist es also die Ascendenz, die bei der Infektion der Tube in Betracht kommt. Beim Tuberkelbacillus handelt es sich um mehrere Wege. Hat man früher der Ascendenz (Eindringen von tuber- kulösem Sperma) große Bedeutung beigemessen, so ist durch Untersuchungen, besonders Baumgartens, gezeigt worden, daß dem descendenten Weg, sei es durch Kontaktinfektion vom Darm oder von der Peritonealhöhle aus, sei es auf dem Blut- oder Lymphwege von weitab gelegenen Organen, die größere Rolle zuzuschreiben ist. Noch andere Erreger sind zu nennen. Bei Puerperalerkrankungen sind es die Streptokokken und Staphylokokken, die die Entzündung der Tube hervorrufen. Das Bacterium coli, überhaupt die Mikroflora des Darmes sei genannt, da bei Ver- wachsungen von Darm und Tube, sei es bei Durchgängigkeit der Wand, sei es bei Perforation und Fistelbildung, jene Bakterien in die Tube einwandern. Schließlich sei der obligaten Anaerobier gedacht. Während der Entzündung sind die Keime leicht nachzuweisen. Später gehen sie an ihren eigenen Stoffwechselprodukten zu grunde, der Eiter an sich wird steril. Wenn auch eine mechanische, chemische, thermische Ursache nicht geleugnet werden kann, so spielen doch auch hier in letzter

366 Fritz Heimann.

Linie die Bakterien eine ausschlaggebende Rolle, es kommt zunächst zu einer Schädigung des Gewebes, meist wird die Einwanderung der Bakterien bei der Nähe des Darmes dann erfolgen. Daß Schädlichkeiten ebengenannter Art gerade bei den Tubenerkrankungen von Bedeutung sind, ist ohneweiters klar, wenn wir uns überlegen, wie häufig differente Mittel zu Behandlungszwecken in das Uterus- cavum gebracht werden. Ist der Druck, unter dem diese Applikation geschieht, zu groß, so wird das Medikament in die Tuben gespritzt.

Bevor ich auf die pathologische Anatomie der Tubenerkrankungen eingehe, muß ich zwei Eigentümlichkeiten im Bau der normalen Tuben besprechen (Lahm). Dort, wo das Peritoneum auf die Fimbrie übergeht, bildet es, wie Opitz nachwies, einen festen, unnachgiebigen Ring. Die Schleimhautfalten durchziehen die Tube vom Uterus bis zum abdominalen Ende, stets höher werdend. Hier sitzt das Flimmer- epithel auf. Beim Transport des Eies spielen außer der Flimmerbewegung auch Contractionen der Tubenmuskulatur eine Rolle Kommt es zu Entzündungen der Tube, so wird zuerst die Schleimhaut betroffen. Jetzt tritt die Bedeutung des Opitz- schen Peritonealringes besonders in Erscheinung. Ist es schon im Anfang der Schädigung durch die Blutstauung zu einer Einrollung der Fimbrie gekommen, so legen sich jetzt, infolge der Starrheit dieses Ringes, die den Blutabfluß enorm erschwert, die Falten völlig aneinander und verkleben. Das ist das Bedeutungsvolle jedes endosalpingitischen Prozesses, der sofortige Verschluß der Fimbrien und damit die Lokalisierung der Affektion.

Bei der Entzündung der Tube kann sowohl die Schleimhaut wie die Muskulatur betroffen sein. Man unterscheidet also eine Endosalpingitis und eine interstitielle Salpingitis. Diese Unterscheidung ist eigentlich im strengen Sinne kaum möglich, da beide Prozesse stets ineinander übergehen, besonders wenn wir uns überlegen, daß auch der Tube eine Submucosa fehlt, die Schleimhaut also direkt der Musku- latur aufsitzt. Makroskopisch ist eine derartige Tube stark gerötet und geschwollen. Verläuft sie sonst ziemlich gerade, so findet jetzt eine mehr oder minder starke Schlängelung statt. Die Sekretion ist erheblich. Mikroskopisch sind die Schleimhaut- falten stark geschwollen und verdickt, es kommt zur Verklebung der einzelnen Falten, und nichts läßt mehr den zartgeästelten Bau der normalen Tube erkennen. Aus- gedehntes Ödem mit starker Hyperämie, die Epithelien verlieren die Flimmerung und befinden sich im Zustand der trüben Schwellung und Verfettung, das Sekret dieser Zellen ist zuerst weißlich glasig, wird aber später rein eitrig, starke Rund- zelleninfiltration. Durch die Verklebung der oberflächlichen Schichten kommt es zur Bildung von Hohlräumen, die mit Epithel ausgekleidet sind. Gerade dieser Befund erfordert eine strenge Unterscheidung zwischen entzündlicher oder angeborener Ätiologie. Schönholz (Zt. f. Geb., 87, 1) hat sich eingehend mit diesem Thema beschäftigt und kommt auf Grund experimenteller Untersuchungen zu dem Ergebnis, daß es Anomalien an der Tube Erwachsener gibt, deren anatomischer Bau durch einen entzündlichen Vorgang nicht zu erklären ist. Derartige Epitheleinstülpungen in der Tubenmuskulatur lassen sich in vielen Fällen nur durch eine Entwicklungs- störung erklären. Daß es sich um Mißbildungen handelt, hat Schönholz durch Befunde an Neugeborenen bewiesen. Es müssen also die Charakteristica der Ent- zündung absolut nachzuweisen sein. Bei entzündlichen Vorgängen ist das Über- greifen auf die Muskulatur nur ein kleiner Schritt. Sind die Cysten der Schleimhaut schon mit Eiter gefüllt, so kommt es meist auch zur Absceßbildung in der Musku- latur. Aus dem endosalpingitischen Prozeß ist eine Salpingitis interstitialis geworden. Der Inhalt der Tube ist dann ebenfalls Eiter Pyosalpinx, Sactosalpinx purulenta.

Die Entzündungen am weiblichen Genitale mit Ausnahme der Gonorrhöe. 367

Das Fimbrienende hat sich gemäß den obigen Ausführungen geschlossen, so daß wenigstens zunächst das Bauchfell nicht direkt mit dem eitrigen Inhalt der Tube in Berührung kommt. Die Wand der Tube ist, wie erwähnt, an dem Entzündungs- prozeß stark beteiligt, und so kommt es sekundär zu Verlötungen mit den Nachbar- organen. Die Form der Tube ist charakteristisch; posthornartig umgibt der dick- geschwollene Eileiter das gewöhnlich mitbeteiligte Ovar (Fig. 87). Besteht der Zustand längere Zeit, findet man den Eiter meist keimfrei, die Mikroben sind, wie ich erwähnte, an ihren eigenen Stoffwechselprodukten zu grunde gegangen. Trotzdem läßt sich auf Grund der histologischen Bilder die Entscheidung treffen, welche Mikroben die Ursachen der Erkrankung sind. Schridde fand bei den durch Gonokokken hervor- gerufenen Affektionen ganz typische Befunde, wobei er der Anwesenheit der Plasma- zellen direkt pathognonomische Bedeutung zuschreibt. Der Eiter selbst zeichnet sich

Fig. 87.

J e ern graser

UE

Doppelseitige Pyosalpinx mit ausgedehnten perisalpingitischen und perioophoritischen Verwachsungen (nach Schröder).

durch die Anwesenheit großer Mengen von Lymphocyten und Lymphoblasten aus. Handelt es sich um septische Prozesse, so findet man im Eiter fast nur Leukocyten.

Der Inhalt einer entzündeten Tube kann aber auch eine helle seröse Flüssig- keit darstellen: Hydrosalpinx. Das Aussehen einer solchen Tube ist ein ganz mar- kantes. Das Fimbrienende ist verschlossen, die Tube ist enorm dilatiert, bis zur Größe einer Faust kann diese Dilation gehen. Die Wand ist enorm verdünnt, doch ist meist das Epithel, zuweilen sogar noch Flimmerung nachzuweisen. De Ent. stehung dieser Hydrosalpinx hat manches Kopfzerbrechen verursacht. Die einen Autoren glauben, daß sie die Folge der katarrhalischen Salpingitis ist. Ist es wirklich gestautes Tubensekret, dann muß man als bewiesen voraussetzen, daß die Tuben- zellen normalerweise Sekrete absondern. Der zweiten Anschauung, daß die Hydro- salpinx eine Folgeerscheinung der Pyosalpinx darstelle, ist besonders Menge ent- gegengetreten. Das Aussehen der Wand der Hydrosalpinx spricht allein schon gegen diese Auffassung, aber auch die absolute Unmöglichkeit, daß sich Eiter in seröse Flüssigkeit umwandeln kann. Ein Krankheitsbild in der Pathologie der Adnex-

368 Fritz Heimann.

erkrankung ich muß hier die Erkrankungen des Eierstocks mit einschließen inter- essiert besonders, da sich hierbei Tube und Ovarium zu gleichen Teilen beteiligen: die Tuboovarialcyste. Verschiedene Enstehungstheorien werden geltend gemacht. Die Ovulationstheorie besagt, daß der geplatzte Follikel mit der Tube verwächst. Die sog. Katarrhtheorie Veits ist der Ansicht, daß es sich um einen Katarrh der Tube und des Graffschen Follikels handelt, wobei es zu einer Verlötung beider Organe kommt. Schließlich glaubte man an eine Verklebung einer Hydrosalpinx mit einem Follikel, wobei in der Folgezeit die Wand an der Verklebungsstelle usurierte. v. Rosthorn hat sich besonders mit dieser Anomalie beschäftigt, er glaubt an eine entzündliche Ätiologie und unterscheidet 2 Hauptgruppen: entweder entsteht eine Kommunikation zwischen einem Hohlraum im Ovarium und dem Tubenlumen oder Eierstock und Eileiter nehmen in gleicher Weise an dem Aufbau der Cyste teil. Schließlich kann der Inhalt der Tube auch Blut sein: Hämatosalpinx. Zu Blutungen in der Tube kann es entweder infolge Torsion oder Abknickung kommen, oder es besteht eine Atresie der Scheide, so daß das Menstruationsblut nicht abfließen kann. Nach einem Hämatokolpos, einer Hämatometra kommt es schließlich zur Ausbil- dung der Hämatosalpinx. Ich bin bei den Erkrankungen der Scheide darauf näher eingegangen. Mikroskopisch treffen wir je nach der Entstehung der Erkrankung verschiedene Bilder an. Bei entzündlicher Genese weist die Muskulatur zahlreiche Blutungen auf, das Epithel ist zerstört, die Gefäße thrombosiert. Kleinzellige Infil- tration beweist die entzündliche Herkunft. Ob bei der Hämatosalpinx auf Grund der Atresie nicht auch eine entzündliche Ursache vorhanden sei, die zum Ver- schluß des Fimbrienendes geführt hat, eine Ansicht, die besonders Veit aus- gesprochen hat, ist nicht sicher zu entscheiden. Daß das Blut von einer Tuben- menstruation herrührt, ist eine Meinung, die noch nicht bewiesen ist. Kurz soll ein Krankheitsbild gestreift werden, die Salpingitis isthmica nodosa, die knotenförmige Anschwellung des Isthmus. Wie der Name sagt, hat man auch hier die entzünd- liche Ätiologie betont und die Knoten als. eine entzündliche Muskelhyperplasie angesprochen. Die Knoten selbst sind scharf abgesetzt. Einzelne oder mehrere Aus- stülpungen des Tubenlumens sind beschrieben. v. Recklinghausen führt dieses Gebilde auf Abkömmlinge des Wolffschen Ganges zurück. Diese Theorie ist widerlegt, da man in allen Fällen Zeichen einer bestehenden oder abgelaufenen Entzündung fand. Die Hohlräume in der Muskelschicht kommunizieren mit dem Tubenlumen, es handelt sich also wahrscheinlich um durchgebrochene Abscesse; unter dem Einfluß der Gonorrhöe entsteht dieses Krankheitsbild. Gegen diese Auf- fassung hat sich besondets Lahm gewendet. Er steht auf dem Standpunkt, daß die Salpingitis isthmica mit einer Salpingitis zunächst gar nichts zu tun hat. „Sie stellt eine Entwicklungsanomalie am isthmischen Ende der Tube dar, bei der es zur Ein- senkung der Tubenschleimhaut in die hypertrophische Muskulatur nach Art eines Adenoms kommt.“ An und für sich ist dieser Zustand nach Lahm bedeutungslos. Erst wenn es zur Infektion kommt, dann treten in diesem Gewirr von Hohlräumen jene Zustände auf, die die knotigen Verdickungen hervorrufen. Von jener Isthmica nodosa ist die pseudofollicularis (Martin) streng zu trennen, bei der die Hohlräume ihren Sitz nicht in der Muskulatur, sondern in der Schleimhaut haben. Hier handelt es sich um die Folgen einer Pyosalpinx (Lahm), die Hohlräume sind entstanden durch die Verklebung der entzündeten Falten und kommunizieren mit dem Tuben- lumen nicht. Meist tritt die Pseudofollicularis am abdominalen Ende auf.

Auf die Tuberkulose der Tuben, die ich schon oben kurz streifte, sei wegen der Wichtigkeit des Krankheitsbildes noch etwas näher eingegangen. Die Tuben werden

Die Entzündungen am weiblichen Genitale mit Ausnahme der Gonorrhöe. 369

am häufigsten befallen. Bei allgemeiner Genitaltuberkulose kann man mit Recht behaupten, daß die erste Infektion sich im Eileiter abgespielt habe. Hansemann fand unter 7000 Sektionen 18 Genitaltuberkulosen, Fredrichs unter 96 Sektionen tuberkulöser Frauen 12mal eine Tubentuberkulose, v. Rosthorn bzw. Bondi konnten unter 103 Pyosalpingen in 10% der Fälle Tuberkulose nachweisen. Die primäre Tuberkulose ist außerordentlich selten. Wie ich schon sagte, kommt hier der ascen- dierende Weg von der Vagina aus in Betracht (Coitus, Instrumente).

In zweiter Linie kann es sich bei der primären Tuberkulose darum handeln, daß die Infektion an einer anderen Stelle geschieht, dort jedoch keine Erscheinungen macht und zur Tube gelangt.

Die Anschauung des Zustandekommens einer primären Infektion hat durch die experimentellen Untersuchungen der letzten Jahre eine Revision erfahren. Schon Baumgarten hat den sog. ascendierenden Weg geleugnet. Dieser Ansicht trat Bauereisen entgegen, welcher gerade aus seinen Versuchen am Meerschweinchen bewiesen haben will, daß die Ascension doch möglich ist. Lahm steht auf dem Standpunkt, daß es eine intracanaliculäre Ascension nicht gibt, bzw. daß sie eine ganz untergeordnete Rolle spielt. Von der Scheide aus gelangt fast nur auf dem Lymph- wege die Infektion zum Uterus bzw. zu den Tuben. Auch die zweite Auffassung vom Zustandekommen der primären Infektion muß nach den Untersuchungen Römers und Ghon (zitiert nach Lahm) abgelehnt werden. Der Primärherd wird bei sorgfältiger Autopsie doch stets zu finden sein. Schließlich ist noch ein Punkt von ungeheurer Bedeutung für die tierexperimentellen Untersuchungen, auf den Lahm und Müller zuerst aufmerksam gemacht haben, die Tuberkuloseimmunität: „Bei bestehender Tuberkulose ist die Infektion an einer zweiten Stelle ungemein erschwert. Beim Menschen spielt die Drüsentuberkulose der Kinderjahre, beim Meerschweinchen, das experimentell infiziert wird, die auf irgend eine Weise akqui- rierte leichte Organtuberkulose diese Rolle.“ Die primäre Tuberkulose muß also bis auf ganz seltene Ausnahmen abgelehnt werden. Am häufigsten erfolgt die Infektion auf dem Blut-, seltener auf dem Lymphwege und durch Kontakt- infektion. Letztere geschieht vom Peritoneum, vom Darm, eventuell vom uropoeti- schen System her. Beim Blutweg handelt es sich meist um Herde in der Lunge oder in den Bronchen, beim Lymphweg wird es Uterus oder Scheide sein.

Pathologisch-anatomisch ist hervorzuheben, daß meist beide Tuben ergriffen sind, sie haben sich zu starren, häufig Fingerdicke erreichenden Wülsten umge- wandelt, der Inhalt ist käsig, die Wand mehr oder weniger verdickt, das Fimbrien- ende offen oder geschlossen. Umfängliche Verwachsungen mit der Umgebung treten frühzeitig auf. Zwei Formen, die akute und die chronische, unterscheidet man. Bei der ersteren tritt ein rascher Zerfall der Schleimhaut ein, der bald auch die Muskulatur ergreift, das Fimbrienende bleibt lange offen, die Wand zeigt starke Rundzelleninfiltration, Tuberkelbacillen sind nachweisbar. Bei der chronischen Form schließt sich das abdominale Ende relativ zeitig, so daß das Bild der Pyosalpinx entsteht. Zahlreiche Tuberkeln sind zu sehen, Schleimhaut und Muskulatur werden meist spät befallen. Bacillen sind selten nachzuweisen.

Die Symptome der Tubenerkrankung sind ganz verschieden. Hierbei fällt häufig der Gegensatz zwischen subjektiven Beschwerden und objektivem Befund auf. Die Patientinnen klagen über außerordentlich heftige Empfindungen, wobei der objektive Befund nur gering ist, während anderseits große Pyosalpingen zuweilen sehr wenig Belästigung hervorrufen. Meiner Ansicht spielt. die Beteiligung des Peritoneums eine große Rolle. Verwachsungen mit demselben rufen unangenehme

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 24

370 Fritz Heimann.

Erscheinungen hervor. Die akute Erkrankung geht mit schwerem Krankheitsgefühl einher. Meist im Anschluß an eine Geburt oder einen Abort, wenn eben die Ascension der Mikroben möglich ist, treten starke Temperaturerhöhungen auf; der Leib, besonders die Unterbauchgegend, sind ungemein empfindlich und schmerz- haft. Die bimanuelle Untersuchung ist nur in zartester Weise möglich. Schon die Berührung der Portio ruft furchtbare Schmerzen hervor. Dieser ungeheure Druck- schmerz ist für die Salpingitis direkt pathognomonisch. Einzelheiten sind fast nie- mals zu tasten. Fühlt man Resistenzen, so haben dieselben zunächst eine teigige, nur schwer von der Umgebung zu unterscheidende Konsistenz. Ausfluß braucht zu dieser Zeit nicht allzu heftig zu sein, höchstens bei gonorrhoischer Infektion wird die Sekretion stärkere Grade annehmen. Bei der chronischen Salpingitis stehen die Störungen der Menstruation im Vordergrunde. Meno- und Metrorrhagien, häufig sehr schwer zu bekämpfen, dysmenorrhoische Beschwerden sind die typischen Begleiter. Daneben heftige Schmerzen im Kreuz und Leib, die besonders bei etwas stärkerer Beschäftigung unerträgliche Grade annehmen. Spannung und Druckgefühl in der Tiefe des Beckens. Sterilität führt die Patientin häufig in die Sprechstunde des Arztes. Gerade bei der Salpingitis sehen wir als ein Symptom die sog. Ein- kindsterilität, die Frau hat eine normale Gravidität und Geburt durchgemacht, im Wochenbett ist es zur Ascension gekommen, die die eben geschilderten Erschei- nungen gemacht hat und damit jede weitere Conception ausschließt. Erscheinungen von seiten der Nachbarorgane, besonders Blase und Mastdarm, treten auf. Durch- bruch der Pyosalpinx in diese oder nach außen in die Vagina sind kein seltenes Ereignis. Der Hydrops tubae profluens, d. i. die plötzliche Entleerung des Tuben- inhalts durch das uterine Ende in den Uterus und von da nach außen, ist für die Besserung des Leidens zu begrüßen. Die drohende Peritonitis, besonders wenn es zum Durchbruch eines Eiterherdes in die Bauchhöhle gekommen ist, macht die Prognose ernst. l

Die Diagnose ist wichtig, häufig recht schwierig bezüglich der einzelnen Krankheitsformen. Die Untersuchung vom Rectum aus wird gute Dienste tun. Unter Umständen muß die Narkose zu Hilfe genommen werden, obwohl sie den großen Nachteil hat, daß der Schmerz, der bei der Tubenentzündung dia- enostisch von Bedeutung ist, fortfällt. Die Doppelseitigkeit des Prozesses spricht stets für Entzündung der Tube. Selbst wenn man nur einen einseitigen Prozeß tastet, sehen wir bei der Laparotomie fast stets, daß die andere Seite mitbefallen ist. Recht schwer kann bei solchen Vorkommnissen, wenn nur die rechte Seite tastbar ist, die Differentialdiagnose gegen die Appendicitis sein. Man wird sich hierbei besondere Mühe geben müssen, das Befallensein oder Freisein der anderen Seite zu konstatieren, denn leider läßt die Lage der entzündlichen Tumoren für die Diagnose häufig im Stich. Ein appendicitischer Prozeß kann weit nach unten in das kleine Becken gehen, anderseits ist es möglich, daß der entzündliche Tuben- tumor bis zum Mac Burneyschen Punkt reicht. Die Doppelseitigkeit hilft die Diagnose klären. Ein eigentlich charakterischer Befund fehlt bei der Salpingitis, wenn man vielleicht von der rosenkranzartigen Auftreibung bei Tuberkulose absieht. Sind Tube und Ovar gesondert als sehr schmerzhaft zu tasten, hat man es mit einer einfachen Entzündung zu tun. Das Prallelastische spricht für Hydrosalpinx oder Tuboovarial- cyste. Ein in seinen Einzelheiten undeutlicher Tumor läßt auf Pyosalpinx schließen. Die Vermehrung der Zahl der Leukocyten im Blut kann bei eitrigen Prozessen gewisse Hinweise geben. Auch die Methode der Blutkörperchen-Senkungsgeschwin- digkeit nach Fahraeus und Linzenmeyer soll unter allen Umständen zur Klärung

Die Entzündungen am weiblichen Genitale mit Ausnahme der Gonorrhöe. 371

der Diagnose angewendet werden. Eine Senkungsbeschleunigung läßt auf entzündliche Affektionen schließen. Auch die Röntgenphotographie mit Hilfe des Pneumoperi- toneums ist von Dietel und Polano besonders für gynäkologische Zwecke zur Erkennung von Veränderungen im kleinen Becken ausgearbeitet worden. Durch Einblasen von Luft in die Bauchhöhle mittels einer feinen Kanüle werden die betreffenden Organe mit Luft umgeben und zeichnen sich auf der photographischen Platte bis in die feinsten Einzelheiten ab. Wenn auch die bimanuelle Tastung in den meisten Fällen genügt, wird die Röntgenphotographie zuweilen gute Dienste zur Klärung der Diagnose leisten. Natürlich wird die Diagnose die ätiologischen Faktoren, ob es sich um eine Gonokokken- oder tuberkulöse, um eine septische Infektion im Wochenbett handelt, eingehend berücksichtigen. Die Differentialdiagnose gegen eine Eileiterschwangerschaft kann schwierig sein, besonders da bei dieser Erkrankung gar nicht selten auf der anderen Seite eine Hämatosalpinx sich bildet, der Prozeß also doppelseitig auftritt. Eine vorsichtige Probepunktion wird klärend wirken, wenn Eiter oder altes Blut in der Punktionsspritze sich befindet. Ich rate dringendst, die Punktion nur vorzunehmen, wenn zu einer sich sofort anschließenden Operation alles vorbereitet ist. Keineswegs darf die Punktion in der Sprechstunde gemacht werden. Von.einer Uterussondierung rate ich bei Tubenentzündung dringend ab, wie ich überhaupt jeden intrauterinen Eingriff dabei perhorresziere. Ein sehr unangenehmes Aufflackern des Prozesses, abgesehen von Verletzungen, die das Peritoneum mitaffizieren können, werden die Folgen dieses Eingriffes sein. Aus diesem Grunde soll man beim Verdacht eines entzündlichen Prozesses auch mit einer Methode vorsichtig sein, die zur Feststellung eines Tubenverschlusses jetzt viel angewendet wird, ich meine die Tubendurchblasung nach Rubin, die von Graff, Sellheim, Guttmann u. a. weiter ausgebaut und modifiziert worden ist. Es handelt sich dabei um die Einblasung von atmosphärischer Luft durch den Uterus bzw. die Tube ins Peritoneum. Mit Hilfe eines kleinen, zu diesem Zwecke kon- struierten Rohres, das in das Uteruscavum eingeführt wird, wird Luft unter einem bestimmten Druck, der am Manometer abgelesen wird und nicht über 150 mm Quecksilber nach meinen Erfahrungen betragen soll, eingeblasen. Sind die Tuben offen, so hört man bei dem Durchstreichen von Luft durch die Fimbrien ein eigen- tümlich blasendes Geräusch, wenn man das Stethoskop auf den Bauch aufsetzt. Wie in letzter Zeit Volkmann in Halle experimentell zeigte, ist die Durchblasung doch nicht so harmlos, wie man sie zuerst darstellte. Besonders darf auch nur bei Verdacht auf entzündliche Vorgänge niemals die Durchblasung gemacht werden.

Bei der Therapie spielt die Prophylaxe eine wesentliche Rolle. Man wird eine frische gonorrhoische Infektion sofort behandeln und alles tun, um die Ascension zu vermeiden. Für die akute Entzündung ist strengste Bettruhe unbedingt notwendig. Eine Eisblase auf den Leib wird die Schmerzen bald lindern. Ist dies nicht der Fall, so kann wegen der Obstipation nur für kurze Zeit gegeben Opiumtinktur, 3mal täglich 10 Tropfen, Linderung verschaffen. Bei großen Schmerzen hat sich mir das Kodein (0:03 3mal täglich 1 Pulver) recht gut bewährt. Eine lokale Behandlung darf erst beginnen, wenn die Patientin mindestens 7 Tage unter 37° sich befindet. Ganz anders ist die Behandlung der chronischen Adnexitis.

Hierbei treten alle resorbierenden Maßnahmen in Aktion. Warme Sitzbäder, 35—40° C mit Staßfurter Salz, heiße Scheidenspülungen, 40-45° C, Tampon- behandlung mit 10% eem Ichthyolglycerin, Leibprießnitz u. s. w. werden zu Hause bei sorgfältiger Anwendung sehr gute Dienste verrichten. Ich erwähne ferner die Heißluftbehandlung, Schwitzbäder. Die Diathermie hat besonders bei lange bestehen-

24°

372 Fritz Heimann.

den chronischen Erkrankungen, wenn die Gefahr der akuten Exacerbation nicht mehr besteht, recht gute Erfolge. Jede aktive lokale Behandlung ist zu unterlassen. Die Schulzesche Trennung der Adhäsionen, Massage nach Thure-Brand, Entleerung der Tuben nach dem Uterus zu, Abrasionen sind strengstens kontraindiziert und können schwersten Schaden hervorrufen. Die Röntgenbehandlung gewinnt in letzter Zeit bei der Therapie der Adnexitis wieder an Bedeutung. Hatten wir in der ersten Zeit diese Behandlungsmethode abgelehnt, so ist jetzt durch die Erlanger Schule (Flaskampf) erneut darauf aufmerksam gemacht worden. Flaskampf berichtet über gute Erfolge. Man bleibt natürlich mit seiner Dosis unter derjenigen, die zur völligen Kastration notwendig ist. Die Amenorrhöe ist also nur eine vor- übergehende. Durch Ausschalten der Ovarialfunktion für eine gewisse Zeit glaubte Flaskampf die Ausheilung der entzündlichen Veränderungen zu fördern. Daß die Zerstörung des Follikelapparates durch diese Dosen keine völlige ist, hat Flaskampf angeblich durch spätere Conceptionen und normale Schwangerschaften und Geburten bei derariigen Fällen gezeigt. Obwohl die Schilderungen dieser Therapie mit ihren Erfolgen besonders verheißungsvoll klingen, bin ich nicht so optimistischer Ansicht. Natürlich ist die genaue Kenntnis der Apparatur ein unbedingtes Erfordernis. Das gehört überhaupt zur Ausübung der Strahlenbehandlung, aber wir wissen leider, daß eine so exakte Dosierung, wie sie Flaskampf für die temporäre Kastration vorschreibt, kaum möglich ist. In sehr vielen Fällen wird die Amenorrhöe nicht eine temporäre, sondern eine dauernde sein, und wir haben die Blutungsfreiheit der Patientin mit anderen, recht unangenehmen Erscheinungen erkauft. Die Indikation für die Strahlenbehandlung bei entzündlichen Adnexen muß also sehr streng gestellt werden. Wie Küstner ganz richtig hervorhebt, muß das Schmerzgefühl der Kranken maßgebend für unsere Behandlung sein. Hier sind mehrwöchige Badekuren, die auch eine Trennung der Ehegatten bewirken sollen, von außerordentlicher Bedeutung. Moor- - bäder, verbunden mit vorsichtigen Abführkuren, die nach dem Darm zu ableiten, sind von allerbestem Erfolge. Betont muß dabei werden, daß nur die alljährliche Wieder- holung der Kuren, solange noch Beschwerden vorhanden sind, eine endgültige Heilung schafft. Besonderes Interesse hat in letzter Zeit die Behandlung der Tuben- und Eierstocks- entzündung durch die Reizkörpertherapie gewonnen. Ich will auf das Theoretische nur kurz eingehen. Weichardt konnte als erster zeigen, daß bei parenteraler Ein- bringung von bestimmten Eiweißarten Erscheinungen einer Leistungssteigerung sich einstellten. Es handelt sich, wie von ihm tatsächlich gesehen werden konnte, um eine wirkliche Steigerung, die sich auf den ganzen Organismus erstreckte, niemals um das Hervortreten einer einzelnen Organgruppe. Weichardt spricht infolgedessen von einer specifischen Leistungssteigerung, einer Protoplasmaaktivierung. Es werden dann von ihm die Vorgänge besprochen, die zu einer solchen Leistungssteigerung führen können, u. zw. gibt es zwei Möglichkeiten, die von ihm als aktive und passive Leistungssteigerung bezeichnet werden. Bei letzterer tritt die Wirkung erst ein, wenn gewisse Ermüdungssymptome sich zeigen, während erstere auch beim unermüdeten Organ deutlich zu sehen ist. Die Unspecifität dieser Wirkung ist besonders daran kenntlich, daß ganz verschiedene Eiweißarten dieselben Effekte hervorrufen, daß sogar bei Einspritzungen von Kolchsalz es gelungen ist, eine gleiche Wirkung wie bei Eiweißeinverleibung zu beobachten. Leider sind wir über die Reaktion der lebenden Zellen noch nicht genügend aufgeklärt. Aus der klinischen Wirkungsweise geht hervor, daß es sich um eine unspecifische Erscheinungsform handelt, sehen wir doch, wie Starkenstein, Weichardt und Schader, Lindig, Schittenhelm, Müller, besonders Rudolf Schmidt zeigen konnten, Entfieberung

Die Entzündungen am weiblichen Genitale mit Ausnahme der Gonorrhöe. 373

bei Infektionskrankheiten, lokale Herdreaktion, Leukocytose, Ansteigen des Blutzucker- spiegels, des Immunkörpertiters und Fibrinogenvermehrung. Starkenstein vergleicht die Therapie mit der Chemotherapie, er glaubt an gewisse innere Beziehungen zwischen den Stoffen der Proteinkörpertherapie und den entzündungshemmenden Stoffen. Der Begriff der ersteren soll ganz fallen gelassen und durch einen ergänzt werden, der sich nicht auf die angewendeten Mittel bezieht, sondern dem Angriffspunkt der Mittel, dem Protoplasma, sowie der omnicellulären Wirkung Rechnung trägt. Lindig fordert, Milch- und Proteinkörpertherapie nicht auf eine Stufe zu stellen, da man nicht weiß, welche Teile der Milch die Wirkung hervorrufen. Er glaubt, daß das hauptsächlich wirksame Prinzip der Milch im Casein zu suchen sei; mit dem von ihm hergestellten Caseosan, einer 5%igen Caseinlösung, sind vielfach Versuche angestellt worden. Zunächst wurde nur intramuskulär gespritzt; die erste Injektion wurde auch bei hoher Temperatur vorgenommen, die Anzahl der Einspritzungen betrug im Mittel 5—6 alle 2—3 Tage. In manchen Fällen erhöhte sich diese Zahl auch auf das Doppelte. Anaphylaktische Erscheinungen wurden bei dieser Technik niemals gesehen. Leider ließen jedoch die Erfolge meist im Stich. Wenn auch vielleicht im Moment eine gewisse subjektive Besserung einsetzte, so war von Dauererfolgen nichts zu merken. Ich bin daher in der letzten Zeit zur intravenösen Injektion übergegangen und benutze mit Vorliebe das Novoprotin (Grenzach). Die Reaktionen sind, obwohl ich mit !/, cm? beginne, stark, nach 3—4 Stunden setzt ein erheblicher Schüttelfrost ein, allgemeines Unbehagen, Gliederschmerzen u. s. w. Im Verlaufe des Tages klingen die Beschwerden völlig ab. Nach 3—4 Tagen Wieder- holung der Injektion mit steigenden Dosen (1/,—?/, —1 cm?). Erst wenn die Reaktion nicht mehr auftritt, was bei Erfolg versprechender Therapie nach 4—5 Injektionen geschieht, höre ich mit den Injektionen auf. Wird die erste Injektion reaktionslos vertragen, sind meist die Einspritzungen nutzlos. Ich wende diese Behandlung seit vielen Monaten an und glaube, sie durchaus empfehlen zu können. Selbstverständlich wird daneben die oben erwähnte lokale Behandlung durchgeführt. Leider sehen wir ja trotz aller häufig durchgeführten Behandlungen, daß das Leiden immer wieder rezidivier, und so ist man gezwungen, sich in einem Teil der Fälle doch zur Operation zu entschließen, die mitunter recht radikal wird ausfallen müssen. Natürlich ist die Indikation für die Operation so streng wie möglich zu stellen.

Die Entzündung des Eierstockes ist von der der Eileiter gar nicht zu trennen. Bei der unmittelbaren Nähe dieser beiden Organe sehen wir, wie ich oben schon sagte, fast stets, daß Affektionen des einen Organes söfort das andere angreifen, abgesehen davon, daß auch zahlreiche Lymph- und Blutgefäße, die den Weg der Infektion vermitteln, beide Organe miteinander verbinden. Ich werde also häufig auf das im Kapitel „Tubenerkrankung“ Gesagte hinweisen müssen. Man unterscheidet eine akute und eine chronische Oophoritis. Bei der akuten Erkrankung kann es sich zunächst um eine septische Oophoritis handeln, wobei als Erreger Streptokokken und Staphylokokken in Betracht kommen. Hier spielen Geburt und Abort oft eine verhängnisvolle Rolle. Operative Eingriffe können gleichfalls eine septische Infektion hervorrufen, schließlich darf man bei der Ätiologie gewisse Infektionskrankheiten (Scharlach, Masern, Gelenkrheumatismus) nicht vergessen. Zu beachten ist, daß die Oophoritis meist eine Teilerscheinung der Infektion des gesamten Organismus ist und bei der Schwere der Grunderkrankung im Hintergrunde steht. Habe ich schon bei der akuten Entzündung die Beziehungen zwischen Appendicitis und Adnexen erwähnt, so gilt dies ganz besonders für die akute Oophoritis, die sich häufig an

374 Fritz Heimann.

eine akute Erkrankung des Wurmfortsatzes anschließt. Stroma und Parenchym werden meist zu gleichen Teilen befallen, weitgehende Zerstörungen sind die Folge. Besonders in letzterem sehen wir einen mehr oder weniger ausgebildeten Zerfall der Follikel. Das Epithel geht zu grunde, starkes Ödem bringt eine allgemeine Schwellung des Organs. Je nach dem Grade der Entzündung beobachten wir in den zerfallenen Höhlen serösen, hämorrhagischen oder eitrigen Inhalt. Oft stellt der Eierstock eine einzige große Absceßhöhle dar. Daß sich die Erkrankung auch auf das Keimepithel ausdehnt und von da die Nachbarschaft (Tube, Uterus, Darm) mitbefällt, ist natürlich. Ist der Erreger der Gonokokkus, so geschieht die Infektion meist vom Uterus bzw. den Tuben aus, jedoch kann bei sehr schwerer Erkrankung, wie Wertheim und Menge zeigten, auch der Blut- und Lymphweg vom Uterus aus in Frage kommen. Pathologisch-anatomisch ähnelt dieses Bild sehr der septischen Oophoritis. Die parenchymatöse Entzündung steht im Vordergrund, obwohl das Stroma zahlreiche kleinzellige Infiltrate aufweist. Trübe Schwellung, fettige Degeneration der Epithelien; der Liquor folliculi wird trübe, schließlich eitrig, das Ei geht zu grunde, und so kommt es auch hier zur Absceßbildung, die später das ganze Organ ergreift und auf die Umgebung übergeht. Der Nachweis der Bacillen ist schwer, da sie meist an ihren eigenen Stoffwechselprodukten frühzeitig zu grunde gehen. Die tuber- kulöse Oophoritis ist selten, die Wege der Infektion sind, wie ich schon bei der Tuberkulose der Tuben hervorhob, Blut- und Lymphbahnen und die direkte Kontakt- infektion geht von Tube oder Peritoneum aus. Von manchen Autoren wird die heute nicht mehr aufrecht zu erhaltende Unterscheidung zwischen einer tuberkulösen Perioophoritis und der Ovarialtuberkulose gemacht, wobei betont wird, daß die erstere eine Teilerscheinung der tuberkulösen Peritonitis ist, während die letztere als genuin, die käsig abscedierende oder miliare Form zeigt. Wie schon erwähnt, kommt die Ovarialtuberkulose fast nur im Bild der allgemeinen Genitaltuberkulose vor. Erwähnt soll werden, daß es auch eine Aktinomykose des Ovariums gibt. Die Erkrankung ist jedoch außerordentlich selten.

Die Symptome der akuten Oophoritis werden häufig bei der Schwere der Allgemeinerkrankung, wie es besonders bei der septischen Infektion der Fall ist, in den Hintergrund treten. Wenn dies auch nicht geschieht, wird die akute Oopho- ritis sich mit der Salpingitis derart vergesellschaften, daß ein isoliertes Symptom- bild nicht zu bekommen ist. Das gleiche gilt für die Diagnose. Auch hier wird diese meist auf Adnexitis lauten, was ja das Befallensein von Tube und Ovarium ausdrückt. Die Therapie wird sich eng an die Behandlung der Salpingitis anschließen. Ich darf auf das dort Gesägte verweisen. Strengste Bettruhe, Eisblase auf den Leib, Opium oder Kodein stellen die Hauptverordnungen dar; bevor nicht die akuten Erscheinungen mindestens eine Woche lang abgeklungen sind, darf an eine lokale Behandlung nicht gedacht werden. Kommt es zur Absceßbildung, was die hohe Continua in der Temperaturkurve und das Schlechterwerden des Allgemeinbefindens anzeigen, wird man sich zur Eröffnung des Absceßes entschließen müssen.

Die Ätiologie der chronischen Oophoritis zeigt auch heute noch manche Unklarheiten, sofern die chronische Erkrankung nicht aus einer akuten hervorgegangen ist. Hier sieht man im mikroskopischen Bild die Charakteristica der Entzündung, die starke Hyperämie, die kleinzellige Infiltration, die Atheromatose der Gefäße und vieles andere, was auf die überstandene akute Infektion schließen läßt. Andere Faktoren, die für die chronische Oophoritis angeschuldigt werden, sind schwer in ihrer Dignität zu beurteilen. Ich nenne die sexuelle Überreizung, die Erkältung und manches andere. Pathologisch-anatomisch tritt die Erkrankung meist doppelseitig

Die Entzündungen am weiblichen Genitale mit Ausnahme der Gonorrhöe. 375

auf, die derbe Konsistenz des Organes fällt auf, sie ist auf eine Schrumpfung des Bindegewebes zurückzuführen. Mit diesem Prozeß sehen wir ein Bild auftreten, das als kleincystische Degeneration bezeichnet wird. Das Keimepithel als solches ist vorhanden, die Albuginea ist stark verdickt. Mangel an Primordialfollikeln. Im übrigen sind die Follikel cystisch erweitert. der Hilus selbst ist verbreitert, an den Gefäßen beobachtet man Wandverdickung. Die Struktur der Follikel kann ziemlich normal sein; man gewinnt den Eindruck, daß der physiologische Ablauf der Ver- änderungen zu rasch vor sich geht; der Streit geht auch heute noch darüber, ob der Prozeß zu den chronischen Entzündungen zu rechnen ist oder nicht. Zeichen der Entzündung, wenn man von der hyalinen Degeneration an manchen Gefäßen absieht, findet man nicht (Aschhoff), im Gegenteil sieht man, daß diese Verände- rungen auch ganz normale Ovarien von Frauen im conceptionsfähigen Alter aufweisen.

Auch hier muß ich bezüglich der Symptome, Diagnose und Therapie auf die chronische Salpingitis hinweisen, da die chronische Oophoritis außerordent- lich selten ein gesondertes Krankheitsbild darstellt. Döderlein warnt mit Recht davor, mit der Diagnose „chronische Eierstockentzündung“ allzu freigebig zu sein. Bei einer großen Reihe von Patientinnen findet man bei der Untersuchung einen lokalisierten Schmerz in der Gegend des Eierstocks, der von Charcot mit Ovarie und als ein rein nervöses Symptom bezeichnet wird. Keineswegs gibt dieser Schmerz das Recht, von einer chronischen Eierstockentzündung zu sprechen. Aus diesem Grunde ist auch die Therapie möglichst einzuschränken.

Schließlich soll die Entzündung des Beckenbindegewebes, des Parametriums, besprochen werden. Unter dem parametrischen Gewebe versteht man das Binde- gewebe, in welches sämtliche Organe des kleinen Beckens mit Gefäßen und Nerven eingebettet sind und das nach oben vom Peritoneum, nach unten vom Becken- bodenmuskel, dem sog. Diaphragma pelvis, begrenzt ist. Der Abschluß ist kein absoluter, im Gegenteil geht das Bindegewebe in den Sehnen- und Gefäßscheiden auch über die angegebenen Grenzen hinaus, ein bedeutsames Moment, das bei der Weiterleitung von infektiösen Prozessen eine ungeheuer wichtige Rolle spielt. Zu unterscheiden ist im parametrischen Gewebe der paravesicale Raum, der die Blase umgibt, der parasakrale, der um das Rectum liegt, und schließlich das eigentliche Parametrium, das vom Uterus zwischen den Blättern der Ligamenta lata zum Becken hinzieht und die Gefäße und Nerven des Uterus umhüllt. Im oberen Teile wird das Gewebe in der Gegend des Collums straffer und enthält auch einige Bündel glatter Muskulatur. Wir unterscheiden eine akute und eine chronische Entzündung. Pathologisch-anatomisch findet man bei der akuten Parametritis je nach der Virulenz der Erreger mehr oder minder starkes Ödem, Thrombosierung der Blutgefäße, Anfüllung der Lymphgefäße mit Eiter. Schließlich kommt es zur eitrigen Ein- schmelzung dieser Partien, zur sog. Exsudatbildung. Auch hierbei gibt es mehrere Grade; im günstigsten Falle bleibt das Exsudat auf das eigentliche Parametrium beschränkt; leider findet es jedoch in dem lockeren Gewebe eine ausgezeichnete Ausbreitungsmöglichkeit, die paravesicalen und rectalen Räume werden mit ergriffen und erhöhen damit die Schwere der Erkrankung. Die großen Gefäße, die Vena hypogastrica, iliaca, externa communis, ja sogar die cava, liegen in nächster Nähe, und Thrombosierungen dieser Gefäße gefährden die -Patientin aufs schwerste. Ätiologisch kommen nur Bakterien in Betracht; in erster Linie Strepto- und Staphylokokken. Geburt und Wochenbett, kriminelle Eingriffe zur Unterbrechung der Schwangerschaft, jedoch auch Operationen bringen die Erreger in die Blut- und Lymphbahn des parametrischen Gewebes hin. Hierbei sei festgehalten, daß

376 , Fritz Heimann.

stets Verletzungen des Epithels vorhanden sein müssen. Auch vom Darm, von der Blase her können die Bakterien in das benachbarte Bindegewebe einwandern, jedoch ist auch hier die Verletzung des Epithels eine Conditio sine qua non (Neisser, Opitz). Auch die Appendicitis muß Berücksichtigung finden.

In manchen Fällen kommt der Gonokokkus als Erreger in Betracht; gewöhn- lich ist es so, daß vom infizierten Uterus aus der Gonokokkus gewissermaßen den Boden vorbereitet, d. h. schädigt, um den nachfolgenden Streptokokken die Arbeit zu erleichtern. Der Sitz des Exsudats kann bis zu einem gewissen Grade die Entscheidung herbeiführen, von wo aus die Infektion stattgefunden hat. Bei Infektion vom Uterus aus sitzt das Exsudat hoch im Ligament, bei Affektionen des Collum uteri breitet sich die Phlegmone an der Basis des Ligaments aus, und schließlich wird von der Scheide aus das paravaginale Gewebe infiziert; besonders bei ersterem sehen wir die Mitbeteiligung des Peritoneums, die sich von der einfachen flächen- haften Ausschwitzung bis zur eitrigen Einschmelzung ausbilden kann.

Jedenfalls werden die Folgen jeder peritonitischen Affektion mehr oder minder erhebliche Verwachsungen mit Uterus und Adnexen sein, die günstigste Lösung, da die allgemeine Peritonitis meist einen letalen Ausgang herbeiführt. Der Verlauf, wenn nicht jenes unglückliche Ereignis eintritt, ist meist ein recht langwieriger. Die Exsudate bilden sich sehr langsam zurück, wenn es nicht zu plötzlichkem Durchbruch nach Blase, Mastdarm oder Scheide kommt. Leider sehen wir, daß dieser für die Ab- kürzung des Leidens oft glückliche Ausgang in vielen Fällen die Erkrankungszeit nicht abkürzt. Das Exsudat ist häufig nicht einkammrig, so daß die Entleerung des Eiters eine vollständige ist, sondern zahlreiche größere oder kleinere Eiterherde setzen den Befund zusammen, so daß die Entleerung einer Höhle noch nicht die Heilung bedeutet. Bricht der Absceß nach dem Peritoneum zu durch, so ist der unglückliche Ausgang meist nicht abzuwenden. Um das zu vermeiden, versucht man, dem Eiter rechtzeitig Abfluß zu verschaffen. Das Befinden der Kranken ist außerordentlich gestört. Hohe Temperaturen, zuweilen septischer Natur, bringen die Patientin sehr herunter, umsomehr als diese Erscheinungen wochenlang an- halten; der Puls ist hoch, Komplikationen von seiten des Herzens und der Lunge sind zu befürchten, der Verdauungstractus ist häufig stark in Mitleidenschaft gezogen, Erbrechen oder Durchfälle schwächen die Kranke. Bei sehr großem Exsudat ist der Druck auf die Nerven des Kreuzbeins, eventuell auf den Ichiadicus sehr quälend. Die Thrombosierung der großen Gefäße, die Phlegmasia alba dolens verursacht recht erhebliche Schmerzen. Die Mitbeteilung des Bauchfells spricht in der Frage der Schmerzen eine große Rolle; leider sehen wir, daß eine nicht ganz kleine Anzahl von Fällen nach langem Krankheitslager doch noch einer der oben erwähnten Komplikationen zum Opfer fällt. Günstig dagegen steht es quoad vitam, wenn die Abkapselung des Exsudates von statten geht. Wenn auch hier das Leiden sich Wochen und Monate hinzieht, so tritt doch allmählich die Gesundung ein.

Die Diagnose kann mitunter sehr schwierig sein. Man nimmt die Anamnese zu Hilfe und berücksichtigt besonders den Beginn der Erkrankung. Handelt es sich zunächst um die Parametritis ohne Einschmelzung, so ist rechts oder links eine teigige Schwellung. zu tasten, die vom Uterus bis zum Becken sich hinzieht. Mit beiden Organen ist sie fest und unmittelbar verbunden, so daß eine Abgrenzung kaum möglich ist. Diese Begrenzung fehlt auch gewöhnlich nach oben und unten. Ganz allmählich geht der entzündliche Tumor in seine Umgebung über. Dabei schweres oder schwerstes Krankheitsbild, was davon abhängt, ob zu dieser Zeit schon das Bauchfell ergriffen ist. Ist das der Fall, dann zeigt die Kranke das typische Aus-

Die Entzündungen am weiblichen Genitale mit Ausnahme der Gonorrhöe. 377

sehen. Ungeheure Schmerzhaftigkeit schon bei leichter Berührung sowohl des Abdomens als auch bei vaginaler Untersuchung der befallenen Partien. Die Tempera- turen sind hoch, der Puls klein, frequent, mehr oder minder ausgesprochene Cyanose. Beginnt der Einschmelzungsprozeß, so wird der Befund zunächst etwas besser abgrenzbar. Seine Konsistenz ist prall elastisch, eventuell deutliche Fluktuation nachweisbar. Auch jetzt noch besteht innige Verbindung mit Uterus und Becken. Küstner wendet sich mit Recht dagegen, ein derartig eitriges parametranes Exsudat mit „Beckeneiterung“ zu bezeichnen, da diese Ausdrucksweise in höchstem Grade unkorrekt ist. Er betont den Unterschied, ob eine Eiterung sich in der Tube oder Ovar oder im Parametrium lokalisiert. Während bei der Tubeneiterung der Prozeß sich in einem mit Schleimhaut bekleideten Organ abspielt, es sich also, wie Küstner meint, um ein „Empyem“ handelt, sehen wir bei der Parametritis einen Prozeß im Bindegewebe, einen „Absceß“. Differentialdiagnostisch entstehen zuweilen große Schwierigkeiten. Liegt die Entzündung rechts, so ist die Unterscheidung gegen einen perityphlitischen Absceß manchmal recht schwierig, umsomehr als das para- metrische Exsudat häufig einseitig auftritt. Genaueste Berücksichtigung der Ana- mnese ist notwendig. Auch die Adnexerkrankung kommt für die Differentialdiagnose in Betracht. Findet man bei der Untersuchung des Sekretes Gonokokken, so kann die Diagnose Adnexitis fast als gesichert gelten. Die Doppelseitigkeit des Prozesses bei der Adnexitis muß auch Berücksichtigung finden. Schließlich ist hierbei eine gewisse, zuweilen recht geringe Beweglichkeit des Tumors vorhanden, der außerdem häufiger hinter dem Uterus als vor ihm liegt. Auch die extrauterine Hämatocele, besonders die Haematocele retrouterina, kann der Parametritis sehr ähnlich sein. Die Anamnese ist ebenfalls hier sehr wichtig. Die Punktion vom hinteren Scheiden- gewölbe schafft Aufklärung. Auch die Beschleunigung der Blutkörperchen-Senkungs- geschwindigkeit weist auf Eiterung hin. Die Leukocytose ist nicht verläßlich, obwohl sie als unterstützendes Moment auch berücksichtigt werden sollte.

Die Therapie soll möglichst konservativ sein. Handelt es sich nicht um einen Einschmelzungsprozeß, so versucht man, durch strengste Bettruhe, Eisblase und schmerzstillende Mittel den Herd zu lokalisieren und zum Abklingen zu bringen. Daneben bedarf das Allgemeinbefinden größter Aufmerksamkeit. Die Ernährung ist zu regeln, Alkohol verrichtet gute Dienste, das Herz bedarf genauester Kontrolle; jede lokale aktive Behandlung unterläßt man zunächst. Es ändert sich die Methode, sobald es zur Eiterung kommt. Fühlt man jetzt bei der bimanuellen Untersuchung der Fluktuation vom hinteren oder seitlichen Scheidengewebe aus, so kommt das Ablassen des Eiters in Frage. Auch hier ist der Zeitpunkt der Incision von Bedeutung. Eine Reihe von Autoren sind für möglichst frühzeitige Operation, da sie glauben, durch dauernden Abfluß des Eiters den Prozeß einerseits abzukürzen, andererseits besser zu lokalisieren. Andere warten bis zur völligen Absceßbildung ab, da dann mit der Incision der ganze Eiter zum Abfluß kommt. Ich möchte das letztere Ver- fahren empfehlen. Die Punktion gibt uns Aufschluß, wo der Herd sitzt, abgesehen davon, daß in diesem Stadium der Douglas sich vorwölbt und die Auffindung des Herdes sehr leicht ist. Auch hierbei ist das Vorgehen verschieden. Mit einem Troikart, der in seiner Form von Ludwig Fränkel angegeben worden ist, wird der Absceß breit eröffnet, ein Gummi- oder Glasrohr sorgt für guten Abfluß des Eiters. In letzter Zeit hat man mit der Entleerung des Eiters durch Punktion und nach ganzer Auffüllung der Absceßhöhle mit Rivanol (Morgenroth), 1%ig, einem Streptokokken tötenden Chinaalkaloid, sehr gute Erfolge gesehen. Diese Maßnahme ist mehrere Male vorzunehmen, bis es zur Ausheilung kommt.

378 Fritz Heimann.

Mit dem Aufhören der Eiterung ist die Parametritis noch nicht geheilt. Meist machen die Narben und Schwielen, die sich im Anschluß an den Prozeß bilden, recht erhebliche Beschwerden und erfordern langwierige Behandlung. Jetzt setzt die lokale Therapie ein, die ich schon oben bei der Behandlung der chronischen Adnexitis beschrieben habe. Hydrotherapie, Wärme, Licht, Moorbehandlung seien nochmals in erster Linie genannt.

Im Vergleich zu den schweren Erscheinungen der akuten Parametritis tritt die chronische Erkrankung in den Hintergrund. Meist handelt es sich um langsam einsetzende, schrumpfende Abscesse, von denen die Parametritis posterior (Schulze) und die Parametritis atrophicans (Freund) zu nennen sind. Man sieht diese Prozesse auch bei jungfräulichen Personen auftreten. Die Symptome können unangenehm sein, Menstruationsstörungen, Schmerzen im Kreuz, Störungen von seiten des Magen- und Darmkanals stehen im Vordergrunde. Die Diagnose wird bei der bimanuellen Unter- suchung, eventuell unter Zuhilfenahme der Narkose, gestellt. Die Behandlung ist auch hier eine resorbierende. Nur im Notfalle entschließt man sich zum operativen Eingreifen.

Literatur. Folgende Hand-, Lehrbücher und Zeitschriften wurden benützt: Fehling Franz, Lehrbuch der Frauenkrankheiten. Frankl, Pathologische Anatomie und Histologie der weiblichen Genitalorgane; A. f. Gyn.; Mon. f. Geb. u. Gyn.; Ztschr. f. Geb .u. Gyn.; Zbl. f. Gyn. -— Halban- Seitz, Biologie und Pathologie des Weibes. Küstner, Lehrbuch der Gynäkologie. Lahm, Die Pe ao oain h analomi hen Grundlagen der Frauenkrankheiten. Menge-Opitz Handbuch der

rauenheilkunde. Schröder, Lehrbuch der Gynäkologie. Veit, Handbuch der Gynäkologie.

Endokrine Drüsen und die Persönlichkeit.

Von Dozent Dr. Arnold Josefson, Oberarzt, Stockholm. Mit 12 Tafeln.

Bei einer Untersuchung über den Zusammenhang zwischen den innersekre- torischen (inkretorischen) Organen und der sog. Konstitution, der individuellen Sonderart, der persönlichen körperlichen und seelischen Entwicklung muß stets mit größtenteils ungelösten wichtigen Problemen a priori gerechnet werden. Wäre auch die Physiologie der inkretorischen Organe vollständig bekannt, käme doch in jedem Falle immer noch hinzu die Frage von dem Wachstums- und Entwicklungstriebe. Dieser Trieb, rein individuell wie er ist, kann weder qualitativ noch quantitativ angegeben werden. Gibt es doch keine zwei individuell vollständig ähnliche In- dividuen, fehlen uns doch immer exakt festgestellte biologische Normalwerte. Gleichen einzelne Geschwister einander äußerlich noch so viel, funktionell sind sie verschieden.

Wiegen zwei gleichartige Organe auch gleich viel und zeigen sie histologisch auch dieselbe Struktur, ihre Funktionskraft braucht deshalb nicht gleichwertig zu sein. Allein aus der Größe eines Organes kann man die Funktionsmöglichkeit ja nicht ablesen. Diese muß durch besondere Proben geprüft werden. Die Vergröße- rung der Schilddrüse z. B. ist oft ein Zeichen der funktionellen Insuffizienz und eine Organvergrößerung einer Keimdrüse kann durch eine Hypertrophie der exkre- torischen Elemente auf Kosten der inkretorischen Zellen entstehen und vice versa. Wird die Hypophyse adenomatös vergrößert, entsteht die Akromegalie als Folge einer Hyperfunktion (Tafel XIII, Fig. 2); bei anderen neoplastischen Vergrößerungen tritt diese Krankheit nicht auf. In letzterem Falle geht das funktionierende Gewebe zu Grunde. Kommt noch hinzu, daß die Inkretorgane als Glieder eines Inkret- systemes aufgefaßt werden müssen, in welchem die einzelnen Organe in gewisser gegenseitiger Korrelation stehen.

Trotz alledem und trotz Mangel an sicheren Kenntnissen über die Stoffe, welche die Entwicklung ab ovo und weiter treiben, kann es doch heute als be- wiesen gehalten werden, daß sowohl die körperliche wie auch die seelische Ent- wicklung und Wirksamkeit von den Inkreten in bedeutendem Grade beeinflußt werden. Klinisch wie auch experimentell gibt es für allemal festgestellte Tatsachen, welche dies bekräftigen.

Allgemein wird es anerkannt, daß ein jeder Mensch ein Organismus für sich ist, und die Verteilung der Menschen in verschiedene Gruppen und Typen wird stets willkürlich. Denn biologisch sind sie doch immer streng individuell. Die Art, auf welche der Organismus reagiert, die Anpassungsmöglichkeiten, die angeborenen wie die erworbenen Abwehrkräfte sind persönlicher Art und als inkretorisch be- dingt bezeichnet. In der Therapie ist die goldene Regel das Individualisieren. Ohne Kenntnis über die Reaktionsnorm wird die Therapie immer nur ein Versuch. Jeder

380 Arnold Josefson.

Mensch, aber auch jedes Organ reagiert in individueller Weise und so auch das Inkretsystem und dessen Glieder.

Schon erblich wird der Mensch mit einem gewissen Quantum Lebensenergie geboren. Das Altern, d. h. der Verbrauch des Organismus und seiner Teile, geht in verschiedenem Tempo. In einigen Familien kommen die Alterszeichen z. B. regelmäßig sehr früh, in anderen wieder sehr spät. Ich erinnere hier an die grund- legenden Versuche Brown-Sequards sich selbst durch Inkretenzufuhr zu ver- jüngen. 8

Für die Gesamtkonstitution, also auch für die Inkretion, bedeutet es u.a. viel, mit welchen Anlagen man geboren worden ist.

Daß es einen Zusammenhang zwischen der menschlichen Entwicklung (der Per- sönlichkeit) und den inkretorischen Organen gibt, unterliegt keinem Zweifel. Wie groß die Rolle des Inkretsystems dabei aber ist, ist schwer exakt festzustellen. Be- sonders schwer zu deuten ist diese Frage bei dem Embryo. Während des Em- bryonallebens, einer Zeit, in welcher die fötalen Inkretorgane nicht funktionsreif sind, wird der mütterliche Organismus doppelt in Anspruch genommen.

Im lebenden Organismus herrscht nie Ruhe. Aufbau und Verbrauch, Rege- neration und Atrophie sind u. a. Zeichen des Lebens. Das Inkretsystem, von einer Menge in gegenseitiger Beziehung stehender Organe zusammengefügt, wird während des ganzen Lebens oft auf die Probe gestellt.

Funktionelle Schwäche ebenso wie abnorme Steigerung irgendwo in diesem Systeme werden von körperlichen oder seelischen Störungen verschiedener Art leicht begleitet. Während besonderer Perioden des Lebens sind die Ansprüche an das Inkretsystem besonders groß.

Als eine solche Periode können die Kinderjahre, die Zeit des Wachstums, zuerst genannt werden. Bei Hemmungen gewisser Inkretorgane besteht oft Unreife, bei Steigerung Frühreife. Der Eintritt der Pubertät und wahrscheinlich auch ihre Duration ist von inkretorischen Einflüssen abhängig. Über den näheren Zusammenhang zu berichten, würde zu weit führen. Eine lebhafte Anspornung der Inkretorgane im allgemeinen scheint zu dieser Zeit einzutreten. Die Thymus, auch sie hier zu den inkretorischen Organen gerechnet, übt ihre stärkste Funktion wahrscheinlich während der frühesten Lebenszeit aus.

Daß die Ansprüche während der Schwangerschaft besonders groß werden, ist schon gesagt worden. |

Diese kurze Einleitung mag genügen, um zu zeigen, welche dominierende Rolle im menschlichen Dasein das Inkretsystem spielt.

In jedem Alter setzt also Gesundheit u.a. die Existenz einer gesunden Endo- krinie voraus. Die physische sowie die psychische Vitalität wechselt unter den In- dividuen. Bei Allen aber stehen sie mit dem Status incretorius in Zusammenhang. Es gibt nämlich, daran müssen wir festhalten, eine individuelle, noch unaufmeB- bare, inkretorische Formel, einen Index incretorius. Wo das Normale aufhört und das Kranke beginnt, können wir nicht sagen. Den Index incretorius überhaupt genau bestimmen zu können, ist ein Ziel der Zukunft. Was jetzt die Beurteilung der Funktion einzelner Inkretorgane anbelangt, sind wir aber schon ein gutes Stück vor- wärts gekommen. In gewissen Fällen kann doch die klinische Untersuchung zu einer richtigen quantitativen Auffassung eines Sonderorganes leiten. Durch den Effekt der Behandlung können wir diese Tatsache bestätigen. Ich erinnere an den erstaun- lichen Effekt von der Behandlung z. B. mit Schilddrüse, Insulin resp. Pituitrin.

Endokrine Drüsen und die Persönlichkeit. 381

Svedenborg, der schwedische Forscher und Fernseher, sprach schon über die innersekretorischen Organe als „innere chemische Laboratorien des Körpers“ und die führende Rolle der Schilddrüse war ihm schon im großen ganzen klar. Auch der Hypophyse und dem Zirbel, diesen im Innern des Schädels sorgfältig ver- borgenen Organen, maß er funktionelle Bedeutung zu. Diese seine Vermutungen erwiesen sich richtig. Dem Inkretsysteme wird heute aus guten Gründen die Rolle eines Reglers des Lebensablaufes zugemessen. Auf welchen Wegen man zu dieser Auffassung gekommen ist und durch welche geniale Forscher aller Länder die moderne Lehre der inneren Sekretion gebaut wurde, muß hier übergangen werden. Ich muß auf die reichlichen vortrefflichen Handbücher! über diese Themen hinweisen und mich mit einer kurzen Darstellung von dem Zusammenhange der Inkretorgane mit der Persönlichkeit begnügen.

Um die Bedeutung der Inkrete für die menschliche Entwicklung und Persön- lichkeit sicher beurteilen zu können, muß in erster Hand die Physiologie der In- kretorgane bekannt sem Es muß offen gesagt werden, daß die Forschung in dieser Hinsicht noch an der Schwelle steht. Zwar ist etliches über die Funktionen der Schilddrüse, der Nebenschilddrüsen, der Nebenniere (Mark), der Keimdrüsen, der Bauchspeicheldrüse und der Hypophyse erforscht worden es fehlt uns aber auch manches. Die Chemie der Inkrete ist ein weit offenes Feld der künftigen Forschung. Bisher kennen wir chemisch nur die Inkrete der Nebennieren und der Schilddrüse. Das gegenseitige Verhältnis der Vitamine und der Inkrete ist auch nicht sicher bekannt, obschon manches angeführt wird, was zeigen sollte, daß die Vitamine als Vorstufen der Inkrete bezeichnet werden können.

Von den Beziehungen zwischen dem vegetativen Nervensystem und den Inkreten wissen wir noch wenig Exaktes und die gegenseitige Abhängigkeit der Inkrete ist bei weitem noch nicht klargelegt worden. Daß gewisse Inkrete wachstumfördernd sind, daß die seelische Entwicklung auch von dem Inkretsystem abhängt, wird zwar anerkannt. Über den näheren Mechanismus wird noch eifrig gestritten. Gegen die Annahme, daß z.B. die Thymus und der Zirbel inkretorische Funktion haben, kommen Ein-

wendungen immer vor. |

| Wie gesagt muß ich darauf verzichten, alle die verschiedenen klinischen und experimentellen Forschungsmethoden aufzuzählen, durch welche die Kenntnis von den inkretorischen Funktionen vergrößert worden ist. Entschiedene Bedeutung für die Lösung der Frage von der Organfunktion hatten besonders die vielen Fälle, in welchen Ausfallssymptome nach der Organexstirpation durch Organotherapie wieder schwanden oder in welchen Symptome einer inkretorischen Hyperfunktion nach Organexstirpation gewichen sind.

Für die Lehre von der Organotherapie waren Bertholds Versuche 1849 an jungen Hähnchen grundlegend. Er entfernte die Hoden und brachte sie dann an anderer Stelle des Körpers zur Anheilung. Der Hahnencharakter, welcher .ja sonst nach der Kastration den Kastratentypus annimmt, wurde jetzt nicht verändert.

Zwischen Krankheit und Gesundheit fließt die Grenze. Es ist am schwierigsten, die leichten Abweichungen von dem Normalen zu entdecken. Wie so oft anderswo in der Medizin, kam hier die führende Rolle dem klinischen und pathologischen Studium zu. So war es z.B. der Fall bei dem Morbus Addisonii, bei der Akromegalie, dem Myxödem und der Basedowschen Krankheit. Durch die kritische Zusammenstellung der klinischen Data mit dem Erfolg der Therapie sind wir den funktionellen Störun-

1 Literatur siehe Biedl, Innere Sekretion, 1922.

382 Arnold Josefson.

gen verschiedenen Grades auf die Spur gekommen. Auch ohne sichere Kenntnisse von demjenigen, was als Normales bezeichnet werden soll, ohne die Kenntnis also von dem Index incretorius gelang es, das Bild der funktionellen Hemmung, Steigerung oder Veränderung pathologischer Art (Hypo-, Hyper-, Dysfunktion) ziemlich genau festzustellen. Interessant ist sich dabei zu erinnern, wie das Bild der Hypofunktion (bei Hypothyreose, Hypovarie, Hyporchie) aus dem Vergleich mit den bekannten Ausfallserscheinungen nach der Totalexstirpation entstanden ist.

Von eminenter Bedeutung war auch die Tatsache, daß funktionelle Hemmung und Steigerung klinische Gegenbilder hervorrufen (Unreife Frühreife; Verzöge- rung Beschleunigung).

In unserer technisch vollendeten Zeit werden beim Menschen inkretorische Organe mit gutem Resultate (wenn auch vorübergehend) überpflanzt (Schilddrüse, Nebenschilddrüsen, Keimdrüsen, [Tafel XV, Fig. 2]) und das Material wird nicht nur von anderen Menschen (lebenden oder gerade gestorbenen) genommen. Affenorgane taugen auch. Die Ausfallserscheinungen nach der partiellen bzw. totalen Organexstirpation beim Menschen sind schon lange bekannt (Schilddrüse, Nebenschilddrüsen, Keimdrüsen). Schwinden diese nach der Anheilung der Transplantate oder nach anderen opo- therapeutischen Eingriffen, kann doch von einem Experimentum crucis gesprochen werden. Für die Entlarvung latenter inkretorischer Störungen wird die Organo- therapie heutzutage zuweilen sogar als Adjuvans benutzt. Mit der Entdeckung des Insulins wurde unsere Auffassung von der Pathogenese des Diabetes mellitus in genialer Weise genauer festgestellt.

Aus der Klinik der inkretorischen Störungen sind auch Schlüsse über die Physiologie der Inkretorgane gezogen worden. Als Beispiel nenne ich die hypo- physären Störungen. Dem Studium der Akromegalie und der Dystrophia adiposo- genitalis folgte die energische Erforschung der Hypophyse als Wachstumförderer.

Eine Zusammenstellung der experimentellen und der klinischen Forschungs- resultate zeigt vor allem, wie die ganze Entwicklung von den Inkreten beeinflußt, ja beherrscht wird. Es wird dabei mit Einflüssen sowohl befördernder wie auch hernmender Art gerechnet.

Die normale Entwicklung setzt eine gewisse Bilanz der inkretorischen Stoffe wahrscheinlich voraus. Übergewicht in der einen oder anderen Richtung zeichnet sich durch Abweichungen vom Normalen aus.

Der Skeletbau kann zwar anthropometrisch gefolgt werden. Durch die Rönt- genologie bekamen wir eine objektive Methode das körperliche Wachstum besser als früher zu beurteilen. Das Studium des Epiphysenschlusses (normal, verfrüht, verzögert) gibt sichere Auskünfte. Ein Stillstand des Skeletwachstums, ein verfrühter oder verzögerter Epiphysenschluß läßt sich röntgenologisch bei gröberen Störungen sehr leicht nachweisen. Durch Serienuntersuchungen kann man der Skeletentwicklung gradatim folgen. Auch therapeutische Erfolge können in dieser Weise studiert werden. Von besonderem Interesse ist es, daß man von der Körperlänge an sich nicht mit Sicherheit darüber schließen kann, wie weit es mit dem Skeletbau gekommen ist. Riesen kommen vor mit noch weit offenen Epiphysenfugen (bei z. B. Hyporchie). sowie Kleinwüchsige mit frühgeschlossenen Epiphysenfugen (Pubertas praecox).

Von dem Wachstumtriebe hängt die Entwicklung im einzelnen Falle ab. Es kann als sicher bewiesen gehalten werden, daß dieser Trieb inkretorisch beeinflußt wird. In welcher Weise aber und in welchen Inkretorganen die Wachstumstoffe gebildet werden, ist eine offene Frage, so auch die vom gegenseitigen Verhältnisse der verschiedenen Inkrete. Wie gesagt, sind die Meinungen über die Thymus noch

Endokrine Drüsen und die Persönlichkeit. 383

geteilt!. Von einigen Verfassern wird sie sogar als die centrale Wachstumdrüse be- zeichnet. Und in welchen Zellen der Keimdrüse das spezielle Inkret gebildet wird, wird auch debattiert. Daran kann aber festgehalten werden, daß bei der Hypo- funktion der Schilddrüse und der Hypophyse Wachstumstoffe fehlen und daß bei Hyperfunktionen in diesen selben Organen Wachstumsteigerungen mehrerenteils vor- kommen. Bei den Kastraten (und bei der Hyporchie [Tafel XI) und der Hypovarie [Tafel XIII, Fig. 1]) dauert das Offenbleiben der Epiphysenfugen weit länger als normal (Hochwuchs); bei den sexuell Frühreifen wieder ist der Epiphysenschluß verfrüht (Kleinwuchs).

Es ist nicht möglich, hier auf die interessante Frage über den näheren Einfluß der Inkrete auf das Skeletwachstum und dessen Dimensionierung einzugehen. Gesammelte Erfahrung deutet darauf hin, daß das thyreoidale Inkret auf die Bildung der Anlage von den Knochenkernen einwirkt, während die Hypophyse und die Keimdrüsen mehr das epiphysäre Wachstum beeinflussen.

Daß die verschiedenen Wachstumsstörungen in besondere Typen je nach der primären Lokalisation in irgend einem Inkretorgane eingeteilt worden sind, ist schon angedeutet worden.

Daß es hinsichtlich der Entwicklung viel und vielleicht hauptsächlich darauf ankommt, wie man endokrin geboren, wie die endokrine Konstitution ist, zeigt u. a. das Myxoedema: angeborener Mangel an Schilddrüse, tiefe körperliche und seelische Entwicklungshemmung.

Exogene Momente (Umweltwirkungen) können zwar auch den Zuwachs beein- flussen. Die Frage ist aber die: in welcher Art und auf welchem Wege? Familiär vorkommende Skeletvariationen können doch kaum als exogen entstanden erklärt werden.

Ebenso wie das Skelet sind auch andere Körperteile vom Inkretsystem ab- hängig.

Und ein normaler Stoffwechsel setzt auch ein gesundes Inkretsystem voraus. Wie verhängnisvoll inkretorische Störungen auf diesen einwirken können, lehrt z. B. die Kenntnis über den Diabetes mellitus.

Wie innig die Empfindung des Wohlseins mit der Endokrinie verbunden ist, ergibt sich aus der entscheidenden Rolle der Inkrete für die Wärmeregulation des Körpers. Die subnormale Temperatur bei der Hypothyreose resp. Athyreose und die prompte Erhöhung derselben nach Schilddrüsenzufuhr, die erhöhte Tem- peratur bei der Hyperthyreose sind als Beweise für die Abhängigkeit der Wärme- bildung von der Schilddrüse oft genug erwähnt?. (Als Beispiel gebe ich hier kurz einen extremen Fall von Myxödem an, welcher leider nicht früher richtig erkannt worden war. Die Kranke mußte ihren dicken Pelz anhaben, als sie in meinem warmen Empfangszimmer saß, um nicht zu frieren. Die Respirationsfrequenz = 9—11. Nach Behandlung während einiger Tage fühlte sie sich wieder „warm“.) Seitdem die Methodik jetzt vereinfacht worden ist, werden heutzutage überall Untersuchungen über den Gas- stoffwechsel bei den inkretorischen Störungen eifrig betrieben. Besonders die Vermin- derung des Gasstoffwechsels ist von diagnostischem Werte. Einer Erhöhung kann bisher nur relativer Wert zuerkannt werden.

ı Als Beweis für die inkretorische Thymusfunktion wird klinisch auf Fälle von geheilter Myasthenie nach Thymusexstirpation hingewiesen.

2 Auf die Abhängigkeit des Winterschlafes von dem Inkretsystem und auf die künstliche Er- weckung aus demselben kann ich hier nicht eingehen.

384 Arnold Josefson.

Die Bedeutung der Bauchspeicheldrüse für den Zuckerstoffwechsel und der Schilddrüse für den Eiweißstoffwechsel sind auf immer festgestellte Tatsachen.

Der Einfluß der Inkretion auf den Fettumsatz kann auch als sichergestellt be- zeichnet werden. In welchem Grade dieser Umsatz aber inkretorisch bedingt wird, ist schwieriger festzustellen. Die Klinik war für die Lösung dieser Frage von größerem Wert als die experimentellen Erfahrungen. Ich erinnere an die vom Publikum miß- brauchten Entfettungskuren durch Schilddrüsenzufuhr, an die bekannte Fettsucht bei den Kastraten (seit uralten Zeiten werden Haustiere ja aus kulinarischen Gründen kastriert) und an die schon genannte Dystrophia adiposogenitalis (Tafel XII, Fig. 2, 3) bei den Störungen in gewissen Teilen der Hypophyse. In diesem Zusammenhange sei es mir gestattet, an eine Tatsache zu erinnern, auf welche ich schon früher die Aufmerksam- keit gelenkt habet. Bei der Pubertät, dieser Periode einer Steigerung gewisser inkretori- scher Funktionen, wird im allgemeinen das Körperfett bei den Knaben reduziert; bei den Mädchen nimmt es im Gegensatz zu. Frühreife Knaben sind in der Regel: mager, frühreife Mädchen fett. Bei dem Hyporchismus mehrenteils Fettbildung (weib- liche Körperfülle), bei dem Hypovarismus vielmehr Magerkeit (männlicher Habitus). Wieder also Gegenbilder bei Hemmung oder Steigerung der inkretorischen Funktion.

Auch auf den Kalkstoffwechsel meint man, daß die Inkrete (Thymus, Epithel- körperchen) einwirken. Was die Inkrete für den Wasserhaushalt bedeuten, ist um- stritten; die Lösung dieses Problems: gehört zu den allerschwierigsten. Das Vor- kommen eines Diabetes insipidus mit hypophysärer Genese wird mehr und mehr bezweifelt.

Schon vor mehr als 20 Jahren kamen in der Literatur Angaben vor über das Vorhandensein eines cerebralen, inkretorisch beeinflußbaren trophischen Zentrums. Diese Theorie, in Vergessenheit geraten, ist heutigentags wieder erschienen.

Vor allem muß die dominierende Rolle des Inkretsystems für die ektoder- malen Bildungen (die Haut und ihre Adnexe, die Drüsen, die Dentition) als ge- sichert angesehen werden. Es genügt, auf die Klinik hinzuweisen.

Auch auf die glatte Muskulatur haben die Inkrete großen Einfluß und eine Beziehung zwischen dem Tonus der Capillaren und dem Inkretsysteme scheint höchstwahrscheinlich zu bestehen.

Normales Wachstum und eine durchschnittlich normale Körperform setzt also u. a. ein normales Inkretsystem voraus. Besonders der Mangel an nötigen Inkreten verursacht leichtkenntliche Störungen.

Daß das Inkretsystem auch die Psyche beeinflußt, wurde schon gesagt. In der Psychiatrie findet diese Lehre mehr und mehr Gehör. Als Grund für diese Annahme nenne ich die bekannte Tatsache, daß Schilddrüsenschwächlinge oft tiefe psychische Störungen zeigen. Durch Schilddrüsenzufuhr können sie oft aus ihrem winterschlafähnlichen seelischen Dämmerzustand erweckt werden? Aber auch das psychische Bild bei gewissen Hyperfunktionen der Inkretorgane weist auf diese gegenseitige Beziehung hin. Nochmals erinnere ich an einen gegensätzlichen psychischen Effekt bei der Hemmung resp. Steigerung der inkretorischen Funktion. Bei dem Myxödem eine Apathie und psychische Trägheit, bei dem Hyperthyreoidismus eine erhöhte Empfindlichkeit und psychische Unruhe.

ı In meiner Arbeit: Endokrina skelett- och utvecklingsrubbningar, Stockholm 1915.

2 Die in einigen Fällen vorkommende Katalepsie (bei Myxödem), die ich bald nach dem Beginne der Behandlung verschwinden sah, habe ich als eine Äußerung der enormen motorischen Trägheit gedeutet.

Tafel V. Ergebnisse der gesamten Medizin, VI. Arnold Josefson: Endokrine Drüsen und die Persönlichkeit.

Skelet von Tafel IV, Fig. 1 vor, während und nach der Behandlung.

2.|VIII. 1921 (vor). 18./VIII. 1921.

3./1. 1922. 23./1. 1923,

Verlag von Urban & Schwarzenberg in Berlin u. Wien

Tafel IV. Ergebnisse der gesamten Medizin, VI. Arnold Josefson: Endokrine Drüsen und die Persönlichkeit.

Fig. 1.

Myxödem. 19 Jahre. Im 9. Jahre wurde er vom Arzte als schilddrüsenloser Idiot bezeichnet, wurde aber nicht be- handelt. Vor 3 Jahren bekam er (unregelmäßig) Schilddrüsentabletten 0:10 X 1. Ist enige Zoll jährlich gewachsen. Wurde von mir 1921 mit sehr großen Schilddrüsendosen behan

elt.

13 Jahre. Nils 79 Jahre. 8./VIII. 1921. 15./VIII. 1921. 3./1. 1922.

Fig. 2.

Myxödem. 10 Jahre. Die Schwester litt an Myxödem. Wurde im Alter von 5 Jahren ca. 1 gaor mit Schilddrüsen- tabletten 0'10 X 1~2 behandelt. Wurde von mir 1914 mit großen Dosen behandelt.

3./VIII. 1914. 17./VIII. 1914. ' 27./X1. 1914.

Verlag von Urban & Schwarzenberg in Berlin u. Wien.

Tafel VI.

Arnold Josefson: Endokrine Drüsen und die Persönlichkeit.

Ergebnisse der gesamten Medizin, VI.

Myxoedema +- Acrocyanosis.

39 Jahre. Wurde mit großen Dosen behandelt. Die Akrocyanose schwand. Cutane und subcutane Adrenalin- probe schwach vor der Behandlung, stark nach derselben. Als die Schilddrüsendosen vermindert wurden, kam

16./11. 1923.

die Akrocyanose zurück.

D T ` Te D y = y a Ka r Ma CN e vi bw

%

e ch wi y. AS? Į ETN ah

Ges P L

T a3 Ah A

27./11. 1923 (11 Tage behandelt).

Verlag von Urban & Schwarzenberg in Berlin u. Wien

ld

Tafel VII. Ergebnisse der gesamten Medizin, VI. Arnold Josefson: Endokrine Drüsen und die Persönlichkeit.

Myxödem. 5 Jahre. Zwei Jahre vor ihrer Geburt wurde die Mutter wegen Cystoma ovarii operiert. Das yxödem seit ihrem 1. Lebensjahre. Als sie von mir behandelt wurde, konnte sie nur einzelne Wörter sprechen. Wurde mit großen Schilddrüsendosen behandelt. Nach 14 Tagen ist das Myxödem verschwunden. Sie lernte rasch sprechen. Nachdem ich sie 6 Jahre behandelt habe, spricht sie jetzt anrora CH gut: Sie ist fortwährend intellektuell etwas schwach.

20./V. 1917. 20.|V. 1917.

30./VII. 1917. 30.|VII. 1917.

Verlag von Urban & Schwarzenberg in Berlin u. Wien.

Tafel VII. Ergebnisse der gesamten Medizin, VI. Arnold Josefson: Endokrine Drüsen und die Persönlichkeit.

Kretinismus.

Seit dem 11. Lebensmonate Kretin. Wurde von mir zuerst 2 Monate lang mit Hypophyse behandelt. Später Schilddrüsenbehandlung. Große Dosen. Die Haare fielen zuerst vollständig aus. Neues Haar. Konnte zuerst gar nicht sprechen. Lernte ihren Namen sagen.

10 Jahre.

11./V. 1916 (Behandelt). 13./V. 1916. 29./VII. 1916. August 1916.

Verlag von Urban & Schwarzenberg in Berlin u. Wien.

Tafel IX. Ergebnisse der gesamten Medizin, VI. Arnold Josefson: Endokrine Drüsen und die Persönlichkeit.

Hypothyreose (infantil).

10jähriger Knabe mit großen Schilddrüsendosen behandelt. In 1 Jahr wuchs er für 3 Jahre (röntgenologische Kontrolle).

. 20.|X. 1918.

23./X. 1919,

Verlag von Urban & Schwarzenberg in Berlin u. Wien.

Tafel X. Ergebnisse der gesamten Medizin, VI. Arnold Josefson: Endokrine Drüsen und die Persönlichkeit.

Familiäre Struma durch Schilddrüsenbehandlung geheilt. Auch die Mutter leidet an Struma. Die Kinder wurden mit großen Dosen behandelt. Cutane Adrenalinempfindlichkeit vor der Behandlung schwach bei beiden ; stark beim Mädchen nach der Behandlung.

30./IV. 1917. AN. 1917 (3 Tage behandelt).

10./1. 1921. 24.|1. 1921.

Verlag von Urban & Schwarzenberg in Berlin u. Wien.

Tafel XI. Ergebnisse der gesamten Medizin, VI. Arnold Josefson: Endokrine Drüsen und die Persönlichkeit.

Typischer Hyporchismus.

Verlag von Urban & Schwarzenberg,in Berlin u. Wien.

Tafel XII. Ergebnisse der gesamten Medizin, VI. Arnold Josefson: Endokrine Drüsen und die Persönlichkeit.

Fig. 1. Struma permagna während 5 Wochen mit Schilddrüse behandelt.

Fig. 2. Fig. 3. Tumor hypophyseos. Dystrophia adiposogenitalis. Dystrophia adiposogenitalis. Kleinwuchs (Hypophysäre Störung).

13 Jahre.

Verlag von Urban & Schwarzenberg in Berlin u. Wien.

Tafel XIII. Ergebnisse der gesamten Medizin, VI. Arnold Josefson: Endokrine Drüsen und die Persönlichkeit.

Fig. 1. Hypovarismus (rechts).

irren

Se

Fig. 3.

Akromegalie ohne Sehstörungen. Bei der Sektion großer Tumor hypophysis. Die Sella turcica röntgenologisch vergrößert.

Se = a ZA

A u San GH N n ji» d d t K a bw , du: Wu dy A f m; / Dr f K d

o LN

vn,

113 AH! d bah AT i

24 Jahre.

Verlag von Urban & Schwarzenberg in Berlin u. Wien.

Tafel XIV. Ergebnisse der gesamten Medizin, VI. Arnold Josefson: Endokrine Drüsen und die Persönlichkeit.

Pseudoepiphysen („Stigma endocrine“).

Verlag von Urban & Schwarzenberg in Berlin u. Wien.

Tafel XV. Ergebnisse der gesamten Medizin, VI. Arnold Josefson: Endokrine Drüsen und die Persönlichkeit.

Fig. 1.

Cutane Adrenalin- und Pituitrinreaktion (mit Wasser- reaktion verglichen).

ARR

Fig. 2. Ein halber Menschentestikel 1921 an einem Kastraten implantiert; später mit Testestabletten behandelt.

1921 (vor). i 1923

Verlag von Urban & Schwarzenberg in Berlin u. Wien.

Endokrine Drüsen und die Persönlichkeit. 288

Der körperlichen, inkretorisch bedingten Un-, resp. Frühreife geht öfters eine

seelische Un-, resp. Frühreife parallel.

` Daß bei gewissen psychischen Störungen Organotherapie wunderbar viel leisten kann, ist schon gesagt worden. Wahrscheinlich ist es nicht zu viel gesagt, wenn ich die geistige Tätigkeit mit der Inkretion in Zusammenhang stelle (Tafel VII). Das Denken und Handeln, die Phantasie wie auch die Energie setzen also höchstwahr- scheinlich eine gewisse Menge gesunder Inkrete voraus. Ist diese Annahme nun richtig und ich berufe mich hauptsächlich auf die Klinik so wird es leicht verständlich, daß es auch ein gewisses inkretorisches, vielleicht zum großen Teile angeborenes Optimum geben muß. Durch das weitere Studium der psychischen Schwächlinge, aber auch durch die Untersuchung des Inkretsystems der psychisch abnorm kräftigen und genialen Menschen kann diese Frage vielleicht erläutert werden. Endlich muß an die gegenseitige Relation zwischen dem vegetativen Nerven- systeme und dem Inkretsysteme erinnert werden. Daß die Erregbarkeit dieses Systemes durch in dem Organismus selbst entstandene Pharmaka, die Inkrete, reguliert wird, steht fest. Über die nähere Mechanik dieser Erregung aber sind die Meinungen verschieden. Erfolgreichere Arbeit auf diesem Gebiete setzt vor allem bessere Kenntnis über die Chemie der Inkrete voraus. Kendalls Entdeckung des Thyrotoxins ist rücksichtlich dieser Frage von der höchsten Bedeutung.

Oft wurde das Wort Reife genannt. Wir sind daran gewöhnt, bei diesem Worte gern an die Geschlechtsdrüsen zu denken. Der Zusammenhang der sexuellen Reife mit dem Inkretsystem liegt aber doch nicht ganz klar. Ich erinnere nur an die interessanten Fälle von Frühreife bei Tumoren in der Nebenniere und in der Zirbel- drüse. Und fortwährend wird wie gesagt darüber gestritten, welche Zellen (die epithelialen oder die interstitiellen) inkretorisch funktionieren. Die Bedeutung der Keim- drüsen für den Organismus ist doch vielleicht etwas unterschätzt worden. Das Studium der Eunuchen (Kastraten) bzw. der vielen bekannten Fälle von sexueller Frühreife sowie die vielen Experimente haben zwar Licht auf diese Frage geworfen; die Deutung der Tatsachen bleibt doch immer schwierig. Unter dem Bilde der Dys- trophia adiposogenitalis kommen Entwicklungsstörungen vor mit verschiedener Genese. Veränderungen der Hypophyse oder solche in der hypophysären Gegend z.B. er- zeugen dieses Krankheitsbild. Ich erinnere weiter an die bekannten Ausfallserscheinun- gen bei den hypophysären Schußverletzungen. Die Deutung der Tatsache wird unter anderm dadurch erschwert, daß man immer mit der Wirkung eines Systems, nicht nur eines Organs rechnen muß. Öfter als man es versteht, werden inkretorische Störungen viel zu einseitig beurteilt. Zwischen den Inkretorganen gibt es einen innigen funktionellen Zusammenhang, welcher auch antagonistisch sein kann. Die Inkretorgane sind voneinander abhängig. Das eine Organ kann das andere an- spornen (hormonale Wirkung); eine gegenseitige Hemmung kann aber auch vor- kommen. Bei dem Ausfalle des einen Organes kann ein anderes kompensatorisch eintreten. Bei den paarigen Organen genügt zuweilen die Hypertrophie des anderen. Bei der thyreogenen Hemmung wurde oft eine vergrößerte und funktionell wahr- scheinlich gesteigerte Hypophyse gefunden.

(Bei dieser Gelegenheit müssen wir uns erinnern, daß eine Organvergrößerung an sich nicht unbedingt ein Zeichen der Hyperfunktion sein muß. Eine Struma der Schild- drüse ist im Gegenteil oft ein Zeichen der Minderwertigkeit (Tafel X). Zufuhr von Schild- drüsenextrakt bringt sogar eine Abschwellung der Struma mit sich. In solchen Fällen fasse ich die Organvergrößerung als ein Zeichen einer funktionellen Anstrengung auf. Bei der Minderwertigkeit des Organes SR es also eine Möglichkeit der Selbstregulation.)

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 25

386 Arnold Josefson.

Aus organotherapeutischen Erfolgen können wir auch auf: ein gegenseitiges Verhältnis zwischen den Inkretorganen schließen. Bei der Amenorrhöe z.B. kann die Pituitrinbehandlung menstruationsfördernd wirken. In schweren Fällen von Hypo- thyreose mit langjähriger Sterilität der Frau kann nach Schilddrüsenzufuhr Fertilität eintreten.

Zwar kann in einigen Fällen auf die Funktionsart gewisser Inkretorgane in- direkt geschlossen werden; es fehlt uns aber noch die Möglichkeit, die Blutdrüsen- formel, den Index incretorius, genau abzulesen. Die Reaktion Abderhaldens ver- sprach mehr, als sie halten konnte.

Durch die Organotherapie, deren Umfang rasch zunimmt und deren Geschichte auf die ältesten Zeiten zurückgeht, wenn sie auch erst durch Brown-Sequards Mitteilungen 1889 wissenschaftlich begründet wurde, kann der inkretorische Zustand wie bekannt stark beeinflußt werden. Wieder stehen wir vor Verjüngungsversuchen durch Eingriffe auf die Keimdrüse!. Bei Tieren konnten Steinach und Sand tat- sächlich einen artefiziellen Geschlechtswechsel ausführen und von verschiedenen Forschern wird über gelungene Testistransplantationen bei Homosexuellen mit einer Umstimmung des Gefühlslebens berichtet (Tafel XV, Fig. 2 zeigt den schönen Erfolg einer Testisimplantation bei einem kastrierten Manne). Der Weg scheint kurz zu der Eugenik, zu Eingriffen in die Inkretion mit rassenbiologischem Ziele.

Es unterliegt keinem Zweifel, daß der ganze Organismus vom Anfange des Lebens bis zum Tode von dem Inkretsystem intim abhängt. Die individuelle Ent- wicklung, die Persönlichkeit, ist in der individuellen Natur dieses Systemes fundiert. Die Inkrete sind gewissermaßen als Träger der sog. Konstitution bezeichnet worden. „Alle Konstitution ist geworden unter dem wesentlichen Einfluß des endokrinen Systemes“ (Hart)... In der Klinik finden wir außerdem Stütze für die Auffassung, daß die sog. Disposition, d.h. die Krankheitsbereitschaft mit dem inkretorischen Zustande in Zusammenhang steht. Inkretorisch gesund zu sein, ist also unschätzbar. Wo die Grenze zwischen dem Kranken und dem Gesunden aber geht, ist unmög- lich zu sagen. Von höchstem Wert wäre es, wie schon gesagt wurde, den Index incretorius bei jeder Person kennen zu lernen. Teilweise ist dies möglich. Durch die klinische Untersuchung, durch anthropologische Methoden nebst Röntgendurch- leuchtungen? bekommt man einen gewissen Begriff von der Wachstumintensität. Sichere Belastungsproben der Inkretorgane besitzen wir aber noch nicht. Die Toleranz gegen Schilddrüsenzufuhr wechselt zwar (und so auch öfters die bisher gebrauchten, nicht standardisierten Organpräparate). Nach meiner Meinung scheint die Abwesen- heit von Nebenerscheinungen bei dem fortdauernden Gebrauche von großen Dosen Schilddrüsenextrakt als ein Zeichen von Hypothyroidie angenommen werden zu. können.

Versuche, den individuellen Index incretorius pharmakodynamisch abzulesen, sind gemacht worden. Sie müssen aber als sehr unsichere bezeichnet werden. Aus der Prüfung der Haut für verschiedene inkretorische Substanzen durch cutane Proben? kann bis- her nur der Schluß gezogen werden, daß der Organismus individuell cutan ver- schiedenartig reagiert. Methoden, die Inkrete in den Körperflüssigkeiten (quantitativ wie qualitativ) zu bestimmen, gibt es keine. Die meisten Inkrete sind ja übrigens chemisch unbekannt.

! Die klassischen Versuche Brown-Sequards ergaben ja eine Verjüngung nach Hoden- extraktinjektionen.

2 Als ein Zeichen der inkretorischen Hemmung, ein stigma endocrine, habe ich das Vorkommen

der Pseudoepiphysen (Tafel XIV) bezeichnet. 3 Josefson, Dermatologische Wochenschrift 1915.

Endokrine Drüsen und die Persönlichkeit. 387

Jede Beurteilung der inkretorischen Funktion wird also, ohne daß wir den durchschnittlichen Index kennen, mehr weniger subjektiv.

Das Bedürfnis des Organismus an normalen Inkreten bei pathologischen Zu- ständen wechselt natürlicherweise. Es ist auch bekannt, daß ein inkretorisch ge- schwächter auf andere Weise auf schädliche Einflüsse reagiert als ein vollständig gesunder Mensch. Diese Verschiedenheit der Disposition, streng persönlich wie sie ist, wird wenigstens teilweise mit dem funktionellen Zustande des Inkretsystems in Zusammenhang gestellt.

Zuletzt eine Frage. Kann die Entwicklung des Inkretsystems und der Index incretorius künstlich beeinflußt werden? Gibt es vielleicht eine Prophylaxe gegen inkretorische Störungen und kann durch diese vielleicht die Persönlichkeit frühzeitig günstig beeinflußt werden? ‚Die Antwort ergibt sich aus dem schon Gesagten. Durch das Fernhalten schädlicher Einflüsse und durch organotherapeutische Eingriffe kann manches vorgebeugt und geheilt werden.

Sowohl endogen wie exogen kann das Inkretsystem frühzeitig geschädigt werden. Es heißt also zuerst, diese Schädlichkeiten soweit wie möglich zu entfernen.

Die Bedeutung der Quantität wie auch der Qualität der Nahrung für die Inkretion besonders während der Entwicklungsjahre, aber auch später, wird heute allgemein anerkannt und mit den klimatischen Einflüssen muß auch gerechnet werden. Es liegen Gründe vor, auch beim Menschen mit einem funktionellen Saisonwechsel der Endokrinie zu rechnen. „Der Frühling ist die Zeit der inneren Sekretion.“

Infektionskrankheiten rufen nicht so selten inkretorische Störungen hervor. (Mc Carrison verlegt die Ursache der Basedowschen Krankheit zu dem er- krankten Darmkanale.)

Psychisches Trauma scheint inkretorische Störungen wenigstens auslösen zu können. Als Beispiele der Folgezustände der Verletzungen der Inkretorgane führte ich schon das Kastratenbild und die Dystrophia adiposogenitalis an.

Endogen muß mit erblichen Anlagen, Rassendifferenzen, eventuell mit dem Einflusse der Konsanguinität der Eltern, mit den Wirkungen der Früh-, resp. Zwillingsgeburt und mit der Überjährigkeit der Mutter gerechnet werden. (Diabetes kommt oft familiär vor, so auch die Schilddrüsenstörungen. Man könnte geneigt sein, an einen ererbten Locus minoris resistentiae zu denken.)

Wie es schon gesagt worden ist, muß zuletzt die embryonale Entwicklung von den mütterlichen Inkreten abhängen und Tatsachen liegen auch vor, welche es höchst wahrscheinlich machen, daß Inkrete von der Mutter auf das Kind durch die Milch übergehen können. Von verschiedenen Forschern und auch von mir wurde es wiederholt betont, wie oft geistige Schwächlinge (Mongoloiden) sowie körperliche solche (Blutdrüsenschwächlinge) von überjährigen Müttern oder von Frauen, welche durch wiederholte Schwangerschaften geschwächt waren, herstammen. Mit der mütterlichen inkretorischen Schwäche scheint ein unabweisbares Risiko für die Kindesentwicklung einzutreten. In diesem Zusammenhange nenne ich den schädlichen Einfluß hereditärer Krankheiten mit der Syphilis an der Spitze. Denn auch zu den Inkretorganen scheint das syphilitische Virus eine gewisse Affinität zu haben. Von Interesse ist es auch zu erfahren, daß unter Geschwistern mit Lues hereditaria in der Anamnese Veränderungen in verschiedenen Inkretorganen auf- treten können und ungleichartige Krankheitsbilder erzeugen können. (Die Rolle einer Zufälligkeit muß immer beachtet werden.) Sogar die Effektivität der antiluischen Be-

25°

388 Arnold Josefson.

handlung soll inkretorisch bedingt sein und von einigen Forschern wird Schild- drüse gleichzeitig mit dem Quecksilber auch gegeben.

Auch während des Fötallebens, während welcher Zeit der Embryo auf das mütterliche Inkretsystem hingewiesen ist, gibt es sicherlich ein inkretorisches Optimum. Die Rolle der Milch als Inkretenträger kann nicht sicher beurteilt werden, verdient aber größere Aufmerksamkeit als früher. Ich erinnere an die bekannte Tatsache, daß das kongenitale Myxödem in der Regel nicht auftritt, solange das Kind von der Mutter gestillt wird. Mutter. und Kuhmilch haben sicherlich, inkretorisch beur- teilt, auch verschiedenen Wert.

Experimentell ist der inkretorische EinfluB auf den Embryo vielleicht am schönsten von Guddernatsch und seinen vielen Nachfolgern "gezeigt worden. Durch Ernährung der Kaulquappen- und Axolotllarven (Hart u. a.) mit verschieden- artigen Inkreten wurden unwidersprochene Einwirkungen auf die Entwicklung und auf die Metamorphose demonstriert. (Organexstirpationen bei den Larven sind auch vorgenommen und die Ausfallserscheinungen studiert worden.) Von anderen Forschern wurde die Nachkommenschaft inkretorisch geschwächter Tiere mit der- jenigen verglichen, welche von Tieren abstammte, die während der Trächtigkeit organotherapeutisch oder in anderer Weise behandelt wurden. Die therapeutischen Einwirkungen auf die Brut fielen günstig aus.

Auch beim Menschen sind Versuche gemacht worden Inkrete von der Mutter auf den Embryo via utero oder durch die Muttermilch zu übertragen. Gute Erfah- rungen über die prophylaktische Jodbehandlung der strumösen Schwangeren in den Strumadistrikten mögen in diesem Zusammenhange angeführt werden.

Seinerzeit schloß ich mich denjenigen Forschern an, welche forderten, daß in schilddrüsenschwachen Familien die Mutter während der Schwangerschaft mit Schilddrüse behandelt wird.

Zwar ist es viel zu frühzeitig ein Urteil über den Wert dieser prophylakti- schen Behandlung zu fällen. Theoretisch wenigstens scheint es mir höchst wahr- scheinlich, daß man in dieser Weise die Kindesentwicklung in guter Zeit günstig beeinflussen kann.

Wie aus meinen Bildern Tafel IV—X und Tafel XII, Fig. 1, hoffentlich zu ersehen ist, gibt es eine Menge Entwicklungsstörungen verschiedener Art, welche organo- therapeutisch mit schönem Erfolge behandelt werden können. Die geradezu specifische Wirkung gewisser Inkrete ist ein schon lange sicherstehendes Ergebnis.

Das Ziel der modernen prophylaktischen Jodtherapie gegen Struma ist eine Ausrottung derselben. Durch eine Strumaprophylaxe während der Kinder- und Wachs- tumsjahre kann die Insuffizienz der Schilddrüse vielleicht vorgebeugt und dadurch eventuelle Entwicklungsstörungen vermieden werden.

Es unterliegt keinem Zweifel, daß viele heilbare Fälle von Störungen der Inkretion gar nicht oder zu spät entdeckt werden. Leider möchte ich sagen. Eine erfolgreichere Bekämpfung der inkretorischen Störungen setzt bessere Kenntnisse bei den Ärzten voraus. Die Rolle der schulärztlichen Institution muß mehr betont werden und es muß von den Schulärzten eine besondere Ausbildung in den Ent- wicklungsstörungen gefordert werden. (Es scheint mir lächerlich, daß man in ge- wissen Schulen die ärztliche Leitung Ärzten anvertraut hat, welche Kinderpraxis überhaupt nicht üben).

Auf Grund des hier Mitgeteilten scheint es berechtigt auszusprechen, daß die Persönlichkeit von dem Inkretsysteme intim abhängt. Es gibt ein inkretorisches,

Endokrine Drüsen und die Persönlichkeit. 389

individuelles, noch unbestimmbares Optimum. Je näher diesem Optimum der Orga- nismus sich befindet, desto normaler die körperliche und seelische Entwicklung, desto kräftiger die Abwehrkräfte gegen innere und äußere Schädlichkeiten.

Das Inkretsystem bestimmt zum großen Teile die Persönlichkeit, und inkre- torische Störungen sind besonders während der Entwicklungsjahre von der größten Bedeutung und Gefahr. (Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß funktionelle Steigerung einzelner Inkretorgane auch entwicklungsbefördernd sein kann.) Wie viel die Inkretion für die Persönlichkeit aber bei dem Vergleiche mit anderen Faktoren bedeutet, ist unmöglich zu sagen. Der ganze Habitus steht unter dem Einflusse der Inkretion. Die Wachstumgeschwindigkeit steht in inniger Beziehung zu dem Inkretsysteme. Besonders die Klinik gibt einwandfreie Stütze für die Lehre von der Beziehung der Persönlichkeit zu diesem Systeme. Auf indirektem Wege sind wir zur richtigen Auffassung gewisser Fragen von den Funktionswechslungen in den inkretorischen Organen gekommen.

Verschiedene Entwicklungsstörungen, welche dem Individuum eine persönliche Eigenart geben, können erfolgreich behandelt werden. Die körperliche wie die seelische Reife ist von dem Zustande des Inkretsystems abhängig und kann organo- therapeutisch zuweilen merkbar beeinflußt werden. Je früher die inkretorischen Störungen entdeckt werden, um so viel besser. Mit größter Wahrscheinlichkeit kann sogar die embryonale Entwicklung via der Mutter beeinflußt werden.

Auf die kindliche Entwicklung muß fortwährend acht gegeben werden und Abweichungen von dem Normalen besser als bis jetzt beobachtet werden. Die Rolle der Hausärzte ist in dieser Hinsicht größer, als man es heute anerkennt.

Wenn in der Zukunft die inkretorische Formel genau bestimmt werden kann, werden wir auch bessere Auskünfte über die Art der Persönlichkeit gewinnen. Das weitere Studium der Inkretion gehört zu den allerwichtigsten medizinischen Auf- gaben, die es gibt.

Cyclothymie. Von Friedrich Mauz, Tübingen. Mit 4 Abbildungen im Text.

L Die Cyclothymie, eine Unterform des manisch-depressiven Irreseins.

Der manisch-depressive Formenkreis hat seit seiner ersten Aufstellung durch Kräpelin mancherlei Umwandlung erfahren, in erster Linie Erweiterungen nach den verschiedensten Richtungen. Eine Fortbildung des manisch-depressiven Irre- seins nach der Seite des Psychopathischen und Normalen bedeutete die Heraus- hebung der Cyclothymie. Wilmanns, der dieses Krankheitsbild unter Anlehnung an Kahlbaum und Hecker ausführlich darstellte, will darunter die leichtesten Formen manisch-depressiver Temperamentsverstimmungen verstanden wissen, deren Kurve sich im allgemeinen nur in seichten Wellenschlägen von der Normallinie entfernt, ohne für gewöhnlich die Höhe der Geisteskrankheit zu erreichen. Die Ab- grenzung dieser im allgemeinen leicht verlaufenden Verstimmungszustände von den eigentlich manisch-depressiven Psychosen entsprach einem praktischen Be- dürfnis. Die Schwierigkeit der Umgrenzung lag von Anfang an weniger nach der Seite des Circulären als nach der Seite des Psychopathischen und Nervösen. Die meisten Stimmungsanomalien zeigten Neigung zu periodischem Auftreten und schienen so einen gewissen Anspruch auf Einreihung in den erweiterten manisch- depressiven Formenkreis zu haben. Als Specht dann Krankheitsbilder. wie Paranoia und Querulantenwahn in das manisch-depressive Irresein einzureihen versuchte, verzichtete man auch auf die Periodizität als typisches manisch-depressives Merkmal, wie man schon vorher die Forderung der Heilbarkeit aufgegeben hatte. So schien allmählich die Cyclothymie in der großen Gruppe des Entartungsirreseins aufzu- gehen, d. h. ihre Abgrenzung war mehr oder weniger der Willkür des einzelnen überlassen. Homburger weist mit Recht darauf hin, daß die Diagnose der Cyclo- thymie teils eine Bequemlichkeitsdiagnose, teils eine Frage der Sympathie oder Antipathie wurde: „Die Cyclothymie ist eine sympathische Erkrankung. Sympathische Hysterische und Psychopathen werden gerne als Cyclothyme abgestempelt; der auf manisch-depressive Symptome nicht näher betrachtete nörgelnde, lästig fallende Mischzustand wird ebenso gern der Hysterie zugewiesen.“

Französische Autoren sprachen sich dann eindeutig dahin aus, daß der . Cyclothymiebegriff eine Zusammenfassung aller mit Stimmungsschwankungen über- haupt einhergehenden Veranlagungen sei. Klinische Sammelbegriffe, wie Neu- rasthenie, Psychopathie, Hysterie, konstitutionelle Verstimmung, selbst Epilepsie, schillertten allmählich bunt ineinander. Die häufige Durchmischung und Über- lagerung cyclothymer Verstimmungen mit körperlichen Beschwerden, auf die Wilmanns, Römheld u. a. besonders hingewiesen haben, brachte eine Reihe Autoren zu der Ansicht, daß sehr viele Cyclothymien eigentlich als Neurosen zu werten seien. Friedmann u. a. sprechen von Übergängen zwischen Neurose und

Cyclothymie. 391

Psychose!. Auch nach der Seite des Paranoids bestehen zweifellos Übergänge. Gaupp hat in seiner Darstellung der abortiven Paranoia auf eigenartiger depressiv-paranoischer Veranlagung Fälle geschildert, die das Randgebiet des Charakterologischen und Psycho- tischen, die fließenden Übergänge vom Depressiven zum Paranoid und zur Zwangs- neurose eindrucksvoll beleuchten. Damit war von neuem eindringlich auf die Bedeutung der Veranlagung für das Verständnis des krankhaften Seelenlebens hingewiesen.

Angeregt durch Gaupp versuchte dann Reiß in einer gründlichen Studie die verschiedenartigen, dem Entartungsirresein angehörigen Depressionszustände und die circulären Psychosen nach der individuellen charakterologischen Veranla- gung und deren Beziehung zu Verlauf und Eigenart in einzelne Gruppen zu sondern. Reiß schildert eine lange Kette von Krankheitsbildern, von den einfachen reaktiven Verstimmungen bis zu den echten circulären Psychosen. Nach allen Seiten muß er Beziehungen und fließende Übergänge feststellen, nach der Seite des Geisteskranken ebenso wie nach der hysterischen und psychopathischen Veranlagung hin. Gerade bei der Gruppe der konstitutionellen Verstimmungen konnte Reiß eingehend zeigen, wie diese auf der einen Seite zu den hysterischen Psychosen, auf der anderen zu den endogenen periodischen Verstimmungen und weiterhin zu den echten circulären Psychosen eine kontinuierliche Reihe bilden. Die Einteilung und Umgrenzung der verschiedenen Temperamentsverstimmungen war so immer mit mancherlei Schwierigkeiten verknüpft; vor allem hatte man in manchen Fällen keine Möglichkeit, über ihre Zugehörigkeit zum circulären oder schizophrenen Formkreis etwas Sicheres auszusagen.

IL Der cyclothyme Konstitutionskreis.

Wir haben im ersten Abschnitt zu zeigen versucht, wie die Cyclothymie aus dem Bedürfnis entstanden ist, die Abortivformen manisch-depressiver Psychosen, wie sie in den leichten Temperamentsverstimmungen zutage treten, und ihre zahl- reichen Varianten bis in die psychopathischen Persönlichkeiten hinein von den aus- gesprochen circulären Psychosen abzutrennen. Je mehr die Literatur über dieses anfangs einigermaßen wohl umschriebene Krankheitsbild anwuchs, desto größer wurden die Schwierigkeiten, die Grenzen des circulären Formenkreises klar aufzu- zeigen. Symptome wie Periodizität oder depressive Verstimmung genügten, um die Zugehörigkeit zu dem immer größer werdenden circulären Formenkreis zu erweisen und als wenn auch noch so seichte Variante einer manisch-depressiven Psychose zu gelten. Wir hatten eine Schilderung: der manischen und depressiven Verstim- mung, aber wir hatten keine Grundlagen für die Zeichnung der Persönlichkeits- typen des circulären Gesamtgebiets. Es fehlte die umfassende Idee für all die Spiel- arten einer manisch-depressiven Persönlichkeit, es fehlte vor allem nach Kretsch- mers eigenen Worten „das breite charakterologische Verbindungsstück zwischen dem, was man hypomanisches, und dem, was man konstitutionell depressives Tempera- ment nennt; die Schilderung der Menschen in der Stimmungslage zwischen hypo- manisch und depressiv, soweit sie zum circulären Formenkreis in Beziehung stehen, und damit die Heraushebung der dem Hypomanischen und dem Depressiven, somit dem ganzen circulären Formenkreis gemeinsamen Temperamentszüge“.

Diese Zusammenfassung und zugleich Herausstellung des einzelnen Krank- haften in den großen Kreis allverbreiteter biologischer Konstitutionsgruppen hat uns Kretschmer in seinem bekannten Buch „Körperbau und Charakter“ gegeben.

1 Diese atypischen Fälle führten zur Aufstellung der „neurasthenischen Melancholie“ Friedmanns und der „Hysteromelancholie« Spechts.

392 Friedrich Mauz.

Kretschmer ging den umgekehrten Weg; er schuf den schizothymen und cyclothymen Konstitutionskreis, in dem die jeweilige Psychose nur „als Karikatur bestimmter normaler Persönlichkeitstypen“ erschien. Wir fragen uns, auf welchem Wege Kretschmer zur Aufstellung dieser beiden Konstitutionskreise kam. Kretsch- mer verschaffte sich auf dem Wege der Statistik einen Überblick über die häufig- sten und immer wiederkehrenden Temperamentsmerkmale manisch-depressiver Patienten. Aus ihrer Zusammenstellung entstanden:

die cyclothymen Temperamente.

Der Ausdruck „cyclothym“ ist hier nicht wie im bisherigen Sprachgebrauch als Bezeichnung für die leichteren Grade einer circulären Psychose aufzufassen, sondern als allgemeiner Konstitutionsbegriff, der die den circulären Psychosen ent- sprechenden Menschen, u. zw. kranke und gesunde gleichermaßen umfaßt. Die Über- gangsformen zwischen krank und gesund sind dann die cycloiden. Für sie gilt die diathetische oder Stimmungsproportion. Kretschmer bezeichnet damit die ver- schiedenen Mischungsverhältnisse hypomanischer und depressiver Komponenten, wie sie in der cyclothymen Einzelpersönlichkeit vorkommen. Der Hypomanische kann auch einmal traurig sein und umgekehrt ebenso. Trotzdem werden wir, der fließenden Übergänge uns bewußt, drei Gruppen unterscheiden können, u. zw.:

1. die hypomanischen Temperamente;

2. die syntonen! Temperamente;

3. die schwerblütigen Temperamente.

Als die Grundmerkmale aller 3 Gruppen haben wir bestimmte Eigenschaften, die den Heiteren und ebenso den Schwerblütigen gleichermaßen auszeichnen. Diese Menschen sind vorwiegend gesellig, gutherzig, freundlich, gemütlich.

Was nun die rein hypomanischen Temperamente anbelangt, so hat ja Kretsch- mer bereits durch seine diathetische Proportion angedeutet, daß sie alle einen Schuß Schwerblütigkeit in sich haben. Im übrigen sind sie die lebensfrischen naiven Egoisten, haben eine natürliche wohltuende Freude an allen „guten Gaben“ des Lebens, wie Essen und Trinken, sie sind die geborenen Lebensgenießer. Die Arbeit geht ihnen flott und sicher; von sich selbst sind sie überzeugt, sie sind von einer er- staunlichen Vielseitigkeit. Diese hypomanischen Temperamente haben nun fließende Übergänge vom flotten bis zum stillvergnügten warmen sonnigen Typ.

Auch bei den Schwerblütigen fühlen wir das Gutherzige, Freundliche und Gemütliche immer wieder durchschimmern. Sie sind traurig, aber meist nicht nervös verstimmt, sie sind weich und aussprachebedürftig, die Tränen kommen ihnen leicht. Freud und Leid müssen sie langsam verarbeiten,‘ alles geht tief. Hierher gehören auch die schwerfälligen, etwas ängstlichen Naturen, sie haben von sich aus wenig Verkehr, leben meistens beschaulich in der Stille. Sie gelten leicht als schizoid. Kommt man mit ihnen zusammen, so ist man erstaunt, wie natürlich und umgäng- lich sie sind und mit welch humorvoller und sorgender Liebe sie ihren Mitmenschen gegenüberstehen.

Von den Menschen der Stimmungsmittellage, für die wir Bleulers Ausdruck „synton“ gebrauchen möchten, sagt Kretschmer, daß gerade bei ihnen das Ge- sellige, Menschenfreundliche, Realistische und Anpassungsfähige besonders schön

ı Bleuler möchte die Bezeichnung „Syntonie“« überhaupt an die Stelle des Ausdrucks „Cyclo- thymie“ setzen. Wir schlagen in Übereinstimmung mit Kretschmer vor, diese Bezeichnung speziell für die Stimmungsmittellagen zu wählen, wofür sie ausgezeichnet paßt. Für den ganzen Konstitu- tionskreis möchten wir die Bezeichnung cyclothym beibehalten, um schon durch die Wahl des Wortes die biologische Zusammengehörigkeit des Gesunden und des entsprechend Krankhaften klar aufzuzeigen.

Cyclothymie. 393

zu sehen ist. „Weil ihr Temperament mit dem Milieu mitschwingt, gibt es für sie keinen schroffen Gegensatz zwischen Ich und Umwelt, kein prinzipielles Ablehnen, kein starres Korrigierenwollen nach festgefaßten Richtlinien, keinen tragisch zu- gespitzten Konflikt, sondern ein Leben in den Dingen, ein Aufgehen in den Dingen, ein Mitleben, ein Mitfühlen, Mitleiden.“ Ich benütze hier die wörtliche Schilderung Kretschmers, weil sie in unnachahmlicher Weise eine Idealzeichnung der Syntonie Bleulers gibt. Wir brauchen nur kurz noch einige Typen zu nennen, um den Kreis der cyclothymen Temperamente schließen zu können. Da sind die geschwätzig Heiteren, die ruhigen Humoristen, die stillen Gemütsmenschen, die bequemen Ge- ‚nießer, die tatkräftigen Praktiker. Das sind die Menschen des täglichen Lebens, die in ihrer Temperamentsanlage und, wie wir gleich sehen werden, auch im Körper- bau mit den manisch-depressiven Kranken vorwiegend übereinstimmen.

Der cyclothyme Konstitutionskreis ist durch die Schilderung der cyclothymen Temperamente keineswegs erschöpft. Kretschmer fand, daß zwischen der seelischen Anlage manisch-depressiver Kranker und einem bestimmten Körperbautypus, den er den pyknischen nennt, eine deutliche biologische Affinität besteht.

Die cyclothyme Körperkonstitution.

Seit dem Erscheinen der ersten Auflage von Kretschmers „Körperbau und Charakter“ sind eine Reihe von Nachuntersuchungen zum Körperbauproblem durch- geführt worden, deren Prozentzahlen nachfolgende Tabelle zeigt.

Tabelle I. Be del g |82] 25E | gls] 5 |, 8 APR: SIDEC EN EE E Se Bon See GE vie 18 BS) "e SS Sei BEI akj 05” EE SREL 32 |858 to |258| 586| 588 alte ss | 2 | sP EE eg |205| 33 | eggs 52 xog x arlo Js | ZE |s 2122| a Schizophrene

asthenisch-athletisch | 70:3 . 6T% | 64:8 | 59:3 |86 |542] 66 745| 747| 723 dysplastisch . . . | 19:4 | 20:5 93 | 72|108|11 |125 64| 82| 155

nur Sa pyknisch .. . . - 2'9 en | 232 232|229| 2 |149| 4| 4S] 184| 109| 68

einzelt >g

E ES

Circuläre ar E asthenisch-athletisch | 10°6 Sec 166 15:2 |301| 83| 12 258 12:1 dysplastisch ..] 0 Tezej 0 0/0710 0 0 pyknisch .... . 847 "sc 833 845 1576[875| 77 142 84:6

Alle sind sich darüber einig, daß der pyknische Körperbau bei den Circulären, die asthenisch-athletische Gruppe bei den Schizophrenen stark vorwiegt. In ihren prozentualen Zahlenangaben sind die einzelnen Ergebnisse zum Teil untereinander etwas verschieden, Abweichungen, die sich großenteils durch die verschwimmenden Übergänge unserer klinischen Diagnosen erklären lassen.

Der pyknische Körperbau ist gekennzeichnet durch die starke Umfangsent- wicklung der Eingeweidehöhlen (Kopf, Brust, Bauch) und die Neigung zum Fett- ansatz am Stamm, bei mehr graziler Ausbildung des Bewegungsapparates (Schulter- gürtel und Extremitäten). Bleiben wir bei unserer Betrachtung zunächst beim Rumpf,

394 Friedrich Mauz.

so ist hier die Brustschulterproportion das am meisten Charakteristische, abgesehen von der Art des Fettansatzes: das Verhältnis von der mäßigen Schulterbreite zu dem großen Brustumfang wie 200: 048 springt sofort in die Augen; beim athleti- schen Typ dagegen ordnet sich der mächtig beherrschenden Schulterbreite der Brustumfang unter (39°9:91'7).. Der Fettansatz der Pykniker hält sich in mäßigen Grenzen, er tritt hauptsächlich am Stamm auf, bei den Männern vorwiegend als kompakter Fettbauch. Die Fettsucht des Pyknikers muß scharf unterschieden werden von der gewisser dysplastischer und dysglandulärer Typen, die in keiner Weise etwas mit der pyknischen Körperkonstitution zu tun haben. Es ist überhaupt gänz- DS = a = zen = nischen Habitus aus der Stärke

ch Fettablagerungen stellen zu : wollen. Auch ohne das Vorhan- densein eines stärkeren Fettan- satzes ist die Diagnose des pykni- schen Habitus erlaubt. Die Glied- maßen sind weich, rundlich, mit wenig Muskel- und Knochenrelief geformt, öfters ganz zierlich, die Hände weich, mehr kurz und breit. Das pyknische Gesicht hat

die Tendenz ins Breite, Weiche, Abgerundete. Die Gesichter älte- rer Pykniker zeigen eine schöne,

ausdrucksvolle - Modellierung. Über dem geröteten Gesicht der große, runde Schädel, breit und tief, aber nicht sehr hoch. Ein Doppelkinn und reichlicher Fett-

ITS

DIRT

N

z fi a

DN Ki 20 |53| 60

EEN

Ze ANN

Be CES EELER _ SB ROH OA SNR ELILT]

e aa 35%

2 DIREREZREDEEE

A

Kopfarbeiter Handarbeiter Kopfumfangskurven.

ansatz an den unteren Wangen- partien vervollständigen das Bild. Das Mittelgesicht zeigt in seinem

Verhältnis zu Stirn, Nase und Kinn eine harmonische Höhe und erzielt dadurch den Eindruck des Ebenmäßigen. Der Frontalumriß der pyknischen Gesichter variiert von der flachen Fünfeckform bis zur ausgesprochenen breiten Schildform, die von den massiven, etwas plumpen Breit- gesichtern der athletischen Typen scharf zu trennen ist.

Es ist mir schon von mancher Seite gesagt worden, die Körperbaudiagnostik sei doch eine etwas mühsame und schwierige Sache und müsse ihrer Umständ- lichkeit wegen den einzelnen Fachkreisen vorbehalten werden. Eines ist richtig: Körperbaudiagnostik muß genau so gelernt und studiert werden wie die neurolo- gischen Untersuchungsmethoden; umständlicher und zeitraubender aber als eine neurologische Untersuchung ist sie sicher nicht. Mit Rücksicht auf die Bedeutung, die die Konstitutionstypen für die Psychiatrie, aber auch für die allgemeine Medizin immer mehr gewinnen, würde die Aufnahme der Körperbaumessung in das Inventar unserer klinischen Untersuchungsmethoden wohl heute schon von manchen Seiten aufs freudigste begrüßt werden. Körperbaudiagnostik im allgemeinen nur nach dem optischen Eindruck zu betreiben, ist Stückwerk und hat keinen Anspruch auf wissen- schaftliche Gültigkeit.

Cyclothymie. 36

Im folgenden gebe ich die von Kretschmer! zusammengestellten Häufigkeitskurven einiger wichtiger Körpermaße wieder, da sie auf ein-. fache Weise charakteristische Unter- schiede zwischen dem Körperbau der Circulären und Schizophrenen dar- stellen.

Fig. 88 (s. p. 394) zeigt uns, wie die Kurve der Circulären gegen- über der der Schizophrenen sich in charakteristischer Weise nach rechts, d.h. nach den höheren Kopfumfangs- werten hin verschiebt. Die Eintei- lung der Kurve in 3 Abschnitte, die die kleinen (unter 55 cm), mitt- leren (zwischen 55 und 56 cm) und großen (über 56 cm) Kopfumfänge von einander trennt, ergibt das Ver- hältnis klein : mittel: groß = 2'9 : 20) :710% bei den Circulären, dagegen 260:397:343% bei den Schizo- phrenen.

Fig. 89, die Brustumfangskurve, zeigt wiederum die charakteristische Rechtsverschiebung der circulären und diesmal auch Linksverschiebung der schizophrenen Kurve. Das Ver- hältnis enger: weiter Brustumfang ist also ganz charakteristisch: bei den Circulären ungefähr !/,:3/, dagegen bei den Schizophrenen gerade um- gekehrt ungefähr ?/,: 1/3.

Bei Fig. 90, den Kurven der Schulterbreiten, sieht man, daß hier eine wesentliche Verschiebung nicht eintritt. Die Pykniker erheben sich eben mit ihren Umfangmaßen, nicht aber mit ihrer Schulterbreite stark über die Astheniker.

Fig.91 ist eine Darstellung des Pignetschen Konstitutionsindex,

I Kehrer u. Kretschmer: „Die Ver- anlagung zu seelischen Störungen.“ Berlin, Springer. Monographien aus dem Gesamt- gebiet der Neurologie und Psychiatrie. (Er- scheint in diesem Jahre.)

2 In Fig. 89 u. 91 sind die Jugendlichen

unter 30 Jahren) schraffiert. Die Älteren (über `

Jahre) schwarz. Man sieht, daß die Kon- stitutionsunterschiede in beiden Lebensaltern je dieselben sind.

TI SHauna og Tai >sa ELTEIEKTERTLINTERER

Fig. 89, | č engr | weiter pi CTC. 2497 fa 76,3 Ss

N

W.

ba Ei AZ WK eege

Sehtz.

33, 7 %

G A P

N EN

Brustumfangsku rven2.

N

Fig. 90. (CETE.

%

Se ER E

SEBES P

KE

A|,

EYYE VV ap E A EI EI EI S

28 |29 ae 137 |52 ]»s Las |35 |30 |37 Las |39 [#0 [7 |5

Bess,

EE g NN

g TNL S S NANNAN

'

EEN NN

NLL LLL

II NN

G

A A A BE EN A A Es gggaagagdd

Kurven der Schulterbreiten.

NN

BELIIIIESTETSHEERLTTIUTULIBEIOCKEITCOI EITERTEE

E AIINS

Be "A

396 | Friedrich Mauz.

bei dem die Summe von Brustumfang und Gewicht von der Körpergröße ab- gezogen wird. Dadurch entsteht ein ungefähres zahlenmäßiges Bild von der größeren oder geringeren Körperfülle einer Person. Auch hier die Rechtsverschiebung der Circulären nach den sehr voluminösen Körperformen zu, und die Linksverschiebung der Schizophrenen nach den grazilen Körperformen.

Die Betrachtung der Kurven zeigt, wie wir aus den Hauptmaßen bereits wieder das Grundgerüst der Körperbautypen gleichsam synthetisch gewinnen können.

Neben der Messung ist die exakte diagrammäßige Beschreibung von großer Wichtigkeit. Gerade die Schilderung der Körperoberfläche, worunter wir im wesent- lichen Haut, Gefäße und Behaarung verstehen, ist für die feinere Diffe- renzierung der Konstitutionstypen unerläßlich.

Die cyclothyme Konstitution kann nun die verschiedenartigsten Überkreuzungen und Legierungen mit heterogenen Konstitutionsfak- toren eingehen, die für die klinische Psychopathologie von größter Be- deutung sind.

Zu den vollkommenen Über- kreuzungen rechnen wir die Fälle, bei denen ein cyclothymer Charak- ter asthenischen oder athletischen oder ein schizoider pyknischen Habi- tus aufweist. Beide Konstitutions- formeln treffen wir unter unserem Psychosenmaterial dann und wann, wobei dann die jeweilige Psychose durch die zu grunde liegende Konsti- tution im Symptombild und Ver- ` lauf ihr ganz bestimmtes Gepräge erhält. Auch unter den Gesunden sind diese vollkommenen Über- kreuzungen leicht zu finden. Neben den nicht gerade häufig vorkommenden Über- kreuzungen haben wir die große Zahl der körperbaulichen und charakterologischen Mischformen, deren biologisches und klinisches Studium man sich in letzter Zeit hat besonders angelegen sein lassen. Aus einer großen Zahl von mehreren 100 Körperbau- diagrammen habe ich mühelos und ohne Zwang vom pyknischen bis zum astheni- schen Typ mehrere Gruppen herausstellen können, deren Abgrenzung trotz der fließenden Übergänge leicht und zweckmäßig ist. Denn eine feinere konstitutionelle Differenzierung ist gerade für exakte klinische Untersuchungen unerläßlich. Wir unterscheiden folgende Gruppen: der reine pyknische Typ, die pyknischen Misch- formen, die pyknisch-athletische und pyknisch-asthenische Mischgruppe, die astheni- schen Mischformen und die reine asthenische, athletische und dysplastische Gruppe.

Die pyknischen und asthenischen Mischformen sind die vorwiegend pykni- schen oder vorwiegend asthenischen. Sie sind bei einiger Schulung leicht zu dia- gnostizieren. Wir kennen bestimmte Prädilektionsstellen für das Auftreten von heterogenen Konstitutionseinschlägen. So vor allem Behaarung (in erster Linie Art

Fig. 91.

EE

f

Pignetscher Konstitutionsindex.

Cyclothymie. 397.

und Weise des Haaransatzes am Schädel), Vasomotorium und Länge und Form von Hand und Nase. Unter den pyknischen Mischformen kehren folgende Formen immer wieder: ein breites, weiches, rundes Gesicht, blühend rot, stattliche Körperfülle, der Gesamteindruck also vorwiegend pyknisch, nur das buschige und an Stirn und Schläfe tief hereinwachsende Haupthaar ist uns ein feiner Index für heterogene Konstitutionseinschläge. Bei einem anderen Pykniker die schmale, feingliedrige und stark cyanotische Hand, die fahle, blasse Gesichtsfarbe mit unreiner, derber Haut oder die langgezogene, dünne spitze Nase. Oder über einem schönen pyknischen Gesicht wölbt sich ein leichter Blasen- oder Turmschädel.

In der Mittelgruppe finden wir die Formen, bei denen z. B. der Kopf ganz vorwiegend pyknisch, der Rumpf vorwiegend asthenisch oder athletisch erscheint. Die Legierung pyknisch-athletisch ist prozentual häufiger als die pyknisch-asthenische.

Bei den asthenischen Mischformen sehen wir die pyknische Komponente öfters nur noch durch das Vasomotorium vertreten. Es sind vorwiegend Astheniker und Athletiker, aber sie haben die schöngerötete Gesichtsfarbe vielleicht mit einer stark in die Länge gezogenen Fünfeckform des Gesichts und einer breiten, weichen, runden Hand. Im großen cyclothymen Konstitutionskreis können wir nun alle Typen vom pyknischen, der prozentual stark überwiegt, bis zum asthenischen Habitus aufweisen. Sehr bemerkenswert ist, daß sich im reinen manisch-depressiven Formenkreis so gut wie keine ausgesprochen dysplastischen oder eunuchoiden Typen finden.

Il. Untergruppen und Randgebiet!.

Die Heraushebung und Zeichnung der cyclothymen Temperamente und ihrer affinen Körperkonstitution gibt uns neue Möglichkeiten einer sinnvollen und unge- zwungenen Gruppierung und Umgrenzung der „Cyclothymie«. Die Cyclothymen und die Cycloiden, d. h. die zwischen krank und gesund fluktuierenden Persön- lichkeiten, spiegeln die psychologischen Grundsymptome der circulären Psychose in dem leichteren Grade einer Persönlichkeitsspielart wieder. Die Gesamtheit aller rein cyclothymen Temperamente liegt zwischen dem hypomanischen und dem schwerblütigen Typus; die Mittellagen, die zwischen beiden Polen liegen, sind gegenüber diesen Typen selbst wohl in der Mehrzahl. In der cyclothymen Kon- stitution haben wir also den reinen Kern der Temperamentsverstimmungen, die zum circulären Formkreis nähere Beziehungen haben. Der cyclothymen steht die schizothyme Konstitutionsform gegenüber, die im asthenischen, athletischen und dysplastischen Habitus ihre affinen Körperkonstitutionen hat. Die Durcharbeitung eines großen und vielseitigen Materials mit der kombinierten Methode einer ver- gleichenden Betrachtung des somatischen, psychischen und hereditären Konstitu- tionsaufbaues, wie sie an der Tübinger Klinik durchgeführt wird, scheint mir auch für die Klärung und Reinigung des Cyclothymiebegriffes wertvolle Hinweise zu geben. Über die Arbeitsmethode ist bereits das Nötigste gesagt. Eingangs jeder kon- stitutionellen Betrachtungsweise muß ausdrücklich betont werden, was Kretschmer schon klar gesagt hat: „Körperbau und Psychose stehen nicht in einem direkten klinischen Verhältnis zueinander. Der Körperbau ist nicht ein Symptom der Psychose sondern: Körperbau und Psychose, Körperfunktion und innere Krankheit, gesunde Persönlichkeit und Heredität sind jedes für sich Teilsymptome des zu grunde

! Die Ausführungen dieses Abschnitts fußen zum Teil auf klinisch-konstitutionellen Unter- suchungen, die ich an einem großen und vielseitigen Klinik- und Anstaltsmaterial durchführen konnte. Unabhängig von der klinischen Diagnosestellung und ohne Kenntnis derselben wurden die Körperbaudiagramme schriftlich festgelegt. Ich werde an anderer Stelle über diese klinisch-konstitu- tionellen Untersuchungen ausführlich berichten.

398 Friedrich Mauz.

liegenden Konstitutionsaufbaus, zwar untereinander durch affine Beziehungen ver- knüpft, aber nur im großen Zusammenhang aller Faktoren richtig zu beurteilen.” Das Folgende ist ein Versuch einer konstitutionellen Darstellungsweise der „Cyclo- thymie« und ihrer Randgebiete. e

Unter den mehr heiteren cyclothymen Temperamenten gibt es alle Übergänge vom flotten bis zum stillvergnügten Typus. Die gemäßigten Formen, heitere, liebens- würdige, sonnige, bewegliche und gesellige Leute, aber sozial vollkommen be- sonnen und unauffällig, finden wir häufig im Umkreis circulärer Familien. Be- stimmte Berufsarten sind unter den reinen hypomanischen Temperamenten mit Vor- liebe vertreten, z. B. Rechtsanwälte, Kaufleute, Journalisten, Direktoren, überhaupt Männer des realen Lebens. Sie kommen im allgemeinen nicht in die Behandlung des psychiatrischen Facharztes, dagegen sind sie in der Sprechstunde des internen Arztes eine bekannte Erscheinung. Otfried Müller spricht von dem „kleinen, dicken Hypomanicus, der bei jeder Gelegenheit in rasch aufbrausendem, freilich auch rasch wieder verfliegendem Zorn seinen roten Kopf bekommt". Die soziale Wertung des Hypomanischen hängt, wie Kretschmer betont, sehr von der kom- pensierenden Legierung des hypomanischen Elements: mit den anderen Charakter- eigenschaften in der Erbanlage ab; dann natürlich auch von Erziehung und Milieu. Schwere soziale Entgleisungen haben wir unter den reinen Hypomanischen nicht gefunden; immerhin fallen sie nicht selten der Trunksucht und Verschwendung an- heim. Es empfiehlt sich nochmals mit wenigen Strichen das Gesamtkolorit der pyknischen Hypomaniker anzudeuten, um desto leichter späterhin die grundlegenden Unterschiede der überkreuzten und gemischten Typen zu verstehen.

Der pyknische Hypomaniker „weiß nicht, was Nerven sind“. Offen, gerade sagt er frei heraus, was ihm nicht paßt. Er kann auch einen kräftigen Spaß ver- tragen. Empfindlichkeit und Intrige, alles starr Konsequente, Überspannte, Fanati- sche sind ihm fremd. „Vielgeschäftig, umtriebig, unternehmend“ kennt er keine ge- reizte Übermüdung, natürlich und selbstverständlich nimmt er die Menschen und die Verhältnisse, wie sie sind, weiß allem und jedem im Leben die gute und ge- mütliche Seite abzugewinnen; die mehr negativen Seiten sind rasch verfliegender Jähzorn, Oberflächlichkeit und naive Taktlosigkeit.

Dem reinen Hypomaniker mit pyknischer Körperkonstitution steht ein anderer aller- dings weit seltenerer hypomanischer Typ gegenüber, der bei aller Ähnlichkeit doch ein wesentlich anderes Kolorit bietet. Rein äußerlich fallen diese Typen dem guten Beobachter durch ihre andersartige Körperkonstitution auf. Es sind nicht die kleinen, dicken und runden Typen mit dem roten Kopf und der ausdauernden Beweglichkeit, sondern meist lang aufgeschossene, schmale Menschen mit einem hohen, schmalen Kopf, einem scharf geschnittenen Gesicht oder auch kleine, zarte, infantile Geschöpfe mit einem bartlosen Kindergesicht und allerlei dysgenitalen Stigmen im körperlichen Habitus. Neben diesem asthenischen findet sich auch gelegentlich athletischer Habitus. Diese asthenischen oder athletischen Hypomaniker, also richtige überkreuzte Typen, sind trotz ihres relativ sehr seltenen Vorkommens für den Arzt überaus wichtig, der bei diesen Naturen mit der Diagnose einer einfachen Cyclothymie oder Hypomanie sehr vorsichtig sein muß. Zwar zeigen sie wie der reine Hypomaniker die un- ruhige Beweglichkeit, die gehobene Stimmungslage, die leicht ideenflüchtigen Ge- dankenreihen, aber bei feinerer Beobachtung sieht oder fühlt man in dem scheinbar rein hypomanischen Bild nun doch eine gewisse Färbung oder Dissonanz, die sich nicht in das rein pyknisch-hypomanische Temperament einfügen läßt. Schon der Blick solcher Menschen entbehrt das Offene, strahlend Heitere, dagegen ist er

Cyclothymie. 399

leicht unruhig, flackernd, verlegen, ausweichend. In der Redeweise fallen Anklänge von Maniriertheit auf, im Wesen etwas Gekünsteltes, Überspanntes und Fahriges, in der Haltung oft etwas Steifes, Ungemütliches. Wie die meisten Hypomaniker haben auch sie ihre depressiven Tage und Wochen. Doch sind sie dann viel weniger traurig als nervös, gereizt-verstimmt, mißmutig und launisch. In ihrer Anamnese finden wir vielfach Angaben über sexuelle Anomalien, langdauernde Pubertätskonflikte oder allgemeine Pubertätsentwicklungshemmungen. Die weitere Entwicklung bringt oft Überraschungen. Die scheinbare Cyclothymie oder Hypomanie kann in ein chronisches Stadium mit allmählich sich einschleichendem Defekt oder aber auch in sichere Schizophrenie übergehen. | |

Eine andere ebenfalls seltene, aber wichtige Variante vorwiegend hypomani- scher Stimmungslage bei asthenischer oder athletischer Körperkonstitution zeigt auffallend flegelhafte, stark an die Pubertät erinnernde Züge. Sexuelle Haltlosigkeit und Ungeniertheit, taktloses und ungezogenes Benehmen, leicht frivoler und zwei- deutiger Humor, Jähzorn und Brutalität, Faulheit und Arroganz sind weitere Züge, die das Bild dieser hypomanischen Abart vervollständigen. Diese Typen sind kriminell besonders wichtig, scheinen eine Legierung von Schizoid und Hypomanie zu sein und berühren sich in vielen Punkten mit einer bestimmten Gruppe hyste- rischer Persönlichkeiten. Die Untersuchung der geisteskranken, vorwiegend astheni- schen oder athletischen Hypomaniker hat interessante klinische Gesichtspunkte, vor allem in prognostischer Richtung, ergeben. Wir haben bereits erwähnt, daß diese Typen, wenn sie geisteskrank werden, mit Vorliebe in ein chronisches Stadium mit Defekt oder in eigentliche Schizophrenie übergehen, ein Verlauf und Ausgang, den ich unter den reinen hypomanischen Pyknikern nie gefunden habe.

Weitere hypomanische Sondergruppen und Übergangsformen sind die Hypo- manien mit Wahnbildung und die querulierenden und krakeelenden Hypomaniker, die eine bestimmte Gruppe des Querulantenwahns bilden und Specht seinerzeit wohl bestimmten, von einer Querulantenmanie zu reden; auch gewisse Erfinder- und Prophetentypen gehören hierher. Die ersteren führen nicht selten die Diagnose „chronische Paranoia“, entsprechen wohl auch dem von Kräpelin geschilderten Krankheitsbild der Paraphrenia expansiva! mit hypomanischem Untergrund und manischer Symptomfärbung. Die konstitutionelle Betrachtung dieser Gruppe gibt interessante Aufschlüsse. Konstitutionell sind es stark legierte Formen, körperlich vielfach reine Pykniker, pyknische Mischformen oder ausgesprochene Mittelgruppen (pyknisch-asthenische, pyknisch-athletische); die Analyse der Heredität ergibt in den meisten Fällen schizophrene Belastung, während die im klinischen Bild, Temperament und Körperbau so deutlich durchkommenden cylcothymen Komponenten in der Heredität meist nicht in Form von belastenden circulären Psychosen, sondern in Form von gesunden, pyknisch-cyclothymen Blutsverwandten erscheinen.

Bei der Umgrenzung der Cyclothymie spielt das Auftreten des paranoiden Syndroms immer wieder eine Rolle; es mag daher angebracht sein, auf einige Gesichtspunkte hinzuweisen, die sich aus unserer konstitutionellen Betrachtungsweise hinsichtlich des endogenen Paranoids ergeben haben. Die paranoiden Veranlagungen und Geistesstörungen stellen konstitutionell gesehen vorwiegend ein Rand- und

! Die expansive Form der Paraphrenie ist nach Kräpelin durch die Entwicklung eines üppigen Größenwahns mit vorwiegend gehobener Stimmung und leichter Erregung gekennzeichnet. Von der Schizophrenie unterscheidet sie sich durch die auch nach vieljähriger Dauer trotz Fort- bestehens der Krankheitserscheinungen auffallend geringe Schädigung der psychischen Persönlichkeit un ee anderm durch die dauernd gehobene Stimmung, das zugängliche, freundliche, natür- iche Wesen.

400 Friedrich Mauz.

Mischgebiet dar, in das von beiden Seiten der cyclothyme und schizothyme Kon- stitutionskreis einstrahlt. Wir können von der pyknischen zur asthenischen Gruppe eine kontinuierliche Reihe des Paranoids bilden, auf der einen Seite zugängliche und aufgeschlossene Typen, von ihrem Wahn nicht völlig überzeugt und einge- nommen, auf der anderen Seite die starren, in sich verbissenen, von ihrem Wahn gänzlich absorbierten, autistischen Formen. Hier interessiert uns nur das Randgebiet des Paranoids zur Cyclothymie. Wir werden sagen dürfen, daß, wo im Umkreis des cyclothymen das paranoide Syndrom in Erscheinung tritt, wir in den meisten Fällen in Körperbau und Heredität heterogene Konstitutionseinschläge feststellen können. Ein weiterer Gesichtspunkt zur Frage des Paranoids scheint mir noch erwähnenswert: In der somato-psychischen Struktur der Konstitutionslegierungen finden sich häufig Anzeichen einer anormalen Sexualentwicklung im Sinne einer infantilen Triebunsicherheit und Unentwickeltheit, wie wir sie im Rahmen des rein Cyclothymen nicht kennen, dagegen um so häufiger und konstanter im schizo- thymen Formkreis finden können. Der Hinweis auf diese sexuellen Triebanomalien und Pubertätsentwicklungshemmungen der konstitutionellen Mischformen ist deshalb so besonders wichtig, weil meistens das allgemeine charakterologische Eindrucks- bild, das uns z. B. nicht selten vorwiegend cyclothym erscheint, diese infantile Phantasiewelt nicht entfernt ahnen läßt. Der Körperbau gibt uns oft eher einen Fingerzeig: wir finden nicht selten eunuchoide Züge (Hochwuchs, mangelnde Geschlechtsbehaarung u. dgl.), leichte Feminismen (breites Becken, Fettansatz u. dgl.) oder allgemeine dysgenitale Stigmen.

Wir werden bei unserem Versuch einer Umgrenzung der Cyclothymie noch öfters diese Randbeziehung zum Paranoid antreffen.

Die Diagnose der Mittellagen, der syntonen Temperamente, ist in den aus- gesprochenen Fällen leicht. Wir brauchen auf die charakteristischen Züge der Mittel- lagen hier nicht nochmals einzugehen. Wir finden diese syntonen Temperamente vielleicht mit leicht hypomanischer Tönung häufig in der präpsychotischen Persön- lichkeit unserer schönen klassischen circulären Depressionen wieder. Gerade bei diesen Syntonen mit leicht manischer Verstimmung treten um die Zeit des Klimakteriums, u.zw. bei Männern und Frauen, depressive Verstimmungen leichterer oder schwererer Art auf, die öfters zu einem Klinik- oder Sanatoriumsaufenthalt führen. Auch äußere Anlässe, wie Verlobung, Hochzeit, berufliches Mißgeschick od. dgl., verursachen bei diesen Naturen gerne einmal eine depressive Verstimmung leichterer Art, nicht selten kommt eine Verschiebung auf das somatische Gebiet vor in Form von Kopf- druck, Schlafstörungen, Verstopfung, schlechtem Geschmack u. dgl. Bei genauerem Zusehen wird man jedoch meistens auf die gemütliche Störung aufmerksam werden. All diese depressiven Phasen haben das Gemeinsame, daß ihre Prognose unbedingt günstig ist, falls nicht eine schwere Arteriosklerose den Verlauf kompliziert. Des öfteren kehren diese Typen aus der Depression über eine leichte Hypomanie zu ihrer syntonen Grundstimmung zurück. Die Syntonie zeigt nun auch alle Schattierungen, die sich aber vorwiegend zwischen dem hypomanischen und depressiven Pol bewegen. Aber auch nach der Seite des Schizothymen findet sich ein diagnostisch wichtiges Randgebiet. Die Legierungen cyclothymer und schizothymer Komponenten finden wir im normalen Seelenleben in den verschiedensten Abstufungen und Mischungsverhältnissen. Wir haben schon darauf hingewiesen, daß für diese kom- plexen Typen die Neigung zu paranoider Reaktion und wahnbildenden Krankheits- formen charakteristisch ist. In günstigen Legierungen bilden cyclothyme und schizo- thyme Erbeinschläge besonders hochwertige Charaktere. Viele vorwiegend Cyclothyme

Cyclothymie. 401

verdanken gerade ihren schizoiden Erbeinschlägen eine wertvolle Bereicherung ihrer Persönlichkeit. Kretschmer hat u. a. auch angeführt, daß der Typus des Lebens- künstlers eine Legierung bestimmter cyclothymer und schizothymer Proportionen ist, indem sich behaglicher Lebensgenuß mit hyperästhetischem Selbstschutz vor Ver- wundung kombinieren.

Der Übergang von der Syntonie zur Schizoidie ist oft ein unmerklicher. Jeden- falls läßt eine wenig differenzierte charakterologische Schilderung öfters kaum eine Trennungslinie erkennen. Was hier als Gutmütigkeit, Wohlwollen und freundliches Gewährenlassen gegenüber den Nebenmenschen erscheint, ist dort Scheu und Affekt- lahmheit, Indolenz. (Beides nennt die oberflächliche Charakterschilderung „gutmütig“.) Auf der einen Seite die syntone Harmonie mit ihrer inneren Wärme und ihrer gleichmäßigen Liebe zu den Menschen und Dingen, auf der anderen die zufriedene autistische Seelenruhe. Dazwischen alle nur möglichen Übergänge. Ein gutes und unentbehrliches Hilfsmittel für die feinere Differenzierung ist uns auch hier die Beachtung der Körperkonstitution. Ein asthenisch-infantiler oder massiver athleti- scher Habitus wird uns hinter dem scheinbar syntonen Charakterbild eine ganz andersartige Affektivität vermuten lassen.

Gerade bei den teilweise oder vollkommen überkreuzten Typen ist uns eine der Charakterologie nicht entsprechende Körperkonstitution ein sicherer Index für heterogene Konstitutionseinschläge. Wir kennen den „syntonen“ Astheniker oder Athletiker mit der schizoiden „seelischen Tiefensensibilität“, jenem „asthenischen Stachel“, der ständig die äußere Syntonie zu untergraben und zu durchstoßen sucht. Oder die leichten cycloiden Verstimmungen der konstitutionellen Mischformen, wo jeweils in der Verstimmung auf dem Boden einer triebschwachen und gehemmten Sexualität wahnhafte Eifersucht gegen die Ehefrau erwächst, um mit Abklingen der Verstimmung wieder in ihren latenten Zustand eines allgemeinen Insuffizienzgefühles zurückzusinken.

Die depressiven Temperamente bei rein cyclothymer Konstitution haben in dem oben geschilderten weichen Schwerblütigen ihren typischen Vertreter. Bei genauer Differenzierung findet man unter ihnen verhältnismäßig wenig solche kon- stitutionell Verstimmte, bei denen gerade die traurige Stimmungslage dauernd starr im Vordergrund steht. Diejenigen Depressiven, die ihrer ganzen Veranlagung nach dem cyclothymen Konstitutionskreis zugehören, haben ein schwingungsfähiges Tem- perament, ihre Schwingungsebene ist eine ausgeprägte, nämlich zwischen heiter und traurig. Sie schwingen auch nach der heiteren Seite, nur nicht so oft und so stark, dagegen sehr nachhaltig nach der traurigen. Auch im Depressiven gruppiert sich um das Centrum der cyclothymen Gruppe eine Reihe von Varianten. Wir können hier noch viel besser als im Bereich des Hypomanischen und Syntonen eine kontinuierliche Reihe bilden, die in allmählich abgestuften Mischungsverhältnissen (was Charaktero- logie, Körperbau und zugehörige Psychose betrifft) vom ausgesprochen Cycloiden bis zum ausgesprochen Schizoiden hinüberführt.

Am Anfang der Reihe steht die einfache cyclothyme Depression. Allgemeines psychisches Hemmungs- und Insuffizienzgefühl, verschwommenes Unbehagen, allerlei vegetativ-nervöse Verstimmungen, Verdauungs- und Schlafstörung kennzeichnen dieses Krankheitsbild. Gerade bei diesen einfachen Depressionen können die körper- lichen Klagen ganz im Vordergrund stehen. Vorwiegend handelt es sich um Stö- rungen des Magen-Darmkanals. Sehr leicht werden ihre Klagen über Verstopfung, Appetitlosigkeit, faden Geschmack in hypochondrischer Weise ausgebaut. Auffallende und eigenartige Körpersensationen vor allem sexueller Natur finden wir im allge-

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 26

402 Friedrich Mauz.

meinen bei den einfach Depressiven nicht, dagegen um so häufiger bei begin- nenden schizophrenen Erkrankungen. Mitunter spielen auch allerlei nervöse und hysterische Mechanismen in das depressive Bild mit herein. Wo ihr Vorhandensein nachzuweisen ist, sind sie meistens auf eine latent nervöse Veranlagung zurückzu- führen, die durch die depressive Phase herausgeholt wird, um nachher wieder ganz zu verschwinden. Hinsichtlich der präpsychotischen Persönlichkeit dieser einfachen Depressionen, die vom leichten Gehemmtsein bis zur tiefen Schwermut variieren können, haben wir schon erwähnt, daß sich unter ihnen überaus häufig die syntonen Temperamente finden, viel weniger die eigentlich konstitutionell Schwerblütigen.

Mit dem Begriff der konstitutionellen Verstimmung umfassen wir verschie- denerlei Gruppen, die großenteils dem schizoiden Formkreis näherstehen als dem cycloiden. Die konstitutionell Depressiven der cyclothymen Gruppe haben alle das gutmütige, schwerfällig weiche Kolorit. Im weiteren Umkreis des Cyclothymen bereits mit engen Beziehungen zum schizoiden Formkreis heben sich einige gut umrissene Gruppen konstitutioneller Verstimmung hervor. Unter unserem schwä- bischen Bauernschlag finden wir nicht selten Persönlichkeiten, ja ganze Familien, die uns als konstitutionell Verstimmte bekannt sind und einen eigenartigen Habitus aufweisen. Es sind Menschen mit scharf geschnittenen, glatt rasierten Gesichtern, mit scharfem Mund und ernster, unbeweglicher Miene. Etwas Starres und Schweres spricht aus ihnen. Die Augen blicken oft seltsam weich und stehen in auffallendem Kontrast zur Schärfe des Gesichts. Auch im übrigen Habitus sind sie ganz vor- wiegend asthenisch. Charakterologisch sind es ernste, gerechtigkeitsliebende, religiöse Naturen, nach außen verschlossen, scheu und starr, innerlich unendlich weich und mitschwingend. Sie tragen schwer am Leben und dieses Gefühl der Schwere kann so stark werden, daß es zu einer lähmenden Starre der Seele und des Körpers führt. Suicid durch ganze Generationen hindurch ist in diesen Familien nicht selten.

Eine andere Variante konstitutioneller Verstimmung gehört ganz ausge- sprochen in das Bereich des Schizoiden. Bei dieser Art von Verstimmung schwingt keine Traurigkeit mit. Es sind mißmutige, übellaunig-nervöse Menschen, unstet und sprunghaft, von innerlicher Gereiztheit und Spannung, von hypochondrischer Welt- und Menschenfeindlichkeit. Auch die lahmen, humorlosen und trockenen Nörgler mit ihrer dauernden Verstimmtheit und Antriebslosigkeit (nicht Gehemmtheit) und ihrer schlappen Haltung mit den eckigen, linkischen Bewegungen gehören hierher. Diese Verstimmtheit (nicht Schwermut) in der verschiedensten affektiven Tönung mitunter mit leichten, abortiven paranoiden Zügen ist öfters das für lange Zeit auf- fallendste und einzige Symptom beginnender Schizophrenie. Mitunter bleibt sie überhaupt das einzige sichtbare Zeichen eines schleichenden schizophrenen Schubes. Ab und zu passiert es, daß eine derartige ausdruckslose Verstimmung für eine ein- fache leichte Depression vielleicht sogar reaktiver Natur gehalten wird. Man ist dann unangenehm überrascht, wenn nach einiger Zeit ein Defekt, eine Abknickung der Persönlichkeit zutage tritt. Im Körperbau solcher Typen finden sich öfters reichlich infantile und eunuchoide Stigmen.

Die Beziehungen der depressiven Gruppe zum Paranoid sind ebenfalls reichlich und vielverzweigt. Der reine Circuläre ist im Durchschnitt arm an Wahnideen. Um so häufiger ist ihr Auftreten bei den atypischen Fällen. Eine zahlenmäßige Aus- zählung unserer depressiven Kranken nach ihren Körperbauformen ergibt auch hier das interessante Ergebnis, daß die Wahnbildung mit ihren verschiedenen Abstu- fungen sich vorwiegend auf dem Boden konstitutioneller Legierung findet. Dagegen sehr selten bei reiner pyknisch-cyclothymer Konstitution.

Cyclothymie. 403

Gerade auf dem Grenzgebiet vom Charakterologischen zum Psychotischen bewegen sich Fälle, die unter einem großen Material depressiver Kranken immer wieder auftauchen und dem Arzt durch ihren abnormen Verlauf viel zu schaffen machen. Diese Fälle berühren sich in vielen Punkten mit der von Gaupp aufge- stellten „abortiven Paranoia“ auf eigenartiger depressiv-paranoischer Veranlagung; ich meine die starren, morosen, torpiden, wenig zugänglichen Formen, öfters mit reichlichem Hervortreten von Verfolgungsideen, richtigen Zwangsvorstellungen oder stark hypochondrisch-ängstlicher Einstellung. Sie haben einen ganz ausgesprochen protrahierten, unerfreulichen Verlauf, da sie noch lange Zeit nach ihrer Entlassung aus der Klinik sich auf der Grenze zwischen krank und gesund bewegen, ohne eines von beidem in ausgesprochenem Maße zu sein. Das Lebensalter zwischen 30 und 40 Jahren scheint mit Vorliebe davon betroffen zu sein. Übergang in Schizo- phrenie weisen diese Formen, soweit ich bis jetzt übersehen kann, nicht auf. Kon- ‚stitutionell betrachtet sind sie körperbaulich und charakterologisch sehr interessant. Keine dieser Formen weist pyknischen Habitus auf, alle gehören der asthenisch-athletisch- hypoplastischen Gruppe an. Es sind vorwiegend stille und ernste Naturen, sehr gewissen- haft, ja skrupulös, peinlich genau, wenig selbstsicher, eher ängstlich, meist sehr religiös, mitunter still gereizt, verschlossen, empfindsam, innerlich oft sehr weichherzig.

Anhangsweise sei hier nur erwähnt, daß auch die prognostisch ungünstigen Melancholien mit starkem Hervortreten massenhafter Wahnideen in Körperbau und Heredität deutlich heterogene Einschläge aufzeigen, die auf enge Beziehungen zum schizophrenen Formkreis hinweisen. Ausgang in Schizophrenie oder Defektzustand kommt bei diesen Formen öfters vor.

Eine Darstellung der cyclothymen Konstitution wäre nicht vollständig, wenn man nicht einer hie und da vorkommenden Überkreuzung Erwähnung tun würde, deren Studium für das Verständnis des normalen und krankhaften Seelenlebens interessante Gesichtspunkte eröffnet hat: die schizoiden Pykniker. Sie sind im all- gemeinen nicht die menschenfeindlichen, starren und ablehnenden Naturen, sondern mehr die gemütlichen und gutmütigen Eigenbrödler, die verschrobenen Spaßvögel, die kinderlieben und sorgenden Sonderlinge, die autistischen und scheuen Schwer- blütigen, die lahmen und triebschwachen Gemätsmenschen. Andererseits fehlt ihnen vielfach die Oberflächlichkeit des Cyclothymen; hinter der heiteren geselligen Art lodert ein Feuer idealer Begeisterung oder wirkt tiefschürfende Gedankenarbeit.

Eine dieser Formen soll uns hier besonders beschäftigen, u. zw. die autistischen und scheuen sensitiven Schwerblütigen. Ihre Konstitution ist ein unglückliches Produkt hereditärer Durchmischung und Überkreuzung. Zu ihrer gutmütigen weichen Schwer- lebigkeit gesellt sich eine quälende Schüchternheit und mimosenhafte Überempfind- lichkeit, deren Ursache wiederum in manchen Fällen in einem mangelhaften Sexual- leben zu suchen ist. Es sind Menschen, die ohne daß der andere Mensch etwas davon ahnt, innerlich Qualen erdulden. Aus ihrer Veranlagung erwächst wie von selbst zwangsmäßig der paranoide Konflikt. Jahrelang ziehen sie mitunter von Arzt zu Arzt mit allerlei neurasthenischen Beschwerden und depressiven Klagen, bekommen diesen und jenen Rat, gelten als depressive Neurastheniker, bis dann einmal ein kleiner Anstoß von außen, eine scheinbar erlittene Ungerechtigkeit, ein unbedeuten- des Mißverständnis, den Stein ins Rollen bringt und der dauernde Konflikt mit dem Leben und der Umwelt sich nicht mehr bloß als körperliches Mißbehagen, sondern als schwerer, aus dem Konflikt entstandener Wahn nach außen zeigt.

Unter meinem Material habe ich die schizoid-pyknische Konstitutionsform vor- wiegend bei zwei Krankheitsgruppen gefunden, eben den chronischen wahnbildenden

26°

404 Friedrich Mauz.

Formen und den akuten Schizophrenien mit periodischem Verlauf und jeweilig guten, berufsfähigen Remissionen 1

Das Randgebiet zur Psychopathie wurde schon öfters gestreift und bedarf keiner gesonderten Darstellung, zumal es beim fertigen Psychopathen in vielen Fällen nicht mehr möglich sein wird, die verschiedenen konstitutionellen Teilkomponenten in ihrer Durchmischung und Überlagerung mit exogenen Faktoren aus dem mosaikartigen Bild eines bestimmten Psychopathentypus auszusondern und nach ihrer Wertigkeit für den Aufbau des vorliegenden Typus darzustellen. Der Begriff des cycloiden Psychopathen wird vielfach noch zu weit ausgedehnt. Auch hier verlangen wir zur Diagnose das typische Kolorit des cyclothymen Pyknikers. Hierher gehören bestimmte hypomanische Typen, die Kräpelin als konstitutionell Erregte geschildert hat. Sie zeigen all die Varianten, die wir als typisch für den cyclothymen Konstitutionskreis geschildert haben. Im allgemeinen werden diese Typen nicht schwer kriminell, der Betrieb ist ihnen die Hauptsache. Die depressiven Psychopathen werden vielfach noch nicht scharf unter- schieden von den mißmutigen, mürrischen, unsteten und paranoischen Typen.

Alkoholismus und pyknisch-cyclothyme Konstitution ist eine immer wieder zu findende Kombination. Besonders zwei Gruppen gehören hierher: die genießerischen, gemütlichen Stammtischphilister, bei denen der Alkoholismus einem weichen, zer- fließend gutmütigen Charakter entspringt. Sodann eine Gruppe unter den periodi- schen Dipsomanen, die nach einer Statistik von Economo etwa zu 1 epileptische, IG eirculäre, zu '/, eine uncharakteristische psychopathische Belastung zeigen.

Zur Diagnose der cyclothymen Konstitution und ihrer verschiedenen Varianten und Übergangsformen ist die Erblichkeitsforschung eine wertvolle, oft unentbehrliche Hilfe. „Im Charakterologischen wie im Körperbau werden wir die klassischen Züge eines Konstitutionstypus zuweilen bei den nächsten Angehörigen klarer gekennzeichnet finden als beim Patienten selbst.“ Gerade bei den teilweisen und vollkommenen Überkreuzungen ist uns die Heredität eine wertvolle Stütze unserer Auffassung, ja oft ermöglicht erst sie das Verständnis für das vorliegende mosaikartige Konstitutionsbild.

An einigen klinischen Beispielen, wie wir sie unter unserm Material jederzeit finden können, ist der praktische Wert der Erblichkeitsforschung am besten zu er- läutern: eine vorwiegend pyknische Patientin bietet seit Jahren das Bild einer chronischen Hypomanie mit wüsten, ausfallenden Schimpfperioden, vielleicht auch richtigen halluzinatorischen Phasen. Einzelne atypische Züge im Körperbau, herein- wachsendes Haupthaar, spitze, dünne Nase, weisen auf latente heterogene Konsti- tutionskomponenten hin. Die Betrachtung der Heredität ergibt eine ausgesprochen schizophren-degenerative Belastung auf der einen Elternseite, während die cyclothyme Komponente in Form von gesunden pyknisch-cyclothymen Blutsverwandten sich zeigt, Oder ein anderer Fall, den ich unter den „Schizophrenen mit pyknischem Körperbau“ ausführlich geschildert habe: ein vorwiegend hypomanisches Temperament mit pykni- schem Körperbau erkrankt im mittleren Lebensalter mit starker Wahnbildung, im Sinne eines blühenden religiösen Größenwahns, bei ausgesprochen hypomanischerStimmungs- lage und leichten Phasenschwankungen. Diese wahnbildende Form einfach in den circu- lären Formkreis einzuordnen, befriedigt trotz der manischen Gesamttönung nicht. Die Analyse der Heredität gibt hier schönen Aufschluß über die Zusammensetzung der konstitutionellen Faktoren: die Mutter pyknisch-cyclothym, gesund, der Vater asthe- nisch, schizoider Sonderling; eine Vaterschwester erkrankte mit ca. 50 Jahren mit einer Spätschizophrenie, religiösen Größenideen, später typisch schizophren verblödet. So

! Fr. Mauz, Über Schizophrene mit pyknischem Körperbau. Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie. LXXXVI, H. 1 u. 2, p. 96.

Cyclothymie. ` 405

könnte man eine lange Reihe von Fällen bilden, die alle die Wichtigkeit der Erblichkeits- forschung eindrucksvoll aufzeigen; gerade auch bei manchen Verstimmungszuständen etwas verschwommener Natur weist mitunter eine schizoide Belastung auf die end- gültige Diagnose hin. Die schönen hereditären Ergebnisse Economos bei den periodischen Dipsomanen habe ich schon erwähnt. Rüdin und Hoffmann nehmen für den cyclothymen Konstitutionskreis dominante Vererbungsmechanismen, wenn auch in komplizierter Form, an. Gegenüber der Dementia praecox zeigt das manisch- depressive Irresein eine weit höhere direkte Erblichkeit.

Hier interessiert uns noch der von Hoffmann beschriebene Erscheinungs- wechsel. Seitdem man die beiden großen Konstitutionsgruppen, den schizothymen und den cyclothymen Formkreis, aufgestellt hat, ist von verschiedenen Seiten darauf hingewiesen worden, daß bei einem Individuum sich die Schizoidie und Syntonie im Laufe der Entwicklung gegenseitig ablösen können, derart, daß zunächst im Persönlichkeitsbild mehr die cyclothyme Anlage vorherrscht, während späterhin sich eine vorwiegend schizothyme Färbung durchsetzt, und umgekehrt (Hoffmann). Die Pubertät ist ein besonders häufiger Einsatzpunkt für eine derartige Persönlichkeits- umwandlung. Auch im Körperbau tritt mitunter entsprechend der charakterologischen Umwandlung eine Veränderung ein: schwere endokrine Störungen, die mit der Pubertät einsetzen, sind oft die ersten Anzeichen einer tiefgreifenden Charakterveränderung.

IV. Die Bedeutung der cyclothymen Konstitution im Kranken und Gesunden.

Die Wichtigkeit und Notwendigkeit einer klaren und eindeutigen Erfassung der cyclothymen Konstitution leuchtet ein: die Herausarbeitung und feinere Diffe- renzierung der einzelnen Teilkomponenten, die am hereditären Aufbau einer Per- sönlichkeit beteiligt sind, hat uns wertvolle Hinweise für das Verständnis der einzelnen Krankheitsgruppen gegeben, darüber hinaus vor allem klare Grundlagen und Anhaltspunkte für unsere spezielle klinische Systematik und vor allem Pro- gnostik. Die reine pyknisch-cyclothyme Konstitution und ihre zugehörige Psychose, das manisch-depressive Irresein, stellt eine ziemlich gut umrissene, jegliches De- struktive entbehrende Konstitutionsgruppe dar; aber nicht nur das: wir besitzen heute eine Anzahl von festen Tatsachen, nach denen die cyclothyme Konstitution, teils hemmend, teils färbend an der Entstehung atypischer Schizophrenien beteiligt ist. Die starke Beteiligung pyknischer Komponenten am hereditären Aufbau der periodisch Katatonen und Paraphrenen wurde schon erwähnt. Ebenso finden sich unter den gut und öfters remittierenden Schizophrenien in der präpsychotischen Persönlichkeit wie im Körperbau häufig deutlich pyknisch-cyclothyme Einschläge.

Kretschmer hat die Untersuchungen, die über die Beziehungen der psychia- trischen Konstitutionstypen zu anderen medizinischen Disziplinen vorliegen, in der schon erwähnten Monographie über Veranlagung zu seelischen Störungen zusammen- gestellt. Soweit sie die pyknisch-cyclothyme Konstitution betreffen, sollen sie hier noch angeführt werden. Hirsch findet unter den Dysmenorrhoischen Schizoide mit asthenischem Körperbau 85%, mit dysplastischem Körperbau 13%, dagegen pyknisch-cyclothyme Persönlichkeiten nur 2%. Dagegen gehören nach seinen Unter- suchungen die meisten Myomkranken dem pyknisch-cyclothymen Typus an. Auf die somatische wie psychische infantile Geschlechtlichkeit der Schizoiden weisen die Arbeiten des Gynäkologen Mathes und der Fränkelschen Schule eindringlich hin. Anderseits bestätigen sie die durchschnittlich gute sexuelle Differenziertheit der pyknisch-cyclothymen Konstitution.

406 Friedrich Mauz.

Von den Internisten haben schon einige namhafte Forscher die psychiatrischen Konstitutionstypen für ihre speziellen Forschungsgebiete in Anwendung gebracht. Otfried Müller beschreibt das Gefäßbild des cyclothymen Pyknikers: gerötetes Gesicht bis zur Ausbildung grob und weithin sichtbarer capillärer bzw. venöser Gefäßerweiterungen, besonders im Bereich der Wangen und der Nase; capillar- mikroskopisch nachweisbare starke Gefäßinjektionen an der oberen Brusthaut bei geringerer Neigung zum Erythema pudicitiae; in der Gürtelgegend und an den unteren Extremitäten häufig kleine Venektasien; an den Händen seltener intensive Capillarveränderungen. Seine weichen, breiten, aber kurzen Hände sind meist gleich- mäßig warm und normal gefärbt. Die peripheren Arterien erscheinen viel länger zart und geradlinig verlaufend, wie beim Astheniker, und doch kommt es viel häufiger zu schweren Zwischenfällen infolge von Hirn-, Herz- oder Nierensklerose. Es liegt in diesem Konstitutionstyp, daß er zu prämaturen, degenerativen Prozessen an den inneren Gefäßen neigt. Er stellt dementsprechend die Hauptzahl der echten Arteriosklerotiker. Infolge seines Mangels an Nervosität wird der Pykniker weniger durch Ermüdungsgefühle gewarnt und geht darum manchmal früher zu grunde als der Nervenschwache. Demgegenüber steht ein anderer vasoneurotischer Sym- ptomenkomplex beim asthenischen Typ, den außer O. Müller auch Peritz klar gezeichnet hat. Es sind Menschen mit der spasmophilen Übererregbarkeit der peri- pheren Muskulatur und nervöser Hypertonie der Blutgefäße oder, wie Müller sagt, die Individuen mit den nervös gespannten Arterienrohren, der spastischen Schein- anämie des Gesichts und den blauen, kalten und feuchten Händen mit dem er- weiterten subpapillären Venenplexus. Die Charakterzüge der Spasmophilen ähneln nach Peritz weitgehend denen, welche Kretschmer bei den Schizophrenen schildert.

Die spezielleren Dispositionen der Pykniker und Astheniker zu inneren Erkran- kungen finden: sich bei J. Bauer eingehend dargestellt.

Auch konstitutionspsychologische Untersuchungen an Gesunden liegen vor; sie haben großenteils allgemeines Interesse. Ich erwähne eine experimentelle Unter- suchung mit Hilfe des Rorschachschen Formdeuteversuchs', die Munz an 100 psychisch Gesunden (59 Pykniker, 41 vorwiegend leptosome bzw. asthenische Typen) durchführte. Es ergaben sich tiefgreifende Unterschiede in den Anschauungs- und Vorstellungstypen wie in der begleitenden Affektivität beider Gruppen. Munz findet bei 93% seiner gesunden Pykniker cyclothymes Temperament.

Eine weitere umfassende experimentalpsychologische Durchprüfung der Kon- stitutionstypen hat van der Horst an der Klinik von Wiersma in Groningen vor- genommen (u. zw. nebeneinander eine Gruppe circulärer Psychosen und eine Gruppe gesunder Pykniker, ebenso bei den Schizophrenen). Es ergibt sich nach Horst wieder die enge Gemeinsamkeit in der psychologischen Reaktionsweise zwischen Gesunden und Kranken desselben Konstitutionstypus. Auch in der Psychotechnik haben die Konstitutionstypen Anwendung gefunden. Tramm verwendet sie zur Erforschung des „Gruppengeistes“ der Betriebe. Es fanden sich unter den Betriebsräten insgesamt 52% Astheniker, 13% Athletiker und 35% Pykniker. Viernstein hat ein großes Material von Zuchthausinsassen charakterologisch und körperbaumäßig durchgeprüft und kommt in seinen Abhandlungen über das Stufensystem im Strafvollzug zu dem Resultat, daß die Typisierung nach cyclothymer und schizothymer seelischer Anlage zusammen mit den korrespondierenden Erscheinungen am körperlichen Habitus „den wertvollsten, zuverlässigsten Anhaltspunkt bieten zur Beantwortung der Frage

! Deutung klexographischer Zufallsformen.

Cyclothymie. 407

der Besserungsfähigkeit oder Unverbesserlichkeit“ des Verbrechers. „Der schizo- thyme Reaktionstypus ist unter normalen wie psychopathischen Rechtsbrechern seltener der Resozialisierung zugänglich als der cyclothyme.“ |

Diese Beobachtungen sind unschwer aus gewissen Grundeigenschaften des Schizothymen und Cyclothymen abzuleiten.

Diese letzten Ausführungen schienen mir notwendig zur Abrundung und Ver- vollständigung des cyclothymen Konstitutionskreises. Jetzt erst gewinnen wir die richtige Übersicht: die pyknisch-cyclothyme Konstitution ist nicht nur ein psychia- trischer, sondern ein allverbreiteter biologischer Konstitutionstyp. Die Cyclothymie erscheint uns nicht mehr bloß als eine leichte manisch-depressive Variante, deren verschwimmende Diagnostik sich in den verschiedensten Krankheitsgruppen verliert, sondern als die natürliche Äußerungsform normaler Temperamentstypen, als das Querschnittsbild einer biologisch vorgezeichneten und gebahnten Lebenslinie. An die Stelle der Cyclothymie tritt die cyclothyme Persönlichkeit, deren typische somatische und psychische Konstitution eine sichere und im Körperbau jederzeit leicht faßbare Grundlage bildet für unsere allgemeine Menschenkenntnis wie für unsere klinische Systematik und vor allem Prognostik.

Literatur: Beringer u. Düser, Über Schizophrenie und Körperbau. Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie. 1921, LXIX. Bleuler, Körperliche und geistige Konstitutionen. Natur- wissenschaften. 1921, IX; Die Probleme der Schizoidie und der Syntonie. Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie. 1922, LXXVIII. Coerper, Die Habitusformen des Schulalters. Zeitschr. f. Kinder- heilkunde. 1922, XXXIII. Dobnigg u. Economo, Die hereditäre Belastung der Dipsomanen. Allg. Zeitschr. f. Psychiatrie u. psych.-gerichtl. Medizin. LXXVI. Economo, Die hereditären Ver- hältnisse bei der Paranoia querulans. Jahrb. f. Psych. u. Neurol. 1914, XXXVI. Ewald, Charakter, Konstitution und der Aufbau der man.-melanchol. Psychosen. Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie. 1921, LXXI. Ferrarini, Nuovi orientamenti della psichiatria. Rass. di studi psichiata. 1923, XII. H. Fischer, Die Rolle der inneren Sekretion in den körperlichen Grundlagen für das normale und kranke Seelenleben. Zbl. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie. 1923, XXXIV; Psychopathologie des Eunuchoidismus und dessen Beziehungen zur Epilepsie. Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie. 1919, L. Fr. Fränkel, Der psychopathologische Formenreichtum der Eunuchoiden. Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie. 1923, LXXX. Friedmann, Die neurasthenische Melancholie. Mon. f. Psych. u. Neur. XV. Gaupp, Über paranoische Veranlagung u. s. w. Zbl. f. Nerv. u. Psych. 1910, XXXIII,

.65. O. Henkel, Körperbaustudien an Schizophrenen. Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie. 1924, LXXXIX. M. Hirsch, Dysmenorrhöe in Beziehung zu Körperbau und Konstitution nebst Ausführungen über Konstitution und Sexualität. Zbl. f. Gyn. 1923. H. Hoffmann, Die Nach- kommenschaft bei endogenen Psychosen. | Springer, Berlin 1921; Vererbung und Seelenleben. J. Springer, Berlin 1922; Schizothym-Cyclothym. Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie. 1923, LXXXII; Die individuelle Entwicklungskurve des Menschen. I Springer, Berlin 1922. Homburger, Die Literatur des manisch-depressiven Irreseins. Zibl. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie. II. van der Horst, Constitutietypen bij Geestesrieken en Gezonden. Naut an Comp, Zutphen (Holland) 1924. Jacob u. Moser, Messungen zu Kretschmers Körperbaulehre. A. f. Psych. u. Nerv. Kehrer u. Kretschmer, Die Veranlagung zu seelischen Störungen. J. Springer (im Druck), Berlin. Kretschmer, Körperbau und Charakter. 3. Aufl. J. Springer, Berlin 1923; Keimdrüsenfunktion und Seelenstörung. D. med. Woch. 1921; Das Konstitutionsproblem in der Psychiatrie. Klin. Woch. 1922, 1. A. Kronfeld, Sexualpsychopathologie (in Aschaffenburgs Handbuch). Deutike, Leipzig u. Wien, 1923. P. Mathes, Die Konstitutionstypen in der Gynäkologie. Klin. Woch. 1923, I. Fr. Mauz, Über Schizophrene mit pyknischem Körperbau. Ein Beitrag zur klinischen Diagnostik und Prognostik. Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie. 1923, LXXXVI. Otfried Müller, Die Capillaren der menschlichen Körperoberfläche. Enke, Stuttgart 1922. E. Munz, Die Reaktion des Pyknikers im Rorschachschen psychodiagnostischen Versuch. Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie. 1924. Olivier, Der Körperbau der Schizophrenen (eine Nachprüfung der Untersuchungen Kretschmers). Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie. 1922, LXXX. Reichardt, Die Anlage in der Psychiatrie u. s. w. Zeitschr. f. d ges. Neurol. u. Psychiatrie. 1923 LXXXIV. E. Reiß, Konstitutionelle Ver- stimmung, und manch dep we Irresein. Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie. 1909, II. Rüdin, Über Vererbung geistiger Störungen. Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie. 1923, LXXXI. K. Schneider, Die psychopathischen Persönlichkeiten (in Aschaffenburgs Handbuch). Deutike, Leipzig u. Wien 1923. Sioli, Cloth u. A. Meyer, Die Lehren Kretschmers über Körperbau und Charakter. (Ref.) Allg. Zeitschr. f. Psych. u. psych.-gerichtl. Medizin. 1922, LXXVIII. Specht, Die Hysteromelancholie. Zbl. f. Nerv. u. Psych. 1906, p. 545. Tscherning, Uber die somatische und ee Konstitution bei Ulcus ventriculi. A. f. Verdkr. 1923, XXXI. Viernstein, Die Ein- ührung eines Stufensystems in den bayrischen Strafanstalten. Zeitschr. f. Medizinalbeamte. 1922. A. Weil, Körperbau und psychosexueller Charakter. Fortschr. d. Medizin. 1922, XL. Wilmanns, Die leichten Fälle des manisch-depressiven Irreseins (Cyclothymie) und ihre Beziehungen zu Störungen der Verdauungsorgane. Sammlung klinischer Vorträge. Nr. 434, p. 765.

Über Uterusblutungen und ihre Behandlung.

Von Prof. Dr. O. Polano, Vorstand der Gynäkologischen Universitäts-Poliklinik München, und Dr. C. Dietl, München.

Mit 5 Abbildungen im Text.

Für den Praktiker eine brauchbare Arbeit über die Behandlung der Uterus- blutungen zu schreiben, begegnet heute den größten Schwierigkeiten. An Stelle der früher üblichen Organpathologie und -therapie ist eine allgemein biologische, mehr humorale Betrachtungsweise getreten, die den Uterus als untergeordneten Teil des Gesamtorganismus wertet und für Störungen seiner Funktion, die sich ja physiologischer- weise an erster Stelle bei den normalen Menses äußern, inkretorische, nervöse, konstitu- tionelle Einflüsse in den Vordergrund rückt. Dies Abrücken vom Organ läßt sich bei der Erklärung pathologischer Uterusblutungen beinahe topographisch verfolgen: Gebär- mutter, Ovarium, Hypophyse, Zwischenhirn mit drittem Ventrikel, „der Hauptübergangs- stelle zwischen seelischen und körperlichen Vorgängen“, wurden in letzter Zeit der Reihe nach zur ätiologischen Erklärung mitherangezogen. Wenn man die für den Praktiker in jüngster Zeit geschriebenen Abhandlungen liest, die sich mit unserem Thema befassen, so möchte man zweifeln, ob die Mehrzahl derselben dem Leser Klarheit und feste Richt- linien bei der Behandlung seiner Kranken gibt. Dies ist weniger Schuld der Verfasser als der heutigen, noch völlig im Fluß befindlichen Forschung, bei der Theorie und Praxis sich oft nicht vereinigen lassen. Auch wir sind natürlich nicht im stande, diesem Übel abzu- helfen, wollen aber den Versuch machen, gerade bei der Behandlung der Uterusblutun- gen unsere Ratschläge wenn möglich in fest umschriebener Form zu geben, auf die Gefahr hin, in manchem hierbei nicht ganz modern zu erscheinen. Wir lassen hierbei die Blutun- gen aus Portio und Cervix, über die ja nicht viel Neues zu sagen ist, außer Betracht.

In unserem medizinisch-therapeutischen Handeln haben wir die beiden Mög- lichkeiten, die Ursachen einer pathologischen Erscheinung zu bekämpfen oder uns die Beseitigung der Erscheinung selber als nächstes Ziel zu setzen. Die letztere, die symptomatische Behandlung, muß dann als Notbehelf angewendet werden, wenn wir die Ursache des Leidens entweder nicht erkennen oder nicht beeinflussen können. Was wissen wir nun eigentlich über die Ursachen der krankhaften Blutungen aus der (nicht graviden) Gebärmutter, die wir bekanntlich nach ihrer Erscheinungsform in Menorrhagien, d. h. abnorm starke oder abnorm lang- dauernde, aber in typischen Zwischenräumen wiederkehrende Blutungen von den Metrorrhagien trennen, die diese Periodizität nicht innehalten? Die von R. Schröder, dem verdienstvollen Erforscher dieses Gebiets, vorgeschlagene weitere Differenzierung der Menorrhagien in Hypermenorrhoen (Störung der Muskelkraft und abnorme Blutfülle) und in Polymenorrhoen, d. h. zu häufig wiederkommende Menstruation infolge ovarieller Dysfunktion, ist zwar theoretisch interessant, aber praktisch zu kompliziert und kaum verwendbar, da sich diese Typen im klinischen Bilde mit- einander verschmelzen (Polyhypermenorrhoen). Die Lehre von der Menstruation wird von der neuen Erkenntnis beherrscht, daß der normale cyclische Ablauf der menstruellen

Über Uterusblutungen und ihre Behandlung. 409

Blutung abhängt von der normalen physiologischen Arbeit der Eierstöcke, die sich uns grob anatomisch darstellt als Reifung und Berstung eines Follikels, der sich zum Corpus

Blütestadium eines Corpus luteum. (Aus L. Fraenkel: Physiologie der weiblichen Genitalorgane im Handbuch von Halban-Seitz.)

Fig. 93.

Ruhende Uterusschleimhaut. (Aus Fraenkel: Physiologie der weiblichen Genitalorgane im Handbuch von Halban-Seitz.)

luteum, einer inkretorischen Drüse, umwandelt (Fig. 92) und zum Corpus fibrosum rückbildet. Diesem Werden und Vergehen am Follikel entspricht ein cyclischer Wandel der Gebärmutterschleimhaut, die sich aus einem Ruhestadium (Fig. 93) umwandelt

410 Polano-Diet!l.

in einen Zustand hoher biologischer Aktivität mit starker Vermehrung der jetzt sekretorisch arbeitenden Epithelialelemente im Drüsensystem der Körperschleimhaut (Fig. 94). Die Rückbildung bei fehlender Befruchtung erfolgt unter dem äußeren Zeichen der Blutung, d. h. der Menstruation. Hierbei blutet es aus der Gebär- mutterkörperhöhle durch Abstoßung der gesamten oberflächlichen secernierenden Schleimhautschicht (Functionalis), die also der Decidua compacta entspricht, durch Zerreißung der Schleimhautgefäße. Das auslösende Moment für den Eintritt der menstruellen Blutung ist das Absterben der unbefruchteten Eizelle (R. Meyer). Der Follikelsprung erfolgt zwischen 2 Menstruationen, die Blutung 14 Tage nach dem Follikelsprung bei fehlender Befruchtung. Soweit nun unsere anatomischen

Fig. 94.

Prämenstruelle Uterusschleimhaut in ihrer höchsten Entwicklung. (Aus Fraenkel: Physiologie der weiblichen Genitalorgane im Handbuch von Halban-Seitz.)

Kenntnisse über die einzelnen histologischen Veränderungen im Leben der Uterus- schleimhaut und des Follikels gediehen sind, so wenig Klarheit herrscht über die letzten physiologischen Gründe, die den uterinen und ovariellen Cyclus be- dingen. Wir wissen mit Sicherheit nur, daß eine regelmäßige menstruelle Blut- ausscheidung abhängig ist von einer ungestörten ovariellen Tätickeit, denn das Entfernen der Eierstöcke hat Aufhören der Periode, Erkrankung der Eierstöcke Veränderung der Periode zur Folge. Wir nehmen neuerdings an, daß im Eier- stock zwei antagonistische Kräfte miteinander ringen: das menstruationshemmende Corpus luteum mit der die Menstruation auslösenden Follikelflüssigkeit. Als dritte Kraft käme die Eizelle hinzu, die, solange sie lebt, sich auf die Seite des Corpus luteum schlägt und plastisch aktivierend auf die Gebärmutterschleimhaut, d. h. menstruationshemmend wirkt, sobald sie aber abgestorben ist, den biologi- schen Effekt der Follikelflüssigkeit verstärkt und gewissermaßen katalytisch auf das Corpus luteum und die Uterusschleimhaut wirkt, also die menstruelle Blutung her- vorruft. (Grundlegende Arbeiten zu diesem Thema von L. Fraenkel, R. Meyer, Hitschmann, Adler, Seitz, Jaffe, Berberich, Ruge u. a.) Wir sehen also, daß es in erster Linie hormonale Einflüsse sind, durch die der Eierstock die Gebär-

Über Uterusblutungen und ihre Behandlung. 411

mutter regiert, wie uns dies auch die Ergebnisse der ovariellen Transplantationen beweisen. Diese Erkenntnis schafft nun keineswegs eine Vereinfachung des Men- struationsproblems. Zunächst müssen wir, um eine gewisse Vorstellung von den cyclischen Wandlungen im Eierstock und Uterus zu gewinnen, die wechselnde Blut- versorgung hinzuziehen, die abhängig ist von dem vegetativen Nervensystem, das seinerseits mit dem Cerebrospinalsystem in Verbindung steht; sodann wissen wir heute, daß die Eierstöcke alles andere als selbständige, gewissermaßen autonome Organe sind. Vielmehr werden sie bewacht, gezügelt oder angespornt durch das komplizierte System der anderen endokrinen Drüsen, in erster Linie Nebenniere, Thyreoidea und Hypophyse. Sie alle sind abhängig vom vegetativen Nervensystem, das mit seinen doppelten Zügeln Sympathicus und Parasympathicus funktionsstei- gernd oder funktionshemmend wirken kann. Als besonderes Eingeweidecentrum gilt das Zwischenhirn und der dritte Ventrikel (Aschner), die Brücke, die zum animalen Nervensystem führt. Wenn wir uns nun klarmachen, daß Störungen an irgend einer Stelle dieses vielverzweigten Leitungsnetzes auf dem Wege über das Ovarium eine Veränderung der normalen menstruellen Blutung herbeiführen können, wird uns die große Schwierigkeit für eine exakte ätiologische Diagnostik und Therapie verständlich.

Ätiologische Einteilung der Uterusblutungen.

Wenn wir den Versuch machen, die krankhaften uterinen Blutungen aus dem Corpus nach ihren Ursachen einzuteilen, so scheint uns die Trennung in 1. primäre Schleimhautblutungen und 2. sekundäre Schleimhautblutungen die einfachste und ver- ständlichste. Hierbei verstehen wir unter den primären Blutungen solche, die ihren Grund in einer krankhaften Veränderung der Gebärmutterschleimhaut allein haben, unter sekundären solche, bei denen die Ursache für die pathologische Blutung außerhalb der Schleimhaut zu suchen ist, mag letztere verändert sein oder nicht.

L Primäre Schleimhautblutungen.

Wenn wir die alten Lehrbücher der Gynäkologie durchmustern, so finden wir als Hauptursache für diese Blutungsart die Endometritis, also die Schleimhaut- entzündung, angegeben. Wir werden später noch darauf zurückkommen, daß eine derartige chronische, nicht infektiöse, primäre Schleimhauterkrankung heute von der Forschung im allgemeinen abgelehnt wird. Eine gewisse Rolle spielt nur noch die chronische infektiöse Endometritis, die in der Regel durch Gonokkoken oder durch pyogene Mikroorganismen bedingt ist, in seltenen Fällen durch den Tuberkel- bacillus. Als charakteristisch gilt im mikroskopischen Bilde die Durchsetzung der Schleimhaut bis auf die Muscularis mit Leukocyten und die Anwesenheit eigen- tümlicher Exsudatzellen, nämlich der specifisch färbbaren Plasmazellen. Die Infektion ergreift die tiefste basale Schleimhautschicht, setzt sich auf die anstoßende Muskel- wand fort, hieraus resultiert ein funktionell insuffizienter, bindegewebig indurierter, also wirklich metritischer Uterus, der außer zu Blutungen zu dem hystero-neur- asthenischen Symptomenkomplex (Lahm), den bekannten Unterleibsbeschwerden führt. Diese Entzündung kann auch auf das benachbarte Peritoneum (Perimetritis), ebenso wie ascendierend auf Tube und Ovarien übergreifen, wobei in frischeren Stadien mehr atypische Blutungen, bei älteren Fällen durch die ovarielle Beteiligung Menorrhagien ausgelöst werden.

Als häufigste primäre Schleimhauterkrankung ist aber dieEndometritis post abortum, bisweilen auch post partum zu erwähnen, bei der sich die Mucosa

412 Polano-Dietl.

infolge der Retention von Schwangerschaftsteilen in einem dauernden Reizzustande befindet. Als weitere Ursache können polypöse Schleimhautwucherungen im Corpus und endlich maligne Neubildungen, vor allem das Carcinom des Corpus, die Ursache der primären Blutung abgeben (Veränderungen der Portio und Cervix: Erosionen, Polypen, Carcinome müssen natürlich in jedem Falle als Quelle der Blutung ausgeschlossen werden). Die meisten in diese Gruppe gehörigen Fälle haben das Gemeinsame, daß sie einer klinischen Diagnose in der Regel leicht zu- gängig sind. Hierbei wird gerade in neuester Zeit das Hauptaugenmerk auf eine genaue Berücksichtigung der Anamnese gelegt, die den Typus der Blutungen genau festzustellen versucht. Aile primären Schleimhautblutungen des Uterus pflegen als atypische Blutungen, also als Metrorrhagien aufzutreten. Bei den Blutungen nach Abort oder Geburt ist es klinisch wichtig, zu erkennen, ob dieselben durch eine ungenügende Rückbildung der Decidua oder durch die Retention von Zotten bedingt sind. Ersteres ist ein verhältnismäßig harmloser Vor- gang und leicht therapeutisch zu beeinflussen, während Placentarreste schwerere Erscheinungen machen und sich unter Umständen zu größeren, nur operativ ent- fernbaren Polypen entwickeln. Je weniger sich nun der Uterus gut zurückbildet, je größer und weicher er ist, je weiter die Cervix, umso wahrscheinlicher ist die Retention von Zottenelementen.

An dieser Stelle muß kurz die bekanntlich auch zu äußeren Blutungen führende Extrauteringravidität erwähnt werden, die in ihrer chronisch verlaufenden Form des tubaren Abortes zu Verwechslungen mit dem uterinen inkompletten Abort führen kann. Auch hier ist die Anamnese ungemein charakteristisch: die von dem üblichen Menstruationseintritt zeitlich abweichend eintretende Blutung, die in der Regel kürzere oder längere Zeit nach dem erwarteten Termin eintritt, entsprechend der Dauer der ungestörten Eientwicklung in der Tube. Der Nachweis einer Blutung im Douglasschen Raum sichert die Diagnose, aber hierbei laufen auch dem Geübten Verwechslungen mit entzündlichen Adnexveränderungen unter, die bei dem Wechsel des anatomischen Befundes bei Tubargravidität durchaus ver- ständlich sind. Das beste differentialdiagnostische Mittel ist in diesen Fällen nach dem Vorschlag von Wagner (Prag) das Pituitrin, das bei 2—3tägiger Anwendung auf die uterine Blutung bei Tubargravidität im Gegensatz zur Adnexentzündung keine Einwirkung hat. Erwähnung verdient noch die Tatsache, daß eine bei Extra- uteringravidität ausgestoßene Decidua uterina verwechselt werden kann mit einem uterinen Abort bei ungenügender makroskopischer oder mikroskopischer Unter- suchung. Diese Verwechslung kann dann bei fortbestehender Blutung die Veran- lassung zu einer bei Tubargravidität aufs strengste kontraindizierten intrauterinen Therapie geben, die natürlich bei entzündlichen Adnextumoren ebenso fehlerhaft ist.

Was die polypösen Neubildungen angeht, so macht ihre Diagnose, vor allem wenn sie klein und in den Tubenecken sitzen, die größten Schwierigkeiten, da sie selbst bei der Ausschabung ausweichen können. Die digitale Austastung, die auch heute noch für unklare Fälle empfehlenswert ist, vermag dann die Diagnose zu sichern. Über das Uteruscarcinom sei hier nur kurz gesagt, daß unregelmäßige Blutungen jenseits des 40.Jahres an die Möglichkeit denken lassen müssen, daß es sich um eine maligne Neubildung handelt und zunächst eine vaginale Unter- suchung erfordern, im Zweifelsfalle die Ausschabung der Gebärmutter. Für viele Corpuscarcinome ist ja die Anamnese, Blutung nach kürzerer oder längerer Meno- pause, bekanntlich pathognomonisch. Die Sklerose uteriner Gefäße führt nur in seltenen Fällen, die dann meist im höchsten Alter stehen, zu Metrorrhagien. Die

Über Uterusblutungen und ihre Behandlung. 413

früher als sklerotisch aufgefaßten Gefäßveränderungen konnte Pankow als normale Geburtsfolge nachweisen, ohne daß sie für Blutungen ätiologisch in Frage kommen.

Eine Art Mittelstellung zwischen den vorhin kurz skizzierten primären Schleim- hautblutungen und den sekundären, durch extrauterine Ursachen bedingten bilden die infolge von Anomalien des Gebärmuttermuskels entstehenden Meno- und Metrorrhagien. Pankow hat uns zwar bewiesen, daß die früher diagnostisch so beliebte Metritis keineswegs als ausschlaggebende Ursache für die pathologischen Blutungen angesehen werden kann, da bei diesem chronischen Infarkt, der sich anatomisch durch den Ersatz der vollwertigen Muskulatur durch minderwertiges und unelastisches Bindegewebe äußert, die Blutungen ebenso fehlen wie vorhanden sein können. Es ist aber das Verdienst von Theilhaber, auf eine wohl im wesent- lichen konstitutionell bedingte Asthenie der Gebärmutter hingewiesen zu haben. Durch eine ungenügende Contractionsfähigkeit seiner muskulösen Elemente versagt in diesen Fällen der Uterus bei der physiologischen Blutstillung am Ende der Menses ähnlich wie bei der Atonie post partum durch die Unfähigkeit, die blu- tenden Gefäße zu konstringieren.

Eine Art Mittelstellung nehmen ferner die submukösen Myome ein; die ur- . sprünglich als Menorrhagie auftretende Blutung wird später zur atypischen, zuletzt bluten die Frauen dauernd, so daß überhaupt ein Cyclus sich nicht mehr fest- stellen läßt. Lahm hat unter Zugrundelegung der Größe des normalen Uterus- cavums (15 cm?) und der Menge des ausgeschiedenen normalen Menstrualbluts (40—100 cm? nach Theilhaber) ausgerechnet, daß bei der normalen Periode in 12 Stunden pro cm? 10 minimale Bluttröpfchen ausgeschieden werden; die physio- logische Blutung ist also nur eine ganz geringe, tropfenweise aus den eröffneten Capillaren und fließt erst ab, nachdem sie sich längere Zeit im Uteruskörper angesammelt hat. Nun ist bei größeren submukösen Myomen die Schleimhautober- fläche leicht um das 10fache vermehrt, so daß schon hieraus allein eine ungeheure Vermehrung der Blutmenge bedingt ist, ohne daß in der Art der Blutausscheidung eine Änderung eingetreten zu sein braucht. Ähnlich liegen wohl auch die Verhält- nisse bei stark gebuchteter hypoplastischer Schleimhaut. Ebenso erklärt sich die bei einigen interstitiellen Myomen zu beobachtende vermehrte Blutung, wenn auch als konkurrierende Ursache ovarielle Einflüsse bekanntlich scheint eine Hyper- funktion der Ovarien für die Myomentwicklung ursächlich mit in Frage zu kommen und eine partielle Unfähigkeit der Muscularis zur Contraction als Erklärung mit herangezogen werden müssen.

IL Die sekundären Uterusblutungen.

Die sekundär im Uterus hervorgerufenen Blutungen werden zum großen Teil durch Funktionsstörungen im Eierstock ausgelöst. Wir wissen heute, daß die meisten der unter dem Bilde der Menorrhagien verlaufenden Blutungen, die früher als chronische Endometritis bezeichnet wurden, hierher gehören, und wir haben gelernt, daß die einst als charakteristisch für diesen Entzündungsprozeß an- gesprochenen Bilder einer Drüsenvermehrung nur das histologische Bild des physio- logischen Anschoppungsvorganges wiedergeben, den die normale Schleimhaut nach dem Follikelsprung, also ungefähr 14 Tage vor der Menstruation, durchmacht. Unsere Kenntnisse über die letzten Ursachen einer ovariellen Dysfunktion sind noch ungemein lückenhaft. Je tiefer wir in das verschlungene Rankenwerk der Organ- beziehungen hereinschauen, umso deutlicher wird uns, daß auch der Eierstock, wenn er auch dem Uterus übergeordnet ist, abhängig ist von den mannigfachsten humo-

414 Polano-Dietl.

ralen, endokrinen und nervösen Einwirkungen. Es gibt gewisse anatomische Bilder, die uns eine Störung im normalen Follikelreifungsprozeß zeigen; es handelt sich hierbei um eine überstürzte Reifung der Follikel, die aber nicht zur Ovulation führt

Uterus mit cystisch-glandulärer Schleimhauthyperplasie. (Aus R. Schroeder: Pathologie der Menstruation im Handbuch von Halban-Seitz.)

Fig. 96.

8 A a Ki $ WORA j: . f 2 CL ` z ehr, g > d «Y X ei v > >= > $ ` < CY LA e e T ae a SL d 2.0,» 4, uw et, v - pP " 4 BI H a Kaud Gi ` D d K h IRITA D A Da, > V `

Mikroskopisches Bild einer cystisch-glandulären Be E Es (Aus R. Schroeder: Pathologie der Menstruation im Handbuch von Halban-Seitz.)

und die Bildung von gelben Körpern vermissen läßt. Diese „Persistenz der reifenden Follikel« (R. Meyer) übt einen dauernden Proliferationsreiz auf das Endometrium aus und führt zu starken Schleimhautwucherungen, der alten „Endometritis fungosa“ (Fig. 95 und 96). Ebenso wirkt die chronische Hyperämie des Uterus hierbei auf die

Über Uterusblutungen und ihre Behandlung. 415

Muscularis, die hypertrophisch wird und das Bild der alten Scanzonischen „Metritis“ hervorruft. In ähnlicher Weise können auch Ovarialtumoren, vor allem maligne, auf das Endometrium wirken; wir selber beobachteten mehrfache Menorrhagia praecox bei einem °/,jährigen Mädchen mit Ovarialsarkom. Neben diesen Befunden mit positiven anatomischen Grundlagen gibt es nun bei abnormen Blutungen zahlreiche Fälle, bei denen sich keine Abweichung feststellen läßt. Vor allem sind es zwei Lebens- abschnitte, die für Menorrhagien bevorzugt sind: Pubertät und Klimakterium. Die hierbei einsetzende biologische Umstellung der Eierstöcke macht die Veränderung des Menstruationsvorganges leicht begreiflich. Wenn durch diese Erkenntnis nun sicherlich auch ein Fortschritt gewonnen ist, so wissen wir doch wie gesagt über die letzten Ursachen der ovariellen Dysfunktion nichts. Daher ist es auch einleuchtend, daß eine praktische Auswirkung der Lehre von dieser „Metropathia haemorrhagica“ (Aschoff-Pankow) nur in beschränktem Maße bis heute möglich ist.

Über die Korrelation des Ovariums zu den anderen endokrinen Drüsen ist uns ebenfalls nicht allzuviel bekannt; wir sprechen zwar von einem Parallelismus zwischen Ovar, Schilddrüse und einem Teil der Hypophyse, von einem Antagonis- mus zwischen Eierstock, Nebenniere und einem andern Teil der Hypophyse, aber hieraus geht nur hervor, daß eine Beseitigung des physiologischen Gleichgewichts- zustandes im endokrinen System das Ovarium und damit indirekt auch die Men- struation beeinflussen kann. Zugleich müssen wir uns daran erinnern, daß die durch den Eitod ausgelöste normale Menstruation an und für sich eine weit über das Genitale hinausreichende Gleichgewichtsstörung im „psycho-physischen Kern der Frau“ (Brugsch) mit sich bringt, wie dies außer anatomischen Veränderungen ver- mehrte Ausscheidung von Stoffwechselprodukten aus der Haut, die unzutreffend als Menotoxine bezeichnet werden (Polano-Dietl), beweisen. Eine besondere Rolle spielt sicherlich die Schilddrüse, deren im Blutbilde erkennbare Hypofunktion ` Menorrhagien im Gefolge hat. Auch die Chlorose, die man heute auf ovarielle Hypofunktion zurückführt, erklärt manche Pubertätsblutung. Endlich hat man bei anderen endokrinen Störungen (Akromegalie, Addison) ebenfalls Menorrhagien be- obachtet.

Bei den innigen Wechselbeziehungen zwischen endokrinem und nervösem System ist es verständlich, daß die dem vegetativen Nervensystem unmittelbar unterstehende vasomotorische Regelung gerade zur Zeit der Menses Störungen in ihre Erscheinung treten läßt, wenn, „aus psychisch affektiven Ursachen oder auf Grund pathologischer Verschiebung der corticalen Erregbarkeit vasomotorische Störungen eintreten“ (Binswanger). So finden wir Menorrhagien bei hysterischen Erregungs- zuständen und bei starken Gemütsbewegungen; die häufig vor der Zeit einsetzenden Menses beim Aufsuchen des Arztes gehören ebenso hierher wie die auf sexueller Reizung beruhenden abnormen Blutungen. Bei letzteren kann ein Zuviel ebenso wie ein Zuwenig (z. B. Coitus interruptus) im einzelnen Falle die Ursache darstellen.

Ferner können alle mit Stauungserscheinungen in den Beckengefäßen ver- bundenen Anomalien zu Menorrhagien führen, die durch eine Rückwärtslagerung der Gebärmutter dann besonders verstärkt werden. Die Ursachen für solche Stauungs- hyperämien sind recht zahlreiche: in erster Linie ein auf konstitutioneller Basis be- ruhender asthenischer Zustand mit enteroptotischen Erscheinungen, die durch un- hygienische Lebensweise, schnürende Korsetts, chronische Obstipation verstärkt werden (Aschner). Besonders macht sich diese konstitutionelle Schwäche in Form der Menorrhagien vorübergehend nach schweren Allgemeinerkrankungen bemerkbar (z. B. nach Infektionskrankheiten, Tuberkulose). Endlich ist noch die große Gruppe

416 Polano-Diet!i.

von Beckenhyperämien zu erwähnen, die mechanisch bedingt sind und sich vor allem bei dekompensierten Herzfehlern, Nieren- und Lebererkrankungen finden. Da auch bei chronischen Intoxikationen, die vom Intestinaltractus ausgehen, und bei sonstigen Allgemeinvergiftungen (Morphium, Nicotin) ebenfalls Menorrhagien be- obachtet werden, so gibt es eigentlich kaum eine Extragenitalerkrankung der Frau, die nicht zu einer Störung der ovariellen Funktion und damit zu einer pathologischen Form der Menstruation führen kann. Allerdings braucht dieselbe sich nicht immer in einer Verstärkung der Menses zu äußern; häufig schädigt sie den follikulären Apparat und führt zu Hypo- bzw. Amenorrhoen. Diese paradoxe Erscheinung ist ja besonders bei Tuberkulose und Chlorose in die Augen fallend.

Wenn wir nun die für die Diagnose aus dieser kurzen Übersicht praktisch verwendbaren Folgerungen ziehen wollen, so lassen sich dieselben in folgenden Sätzen wiedergeben: Blutungen aus dem Uterus, die zeitlich atypisch, also als Metrorrhagien verlaufen, sprechen von vornherein für eine primäre Erkrankung der Gebärmutterschleimhaut, dieentweder palpatorisch oder mikroskopisch durch Probeabrasio im einzelnen Falle genauer bestimmt werden muß. Alle als Menorrhagien verlaufenden abnormen Blutungen sind wahrscheinlich sekundärer Natur und deuten auf eine Funktions- störung im Eierstock. Da die Ursachen für diese ovarielle Dysfunktion ebenso häufig außerhalbalsinnerhalbdesEierstocks gelegen sind, müssen Gesamtkonstitution, extragenitale Erkrankungen, endokrine Störungen, psychisch-nervöse Einflüsse bei der ätiologischen Diagnose mitberück- sichtigt werden. Eine Art Mittelstellung zwischen diesen beiden Haupt- gruppen nehmen endlich die Uterusblutungen ein, bei denen die Musku- . latur der Gebärmutter Anomalien aufweist, die zwar ursprünglich durch hormonale ovarielle Einflüsse bedingt sind, aber durch ihre Anwesen- heit den normalen Verlauf der Menses, insbesondere die physiologische Blutstillung, erschweren und auch zu pathologischen Schleimhautver- änderungen im Corpus führen können. Es läßt sich also durch eine ge- naue Anamnese über den Typus der Blutung bis zu einem gewissen Grade eine ätiologische Differenzierung erreichen, wenn auch oft genug Übergänge und Verschmelzung von primärer und sekundärer Schleim- hautblutung dieses Schema stören.

Therapie der uterinen Blutungen.

Bei einer Zusammenstellung der verschiedenen therapeutischen Methoden zur Bekämpfung uteriner Blutungen, zunächst ohne Berücksichtigung von klinischen Einzelheiten, ist als erste die medikamentöse Behandlung zu nennen.

Die blutstillende Wirkung der Mutterkornpräparate beruht auf ihrer Fähig- keit, stimulierend, kontrahierend auf glatte Muskelfasern, insbesondere auf den massigen Uterus einzuwirken, den Blutdruck zu steigern, die sympathischen Nervenendigungen in den Gefäßen zu lähmen. Die zum Teil enorm toxischen Eigenschaften der in der Droge enthaltenen Amine haben Veranlassung gegeben, Präparate herzustellen, bei denen die giftigen Stoffe ausgeschaltet, die wirksamen Bestandteile in optimaler Kombination isoliert oder ganz synthetisch dargestellt sind.

Es ist nicht Aufgabe dieser Abhandlung, das ganze Heer einschlägiger pharma- kologischer Präparate anzuführen; es seien lediglich die angegeben, die sich uns

Über Uterusblutungen und ihre Behandlung. 417

im klinischen Betriebe bewährt haben, womit aber nicht gesagt sein soll, daß sich mit manchen anderen Präparaten ein gleich günstiger Erfolg hätte erzielen lassen.

Secacornin in Tropfenform erweist sich vielfach als brauchbar, es kann eventuell mit Extr. Sec. corn. zwecks rascherer Wirkung kombiniert werden (Opitz). Einen Extraktivstoff aus dem Mutterkorn, der 4mal so stark als die Droge wirkt, stellt das Secalysat dar, das in Tropfen oder als Injektion verabreicht werden kann. Secalysat + N + S (Novocain + Suprarenin) bringt raschere, nachhaltigere Wirkung.

Einen großen Erfolg hatte die Pharmakologie mit der Einführung des Gyner- gens (lösliches Ergotamintartrat) zu verzeichnen. Bei Injektion schon von 0'1 bis 02 mg ist die contractive Wirkung äußerst prompt. Es steigert die Sensibilität schlaffer Uteri ganz erheblich, eine erwünschte Erscheinung bei Abortblutung. In Tablettenform kann es ebenfalls verabreicht werden, doch soll zur Vermeidung unangenehmer Nebenerscheinungen (Augenflimmern, Schwindel) nach dem Ein- nehmen Bettruhe verordnet werden.

Von den synthetisch hergestellten Secalepräparaten ist das Tenosin das be- kannteste. Als Tropfen verabreicht wirkt es langsamer als nach Injektion, jedoch hält die Wirkung länger an.

Aus Hydrastis canadensis dargestellt, erhöhen Hydrastinin und Liqui- drast den Uterustonus. Doch ist ihre Wirkung langsam, mehr wellenförmig. Das geruch- und geschmacklose synthetische Hydrastinin. hydrochloricum ist den Drogenpräparaten in der Wirkung mindestens ebenbürtig.

Bei mäßigen Blutungen wirkt als vasoconstrictorisches Mittel Stypticin (salz- saures Cotarnin) oft recht günstig.

Von den Präparaten aus Capsella bursae pastoris Styptisat und Sicco- stypt ist vorerst nur eine beschränkte Wirkung zu erwarten.

Unter den Organpräparaten nehmen die Ovarialpräparate die erste Stelle ein. Seitz und Wintz konnten aus dem Corpus luteum einen Stoff, das Luteolipoid darstellen, dem eine ausgesprochen blutungshemmende Wirkung innewohnt. Von den im Handel befindlichen Ovarialpräparaten hat sich das Luteoglandol noch am besten bewährt.

Die Wirkung der aus den Extrakten von Hypophysenhinter- und -mittellappen hergestellten Mittel ist ähnlich wie beim Gynergen keine centrale, sie greifen viel- mehr an: den Nervenendigungen im Organ selbst an, bewirken Blutdrucksteigerung, Tonuserhöhung und Contraction im Uterus. Ist jedoch eine bestimmte optimale Wirkung erreicht, so vermögen auch weitere Dosen diese nicht mehr zu steigern. Von einer Toxizität der Präparate kann kaum gesprochen werden. Sie sind unter der Bezeichnung Hypophysin, Pituitrin, Pituglandol erhältlich.

Adrenalin wirkt mittels Watteträger auf die Schleimhaut in 1%iger Lösung ca. 1 Minute appliziert. Injiziert wird es am besten unter Kombination mit einem Secale- präparat. Zu lokalen Ätzungen der Uterusschleimhaut werden 20% alkoholische Carbolsäurelösung, 30% Formalin, reine Jodtinktur Anwendung finden.

Als zweite Gruppe der therapeutischen Methoden ist die Strahlenbehand- lung zu nennen, die das ovarielle Parenchym funktionell schwächt oder aus- schaltet.

Auf die biologisch-physikalischen Einzelheiten der Röntgentherapie einzu- gehen, ist nicht der Zweck dieser Mitteilung. Es sollen lediglich grundlegende Beobachtungen erwähnt werden, aus denen sich die Wirkungsweise und die Brauch- barkeit der Röntgentherapie von selbst ergibt. Die Strahlenempfindlichkeit der ein- zelnen Zellgruppen im Ovar ist je nach ihrem Reifungsgrad verschieden. Am

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 27

418 Polano-Dietl.

empfindlichsten ist der reife oder der der Reife nahe Follikel, weniger die Pri- mordialfollikel, am wenigsten die Zellen des Corpus luteum. Die Dosis, die genügt, den ganzen Follikelapparat dauernd zu vernichten, die Kastrationsdosis, beträgt nach Seitz und Wintz 35% der Hauteinheitsdosis. Von der Dosis ist die Schnelligkeit der Wirkungen abhängig, auch von der Zeit, innerhalb welcher die Dosis verab- reicht wird. Da es beim Ovar als einem in der Tiefe liegenden Organ technisch nicht möglich ist, die zur akut funktionsvernichtenden Wirkung benötigte Dosis zu applizieren, wird sich die Wirkung einer ÖOvarialbestrahlung erst mit dem Aus- klingen langsam verlaufender Nekrosevorgänge bemerkbar machen. Wir müssen also mit einer Latenzzeit rechnen, die je nach der Technik der Strahlenbehandlung bis mehrere Wochen betragen kann. Die optimale Wirkung. einer Bestrahlung kann ferner nur dann erwartet werden, wenn es gelingt, die Ovarien wirklich voll zu treffen, was nicht in jedem Fall möglich ist.

Bei älteren Frauen wird vielfach die einmalige Bestrahlung den erwünschten Erfolg garantieren, falls zwischen der Bestrahlung und der zu erwartenden neuen Blutung ein Zeitraum von 3—4 Wochen liegt. Andernfalls wird die Sitzung nach 4—6 Wochen wiederholt. Die Kastrationsdosis soll der prompteren Wirkung halber möglichst einzeitig gegeben werden, eventuell noch auf 2—3 Tage verteilt; die Applikation noch weiter zu verzetteln, hat sich als untunlich erwiesen, da die Wirkung der Bestrahlung sich dabei wesentlich verringert. Bei jüngeren Individuen muß naturgemäß die Ausschaltung der Ovarialfunktion sich schwieriger gestalten, eine Wiederholung der Dosis wird fast immer nötig sein. Für die Strahlenbehand- lung ungeeignet sind: große Myome, die schon Druckerscheinungen hervorrufen, erweichte Myome, submuköse, gestielte Myome oder solche mit gleichzeitig be- stehenden Adnextumoren.

Der Nachteil der Kastrationsbestrahlung, die Ovarialfunktion ein für allemal auszuschalten, hat Anlaß zum Ausbau weniger eingreifender Verfahren gegeben. Die halbseitige Kastration wird, wenn die Lage des betreffenden Ovars derartig ist, daß es sicher getroffen werden kann, gerade in Fällen von Pubertätsblutungen und Blutungen jüngerer Individuen in Betracht zu ziehen sein. Das von Gauss ange- ` gebene Verfahren der temporären Kastration, bei dem die Ovarien mit 26—28 % H. E. D. angegangen werden, zum Zweck der Vernichtung reifer und reifender Follikel ohne Schädigung der Primordialfollikel ist für junge Frauen bei der heute möglichen genauen Dosierung eine sehr brauchbare Methode. Ihr haftet aber der Nachteil an, daß die Dauer der Amenorrhoe nicht im voraus zu bestimmen ist. Sie kann unerwünscht lange und unerwünscht kurz anhalten. Außerdem ist natur- gemäß die Wirkung nicht sehr prompt. Eine Keimschädigung, die sich bei einer späteren Gravidität bemerkbar machen könnte, ist nach den bisherigen Erfahrungen kaum zu erwarten.

All den genannten Bestrahlungsarten hängt der Nachteil an, daß sie die Keim- drüse mehr oder weniger schädigen. Es sind deshalb Verfahren ausgearbeitet worden, die abseits vom Ovar zur Regulierung seiner Tätigkeit an den Drüsen mit innerer Sekretion angreifen. Die Hypophysenbestrahlung oder, vielleicht besser, die Bestrahlung der Hypophysengegend, scheint eine brauchbare Methode zu werden. Bis heute ist aber trotz anfänglicher, vielversprechender Ergebnisse die Technik nicht so weit ausgebaut, daß sie als schadlos und stetig erfolgreich bezeichnet werden kann. Durch vorsichtige Bestrahlung der Nebennieren kann Senkung des Blutdrucks und damit günstige Einwirkung auf Uterusblutungen bewirkt werden. Wegen der hohen Empfindlichkeit der Nebennierenrinde wird aber diese Behand-

Über Uterusblutungen und ihre Behandlung. 419

lungsart über einen tastenden Versuch vorerst nicht hinauskommen. Dagegen scheint die Milzreizbestrahlung wegen ihrer außerordentlich raschen Wirkung ein wirksames Mittel gegen Menorrhagien, besonders gegen Polymenorrhoe zu sein. Es handelt sich dabei wohl hauptsächlich um eine Erhöhung der dem Ovar antago- nistischen Fähigkeiten der Milz. Das Verfahren hat sich auch uns in einer Anzahl von Fällen bewährt. Am besten wird die Milzbestrahlung 8 Tage nach der Regel vorgenommen. Wird während einer Blutung bestrahlt, kann unter Umständen diese erheblich verringert werden. Es sei nur noch d@rauf hingewiesen, daß die Dauer der einzelnen Bestrahlungen immer von der Art der Applikation, ob Großfernfeld- oder Kleinfelderbestrahlung, und von der verwendeten Apparatur abhängig ist. Moderne Instrumente gestatten die Ausführung der Kastration schon mit 90, sogar mit 50 Minuten Bestrahlungsdauer.

Die Behandlung von Uterusblutung durch intrauterine Radiumeinlage hat sich besonders für die klimakterischen Formen als sehr brauchbar erwiesen, auch ist mit ihr die Kastration durchführbar. Wird letztere nicht gewünscht, so ist das Verfahren weniger geeignet, da eine Schädigung der Ovarien nicht absolut auszuschließen ist. Da außerdem als Folge der Radiumbestrahlung, insbesondere bei vaginaler Applikation, häufig Schrumpfungserscheinungen, vor allem der Scheide, auftreten, wird bei jungen Frauen von dieser Behandlungsart wohl nur selten Gebrauch gemacht werden. Kontraindiziert ist sie auch bei den submukösen Myomen und bei Komplikation mit Adnextumoren.

Was nun die Anwendung der übrigen physikalischen Heilmethoden anlangt, so wurde die eingreifende Atmokausis wegen ihrer Unsicherheit von den meisten aufgegeben. Das ganze übrige Rüstzeug der physikalischen Therapie wirkt ja fast ausschließlich hyperämisierend, ist nur in blutungsfreier Zeit anwendbar und verspricht nur durch die Abheilung entzündlicher oder degenerativer Veränderung der Genitalorgane Besserung etwaiger Blutungen. Für diese Art von Therapie können die Diathermie, Ultrasonnenbehandlung, Hydrotherapie, eventuell auch Bäderbehand- lung herangezogen werden, doch wird man mit allen diesen Mitteln bei patho- logischen Blutungen äußerst zurückhaltend sein.

Wir kämen zur letzten Gruppe unserer Therapie: die operative Behandlung.

An operativen, kleineren Eingriffen stehen die Scarification der Portio und die Abrasio der blutenden Schleimhaut zur Verfügung.

Die Scarification der Portio wird bei Stauungsblutungen und bei Blutungen ` infolge Metritis oft von Erfolg begleitet sein, wenn sie mehrmals, besonders auch kurz vor Eintritt der Regel, vorgenommen wird.

Eine absolut prompte, wenn auch nicht immer dauernde Wirkung gestattet nach vorheriger Cervixerweiterung die Abrasio zu erzielen, besonders wenn auch Fundus und Tubenecken sauber abgekratzt werden. Da das Stehenbleiben unver- sehrter Schleimhautinselchen nie mit Sicherheit zu vermeiden ist, sollte an die Aus- schabung regelmäßig eine Ätzung des Uteruscavums angeschlossen werden. Wir verwenden dazu eine 10% ige alkoholische Carbolsäurelösung, von der 10 cm? mittels einer Braunschen Spritze langsam injiziert werden. Eine gleichzeitige Scheidenspülung verhütet Verätzung der Scheidenschleimhaut oder des Anus durch rückfließende Säure. Dem Vorschlage Hofmeiers folgend, werden vom 3. Tag nach der Abrasio mit 2—3 Tagen Pause die Ätzungen wiederholt, so daß die Regeneration der Schleim- haut sich unter dem Einfluß dieser Spülungen vollzieht.

Für die Blutungsformen, die sich jedem der besprochenen Therapiezweige gegenüber refraktär verhalten, bleiben noch die großen operativen Eingriffe übrig.

27°

420 Polano-Dietl.

Als verhältnismäßig wenig eingreifend kann noch die von Thaler empfohlene Resektion kleincystisch degenerierter Ovarialabschnitte bezeichnet werden, die, falls die Ursache der Blutungen lediglich in der Ovarialveränderung bedingt war, äußerst befriedigende Erfolge zu verzeichnen hat (Köhler). Die Conceptions- fähigkeit wird bei ihr nicht gestört.

Anders bei allen anderen Operationen. Sie haben den Endzweck, den blutenden Uterus zu entfernen. Bei Frauen, die schon geboren haben und vor dem Klimak- terium stehen, wird die vaginale#*Totalexstirpation unter Belassung der Ovarien vorgenommen. Oestattet die Enge der Scheide ein vaginales Operieren nicht, so wird abdominal vorgegangen. Bei Frauen, die noch mitten in der Geschlechtsreife stehen, sollte zur Erhaltung der für die Scheidenbiologie so wichtigen Cervix supra- vaginal amputiert werden. Auch kann in solchen Fällen durch Belassung eines kleinen Stückes Uterusschleimhaut noch die Möglichkeit einer späteren Menstruation offen gelassen und der Patientin so das bedrückende Bewußtsein einer Verstümme- lung erspart werden. Ist die Ursache der Uterusblutungen in Veränderungen der Adnexe bedingt und muß operiert werden, so wird natürlich das Bestreben dahin gerichtet sein, wenn irgend möglich wenigstens einen Teil Ovarialsubstanz zu erhalten und lieber den blutenden Uterus zu opfern, als die Frau durch Exstirpation beider Ovarien zu kastrieren.

Wenn wir diese zahlreichen Methoden betrachten, mit denen man die uterinen abnormen Blutungen zu bekämpfen versucht, so denkt man an die alte Erfahrung: je mehr Mittel, umso weniger zuverlässig ihre allgemeine Brauchbarkeit; und in der Tat läßt sich trotz unserer durch wissenschaftliche Arbeit gewonnenen Erkenntnis über die zahlreichen Ursachen der uterinen Blutung nur in beschränktem Maße eine wirkliche ätiologische Therapie durchführen. Die Gründe hierfür sind: 1. Schwierig- keiten in der Diagnostik des speziellen ätiologischen Faktors, 2. vielfache Unwirk- samkeit einer specifischen Organtherapie, 3. die Unmöglichkeit, eine langsam wirkende kausale Therapie wegen alarmierender Allgemeinerscheinung durchzuführen. Es wirkt fast tragikomisch, wenn jede moderne Abhandlung über Uterusblutungen sich stolz der wissenschaftlichen Erkenntnis rühmt: Die alte Lehre von der Endo- metritis ist abgetan, die frühere kritiklos angewendete Abrasio ist überwunden, um hinterher bei der Besprechung der Therapie die Curettage aus diagnostischen oder palliativen Gründen mehr oder minder verschämt wieder zu empfehlen. Wir müssen eben die Fälle bei der Behandlung nicht nur nach ihrer Ätio- logie, sondern auch nach ihrem Gesamtzustand abwägen. Ein junges Mädchen, das erst einigemale stärkere Menorrhagien gehabt hat, ist natürlich anders zu werten als eine infolge von jahrelanger Metropathia haemorrhagica völlig ausgeblutete Frau. Eines darf man trotz aller Anathemata, die man gegen die Auskratzung hört, nie vergessen: Die gründliche Abrasio des Uterus mit nachfolgender mehrmaliger gründlicher Ätzung des Cavums ist auch heute noch von allen kleinen Eingriffen das sicherste Verfahren, um eine primäre oder sekundäre Uterusblutung augenblicklich zum Stehen zu bringen. Wir haben seit Jahren bei einem reichlichen poliklinischen Material grundsätzlich in allen Fällen schwerer Uterusblutungen, wenn keine Kontraindikation bestand und nicht die sofortige Totalexstirpation nötig war, die Ausschabung und Ätzung durchgeführt, u. zw. meistens, durch äußere Gründe gezwungen, ambula- torisch, d. h. Narkose, Operation, Östündige Bettruhe, Entlassung und Wieder- bestellung zur wiederholten ambulatorischen Ätzung. Die Augenblickserfolge waren durchaus gute. Daß damit die Behandlung nicht beendet, sondern erst eingeleitet

Über Uterusblutungen und ihre Behandlung. 421

wird, ist selbstverständlich; aber wir haben jetzt Zeit gewonnen und können bei stehender Blutung viel leichter und wirksamer die Allgemeinbehandlung anschließen. Trotzdem wir also die Auskratzung als palliative Operation ungeheuer hoch ein- schätzen, bestreiten wir keineswegs, daß früher in leichten Fällen überflüssigerweise curettiert wurde und vor allem oft genug bei derselben Patientin in kurzen Zwischen- räumen in zweckloser Weise die Abrasio wiederholt wurde. Daß dies verkehrt und aussichtslos ist, verdanken wir den neuen Forschungen über die sekundären Uterus- blutungen.

Wenn wir nun in folgendem festumschriebene Richtlinien für die Behand- lung der pathologischen Uterusblutungen zu geben versuchen, so würde sich die Therapie der primären uterinen Blutungen mit einer lokalen Behand- lung decken. Endometritis post abortum et partum müssen durch Entfernung der fötalen Elemente mittels Curette behandelt werden. Sind die Blutungen gering, beruhen sie also wahrscheinlich nur auf einer ungenügenden decidualen Rückbil- dung, so kann der Versuch gemacht werden, durch Darreichung von Secale- präparaten und Auswischung des Uteruscavums mit Ätzmitteln (10%iger Carbol- alkohol, 30% iges Formalin) eine Abstoßung der erkrankten Schleimhaut zu erreichen. Schneller führt auch hier jede Abrasio zum Ziel, die bei Retention größerer Zottenreste und Placentarpolypen überhaupt notwendig ist, am besten mit nach- folgender einmaliger Ätzung des Uteruscavums (z. B. 10 cm? 10% igen Carbolalkohols mittels Intrauterinspritze). Auf die Gefahr, daß kleine Polypen in den Tubenecken sich der Curette entziehen, wurde bereits hingewiesen; die digitale Austastung muß in solchen Fällen Klarheit schaffen. Auf die Behandlung der Myome und Carcinome einzugehen, liegt natürlich außerhalb des Rahmens dieser Mitteilung. Wir möchten nur darauf hinweisen, daß von vorneherein jede Abrasio aus diagnostischen Gründen so gründlich ausgeführt werden muß, daß sie gleichzeitig therapeutisch wirkt. End- lich sei nochmals bemerkt, daß jede frische Entzündung am Uterus und seiner Um- gebung jede lokale Therapie im Uterusinriern contraindiziert.

Die Therapie der sekundären Uterusblutungen stellt ein praktisch un- gleich schwierigeres Kapitel dar. Neben der Vielheit der Ätiologie ist hier die ver- schiedene Schwere des Krankheitsbildes für die Art der Behandlung entscheidend. Es ist sicherlich richtig, daß das Weib ungleich leichter Blutverlust erträgt als der Mann. Ebenso sicher ist es aber, daß periodisch immer wiederkehrende schwere Blutungen auch bei der Frau diese relative Toleranz völlig aufheben können, so daß unvermutete Todesfälle die Folge sein können, u. zw. auch bei jugendlichen Personen. Blutuntersuchung, Anamnese, klinischer Gesamteindruck beeinflussen ent- scheidend die Therapie. Es ist ferner praktisch unerläßlich, die Verhältnisse bei jugend- lichen virginellen Personen von denen bei älteren Frauen und Mädchen zu sondern. Solange es irgend angängig ist, wird man gerade bei jungen Mädchen von jeder lokalen Therapie Abstand nehmen und bestrebt sein, durch allgemeine Maßnahmen die ovarielle Dysfunktion und Gleichgewichtsstörung im noch nicht vollreifen Organismus zu beseitigen. Hygiene des täglichen Lebens muß vor allem berück- sichtigt werden, d. h. Schlaf, Ernährung, Stuhlgang, körperliche und geistige Arbeit und Erholung müssen in gesundheitsmäßige Form gebracht werden, überflüssige Excitantien (Tee, Kaffee, Nicotin, schlechte Lektüre u. s. w.) ausgeschaltet werden, um jede vasomotorische Erregbarkeit herabzusetzen. Eisen-, Arsen-, Calciumpräparate werden verordnet. Auch der von Aschner empfohlene Aderlaß verbunden mit purgierenden Mitteln hat uns mehrmals Erfolg gebracht. Alles in allem: bei jugendlichen Patientinnen tritt die Allgemeinbehandlung, die sich natür-

422 Polano-Dietl.

lich den sozialen Verhältnissen anpassen muß, bei den leichteren Menorrhagien als Haupttherapie in den Vordergrund und wird unterstützt durch die Be- handlung mit Stypticis: Bettruhe am 1. bis 2. Menstruationstag, Secalepräparate, wo- möglich 3 Tage vor der Menorrhagie beginnend und während derselben 3mal täglich genommen. Eine vorzügliche Förderung findet in schwereren Fällen diese Therapie durch die während der Blutung täglich angewandte subcutane Injektion einer Ampulle Pituglandol. Auch Adrenalin hat sich uns in gleicher Weise ange- wendet ebenfalls gut bewährt (1 cm? einer 1%igen Lösung).

Hiermit sind wir zu den organtherapeutischen Mitteln gekommen, die, soweit es sich um ovarielle Präparate handelt, eine große Enttäuschung bereitet haben. Nur einige Corpus luteum-Präparate bilden in günstigen Fällen eine vorteilhafte Ausnahme; am besten bewährt sich das Luteoglandol (in Tablettenform 3mal täglich 8 Wochen lang 1 Tablette, während der Menorrhagie die doppelte Menge; noch wirksamer sind subcutane Injektionen). Inwieweit es sich bei allen organtherapeuti- schen Mitteln um eine wirkliche specifische Wirkung handelt, ist recht fraglich (Zondek). Tatsache ist, daß man auch mit nichtspecifischen Injektionen (Nicht- schwangeren- oder Schwangerenserum, Pferdeserum, Terpentinöl und anderen proto- plasmaaktivierenden Stoffen) auch bei Menorrhagien bisweilen eine erfolgreiche Reiz- körpertherapie treiben kann. Eine gute Kombination von Eisen- und Organtherapie bildet das Ovaridentriferrin Knoll 3 Tabletten täglich 2 Monate lang.

Eine ausgesprochene specifische Wirkung müssen wir aber den Schilddrüsen- . präparaten zusprechen, die uns bei Zeichen einer Unterfunktion dieses Organs (s. o.) mehrfach ausgezeichnete Dienste geleistet haben. Hierbei wird man nach den neuesten Erfahrungen bei der Kropftherapie auch versuchen, mit weit kleineren Dosen, als bisher üblich, zum Ziele zu kommen. Wir selber haben allgemein mit einer halben Tablette täglich von 0'1 Thyreoidin Erfolg gehabt ohne unangenehme Nebenwirkung. Die früher vielfach erfolgreich angewendete Jodkalibehandlung beruht wohl eben- falls auf der gleichen Voraussetzung der Jodzufuhr. (Auch von ihr wird man heut- zutage in mehr homöopathischer Dosis Gebrauch machen.

Nur in schweren Fällen wenden wir bei jugendlichen virginellen Personen die Abrasio als palliative Operation an, die bei roborierender Nachbehandlung in 50% aller Fälle zur Dauerheilung führt (R. Schröder), während wir bei älteren Mädchen und Frauen aus diagnostischen und therapeutischen Gründen die einmalige Auskratzung als den gegebenen Weg zur Einleitung einer rationellen Therapie betrachten. Ganz beson- ders gilt dies für alle klimakterischen Fälle von Metropathia haemorrha- gica, bei denen man ebenfalls allein durch die Ausschabung bei 50% einen Dauererfolg erzielt. Läßt sich die Abrasio aus irgend einem Grunde nicht durchführen, so kann durch vaginale Tamponade, durch eine in 1% Adre- nalinlösung getränkte, mit Watte umwickelte Playfair-Sonde, die 2—3 Minuten in der Cervix liegen bleibt (Mannsfeld), bisweilen ebenfalls ein guter Augenblicks- erfolg bei der Blutstillung erzielt werden. Es bleibt aber leider eine noch recht beträchtliche Zahl von Kranken übrig, in denen wir mit dieser konservativen Therapie nicht zum Ziele kommen.

Wenn wir zunächst von der Resektion der Eierstöcke als einem zwar viel ver- sprechenden, aber klinisch noch nicht ausreichend erprobten Verfahren absehen, kommt bei diesen Fällen nur die Strahlenbehandlung oder die Uterusexstirpation in Frage Im allgemeinen wird die Röntgenkastration, vor allen Dingen bei älteren Frauen nach vorheriger erfolgloser Abrasio das gegebene Ver-

Über Uterusblutungen und ihre Behandlung. 423

fahren sein. Für die Mehrzahl aller Blutungen, die nicht gerade lebensbedrohlich sind, ist auch bei Jugendlichen sicherlich die Milzbestrahlung oder die temporäre Kastration mittels Röntgenstrahlen das gegebene. So zurückhaltend sich wohl jeder instinktiv einer derartigen Ausschaltung der Eierstöcke aus dem Körperhaushalt Jugend- licher gegenüber verhält, die klinische Erfahrung beweist doch, daß bei richtiger Technik sich die Ovarien wieder erholen, daß dann auch bedenkliche Folgen für die Nach- kommenschaft nicht zu befürchten sind, während natürlich die verstümmelnde Operation irreparable Verhältnisse schafft. Aber auch hier muß von Fall zu Fall entschieden werden. Wir erinnern nur an die eindrucksvolle Mitteilung eines unserer führenden Gynäkologen, der 2 junge Mädchen verlor, bei denen er sich zur Operation nicht entschließen konnte. Wir selber haben in jüngster Zeit bei einer 22jährigen rhachiti- schen Zwergin wegen schwerer Menorrhagien nach erfolgloser Anwendung von Abrasio, Organtherapie u. s. w. die supravaginale Amputation durchgeführt, als das technisch einfachere Verfahren, weil diese verkrüppelte Patientin, wie sie selber angab, zur Fortpflanzung unfähig war. Bei älteren Frauen wird man sich, zumal wenn submuköse Myome in Frage kommen, zur vaginalen Totalexstirpation bei Frauen mit weiter Vagina entschließen, während bei enger Scheide die supra- vaginale Amputation von oben her der technisch einfachere Weg ist. Daß sich diese Frauen dann ungemein schnell erholen, u. zw. schneller als nach der Röntgen- bestrahlung, möchten wir in Übereinstimmung mit Sellheim ausdrücklich hervor- heben. Sollten die günstigen Erfahrungen Thalers und Köhlers mit der Resek- tion der Ovarien sich an einem größeren Material weiter bestätigen, so wäre hiermit ein Verfahren gegeben, das gerade bei Jugendlichen die temporäre Kastration und die dauernde Verstümmlung umgehen läßt.

Wir haben in Vorstehendem versucht, auf Grund eigener und fremder Erfah- rungen einen gedrängten Überblick über den jetzigen Stand der Lehre ‘von den Uterusblutungen und ihre Behandlung zu geben, ein wichtiges Kapitel der Gynä- kologie, das, wie wir gesehen haben, für Diagnostik und Therapie, für Wissenschaft und Praxis auch heute noch manche Fragen unbeantwortet läßt.

Das Hirschsprungsche Syndrom (Megacolon congenitum).

Von Prof. Dr. Kj. Otto af Klercker, Lund. Mit 4 Abbildungen im Text.

Begriffsbestimmung.

Als der bekannte dänische Pädiater im Jahre 1888 zuerst die Aufmerksamkeit auf das später nach ihm benannte Krankheitsbild hinlenkte, hatte er ein paar Fälle im Auge, an denen, gleich von der Geburt, Schwierigkeiten bei der Abführung in Verbindung mit kolossaler Auftreibung des Unterleibs vorhanden waren, und wo nach dem Tod im Alter von 11 bzw. 8 Monaten eine bedeutende Erweiterung des Kolons mit starker Hypertrophie der Muskelwandung bei der Sektion gefunden wurde, ohne daß als Ursache hierfür eine Verengerung im unteren Teil des Darmes sich feststellen ließ. In einer zusammenfassenden Darstellung (1904), wo Hirschsprung seine gesamte, auf die eigene Beobachtung von 10 Fällen sich stützende Erfahrung vorlegt und nun auch die von Mya im Jahre 1894 vorgeschlagene Benennung Megacolon congenitum akzeptiert, hebt er ausdrücklich hervor, daß es sich hier um eine Krankheit sui generis handle, die scharf zu trennen sei von einer Reihe Dilatationen mit Hypertrophie infolge Beeinträchtigung der Darmperistaltik durch fötal entstandene Hindernisse, und daß das am meisten Charakteristische gerade das Vorhandensein von Passageschwierigkeiten sei, trotzdem das Darmlumen überall frei und geräumig sei. Inzwischen hatte es nämlich nicht an Bestrebungen gefehlt, die Dilatation und Hypertrophie auf ein unten im Darme gelegenes Hindernis irgendeiner Art zurückzuführen. In der Folge wird die „Hirschsprungsche Krank- heit“ auch immer mehr in diesem erweiterten Sinn gefaßt, so daß Konjetzny (1911) sogar die Existenz einer Megakolie im Sinne Hirschsprungs in Zweifel ziehen wollte. Wenn man nun auch im allgemeinen nicht so weit gegangen ist, die Möglich- keit des Vorkommens von Fällen ohne bestimmt feststellbare Darmhindernisse ab- zulehnen, ist diese erweiterte Fassung des Begriffes doch immer mehr durchgedrungen (Kleinschmidt [1912], Marfan [1923] u.a.). Hierzu kann man ja einwenden, daß es als unangebracht erachtet werden muß, Krankheitsfälle nach Hirschsprung zu benennen, welche er selbst ausdrücklich für nicht angehörend hielt. Die nämlichen Fälle sollten vielmehr je nach der Art der organischen Hindernisse bezeichnet werden, z.B. Abknickung, Achsendrehung, Strangulation, Darmstenose u. s. w. (Ishikawa). Zugegeben, es sei das Ideal, wonach wir immer streben müssen, schon im Leben eine präzise anatomische Diagnose stellen zu können, erreichen läßt sich dieses Ideal jedoch bei weitem noch nicht. Wenigstens wenn wir nicht mit unserer Diagnose bis zu einer eventuellen Autopsie zurückhalten wollen, und als praktischer Arzt können wir das nicht tun, so müssen wir uns in den meisten Fällen gewiß mit weniger bescheiden und uns zufrieden geben, wenn es gelingt festzustellen, ob überhaupt

Das Hirschsprungsche Syndrom (Megacolon congenitum). 425

ein obstruierendes Hindernis sich vorfindet oder nicht. Und sogar über diesen Kardinalpunkt dürfte manchmal auch erst eine Operation oder Sektion die sichere Entscheidung bringen können. Wenn somit die klinischen Symptome, unbeschadet der einen oder der anderen Entstehungsart, identisch sein können, muß es vom klinischen Standpunkt aus ganz richtig erscheinen, daß die Fälle auch unter eine gemeinsame Benennung eingereiht werden, wobei es wohl am nächsten liegt, sich des schon vielerorts eingebürgerten Fachworts der „Hirschsprungschen Krankheit“ oder des Megacolon congenitum zu bedienen, umsomehr als Hirschsprung selbst auf die Schwierigkeiten, während des Lebens eine scharfe Grenze ziehen zu können, aufmerksam macht und sogar einräumt, daß gewisse seiner eigenen, nur klinisch beobachteten Fälle vielleicht unrichtig klassifiziert worden seien. Nur möchte ich vorschlagen, in der ersten Bezeichnung das Wort „Krankheit“ mit „Syndrom“ zu ersetzen, damit gleich in der Benennung die erweiterte Fassung zum Ausdruck gebracht werde. Theoretisch sind also gewiß zwei Formen zu unterscheiden, eine primäre (idiopathische, Hirschsprungsche Krankheit sensu strictiori), wo die Darm- höhle vollständig frei und durchgängig ist, und eine sekundäre (symptomatische, die auch wenig gut Pseudomegakolon genannt worden ist), deren Entstehung auf ein obstruierendes Hindernis zurückgeführt werden muß. Praktisch kommt aber, wie wir sehen werden, hier noch die Schwierigkeit hinzu, daß es im einzelnen Fall, auch bei sicher festgestelltem Hindernis, nicht immer möglich ist zu entscheiden, inwieweit dasselbe tatsächlich etwas Ursprüngliches darstellt und nicht erst nach Ausbildung des Megakolons sich entwickelt hat. Von verschiedenen Seiten wird nicht selten der Vorbehalt gemacht, daß das Hindernis nicht in einer am auf- geschnittenen Darm nachweisbaren Verengerung bestehen darf. Klinisch muß aber gegen eine solche Einschränkung Einspruch gemacht werden, da ja, wie gesagt, eine derartige Präzisierung ohne Autopsie meistens nicht möglich ist. Unbedingt muß aber die Forderung gestellt werden, daß das Hindernis schon fötal entstanden sein soll oder wenigstens auf fötal vorhandene Anomalien zurückgeführt werden kann. Bezüglich der Erwachsenen sind darum auch höchstens diejenigen Fälle hier- her hinzurechnen, deren Symptome erweislich bis zur allerfrühesten Kindheit zurück- verfolgt werden können, alle anderen, wo das Megakolon erst im späteren Leben entstanden ist, bilden eine Gruppe für sich, die nicht mit der soeben besprochenen zusammen behandelt werden darf, und welcher lieber keine auf Hirschsprung hindeutende Bezeichnung zuteil werden sollte. Jedenfalls werde ich diese Fälle, die wir als Megacolon acquisitum bezeichnen können, in der folgenden Übersicht nicht mit berücksichtigen.

Folgendes Schema mag das Gesagte kurz erläutern:

I. Megacolon congenitum (=Hirschsprungsches Syndrom). Praktisch 1. Primäre (Idiopathische) Form nicht immer (—=Morbus Hirschsprung sensu strictiori). Darmlumen frei. voneinander | 2. Sekundäre (Symptomatische) Form. Infolge eines obstruierenden zu scheiden. Darmhindernisses.

II. (Megacolon acquisitum).

Klinik des Syndroms.

Das klinische Bild ist im allgemeinen sehr deutlich ausgeprägt und in den verschiedenen Formen im großen und ganzen ziemlich gleich. Knaben werden

426 Kj. Otto af Klercker.

öfter befallen als Mädchen. In bezug auf den Zeitpunkt des Erscheinens der ersten Symptome findet sich aber in den verschiedenen Fällen keine vollkommene Übereinstimmung. Da man nun nicht immer so genau die primären und sekundären Formen hat auseinanderhalten können, ist es nicht möglich zu sagen, von welcher Bedeutung die Entstehungsweise hier sein kann. Nur eine eingehende Bearbeitung möglichst vieler sowohl klinisch als pathologisch-anatomisch genügend untersuchter Fälle würde hier weiterführen können. Angesichts der immer sehr begrenzten Erfahrung des einzelnen müßten offenbar einschlägige Literaturfälle hierfür verwertet werden. Soviel ich weiß, ist eine Zusammenstellung von solchem . Gesichtspunkt aus bisher von niemand gemacht worden. Sie wäre doch sehr wünschenswert und würde wahrscheinlich auch sonst unser Verständnis für die klinischen Vorgänge in vielen Beziehungen erweitern können, so z.B. in bezug auf Einzelheiten des weiteren Verlaufes u.s.w. Vorderhand muß also die klinische Schilderung ohne Bezugnahme auf eventuelle Eigenarten im Verlauf der verschiedenen Formen gemacht werden.

In der Regel handelt es sich um rechtzeitig geborene, bei der Geburt gut entwickelte Kinder, an denen anfangs nichts Pathologisches wahrzunehmen ist. Das am frühesten beunruhigende Zeichen ist gewöhnlich eine sehr hartnäckige Ver- stopfung. Am öftesten tritt diese schon unmittelbar nach der Geburt ein, so daß der Arzt schon in den ersten Tagen zu Rate gezogen wird, weil die Entleerung des Mekoniums auf sich warten läßt. In anderen Fällen wird aber ausdrücklich an- gegeben, daß das Kind eine Zeitlang regelmäßig normale Stühle gehabt hatte, und daß sich erst nach Wochen oder Monaten, zuweilen offenbar im Anschluß an eine Veränderung des Ernährungsregimes, bei dem Übergang zur künstlichen Nahrung, eine plötzliche Stuhlverhaltung eingestellt habe. Die Verstopfung erreicht sofort den höchsten Grad, so wie es sonst nie vorkommt. Spontane Entleerungen kommen nicht zu stande, höchstens gehen dann und wann Winde ab, die bald stark stinkend werden. Laxantia wirken sehr wenig oder gar nicht. Klistiere haben mitunter etwas besseren Erfolg, wenn auch immer einen sehr unvollständigen.

Zu dieser Verstopfung tritt nun binnen kurzem, als die andere diesen Krank- heitszustand charakterisierende Veränderung, die meteoristische Auftreibung des Bauches hinzu. Schon nach ein paar Tagen kann sie bemerkt werden, und spätestens nach einigen Wochen hat sie den Umfang erreicht, daß sie unmöglich zu übersehen ist, um sehr bald ganz enorm zu werden. Kugelförmig wölbt sich nun der Bauch hervor, mit seinem größten Umfang ein wenig oberhalb des Nabels. Man bekommt zunächst den Eindruck eines kolossalen Bauchtumors (Fig. 97). Die Bauchdecken werden ungemein gespannt, die Haut ist dünn, glatt und glänzend, dilatierte Venen schimmern durch, mitunter erscheinen Ödeme in den lateralen Bauchpartien, ja sogar in den Beinen. Bei genauer Inspektion kann man, wenn die Bauchwand sich sehr verdünnt hat, die Konturen eines oder mehrerer gewaltig er- weiterten Darmteile deutlich wahrnehmen. Nicht selten sieht man auch peristaltische Bewegungen aufkommen, entweder spontan oder erst nach Bestreichung der Bauch- haut. Sie werden häufig als sehr charakteristisch hingestellt. So wird z. B. von Kleinschmidt? die sichtbare oder fühlbare Darmperistaltik den beiden anderen Kardinalsymptomen, der Obstipation und dem Meteorismus, als ein drittes gleich wichtiges Zeichen an die Seite gestellt. Hirschsprung wiederum bemerkt ausdrücklich: „que le mouvement p£ristaltique n'est pas trop prononcé.“ Die einzelnen Fälle können offenbar in dieser Beziehung ein verschiedenes Verhalten aufweisen. Vielleicht kommt sichtbare Peristaltik nur beim Vorhandensein eines Passagehinder-

Das Hirschsprungsche Syndrom (Megacolon congenitum). 427

nisses vor. Jedenfalls kann es sich kaum um einen mit dem Hirschsprungschen Syndrom unbedingt verknüpften Vorgang handeln.

Infolge des hochgradigen Meteorismus fühlt man bei der Palpation die Bauch- decken außerordentlich straff gespannt, und bei der Perkussion bekommt man einen stark ausgeprägten tympanitischen Schall, der sich bis weit auf den Thorax hinauf erstrecken kann. Die Leberdämpfung verschwindet meistens vollständig, und ebensowenig läßt sich die Milz durch Perkussion nachweisen. Zeitweilig kann eine erweiterte Kolonschlinge so von festen oder weichen Exkrementen ausgefüllt werden, daß ein förmlicher Kottumor zu stande kommt. Eine entsprechend umschriebene Dämpfung und ein charakteristischer Palpationsbefund ergeben sich dann als Zeichen. Sind die Kotmassen dagegen dünn, kann sich Flüssigkeit in den abhängigen Teilen

Fig. 97.

Hirschsprungsches Syndrom bei einem 6 Wochen alten SE Beobachtung von Dr. G. Grund, Flensburgsches Kinderkrankenhaus zu Malmö.

ansammeln und hier eine bewegliche Dämpfung veranlassen. Da die meteoristischen Darmschlingen außerdem viel Gas enthalten, kann man in diesen Fällen durch Schütteln des Kindes oder stoßweise Perkussion des Bauches Plätschergeräusche hervorrufen und hierdurch Ascites ausschließen.

Bei der Palpation per rectum zeigt sich der After durchgängig und meistens wird der Finger leicht durchgelassen. Gewisse Beobachter beschreiben jedoch das Vorkommen von Sphincterkrampf. Näheres hierüber später. In vereinzelten Fällen war der After im Gegenteil klaffend. Meistens dürfte er doch nicht von der Norm abweichen. Der Mastdarm kann sich verschieden verhalten. Bisweilen ist er von Kot angefüllt und bedeutend weit, gewöhnlich findet man ihn aber vollständig leer und zusammengefallen, normal weit, oder vielleicht ein wenig zusammen- gezogen. Weiter hinauf im Darm kann der Finger auf einen Widerstand stoßen. Auf die Bedeutung hiervon, wie auch die von den ergänzenden Untersuchungen durch Sondierung, Rectoskopie und Röntgenographie werden wir unten des weiteren zurückkommen. Durch bimanuelle Palpation, per rectum und am Bauch, lassen sich eventuelle Kottumoren oft besser umgrenzen.

Neben den jetzt geschilderten, mehr lokalen Symptomen kommen immer eine Reihe anderer zum Vorschein an mehr oder weniger entfernten Organen oder von

' 428 Kj. Otto af Klercker.

mehr allgemeiner Natur. Dieselben können zurückgeführt werden entweder auf die rein mechanische Druckwirkung des hochgradigen Meteorismus auf angrenzende Körperteile oder auf die Giftwirkung gewisser aus dem stagnierten Darminhalt resorbierten „toxischen“ Produkte. Die Vergrößerung und Aufblähung des Leibes wirkt in erster Linie deformierend auf den Thorax. Die untere Brustapertur erweitert sich, wird mehr kreisrund, der epigastrische Winkel macht sich stumpfer und kann sich so verflachen, daß die Rippenbogen eine quer verlaufende Gerade zu bilden scheinen. Der Brustkasten erscheint kurz und klein im Verhältnis zu dem riesenartigen Leib. Durch bedeutendes Höhertreten des Zwerchfells wird der Brustraum sehr eingeschränkt, hierdurch werden die Lungen- und Herzbewegungen erschwert und Respirations- bzw. Circulationsstörungen ausgelöst. Mehr oder weniger ausgesprochene Dyspnöe und Cyanose gehören auch mit zu den regelmäßigsten Symptomen jedes Hirschsprungschen Syndroms auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung. Das Herz wird nach oben, mitunter sogar nach rechts hinüber verschoben, die Dämpfungs- figur verbreitert sich.

Die Harnorgane werden weniger in Mitleidenschaft gezogen. Albuminurie und Cylindrurie können vorkommen, Indikanurie ist beinahe immer vorhanden.

Das Allgemeinbefinden bleibt wohl nie unbeeinflußt. Die Verstopfung braucht nur eine kurze Zeit anzuhalten, damit sich Veränderungen hierin zeigen. Die Kinder werden unruhig und schlaflos, erblassen, verlieren den Appetit, die Zunge wird belegt, auch AufstoBen kann hinzutreten. Eigentliches Erbrechen oder stärker ausgesprochene Kolikschmerzen sind meistens nicht vorhanden, und sollen immer Verdacht auf irgendwelche Komplikationen erwecken, z. B. dazwischenkommenden, akuten Ileus. Kleinschmidt?’ hat einen interessanten Fall von „Hirschsprungscher Krankheit“ beschrieben, der klinisch unter dem Bilde „unstillbaren Erbrechens“ verlief, während Verstopfung und Meteorismus sehr wenig in Erscheinung traten, so daß die Diagnose erst bei der Sektion gestellt werden konnte. Das Erbrechen war offenbar durch Druckwirkung der geblähten Flexura sigmoidea auf das Duodenum verursacht worden.

Die Kinder magern allmählich ab, bleiben im Wachsen und auch psychisch zurück, nur der „Magen wächst“.

Der weitere Verlauf kann sich verschieden gestalten, je nachdem die Ver- stopfung in derselben Hartnäckigkeit unverändert anhält oder, sei es spontan, sei es als Folge der Behandlung, auf kürzere oder längere Zeit mehr oder weniger nachläßt. In dieser Beziehung spielt sicherlich auch der verschiedene Entstehungs- modus eine nicht geringe Rolle, wenn wir auch, wie gesagt, vorderhand den Zusammenhang nicht im einzelnen überblicken können. Spontane Remissionen sind aber mehrmals beobachtet worden, während deren die Stuhlbeschwerden weniger oder überhaupt nicht hervortreten, der Meteorismus abnimmt und der Bauchumfang wieder normal werden kann. Auch durch Behandlung, vor allem mit Sondierungen oder Wassereinläufen, läßt sich oft Darmentleerung herbeiführen und hierdurch die Kotansammlung und die Gasauftreibung hintanhalten. Wenn dies nur der Fall wird, kann der Verlauf sich sehr in die Länge ziehen, und die Krankheit kann so, eventuell unter Perioden der Verschlimmerung und der Besserung, viele Jahre ver- folgt werden, in einzelnen Fällen sogar bis in das erwachsene Alter hinein, und sie kann sogar in Heilung übergehen. Die nicht behandelten Fälle erreichen aber im allgemeinen kein hohes Alter. Die meisten sterben wohl schon im Säuglingsalter. Die Symptome steigern sich schnell mehr und mehr, die Kinder werden immer mehr elend und unter dem Bilde einer hochgradigen Atrophie gehen sie schließlich

Das Hirschsprungsche Syndrom (Megacolon congenitum). 429

cachectico modo zu grunde. Oder sie erliegen hinzutretenden Komplikationen. So kommt nicht selten eine ulceröse Kolitis mit schleimisch-hämorrhagischen Stühlen und Intoxikationssymptomen dazu und wird zur Todesursache, eventuell unter Ver- mittlung einer Perforationsperitonitis. In anderen Fällen, besonders in den mehr schleichend verlaufenden, können Attacken von akutem Ileus entstehen, die zwar einmal über das andere wieder rückgängig werden können, zuletzt aber doch einen schlimmen Ausgang nehmen. Bronchopneumonien bilden schließlich auch nicht ganz selten die Todesursache.

Pathologische Anatomie.

So wie im klinischen Bild die Verstopfung und der Meteorismus, so überwiegen pathologisch-anatomisch die Dilatation und Hypertrophie des Dickdarms. Beim

Fig. 98.

Des P

D

KÉ? d? d + te Bu E " Gen Ki kW Ni m "ës, f

l AA > . T'as „$ ZE CW le J BA y

8 KK g

Megacolon nach der Leichenöffnung des Patienten in Fig. 97.

Öffnen des bedeutend ausgespannten Bauches, wölben sich gewöhnlich ein paar enorm erweiterte Darmschlingen hervor, die die anderen Bauchviscera vollständig verdecken (Fig. 98). Die Erweiterung kann das Kolon in mehr oder weniger weiter Ausdehnung betreffen. Beinahe immer ist die Flexura sigmoidea mitbeteiligt, entweder allein, oder die Dilatation erstreckt sich weiter hinauf auf das Colon descendens und transversum, ja kann sogar ascendens und das Coecum mit umfassen. Nach oben bildet aber der Valvula Bauhini eine Grenze, die in der Regel nicht überschritten wird. Nur vereinzelt sind die unteren Teilen des Ileum mit dilatiert gefunden worden. In bezug auf Rectum gilt ebenfalls, daß es nur selten an der Dilatation mit beteiligt ist. An den dilatierten Kolonteilen sind meistens keine Haustra zu sehen, und die Längsmuskelschicht hat sich derartig gleichförmig um den Darmumfang herum ver- breitet, daß irgend welche Taeniae nicht zu unterscheiden sind. Hierdurch verlieren die betreffenden Kolonteile vollständig das charakteristische Dickdarmaussehen und bekommen die Gestaltung eines großen, glattwandigen Sackes, derjenigen eines sehr vergrößerten Ventrikels nicht unähnlich. Die erweiterten Teile brauchen doch nicht immer ganz gleichförmig erweitert sein, gewisse Partien können mehr, andere weniger

430 Kj. Otto af Klercker.

betroffen sein. Sehr oft sind die dilatierten Darmschlingen auch deutlich länger als normal und besitzen abnorm entwickelte Mesenterien. So beobachtet man nicht nur, daß das Mesosigmoideum abnorm lang ist, auch an Darmabschnitten, wie Coecum, Colon ascen- dens und descendens, die normalerweise keine Mesenterien besitzen, können wahre Ge- kröse vorhanden sein. Das gesamte Kolon kann auf diese Weise mit einem gemeinschaft- lichen Mesenterium versehen sein und hierdurch eine einheitliche, abnorm bewegliche Darmschlinge bilden. Goebel!! beschreibt einen Fall, wo das Dünndarmgekröse sich direkt in dasjenige des Kolons fortsetzte, ein gemeinsames Mesenterium ileo-colicum bildend. Ausdrücklich ist aber hervorzuheben, daß die erwähnten Veränderungen keine konstante Erscheinung ausmachen, daß in gewissen Fällen der Dickdarm in bezug so- wohl auf Länge als Anheftung vollständig normale Verhältnisse gezeigt hat. Wie oft und in welchen Formen das eine oder andere der Fall ist, läßt sich leider nicht sagen, da in vielen Fällen bezügliche Angaben fehlen. Es muß also diesen Verhältnissen in künftigen Fällen immer viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden als bisher.

Bei näherer Besichtigung des Gebiets, wo der erweiterte Darmteil ins normale Intestinum übergeht, findet man den Übergang in gewissen Fällen ganz allmählich, die Weite wird immer kleiner, um ohne bestimmt markierte Grenze wieder normal zu werden. In anderen Fällen markiert sich die Grenze dagegen sehr scharf, nicht selten durch eine stark ausgeprägte Knickung. Wir werden auf diese Einzelheiten bei Erörterung der Pathogenese zurückkommen.

Beim Aufschneiden des dilatierten Kolons entweichen viel Gase und entleeren sich große, teils weiche, teils mehr harte Faezesmassen, mitunter förmliche Koprolithen. Das Gewicht des Inhalts kann mehrere Kilogramm betragen. Am Schnitt präsentiert sich die Darmwand als bedeutend verdickt, und schon mit bloßem Auge kann man erkennen, daß die Ringmuskelschicht für diese Verdickung vor allem verantwort- lich ist. Zuweilen findet man aber die verdickte Wand stellenweise von verdünnten, vollständig atrophischen Partien unterbrochen. Die Serosa zeigt makroskopisch keine Veränderungen, die Mucosa ist aber immer mehr oder weniger verändert, sie ist gerötet, geschwollen, zuweilen pigmentiert. Oft finden sich an derselben zahlreiche kleine Erosionen, zuweilen auch, mehr oder weniger zahlreich und mehr oder weniger weit verbreitet, wirkliche Geschwüre, die die Schleimhaut durchsetzen, die Muscularis erreichen und sogar perforierend sein können. Submuköse Abscesse sind gelegentlich beobachtet worden (Hirschsprung).

Mikroskopische Untersuchungen liegen nicht in allzu großer Zahl vor. Dem makroskopischen Befund entsprechend läßt sich in den verdickten Partien eine oft bedeutende Hypertrophie der Ringmuskelschicht feststellen. Aber auch die übrigen Schichten können hypertrophieren. Besonders von italienischen Autoren (Mya, Concetti) wird eine Verdickung und Sklerosierung der Submucosa beschrieben; rings um die Gefäße soll diese Sklerosierung besonders ausgesprochen sein, die Gefäße selbst sollen nicht selten thrombosieren, wodurch Nekrose und ulcerativer Zerfall an der Schleimhaut die Folgen werden. Diese Enteritis chronica inter- stitialis (Mya) kann auch die Ring- und Längsmuskelschicht befallen, die Muskel- zellen werden dann durch mit Rundzellen mehr oder weniger infiltrierte Bindegewebs- streifen getrennt. In den verdünnten Darmpartien findet man Atrophie sämtlicher Schichten, die Muskelschichten können beinahe völlig verschwunden sein.

Pathogenese.

In den sekundären Fällen ist die Pathogenese ohneweiters durchsichtig, insofern hier ja immer irgendwelches Passagehindernis im Darm vorliegt, und die

Das Hirschsprungsche Syndrom (Megacolon congenitum). 431

Dilatation und die Hypertrophie des oben gelegenen Darmabschnitts schlechterdings als eine vom Hindernis ausgelöste Kompensationsbestrebung aufgefaßt werden kann, ungefähr in Analogie zu setzen mit den kompensatorischen Dilatationen am Herzen. Es kann sich selbstverständlich um keine absoluten Hindernisse handeln, da ja durch Einlauf Entleerung bewirkt werden kann. Vor allem sind es Ventilbildungen irgend- welcher Art, wie durch Knickungen, Torsionen, abnorm entwickelte rectale Falten, oder auch Darmspasmen, die gewöhnlich verantwortlich gemacht werden. Besonders ist die Bedeutung der Knickungen von deutschen Autoren in den Vordergrund gestellt worden. Tatsächlich sind auch Knickungen mehrmals bei Sekti- onen von an „Hirschsprungscher Krankheit“ gestorbenen Kindern einwandfrei fest- gestellt worden. Am häufigsten wurde die Einknickung an der Übergangsstelle der Flexur in das Rectum gefunden, demnächst an der Grenze zwischen Colon descendens und Flexur, vereinzelt auch an der Flexur selbst. Es ist auch kaum zu bezweifeln, daß diese Knickungen wirkliche Klaffbildungen bedingen können. Der hierbei wirkende Mechanismus soll mit dem schon 1874 von Roser für das Rectum beschriebenen übereinstimmen (Göppert, Blochmann, Saucke, Perthes, Pfisterer). Dünne oder breiige Exkremente passieren, dickere haben leicht Kotstauung oberhalb der Abknickung zur Folge. Der hierdurch erweiterte Darmteil wird bei stärkerer Füllung den unten gelegenen engeren zusammendrücken und somit an der Knickungsstelle einen klaff-

Fig. 9.

BD ee

S b

Klappenmechanismus nach Rose a Darm im leeren Zustand; 5 Darm gefüllt (nach Göppert).

artigen Verschluß bewirken (s. Fig. 99). Wenn durch Wassereinlauf per rectum der untere Darmteil genügend erweitert wird, kann natürlich dieser Ventilverschluß geöffnet und Stuhl entleert werden. Es ist auch sehr erklärlich, daß, wenn sehr ` große Wassermengen eingeführt werden, sie wohl durch den Ventilverschluß von unten her hindurchkönnen, bei schnellem Wiederauslaufen aus dem Rectum aber zum großen Teil über den Verschluß zurückgehalten werden. Daß auch durch Laxantia, wenn sie nur eine hinreichende Verdünnung bewirken, mitunter Entleerung zu stande kommen kann, läßt sich ebenfalls mit dem fraglichen Mechanismus ver- einbaren.

Bedeutend schwieriger ist es zu entscheiden, auf welche Weise die Knickung selbst zu stande kommt, inwieweit sie wirklich die primäre, ursächliche Erscheinung bildet und nicht bloß die Rolle einer sekundären Komplikation spielt. Hierüber ist man verschiedener Ansicht gewesen, und die Akten sind auf diesem Punkt keines- wegs als geschlossen anzusehen. Nun ist es schon längst bekannt, daß das Kolon und vor allem das Sigmoideum bei dem Neugeborenen im allgemeinen relativ bedeutend länger ist als im späteren Alter, und man hat darum gemeint, eine Prädisposition zur Abknickung könnte gesucht werden in einem stärkeren Ausprägen dieses physiologischen Verhaltens, einem sog. Makrokolon bzw. Makrosigmoideum, wodurch vermehrte Schlingenbildung und Ortsbewegung besonders bei gleichzeitig bestehendem, abnorm breitem Mesosigmoideum erfolgen müßten. Anderseits darf aber nicht übersehen werden, daß eine Darmabknickung, die bei der Sektion eines

432 Kj. Otto af Klercker.

Kindes, das auf dem Höhepunkt der krankhaften Veränderungen gestorben ist, nicht ohneweiters als die Ursache dieser hingestellt werden kann. Bei dem hier gewaltig aufgetriebenen Unterleib werden die Bauchdecken ja bis zum Äußersten gedehnt, wodurch die Bauchmuskeln beinahe vollständig atrophieren und außer Funktion gesetzt werden. In dem hierdurch bedingten Wegfall dieser vielleicht wichtigsten Stütze für die Bauchviscera liegt ein gewiß ebenso wirksamer Faktor, wodurch erhebliche Lageveränderungen derselben veranlaßt werden können. Voraussetzung zu sekundären Knickbildungen fehlt somit hier keinesfalls. Tatsächlich sind Fälle von „Hirschsprungscher Krankheit“ mitgeteilt worden, in denen alles dafür zu sprechen scheint, daß die Knickung erst gegen das Ende des Lebens entstanden ist, während das Megakolon ganz bestimmt von dieser unabhängig und von anderen Ursachen verursacht war.

Als Beweis für die genetische Rolle der Knickungen in den fraglichen Fällen wird nicht selten darauf hingewiesen, daß der Übergang zwischen der oberen, erweiterten und hypertrophischen Darmpartie in die untere normale ein ganz scharfer ist, und daß auch mikroskopisch die Dicke der Darmwand in der Richtung zur Abknickungsstelle zunimmt, um hier plötzlich wieder zur Norm zurückzugehen. Aber dieses Verhalten kann doch höchstens als Beweis dafür dienen, daß zur Zeit, wo Exitus eintrat, ein Passagehindernis an dieser Stelle seit einiger Zeit vorhanden war, hat dagegen an und für sich nicht viel zu besagen betreffend den ursprünglichen Entstehungsmodus des pathologischen Vorgangs. Stellen wir uns z. B. ein primäres Megakolon vor. Hier müßte also das Darmlumen von Anfang an vollständig frei und wegsam gewesen sein, der erweiterte Darmabschnitt und seine verdickte Wandung hätten folglich auch ohne scharfe Grenze ganz allmählich in die normalen Teile übergehen sollen. Würde es aber später zu einer Abknickung der letzteren mit davon bedingter Klaffbildung kommen, brauchte dieser sekundär entstandene Verschluß wahrscheinlich nicht lange zu bestehen, ehe das anatomische Bild durch Weiter- entwicklung der Dilatation und der Hypertrophie sich derart verändern würde, daß man sehr gut den Eindruck bekommen könnte, derselbe hätte auch das Megakolon von Anfang an verursacht.

Damit soll freilich nicht gesagt sein, daß das „Hirschsprungsche Syndrom« überhaupt nie durch eine Darmabknickung ausgelöst werden kann. Nur darf man nicht allzu schematisch urteilen, so daß eine vorhandene Knickung schlechterdings nur deshalb als die primäre Ursache hingestellt wird, weil sie an geeigneter Stelle zu liegen scheint. Erst eine genaue Prüfung aller vorliegenden Umstände unter möglichst vollständigem Ausschluß aller anderen Entstehungsmodi kann die nämliche Genese annehmbar machen. Über einen gewissen Grad der Wahrscheinlichkeit hinaus dürfte es gleichwohl in den meisten Fällen nicht kommen. Man ist, wie mir scheint, bisher im allgemeinen zu leicht über die Schwierigkeiten hinweggegangen, und es ist auch kaum möglich, aus der vorliegenden Kasuistik sich eine richtige Vorstellung zu bilden über die tatsächliche Bedeutung der Darmabknickungen in ätiologischer Beziehung. Daß sie aber schon früh primär entstehen können, scheint sicher, fraglich ist es indessen, inwieweit ein Makrokolon oder ein Makromesosigmoideum ihre Entstehung hinreichend erklären kann, und inwieweit nicht das Vorhandensein von Mißbildungen anderer Art hierzu erforderlich ist. In dieser Beziehung ist eine neulich von Saucke mitgeteilte Beobachtung sehr belehrend. Hier war „Hirsch- sprungsche Krankheit“ im Alter von ungefähr 4 Monaten festgestellt worden. Durch Sondierungen und Darmspülungen ließ sich der Meteorismus jedoch leidlich hint- anhalten, und bei der Sektion nach einigen Monaten fand man eine lange Flexura

Das Hirschsprungsche Syndrom (Megacolon congenitum). 433

sigmoidea mit Knickung, ein abnorm langes Mesokolon, eine nur mäßige Dilatation des oberhalb der Knickung gelegenen Flexurabschnitts, dessen Wand nicht hyper- trophisch war. Das Darmstück unterhalb der Knickung war dagegen eng, im Präparat etwa bleistiftdick. An der Stelle der Knickung war das Mesosigmoideum so verkürzt, daß auch bei maximaler Streckung des Darmes der Knick nicht ausgeglichen wurde. Es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß das Hirschsprungsche Syndrom auf diese Knickung zurückzuführen ist. Die anatomischen Veränderungen, die starke Dilatation und die kompensatorische Hypertrophie haben sich noch nicht ausgebildet, sicherlich weil, wie es Saucke hervorhebt, infolge der sofort einsetzenden Behandlung die Gase und Kotmassen dauernd abgelassen wurden. Das wichtigste Moment wiederum für die Ausbildung der Knickung haben wir wohl sehr wahrscheinlich in den Anomalien des distalen Flexurteils und des Mesosigmoideums zu suchen. Schon die vorhandene Stenose allein, die doch eine angeborene Mißbildung darstellen muß, kann wahrscheinlich durch Vermittlung einer Stagnation oberhalb ihrer die erste Bedingung zur Abknickung gebildet haben.

Volvulus der Flexura sigmoidea ist mehrmals bei Megakolon beobachtet worden. In bezug auf den genetischen Zusammenhang liegen die Sachen hier der Abknickung so ziemlich analog. Es handelt sich hier natürlich nicht um einen akuten Volvulus mit plötzlich einsetzender, völliger Verlegung des Darmlumens und Nekrose der Darmwand, sondern um eine eigentümliche Form des chronischen Volvulus, die nach Konjetzny meist nicht über eine Überkreuzung der Flexur- schenkel hinausgeht, also einer Achsendrehung des Colon sigmoideum um 90 bis 180° entspricht. Die Darmpassage wird hierdurch nicht vollständig blockiert, es bildet sich aber eine enge Stelle, über welche breiige Faeces leicht stagnieren können, und durch Druck des hierdurch bald dilatierten Darmteils auf die Über- kreuzungsstelle des abführenden Schenkels kann also ein ähnlicher Ventilverschluß wie bei der Abknickung zu stande kommen. Wie bei dieser hat man auch hier in einer abnormen Länge der Flexur und ihres Mesokolons ein wichtiges prädisponierendes Moment sehen wollen. Ein Überkreuzen in gewissem Grade der beiden Flexurschenkel findet sich aber oft bei Sektionen an Neugeborenen und Säuglingen mit übergroßen Flexuren, ohne daß im Leben ein Passagehindernis sich bemerkbar machte. Man hat sogar von einem „physiologischen“ Volvulus der Flexur gesprochen (v. Samson). Offenbar muß die Achsendrehung sich hier bei einer gewissen Füllung des Darmes wieder aufdrehen, ein Vorgang, den übrigens Leichtenstern durch Lufteinblasen vom Kolonschenkel her an der Leiche eines l11ljährigen Knaben mit chronischer Achsendrehung der Flexur direkt demonstrieren konnte. Es müssen also noch weitere Momente, die der Volvulusbildung förderlich bzw. der Aufdrehung hin- derlich sind, hinzukommen. Die nähere Einsicht in die anatomischen Bedingungen der Volvulusbildung ist jedoch recht unklar und mangelhaft (vgl. z.B. v. Samson). Als ein sehr wichtiges prädisponierendes Moment gilt aber eine Annäherung der beiden Fußpunkte des Flexurschenkels, so daß die Flexur Q-förmig wird, wodurch selbstverständlich sowohl die Achsendrehung selbst als vielleicht vor allem die Ausbildung des Ventilverschlusses erleichtert wird. Beim Säugling stehen die Fuß- punkte indessen normal relativ ziemlich weit voneinander ab, und der von der Haftlinie des Mesosigmoideums gebildete Winkel liegt höher und ist größer als beim Erwachsenen (v. Samson). Eine Annäherung der Fußpunkte kann nun auf verschiedene Weise zu stande kommen. Sie kann durch eine chronische, schrump- fende Mesenterialperitonitis bedingt sein. Bei jeder Erweiterung des Darmlumens muß aber der Darm sich in gewisser Ausdehnung zwischen die Blätter des Meso-

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 28

434 . Kj. Otto af Klercker.

sigmoideums hinein entwickeln. Konjetzny, dem ich in der Darstellung der hier in Frage kommenden Umstände hauptsächlich gefolgt bin, zeigte durch Experimente an Kinderleichen mit übergroßen Flexuren, daß bei maximaler Aufblähung des Colon sigmoideum am Mesosigmoidalansatz eine Trennung der beiden Mesenterial- blätter in der Ausdehnung von 4—6 mm, von der Darmwand gerechnet, zu stande kommen kann, so daß zwischen diesen und der Darmwand ein dreieckiger Spalt entsteht. Eine allmählich zunehmende Dilatation des Colon sigmoideum muß also an und für sich dahin wirken, daß seine Fußpunkte sich einander immer mehr nähern, und bei zugleich übernormaler Größe der Flexur auch eine Prädisposition zur Torsion abgeben. Jedes Megakolon trägt also in sich sozusagen den Keim zu einer Achsendrehung, zumal auch entzündliche, schrumpfende Prozesse am Meso- sigmoideum von demselben ausgelöst werden können. So wie die Abknickung, kann somit wahrscheinlich auch der Volvulus eine sekundäre Komplikation dar- stellen, und in der Beurteilung seiner genetischen Rolle müssen wir also mit der- selben Umsicht verfahren wie dort. Durch Untersuchungen an Föten hat aber Konjetzny festgestellt, daß eine Nahestellung der Flexurfußpunkte schon congenital bestehen kann, und wahrscheinlich kann das Hirschsprungsche Syndrom mitunter auf der Grundlage eines chronischen Volvulus entstehen. Häufig dürfte aber ein derartiger Vorfall nicht sein. Nur in einer Minderzahl der veröffentlichten Hirsch- sprungfälle wurde dieser Entstehungsmodus direkt behauptet. .

Eine dritte Art des Ventilverschlusses soll nach Josselin de Jong und Mit- arbeiter durch abnorm entwickelte Plicae transversae recti veranlaßt werden. Im Jahre 1910 wurde diese Auffassung zum ersten Male in einer Mitteilung von Josselin de Jong und Muskens ausgesprochen. Ausgangspunkt bildete eine Beobachtung an einem 12jährigen Knaben mit Hirschsprungschem Syndrom und klinischen Zeichen eines Ventilverschlusses an der Grenze zwischen Sigmoideum und Rectum, wo bei der Sektion kräftig entwickelte Plicae transversae im Rectum gefunden wurden. Besonders war die oberste Klappe sehr groß und kräftig und lag am Übergang von Flexur ins Rectum an der hinteren Darmwand unmittelbar über einer kleineren Klappe oder Falte an der vorderen Wand (s. Fig. 100). Nach der Meinung der Autoren war die Abschließung eben durch die Größe und Lage dieser beiden Falten verursacht. „Die Falte n:o 5 war von vornherein abnormal groß Kiappenmechanis. entwickelt und ließ eine kleine Öffnung zwischen sich und der gegen- mi a PETA überliegenden Wand frei. Füllte sich die Flexura, dann wurde die lin deJongund Klappe herabgedrückt und stieß gegen Falte 4, wodurch der Zugang

zum Rectum abgeschlossen wurde.“ Wie die Autoren aber selbst her- vorheben, war außerdem eine starke Einknickung der Vorderwand an der recto- sigmoidalen Grenze vorhanden, die Flexur bildete hier eine beutelförmige Ver- größerung und hierdurch wurde die Falte z:o 4 tiefer in das Lumen hinein- geschoben. „Die Knickung der Vorderseite und die beutelförmige Anschwellung der Flexur waren der Abschließung förderlich“, erklären die Verfasser. Man muß unbedingt Konjetzny und Kleinschmidt?? recht darin geben, daß kein Beweis dafür beigebracht worden ist, daß die Rectalfalten wirklich allein das Megakolon hier verursacht haben und nicht bloß einen unterstützenden Faktor abgegeben zum eigentlich tätigen Moment, der Abknickung. Hier stoßen wir wieder auf die schon erwähnten Schwierigkeiten, die genetische Bedeutung einer Darmabknickung, die bei einer „Hirschsprungschen Krankheit“ auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung angetroffen wird, richtig zu beurteilen. Mehr beweisend sind aber zwei spätere von

Fig. 100.

Das Hirschsprungsche Syndrom (Megacolon congenitum). 435

Josselin de Jong bzw. Josselin de Jong und Plantenga mitgeteilte Beobach- tungen. Diese beziehen sich auf zwei im Alter von 9 respektive 4 Wochen ge- storbene Kinder, die bei der Geburt völlig normal waren, an denen aber bald nachher das Hirschsprungsche Symptombild immer mehr hervortrat, und post mortem ein Ventilverschluß infolge einer kräftig entwickelten Falte am Übergang von Flexur ins Rectum festgestellt wurde. In beiden Fällen war Kolon, besonders auch Flexura sigmoidea, von normaler Länge, das Mesosigmoideum war ebenfalls normal breit, und von Abknickungen war nichts zu sehen. Dilatation und Hyper- trophie war in dem einen Fall überhaupt nicht feststellbar, in dem anderen nur wenig ausgeprägt. Offenbar handelt es sich hier also um zwei Frühstadien des Hirschsprungschen Syndroms. Es ist also kaum mehr daran zu zweifeln, daß angeborene abnorm große bzw. abnorm gelegene Plicae rectales wirklich die erste Veranlassung zur Entstehung des Hirschsprungschen Syndroms bilden können. Bei länger dauerndem Krankheitsverlauf muß die Flexur oberhalb der abschließenden Falten sich immer mehr füllen und erweitern, und diese stark dilatierte und mit Fäkalien gefüllte Flexur kann sich dann leicht unter scharfer Abknickung ins kleine Becken hineinsenken, zumal bei bedeutender Ausspannung des Leibes die Stützen der Bauchdecken wegfallen. Durch Druck des herabgesunkenen Flexurbeutels auf das Rectum werden die Passageschwierigkeiten verstärkt, und es ist leicht verständ- lich, daß man den Eindruck bekommen kann, daß das Megakolon durch den von der Knickung bewirkten Ventilverschluß veranlaßt sei. Ja es ist sogar möglich, daß die Falten bei der exzessiven Darmerweiterung sich später mehr oder weniger aus- gleichen können.

Um überhaupt den richtigen Zusammenhang klarmachen zu können, ist es selbstverständlich eine unerläßliche Bedingung, daß die Bauchorgane in situ unter- sucht werden. Am besten verfährt man so, daß der gesamte Darmkanal in seiner topographischen Lage freiseziert und in 10% igen Formalin fixiert wird. Daß es den- noch schwierig sein kann, zu entscheiden, was primär und was sekundär ist, versteht sich wohl nach Vorstehendem von selbst. Hierzu kommt noch, daß man in älteren Fällen mit vollständig ausgebildetem Megakolon nicht mit Sicherheit wissen kann, ob vorhandene, übergroße Rectalfalten wirklich primäre Bildungen darstellen und nicht von einem Megacolon congenitum sekundär veranlaßt worden sind. Hierüber weiter unten. Außerdem ist es vielleicht auch in Frage zu stellen, inwieweit bei einem durch Rectalfalten bedingten Klappenmechanismus eine Muskelwirkung nicht mit hineinspielen könnte. Am Bau der Rectalfalten nehmen ja auch die Muskel- schichten der Darmwand teil, wenigstens die Ringmuskelschicht.

Hiermit kommen wir zu einem anderen Hauptproblem in der Pathogenese des Hirschsprungschen Syndroms, zur Frage von der Bedeutung der Darmspasmen. Seitdem Fenwick in einem Fall von .Megacolon congenitum einen gleichzeitig vorhandenen Krampf des Sphincter ani für dessen Entstehung verantwortlich machen wollte, ist diese Genese wiederholt behauptet worden. In Fällen, wo ein Sphincter- krampf sich tatsächlich nachweisen läßt, braucht der Kausalnexus aber nicht unbe- dingt der nämliche sein. Sphincterkrampf, gewöhnlich in Verbindung mit Fissura ani, kommt ja nicht ganz selten auch sonst bei obstipierten Säuglingen vor, und hierbei dürfte wohl. immer die Obstipation das Primäre sein, und die Fissur und Contractur kommen erst sekundär zu stande infolge des stetigen Reizes der harten Stühle bzw. der wiederholten Klistiere. Offenbar verhält es sich beim Hirschsprungschen Syndrom ebenso. Wenn wirklich vorhanden, kann also der Sphincterkrampf hier ebensogut sekun- därer Natur sein und also keinen sicheren Beweis für die spastische Genese abgeben.

28°

436 Kj. Otto af Klercker.

Größere Bedeutung muß jedenfalls dem Nachweis höher oben im Darme ge- legener Contractionsringe beigelegt werden. Eine Mehrzahl einschlägiger Beob- achtungen sind veröffentlicht worden. Es handelt sich um intra vitam festgestellte Darmhindernisse, die als Muskelcontracturen aufgefaßt wurden. Diese Deutung gründet sich hauptsächlich auf zwei Momente: 1. einen charakteristischen Befund bei der rectalen Fingerpalpation bzw. der Sondenuntersuchung, worüber Näheres im Kapitel Diagnose; 2. auf die Besserung bzw. das Zurückgehen der Symptome durch Behandlung mit krampflösenden Mitteln, wie Opium und Belladonna resp. Atropin (vgl. Kapitel Behandlung). Die ausschließlich funktionelle Natur des Hinder- nisses ist jedoch nur in zwei Fällen (dem Falle Köppes und dem 2. Falle Mosers) durch die vorgenommene Autopsie und das hierbei konstatierte Fehlen jedes Zeichens einer anatomischen Striktur völlig sicherfestgestellt. In einigen Fällen lagen unleug- bar organische Strikturen vor, wahrscheinlich narbige Reste einer operierten Darm- atresie; in zwei von diesen (Goebel, Moser) war die hierdurch verursachte Stenose jedoch nicht so eng, daß durch sie allein ein genügend schweres Passage- hindernis zu stande kommen konnte, das angeblich durch einen hinzutretenden Darmspasmus bewirkt wurde. Behring und Klercker haben neulich eine Beob- achtung mitgeteilt, die das besondere Interesse darbot, daß die offenbar lange Zeit permanent bestehende Muskelcontractur sich allmählich in einer sozusagen morpho- logisch ausdifferenzierten Sphincterbildung fixiert hatte. Bei der Sektion fanden wir nämlich auf dem Platz des schon intravital festgestellten Hindernisses eine Ein- schnürung und derselben gegenüber im Darminnern einen circulär verlaufenden Wall, an dem sich die Schleimhaut in zahlreichen längsgerichteten Falten gelegt hatte. Offenbar hatte die Schleimhaut hier früher ein geräumigeres Lumen aus- gekleidet. Die nähere mikroskopische Untersuchung lehrte, daß die Ursache der Verengerung ziemlich sicher in einer Contractur der Ringmuskulatur zu suchen war, welche durch eine scharf auf die Falten beschränkte sklerotische Umwandlung des mukösen und submukösen Bindegewebes fixiert worden war. Möglicher- weise war diese sekundäre Bindegewebsbildung durch den Reiz eines hinunter- geschluckten und über dem Contractionsring während wenigstens 3 Monate liegen gebliebenen und bei der Sektion hier angetroffenen metallenen Knopf ausgelöst worden.

Daß organische Stenosen, z. B. narbige Einschnürungen, infolge operierter Atresien sich durch eine örtliche Darmcontractur komplizieren können, ist ja nicht so sonderbar. Die Bindegewebsinfiltration kann hier einen stetigen Reiz zur Muskel- contraction abgeben. Merkwürdiger scheint es, daß ohne derartige anatomische Grundlage ein rein funktioneller Dauerspasmus aufkommen kann. Solche an einer Stelle stehen bleibende Contractionsringe sind der glatten Muskulatur wesensfremd, kommen außer in Betreff der Sphincteren bei derselben nicht vor. Wie wir es in unserer oben erwähnten Arbeit näher auseinandergesetzt haben, wäre es auch sehr verlockend anzunehmen, daß es sich bei diesen Contractionsringen in der Tat um eine Hyperfunktion irgend eines schon präformierten, funktionellen oder virtuellen Sphincters (vgl. A. Keith) handeln könnte. Die Lage des Contractionsrings in den einschlägigen Fällen würde ziemlich gut mit derjenigen eines rectosigmoidalen Sphincters, eines sog. Sphincter tertius, übereinstimmen. Wir haben weiter die Ver- mutung ausgesprochen, daß ein derartiger „Sphincter tertius“ gerade im Fötalleben besonders wirksam sei, um den Zugang des Meconiums zum Rectum zu sperren und somit Defäkationen zu verhindern, und daß ihm infolgedessen eine gewisse Krampf- bereitschaft innewohnen könnte.

Das Hirschsprungsche Syndrom (Megacolon congenitum). 437

Über die besonderen Momente, die außerdem bei der Entstehung des Spasmus wirksam sind, wissen wir nichts Sicheres. Oswald Meyer hat denselben in Zu- sammenhang mit Spasmophilie setzen wollen. Eine schon congenital bestehende Spasmophilie ist aber nicht sehr wahrscheinlich und bisher völlig unbekannt. Eben- sowenig wissen wir, inwieweit die übrigens recht unklaren Zustände der sog. Vago- bzw. Sympathicotonie hierbei irgendwas zu bedeuten haben. Systematische, pharma- kologische Prüfungen des autonomen Nervensystems sind, soviel ich weiß, nur 2mal an Fällen von Megakolie vorgenommen worden, von Retzlaff und von Käckel. Der erste fand, daß Adrenalin eine kräftige Wirkung entfaltete, während Physostigmin und Atropin ohne Wirkung waren, weshalb er das Vorliegen einer Sympathicotonie bzw. „Vagasthenie“ meint annehmen zu müssen. Käckel wiederum bekam sowohl mit Adrenalin als Pilocarpin und Atropin ungefähr gleich geringe Wirkung. In beiden Fällen fehlen aber sichere Anhaltspunkte für eine spastische Genese, und in Retzlaffs Fall ist nicht einmal der congenitale Ursprung des Mega- kolons sicher.

In bezug auf die pathogenetische Bedeutung angeborener, von anatomischen Wandveränderungen bedingter organischer Darmstenosen können wir uns kurz fassen. Es handelt sich hier um unvollständige Analatresien, röhrenförmige oder mehr membranartige, congenitale Strikturen des Rectums oder Sigmoideums. Es ist klar, daß, wenn die Stenose sehr hochgradig ist, die Durchgangsbehinderung so groß werden kann, daß lleussymptome binnen kurzem erscheinen, und es zum Tod kommt, bevor es noch zur Ausbildung eines Megakolons kommen konnte. In anderen Fällen wiederum hat die Stenose an und für sich offenbar kein zur Auslösung des Hirschsprungschen Syndroms hinreichendes Hindernis gebildet. Dasselbe kam, wie schon erwähnt, erst zum Vorschein, wenn auf Grundlage der Stenose Kompli- kationen, wie Darmabknickungen (vgl. Saucke) oder Spasmen, hinzukamen. Hieraus ist ersichtlich, wie schwierig es ist, eine scharfe Grenze zwischen „organischen“ und „funktionellen“ Stenosen zu ziehen. Beide können sich so miteinander vermischen, daß es im Einzelfalle vollständig unmöglich wird zu entscheiden, welche die ausschlag- gebende war. Als Beispiel einer gewiß sehr seltenen Ursache eines sekundären Hirschsprungschen Syndroms kann ein von Gurnemanz Hoffmann mitgeteilter Fall erwähnt werden. Hier war die Stenose bedingt durch einen wahrscheinlich von einer fötalen Peritonitis hervorgerufenen fibrösen Schnürring am Übergang des Sigmoideums zum Rectum. Bei der Laparotomie ließ sich dieser Schnürring mittels einer Sonde leicht vom Darme lösen.

Aus dem, was hier über Darmhindernisse als Ursache eines Megacolon con- genitum gesagt worden ist, geht hervor, daß jene, mögen sie der einen oder der anderen Art sein, vorzugsweise an der rectosigmoidalen Grenze ihren Sitz haben. Schon ‘unter normalen Verhältnissen bildet aber sehr wahrscheinlich diese Grenze während des Fötallebens eine Sperre für den Inhalt des Kolons. Hierauf hat bereits Fleiner aufmerksam gemacht. Immerhin kann ein an dieser Stelle gelegenes Hindernis eigentlich erst nach der Geburt sich geltend machen. Das resultierende Megakolon kann also nur in uneigentlichem Sinne „congenitum“ benannt werden. Angeboren sind ja, streng genommen nur die Voraussetzungen.

Es erübrigt nur noch die Frage des primären Megacolon congenitum, das also durch kein obstruierendes Darmhindernis verursacht sein sollte. Von ver- schiedenen Seiten ist das Vorkommen einer derartigen Form bezweifelt worden. Man hat darauf hingewiesen, daß eine schon vor der Geburt ausgebildete Dilatation und Hypertrophie des Kolons noch nicht bei einer Sektion nachgewiesen worden

438 Kj. Otto af Klercker.

sei. Zwei früher nicht selten als Beweis hierfür angeführte Beobachtungen v. Ammons haben vor der Kritik nicht standgehalten (Johannessen, Konjetzny). Unter 1600 Obduktionen von Totgeborenen und 2491 von Säuglingen bis zu einem Jahre, also im ganzen bei 4091 Kinderleichen, fand Heller nie derartige Veränderungen. Die jüngsten gestorbenen Kinder mit Hirschsprungschem Syndrom waren im allge- meinen einige Monate alt, ein bei ihnen gefundenes Megakolon habe also Zeit gehabt, sich sekundär zu entwickeln, und da die anatomischen Daten oft unzureichend sind, um zu entscheiden, inwieweit ein Ventil- oder Klappenmechanismus vorhanden war, so meint z. B. Konjetzny, daß der Ansicht des Vorkommens von einem „idiopathischen“, congenitalen Megakolon „nur der Wert einer unbewiesenen Hypo- these zuzusprechen ist“.

Konjetzny konnte indessen selbst bei der Sektion eines am dritten Lebenstage ge- storbenen Neugeborenen ein unleugbares Megakolon konstatieren, das also sicherlich schon intrauterin entstanden war. Da er aber zugleich stark entwickelte rectale Falten fand, glaubt er, hier nur einen Beweis dafür bekommen zu haben, daß im fötalen Leben entwickelte Passagestörungen im unteren Dickdarm schon intrauterin zu einer Dilatation des Dickdarms mit sekundärer Hypertrophie führen können. Das Ange- borensein komme also keineswegs einem idiopathischen Charakter der Störung gleich. Während des Fötallebens kann aber, wie gesagt, ein wie hier gelegenes Hindernis sich nicht geltend gemacht haben, das Megakolon muß also hier primärer Natur sein, und das Zusammentreffen mit übergroßen Rectalfalten ist nur wieder ein Beispiel, wie kompliziert die Dinge sich hier verhalten können. Die Plicae rectales kommen wohl immer durch harmonikaartiges Zusammenfalten des Rectums zu stande. Möglich wäre es vielleicht, daß gerade durch die übergroße Füllung des obenliegenden Darmteils ein Druck ausgeübt werden könnte, wodurch dieser nor- male Faltungsvorgang verstärkt würde, eine Umkehrung also von Ursache und Wirkung.

In aller Kürze sei auch erwähnt, daß die beiden oben abgebildeten Figuren (Fig. 97 und 98), die ich der Liebenswürdigkeit meines Kollegen und Freundes Dr. G. Grund, Direktors des Flensburgschen Kinderkrankenhauses zu Malmö, zu verdanken habe, von einem jungen, erst 6 Wochen alten Säugling stammen, an dem bei der Sektion kein mechanisches Hindernis festgestellt werden konnte. Der Fall ist von Grund in „Sydsvenska pediatriska föreningen“ hierselbst demonstriert worden und wird später von ihm ausführlich veröffentlicht.

Die klinische Erfahrung, daß es in vielen Fällen nicht möglich war, trotz genauester Untersuchung intra vitam, auch nicht bei der Laparotomie, einen Ventil- mechanismus oder überhaupt ein Hindernis nachzuweisen, darf wohl auch nicht ganz übersehen werden. Von Neugebauer ist z.B. ein derartiger mit negativem Resultat sehr eingehend untersuchter Fall mitgeteilt worden.

Das Vorkommen von primären, congenitalen Megakola kann also meines Erachtens nicht länger bezweifelt werden. Eine andere Sache ist es, wie wir ihre Entstehung erklären sollen. Hier sind wir vorderhand auf lauter Hypothesen hin- gewiesen. Nach der Annahme Hirschsprungs sollte es sich um eine Art Mißbildung handeln. „Ausschlag eines lokalen, üppigen Entwickelungsprozesses“, in Analogie zu setzen mit angeborenem Riesenwuchs anderer Körperteile. Freilich muß zugegeben werden, daß diese Erklärung sehr wenig befriedigend wirkt, sie bedeutet tatsächlich ein „ignoramus“. Nach dem gleichzeitigen Bestehen von Mißbildungen an anderen Stellen wurde vielfach gesucht, jedoch mit sehr geringer Ausbeute. Neulich hat in- dessen Goebel!! auf das nicht seltene Zusammentreffen von Megacolon congenitum

Das Hirschsprungsche Syndrom (Megacolon congenitum). 439

mit anomal entwickelten Mesenterien aufmerksam gemacht und hierin, wenn ich ihn recht verstanden habe, gewissermaßen einen Indizienbeweis für die Mißbildungs- hypothese sehen wollen. Derselbe lautet doch nicht sehr überzeugend. Es handelt sich ja hier um das Ausbleiben sekundärer Verwachsungen des ursprünglichen, medianen, hinteren Mesokolons, also um eine klare Hemmungsbildung. Ein Mega- kolon kann aber schwerlich durch Hemmung entstehen. Klarheit über die Ursache des Ausbleibens der sekundären Verwachsungen ist erst durch eine richtige Einsicht in die Faktoren, die den normalen Vorgang bedingen, zu gewinnen. Hierüber wissen wir erst noch so ziemlich wenig. Nach Broman (S. 379) sollen indessen zwei ein- ander berührende Peritonealflächen, wenn sie längere Zeit unbeweglich und mit gewisser Intensität gegeneinander gedrückt werden, eine Tendenz zu verwachsen haben, und während der fötalen Entwicklungsperiode, wo die physiologischen Ver- wachsungen stattfinden, soll gerade der unbedeutende und noch leere Dickdarm relativ unbeweglich sein. Die Richtigkeit dieser Auseinandersetzungen vorausgesetzt, könnte man vielleicht versucht sein, die Hemmung auf eine verfrühte und vermehrte Füllung und Motilität des Kolons zurückzufühen. Hierdurch ließe sich also sowohl die Er- weiterung als die Hypertrophie erklären. Tatsächlich läßt sich eine schon intrauterin bestehende Kolondilatation ohne gleichzeitige Vermehrung des Inhalts nicht denken, da ja die Darmwand sich eng um den Inhalt anschmiegen muß und eine Gasent- wicklung nicht vorhanden ist. Auf die Bedeutung einer intrauterinen Überproduktion von Mekonium für die Entstehung des Megacolon congenitum hat meines Wissens zuerst Fleiner aufmerksam gemacht. Schwer zu erklären bleibt dennoch, warum die ab- norme Füllung und Dilatation sich nicht nach der Geburt wieder zurückbilden. Wiederholt wurde auf das Paradoxe hingewiesen, daß eine hypertrophische Darm- muskulatur nicht befähigt sein sollte, den Inhalt zu entleeren, wenn die Passage durch kein Hindernis blockiert würde. Unmöglich ist es ja auch nicht, daß in gewissen Fällen, in Übereinstimmung mit der Annahme Neugebauers, ein Ventilverschluß sekundär zur Entwicklung gelangen könnte. Ein schon fötal ausgebildetes Megakolon kann ja möglicherweise die Veranlassung sowohl zu einer Abknickung als einer verstärkten rectalen Faltenbildung geben. Spasmus des „Sphincter tertius“ kann viel- leicht auch hierbei ausgelöst werden. Es bleibt, wie Fleiner sagt, der Dauertonus des intrauterinen recto-analen Verschlusses nach der Geburt bestehen. Die gesteigerte Muskeltätigkeit, welche man gern als Voraussetzung für die Hypertrophie betrachten will, braucht indessen nicht ausschließlich oder vorzugsweise in analwärts gerichteten Kotbewegungen bestehen. Durch Untersuchungen der letzten Jahre kann es nunmehr als festgestellt angesehen werden, daß gerade im Kolon außerdem eine rückläufige, durch aktiven Contractionsvorgang bedingte Kotverschiebung eine wichtige Rolle spielt. Nach Lenz soll es sich bei der „echten« Hirschsprungschen Krankheit eben um eine Steigerung dieses retrograden Transports handeln. Das primäre Hirschsprung- sche Syndrom „würde sich danach also vor allem auf eine myodynamische Grundstörung aufbauen, die bald regionär begrenzt, bald über den ganzen Dick- darm ausgebreitet auftritt“. Das Megakolon „bietet dann gleichsam später das anatomisch erstarrte Bild einer dauernden retrograden Dyskinese dar. Die veränderte Funktion schafft sich das abnorme Organ«, sagt Lenz. Über die Auslösungsbedingungen des retrograden Transports wissen wir vorläufig sehr wenig. In seinen grundlegenden, experimentellen Untersuchungen über die Antiperistaltik des Kolons bei der Katze fand Cannon, daß antiperistaltische Wellen immer von einer tonischen Constriction ausgingen und durch Herbeiführung eines Contractionsringes (mit BaCl,) konnten sie immer hervorgerufen werden. Beim Vorhandensein eines Tonus gewisser Stärke

440 Kj. Otto af Klercker.

im Kolon und eines örtlichen, tonischen Contractionsrings hatte auch eine Vermehrung des Innendrucks zugleich das Aufkommen antiperistaltischer Wellen zur Folge. Wahr- scheinlich verhält es sich mit dem zwar nicht der äußeren Form, wohl aber dem Wesen nach gleichartigen, retrograden Transport des menschlichen Kolons auf die- selbe Weise. Im Fötalleben stellt der muskuläre Abschluß zwischen Sigmoideum und Rectum („Sphincter tertius“) schon normal den erforderlichen tonischen Con- tractionsring dar. Wenn bei vermehrter Meconiumbildung eine abnorme Füllung des unteren Kolons zu stande kommt, entstehen hierdurch stetige Dehnungs- reize, wodurch vom Sphincter ausgehende, retrograde Transportbewegungen sehr gut ausgelöst werden können. Somit würde schon frühzeitig gerade diese Bewegungs- form sich stark ausprägen, und hierdurch die nämliche Dyskinese grundgelegt werden. Dies alles ist zwar lauter Hypothese. Immerhin wird durch dieselbe deutlich zum Ausdruck gebracht, daß im Lichte unserer jetzigen Kenntnisse von den Darm- bewegungen die Entstehung eines primären Megakolons wenigstens nicht völlig so mystisch wie vor Jahren vorzukommen braucht.

Die Möglichkeit, daß eine pathologisch geänderte Innervation mit hineinspielen könnte, ist selbstverständlich auch nicht ohneweiters abzulehnen, und es wurde auch mehrmals darauf hingewiesen. Vorderhand ist aber unser Wissen von dem intimeren Zusammenhang zwischen den nervösen Apparaten und den verschiedenen Arten der Darmmotilität allzu mangelhaft (vgl. z. B. Alvarez), als daß man sich etwas Präzises hier vorstellen könnte. Hierauf bezügliche Aussprüche der Autoren sind auch meistens so allgemein und unbestimmt gehalten (vgl. z.B. Bing), daß ein weiteres Eingehen hierauf füglich unterbleiben kann. Nur soll auf einen neulich von Ishikawa gemachten, sehr interessanten Versuch, die Frage experimentell anzu- gehen, hingewiesen werden. Es gelang ihm nämlich durch Durchschneiden der zum Dickdarm sich hinziehenden sakralautonomen Nerven beim Hunde ein wirkliches Megakolon hervorzurufen, während Sympathicusdurchschneidung (Plexus mesentericus inferior) vollständig negativ ausfiel. Da er weiter an einem 4jährigen Mädchen mit Hirschsprungschem Syndrom seit bald nach der Geburt bei der postmortalen Untersuchung trotz genauester Präparation die Verlaufsbahn der sakralautonomen Fasern zum Dickdarm (Ramus colicus plexus sacralis nach Autor) nicht finden konnte, glaubt er annehmen zu müssen, daß ein Megakolon infolge angeborenen Fehlens der nämlichen Verlaufsbahn entstehen könne. Sowohl in diesem als in den experimentellen Fällen war es jedoch charakteristisch, daß die Darmwand des stark dilatierten Darm- abschnitts nicht deutlich verdickt war, die Hypertrophie vielmehr die oberhalb der Dilatation gelegenen Abschnitte betraf. Das Bild stimmt also nicht völlig mit dem beim Megacolon congenitum gewohnten überein, und die nämliche Genese dürfte darum auch höchstens in vereinzelten Sonderfällen in Frage kommen. Dagegen scheint es nach den Untersuchungen des Autors nicht unwahrscheinlich, daß erworbene Megakola bei Erwachsenen nicht so ganz selten durch Läsion des fraglichen Nervenastes unter Vermittlung einer postentzündlichen Narbenbildung am Mesosig- moideum verursacht werden können.

Ebensowenig gemeingültig ist die genetische Rolle gewisser anderen angeborenen Defekte der Darmwand, wie Muskelhypoplasie des untersten Kolonabschnitts (Con cetti), Hypoplasie der elastischen Elemente des Darms (Petrivalsky).

Kurz zusammenfassend können wir also folgendes über die Pathogenese sagen. Erstens ist es nicht in Abrede zu stellen, daß ein Megakolon sekundär entstehen kann infolge von Obturationsbehinderungen an der recto-sigmoidalen Grenze, welche entweder wie bei den abnorm entwickelten Rectalfalten und den Darmspasmen

Das Hirschsprungsche Syndrom (Megacolon congenitum). 441

schon vor der Geburt ausgebildet sein können, oder, wie bei den Abknickungen und Torsionen, auf angeborene Anomalien des Kolons bzw. des Mesosigmoideums zurückführbar sind. Zweitens ist es auch sehr wahrscheinlich, daß ein Megakolon sich schon während des Fötallebens primär ohne Vermittlung eines mechanischen Hindernisses entwickeln kann, obgleich unsere Einsicht in die näheren Entstehungs- bedingungen hier noch sehr mangelhaft ist. Welche von diesen beiden Hauptformen des Megacolon congenitum die häufigere ist, die primäre oder die sekundäre, läßt sich nicht bestimmt sagen. Die Sache wird auch dadurch weiter kompliziert, daß, wie gesagt, ein primär im Fötalleben. entstandenes Megakolon wahrscheinlich gerade zur Ausbildung der nämlichen Passagehindernisse zu disponieren scheint und sich also sekundär mit einem oder mehreren von ihnen kombinieren kann. Wenn also die Einteilung in eine primäre und eine sekundäre Form auch theoretisch als völlig berechtigt angesehen werden muß, so ist es, glaube ich, in dem einzelnen Falle recht schwer, ja nicht immer möglich, die richtige Entscheidung intra vitam zu treffen, und trotz möglichst genauer und allen Anforderungen genügender Sektions- technik nicht einmal post mortem. Eine größere Kasuistik klinisch und post mortem möglichst genau untersuchter Frühfälle wäre doch vielleicht vor allem geeignet, hier gewisse Klarheit zu bringen.

Diagnostik.

Auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung dürfte das Hirschsprungsche Syndrom im allgemeinen keine diagnostischen Schwierigkeiten bieten. Die hartnäckige, seit der Geburt bestehende Verstopfung bildet im Verein mit dem enorm meteoristisch aufgetriebenen Bauch ein typisches Bild, das nicht zu verkennen ist. In den ersten Tagen nach der Geburt, wenn der Meconiumabgang auf sich warten läßt, kann ja zwar leicht eine Atresia ani vermutet werden, dieser Verdacht ist aber durch eine einfache Rectalpalpation sofort zu beheben. Hat sich Meteorismus schon ausgebildet, könnte vielleicht beim ersten Blick eine tuberkulöse Peritonitis, ein sog. rachitischer Froschbauch, oder bei einem Kinde im Alter über ein Jahr ein sog. intestinaler Infantilismus vorgetäuscht werden. Durch Beachtung der Vorgeschichte, des Ver- haltens des Stuhlgangs u. s. w. sind diese Fehlerquellen doch leicht auszuschließen. Verwechslungen mit übergroßen, congenitalen Ovarial- und Mesenterialtumoren sind auch mitunter denkbar. Weiche Kottumoren lassen sich zwar durch den charakte- ristischen Palpationsbefund (Gersunysches Klebephänomen) unschwer erkennen. Haben sich aber harte, wahre Koprolithen gebildet, und füllen diese z. B. das kleine Becken aus, kann die Entscheidung durch Palpieren allein gewiß fraglich bleiben. Erst gründliche Darmspülungen, eventuell in Verbindung mit vorausgegangenem Eingießen von Öl bzw. manueller Ausräumung können hier Klarheit bringen.

Nach Feststellung eines Hirschsprungschen Syndroms gilt die nächste Frage, inwieweit ein Passagehindernis vorhanden ist oder nicht, und wenn ja, von welcher Art. Wertvolle Aufschlüsse hierbei gewähren uns verschiedene klinische Unter- suchungsmethoden und Hilfsmittel, wie z. B. Rectalsondierung, Röntgenunter- suchung, Recto-Romanoskopie.

Wie vorher erwähnt, stößt nicht selten der ins Rectum eingeführte Finger auf einen Widerstand. In gewissen Fällen gelingt es mehr oder weniger leicht den Finger durch das Hindernis hindurchzuführen, welches sich hierbei deutlich als eine Art Falten- oder Klaffbildung herausstellt. In anderen Fällen glaubte man deutlich fühlen zu können, daß die Fingerspitze sich gleichsam in eine Striktur hineinbohrte und wie von einen schmalen straffen Gummiband umschnürt wurde (Koeppe), oder

442 Kj. Otto af Klercker.

auf eine fest angespannte Membran stieß (Moser), und daß die Spannung nach kurzer Zeit aufhörte und das Hindernis vollständig verschwand, so daß der Finger nunmehr ohne Schwierigkeit hindurchkommen konnte. Ein derartig charakte- ristischer Palpationsbefund wird gewöhnlich als Zeichen einer Muskelcontractur gedeutet. |

Die gewöhnliche Lage des Hindernisses an der recto-sigmoidalen Grenze, im allgemeinen mindestens 10 cm oberhalb des Anus, dürfte aber meistens außerhalb der Reichweite des palpierenden Fingers fallen. Hier bietet dann die Rectalson- dierung ein gutes Hilfsmittel dar. Am besten braucht man eine gewöhnliche, weiche Magensonde. Findet sich an der nämlichen Stelle ein Hindernis, geht die Einführung der Sonde zwar zunächst leicht. Dann stößt sie aber in gewissem Abstand vom Anus auf deutlichen Widerstand, der bald plötzlich nachgibt, wobei das Rohr mit einem Ruck hin- durchgleitet und zugleich Kot und Gase massenhaft durch dasselbe hinausströmen. Das Rohr läßt sich nunmehr ohne Behinderung leicht weiter in den Darm hinauf- schieben, und auffallend große Wassermengen lassen sich ohne Schwierigkeit und mit großer Schnelligkeit durch dasselbe in den Darm hineingießen. Schon hierdurch gewinnt man einen gewissen Eindruck der Erweiterung der dilatierten Darmabschnitte. Wenn früher nicht sichtbar, treten sie jetzt mitunter deutlich durch die Bauchdecken hervor. Noch deutlicher wird dies der Fall nach Lufteinblasung. Schwerer ist es, durch Sondierung die Art des Hindernisses zu entscheiden. Ein wechselndes Resultat der Sondierungsversuche, so daß es z.B. bald sehr leicht geht, bald überhaupt nicht gelingt, das Hindernis zu passieren, wird öfters als Ausdruck eines Darmspasmus gedeutet, was jedoch als sehr unsicher zu betrachten ist, da ja ein Umbiegen der Sonde auch ohnedies gelegentlich eintreten kann. Charakteristisch, wenn auch nicht beweisend für das Vorliegen eines Klappenverschlusses ist nach Perthes, daß beim Einlauf von Flüssigkeit ins Rectum große Mengen rasch in den Darm hineingehen, aber nur unter Schwierigkeiten wieder entleert werden, besonders wenn beim Ein- lauf verschieden großer Mengen die unmittelbar nach der Injektion zurückfließende Menge stets ungefähr gleich klein bleibt. Für Ventilverschluß soll nach Perthes außerdem sprechen, daß das spontane Abgehen der Darmgase nur in bestimmter Körperlage erfolgt. In einem Falle Neugebauers verhielt sich der Gasabgang aber trotz des Fehlens eines Passagehindernisses genau auf dieselbe Weise.

Durch Röntgenuntersuchung kann man sicheren Aufschluß erhalten über Ausdehnung, Größe, Länge und Form des erweiterten Darmabschnitts und mitunter auch durch eine quere Unterbrechung in der Schattenbildung einen Anhaltspunkt für Vorhandensein und Lagebestimmung eines eventuellen Darmhindernisses. Über die Art des Hindernisses kann die Röntgenuntersuchung aber keine Aufklärung geben. Das Kontrastmittel kann entweder per os, in der Milchspeise einer Reihe von Mahl- zeiten verteilt, oder auch in Form von Klistieren per rectum eingeführt werden. Die beiden Methoden können einander komplettieren. Voraussetzung, um überhaupt wirklich belehrende Bilder zu bekommen, ist aber, daß durch vorhergehende gründliche Darm- ausspülungen der Kot annähernd vollständig entleert worden ist, so daß das Darm- lumen vom Kontrastmittel ganz ausgefüllt werden kann. Bei Verdacht auf ausgedehnte Ulcerationen im Kolon sollte wegen Gefahr der Resorption besser auf diese Unter- suchung verzichtet werden. Nach Marfan soll aber auch eine Röntgenuntersuchung ohne Kontrastmittel gewisse Aufklärungen geben.

Bei etwas älteren Kindern mit Hirschsprungschem Syndrom wurde wiederholt die Rectoskopie ausgeführt. Nicht selten konnte im Rectoskop am Übergang des Rectums zur Flexur eine Falte oder Klappe gesehen werden (Marfan).

Das Hirschsprungsche Syndrom (Megacolon congenitum). 443

Unter Zuhilfenahme der nun erwähnten Untersuchungsmethoden gelingt es gewiß nicht selten, das Vorliegen eines obstruierenden Darmhindernisses festzustellen und mitunter auch vielleicht bezüglich dessen Natur wenigstens gewisse Anzeige zu bekommen. Eine präzise anatomische Diagnose ist aber, wie gesagt, meistens nicht möglich. Besonders läßt sich die Frage, inwieweit das Hindernis rein funktioneller Natur ist, oder ob es auf Grundlage einer organisch bedingten Stenose entstanden ist, gewöhnlich nie hierdurch beantworten. Aufschlüsse hierüber würde uns aber eine Probelaparotomie gewähren. Dieselbe ist aber bei hochgradig entwickeltem Hirsch- sprungschen Syndrom mit so großer Lebensgefahr verbunden, daß man lieber darauf verzichten sollte. Nach Schneiderhöhn starben von 15 Probelaparotomierten 10, davon 8 in direktem Anschluß an die Operation. |

Bei den in jüngster Zeit immer mehr vorgenommenen Röntgenuntersuchungen an obstipierten Säuglingen wurde Kolon oder Sigmoideum nicht selten bedeutend dilatiert gefunden, ohne daß klinisch von einem Hirschsprungschen Syndrom die Rede sein konnte (A. E. Meyers). Möglicherweise haben wir in solchen Fällen mit anatomisch weniger ausgeprägten, klinisch larvierten Formen des Megacolon con- genitum zu tun. Das typische Hirschsprungsche Syndrom würde sozusagen nur das eine Extrem dieser Zustände darstellen. Da aber meines Wissens bisher keine Sektion an einem derartigen „larvierten“ Fall vorliegt, kann es sich hier höchstens um Ver- mutungen handeln.

Prognose und Behandlung. |

Die Prognose ist selbstverständlich in hohem Grade von der Behandlung ab- hängig. Schneiderhöhn machte im Jahre 1915 eine Zusammenstellung von 358 ' Hirschsprungfällen aus der Literatur. Wenn nur die 283 mit bekanntem Ausgang behandelten in Betracht gezogen werden, wurden von diesen 38:5% geheilt, 84% verbessert, 54'7% starben an direkten Folgen des Hirschsprungschen Syndroms; bei den übrigen blieb entweder die Behandlung ohne Erfolg, oder hatte das Hirsch- sprungsche Syndrom keine direkte Schuld an dem Tode. (Die abweichenden Prozent- zahlen bei Schneiderhöhn beziehen sich auf die Gesamtsumme 358.) Diese Statistik ist zwar nicht als ganz zutreffend zu betrachten, da sie auch Fälle von erworbenem Megakolon bei Erwachsenen umfaßt, möge jedoch eine ungefähre Vorstellung von dem bisher Erreichbaren geben. Hiernach sollte also ungefähr die Hälfte der be- handelten Fälle sterben, und nicht viel mehr als ein Drittel geheilt werden können, gewiß kein glänzendes Resultat, aber dennoch nicht so schlecht, daß es nicht dazu anregen sollte, in jedem Falle zu versuchen, eine möglichst wirksame und andauernde Behandlung durchzuführen. Darin kann man auch Schneiderhöhn völlig bei- stimmen, daß das Resultat sich wahrscheinlich viel besser würde herausgestellt haben, wenn man nicht zuweilen ungeeignete Mittel angewendet oder die Behandlung zu spät angefangen oder zu schnell abgebrochen hätte. |

Selbstverständlich kann die interne Behandlung keine direkt kausale sein. Nur in den durch Darmspasmus verursachten Fällen wäre dies vielleicht möglich, und tatsächlich liegen Mitteilungen über günstige Resultate von sog. antispas- modischen Mitteln in einigen Fällen vor. So sah Oswald Meyer die Symptome schwinden nach einer Opiumbehandlung. Ein früherer Versuch mit Extr. Belladonnae (1—2mal 1 mg täglich bei einem 2—-3jährigen) hatte dagegen keinen Erfolg gehabt. Goebel bekam ein günstiges Resultat mit Belladonnasuppositorien bei einem 2jährigen, während in Mosers früher erwähntem „spastischen“ Fall kleine Opium- gaben ohne Wirkung waren. A E. Meyers ist besonders für die Anwendung von Atropinum sulfuricum eingetreten, wodurch ein 4jähriger Knabe, bei dem die Sym-

444 Kj. Otto af Klercker.

ptome jedoch, wie es scheint, nicht sehr hochgradig entwickelt waren, angeblich ge- heilt wurde. Er wendete eine Lösung von 1: 1000 an, gab hiervon anfangs 5 Tropfen täglich, für jeden Tag wurde mit 1 Tropfen gesteigert, bis zu 10 Tropfen dreimal täglich. Obwohl die Erfahrung hierüber also noch sehr gering ist, müssen wir uns für verpflichtet halten, in Fällen, wo eine spastische Genese vermutet werden kann, wenigstens einen Versuch mit diesen Mitteln zu machen.

In allen anderen Fällen kann die interne Behandlung nur darauf hinzielen, der Retention von Kot und Gasen entgegenzuwirken. Da Gefahr gerade durch die Gas- auftreibung bzw. die Resorption toxischer Produkte aus der Darmretention droht, ist es klar, daß ein Hintanhalten dieser Vorgänge von großer, quasi prophylaktischer Bedeutung sein muß. Die üblichen Laxantia und Kiysmen sind aber für diesen Zweck nicht sehr geeignet. Denn wenn auch mitunter eine, gewöhnlich diarrhoische, Abführung hierdurch erfolgen mag, so ist eine vollständige Entleerung des retinierten Darminhalts auf diese Weise nicht zu stande zu bringen. Bei den Klysmen kann sogar durch teilweises Zurückhalten der Flüssigkeit der Inhalt vermehrt werden. Hierzu kommt nun hinzu, daß diese Mittel durch ihre darmreizenden bzw. peristaltik- anregenden Eigenschaften leicht schaden und besonders bei Vorhandensein eines Passagehindernisses eine zu starke Dehnung der Darmschleimhaut bewirken können. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß in gewissen Fällen, wo der Tod sehr rasch unter den Zeichen einer akuten Kolitis und Perforationsperitonitis eintrat; gerade diese Therapie daran schuld gewesen sei (Schneiderhöhn). Aus denselben Gründen wird allgemein von sog. Obstipationsdiät abgeraten. | Am besten wird die gestellte Indikation durch regelmäßige Darmspülungen erfüllt. Ein gut eingeöltes Darmrohr wird bis hinauf in die erweiterte Darmpartie hinaufgeführt, unter Vorbeigehen eines eventuellen Hindernisses. Darmgase und flüssiger Kot gehen nun von selbst ab, eventuell sucht man durch vorsichtigen Druck und Massage an dem Bauch nachzuhelfen. Danach wird mit Wasser gründlich aus- gespült, so daß möglichst sämtliche Rückstände beseitigt werden. In Anschluß zu der Ausspülung kann man eine Dauerdrainage anlegen, um hierdurch Gas und Kot stetig abzuleiten. In älteren Fällen mit großen Ansammlungen von festen Fäkalien ist es oft nötig, dieselbe zuerst durch Öleinläufe zu erweichen, und es gelingt dann erst allmählich, den Darm leer zu stellen, zuweilen erst unter Zuhilfenahme manueller Ausräumung. Wegen Gefahr des Kollapses wird allgemein davor gewarnt, in Fällen mit extrem gespanntem Bauch die Darmgase zu schnell herausströmen zu lassen. Göppert und Langstein raten, in solchen Fällen das Darmrohr abzuklemmen, wenn der Bauch sich etwa um die Hälfte verkleinert hat, sodann eine Injektion von Coffein zu machen und erst nach einer halben Stunde das Darmrohr wieder zu Öffnen.

Ist es erst einmal gelungen, den gestauten Darm von allen Kotansammlungen zu befreien, wird es gewiß oft möglich, durch regelmäßig fortgesetzte Darmspülungen, eventuell in Verbindung mit Dauerdrainage, die gefahrbringende Retention hintan- zuhalten und ein gutes Allgemeinbefinden wiederherzustellen. Aber nicht nur das, in vielen Fällen kann auch eine wirkliche Verbesserung zu stande kommen, die sich darin zeigt, daß die Spülungen, die anfangs täglich vorgenommen werden mußten, allmählich immer größere Zwischenpausen zulassen, ja nach Monaten oder Jahren kann es sogar zu einer wenigstens relativen Heilung kommen, so daß also nur ein gewisser Grad von Verstopfung zurückbleibt.

Massage und Faradisation der Bauchmuskeln können mit Vorteil als Unter- stützungsmittel zur Anwendung kommen, um die infolge des bedeutenden Meteoris- mus gedehnten und atrophischen Bauchmuskeln zu kräftigen. Selbstverstänlich dürfen

Das Hirschsprungsche Syndrom (Megacolon congenitum). 445

diese Maßnahmen nicht bei noch bestehender Bauchauftreibung angewendet werden. Lennander glaubte in einem Falle günstige Einwirkung von sog. elektrischen Lavements gesehen zu haben. Ein Liter physiologische Kochsalzlösung wurde per rectum eingegossen, die eine faradische Elektrode wurde durch den Anus ungefähr 25 cm hoch in den Darm hinaufgeführt und mit der anderen wurde auf der Vorder- seite des Bauchs gestrichen. Die Ströme wurden so stark genommen, als der Patient ertragen konnte. Sitzung 10 Minuten. Die Behandlung wurde täglich drei Jahre hin- durch fortgesetzt. Vollständige Heilung trat ein, ob infolge der Faradisation ist jedoch zweifelhaft. Das günstige Resultat läßt sich ebenso gut auf Rechnung der täglichen Wassereinläufe schreiben. Die Indikation, eine zu grunde liegende Innervationsstörung des Darmes zu beeinflussen, scheint jedenfalls sehr unsicher.

Offenbar bildet eine permanente Entlastung der erweiterten Darmteile die beste Voraussetzung für eine allmähliche Zurückbildung derjenigen Momente, die in erster Hand das Megakolon bedingen. Ein Ventilverschluß vom Typus des Roserschen Mechanismus muß selbstverständlich hierdurch außer Funktion gesetzt werden, und hierdurch wird esauch der Abknickung bzw. Torsion ermöglicht, sich zurückzubilden. Daß das Wegschaffen der Belastung ebenfalls die Klaffwirkung abnorm entwickelter rectaler Falten bzw. Darmspasmen zu erleichtern vermag, leuchtet ein. Bei jenen kommt außerdem hinzu, daß mit dem Wachsen des Rectums und Vergrößerung seines Lumens, die Falten immer mehr zurückbleiben. Wahrscheinlich ist auch das primäre Megakolon rückbildungsfähig, und bildet auch hier die erwähnte Entlastung die notwendige Bedingung.

Gewiß gibt es aber auch Fälle, wo durch die erwähnten Maßnahmen keine bleibenden Resultate zu erreichen sind, wo, sooft man versucht, dieselben den einen oder anderen Tag auszusetzen, das Syndrom wieder in derselben Stärke erscheint, und wo man also einen operativen Eingriff erwägen muß. Auch dann kann aber die vorhergehende Behandlung nur von Nutzen gewesen sein. Erst durch diese wird es möglich, das Kind in einer solchen Verfassung und in einem solchen Lebens- alter der operativen Behandlung zu übergeben, daß ein glücklicher Ausgang der- selben überhaupt in Aussicht stehen kann. Je älter das Kind, je besser ist die Aussicht hierzu. Wenn möglich, sollte man wenigstens immer versuchen, mit der Operation bis über das erste Lebensjahr zu warten. Nicht selten hat man die operative Behandlung in bestimmten Gegensatz zur internen setzen wollen, und den Vorzug dieser oder jener auf statistischem Wege bestimmen zu können geglaubt. Ein derartig allgemein gehaltener Vergleich ist aber ganz illusorisch. Da schwer heruntergekommene, ganz hoffnungslose Fälle wohl eo ipso für die operative Behandlung ausscheiden, während von der internen dagegen keine abgewiesen werden können, folgt schon hieraus, daß eine geringere Mortalität der Operierten gegenüber den intern behandelten keineswegs als Beweis für die absolute Überlegenheit der operativen Behandlung dienen kann. Es handelt sich auch nicht um einander ausschließende, sondern viel- mehr um einander komplettierende Methoden. Wenn immer möglich, ist die interne zuerst zu versuchen, und erst wenn sie sich als unzureichend erweist, sollte zur Operation gegriffen werden. In bezug auf den dann zu wählenden Eingriff will ich mich nur auf einige kurze Bemerkungen beschränken.

Bei Vorhandensein eines lokalen Hindernisses im Darm liegt es nahe, das operative Vorgehen auf die Beseitigung desselben einrichten zu wollen. So hat man Rectalfalten durch Valvidotomie nach Gant (Göbell, Neugebauer pag. 663) oder Galvanokaustik durchtrennt und Torsionen bzw. Abknickungen reponiert, und durch Kolopexie ein Wiedereintreten zu verhindern gesucht. Diese Methoden haben

446 Kj. Otto af Klercker.

vor anderen das voraus, daß der Darm hierbei nicht geöffnet wird und daß dadurch die Gefahr einer Peritonitis gering ist. In Schneiderhöhns Zusammenstellung kam Kolopexie 15mal zur Anwendung mit nur einem Todesfall. Daß die Methoden auch erfolgreich sein können, lehrt die Erfahrung. Nach Schneiderhöhn trat Heilung nach Kolopexie in 11 Fällen ein. Wenn wir aber die Schwierigkeiten bedenken, in casu zu entscheiden, inwieweit ein gefundenes Hindernis auch von genetischer Bedeutung gewesen ist, wird uns auch das gelegentliche Fehlschlagen verständlich. Einiger- maßen hinlängliche Sicherheit wird jedenfalls allein durch Ausschalten des gesamten erweiterten Darmabschnitts gewährleistet, also entweder durch Resektion oder Enteroanastomose zwischen zwei Stellen oberhalb bzw. unterhalb der dilatierten Flexur. Das Risiko dieser Eingriffe darf aber nicht unterschätzt werden. So starben nach Schneiderhöhn von 29 Enteroanastomisierten 9 und von 50 resezierten 15. In bezug auf die Resektion wird aber die Gefahr offenbar durch zweizeitige Ausführung wesentlich vermindert. Von 9 derartig Operierten starb nach Schneiderhöhn nur einer. Bei den am Leben Gebliebenen versagte die Enteroanastomose in 8 Fällen, die Resektion nur in 2. Die beiden betreffenden Eingriffe dürften wohl also trotz ihres unleugbar vorhandenen Risikos als die chirurgischen Normalmethoden bei Megacolon congenitum zu betrachten sein. Welcher von beiden bevorzugt werden soll, muß in jedem einzelnen Falle je nach den vorliegenden Umständen bestimmt werden. Näher hierauf kann ich jedoch, als Nichtchirurg, nicht eingehen, ebensowenig wie auf technische Einzelheiten und Schwierigkeiten der bezüglichen Methoden.

Nur sei zuletzt hervorgehoben, daß in Fällen, wo die Darmspülungen keinen ausreichenden Erfolg hatten, oder wo die Verhältnisse sonst nicht ganz klar sind, der Rat Perthes’, zunächst einen provisorischen Anus praeternaturalis am Colon descendens anzulegen, befolgenswert scheint. In den folgenden Tagen werden die Flexur und das Kolon durch vorsichtige Spülungen vom Rectum aus entleert. Die definitive Operation wird erst nach einigen Wochen oder Monaten vorgenommen, wenn die Auftreibung des Leibes sich völlig zurückgebildet und zugleich der ganze Zustand des Patienten sich verbessert hat.

Literatur. 'W.C. Alvarez, The Mechanics of the digestive Tract., New York 1922. I.Behring u. Kj. O. af Klercker, Acta paediaırica 1924, IV, p. 35. 3 A. Bing, A. f. Kinder. 1906, XLIV, p.59. ‘Blochmanu, Berl. kl. Woch. 1911, p. 564. 5I. Broman, Normale und abnormale Entwicklun des Menschen, Wiesbaden 1911. 6 W. B. Cannon, The americ. Journ of Physiol 1911-1912, XXIX, .238. 1L. Concetti, A. f. Kinder. 1899, XXVII, p. 319. 8 W. S. Fenwick, The British med. e 1900, II, p. 564. ° W. Fleiner, Jahr. f. ä. Fortb., Märzheft 1920. 10 1! P, Goebel, Mitt. a. d. Gr. 1920, XXXII, p. 498; A. f. Kind. 1921, LXVIII, p. 221. '?R. Goebell, Med. KI 1910, p. 1771. 3 F. Göppert, A. f. Verdkr. 1899, V, p. 175. F. Göppert und L. Langstein, Prophylaxe und Therapie der Kinderkrankheiten, Berlin 1920. !5A. Heller, Münch. med. Woch. 1911, p. 1059. 1617118 H, Hirschsprung, Jahrb. f. Kind. 1888, XXVII, pag. 1; Festschrift für E. Henoch, Berlin 1890, p. 78; Grancher et Comby, Traité des maladies de l'enfance 1904, II, p. 241. ° G. Hoffmann, D. Z. f. Chir. 1921, CLXI, p. 175. %2 N. Ishikawa, Mitteilungen aus der medizinischen Fakultät der kaiserlichen Kyushu-Universität 1923, VII, p. 339 (Sonderabdruck). ?! A. Johannessen, Norsk Magazin for Laegevidenskaben 1900, LXI, p. 277. 223 R. de Josselin de Jong, Nederlandsch Tijdschr. v. Geneesk. 1916; LX, II, p. 1788; Jahrb. f. Kinder. 1921, XCVI, p. 332. 2% R. de Josselin de pre u. A. L. M. Muskens, Mitt. a. d. Gr. 1910, XXI, p. 647. 3 A. Keith, The Lancet 1915, XCIII, II, p.371. %2 H. Kleinschmidt, Mon. f. Kind. 1910, 1X (Orig. 1), p. 375; Erg. d. inneren Med. u. Kind. 1912. 3 H. Koeppe, Mon. f. Kinder. 1908, VI, p. 496. 2 Q. E. Konjetzny, V. Bruns, B. z. Chir. 1911, LXXII. p. 155. ®R. Käckel, Berl. kl. Woch. 1920, p. 1021. 31 O. Leichtenstern, v. Ziemsens, Handbuch d. spez. Path. u. Th. 1878, 2. Aufl., VII, II, p. 380. 32 K. G. Lennander, Nord. med. A. 1900. 3 E. Lenz, A. f. Verdkr. 1919, XXV, p. 54 u. 128. A. B. Marfan, Les affections des voies digestives dans la première enfance, Paris 1923, p. 502. 35 O. Meyer, D. med. Woch. 1913, p. 416. 3% A. E. Meyers, Am. j. of Dis. of Child. 1920, XIX, p. 167. 3 E. Moser, Med. KI. 1921, XVII, p. 810. 33 G. Mya, Lo Sperimentale, Sez. biol. 1894, XLVIII, p. 215. 3 F.Neugebauer, Erg. d Chir. u. Orth. 1913, VII, p.598. * G. Perthes, A. f. kl. Chir. 1905, LXXVII, p. 1. *'!]. Petrivalsky, A. f. kl. Chir. 1908, LXXXVI, p. 318. 4 R. Pfisterer, Jahrb. f. Kinder. 1907, LXV, p. 160. $3 K. Retzlaff, Berl. kl. Woch. 1920, p. 319. 4 C. v. Samson, A. f. kl. Chir. 1892, XLIV, p. 386. * W. Saucke, Jahrb. f. Kinder. 1919, XC, p.273. 4 O. Schneider- höhn, Ztschr. f. Kinder. 1915, XII, p. 321.

Primäre Cholangitis.

Von Privatdozent Dr. Stanislaus Klein, Primararzt, Warschau.

In den letzten Jahren lenkte das gehäufte Auftreten an Lebererkrankungen meine Aufmerksamkeit auf sich. Während in der Vorkriegszeit der Prozentsatz der Leberfälle in meinem Krankenhausmaterial kaum 1 erreichte, machte er im Jahre 1923 73% aus (auf 755 Fälle 55); unter den Frauen stieg er sogar bis auf 112%. Eine ähnliche Häufung von Lebererkrankungen wurde schon vor einigen Jahren in Deutschland bemerkt und der schweren Not und den schlechten Ernährungs- verhältnissen während der Kriegszeit zugeschrieben. Nach den ganz plausiblen Er- klärungen Umbers, der zugleich mit anderen deutschen Klinikern auf diesen Auf- stieg aufmerksam wurde, liegt die Ursache des gegenwärtigen gehäuften Auftretens von Lebererkrankungen in der durch die mangelhafte Ernährung bedingten Ver- armung der Leber an Glykogen, welches im gewissen Sinne als Schutzsubstanz der Leber aufzufassen ist eine Tatsache, die mit den experimentellen Erfahrungen Rogers im Einklang zu stehen scheint. Die Leberzelle, auf diese Weise geschädigt, erliegt leichter verschiedenen Schädlichkeiten, dazu kommt noch die außerordentlich schlechte Qualität vieler Nahrungsmittel, die dabei auch jetzt noch öfters gefälscht und verunreinigt werden.

Unter meinem Material machten einen großen Prozentsatz Fälle aus, die vor- wiegend mit Ikterus verliefen und deren Diagnose gewisse Zweifel verursachte, sofern wir uns nicht mit der schablonmäßigen Diagnose Cholelithiasis oder Icterus catarrhalis befriedigen wollten. Da aber die genaue Beobachtung dieser Fälle uns eine ganze Reihe interessanter und wichtiger, bisher wenig bekannter und nicht richtig eingeschätzter Tatsachen ergab, so halte ich es für zweckmäßig, sie einem breiteren Leserkreise bekanntzugeben. Ich hoffe, daß dadurch manche dunkle Fälle, die bisher falsch oder überhaupt nicht diagnostiziert wurden, verständlicher er- scheinen.

Unter diesen so häufigen Lebererkrankungen erregte meine spezielle Auf- merksamkeit eine nicht geringe Zahl von Cholangitisfällen, u. zw. wegen ihres außerordentlich wechselvollen Anfangs, Krankheitsbildes, Verlaufs und Ausgangs. Was das Krankheitsbild betrifft, so wich es so weit ab von dem. bekannten Bilde der eitrigen, sehr selten primär, meistens aber im Verlauf von Cholelithiasis sekundär auftretenden Entzündung der Gallenwege, daß die Kenntnis dieses Krankheitsbildes für die Diagnose unserer Fälle sich ganz ohne Nutzen erwies. In dieser Hinsicht ähnelte es in gewissem Maße der Pyelitis, die ebenfalls ein proteus- artiges Bild und einen sehr wechselvollen Verlauf bietet und öfters nicht diagnosti- ziert wird. Die Zeitdauer unserer Fälle schwankte zwischen einigen Wochen und mehreren Jahren, wobei der Ausgang entweder in Genesung erfolgte, oder der Tod infolge verschiedener Ursachen eintrat, die mit dem eigentlichen Leiden nicht im Zusammenhang zu stehen schienen, aber doch dessen unmittelbare Folge waren.

448 Stanislaus Klein.

Wegen der großen Mannigfaltigkeit der klinischen Bilder und des Verlaufs des Leidens ist es schwierig, für dasselbe eine gemeinsame, für alle Fälle gültige Schilderung zu geben. Ich glaube deshalb, daß eine Einteilung in Gruppen die Orientierung wesentlich erleichtern würde, wobei zu berücksichtigen wäre, daß die einzelnen Gruppenbilder keineswegs als scharf umgrenzte Krankheitsbilder zu gelten bestimmt sind, da sie häufig untereinander Übergänge aufweisen.

1. Der einfachste und häufigst vorkommende Typus ist folgender. Das Leiden beginnt plötzlich ohne Vorboten, manchmal aber schleichend, bei ganz belangloser Anamnese, wobei als erstes wahrnehmbares Symptom Gelbsucht erscheint. In akut einsetzenden Fällen zeigt Patient eine ganze Reihe akuter gastrointestinaler Störungen (Erbrechen, Druckgefühl im Epigastrium, Durchfall), die öfters, aber nicht regelmäßig, mit einem nicht sehr hohen und nicht lange dauernden Fieber ver- gesellschaftet sind. Nach einigen Tagen entwickelt sich Ikterus, dessen Intensität gering bleiben kann, gewöhnlich aber nimmt er allmählich an Stärke zu und wird von Hautjucken begleitet. Die anfänglich gefärbten Stühle entfärben sich öfters stark, weisen aber regelmäßig deutliche Gallenpigmentreaktion auf. Im Harn tritt sehr früh eine starke Urobilinogenreaktion auf, mit der Zeit gesellt sich auch eine Bilirubinurie dazu. Objektiv findet sich eine deutlich vergrößerte, in ihrer linken Hälfte etwas druckempfindliche Leber, sowie manchmal eine deutlich palpable und etwas schmerzhafte Gallenblase. Mitunter gesellt sich noch dazu eine deutliche Milz- vergrößerung, sowie Symptome von Nierenbeckenentzündung oder Nierenreizung (Leukocyten, Cylinder). Das Fieber verliert sich rasch, der Patient fühlt sich aber entkräftet, verliert den Appetit und wird sichtlich anämisch. Das mikroskopische Blutbild zeigt keine charakteristischen Symptome, öfters aber tritt eine beschleunigte Blutkörperchensenkung auf. Die Gelbsucht dauert einige Wochen an und verschwindet manchmal ohne jede Therapie, und der Patient genest allmählich. Oft jedoch tritt ein Rezidiv der Gelbsucht, häufig ohne jede erkennbare Ursache, auf, meistens aber nach Diätfehlern, nach einem Trauma, oder nach einem Infekt. Es kommen aber Fälle vor, die mehrere Monate sich hinschleppen, zeitweise Schwankungen der Gelb- suchtintensität aufweisen und endlich in Genesung übergehen. Manche seltenere Fälle können in akute Leberatrophie übergehen, selten auch tritt nach einigen Krankheitswochen unter Sepsissymptomen der Tod ein.

Solche leicht verlaufende Fälle werden meistens als Icterus catarrhalis diagnosti- ziert. Wird hier aber der Duodenalinhalt vermittels der Duodenalsonde ausgehebert, so zeigt sich, daß derselbe sehr oft Eiter enthält, u. zw. als flockige Beimengung oder diffuse Trübung. Der Gallenblaseninhalt (gewonnen durch Einführung ins Duodenum von Pepton oder MgSO,) kann ebenfalls Eiter enthalten. Wir haben hier also unzweifelhaft nicht einen katarrhalischen Ikterus in dem alten Sinne vor uns, sondern eine primäre, idiopathische, eitrige Entzündung der Oallenwege, manchmal in Verbindung mit eitriger Entzündung der Gallenblase (Cholangitis et Cholecystitis purulenta).

Relativ selten enthält der Duodenalinhalt keinen Eiter, hier stößt die Diagnose auf Schwierigkeiten. Manchmal findet man zeitweise Eiter, u.zw. zu einer Zeit, wo das Hindernis für den Gallenabfluß verschwunden ist. Es kommen aber zweifellos Fälle vor, bei denen wir während des ganzen oben geschilderten Krankheitsverlaufes keinen Eiter in der Galle finden. Für diese Fälle (und auch für andere, wovon weiter unten), die meistens als katarrhalischer Ikterus diagnostiziert werden, prägte Naunyn den Namen Cholangie. Er verstand darunter einen Infekt des gesamten Gallengangsystems, von der Leberzelle beginnend bis zur Papilla Vateri und Gallen-

Primäre Cholangitis. Ä 449

blase, wobei deutliche Zeichen von Eiterung fehlen und nur eine entzündliche In- filtration um die Leberacini und die feineren OGallenwege herum und die Gegen- wart von Bakterien (Bakteriocholie) zu finden ist.

Naunyn und mehrere andere Forscher vertreten gegenwärtig den Standpunkt, daß die Entstehung von Icterus catarrhalis infolge Verstopfung der Mündung der Papilla Vateri durch einen Schleimpfropf weder pathologo-anatomisch noch klinisch einen Anhaltspunkt findet. Zwar kann in seltenen Fällen eine solche Verstopfung eintreten, aber nur infolge entzündlicher Schwellung des die Papille umgebenden Lymphgewebes einer Angina papillae Vateri (Eppinger).

Die ausgedehnten Untersuchungen Eppingers zeigten dagegen, daß die primären Veränderungen sich oft in der Leberzelle etablieren, u. zw. tritt infolge der Krankheitsnoxe (Infekt) Degeneration und Zerfall dieser Zellen ein, wodurch die Gallencapillaren ihren Stützpunkt verlieren, was einen Übertritt der Galle in die Gefäßcapillaren zur Folge hat. Dieser Vorgang kann die erste Etappe der akuten gelben Leberatrophie bilden, in welche die scheinbar ganz leichten Fälle von sog. Icterus catarrhalis oft übergehen können.

Die Ansicht Eppingers steht eigentlich in keinem Widerspruche zu der Naunyns; denn wenn wir die Leberzellen als die Wandungen der ersten Gallen- wege auffassen, so unterscheidet sich die Hepatitis Eppingers sehr wenig von der Cholangie Naunyns. Auf diese Weise kommen wir zum Schluß, daß der sog. Icterus catarrhalis in zwei pathologo-anatomische Bider zerlegt werden muß: 1. in Cholangie, eventuell Hepatitis und 2. in Cholangitis purulenta. Sache weiterer Forschung wird es sein festzustellen, ob bei der ersten Form nicht doch entzünd- liche Vorgänge in den feineren Gallengängen im Spiele sind: ich glaube nämlich, daß darauf bisher recht wenig geachtet wurde.

Das oben beschriebene Bild der Cholangitis purulenta tritt manchmal in Form von mehr oder weniger ausgedehnten Epidemien auf, mit vorwiegend gutem Aus- gang (Anigstein und Milinska).

Ätiologisch kommt für diese Fälle oft die Paratyphusinfektion in Betracht: am häufigsten jedoch finden wir das Bacterium coli, wie es die bakteriologischen Untersuchungen von Gorke, sowie unsere eigenen, beweisen. Die Paratyphusinfektion verläuft mehr akut, endet manchmal letal, die Infektion mit Bacterium coli hat dagegen einen milderen Verlauf, mit Neigung zum Chronischwerden. Der Infektionsweg kann ein zweifacher sein: ascendierend, vom Darmkanal zur Leber hinauf dieser Modus findet am häufigsten nach Diätfehlern statt —, oder descendierend, auf dem Blutwege, wie das die experimentellen Untersuchungen Fränkels beweisen. Seltener wird die Krankheit hervorgerufen durch andere in verschiedenen Organen seß- hafte Erreger, wie Strepto-, Staphylo- oder Pneumokokken, die durch verschiedene Einflüsse ins Blut und hernach in die Gallenwege und Leber übergehen.

2. Der zweite Typus des Leidens hat einen eminent chronischen Verlauf: es ist möglich, daß sein Ausgangspunkt der erste Typus ist, die Ätiologie ist meistens dieselbe wie dort. Die Krankheit beginnt meistens mit intermittierendem Fieber, verbunden mit Schüttelfrösten und Schweiß; seltener nimmt das Fieber einen remittierenden Charakter an. In manchen Fällen tritt die Erkrankung als Rezidiv des ersten Typus auf, wobei das Fieber nicht besonders hoch ist. Gewöhnlich aber dauert das Fieber Wochen hindurch, verliert aber im Laufe der Zeit seinen typischen Charakter, wobei die fieberlosen Intervalle immer länger werden und das Fieber selbst seine ursprüngliche Höhe nicht erreicht: es treten aber von Zeit zu Zeit Schüttelfröste mit hohen Temperaturen und Schweiß auf, zugleich mit

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 29

450 Stanislaus Klein.

Schmerzen in der Leber- und Milzgegend, wonach wieder ein fieberfreies Inter- wall folgt.

Schon am Krankheitsbeginn finden wir eine deutlich vergrößerte Milz: diese Vergrößerung schreitet rasch fort und nach einigen Krankheitswochen tritt die Milz 3—4 Finger breit unter dem linken Rippenbogen hervor. Die Milzvergrößerung und das Fieber geben oft Aniaß zur falschen Diagnose einer Malaria und zur Chinintherapie, die den Krankheitsverlauf gar nicht beeinflußt,

In dieser frühen Krankheitsperiode finden wir gewöhnlich eine deutlich ver- größerte und verhältnismäßig wenig schmerzhafte Leber, eine nicht immer vergrößerte Gallenblase und, was das Wesentliche ist, eine deutliche Schmerz- empfindlichke&it der Milz, besonders während des Fiebers. In dieser Periode fehlt der Ikterus sehr oft, in manchen Fällen jedoch tritt der Ikterus sehr früh- zeitig auf und hält unter verschiedenen Intensitätsschwankungen während des ganzen Krankheitsverlaufes an. In anderen Fällen wieder tritt der Ikterus viel später und nicht sehr intensiv auf (in einenı meiner Fälle erst nach einem Gei und wechselnd in seiner Intensität. Hautjucken tritt sehr selten auf.

Die Farbe der Stühle ist sehr wechselnd: gefärbte wechseln mit entfärbten; die genaue Untersuchung der Faeces auf Gallenfarbstoffe erweist jedoch oft ihre Gegenwart in größerer oder geringerer Menge. Der Harn zeigt außer Gallenfarb- stoff- auch häufig deutliche Urobilinogenreaktion; in gewissen Perioden tritt jedoch das Urobilinogen in geringer Menge auf.

Die Kranken verlieren den Appetit und die Kräfte und werden rasch anämisch (in einem meiner Fälle fand ich 2:5 Millionen Erythrocyten und 56% Hämoglobin). Im Blute fehlt gewöhnlich eine deutliche Leukocytose, öfters, u. zw. in länger dauernden Fällen, ist eine Leukopenie vorhanden. Das Blutserum enthält einen ver- mehrten Bilirubingehalt (Diazoreaktion direkt positiv), die Senkung der Erythrocyten ist beschleunigt. Die Magenuntersuchung ergibt eine deutliche Verringerung des HCI-Gehalts. Auch kann man bei einer Anzahl von Fällen Symptome eine Nieren- becken- und Nierenentzündung feststellen, die ihre Gegenwart durch keine subjektiven Symptome verraten und nur durch die Untersuchung des Harnsediments nachzuweisen sind.

Das auf diese Weise sich entwickelnde Leiden kann verhältnißmäßig sehr lange dauern. Ich beobachtete Fälle, die 2, 4, jasogar 9 Jahre lang dauerten, wobei oft die Kranken, trotz einer so langen Krankheitsdauer, außer ‘'Gelbsucht, Anämie, Leber- und Milzvergrößerung, keine subjektiven Symptome verrieten, ja sogar während mancher Krankheitsphasen ihrem Beruf nachgingen. In den Fällen jedoch, wo die Patienten durch hohes Fieber gequält sind, bleiben sie monatelang an das Bett gefesselt und zu jeder Tätigkeit unfähig.

Die Diagnose dieser Fälle ist ohne Untersuchung des Duodenal- inhaltes absolut unmöglich. Ich muß gestehen, daß ich in manchen, besonders fieberlosen Fällen, anfänglich eine falsche Diagnose gestellt habe, und erst, durch die mikroskopische Untersuchung der Duodenalgalle belehrt, stellte ich den wahren Charakter des Leidens fest. Am meisten Ähnlichkeit hat dieses Leiden mit Icterus haemolyticus, besonders dann, wenn Schmerzanfälle in der Leber- und Milzgegend zusammen mit Stärkerwerden des Ikterus auftreten. Diese Anfälle sind zum Ver- wechseln den Deglobulisationsanfällen, die gelegentlich bei dieser Krankheit auf- treten, ähnlich; eine irrtümliche Diagnose scheint hier öfters auch noch in einer leichten, mit Anämie verbundenen, stationären Gelbsucht ihre Stütze zu finden Symptome, die für Icterus haemolyticus so charakteristisch sind. Die Resistenz-

Primäre Cholangitis. 451

bestimmung der roten Blutkörperchen zeigt aber nicht nur keine Verminderung, sondern sogar eine Erhöhung der Resistenz, außerdem finden wir keine für diese Krankheit charakteristische Anisocytose und Mikrocytose, außerdem keine vermehrte Substantia reticulofilamentosa.

Die Malariadiagnose, welche am Krankheitsbeginn im Fieber und in der Milz- vergrößerung eine gewisse Stütze findet, läßt sich leicht durch die Blutuntersuchung ausschließen. In Fällen mit geringem Fieber und Ikterus, bei gleichzeitig bestehender Leber- und Milzvergrößerung wird öfters Pseudoleukämie oder Anaemia splenica diagnostiziert, wofür meistens eine gleichzeitig bestehende Leukopenie mit relativer Lymphocytose zu sprechen scheint. Die Röntgentherapie aber bleibt in diesen Fällen erfolglos. Protrahierte Fälle werden oft als Bantische Krankheit diagnostiziert; dieser Irrtum unterlief einmal sogar Umber; die von ihm eingeleitete Splenektomie blieb natürlich erfolglos. Ich glaube, daß diese Diagnose sich leicht ausschließen läßt, hauptsächlich auf Grund des sehr früh erscheinenden Fiebers und Ikterus, die bei der Bantischen Krankheit am Krankheitsbeginn nie auftreten. Wer weiß übrigens, ob nicht eine gewisse Anzahl von verschiedenen Autoren beschriebener Fälle dieser Erkrankung nicht gewöhnliche primäre Cholangitis war? Gegen diese Annahme spricht eine später hier auftretende Lebercirrhose keineswegs ein Ausgang, der den Fällen des später zu besprechenden Typus eigen ist. Überhaupt ist die Banti- sche Krankheit bei uns äußerst selten ich selbst sah bisher keinen typischen Fall und schon deshalb muß diese Krankheit bei der Differentialdiagnose zu allerletzt in Betracht gezogen werden, u. zw. erst dann, wenn bereits alle ähnlichen Krankheitszustände ausgeschlossen worden sind.

Bei heftigen Schmerzanfällen in der Leber- oder Gallenblasengegend wird oft die Diagnose Cholelithiasis gestellt. Dazu muß ich bemerken, daß das Bedürfnis einer Abgrenzung dieser Krankheit von primärer Cholangitis nicht wesentlich ist, da die Cholelithiasis, sofern sie mit Fieber und Ikterus verläuft, meistens schon eine mit Cholangitis oder auch Cholecystitis komplizierte Erkrankung ist; eine unkomplizierte Cholelithiasis gibt die oben beschriebenen Symptome nicht, und die Therapie beider Krankheitszustände ist fast identisch. Ich muß aber hier gleich beifügen, daß im Ver- laufe einer idiopathischen Cholangitis und infolge einer solchen sich eine Cholelithiasis, die auf das Krankheitsbild komplizierend einwirkt, entwickeln kann. Allenfalls sind die differentialdiagnostischen Schwierigkeiten selten bedeutend; auftreten können sie nur dort, wo die Cholelithiasis keine heftigen Schmerzanfälle und keinen intensiven ikterus hervorruft; in solchen Fällen ist der Zustand der Milz ausschlaggebend (bei der reinen Cholelithiasis ist sie äußerst selten vergrößert), außerdem das Ergebnis der mikro- skopischen Untersuchung der Galle, welche bei einer sogar mit Cholangitis kompli- zierten Cholelithiasis eine geringe Eiterbeimengung zeigt, abgesehen von jenen seltenen Fällen, wo eine die Cholelithiasis komplizierende Erkrankung der Gallenwege einen stürmischen Verlauf aufweist und sehr ausgebreitet ist. Hier hat aber die Differential- diagnose ein mehr theoretisches Interesse die einzige Rettung für den Patienten ebenso wie bei der primären Cholangitis, bleibt der chirurgische Eingriff.

Oftmals verläuft die primäre Cholangitis beinahe ohne Ikterus, dagegen mit monatelang anhaltendem Fieber unter dem Bilde einer allgemeinen schweren Sepsis, deren Ausgangspunkt schwer festzustellen ist. Diese Fälle werden öfters als krypto- genetische Sepsis diagnostiziert, verlaufen meistens letal Löwenhardt-Umber beschrieben sie als Cholangitis lenta.

Wegen der ungemeinen Vielgestaltigkeit des klinischen Krankheitsbildes, das die Orientierung besonders erschwert, bleibt als einzige diagnostische Stütze

29°

452 Stanislaus Klein.

die Untersuchung des Duodenalinhalts auf Eiter, die für die Diagnose ent- scheidend bleibt (eine seltene Ausnahme macht nur die Cholangie Naunyns). Außer Eiter finden wir im Duodenalinhalt deutliche Spuren von Eiweiß und sehr oft eine starke Urobilinogenreaktion. Die Gegenwart von Eiter in der Galle ist ein ständiges Symptom, dessen Intensität verschiedenen, nicht sehr großen Schwankungen unter- liegt; wir konnten uns davon tatsächlich durch die mehrmalige Einführung der Duodenalsonde in verschiedenen Krankheitsphasen überzeugen.

Manchmal jedoch ergibt die Untersuchung auf Eiter keine unbedingt sicheren Resultate. Diese Eventualität kommt vor bei mit Cholangitis komplizierten Fällen von Cholelithiasis oder bei den sehr seltenen Fällen von Cholangie Naunyns, worauf wir noch weiter unten zurückkommen. In diesem letzteren Falle müssen wir uns ausschließlich auf das gesamte klinische Bild und den Krankheitsverlauf stützen, wobei die wichtigsten Symptome Lebervergrößerung, Ikterus und eine oftmals be- sonders ausgeprägte Urobilinurie sind.

Die bakteriologische Untersuchung der Galle (Epidemiologisches Institut) erwies vorwiegend das Bacterium coli, u. zw. in sämtlichen Fällen, niemals aber Typhus- oder Paratyphusbacillen, auch nicht bei Kranken, die Bauchtyphus schon durchgemacht hatten oder denselben im Verlaufe der Krankheit bekamen. Andere Autoren fanden in den Gallenwegen Typhusbakterien, die sich dort nach Über- stehen des Typhus festsetzten. Ich muß bemerken, daß in einer gewissen Anzahl von Fällen sich überhaupt keine Bakterien finden ließen; es hängt dies vielleicht von einer ungeeigneten Methodik ab, u. zw. von einer verspäteten Untersuchung der Galle nach ihrer Ausheberung, weswegen die in derselben enthaltenen Bakterien (hauptsächlich Bacterium coli) durch die Galle abgetötet werden, oder von der Unterlassung eines Anreicherungsverfahrens. |

Manche Autoren (Umber) schreiben der bakteriologischen Untersuchung keine groBe Bedeutung bei, da ihrer Meinung nach normale Gallenwege Bakterien (hauptsächlich Bacterium coli) enthalten können (womit ich auf Grund meiner eigenen und Gorkes Untersuchungen nicht einverstanden sein kann), und hauptsächlich des- wegen, weil eine Bakteriocholie der Gallenwege noch nicht mit Infekt identisch sei. Umber rät daher, mit den aus der Galle gezüchteten Bakterien die Agglutinin- reaktion auszuführen. In unseren Fällen fiel diese Reaktion negativ aus. Ich halte die bakteriologische Untersuchung der Galle für bedeutungsvoll, nicht nur in diagnostischer (reine Kolikultur), sondern auch in therapeutischer Hinsicht. Diese Ansicht wird durch die Tatsache gestützt, daß dort wo wir während des Krankheits- verlaufes reichlich Bacterium coli in Reinkultur fanden, nach der Heilung die Galle steril erschien, und auch dadurch, daß die aus diesen Bakterien gewonnene Vaccine bei den Patienten eine heftige Cutanreaktion hervorruft, was übrigens therapeutisch verwertet werden könnte (s. u.).

In einer Anzahl von Fällen läuft die Krankheit relativ rasch, in 2—4 Monaten ab. Diese Fälle gehören eigentlich der ersten Gruppe an. In der Mehrzahl (im Laufe eines Jahres beobachteten wir 4 solche Fälle) zieht sich die Krankheit in die Länge und kann unbehandelt jahrelang andauern (bis zu 9 Jahren in einem Falle). Diese Patienten bieten nach längerer Krankheitsdauer folgendes Bild: fieberloser Zustand, mehr oder weniger intensiver Ikterus mit deutlicher Anämie, eine große, nicht besonders harte, wenig schmerzhafte Leber und eine häufig, wenn auch nicht immer, vergößerte Milz; der Harn enthält wenig Gallenfarbstoffe und regelmäßig eine bedeutende Urobilinmenge; das Serum zeigt deutliche Bilirubinreaktion; zeitweise stellen sich hohe Temperaturen und eine

Primäre Cholangitis. 453

leichte Schmerzhaftigkeit der Leber ein. Der Allgemeinzustand läßt, außer einem gewissen Schwächegefühl und Appetitmangel, wenig zu wünschen übrig. Die Diagnose ist in solchen Fällen sehr schwierig: solche Patienten suchen im Laufe von Jahren einen Arzt nach dem anderen, ein Spital nach dem anderen auf und erliegen zuletzt verschiedenen Komplikationen oder einer allgemeinen Sepsis; jeden- falls ist der Ausgang in Lebercirrhose äußerst selten, am häufigsten ist ein langsamer Verlauf mit Neigung zu zeitweiser, leichter Besserung.

Und tatsächlich bessern sich die Fälle dieser Gruppe bei entsprechen- der Therapie deutlich, aber nicht so weit, daß man sie als geheilt betrachten könnte. Nicht sehr verschleppte Fälle verlieren relativ schnell (binnen einigen Wochen) den Ikterus, aus dem Harn verschwindet das Urobilinogen, im Blute zum Teil das Bilirubin, die Leber verkleinert sich bedeutend, der Eiter verschwindet aus der Galle allmählich, zuletzt finden wir in ihr nur Granulationszellen und ver- einzelte Leukocyten; die Galle wird jedoch selten steril. Mit der Zeit bessert sich der Zustand der Patienten so weit, daß sie sich als gesund betrachten; jedoch bei dem geringsten Diätfehler oder ohne sichtbaren Grund kann ein Rezidiv erfolgen.

Auch in veralteten, 4—9 Jahre sich hinziehenden Fällen gelang es uns, durch eine systematische und konsequente Behandlung eine Besserung, ähnlich der oben beschriebenen, zu erzielen. Allerdings ließ sich die Anämie weniger beeinflussen, der Ikterus blieb sichtbar und, was das Wichtigste, fand sich immer in der Galle eine deutliche Eiterbeimengung. Die Patienten fühlten sich dabei relativ wohl und gingen teilweise ihrer Arbeit nach. Es kommen aber auch Fälle vor, wo die Patienten ständig fiebern und durch öftere Schüttelfröste, verbunden mit Intensivwerden der Gelbsucht, belästigt werden. So beobachtete z.B. Umber bei einem Patienten im Laufe von 5 Jahren 100 solche Anfälle. Zeitweise treten Ödeme, Aszites und Durchfall auf. Die Erschöpfung wird immer stärker und führt zum letalen Ausgang. Die Sektion ergibt eine purulente Cholangitis in Verbindung mit Pericholangitis und entzünd- lichen Veränderungen des Leberbindegewebes, zuweilen auch miliäre Abscesse.

3. Zur dritten Gruppe rechnen wir jene Fälle, die sich in ihrem klinischen Bilde und in ihrem Verlaufe deutlich von den vorhergehenden unterscheiden. Der Krankheitsbeginn ist gewöhnlich ein plötzlicher: die Krankheit beginnt mit täglich sich wiederholenden Schüttelfrösten, Fieber und Schweißausbruch, mit einer Vergrößerung der Leber und Milz, welche rasch einen bedeutenden Umfang an- nehmen. Ein auffallendes Symptom ist eine bedeutende Schmerzhaftigkeit der Milz und oft auch der Leber. Der Ikterus tritt sehr frühzeitig auf und erreicht ge- wöhnlich eine bedeutende Intensität, in manchen Fällen jedoch erscheint der Ikterus ziemlich spät, oft erst im 2. Krankheitsjahre. Das Fieber verschwindet mit der Zeit, kehrt aber manchmal wieder, Leber und Milz werden immer größer und reichen bis zur Nabellinie; die Stühle haben normale Färbung, zeitweilig aber werden sie acholisch. Der Ikterus wird immer intensiver, das Hautjucken ist dann äußerst lästig, die Haut an den Beinen erscheint entzündlich hypertrophisch. In manchen Fällen jedoch ist der Ikterus äußerst gering und hauptsächlich an den Skleren an- gedeutet. Im Harn findet man bei starkem Ikterus Gallenfarbstoffe reichlich und stets Urobilinogen in reichlicher Menge, bei leichtem Ikterus nur Urobilinogen. Die Anämie ist selten bedeutend. Das Blut zeigt selten bedeutende Veränderungen, gewöhnlich findet sich eine Leukopenie. Bei geringem Ikterus erinnert das Krank- heitsbild an das des Icterus haemolyticus, bei stärkerem vermutet man einen Verschluß der Gallenwege durch einen Stein oder Tumor. Der weitere Verlauf und die genaue Untersuchung des Patienten schließen diese Vermutung aus.

454 Stanislaus Klein.

Auf diese Weise kann das Krankheitsbild Monate oder Jahre ohne Änderung bleiben. Die längste Dauer betrug in meinen Fällen 3 Jahre, die kürzeste, durch einen chirurgischen Eingriff (Splenektomie) unterbrochen, 1 Jahr.

Eine gewisse Anzahl von Patienten fühlt sich verhältnißmäßig nicht schlecht und außer einer Schmerzhaftigkeit in der Milzgegend äußern sie keine Klagen über irgend welche Beschwerden. Manche Patienten sind jedoch infolge der Schmerzen, des Ikterus und des damit verbundenen Hautjuckens und der Fieberanfälle bei- nahe ständig an das Bett gefesselt. Bei diesen Patienten findet man zeitweise auf- tretende Symptome der hämorrhagischen Diathese, wie Hautblutungen und hart- näckige Blutungen aus der Nase und Mundhöhle. Bei der Untersuchung finden wir das Leede-Rumpelsche Symptom sehr deutlich ausgeprägt, die Blutungszeit und Gerinnungszeit verlängert, die Blutplättchenzahl verringert (bis auf 40.000). Bei fortlaufender Untersuchung fällt die immer mehr zunehmende Vergrößerung und Härte der Leber auf; der Leberrand fühlt sich mehr rund an, besonders der linke Leberlappen ist deutlich vergrößert und sehr hart. In diesem Stadium unter- liegt es keinem Zweifel mehr, daB wir es mit einer hypertrophischen, megalo- splenischen, biliären Lebercirrhose zu tun haben.

Untersuchen wir jedoch den Dwuodenalinhalt mit Hilfe der Sonde, dann überzeugen wir uns, daß in sämtlichen Fällen (wir sahen 3 solche) während des ganzen Krankheitsverlaufes und bei jeder Untersuchung sich eine beträchtliche Eiterbeimengung findet.

Leider reagieren diese Fälle auf therapeutische Eingriffe nicht so günstig wie jene der obigen Gruppe: die Patienten sterben an Komplikationen, entweder an hämorrhagischer Diathese oder an Cholämie.

Die Ätiologie dieses Leidens läßt sich zur Zeit schwer feststellen, da die bakteriologische Untersuchung der Galle durch verschiedene, oben erwähnte Gründe uns keine Resultate ergab. Der Verlauf des Leidens läßt jedoch keine Zweifel zu, daß wir es hier mit einer primären infektiösen Erkrankung der Gallenwege, mit vielleicht specifischer Ätiolgie zu tun haben, welche zugleich die Leber und Milz affiziert. Es kann auch sein, daß eine gewisse Zahl dieser Fälle einen für die Gruppe 1 und 2 charakteristischen Beginn und gleiche Ätiologie haben, aber von mehr bösartigem Charakter diese Meinung vertreten Eppinger und Umber. Es sind dies Fragen, die auf Grund des bisher vorliegenden Tatsachematerials nicht entschieden werden können; hier sind weitere Forschungen notwendig. Manche Autoren (Minkowski) vertreten die Meinung, daß in diesen Fällen die Cirrhose durch Cholangitis kompliziert ist. Jedoch die ständige Gegenwart von Eiter in der Galle, auch in den Frühstadien der Erkrankung, in allen bisher von uns und anderen beobachteten Fällen gibt viel zu denken, umsomehr als viele hervorragende Forscher (Fraenkel, Eppinger) und selbst Minkowski der Meinung sind, daß eine eitrige Entzündung der Gallenwege Ausgangspunkt einer Lebercirrhose sein kann. Dafür, daß hier Oallenstauung und eine durch dieselbe verursachte Reizung des Lebergewebes keine Rolle spielt, spricht die Tatsache, daß in Fällen von hoch- gradiger Gallenstauung, wie wir sie beim Krebs des Pankreaskopfes begegnen, niemals Cirrhose auftritt.

Die Diagnose dieser Fälle ist im Anfangsstadium, bei Berücksichtigung der Ergebnisse der Duodenalsondierung verhältnismäßig leicht. Anders steht es hier mit der Prognose. Man kann nie vorhersehen, ob der gegebene Fall wie einer der zweiten Gruppe verlaufen oder in eine Lebercirrhose übergehen wird. Durch meine, wenige Fälle betreffende, Erfahrungen habe ich den Eindruck gewonnen, daß die

Primäre Cholangitis. 455

Fälle, bei denen vom Beginn an eine vergrößerte, schmerzhafte Milz, ein starker Ikterus und Fieber bestehen, die Neigung zum Ausgang in Lebercirrhose besitzen. Mit Sicherheit jedoch kann ich das nicht behaupten, dazu gehört die sorgfältige Beobachtung eines größeren Materials. Die Feststellung dieser Tatsachen jedoch ist sehr wichtig, denn von ihr hängt die Art der Therapie ab, worauf wir noch zurück- kommen werden. |

4. Zur vierten Gruppe der Erkrankungen der Gallenwege gehören jene Fälle, die Naunyn als Cholangie bezeichnete. Diese Fälle ich muß daß von vorn- herein betonen unterscheiden sich in ihrem klinischen Verlaufe fast durch nichts von den Fällen der vorigen Gruppen, besonders der Gruppe 1 und 2. Naunyn be- zeichnet sie jedoch nicht als Cholangitis, da er weder während der Krankheit noch nach dem Tode irgend welche Zeichen einer Entzündung der Gallenwege, sondern entzündliche Veränderungen desLebergewebes um dieLeberaciniund um die capillaren Gallengänge herum gefunden hat. Die Krankheitsursache bilden Bakterien verschiedener Art, in erster Linie Bacterium coli, dann Paratyphusbacillen, Streptokokken, Strepto- coccus viridans u.s.w. Anatomisch verläuft die Krankheit anfänglich als eine Hepatitis, welche schon das erste Stadium der Cholangie bildet, wobei de Leberzellen als Epithel der capillaren Gallenwege zu betrachten sind (Bittorf). Auf diesem Wege entwickelt sich entweder eine akute gelbe Leberatrophie oder eine eitrige Ent- zündung der Gallenwege mit miliaren Absceßen in der Leber oder auch eine Hanotsche Lebercirrhose (Naunyn, Umber). Da eine Cholangie nach Naunyn in eine Cholangitis übergehen kann, ist es nicht ausgeschlossen, daß die Fälle unserer zweiten Gruppe anfänglich als solche sich entwickeln können; persönlich jedoch haben wir gewisse Zweifel, da wir bei Fällen gewöhnlicher Cholangitis, mit einem der der Cholangie klinisch ähnlichen Bilde, schon in den ersten Krankheitstagen Eiter in der Galle gefunden haben.

Die Entstehungsart der Krankheit sieht Naunyn in einer Infektion, die sich folgendermaßen abspielt: 1. Die durch keine klinischen oder pathologisch-anatomischen Symptome sich verratende Gegenwart von Bakterien in den Gallenwegen (Bakteriocholie) wird durch Trauma oder mechanische Hindernisse in den Gallenwegen zur Ursache eines ernsten Infektes der letzteren, ohne dabei entzündliche Veränderungen hervor- zurufen; 2.dieoben erwähnte Bakteriocholiekann bei verminderter Resistenz der Leber infolge ungünstiger Lebensbedingungen (z. B. der Kriegsjahre) einen bösartigen Charakter annehmen und eine Infektion der Gallenwege hervorrufen; 3. verschiedene Infekte des Organismus können zur Bakteriocholie der Gallenwege führen und unter günstigen Bedingungen eine Cholangie hervorrufen.

Der Krankheitsbeginn kann ein plötzlicher oder ein allmählicher sein. Der erste Fall tritt bei Infektionen auf dem Blutwege auf, der zweite, wenn die Infektion vom Magendarmtractus ausgeht. Im letzterem Fall kann nach Magendarmstörungen das Bild eines katarrhalischen Ikterus auftreten. In akut beginnenden Fällen kann sich auch das Bild einer Sepsis entwickeln. Eine gewisse Zahl von Fällen kann nach mehrwöchiger Dauer ohne Spur vorbeigehen, in anderen Fällen jedoch wechseln, wie bei der zweiten Gruppe, Perioden von Fieber und Ikterus mit solchen ohne diese Erscheinungen ab. Diese Krankheit kann ebenso wie die Cholangitis jahre- lang (selten über 2 Jahre) dauern und belästigt die Patienten verhältnismäßig wenig.

Eine ausführliche Schilderung dieses Krankheitsbildes erübrigt sich eigentlich, denn dasselbe unterscheidet sich von dem oben beschriebenen Bilde der Cholangitis durch nichts. Das gleiche gilt vom Krankheitsverlauf und der Prognose Es muß

456 Stanislaus Klein.

jedoch hinzugefügt werden, daß in septisch verlaufenden Fällen oftmals der Strepto- coccus viridans (Löwenhardt) festgestellt und bei langsam verlaufenden Fällen eine Analogie mit Fällen von Endocarditis lenta gefunden wurde (Cholangitis lenta). Die Fälle Löwenhardts (1 und 2) kann man aber nicht als eine primäre Entzündung der Gallenwege betrachten, da der Ausgangspunkt ein vorher durchgemachter Gelenkrheumatismus war.

Leider kann man aus den Berichten Naunyns, Umbers und Löwenhardts nicht entnehmen, ob eine genaue Untersuchung der Duodenalgalle durchgeführt worden war; ich glaube, daß das nicht überall der Fall war, denn einige ihrer Fälle, die bei der Sektion Eiter in den Gallenwegen oder in der Leber aufwiesen, figurieren als Cholangie und nicht als Cholangitis; dasselbe gilt für den Fall von Fraenkel. Dies schließt jedoch die Möglichkeit nicht aus, daß am Anfang der Krankheit kein Eiter in der Galle zu sein braucht, besonders dann, wenn bloß die capillären Gallengänge betroffen sind. Anderseits mögen gewisse Fälle von Cholangie, wie z.B. Fall3 von Umber, als Ausgangspunkt eine Infektion der Porta hepatis haben, eine Möglichkeit, die nach Umber sogar eine anatomische Untersuchung nicht im stande ist auszuschließen.

Nach dem Gesagten könnte es scheinen, als ob die Unterscheidung von Cholangie und Cholangitis durch die mikroskopische Untersuchung der Galle mög- lich wäre, u. zw. so, daß beim klinischen Bilde einer Cholangitis die Gegenwart von Eiter für dieses Leiden, das Fehlen für eine Cholangie sprechen würde. Leider ist das klinische Bild der Cholangitis nicht immer typisch, und bei einem unklaren klinischen Bilde und dem Fehlen von Eiter in der Galle ist die Diagnose äußerst schwierig. Naunyn behauptet zwar, der Ikterus sei das wichtigste Symptom der Cholangie; es kommen jedoch Fälle dieser Krankheit ohne Ikterus vor (Umber), besonders wenn die gröberen Gallenwege betroffen sind. Einen wichtigen Stütz- punkt dagegen bieten eine Leber- und Milzvergrößerung, die besonders in akuten Fällen deutlich ausgeprägt ist, und eine Empfindlichkeit der Lebergegend, die deutlich auf den Sitz des Leidens hinweist. Sehr schwierig ist die Unterscheidung der Cholangie von Cholelithiasis in Fällen, die zwar selten sind, aber mit Leberkoliken verlaufen.

Aus der obigen Schilderung des Krankheitsbildes der primären Cholangitis sehen wir, daß dieses Leiden, trotz seines sehr oft wechselvollen Bildes und Verlaufes, Symptome aufweist, die öfters und gemeinsam auftreten können und die, auch ohne Untersuchung der Galle, die Diagnose zu stellen erlauben. Wir stellen diese Symptome in der Reihenfolge ihrer Häufigkeit zusammen.

1. Die Lebervergrößerung. Dieses Symptom ist das häufigste und kon- stanteste. Die Leber unterliegt frühzeitig einer Schwellung, die sich nur selten und nur auf kurze Zeit im weiteren Verlaufe der Krankheit verringert. Das Fehlen einer . Leberschwellung bietet eine Ausnahme. Seltener tritt eine bedeutende Schmerz- haftigkeit der Leber auf; anfallsartige Schmerzen sind selten und nicht stark. Gewöhn- lich klagen die Patienten nur über ein Gefühl der Völle und über eine gewisse Empfindlichkeit der Lebergegend. Die dem Leberabsceß eigentümliche Schmerz- haftigkeit beim Zusammendrücken der unteren Rippen wird hier meistens vermißt.

2. Milzvergrößerung kommt häufig vor, tritt frühzeitig auf, namentlich in etwas länger dauernden Fällen. Eine bedeutende Schwellung weist auf ein chronisches und hartnäckiges Leiden hin. Das Fehlen von Milzvergrößerung ist eine Ausnahme.

3. Fieber kommt öfters vor, u.zw. am Krankheitsbeginn. Es kann aber mit der Zeit verschwinden oder sich auf geringer Höhe erhalten. Es gibt jedoch ganze Jahre währende Fälle ohne Fieber. Bei einer Infektion mit Bacterium coli kommt

Primäre Cholangitis. 457

ein remittierendes Fieber vor, es können aber solche Fälle ganz ohne Fieber ver- laufen. Ein längere Zeit anhaltendes Fieber ist für die Prognose ungünstig.

4. Ikterus ist ein sehr häufiges, aber nicht obligates Symptom. Es gibt Fälle auch ohne Ikterus und auch ohne jede geringste Verfärbung der Skleren. Sogar eine eitrige Entzündung der Gallenwege mit einem Ausgang in Abscedierung der Leber kann ohne jeden Ikterus verlaufen, wie ich mich davon tatsächlich 2mal, während der Operation überzeugen konnte. Dasselbe sah auch schon früher Kehr. Dieses Fehlen von Ikterus ist schuld, daß die Cholangitis öfters nicht diagnostiziert wird. Es sind das aber sehr seltene Fälle; gewöhnlich ist ein mehr oder weniger intensiver Ikterus Regel.

5. Urobilinogenurie ist ein äußerst wertvolles Symptom und kommt kon- stant vor; selten fehlt sie. Man muß jedoch vorsichtig sein, auf dieses Symptom allein die Diagnose stützen zu wollen.

6. Eine Anämie ist ein häufiges und frühzeitig auftretendes Symptom. Zusammen mit anderen Symptomen bestätigt sie die Diagnose.

7. Symptome von Pyelitis- und sogar von Nephritis sind sehr häufig und sprechen für eine auf dem Blutwege zu stande gekommene Infektion.

8. Die Blutveränderungen sind wenig charakteristisch und ergeben fast gar nichts zur Stütze der Diagnose. Eine bedeutende Leukocytose spricht für eine Eiterung, eine bei diesem Leiden häufig vorkommende Leukopenie gibt keine Finger- zeige. Eine beschleunigte Sedimentierungsgeschwindigkeit der Erythrocyten bei Ikterus spricht für einen entzündlichen Prozeß. Die bakteriologische Untersuchung des Blutes gibt selten positive Resultate und muß öfters wiederholt werden. Dasselbe betrifft die Agglutinationsproben mit fremden Kulturen, einzig die Probe mit aus der Galle gezüchteten Bakterien kann eine Bedeutung haben.

9. Der Verlauf. Ein Krankheitsbild, bestehend aus den oben erwähnten Symptomen 1—6, das über 4—5 Monate anhält, bei gleichzeitigem Mangel irgend- welcher Symptome von Lebercirrhose, spricht mit großer Wahrscheinlichkeit für eine Cholangitis.

10. Die Gegenwart von Eiter in der Galle spricht mit gewissem Vorbehalt für eine Cholangitis; ein Fehlen desselben, bei ausgeprägtem klinischen Bilde, spricht für Cholangie.

Die Behandlung des in Rede stehenden Leidens besteht bei leichten Fällen besonders der ersten Gruppe vorwiegend in Ruhe, Diät und Anwendung von feuchten, heißen Umschlägen (Kataplasmen von Leinsamen) auf die Lebergegend und die Verabfolgung von Urotropin- und Salicylpräparaten. Solche Patienten verlieren im Verlauf von einigen Wochen den Ikterus, die Leber schwillt ab, der Appetit kehrt wieder zurück und die Patienten genesen. Da man jedoch den Verlauf der Krank- heit von vornherein nie vorhersehen kann, ist es angezeigt, sich bei dieser Therapie nicht lange aufzuhalten, sondern zu versuchen, die Infektion mit anderen Mitteln zu bekämpfen. Die besten Resultate gab mir die intravenöse tägliche Injektion von Utropin (5—10cm? einer 40%igen Lösung). Nach 10—20 Injektionen beginnt bei Fällen der Gruppe 1 der Ikterus zu verschwinden und gleichzeitig verschwinden der Eiter und die Bakterien aus der Galle. In chronischen Fällen bewirkt diese Therapie eine deutliche Besserung, bei Unterbrechung jedoch derselben verschlim- mert sich das Leiden sichtbar. Umber empfiehlt statt Urotropin, Saliformin (Hexa- methylentetraminum salicylicum) 3mal täglich je 1'0, Bittorf dagegen Salicyl in groBen Gaben (6'8—8'0 pro die). Läßt sich die intravenöse Therapie nicht durch- führen, kann man dem Patienten Urotropin per clysma (4:0 in 100:0 Wasser gelöst)

458 Stanislaus Klein.

oder folgende Mischung: Salis Carolin., Natr.. salic., Urotropin aa. 100, Aqua dest. 200:0, 4mal täglich je einen Eßlöffel in einem Glase heißen Wassers, vor dem Essen zu verabfolgen. Von verschiedenen, in der letzten Zeit angepriesenen Mitteln, beson- ders von Choleval, habe ich keinen wesentlichen Nutzen gesehen. In hartnäckigen Fällen empfiehlt Umber die Einführung von 20—40 cm? einer 20% igen Magnesium- sulfatlösung mittels Sonde in das Duodenum, andere empfehlen die Einführung von Olivenöl. Interessant ist die Beobachtung von Gorke, der nach Eingießungen in das Duodenum von 50cm? einer 10%igen Bicarbonat- und Magnesiumsulfat- lösung ein Verschwinden des Bacterium coli aus der Galle sah. In unseren Fällen gab die Anwendung dieser Therapie keine deutlichen Erfolge.

Einen besonderen Nachdruck lege ich auf die systematische Anwendung von Kataplasmen; es ist dies ein sehr erfolgreiches Mittel zur Einwirkung auf die Leber, die sich in der Folge verkleinert. Anfänglich müssen diese Kataplasmen den ganzen Tag hindurch appliziert werden, später jedoch genügt eine Anwendung von je 2mal zu 2—3 Stunden. Dieselbe Wirkung übt auch die Diathermie der Lebergegend aus.

Was die Diät betrifft, so muß man sich in akuten Fällen auf eine vorzugsweise kohlenhydratreiche Kost beschränken (Schleimsuppen, rein oder mit Milch verdünnt, Obstsäfte). Chronische Fälle zwingen zu einer Vergrößerung der verabreichten Nahrungsmengen; hier können Eiweißstoffe und Fette in geringen Mengen, aber öfters verabreicht werden, um auf diesem Wege einen Sekretionsstrom von Galle anzuregen. Für jeden Fall ist jede Nahrung kontraindiziert, die nicht frisch zubereitet verabreicht werden kann, wie z. B. Heringe, Sardinen, geräuchertes Fleisch und Fisch, Wurst- waren, tagsvorher zubereitete und aufbewahrte Speisen. Für tägliche Stuhlentleerung ist zu sorgen, am besten mit Hilfe von Klistieren.

Leider gibt es Fälle, die durch eine solche Therapie sich nicht beeinflussen lassen oder die spät in die Behandlung treten, in einem schweren Zustand mit anhaltendem Fieber und bedeutender Milzvergrößerung. In solchen Fällen kann man, außer Anwendung von Urotropin, noch die Abwehrkräfte des Organismus durch eine Proteintherapie steigern, am besten durch intravenöse Injektionen von Argentum colloidale (5—10 cm? einer 2%igen Lösung). Führen 10—20 Injektionen nicht zum Ziele, dann kann man noch eine Therapie mit Eigenvaccine versuchen, namentlich wenn Bacterium coli die Ursache ist. Ich selbst sah bei dieser Therapie keine wesentliche Besserung; vielleicht gibt hier die intracutane Anwendung bessere Resultate; augenblicklich kann ich darüber nichts Positives aussagen, da ich die Versuche in dieser Richtung noch nicht abgeschlossen habe.

Schleppt sich die Erkrankung in die Länge und sieht man trotz einer syste- matischen Therapie keine Besserung, auch in solchen Fällen, in denen der Ikterus gleich am Beginn sehr ausgeprägt und das Fieber hoch und ständig ist, oder wenn eine Cholelithiasis das Leiden kompliziert, dann muß man seine Zuflucht zu einer Öffnung der Gallenwege und deren Drainierung nehmen. Bei Eiterung, die nur in den großen Gallenwegen lokalisiert ist, ist dies die sicherste und erfolgreichste Therapie. Anders verhalten sich jene Fälle, bei denen hauptsächlich die kleinen Gallenwege (Cholangie), befallen sind. Hier ist zweifelhaft, ob eine Operation einen normalen Zustand der Leber wieder herbeiführen kann (Umber). Ein solcher Eingriff jedoch muß versucht werden, da solche Patienten sonst meistens letal enden. Auf jeden Fall darf eine längere Dauer des Ikterus nicht zugelassen werden, da ein: solcher Zustand die Chancen eines Eingriffes wesentlich verschlechtert. Es ist noch sehr zweifelhaft, ob ein solcher Eingriff die Entstehung einer Lebercirrhose verhindern kann.

Primäre Cholangitis. 459

Auf den Ikterus selbst wirkt hier öfters die Milzexstirpation ein (Eppinger), es betrifft dies jedoch Fälle von hypertrophischer Lebercirrhose, die aber weiterhin bestehen bleibt; die Kranken bessern sich jedoch deutlich. In einem meiner Fälle von Lebercirrhose mit Milzvergrößerung und Symptomen von eitriger Cholangitis verschwand nach der Splenektomie der Ikterus und die Urobilinogenurie, die Leber verkleinerte sich, der Eiter in der Galle verschwand jedoch nicht gänzlich.

Ob in Fällen von Cholangitis mit bedeutender Splenomegalie eine Splenektomie einen heilsamen Einfluß auf den Verlauf der Lebererkrankung haben kann, ist zweifel- haft; in Anbetracht unserer Vermutung aber über den bestehenden Zusammenhang zwischen hypertrophischer Lebercirrhose und Cholangitis muß man darüber nach- denken, ob nicht eine Eröffnung der Gallenwege mit nachfolgender Splenektomie den Krankheitsverlauf unterbrechen könnte. In dieser Richtung sind weitere For- schungen angezeigt.

Literatur. Anigstein u. Miliriska, Med. do$w. i spot. 1923. I. Aufrecht, D. A. f. kl. Med. 1887, XL. Bittorf, ebenda 1913, II. - Bittorf u. Falkenhausen, ebenda 1921, CX'XV. Brugsch, Erkrankungen der Leber, Spez. Path. v. Kraus u. Brugsch, VI. Chauffard, R. de med. 1895. Eickhoff, Mitt. a. d. Gr. 1922, XXXIII. Eppinger, Die e EEN Erkrankungen, Springer 1920; Pathologie des Ikterus, Spez. Path. v. Kraus u. Brugsch, VI. Fraenkel, Münch. med. Woch. 1918, Nr. 20. Gorke, Mitt. a. d. Gr. 1922, X"XV. Huntemüller, Kl. Woch. 1924, Nr. 9. Kehr, Cholelithiasis, Spez. Path. v. Kraus u. Brugsch 1923, VI. Leschke, Sepsis, ebenda, I. Löwenhardt, Kl. Woch. 1923, Nr. 5. Minkowski, v. Merings Handbuch f. innere Med. 1922, I. Naunyn, Klinik der Cholelithiasis 1892; Mitt a. d Gr. 1917, XXXIX. Tietze u. Winkler, A. f. kl. Chir. 1924, CXXIX. Umber, KI Woch. 1922, Nr.32; Kl. Woch. 1923, Nr. 13. Unger, Cholangitis putrida, Spez. Path. v. Kraus u. Brugsch 1923, VI.

Die sog. Alveolarpyorrhöe und ihre Behandlung.

Von Prof. Dr. P. Kranz, München. Mit 24 Abbildungen im Text.

Die Resultate der klinischen Beobachtung der Forscher auf dem Gebiete der sog. Alveolarpyorrhöe sind ziemlich einheitliche: Hyperämie der Gingiva, Auf- lockerung des Zahnfleisches und Loslösung desselben, Vertiefung der physiologischen Zahnfleischtasche, mehr oder weniger ausgedehnter, durch Palpation leicht fest- stellbarer Knochenschwund, tiefe pathologische Taschenbildung, Lockerung der Zähne, als Begleitsymptom sehr häufig Zahnsteinablagerungen und in den meisten Fällen Eiterausfluß aus der Tasche. So sehen wir diese Erkrankung bei allen Bevölkerungsschichten, bei beiden Geschlechtern gleich häufig, bei allen Alters- klassen auftreten, wenn vielleicht auch das mittlere Alter vorzüglich befallen ist; wir finden sie bei anscheinend ausgesprochen gesunden Leuten, wie bei solchen mit eklatanten Allgemeinerkrankungen, u. zw. an einzelnen Zähnen, an Zahngruppen oder allen Zähnen; hinzugefügt sei noch: auffallenderweise an vornehmlich gesunden Zähnen.

Natürlich haben wir Abstufungsprozesse der verschiedensten Art zu ver- zeichnen, die die einzelnen Autoren nach den verschiedensten Gesichtspunkten in Gruppen einteilen. Zwei Grundformen aber der sog. Alveolarpyorrhöe führen fast alle Autoren getrennt als vermeintliche Sondergruppen auf: 1. jene Form der Pyorrhöe, auf die zuerst Fauchard und Tomes hinwiesen, für die das so hervor- ragende Symptom der Eiterung, so paradox es klingt, durchaus nicht immer als charakteristisch angeführt ist, weil die Eiterung oft sehr minimal und nur in gewissen Intervallen festzustellen ist, bei der auch Ablagerungen in vielen Fällen kaum zu finden sind, jene destruktive Form, bei der die Vitalität des Alveolarfortsatzes im allgemeinen herabgesetzt und die Auflösung desselben primär zu sein scheint und bei der das Lockerwerden der Zähne oft als das einzige und Hauptmerkmal beschrieben wird, jene prognostisch ungünstigere Form, die neben sorgfältigster Lokalbehand- lung zumeist eine gründliche Allgemeinbehandlung erheischt, da sie sonst überhaupt nicht zur Heilung kommt; 2. die prognostisch günstigeren Formen, bei denen eine Gewebsschädigung im Zahnfleisch mit darauffolgender Entzündung, sei sie nun mechanischen, bakteriellen oder toxischen Ursprungs, als das Primäre und für den Knochenbau vom Rande her verantwortlich resp. mit ihm im unmittelbaren Zusammen- hang stehend von fast allen Autoren zugegeben wird. Nur möchte ich schon hier bemerken, daß nach meinem Dafürhalten auch für das Entstehen der ersten Form die exogene Ursache im Vordergrund steht: eine Schädigung der Epitheldecke mit folgender Lymphocytenanhäufung im darunter liegenden Gewebe. Gewiß spielen endogene Ursachen einmal für die leichtere Etablierungsmöglichkeit, zum anderen aber auch für das hartnäckige Fortbestehen und Fortschreiten der Erkrankung eine nicht zu unterschätzende Rolle: Wachstumstörungen, Störungen der inneren Sekretion, Ver- kalkungsstörungen, Circulationsstörungen in Gestalt von mangelnder Gefäßversorgung

Die sog. Alveolarpyorrhöe und ihre Behandlung. 461

oder Arterienwandveränderungen zeitigen eine gewisse Bereitschaftstellung im Alveo- larknochen es kommt nach Loos zu Dystrophien und der Prozeß entwickelt sich demzufolge schneller und ist ein hartnäckiger. Aber auch diese Bereitschaftstellung wird immer eine allerdings auf Grund von Konstitutionsanomalien erworbene sein und sie wird außer vom Allgemeinzustand in erster Linie wieder von lokalen Ver- hältnissen, z. B. von Stellungsanomalien, falschen Belastungsmomenten, abhängig sein).

Das ist das klinische Bild, das sich beim Studium der seit beinahe 400 Jahren periodisch wiederkehrenden literarischen Ergüsse des In- und Auslandes über die alte zahnärztliche Crux „Älveolarpyorrhöe“ immer wieder herauskrystallisiert, und darnach erscheint es auf den ersten Augenblick, als müsse es leicht sein, bei einem so präzisierten klinischen Bild mit Hilfe pathohistologischer und bakteriologischer Untersuchungen das Wesen der Alveolarpyorrhöe zu klären. Ein kurzer Überblick, soweit er im Rahmen dieses Referates möglich ist, wird überzeugen, daß die Problemlösung doch nicht ganz so leicht ist.

Zunächst einige geschichtliche Daten:

Bereits ums Jahr 1550 hat Ambrosius Pare von einer pyorrhoischen Erkrankung der Mundhöhle, verursacht durch Zahnsteinablagerungen, geschrieben. Einige Autoren verlegen die erstmalige Erwähnung der Alveolarpyorrhöe noch bedeutend weiter zurück. 1746 finden wir bei Fauchard die Krankheit als eine Art Skorbut des Zahnfleisches beschrieben, und 1846 hat Toirac zum erstenmal den Namen Alveolar- pyorrhöe (Pyorrhoe intraalveolo-dentaire) geprägt und in die Literatur eingeführt. Seither sind die verschiedensten Nomenklaturen für diese Erkrankung in Vorschlag gebracht und die widersprechendsten Angaben über die Ätiologie, ebenso wie über die anzuwendende Therapie gemacht worden. Bis auf den heutigen Tag ist die Ätiologie der Alveolarpyorrhöe noch nicht ganz geklärt. Nach einer Statistik von Blessing sind nicht weniger als 350 verschiedene Ansichten über die Ursachen ihrer Entstehung zu verbuchen.

Arkövy hat 1894 die Vertreter der verschiedenen Theorien über die Entstehung der Alveolarpyorrhöe zu Gruppen geordnet; er unterscheidet 1. Lokalisten, anstatt Lokalisten vielleicht besser und umfassender: Autoren, die sie von rein exogenen Ursachen ableiten, 2. Konstitutionalisten, die nur an endogene Ursachen glauben und das Wesen der Erkrankung im Allgemeinleiden sehen, 3. Fusionisten, die einen vermittelnden Standpunkt einnehmen. Diese Einteilung finden wir noch heute in den meisten Lehrbüchern vertreten, wenn sie uns auch in keiner Weise in der Er- forschung der Erkrankung vorangebracht hat.

Unter den sog. Lokalisten, die ja bei weitem die größte Anhängerschaft haben, haben sich wieder verschiedene Untergruppen gebildet, aus denen 4 besonders heraustreten: a) solche, die einzig und allein in örtlichen Entzündungen durch Zahnsteinablagerungen die Ätiologie zur Alveolarpyorrhöe suchen, b) Autoren, die an specifische Infektionen glauben, c) die Anhänger von Karolyi und Arkövy, die in falscher Belastung das gravierende Moment suchen, d) solche, die eine Schädi- gung der Ernährung des Zahnfleisches und des Alveolarfortsatzes für die Haupt- entstehungsursache der Alveolarpyorrhöe halten.

Erst die letzten 20 Jahre und ganz besonders die Kriegs- und Nachkriegszeit haben uns eine Anzahl sehr wertvoller klinischer, pathohistologischer und bakterio- logischer Untersuchungen gebracht, die wenigstens einigermaßen Licht in das Dunkel der Alveolarpyorrhöefrage bringen.

1) Loos will in 1. die primäre Atrophie des Paradentiums und ihre Folgezustände, 2. die primäre Entzündung des Paradentiums mit ihren Folgen geschieden wissen.

462 P. Kranz.

Bevor ich nun eine genauere Definition über den Ort des Beginnes, den Ver- lauf, das Wesen der Erkrankung und über das ganze Krankheitsbild schon hier eingangs gebe, möchte ich erst einmal in Kürze eine anatomisch-physiologische Betrachtung über den Zahn und die ihn umgebenden Knochen und Weichteile als Grundlage für das Verständnis der nachfolgenden Betrachtung geben.

Anatomisch-physiologische Betrachtungen.

Topographisch betrachtet spielen sich die Vorgänge bei der Alveolarpyorrhöe am Zahnfleischsaum, in der Wurzelhaut bzw. im alveolodentalen Ligament und am Zement des Zahnes sowie am Knochen ab. Ob das eine oder das andere primär ergriffen ist, bleibe vorläufig unberücksichtigt. Wir wollen uns zunächst einmal genauestens orientieren über die anatomischen Verhältnisse und die funktionelle Bedeutung der einzelnen in Betracht kommenden Gewebsteile.

Fig. 101.

Substantia adamantina- —$

Substantia eburnea 4

-

E Ni A

$

dr

A

IIR

H Ra

Spatia ET AE e =+ Si

PA

e

interglobularia

5 d ` s

Á ës, >

Gingiva-- n KS K Normaler Tiefstand Pulpa Pria EE des Epithels = dentis- l

Periosteum ` Si alveolare Substantia spongiosa

maxillae Alveolo-dentales Ligament resp. Periodontium

Spatia interglobularia Körnerschicht)

Haeerg scher Kanal-

Substantia ossea

Gefäße und Nerven für die pulpa dentis

Sagittalschnitt eines oberen Schneidezahnes mit der Umgebung. (Aus Spalteholz.)

Das Zahnfleisch, Gingiva!.

Das Zahnfleisch bildet denjenigen Teil der Mundhöhle, welcher sowohl am Oberkiefer wie "am Unterkiefer den Alveolarfortsatz sowohl an der buccalen bzw. ‚abialen, wie an der lingualen bzw. pala- tinalen Seite überzieht. Es ist mit dem Periost des Alveolarfortsatzes verbunden und mit ihm zusammen unverschieblich auf der knöchernen Unterlage befestigt. Das Bindegewebe des Zahnfleisches ist sehr dicht und fest, arm an elastischen Fasern, es besitzt keine Drüsen und besitzt lange Papillen. Die Zwischen- räume zwischen den Papillen werden durch das Epithel ausgefüllt. An der Oberfläche erscheint das

1 Nach Wetzel, Anatomie für Zahnärzte.

Die sog. Alveolarpyorrhöe und ihre Behandlung. 463

Zahnfleisch daher nur leicht gekörnt. An der dem Zahn anliegenden Fläche fehlen die Papillen. Das Zahnfleisch sitzt dem freien Rande der Alveolen und den Septa interalveolaria auf und umgibt somit den Hals des Zahnes, an dem es befestigt ist. Es trägt wesentlich zur Vertiefung der Alveole bei. Auf den Septa interalveolaria bildet es die Zahnfleischsepten oder interdentalen Papillen. Am freien Rande der Alveole, am Beginn der Zahnwurzel, geht das Zahnfleisch in die Wurzelhaut des Zahnes über. Da- durch ist die Möglichkeit für die Ausbreitung entzündlicher Prozesse vom Zahnfleisch auf die Wurzel- haut und umgekehrt gegeben. Das Zahnfleisch ist an den Zahnhals mit besonderen Fasern befestigt, mit dem Beginn des Schmelzrandes hört die Befestigung auf. Das Zahnfleisch umkleidet nicht nur den Zahnhals, sondern bildet auch einen zur Befestigung der Zähne sehr wesentlichen Bestandteil. Die in ihm enthaltenen Fasern, welche der Befestigung dienen, sind bei der Wurzelhaut mit dem gesamten Befestigungsapparat des Zahnes gemeinsam beschrieben. Im Zahnfleisch neugeborener Kinder findet man noch epitheliale Reste der Zahnleiste in Gestalt der Epithelperlen.

Das Zahnfleisch verhält sich im Alter anders als in der Jugend. In der Jugend besitzt es größere Fülle, bedeckt noch einen Teil der Krone und füllt die interdentalen Spalten größtenteils aus. Später vermindert sich die Fülle des Zahnfleisches, es zieht sich wurzelwärts zurück. Die dadurch freigelegten Stellen geben geeignete Angriffsflächen für die Caries im Alter ab. Auch bei starker Abmagerung zieht es sich von der Krone zurück.

Fig. 102.

Alveolo-dentales Ligament (Periodontium) Markräume Knochen

Zement

Zement Die Verankerung der Sharpeyschen Fasern im Knochen und Zement

des Zahnes.

Feinerer Bau des Alveolarfortsatzes und der angrenzenden Teile im Ober- und Unterkiefer.

Ober- und Unterkiefer haben den mechanischen Wirkungen Widerstand zu leisten, denen sie durch den Kaudruck ausgesetzt sind. Bei der Benutzung der Zähne zum Kauakt handelt es sich ent- weder um einen Druck, der sich von den Zähnen auf die Wandung der Alveole fortpflanzt, oder einen Zug, der an der Bandmasse der Wurzelhaut ausgeübt wird, die ebenfalls an der Wandung der Alveole ihre Festigung findet (s. Fig. 101 und 102). In beiden Fällen nimmt also die Wandung der Alveole mit Ein- schluß der ihren Eingang umgebenden Knochensubstanz in erster Linie die mechanischen Wirkungen auf. In letzter Linie übertragen sie sich auf die äußeren corticalen Knochenschichten des Ober- und Unterkiefers. Umgekehrt treffen die Muskelwirkungen als Zug zunächst die corticalen Knochenschichten der Kiefer, und wenn ihre Wirkung zum Kauakt verwendet wird, so pflanzt sie sich ebenfalls durch Vermittlung der Alveolenwand auf die Zähne fort. Die mechanische Verbindung zwischen Alveolen- wand und den kompakten Rindenschichten beider Knochen wird durch die spongiöse Substanz der Kiefer übernommen.

Die Knochenschicht der Alveolenwand selbst ist zwar auch als eine Substantia corticalis zu bezeichnen, man kann ihr aber den Namen einer Substantia compacta nur mit Einschränkung geben, da sie an beiden Kiefern von Kanälen durchsetzt ist. Besonders ist der freie Rand der Septa inter- alveolaria dicht mit feinen Poren besetzt. An der Innenwand wird die Durchlöcherung in der Tiefe der Alveole schwächer, ganz im Grunde der Alveole sind jedoch mehr Kanäle vorhanden. Dies hängt mit dem hier liegenden Eintritt der Nerven und Gefäße in den Zahn zusammen; die Abnahme der Durchlöcherung vom freien Rande nach dem Grunde zu ist im Unterkiefer bedeutender als im Ober- kiefer. Im Oberkiefer ist überhaupt die Porosität der Alveolenwand stärker. Durch Einführung von feinen Sonden kann man sicham Knochen überzeugen, daß diese Porenkanäle zum Teile direkt von der Außen- oder Innenseite des Alveolarfortsatzes in die Alveole hineinführen. Ihre Richtung geht selten ganz quer zur Oberfläche, sondern sie stehen überwiegend schräg. Sehr schräg gerichtet findet man sie besonders an der palatinalen Seite des Oberkiefers und ebenso an der Innenwand der Alve- olen der Schneide- und Eckzähne desselben Kiefers.

Betrachten wir das Verhalten der Bälkchen der Spongiosa, so finden wir sie durchschnittlich ungefähr senkrecht zur Wandung der Alveolen aufgesetzt. Mit Rücksicht auf die ganze Alveole können wir daher sagen, daß sie radiär zur Alveole stehen. Hierdurch wird am zweckmäßigsten eine mecha-

464 P. Kranz.

nische Stütze für die Alveolenwand geliefert. Es folgt hieraus, daß die Knochensubstanz zwischen den Alveolen, also die Septa interalveolaria, aus drei Schichten besteht, zwei corticalen Grenzschichten gegen die Alveolen hin und einer dazwischenliegenden Schicht spongiöser Substanz.

Die spongiöse Substanz ist nicht überall rings um die Alveole herum vorhanden. Sie fehlt nämlich an allen denjenigen Stellen, wo die Alveolenwandung direkt mit der äußeren Corticalis des Kiefers verschmilzt. | |

Zement,

In der Kronenhälfte der Wurzel und am Halse wird das Dentin nur von einer dünnen Zement- schicht überzogen, in der die Zementhöhlen vollständig fehlen. In dieser dünnen Schicht besitzen die kurzen Fibrillen des Zements eine Anordnung senkrecht zur Oberfläche. Wir finden hier außer- dem noch eine Zusammensetzung der dünnen Zementlagen aus 2 bis 3 Schichten. Die Fibrillen sind zu Bündeln zusammengelagert, wodurch das Zement, von der Fläche her gesehen, eine polygonale Felderung enthält. Im Zement finden sich bis zur Wurzelspitze hin überall zahlreiche Sharpeysche Fasern. Sie setzen sich in die Hauptfasern der Wurzelhaut fort und dringen jenseits der Wurzelhaut in den Knochen ein oder setzen sich von den Kronenabschnitten des Zements aus im Zahnfleisch fest. Die das Zement unmittelbar begleitende Schicht der Wurzelhaut entspricht dem Periost und wird . als Pericementum bezeichnet. Den Osteoblasten der Knochenoberfläche entsprechen die Zementoblasten an der Zementoberfläche, von denen die Auflagerung neuer Zementschichten ausgeht.

Aus der Anzahl der Lamellen des Zements läßt sich eine ungefähre Schätzung des Alters des Zahnes entnehmen. Mindestens ist die Zahl der Lamellen bei älteren Personen immer erheblich größer als bei jüngeren, indessen werden die Lamellen nicht mit der Regelmäßigkeit von Baumringen ab-

elagert. Die Bildung von Lamellen steht im Zusammenhang mit der Stellungsveränderung des Zahnes.

er Zahn verändert seine Stellung während des ganzen Lebens, und dementsprechend muß auch seine Befestigung durch die Fasern des Periosts anders werden, womit eine Veränderung der Schichten des Zementes verbunden ist. Da die erste festere Verbindung des Zahnes mit der Umgebung erst nach seinem Durchbruch erfolgt, so bildet sich z. B. im Anschluß an diesen Vorgang eine neue Zement- lage, Ks durch befestigende Fasern mit der Innenfläche der Alveole verbunden ist (s. Fig. 101 un ).

Die Aufgabe des Zements ist in erster Linie die Aufnahme. der den Zahn haltenden Faser- massen der Wurzelhaut, also eine mechanische. Die Lebensfähigkeit des Zements ist abhängig von der Erhaltung einer normalen Wurzelhaut. Geht die Wurzelhaut, z. B. durch Vereiterung, zu grunde, so Sek au das Zement ab und muß als toter Körper im Gewebe ausgestoßen werden. (Ist nur bedingt richtig!)

Das Zement ist ebenso wie der Knochen umbildungsfähig und besitzt vermöge der ihm außen auflagernden Zementoblastenschicht auch die Fähigkeit der Regeneration. Ordnet man die Hartsub- stanzen des Zahnes nach ihrer vitalen Energie, so gelangen wir in ansteigender Linie vom Schmelz über das Zahnbein zum Zement.

Die Wurzelhaut‘.

Die Wurzelhaut ist eine einheitliche bindegewebige Membran, die den Raum zwischen der Zahnwurzel und dem Zahnhals einerseits und der Alveolarwand andererseits ausfüllt.e Am Zahn- hals geht sie ohne Unterbrechung in das Zahnfleisch und in das äußere Periost des Alveolarfort- satzes über. An der Wandung der Alveole geht sie ebenso in das Gewebe über, welches die in der knöchernen Alveolenwand befindlichen feinen Poren ausfüllt, am Grunde der Alveole in das Gewebe der Knochenkanäle, durch welche die Gefäße und Nerven in die Alveole und zum Zahn gelangen. Durch das Gewebe in den Poren des Alveolarfortsatzes ist zugleich auch die Verbindung mit dem Knochen- mark in den Räumen der spongiösen Substanz des Alveolarfortsatzes gegeben. We die knöcherne Wand der Alveole fein ist, steht die Wurzelhaut durch das Gewebe in den Poren in unmittelbarem Zusammen- hang mit dem Alveolarperiost an den Außenflächen des Alveolarfortsatzes. Endlich geht die Wurzel- haut am Foramen apicale in die Wurzelpulpa des Zahnes über.

Die praktische Wichtigkeit dieser Verbindungen beruht darauf, daß alle diese Zusammenhänge zugleich die Brücken zur Fortpflanzung von Entzündungen aller benachbarten Teile auf die Wurzel- haut und umgekehrt bilden können.

Topographisch unterschaidet man einen gingivalen, einen alveolären und einen apikalen Ab- schnitt der Wurzelhaut. Von diesen ist der apikale Abschnitt am dicksten, während die Wurzelhaut am Eingang in die Alveole die geringste Stärke besitzt.

Die Wurzelhaut enthält zahlreiche Nerven und Gefäße mit dem sie umgebenden ungeformten Bindegewebe, ferner die Fasern, welche den Zahn an der Umgebung befestigen, sowie das innere, die Wandung der Alveole auskleidende Periost des Alveolarfortsatzes und endlich das Pericementum.

Von sehr wesentlicher Bedeutung ist die Tatsache, daß die Dicke der Wurzelhaut in der Jugend beträchtlich ist und beim Erwachsenen bedeutend abnimmt. Aus diesem Grunde ist auch die Wurzel- haut der jugendlichen Zähne viel nachgiebiger.

Untersuchen wir die Funktionen der Wurzelhaut, so ergibt sich folgendes: Die Wurzelhaut er- füllt vor allem die mechanische Aufgabe, den Zahn zu befestigen. Ein Teil dieser Aufgabe wird auch vom Zahnfleisch übernommen. Infolge ihres Nervenreichtums ist die Wurzelhaut der Träger von Druck- empfindungen, Bewegungsempfindungen und Schmerzempfindungen, die bei dem Gebrauch des Zahnes in krankem und gesundem Zustande ausgelöst werden. Sie vermittelt infolge ihres Reichtums an Blut- und Lymphgefäßen die Ernährung des Zahnes. Endlich bildet sie neues Zement und neue Knochen- substanz.

t Nach Wetzel, Anatomie für Zahnärzte.

Die sog. Alveolarpyorrhöe und ihre Behandlung. 465

Für den eben beschriebenen Komplex (Zahnfleisch, Periodontium und Alveolar- fortsatz) hat Weski die Bezeichnung „Paradentium“ vorgeschlagen, und diesem „Paradentium“ werden wir bei allen Betrachtungen über die Ätiologie, die Patho- histologie und die Therapie unser Hauptaugenmerk zuzuwenden haben.

Alle vom Zahn ausgehenden mechanischen Reize werden durch das Periodontium (alveolodentale Ligament) direkt auf.den Alveolarfortsatz übertragen; aber nicht nur die mechanischen, sondern auch die bakteriellen und eventuell chemischen Reize gehen diesen Weg, wie die pathohistologischen Bilder zeigen, und werden vom Knochen durch Umbau bzw. Abbau beantwortet. Fällt mit der Extraktion des Zahnes der Reiz und die Reizleitung weg, so kommt auch der Prozeß im Knochen spontan zum Stillstand.

-Dieser bindegewebige Halteapparat des Zahnes ist bisher von vielen Autoren fälschlich als „Ligamentum circulare“ und „Periodontium“ getrennt beschrieben worden. Das sogenannte „Ligamentum circulare“ ist keineswegs, wie seither zumeist beschrieben, ein Sondergebilde, das als Schutzwall gegen eindringende Schädlich- keiten vom Zahnhals her aufgebaut ist, sondern es handelt sich dabei lediglich um einen Teil des gesamten Halteapparates, dessen derbe Bindegewebsbündel ohne Grenzen in die ebenfalls an elastischen Fasern arme Gingiva hinüberreichen und auf diese Weise eine enge Verbindung darstellen, daß wir also auch noch in der Gingiva einen wesentlichen Bestandteil des Befestigungsapparates der Zähne mit sehen. Dadurch ist die Möglichkeit für die Ausbreitung entzündlicher Prozesse vom Zahn- fleisch auf die Wurzelhaut und den Aufhängeapparat gegeben. Tritt dieser Fall ein und kommt es zur mehr oder weniger ausgedehnten Zerstörung dieser oberen Anschluß- partien und des Aufhängeapparates, so sprechen wir von einer Zerstörung des „Liga- mentum circulare“. Hat diese stattgefunden, so ist der Zahn eines Teiles seines Halte- apparates, eben der Verankerung mit der Gingiva beraubt, den aber die bei einem späteren Heilerfolg jeweilig auf jeder Querschnittshöhe des Zahnes nach Verlust der bisherigen neu sich bildende Zahnfleischperiostfaserlage, die gleichfalls im Zement inseriert, bis zu einem gewissen Grade ersetzen kann.

Nun wollen die einen den Beginn des Leidens in einer marginalen chronischen Entzündung des Zahnfleisches suchen, mit anschließender Osteomalacie oder Hali- sterese, die anderen in einer eitrig-destruktiven Periodontitis verbunden mit Rand- nekrosen, wobei es in beiden Fällen nach primärer Gewebsläsion durch das Eindringen von pyogenen infektiösen Keimen zur Lockerung der Gingiva, zu atypischen Epithel- wucherungen, Granulationsbildungen und Gefäßneubildungen kommt, die mehr und mehr in die Tiefe dringen, den Aufhängeapparat und den Knochen durchsetzen, so daß die Zähne zu wackeln beginnen, während schließlich eine kleinere Anzahl von Autoren den Beginn und den eigentlichen Sitz der Erkrankung in den Knochen selbst verlegt.

Dieser letzteren Ansicht huldigen namentlich zwei Forscher auf dem Gebiete der Alveolarpyorrhöe, Fleischmann und Gottlieb. Gottlieb vertritt die Talbotsche Ansicht, daß nach Abschluß der Wurzelbildung der Alveolarfortsatz seine Bedeutung verloren hat; infolgedessen müßte ein physiologischer Abbau desselben eintreten, der aber durch den vom Zement ausgehenden vitalen Reiz kompensiert werde. Sinkt nun der vitale Reiz des Zementes, dann tritt nach Gottlieb auch Atrophie des Knochens in Erscheinung; liegt aber ein leistungsfähiges Zement vor, so kann dieses nach Belieben der Störung insofern einen Ausgleich schaffen, als der durch den Knochenschwund verbreiterte Interdentalraum infolge Verdickung des Zementes wieder auf die normale Breite zurückgeführt wird. Gottlieb unterscheidet in diesem Zusammenhang zwei Gebißtypen: er spricht von einem sogenannten „wehrhaften«

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 30

466 P. Kranz.

Gebiß mit reaktionsfähigem Wurzelzement, das im stande ist, „den physiologischen Abbau des Knochens“ durch Apposition von Wurzelzement wieder gut zu machen, und einem „wehrlosen“ Gebiß mit „reaktionslosem“ Wurzelzement, wo der Patient unbedingt den Zahn verlieren muß. (Die Arbeiten Gottliebs müssen im Original nachgelesen werden.)

Dagegen sprechen einmal die Befunde bei der Untersuchung von Schädel- sammlungen, zum anderen Male die Erfahrungen in der zahnärztlichen Praxis, die unbedingt sich decken mit dem alten Wolfschen Satz, wenn wir auch am Alveolar- fortsatz etwas andere Verhältnisse haben wie am Röhrenknochen. Der aus der Funktion (dem Kauakt) resultierende Reiz wirkt sich hier durch den Kaudruck in einer mehr weniger

Fig. 103.

linguale Seite

starken Beeinflussung des gesamten Aufhängeapparates aus. Die Auswertung der appli- zierten Reize kann sich natürlich, wie sich aus den bei der Schienung anzustellenden statischen Betrachtungen ergeben wird, verschieden gestalten. Jedenfalls müssen wir Zahnärzte vorläufig daran festhalten, daß der Alveolarfortsatz für die Zähne geschaffen ist, und normaliter wird er vom biologischen Gesichtspunkt aus auch so lange erhalten bleiben, wie Zähne in normaler Funktion vorhanden sind. Selbstverständlich darf eine gewisse Bereitschaftsform des Knochens, wie schon eingangs betont, als für den Ver- lauf der Erkrankung von Bedeutung nicht unterschätzt werden. Im übrigen scheint den Autoren auch nur in vereinzelten Fällen der einwandfreie Beweis einer primären Atrophie des Alveolarknochens bei Alveolarpyorrhöe gelungen; bei weitaus den

meisten Fällen kann davon keine Rede sein.

Erläuterung zu den Fig. 103, 104 und 105. Es handelt sich um einen sog. „Normalfall“ aus der Gasserschen Sammlung in Marburg, wenigstens soweit es die labiale Seite anlangt. Fig. 104 zeigt uns normale Verhältnisse: wir sehen unterhalb der normalen Zahnfleischtasche (auf der Fig. mit „Taschen-

Die sog. Alveolarpyorrhöe und ihre Behandlung. 467 bildung“ bezeichnet) das Schmelzoberhäutchen und das Epithel der Mundschleimhaut ineinander über- gehen und sich dann gemeinsam noch auf eine kurze Strecke auf das Wurzelzement ausbreiten. Auch normalerweise sehen wir die Epithelschicht etwas infiltriert, wie es auch von anderen Autoren

Fig. 104. Schmelzoberhäutchen Taschenbildung

Schmelz Epithel

Infiltriertes Epithel

Schmelzoberhäutchen

Epithel

Zement Labiale Seite.

Fig. 105.

- i Schmelzoberhäutchen "` Zahnsteinablagerungen

_ Epitheldefekt

Taschenbildung

Infiltration

Epitheltiefenwucherung

Normaler Knochen

Linguale Seite.

beschrieben ist. Während wir auf der labialen Seite normale Verhältnisse vorfinden, die uns als Richt-

schnur für die Beurteilung unserer pathologischen Präparate dienen sollen, sehen wir auf der lingualen

Seite (Fig. 105) bereits eine ausgesprochene tiefe Taschenbildung, Zahnsteinauflagerungen, Epitheltiefen-

wucherung, Epitheldefekt und ausgedehnte Infiltration. Dieser mikroskopische Befund (Fig. 105) entspricht 30°

468 P. Kranz.

im wesentlichen dem Bild, das wir in der Folge von den von uns klinisch einwandfrei als Alveolar- pyorrhöe diagnostizierten Fällen zeigen können. |

Es würde zu weit führen, hier nun alle die einzelnen Theorien bis ins kleinste zu besprechen. Da sich in den Kardinalfragen wenigstens die Resultate der neueren Forschung mit meinen Befunden decken, lasse ich hier kurz meine eigenen Befunde folgen:

Normalerweise reicht das Epithel der Interdentalpapille etwas unter den Beginn des Zementes herunter, bleibt aber mit seinen tiefsten Ausläufern etwa !/, cm ober- halb des Alveolarrandes! (s. Fig. 101). Schon in der Norm scheinen sich in den Papillen, welche den Übergangswinkel zwischen Kuppe und Tasche bilden, Rund- zelleninfiltrate zu zeigen? In allen Fällen sehen wir von marginal her sich den Prozeß ausbreiten. Wir finden eine Rundzellenanhäufung im subepithelialen Bindegewebe (s. Fig. 104) und eine Tiefenwucherung des Epithels (s. Fig. 105)3. Wir treffen Infiltrationen sowohl sub- als intraepithelial und können sie als Reizmoment für das Tiefertreten des Epithels einerseits, wie vor allen Dingen für die sich anschließende Auflösung des Knochens andernteils ansprechen. Die subepithelialen Zellwucherungen ähneln denen bei einer Gonorrhöe.

Fig. 106.

s u y Co A nn , Wa Gët,

bé, ler E

We. A SE s om 4 y 4 A Py

= ée ` i

Taschenbildung i Taschenbildung

Knochenabbau

Zement- hypertrophie

Erläuterungen zu den Fig. 106, 107, 108 und 109. Es handelt sich um einen 32jährigen Patienten, der schon lange wegen „Zahnfleischeiterung“ behandelt wird. Nach Entfernung der Zahnsteinauf-

1 Nach Orban-Köhler (Gottlieb) soll der Epithelansatz ununterbrochen tiefer wandern auch ohne jede äußere oder innere Ursache.

2 Nach Euler sind diese beim Tier normaliter kaum zu beobachten, beim Menschen aber fast immer, weil hier die Kontinuität der Epitheldecke in den meisten Fällen gelitten hat.

3 Es gibt drei Auffassungen über die Ursache des Epitheltiefenwachstums: die einen glauben in dem Schwund des Alveolarfortsatzes die Ursache zu sehen, die anderen in der Nekrose des Zementes und die dritten, zu denen ich mich bekenne, sehen sie in entzündlichen Reizen.

Die sog. Alveolarpyorrhöe und ihre Behandlung. 469

lagerung zeigt sich tiefe Taschenbildung, auf Druck entleert sich Pus, die Zähne sind stark gelockert. Das Röntgenbild weist starken Knochenabbau, speziell im Prämolarenbereich auf. Besonders deutlich sind hier die netzartig verflochtenen Epithelstränge und Epithelzüge, wie auch entzündliche Infiltrate

Fig. 107.

Eipthelzapfen

Zahnsteinablagerungen

Epitheldefekt

Infiltrationen

Zahnstein- |

i e e ablagerungen | E i Epitheltiefenwucherung

Infiltration

Taschenbildung

Epitheldefekt

Knochenabbau

zu erkennen. Wir haben geringe bis größere oberflächliche Epitheldefekte mit diffuser Infiltration des subcutanen Bindegewebes (Fig. 107 und 108) mit teilweise sehr tiefer Zapfenbildung und Wucherung des Epithels. Die im Bereich der Infiltration liegenden Knochenbälkchen sehen wir in Auflösung begriffen. An der Wurzelspitze sehen wir auf der einen Seite eine besonders starke Zementhypertrophie (Fig. 106). Pulpa bindegewebig verändert.

470 P. Kranz.

Alle von mir beobachteten Fälle von Alveolarpyorrhöe zeigen im frischen Stadium eine intakte Knochenalveole; auch in vorgeschrittenen Fällen sind die am Knochen zu beobachtenden Umbauten immer nur im Bereich der entzündeten Taschen zu finden. Nirgends macht es den Eindruck, daß eine Atrophie oder eine primär osteomalacische Knochenveränderung vorausgeht. Vielmehr zeigt sich überall, daß eine eigenartige, sog. „atypische“ Epithelwucherung, wie wir sie bei chronischen Reizen, z. B. in der Umgebung eines Ulcus cruris am Hautepithel, bei chronischem Hydrocephalus am Ventrikel, an der Magenschleimhaut bei Ulcusbildung beobachten können, auch hier das Entscheidende ist. Es ist noch besonders hervorzuheben, daß diese Erkrankung des Taschenepithels häufig nur auf einer Seite zu sehen ist, während die andere voll- kommen intakt ist. Diese „atypische“ Epithelwucherung dringt vor allem am Zahn- hals in die Tiefe und zerstört dabei rücksichtslos das sog. Ligamentum circulare und weiter das alveolodentale Ligament (Paradentium); dabei finden gleichzeitig horizöntale Sproßbildungen des Epithels nach der Papille zu statt. Durch gleichzeitige Umwandlung des Bindegewebes in ein zellreiches Granulationsgewebe entsteht ein Bild, welches genau dem der epithelführenden Wurzelgranulome gleicht. In den gebildeten Taschen findet sich stets reichlich Zahnstein, derselbe enthält Kokken, Faden-, Schimmel- und Sproßpilze aller Art. Nie sieht man diese Pilzwucherungen u. s. w. in das Epithel vordringen oder gar vor dem Epithel in das Periodontium einwuchern (s. Fig. 106, 107, 108).

Wo starke Zahnsteinablagerungen sind, zeigt die Zahnfleischpapille eine besonders starke Entzündung. Daß solche Entzündungsvorgänge ihrerseits dann wieder sehr viel zu vermehrter Zahnsteinablagerung beitragen, ist selbstverständlich. Die Rund- zelleninfiltration ist bis in die Tiefe zu verfolgen. Die Gefäße sind erweitert und vermehrt, und allerwege treffen wir Granulationsgewebe, das zuweilen in den Knochen eindringt (s. Fig. 107 und 108). Die Entzündungsreize greifen einerseits auf den Knochen über und führen dessen Schwund herbei (s. Fig. 108): wir sehen entzündliche Osteo- phyten sowie eine Gefäßfülle; andernteils veranlassen sie das zapfenartige Tiefen- wuchern des Epithels, das, wie schon oben betont, die Taschenbildung_ zeitigt, Ohne Frage begünstigen den Knochenschwund und die daraus resultierende falsche Belastung des Zahnes die Vertiefung der Tasche (s. Fig. 106).

Die Knochenerkrankung zeigt das Bild einer rarefizierenden Ostitis, deren Beginn in der Entzündung des Zahnfleisches, bzw. in der dieser wahrscheinlich voraus- gegangenen primären Gewebsläsion mit anschließender atypischer Epithelwucherung und daraus resultierender Taschenbildung zu suchen ist. An vielen Stellen sehen wir die Markräume breit eröffnet, eine indirekte Metaplasie des Markes, an Stelle des Fettmarks ist Fasermark getreten. Der Knochen wird lakunär resorbiert und teilweise neu gebildet, so daß die Corticalis auf große Strecken ein gezacktes Aus- sehen zeigt (s. Fig. 110).

Die mannigfaltigen Bezeichnungen, die von den verschiedenen Autoren für den pathologischen Knochenbefund gewählt werden Atrophie, Caries alveolaris idiopathica u. s. w. —, sind nach Euler darauf zurückzuführen, daß die beiden Gruppen: Bereitschaftsform auf der einen Seite und krank- hafter Prozeß am Knochen während des Ablaufes auf der anderen Seite, nicht streng genug geschieden werden.

Das Granulationsgewebe, das im alveolodentalen Ligament (Paradentium) vor- dringt, sowohl nach dem Knochen hin wie in die Markräume, lockert einesteils den Aufhängeapparat auf und zeitigt andernteils einen lakunären Knochenschwund. Die Infiltrationen können wir allmählich bis hierher verfolgen sowie eine sehr häufig zu beobachtende außerordentlich starke Gefäßvermehrung. Halisteresis, Trypsis oder Osteolyse muß ich ebenso wie Weski für mein Material in Abrede stellen.

EN

Die sog. Alveolarpyorrhöe und ihre Behandlung. 471

Die bei den vorgeschrittenen Pyorrhöefällen beobachteten, mehr oder weniger hochgradigen Pulpenveränderungen sind Sekundärerscheinungen und wohl in der Hauptsache a conto der sich einstellenden falschen Belastung zu setzen.

Die Auffassung Fleischmann-Gottliebs, daß nur nebenbei ein gegen den Knochen fortschreitender Entzündungsherd den Knochen affizieren kann, besteht sicherlich zu Unrecht. Es ist vielmehr die Regel, daß in den fortgeschrittenen Stadien der Alveolarpyorrhöe der Granulationsherd den Alveolarknochen erreicht und ihn zum Schwund bringt. Es handelt sich keineswegs um eine diffuse Knochen- atrophie.

Eine experimentelle Arbeit von Roos verdient hier erwähnt zu werden; sprechen doch die Resultate aus dem Tierexperiment sehr beredt für die Richtigkeit meiner pathohistologischen Befunde.

Fig. 109. Fig. 110. Epitheldefekt Epitheltiefenwucherungen

N A ` Zement Defi, ` Wa, Infil- D N ration Erläuterung zu Fig. 110. Ein aus =? einem vorgeschrittenen Prozeß unter starker Vergrößerung wiedergegebenes Knochen- bälkchen. Besonders deutlich ist hier, daß die den Infiltraten zugekehrte Seite des Knochens an der Oberfläche unscharf und Knochen-

schwach tingiert ist, während die abgekelhhrten abbau

Knochenränder scharf konturiert sind und gute Färbbarkeit der Kerne und der Zellen im Gegensatz zu der gegenüberliegenden Seite aufweisen. In dem Originalpräparat ist der Ausdruck des pathologischen Vor- ganges bedeutend deutlicher zu erkennen.

Roos hat in einer Arbeit über die Anatomie, Physiologie und Pathologie des Interdentalraumes sowohl seine klinischen Erfahrungen, wie vor allem auch seine patho- logischen und pathohistologischen Befunde bei chronischen Zahnfleischreizen be- schrieben und seine Resultate durch tierexperimentelle Versuche bestätigt gefunden. Nach ihm hat der pathologisch-anatomische Befund am Tier gezeigt, daß durch den chronischen Reiz überstehender Füllungen z. B. ein entzündlicher Vorgang sich einstellt, der bindegewebige Degeneration(?) des interdentalen Gewebes, Osteoklasten- bildung im Periost und Atrophie des knöchernen Interalveolarseptums zur Folge hat.

Er sah seine klinischen und röntgenologischen Befunde infolge chronischer, mechanischer, chemischer und bakterieller Einflüsse, die sich darin äußern, daß Hyperämie der Interdentalpapillen, Gingivitis, Perizementitis, Nekrose der Papillen, Zahnfleischtaschen, Atrophie der Papillen und des knöchernen Septums, Infektion, Alveolarpyorrhöe und Verlust des Zahnes eintreten, durch das Tierexperiment (am Hund) vollkommen bestätigt. Auch der bakteriologische Befund, der neben den

472 P. Kranz.

gewöhnlich vorkommenden Bakterien des Mundes vorwiegend Kokken und Spiro- chäten aufwies, wurde im Tierexperiment bestätigt.

Ich füge hier einige meiner pathohistologischen Bilder mit illustrierendem Röntgenogramm ein (Fig. 106-110).

Das Röntgenbild ist, wie die ihm beigegebenen pathohistologischen Bilder zeigen, ein für die einzuschlagende Behandlung der Erkrankung sehr wertvolles, ich möchte sagen, unentbehrliches Hilfsmittel, denn die mit seiner Hilfe leicht zu er- mittelnde Tiefe der Taschen (Knochen-Zahnfleisch-Tasche) ist das ausschlaggebende Moment für unsere therapeutischen Maßnahmen.

Bevor wir nun zur Besprechung der therapeutischen Maßnahmen übergehen, sei nochmals kurz ein klinisches Allgemeinbild gegeben; es werden die subjektiven und objektiven Befunde besprochen und auf die für eine sichere Diagnosenstellung wertvollen Hilfsmittel hingewiesen:

Subjektive Beschwerden treten bei der Alveolarpyorrhöe meist in den Hintergrund. Es fehlen neben kaum nennenswerter Empfindlichkeit der freiliegenden Zahnhälse zumeist stärkere Beschwerden bei Aufbiß und beim Kauen. Die Lockerung einzelner oder mehrerer Zähne und der bekannte gelblichweiße Eiteraustritt sind gewöhnlich die ersten Alarmsignale für den Patienten. Selbst bei erheblicher Lockerung und fast stark zerstörter Alveole sind manche Zähne immer noch bis zu einem gewissen Grade funktionsfähig und stören den Patienten nur wenig. Gelegentlich macht sich an den kranken Stellen, zuweilen auch im ganzen Kiefer, ein Kribbeln oder Ziehen bemerkbar. Hervorstechender sind die objektiven Befunde. In der Mehrzahl ist mangelhafte Mundpflege zu konstatieren. Der Zahn- fleischsaum der erkrankten Zähne ist vielfach gewulstet; es kann das Zahnfleisch aber auch bei ausgesprochenen Pyorrhöefällen ganz normal aussehen; zuweilen ist es auch blaurot verfärbt. Es läßt sich leicht von der Wurzel abheben. Nach Reinhold ist das Frühsymptom der Alveolarpyorrhöe eine marginale Gingivitis, nach anderen das erste klinische Symptom eine Hyperämie, und zwar eine Stauungs- hyperämie in den Papillen und der Gingiva, die sie auf Circulationsstörungen zurück- führen. Die sich zuerst am Zahnhals vorfindenden, dann aber auch in die Tiefe dringen- den Zahnsteinablagerungen finden wir in mehr oder weniger großen Mengen an fast allen pyorrhöekranken Zähnen. Der Zahnstein kann je nachdem gelb bis gelblich- weiß oder dunkel aussehen. Das hauptsächlichste Merkmal für die Alveolarpyorrhöe ist die Zahnfleischtasche, die mit Epithel ausgekleidet ist, aus der sich gewöhnlich auf Druck von der Wurzelspitze her ein geruch- und geschmackloser Eiter von weiß- lichgelber Farbe entleert. Die befallenen Zähne werden, sobald die Erkrankung auch auf den Knochen übergegriffen hat, locker; es können sowohl einzelne Zähne wie auch das ganze Gebiß von der Alveolarpyorrhöe heimgesucht werden. Zum Unter- schied von der senilen Atrophie oder von der Atrophia alveolaris praecox bleiben bei der Alveolarpyorrhöe, abgesehen von gewissen Spätstadien, die Zahnfleischpartien erhalten. Auffallend ist, daß es sich zumeist um gesunde Zähne handelt, die von der Erkrankung heimgesucht werden. Das Symptom der Eiterung ist in bezug auf die Pathogenese der Alveolarpyorrhöe nebensächlich; der Eiter entstammt zumeist nicht dem granulierenden Periodontalgewebe, auch nicht etwa dem Knocheneinschmelzungs- herd, sondern kleinen Geschwürsflächen der Taschenwand.

Neben der Epitheltiefenwucherung mit anschließender Taschenbildung ist die Erkrankung des Knochens, die, wie sich aus den pathohistologischen Präparaten (s. Fig. 103, 104, 105, 106, 107, 108, 110) ergibt, das Bild einer rarefizierenden Ostitis zeigt, wohl das wichtigste Charakteristicum bei der Pyorrhöe. Ob sie nun als vertikale

Die sog. Alveolarpyorrhöe und ihre Behandlung. 473

oder horizontale. Erkrankung sich breit macht, oder ob sie in beiden Formen auf- tritt, ist letzten Endes einerlei. Der bakteriologische Befund ergibt, was den Eiter anlangt, Spirochäten in

Fig. 111.

Sog. „Spirochaeta pyorrhoica“

Aus dem Belag einer Epulis. Burri-Färbung.

den verschiedensten Formen, fusiforme Bacillen, Amöben, Pilze und vor allen Dingen Kokken der verschiedensten Art. Während wir die Kokken auch im Gewebe an- treffen, finden wir die Spirochäten in den Schnitten nur den Taschen aufgelagert vor.

474 P. Kranz.

(Fig. 111, 112, 113, 114, 115.) Zur Erhellung des objektiven Befundes ist das Röntgen- bild unerläßlich. Ich muß auch hier nochmals besonders darauf hinweisen, daß zur Sicherstellung der klinischen Diagnosen, wie vor allem als Fingerzeig für die ein- zuschlagende Therapie, das Röntgenbild von außerordentlicher Bedeutung ist, wenn- gleich ich nicht verhehlen kann, daß es manchmal zu Trugschlüssen führt. Ich lasse aber trotzdem keine Pyorrhöebehandlung einleiten, ohne zuvor Röntgenaufnahmen zu machen. |

Der röntgenologische Befund (s. Fig. 109) bringt doch sehr häufig patho- logische Zustände ans Licht, die klinisch kaum oder nicht konstatiert werden konnten, und deren Beseitigung uns leicht über die pathologischen Zustände Herr werden läßt, und ist so für die therapeutischen Maßnahmen wertvoll. Hat

Fig 113.

Sog. „Spirochaeta ` pyorrhoica® =——

_ Spirochaeten

Spirillum sputigenum

Bacillus fusiformis

Mikroorganismen vom Zahnhals eines normalen Mundes, (Färbung mit Krystallviolett.)

uns der Patient seine subjektiven Beschwerden geschildert, haben wir unseren klinischen Befund erhoben und unsere Diagnose durch das Röntgenbild mehr weniger sichergestellt, so beginnen wir mit unseren therapeutischen Maßnahmen; unsere pathohistologischen Feststellungen haben uns erneut gezeigt, was uns unsere klinischen Erfolge schon oft bewiesen, daß unsere therapeutischen Maßnahmen, die chirurgische Teilbehandlung im Anfangsstadium oder die Behandlung der Alveolar- pyorrhöefälle nach Neumann im weiter vorgeschrittenen, die einzig richtigen sind. Und auf Grund unserer klinischen Erfahrungen und unserer pathohistologischen Studien geben wir einen kritischen Bericht über die seither von den einzelnen Autoren geübte Therapie und berichten über unsere eigene Behandlungsmethode bei der sogen. Alveolarpyorrhöe und die dabei erzielten Erfolge.

Wir können bei der Besprechung der im Laufe der Zeit geübten therapeutischen Maßnahmen von rein symptomatischen reden und von dem Versuch einer speci- fischen Therapie sprechen.

Symptomatische Therapie. Riggs hat in der Mitte des vorigen Jahrhunderts zuerst als Therapie die sorgfältige Entfernung des Zahnsteins mit einem besonders

Die sog. Alveolarpyorrhöe und ihre Behandlung. 475

dazu konstruierten Instrumentensatz vorgeschlagen, und den guten, damit erzielten Erfolgen’ zum Dank nannten die Amerikaner die Krankheit „Riggs Disease“, welche Bezeichnung in den Vereinigten Staaten noch heute geläufig ist. Die Zahnsteintheorie

Fig. 114.

- Leukocyten Entamoeba buccalis

Abgestoßene Epithelzellen

Vakuole

Aufgefressener Leukocyt

Vorgestrecktes

Pseudopodium ~

der Entamoeba buccalis

hat sich im Laufe der Jahrhunderte nicht verdrängen lassen, und wir haben heute noch die weitaus größte Anzahl von Autoren, die in der Zahnsteinablagerung das ursächliche Moment für Alveolarpyorrhöe sehen, die deshalb auch zum Hauptgegen-

476 P. Kranz.

stand ihrer Therapie eine gründliche Entfernung des Zahnsteins, aller krankhaften Partien des Zahnfleisches und des Alveolarfortsatzes machen, damit die patho- logisch tiefen Taschen in eine normal tiefe Tasche überführen und die nach einer solchen sorgfältigen Behandlung über vollkommene Heilung berichten. Es wurden neue Instrumentensätze geschaffen, um den Ablagerungen besser und gründlicher zu Leibe rücken zu können, von denen die gebräuchlichsten die von Younger-Sachs, Senn, Neumann und Rhein sind. Fast alle Autoren berichten einheitlich, daß die gründliche und energische Ausräumung der Zahnfleischtaschen Vorbedingung für eine gute Heilung ist; nur wie man dies erreichen soll, darüber gehen die Meinungen auseinander. Die Zahnreinigungen werden in Lokalanästhesie vorgenommen. Nach der sorgfältigen Reinigung wird auch noch eine Politur der Zahnwurzel empfohlen, um dadurch neuen Ablagerungen vorzubeugen. Diese als sog. chirurgische Teil- behandlung in der Literatur bekannte Behandlungsmethode wird auch von uns seit Jahren bei allen Anfangsstadien von Alveolarpyorrhöe mit Erfolg angewendet; hierauf folgt die medikamentöse Weiterbehandlung, wobei Paramono-Chlorphenol, Presojod, Trypaflavin mit gleich gutem Erfolg zur Taschenbehandlung genommen werden. Das Zahnfleisch schwillt sehr schnell ab, legt sich straff an den Zahn an, und wir können mit der in den meisten Fällen eintretenden starken Narbencontraction einen Taschenschwund feststellen und haben so eine Heilung vor uns. Allerdings werden wir auch hier schon im Ausmaß der bereits zerstörten Knochenpartie sog. „lange Zähne“

bekommen.

In neuerer Zeit hat man der chirurgischen Behandlung allein mehr und mehr den Vorzug ge-

genen, Partsch hat schon 1900 über eine gute Heilung rein chirurgisch behandelter Fälle berichtet,

ei denen entweder nach Jodoformgaze-Drucktamponade oder nach Spaltung der Zahnfleischtaschen die Ausräumung des Zahnsteins und der Granulationen vorgenommen wurde.

Römer verlangt ein energisches, zielbewußtes Vorgehen; nie kann zu viel, immer nur zu wenig entfernt werden. Er brennt, nachdem er die Konkremente sorgfältig entfernt hat, mittels Paquelins das ganze Zahnfach zwischen Wurzel und Alveolarrand aus und entfernt damit auch die affizierten Dentalpapillen, um so aller Mikroorganismen Herr zu werden.

Berten spaltet, um das Wiederauftreten der Eiterung zu verhindern, die Zahnfleischtaschen der Länge nach, um die Wurzel besser reinigen zu können, und will damit auch ein gründlicheres Ver- narben des gelockerten Gewebes erzielen.

Senn, der behauptet, daß 90% aller Alveolarpyorrhöen durch den Zahnstein verursacht werden, redet der rein chirurgischen Behandlung das Wort und verwirft, ebenso wie Schröder, jegliche An- ‚wendung von Ätzmitteln, da sie nur so lange Heilung vortäuschen, bis der Ätzschorf abgestoßen ist.

Jedoch auch die medikamentöse Behandlung hat eine große Zahl von Anhängern, die allerdings größtenteils eine mit der chirurgischen kombinierte Behandlungsmethode vorschlagen, da sie gesehen haben wollen, daß sie mit der medikamentösen Behandlung die Heilung außerordentlich fördern. Die Zahl der empfohlenen Medikamente, für deren Anwendung verschiedene Richtlinien maßgebend sind, geht ins Unbegrenzte. Es gibt Autoren, die lediglich zur Reinigung der Zahnfleischtaschen von Bak- terien und sonstigen da eingelagerten Schädlichkeiten Medikamente anwenden, andere zur Zerstörung der nicht ganz beseitigten Granulationen oder zur Bekämpfung der Entzündungen, und wieder andere ` gebrauchen z. B. scharfe Säuren als Adjuvans bei der Entfernung der subgingivalen Konkremente. Ich denke hier vor allem an die von Head 1909 empfohlene Flußsäurebehandlung, die bei uns besonders Wunschheim eingeführt hat. Es wird hier Ammoniumbifluorid (tartar solvent) nach Head 2-3 Minuten, nach Wunschheim 5-10 Minuten in die Zahnfleischtaschen gebracht. „Während Schmelz, Zement und Periost merkwürdigerweise nicht angegriffen werden“, werden nach Erfahrung der Autoren die mikroskopisch kleinsten Reste von Zahnstein durch Bifluorid gelöst, und je nach der Schwere des Falles ist nach der zweiten bis dritten Sitzung ein deutliches Seichterwerden der Tasche zu konstatieren. Wunschheim schreibt am Schlusse seiner Ausführung, daß Bifluorid dasselbe leistet wie die chirurgische Behandlung, nur schonender und elektiver, und auch da anwendbar, wo die chirurgischen Instrumente unzulänglich seien. -Milchsäure, Salzsäure, Schwefelsäure, rauchende Salpeter- säure, Paramonochlorphenol, schwarze Chlorzinklösung, Preglische Jodlösung sind Hilfsmittel, die wohl zum Teil auch noch zur Erleichterung der Zahnreinigung, in erster Linie aber doch wohl zur Zerstörung der Granulationen und Bekämpfung der Entzündungen angewandt werden.

Feiler hat, um die Zwecklosigkeit der Anwendung scharfer Säuren zu demonstrieren, mit ver- schiedenen Säuren an extrahierten, mit Zahnstein behafteten Zähnen Versuche angestellt, konnte aber die den Säuren zugedachte Wirkung hinsichtlich der Lösung des Zahnsteins nicht bestätigt finden.

Jod, Methylenblau, Chlorphenol, Argentum nitricum, Wasserstoffsuperoxyd und neuerdings die oben genannten Presojod und Trypaflavin haben sich bei der Behandlung der Alveolarpyorrhöe den ersten Platz erobert. Die besonders von Reich empfohlene Pyocyanase ist als vollständig wirkungs- los wieder aus der Reihe der Alveolarpyorrhöemedikamente verschwunden. Die Amerikaner empfehlen

Die sog. Alveolarpyorrhöe und ihre Behandlung. 477

die Lugolsche Lösung, da sie einmal ein mildes Antisepticum mit adstringierender Wirkung ist, anderseits den Zahnstein und andere Zahnablagerungen färbt und so den Patienten reizt, sich selbst die Zähne tüchtig zu reinigen, ohne dazu zahnärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen.

, Massage. Die schon von A. Witzel empfohlene Zahnfleischmassage, ausgedehnt auch auf den Alveolarrand, als Nachbehandlung, ist mehr und mehr zur Geltung gekommen, und es werden dazu schon die verschiedensten medikamentösen Mittel als besonders wirksam empfohlen, von dem in Alkohol getauchten Wattefinger oder der Gummibürste nach Sörup angefangen bis hinauf zu den kompliziertesten Salben. Auch Vibrationsapparate haben im zahnärztlichen Instrumentenschrank ihren Einzug gehalten (Kieffer, Fleischmann, Ash & Sons) und werden bei der Nachbehand- lung der Alveolarpyorrhöe als gute Hilfsmittel gerühmt.

Durch die Arbeiten von d’Arsonval, Charrin und Dubois, die mittels Hochfrequenzströme den Staphylococcus pyogenes aureus und seine Abarten innerhalb 30 Minuten abtöten, wurde die d’Arsonvalisation auch in der Zahnheilkunde und speziell bei der Behandlung der Alveolarpyorrhöe angewandt. Parker kombinierte die Röntgenbehandlung mit Hochfrequenzströmen und berichtet über verschiedene Heilerfolge. Ebenso Satterlee, Toussey und Morel. Langsdorf und Zilz haben, an-

eregt durch diese Publikation, etwa 40 Fälle von Alveolarpyorrhöe in verschiedenen Stadien mit Hoch-

equenzströmen behandelt. Zilz schreibt: „Wir haben bei richtiger therapeutischer Anwendung, denn gerade auf diese will ich den Schwerpunkt gelegt wissen, im d’Arsonvalismus ein überaus wertvolles und verläßliches Heilmittel in der Therapie der Alveolarpyorrhöe.*

Wir haben in unserem Institut die Hochfrequenzströme als gutes Hilfsmittel

kennengelernt.

Zu erwähnen wäre hier noch die Röntgen-, kombiniert mit der Ultraviolettbestrahlung, mit denen Winkler gute Erfolge erzielte, sowie die von Michel erwähnte Kohlenbogenlichtbehandlung.

Die Quarzlichtbestrahluung, die ich 1908 und 1909 gemeinsam mit dem verstorbenen Kollegen Schulz monatelang durchführte, hat uns keine besonders günstigen Resultate gezeitigt.

Auch die Radiumbehandlung hat in der Zahnheilkunde ihren Eingang gefunden. Wie so oft, finden wir auch hier die widersprechendsten Resultate in der Literatur. Walkhoff (1890) war einer der ersten, die auf die Wirkung der Radiumbestrahlung im allgemeinen aufmerksam machten. Die systematische Anwendung von Radium in der Stomatologie finden wir von Levy und Trauner un- gefähr gleichzeitig vorgeschlagen. Es haben sich dann Mamlok, Neumann, Windmüller u. a. damit befaßt, Radium in den verschiedensten Formen und Dosierungen bei Alveolarpyorrhöe zu ver- suchen; während Mamlok gleich Levy bedeutende Erfolge gesehen hat, sind die Urteile von Neu- mann und Windmüller keineswegs zufriedenstellend. Auch ich habe gemeinsam mit Kollegen Schulz Radium in den verschiedensten Formen und Dosierungen versucht und keine nennenswerten Resultate bei der Alvolarpyorrhöebehandlung erzielt.

Versuche einer specifischen Therapie. Schon sehr früh wurde von verschiedenen Forschern versucht, aus den erkrankten Partien oder dem Eiter einen specifischen Erreger der Krank- heit festzustellen. Galippe (1888) war wohl der erste, der von einem Parasiten schreibt, der eine infektiöse arıhrodentäre Gingivitis verursacht habe; er hat auf Meerschweinchen überimpft und nach Verlauf von 14 Tagen „eine Serie eigentümlicher Äbscesse erhalten“. Sodann war es kein geringerer als Miller, der sich eifrig mit dem Studium der Mundbakterien und speziell der bei der Alveolar- pyorrhöe gefundenen Bakterien beschäftigte. Er beschreibt zahlreiche Formen von Kokken, Spiral- und Fadenformen, Kommaformen, Bacillen; am zahlreichsten fand er auch schon die bekannten Staphylo- und Streptokokken, den Bacillus fusiformis und spiralförmige Bakterien; 1906 berichtet er über eine scheinbar pathogene Wirkung der Spirochaeta dentium.

Sims und Goadby setzten die bakteriologischen Forschungen fort und kamen zu dem Resul- tat, daß die spiralförmigen und fusiformen Bacillen mit der Entstehung der Erkrankung in ursäch- lichen Zusammenhang zu bringen sind; 1910 hat dann Gerber in verschiedenen Arbeiten auf die Mundspirochäten als bei der Alveolarpyorrhöe mitverantwortlich hingewiesen und Salvarsan bezw. Neosalvarsan als therapeutische Maßnahme (lokal und intravenös) vorgeschlagen; ihm folgten Plaut und Zilz, die beide über günstige Wirkungen von Salvarsan bei Alveolarpyorrhöe berichten.

Die Serumbehandlung, die Payne-Philpot als erster angeblich mit Erfolg in die Zahnheil- kunde eingeführt hat, haben wir von Amerika übernommen. Fenchel hat sich als erster in Europa mit der Serumtherapie beschäftigt und verwandte nicht wie die Amerikaner das Behringsche Diphthe- rieserum, sondern das polyvalente Deutschmann-Serum. Möller hat in einer sehr interessanten experimentellen Studie „Über Serumbehandlung bei Alveolarpyorrhöe” sich eingehender mit der Serumtherapie befaßt und kommt zu dem Schluß, daß „immerhin ein ganz günstiger Einfluß des Deutschmann-Serums bei Alveolarpyorrhöe wahrzunehmen ist“. Bei 30 mit Serum behandelten Fällen berichtet er von 19 sichtbaren Erfolgen.

In der amerikanischen Literatur bringen Smith und Barrett die Mitteilung, daß nach ihrer Meinung gewisse amöboide Parasiten des Mundes (Entamoeba gingivalis, Entamoeba pyogenes) von außerordentlich pathogener Bedeutung für die Alveolarpyorrhöe seien. Sie schlagen Emetinum hydro- chloricum in '/,°/,iger Lösung vor, u. zw. Bass und Johns subcutan, während Smith und Barrett von einer lokalen Eech bessere Erfolge gesehen haben wollen; als Ideal bezeichnen sie eine kombinierte Methode. Sheriff empfiehlt gleichfalls die von Barrett empfohlene Methode und hat dabei sehr bemerkenswerte Erfolge, während die von Johns und Bass nicht solche Wirkung hatte.

478 P. Kranz.

Als Beweis hiefür führen sie an, was sie selbst beobachtet haben: daß diese Amöben jedesmal in Pyorrhöetaschen vorhanden waren, und wo sie nicht waren, war der Mund immer frei von Eiterung ; ferner die Tatsache, daß die Amöben nach Gebrauch von Emetin verschwanden und daß mit ihrem Verschwinden die Eiterung aufhörte, daß das Zahnfleisch wieder normal wurde, die losen Zähne sich wieder befestigten, und den subjektiven Befund der Besserung der Mundverhältnisse durch die Patienten selbst.

Smith und Barrett behaupten nicht, daß jede Pyorrhöe durch Amöben verursacht sei, sie ‘geben zu, „unter den verschiedenen Mikroorganismen bei einer kleineren Anzahl von Fällen, ähnlich wie andere Autoren, außer Amöben oder neben einigen Amöben eine große Anzahl von Spirochäten in unseren Fällen glauben wir, es mit denen von Vincent zu tun zu haben, aber wir sind dessen nicht sicher gesehen zu haben. Ein schneller Anfall, große Ausdehnung, schnelles und tiefes Ein- dringen längs der Wurzeln, markante Röte, geschwollene Partien und Schmerzhaftigkeit und Ent- zündlichkeit charakterisieren diese Fälle. Die lokale Applikation von Neosalvarsan zuerst als Puder aufgetragen, später als Lösung in destilliertem Wasser, zeitigte in diesen Fällen glänzende Erfolge.” Smith und Barrett bezeichnen diese Fälle als Ausnahmefälle; sie schlagen für ihre Fälle den Namen „Amöbenpyorrhöe“, für diese die Bezeichnung „Spirochätenpyorrhöe“ vor.

Ich habe diese Untersuchungen nachgeprüft, habe auch Amöben in den meisten untersuchten Alveolarpyorrhöefällen gefunden, dieselben auch, allerdings ohne Erfolg, zu züchten begonnen; in einer derartigen Überzahl, wie sie Smith und Bass berichten, konnte ich die Amöben nicht finden. Vor allem war der Gegensatz, den die Autoren so hervorhoben: daß bei gesunden Patienten überhaupt nie und bei Alveolarpyorrhöe- Kranken in 100% der Fälle Amöben vorhanden seien, kein derartiger. Ich habe auch in normalen Mundhöhlen, allerdings schlecht gepflegten, in 72% Amöben gefunden. Daß nach einer Emetinbehandlung jemals Heilung der Alveolarpyorrhöe (auch der

sog. Amöbenpyorrhöe) eingetreten wäre, konnte ich nicht feststellen (s. Fig. 114, 115).

© Chiavaro faßt seine Forschungsresultate über Entamoeba dahin zusammen, daß er sagt: „Die Entamoeba hat keine pathogene Wirkung; im Gegenteil: da sie sich von Bakterien nährt, ist sie höchst- wahrscheinlich ein Adjuvans bei der Autodesinfektion des Mundes e Auch Talbot zweifelt die Behauptung Barretts an, sowohl hinsichtlich der Ätiologie wie auch der Behandlungsmethode; er verwirft die von Barrett vorgeschlagene Emetinbehandlung und macht ihm den Vorwurf, daß er das Kochsche Gesetz bei seinen Versuchen nicht befolgt habe. Hinsichtlich der Vaccinebehandlung schreibt Talbot, „daß ihr Erfolg gleich Null sein müsse, da die Krankheit infolge einer Reizung und nicht einer Infektion entstehe«“.

1917 hat Kolle unabhängig von Gerber und den anderen diesbezüglichen Forschern, sich mit der Ätiologie und der Therapie der Alveolarpyorrhöe befaßt. Ihm fiel bei seinen mikroskopischen Untersuchungen auf, daß eine Spirochätenart, die morphologisch von den in der normalen Mundhöhle des gesunden Menschen regelmäßig vorkommenden verschieden ist, sich regelmäßig und bei manchen Patienten in großer Menge in dem Eiter der Pyorrhöetaschen findet. Diese Spirochäte ähnelt der Obermeieri; sie ist 10—12 u lang; die Zahl der Windungen beträgt durchschnittlich 5 und schwankt zwischen 4 und 7. Die Windungen sind flach, doch bestehen bei den einzelnen Individuen gewisse Unterschiede. Die Enden der Spirochäte sind meistens zugespitzt, im Dunkelfeld zeigt sie Flexions- und Ortsbewegungen. Die Spirochäte steht demnach dem sog. großen Typus der Zahnspirochäten nahe (s. Fig. 111,112, 113). Zum Nachweis empfiehlt Kolle das Tuschepräparat oder Gentianaviolettfärbung. „In der Minderzahl der Fälle sind neben den Spirochäten, für die ich den Namen Spirochaeta ‚pyorrhoica‘ vorschlage, andere Spirochätenarten, darunter auch die in der Mundhöhle der Gesunden vorkommenden sogen. ‚Zahnspirochäten‘ in erheblicher Menge vorhanden, sowie fusiforme Bacillen, Fadenpilze und Spaltpilze.« Kolle hat hierauf unabhängig von früheren Autoren die Behandlung der ihm von Beyer im Feld als pyorrhöekrank vorgestellten Patienten mit Salvarsan vorgeschlagen. Schon nach einer Injektion von 0'1 cm? Neosalvarsan in die Venen konnte von Beyer, Kolles zahnärztlichem Mit- arbeiter, eine deutliche Besserung festgestellt werden. Nach zweimaliger Injektion von 0'3 cm? Neo- salvarsan wurde bei mehreren Kranken, bei denen jede Lokalbehandlung unterlassen wurde, eine völlige Heilung innerhalb 10 Tagen erzielt.

Kolle glaubte damit den sicheren Beweis erbracht zu haben, daß die Alveolarpyorrhöe eine Spirochätenerkrankung sei, und daß sie durch systematisch, oft längere Zelt fortgesetzte Salvarsan- kuren ohne lokale Behandlung irgendwelcher Art zur Heilung gebracht werden könnte.

Auf diese hervorragenden Heilerfolge hin entschloß ich mich bereits 1917, Salvarsankuren bei pyorrhoischen Zuständen, vor allem auch bei der Alveolarpyorrhöe, anzuwenden, natürlich intravenös und nicht etwa Salvarsaninjektionen ins Gewebe, wie sie Beyer vorgeschlagen hat, die ja doch stets schwere Arsennekrosen setzen müssen.

Daß die Alveolarpyorrhöe nach systematisch fortgesetzten Salvarsankuren ohne Lokalbehandlung irgendwelcher Art zur Heilung gebracht werden könne, hat sich nach meinen Erfahrungen am Frankfurter Institut nicht bestätigt. Seidel berichtet über die gleichen Feststellungen.

Die sog. Alveolarpyorrhöe und ihre Behandlung. 479

Der Widerspruch ist, wie die mit Loos seinerzeit vorgenommene Nachprüfung ergab, auf eine falsche Diagnosestellung von Beyer zurückzuführen. Beyer hat Kolle keine Alveolarpyorrhöefälle, sondern Fälle von Stomatitis. ulcerosa oder Gingivitis pyorrhoica zugeführt und darin sind die frappanten Heilerfolge mit Salvarsan begründet, und heute lehnt Kolle es ganz energisch ab, für diese Behandlungs- methode bei einer anderen als der pyorrhoischen, marginalen Gingivitis einzutreten.

Aber auch die Spirochätenbefunde wurden durch die intravenösen Salvarsan- gaben nicht wesentlich herabgemindert. Es müssen nach meinem Dafürhalten die Mundspirochäten bedeutend resistenter sein als die übrigen Spirochätenarten; ferner liegt es aber auch daran, daß die nach intravenöser Injektion von Salvarsan durch den Speichel ausgeschiedene Arsenmenge zu gering ist, um die Mundspirochäten in derselben Weise wie die Pallida zu beeinflussen.

Daß in das pyorrhöekranke granulationbedeckte Zahnfleisch keine Spirochäten eindringen, weisen meine pathohistologischen Biider auf, und es erübrigt sich des- halb, ganz abgesehen von den andern aus den pathohistologischen Bildern abzulesenden Gründen, die Salvarsankur bei Alveolarpyorrhöe als therapeutische Maßnahme zu diskutieren.

In einer sehr sorgfältigen und umfangreichen Arbeit berichtet Medalia über die bereits erwähnte Vaccinebehandlung bei chronischer Alveolarosteomyelitis, wie er nach ausführlicher Begründung die Alveolarpyorrhöe genannt wissen will, daß Vaccinebehandlung (Immuntherapie) zusammen mit lokaler mechanischer Behandlung die besten Resultate gewährleistet.

Neuerdings hat auch bei uns Seitz, der die Alveolarpyorrhöe als das Endstadium entzünd- licher Erkrankung auf Spirochäten- und Bakterienbasis darstellt, die Gingivitis und die Stomatitis als ihr Anfangsstadium bezeichnet, und die 3 Affektionen unter dem Namen „pyorrhoische Diathese des Mundes“ zusammenfaßt, vorgeschlagen, eine opsonische Therapie einzuleiten, wie dies bereits von Medalia und Goadby geschehen ist. Seitz versuchte eine lokale Immunität auch bei der Pyorrhöe durch direktes Einwirkenlassen des betreffenden Antigens auf das zu immunisierende Gewebe zu er- reichen. Er ließ aus frischen Fällen von Pyorrhöe Staphylo-, Strepto- und Pneumokokkenstämme isolieren und daraus Schüttelextrakte herstellen und durch Berkefeld-Kerzen steril filtrieren. Diese EE Lösungen der immunisıerenden Stoffe brachte er mit konservierendem Zusatz in durchaus

altbare Salbenform. Die Salbe wird mit einigen Tagen Intervall in die tiefen Taschen eingetragen, eine Manipulation, die auch vom Patienten selbst ausgeführt werden kann. Die Erfolge sollen durch- aus günstige sein. Neben dem Nachlassen der Eiterung wurde auch eine Festigung der Zähne kon- statiert. Ob sich sehr veraltete Fälle von Pyorrhöe auch für diese Therapie eignen, steht nach Seitz noch nicht fest. Diese Salbenvaccine dürften sich nach meinem Dafürhalten als Unterstützung der chirurgischen Heilmethode resp. der Ausbrennung ganz gut eignen, ebenso wie ich auch die von Winkler angegebene 2%ige Vanadiumlösung als ÄAdjuvans bei allen pyorrhoischen Erkrankungen der Mundhöhle für ein vorzügliches Hilfsmittel, aber keineswegs für ein Specificum gegen Alveolar- pyorrhöe halte, wie es ja auch Winkler aufgefaßt wissen will.

Rosenthal, die die Alveolarpyorrhöe nur im Zusammenhang mit inneren Leiden hat auftreten sehen, nach der Circulationsstörungen in der Schleimhaut des Mundes die Grundbedingung für ihre Entstehung sind, hat kürzlich eine neue Therapie vorgeschlagen. Sie spritzt lokal Emser Salz und will auf diese Weise schnelle und Dauererfolge erzielt haben. Diese Injektionen, die Wochen hindurch täg- lich vorgenommen werden müssen, sind so außerordendlich schmerzhaft, daß die Patienten zumeist sich die zweite Injektion nicht gefallen lassen. Es wäre zur Durchführung dieser Therapie jedesmal eine Leitungsanästhesie geboten. Nach unseren klinischen Erfahrungen und nach den von uns erhobenen pathohistologischen Befunden erübrigt sich eine weitere Diskussion über die im vorhergehenden auf- gezählten therapeutischen Maßnahmen.

Nach all dem Vorausgegangenen ist die Therapie bei der sog. Alveolarpyorrhöe:

1. In den Anfangsstadien die chirurgische Teilbehandlung, wie ich sie bereits eingangs bei den symptomatischen Behandlungsmethoden näher beschrieben, oder

2. bei den mittleren und vorgeschrittenen Stadien die chirurgische Behandlung nach Neumann.

Neumann und Widmann haben gerade Richtlinien für die chirurgische Behandlungsmethode festgelegt, die ich auf Grund meiner klinischen Erfahrungen und meiner pathohistologischen Untersuchungen Wort für Wort unterschreibe.

Nach Neumann muß die Operation ermöglichen:

1. Eine klare Übersicht über das gesamte Operationsfeld.

480 P. Kranz.

2. Die restlose Entfernung noch vorhandener Ablagerungen von Konkrementen an den Wurzeln, desgleichen

3. die restlose Entfernung der in den Knochenbuchten und Nischen versteckten, von Epithelsträngen durchzogenen Granulationsmassen,

4. die restlose Entfernung aller veränderten, nicht regenerationsfähigen Knochen- massen,

5. Beseitigung tiefer Zahnfleischtaschen durch Abtragung der erkrankten Schleim- haut und Bedeckung des glatten Knochens mit gesunder Schleimhaut, somit

6. eine Vernichtung des Nährbodens für die in der Tasche befindlichen Bakterien.

Fig. 116.

Schnittführung

Die Papillen werden im Interdentalraum in vertikaler Richtung durchschnitten. (Aus Neumann.)

Fig. 117.

KE: $ E RRE

eg ar: S Gr: SS SI o > Se > ` Lk pS: x 4 g ` L Be. KR "A 2 ` gi | E A CN CO P Ke a? s dän e EI

Allen Alveolarpyorrhöebehandlungen voraus geht bei uns eine gründliche Sanierung des Mundes. Es wird zunächst eine gründliche Entfernung der Inkrustationen vorgenommen. Daß mangelhaft sitzende Kronen, Brücken, Prothesen, auch schlechter Kontakt, schlechte Füllungen, mechanische Reize (Zahnstocher, falsche oder zu forsche Regulierungen), auch chemische Reize, z.B. bei Kranken oder Arbeitern, die mit Hg, Cu, Pb und Bi zu tun haben, die chronische Insulte des Zahnfleisches hervor- rufen, die die Zahnsteinablagerungen besonders begünstigen, Gewebsschädigungen vorbereiten oder hervorrufen, aus denen sich schließlich Alveolarpyorrhöe entwickeln kann, beseitigt werden müssen, ist selbstverständlich.

Die sog. Alveolarpyorrhöe und ihre Behandlung. 481

Auch eventuell falsche Belastung der Zähne und Stellungsanomalien, die für die Entstehung der Alveolarpyorrhöe mitverantwortlich gemacht werden können, fallen unter die lokalen Reize und müssen beseitigt werden. Alle schlechten, nicht erhaltungsfähigen Zähne und Wurzeln werden extrahiert; hierbei gibt in den meisten Fällen das Röntgenbild den Ausschlag. |

Frontzähne, bei denen das Röntgenbild zu zwei Drittel und mehr Knochen- schwund zeigt, extrahiere ich gleich zu Beginn der Behandlung; denn hier hat mir die Erfahrung sowohl wie die Autopsie nur zu oft gezeigt, daß die Granula- tionen bis zum Foramen apicale, ja um die ganze Wurzelspitze herum sich aus- gebreitet haben. Würde es mir gelingen, sie restlos zu beseitigen, so würde das den Spontanausfall des Zahnes bedeuten.

Nachdem zuvor der Zahnstein so gründlich wie möglich entfernt ist, werden die gelockerten Zähne geschient und eventuell falsche Belastung ausgeglichen. Darüber bringt der zweite Teil der Abhandlung Genaueres. Nach Einsetzen der Schiene wird an allen den Zähnen, wo die Indikation dafür vorliegt unter Lokal- und Leitungs- anästhesie nach Neumann aufgeklappt und zunächst in der Tiefe eventuell zurück- gebliebene Zahnsteinreste von den Wurzeln weggenommen, wozu die Sätze von Neumann, Senn, Younger-Sachs und Rhein ein gleich gutes Instrumentarium abgeben. Demnächst werden die Granulationen mit Exkavatoren und scharfen Löffeln beseitigt und die oberen Partien des Alveolarrandes, in die ja meist schon die Granulationen eingedrungen sind, wie unsere pathohistologischen Bilder ausweisen, ebenfalls entfernt, wobei ein Bohrer oder Finierer die Arbeit des scharfen Löffels oder Hohlmeißels vorzüglich unterstützt; auf diese Weise werden die Zahnfleisch- und Knochentaschen beseitigt. Nach peinlichster Reinigung wird mit Kochsalz aus- gewaschen und dann vernäht. Ein Abpolieren der Wurzeln ist zu empfehlen.

Ich habe eine Zeitlang die von Römer vorgeschlagene Methode des Ausbrennens mit dem Paquelin geübt, bin aber davon abgekommen, weil ich mit der chirurgischen Behandlung bedeutend schnellere Heilerfolge erziele und vor allem weniger Nach- schmerzen erlebt habe. Trotz Anwendung der Anästhesinsalbe-Ritsert (10%ig nach Römer) klagten die Patienten nach der Kauterisierung tagelang über heftige Nach- schmerzen. Auch ist es mir nach dem Studium des mikroskopischen Bildes ein- leuchtend, daß man oft nicht imstande sein wird, mit dem Paquelin in den Knochen- nischen und -buchten die Granulationen u. s. w. zu zerstören.

In den Anfangsstadien, in denen eine Aufklappung noch nicht geboten erscheint, haben wir neben der gründlichen Auskratzung und eventuellen Excision auch medi- kamentös behandelt. Bei vorgeschrittener Lockerung der Zähne wurde, da wie dort, sogleich eine sorgfältige Schienung, auf die wir noch eingehender zu sprechen kommen, durchgeführt und es wurden die Zahnfleischtaschen einer medikamentösen Behandlung mit Gerbsäure-Methylenblau, Chlorphenol, Presojod oder Carbolsäure unterzogen, da nach unserer Meinung und Erfahrung die Bakterien in dem ent- zündlichen Gewebe eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen und ihre Vernichtung sowohl, wie vor allen Dingen auch die Verhornung des verletzten Epithels mit diesen Hilfsmitteln schneller zuwege kommt. Aber wohlgemerkt, nur in den Anfangs- stadien, in denen die Beseitigung der Taschen auch ohne Aufklappung möglich erschien, wurde die sog. chirurgische „Teilbehandlung“ durch eine medikamentöse unterstützt.

Wenn wir auch keineswegs der Ansicht Winklers, Wien, sind, der schreibt: „daB bei Alveolarpyorrhöe das ursächliche primäre Moment die Atrophie des

Knochens sei“, so sehen wir doch in der von ihm vorgeschlagenen Darreichung Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. r 3]

482 P. Kranz.

von Phosphor, ebenso wie in der von Römer und von Gottlieb empfohlenen Arsenmedikation! eine die Heilung vorzüglich unterstützende Maßnahme, da sie einerseits eine anregende Wirkung auf das Wachstum der Knochensubstanz ausüben, anderseits (speziell Arsen) durch die Erweiterung der Capillaren eine bessere Durchblutung und Ernährung des Zahnfleisches zuwege bringen, die gleichfalls die Heilung beschleunigen. Aber nur als Adjuvantia lasse ich diese „inneren Mittel“ gelten, ebenso auch die von Winkler propagierte Strahlentherapie und stelle sie keineswegs wie Winkler in den Vordergrund der Behandlung. Nicht vereinigt mit einer Allgemeintherapie bringen alle Lokalbehandlungen Nutzen, wie Winkler schreibt, sondern die Lokalbehandlung, u. zw. die chirurgische allen voran, ist die Grundbedingung für einen Heilerfolg: sie kann durch eventuelle erforderliche All- gemeintherapie nutzbringend unterstützt werden. Die bereits vorher besprochene Zahnfleischmassage unterstützt den Heilungsvorgang wesentlich.

Alle Stoffwechselerkrankungen, die ja an und für sich die verschiedensten Mund- affektionen im Gefolge haben und vor allem eine bestehende Alveolarpyorrhöe nach- teilig beeinflussen können, oder die durch den in ihnen bedingten gestörten Kalk- stoffwechsel durch die Kalkablagerungen prädisponierend wirken können, müssen geheilt werden; auch ein eventueller Diabetes, der ebenso ein prädisponierendes Moment für die Entstehung der Alveolarpyorrhöe sein kann wie ein Hemmnis bei der versuchten Heilung. Diesen Einfluß hat der Diabetes aber, wie wir ihn auch bei Gicht finden, vielleicht durch Zellanhäufungen mit harnsauren Salzen verursacht, auch bei allen sonstigen Gewebserkrankungen.

Auch die besonders von Fryd besprochenen Herzaffektionen sind als prä- disponierend in Betracht zu ziehen, allerdings nur insoweit, als sie eine gestörte Blutcirculation der Alveolarregion zeitigen können; auch ihre Heilung muß an- gestrebt werden, ebenso, wie die einer eventuell gleichzeitig bestehenden Gicht; Rheumatismus, Tabes, Lues, sowie eventuelle sonstige Infektions- und Stoffwechsel- krankheiten sind zu bekämpfen.

Loos äußerte sich in seinem bereits eingangs zitierten Vortrag zu den thera- peutischen Maßnahmen wie folgt:

„An die Spitze jeglicher Indikationsstellung für chirurgische Zahnerhaltung muß gestellt werden der Wert des Zahnes im Einzelfall und das Verhältnis des Eingriffs nach seiner Größe und Ausführbarkeit zu dem angestrebten Gewinn. Bei unserer vorgeschrittenen Ersatztechnik soll man die Erhaltungsgrenze zweifelhafter und nicht so wichtiger Zähne nicht zu weit stecken.

Aber auch die nichtchirurgische Zahnerhaltung soll man nicht über- noch unterschätzen in ihrer Leistungsfähigkeit. Wenn man auch daran ist, ihre Indikation auf wissenschaftlichem Boden zu erweitern, so darf man vorderhand die Erfolgs- aussichten noch nicht so darstellen, als ob für die chirurgische Zahnerhaltung die Götterdämmerung angebrochen wäre; denn noch immer ist die chirurgische Therapie da angezeigt, wo auf anderem Wege an den Entzündungsherd und die Infektions- quelle nicht heranzukommen ist als auf dem radikalen der Aufklappung und der Entfernung des Krankheitsherdes.

! Liquor Fowleri oder die besser bekömmliche Dosierung in folgender Form:

Rp. Acid. arsenicos. 00015 Rad. et succi liquirit. qu. s. ut f. pil. Nr. XXX

D. S. 3mal täglich 1 Pille nach dem Essen: nach 8 Tagen 3mal täglich 2 Pillen und so fort bis 3mal täglich 5 Pillen; dann in demselben Turnus wieder absteigend zu 3mal täglich 1 Pille. Nun läßt man zweckmäßig einen Monat pausieren, um dann erneut dieselbe Kur zu beginnen.

Die sog. Alveolarpyorrhöe und ihre Behandlung. 483

Von den Paradentosen werden als Gegenstand der chirurgischen Behandlung genannt:

1. Die Eitertasche und die ulcerierte Zahnfleischtasche;

2. die Zahnfachtasche, wenn man nicht ganz allgemein von der chirurgischen Behandlung der Alveolar- pyorrhöe oder der ‚sog. Alveolpyorrhöe‘ spricht.“ Und er fährt fort:

„Um die Eignung der verschiedenen Zustände für die chirurgische Behandlung zu prüfen, habe ich in den letzten Jahren über die Grenzen der von mir selbst an- genommenen Indikation hinaus alle möglichen Fälle operativ behandelt und dabei folgende 4 Zustände als Gebiet der chirurgischen Behandlung ansehen gelernt:

1. Die Zahnfleischtasche: pathologisch-anatomisch marginale eitrige und granulierende Gingivitis bzw. Gingivoperiostitis.

Ihr entspricht die Gingivotomie; an der Grenze nach oben steht bezüglich zu- gehöriger klinischer Zustände das Curettement. Nach unten folgt der unter 4. zu nennende Zustand und die Aufklappung nach Neumann.

2. Der Granulationsherd auf den Septumspitzen granulierende inter- dentale Gingivo-Ostitis, oft vorwiegend schrumpfenden Charakters, dann nicht- chirurgischer Gegenstand. Die chirurgische Behandlung besteht in Aufklappung nach Neumann, Excochleation (septale Nekrotomie und Gingivotomie, sobald Zahnfach- randnekrose damit verbunden ist).

3. Granulierender, ausgedehnter Zerfallsherd der (meistens vorderen) Alveolen- wand = granulierende Ostitis bzw. Gingivo-Ostitis-Periodontitis (Paradentitis oder Gingivopanostitis nach Weski).

Operation nach Widmann, Excochleation bzw. Nekrotomie.

2. und 3. gehen natürlich auch bezüglich der pathologisch-anatomischen Be- zeichnungen über in den 4. Zustand:

4. Alveoläre (Knochen-) Tasche Schrägdefekte mit Granulationen und derber Schwartenbildung.

Operation nach Widmann-Neumann: Gingivektomie und Excochleation- Resektion des Randes behufs Einebnung.

Bezeichnung und Einteilung verfolgen natürlich nur praktische Zwecke; zu der Pathogenese der Paradentosen soll damit keine Stellung genommen werden. Anderseits kann die Praxis nicht auf die theoretisch-wissenschaftliche Erklärung dieser Dinge warten mit der Ingebrauchnahme neuer therapeutischer Vorschläge und Benennungen.“

Schlußfolgerungen.

Wir sind zu der Anschauung gelangt, daß für den Beginn der Krankheit die lokalen Reize die wichtigsten sind; sie bedingen in den meisten Fällen die Konti- nuitätstrennung der Epitheldecke, schaffen also die „primäre Gewebsläsion“, sind die Veranlassung für das Tiefenwuchern des Epithels, während für die Fortdauer der Krankheit die lokalen infektiösen Ursachen, die Bakterien und Protozoen, die verschiedenen Spirochäten und Kokken, grampositive und gramnegative, vielleicht auch Amöben, fusiforme Bacillen und vor allem Pilze und deren Toxine eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen. Des weiteren ist für eine richtige Artikulation Sorge zu tragen, damit keine falsche bzw. übermäßige Belastung einzelner Zähne zuwege kommt.

31*

484 P. Kranz.

Auch konstitutionelle Krankheiten kommen als prädisponierende Ursache in Betracht, indem sie z. B. als Ernährungsstörungen die Kalkablagerungen fördern oder in Form von Herzaffektionen, Diabetes, Gicht, Nervenleiden, Chlorose u. s. w. eine herabgesetzte Widerstandskraft verschulden und so die Krankheitsbereitschaft der Gewebe darstellen, ohne die ja letzten Endes die Kier einer Krankheit überhaupt nicht möglich wäre.

Empfehlen möchten wir auch noch, auf eventuelle ‚inersehreionisähe Störungen ein Augenmerk zu richten, namentlich bei den sog. ungeklärten Fällen.

Als Wichtigstes aber bleibt zu beachten, daß die sog. Alveolarpyorrhöe als rein lokaler Krankheitsvorgang zu betrachten ist, der den lokalen Charakter auch in den schwersten und fortgeschrittensten Fällen bewahrt; der Allgemeinzustand kann wohl von großem Einfluß auf die Intensität und Dauer der Krankheit sein, das Wesen der Krankheit macht er nicht aus. Vor allem darf auch eine bestehende Alveolarpyorrhöe allein nie als Symptom einer Allgemeinerkrankung angesprochen werden.

Da die lokalen Reize, wie aus dem Vorausgegangenen ersichtlich, die Haupt- rolle spielen, so wird eine gründliche Sanierung des Mundes und gute Mundpflege immer das erste sein, was vorgenommen werden muß. Restlose Beseitigung aller Zahnsteinauflagerungen, der Granulationen, der Zahnfleisch- und der Knochentaschen nach den im Vorausgegangenen angegebenen Methoden sind Grundbedingung für eine Heilung. Ganz lockere Zähne sind zu entfernen, bei den übrigen ist eine Ruhig- stellung durch Schienung zu sichern, denn eine normale Kaufunktion setzt einen normal festen Zahn voraus. Es ist in allen Fällen der Hausarzt zu Rate zu ziehen wegen eventuell bestehender Allgemeinleiden; diese sind unbedingt zu beheben, innere Mittel, wie Arsen, Phosphor, unterstützen häufig die Regeneration am Knochen. Eine längere Zeit gut durchgeführte Massage des Zahnfleisches hebt die gesunkene Vitalität und regt eine gute Durchblutung an. Eine Restitutio ad integrum ist in den meisten Fällen ausgeschlossen, da vielfach die Patienten erst zur Behandlung kommen, wenn der Alveolarfortsatz schon stark in Mitleidenschaft gezogen ist. | Erfolge ohne eine gründliche Lokalbehandlung haben wir nie gesehen, wohl

aber Fälle, die ohne jede interne Beihilfe lediglich nach gründlicher Lokalbehandlung geheilt sind.

Die chirurgische Lokalbehandlung, sei es im Anfangsstadium, die sog. chirur- gische Teilbehandlung, oder in weiter vorgeschrittenen Fällen die Aufklappung nach Neumann sind also Grundbedingung für einen Heilerfolg bei allen pyorrhoi- schen Zuständen.

Prophylaxe: Gerade hier kann ein gutes Hand-in-Hand-Arbeiten von Arzt und Zahnarzt außerordenlich segensreich sein. Der Arzt kann nicht häufig genug seine Patienten auf eine sorgfältig vorzunehmende Mundpflege hinweisen und er sollte es nie versäumen, bei allen jenen Fällen, bei denen er irgendeine Allgemein- erkrankung feststellt, eine gründliche zahnärztliche Untersuchung durchführen zu lassen. Eine Frühdiagnose wird den Patienten vor größeren zahnärztlichen Ein- griffen bewahren und ihm die Erhaltung seiner Zähne bis ins hohe Alter einiger- maßen sichern.

Daß auch der Zahnarzt sorgfältiger wie bisher speziell auf Zahnfleischtaschen zu achten haben wird, braucht wohl nicht besonders betont zu werden.

Anschließend gibt Falck einen kurzen Überblick über die Befestigungsschienen, die einen sehr wesentlichen Teil der Therapie ausmachen.

Die sog. Alveolarpyorrhöe und ihre Behandlung. 485

Befestigungsschienen. Von Dr. K. Falck, München.

Die Therapie der Alveolarpyorrhöe verlangt nicht nur eine chirurgische Behand- lung, sondern auch eine Ruhigstellung der erkrankten Zähne als unbedingtes Er- fordernis zur Verhütung von Rezidiven. Diese Ruhigstellung, d h. die Ausschaltung der pathologischen Eigenbewegung der Zähne, erreichen wir durch die Anlage von Fixations- oder Befestigungsschienen, und da diese Schienen als ein hervorragend therapeutisches Mittel betrachtet werden müssen, ist eine etwas ausführlichere Beschreibung dieser Apparate wohl angezeigt. Auf die Technik der Anfertigung der Fixationen soll hier nicht eingegangen werden, dagegen bedürfen vor allem drei Fragen eine eingehende Betrachtung, nämlich:

1. Wann ist die Anlage einer Schiene überhaupt erforderlich?

2. Welche Prinzipien sind bei der Konstruktion maßgebend?

3. Welche Schienungsmethoden werden diesen Grundsätzen gerecht?

Die erste Frage ist bald beantwortet, denn geschient, d. h. ruhiggestellt, werden müssen alle diejenigen Zähne, die falsch belastet sind, weil diese falsche Belastung unwidersprochen als ein gewichtiges prädisponierendes Moment, von einigen Autoren sogar als die Ursache der Alveolarpyorrhöe schlechthin angesehen wird. Was ist aber nun falsche Belastung und wann tritt sie ein? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir etwas weiter ausholen und uns zunächst wenn auch nur in großen Zügen über die Richtung und Kraft des Kaudrucks orientieren, u. zw. haupt- sächlich auch deshalb, weil diese Untersuchung für die Erklärung der Konstruktions- prinzipien und der zweckmäßigsten Schienungsmethoden als Unterlage dienen muß.

Der Kaudruck, ausgelöst durch die Contraction der Kaumuskelgruppen, wird auf die die Funktion des Kauens ausübenden Zähne übertragen und vom Alveolar- fortsatz aufgenommen, der für die Aufnahme und das Festhalten der Zahnwurzeln bestimmt und ganz den Bedürfnissen der Zähne untergeordnet ist. Die Befestigung der Zähne im Alveolarfortsatz erfolgt durch die Knochenbälkchen und die Wurzel- haut des Zahns, die wechselseitig den Widerstand bedingen, den der Zahn dem Druck entgegensetzt. Die Faserbündel der Wurzelhaut sind so angeordnet, daß der Zahn wie in einem korbartigen Geflecht aufgehängt erscheint, und diese Anordnung der Fasern läßt zum Teil die Widerstandsfähigkeit des Zahnes gegen Verschiebungen ` erklären. Der Druck auf die Zähne und ihr Widerlager im Kiefer äußert sich aller Wahrscheinlichkeit nach nun nicht in der Weise, daß er auf die Alveolarwände nach außen treibend wirkt, so wie etwa ein Keil, der in einen Körper hineingetrieben wird, sondern es werden vielmehr die Fasern der Wurzelhaut infolge ihrer Anordnung eine Zugbeanspruchung der Alveolenwände bei Druck auf den Zahn auslösen. Dadurch ist eine gewisse Beweglichkeit, eine gewisse Elastizität des Zahnes gewähr- leistet, die offenbar nicht nur der normalen Funktion, Entwicklung und Ernährung wegen vorhanden sein muß, sondern auch einen plötzlichen und gefährlichen Druck auf den Zahn bis zu einem gewissen Grad aufheben kann. Wir können diese Beweglich- keit des Zahnes innerhalb der durch den normalen und intakten Aufhängeapparat bedingten Elastizitätsgrenze als die normale und physiologische bezeichnen. Der Druck wirkt nun entsprechend der Bewegungsmöglichkeit des Uhnterkiefers im wesentlichen in drei verschiedenen Richtungen auf den Zahn, u. zw. in vertikaler (Heben des Unterkiefers), sagittaler (Vor- und Rückwärtsbewegung) und transver- saler (Seitenbewegung) Richtung. Jede dieser Bewegungen ist an sich innerhalb der durch den Bau des Kiefergelenks bedingten Richtung und Ausdehnung möglich

486 P. Kranz und K. Falck.

praktisch, dh bei den gewöhnlichen Kaubewegungen, äußern sich aber die Kräfte nicht einzeln in einer der angegebenen Richtungen, sondern es treten einmal sagittale mit vertikalen, dann transversale mit vertikal und sagittal gerichteten Bewegungen kombiniert auf. Durch dieses Ineinander-Übergehen der verschiedenen Richtungen können starke vertikale Komponenten sich praktisch als transversale oder Dreh- momente und anderes auslösende herausstellen. Die Richtung dieses Kaudrucks auf einen bestimmten Zahn zu erkennen, ist in vielen Fällen möglich. An den Front- zähnen von Individuen mittleren oder höheren Alters findet man häufig sog. Schliff- oder Gleitflächen, d.h. an den Schneidekanten zeigen sich gegen labiale oder palatinale Seiten der Zähne scharf abgesetzte, wie poliert aussehende Flächen, die dadurch zu stande gekommen sind, daß bei der durch den Gebrauch bedingten Reibung der Zähne aneinander Abnützung und Substanzverlust entsteht. Der Kaudruck wirkt nun auf den Zahn in einer Richtung, die senkrecht

en zu den Gleit- oder Schliffflächen verläuft. Ent-

sprechend der Lage, Größe und Ausdehnung der Gleitflächen und entsprechend sagittalen, trans- versalen und vertikalen Kaudruckkomponenten wandert die Richtung des Druckes so, daß je nach dem Angriffspunkt der Kraft auch die Be- festigung des Zahns schädigende Kipp- und Dreh- momente in Wirksamkeit treten können. Normaler- weise soll die Befestigung des Zahnes im Kiefer so sein, daß Kräfte, die in irgend einer Neigung zur Achse des Zahnes wirken, schädigungslos aufgenommen werden, solange sie durch die Ein- spannstelle des Zahnes, d. h. durch eine Stelle gehen, die innerhalb der knöchernen Alveolar- wand liegt. In diesem Fall ist ein Kippen bzw. Drehen des Zahnes ausgeschlossen, es findet lediglich innerhalb der Elastizitätsgrenze allseitiger Zug im ganzen Verlauf der Wurzelhaut statt (Fig. 118); die innerhalb dieser Grenzen mögliche

hnes, d o i Noral Beltone ena Ist ar Bewegung des Zahnes könnte man als physio- `" Stellung des Zahnes (ausweichen) infolge Iogische bezeichnen.

Falls die Kraftrichtung zur Zahnachse so stark geneigt ist, daß sie nicht mehr durch die Einspannstelle geht, erfolgt eine starke Zusammenpressung der Wurzelhaut und des Knochens am Alveolarrand. Der Zahn kippt um diese Stelle, es entsteht an der entgegengesetzten Seite Druck an der Wurzel, und falls abnorme Beweglichkeit bereits vorhanden, übermäßiger Zug an dem äußeren Alveolarrand. Die Beanspruchung der Wurzelhaut wechselt also von Druck am oberen Alveolarrand zu Zug an der Wurzelspitze auf der gleichen Zahnseite (Fig. 119). Liegen die Verhältnisse so, dann ist die Möglichkeit für eine pathologische Eigenbewegung des Zahnes gegeben. Im ersten Fall sahen wir ein dem allgemeinen Verlauf der Druckrichtung entsprechendes Ausweichen des Zahnes, im zweiten Fall eine Hebelwirkung. Darnach ist derjenige Zahn als falsch belastet anzusprechen, der so belastet wird, daß die Richtung des Druckes außerhalb der Einspannstelle in der knöchernen Alveolarwand fällt, oder kürzer ausgedrückt, derjenige Zahn, der als Hebel wirkt, ist falsch belastet. Die falsche Belastung tritt dann ein, wenn:

Die sog. Alveolarpyorrhöe und ihre Behandlung. 487

1. langandauernde anormale, d. h. eine Hebelwirkung auslösende Kräfte einen anscheinend normal gestellten oder einen pervers durchgebrochenen Zahn treffen, weil sie in beiden Fällen pathologisch wirken. Die Schädigung wird um so größer sein, wenn die Regenerationsfähigkeit des Gewebes nicht mehr derart ist, daß der Druckatrophie wirksam begegnet wird, wenn also mit zunehmendem Alter die Appositionsfähigkeit zu gunsten der Reduktion gestört ist;

2. bei krankhaften Prozessen, wie der Alveolarpyorrhöe, eine Lockerung des Aufhängeapparates stattgefunden hat, der Knochen eingeschmolzen ist und die Faser- bündel der Wurzelhaut dadurch zum Teil ihren Halt verloren haben, d. h. wenn der Zahn aus der von der Natur zweckmäßig gebildeten Aufhängung mehr oder weniger gelöst und die Anordnung der Widerlager gestört ist;

3. durch chirurgische Eingriffe so viel von der knöchernen Alveolarwand ab- getragen wurde, daß die Druckrichtung außerhalb der Einspannstelle fällt, d. h. wenn durch die Operation die Verhältnisse geschaffen werden, wie sie der sub 2. genannte pathologische Prozeß zeitigt.

Die Stärke des jeweiligen Druckes für einen be- stimmten Zahn zahlenmäßig anzugeben, ist nicht möglich. Wir müssen aber damit rechnen, daß dieser Druck unter Umständen sehr erheblich sein kann. Entsprechend der Neigung der Muskelkräfte zur Drehachse (Kondylenachse) und entsprechend der Entfernung der Kraftrichtung der Muskelzüge und des Abstandes der Zähne von dieser Achse kann an den Molaren etwa das Doppelte der in Höhe der Schneidezähne möglichen Kraft ausgeübt werden. Eigene Untersuchungen, betreffend Messung der größt- möglichen Kaukraft auf Grund der Kaumuskelquerschnitte, ergaben eine in Höhe der Schneidezähne überhaupt mögliche Kraft von 147:1 kg, in Höhe der dritten Molaren von 32516 kg. Daß der absolute Kaudruck, d. h. der Druck, der begrenzt ist durch das eben angegebene Maximum einerseits und die physiologische Empfindlich- keit des Zahnes und der Wurzelhaut anderseits, in allen ` Angie Belastung cines Zahnes mit Fällen auftritt, ist nicht anzunehmen. Wahrscheinlicher ` 2 m pr ben ho de ist vielmehr, daß der sog. praktische Kaudruck, d. h. der Druck, der zum Zerkleinern der Speisen genügt, vorwiegend getätigt wird. Zwischen dem oben angegebenen Maximum und einem Minimum von 0 kg liegen die Größen für den praktischen Kaudruck, der mit 30—80 kg angegeben wird, jedoch keines- wegs eine zahlenmäßig feststehende oder engumgrenzte Kraft zu sein braucht, sondern wahrscheinlich vom Individuum, sei es willkürlich oder unwillkürlich, in einer Stärke gewählt wird, wie sie zum Zerkleinern und Zermalmen der verschieden festen Nahrungsmittel nötig ist.

Dieser ganze Exkurs über die Stärke des Kaudrucks ist nicht nur deshalb wichtig, weil er zeigt, welcher Belastung die Zähne und eine Schiene auch unter normalen Verhältnissen, d. h. bei normalem Gebrauch des Gebisses innerhalb der Grenzen des praktischen Kaudrucks, ausgesetzt sind, noch viel mehr Widerstand erfordern die Zähne und die ihnen angelegten Fixationen, wenn die Kaugrößen dem Maximum sich nähern oder es vielleicht sogar erreichen, wie es bei nächt- lichem Zähneknirschen, Trismus, krampfartigen Zuständen Hysterischer wohl vor-

Fig. 119.

488 P. Kranz und K. Falck.

kommen kann. Gerade die Knirscher aber stellen eben infolge falscher oder „Über- belastung“ ein erhebliches Kontingent der Alveolarpyorrhöekranken.

Haben wir so in großen Zügen das Indikationsgebiet für eine Schienung festgelegt, dann können wir den Grundsätzen, die für die Konstruktion maßgebend sind, nähertreten.

Außer der großen Zahl von Forderungen, die zahnärztlicherseits an eine brauchbare Schiene gestellt werden, Forderungen, die je nach dem Standpunkt der Autoren sich ergänzen, zum Teil sich widersprechen, lassen sich etwa drei als die wichtigsten und allgemein anerkannten herausschälen und etwa so formulieren:

l. Soll die Fixation den beim Kauen auftretenden Kräften den größtmöglichen Widerstand entgegensetzen.

2. Soll sie eine weitere Behandlung des Zahnfleisches und der Zähne ohne Schwierigkeiten zulassen und damit Hand in Hand gehend die physiologische Reinigung durch den Kauakt und die mechanische Reinigung mit Bürste gewähr- leisten. Der Wiederherstellung einer normalen Okklusion (Schlußbiß) und Artikulation (Bewegungsbiß) darf sie nicht hinderlich sein.

3. Endlich soll sie nicht allzu auffallend sein.

Statisch-hygienisch-kosmetische Gesichtspunkte sind also bestimmend, bzw. zu vereinigen.

Die Ausführungen, betreffend Richtung und Kraft des Kaudrucks, geben uns eine Antwort auf die Frage nach der Sicherung gegen die schädigenden Einflüsse anormaler Kräfte, d. h. solcher Kräfte, die eine Kipp- oder Drehbewegung aus- lösen können. Linguale und labiale (Kipp-) Bewegungen sind wegen des geringen Widerstands der Wurzelhautfasern relativ leicht möglich, deshalb ist gegen sagittale Kräfte in erster Linie zu sichern. In zweiter Linie sind die Wirkungen des trans- versalen Drucks auszuschalten, denn durch Zerstörungen der Fasern an den vier Kanten der Wurzeln, die sonst dieser (Dreh-) Bewegung direkt entgegenwirken, ist der Haupthalt gegen diese Bewegung ausgeschaltet. Der vertikale Kaudruck ist deshalb nicht ausschlaggebend, weil er „rein“ wahrscheinlich beim gewöhnlichen Kauen nicht auftritt, dann aber auch weil das Hineindrücken eines Zahnes in seine Alveole wegen der Keilform der Wurzeln und wegen der zahlreichen und starken Aufhängefasern eine sehr schwer auszuführende Bewegung ist, und schließlich hat die Erfahrung gelehrt, daß selbst bei gelockerten Zähnen der Knochenhalt und damit die Möglichkeit der Faseranheftung an und um die Wurzelspitze relativ immer noch am stärksten ist. Wenn man sich nun die Tatsache vergegenwärtigt, daß, je größer der Hebelarm, desto größer auch die der Beanspruchung entgegenwirkende Stützkraft sein muß, so folgt daraus, daß gegen Kippen der größtmögliche Schutz dann gewährt wird, wenn die Schiene möglichst weit in senkrechter Richtung vom Alveolarrand also an der Scheidekante ansetzt, und daß gegen Verdrehen die Sicherung dann am größten ist, wenn die Schiene am Zahn da angreift, wo er in horizontaler Richtung am breitesten ist. Ein Übergreifen der Schiene über die Approximalseiten ist also zu empfehlen. Schienen der Frontzähne allein ist nicht angezeigt, es sollen möglichst die ersten Prämolaren miteinbezogen werden, weil sie gänzlich anders gerichteten Druckrichtungen als die Frontzähne unterliegen und diesen deshalb eine gewisse Kompensationskraft entgegensetzen. Über die Stärke des anzuwendenden Schienenmetalls zu sprechen, hieße eine rein technische Frage berühren und kommt daher an dieser Stelle nicht in Betracht.

Die hygienischen Forderungen lassen sich etwa in folgendem zusammenfassen: Eine Schiene muß mit ihren Rändern so genau den Zähnen anliegen, daß sich keine Speisereste einklemmen können und keine Caries entstehen kann, sie darf an

Die sog. Alveolarpyorrhöe und ihre Behandlung. 489

keiner Stelle bis an den Zahntleischrand heranreichen und muß überall die Möglich- keit einer gründlichen Reinigung der Zwischenräume und der Zahnfleischtaschen bieten. Beim Sprechen soll sie nicht hinderlich sein und darf nirgends die Zunge, Lippe oder Wange stören oder gar verletzen. Das Bestreben muß ferner dahin gehen, die geschlossene Zahnreihe einer normalen Okklusion zu erhalten, bzw. zu schaffen, eventuell durch geeigneten Ersatz (Prothese oder Brücke). Die normale Okklusion tut es aber noch nicht, auch die Artikulation muß möglichst der dem entsprechenden Individuum eigenen Kaubewegung angepaßt werden. Diesem Bestreben darf die Schiene durch ihre Form und Masse nicht im Wege stehen.

Die Forderung bezüglich der Kosmetik wird durchaus verschieden beurteilt. Während manche auf dem Standpunkt stehen, daß das Aussehen gar keine Rolle spielt, wollen andere Konzessionen machen und wieder andere den Hauptwert darauf gelegt wissen. Es ist dies jedoch ein Punkt, dessen Annahme oder Ablehnung im wesentlichen davon abhängt, inwieweit die Konstruktion einer auf das gute Aus- sehen berechneten Schiene sich mit den Forderungen der Stabilität und Hygiene vereinigen läßt, und wo auch Wünsche der Patienten, bei denen allzu viel sicht- bares Gold im Munde beruflich oder in anderer Weise störend wirkt, berücksichtigt werden müssen. Die Eigenart des Bisses, Größe, Form, Zustand der Zähne, Lücken im Gebiß spielen ebenfalls bei dieser Frage noch eine Rolle, kurzum eine eingehende Behandlung dieser Frage würde nicht mehr im Rahmen dieser Betrachtung liegen, die lediglich dem Arzt einen Anhaltspunkt über die Hauptrichtlinien für Indikation und Konstruktion geben soll. Über die Einzelfragen mit einem Zahnarzt zu verhandeln, wird sie jedoch nach dem bis jetzt Angeführten und nach den noch folgenden prak- tischen Beispielen eine geeignete Unterlage abgeben.

Was die Wahl des Materials anbelangt, so ist die allgemeine Ansicht die, daß ` entweder nur ein hochkarätiges Gold (nicht unter 750/000) oder Platin für Schienen angezeigt ist. Die Ersatzmetalle für Gold, die in der Nachkriegszeit unserer wirt- schaftlichen Verhältnisse wegen für andere technische Arbeiten verwendet wurden, haben sich für Schienungszwecke nicht bewährt.

Wenn im folgenden einige der gebräuchlichsten Fixationen beschrieben werden, so soll und kann das Thema auch nicht annähernd erschöpfend behandelt sein. Eine für alle Fälle geeignete Schienung gibt es nicht und kann es nicht geben. Jeder besondere Fall erfordert eine ihm eigene und geeignete Behandlung, denn außer den schon genannten Erwägungen bezüglich der zweckmäßigen Vereinigung statisch-hygienisch-kosmetischer Gesichtspunkte ist auch vor Anfertigung einer Be- festigung die Sensibilität und die wirtschaftliche Lage des Patienten zu berücksichtigen. Zuletzt, doch nicht am letzten, spricht die Geschicklichkeit des Zahnarztes, der eine Schiene anfertigt, auch ein gewichtiges Wort mit, denn die Anfertigung dieser Halteapparate stellt mehr Anforderungen an die Fertigkeit und Erfahrung des Herstellers als irgend eine andere zahnärztlich-technische Leistung.

Unter drei Gruppen kann man, wenn der Halt für die Schiene an den Zähnen als Kriterium gilt, die Fixationen bringen, u. zw. würden dann in der

1. Gruppe alle diejenigen Apparate stehen, die in den Kronen, bzw. Wurzel- pulpen verankert sind; die

2. Gruppe würde diejenigen umfassen, deren Befestigung in die Substanz des Zahnes verlegt ist, und als

3. Gruppe endlich hätten dann die Schienen zu gelten, die den Zähnen nur anliegen, bei denen also im Gegensatz zu den ersten beiden Gruppen überhaupt keine oder nur verschwindend wenig Substanz geopfert zu werden braucht.

490 P. Kranz und K. Falck.

Ein grundsätzlicher Unterschied zwischen der ersten und den beiden anderen Gruppen besteht noch darin, daß bei jener unter allen Umständen eine Abätzung der Pulpa vorgenommen werden muß, während sie bei diesen zwar erfolgen kann, aber nicht erfolgen muß. Das Abätzen der Pulpa wird vielfach als Prinzip ver- fochten, u. zw. sollen durch den mit dem Abätzen und durch den mit dem Wurzel- füllungsmaterial gesetzten Reiz periapikale Hyperplasien des Zementes hervorgerufen werden und dadurch allein schon die vorher gelockerten Zähne eine relative Festig- keit wiedererlangen. Diese Frage ist jedoch noch keineswegs eindeutig beantwortet. Den Erfahrungen der einen Seite stehen die Beobachtungen der anderen Richtung entgegen.’ Wenn der in letzter Zeit namentlich von amerikanischer Seite ver- tretene Standpunkt, jeder tote Zahn berge die Gefahr einer Allgemeininfektion in sich, zweifellos über das Ziel hinausschießt, so ist doch die Möglichkeit von Schädi-

Fig. 120a. Fig. 1205.

Schiene nach dem Rhein-Mamlokschen

? rinzip (schematisch). 3 Die der palatinalen bzw. lingualen Seite der Zähne Eröffnung und Erweiterung der Wurzelkanäle zur anliegende Seite der Rückenplatte mit den in die Aufnahme der Wurzelstifte (s. Fig 1035). Die von Wurzelkanäle zu versenkenden Stifıen.

median nach distal ziehenden Querrillen gewähren

nach dem Einsetzen von gestanzten bzw gegossenen

Rückenplatten einen gewissen Schutz gegen drehende Bewegungen.

Fig. 120c.

Schiene in situ von lingual bzw. palatinal gesehen.

gungen des Organismus durch tote und mangelhaft gefüllte Wurzeln schon deshalb nicht von der Hand zu weisen, weil die Erfahrung bewiesen hat, daß nach Extraktion solcher Zähne Allgemeinerkrankungen geheilt werden konnten. Man wird deshalb nicht ohne zwingenden Grund wahllos gesunde Pulpen devitalisieren, namentlich dann nicht, wenn kosmetische Rücksichten nicht unbedingt für die Anfertigung einer Schiene der ersten Gruppe sprechen oder wenn nicht die durch das Freiliegen der Wurzeln vorhandene Empfindlichkeit des Zahnes gegen thermische oder chemische Einflüsse die Maßnahme rechtfertigt.

Ein Beispiel der ersten Gruppe zeigt Fig. 120a, b, c. Man bezeichnet die Fixation als eine nach dem Rhein-Mamlokschen Prinzip.

Diese Schiene ist in kosmetischer Hinsicht die vollkommenste dann, wenn zwischen den Zähnen keine anormal großen Lücken sind.

Die Forderungen der Hygiene werden von dieser Schiene ebenfalls dann erfüllt, wenn sie zur Befestigung verhältnismäßig normal stehender Zähne dient. An unteren Frontzähnen setzt sie der Wiederherstellung einer normalen Artikulation

Die sog. Alveolarpyorrhöe und ihre Behandlung. 491

überhaupt keine, an oberen Frontzähnen in den meisten Fällen auch nicht oder doch leicht zu überwindende Schwierigkeiten entgegen.

In statischer Beziehung erfüllt sie nur mit gewissen Einschränkungen die erforderlichen Bedingungen.

An Patient und Operateur stellt die Anfertigung einer derartigen Schiene keine allzugroßen Anforderungen und sie ist deshalb da indiziert, wo sich die vorstehend genannten Forderungen verwirklichen lassen.

In der zweiten Gruppe finden wir Schienen, deren Halt in die Substanz der Zahnkrone gelegt ist. Die eine Methode besteht in dem Beschleifen der Zähne derart, daß ein mittlerer oberer Frontzahn etwa die Form erhält, wie das Schema in Fig. 121a, b, zeigt. In diese Cavität hineingepreßtes Wachs wird so modelliert, daß

Fig. 121a.

Fig. 121 b.

Ausschleifen eines Inlayschiene in situ

Zahnes für eine von labial gesehen. Inlayschiene (schematisch)

die frühere Zahnform annähernd wiederersteht. Das Wachsmodell wird in Gold gegossen und eine Vielheit derartiger „Inlays“ zu einem Ganzen vereinigt, ergibt schließlich die Schiene. Diese Schienungsmethode ist kosmetisch nicht so voll- kommen wie die vorhin genannte, hygienisch ist sie einwandfrei, der Artikulation ist sie auch nicht hinderlich, weil durch den erheblichen Substanzverlust der Zähne hinreichend Raum geschaffen wird. In statischer Beziehung ist ebenfalls nichts dagegen zu erinnern, jedoch setzt das reibungslose Anliegen einer solchen Schiene in toto eine Parallelität sämtlicher ausgeschliffenen Flächen voraus. Die Schiene wird im allgemeinen da angezeigt sein, wo ein reibungsloses Anliegen ermöglicht wird, sie setzt starke, nicht erheblich cariöse Zähne voraus. Lückengebiß geringen Grades ist kein Hinderungsgrund, im Gegenteil kann durch geeignetes Modellieren des Wachs- modells dieser Zustand bis zu einem gewissen Grad ausgeglichen werden. Nicht unerwähnt soll aber bleiben, daß die Herstellung einer derartigen Fixation an die Ausdauer und Nerven des Patienten ganz erhebliche Anforderungen stellt, und daß sie mehr als irgend eine andere Schiene Erfahrung und technische Fertigkeit des Zahnarztes verlangt.

Eine andere Methode dieser Gruppe ist die Befestigung durch eine sog. W olffsche Schraubenschiene (Fig. 122a und b). Kosmetisch ist diese Schiene durchaus einwandfrei, auch hygienisch ist einigermaßen normal stehende Zähne vorausgesetzt nichts gegen sie einzuwenden. Divergenz der Zähne spielt keine Rolle, doch müssen sie kräftig und nicht cariös sein. An unteren Frontzähnen ist sie der Artikulation nicht hinderlich, an oberen Zähnen kann tiefer BiB die Anfertigung nicht zulassen. Gegen kippende Kräfte sichert sie vollkommen, dagegen nicht in derselbe Weise gegen drehende Kaudruckkräfte. Die Gefahr der Sprengung eines Zahnes beim Anlegen dieser Fixation ist aber groß. Die Anfertigung dieser Schiene kann ohne große

492 P. Kranz und K. Falck.

Schwierigkeiten auch bei sensiblen Patienten vorgenommen werden, die technische Herstellung verlangt aber immerhin schon eine verhältnismäßig große Geschicklichkeit.

Wir kommen nun zu den letzten hier anzuführenden Befestigungsarten, Methoden der Befestigung, die ein Abätzen der Pulpen nicht erfordern und die auch des gering-

a b Wolffsche Schraubenschiene. (Aus ar a Längsschnitt durch einen Frontzahn. Die Schraube wird an eine ge ossene Rückenplatte aufgelötet. Durch Anziehen der in den n versenkten Schraubenmutter wird der Zahn an der Platte fixiert; b zeigt das Anlegen dieser Schiene.

fügigen Abschleifens der Zähne wegen nicht zu einer Irritation oder gar zu unbeab- sichtigtem Freilegen der Pulpen führen, wie das bei der Präparation der Zähne für eine der unter der zweiten Gruppe genannten Schienen doch immerhin leicht möglich

Fig 123.

Ringschiene in situ. Halbkronen auf Molaren. Ersatz der fehlenden Zähne durch Goldguß (Brücke) bzw. Porzellanzahn.

ist. Um die zu befestigenden Zähne werden Ringe aus dünnem Goldblech oder Platin gelegt, die an den Innenflächen der Zähne bis zur Schneidekante reichen, an der facialen Seite dagegen schmäler gehalten sind, wie Fig. 123 zeigt. Von allen Schienen sehen diese Ringschienen am wenigsten schön aus, jedoch kann man durch

gege |

Die sog. Alveolarpyorrhöe und ihre Behandlung. 493

Ausschneiden eines Stückchens des Ringes auf der labialen Fläche den kosmetischen Effekt verbessern, ohne dadurch die Stabilität wesentlich zu beeinträchtigen. In hygienischer’ sowie in statischer Beziehung ist sie durchaus vollkommen. Cariöse Zähne sind kein Hinderungsgrund. Für Lücken- und Preßgebiß ist sie gleich gut geeignet. Auch empfindliche Patienten brauchen die Anfertigung dieser Art Schiene nicht zu scheuen, die technische Herstellung ist einfacher als eine der früher genannten. Fin Haupthinderungsgrund für die Anlegung einer derartigen Schiene liegt in der möglichen Störung der Artikulation, die namentlich für obere Frontzahnschienen in den meisten Fällen zur Kontraindikation wird.

Wenn bisher immer nur von der Wiederbefestigung gelockerter Frontzähne gesprochen wurde und die Schienung gelockerter Backen- und Mahlzähne ganz außer acht gelassen wurde, so geschah das hauptsächlich aus dem Grunde, weil die Methoden der Backenzahnschienung erheblich einfacher sind, denn die Forderungen bezüglich der Kosmetik treten gegenüber denen der Stabilität und Hygiene vollständig zurück. |

Die Schienung von Prämolaren und Molaren erfolgt durch Goldgußfüllungen, Voll- und Halbkronen. Für die Wahl der Befestigung durch zusammengelötete

nlays (Goldgußfüllungen) würde ein eventuell cariöser Zustand der Zähne sprechen,

doch ist dabei zu berücksichtigen, daß mit der wachsenden Ausdehnung der Schiene die Möglichkeit einer reibungslosen Adaption geringer und dadurch die Gefahr des Sprengens eines Zahnes durch gewaltsames Eindrücken größer wird. Das ist einmal in der schwieriger zu erreichenden Parallelität der Zähne begründet und dann auch so erheblichen technischen Schwierigkeiten unterworfen, daß ihnen auch der gewandteste Operateur nicht immer gerecht werden kann. Mit dem Mangel an Übersicht, den uns das Operationsfeld an Backenzähnen gegenüber den Frontzähnen bietet, wird auch ein präzises Arbeiten erschwert. Der Überkappung der Backenzähne durch Vollkronen stehen insoferne Bedenken entgegen, als nach deren Anlegung eine Behandlung und Sauberhaltung des Zahnes und des Zalınfleisches erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht wird. Außerdem ist zu bedenken, daß jede Voll- krone einen Reiz bedeutet, der schon bei gesunden Zähnen und gesundem Zahn- fleisch oft unangenehm empfunden wird, bei alveolarpyorrhoisch erkrankten aber unter Umständen eine Heilung ausschließt. Es erscheint daher zweckmäßiger, als Befestigungsglieder einer Backenzahnschienung Halbkronen zu wählen, die die Möglich- keit einer nachträglichen Reinigung der Zahnhälse und Behandlung des Zahnfleisches besser zulassen. Die Anfertigung von Vollkronen sollte nur auf bestimmte, technisch oder aus anderen Gründen notwendige Fälle beschränkt bleiben.

Wenn nun auch die Indikationsstellung für eine Schiene nicht schwierig ist, so dürfte doch die Frage, welches System der Schienung für einen gegebenen Fall als das beste angesehen werden muß, nicht immer leicht zu entscheiden sein. Es wurde schon angeführt, welche Momente dabei zu beachten sind, und festgestellt, daß es ein für alle Fälle geeignetes System nicht gibt und nicht geben kann. Wir können noch einen Schritt weiter gehen und behaupten, daß vielfach zur Befestigung einer Zahngruppe desselben Mundes Kombinationen und Modifikationen verschie- dener Methoden erforderlich sind, um etwas Zweckentsprechendes zu schaffen.

Die Beschreibung eines Falles mag die Abhandlung beschließen (Fig. 124a und b). Ein Patient, der wegen Verlustes sämtlicher Zähne des Oberkiefers bereits eine Kautschukprothese trägt, hat im Unterkiefer noch 10 („P P,) schwer alveolarpyor- rhoisch erkrankte Zähne. Die beiden zweiten Prämolaren ebenso wie rechter mittlerer und seitlicher Schneidezahn sind bereits so gelockert, daß sie extrahiert werden müssen.

494 P. Kranz und K. Falck.

Die übrigen ebenfalls schon bedenklich gelockerten, mit reichlichem Zahnstein- inkrustationen bedeckten Zähne sollen unter allen Umständen erhalten werden, einmal um der anzufertigenden Unterkieferprothese als Stütze durch Klammi£rbefestigung zu dienen und auch um den erst 30jährigen Mann nicht seiner letzten Zähne zu berauben, da die Erfahrung gelehrt hat, daß Individuen jugendlichen oder mittleren Alters unter dem Verlust sämtlicher Zähne psychisch leiden. Die beiden ersten Prämolaren wurden mit Vollkronen deshalb versehen, weil an diesen der Klammer- halt der unteren Prothese erfolgte. Halbkronen wären in diesem Fall und aus diesem Grund nicht angezeigt gewesen. In dem in Fig. 124a abgebildeten Fall stehen beider- seits noch die ersten Molaren, die mit Halbkappen versehen wurden, weil hier von der Anfertigung eines Unterstücks abgesehen wurde. Die beiden Eckzähne im Fall Fig. 1245 wurden nach Rhein-Mamlok geschient, weil die beiden Eckzähne zuein- ander relativ parallel standen, und weil die stark gewölbten Aproximalseiten der

Fig. 1245.

Fig. 124a.

Das Röntgenbild zeigt die Zahn- Die Schiene von labial ehen. Vollkronen um die steinablagerungen und den totalen beiden I Prämolaren, Eckzähne Schienungsmethode Knochenschwund um den mittleren ; nach Rhein-Mamlok, rechte Schneidezähne (die

rechten unteren Schneidezahn. extrahierten des Patienten) i in Gold gefaßt und in die

Schiene eingefügt, linke Schneidezähne Schienungs- - methode, ausgeschnittene Ringe.

Eckzähne zuviel beschliffen hätten werden müssen, um diese Seiten zueinander parallel zu bekommen. Die Divergenz der Schneidezähne zu den Eckzähnen war jedoch so, daß hier von dem Rhein-Mamlokschen Prinzip abgegangen werden mußte und die Ringschienenbefestigung gewählt wurde mit der Modifikation des Herausschleifens eines Teiles des Ringes an der labialen Seite. Die eigenen, mit Gold an der labialen Seite durchgehend um die Basis herum gefaßten Zähne wirken kosmetisch besser als die künstlichen (Porzellan-) Zähne. Im Fall Fig. 106 ist der fehlende linke seitliche Schneidezahn mit einem Porzellanzahn und die beiden rechten fehlenden Prämolaren durch Goldguß in der Weise ersetzt, daß die Approximalseiten an dem Halsteil vom ersten Molar- und Eckzahn sowohl, wie auch der zwischen diesen beiden Zähnen liegende Alveolarrand freiblieben (Schwebebrücke). Nach dem Einsetzen der Schiene mit Phosphatzement im Fall Fig. 107, Aufklappung nach Neumann und nach Verheilung der Schleimhaut Anfertigung einer unteren Prothese auf Metallbasis mit Klammerbefestigung an den beiden ersten Prämolaren. Sistierung der Eiterung, Ruhestand der geschienten Zähne, Heilung.

Literatur. Adloff, Viert. f. Zahn. 1921. Bodo, Viert. f. Zahn. 1923, H. 2. Bonis, PO OR 1923, H. 9. Cieszynski, D. Mon. f. Zahn. 1923, H. 4. Euler, Viert. f. Zahn. 1923, 1. Fleischmann u. Gottlieb, Österr. Ztschr. f. Stomatologie 1920, H.2. Gottlieb, etdi 1923, H. 4; D. Mon. f. Zahn. 1921, H. 5. Greve, Jahresk. f. ärztl. Fortb. 1919. Hille, D Mon. f. Zahn. 1921, H. 10; Zahnärztl. Rundschau 1923, H. 47--50. Hopewell u. Smith,

Die sog. Alveolarpyorrhöe und ihre Behandlung. 495

Dental Cosmos 1911, LIHI. Kranz, D. Mon. f. Zahn. 1919, H. 4 u. 5. Kranz u. Falck, Alveolarpyorrhöe, ihre Ätiologie, Pathologie und Therapie, Meusser, Berlin 1922. Löffler, Viert. f. Zahn. 1922. Loos O., Über atrophische und dystrophische Zustände am Zahnfortsatz, Vortrag in Köln 16. Sept. 1921 ; Zahnfleischentzündung und Wurzelhautentzündung, Vortrag in Hamburg März 1922. Historisches und Pathologisches zur Entstehung und Behandlung der chronischen alveolären Wurzelhautentzündung, Vortrag in Kassel 1922. Erg. d. ges. Zahn. 1923, H. 2-4; Die chirurgische Behandlung bei den sog. Paradentosen. Vortrag bei der Zentralvereinstagung München August 1924. O. Müller, Schweiz. Mon. f. Zahn. 1923, H. 1. Neumann, Die Behandlung der sog. Alveolar- pyorrhöe, Meusser, Berlin, 1924. Römer, Verhandlungen des 5. internationalen zahnärztlichen ongresses 1909, Scheffs Handb. 1909; Centralvereinigung Leipzig 1920. Seidel, D. Zahn. in Vorträgen, H.41. Sonn, Österr.-ungar. Viert. f. Zahn., Okt. 1913. Struck, D. Mon. f. Zahn. 1914. H 4 u. 1918, H.2. Weski, Viert. f. Zahn. 1921 u. 1922. Widmann, Viert. f. Zahn. 1923, H. 1, Über die chirurgische Behandlung der Alveolarpyorrhöe; Zahnärztl. schwed. Ztschr. 1917 u. 1918, Das Literaturverzeichnis enthält die wichtigeren Arbeiten der letzten Jahre, auf Vollständigkeit macht es keinen Anspruch.

Tuberkulose und Auge.

Von Dr. A. Meesmann, Privatdozent und erster Assistent der Universitätsaugenklinik der Charite, Berlin.

Mit 6 Abbildungen im Text und 2 farbigen Tafeln.

Allgemeines zur Diagnose der Augentuberkulose.

Die Erkenntnis, daß der Tuberkulose in der Ätiologie vieler Augenerkrankungen eine überragende Bedeutung zukommt, verdanken wir erst den letzten Jahrzehnten. Namentlich durch die anfangs viel umstrittenen Arbeiten v. Michels wissen wir, daß es fast kein Gewebe des menschlichen Auges gibt, das nicht an Tuberkulose erkranken kann. v. Michel gelang es, in einer Iris von ganz atrophischem Aus- sehen, in der klinisch keinerlei Knoten zu sehen gewesen waren, anatomisch Tuberkel- knötchen nachzuweisen. Die Bedeutung dieses Befundes lag in dem Hinweis, daß die plastische und „seröse* Iritis auf der Entwicklung knötchenförmiger Herde be- ruht, die sich der makroskopischen Wahrnehmung völlig entzogen, also einer Er- krankungsform, die klinisch so gar nicht mit der Vorstellung übereinstimmte, die man aus den histologischen Befunden tuberkulöser Herde in anderen Organen gewonnen hatte. Wenn auch heute infolge der wesentlichen Verfeinerung unserer Untersuchungs- methoden diese Diskrepanz nicht mehr in dem Ausmaße besteht, wie damals, so sind doch die Schwierigkeiten in der ätiologischen Diagnosenstellung durchaus nicht beseitigt. So ist z. B. die primäre Knötchenform der Iritis durchaus nicht ab- solut charakteristisch. Auch bei nicht tuberkulöser Ätiologie kommen Knötchen gleicher Form, Größe und Anordnung in der Iris vor. Dazu kommt, daß in der Überempfindlichkeitsepoche die akuten Entzündungen im Vordergrund stehen, die wenig oder gar nichts Charakteristisches haben. Sie bestehen in diffusen Iridocycli- tiden, periphlebitischen Prozessen in der Retina u. a, während die Spätformen namentlich der Iridocyclitis wieder viel Ähnlichkeit mit den frühen Erkrankungs- formen haben und durch wiederholte Rezidive ausgezeichnet sind. Es läßt sich also sagen, daß nur in Ausnahmefällen das klinische Bild der Augentuberkulose ein so typisches ist, daß sich daraus allein mit Sicherheit eine ätiologische Diagnose stellen läßt. Es kann nicht nur eine Knötcheniritis tuberkulös sein, sondern es gibt auch diffuse uncharakteristische Formen dieser Ätiologie, während andererseits glasige graue Knötchen in der Bindehaut oder Regenbogenhaut durchaus nicht immer durch "Tuberkelbacillen hervorgerufen zu sein brauchen.

Eine exakte Diagnose ist durch den Nachweis säurefester Bacillen im Abstrich oder Schnittpräparat zu gewinnen. Bei äußeren Erkrankungen, namentlich der Lider und Bindehaut, wird sich das dazu notwendige Material meist leicht beschaffen lassen. Bei -Tuberkulose des inneren Auges wird man aber das zur Untersuchung notwendige Material nur in Ausnahmefällen, etwa durch Iridektomie, gewinnen können. Aber auch hier bestehen erhebliche Schwierigkeiten. Axenfeld und Peppmüller haben z. B. 120 Serienschnitte auf Tuberkelbacillen erfolglos

Tuberkulose und Auge. 497

untersucht, fanden sie aber in den darauffolgenden. Während daher ein positiver Ausfall der Untersuchung einem Zufallserfolg recht nahe kommen kann, beweist ein negativer durchaus nichts, denn er schließt nicht die Möglichkeit aus, daß die Bacillen aufgelöst sind oder ihre Färbbarkeit verloren haben. Während in frischen Herden Tuberkelbacillen reichlich vorhanden sind, werden sie in älteren immer spärlicher, so daß sie sich dem mikroskopisch-anatomischen Nachweis völlig ent- ziehen können. Auch scheint die Annahme berechtigt, daß gewisse Formen der Tuberkulose rein toxischer Natur sind oder auch nur durch Bacillensplitter her- vorgerufen werden.

Eine wesentliche diagnostische Bedeutung haben Impfversuche gewonnen. Am besten bringt man das zu überimpfende, auf Tuberkulose verdächtige Material in die vordere Kammer eines Kaninchen- oder Meerschweinchenauges. Bei flüssiger Suspension benutzt man mit Vorteil eine Pravaz-Spritze. Handelt es sich um Ge- websstücke, etwa um ein durch Iridektomie gewonnenes Stück Regenbogenhaut, so eröffnet man die Vorderkammer des Tierauges durch einen Lanzenschnitt und schiebt das Stückchen mit einer zahnlosen Irispinzette oder einem Irisspatel in die Kammer hinein. Ein Teil so behandelter Augen geht durch Sekundärinfektion an Panophthalmie zu grunde. In anderen entwickelt sich ein relativ typischesBild. Nach einer Inkubations- zeit, die je nach der Virulenz der Tuberkelbacillen verschieden ist, mindestens aber . etwa 10—11 Tage dauert, entwickeln sich in der Iris, besonders schön am Pupillar- ` saum, grau-gelbe Knötchen, die allmählich an Zahl und Größe zunehmen. Schwellung und Hyperämie der Iris kann verschieden stark ausgeprägt sein. Unter fort- schreitender äußerer-Reizung trübt sich die Hornhaut und meist kommt es zu einer Perforation am Limbus oder in der Ciliarkörpergegend, der nicht selten ein Ab- heilen des Prozesses folgt. Der ganze Vorgang dauert mehrere Monate. Eine All- gemeininfeklion tritt nur ausnahmsweise auf. Anatomische und bakteriologische Untersuchung lassen sich zur weiteren Sicherung der Diagnose leicht ausführen. Intraperitoneale oder subcutane Überimpfungen, am besten beim Meerschweinchen, erfordern Tötung und Obduktion des Tieres nach 6-7 Wochen. So einwandfrei bei positivem Ausfall der Tierimpfung die Diagnose der Tuberkulose zu stellen ist, so läßt ein negativer doch keineswegs diese Ätiologie sicher ausschließen.

Bei der histologischen Untersuchung durch Probeexcision entnommenen Materiales lassen sich oft die typischen, umschriebenen, gefäßlosen Tuberkel erkennen, deren genauere Beschreibung sich erübrigt. Der diagnostische Wert ihrer Feststellung erfährt zunächst eine gewisse Einschränkung dadurch, daß auch bei nicht tuberkulöser Ätiologie Veränderungen von ganz dem gleichen histologischen Aussehen auftreten können. Dem Ophthalmologen am bekanntesten ist das Chalazion, dessen anatomische Struktur völlig der eines Tuberkels gleicht, als dessen Ursache die Tuberkulose aber nicht in Frage kommt, da der Bacillennachweis bisher in keinem Falle gelungen ist. Ebenso ist das Auftreten von Riesenzellen nicht an die Anwesenheit von Tuberkel- bacillen gebunden. Sie finden sich auch bei Syphilis, Lepra, in Sarkomen und als Fremdkörperriesenzellen. Dazu kommt, daß die Lehre von der specifischen Struktur der tuberkulösen Gewebsveränderung heute nicht mehr allgemeine Gültigkeit hat. Durch die ausgedehnten Untersuchungen Stocks wissen wir, daß sich durch hämato- gene Infektion beim Tier ganz atypische Veränderungen erzeugen lassen, deren anatomisches Aussehen, abgesehen von der Anwesenheit virulenter Tuberkelbacillen, nichts für Tuberkulose Specifisches hat.

Das wichtigste diagnostische Hilfsmittel ist die Tuberkulinprobe, die für den Praktiker besonders deswegen an Bedeutung gewinnt, weil sie sich ohne besondere

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 32

498 A. Meesmann.

Hilfsmittel. ausführen läßt. Bei der Bewertung dieser Proben muß man daran fest- halten, daß eine positive Stich- oder Allgemeinreaktion zunächst nichts weiter beweist, als daß im Körper irgendwo ein reaktionsfähiger tuberkulöser Herd vor- handen ist. Solche Herde können aber bekanntlich bei einer großen Zahl von Patienten völlig symptomlos verlaufen, so daß der positive Reaktionsausfall in Bezug auf eine Augenaffektion nur mit Einschränkung zu verwerten ist. Wichtiger ist die Herd- reaktion. Wir sind am Auge in der glücklichen Lage, letztere sehr genau beobachten zu können. Aber selbst bei Benutzung des Zeisschen Binokularmikroskopes werden wir eine Herdreaktion in sehr vielen Fällen vermissen. Nach Heine ist nur in einem Viertel der Fälle die Reaktion so deutlich, daß sie sich diagnostisch sicher verwerten läßt. Bei anscheinend sicherer Tuberkulose kann die Herdreaktion fehlen, ander- seits kann eine Rötung des gesunden Auges auftreten, während das kranke un- verändert bleibt.

Noch eine zweite Herdreaktion ist bekannt. Sie tritt namentlich bei den Übergangsformen zwischen skrofulösen und tuberkulösen Augenerkrankungen auf und besteht in einem merklichen Nachlassen des Entzündungsreizes für ein bis mehrere Tage bei gleichzeitig positiver Allgemeinreaktion. Diese Ablassungs- reaktion wurde von Heine als nicht absolut specifisch bezeichnet. Man beobachtet ganz entsprechende Erscheinungen auch bei interkurrenten, fieberhaften Erkran- kungen, Erysipel, Bronchopneumonie ua: sie läßt sich auch durch intramuskuläre Milchinjektionen erzielen. Trotzdem ist die erhebliche diagnostische Bedeutung der Tuberkulinreaktion nicht zu leugnen, wobei natürlich immer ein exakter Allgemein- befund unterstützend mitzuwirken hat. |

Für die specifische Diagnostik stehen uns die cutanen und subcutanen Injektionen zur Verfügung. Vor der konjunktivalen Tuberkulininstillation der Ophthalmoreaktion nach Wolff-Eisner, Calmette zu warnen, dürfte heute kaum noch nötig sein. Während Calmette bei über 10.000 Patienten keinerlei Schädigungen gesehen haben will, kamen sehr bald nach der Weiterverbreitung dieser Methode namentlich von augenärztlicher Seite Berichte über bleibende Benachteiligung der Augen, auch bei einwandfrei ausgeführter Technik. Außerdem wies Wolff als erster darauf hin, daß bei therapeutischer Tuberkulinanwendung in manchen Fällen die Ophthalmoreaktion wieder aufflackert, u. zw. in einem Grade, der das Aussetzen der Tuberkulintherapie notwendig macht. Es muß daher heute als selbstverständlich bezeichnet werden, daß der strikt ablehnende Standpunkt, wie ihn seinerzeit A. v. Hippel vertreten hat, der allein gültige ist. Der Augenarzt wird sich hüten, eine diagnostische Methode anzuwenden, bei der er einerseits dem an sich schon schwer geschädigten Auge noch mehr schaden, anderseits für die Diagnose nichts gewinnen kann, da ein positiver Ausfall der Reaktion ebenso gut durch einen tuberkulösen Herd an einer anderen Körperstelle bedingt sein kann.

Die Cutanreaktion hat für die Ophthalmologie nur untergeordnete Bedeutung. Sie kommt nur bei kleinen Kindern in Frage, bei denen sich im allgemeinen der Ausfall der Pirquetschen Reaktion mit der einer nachfolgenden subcutanen Injektion deckt Bei Erwachsenen ist sie durchaus unzuverlässig. Nach A. v. Hippel fiel sie in einzelnen Fällen negativ aus, bei denen mit subcutaner Tuberkulinprobe eine Augentuberkulose nachgewiesen werden konnte. Besondere Erwähnung erfordern die Untersuchungen Koellners an der Universitätsaugenklinik in Würzburg über die Beziehungen zwischen den ekzematösen Augenerkrankungen und der Tuberkulinempfindlichkeit der Haut. Daß zwischen den typischen ekzematösen Eruptionen der Binde- und Hornhaut und der Tuberkulose Beziehungen bestehen, ergibt sich aus dem hohen Prozentsatz

Tuberkulose und Auge. 499

(90—-95%) der nach Pirquet positiv Reagierenden. Koellner konnte nachweisen, daß die Neigung zu phlyktänulären Erkrankungen in überraschender Weise von der Tuberkulinempfindlichkeit der Haut abhängig ist. Im Zustande der Anergie, d. h. beim Sinken und Aufhören der Tuberkulinempfindlichkeit klingen die ekzematösen Erscheinungen am Auge schnell ab, während sie bei Zunahme der Tuberkulin- empfindlichkeit, im Zustande der Allergie, erneut auftreten oder sich verschlimmern.

Die wichtigste Tuberkulinprobe für die specifische Diagnostik tuberkulöser Augenkrankheiten ist die subcutane Injektion. Sie wurde von A. v. Hippel in die Augenheilkunde eingeführt und in der Folgezeit von vielen namhaften Ophthalmo- logen nachgeprüft und empfohlen. Sie ist heute jedem Augenarzt ein unentbehr- liches Hilfsmittel in der Tuberkulosediagnostik geworden. Gerade ihr verdanken wir die Erkenntnis der außerordentlichen Bedeutung, die der Tuberkulose in der Ätiologie der Augenerkrankungen zukommt. Wer sie nicht anwendet, muß natürlich zu einer weit größeren Zahl ätiologisch ungeklärter Fälle kommen. Man sehe darauf die älteren Statistiken an, bei denen die Tuberkulose unter den Gesamtaugenfällen nur 0:02—008% ausmacht, während spätere Zusammenstellungen, z. B. die der Straß- burger Klinik unter den Iritiden 232%, die von v. Michel 368% Tuberkulosen aufweisen.

Bei richtiger Anwendung ist die diagnostische Tuberkulininjektion in der Augenheilkunde als unschädlich zu bezeichnen. Auszuschalten sind Fälle, bei denen Neigungen zu intraokularen Blutungen bestehen, also namentlich die Peri- phlebitis retinalis, bei der ausgedehnte Hämorrhagien in die Netzhaut und den Glaskörper im Vordergrund der Krankheitssymptome stehen. Hierbei sind erhebliche Verschlechterungen durch Tuberkulinanwendung des öfteren beobachtet worden. Bei Iridocyklitiden gehören Blutungen zu den Seltenheiten. Schädliche Folgen der Herdreaktion ist bei ihnen kaum zu befürchten. Im Gegenteil ist die lokale stärkere Hyperämie oft der Anstoß zur Resorption und Ausheilung der tuberkulösen Prozesse. Ebenfalls günstig ist natürlich die erwähnte Abblassungsreaktion zu beurteilen.

Auf Grund der subcutanen Tuberkulinreaktion lassen sich die phlyktänulären Augenerkrankungen als bestimmt zur Tuberkulose gehörig erkennen. Rejschewski fand an der Königsberger Augenklinik 80% positive Reaktionen, während in den übrigen 20% andere Anhaltspunkte für Tuberkulose nachweisbar waren. Es kann hier nicht der Ort sein, zu den theoretischen Erörterungen über das Skrofulose- problem Stellung zu nehmen. Für den Praktiker ergibt sich die Möglichkeit, vor allem bei fraglichen Hornhautprozessen eine Klärung zu schaffen.

Über die Technik der subcutanen Tuberkulininjektionen gibt es eine ziemlich umfangreiche Literatur, deren Berücksichtigung im einzelnen sich erübrigt. Etwa 3 Tage lang vor der Injektion ist die Körpertemperatur zu messen, am besten in Abständen von 4 Stunden, also morgens um 8, mittags um 12, nachmittags um 4 und abends um 8 Uhr. Eine genauere innere Untersuchung auf aktive Tuberkulose ist unbedingt notwendig. Auch auf kurz vorhergegangene fieberhafte Erkrankungen ist zu fahnden, da das Fieber sensibilisierend wirken kann. Im allgemeinen kann man mit einer Menge von 0'1 mg beginnen, will man besonders vorsichtig sein, mit 001 mg. Oft tritt auf die erste Injektion keine Reaktion auf, wohl aber auf die zweite oder dritte, auch wenn die Dosis nicht erhöht wird. Dieses Verhalten erklärt sich durch die sensibilisierende Wirkung der ersten bzw. zweiten Injektion. Die . objektiv am häufigsten nachweisbare Erscheinung ist die Stichreaktion an der Injektionsstelle. Sie besteht in einem lokalen Infiltrat im Unterhautzellgewebe, mit Schwellung und Schmerzhaftigkeit der Impfstelle. Bei Anwendung von Alttuberkulin

32°

500 A. Meesmann.

ist ihr Auftreten bei positiver Reaktion so regelmäßig, daß bei ihrem Fehlen an eine Pseudoreaktion zu denken ist, die etwa durch eine interkurrierende Er- krankung oder auch psychogen aufgetreten sein kann.

Die typische starke Allgemeinreaktion beginnt mit Schüttelfrost, Übelkeit, Mattigkeit und Pulsbeschleunigung. Nach 6—12, seltener nach 12—24 Stunden steigt die Körpertemperatur um 1—3° um nach wenigen Stunden ziemlich plötzlich oder allmählich wieder abzufallen. Das allgemeine Krankheitsgefühl kann während dieser Zeit verschieden stark ausgeprägt sein. Mit dem Absinken der Temperatur hören alle Erscheinungen sehr bald auf. Bei leichterer aber ebenfalls als positiv zu be- wertender Reaktion fehlt die Temperaturerhöhung, während die Allgemeinbeschwerden und die Pulsbeschleunigung deutlich ausgesprochen sind. Je stärker die Allgemein- reaktion und je geringer die dazu notwendige Tuberkulinmenge, desto größer ist die Empfindlichkeit des Patienten. Bei Mengen bis zu 5—10 mg reagiert auch der Gesunde. Heine nimmt eine vollständig fehlende Reaktion nur dann an, wenn beim Kind auf 5 mg, beim Erwachsenen auf 10 mg keinerlei Reaktion auftritt. Alle All- gemeinerscheinungen sind als Folgen der Herdreaktion aufzufassen.

Die Wichtigkeit der Herdreaktion wurde bereits erwähnt. Ihre Häufigkeit wird verschieden angegeben. Stock ist es gelungen, in 30% der Fälle eine Herd- reaktion nachzuweisen. Geringgradige Reaktionen lassen sich nur mit binokularer Lupe erkennen. Auch sind in manchen Fällen die Erscheinungen so flüchtiger Natur, daß sie sich schon dadurch leicht der Feststellung entziehen können. Genaueste Beobachtung und gute Übung sind daher unerläßliche Bedingung. Diese Schwierig- keiten dürften wohl in jedem Falle die Hinzuziehung eines Augenarztes notwendig machen.

Die wichtigsten Formen der Augentuberkulose.

Die Tuberkulose der äußeren Lidhaut zeigt im wesentlichen dieselben Erschei- nungsformen wie die der Haut. Namentlich sind es die verschiedenen Lupusformen des Gesichtes, die sich auf die Lidhaut fortpflanzen können. Die Infektion kann eine ektogene sein, durch Haften von Tuberkelbacillen an wunden, ekzematösen Haut- stellen. Die Bacillen können vom Patienten selber stammen, z. B. bei offener Lungen- tuberkulose oder bei tuberkulöser Erkrankung der Nasenschleimhaut. Gelegentlich schließt sich Lupus der Lider an tuberkulöse Periostitis des Orbitalrandes mit Fistel- bildung an. Ein anderer Weg der ektogenen Infektion ist der von Mensch zu Mensch. In vielen Fällen wird der Infektionsmodus nicht nachweisbar sein. Es bleibt stets die Möglichkeit der endogenen Infektion, die bei allen Formen der Augentuberkulose und ebenso auch anderer Organe möglich ist, auch dann, wenn keine aktiven sonstigen Herde im Körper nachweisbar sind.

Die Diagnose der Lidtuberkulose dürfte im allgemeinen keine zu großen Schwierigkeiten machen, zumal die Möglichkeit der mikroskopischen Untersuchung, des Impfversuches und des Bacillennachweises jederzeit besteht.

Der Lupus führt oft zu stark entstellenden Veränderungen. Durch Narben- schrumpfung der Lider selbst und ebenso der stets miterkrankten angrenzenden Hautpartien kommt es zu Ectropium der Lider, das gerade beim Lupus die stärksten Grade erreichen kann (Fig. 125). Sind Ober- und Unterlid ektropioniert, so entsteht infolge mangelhaften oder gänzlich fehlenden Lidschlusses eine schwere Gefährdung des Auges. Durch Geschwürsbildung in der Hornhaut mit Perforation kann es zum Verlust des Auges kommen.

Seltenere Formen der Lidtuberkulose sind das Scrophuloderma, der Soli- tärtuberkel und einige andere.

Tuberkulose und Auge. 501

Die Prognose ist in jedem Falle eine ernste, mit Ausnahme vielleicht der seltenen Fälle, bei denen es sich bei sonst gesunden Patienten um eine GG früh erkannte Infektion handelt.

In der Therapie sind die chemisch ätzenden Mittel, die früher eine große Rolle spielten, zu gunsten der Röntgen- und Finsenbestrahlung immer mehr ver- lassen worden. Das Ectropium macht plastische Operationen notwendig, deren Schwierigkeit vielfach in der Unmöglichkeit der Beschaffung gesunder Hautpartien besteht. Außerdem ist das Abwarten einer Abheilung unbedingt notwendig, wodurch meist kostbare Zeit verloren geht, so daß eine schwere Erkrankung des Auges selbst nicht immer zu vermeiden ist.

Die Tuberkulose des Tarsus ist meist eine sekundäre, von der Bindehaut oder Lidhaut fortgeleitete Erkrankung. Sie besteht in einer umschriebenen, kaum schmerz- haften Verdickung. In anderen Fällen ent- stehen in der Umgebung eines tuberkulösen Geschwüres der Bindehaut kleinste, submiliare Knötchen, die unter der Schleimhaut liegen. Ist das Oberlid betroffen, so kommt es zur Ptosis. Die Diagnose ist bei gleichzeitiger Tuberkulose der Lider leicht. Es kommt aber auch eine endogene Infektion vor. Das klini- sche Bild kann dann einem Chalazion sehr ähnlich sein. Differentialdiagnostisch wichtig ist das Verhalten der präaurikulären Lymph- drüse, die beim Chalazion unverändert ist. Auch eine Verwechslung mit Tarsitis syphili- tica ist leicht möglich. Letztere ist durch Unter- suchung des Blutes und eventuelles Versagen einer antiluetischen Kur auszuschließen. Bei endogen entstandener Tarsitis tuberculosa er- krankt bald sekundär die Bindehaut. Anato- mische Untersuchung und eventuelle Über- impfungsversuche werden in zweifelhaften Fällen Klärung bringen.

Die Tuberkulose der Bindehaut ist oft ` Farbe E, nach A. Locwensteim ns der eine sekundäre Erkrankung, entstanden durch Fortleitung von einem benachbarten tuberkulösen Herd, z. B. der Lid- und Gesichtshaut, der Nasenschleimhaut oder des Tränensackes. Auch die Möglichkeit einer endogenen Infektion ist zuzugeben. In den meisten Fällen handelt es sich aber um eine primäre Impftuberkulose. Das beweisen exakte klinische Beobachtungen, sowie die oft mit Erfolg beim Tier versuchte Überimpfung. Bei der außerordent- lichen Verbreitung tuberkulöser Erkrankungen der Respirationsorgane ist eine Infek- tionsmöglichkeit sehr oft gegeben. Immerhin ist es auffallend, wie selten die Bindehauttuberkulose auftritt. Man hat hierfür einerseits die mechanischreinigende und bactericide Eigenschaft des Tränenstromes verantwortlich gemacht. Anderseits ist experimentell nachgewiesen, daß sich die Tuberkelbacillen auf der intakten Schleim- haut nicht ansiedeln. Nach Untersuchungen von Igersheimer, die von Lunds- gaard bestätigt werden konnten, ist außerdem die Seltenheit der Bindehauttuberkulose durch den Immunitätszustand bedingt, in dem sich die Patienten beim Eindringen der Bacillen befinden. Bei ektogener Infektion kann das Bacillenmaterial von Mensch

Fig. 125.

502 A. Meesmann.

zu Mensch, von Tier zu Mensch übertragen werden und auch vom Patienten selbst stammen. Die Erkrankung beginnt oft im Sulcus subtarsalis, also dort, wo sich Fremdkörper mit Vorliebe festzusetzen pflegen. Es läßt sich hieraus mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit der ektogene Infektionsmodus vermuten.

Am häufigsten befallen ist die Bindehaut der Lider, namentlich der Oberlider, während eine primäre Tuberkulose der Bulbusbindehaut zu den seltenen Ausnahme- fällen gehört. Das gleiche gilt von der Plica semilunaris. Die Erkrankung kann auf ein Lid beschränkt bleiben, das schon äußerlich durch beträchtliche Schwellung als krank zu erkennen ist. Eine stärkere Absonderung besteht in allen Fällen. Ihr Grad geht nicht immer mit der Stärke der Entzündung parallel. Ektropioniert man das Lid, so sieht man in der stärker injizierten und eigenartig verfärbten Bindehaut meist einen geschwürigen Zerfall, hervorgegangen aus kleinen Tuberkelknötchen, die in der Umgebung des Geschwüres noch in größerer Anzahl zu finden sind. Eine Verwechselung mit einem Primäraffekt oder tertiär luetischen Ulcerationen ist möglich. In anderen Fällen zeigen die miliaren Knötchen wenig Neigung zum Zerfall, so daß ein Bild entsteht, das dem bei einem schweren Trachom ähnlich sieht. Hahnen- kammartig angeordnete, schlaffe Granulationen, die sich in der Umgebung von Geschwüren und auch ohne geschwürigen Zerfall entwickeln, können ebenfalls mit Trachom verwechselt werden. Diese Wucherungsvorgänge sind von starker, schleimig- eitriger Sekretion begleitet.

Der Lupus der Bindehaut ist von der äußeren Haut fortgeleitet, oft doppel- seitig. Die Diagnose wird durch das gleichzeitige Bestehen eines Hautlupus erleichtert. Der Hauptunterschied des Lupus gegenüber den anderen Tuberkuloseformen liegt in der größeren Tendenz zur Vernarbung.

In allen Fällen handelt es sich um eine chronische Erkrankung, die im Anfang nur geringe subjektive Beschwerden macht. Die Prognose ist ernst. Bei weiterem Fortschreiten erkrankt auch die Bindehaut des Bulbus, auf der Hornhaut entwickelt sich ein mehr oder weniger dichter Pannus, der das Sehen schwer schädigt. Geschwürige Prozesse in der Bindehaut neigen zu Fortschreiten in die Tiefe. Hierdurch entsteht die erwähnte Tarsitis tuberculosa. In besonders schweren Fällen können Defekte entstehen, die das ganze Lid durchsetzen.

Weitere Komplikationen, die naturgemäß am frühesten und häufigsten bei Erkrankung des Unterlides auftreten, sind Veränderungen der tränenableitenden Wege. Sie sind häufig ebenfalls tuberkulöser Natur, unspecifische Formen kommen aber vor. Umgekehrt kann auch die Tuberkulose der Tränenwege das Primäre sein.

Bei der Behandlung stehen neben Ätzmitteln und Excision die Bestrah- lungen im Vordergrund. Besonders die Finsenbestrahlung, sachgemäß durchgeführt, bringt ausgezeichnete Erfolge, so daß es dringend zu empfehlen ist, jeden Patienten mit Bindehauttuberkulose, wenn nur irgend möglich, der Finsenbestrahlung zugängig zu machen. Stellungsanomalien, die durch Vernarbung nicht selten auftreten und größere Liddefekte sind nach Möglichkeit durch plastische Operationen zu korrigieren.

Eine seltene Form der Bindehauttuberkulose ist die Parinaudsche Conjunc- tivitis. Sie wird von manchen Autoren auf Grund der Erfolge der Tierüberimpfungen als humane Tuberkulose aufgefaßt, von anderen als bovine. Das klinische Bild gleicht sehr der echten Tuberkulose. Die Lider sind geschwollen, die Bindehaut sulzig ver- dickt, mit Einlagerung gelblicher Knötchen, und’Schwellung der regionären Lymph- drüsen. Eine Abgrenzung dieser Form ist notwendig geworden, da sie ätiologisch nicht einheitlich ist und in manchen Fällen bei genauer anatomischer und bakterio- logischer Untersuchung die Tuberkulose sicher auszuschließen war.

Tuberkulose und Auge. 503

Die Tuberkulose der Tränendrüse ist selten. Der Infektionsweg ist meist der endogene. Ein Überwandern von der Conjunctiva aus ist nur in Ausnahmefällen beschrieben worden. Die Diagnose ist nicht immer leicht. Die Erkrankung beginnt uncharakteristisch mit einer verschieblichen Schwellung in der Tränendrüsengegend, die auf Druck nur wenig schmerzhaft ist und sich gegen die Orbita nicht scharf abgrenzen läßt. Die Entzündungserscheinungen sind gering, das übrige Auge meist normal. Differentialdiagnostisch kommt vor allem das Sarkom in Frage. Entscheidend ist die mikroskopische Untersuchung eines durch Excision gewonnenen Stückchens. Auch Lymphome lassen sich so ausschließen. An syphilitische Tumoren der Tränen- drüse muß ebenfalls gedacht werden.

Tuberkulose des Tränensackes durch Fortleitung von der Bindehaut aus wurde bereits erwähnt. Ebenso kann sie bei Lupus der Nasenschleimhaut entstehen. Diese Form ist nicht so sehr selten und hat wenig charakteristisches. Namentlich bei jugend- lichen Patienten sollte man vor operativen Eingriffen, wenn das Auge selbst normal ist, eine Untersuchung der Nase vorausschicken, besonders bei fistulierender Entzündung. Auch Tuberkulose der Nebenhöhlen besteht oft. Fast immer ist das Periost und der Knochen miterkrankt. Die Erkrankung des Tränensackes selbst verläuft unter dem Bilde der Blennorrhöe. Differentialdiagnostisch verwertbar ist das Bestehenbleiben einer Anschwellung nach Ausdrücken des Tränensackes, das sich durch die Granulations- massen im Inneren des Sackes erklärt, sowie eine Mitbeteiligung der regionären Lymphdrüsen. |

Therapeutisch kommt neben Behandlung der Nasenerkrankung die Excision des Tränensackes in Frage. In allen Fällen, bei denen die äußere Haut unverändert ist und bei Fisteln nach ausgiebiger Umschneidung der umgebenden Hautpartien kann man primär nähen. In manchen Fällen heilt die Operationswunde glatt. Kommt es zur Fistelbildung oder zum Abstoßen von Knochensplittern, so läßt sich durch Bestrahlen eine Besserung erzielen. Eventuell ist später eine erneute Operation anzuschließen.

Bei tuberkulöser Erkrankung des knöchernen Orbitalrandes kommt es zu charakteristischen Fistelbildungen. Sie befällt besonders Patienten in jugendlichem Alter. Der temporale dem Jochbogen angehörende Rand ist eine Prädilektionsstelle. Bei Ausheilung entstehen Narbenfixationen, die plastische Operationen notwendig machen. Ausgezeichnetes leistet hier die Fettunterpflanzung. Gelegentlich beobachtet man auch Abscesse in dieser Gegend, die der Fistelbildung vorangehen. Besteht Verdacht auf einen solchen kalten Absceß, so ist Incision zu unterlassen. Statt dessen ist die Punktion mit der Spritze und nachfolgende Injektion von Jodoform- glycerin vorzunehmen.

Primäre Tuberkulose der Hornhaut ist nur in seltenen Fällen beschrieben worden. Die Möglichkeit tuberkulöser Infektion eines Substanzverlustes der Horn- haut ist ohneweiters zugegeben. Klinische Beobachtungen, die eine Stütze für diese Auffassung bieten, liegen vor. Auch experimentell ist wiederholt durch Injizieren bacillenhaltigen Materiales zwischen die Lamellen der Kaninchenhornhaut eine primäre Tuberkulose erzeugt worden, deren Verlauf der Tuberkulose der mensch- lichen Hornhaut sehr ähnlich ist. Fraglich ist dagegen, ob durch die unverletzte Horn- hautoberfläche Tuberkelbacillen eindringen können. Eine sichere Entscheidung dieser Frage ist bisher nicht möglich. Gelegentlich kann sich die primäre Hornhauttuber- kulose an eine Verletzung anschließen (Heine).

Das klinische Bild ist durch tiefliegende knötchenförmige Herde aus- gezeichnet, die meist in der Peripherie beginnen und zum Centrum fortschreiten.

504 A. Meesmann.

Nach Abheilung bleiben dichte, sehnige Narben zurück, oft in Zungenform. In anderen Fällen tritt ein geschwüriger Zerfall ein. Auch können primär Geschwüre auftreten. Der Verlauf ist meist ein chronischer. Durch Mitbeteiligung des Bulbus- inneren kann es zum Verlust des Auges kommen.

Die Seltenheit der primären Hornhauttuberkulose im Vergleich zur Bindehaut- tuberkulose läßt sich durch die glattere Oberfläche der Hornhaut erklären, auf der Fremdkörperchen schwer haften und durch Lidschlag und Tränenstrom leicht beseitigt werden können, so daß eine Infektion wesentlich schwerer zu stande kommen kann als auf der ebenen. buchtigen Bindehaut.

Oft erörtert ist die Frage, ob es eine tuberkulöse parenchymatöse Keratitis gibt. Daß die weitaus meisten Fälle der tiefen Hornhautentzündung auf angeborener oder auch erworbener Syphilis beruhen, ist allgemein anerkannt. Während von vielen Seiten die tuberkulöse Ätiologie völlig abgelehnt wird, kommen andere Autoren zu Prozentzahlen, die zwischen 50 und 90 liegen.

Das klinische Bild ermöglicht keine ätiologische Diagnose. Die von marichen Seiten angegebenen Unterscheidungsmerkmale dürften kaum stichhaltig sein, Vor allem kommt es in der Hornhaut nicht zu knötchenförmigen Herden. Wenn auch gleichzeitig in der Iris oder im Kammerwinkel auftretende Knötchen mehr an Tuber- kulose als an Lues denken lassen, so sind doch klinisch gleichaussehende Herde bei sicherer Lues keineswegs selten zu beobachten. Auch die gelegentlich in Ring- form verlaufende Abart der Keratitis parenchymatose ist nicht beweisend für Tuber- kulose. Diese als Keratitis annularis bezeichnete Form ist meist nur ein vorüber- gehendes Stadium, an welches sich eine diffuse, tiefliegende Trübung der gesamten Hornhaut anschließt.

Ausschlaggebend ist der Ausfall der Wassermannschen Reaktion und die Herdreaktion auf Tuberkulin. Immer dürfte aber die Diagnose der tuberkulösen Ätiologie nur mit einiger Wahrscheinlichkeit zu stellen sein. Nicht zu verwerten ist der ausbleibende Heilerfolg einer antiluetischen Kur. Auch bei sicher luetischer Ätiologie lassen Quecksilber und Salvarsan mehr oder weniger vollständig im Stich, sind aber hierbei mit Rücksicht auf das Allgemeinleiden und den häufig günstigeren Verlauf am 2. Auge unbedingt anzuwenden. Igersheimer fand unter 93 primären Keratitiden 21 mal Tuberkulose anderer Organe, gleichzeitig aber in allen Fällen einen positiven Wassermann. Er vertritt daher die Ansicht, daß die tuberkulöse Ätiologie sehr selten ist und neigt eher dazu, eine gelegentliche Mischinfektion anzunehmen. Andere Autoren glauben dagegen berechtigt zu sein, bei negativem Wassermann und gleichzeitigem Nachweis tuberkulöser Erkrankungen anderer Organe die Diagnose der tuberkulösen parenchymatösen Keratitis zu stellen. In ein- zelnen Fällen ist auch der Bacillennachweis gelungen.

Der Verlauf unterscheidet sich nicht von der echt luetischen Form. Je nach der Schwere des Falles kann sich die Erkrankung über Wochen oder Monate erstrecken. Wiederaufhellung mit voller Sehschärfe kommt vor. Es können aber auch Trübungen zurückbleiben, die eine mehr oder weniger erhebliche Verminderung des Sehens bedeuten.

In der örtlichen Behandlung steht die Erweiterung der Pupille mit Atropin im Vordergrund. Der Erfolg einer Tuberkulinbehandlung ist wechselnd und läßt keine weiteren Schlüsse auf die Ätiologie zu.

Erkrankungen der Hornhaut, die sekundär von tuberkulösen Herden des vorderen Bulbusabschnittes ausgehen, sind relativ häufig. So ist sekundäre paren- chymatöse Keratitis bei tuberkulöser Iridocyclitis öfter zu beobachten. Sie ist

T —— —— à —— = ES = iid

Tuberkulose und Auge. 505

keine echte Tuberkulose, sondern durch die aus der vorderen Kammer in die Horn- haut eindringenden Toxine entstanden. Erwähnt wurde schon die Mitbeteiligung der Hornhaut bei der Lid- und Bindehauttuberkulose. Es kann dabei ein Pannus entstehen, Geschwüre oder auch echte knötchenförmige Herde sich entwickeln, in denen gelegentlich Tuberkelbacillen nachgewiesen wurden. Auch bei Durchbrüchen von Ciliarkörpertuberkeln kommt es meist zu einer Mitbeteiligung der Hornhaut. Die sklerosierende Keratitis ist selten ein primäres Leiden. Sie schließt sich vielmehr meistens an eine tuberkulöse Skleritis an. Charakteristisch sind zungen- förmige tiefliegende Trübungen, mit tiefer Gefäßentwicklung, die sich centralwärts vor- schieben (Fig. 126). Die Abheilung erfolgt unter. Zurückbleiben dichter sehniger Trübun- gen, die wegen ihrer Ähnlichkeit mit der Lederhaut der Erkrankung den Namen gegeben haben. | Die tuberkulöse Episkleritis ist gekennzeichnet durch eine relativ scharf begrenzte Rötung von leicht violetter Farbe, über der die Bindehaut verschieblich ist. Im Zweifelsfalle, ob die Rötung der Bindehaut oder Episclera angehört, kann man

Fig 126.

Sklerosierende Keratitis (nach A. Loewenstein).

einen Tropfen Suprareninlösung einträufeln. Bindehautgefäße werden darauf sehr bald anämisch, so daß die Rötung verschwindet, während eine solche der Episclera oder Sclera bestehen bleibt. Es entwickelt sich bald eine Prominenz, die besonders auf Druck leicht schmerzhaft ist. Eine Verwechslung mit einer großen Phlyktäne ist möglich. Bei letzterer kommt es in wenigen Tagen zu einer centralen Erweichung, die bei Episkleritis unbekannt ist.

Die Erkrankung ist meist einseitig, u. zw. entwickelt sich zunächst ein Knoten, nach dessen Abheilung eine schiefergraue Stelle zurückbleibt. Sie beweist, daß die Sclera an dieser Stelle so atrophisch geworden ist, daß der dunkelpigmentierte Ciliar- körper durchschimmert. Rezidive an anderen Stellen sind häufig. Es kann so der ganze Limbus von einzelnen Herden umgeben sein. In schweren Fällen ist die Verdünnung der Sclera so stark, daß durch den intraokularen Druck bleibende Ver- buckelungen hervorgerufen werden. Auch zum Durchbruch kann es kommen.

Ob es eine primäre tuberkulöse Skleritis gibt, ist eine umstrittene Frage. Da die Lederhaut sehr arm an Gefäßen ist, spricht vieles dafür, daß die Erkrankung meist ihren Ausgang von den Gefäßen der Episclera nimmt. Ebenso ist der Ausgang von tuberkulösen Herden im Ciliarkörper möglich.

Während früher in der Ätiologie der Episkleritis und Skleritis der Rheuma- tismus eine Hauptrolle spielte, ist die Annahme dieser Ätiologie durch exakte

506 A. Meesmann.

klinische Untersuchung immer seltener geworden. Die meisten Fälle dürften auf Tuberkulose beruhen. Die Lues, welche ganz ähnliche Bilder machen kann, läßt sich meist leicht nachweisen, ebenso die seltenere, gichtische Episkeritis. Bei letzterer bestehen immer auch gichtische Veränderungen in anderen Organen. Eine Klärung bringt auch die leicht auszuführende Harnsäurebestimmung im Blut.

Die Mitbeteiligung der Hornhaut in Form der sklerosierenden Keratitis wurde schon erwähnt. In schweren Fällen kann die gesamte Hornhaut dicht getrübt werden. In anderen bleiben die centralen Hornhautteile verschont, so daß eine scheinbare Mikrokornea vorliegt. Leichte Fälle können ohne Beschädigung des Sehvermögens abheilen, das selbst dann kaum verändert sein kann, wenn der ganze Limbus von abgeheilten Interkalarstaphylomen umgeben ist.

Die Tuberkulose der Iris und des Ciliarkörpers stellt das wichtigste und größte Kapitel der Tuberkulose des Auges dar. Eine neuere Zusammenstellung der Ätiologien der Iridocyclitis, die Gilbert aus der Münchner Augenklinik veröffentlichte und die ein aus ländlicher und großstädischer Bevölkerung gemischtes Material betrifft, verzeichnet bei über 500 Fällen 45°6% Tuberkulosen. Als nächst häufigste Ursache folgt die Lues mit nur 166%. Je nach der Zusammensetzung des Patientenmaterials werden diese Zahlen eine gewisse Verschiebung erfahren. Aber selbst an der Berliner Universitätsaugenklinik in der Charite, deren Patienten nur zum geringeren Teil aus ländlichen Bezirken stammen, steht die Tuberkulose bei der Ätiologie der Iridocyclitis gegenüber der Lues bedeutend im Vordergrund. Die große Zahl sonstiger Ätiologien tritt demgegenüber sehr in den Hintergrund. So ist z. B. in der Statistik Gilberts der Rheumatismus, der früher eine große Rolle spielte, nur mit 3% notiert. Dieselbe Prozentzahl erreicht auch die Gonorrhöe.

Die tuberkulöse Iridocyclitis ist eine Erkrankung jeden Lebensalters. Eine Bevorzugung des männlichen oder weiblichen Geschlechtes besteht nicht. Daß be- stimmte Lebensalter häufiger betroffen sind, ist zweifellos. Groenouw kommt auf Grund einer Zusammenstellung der in der Literatur veröffentlichten Zahlen zu dem Ergebnis, daß die Tuberkulose der Iris am häufigsten im Alter von 0— 6—10 Jahren auftritt und daß die absoluten Zahlen mit zunehmendem Alter abnehmen. Die Hälfte aller Fälle soll sich aus Patienten unter 10 Jahren zusammensetzen. Wenn auch durch örtliche Unterschiede Verschiebungen solcher Zahlen bedingt werden, so ist doch, wie auch Heine betont, der Widerspruch zu den allgemeinen Be- obachtungen ein ganz erheblicher. In der erwähnten Berliner Augenklinik ist z. B. aus den letzten 10 Jahren kein einziger Fall einer tuberkulösen Iridocyclitis bei einem Kinde unter 6 Jahren bekannt geworden und bis zum 10. Lebensjahre nur vereinzelte, aber besonders schwere Fälle. Dagegen steigt die Zahl von da ab er- heblich. Die meisten Patienten sind in einem Alter von 20—35 Jahren und ein erneuter Anstieg der Zahl betrifft Patienten jenseits des 45.—50. Lebensalters.

Die verschiedenen Formen der tuberkulösen Iridocyclitis können in allen Lebensaltern vorkommen. Vorzugsweise treten jedoch im kindlichen Alter die größeren Granulome, in den mittleren Jahren die disseminierten Formen und im Alter die meist mit geringer Reizung verlaufenden atrophierenden Formen auf.

Der Infektionsweg ist wohl ausnahmslos der endogene. Daß Tuberkelbacillen von außen her in das Auge eindringen, ohne eine Erkrankung der Bulbushüllen zu verursachen, dürfte kaum zu beweisen sein. Daß sich an Scleral- und Hornhaut- tuberkulose eine Erkrankung des inneren Auges anschließen kann, ist bereits er- wähnt. In der Literatur ist über mehrere Fälle berichtet, bei denen sich die Tuber- kulose an ein Trauma anschloß. Meist handelte es sich um leichte Kontusions-

Tuberkulose und Auge. 507

verletzungen ohne Perforation. Es ist anzunehmen, daß durch solche Verletzungen eine intraokulare Schädigung auftritt, die eine Ansiedlung von Tuberkelbacillen, die im Blute kreisen, erleichtert. Daß mit einer perforierenden Verletzung Tuberkelbacillen ins Auge gelangen können, ist ohne weiteres verständlich. Jedoch scheint dieser Infektionsmodus ein außerordentlich seltener zu sein. In den allermeisten Fällen handelt es sich um eine endogene Infektion mit der humanen Form des Tuberkel- bacillus. Sicher bovine Form ist einmal von Krückmann nachgewiesen worden, die auch klinisch in besonderer Weise verlief. Es bestand in der Iris ein derbes Infiltrat, das allmählich herausbröckelte und in die vordere Kammer geriet, wo es nach einiger Zeit resorbiert wurde. Im Tierexperiment konnte Igersheimer nach- weisen, daß auch Kaltblüter-Tuberkelbacillen und andere säurefeste Bacillen nach mehrfachen Tierpassagen eine specifische Form der Iritis und Keratitis erzeugen können. 3

Bei der Herkunft der Bacillen spielt die Drūsentuberkulose besonders der Bronchialdrüsen die Hauptrolle. Sehr viel seltener handelt es sich um einen Aus- gang von Lungen-, Knochen- oder Gelenktuberkulose. Die Allgemeinuntersuchung bei tuberkulöser Erkrankung des inneren Auges ergibt ungefähr in je einem Drittel der Fälle keinerlei Anhalt für Tuberkulose, Verdacht auf Tuberkulose und sichere Tuberkulose. In einzelnen Fällen treten später Tuberkulosen anderer Organe auf. Es bleibt aber ein großer Prozentsatz übrig, der dauernd von sonstiger tuberkulöser Manifestation verschont bleibt.

Die Prognose quoad vitam richtet sich naturgemäß nach dem Allgemein- befund. Es ist zu betonen, daß eine Propagierung der tuberkulösen Infektion von einem erkrankten Auge aus in keinem Falle mit Sicherheit nachgewiesen ist. Es ist daher die Forderung, die in früheren Zeiten oft gestellt wurde, ein tuberkulöses Auge wegen der Gefahr für das Leben möglichst bald zu entfernen, durchaus abzulehnen. Es gehören heute in Augenkliniken die Enucleationen eines Auges wegen Tuber- kulose zu den Seltenheiten. Sie kommt nur in Frage bei den schweren, namentlich bei jugendlichen Patienten häufigeren Formen mit Perforation sowie bei Ausgang in schmerzhafte Phthise des Bulbus. Im allgemeinen ist die Tuberkulose der Iris und des Ciliarkörpers für den Allgemeinzustand als eine durchaus gutartige Erkrankung aufzufassen. Wesentlich anders ist die Beurteilung für das Auge bzw. für das Sehen, auf das später eingegangen ist.

Das klinische Bild der Iris und Ciliarkörpertuberkulose ist ein sehr mannigfaltiges und wechselvolles. Der Versuch einer bestimmten Gruppierung der einzelnen Krankheitsformen, wie er oft versucht ist, wird dadurch erschwert, daß zahlreiche Übergänge vorkommen. Besonders charakteristisch ist das Auftreten von Knötchen, die als echte Tuberkel aufzufassen sind. Ihr Aufschießen wird im allge- meinen nur von geringen Exsudationen in die vordere Kammer begleitet. Nur selten sind diese so stark, daß die zu grunde liegenden Irisveränderungen vorübergehend ver- deckt werden.

Die Knötchen haben ein grau-gelbes, trockenes Aussehen. Ihre Größe schwankt zwischen feinsten mit bloßen Auge nicht oder kaum sichtbaren Pünktchen, bis zu etwa Senfkorngröße. Sie entwickeln sich innerhalb weniger Tage aus circumscripten Gefäßwandverdickungen. Der ausgebildete Tuberkel ist gegen das umgebende Iris- gewebe ziemlich scharf abgegrenzt. Die Beziehung zur Gefäßwand ist meist nicht mehr zu erkennen. Sie ragen teils über die Oberfläche der Iris hervor, teils liegen sie im Stroma selbst und buckeln die Oberfläche vor. In der nächsten Umgebung sind die Gefäße hyperämisch, teilweise als Folge einer mechanischen Verdrängung.

508 A. Meesmann.

Die Verteilung der Tuberkel ist entsprechend ihrer hämatogenen Entstehung in der ganzen Iris möglich. Gerade die wahllose Anordnung unterscheidet sie in gewisser Weise von syphilitischen Papeln, die mit Vorliebe in dem nur von Capillaren versorgten Sphinctergebiet sitzen. Das Pupillargebiet bleibt jedoch keineswegs von der Tuberkulose verschont. Sehr oft findet man kleinste Tuberkel gerade am Pupillarsaum. Man kann gelegentlich beobachten, daß die Tuberkel im Sphincter- gebiet kleiner sind als in der übrigen von größeren Gefäßstämmen versorgten Regen- bogenhaut.

Die Reizerscheinungen eines so erkrankten Auges sind durchweg relativ gering. Eine stärkere Hyperämie der Gesamtiris fehlt, ebenso ist die pericorneale Injektion nur mäßig ausgeprägt. Die Beschwerden des Patienten bestehen vor allem in Abnahme des Sehvermögens. Schmerzen sind häufig nicht vorhanden und erreichen kaum höhere Grade.

Verwachsungen zwischen Iris und vorderer Linsenkapsel treten meist frühzeitig auf. In charakteristischen Fällen sind sie entsprechend der Kleinheit des Tuberkels punktförmig. Verwachsen ist außer dem hinteren Pigmentblatt fast stets auch das Irisstroma. Diese Synechien sind sehr fest und lösen sich kaum auf künstliche Erweiterung der Pupille. Sind sie, wie in den allermeisten Fällen, multipel entwickelt, so entsteht nach Atropingaben das ziemlich typisches Bild der spitzen, schmalen, oft lang ausgezogenen Synechien. Die Pupille erhält hierdurch ein eigenartiges, vielfach ausgebuchtetes Aussehen. Bei luetischen Papeln im Sphinctergebiet sind die Synechien . entsprechend der größeren Ausdehnung der Herde wesentlich breiter. Die erweiterte Pupille zeigt dabei oft Nieren- oder Herzform. Bei charakteristischer Ausprägung sind diese Unterschiede differentialdiagnostisch verwertbar und auch nach Abheilung noch erkenntlich.

Die disseminierte miliare Iristuberkulose entsteht meist allmählich. Die einzelnen Knötchen nehmen an Größe zu. Mehrere benachbarte Knötchen können verschmelzen zu größeren Konglomerattuberkeln. Durch Zerfall einzelner Knötchen kann eine erneute Aussaat auftreten. Nach dem Verschwinden bleiben oft charakteristische, kreisrunde atrophische Stellen zurück.

Konglomerattuberkel entstehen also aus der Verschmelzung mehrerer kleiner Knötchen. In anderen Fällen wächst ein einzelner Knoten immer weiter, so daß er allmählich ein Viertel, ja die Hälfte der ganzen Iris einnimmt. Er wächst dabei immer mehr kammerwärts vor, so daß in schweren Fällen die ganze Kammer von tuberkulösem Oranulationsgewebe erfüllt ist. Solche tumorartige Gebilde bilden sich mit Vorliebe am circulus arteriosus minor und im Kammerwinkel aus. Kommen sie in Berührung mit der Hornhauthinterfläche, so können sie mit dieser verwachsen. Das davorliegende Hornhautgewebe trübt sich meist. Nach Rückbildung des ganzen Prozesses bleibt die Verwachsung bestehen, die Iris wird dadurch zeltartig nach vorne gezogen. Vordere Synechien können also auch ohne Perforation und Auf- hebung der vorderen Kammer zu stande kommen. Besonders leicht entstehen solche Verwachsungen im Kammerwinkel, der in ganzer Ausdehnung an der Hornhaut- hinterfläche adhärent sein kann. Man spricht dann von einer peripheren, vorderen Synechie.

In schweren Fällen bildet sich eine Durchsetzung des gesamten Iris- gewebes mit tuberkulösem Granulationsgewebe aus. Die Iris erscheint verdickt, nach vorne prominent, so daß ein der Napfkucheniris ähnliches Bild zu stande kommt. Die Verwachsungen mit der Linse sind dabei ausgedehnt, bis zur vollständigen Seclusio pupillae. Das Pupillargebiet der Linse kann mit Exsudations-

Tuberkulose und Auge. 509

massen bedeckt und dadurch verlegt sein. Sekundär trübt sich die Linse, oft auch an einzelnen Stellen, an denen Synechien ansetzen.

Beschläge an der Hinterfläche der Hornhaut treten bei allen knötchen- förmigen Iristuberkulosen auf. Sie sind meist scheibenförmig und sitzen in charakteri- stischen Fällen in den unteren mittleren Partien der Hornhaut, in nach oben mehr oder weniger spitz auslaufender Dreiecksform. Sie bestehen in der Hauptsache aus Lymphocyten. Ältere Beschläge enthalten meist Pigmentbeimengungen. Bei stärkerer Exsudation kann die ganze Hornhauthinterfläche mit Beschlägen bedeckt sein, die dann nicht mehr Scheibenform haben, sondern als größere unregelmäßige auch landkartenartige Flecke von gelblichgräuem Aussehen erscheinen. Sie setzen sich neben Lymphocyten aus Serumeiweiß und Fibrin zusammen.

Charakteristisch für die Tuberkulose der Iris ist die Bildung von Knötchen. Es ist aber besonders wichtig, daß es viele Fälle gibt, bei denen zu Anfang- wie auch während des ganzen Verlaufes die Knötchen vermißt werden. Hierher gehört einmal die akute Iritis. Ihre Diagnose ist leicht. Bei starken Schmerzen und ausgeprägter ciliarer Injektion ist die Pupille verengert, die Iris verfärbt und verwaschen. Das Kammerwasser ist mehr oder weniger stark durch Exsudation getrübt, die vordere Kammer oft etwas vertieft. Zwar liegt bei dieser Form meist eine andere Ätiologie vor. Besonders wichtig ist aber, daß auch eine echte tuberkulöse Iritis diesen Anfang nehmen kann. Die Differentialdiagnose ist naturgemäß aus dem klinischen Bilde nicht immer leicht zu stellen. Bei Benutzung des binokularen Mikroskopes und der Gullstrandschen Spaltlampe, die für alle Untersuchungen des vorderen Bulbusabschnittes längst ein unentbehrliches Hilfsmittel geworden ist, lassen sich aber auch hier einige Unterschiede erkennen, die wenigstens bis zu einem gewissen Grade einen Fingerzeig geben können. Die septischen Iritiden, z. B. die gonorrhoische oder auch die rheumatische, sind diffuse Erkrankungen der Regen- bogenhaut, bei denen ausgedehnte serofibrinöse Exsudationen in die vordere Kammer auftreten. Dieses Überwiegen des Fibrins, dem gegenüber besonders im Beginn der Zellgehalt weit zurücktritt, ist an der Spaltlampe leicht zu erkennen. Wesentlich schwieriger ist die Unterscheidung von der akuten luetischen Form. Hierbei sind massenhaft Zellen im Kammerwasser zu finden, ebenso wie bei der akuten Tuber- kulose. Die Beschläge haben zu dieser Zeit noch wenig oder gar nichts Charakteristisches. Die Trübung des Kammerwassers ist wegen des geringeren Fibringehaltes viel geringer als bei den septischen Formen. Für Lues ist aber nach meinen Beobachtungen sehr häufig eine ausgedehnte Pigmentausstreuung charakteristisch, die schon in den ersten Tagen der Erkrankung, u. zw. am deutlichsten auf der vorderen Linsenkapsel, zu erkennen ist. Diese Pigmentierung fehlt bei der akuten Tuberkulose ganz oder ist nur sehr gering ausgeprägt. Selbstverständlich ist zur weiteren Unterscheidung gerade dieser Formen Anamnese, Allgemeinbefund, Wassermannsche Reaktion etc. von größter Bedeutung. l

Nach Abklingen der akuten Erscheinungen findet man meist knötchenförmige Herde, die oft eine sichere Diagnose erlauben, oft aber auch keine Abgrenzung gegenüber der Lues ermöglichen.

Knötchenförmige Herde können aber auch im ganzen Verlauf einer Erkrankung vermißt werden, wenn der tuberkulöse Herd im Ciliarkörper sitzt. Die Iris kann hierbei völlig normales Aussehen haben oder durch toxische Reizung hyperämisch und verfärbt sein. Bei leichten Formen dieser Erkrankung können die Erscheinungen so gering sein, daß erst nach mehreren Attacken die Patienten zum Arzt kommen, oft mit voll ausgeprägten, festen, hinteren Synechien. Die Iris kann dabei vollkommen

510 A. Meesmann.

atrophisch sein oder die Atrophie entwickelt sich im weiteren Verlauf. Es sind das die Formen, für deren tuberkulöse Ätiologie besonders v. Michel eingetreten ist. Die Iris kann auch dauernd normales Aussehen behalten. Das einzigste Symptom bei reizlosem Verlauf sind dann neben Sehstörungen scheibenförmige Beschläge der geschilderten Art in der unteren Hornhauthälfte. An der Spaltlampe sieht man neben einer oft ganz geringen Kammerwassertrübung Zellen im Kammerwasser schwimmen. Bei der geringen Eiweißvermehrung behält das Kammerwasser seine normale Wärmeströmung bei, die durch die Abkühlung an der Hornhauthinterfläche entsteht, so daß die einzelnen Zellen oder Zellkonglomerate, die als leuchtende Pünktchen zu sehen sind, vor der Iris nach oben steigen, während sie in den vorderen Kammerabschnitten nach unten sinken. Es erklärt sich hierdurch ohneweiters die Anordnung der Beschläge in den unteren Hornhautteilen, da dort die Zellen auf ‚ihrem Weg nach unten aufstoßen und haften bleiben. Diese Erkrankungsform wurde früher als „Iritis serosa“ bezeichnet, ein Ausdruck, der, obwohl völlig unpassend, in Ermangelung eines besseren vielfach noch beibehalten worden ist.

Eine isolierte Erkrankung der Iris oder auch des Ciliarkörpers scheint recht selten zu sein. Wie besonders die anatomische Untersuchung enucleierter Augen beweist, sind fast immer beide gleichzeitig erkrankt, wenn auch in verschiedenem Grade, so daß es sich fast stets um eine Iridocyclitis handelt.

Trübungen des Glaskörpers sind außerordentlich häufig, am stärksten natürlich bei ausgesprochener Ciliarkörperbeteiligung. Die Sehverschlechterung erklärt sich zum Teil durch diese Trübungen. Sie kann bei leichten Fällen relativ gering sein. Nicht selten besteht aber ein Mißverhältnis zwischen der Sehstörung und dem Grad der Glaskörpertrübungen. Ist eine Untersuchung des Augenhintergrundes noch möglich, so findet man diesen meist normal, gelegentlich aber auch bei Freisein der Aderhaut sekundäre entzündliche Veränderungen des Sehnerven. Gesichts- feldeinschränkungen sind in einzelnen Fällen nachgewiesen, des öfteren in Form eines centralen Skotomes, so daß man zur Annahme einer toxischen Beeinflussung des papillomakulären Bündels berechtigt ist.

Andere Komplikationen können die Hornhaut betreffen. Ihre Mitbeteili- gung ist relativ häufig. Zunächst können durch Toxine und Iymphocytäre Beschläge die Endothelien ihrer Rückfläche verändert werden. Hierdurch können die Toxine des Kammerwassers leicht in die tieferen Hornhautschichten eindringen. Die Folge ist eine meist diffuse Trübung der tieferen Hornhaut, eine sekundäre paren- chymatöse Keratis. Die ganze Hornhaut kann unter diesem Bilde erkranken, manchmal mit reichlicher Neubildung von tiefen Gefäßen. Auch circumscripte Infiltrate sind nicht selten, zu denen tiefe Gefäße hinziehen. Sie können über größeren Tuberkeln sitzen, die bis an die Hornhauthinterfläche reichen. Solche Hornhauttrübungen können das gesamte Krankheitsbild beherrschen, so daß erst sehr viel später die zu grunde liegende Iridocyclitis erkannt werden kann. Schwere degenerative Veränderungen können sich, wenn auch selten, anschließen, so das Bild der bandförmigen Degeneration. Die leichten und mittelschweren Fälle behalten im allgemeinen während der ganzen Dauer der Erkrankung, abgesehen von den Beschlägen an der Hinterfläche, normal durchsichtige Hornhaut.

Die Sclera ist selten mitbeteiligt. Doch kommt es manchmal bei schweren Ciliarkörpertuberkulosen, namentlich im Kindesalter, zu einer Infiltration und Erweichung der Sclera, diesich allmählich vorbuckelt und geschwürig zerfällt. Die darauf eintretende Perforation bedeutet ausnahmslos den Verlust des Auges. Daß sich an tuberkulöse Skleritis eine tuberkulöse Iridocyclitis anschließen kann, wurde bereits erwähnt.

Tuberkulose und Auge. 511

Differentialdiagnostisch ist wichtig, daß nicht jede Iritis mit Knötchen eine Tuberkulose zu sein braucht. Klinisch und anatomisch nicht von der Tuber- kulose zu trennen ist das Bild der sympathischen Ophthalmie. Letztere verläuft als „Iritis serosa“ mit Knötchenbildung in der Iris. Immerhin kommt diese Differential- diagnose nur selten in Frage, kann aber in den betreffenden Fällen nahezu un- möglich werden. |

Am häufigsten kommt die Unterscheidung gegenüber der in vielen Punkten sehr ähnlich verlaufenden luetischen Iritis in Betracht. Der Ausfall der Wasser- mannschen Reaktion ist oft entscheidend. Ist dieser negativ, die Tuberkulinprobe positiv, so ist eine Tuberkulose sehr wahrscheinlich. Das klinische Bild erlaubt gewisse Unterscheidungsmöglichkeiten, die zum Teil schon erwähnt sind. Der Sitz der Papeln ist mit Vorliebe das Sphinctergebiet, während die Tuberkel mehr wahl- lose Anordnung haben, entsprechend ihrem Entstehen an den Wänden der kleinen Arterien. Die Papel ist gefäßreich, der Tuberkel gefäßlos oder doch gefäßarm. Im allgemeinen sind auch die Papeln wesentlich größer. Die dadurch bedingten Unter- schiede in der Form der Synechien und Pupillenverziehung wurde bereits beschrieben. Ebenso die Unterschiede bei akuten diffusen Erkrankungen. Alle diese Merkmale können aber vollkommen im Stich lassen. Knötchen nur im Sphinctergebiet können sehr wohl tuberkulöser Art sein, auch kann das Aussehen der Papeln ein un- charakteristisches sein, so daß eine Unterscheidung von Tuberkeln nach Größe, Farbe und Form nicht ohneweiters möglich ist. Die seltenen knötchenförmigen Iritiden bei der Lepra, der Ophthalmia nodosa, bei Sarkomatose der Iris und Gli- omen seien nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Der Allgemeinbefund und der Ausfall der Tuberkulinprobe, namentlich die Herdreaktion, bringt in vielen zweifel- haften Fällen eine weitere Stütze für die ätiologische Diagnose. Nachweis von Tuberkel- bacillen ist in manchen Fällen möglich und bringt natürlich die sicherste Ent- scheidung.

Der Verlauf der tuberkulösen Iridocyclitis ist ein sehr verschiedener. Ebenso wie bei der Tuberkulose anderer Organe gibt es leichte, durchaus gutartige Formen, die ohne besondere Behandlung und ohne dauernde Sehstörungen ausheilen. Es sind dies vor allem die als „Iritis serosa” bezeichneten Fälle. Es kann aber auch zur Seclusio und Occlusio pupillae und dadurch zum Sekundärglaukom kommen, wodurch das Sehen dauernd schwer gefährdet ist. Seltener ist der Ausgang in Phthisis bulbi, Ablatio retinae und Perforation der Sclera. Namentlich die kindliche tuberkulöse Iridocyclitis neigt zur Verkäsung der ganzen Membran, die bis zur Perforation führen kann. Bei günstig verlaufenden Fällen bilden sich die einzelnen Tuberkel zurück und hinterlassen die erwähnten kreisrunden Löcher, die besonders charakteristisch für die überstandene Tuberkulose sind. Nach anfänglicher Heilung sind Rezidive nicht selten. Sie können schließlich immer stärkere Zerstörungen, hervorrufen und schließlich zur Phthisis bulbi führen.

Entsprechend den geschilderten Verlaufsmöglichkeiten ist die Prognose für das Sehen nicht in jedem Falle ungünstig, wenn auch stets ernst zu nennen. Sie hängt neben der Form der Augenerkrankung von dem Allgemeinbefinden des Patienten ab. Ungünstig ist die Tuberkulose bei gleichzeitiger schwerer Tuberkulose anderer Organe. Stets ist die Prognose durch die Möglichkeit wiederholter Rezidive getrübt. Ausheilung mit normaler oder doch ausreichender Sehschärfe kommt in einem kleinen Prozentsatz vor. Groenouw fand eine Ausheilung in 22%, wobei er von Heilung spricht, wenn ein Auge oder bei doppelseitiger Erkrankung das bessere Auge ein, wenn auch geringes Sehvermögen behielt. Wie auch Heine

512 A. Meesmann.

betont, dürfte dieser Prozentsatz den allgemeinen Erfahrungen nach zu niedrig sein. Nach einer Zusammenstellung Schiecks ist die Heilungstendenz am geringsten etwa bis zum 10. Lebensjahr, am besten zwischen dem 12. und 15. und wird vom 16. ab wieder etwas geringer. Allerdings ist der Prozentsatz der Heilungen in den späteren Lebensjahren wesentlich besser als im Kindesalter.

Die Dauer der Erkrankung ist wechselnd. Leichte Fälle heilen in wenigen Monaten aus, schwere und oft rezidivierende Formen können sich über Jahre und Jahrzehnte erstrecken. Ausheilung ist auch noch nach zehn und mehr Jahren beob- achtet worden.

Die örtliche Behandlung der tuberkulösen Iridocyclitis unterscheidet sich nicht von der sonst bei Iridocyclitis notwendigen. Durch Atropineinträufelungen ist die Pupille weit zu halten, um möglichst die Entstehung von hinteren Synechien zu vermeiden. Das gelingt freilich nicht in allen Fällen. Unterstützend wirkt das Cocain durch Reizung des Dilatators. Besonders kräftige Erweiterung ist durch subconjunctivale Injektion von 1%igen Suprarenin in Mengen von 02-10 cm? zu erzielen. Die Injektion ist meist recht schmerzhaft, so daß man mit Vorteil vorher Morphium injiziert. Daneben ist lokale Wärmeapplikation in Form warmer Umschläge oder auch mittels der Brüningschen Kopflichtbäder zu empfehlen.

Bei manchen leichten Fällen genügen diese einfachen lokalen Maßnahmen. Bei schwereren kann man auch die neuerdings von Grunert warm empfohlenen Paranzentesekuren versuchen. Diese oft zu wiederholenden Punktionen der vorderen Kammer sind im allgemeinen absolut ungefährlich, selbstverständlich von fachärzt- licher Hand und unter den notwendigen aseptischen Bedingungen auszuführen. Ihre heilende Wirkung dürfte auf einer stärkeren Durchblutung der Iris und des Ciliar- körpers beruhen. Kontraindiziert sind sie in den seltenen Fällen, bei denen Blutungen bestehen. Nach der Punktion treten gelegentlich Blutungen in die vordere Kammer auf. Resorbieren sie sich bald, so ist die Prognose günstig. Sie können aber auch lange bestehen bleiben, sogar spontan erneut auftreten. In jedem Falle ist beim Auf- treten solcher Kammerblutungen von weiteren Punktionen abzusehen, ebenso bei stärkerer Hypotension, wegen der Gefahr beschleunigter Phthise des Auges.

Intraokulare Drucksteigerungen können besondere Maßnahmen notwendig machen. Im allgemeinen ist bei noch bestehender entzündlicher Reizung möglichst von operativen Eingriffen abzusehen. Ein Stärkerwerden der Entzündung ist darnach nicht selten. Operativ gesetzte Kolobome verkleben meist bald wieder durch ent- zündliches Exsudat, so daß eine dauernde Herabsetzung des Druckes nicht erreicht wird. Als Ersatzmaßnahmen kommen neben den Miotica wiederholte Kammer- punktionen in Frage, und das vor Jahren von Wessely angeratene, aber erst neuer- dings von Hamburger in die Praxis aufgenomene und sehr empfohlene Suprarenin in der erwähnten subconjunctivalen Anwendungsweise. Der Vorzug ist neben der Herabsetzung des Druckes eine kräftige Erweiterung der Pupille, durch die gelegent- lich sonst nicht mehr zu lösende hintere Synechien noch gesprengt werden können. Versager hinsichtlich der Druckherabsetzung kommen aber nicht selten vor. Nach . eigenen Erfahrungen ist durch diese Mittel einschließlich des Suprarenins eine dauernde Herabsetzung des Augeninnendruckes nur in den wenigsten Fällen zu erzielen. Ihr Wert beruht in der Möglichkeit, die Operation auf einen gelegeneren Zeitpunkt zu verschieben.

Die Hauptoperation gegen das Sekundärglaukom' ist die Iridektomie. Sie kann bei ausgiebigen hinteren Synechien schwierig sein, namentlich wenn die gesamte Hinterfläche der Iris mit der Linse verwachsen ist, die hintere Kammer

=—— l mg Sieg

Tafel XVI. Ergebnisse der gesamten Medizin, VI. A. Meesmann: Tuberkulose und Auge.

Figi: Pie: 2,

I + ` 4 af

% P A Ri = d SIE EIER Br

Konglomerattuberkel der Iris (vgl. S. 508).

Miliare Tuberkel am Pupillarsaum und Synechienbildung (vgl. S. 508).

Fig. 4.

Er Atrophie der Iris: Rechte Hälfte Keratitis parenchymatosa tuberculosa stark atrophisch (vgl. S. 504). (vgl. S. 508).

Verlag von Urban & Schwarzenberg in Berlin u. Wien.

Tuberkulose und Auge. 513

also vollkommen verlötet ist. Trepanation nach Elliot und Sklerotomie sind Ersatzoperationen, die unter Umständen von Wert sind. Gut vertragen werden alle diese operativen Eingriffe nur dann, wenn die Erkrankung völlig abgeheilt ist. Nicht immer wird man bis zu diesem Zeitpunkt warten können, man muß aber damit rechnen, daß sich an die Operation eine erneute Attacke anschließen kann.

Auch Kataraktextraktion kann nach Ausheilung der tuberkulösen Irido- ceyclitis in Betracht kommen. Ihre Prognose ist nicht immer günstig. Durch die meist bestehenden hinteren Synechien und die Verflüssigung des Glaskörpers ‚können bei der Operation Zwischenfälle auftreten, die den Erfolg in Frage stellen. Durch erneute entzündliche Exsudationen kann es zu schwartigem Nachstar kommen.

Die Enucleation war früher die häufigste Operation bei tuberkulöser Irido- cyclitis. Sie ist es heute nicht mehr in dem Maße, vielleicht als Erfolg der Tuberkulinbehandlung, vielleicht aber auch infolge anderer eingeschränkterer Indikationsstellung. Unbedingt zu enucleieren ist nach erfolgter Perforation und bei Phthisis bulbi mit erloschener Sehschärfe, bei der Schmerzen und weitere Reiz- zustände bestehen. Ist noch ein Bruchteil von Sehschärfe vorhanden, so sollte man, besonders bei doppelseitiger Erkrankung, die Enucleation möglichst hinausschieben, da selbst schwer erkrankte Augen ausheilen können.

Die Tuberkulose der Aderhaut kann zunächst eine Teilerscheinung der Miliar- tuberkulose sein. Bei äußerlich reizlosem Auge und klaren brechenden Medien findet man im Augenhintergrund ein oder mehrere rundliche Flecke, von weißlich- gelblicher Farbe, in der Mitte heller als am Rande, wo die Färbung allmählich einen rötlichen Ton annimmt und ohne scharfe Grenzen in den normalen Augenhintergrund übergeht. Pigmentierung fehlt meistens, die Netzhautgefäße ziehen unverändert dar- über hinweg. Größere Tuberkel buckeln die Retina etwas vor. Eine gewisse Bevor- zugung des hinteren Augenpoles ist oft zu bemerken, Herde in der Peripherie des Augenhintergrundes aber auch häufig. Die Sehstörungen scheinen meist nicht sehr bedeutend zu sein, soweit man sich bei den somnolenten Patienten ein Urteil darüber bilden kann. Sehr kleine Knötchen können von dem intakten Pigmentepithel verdeckt sein. Erst bei weiterem Wachsen wird es zerstört und die zu grunde liegende Ader- hautveränderung mit dem Augenspiegel sichtbar.

Charakteristisch ist das schnelle Aufschießen und Wachstum der Tuberkel. Rückbildungen sind bei längerer Dauer beobachtet. Wenn der Patient die Erkran- kung überlebt, so treten Pigmentverschiebungen auf, durch die der Herd eine scharfe schwarze Begrenzung erhält. Die meisten Patienten gehen jedoch schon wenige Tage nach Feststellung der Aderhauttuberkulose zu grunde.

In der Hälfte der Fälle ist die Erkrankung doppelseitig. Sekundäre Sehnerven- entzündung, auch echte miliare Tuberkel des Sehnervenkopfes kommen dabei vor.

Die Differentialdiagnose gegenüber angeborenen Anomalien oder anderen entzündlichen Netzhautveränderungen ist für den Geübten meist leicht. Eine Behandlung kommt bei der infausten Prognose der Miliartuberkulose nicht in Betracht. Diese ist vor allem eine Erkrankung des Kindesalters. Der Augenhintergrundsbefund kann für die Erklärung der Allgemeinsymptome von wichtiger differentialdiagnostischer Bedeutung werden.

Wesentlich häufiger ist die tuberkulöse Chorioiditis in späteren Lebensaltern. Gleichzeitige tuberkulöse Erkrankung anderer Organe ist dabei etwa in einem Drittel der Fälle nachweisbar. Anzeigen für eine sonstige Tuberkulose können aber völlig fehlen. Auch kann sich an die Aderhauterkrankung eine Tuberkulose der Lungen, selten anderer Organe anschließen. Eine Bevorzugung des weiblichen Geschlechtes

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 33

514 A. Meesmann.

ist unverkennbar, es überwiegt das 2.—4. Jahrzehnt. Jenseits der Vierzigerjahre sind. nur seltene Fälle beobachtet worden.

Die typische Form ist die Chorioiditis disseminata. Frische Herde sind er- kenntlich an ihrer trüben graugelben Farbe, ihre Form ist unregelmäßig rundlich, die Größe übertrifft selten den Durchmesser der Papille. Die Netzhaut ist über diesen Herden etwas prominent und Ödematös, die Grenzen daher verwaschen. Vereinzelte Herde kommen vor, u. zw. besonders gern in der Maculagegend. Man sieht frische Herde in dieser Gegend wahrscheinlich deswegen besonders häufig, weil sie besonders früh starke Sehstörungen verursachen und den Patienten zum Augenarzt führen.. Sitzen sie außerhalb der Fovea oder gar in der Peripherie, so können die subjektiven Beschwerden gering sein, sogar ganz fehlen. Schmerzhaftigkeit besteht nicht. In einigen Fällen wird über geringe Lichtscheu geklagt, die bei stärkerer Beleuchtung bis zu wirklichen Schmerzen ansteigt, z. B. auch bei der Untersuchung mit dem Augen- spiegel.

Stärkere Entzündungserscheinungen in der Umgebung frischer Herde fehlen, ebenso Glaskörpertrübungen, die um so früher auftreten, je näher die Herde dem Ciliarkörper sitzen. Die Glaskörpertrübungen sind zum Unterschied von den luetischen Formen gröber und flockiger, während sie bei Lues sehr fein und staubförmig sind. Auch die Beteiligung der Netzhaut und des Sehnerven ist bei Lues stärker ausgesprochen. Sekundäre, toxische Entzündung der Sehnerven findet man aber auch bei Tuberkulose nicht selten. |

Rückbildungserscheinungen treten in den nächsten 2—3 Wochen immer auf. Zunächst geht das Ödem der darüberliegenden Netzhaut zurück. Der Herd erhält dadurch schärfere Begrenzung, er flacht sich ab und besonders charakteristisch sind die Pigmentverschiebungen. Während der Herd durch die Resorption des zelligen und entzündlichen Materials immer durchsichtiger wird und eine atrophische Stelle in der Aderhaut zurückläßt, durch welche die weiße Sclera mehr oder weniger voll- ständig durchschimmert, tritt am Rande eine zunehmende schwarze Pigmentierung auf. Ein alter chorioiditischer Herd präsentiert sich demnach als eine kreisrunde oder mehr gestreckte, leuchtend weiße Stelle, die von schwarzen Pigmentflecken umgeben ist. Die Atrophie der Chorioidea kann eine unvollständige sein, so daß Gefäßreste meist stark sklerosiert und Pigment vor der Sclera liegen bleiben. Wird nur die Capillar- schicht der Chorioidea und das daraufsitzende Pigmentepithel zerstört, so sieht man außer Pigmentverschiebungen innerhalb des betroffenen Bezirkes die großen Gefäße der Chorioidea frei liegen.

Nur sehr selten bleibt es aber bei einer einmaligen Attacke. Während der Re- sorption der ersten Herde treten neue auf, teils durch erneute Einschleppung von Bakterien auf dem Blutweg, teils durch kontinuierliches seitliches Weiterwuchern. Auch intrachorioideale Metastasen aus erweichenden Herden sind nicht selten. Das Leiden kann sich über Monate und Jahre erstrecken. Es entsteht so das charakteristische Bild der disseminierten Chorioiditis mit massenhaften weißen und schwarzen Herden, die über den ganzen Augenhintergrund verteilt sind. Ist dabei die Macula und ihre nächste Umgebung verschont, so kann die centrale Sehschärfe gut sein. Bei frischen Anfällen bestehen die Beschwerden oft im Flimmern, Sehen von Funken und Blitzen, Symptome, die als Reizerscheinungen der Netzhaut aufzufassen sind. Durch Ver- schiebung des Pigmentepithels und der in sie eintauchenden Stäbchen und Zapfen kann ein Verzerrtsehen der Gegenstände zu stande kommen. Beim Sitz in der Macula- gegend sind die Sehstörungen sofort sehr erheblich. Besserung ist selten und dann nur möglich, wenn die Schädigung der Macula nur in einem Ödem bestand. Über

Tuberkulose und Auge. 515

den ganzen Hintergrund verstreute Herde machen lochartige Defekte im Gesichts- feld, die gelegentlich von intelligenteren Patienten als positive Skotome beobachtet werden. Im allgemeinen machen sie jedoch kaum subjektive Beschwerden. Heme- ralopie, d. h. Abnahme des Sehens bei eintretender Dunkelheit ist ein häufiges Symptom.

Das ophthalmoskopische Bild der frischen und noch mehr der alten Chorioi- ditis disseminata hat für Tuberkulose wenig charakteristisches. Die wichtigste Ab- grenzung, die gegen die luetische Aderhauterkrankung, ist aus dem Augenspiegel- bilde allein wohl kaum sicher möglich. Allerdings ist das Ödem der Netzhaut und des Papillenkopfes bei Lues meist stärker als bei Tuberkulose, auch sind die luetischen Herde meist kleiner. Diese Unterschiede sind aber nicht so prägnant, daß sie eine sichere ätiologische Diagnose erlauben. Allgemeinuntersuchung, Ausfall der Wasser- mannschen Reaktion und Tuberkulinprobe müssen: stets unterstützend hinzukommen. Andere Ätiologien kommen kaum in Frage. Immerhin kann aber auch die symphatische Ophthalmie mit chorioiditischen Herden beginnen.

An eine chronische tuberkulöse Iridocyclitis kann sich eine Chorioiditis an- schließen und umgekehrt. Doch ist der letztere Zusammenhang ziemlich selten. In der weit überwiegenden Zahl der Fälle bleibt der vordere Bulbusabschnitt dauernd verschont.

Die Prognose für das Sehen ergibt sich aus dem geschilderten Verlauf. Sie ist in jedem Falle ernst. Nur ein kleiner Prozentsatz behält normale Sehschärfe. Der Sitz der Herde ist ausschlaggebend. Rezidive sind fast die Regel.

Eine zweite Form der Aderhauttuberkulose ist die diffuse Chorioiditis. Eine Abgrenzung gegen die vorige ist nicht immer möglich. Sie entsteht durch flächen- hafte Ausbreitung der tuberkulösen Infiltration, so daß große Teile des Augenhinter- grundes in verdickte graugelbe Massen verwandelt sind, über welche die Netzhaut- gefäße unverändert hinüberreichen. Ein prinzipieller Unterschied gegenüber der disseminata besteht nicht. Beide Formen kommen gleichzeitig nebeneinander vor.

Selten ist ein größerer Konglomerattuberkel, der nach Art eines malignen Tumors in das Augeninnere vorwächst. Der weitere Verlauf ist der des Tumors der Chorioidea, gegen den er differentialdiagnostisch schwer abzugrenzen ist. Netzhaut- ablösung und sekundäre Drucksteigerung sind die Folge. Perforation der Sclera im hinteren Abschnitt und Hineinwuchern in die Orbita können vorkommen. So erkrankte Augen verfallen fast ausnahmslos der Enucleation. Ist die Diagnose sicher, so kann eine Tuberkulinkur versucht werden. |

Die lokale Behandlung der tuberkulösen Chorioiditis beschränkt sich auf subconjunctivale Kochsalzinjektionen, die besonders bei Glaskörpertrübungen indiziert sind. Die Bestrahlungsmethoden sind später im Zusammenhang behandelt. Innerlich kann Jod von Vorteil sein.

Eine echte Tuberkulose des Glaskörpers dürfte es wohl kaum geben. Es existiert nur ein von Deutschmann beschriebener Fall einer isolierten Glaskörper- tuberkulose, der allerdings von mancher Seite als nicht ganz einwandfrei abge- lehnt wird.

Die Mitbeteiligung des Glaskörpers bei Iricyclitis und Chorioiditis wurde bereits erwähnt. Sie besteht in Trübungen, die meist flockiger, kompakter Natur sind. Doch kommen zweifellos auch feine, diffuse Formen vor, die im allgemeinen mehr für Lues charakteristisch sein sollen. Nach Abheilen des zu grunde liegenden tuberkulösen Prozesses bleiben die Glaskörpertrübungen meist noch längere Zeit bestehen.

Die Tuberkulose der Netzhaut galt bis vor wenigen Jahren als ein sehr seltenes Leiden. In einigen Fällen wurden bei der anatomischen Untersuchung von Augen,

33°

516 A. Meesmann.

die wegen einer tuberkulösen Iridocyclitis entfernt waren, sekundäre Tuberkel der Netzhaut gefunden. Mit dem Augenspiegel ist eine Tuberkulose der Netzhaut nur sehr selten diagnostiziert worden.

Von einigen Autoren wird auch die Retinitis exsudativa externa (Coats) für Tuberkulose gehalten. Diese Annahme stützt sich im wesentlichen auf die Tuberkulinreaktion und den Erfolg einer Tuberkulinbehandlung. Der endgültige Beweis für die tuberkulöse Natur dieses Leidens ist aber noch keineswegs erbracht, vielmehr gewinnt die Auffassung immer mehr an Boden, nach welcher es sich zu- nächst um Gefäßveränderungen handelt, wahrscheinlich auf der Grundlage einer angeborenen Gefäßanomalie. Ophthalmoskopisch findet man große flächenhafte Exsudate in den tiefsten Netzhautschichten und auch zwischen Netzhaut und Ader- haut. Das Leiden tritt bei jugendlichen, sonst gesunden Patienten zwischen dem 14. und 20. Lebensalter auf, ist einseitig, progressiv und einer Therapie anscheinend ` nicht zugängig. Spontanausheilung kommt vor, häufiger ist aber der Ausgang in sekundäre Drucksteigerung, Netzhautablösung oder Phthise.

Während für dieses Leiden die tuberkulöse Ätiologie recht unwahrscheinlich ist, hat sich für eine andere, durchaus nicht so seltene Erkrankung, die rezidivieren- den Glaskörperblutungen Jugendlicher, die tuberkulöse Ätiologie nachweisen lassen. Diese bei vorwiegend männlichen Patienten im 2. und 3. Lebensjahrzehnt vorkommende Erkrankung ist gekennzeichnet durch Blutungen in den Glaskörper, die meist so hochgradig sind, daß das ganze Krankheitsbild von ihnen beherrscht wird. Die Blutungen entstehen plötzlich, ohne äußeren Anlaß. Das Auge ist dabei äußerlich völlig reizlos. Mit dem Augenspiegel sieht man massenhafte Blutungen in den hinteren Glaskörperschichten, die so dicht sind, daß nur in selteneren Fällen eine Untersuchung des Augenhintergrundes selbst durchzuführen ist. Ist die Netz- haut ophthalmoskopisch sichtbar, so findet man in ihr meist ebenfalls multiple Blutungen und gelegentlich Veränderungen an den Venen, die zuerst von Axen- feld und Stock beschrieben wurden und die Aufmerksamkeit auf die tuberkulöse Ätiologie lenkten. Sie bestehen in gräuweißen Einscheidungen der Venenwände, neben kleinen knotigen lokalen Verdickungen. Blutungen aus solchen Stellen konnten die genannten Autoren als erste feststellen. Die Folge der Gefäßwanderkrankung kann um- schriebene Obliteration der Gefäße sein mit Stauung und Anastomosenbildung (Fig. 127).

Als Ursache der rezidivierenden Glaskörperblutungen wurde also eine Er- krankung der Venenwände nachgewiesen, deren tuberkulöse Ätiologie von Axen- feld und Stock aus dem klinischen Bild und dem Ausfall der Tuberkulinreaktion geschlossen wurde. Der anatomische Nachweis ließ nicht lange auf sich warten und wurde zunächst von Fleischer erbracht, der Epitheloid- und Riesenzellen sowie Tuberkelbacillen nachweisen konnte. Der Infektionsweg kann einmal der Lymph- scheidenweg sein, der dann zu den von Axenfeld beschriebenen Adventitiatuberkeln führen dürfte. Durch Arrosion der Gefäßwände kommt es bei unverschlossenem Gefäßlumen zu Blutungen der beschriebenen Art. Ist der Infektionsweg der Blut- weg, so werden sich die Bakterien in der Intima ansiedeln, namentlich gern an Teilungsstellen der Venen. Die Folge ist dann eine Obliteration des Oefäßes. Ophthalmoskopisch lassen sich diese Veränderungen in einzelnen Fällen erkennen.

Der Verlauf der Krankheit ist ein besonders typischer. Es kommt zunächst zu einer Resorption der Glaskörperblutung. Auch die Netzhautveränderungen können vollständig verschwinden, so daß das anfangs schwer geschädigte Sehen sich völlig wiederherstillt. Nach wenigen Wochen oder auch nur Tagen treten jedoch neue Blutungen auf, oft auch auf dem zweiten Auge. Sie wiederholen sich in regellosen

Tuberkulose und Auge. 517

Abständen und allmählich wird das Sehen immer weiter zerstört. Organisation der Glaskörperblutungen führt zu dicker Strangbildung von der Netzhaut aus, zu dem Bilde der sog. Retinitis proliferans.

Die Prognose ist entsprechend dem geschilderten Verlauf eine ernste, wenn auch nicht in jedem Falle absolut ungünstig. Ausheilung mit voller oder doch nur wenig geschädigter Sehschärfe kommt in einem Teil der Fälle vor. Selbst wenn bei frischer Blutung das Sehen bis auf Lichtschein mit unsicherer Projektion gesunken war, kann doch nach Resorption des Blutes normale Sehschärfe wieder eintreten. Durch oft wiederholte Anfälle wird natürlich das Sehen auf die Dauer immer mehr zerstört, völlige Erblindungen sind aber die Ausnahme. Doppelseitigkeit besteht in etwa der Hälfte der Erkrankungsfälle.

Fig. 127.

be SE wt

"$ éi Kell, I. Ki > 4 E> G y

d DE "`

er d D ha SG Lech eg Agen Ki #4

Periphlebitis tuberculosa mit Venenwandeinscheidungen, Netzhautblutungen und neugebildeten, stark geschlängelten Geläßanastomosen (nach A. Loewenstein).

Differentialdiagnostisch ist zu bemerken, daß Blutungen in den Glas- körper auch aus anderen Ursachen entstehen können, z.B. bei Iridocyclitis. Der weitere Verlauf erlaubt aber meistens die richtige Diagnose. Traumatische Blutungen lassen sich natürlich leicht ausschließen.

Die Therapie beschränkt sich im wesentlichen auf die Fernhaltung aller Schädigungen, die zu erneuten Blutungen Veranlassung geben können, also schwere körperliche Anstrengung, Bücken etc. Zu den Schädigungen ist auch das Tuber- kulin zu rechnen, das im allgemeinen kontraindiziert sein dürfte. Als innerliche Medikation kommt Jod und Arsen in Betracht.

Als weitere Folge der tuberkulösen Periphlebitis wäre die Ablatio retinae zu nennen. Sie entsteht hierbei auf dem Umwege über die Glaskörperblutungen und deren Organisation. Durch Schrumpfung des so entstandenen Bindegewebes kommt es in einigen Fällen zu einer Netzhautablösung durch Zug an ihrer Innen- seite. Aber noch ein anderer, vielleicht häufigerer Zusammenhang zwischen Ablatio retinae und Tuberkulose ist möglich, u. zw. bei der spontanen, sog. idiopathischen Netzhautablösung in nicht myopischen Augen. Ihre Entstehung ist nicht auf Retraction

518 A. Meesmann.

durch Glaskörperschrumpfung zurückzuführen, sondern viel wahrscheinlicher auf eine exsudative Chorioiditis. Man findet nicht selten im Anschluß an eine solche Netzhautablösung eine chronische Iridocyclitis, deren Aussehen und Verlauf den Gedanken an eine tuberkulöse Ursache nahelegt. Auch bei einer chronischen, tuber- kulösen Iridocyclitis ist gelegentlich eine Netzhautablösung zu beobachten. Neuerdings ist von Meller und Lauber darauf hingewiesen worden, daß bei der tuberkulösen Aderhautentzündung flache Abhebungen der Netzhaut nicht zu den Seltenheiten gehören. Eine eigene entsprechende Beobachtung sei kurz angeführt.

Bei einem 47jährigen Patienten war vor mehreren Jahren das linke Auge an Netzhautablösung erblindet. Rechts keıne Myopie. Seit mehreren Tagen spontane Netzhautablösung auch rechts, u. zw. an einer circumscripten Stelle des hinteren Poles. An der Grenze der Abhebung, teilweise in sie hinein- reichend, fand sich ein frischer Aderhautherd. Der Glaskörper war stark flockig getrübt. Auf Tuber- kulin außer Allgemeinreaktion deutliche Herdreaktion, bestehend in Zunahme der Glaskörpertrübungen. Im weiteren Verlauf der Kur nahmen dıe Trübungen ab, die Ablösung legte sich fast völlig wieder an.

Auf eine anscheinend andere Art der tuberkulösen Netzhautablösung wies kürz- lich Schall hin. Bei 23 jüngeren, meist männlichen Patienten fand er flache Netzhaut- ablösungen, gleichzeitig mit Veränderungen an den Netzhautgefäßen, besonders an den Venen, die eine gewisse Ähnlichkeit mit der Periphlebitis retinalis hatten. Der Olaskörper war auch in diesen Fällen dicht getrübt. Die tuberkulöse Ätiologie wird auf Grund der Tuberkulinreaktion und der bessernden Wirkung der Tuberkulinkur angenommen.

Zweifellos wird sich nicht in allen Fällen spontaner Netzhautabhebung die Tuberkulose als Ursache nachweisen lassen. Immerhin ist aber durch die beschrie- benen Beobachtungen ein Fingerzeig gegeben, in welcher Richtung die Ursache zu suchen ist. Jedenfalls ist schon jetzt der Versuch einer Tuberkulinkur dieses deletären Augenleidens dringend zu empfehlen, wenn man sich auch keine übertriebenen Hoff- nungen machen soll. Ob bei der myopischen Netzhautabhebung die Tuberkulose eine Rolle spielt, ist ebenfalls erörtert worden. Auch die myopische Netzhautabhebung ist sicher nicht durch Retraction bedingt, sondern ebenfalls durch eine exsudative Entzündung, wahrscheinlich der Aderhaut. Meller nimmt auch für diese die tuber- kulöse Ursache als sehr wahrscheinlich an.

Tuberkulose des Sehnerven, die im ophthalmoskopischen Bilde direkt zu er- kennen ist, wurde in der Literatur mehrfach beschrieben. Es handelt sich jedoch um seltene Erkrankungen, so daß sich ein genaueres Eingehen hierauf erübrigt. Nicht anders ist es mit der durch Tuberkulose bedingten Neuritis optica.

Eine Wahrscheinlichkeitsdiagnose bleibt auch die Feststellung einer tuber- kulösen Erkrankung des Opticusstammes, die von einigen Autoren für etwas häufiger gehalten wird. Klinisch handelt es sich um das Bild der sog. retrobulbären Neuritis. Finden sich tuberkulöse Erkrankungen in der Nähe des Opticus, z.B. in der Aderhaut, der Orbita, in den Nebenhöhlen od. dgl., so hat die Annahme einer echten tuberkulösen Opticuserkrankung immerhin noch einige Berechtigung. Viel problematischer bleibt dagegen die Diagnose, wenn ausschließlich die Symptome einer retrobulbären Neuritis bestehen, für die keine andere Ursache zu finden ist. Die Tuberkulinreaktion bleibt dann die einzige Stütze.

Selten ist auch die Tuberkulose der Orbita, wenn man von der tuberkulösen Erkrankung der knöchernen Orbitalränder absieht. In den wenigen beschriebenen Fällen handelte es sich um sekundäre Infektion, ausgehend von einer Aderhaut-, Nebenhöhlen-, Tränendrüsen- oder Tränensacktuberkulose. Die Therapie wird meist eine chirurgische sein, die jedoch möglichst lange hinauszuschieben ist, da auch nach chirurgischem Eingriff die Heilung keineswegs sicher, vielmehr weitere Schädi- gung des Sehorganes zu befürchten ist.

Tuberkulose und Auge. 519

Mitbeteiligung des Sehorganes bei tuberkulöser Erkrankung der Meningen tritt nach Uhthoff in etwa der Hälfte der Fälle ein. Am häufigsten ist die Neuritis optica, deren ophthalmoskopisches Aussehen nichts Besonderes hat und keine Unter- scheidung von einer solchen anderen Ursprunges zuläßt. Gleichzeitige Tuberkulose der Chorioidea ist nicht häufig und deutet mehr auf eine hämatogene Metastasierung als auf ein Übergreifen von dem Sehnerven aus. Man findet daher die Kombination zwischen Chorioiditis und Neuritis optica viel häufiger bei Miliartuberkulose als bei Meningitis tuberculosa. Im allgemeinen ist wie erwähnt die Beteiligung des Seh- nerven bei tuberkulöser Chorioiditis nicht häufig. Wie überhaupt bei Meningitis, so spielt auch bei der tuberkulösen Form dieser Erkrankung die Stauungspapille nur eine untergeordnete Rolle. Ihr Vorkommen deutet vielmehr auf eine Kombi- nation mit einem Solitärtuberkel des Gehirnes hin. Bing fand nur einmal eine Stauungspapille bei tuberkulöser Meningitis. Bei der Sektion zeigte sich, daß das Exsudat in atypischer Weise hauptsächlich die Gehirnkonvexität betraf.

Pupillenstörungen sind bei tuberkulöser Meningitis ziemlich häufig. Ein besonderer Typ herrscht nicht vor. Am häufigsten ist Anisokorie, dann vermin- derte Reaktion auf Lichteinfall bis zur reflektorischen Starre auch bei erhaltenem Sehvermögen. Hippusartige Schwankungen der Pupillenweite, die zur Annahme einer paradoxen Lichtreaktion Veranlassung geben können, sind gelegentlich be- obachtet worden. In späteren Stadien der Krankheit sind die Pupillen meist erweitert und starr. '

Da die tuberkulöse Meningitis eine. ausgesprochen basale Erkrankung ist, so sind Augenmuskellähmungen recht häufig. Sie treten ebenfalls etwa in der Hälfte der Fälle auf und sind meist inkomplett. Am häufigsten ist die Abduzenslähmung. Auch der Oculomotorius wird öfter betroffen. Am seltensten ist eine Trochlearis- lähmung. Eine genaue Analyse der Lähmungen ist bei den meist benommenen Kranken nicht möglich. Die Diagnose stützt sich auf ausgesprochene anomale Stellungen der Augen oder eine Ptosis. Konjugierte Deviation der Augen ist ebenfalls gelegentlich zu beobachten, meist mit gleichzeitiger Abweichung des Kopfes. Sie ist durch corti- cale Reizung bedingt, während die seltene seitliche Blicklähmung auf eine Mit- erkrankung des Pons hindeutet. Totale Ophthalmoplegie ist selten, ebenso Fazialis- parese mit Lagophthalmus. Durch Trigeminusschädigung kann es zu einer Keratitis neuroparalytica kommen.

Die Tuberkulose der Gehirnsubstanz selbst, u. zw. sowohl der weißen wie der grauen, ist der tumorartige Solitärtuberkel. Die durch ihn hervorgerufenen oku- laren Symptome sind die des Hirntumors. Die Stauungspapille ist das wichtigste Symptom, dessen Häufigkeit sich nach dem Sitz des Tuberkels richtet. Besonders häufig ist sie bei Sitz der Erkrankung im Kleinhirn, nämlich in etwa der Hälfte der Fälle. Die Stauungspapille entwickelt sich schnell und wird meist hochgradig. Sie ist auch bei einseitiger Erkrankung in den allermeisten Fällen beiderseitig gleich stark entwickelt und zeigt große Neigung zur Sehnervenatrophie. Auch die übrigen Hirn- drucksymptome sind bei diesem Sitz hochgradig ausgesprochen. Diese Besonder- heiten erklären sich wahrscheinlich durch die räumliche Beschränkung des Kleinhirns zwischen Schädelbasis und Tentorium und seine engen topographischen Beziehungen zum 4. Ventrikel. Es genügen daher auch die Solitärtuberkel dieser Gegend, die im allgemeinen nur eine geringe Größe und Wachstumstendenz haben, um diese schweren Erscheinungen hervorzurufen. Bei Sitz im Stirnhirn oder Schläfenlappen treten oku- lare und Hirndrucksymptome später seltener und geringgradiger auf, am seltensten bei Sitz im Hinterhauptlappen, den Hirnschenkeln und im Pons.

520 A. Meesmann.

Was nun die Häufigkeit der tuberkulösen Ätiologie unter den raum- beschränkenden Prozessen im Schädel angeht, so ist diese wesentlich höher zu veranschlagen, als allgemein bekannt sein dürfte. Die von Uhthoff aus der Literatur zusammengestellten Zahlen berücksichtigen nur Fälle, bei denen die Dia- gnose absolut sicher bei der Autopsie gestellt werden konnte. Zweifellos ist aber ein Teil der Solitärtuberkel im Gegensatz zu malignen Tumoren einer Heilung zugänglich, so daß die durch Sektion gewonnenen Zahlen zu niedrig sein werden. Namentlich im Kindesalter dürfte der von Heine angegebene Prozentsatz von 50 ziemlich das Richtige treffen. Unter 14 Kleinhirntumoren bei Kindern fand Kohts 9 Solitär- tuberkel, Kraus unter 100 Fällen 22 Tuberkulome und Barthélémy unter 61 Klein- hirnaffektionen 14. Nach Uhthoff ist der Prozentsatz der Tuberkulose bei Erkrankun- gen des Pons fast 45, der Großhirnschenkel 40 und der Vierhügel fast 30. Seltener sind tuberkulöse Affektionen in der Gegend des 4. Ventrikels und keine Rolle ` scheint die Tuberkulose bei den sog. Acusticustumoren im Kleinhirnbrückenwinkel zu spielen.

Die skrofulösen Augenerkrankungen.

Eine Abgrenzung der skrofulösen Erkrankungen von den tuber- kulösen ist aus verschiedenen Gründen notwendig geworden. Der eindeutigste ist das Fehlen der Tuberkelbacillen in den skrofulös erkrankten Geweben. Wenn somit der Tuberkelbacillus als specifischer Erreger der Skrofulose auszuschließen ist, so sind doch die Beziehungen zur Tuberkulose nicht ohneweiters von der Hand zu weisen, sondern sogar zum Teil recht enge.

Im jugendlichen Alter spielt die nicht specifische Disposition, die exsudative Diathese (Czerny) anerkanntermaßen eine wesentliche Rolle. Daß auf dem Boden einer solchen Diathese ohne specifische Reize skrofulöse Erkrankungen auftreten können, beweist unter anderem der negative Ausfall der Tuberkulinreaktion (Klein- schmidt). Freilich handelt es sich um wenig schwere, vereinzelte Fälle, denen die große Zahl mit positivem Ausfall gegenübersteht. So ist z. B. der Prozentsatz der positiv reagierenden Kinder mit skrofulösen Augenerkrankungen mindestens 90. Auf Grund dieser Tatsache ist in der Ophthalmologie die Annahme am meisten verbreitet, daß die Skrofulose die Tuberkulose der Kinder mit exsudativer Diathese sei. Ob für die Entstehung der phlyktänulären Binde- und Hornhauterruptionen die Anwesenheit der Tuberkelbacillen notwendig ist, oder ob es sich hierbei nur um rein toxische Wirkungen handelt, ist eine vielfach erörterte Frage. Schon früher hat Calmette auf Grund seiner Meerschweinchenversuche betont, daß die skrofulösen Augenentzündungen einer direkten Impfung der Conjunctiva mit Tuberkelbacillen ihre Entstehung verdanken. Baumgartner und Koch (Josef) haben neuerdings, von den gleichen Erwägungen ausgehend, die Auffassung vertreten, daß es sich um eine Infektion mit bacillenhaltigen Tröpfchen handelt, die, von Phthisikern her- stammend, namentlich bei unsauberen und unhygienischen Verhältnissen oft genug in die Conjunctiva der Kinder gelangen werden.

Es ist bisher in keinem Falle gelungen, in den typischen skrofulösen Errup- tionen der Bindehaut, den Phlyktänen, Tuberkelbacillen nachzuweisen, ebenso ist der Überimpfungsversuch stets negativ ausgefallen. Stargardt, der Hauptver- fechter der tuberculo-bacillären Ätiologie der Phlyktäne, erklärt dies mit der starken Allergie des Gewebes, die zu einer heftigen lokalen Reaktion und damit zu einer schnellen Vernichtung der Tuberkelbacillen führt. Von anderer Seite ist die Unsicher- heit im Bacillennachweis und im Überimpfungsversuch bei Tuberkulose angeführt

Tafel XVII. Ergebnisse der gesamten Medizin, VI. A. Meesmann: Tuberkulose und Auge.

Fig. 1. Fig. 2.

Frische Tuberkel der Chorioidea Ausgeheilte Aderhauttuberkel (vgl. S. 514). (vgl. S. 514).

Fig. 3.

Alte Chorioretinitis (vgl. S. 514).

Verlag von Urban & Schwarzenberg in Berlin u. Wien.

Tuberkulose und Auge. 521

worden. Allerdings liegen die Verhältnisse im Vergleich zur Tuberkulose anders, da bei Skrofulose die genannten Untersuchungen ausnahmslos negative Resultate gezeitigt haben.

Daß durch unspecifische Reize typische skrofulöse Erruptionen in der Binde- haut hervorgerufen werden können, ist auch durch verschiedene Tierversuche bewiesen. So konnte Rosenhauch, dessen Versuchsergebnisse von Rubert und Kuboki bestätigt wurden, bei tuberkulösen Tieren durch Einbringen von lebenden und abgetöteten Staphylokokken und deren Toxinen typische Phlyktänen erzeugen. In gleichem Sinne sind auch die Untersuchungen von Funaishi zu verwerten, der nach Sensibilisierung von Kaninchen mit Tuberkulin, durch Tuberkulin- und ebenso durch Staphylokokkentoxin und Tyramineinbringung in den Bindehautsack Phlyktänen erzeugen konnte. Bei tuberkulosefreien Tieren entstand immer nur eine unspecifische uncharakteristische Bindehautentzündung. Besonders bemerkenswert erscheint, daß es demselben Autor gelang, nach Vorbehandlung mit Tyramin und Staphylokokken- toxin, Legumin und Casein ebenfalls eine Überempfindlichkeit zu erzielen, die nach Einbringen von Tuberkulin, Tyramin und auch Pneumokokkenextrakt in den Binde- hautsack zum Aufschließen typischer Phlyktänen führte. Will man diese Versuchs- ergebnisse auf den Menschen übertragen, so ist die Phlyktäne als die Reaktion der Bindehaut auf einen Reiz aufzufassen, bei gleichzeitiger Überempfindlichkeit des betreffenden Individuums. Daß beim Menschen als Ursache für die Überempfindlich- keit vor allem die Tuberkulose in Betracht kommt, geht außer aus klinischen Er- wägungen aus den eingangs erwähnten Untersuchungen Koellners hervor, der die engen Beziehungen zwischen den skrofulösen Erkrankungen des Auges und der Tuberkulinempfindlichkeit der Haut nachwies. Ob beim Menschen durch andere Eiweißstoffe oder sonstige Toxine eine ähnliche Sensibilisierung hervorgerufen werden kann, ist durchaus wahrscheinlich, wenn auch zunächst nicht bewiesen.

Engelking hat neuerdings angenommen, daß neben der exsudativen noch eine weitere Diathese für die Entstehung skrofulöser Erkrankungen von Bedeutung ist, nämlich die seborrhoische, die in der Pubertätszeit auftritt. Dieser Auffassung kommt auch eine therapeutische Bedeutung zu, da bei der Seborrhöe die Salicyl- säure als wirksames Heilmittel gilt.

Die skrofulösen Erkrankungen des Auges kommen nicht nur dem ÄAugen-, sondern auch dem Allgemeinarzt außerordentlich häufig zur Beobachtung. Die einzelnen Krankheitsbilder dürften so allgemein bekannt sein, daß sich eine genauere Beschreibung erübrigt. Eine Unterscheidung von echter Tuberkulose dürfte nur in Ausnahmefällen Schwierigkeiten machen. Das besonders Typische der skrofulösen Augenerkrankung ist das Fortschreiten von außen nach innen. An Kratzeffekte, Öftere Befeuchtung der äußeren Haut, so auch der Lider, schließen sich besonders oft bei Kindern mit exsudativer Diathese skrofulöse Eruptionen an. So erklärt sich die wichtige schädigende Rolle der Unsauberkeit und anderer unhygienischer Lebens- bedingungen. Anderseits können akute Infektionskrankheiten durch Beeinträchtigung des Allgemeinzustandes als auslösendes Moment in Betracht kommen. Am bekanntesten sind in dieser Beziehung die Masern.

Die Erkrankungen der äußeren Lider sind die Ekzeme, namentlich des Lidrandes, von der leichten Blepharitis squammosa bis zu schwersten ulcerösen Formen. Hordeala, Schwellung der ganzen Lider DIS zur E ER sind keine seltenen Komplikationen.

Die häufigste Form der Bindehauterkrankung ist die Phlyktäne, kleine grau-gelbliche, etwas prominente Knötchen, die zu lokaler Gefäßinjektion Veranlassung

522 A. Meesmann.

geben. Sie sind fast immer multipel und sitzen mit Vorliebe am Limbus, kommen aber auch in einiger Entfernung davon vor (Fig. 128). Auch die Bindehaut der Lider ist oft mit Phlyktänen besetzt, die leicht übersehen werden können. Daneben kommen aber uncharakteristische diffusse Bindehautentzündungen vor, von leicht schleimig-eitrigen Formen bis zur stärksten Schwellung der Schleimhaut mit Follikelbildung, pauken- artiger Auftreibung der Lider und Pseudomembranen in der Übergangsfalte. Phlyktäne können gleichzeitig bestehen oder auch später auftreten.

Die Phlyktäne hat im allgemeinen nur eine beschränkte Dauer. Sie besteht aus einer Lympho- und Leukocyteninfiltration, die bald central erweicht und re- sorbiert wird, ohne eigentliche Narben zurückzulassen. Größere Phlyktänen, die besonders bei älteren Patienten vorkommen, sind oft sehr viel hartnäckiger. Sie können mit tuberkulöser Skleritis verwechselt werden, unterscheiden sich von dieser

aber durch die centrale Erweichung, die bei der FR Skleritis nicht vorzukommen scheint.

Eine schwere Gefahr für das Sehen tritt immer ein, wenn dieErkrankung aufdieHorn- haut übergreift. Isolierte Hornhautinfiltrate kommen vor, öfter bestehen gleichzeitig Phlyk- tänen in der Bindehaut. Der Sitz ist mit einer ge- wissen Vorliebe die Peripherie der Hornhaut, wo sich multiple kleine Infiltrate entwickeln. Central gelegene Infiltrate werden meist größer und neigen dazu, in die tieferen Schichten einzudringen. Horn- hautabscesse können sich anschließen, bis zur Perforation mit Irisprolaps und in schweren Fällen bis zur Phthise des Auges. Diese betrifft vor allem den vorderen Augenabschnitt. Durch Zug der geraden Augenmuskeln entsteht das Bild der Phthisis bulbi quadrata. Zu erwähnen ist, daß sich an eine solche durch ein Ulcus entstandene Per-

Phlyktänen am Limbus corneae

nach Alliöewensteim: foration eine sympathische Ophthalmie nicht anschließt.

Für die skrofulösen Hornhauterkrankungen ist das fleckförmige besonders charakteristisch. Entsprechend dem zunächst immer oberflächlichen Sitz ist die Gefäß- entwicklung ebenfalls stets oberflächlich. Die Gefäße stammen aus der Bindehaut und lassen sich kontinuierlich bis zu den größeren Gefäßstämmen in der Bindehaut verfolgen. Erst beim Eindringen des Infiltrates in die tieferen Schichten entwickeln sich auch reichlich tiefe Gefäße, ciliare Injektion und eine sekundäre Iritis.

Die Abheilung der Infiltrate gleicht der der Phlyktänen. Sie erweichen central und werden resorbiert. Das Epithel, das meist über ihnen zerfällt, regeneriert sich nach Reinigung des Ulcus schnell. Es entsteht so das bekannte Bild der Hornhaut- facette. Von der Substantia propria aus wird der zurückbleibende Gewebsdefekt durch undurchsichtiges Bindegewebe ausgefüllt und das Resultat ist eine fleckförmige Hornhauttrübung, die je nach der Tiefe, bis zu welcher das Ulcus vorgedrungen war, mehr oder weniger dicht ist.

Eine besondere Form des skrofulösen Hornhautinfiltrates ist die Wander- phlyktäne oder Keratitis fascicularis. Ein dichtes Infiltrat mit oberflächlicher Epithelverdickung schiebt sich von der Peripherie centralwärts, oft auch quer über die ganze Hornhaut vor, gefolgt von einem schmalen Bändchen, das aus zahlreichen

Tuberkulose und Auge. 523

dicht nebeneinander gelagerten oberflächlichen Gefäßen besteht. Sie pflegt eine dichte Narbe zurückzulassen (Fig. 129).

In schweren Fällen kommt es zu einer mehr diffusen Erkrankung der ganzen Hornhautoberfläche mit zahlreichen Gefäßen, die von allen Seiten aus der Binde- haut in die oberen Hornhautschichten hineinwachsen. Diese als Pannus scrofulosus bezeichnete Erkrankungsform kann verschieden stark entwickelt sein. Schwere Formen werden als Pannus crassus und bei beson- ders reichlicher Gefäßentwickung als Pannus carnosus bezeichnet. |

Einschmelzung der gesamten Horn- haut ist selten und kommt nur bei stark unter- ernährten Patienten vor. Sie wurden während der letzten Kriegsjahre und in den ersten Nachkriegsjahren häufiger beobachtet. In der gleichen Zeit waren ja die skrofulösen Augen- erkrankungen besonders häufig und schwer. Auf die Ähnlichkeit dieser Fälle mit der Kera- tomalacie ist von verschiedenen Seiten hingewiesen und das Krankheitsbild in Be- ziehung zu den Avitaminosen gebracht worden. Wie bei der Keratomalacie hat sich der Lebertran und ebenso Butter als besonders wirksam erwiesen.

Die Beschwerden bei skrofulösen Augenerkrankungen sind neben der Sehstörung die Lichtscheu, die sich bis zu den schwersten Graden des Lidkrampfes steigern kann. Bekannt ist die hierdurch bedingte vornübergeneigte Kopfhaltung. Die pastöse Schwellung des Gesichtes, namentlich der Lippen, die rüsselförmige Nase und die Ekzeme am Naseneingang, Kopf und hinter den Ohren ver- vollständigen das typische Bild des Habitus scrofu- losus (Fig. 130). Bei verschmutzten Kindern sind die Pediculi capitis eine fast regelmäßige Begleit- erscheinung.

Nach Engelking sind die Ekzeme im Ge- sicht, an der behaarten Kopfhaut und hinter dem Ohr als rein exsudativ-diathetisch aufzufassen, während am Naseneingang, in den Mundwinkeln und vor dem Ohr die tuberkulogene Hautdisposition eine Rolle spielen soll. Das Ekzem am Naseneingang ist meist die Folge eines skrofulösen chronischen Schnupfens, ebenso kommt am Ohr die skrofulöse Otorrhoe in Betracht. Rhagaden an den Lidwinkeln, die bei gewaltsamem Öffnen der Lider immer wieder aufplatzen, sind besonders schmerzhaft und können noch lange Zeit nach Abheilen der Horn- und Bindehauterkrankungen zu einem Lidkrampf Veranlassung geben.

Zu erwähnen ist noch, daß phlyktänenähnliche Eruptionen in der Bindehaut vorkommen, denen nach Bayer eine Sonderstellung zukommt. Es sind dies wasser- helle, transparente Knötchen in der Bindehaut des Augapfels, die kleiner sind als die Phlyktänen und keine Neigung zum Zerfall zeigen. Sie werden von Friede und Engelking als Lichen aufgefaßt, während Stargardt sie als Tuberkulide bezeichnet und ihnen eine Sonderstellung den Phlyktänen gegenüber aberkennt.

Fig. 129.

Keratitis fascicularis (nach A. Loewenstein).

Fig. 130.

Habitus scrofulosus (nach A. Loewenstein).

524 A. Meesmann.

Skrofulöse Erkrankungen des inneren Auges gibt es nicht. Die Mit- _ beteiligung der Iris ist immer die rein sekundäre und besteht im wesentlichen in Hyperämie und geringer sero-fibrinöser Exsudation. Auch Zellen, namentlich Lympho- cyten, kommen im Kammerwasser vor. Die Neigung zur Synechienbildung ist meist nur gering. Mydriatica sind jedoch in jedem Fall mit deutlicher ciliarer Injektion indiziert.

Die Prognose der skrofulösen Augenerkrankungen ist von Fall zu Fall sehr verschieden. Sie wird stets erheblich beeinträchtigt durch die Gefahr der Rezidive, die so gut wie nie ausbleiben. Jede Beteiligung central gelegener Hornhautteile be- deutet natürlich eine große Gefahr für das Sehen. Das skrofulöse Infiltrat oder Ulcus heilt stets unter Hinterlassung einer mehr oder weniger undurchsichtigen Narbe aus. Allerdings ist die Aufhellung manchmal eine erstaunliche, aber selbst dünne relativ durchsichtige Hornhautflecke bedeuten, wenn sie central liegen, ein erhebliches optisches Hindernis, nicht nur wegen der herabgesetzten Durchlässigkeit für Licht- strahlen, sondern auch weil über solchen Stellen die stets unebene Hornhautober- fläche einen Astigmatismus irregularis bedingt. Hochgradige Verminderung des Sehens bis zur Gebrauchsunfähigkeit des Auges ist aber immerhin nicht häufig. Sie schließt sich an Perforation, Hornhautabceß oder Einschmelzung größerer Hornhaut- teile an.

Wichtig für die Beurteilung der Prognose sind die sozialen Verhältnisse, unter denen die erkrankten Kinder aufwachsen. Von den ekzematösen Augenerkrankungen sind ja besonders die Kinder des Großstadtproletariats betroffen. Sauberkeit, Licht und Luft spielen bei der Behandlung und Prophylaxe eine außerordentlich wichtige Rolle. Es ist in größeren Augenkliniken leider sehr oft die Erfahrung zu machen, daß Kinder, die nach mehrwöchentlicher stationärer Behandlung vollkommen ab- geheilt sind, schon wenige Tage nach der Entlassung genau so verschmutzt und mit ebenso schweren Augenerkrankungen wiedergebracht werden, wie bei der Auf- nahme. Die städtische soziale Fürsorge muß hier unterstützend eintreten und die Forderung nach luftigen, sonnigen Spielplätzen und Schaffung besserer Wohnver- verhältnisse ist immer wieder erneut zu stellen.

Die lokale Behandlung der skrofulösen Binde- und Hornhauterkrankungen wird vielfach auch Sache des praktischen Arztes sein. Auf einige wichtigere Gesichts- punkte sei kurz hingewiesen.

Bei allen stark secernierenden Prozessen ist die 1—2 % ige Höllensteinlösung ein wirksames Mittel zur Bekämpfung der Absonderung. Am besten tuschiert man die Bindehaut nach Ektropionieren mit einem mit Watte armierten Holzstäbchen, das vorher in die Lösung eingetaucht wurde. In der gleichen Weise bringt man sofort hinterher eine etwas größere Menge Kochsalzlösung auf die gebeizte Stelle, um das überschüssige Silber als Chlorsilber auszufällen. Es entsteht sonst sehr bald eine Argyrose der Bindehaut, die nicht nur eine Entstellung bedeutet, sondern auch eine dauernde Schädigung, da eine argyrotische Bindehaut stets entzündlich gereizt bleibt. Durch die Wirkung des Argentum nitricum werden die oberflächlichen Epithel- schichten abgestoßen. Man soll deswegen die Beizung nicht zu energisch aus- führen, um nicht zu tiefe Nekrosen zu veranlassen. Will man eine ähnliche Wirkung durch Einträufelung erzielen, so empfiehlt sich das Protargol in 3—5%iger Lösung oder Collargol in der gleichen Konzentration. Auf keinen Fall darf man zur häus- lichen Behandlung Argentum-nitricum-Lösung verordnen, selbst bei Protargol ist Vor- sicht geboten. Nach mehrwöchentlichem Gebrauch kann auch das Protargol eine Argyrose herbeiführen.

Tuberkulose und Auge. 525

Als besonders wirksam gilt bei skrofulösen Binde- und Hornhautaffektionen die gelbe Quecksilberpräcipitatsalbe. Sie ist bei akuten Reizzuständen nicht empfehlens- wert, sondern besser durch einfache Borsalbe oder Paraffinöl und, wenn man gleich- zeitig ein Mydriaticum anwenden will, durch Scopolaminsalbe, letztere 02—05%, zu ersetzen. Das Scopolamin ist in dieser Konzentration weniger giftig als Atropin und wird so gut wie ausnahmslos vertragen, während es gegen Atropin durchaus nicht selten eine Überempfindlichkeit gibt, die zu unangenehmen Ekzemen Ver- anlassung geben kann. Die gelbe Salbe und ebenso das Einstäuben von Kalomel ist als leichtes Reizmittel besonders nach Abklingen der akuten Entzündungserscheinungen und zur Beförderung der Resorption und Aufhellung von Hornhauttrübungen zu verwenden. Die Wirkung ist durch Massage mit dem Oberlid zu unterstützen. Die Quecksilberpräcipitatsalbe muß gut verteilt sein. Am besten benutzt man eines der Spezialpräparate, die überall erhältlich sind, z. B. die Schweissiger-Salbe. Gelbe Salbe wie Kalomel sind streng kontraindiziert bei gleichzeitiger interner Jodverabreichung. Es bildet sich sonst Jodquecksilber, das starke Reizung der Bindehaut bis zur Ver- ätzung verursachen kann.

Ein Verband ist bei den skrofulösen Augenerkrankungen im allgemeinen kontraindiziert. Er kann direkt verschlechternd wirken und die Lichtscheu ver- mehren. Auszunehmen sind alle Fälle mit größeren Substanzverlusten der Hornhaut und bei Gefahr der Hornhautperforation. Ein gutsitzender Okklusivverband mit leichter Druck wirkung kann hierbei auffallende Besserungenin wenigen Tagen herbei- führen.

Die Bekämpfung der Lichtscheu kann in manchen Fällen Schwierigkeiten machen. Das Hineintauchen des Kopfes in kaltes Wasser, seit langem empfohlen, ist auch heute noch ein gutes Mittel zur Beseitigung des Lidkrampfes. Auch Cocain- salbe kann in verzweifelten Fällen gutes leisten. Besser ist das Chlorylen (Kahlbaum), von dem man 20-30 Tropfen auf ein Taschentuch aufträufelt und so lange stark einatmen läßt, bis keine Geruchempfindung mehr besteht. Das Chlorylen macht eine starke Hypästhesie der Cornea ohne sonstige Schädigungen. Kanthotomie ist nur ausnahmsweise notwendig. Das Tragen von Schutzbrillen ist nur in vereinzelten Fällen und bei stationärer Behandlung am" Platze, auf keinen Fall sollten sie zu längerem Gebrauch verordnet werden.

Gutes leistet auch die Wärmebehandlung. Besteht ein Ekzem der Lider oder des Gesichtes, so sind feuchte Umschläge zu vermeiden. Sie sind zu ersetzen durch Erwärmung mit trockenen Tüchern oder auch mit den erwähnten Brüningschen Kopflichtbädern. Bei Hornhautprozessen ist eine gleichzeitige Dioninbehandlung sehr empfehlenswert. Man streicht vor der Wärmeanwendung 1—5% Dioninsalbe in den Bindehautsack. Man muß die Konzentration der Salbe etwa jeden 2. Tag steigern, da ihre hyperämisierende und Iymphstauende Wirkung sehr bald nach- läßt. Eine elegante und gute Form der Wärmeapplikation läßt sich mit elektrischen Heizkissen ausführen, die in besonderer Ausführung für das Auge erhältlich sind. Es gibt noch eine ganze Anzahl besonderer Apparaturen für diesen Zweck, deren Anführung jedoch überflüssig sein dürfte.

Die Keratitis fascicularis kann besonderes Eingreifen notwendig machen. Läßt sich das Fortschreiten des Kopfes durch die übliche Behandlung nicht zum Stillstand bringen, so ist die Spitze zu kauterisieren oder mit Jodtinktur zu betupfen. Irisprolaps nach Perforation eines Hornhautgeschwüres ist in jedem Falle abzu- tragen und die Perforationsstelle mit Bindehaut nach Kuhnt zu decken. Alle diese Maßnahmen sind natürlich von einem Spezialarzt auszuführen.

526 A. Meesmann.

Mydriatica bei sekundärer Iritis wurde bereits erwähnt, ebenso daß dem Scopolamin im allgemeinen dem Atropin gegenüber der Vorzug zu geben ist. Die etwas schwächere Wirkung, die mit Scopolamin zu erzielen ist, dürfte in allen Fällen sekundärer Iritis genügen. Besteht Gefahr einer Perforation, so ist bei centralem Sitz des Geschwüres die Pupille weit zu halten, sitzt es jedoch peripher, so gibt man besser Eserin, da bei enger Pupille leichter ein größerer Irisprolaps vermieden werden kann.

Die skrofudösen Ekzeme an den Lidern, Lippen etc. bedürfen einer be- sonders ausgiebigen Behandlung. Die Krusten und Borken sind abzuweichen, am besten mit einem neutralen Öl, z.B. Olivenöl oder auch Paraffinöl. Es kommen dann die oberflächlichen Hautdefekte zum Vorschein, die mit 1—2 % iger Höllenstein- lösung stark zu betupfen sind. Darauf bedeckt man die wunden Stellen mit einer gut haftenden Zink- oder Borsalbe. Schon nach wenigen Tagen weicht dieser Be- handlungsmethode auch das übelste skrofulöse Ekzem. Prinzipiell die gleiche Be- handlung ist auch bei Lidranderkrankung durchzuführen. Als Salbe kann man dabei die gelbe oder weiße Quecksilberpräcipitatsalbe verwenden.

Ebenso wichtig ist die Beseitigung der Kopfläuse. 24stündige Kopfkappe mit Sabadillessig ist ein altbewährtes Mittel. Natürlich sind die Haare rücksichtslos kurz zu schneiden, da sonst eine vollkommene Beseitigung der Läuse und ihrer Brut kaum möglich ist.

Von besonderer Wichtigkeit ist selbstverständlien die Allgemeinbehandlung. Sauberkeit steht hier obenan. Regelmäßige Luft- und Sonnenbäder neben ausgiebiger Hautpflege sind unbedingt zu empfehlen. Bei pastösen Kindern ist wöchentlich 1—2mal ein Bad mit Staßfurter Salz, 2 kg auf ein Vollbad, zu geben. Bei der Er- nährung ist alles Zuviel und alle Einseitigkeit zu vermeiden. Besonders wichtig ist eine flüssigkeitsarme Ernährung. Selbstverständlich sind auch die großen Milch- portionen, die von den Angehörigen, namentlich auch beim Ferienaufenthalt auf dem Lande gern gegeben werden, unbedingt zu verbieten. Die Ernährung soll vitaminreich sein. Es sind daher frische Gemüse und rohes Obst besonders zu bevorzugen. Fleisch und Fett in mäßigen Mengen, ebenso Mehlspeisen. Ganz zu verbieten sind Süßigkeiten, Schokolade etc. Eine besondere Rolle soll das von Mc. Collum und Davis entdeckte fettlösliche Vitamin A spielen, dessen Fehlen in der Nahrung die Keratomalacie herbeiführt. Auch für die skrofulösen Hornhaut- erkrankungen, wenigstens die schweren mit partieller oder totaler Einschmelzung einhergehenden Formen, wird neuerdings ein Mangel an Vitamin A angenommen. Dieses Vitamin findet sich in besonders reichlicher Menge in der Butter und im Lebertran. Bei der Keratomalacie hat man mit Butter und Lebertranverabreichung in vielen Fällen verblüffende Erfolge erzielt. Die Lebertranmedikation bei der Skrofulose, seit langem als wirksam anerkannt, bekommt hierdurch eine neue Stütze. Daneben ist frische Butter zu empfehlen, namentlich bei Kindern, bei denen eine längere Lebertrankur auf unüberwindliche Schwierigkeiten stößt. Wessely hat vor einiger Zeit eine längere, regelmäßige Verabreichung von phosphor- und chlor- saurem Calcium empfohlen. Man gibt 2—3 g Calcium phosphoricum oder chloratum täglich als Pulver, Lösung oder Kompretten (Merk).

Die specifische Behandlung der Augentuberkulose. Die Ansichten über den Wert der Tuberkulinbehandlung bei Augenerkrankungen tuberkulöser und skrofulöser Natur gehen auch heute noch weit auseinander. Das liegt im wesentlichen an der Schwierigkeit der Beurteilung therapeutischer Erfolge,

Tuberkulose und Auge. 527

die bei der Tuberkulose besonders groß ist, da sie in jedem Stadium auch ohne besondere Behandlung ausheilen kann. Der Subjektivität ist daher ein weiter Spiel- raum gelassen. In neuerer Zeit neigen viele namhafte Tuberkuloseforscher dazu, die frühere Dosierung im allgemeinen als zu klein abzulehnen und hierauf die viel- fachen Mißerfolge zu beziehen. |

Es ist in dieser gedrängten Übersicht nicht möglich, eine auch nur einigermaßen vollständige Besprechung der umfangreichen Literatur über die Tuberkulinbehandlung in der al une zu bringen. Gerade in der letzten Zeit sind mehrere prinzipiell wichtige Arbeiten über dieses Thema er- schienen, so die erwähnten Untersuchungen von Köllner (A. f. Aug., LXXXVI, p. 314) und die Ab- handlung von Schieck über die Beziehungen zwischen der Allergie des Gesamtorganismus und den Verlauf der tuberku!ösen Augenerkrankungen (A. f. Ophthalmologie, CV, p. 257). Es sei hier noch auf die lesenswerte Übersicht von A.Loewenstein verwiesen „Die Tuberkulose des Auges“ (Urban & Schwarzenberg, Berlin-Wien 1924), die eine besonders ausführliche Besprechung der Therapie enthält.

Die Wahl der Behandlungsform hängt von der prinzipiellen Stellungnahme zu dem lange Jahre währenden Streit ab, ob man die Überempfindlichkeit gegen Tuberkulin erhalten oder sie im Laufe der Behandlung ganz oder doch wenigstens teilweise überwinden soll. Zweifellos schützt die Überempfindlichkeit, an der ja jeder Tuberkulöse mindestens für lange Zeit seiner Erkrankung leidet, weder vor Fortschreiten der Erkrankung, noch vor Rezidiven. Es ist somit dem Kranken durch die Erhaltung oder gar Steigerung der Tuberkulinüberempfindlichkeit nicht gedient. Anderseits ist die Überwindung der Allergie, d. h. das Unempfindlichwerden gegen größere Tuberkulingaben, als eine biologische Ausheilung der Tuberkulose zu be- zeichnen. Eine andere Frage ist, ob man dieses erstrebenswerte Ziel der Tuberkulin- behandlung in jedem Falle erreichen wird. Monate bis Jahre sind dazu notwendig und die Anforderung an die Ausdauer bei Patient wie Arzt ist gleich groß.

Aus dem Gesagten geht hervor, daf man sich bei jedem Patienten vor Beginn einer Kur über den Grad seiner Tuberkulinempfindlichkeit, d.h. seiner Ab- wehrkraft zu orientieren hat. Der Gesunde ist unempfindlich gegen Tuberkulin; man nennt diesen Zustand nach Liebermeister Nomergie. Der Tuberkulöse ist tuber- kulinempfindlich-allergisch. Ist diese Empfindlichkeit groß, so spricht man von Dysergie. Bei Schwerkranken kann jede Reaktionsfähigkeit fehlen, er ist anergisch. Diese Anergie kann man durch Tuberkulin leicht beseitigen. Die so erreichte Über- empfindlichkeit hat aber bei diesen Patienten keinen Wert, da sie jeder Behandlung unzugänglich sind. Hebt sich die Abwehrkraft im Verlaufe der Erkrankung, so daß größere Tuberkulinmengen ohne erhebliche Reaktion vertragen werden, so spricht man von Euergie, positiver Anergie oder auch wieder von Nomergie. Die Dosierung des Tuberkulins hat sich nach dem jeweiligen Zustand der Empfindlichkeit zu richten. Bei fortschreitender Erkrankung wird man eine einschleichende schonende Behandlung anzuwenden haben. Bei mehr stationären Krankheitsformen ist dagegen eine Herdreaktion in mäßigen Grenzen zu erstreben. Gibt man hierbei zu kleine Dosen, so steigert man die Überempfindlichkeit ohne einen Heilwert zu erreichen. Die ein- zelnen Krankheitsformen der Augentuberkulose sind innerhalb gewisser Grenzen nach dem Grade der Allergie zu unterscheiden. Nach dem Vorgehen Rankes kann man die Augentuberkulose in drei Stadien einteilen. Die primäre Knötchenform, besonders bei jugendlichen Patienten, mit typischen Iristuberkeln, die sekundären Formen der Überempfindlichkeitsepoche, bei der akut entzündliche Prozesse im Vordergrund stehen, so diffuse Iritiden und Iridocyclitiden, periphlebitische Prozesse in der Netzhaut und die skrofulösen Erkrankungen und schließlich die Spätformen, die Ähnlichkeit mit den Formen des ersten Stadiums haben und die durch wiederholte Rezidive ausgezeichnet sind. In dem ersten Stadium besteht All- ergie, die Tuberkulinbehandlung hat daher günstige Aussichten auf Erfolg. Das

528 A. Meesmann.

zweite Stadium ist dagegen durch gesteigerte Allergie oder Dysergie ausgezeichnet. Die Dosierung ist wesentlich schwieriger. Vielfach werden kleinste Tuberkulinmengen angeraten. Doch kann es dadurch zu einer Steigerung der Dysergie kommen. Man hat daher von vornherein auch größere Dosen versucht, die allerdings genaueste Kontrolle des Allgemeinbefindens voraussetzen. Bei der Skrofulose empfiehlt Köllner groBe Dosen, wenn man, ohne Rücksicht auf das Allgemeinbefinden, bei akuten Prozessen mit schwerer Gefahr für das Sehen, einen möglichst schnellen Erfolg er- zielen will. Im übrigen deckt sich die Art der Dosierung mit der bei Tuberkulose anzuwendenden. Die Schwierigkeiten und Gefahren der Dosierung haben dazu geführt, in der Überempfindlichkeitsepoche die unspecifische Proteinkörpertherapie anzuwenden, die in manchen Fällen bessere Erfolge gehabt hat, als eine Tuber- kulinkur. In der dritten Periode besteht eine Teilimmunität, d. h. wir nähern uns dem Zustand der Euergie. Die Tuberkulinbehandlung ist daher mit Erfolg an- zuwenden. Man beginnt mit kleinen Dosen und kann meist sehr bald zu größeren übergehen. E

Von den wichtigsten specifischen Mitteln wird auch heute noch das Alttuberkulin Koch (A. T.) am meisten verwendet. Es enthält in der Hauptsache die löslichen Giftstoffe der Bacillen. Das albumosefreie Tuberkulin Koch (A. F.) enthält die Toxine von Bakterien, die auf eiweißfreiem Nährboden gezüchtet wurden. Das Neutuberkulin Bacillenaufschwemmung (B. E.) enthält außer den Toxinen zertrümmerte Bacillenleiber in Glycerinaufschwemmung. Mit B. E. ist im Gegensatz zu den beiden ersteren Tuberkulinen eine Sensibilisierung auch des tuberkulosefreien Körpers möglich. Ein viertes Mittel ist die sensibilisierte Bacillenemulsion Höchst (S.B.E.) der eine bakteriotrope und präcipitierende Wirkung zukommt. Außerdem gibt es noch eine Summe mehr oder weniger häufig angewandter Tuber- kuline, das Tuberkulin Rosenbach, die Partialantigene von Deycke-Much u.a. Die Orientierung ist in den Lehrbüchern über Tuberkulose leicht möglich (s. auch A. Loewenstein |. c.).

Die notwendigen Verdünnungen stellt man sich zweckmäßig selbst her. Als Verdünnungsmittel benutzt man 0'5% Carbollösung. Verdünnte Lösungen haben nur eine beschränkte Haltbarkeit. Es ist daher nötig, die schwächeren Verdünnungen alle 8, die stärkeren alle 14 Tage zu erneuern. Die Originallösung bezeichnet man mit I. Lösung II erhält man, indem man 0'1 cm? von I mit einer 1 cm? Rekordspritze abmißt und auf 10 verdünnt. In der gleichen Weise erhält man Lösung III durch Verdünnung von Il und so fort. Zur Bestimmung der Anfangsdosis ist der Aus- fall eines Pirquet zu berücksichtigen. Bei stärkster Reaktion ist mit S. B. E. zu be- ginnen, bei schwächerer Reaktion mit einem der übrigen aufgeführten Tuberkuline. Man beginnt gewöhnlich mit je zwei Teilstrichen von Lösung IV oder V. Bei den weiteren Injektionen verdoppelt oder verdreifacht‘ man die Dosis bis zum Auftreten einer Reaktion, z. B. bis zur Erhöhung der Temperatur von 02 bis 0'3 über die vorher gemessene. Wirkliche subfebrile oder febrile Temperaturen sind nicht notwendig. Bei fehlender Temperatursteigerung ist eine Allgemeinreaktion, bestehend in Übel- keit u. s. w., zu berücksichtigen. Ist die Temperaturerhöhung stärker als 05 Grad, so geht man bis zu der gut vertragenen Dosis zurück. Werden darauf mehrere Injek- tionen gut vertragen, so versucht man eine erneute Steigerung der Dosis. Ein Schema ist also für keinen Fall anzugeben. Die Pausen zwischen den einzelnen Injektionen betragen bei kleineren Dosen etwa 3—4 Tage. Bei Mengen über 10 ng (Original- lösung) sind die Zwischenpausen auf 5—6, bei noch größeren auf 8—10 Tage zu ver- längern. Niemals soll man eine erneute Injektion machen, bevor Temperatursteige-

Tuberkulose und Auge. 529

rungen oder deutliche Allgemeinreaktionen nicht mindestens 2—3 Tage abgeklungen sind. Ebensowenig wie für die Dosierung läßt sich für die Dauer einer Tuberkulin- behandlung ein Schema aufstellen. Genaue Aufklärung ist vor Einleitung der Kur notwendig, da man sonst keinesfalls mit einer genügenden Ausdauer des Patienten rechnen kann. Das gilt für die Augentuberkulose noch mehr wie für sonstige Organ- tuberkulose. Sind die Entzündungserscheinungen abgeklungen und hat der Patient leidliches oder gar normales Sehen, so ist er stets geneigt, sich für geheilt zu halten. Nicht jeder Patient wird die Geduld und das Einsehen aufbringen, eine zeit- raubende Behandlung durchführen zu lassen, die keinen Augenblickserfolg mehr erkennen läßt. Trotzdem ist für jeden Fall die Erreichung einer positiven Anergie oder doch wenigstens einer Euergie das erstrebenswerte Ziel.

Von den zahlreichen besonderen Verfahren der Tuberkulinanwendung sei noch das von Ponndorf erwähnt, das in neuerer Zeit eine weitere Verbreitung ge- funden hat. Es besteht darin, daß man auf einer etwa fünfmarkstückgroßen Hautstelle mit einem stumpfen Skalpel oder einer Impflanzette 20—30 seichte, nicht blutende Einschnitte macht, in die man einen Tropfen A. T. verreibt. Bei positiver Reaktion entzündet sich diese Stelle mehr oder weniger stark, Wiederholung der Impfung nach etwa 14 Tagen. Die Beurteilung dieses Verfahrens ist eine sehr verschiedene. Die Einwände, die dagegen zu machen sind, ergeben sich aus dem über die Tuberkulin- anwendung im allgemeinen Gesagten. Eine exakte Dosierung ist natürlich nach dem Ponndorfschen Verfahren unmöglich. Üble Zufälle sind des öfteren beobachtet. So tiefere Nekrosen, die erst nach Wochen zur Abheilung kamen. Solche Zufälle sind zum Teile zu vermeiden, wenn man sich vorher durch einen Pirquet von der Tuberkulinempfindlichkeit der Haut orientiert hat. In der Augenheilkunde ist das Verfahren vielfach versucht worden. Die oft schlagartige Wirkung bei frisch ent- zündlichen Prozessen, die in der Abblassungreaktion (Heine) besteht, ist zweifellos gelegentlich von Nutzen. Gerade am Auge kommt es nicht selten auf solche schnellen therapeutischen Erfolge an, um eine möglichst baldige Beseitigung der Gefahr für das Sehen zu erzielen. Es bleibt aber zu überlegen, ob man zur Erreichung dieses Zieles nicht lieber zur parenteralen Proteinkörpertherapie greifen will, deren Wirkung nicht hinter der eines Ponndorf zurückstehen dürfte.

Zur parenteralen Eiweißtherapie verwendet man am einfachsten Kuhmilch, die man durch 10 Minuten langes Kochen im Wasserbade sterilisiert. Die in Ampullen käuflichen Spezialpräparate sind entbehrlich. Die zu injizierende Menge beträgt bei Erwachsenen 8-10 und bei Kindern 4—6 mi Injiziert wird intragluteal oder in die Bauchdecken. Die Reaktion setzt nach 6—8 Stunden ein, mit Temperaturerhöhung bis über 39 Grad. Bettruhe ist daher unbedingt erforderlich. Nach etwa 12— 16 Stunden ist das Fieber im allgemeinen abgeklungen. Je nach dem Grade der Wirkung und der Konstitution des Patienten gibt man die gleiche Dosis 3—4mal in Abständen von 1—2 Tagen. Tritt auch dann der erwünschte Erfolg nicht ein, so ist von weiteren Injektionen abzusehen.

Eine Kombination zwischen Casein und Jod stellt das Yatrencasein dar. Yatren ist Jodoxychinolinsäure und enthält etwa 30% Jod. Das Präparat ist in Ampullen in 2 Stärkegraden erhältlich. Es wird intramuskulär oder intravenös eingespritzt. Bei akuten Entzündungen wendet man Yatrencasein stark an, in Mengen von 0'5 cm? jeden zweiten Tag, steigend bis 2—3 cm?. Bei chronischen Formen beginnt man mit der gleichen Menge der schwachen Modifikation und geht eventuell zur stärkeren über. Es ist mit Erfolg bei tuberkulöser Iritis und skrofulöser Binde- und Horn- hautentzüändung angewendet worden.

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. . 34

530 A. Meesmann.

Auch das Chrysolgan ist in der Augenheilkunde anscheinend mit Vorteil benutzt worden. Man injiziert intravenös, bei Erwachsenen 01-025 g und bei Kindern 0'05 g 1—2mal wöchentlich, höchste Dosis etwa 0'3 g bis zu 8mal. Leichte Temperatursteigerung, Stomatitis und Albuminurie sind dabei beobachtet worden.

Die Strahlenbehandlung der Augentuberkulose.

Die günstige Wirkung des Sonnenlichtes besonders im Hochgebirge ist natürlich auch für die Behandlung der Augentuberkulose und Skrofulose von größter Bedeutung. Ebenso die Allgemeinbestrahlung mit künstlicher Höhen- sonne. Nach eigenen Erfahrungen ist die Wirkung der letzteren bei skrofulösen Keratitiden, wenigstens bei den schwereren Formen, nicht immer günstig. Bei allen anderen Fällen ist sie aber zur Unterstützung der allgemeinen und lokalen Be- handlung mit Vorteil heranzuziehen. Ein besonderer Schutz der Augen ist keines- wegs notwendig, es genügt, die Lider geschlossen zu halten. Hinsichtlich dieser Methoden gelten natürlich für die Augentuberkulose keine besonderen Vor- schriften.

In den letzten Jahren haben die lokalen Bestrahlungsmethoden in der Augenheilkunde immer mehr Beachtung gefunden. Sie verlangt besondere Apparate, so daß ihre Anwendung für den Allgemeinpraktiker nur selten in Frage kommen wird. Sie gibt zum Teil ausgezeichnete Erfolge. Das gilt ohne Einschränkung für die Lid- und Bindehauttuberkulose, bei der die Finsenbestrahlung die wichtigste Behandlungsmethode geworden ist. Finsen und Lundsgaard berichteten über ausgezeichnete Erfolge, denen wir eine ganze Reihe aus unserer Klinik hinzufügen können. Es ist dringend zu empfehlen, jeden Patienten mit Tuberkulose der Lider und Bindehaut der Finsenbestrahlung zuzuführen. Die Bestrahlungen haben nur bei richtiger Technik gute Erfolge und verlangen ein eingeübtes Personal. Ein besonderer Everteur (Groenholm) und ein Kühlprisma (Lundsgaard) für die Behandlung der Lider ist notwendig. Bestrahlt wird in einzelnen Etappen je 5—30 Minuten lang. Wiederholung nach Abklingen der reaktiven Entzündung, d.h. nach 8-10 Tagen. Im ganzen sind je nach Ausdehnung des Krankheitsherdes bis zu 7 Bestrahlungen notwendig.

Für die Bestrahlung des vorderen Bulbusabschnittes und des Augenhinter- grundes ist von der Firma Zeiss (Jena) ein besonderer Apparat nach den Angaben Koeppes konstruiert worden, der eine ultraviolettfreie oder doch sehr arme Bestrahlung ermöglicht. Koeppe berichtete seiner Zeit über gute Erfolge bei Tuber- kulose der Iris und des Augenhintergrundes. Unsere Erfahrung an einer sehr großen Zahl von Fällen decken sich nicht mit denen Koeppes. Der Heilwert dieser Be- strahlung scheint nur ein geringer zu sein.

Dagegen ist die von der gleichen Firma hergestellte Lampe zur Ultraviolett- bestrahlung nach Birch-Hirschfeld, deren Hauptzweck alleruings die Be- handlung des Ulcus serpens ist, auch bei Tuberkulose des Auges mit Vorteil zu benutzen. Sie besteht aus einer Mikrobogenlampe mit Quarzoptik und Uviolfilter. Das Strahlenbüschel wird mit einer Handlupe aus Quarz auf den Krankheitsherd konzentriert. Vorherige Sensibilisierung durch Einträufeln von Fluorescein oder Rose bengale 2% ist notwendig. Bestrahlt wird 5—15 Minuten 2-3 mal täglich, mit steigender Dosis, je nachdem die Bestrahlung vertragen wird. Empfehlenswert ist die Methode bei Skrofulose, bei tuberkulöser Keratitis und Skleritis.

Für die gleichen Zwecke hat Passow die Bachsche Quarzlampe empfohlen. Er bestrahlte in 60—80 cm, bei starkem Reizzustand auch in größerer Entfernung

Tuberkulose und Auge. | 531

unter Abdecken der gesunden Teile etwa 5 Minuten, jeden zweiten Tag. Die Erfolge sollen sehr gute gewesen sein.

Zu erwähnen ist dann noch, daß neuerdings von Jendralski die Röntgenbe- strahlung der Augentuberkulose experimentell wie klinisch mit besonderem Erfolg durchgeführt wurde. Der groBe Vorzug der Röntgenstrahlen besteht darin, daß man auch Herde an der Irıshinterfläche und im Ciliarkörper der Strahlenwirkung aussetzen kann, die mit anderen Strahlenarten nicht direkt getroffen werden können. Freilich ist die Gefahr einer Schädigung der Hornhaut und Netzhaut eine ziemlich große, so daß die Anwendung der Röntgenstrahlen spezielle Kenntnisse und Er- fahrungen voraussetzt, hinsichtlich der Entfernung, der Wahl der Strahlenhärte u.s. w. Die Methode wird daher ebenso wie die Finsenbestrahlung auf größere Kliniken beschränkt bleiben.

Auf die große Bedeutung der hygienischen und diätetischen Maß- nahmen sei abschließend kurz hingewiesen. Sie werden in vielen Fällen leicht auszuführen sein und dürfen über der specifischen Behandlung und der Bestrahlung nicht vergessen werden. Der Wert von Licht und Luft für die Behandlung der tuberkulösen Augenerkrankungen steht fest. Der früher vielfach erzwungene Auf- enthalt im dunklen Zimmer ist vollständig verlassen worden. Ebenso ist das Tragen von dunklen Brillen absolut unnötig, auch bei tuberkulösen Augenhintergrunds- erkrankungen. Wie bei Allg’emeintuberkulose, so ist auch bei den specifischen Er- krankungen des Auges besonderes Gewicht auf laktovegetabile, fettreiche Kost zu legen. Sie soll möglichst vitaminreich sein. Es sind daher frische Gemüse, Obst und ungekochte Butter besonders zu bevorzugen, ebenso der Lebertran.

Die außerordentliche Häufigkeit der Augentuberkulose zwingt auch den Allgemeinarzt dazu, sich mit der Klinik und Behandlung dieser Erkrankungen zu beschäftigen. Es wurde versucht, soweit das in einer kurzen Übersicht möglich ist, die Vielgestaltigkeit der Krankheitsbilder und den heutigen Stand der Behandlung klarzulegen. Bei der meist schweren Gefahr für das Sehen und der oft nicht ge- ringen Schwierigkeit der Diagnosenstellung wird bei allen Fällen nach Möglichkeit der Spezialarzt zu Rate gezogen werden müssen. Dazu kommt die heute wesentlich verfeinerte Untersuchungsmethodik, die Apparate erfordert, die dem praktischen Arzt nicht zur Verfügung stehen.

34°

Wandlungen und Probleme der Ikterusforschung. Von Prof. Dr F. Rosenthal, Breslau.

Mit dem abklingenden 19. Jahrhundert und mit dem Beginn unseres Jahrhunderts ist die Lehre vom Ikterus in einen neuen Entwicklungsabschnitt eingetreten. Er löst eine Epoche der Ikterusforschung ab, die im Jahre 1886 mit den Experimenten Minkowskis und Naunyns über das Ausbleiben des Arsenwasserstoffikterus bei leberexstirpierten Gänsen zu Ende geht, und er beginnt in den Jahren 1898 1900 mit den Untersuchungen Bantis über die Bedeutung der Milz für die Pathogenese bestimmter, mit Anämie und Ikterus einhergehender splenomegalischer Symptomen- bilder und mit der Aufstellung des Krankheitsbildes des chronischen acholurischen Ikterus durch Minkowski, das wenige Jahre später durch Chauffard und Hayem wichtige Ergänzungen erfährt. Diese Arbeiten bedeuten den Beginn der chirurgi- schen Ära für die Therapie der menschlichen Ikterusformen. Der therapeutische Erfolg der zahlreich durchgeführten Splenektonien beim hämolytischen Ikterus, bei manchen splenomegalischen Cirrhosen mit Ikterus und Anämie, bei manchen Formen der sog. Hanotschen Cirrhose, bei der perniziösen Anämie bildet zu- gleich das Experimentum crucis für die wichtige Beteiligung der Milz an der Pathogenese der hämolytischen Ikterusformen des Menschen, und aus der wachsen- den Erkenntnis heraus, daß bei gewissen Ikterusformen Leber und Milz in einem nosologischen Einheitskomplex zusammengeschweißt erscheinen, hat dann schließ- lich Eppinger in seinem grundlegenden Werk die hierher gehörigen Krank- heitsgruppen unter dem Begriff des hepatolienalen Ikterus zusammengefaßt. Unter dem Eindruck von der großen pathogenetischen Bedeutung der Milz für die Ent- stehung der nicht mechanisch bedingten, hämato-hepatolienalen Ikterusformen be- ginnt eine neue Durcharbeitung der bisherigen pathophysiologischen Grundlagen über den Bildungsort und Bildungsmechanismus des Gallenfarbstoffes. Die weiteren Etappen dieses Weges sind gekennzeichnet durch den Ausbau der Lehre von der extrahepatocellulären und extrahepatischen Bildung des Gallenfarbstoffes, die wieder- um in der Aschoffschen Lehre vom reticuloendothelialen Ikterus ihren schärfsten morphologischen Ausdruck findet, durch den Nachweis Hijmans van den Berghs von dem Vorkommen zweier verschiedenartiger Reaktionsformen des Bilirubins im Serum mechanisch bedingter und hämolytischer Ikterusformen und schließlich durch die bedeutsamen Untersuchungen der Amerikaner Mann und Magath über die Folgen der experimentellen Leberexstirpation beim Säugetier. Wiederum ist es der Kampf um die Topik der Gallenfarbstoffbildung, der genau so wie in der voraus- gegangenen Epoche der Ikterusforschung von neuem als das brennendste Problem der ganzen Ikteruslehre erscheint, und von neuem steht die im vorigen Jahrhundert heiß umstrittene und scheinbar gelöste Hauptfrage wieder im Vordergrunde der Diskussion: Ist die Leber die Hauptbildungsstätte des Gallenfarbstoffes und steht sie mithin im Mittelpunkte der gesamten Ikteruspathogenese, oder ist sie bloß Aus-

Wandlungen und Probleme der Ikterusforschung. 533

scheidungsorgan für den irgendwo und irgendwie gebildeten Gallenfarbstoff, den sie zur Excretion bringt wie etwa die Niere den Harnstoff, den Zucker, das Kreatinin?

So bedeutet eine Darstellung der neueren Probleme der Ikteruspathologie zu- nächst in erster Linie eine Beantwortung der Frage, warum die als klassisch an- gesehenen Versuche Minkowskis und Naunyns an leberlosen Vögeln nur einen Ruhepunkt in der Bearbeitung, nicht aber eine endgültige Beantwortung des Kern- problems der Ikteruspathogenese darstellen, und welche neuen Gesichtspunkte die anscheinend zwingende Beweiskraft dieser Experimente in Frage stellen. Um die Darstellung dieses Kapitels gruppieren sich dann leicht die weiteren verschieden- artigen neuen Fragestellungen, die unmittelbar aus der Vervollkommnung und dem Zuwachs unseres diagnostischen Rüstzeuges, aus der wachsenden klinischen Er- fahrung und vertieften physiologischen Einsichten fließen.

L Der Bildungsort und Bildungsmechanismus des Gallenfarbstoffes.

Geht man den letzten Ursachen nach, die nach dem heutigen. Stande der Lehre vom Ikterus von neuem das Primat der Leberzellen für die Gallenfarbstoff- bildung erschüttert haben, so ergibt sich die zunächst paradox anmutende Feststellung, . daß die gleichen Experimente von Minkowski und Naunyn, die der Theorie des hämatogenen anhepatischen Ikterus von Virchow, v. Leyden, Quincke den Boden entzogen zu haben schienen, zugleich den Anstoß zur Wiederherstellung der alten Lehre in neuerer Form gegeben haben. In der Beobachtung Minkowskis und Naunyns, daß bereits in den ersten Stunden der Arsenwasserstoffvergiftung in Leber, Milz und Knochenmark der Vögel Zellen auftreten, welche Blutkörperchen und Eisenpigment in sich tragen, und innerhalb der Leber noch außerdem Gallen- farbstoff enthalten, liegen die Keime für die nach einem Vierteljahrhundert ausgebaute Lehre von der reticuloendothelialen Entstehung des Gallenfarbstoffes und des reticuloendothelialen Ikterus. Es kann heute keinem Zweifel mehr unterliegen, daß diese globuliferen, Eisen und Biliverdin führenden endothelialen Zellen mit den Sternzellen bzw. den Zellen des Aschoffschen reticuloendothelialen Systems identisch sind, denen Kupffer in besonders hohem Grade schon eine phagocytäre Fähigkeit zuerkannt hat. Schon Naunyn und Minkowski haben dem Sternzellenapparat mit aller Bestimmtheit einen gewissen, allerdings nicht belangreichen Anteil an der Aufspaltung des Blutfarbstoffes und der Bildung des Gallenfarbstoffes zugeschrieben. Der Hauptanteil an der Gallenfarbstoffbildung kommt jedoch nach ihrer Ansicht den Leberparenchymzellen zu. Sie finden die Gallencapillaren bei der AsH,-Ver- giftung der Vögel und noch mehr bei der Toluylendiaminvergiftung der Hunde bereits zu einer Zeit prall mit Galle gefüllt, wo nach ihrer Überzeugung die Mengen der blutkörperchenhaltigen Zellen in der Leber nicht groß genug sind, als daß sie allein das Material für die bereits im Gange befindliche starke Polycholie liefern könnten. Dazu kommt weiter, daß nach ihren Befunden gelegentlich die Polycholie im histologischen Bild an den mit dunkler Galle mächtig erfüllten Gallengängen erkennbar bereits im Gange sein kann, ohne daß die globuliferen und biliverdin- haltigen Zellen in größeren Mengen in der Leber nachweisbar werden. Sie diskutieren sogar ausdrücklich die Möglichkeit, ob etwa das Aufhören der Gallenfarbstoffbildung nach der Entleberung auf die gleichzeitige Entfernung der in der Leber massenhaft angehäuften blutkörperchenhaltigen Zellen zurückzuführen sei. Sie halten aber einen solchen Einwurf nicht für stichhaltig, weil auch nach Entfernung der Erythrophagen in der Leber durch die Exstirpation des Organs die Menge der bei der AsH,-Ver- giftung im Knochenmark und in der Milz auftretenden blutkörperchenhaltigen Zellen

534 F. Rosenthal.

groß genug sein müßte, um für den Fall stärkerer eigener bilirubinbildender Fähig- keiten noch erheblichere Gallenfarbstoffmengen auch nach Leberexstirpation zu liefern. Eine weitere, in ihrer Beweiskraft später bekämpfte Stütze für die überragende Be- deutung der Leberzellen bei der Gallenfarbstoffbildung sehen Minkowski und Naunyn schließlich auch darin, daß bald in den ersten Stunden der AsH,- und Toluylendiaminvergiftung bei schwacher Eisenablagerung in den Kupfferschen Stern- zellen sich starke Eisenanhäufungen in den Leberzellen finden, die nach anfänglicher gleichmäßiger intracellulärer Verteilung bald nach den den Gallencapillaren zu- gewendeten Zellrändern abwandern. Hiernach scheint nach dem histologischen Bilde die für die Gallenfarbstoffbildung notwendige Eisenabspaltung aus dem Hämoglobin sich in der Hauptsache in den Leberparenchymzellen zu vollziehen. Man sieht, es sind somit mehr Schlußfolgerungen als unmittelbare positive Beweise, die Minkowski und Naunyn dazu veranlaßten, den Hauptanteil an der Bildung des Gallenfarb- stoffes den Leberzellen zuzuschreiben, und in dem Satz: „Hiernach halten wir es für sehr wahrscheinlich (in der Originalarbeit nicht gesperrt gedruckt), daß auch in den Leberzellen die Zersetzung des Blutfarbstoffes und die Bildung von Gallen-

=- _farbstoff vor sich geht, und in vielen Fällen sogar die weit überwiegende Rolle

spielt“, liegt, wenn man will, zugleich das eigene Eingeständnis, daß über den Ort der Gallenfarbstoffbildung auch mit diesen Versuchen nicht das letzte, abschließende Wort gesprochen ist.

In der folgenden Zwischenzeit zwischen den Minkowski-Naunynschen Untersuchungen und den Arbeiten der Aschoffschen Schule, die in die Lücken der Beweisführung der Minkowski-Naunynschen Experimente eingreifen, setzen die farbanalytischen Studien Ehrlichs ein, die von dem Grundgedanken ausgingen, Zusammenhänge zwischen Farbe und Organzellen zu finden, um durch das Studium der chemischen Affinitäten zwischen Farbkörper und Zellsubstrat zu tieferem Ein- blick in den Bau und die verwandtschaftlichen Beziehungen der Zellen zu gelangen. Die Etappen dieses Weges sind unter anderm gekennzeichnet durch die Entdeckung der specifischen Färbbarkeit der Leukocytengranula, durch die vitale Färbung bestimmter Bezirke des Nervensystems durch Methylenblau, durch die Auffindung der specifischen Färbbarkeiten charakteristischer Gewebskomplexe, wie Cuticularsubstanzen, Fett durch bestimmte Farbstoffe. Die Anwendung der farbanalytischen Studien Ehrlichs auf das Problem der Chemotherapie der Geschwülste schafft die Bausteine für den Ausbau der späteren Lehre vom reticuloendothelialen Ikterus. Auf Ehrlichs Ver- anlassung prüft Goldmann das Pyrrolblau, das Trypanblau, das Isaminblau, die zwar keine tumorzerstörende Wirkung entfalten, aber abgesehen von einer lang- anhaltenden Blaufärbung des ganzen Tieres infolge langanhaltenden Persistierens des Farbstoffes in der Blutbahn ein großes, über den ganzen Organismus verbreitetes, in Milz und Leber besonders deutlich ausgeprägtes Zellsystem vital färben, die Pyrrolzellen Goldmanns. Während die eigentlichen Parenchymzellen der Organe ungefärbt bleiben, finden .sich nach den Injektionen in den Endothelien der Pfortader dunkelblaue Granula, ferner nehmen die Kupiferschen Sternzellen der Leber, bestimmte Reticulumzellen der Milz, die zwischen den Lymphocyten der Follikel liegen, die Stäbchenzellen, die die. Sinus umfassen, den Farbstoff in sich auf. Die Endothelien des Knochenmarkes, der Lungengefäße, die Capillarenendothelien der Nebennieren und der Lymphknoten, die Makrophagen der Haut und des Bindegewebes, die adventitiellen Zellen Marchands, die Leydigschen Zellen der Keimdrüsen speichern gleichfalls den Farbstoff kurz, der intracellulär zur Ablagerung gelangende Farbkörper wird zum Indikator für ein in seiner biochemischen Struktur weitgehend

Wandlungen und Probleme der Ikterusforschung. 535

übereinstimmendes, im Körper überall verstreutes, an besonderen Prädilektionsstellen in Leber und Milz sich anhäufendes Gewebe. Wachsende Bedeutung gewinnt dann dieses Gewebssystem mehrere Jahre später durch die Untersuchungen der Aschoff- schen Schule, die dem endothelialen Apparat nicht nur eine hohe phagocytäre Funktion für eingeführte Vitalfarbstoffe, z. B. auch das Lithioncarmin (Kiyono), sondern auch eine wichtige physiologische aktive Anteilnahme am Pigment-, Eisen- und Cholesterinstoffwechsel zuschreibt.

In engere Beziehungen zu der Lehre vom Ikterus tritt dann dieses Zellsystem, das Aschoff und Landau unter dem Begriff des reticuloendothelialen Apparates zusammenfassen, mit den Untersuchungen McNees und der Arbeit Lepehnes über die Cupierung des AsH,-Ikterus der Vögel durch die sog. Blockade der Kupffer- schen Sternzellen. Bei einer Wiederholung der Experimente von Minkowski und Naunyn kommt McNee zwar zu einer prinzipiellen Bestätigung ihrer Ergebnisse, aber, fußend auf den inzwischen fortgeschrittenen Kenntnissen über die Funktionen des endothelialen Apparates, gibt er ihnen eine andere, auch für die Klinik bedeutungs- volle Auslegung. Nach ihm bleibt der As H,-Ikterus in entleberten Gänsen nicht deshalb aus, weil die Leberzellen entfernt sind, sondern weil gleichzeitig mit ihnen die Kupfferschen Sternzellen entfernt sind. Sie stellen das eigentliche blutzerstörende und gallenfarbstoffbildende Gewebe dar, das bei Vögeln besonders stark in der Leber ausgebildet ist, weil im Gegensatz zu anderen Tierklassen wegen der Kleinheit der Vogel- milz der extrahepatische Anteil des reticuloendothelialen Zellsystems nur relativ gering ist. Er stützt seine Hypothese von den gallenfarbstoffbildenden überragenden Funktionen der Reticuloendothelien auf die Beobachtung, daß schon normalerweise bei Tauben und Gänsen die Kupfferschen Sternzellen eine diffuse Eisenreaktion geben und eine mehr oder weniger reichliche Phagocytose roter Blutkörperchen aufweisen. Da aber Gallenfarbstoff normalerweise in den Sternzellen histochemisch nicht nachweisbar war, nimmt McNee an, daß der in den Reticuloendothelien gebildete Gallenfarb- stoff rasch wieder ausgeschieden wird, nachdem aus den gespeicherten Erythrocyten das Eisen abgespalten sei. Erst bei überstürztem Blutuntergang, wie beim AsH,- Ikterus der Vögel, tritt die hervorragende Rolle der Kupfferschen Zellen bei der Gallenfarbstoffbildung auch histochemisch deutlich in die Erscheinung. Man sieht jetzt in den Sternzellen neben den Erscheinungen der Erythrocytose und Hämosiderose das Auftreten von Gallenfarbstoff, der nicht als ein phagocytiertes, sondern als ein autochthones endotheliales Produkt aufgefaßt wird. Solche gallenfarbstofführende Zellen finden sich jetzt auch in der Milz, wo sie übrigens Minkowski und Naunyn in ihren Versuchen nicht angetroffen haben; sie werden besonders aus der Leber desquamiert in den Blutstrom verschleppt und häufen sich in großer Zahl in den Lungencapillaren an, wo sie teilweise Auflösungsprozessen unterliegen. Aus den zerfallenden Zellen tritt alsdann Gallenfarbstoff frei in die Circulation über, so daß also unter Berücksichtigung dieser Befunde bis zu einem gewissen Grade in über- tragenem Sinne von einem „hämatogenen“ Ikterus gesprochen werden könnte. Aller- dings bleibt auch noch eine weitere, von McNee als wenig wahrscheinlich an- gesehene Möglichkeit zu erwägen, daß nämlich das eisenfreie Produkt, das die Stern- zellen aus dem Hämoglobin abspalten, nur eine Vorstufe des Gallenfarbstoffes dar- stellt, die erst bei der Passage durch die Leberzellen in den fertigen Farbstoff über- führt wird. Jedenfalls leitet Aschoff aus diesen Beobachtungen seines Schüler McNee den Schluß ab, daß zum mindesten im Vogelorganismus der endotheliale Apparat vornehmlich der Leber eine wesentliche Rolle bei der Gallenfarbstoffbildung und beim Zustandekommen des Ikterus spiele. |

536 F. Rosenthal.

Man wird gleich hier kritisch einschalten dürfen, daß die Deutung, die McNee den Versuchen von Minkowski und Naunyn gibt, an dem bereits erwähnten ge- wichtigen Einwande der beiden Autoren vorübergeht, daß die in Milz und Knochen- mark zurückbleibenden blutkörperchenhaltigen endothelialen Zellen für den Fall eigener bilirubinbildender Fähigkeiten auch nach Leberexstirpation erheblichere Gallen- farbstoffmengen zu liefern imstande wären, und daß das Ausbleiben des As H,-Ikterus nach der Entleberung daher nicht auf die gleichzeitige Entfernung der in der Leber vorhandenen endothelialen Erythrocyten zurückgeführt werden könnte. Erkennt man diese Beobachtungen Minkowskis und Naunyns als richtig an, so bleibt für die McNeesche Auffassung nur die allem Anscheine nach auch gezogene Konsequenz übrig, daß im Rahmen des reticuloendothelialen Systems den Kupfferschen Stern- zellen eine nicht nur durch die Masse, sondern auch durch die Specifität der Zell- funktion erklärbare überragende Rolle bei der Gallenfarbstoffbildung zukommt. Das im reticuloendothelialen Stoffwechselapparat von Aschoff-Landau zusammengefaßte Zellsystem erfährt allerdings damit eine Differenzierung seiner Funktionen, wodurch seine biologische Einheitlichkeit in Frage gestellt wird (vgl. auch Schilling).

Den aus den histologischen Befunden gezogenen Schlußfolgerungen McNees über die gallenfarbstoffbildenden Fähigkeiten des Kupffer-Zellensystems hat dann Lepehne im Aschoffschen Institut auch die experimentelle Stütze zu geben ver- sucht. Ausgehend von der Feststellung Cohns, daß die Kupfferschen Sternzellen unmittelbar nach intravenöser Collargolinjektion fast blitzartig das Collargol in sich speichern, legte sich Lepehne die Frage vor, ob nicht eine hochgetriebene Collargol- speicherung zu einer funktionellen Lähmung bzw. Beeinträchtigung der so gefüllten endothelialen Zellen führe, d.h. ob man nicht hierdurch die Erythrophagocytose und die hieran sich anschließende Gallenfarbstoffbildung unterbinden und damit den Eintritt des Arsenwasserstoffikterus verhindern könne. Die sichtbare Folge der Silberspeicherung im Sternzellenapparat war bei AsH,-vergifteten Tauben eine An- häufung von zusammengesinterten, durch die Hämolyse freigewordenen Kernen der Erythrocyten in Form von Emboli, die sich in allen Gefäßbezirken, besonders in der Lunge, vorfanden. Solche Bilder fehlten bei Kontrolltauben, die nur mit Arsen- wasserstoff behandelt waren, da hier die Sternzellen und die Milz die geschädigten Erythrocyten aufgenommen hatten. Da grünes Pigment in den collargolerfüllten Kupfferschen Zellen vollständig fehlte und die grünen, biliverdinhaltigen Zellen im Gegensatz zu den Kontrolltauben nirgends zu finden waren, so schloß Lepehne aus seinen Versuchen weiter, daß entsprechend dgn Vorstellungen Aschoff-McNees von den ikterogenen Funktionen des endothelialen Zellapparates die Collargol- speicherung der Reticuloendothelien in der Tat das Auftreten des Arsenwasserstoff- ikterus verhindert habe und daß die Collargolblockade die reticuloendothelialen Zellen in ihrer gallenfarbstoffbildenden Tätigkeit funktionell gelähmt habe.

Unabhängig von Lepehne hat auch Eppinger, wie erin seinem Werke über die hepatolienalen Erkrankungen angibt, den Einfluß einer intensiven Eisenspeicherung des Sternzellenapparates auf die Bilirubinausscheidung des mit Toluylendiamin ver- gifteten Gallenfistelhundes untersucht. Als Speicherungsmittel verwendete er die intra- venöse Injektion einer ca. 50 % igen Lösung von Ferrum oxydatum saccharatum. Auch er glaubte ebenso wie Lepehne feststellen zu können, daß durch die Eisenblockade der Reticuloendothelien die Gallenfarbstoffbildung auf das Nachdrücklichste beein- trächtigt würde. In ähnlicher Weise sollte auch eine nach intensiver Cholesterin- fütterung auftretende Cholesterinspeicherung im Endothelsystem die beim Kaninchen nach Toluylendiaminvergiftung auftretende Anämie verhindern. In diesen sich auf

Wandlungen und Probleme der Ikterusforschung. 537

einem geringen Beobachtungsmaterial aufbauenden Ergebnissen sieht auch Eppinger eine Stütze dafür, daß eine intensive Speicherung des Sternzellenapparates eine erhebliche Beeinträchtigung seiner cellulären Funktionen herbeiführe und daß das reticuloendotheliale System eine wesentliche Rolle bei der Gallenfarbstoffbildung und der Ikteruspathogenese spiele. Auch Marin will sowohl bei der Taube wie beim Hunde nach Collargolblockade der Kupffer-Zellen ein Ausbleiben des AsH,- Ikterus beobachtet haben.

Die Allgemeingültigkeit dieser Befunde erscheint jedoch schon in den Versuchen Lepehnes dadurch in Frage gestellt, daß beim Kaninchen trotz Collargolblockade, selbst in Kombination mit der Milzexstirpation, das Auftreten des AsH,-Ikterus nicht verhindert wurde. Dazu kommt, daß das histologische Bild des AsH,-Ikterus beim Kaninchen weder in den Kupffer-Zellen, noch in den Milzendothelien irgendwelche Veränderungen und Anzeichen einer Gallenfarbstoffbildung, allerdings auch nicht in den Leberzellen darbot, so daß der mikroskopische Nachweis für eine nähere Beteiligung der Reticuloendothelien an dem Umbau des Hämoglobins und der Bildung des Gallenfarbstoffes wenigstens für das Kaninchen nicht als erbracht an- gesehen werden darf. Die Annahme Lepehnes, daß beim Kaninchen vielleicht eine Umwandlung des Hämoglobins in Bilirubin im strömenden Blute vor sich gehe, daß also hier humorale Vorgänge am Werke seien, zeigt zum mindesten, wie ungesichert unsere Kenntnisse über die endothelialen Funktionen bei den einzelnen Tiergruppen sind und wie wenig statthaft noch eine Übertragung der beim Vogelorganismus erhobenen Befunde auf die klinische Pathologie des Menschen erscheint. Es bleibt auch für die hypothetische reticuloendothelialen Vorgänge der Gallenfarbstoff- bildung bei den Vögeln ferner der Einwand bestehen, daß es schwer vorstellbar ist, daß hinsichtlich einer so kardinalen Funktion, wie sie allem Anscheine nach die Bilirubinproduktion darstellt, so weitgehende Bildungsvarianten des Gallenfarb- stoffes bei verschiedenen Tieren bestehen sollten.

Trotz dieser Schwierigkeiten würden die Blockierungsversuche von Lepehne und Eppinger ein entscheidendes Argument zu gunsten der Aschoffschen Lehre von der reticuloendothelialen Entstehung des Gallenfarbstoffes und gewisser hämo- Iytischer Ikterusformen zum wenigsten bei Vögeln und beim Hunde bilden, wenn ihre Ergebnisse als gesichert zu betrachten wären und sie eine eindeutige Beweis- kraft beanspruchen könnten. Von beiden kann gegenwärtig keine Rede sein. Wie die gleichzeitig und unabhängig voneinander ausgeführten Untersuchungen von Rosenthal, Melchior und Fischer, Bieling und Isaac gezeigt haben, ist ent- gegen Lepehne und Eppinger die intravitale Verstopfung der Reticuloendothelien ohne nachweisbaren vermindernden Einfluß auf die Gallenfarbstoffbildung bei Vögeln und Säugern, u. zw. sowohl unter normalen wie pathologischen Bedingungen. Test- objekt dieser Untersuchungen war der Ponficksche Cholaskos nach Gallengangs- zerreißung bei der Taube, der mechanische Ikterus bei Vögeln nach Choledochus- ligatur, der Toluylendiaminikterus beim Hunde und bei der Katze und der Hämo- lysinikterus bei der Maus und beim Hunde. Ganz besondere Beweiskraft für die Einflußlosigkeit einer noch so hoch getriebenen Blockierung des Reticuloendothel- systems für die Gallenfarbstoffbildung dürfte den Versuchen über die Gelbsucht nach specifischer Hämolysinvergiftung und über den Toluylendiaminikterus der Katze zukommen. Besonders das klinische Bild der Toluylendiaminvergiftung der Katze zeigt so weitgehende Analogien zu dem Symptomenbild des AsH,-Ikterus der Vögel, daß sich über das Experiment an der Katze eine besonders beweis- kräftige Beantwortung der Frage über den Einfluß der Sternzellenblockade auf dic

538 F. Rosenthal.

Gallenfarbstoffbildung beim Säugetier eröffnete. Zu den gleichen negativen Ergeb- nissen ist neuerdings auch Kodama im Aschoffschen Institut gelangt. Er fand bei Hunden nach Collargolspeicherung und gleichzeitiger Toluylendiaminvergiftung nicht nur keine Herabsetzung der Gallenfarbstoffbildung, sondern die Hyperbili- rubinämie trat sogar etwas früher als bei nicht gespeicherten Hunden in die Er- scheinung. Ellek berichtet allerdings über eine Herabdrückung der Bilirubinaus- scheidung bei Gallenfistelhunden unter dem Einfluß einer Eisenspeicherung des Reticuloendothelsystems, doch sind abgesehen von anderen Gründen, auf die wir noch zurückkommen, seine Ergebnisse so schwankende, daß man aus seinen Versuchs- resultaten mit dem gleichen Rechte den entgegengesetzten Schluß einer Einflußlosig- keit der Blockierung ziehen könnte. Da außerdem das Absinken der Oallenfarbstoff- sekretion öfters von einer Hyperbilirubinämie begleitet wird, ist nicht ohneweiters der Verdacht auszuschließen, daß das Versiegen der Gallenfarbstoffausscheidung mit einer zeitweiligen Verlegung der Gallenwege oder mit funktionellen Störungen der Leber- zellen, die bei massiver Eisenzufuhr gleichfalls Eisengranula aufweisen, in Zusammen- hang stehen kann. Übrigens hat Greppi keinen Einfluß der Eisenblockade der Reticuloendothelien auf die Gallenfarbstoffausscheidung beim Fistelhunde beobachtet.

Selbstverständlich wird mit den Ergebnissen der Arbeiten von Rosenthal und Melchior, Rosenthal und Fischer, Bieling und Isaac, so sehr sie auch die bisherige experimentelle Basis der Lehre vom reticuloendothelialen Ikterus erschüttern, das Problem der extrahepatocellulären bzw. reticuloendothelialen Bildung des Gallenfarbstoffes nicht in irgend einem Sinne beantwortet. Die negative Fest- stellung von der Wirkungslosigkeit der Reticuloendothelialspeicherung für die Gallen- farbstoffproduktion ist noch kein zwingender positiver Beweis gegen eine wichtige Rolle des Sternzellenapparates bei der Ikteruspathogenese, Es bleibt immer die Möglichkeit offen, wie wir dies früher schon und auch Bock in seinem Referat über das Problem der Gallenfarbstoffbildung und des Ikterus betont haben, daß auch eine noch so intensive Blockierung des Reticuloendothels nicht die physio- logischen und pathologischen bilirubinbildenden Funktionen dieses Gewebssystems aufzuheben braucht, ja, daß, worauf eine Reihe neuerer Erfahrungen hinweisen, die Stapelung der Reticuloendothelien bei vielen Tieren zu einer Steigerung der Funk- tionen dieses Gewebssystems führen kann. So führt, um ein Beispiel anzuführen, die Eisenblockade bei der milzexstirpierten Maus nach Bieling und Isaac zu einer Aufhebung der specifischen Immunkörperproduktion, während bei dem in gleicher Weise behandelten Kaninchen die specifische Antikörperbildung öfters sogar eine ausgesprochene Förderung erfährt (Rosenthal und Fischer, Standenath, Rosen- thal, Moses und Petzal). Es ist weiter möglich, wie dies Aschoff ausführt, daß die für die Bilirubinbildung notwendigen fermentativen Leistungen sich nicht bloß innerhalb der Reticuloendothelien vollziehen, sondern daß auch die hierbei wirk- samen Fermente in die Circulation entlassen werden und hier humorale Umbildungs- vorgänge auslösen, und daß diese intracellulären und exkretorischen Endothelfunk- tionen sich mit ganz wechselnder Intensität bei den verschiedenen Versuchstieren an der Oallenfarbstoffbildung beteiligen. So wäre es nach Aschoff an sich denkbar, daß z.B. bei der Taube, bei welcher das Hämoglobin direkt von den Reticulo- endothelien aufgenommen und intracellulär weiterverarbeitet wird, durch die Speiche- rung die phagocytäre Eigenschaft für die Erythrocyten gelähmt, dagegen die Aus- scheidung wirksamer bilirubinogener Fermente erhöht wird.

Alle diese Argumente lassen sich gewiß zu gunsten der Möglichkeit einer reticuloendothelialen Anteilnahme an der Gallenfarbstoffproduktion ins Feld führen,

Wandlungen und Probleme der Ikterusforschung. 539

aber sie ändern im Grunde genommen nichts mehr an der Tatsache, daß die Methode der sog. Blockierung sich für die Erforschung der Bedeutung des Reticuloendothel- systems bei der Bilirubinproduktion nicht als gangbar erwiesen hat und daß es bisher bei keinem Tier einwandfrei gelungen ist, auch nur mit annähernder Gesetz- mäßigkeit durch Reticuloendothelblockade die Gallenfarbstoffbildung zu unterbinden. Aber gesetzt auch den Fall, daß es sich in den Blockadeversuchen von Lepehne und Eppinger nicht bloß um Zufallsbefunde gehandelt haben sollte, würde an- gesichts der Komplexität der mitspielenden Faktoren die Herabdrückung der Gallen- farbstoffproduktion nicht als zwingender Beweis für die reticuloendotheliale Genese des Bilirubins erscheinen können. Wir erwähnen nur kurz unser bereits früher geäußertes Bedenken toxikologischer Art, das an die Untersuchungen von Locke- mann, Meissner anknüpft, wonach Silberverbindungen, einschließlich Collargol ein in vitro hochwirksames Antidot gegenüber Arsenwasserstoff darstellen. Es wäre daher nicht ganz auszuschließen, daß eine gewisse Abschwächung des AsH,-Ikterus durch Collargol auch im lebenden Organismus stattfinden könne, auch ohne daß hierbei eine funktionelle Lähmung der Kupffer-Zelle durch Collargolblockade vor- zuliegen braucht. Weit wichtiger erscheint es uns, daß die Alternative Kupffer- Zelle oder Leberparemchymzelle über den Weg der Blockierung überhaupt kaum einer Entscheidung zugänglich gemacht werden kann, weil auch die Parenchymzelle der Leber an der intravitalen Stapelung des Blockademittels teilnimmt. Alle Speicherungsversuche am Reticuloendothel machen stillschweigend die durchaus unbewiesene Voraussetzung, daß der im Vordergrunde stehende histochemische Befund und der biologische Zelleffekt sich ohneweiters decken, daß mit anderen Worten die im wesentlichen zur sichtbaren Speicherung im Reticuloendothel führende intravenöse Injektion sich wirklich nur als Reiz oder Lähmung am endothelialen Zell- apparat auswirkt. Die Teilwirkungen auf das hämatopoetische System sind unter anderm von Nissen beschrieben worden. Wie ferner Voigt gezeigt hat, sind schon wenige Stunden nach intravenöser Collargoinjektion massenhaft Silbergranula mittels der Dunkelfeldmethode auch in den Leberzellen nachweisbar, und damit entsteht natürlich für den Fall einer Beeinflussung der Gallenfarbstoffbildung sofort die Kardinalfrage, ob diese Veränderung nur durch eine Alteration der Reticuloendothelien oder auch der Leberzellen zu stande kommt. Es bleibt weiter zu berücksichtigen, daß das Schutz- kolloid des Collargols, dem entsprechend seinem Eiweißcharakter auch anaphylakto- gene Eigenschaften zukommen (vgl. Boettner), vielleicht auch unmittelbare Ein- wirkungen auf die Leberzelle auszuüben vermag. Wenigstens haben wir in Analogie zu den Beobachtungen von Pick und Hashimoto, Bieling und Gottschalk, Freund, die nach Zufuhr von artfremdem Eiweiß als Zeichen einer latenten Leber- schädigung einen Anstieg des inkoagulablen Stickstoffes in der Leber feststellten, wiederholt auch in den ersten Tagen nach massiger Collargolbehandlung eine Zu- nahme des Rest-N in der Meerschweinchenleber gesehen. Auch nach wiederholter massiger intravenöser Injektion des zur Blockierung von Eppinger vorgeschlagenen Ferrum oxydatum saccharatum kann man, abgesehen von einer in ihrer Stärke wechselnden Hyperämie der Leber, auch in den Parenchymzellen häufig feinkörnige Eisenablagerungen nachweisen.

Man sollte meinen, daß die Frage der funktionellen Lähmung der Reticulo- endothelien mittels Blockade durch Prüfung des phagocytären Vermögens bereits gestapelter Sternzellen unter relativ übersichtlichen Verhältnissen zu beantworten wäre. Der Nachweis Lepehnes, daß nach intensiver Collargolblockade die Kupffer- schen Sternzellen gewissermaßen aus reinem Platzmangel keine so großen Körper

540 F. Rosenthal.

wie die Vogelblutkörperchen mehr in sich aufzunehmen vermögen, würde an sich noch nicht die Aufnahme kleinerer corpusculärer Elemente wie Erythrocytentrümmer und Hämoglobinschollen ausschließen. Merkwürdigerweise hat diese wichtige, das Grundproblem der Blockade tief berührende Frage bis in die jüngste Zeit hinein keine eindeutige Beantwortung erfahren, obwohl schon Schuleman und Goldmann in ihren ausgezeichneten Arbeiten gelegentlich darauf hingewiesen haben, daß z.B. Sternzellen, die schon saure Vitalfarbstoffe gespeichert haben, noch nachträglich Tuschekörnchen zu phagocytieren vermögen. Kann man zwar gegen diese Beob- achtungen, die unter anderen experimentellen Gesichtspunkten erhoben worden sind, einwenden, daß hier die primäre Stapelung nicht genügend hoch getrieben ist, um eine sekundäre Speicherung zu verhindern, so zeigen auch in gleicher Weise die Arbeiten von Seifert, Siegmund und ganz besonders die Untersuchungen von Petroff und Kuszynski, der zum Teil auf hinterlassenen Befunden Goldmanns fußt, daß eine noch so starke Überfüllung der Kupfferschen Sternzellen mit kolloidalen Teilchen anscheinend keine wesentliche Verminderung der phagocytären Leistungen dieses Zellsystems im Gefolge hat. Im Gegenteil, nach Kuszynski soll eine Steigerung der resorptiven Prozesse im Reticulum nicht selten sogar eine Förderung der phagocytären Funktionen für andere Substanzen herbeiführen. Im Gegensatz zu diesen Befunden, denen auch die Feststellungen Anitschkows bei cholesteringespeicherten Endothelien anzureihen wären, stehen die Resultate Nissens, welcher bei vorangehender Elektroferrolbehandlung und anschließenden Lithion- carmin-Injektionen keine Doppelspeicherung in den Reticuloendothelien feststellen konnte. Auch unsere eigenen Erfahrungen sprechen im Sinne der Mehrzahl der Autoren, daß eine wirkliche effektive Blockierung des Gesamtsystems der Reticulo- endothelien, eine biologisch bedeutsame Behinderung ihrer phagocytären Eigenschaften selbst nach maximaler Behandlung der Tiere, wenigstens soweit das Kaninchen in Betracht kommt, nicht durchführbar ist. Fügen wir noch hinzu, daß während der Blockierung eine bei den verschiedenen Versuchstieren im einzelnen vorläufig nicht zu übersehende kompensatorische Reizwucherung des reticuloendothelialen Apparates stattfindet, die von sich aus eine effektive Blockade illusorisch machen könnte, so dürften die Schwierigkeiten hinreichend beleuchtet sein, die der praktischen Durch- führung einer wirklichen funktionellen Ausschaltung des Reticuloendothelsystems auf dem Wege der Fremdkörperstapelung in den Endothelien entgegenstehen.

Es darf für eine Kritik der Aschoffschen Lehre vom reticuloendothelialen ikterus nicht unerwähnt bleiben, daß unter den hauptsächlich in Betracht kommenden Versuchstieren anscheinend allein der Maus eine gewisse Ausnahmestellung zukommt, als es bei ihr nach vorausgehender Milzexstirpation doch in der Tat gelungen ist, durch Eisenfüllung des restierenden Reticuloendothels gewisse endotheliale Partial- funktionen zur Ausschaltung zu bringen. Wir verweisen hier auf die Arbeiten von Bieling und Isaac über die Aufhebung der specifischen Immunkörperproduktion bei der milzlosen und eisenblockierten Maus, auf die Untersuchungen von Pfeiffer und Standenath über die Coupierung der intraperitonealen Trypsinvergiftung und auf die Befunde von Rosenthal und Spitzer, wonach die Bildung der nach Menschenseruminjektion in der Maus auftretenden trypanociden Stoffe, die die experimentelle Trypanosomeninfektion zur Abheilung bringen, nach Reticuloendothel- blockade unterbleibt. Es mag dahingestellt bleiben, inwieweit solche Lähmungen von endothelialen Teilfunktionen bei der Maus zum Teil durch die vorher erfolgende Ent- fernung der gerade hier besonders groß entwickelten Milz ermöglicht werden, mit welcher vielleicht hier ein in seiner Menge gegenüber dem restierenden Reticuloendothel

Wandlungen und Probleme der Ikterusforschung. 541

überwiegender Anteil des endothelialen Systems entfernt wird; jedenfalls bleibt es bemerkenswert, daß, wie die bereits angeführten Untersuchungen Bielings und Isaacs beim Hämolysinikterus der Maus gezeigt haben, die Blockade der Reticulo- endothelien trotzdem nicht einmal bei dem einzigen Tier, bei welchem die Läh- mung endothelialer Funktionen im Bereich der Möglichkeit liegt, die Gallenfarb- stoffbildung aufzuheben vermag. `

Aus allen diesen Darlegungen dürfte wohl hinreichend ersichtlich sein, daß das experimentelle Fundament zur Begründung der Lehre von der reticuloendothe- lialen Genese des Gallenfarbstoffes vorläufig nicht ausreicht. Damit stehen wir aber wiederum vor der alten Frage, die schon Minkowski und Naunyn beschäftigt hat, und bei deren verschiedenartiger Beantwortung sich seinerzeit die Lehre des reticuloendothelialen Ikterus von der Lehre der hepatogenen, hepatocellulären Ent- stehung jeder Ikterusform geschieden hat: Reichen die histologischen Befunde der erythrophagen und sideroferen Endothelzellen, die beim Arsenwasserstoffikterus gleichzeitig Biliverdin in sich bergen, für sich allein aus, um die Beteiligung der Reticuloendothelien an der Gallenfarbstoffbildung wenigstens für den Vogelorganis- mus einigermaßen zu sichern? Wenn auch Minkowski und Naunyn, die Entdecker dieses Phänomens, aus gewissen Erwägungen heraus geneigt gewesen sind, eine begrenzte Gallenfarbstoffproduktion in diesen Zellen anzuerkennen, so vermag doch die gewaltige phagocytäre Kraft der Sternzellen diese Vorgänge auch ohne die Annahme einer erheblicheren endothelialen, extrahepatocellulären Gallenfarbstoff- bildung befriedigend zu erklären. Berücksichtigt man, mit welcher Heftigkeit die Kupfferschen Zellen alle Arten von Substanzen, die ihnen als Fremdkörper (Vital- farbstoffe, kolloide Metalle, Bakterien) oder als Stoffwechselprodukte (Cholesterin, Gallenpigment, Eisenpigment, Erythrocyten und ihre Trümmer) zugeführt werden, blitzartig in sich speichern und konzentrieren, so wird man in der Anhäufung von Gallenpigment und Hämosiderin in den Reticuloendothelien auch beim AsH,-Ikterus nicht notwendigerweise den Ausdruck einer intracellulären endothelialen Gallen- farbstoffbildung sehen müssen, sondern zum mindesten mit der gleichen Berechtigung ein Phänomen einer mächtigen Phagocytose, kraft der die Sternzellen den Kreislauf von blutfremden Substanzen zu befreien versuchen. Dafür spricht auch das Auftreten von Oallencylindern in den Reticuloendothelien, die mit Sicherheit durch Phagocytose in die Zellen hineingelangt sind. Das in den Sternzellen beim AsH,-Ikterus der Vögel erscheinende Biliverdin braucht somit nicht Ursache, sondern kann mit dem gleichen Recht auch Folge des Ikterus sein, und die Auflösung der biliverdinhaltigen Endothelzellen im Kreislauf braucht nicht, wie die Aschoffsche Schule will, Anfang des „hämatogenen“ AsH,-Ikterus zu sein, sondern kann auch das Ende eines Zell- vorganges bedeuten, bei dem Gallenfarbstoff, der Circulation durch Phagocytose ursprünglich entrissen, durch Zellauflösung wieder in die Blutbahn zurücktritt. Das Hämosiderin und Biliverdin der Kupfferschen Zellen ist im Sinne dieser Auffassung weniger autochthones, als vielmehr exogenes Produkt. Damit münden wir in eine Auffassung hinein, die z. B. von Nathan und Schilling vor den Arbeiten der Aschoffschen Schule aufgestellt worden ist, und die sich dahin zusammenfassen läßt, daß den Sternzellen die Bedeutung eines endothelialen Schutzapparates für den Kreislauf und die Leberzellen zukommt, daß sie gleichsam als Türhüter vor die Leberparenchymzelle gestellt sind, um die Leberzelle vor seiner Überflutung . mit Ausscheidungsprodukten mannigfacher Art zu bewahren.

So zeigt eine kritische Betrachtung auch der histologischen Grundlagen der Lehre von den ikterogenen Funktionen der Reticuloendothelien, mit welchen Schwierig-

542 | F. Rosenthal.

keiten die Deutung der histologischen Details bei der endothelialen Erythrophago- cytose bis zum intracellulären Auftreten des Gallenfarbstoffes zu kämpfen hat und wie von einer Eindeutigkeit dieser Bilder in irgend einem Sinne keine Rede sein kann. Wenn neuerdings Kodama unter Aschoffs Leitung im Verfolg der feineren Vorgänge in den Sternzellen bei der AsH,-Vergiftung der Tauben zuerst eine gewaltige Erythrophagocytose und um die Zeit des ersten Erscheinens von Gallen- farbstoff im Blute das Auftreten von Granula mit Eisenreaktion in den Endothelien beobachtete, so stellen diese Befunde gewiß bemerkenswerte Argumente zu gunsten eines endothelialen Hämoglobinumbaues dar, zur Frage der endothelialen Gallen- - farbstoffbildung und gegen die Theorie vom Primat der Leberparenchymzellen bei der Bilirubinproduktion vermögen sie nichts Beweiskräftiges auszusagen.

In dem ganzen Streit um die Topik der Gallenfarbstoffbildung, soweit sie überhaupt durch histologische Befunde erschlossen und geklärt werden kann, sind ältere Befunde wir greifen nur die Arbeiten von Browicz, Loewit, Tirmann, Lintwarow heraus in Vergessenheit geraten, wonach auch bei den Leber- zellen unter den Bedingungen eines toxischen Blutzerfalls ein nicht unbeträcht- liches phogacytäres Vermögen für rote Blutkörperchen und ihre Trümmer nach- zuweisen ist. Heinrichsdorff hat diese Untersuchungen wieder aufgenommen mit dem Ergebnis, daß die globuliferen Zellen beim Arsenwasserstoffikterus der Tauben nicht einheitlicher Abstammung seien, daß sie sich nicht nur aus endothelialen Sternzellen, sondern auch aus Leberparenchymzellen zusammensetzen, die sich gleich- falls mit roten Blutkörperchen und ihren Zerfallsprodukten beladen und in das Lumen der Lebercapillaren abgestoßen werden können. In solchen mit Erythrocyten erfüllten Leberparenchymzellen finden sich intrahepatocellulär gleichfalls Abbau- produkte des Hämoglobins bis zu Eisengranula und gallenfarbstoffähnlichen Pigment- stufen. Sollten diese Befunde in diesem Umfange zu Recht bestehen, dann wird der auf histologischem Gebiete ausgefochtene Kampf um den Ort der Gallenfarbstoff- bildung eigentlich gegenstandslos. Dann bleibt die nicht mehr histologisch erfaß- bare Frage noch zu beantworten, in welchen quantitativen Relationen die reticulo- endotheliale und die hepatocelluläre Gallenfarbstoffbildung zueinander steht, und dann befinden wir uns wiederum vor den alten Argumentationen von Minkowski und Naunyn, die sie schließlich zu dem Schluß von dem Primat der Leber- parenchymzelle bei der Bildung des Gallenfarbstoffes geführt haben.

Noch eine kurze Bemerkung zur Frage der Zusammenhänge zwischen Gallen- farbstoffbildung und endothelialer Erythrophagocytose und Siderose. Nimmt man sich die Mühe, wie dies Huek getan hat, die Resultate der Literatur über hämolyti- sche ikterogene Gifte auf die Frage hin zusammenzustellen, wann und wo gleichzeitig Gallenfarbstoff, Eisen, Erythrophagocytose gefunden wurden, so ergibt sich eine solche Fülle wechselnder und ungleichmäßiger Befunde, daß man wohl Abstand nehmen muß, heute aus dem histologischen Bilde und insbesondere aus den Ablagerungs- stätten der eisenhaltigen Pigmente etwas Abschließendes über die Topik und die histo- chemischen Vorgänge der Gallenfarbstoffbildung zu sagen. Dazu kommt, daß, wie dies Huek und Lubarsch betonen, nach allen bisherigen Beobachtungen die Bildung und Stapelung von dem, was wir mit dem Sammelbegriff des Hämosiderins bezeichnen, und von Gallenfarbstoff sowohl in den lokalen Blutextravasaten wie bei . dem allgemeinen Blutzerfall im Organismus ihre getrennten histologischen Wege geht und bis zu einem gewissen Grade auch eignen Gesetzmäßigkeiten unterliegt. So gibt es beim Menschen Erkrankungen, bei denen ein Untergang roter Blut- körperchen mit Ikterus einhergeht, ohne daß eine entsprechende endotheliale Siderose

Wandlungen und Probleme der Ikterusforschung. 543

aufzutreten braucht (hämolytischer Ikterus, Weilsche Krankheit) und umgekehrt Krankheiten mit beträchtlicher Siderosis der Reticuloendothelien (sekundäre Anämien, Krebskachexien, Mehlnährschäden der Säuglinge, Hämochromatose, perniziöse Anämie) ohne oder mit geringem Ikterus (vgl. Huek, Lubarsch, ferner die Befunde von Kanner beim menschlichen Stauungsikterus und hämolytischen Ikterus). Auch beim Abdominaltyphus besteht bekanntlich hochgradigste Erythrophagocytose ohne Ikterus (M. B. Schmidt).

Natürlich beweisen auch solche divergenten Befunde letzten Endes nichts gegen eine reticuloendotheliale Entstehung des Bilirubins; denn es bleibt, was auch Huek in seiner Darstellung der pathologischen Pigmente besonders betont, stets die Möglichkeit bestehen, daß bei ikterischen hämolytischen Krankheitsprozessen das beim Hämoglobinabbau freiwerdende Eisen in gewissermaßen maskierter, durch histochemische Reaktionen bisher nicht erfaßbarer Form oder in zu dünner Lösung innerhalb der Zellen auftreten kann und daß andererseits bei nicht ikterischen Krankheiten mit beträchtlicher endothelialer Siderose der Oallenfarbstoff mit dem Augenblick seiner Entstehung den Leberzellen weitergegeben und durch die Gallen- wege alsbald ausgeschieden wird. Gewiß sind solche histologischen Unstimmigkeiten auch für die Entscheidung der Alternative zwischen Leberzelle und Kupfferzelle ohne Belang; denn auch innerhalb der Leberzellen sind keine histologischen Parallelen zwischen Siderose und Bilirubinmetamorphose erkennbar. Aber diese Befunde zeigen doch immerhin, daß die Anwesenheit von Eisenpigment im Sternzellenapparat auch selbst dann, wenn man den Faktor der Eisenphagocytose nicht in Rücksicht zieht, kein beweiskräftiges Argument für die reticuloendotheliale Entstehung des Gallen- farbstoffes darstellt, und sie beleuchten unserer Ansicht nach zugleich auch die großen Schwierigkeiten, der Lösung des Problems der Bildungsstätte des Gallen- farbstoffes auf histologischem Wege in eindeutiger Weise nahezukommen. Zu allen diesen Schwierigkeiten kommt noch die Interferenz des Nahrungseisens hinzu, das neben dem Eisen des Hämoglobins bei allen histologischen Feststellungen zu be- rücksichtigen bleibt. |

So läßt sich vom histologischen Standpunkte aus über die Beziehungen der Reticulo- endothelien und der Leberparenchymzellen zur Gallenfarbstoffbildung nach unseren heutigen Kenntnissen zusammenfassend etwa folgendes sagen: So wahrscheinlich auch durch die Untersuchungen von Minkowski und Naunyn, Aschoff und McNee eine Beteiligung der Reticuloendothelien, besonders der Kupfferschen Sternzellen, am Umbau des Hämoglobins und an der Bildung des Gallenfarbstoffes gemacht wird, so ist doch auf Grund des mikroskopischen Bildes ein eindeutiger Beweis für eine überragende Bedeutung des Reticuloendothelsystems bei der Bereitung des Bilirubins bisher nicht erbracht. Alle in den Sternzellen histologisch wahrnehmbaren wichtigen Veränderungen, die Eisenspeicherung, das Auftreten grüner Pigmentmassen lassen ebenso die Deutung zu, daß sie nicht Zeichen einer intracellulären Hämoglobin- zerlegung sind, sondern nur einen Resorptionsvorgang aus dem Blute darstellen. Dazu kommt, daß diese Feststellungen im wesentlichen nur für den Vogelorganismus gelten und bei einer Reihe anderer Tierklassen und auch beim Menschen zum Teil vermißt, zum Teil in weniger bedeutungsvollem Umfange erhoben worden sind. Ebenso wie ein exakter histologischer Beweis für die reticuloendotheliale Entstehung des Gallenfarbstoffes also fehlt und nur Wahrscheinlichkeitsgründe hierfür angeführt werden können, so fehlt umgekehrt allerdings auch eine überzeugende histologische Beweis- führung, daß das Primat der Gallenfarbstoffbildung der Leberparenchymzelle gehöre. Dabei bleibt es auch im einzelnen vorläufig völlig ungeklärt, ob der Sternzellenapparat

544 F. Rosenthal.

den Abbau des Hämoglobins bis zum fertigen Bilirubin für sich allein besorgen kann und schon das Endprodukt den Leberzellen zur Ausscheidung übermittelt, ob das Reticulo- endothelsystem nur als Zwischenapparat in den Bildungsmechanismus des Gallen- farbstoffes eingeschaltet ist, der seine Fertigstellung aus endothelialen Vorstufen erst der Leberzelle verdankt, oder ob schließlich sowohl Parenchymzelle wie Endothel- zelle in unbekannten quantitativen Korrelationen den fertigen Gallenfarbstoff zu bereiten vermögen. Gegen die letzte Möglichkeit spricht bis zu einem gewissen Grade, daß eine so charakteristische biologische Funktion, wie sie die Gallenfarbstoffbildung darstellt, kaum gleichzeitig von entwicklungsgeschichtlich und histologisch so prinzi- piell verschiedenen Gewebssystemen, der mesenchymalen Endothelzelle und der ento- dermalen Parenchymzelle besorgt werden dürfte. Alle diese Möglichkeiten müssen vorläufig offen bleiben, nachdem das experimentelle Fundament der Lehre von der reticuloendothelialen Bilirubinbildung, die Versuche der Blockierung des Sternzellen- apparates ihre Beweiskraft eingebüßt haben.

Mit der Frage der bilirubinbildenden und ikterogenen Fähigkeiten der Reticulo- endothelien, die hiernach noch der entscheidenden Beantwortung harrt, erschöpft sich natürlich nicht das Problem der extrahepatischen Gallenfarbstoffbildung. Ganz allge- mein darf man sagen, daß in neuerer Zeit immer mehr die Befunde der extra- hepatischen Bilirubinbereitung anwachsen, und sie weisen zugleich darauf hin, daß unter gewissen experimentellen Bedingungen die extrahepatische Quote der Gallen- farbstoffbildung in einem Ausmaß in die Erscheinung treten kann, daß sie auch für die Pathogenese des Ikterus Beachtung beanspruchen darf. Zunächst darf hier folgendes vorausgeschickt werden: Nachdem es Hans Fischer und Reindel gelungen ist, das Hämatoidin in alten Blutextravasaten mit Bilirubin zu identifizieren, womit der mit Virchow beginnende Streit über das Wesen des Hämatoidins beendet ist, kann eines mitSicherheit gesagt werden: Auch außerhalb der Leber kann Gallenfarbstoff entstehen, die Mitwirkung der Leberzellen bei der Bildung von Gallenfarbstoff erscheint nicht unbedingt erforderlich. Mit dieser Feststellung, deren Inhalt auch von Minkowski und Naunyn niemals bestritten worden ist, ist aber noch nichts Wesentliches für den Prozeß der physiologischen Gallenfarbstoffbildung und für die Gallenfarbstoff- bildung bei den mit gesteigertem Blutuntergang einhergehenden Ikterusformen bewiesen. Es bleibt die Frage, ob eine derartige extrahepatische Gallenfarbstoff- bildung bei der physiologischen Bilirubinbildung eine Rolle spielt und ob die Intensität einer solchen extrahepatischen Gallenfarbstoffproduktion für sich allein zur Erzeugung von Ikterus ausreicht. „Der Nachweis einer anhepatischen Entstehung des Bilirubins beweist noch nicht die Existenz eines anhepatischen Ikterus« (Minkowski). Schließlich kann ja auch z.B. der Harnstoff außerhalb der Leber gebildet werden (Nonnenbruch und Gotschalk), während anderseits die Hauptbildungsstätte des Harnstoffs zweifellos die Leber darstellt.

Dementsprechend ist die Feststellung von dem Auftreten von Gallenfarbstoff in hämorrhagischen Exsudaten, Cystenflüssigkeiten, in experimentellen Hämatomen (Hijmans van den Bergh), in der Lumbalflüssigkeit nach vorausgegangener Blut- injektion in den Lumbalsack (Leschke) nicht über ihren unmittelbaren Inhalt hinaus verwertbar. Auch ist es Lepehne nach Anlegung ausgedehnter Hämatome niemals gelungen, mehr als eine geringfügige allgemeine Bilirubinämie zuweilen zu erzielen. In das „Wie“ dieser lokalen Gallenfarbstoffbildung führen die Versuche von Leschke vielleicht ein wenig tiefer hinein. Er versetzte eine bestimmte Menge von Lumbal- punktat, das einige Zeit nach endolumbaler Einspritzung von Blutkörperchen ent- nommen war, mit gewaschenen menschlichen Erythrocyten und konnte unter gleich-

Wandlungen und Probleme der Ikterusforschung. 545

zeitiger Anstellung der erforderlichen Kontrollversuche nach längerem Aufenthalte im . Brutschranke eine Zunahme der Gallenfarbstoffbildung in vitro nachweisen Da Blut im Reagenzglase weder aerob noch anaerob selbst bei mehrtägigem Bebrüten allein Oallenfarbstoff bildet, so sprechen diese Befunde dafür, daß der Abbau des Blut- farbstoffes zu Gallenfarbstoff lediglich durch die vitale Tätigkeit der die serösen Räume auskleidenden Endothelien erfolge und daß dieser Vorgang zu einem Teil auf humo- ralem Wege durch die Abgabe von endothelialen Zellfermenten zu stande kommt. In ähnlichem Sinne würden die neuerdings wieder bestrittenen Beobachtungen von Ch.M.Jones, B.B. Jones bei paroxysmaler Hämoglobinurie sprechen. Sie tauchten den abgebundenen Arm eines Hämoglobinurikers in kaltes Wasser und untersuchten in Abständen von 3, 20, 33 Minuten das Blut des Armes und verglichen dieses mit dem Blut des allgemeinen Kreislaufs. Bei der ersten Untersuchung fanden sie kein freies Hämoglobin im gestauten Armblut, bei der zweiten zwar freies Hämoglobin, aber keine positive Gmelinsche Reaktion, bei der dritten Untersuchung auch positive Gallenfarbstoffprobe. Solange der Arm abgebunden blieb, war im großen Kreislauf Gallenfarbstoff nicht festzustellen. Die Verfasser schließen aus diesen Ergebnissen auf eine Bilirubinbildung in den Capillaren. Sehr beachtenswert erscheinen die Erwägungen Bocks über den Mechanismus derartiger humoraler Bilirubinbildung. Bei einer solchen Annahme darf nach Bock die Möglichkeit der Abgabe eines gallen- farbstoffbildenden Fermentes in die Blutbahn von seiten bestimmter Organe, etwa Leber, Milz, reticuloendotlielialem System u. s. w. nicht ohneweiteres außer acht gelassen werden. Derartige Möglichkeiten gewinnen sogar neuerdings an Wahr- scheinlichkeit, seitdem wir durch die Untersuchungen Ronas und die sich hieran anschließenden Arbeiten (vgl. Abschitt IV) von dem häufigen Kreisen von Organ- fermenten im Blut unterrichtet sind. Auf diesem Wege könnte unter Umständen der Prinzipienstreit über die hepato- und extrahepatocelluläre, sowie humorale Bildung des Gallenfarbstoffes die Auflösung und Verschmelzung seiner Gegensätze finden.

Wichtige Untersuchungen zur Frage der humoralen Bilirubinbildung liegen auch von Brugsch und Pollak vor. Ausgehend von den Untersuchungen Parisots, der durch Einwirkung von Adrenalin auf gewaschene und hämolysierte Blutkörperchen bei gleichzeitiger Verwendung von Schwefelammonium und Natriumhydrosulfit eine Umwandlung von Blutfarbstoff in einen gallenfarbstoffähnlichen Körper mit positiver Gmelinscher Reaktion erhalten haben wollte, gelang es Brugsch und Pollak, durch Einwirkung von Brenzcatechin auf Blutfarbstoff und seine Derivate diesen außerhalb des Körpers in Gallenfarbstoff überzuführen. Wesentlich bei dieser Reaktion ist die Orthostellung der Hydroxylgruppe im Brenzcatechin, da die Isomeren Hydro- chinon und Resorcin die Umwandlung nicht bewirken. Der entstehende Farbstoff zeigte das spektroskopische Verhalten des Bilirubins, kuppelte sich mit Diazoreagens entsprechend der Ehrlich-Proescherschen, von Hijmans van den Berg dia- gnostisch ausgebauten Reaktion und gab die Gmelinsche Reaktion. Selbst wenn es sich herausstellen sollte, daß der gefundene Körper nicht mit dem Bilirubin identisch wäre, sondern ihm nur nahe stehe, so könnte sich hier doch wohl ein neuer Weg eröffnen, um in die Umwandlungsvorgänge des Hämoglobins zum Gallenfarbstoif auch unter den Bedingungen des Reagenzglasversuches näher ein- zudringen. :

Das gleiche, was soeben über die Beweiskraft der lokalen Bilirubinentstehung gesagt worden ist, gilt auch für die meisten experimentellen Untersuchungen, welche in dem Bestreben, das experimentum crucis von Minkowski und Naunyn auch

auf das Säugetier zu übertragen, nach Leberausschaltung die extrahepatische Gallen- Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 35

546 F. Rosenthal.

farbstoffbildung auch beim Hunde zu beweisen versuchten. Selbst wenn wir von den sonstigen Einwänden absehen, die diesen Versuchen entgegenstehen, erscheint die Bilirubinbildung, soweit sie überhaupt zur Beobachtung kam, im allgemeinen nicht hinreichend groß, um das Primat der extrahepatischen Gallenfarbstoff- produktion zu rechtfertigen. Als eine wichtige Stütze der extrahepatischen Gallen- farbstoffbildung gelten die Arbeiten von Whipple und Hooper. In einer Reihe von Versuchen suchten sie durch Anlegung einer Eckschen Fistel und Unterbindung der Leberarterie eine Ausschaltung der Leber herbeizuführen. Dann spritzten sie lackfarbenes Blut in die Blutbahn ein und fanden hierauf im Urin und im Blut nach der Huppertschen Methode mäßige, quantitativ nicht näher ermittelte Mengen von Gallenfarbstoff. Mit diesen Befunden stehen die Ergebnisse von Sorani in völligem Widerspruch, der bei der gleichen Technik und auch in Kombination mit der Arsenwasserstoffvergiftung keine Bilirubinurie im Gegensatz zu seinen Kontroll- ` hunden beobachtete. In einer anderen Versuchsserie schaltetten Whipple und Hooper durch Unterbindung sämtlicher Abdominalgefäße den Kreislauf der ganzen unteren Körperhälfte aus, so daß nur eine extraabdominelle Blutcirculation in Kopf und Thorax bestehen blieb. Injizierten sie alsdann lackfarbenes Blut intravenös, so fanden sie nach 2—5 Stunden in Blut und Geweben die Gallenfarbstoffreaktion positiv. Auch diese Versuche sind nicht beweisend für eine bedeutungsvolle extra- hepatische Gallenfarbstoffbildung und sind auch bei Nachprüfungen nicht bestätigt worden. So hat Rich erwartungsgemäß festgestellt, daß nach der Methode von Whipple und Hooper die Leber nicht vollständig aus dem Blutkreislauf ausgeschaltet wird und daß hierbei Gefäßanastomosen zwischen Zwerchfell und Leber bestehen bleiben. So trat auch nach intravenöser Tuscheinjektion bei derartig operierten Tieren eine intensive Speicherung der Kupfferschen Sternzellen auf, die erst ausblieb, wenn auch das gesamte Zwerchfellgebiet in die Unterbindung mit einbezogen wurde. Rich selbst suchte der Frage der extrahepatischen Genese des Gallenfarbstoffes beim Säugetier dadurch nahezukommen, daß er nach Unterbindung der Aorta abdominalis oberhalb der Arteria coeliaca und ausgedehntester Ligatur der übrigen wichtigen Bauchgefäße die gesamten Uhnterleibsorgane einschließlich der Leber exstirpierte. Nach Hämoglobininjektion trat bei seinen Versuchstieren, die maximal nur wenig über 5 Stunden am Leben erhalten werden konnten, keine Gallenfarbstoffvermehrung im Blute auf. Auch McNee und Prusik fanden bei Wiederholung der Whipple- Hooperschen Experimente, allerdings unter Hinzufügung der Cava-Unterbindung oberhalb des Zwerchfells unter 9 Versuchen nur zweimal Spuren von Bilirubin. Auch Retzlaff hat die Versuche der amerikanischen Autoren mit gewissen Modifikationen teilweise überprüft und ist gleichfalls zu ihrer Ablehnung gelangt. Er rief bei Eckschen Fistelhunden nach Unterbindung der Arteria hepatica durch Phenylhydrazin einen starken Blutzerfall hervor, ohne eine Hyperbilirubinämie nachweisen zu können.

Auch diese negativen Befunde bringen aber keine Entscheidung zu gunsten der hepatischen Bildung des Gallenfarbstoffes. In diesen Versuchen stehen die Tiere unter so schweren Schockeinwirkungen, daß es nicht wunderzunehmen braucht, wenn auch die Gallenfarbstoffbildung, wo sie sich auch im einzelnen vollziehen mag, sistieren kann. Außerdem wird durch die Versuchsanordnung nicht nur eine Aus- schaltung der Leber und der Kupfferschen Sternzellen, sondern auch eine hoch- gradige Beeinträchtigung der hauptsächlich in den Abdominalorganen sich aus- breitenden Reticuloendothelien bewirkt, so daß gerade die im Mittelpunkt der Dis- kussion stehende Alternative zwischen Leberzelle und reticuloendothelialer Zelle offen bleibt.

Wandlungen und Probleme der Ikterusforschung. 547

Von prinzipieller Bedeutung für die Frage der extrahepatischen Genese des Gallenfarbstoffes sind dagegen die Untersuchungen von Frank C. Mann und Thomas Byrd Magath, die mit glänzendster chirurgischer Technik in dreizeitiger Operation die Totalexstirpation der Leber beim Hunde durchführten und mit Hilfe ihrer Methodik zum ersten Male die Ausführung des Grundexperimentes von Minkowski und Naunyn auch am Säugetier ermöglichten. Für das Verständnis dieser geistvollen Technik ist es von Wichtigkeit, daß die einzeitige Leberexstirpation, wie sie von Minkowski-Naunyn beim Vogel vorgenommen wurde, wegen des Fehlens der Vena Jakobsonii, einer bei der Gans konstatierten Anastomose zwischen Vena portae und Vena renalis sinistra nicht beim Säugetier durchführbar ist. Die für die Leber- entfernung erforderliche Unterbindung der Pfortader führt daher, da diese das Haupt- abflußgebiet des Darmblutes ist, beim Hunde bereits in kurzer Zeit zu einer schweren hämorrhagischen Infarzierung fast des gesamten Darmes, in den hinein die Tiere sich in wenigen Stunden verbluten!. Die amerikanischen Autoren umgehen diese, bisher als unüberwindlich angesehene Schwierigkeit dadurch, daß sie an die Leber- exstirpation erst nach Ausbildung eines ausreichenden Kollateralkreislaufes im Abfluß- gebiet des venösen Darmblutes schreiten. Zu diesem Zwecke wird zuerst beim Hunde unter Einnähung der Vena cava inf. in die Pfortader eine umgekehrte Ecksche Fistel gebildet, wobei gleichzeitig die untere Hohlvene oberhalb der Anastomosen- stelle, also diaphragmawärts unterbunden wird. Das gesamte Blut des unteren Rumpfes, einschließlich beider hinteren Extremitäten, ist damit nach dem Pfortadergebiet abgeleitet. Infolge der jetzt eintretenden Überlastung des Portalbettes kommt es im Verlaufe von mehreren Wochen zur Ausbildung eines Kollateralnetzes, das sich auch in einer mächtigen Erweiterung der Bauchdeckenvenen bemerkbar macht. Bei einem zweiten Eingriff nach frühestens 4 Wochen wird alsdann die Vena portarum an ihrem Eintritt unterbunden, so daß nunmehr das gesamte Blut der hinteren Körper- hälfte, einschließlich des venösen Darmblutes über die Anastomose zwischen Vena cava inf. und Pfortader und dem inzwischen ausgebildeten Kollateralkreislauf ab- fließen muß. In einer dritten Operation, die wiederum erst nach Wochen erfolgt, wird dann nach Unterbindung des Choledochus und der Leberarterie die gesamte Leber entfernt. Die Lebensdauer solcher leberlosen Hunde kann nun, wie Mann und Magath weiter gezeigt haben, dadurch erheblich verlängert werden, daß man diesen Tieren mit dem Eintritte von Schwächeerscheinungen Traubenzucker in größeren Mengen injiziert. Die Exstirpation der Leber führt nämlich, wie schon Minkowski in seinen Untersuchungen über die Folgen der Leberexstirpation gezeigt hat, zu einem rapiden Absturz des Blutzuckerspiegels, in dessen Verlauf es zu analogen Erscheinungen der Kohlenhydratnot wie bei der experimentellen Insulinvergiftung kommt. (Glykoprive Intoxikation nach Fischler.) Schließlich machen sich aber in wachsendem Maße die durch das Fehlen der Leber bewirkten Auto- intoxikationserscheinungen bemerkbar, und die Tiere gehen nach einem im einzelnen wechselnden Stadium von klinisch ungefähr normalem Verhalten spätestens innerhalb von 20 Stunden zu grunde. Für die uns hier interessierenden Fragen ist es nun bemerkenswert, daß nach einem Intervall von höchstens 6 Stunden nach erfolgter Leberexstirpation eine zunehmende Gelbfärbung im Blut, in den Geweben und

! Nach persönlichen Mitteilungen Minkowskis wurden die ersten Leberexstirpationen Min- kowskis und Naunyns an Hunden ausgeführt, bei welchen durch ein paraffiniertes Röhrchen eine Anastomose zwischen Pfortader und linker Nierenvene geschaffen werden sollte. Zur schnelleren Erzeugung eines Kollateralkreislaufes wurden zwecks Verlegung des Portalbettes Mohnkörnchen in die Vena portae injiziert. Erst als diese Experimente wegen technischer Schwierigkeiten ergebnislos verliefen, gingen Minkowski und Naunyn zur Leberexstirpation am Vogel über.

35*

548 F. Rosenthal.

schließlich auch grob sichtbar an den Sclera einsetzte und daß der auftretende Farb- stoff alle typischen Reaktionen des Gallenfarbstoffes bot. Diese Vermehrung des zum mindesten dem Bilirubin sehr nahestehenden Pigmentes konnte auch nachgewiesen werden, wenn außer der Leber auch sämtliche Bauchorgane einschließlich Milz und des gesamten Darmtraktus entfernt wurden. Unter Berücksichtigung und Widerlegung aller hier möglichen Einwände Einpressung von Gallenfarbstoff in die Blutbahn bei Herausnahme der Leber, Resorption von nach dem Darm ergossener Galle kommen Mann und Magath zu dem Schluß, daß gewisse Mengen von Gallenfarbstoff beim Säugetier außerhalb der Leber, ja auch ohne Beteiligung der Milz gebildet werden können, und daß für eine in ihrem Umfange vorläufig noch nicht übersehbare Quote des Gallenfarbstoffes die Leber nur die Rolle eines Ausscheidungsorgans spielt. Bickel will unter Anwendung der gleichen Methode der Leberexstirpation ebenfalls ein deutliches Auftreten von Gelbsucht beim leberlosen Hunde beobachtet haben, doch liegen über seine kursorischen Angaben vorläufig keine näheren Protokolle vor. Die Nachprüfungen Makinos haben bisher nicht den hohen Grad der Technik Mann und Magaths erreicht, um als vollwertige Wiederholungen ihrer Experimente gelten zu können. Die längste Lebensdauer der von ihm operierten Hunde betrug maximal 5'/, Stunden. Während dieser Zeit kam es zwar in Übereinstimmung mit Mann und Magath bereits zu einer nachweisbaren Bilirubinämie, doch war sie nur geringfügig, so daß sie Schlüsse auf eine extrahepatische Oallenfarbstoffbildung größeren Umfanges nicht gestattet.

So bedeutungsvoll auch die Untersuchungen der amerikanischen Autoren für das gesamte Ikterusproblem sind, da sie in überzeugender Weise eine extrahepatische Bilirubinbildung am Säugetier dartun, sofern man wohl berechtigterweise das nach der Leberexstirpation in Blut, Geweben und Urin auftretende Pigment mit Gallen- farbstoff identifizieren darf, so wird doch in der bisher vorliegenden Form durch sie das große, strittige Problem des Primats der hepatischen oder extrahepatischen Gallenfarbstoffbildung noch nicht gelöst. Der in den besten Versuchen von Mann und Magath beobachtete Blutikterus erreicht nämlich höchstens nur 3 Bilirubin- einheiten nach Hijmans van den Bergh, so daß hieraus immer noch auf eine sehr beträchtliche Gallenfarbstoffbildung in der Leber, auch unter physiologischen Verhältnissen geschlossen werden könnte. Um hier die Beweisführung zu voll- enden, bedarf es auch beim Hunde des gleichen Grundexperimentes, wie es Minkowski und Naunyn beim Vogel durchgeführt haben, der Zufuhr eines ikterogenen Mittels im leberlosen Hunde, das innerhalb der in Betracht kommenden Versuchszeiten beim gesunden Tier einen ausgeprägten Ikterus hervorzurufen vermag. Erst wenn es mit einem solchen Mittel gelingen sollte, auch beim leberexstirpierten Hunde einen Ikterus von ähnlicher Intensität wie beim Normaltiere auszulösen, so würde damit die Vormachtstellung der extrahepatischen OGallenfarbstoffbildung bewiesen sein. Vorläufig bringen also auch die bisherigen Versuchsergebnisse von Mann und Magath keine endgültige Entscheidung über die Rolle der Leberzellen bei der Gallenfarbstoffbildung.

Betrachtet man im Lichte dieser bisherigen Befunde die Versuche von Min- kowski und Naunyn am leberlosen Vogel, die jahrzehntelang die Anschauungen von der Pathogenese der Gelbsucht maßgebend beherrscht haben, so erscheinen sie im Grunde genommen nicht so eindeutig, wie sie bisher angesehen wurden. Auch in ihren Versuchen war der Urin der entleberten Gänse fast nie ganz frei von Gallenfarbstoff, dessen Auftreten sie auf restierendes Lebergewebe oder auf Resorption von Gallenfarbstoff vom Darme aus zurückführen. Ausdrücklich aber

Wandlungen und Probleme der Ikterusforschung. 549

betonen sie, ohne sich selbst dieser Möglichkeit anzuschließen: „Sollte wirklich diese geringfügige Gallenfarbstoffausscheidung nach der Entleberung auf eine Fort- dauer der Gallenfarbstoffbildung des Organs (scil. Leber) beruhen, so müßte man jedenfalls zugeben, daß der ganz überwiegend größte Teil des Gallenfarbstoffes in der Leber und nur ein ganz kleiner Bruchteil an anderer Stelle gebildet werde.“ Auch nach der AsH,-Vergiftung ihrer entleberten Vögel fanden sie in manchen Versuchen: „stärkeren Ikterus des Harn, ebenso wie gelegentlich nach der Operation bei normalen Tieren“, den sie zum Teil wiederum auf eine Gallenresorption vom Darme aus zu beziehen geneigt sind. Man sieht also nur Unterschiede in der Deu- tung und quantitativen Bewertung der extrahepatischen Bilirubinbildung, weniger in den sachlichen Beobachtungen zwischen Minkowski-Naunyn einerseits und Mann-Magath anderseits bestehen, und daß die Versuchsergebnisse Mann und Magaths am Hunde bisher prinzipiell nicht über das hinausgehen, was auch Min- kowski und Naunyn am leberlosen Vogel festgestellt haben.

Wir möchten in diesem Zusammenhange gleich anfügen, daß auch für das Verständnis des verschiedenen Ausfalls der Diazoreaktion auf Bilirubin im Blute die Mann-Magathschen Versuche von Bedeutung sind. Lepehne hat in Fort- führung van den Berghscher Anschauungen aus der Art der Kuppelungsreaktion eine Theorie der hepatogenen und anhepatogenen Genese des Gallenfarbstoffes und der verschiedenen Ikterusformen abzuleiten versucht. Die beim acholurischen hämo- Iytischen Ikterus stark verzögerte direkte oder überhaupt erst nach Alkoholfällung auftretende indirekte Diazoreaktion soll zu gunsten einer anhepatischen Entstehung des hier im Blute kreisenden Gallenfarbstoffes sprechen, dagegen soll die direkte Diazoreaktion ein Zeichen dafür sein, daß der Gallenfarbstoff bereits in die Gallen- wege ausgeschieden gewesen ist und durch Stauung in die Blutbahn übergetreten ist, also bereits die Leberzellen passiert hat. Die Feststellungen Mann und Magaths über den Ausfall der Diazoreaktion im Blute leberloser Hunde sind nicht geeignet, diese Anschauung zu stützen. So lange die Bilirubinämie noch schwach war, bestand eine indirekte Diazoreaktion, wie sie auch bei beginnenden cholämischen Ikterus- formen des Menschen zur Beobachtung gelangt (Lepehne, Rosenthal und Holzer, Strauß u.a.). Mit dem Anwachsen des Gallenfarbstoffgehaltes im Blute machte diese indirekte Reaktion einer zweiphasig verzögerten Reaktion Platz, dh einer Kombi- nation von prompter Reaktion mit verzögertem Anteil (vgl. Feigl und Querner). Es kann hiernach, falls der Faktor der Gallenresorption bei diesen Versuchen wirk- lich mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, der Anteil des Gallenfarbstoffes mit prompter Diazoreaktion sich entwickeln, auch ohne daß der Gallenfarbstoff bereits zusammen mit anderen Oallenbestandteilen die Leberzellen passiert hat; eventuell wird man sich allerdings auch vorstellen können, daß die für die cholämische Blut- zusammensetzung und für die direkte Diazoreaktion maßgebenden Gallenbestand- teile vielleicht zum Teil extrahepatocellulär ähnlich wie der Oallenfarbstoff gebildet werden (vgl. z. B. die Auffassung Beths über die endotheliale Entstehung der Gallensäuren). Der Entstehungsmechanismus der beiden Reaktionsformen des Serum- bilirubins bei der Diazoreaktion nach Hijmans van den Bergh bleibt also vor- läufig noch ungeklärt, wie ja auch Thannhauser schon darauf hingewiesen hat, daß die Art der Diazoreaktion keine Rückschlüsse auf eine hepatische oder an- hepatische Gallenfarbstoffproduktion gestattet.

Weitere Beiträge zur Frage der extrahepatischen Bilirubinbildung liegen von Ernst und Szapanyos vor. Sie durchströmten die überlebende Milz mit defibri- niertem, teilweise lackfarben gemachtem Blute und fanden in der Durchströmungs-

550 F. Rosenthal.

flüssigkeit allmählich zunehmende Gallenfarbstoffmengen. In bisher unveröffentlichten Versuchen gemeinsam mit Hürthle haben wir uns nicht von der Richtigkeit dieser Feststellungen überzeugen können. Die meisten Durchströmungsversuche ergaben uns im Gegensatz zu den ungarischen Autoren ein völlig negatives Resultat. Dagegen fanden wir, als wir die gleichen Versuche an der Milz des frisch mit Toluylendiamin vergifteten Hundes ausführten, nach 5stündiger Durchströmung der Milz manchmal sehr beträchtliche Oallenfarbstoffmengen, die bis zu 42 und 84 Bilirubineinheiten emporstiegen. Das sind Quantitäten von Bilirubin, die gleichfalls eine beachtenswerte extrahepatische Bilirubinbildung lienaler Entstehung nahelegen. Die Befunde bedürfen noch weiterer Ergänzungen und Kontrolluntersuchungen, nach deren Abschluß im Zusammenhange über die Versuchsergebnisse berichtet werden soll. Man kann hier auch auf die Ergebnisse der klinischen Beobachtung verweisen, wonach normaler- weise das Milzvenenblut gallenfarbstofffrei ist, aber bei hämolytischen Krankheits- zuständen einen höheren Bilirubingehalt als das periphere Blut aufweisen kann.

Zieht man das Fazit aus den Wandlungen, die unsere Anschauungen von der Gallenfarbstoffbildung in den letzten Jahrzehnten erfahren haben, so erscheint die Frage nach den Bildungsstätten des Gallenfarbstoffs mehr denn je ungeklärt. Gegen- über der Lehre von dem Primat der Leberzellen bei der Gallenfarbstoffbildung, die fast wie ein Dogma die vorangehende Epoche der Ikterusforschung beherrscht hat, ringt gegenwärtig von neuem wie in den Zeiten von Virchow, Leyden und Quincke die niemals geleugnete, aber vielleicht unterschätzte extrahepatische Gallenfarbstoffbildung um ihre Anerkennung in der Physiologie und klinischen Pathologie. Nichts erscheint mehr gesichert, weder die hepatocelluläre Entstehung des Gallenfarbstoffes im Sinne von Minkowski-Naunyn, noch die reticuloendo- theliale Genese des Bilirubins im Sinne Aschoffs, wobei zweifellos Aschoff das Verdienst gebührt, durch seine Kritik an den Grundversuchen Minkowskis und Naunyns das bereits zur Ruhe gekommene Problem der Topik der Gallenfarb- stoffbildung wieder in Fluß gebracht zu haben, noch sind schließlich die quantitati- ven Beziehungen zwischen der extrahepatischen und der möglichen hepatischen Gallenfarbstoffbildung weder unter physiologischen, noch pathologischen Ver- hältnissen irgendwie näher erkennbar. Neben der Unklarheit dieser kardinalen Grundfragen, die vielleicht die weiteren Untersuchungen Mann und Magaths am leberlosen Hunde zu lösen berufen sind, harren die nicht weniger wichtigen Unter- fragen einer Beantwortung: Welche Kräfte sind bei der Gallenfarbstoffbildung im Spiele, handelt es sich hierbei im wesentlichen um einen intracellulären Hämoglobin- abbau oder auch um einen humoralen Vorgang, bei welchem die Gallenfarbstoff- bildung im strömenden Blut durch in den Kreislauf entlassene Organfermente be- günstigt wird, besorgen die gallenfarbstoffbildenden Stätten die ganzen Etappen des Hämoglobinabbaues bis zum Bilirubin oder wird von anderen Gewebssystemen hier Vorarbeit bis zu gewissen Zwischenstufen geleistet und läßt schließlich die Gallenfarbstoffbereitung bei den verschiedenen Tieren trotz der bisher zum Teil auseinanderstrebenden experimentellen Befunde eine einheitliche, auch auf die menschliche Pathologie übertragbare Betrachtungsweise zu?

Wie auch hier die weitere Entwicklung gehen möge, so ist es doch vielleicht nicht überflüssig, zum Schlusse dieses Abschnittes zu betonen, daß auch der Anhänger einer überwiegend extrahepatischen Gallenfarbstoffbildung die centrale Bedeutung der Leberparenchymzelle für die Ikteruspathogenese nicht ausschalten kann. Da nach Tarchanoff, Vossius, Fels und Ritter, Wertheimer und Lepage die gesunde Leber selbst sehr große Mengen intravenös einverleibten Bilirubins aus der Blut-

Wandlungen und Probleme der Ikterusforschung, 551

bahn in kürzester Zeit zu entfernen vermag, so daß es nicht zur Bilirubinurie und zum deutlichen Blutikterus kommt, so muß zur Erklärung der nicht mechanisch bedingten Ikterusformen zum mindesten eine excretorische Funktionsstörung der Leberzellen für Gallenfarbstoff postuliert werden. So bleibt in letzter Linie, unab- hängig von dem Streit um die Topik und die Entstehung des Gallenfarbstoffes, die Leber bei der Pathogenese aller Ikterusformen, wenn auch vielleicht nicht im Mittelpunkt, so doch im Vordergrunde des kausalen Mechanismus.

ll. Die Ikterusbereitschaft.

Der Begriff der Ikterusbereitschaft, wie er unter dem Einfluß der Erfahrungen des Weltkrieges und besonders der Nachkriegsjahre in die Literatur eindringt, ist zunächst nur ein Sammelname für die Tatsache des gehäüuften Auftretens von mit Ikterus einhergehenden Lebererkrankungen unter dem: Einfluß eingreifender Ver- schlechterungen der äußeren Lebensbedingungen. Dieses Massenexperiment, das auf die Auslösung eines eigentümlichen Latenzzustandes der Leber mit gesteigerter Krankheitsdisposition hinweist und das nach Herxheimer die Bedeutung -dispo- sitioneller oder besser konditioneller Lebensverhältnisse für die Entstehung von Lebererkrankungen beleuchtet, hat bekanntlich die deutsche Bevölkerung in den letzten Kriegsjahren und besonders in der Nachkriegszeit in großem Umfange an sich selbst durchgemacht, und die theoretische und praktische Bedeutung dieser Zusammenhänge ist sicherlich einer der Faktoren, die zu der regen Wiederaufnahme der Ikterusprobleme geführt haben. Man kann hier auf die Ergebnisse der Rund- frage des Herausgebers der Medizinischen Klinik, auf die statistischen Mitteilungen von Riess, Kraus, Umber, Minkowski, v. Strümpell u.a. verweisen. Über die Natur der sicherlich komplexen Schädlichkeiten, die damals zu der Häufung von Fällen mit Ikterus simplex bis zur akuten Leberatrophie und den chronisch pro- gressiven Hepatitiden, den Lebercirrhosen geführt haben, kann man sich vorläufig kein klares Bild machen. Mit der Zurückführung dieser in der Nachkriegszeit fast epidemisch auftretenden Fälle allein auf eine infektiöse oder toxische, vielleicht enterogene Noxe ist für die Ätiologie und Pathogenese nur wenig gewonnen- Zweifellos bestehen zwischen Leber und manchen Infektionserregern gewisse Organaffinitäten. Man kann hier auf die Syphilisspirochäte, auf die Spirochaeta icterohaemorrhagica, auf den Erreger des Gelbfiebers und auf die Beobachtung Eugen Fraenkels verweisen, welcher aus einem mit Ikterus gestorbenen Patienten einen Paratyphusbacillus züchtete, der bei intraperitonealer Infektion beim Meer- schweinchen einen schweren Ikterus hervorrief. Aber die wesentliche Frage bleibt, wie läßt sich dieser Zustand von Ikterusbereitschaft schärfer umreißen, wie kommt es, daß unter dem Einflusse der Unterernährung, mit der wir nach allen Erfahrungen die gesteigerte Krankheitsdisposition der Leber mit großer Wahrscheinlichkeit in der Nachkriegszeit in Zusammenhang bringen müssen, die Leber in den Zustand gestei- gerter Krankheitsdisposition und, wie wir weiter sagen dürfen, gesteigerter Autolyse- tendenz gerät? Eine Antwort auf diese Fragestellung, so rudimentär sie auch vor- läufig nach dem Stande unserer heutigen’ Kenntnisse gegeben werden kann, wirft auch vielleicht gleichzeitig ganz allgemein ein gewisses Licht auf die Faktoren der konditionellen Disposition bei der Pathogenese der Ikterusformen, die wir unter der Rubrik des sog. Icterus catarrhalis und der toxischen Ikterusformen bis zur akuten Leberatrophie und ihren Ausgängen zusammenfassen. Wir können hier natürlich alle die Fälle übergehen, bei denen schon klinisch manifeste Leberprozesse vor dem Ausbruche des komplizierenden Ikterus bestanden haben und ebenso alle die Fälle,

552 F. Rosenthal.

die sich aus mangelhaften Salvarsanpräparaten, die ausgesprochen ikterogen wirken (vgl. Jadassohn), in den Nachkriegsjahren zwanglos erklären. Dann läßt sich über diesen Latenzzustand der Leber, wie er sich unter dem Einflusse der Kriegs- ernährung und der Kriegsinfekte für eine gewisse Zeit herausgebildet haben mag, folgendes sagen: Sicherlich wird die Leber im Hunger im besonderen Maße unter allen Organen betroffen. Sie kann, worauf Kraus auch hinweist, beim Hunger- tier prozentual von allen Organen am meisten (50-55%) an Gewicht verlieren, und wie die Hungerversuche und Fütterungsexperimente von Affanasiew und Seitz zeigen, ist nicht nur die chemische Zusammensetzung, sondern auch die morpho- logische Struktur der Leberzelle im hohen Maße von der Art und Intensität der Nahrungszufuhr abhängig. Hunger macht die Leberzellen kleiner und eckig, bei einseitiger Kohlenhydratfütterung erfolgt bei gleichzeitiger Abnahme des Eiweiß- gehaltes eine Zunahme des Glykogens. Hoppe-Seyler berechnet den durchschnitt- lichen Gewichtsverlust der Leber unter dem Einfluß der Kriegskost auf ca. 100 g gleich etwa 7% gegenüber dem Lebergewicht vor dem Kriege. Umber beschuldigt wiederum die Glykogenarmut der Leber als besonders wichtigen Faktor für die verminderte Widerstandskraft des Organs. Auf eine gewisse Autolysetendenz der Leber im unter- ernährten Organismus weisen die schon von früheren Autoren und neuerdings unter an- deren von Delamoy festgestellten Rest-N-Steigerungen in der unterernährten Hunde- leber im Autolyseversuch hin. Der autoproteolytische Koeffizient, d.h. das Verhältnis des bei der Autolyse freiwerdenden inkoagulablen N zum Eiweiß-N ist in den übrigen Organen des gefütterten oder hungernden Hundes gleich groß, nur in der Hunger- leber wird es stark zu gunsten des Reststickstoffes verschoben. Es dürfte sich zweifellos lohnen, diesen Faktor der Unterernährung in seiner Bedeutung für die Krankheits- disposition der Leber auch experimentell nachzugehen, umsomehr, als seine Ursäch- lichkeit noch in fraglichem Lichte erscheint, wenn man berücksichtigt, daß um die gleiche Zeit auch in Schweden (vgl. Lindstedt) und beispielsweise nach den Berichten von Blume auch in Amerika 1917 bis 1920 auffällig zahlreiche Ikterus- fälle zur Beobachtung gelangten. In anderer Richtung werfen die bedeutungsvollen Untersuchungen von Pick und Hashimoto, welche von Bieling, Isaac und Gottschalk, Freund und Rupp weiter ausgebaut worden sind, vielleicht neues Licht auf die der Ikterusbereitschaft zu grunde liegenden biologischen Vorgänge. So bewirkt nach Pick und Hashimoto die Injektion kleiner Mengen von Pferde- serum bei Meerschweinchen eine Vermehrung der Eiweißabbauprozesse in der Leber, die ihren Höhepunkt zwischen dem 14. und 16. Tage erreicht. Bieling, Gottschalk und Isaac haben dann diese Befunde dahin ergänzt, daß nach Injektion von Caseosanı, Diphterietoxin und Bakterieneiweiß bei der Mehrzahl der Versuchstiere bereits in der 12. Stunde post injectionem eine Vermehrung des inkoagulablen Stickstoffs in der Leber auf Kosten des koagulablen Zelleiweißes nachweisbar ist und daß diese akute Steigerung des Rest-N am 2. Tage wieder abklingt. Noch ausgeprägter ist die Steigerung der eiweißabbauenden Zellprozesse in der Leber, wenn Meer- schweinchen 10—19 Tage nach der ersten Eiweißinjektion, also auf der Höhe der Sensibilisierung, erneut mit winzigen, beim Normaltier unwirksamen Eiweißdosen gespritzt werden. Das gleiche ist nach Bieling auch der Fall, wenn man bei Meerschweinchen nach Ausbildung einer tuberkulösen Infektion Tuberkulin injiziert. Es gerät somit die Leberzelle mit dem Eindringen artfremden Eiweißes in einen klinisch latent verlaufenden Zustand gesteigerter autolytischer regressiver Vorgänge, wie sie in extremer Ausprägung auch der akuten Leberatrophie eigen sind. Die Periodizität dieser ein gewisses zeitliches Optimum zeigenden Abbauvorgänge ist

Wandlungen und Probleme der Ikterusforschung. 553

hierbei von noch besonderem Interesse. In den Kreis der diese intravitalen auto- Iytischen Zellvorgänge beeinflussenden Faktoren tritt weiter auch nach den Unter- suchungen Picks und Hashimotos sowie Gottschalks auch die Milz, da bei entmilzten, mit artfremdem Eiweiß behandelten Tieren der Eiweißabbau in der Leber unterbleibt. Diese Befunde haben Eppinger Veranlassung gegeben, bei der akuten Leberatrophie die Milzexstirpation therapeutisch zu versuchen, ohne daß hiermit allerdings ein nachweisbarer Erfolg verbunden war (vgl. Herfarth).

Die Übertragung dieser experimentellen Beobachtungen auf das, was wir auf Grund der klinischen Empirie die Ikterusbereitschaft nennen, liegt nahe. Man kann sich vorstellen und das gilt in gesteigertem Maße von dem in seiner Wider- standskraft geschwächten, unterernährten Organismus daß in entsprechender Weise vielleicht an sich harmlose Infektionen, bei denen es zu einem Eindringen von Bakterieneiweiß in den Kreislauf kommt, oder eine vorübergehende Darm- schädigung, bei der eine gesteigerte Durchlässigkeit der Darmwand einen parenteralen Übertritt von Nahrungseiweiß oder bakteriell-toxischen Substanzen ermöglicht, zu einer latenten Schädigung des Leberparenchyms in der Richtung gesteigerter auto- Iytischer Zellprozesse führen könnten. Trifft in einem solchen Stadium reger cellu- lärer EiweißBabbauvorgänge eine für die normale Leber vielleicht belanglose Noxe das in gesteigerter autolytischer Tätigkeit befindliche Organ, so wäre es möglich, daß eine an sich geringfügige Schädigung bei einem solchen Organ zur klinischen Manifestation von Krankheitserscheinungen, zu Ikterus mit allen Varianten bis zur maximalen intravitalen Autolyse der akuten Leberatrophie Veranlassung geben könnte. Bei diesen vorläufig noch problematischen, aus dem Experiment abgeleiteten Zu- sammenhängen wäre noch weiter zu berücksichtigen, daß der geschilderte intravitale hepatische Eiweißabbau nach Pick und Hashimoto nicht nur seine zeitlichen Optima besitzt, sondern auch in hohem Grade von der Dauer der Invasion des artfremden Eiweiß abhängig erscheint. So tritt bei wiederholt in Abständen von 4—5 Tagen parenteral mit artfremden Eiweiß behandelten Meerschweinchen eine sehr deutliche Hemmung der sonst nach einmaliger Eiweißinjektion gesteigerten intravitalen Leberautolyse ein, unter Umständen kann sogar der Leberzerfall bis nahezu zur Norm zurückgedrängt werden. Es ist in desem Zusammenhange übrigens beachtenswert, daß Hoppe-Seyler in seinen Untersuchungen über die Zusammen- setzung der Leber in Krankheiten eine Vermehrung des Rest-N abgesehen von der akuten Leberatrophie auch oft bei septischen Prozessen, allerdings weniger bei der Pneumonie gesehen hat.

Da nun nicht allein körperfremdes Eiweiß, sondern, wie zahlreiche Erfahrun- gen bei Verwendung von körpereigenen Organextrakten lehren, schon körpereigene, jedoch blutfremde Eiweißkörper in gleicher Richtung zu wirken vermögen, so ist mit der Möglichkeit zu rechnen, daß der von Pick und Hashimoto aufgefundene, bisher experimentell ausgelöste intrahepatische Eiweißzerfall einen nicht unwichtigen konditionellen Dispositionsfaktor bei der Pathogenese mancher toxischer Ikterusformen darstellen könnte. Es wird Aufgabe weiterer Untersuchungen sein müssen, diesen hypothetischen, durch das Tierexperiment nahegelegten Beziehungen unter klinischen Gesichtspunkten näher nachzugehen.

III. Die Lehre vom Icterus dissociatus. Die Frage des sog. dissoziierten Ikterus hat besonders in der französischen Literatur eine umfangreiche Bearbeitung gefunden. Man versteht unter dem dis- soziierten Ikterus einen Krankheitsprozeß, bei welchem Bilirubin und Gallensäuren

554 F. Rosenthal.

nicht nebeneinander im Harn und im Kreislauf erscheinen, wie dies beim Retentions- ikterus der Fall ist, sondern bei dem nur Gallenfarbstoff oder nur Gallensäuren für sich allein, also dissoziiert, im Blut oder im Harn angetroffen werden. Nach dem Einteilungsprinzip von Lyon-Caen, der diesen Fragestellungen besondere Aufmerksamkeit geschenkt hat, kann man je nach dem Auftreten der Gallenbestand- teile im Harn unterscheiden: 1. einen ictere cholurique complet mit Gallenfarbstoff und Gallensäuren im Urin, 2. einen ictere cholurique pigmentaire mit isolierter Bili- rubinurie und 3. eine cholurie sans pigments, wo nur Gallensäuren zur Ausscheidung gelangen. Die ersten Anfänge dieser Lehre gehen bereits auf v. Leyden zurück, der das Fehlen von Gallensäuren im Harn als charakteristisches Symptom der hämolytischen Ikterusformen aufstellte. Soweit der klassische hämolytische Ikterus und der Ikterus bei perniziöser Anämie in Betracht kommt, besteht bei allen Untersuchern (vgl. Lyon-Caen, Chauffard, Laroche, Eppinger, Borchardt u. a.) Einigkeit über den Gallensäurenmangel im Harn und auch im Serum. Hier scheint somit, wie schon Leyden annahm, eine weitgehende Dissoziation der Gallenbestandteile im Sinne eines reinen Pigmentikterus zu bestehen, doch muß man vorsichtigerweise hier hinzufügen, daß alle hier angewendeten Methoden der Gallensäurenbestimmung teilweise grob, zum Teil nicht eindeutig genug sind, um diese Ergebnisse mit zwingender Beweiskraft zu sichern.

Die symptomatologische Bedeutung des Phänomens des Icterus dissociatus soll nach den Franzosen (Chauffard, Laroche, Grigaut, Garban, Fiessinger, Brule und Lemierre u. a.) im wesentlichen darin liegen, daß seine Existenz einen mechanischen Ikterus mit Sicherheit ausschließen soll. Sie argumentieren, daß, wenn durch ein mechanisches Hindernis der Übertritt der gestauten Galle ins Blut erfolgt, sowohl Gallensäuren wie Gallenfarbstoff nebeneinander vermehrt sein müßten. Hauptsächlich sind es die Stadien des beginnenden und des abklingenden Ikterus, die eine Dissoziierung der Gallenbestandteile erkennen lassen sollen. Daß im Stadium des abklingenden Ikterus diese sog. Dissoziation scheinbar vorgetäuscht sein kann dadurch, daß der in den Geweben gestapelte Gallenfarbstoff noch längere Zeit ausgeschwemmt und durch den Urin ausgeschieden werden kann, obwohl die eigentliche Lebererkrankung bereits abgeheilt sein kann, ist von den französischen Autoren überhaupt nicht berücksichtigt.

Eine Kritik der Lehre vom dissoziierten Ikterus erfordert die Beantwortung folgender Fragen:

1. Spricht die Existenz eines dissoziierten Ikterus wirklich mit Sicherheit gegen das Bestehen eines mechanischen Ikterus?

2. Reichen unsere üblichen klinischen Methoden überhaupt aus, um die An- wesenheit oder Abwesenheit der Gallensäuren exakt zu sichern?

3. Bestehen in der normalen Galle irgendwelche gesetzmäßige Beziehungen zwischen Gallenfarbstoff und Gallensäuren oder macht sich bereits hier eine Dis- soziation bemerkbar?

Wir übergehen hier die Besprechung der hypothetischen isolierten Gallen- säurenretention ohne begleitenden Ikterus, da eine Diskussion dieser Frage nicht unmittelbar mehr mit dem uns hier beschäftigenden klinischen Problem des Ikterus zusammenhängt und diese Frage gleichfalls steht und fällt mit der unter 2. an- geführten Fragestellung.

Zunächst ist hier zu sagen, daß ein mechanisch ausgelöster Ikterus niemals ein rein mechanischer Ikterus bleibt, sondern daß sehr bald sekundäre, durch die Oallenstauung ausgelöste Funktionsschädigungen der Leberzellen sich hinzugesellen.

Wandlungen und Probleme der Ikterusforschung. 555

Es folgt hieraus in summa, daß auch der einfache mechanische Ikterus nicht primitiv durch die Rückstauung der Galle erklärt werden, sondern daß sich recht bald auf den Icterus per stasin ein sekundärer dynamischer Icterus e functione laesa der durch den Gallendruck geschädigten Leberzellen auflagert. Damit erledigt sich ohne- weiters die diagnostische Bedeutung der Dissoziation der Gallenbestandteile, die auch beim abklingenden mechanischen Ikterus genau so wie beim abheilenden hepatotoxischen Ikterus ohne gröberes Abflußhindernis in die Erscheinung treten könnte. Anderseits sind ja auch, worauf besonders Minkowski hingewiesen hat, durchaus fließende Übergänge von den Ikterusformen mit primärer Parenchym- schädigung zu den mechanischen Ikterusformen (Cholangitis, Gallenthromben) vor- handen, so daß die eventuelle Dissoziation zwischen Oallenfarbstoff und Gallen- säuren keine diagnostische Entscheidung zwischen primär mechanischen und primär hepatotoxischen Ikterusformen bringen kann. Ist mithin eine gewisse Dissoziation der Gallenbestandteile entsprechend der im einzelnen schwankenden Intensität der Leberzellschädigung bei den mechanischen und hepatotoxischen Ikterusformen an sich ein selbstverständliches Postulat, so erübrigt sich aus einem anderen Grunde eine Diskussion über die Extreme, weil die Erfahrungen der meisten französischen Autoren, wie z. B. Abrami und Gautier, Brulé, Saraillh& und Clunet nicht in dem von ihnen angegebenen Umfang bestätigt werden konnten und ihre Befunde mit unzureichenden Methoden erhoben wurden. Borchardt leugnet überhaupt auf Grund viskostalagmometrischer Untersuchungen das isolierte Auftreten von Gallen- bestandteilen bei allen Ikterusformen außer bei den Typen des hämolytischen Ikterus, Retzlaff hält den Icterus dissociatus in extremer Ausprägung, abgesehen von den erwähnten hämolytischen Gelbsuchtformen, für sehr selten, mit anderen Worten also in symptomatologisch-diagnostischer Hinsicht für bedeutungslos. Die abweichenden Ergebnisse der französischen Autoren dürften sich zwanglos aus der unzulänglichen Methode des Gallensäurennachweises mittels der Haycraft-Hayschen Schwefel- blumenprobe erklären, die sowohl nicht specifisch wie wenig empfindlich ist. Auch Simon lehnt diese Probe für exakte Untersuchungen ab, da eine positive Reaktion ` nicht die Anwesenheit von Gallensäuren im Urin eindeutig beweist. Dafür spricht ihr häufiges Auftreten bei völlig Gesunden, Beobachtungen, die in der französischen Literatur ohne Berücksichtigung der vielen Fehlerquellen der Methodik im Sinne einer Cholalacidurie bzw. Gallensäurenanhäufung im Blute verwertet wurden. Auch nach Labbé, Doumer, Deglaude u. a. ist das Vorkommen eines dissoziierten Ikterus nicht erwiesen.

So bleibt von dem ganzen Lehrgebäude des Icterus dissociatus nicht viel anderes als die Feststellungen v. Leydens über den dissoziierten Ikterus bei hämolytischen Gelbsuchtformen übrig. Man darf hinzufügen, daß diese Dissoziation, falls man nur die ausgeprägten klinischen Ikterusformen berücksichtigt, sich auch auf das Cholesterin im Blutserum erstreckt, daß im allgemeinen die reinen hämolytischen Ikterusformen im Gegensatz zu der Hypercholesterinämie aller anderen mit Ikterus einhergehenden Krankheitszustände durch normale oder sogar herabgesetzte Cholesterinwerte aus- gezeichnet sind.

Das große aktuelle Problem der Ikterusforschung bleibt eine exakte Methode der Gallensäurenbestimmung im Blut und im Urin, mit der auch die eben behandelten Fragen schließlich spruchreif werden. Von keiner der bisherigen Methoden, soweit sie für die Klinik in Betracht kommen, läßt sich eine solche Exaktheit behaupten, angefangen von den gravimetrischen colorimetrischen über die stalagmometrischen Methoden bis zu der Methode von Schmidt und Merril, welche die Foster-

556 F. Rosenthal.

Hoopersche gasometrische Bestimmung der Gallensäuren für den Urin auszubauen versuchten, und der Methode von Frey, der das Entgiftungsvermögen des Serums gegenüber Desoxycholat zum Gradmesser des Oallensäuregehaltes im Kreislauf nimmt. Die von den letztgenannten Autoren gefundenen Werte schwankten in großen Breiten selbst in kurzen Zeitabständen bei dem gleichen Kranken. So betrug an zwei aufeinanderfolgenden Tagen die Gallensäurenausscheidung bei einem Fall von mechanischem Ikterus, auf Glykocholsäure berechnet, 600 bzw. 33 mg, bei einem zweiten Fall 113 bzw. 250 mg. Angesichts dieser Unregelmäßigkeiten der Ausscheidung liegt es zunächst wohl näher, solche Schwankungen mehr den Fehler- quellen der Methode zur Last zu legen, als in ihnen wirklich bestehende Aus- scheidungsvorgänge zu sehen. Tatsächlich spielt nach unseren Erfahrungen bei der Methode von Schmidt und Merril als Fehlerquelle eine große Rolle, daß auch Polypeptide, Harnstoff in die Gallensäurenfraktion übergehen und ein falsches Bild von dem als Maß für die Gallensäuren dienenden gekuppelten Aminostickstoff geben. Rosenbund hat weiter in einer bei mir ausgeführten Dissertation zeigen können, daß z. B. das Nabelschnurserum mit der Freyschen Methode ein sehr geringes Entgiftungsvermögen für Desoxycholsäure zeigt, das kaum mit einer großen Gallensäureüberladung des Neugeborenenblutes in Beziehungen zu bringen ist. Offenbar spielen noch andere Faktoren, wie z. B. der Serumeiweißgehalt, hier eine wichtige Rolle. Es bleibt abzuwarten, ob die von Herzfeld jüngst veröffentlichte colorimetrische Gallensäurenmethode, die auch für Blut und Harn anwendbar sein soll und auf einer Modifikation der Pettenkoferschen Reaktion beruht, hier eine empfindliche Lücke der Forschung auszufüllen berufen ist.

Wesentlich besser sind wir daran bei der quantitativen Bestimmung der Gallen- säuren in der Galle und hier bedeutet die gasometrische Bestimmung des gekup- pelten, durch Hydrolyse abspaltbaren Aminostickstoffes als Maß des Gallensäuren- gehaltes nach Foster und Hooper einen wesentlichen Fortschritt. Zweifellos be- stehen auch hier gewisse Fehlerquellen, die größtenteils in den bei subtiler Technik sehr einengbaren Ungenauigkeiten der gasometrischen Amino-N-Bestimmung nach van Slyke liegen, doch dürften die Ergebnisse ein annäherndes Bild über die Gallensäurenverteilung in der Galle geben. Durch Bestimmung des alkohollöslichen Schwefels in der Galle läßt sich nach dem Vorgange von v. Bergmann diese Methode zu einer gleichzeitigen Analyse von Glykocholsäure und Taurocholsäure nebeneinander erweitern, wodurch diese Methode einen weiteren Vorzug vor den anderen, z. B. auch den verfeinerten stalagmometrischen Methoden (vgl. Chr. Meyer) gewinnt. Diesen Weg sind Rosenthal und v. Falkenhausen, Schmidt und Dart gegangen. Aufbauend auf dem Folinschen Verfahren der Aminosäurenbestimmung haben Rosenthal und Lauterbach nach ähnlichem Prinzip auch ein colorimetri- sches Verfahren der Gallensäurebestimmung in der Galle ausgearbeitet. In Überein- stimmung mit den Befunden von Lepehne und Beth, die mittels stalagmometri- scher Verfahren erhoben wurden, konnten auch wir feststellen, daß irgendwelche konstante quantitative Relationen zwischen Gallenfarbstoff und Gallensäuren weder in der Duodenalgalle, noch in der menschlichen Fistelgalle bestehen, daß somit im Sinne einer weitgehenden Dissoziation schon normalerweise die Gallensäurenaus- scheidung durch die menschliche Leber von eigenen Gesetzen beherrscht wird, die unabhängig ohne erkennbare Beziehungen zum Gallenfarbstoff ablaufen. Auch in dem Verhältnis von Glykocholsäure zu Taurocholsäure bestehen in der Menschen- galle keine konstanten Proportionen, nur die eine Erscheinung, die auch von früheren Beobachtern mit komplizierten Methoden an großen Analysenmengen festgestellt

En Ba a a ee

Wandlungen und Probleme der Ikterusforschung. 557

wurde, tritt auch in der Duodenalgalle mit einer gewissen Regelmäßigkeit auf, daß nämlich zumeist der Gehalt an Glykocholsäure mehr oder minder beträchtlich die Konzentration der Galle an Taurocholsäure überragt. Anderseits sind wir aber auch Fällen begegnet, in denen auch unter anscheinend normalen Verhältnissen die Tauro- cholsäure gegenüber dem Glykocholsäuregehalt der menschlichen Duodenalgalle überwog. Wie Freund in einer unter meiner Leitung ausgeführten Dissertation weiter gezeigt hat, tritt in den ersten Tagen nach Choledochusdrainage auch bei vorausgegangenem mechanischen Ikterus durch unkomplizierten Steinverschluß sehr häufig eine Inversion des Verhältnisses von Glykocholsäure zu Taurocholsäure in die Erscheinung. Erst nach einigen Tagen wird mit zunehmender Restitution des Leber- parenchyms wieder das normale Verhältnis beider Gallensäuren im Sinne einer an- wachsenden Glykocholie hergestellt. Auch diese Befunde zeigen von neuem, daß selbstverständlich auch der mechanische Ikterus zu Schädigungen des Leberparen- chyms und zu einer veränderten Zusammensetzung der Galle und zu veränderter Relation einzelner Gallenbestandteile führt und daß Dissoziationen der Gallenbestand- teile nicht gegen die Existenz mechanischer Ikterusformen und für das Vorliegen rein hepatotoxischer Gelbsuchtsformen ohne mechanische Komponente diagnostisch verwertet werden können.

Aus den angeführten Gründen hat, wenn man von dem besonderen, schon von Leyden erkannten Verhalten der hämolytischen Ikterusform vom reinen Typ ab- sieht, auf die der Begriff des Icterus dissociatus wohl zutreffen dürfte, die Lehre vom Icterus dissociatus in die Betrachtungsweise der deutschen Klinik bisher keinen Ein- gang gefunden. Sie baut sich auf unzulänglichen Methoden auf, sie wird dem Wesen der mechanischen Ikterusformen nicht gerecht, die viel zu einseitig von dem Gesichts- winkel der alleinigen Oallenstauung erfaßt werden und hat auch Nachprüfungen mit ähnlichen, verbesserten Verfahren nicht standgehalten.

IV. Ikterus und Wasserhaushalt.

Wie eine Reihe wichtiger experimenteller und klinischer Arbeiten der letzten Jahre gezeigt haben, kommt der Leber im Wasserhaushalte eine wichtige Rolle als Regulationsapparat zu. Bei Studien über das chemische Verhalten der Leber im ana- phylaktischen Chok fiel Hashimoto und Pick gelegentlich der bereits früher (vgl. Il) erwähnten Untersuchungen die enorme Vergrößerung und Dunkelfärbung der Leber unmittelbar nach der Reinjektion auf. Bei einer näheren Analyse der hierbei zu- tage tretenden Circulationsstörungen ergab sich zunächst, daß auch Eiweißabbau- ` produkte, deren Vergiftungsbild nach Biedl und Kraus viel Ähnlichkeit mit dem anaphylaktischen Chok aufweist, wie z.B. Histamin und Pepton zu den analogen Circulationsveränderungen führen (Mautner und Pick). Die auffälligsten Resultate fanden sich an der überlebenden Leber. Während die Meerschweinchenleber und fast immer auch die Kaninchenleber beim Durchspülen sich gegenüber den ana- plıylaktoiden Giften völlig indifferent verhält, sistiert bei der Hunde- und Katzen- leber nach Zusatz des zur Vorbehandlung benutzten Antigens oder von Pepton bzw. Histamin sofort der Abfluß aus der Lebervene, während der Zufluß anhält und das Organ außerordentlich groß wird. Ganz anders wirkte der Zusatz von Adrenalin. Hier sistiert zuerst der Zufluß und die Leber verkleinert sich erheblich. Diese Be- funde zwangen zu der Annahme, daß der Durchfluß durch die Leber an zwei ganz verschiedenen Stellen gehemmt werden kann, entweder wie durch Adrenalin im Bereich der Vena portae oder wie durch Histamin und Pepton im Bereich der ab- führenden Lebervenen. In der Tat wurden auf Grund dieser Befunde Mautners

558 F. Rosenthal.

und Picks durch Arey und Simonds bei Hunden um die Lebervenen herum mäch- tige, bisher unbekannt gebliebene Muskelwülste gefunden, die der Vena hepatica des Kaninchens fehlen. Es stellt somit die Leber ein großes Filterwerk dar, bei der der Filtrationsdruck durch Verschluß und Öffnung der Verzweigungen der Leber- venen und durch den jeweiligen Druck und Füllungszustand der Pfortader beliebig eingestellt werden kann. Wie schon Lamson und Roca gezeigt haben, steigert aber die Contraction der Venae hepaticae den Druck in den Lebercapillaren derart, daß Flüssigkeit wie durch ein Überlaufventil in die Lymphräume der Leber und den Ductus thoracicus abfließt. Man kann hiernach sich vorstellen, daß ein Verschluß der Venensperre, bei der es zu einer Stauung der Lebergefäße kommt, zu einem Ab- strömen von Wasser in die Lymphräume führt und daß bei starkem Flüssigkeits- übertritt aus den Blutgefäßen der Leber in die Lymphräume und den großen Lymph- stamm eine Bluteindickung bewirkt wird. Bei Öffnung der Sperre, wenn der Druck in den Lebercapillaren sinkt, gelangt umgekehrt Lymphe wieder zurück in die Blut- bahn. Das Verhalten der Venensperre in der Leber ist demnach imstande, die Strom- richtung zwischen Blut- und Lymphräumen umzukehren und eine Umschaltung des Flüssigkeitsstromes vorzunehmen. Es vermag also die Leber die physikalisch- chemische Zusammensetzung des Blutes und der Gewebsflüssigkeit auf hämodyna- mischem Wege zu regulieren, wobei nach Mautner und Pick der Sperrmechanis- mus in den Lebervenen vom vegetativen Nervensystem abhängig erscheint (Ver- schluß durch vagotrope, Öffnung durch sympathische Gifte). Neben der hämodynamen kommt nach den weiteren Untersuchungen von Pick und seinen Mitarbeitern der Leber auch eine hormonale Regulation zu, die sich nach Leberexstirpation durch Ödembildung an Winterfröschen und labilem Wasserhaushalt bei Sommerfröschen erweisen läßt (Molitor und Pick, Pick und Wagner). Sie wäre in ihrem Mecha- nismus ähnlich zu denken wie etwa der Einfluß der Schilddrüse auf den Wasser- wechsel (Eppinger).

Ausgehend von diesen Feststellungen über die Funktion der Leber im Wasser- stoffwechsel haben Mautner, Landau und Pap, Adler, Pollitzer und Stolz den Wasserhaushalt bei Leberkranken, insbesondere Ikterischen mannigfacher Ätiologie untersucht. Übereinstimmend wurde bei zahlreichen Fällen von sog. katarrhalischem Ikterus im Volhardschen Wasserversuch eine deutliche Hemmung der Wasserausschei- dung festgestellt. Auch Leberaffektionen schwererer Art ohne Ikterus zeigten mehr oder minder ausgeprägte Diuresestörungen, Beobachtungen, die übrigens bereits 22 Jahre vorher Gilbert und Lerebouillet als Opsiurie bei Leberkrankheiten beschrieben haben. Pollitzer und Stolz haben die diuretische Wirkung des Novasurols zum Nach- weis des Einflusses der Leber auf den Wasserhaushalt herangezogen und im Sinne einer klinischen Funktionsprüfung des Leberparenchyms ausgebaut. Beim Icterus simplex, beim luetischen Ikterus, bei Cholangitiden und inkompletter und kompletter Gallensperre wurden nach Novasurol die 2—-7fachen Wassermengen wie beim Gesunden ausgeschüttet. Alle diese Feststellungen beweisen zweifellos den engen Zusammenhang zwischen Leber und dem Wasserhaushalte des Organismus, und die von den einzelnen Autoren, besonders Adler, näher verfolgten Zusammenhänge zwischen dem Stadium und der Ausdehnung des Leberprozesses einerseits und der Diuresehemmung anderseits beleuchten zugleich den zweifellos nicht unerheblichen diagnostischen und prognostischen Wert des Wasserversuches bei Leberaffektionen.

Ob die verzögerte Wasserausscheidung bei ikterischen und nicht ikterischen Leberkranken von der Störung der hormonalen Leberwirkung mehr abhängig ist oder durch relative Enge der Lebervenen bzw. durch beide Faktoren veranlaßt wird,

Wandlungen und Probleme der Ikterusforschung. 559

ob sie mit einer verminderten Harnstoffsynthese im Zusammenhang steht, läßt sich vorläufig nicht im einzelnen entscheiden. Bei der Frage der hormonalen hepatischen Einflüsse ist nach Adler ganz besonders auch an die Regulation der physikalisch- chemischen Architektonik des Blutes durch die Leber zu denken. Hierfür sprechen die beträchtlichen Verminderungen und Verschiebungen des grobdispersen Anteils der Serumeiweißkörper, des Fibrins und der Globuline (Starlinger, Isaac-Krieger, Adler) bei den meisten schwereren Leberprozessen.

Nach Saxl und Donath soll auch das retikuloendotheliale System bei den geschilderten Hemmungen der Diurese beteiligt sein, doch erscheinen ihre Versuchs- ergebnisse wegen ihrer Vieldeutigkeit nicht beweiskräftig.

V. Die Blutstruktur beim Ikterus.

Der tiefgehenden Unterschiede in der chemischen Zusammensetzung des Blutes bei den reinen Formen des hämolytischen Ikterus einerseits und den mechanischen und hepatotoxischen Ikterusformen anderseits ist bereits zum Teil bei Besprechung der Frage des Icterus dissociatus gedacht worden. Bei der Mehrzahl der Ikterusformen treten neben dem Gallenfarbstoff mit direkter Diazoreaktion nach Hijmans van den Bergh auch Gallensäuren und Cholesterin in den Kreislauf über, so daß ein cholämisches Blutmilieu, wie es Lubarsch nennt, entsteht; bei den hämolytischen Ikterusformen besteht eine isolierte Bilirubinämie mit indirekter Diazoreaktion, ein bilirubinämisches Blutmilieu. Dazu kommt die Resistenzsteigerung der Erythrocyten bei den cholämischen Ikterusformen, die Resistenzschwäche bei den familiären und sporadischen Formen des klassischen hämolytischen acholurischen Ikterus. Was sich sonst noch an neueren Ergebnissen hier anreihen läßt, bedarf noch des ergänzenden Ausbaues, beleuchtet aber die Wegrichtung, in welcher die gegenwärtige Ikterus- forschung fortschreitet. Es sind humoralpathologische Problemstellungen, die in der Hauptsache in der Frage gipfeln, wie die beim Ikterus bestehenden Störungen der normalen Leberfunktion sich auf das Blut projizieren. Hier darf zunächst auf die von Bauer und Kerti,Rosenow, Schilling und Gröbel festgestellte erhöhte Phloridzin- empfindlichkeit beim Ikterus hingewiesen werden, die zugleich für das Verständnis der Phloridzinwirkung von Wichtigkeit ist. Nach geringen Phloridzinmengen tritt in Fällen von Icterus catarrhalis, Cholangitis, chronischem Stauungsikterus neben einer besonders intensiven Glykosurie eine auffallend starke Senkung des Blutzucker- spiegels ein, die nach Bauer gelegentlich einem fast völligen Verschwinden des Blut- zuckers nahekommen soll. Bauer nimmt an, daß der Blutzucker bei Leberkranken, insbesondere Ikterischen unter der Phloridzinwirkung nicht nur durch die Nieren- gefäße, sondern auch durch die übrigen Körpergefäße aus dem Blute in die Gewebe abströmt, daß also aus noch ungeklärten Gründen bei Leberkrankheiten eine ge- steigerte Zuckerdurchlässigkeit der Gefäßwände durch Phloridzin hervorgerufen wird. Weiter gibt Adler an, daß Leberschädigungen verschiedenster Genese, mit und ohne Ikterus einhergehend, sehr häufig von einer Verminderung der Alkalireserve begleitet sind, ohne daß ein sicherer Parallelismus zwischen der Stärke der Leberschädigung und der Herabsetzung der Alkalireserve (Hypokapnie) besteht.

Es muß ferner abgewartet werden, ob die Arbeiten Ronas und seiner Schüler - über das Vorkommen von Leberlipase im Blute sich für die humorale Ikterusforschung fruchtbar erweisen werden. Es gelang Rona zu zeigen, daß einzelne Organlipasen durch verschiedene Empfindlichkeit gegenüber Giften, vor allem Chinin und Atoxyl, von der gewöhnlichen Serumlipase unterschieden werden können. So ist die Leber- lipase im Gegensatz zur Lipase des normalen Menschenserums gegen Chinin völlig

560 F. Rosenthal.

unempfindlich. Ausgehend von dem Gedanken, daß bei Ikteruskranken zugleich mit Gallenbestandteilen auch Leberlipase ins Blut übertreten könne, haben Rona, Petow und Schreiber das Serum von sieben ikterischen Kranken untersucht und in ihm eine chininresistente Lipase festgestellt. Die Nachuntersuchungen von Broeck- meyer und Kroemecke lassen es sehr fraglich erscheinen, ob die Ronasche Methode nach den Hoffnungen ihres Autors als „differentialdiagnostisches Hilfs- mittel zwischen hepatogenem und hämolytischem Ikterus“« nutzbar gemacht werden kann. Einmal erweisen sich auch die Lipasen der Niere und der Lunge als chinin- resistent, so daß im Blute auftretende chininfeste Lipasen nicht auf ein bestimmtes inneres Organ bezogen werden können, und ferner treten auch bei schweren ex- perimentellen Leberschädigungen die fettspaltenden Organfermente anscheinend ohne jede Gesetzmäßigkeit, obwohl ae konstant im kranken Leberparenchym wieder- gefunden werden, in den Kreislauf über. Weitere Untersuchungen werden daher erst über die Möglichkeit einer Fermenttopographie im Sinne Ronas entscheiden können. Auch über die klinische Bedeutung der aussichtsvollen Untersuchungen Adlers, Rusznyaks und seiner Mitarbeiter, über das Bluteiweißbild (Fibrinogen, Globulin und Albuminurieanteil) bei ikterischen und nichtikterischen Leberkrankheiten läßt sich vor- läufig kein abschließendes Urteil abgeben, doch spricht vieles dafür, daß auf diesem Wege vertiefte Einblicke in das Bluteiweißbild der degenerativen parenchymatösen Lebererkrankungen, einschließlich der akuten Atrophie und in die humoralen Vor- gänge bei entzündlichen und mechanischen Ikterusformen zu gewinnen sein werden. Schließlich sind noch die Untersuchungen Rosenthals und seiner Mitarbeiter über serologische Blutveränderungen beim Ikterus zu nennen. Während das menschliche Serum bei Gesunden und unter den verschiedenartigsten Krankheitszuständen ent- sprechend den Befunden von Laveran und Mesnil eine eklatante Heilwirkung auf tierische Trypanosomeninfektionen auszuüben vermag, erfährt der trypanozide Titer des menschlichen Serums nur bei den ausgeprägten cholämischen Ikterusformen und bei schweren diffusen Lebererkrankungen auch ohne Ikterus einen beträchtlichen oft hochgradigen Absturz. In manchen Fällen von schwerem chronischen Ikterus und im Stadium des hepatargischen Symptomenkomplexes kann man sogar fast von einem Schwunde der trypanoziden Serumkörper sprechen. Bei dem Entstehungs- mechanismus der Reaktion des Trypanozidie-Schwundes spielen weder zerstörende Eigenschaften der Gallenbestandteile noch irgendwelche hypothetischen Hemmungs- körper eine ursächliche Rolle. Hier gelangt eine physiologische Funktion der Leber gewissermaßen im Negativ zur Manifestation, der normalerweise die Bildung der trypanoziden Serumsubstanzen zukommt und die bei diffusen, schwereren Erkran- kungen des Leberparenchyms zusammenbricht.

Literatur: Eine erschöpfende Wiedergabe der Literatur ist nos Raummangels nicht möglich. Nur diejenigen Arbeiten sind im folgenden angeführt, welche durch Inhalt und Literaturübersicht eine weitere Orientierung ermöglichen. Adler, Kl. Woch. 1924, Nr. 22 u. Nr. 25. Anitschkow, Zieglers B., LVI, LVII, LIX u. LXX. Aschoff, Münch. med. Woch. 1922, Nr. 37; Kl. Woch. 1924, Nr. 22. Bauer u. Kerti, KI. Woch. 1923, Nr. 20, p. 927. Beth, Wr. A. f. kl. Med. II, p. 565. Bickel, D. med. Woch. 1923, Nr.5. Bieling u. Isaac, 34. Kongr. f. inn. Med. p. 50; D. med. Woch. 1922, p. 711; Ztschr. f. d. ges. exp. Med. XXVIII, H. 1/4, 1922; XXXV, H. 1-3, 1923. - Bieling u. Gottschalk, Ztschr. f. Hyg. IC, CXXV u. CXLII, 1923. Bieling, Gott- schalk u. Isaac, Kl. Woch. 1922, Nr. 31. Bock, Kl. Woch. 1924, Nr. 14/15. Borchard, Kı. Woch. 1923, p. 541. Broeckmeyer, Organlipasen im Serum, Kl. Woch. 1924, Nr. 34. Brugsch u. Pollak, Biochem. Ztschr. CXLVII, p. 253. Eppinger, Die hepatolienalen Er- krankungen. Berlin 1920. Ellek, Kl. Woch. 1924, Nr. 4. - Ernst u. Szappanyos, Kl. Woch. 1922, Nr. 13. Fischler u. Reindel, Münch. med. Woch. 1922, Nr. 41; Ztschr. f. physiol Chem. CXXVII, p. 299. Fiessinger et l.yon-Caen, J. de phys. VI, 1910. Foster u. E J. of biol. chem. XXXVIII, p. 354. E. Fraenkel, Münch. med. Woch. 1918, Nr. 20; D. med. Woch.

1920, Nr. 9. Freund u. Rupp, A. f. exp. Path. IC, p. 137. Frey, Kl. Woch. 1923, Nr. 40, p. 1838. Goldmann, Äußere und innere Sekretion im Lichte der vitalen Färbung, Tübingen 1909

Wandlungen und Probleme der Ikterusforschung. 561

u. 1912. Greppi, Haematologica 1923, IV, p. 453. Herfarth, Bruns Beiträge zur kl. Chirurgie, CXXVIII, H. 12, p. 284. Herxheimer, B. z. path. Anat. etc. LXXII, p. 56 u. 350. Herzfeld u. Haemmerli, Schweiz. med. Woch. LIV, Nr. 6 Hijmans van den Bergh, Der Gallenfarbstoff im Blute, 1918. Heinrichsdorff, Virchows A. 1924, CCXLVIII, p. 48. Hoppe-Seyler, Ztschr. f. physiol. Chem. CXVI, p. 67; Med. Kl. 1919, p. 1105. Huek, Die pathologische Pigmentierung. Krehl-Marchand, Handb. d. allg. Cath, III , P- 298. Jadassohn, D. med. Woch. 1922, Nr. 1; Kl. Woch. 1923, I. Jones M. u. Jones B., Arch. o int. med. 1922, p. 669. Isaac-Krieger u. Hiege, KI. Woch. 1923, Nr. 23, p. 1067. Kanner, Kl. Woch. 1924, Nr. 3. Kiyono, Die vitale Karminspeicherung, Jena Se Krane Fr., Berl. kl. Woch. 1921, Nr. 27. Krommecke, A. f. exp. Path. u. Pharm. , P- Kucz nski, Virchows A. 1922, CCXXXIX. Labbé, Doumer et lauas, SE de re 1924, Nr.6. Lepeline, B. z. path. Anat. u. z. allg. Path. 1917, LXIV, f. kl. Med. CXXXVI, E 88; D. med. Woch. 1921, Nr. 14; Erg. d inn. Med. u. Kind. de ix K Woch. 1922, Nr. 41. Lindstedt, Münch. med. Woch. 1923, Nr. 6 Lubarsch, Berl. kl. Woch. 1921, Nr. 28. Makino zit. nach Aschoff, KI. Woch. 1924, Nr. 22; Zieglers Beiträge, LXXII, p. 808. Mann u. Magat, J. of am. ass. 1921, 161, 37 42 Jan.; J. of Physiology, LXIX, 2. Ze 1924. Marin, Minerva med. p. 572 u. 605, zit. nach Zoja. aufner, Wr. A. ki. f. Med. VI 251; Kl. Woch. 1924, Nr. 51/52. Meyer, Biochem. Ztschr. CXL, H. 4/6. Minkowski, D. ongr. f. inn. Med. 1900, p. 316. Minkowski u. Naunyn, A. f. exp. Path. u. Pharm. XXI, 4: McNee, Med. Kl. 1913, Nr. 28; J. of pathol. and bact. 1914, XVIII, p. 35. McNee u. rusik, J. of N and bact. 1924, XXVII, Nr. 1. Nissen, Ztschr. f. d. ges. exp. Med. 1922, XXVIII; Kl. Woch. 1923, Nr. 40. Petroff, Ztschr. f. d. ges. exp. Med. 1923, XXXvV. Pick u. Hashimoto, A. f. exp. Path. u. Pharm. LXXVI, p. 89. Pollitzer u. Stolz, D. A. f. kl. Med. VHI, H. 2; KI. Woch. 1924, Nr. 13. Retzlaff, . med. Woch. 1923, p. 844; Ztschr. f. d. ges. exp. Med. XXXIV, p. 133. Rick, Bull of the Hopkins” Hospital 1923, XXXIV, 332. - Rona, Petow u. Schreiber, KI. Woch. 1922, Nr. 48. Rosenow, Erhöhte Phloridzinempfindlichkeit beim Ikterus, Kl. Woch. 1923, Nr. 25, p. 1166. -- Rosenthal, Kl. Woch. 1924, Nr. 40. Rosenthal u. v. Falkenhausen, A. f. exp. Path. u. Pharm. XCVII, H. 5/6; Kl. Woch. 1923, Nr 24 u. 32. Rosenthal u. Fischer, Kl. Woch. 1922, Nr. 46. -- Rosenthal u. Lauterbach, A. f. exp. Path. u. Pharm. C, 1923. Rosenthal, Moses u. Petzal, Ztschr. f. d. ges. eh ‚Med. 1924, XLI, H. 4/6. Ruszn a Barat u. Kürthy, Ztschr. f. kl. Med. XCVIII, Saxl u. Donath, Kl. Woch. 1924, Nr. 31. Simon, KI. Woch. 1923, Nr. 11. SE EE D. med. Woch. 1924, p. 400 Schmidt and Merril, . of biol. chemistry 1923, LVIII, p. 601. Sormani zit. nach Zoja, Le itterizie. Archivio di thologia clinica medica 1923, II, H. 2. Standenath, Ztschr. f. Immunitätsforschung 1923, X XVII. - Starlinger, Kl. Woch. 1923, 31. Thannhauser, D. A. f. kl. Med. CX XVII, p. 179. Voigt, Biochem. Ztschr. 1914, LXIII 1915, LVIII, 1918, LXXXIX. Whipple and Hopper, A. int. med. XXIX, Nr. 6; J. of exp. med. XVII, p. 612, XVIII, Nr. 1. Zoja, Le itterizie. A. mediche 1923, II, H. 2.

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 36

Die Reichsversicherungsordnung. Von Geh. San.-Rat Dr. O. Mugdan, Berlin.

Die Reichsversicherungsordnung ist ein Gesetzbuch, in dem die Krankenver- sicherung, die Unfallversicherung und die Invaliden- und Hinterbliebenenversicherung zusammengefaßt ist. Sie besteht aus 6 Büchern: das erste enthält die Vorschriften, die für alle Zweige der Versicherung Geltung haben, das zweite Buch enthält die Vorschriften für die Krankenversicherung, das dritte diejenigen für die Unfallver- sicherung, u. zw. getrennt für die Gewerbeunfallversicherung, die landwirtschaftliche Unfallversicherung und die Seeunfallversicherung, das vierte Buch behandelt die Invaliden- und Hinterbliebenenversicherung, das fünfte Buch regelt die Beziehungen der einzelnen Versicherungen zueinander und zu anderen zur Fürsorge verpflichteter Körperschaften, das sechste Buch endlich enthält die Vorschriften für das Verfahren, insbesondere diejenigen, die bei Feststellung der Leistungen zu beobachten sind.

Die Reichsversicherungsordnung ist im Jahre 1911 beschlossen worden und in demselben Jahre ist auch das Versicherungsgesetz für Angestellte zu stande ge- kommen, das für die große Gruppe derjenigen Angestellten, die nicht mit mecha nischen und niederen Diensten beschäftigt werden, wie dies bei Arbeitern und Hausgehilfen der Fall ist, eine über die Leistungen der Invaliden- und Hinter- bliebenenversicherung hinausgehende Fürsorge schafft.

Die deutsche Sozialversicherung ist eine unter staatlicher Aufsicht stehende, auf den Grundsätzen der Gegenseitigkeitsversicherung und der Selbstverwaltung auf- gebaute Zwangsversicherung: eine bestimmte Beschäftigung (Tätigkeit) oder die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Beruf begründet die Pflicht zur Versicherung.

l. Krankenversicherung.

Versicherungspflichtig sind ohne Rücksicht auf ihr Einkommen: 1. Arbeiter, Gesellen, Gehilfen, Lehrlinge, Dienstboten, Schiffsbesatzungen; 2. sofern ihr regel- mäßiger Jahresarbeitsverdienst 2700 Mark nicht übersteigt Betriebsbeamte, Werk- führer, Handlungsgehilfen, Handlungslehrlinge, Gehilfen und Lehrlinge in den Apotheken, Bühnen- und Orchestermitglieder, Lehrer, Erzieher, Angestellte in den Berufen der Erziehung, des Unterrichtes, der Fürsorge, der Kranken- und Wohl- fahrtspflege, wenn diese Beschäftigung ihren Hauptberuf und die Hauptquelle ihrer Einnahmen bildet, Schiffsführer; 3. Hausgewerbetreibende, sofern ihnen nicht ein jährliches Einkommen von 2700 Mark sicher ist.

Voraussetzung der Versicherung, der unter 1. und 2. bezeichneten, ausge- nommen der Lehrlinge, ist, daß sie gegen Entgelt, wozu auch bloßer freier Unter- halt gehört, beschäftigt werden.

Wer in den vorausgegangenen 12 Monaten mindestens 26 Wochen oder un- mittelbar vor Aufhörung der Versicherungspflicht mindestens 6 Wochen versichert

Die Reichsversicherungsordnung. 563 .

war, kann die Versicherung freiwillig fortsetzen. Ein freiwilliger Eintritt in die Ver- sicherung ist vor allen den Familienangehörigen des Arbeitgebers, die ohne ein eigentliches Arbeitsverhältnis und ohne Entgelt in seinem Betriebe tätig sind, und kleineren Unternehmen gestattet. Das jährliche Gesamteinkommen darf bei der Selbstversicherung 2700 Mark nicht übersteigen, und es kann das Recht zu ihr von einer bestimmten Altersgrenze und von der Vorlegung eines ärztlichen Gesundheits- zeugnisses abhängig gemacht werden.

Beamte oder andere bei. öffentlichen Körperschaften auf Lebenszeit unwider- ruflich oder mit Anrecht auf Ruhegehalt Angestellte, denen gegen ihren Arbeitgeber eine genügende ‚Krankenversorgung gewährleistet ist, sind auf Grund des Gesetzes oder auf Antrag versicherungsfrei, auch wenn sie eine an und für sich versicherungs- pflichtige Beschäftigung ausüben. Das gleiche gilt für Lehrer und Erzieher an öffentlichen Schulen und Anstalten. |

Die Durchführung der Krankenversicherung abgesehen von derjenigen für die im Bergbau beschäftigten Personen liegt den Krankenkassen ob. An ihre Stelle tritt im Bergbau der Reichsknappschaftsverein. In jedem Stadt- oder Land- kreise soll eine allgemeine Ortskrankenkasse und eine Landkrankenkasse errichtet werden. Bei der letzteren sind die land- und forstwirtschaftlichen Arbeiter, die Haus- gehilfen und die Wanderarbeiter versichert. Auf die Errichtung der Landkranken- kasse oder auf die Errichtung der allgemeinen Ortskrankenkasse kann verzichtet werden, wenn durch das Bestehen beider Kassen leistungsunfähige Kassen entstehen würden. Außerdem gibt es noch besondere Ortskrankenkassen; dieselben waren schon vor dem Inkrafttreten der Reichsversicherungsordnung für bestimmte Gewerbe- zweige oder für bestimmte Berufe vorhanden, und sie durften unter bestimmten Bedingungen weiterbestehen; neue besondere Ortskrankenkassen dürfen nicht er- richtet werden. Die Unternehmer größerer Betriebe können, unter den in der Reichs- versicherungsordnung angegebenen Bedingungen für die in ihren Betrieben be- schäftigten Personen Betriebskrankenkassen errichten, und dasselbe Recht steht den Innungen zu, die für die bei den Innungsmeistern beschäftigten Personen Innungs- krankenkassen errichten können. Ein Versicherungspflichtiger braucht nicht Mitglied einer der genannten Kassen, in die er gehört, zu werden, wenn er Mitglied einer Ersatzkasse ist. Unter einer Ersatzkasse hat man einen Krankenversicherungsverein auf Gegenseitigkeit früher Freie Hilfskasse genannt zu verstehen, der als Ersatzkasse von der hierfür zuständigen Behörde zugelassen worden ist.

ÖOrtskrankenkassen, Landkrankenkassen, Betriebskrankenkassen und Innungs- krankenkassen haben einen Ausschuß und einen von diesem gewählten Vorstand. Alle Wahlen, die in der Reichsversicherungsordnung vorgeschrieben sind, finden nach dem Verhältniswahlsystem statt. Die Mittel für die Krankenversicherung sind von den Arbeitgebern und den Versicherten aufzubringen. Versicherungspflichtige haben zwei Drittel, ihre Arbeitgeber ein Drittel der Beiträge zu zahlen. Versicherungs- berechtigte haben die Beiträge allein zu zahlen. Bei Innungskrankenkassen kann die Satzung bestimmen, daß die Arbeitgeber und die Versicherungspflichtigen je die Hälfte der Beiträge zu tragen haben. Gemäß der Beitragsleistung verfügen im Aus- schuß und in den Vorständen die Vertreter der Versicherten über zwei Drittel, die Vertreter der Arbeitgeber über ein Drittel der Stimmen. Nur wenn bei einer Innungs- krankenkasse die Arbeitgeber und die Versicherten je die Hälfte der Beiträge zu tragen haben, so haben sie auch je die Hälfte der Vertreter im Ausschuß und im Vorstande. Bei den Betriebskrankenkassen führt der Arbeitgeber oder sein Vertreter den Vorsitz.

36*

564 O. Mugdan.

Die Leistungen der Krankenkassen sind Regelleistungen oder Mehrleistungen. Die Regelleistungen müssen von jeder Krankenkasse gewährt werden, die Mehr- leistungen können, soweit es die Reichsversicherungsordnung erlaubt, zumeist durch einen Satzungsbeschluß festgesetzt werden. Die Regelleistungen der Krankenkasse sind Krankenhilfee Wochenhilfe, Sterbegeld und Familienhilfe. Als Krankenhilfe wird gewährt:

1. Vom Beginn der Krankheit an Krankenpflege, die ärztliche Behandlung, Versorgung mit Arznei, Brillen und Bruchbändern und anderen kleinen Heilmitteln umfaßt.

2. Vom vierten .Krankheitstage ab, wenn die Krankheit den Kranken arbeits- unfähig machte, ein Krankengeld, das die Hälfte des für den Versicherten ange- nommenen Tagesarbeitsverdienstes beträgt.

Als Wochenhilfe wird weiblichen Versicherten, die in den letzten 2 Jahren vor der Niederkunft mindestens 10 Monate hindurch und im letzten Jahre vor der Niederkunft mindestens 6 Monate hindurch versichert waren, notwendige ärztliche Hilfe, ein einmaliger Beitrag zu den sonstigen Entbindungskosten und bei Schwanger- schaftsbeschwerden, Wochengeld für 10 Wochen und ein Stillgeld bis zu 12 Wochen in dem gesetzlich erlaubten Ausmaße gewährt. Ehefrauen sowie solche Töchter, Stief- und Pflegetöchter der Versicherten, welche mit diesen in häuslicher Gemein- schaft leben, erhalten eine Familienwochenhilfe, die im Gesetz nur als Familienhilfe bezeichnet wird, wenn sie selbst aus eigener Versicherung keinen Anspruch auf Wochenhilfe haben und der Versicherte im Laufe der letzten 2 Jahre vor der Ent- bindung mindestens 10 Monate und im letzten Jahre vor der Niederkunft mindestens 6 Monate versicherungspflichtiges Kassenmitglied war. Die Leistungen der Familien- wochenhilfe entsprechen ziemlich genau den Leistungen der Wochenhilfe.

Als Sterbegeld wird beim Tode eines Versicherten mindestens das 10fache seines angenommenen Tagesarbeitsverdienstes gezahlt. Die Satzung kann den Mindest- betrag des Sterbegeldes bis zu 50 Mark festsetzen. An Stelle der Krankenpflege und des Krankengeldes kann, aber muß nicht, von der Krankenkasse Krankenhausbehand- lung gewährt werden. Wenn der Versicherte Angehörige unterhalten hat, ist dann für diese eine Hausgeld zu zahlen. Als Mehrleistung sind zulässig: Krankenpflege an versicherungsfreie Familienmitglieder der Versicherten, Gewährung von Wartung und Hilfe durch Krankenpfleger und Krankenschwestern im Haushalt des Erkrankten, Fürsorge für Genesende, insbesondere durch Unterbringung in einem Genesungs- heim bis zur Dauer eines Jahres nach Ablauf der Krankenhilfe, Erhöhung des Krankengeldes um die Hälfte seines regelmäßigen Betrages, eine Erweiterung der Krankenhilfe bis zu einem Jahr. Regelmäßig endet die Gewährung von Kranken- pflege und Krankengeld 26 Wochen nach Beginn der Krankheit, oder wenn Kranken- geld erst von einem späteren Tage an bezogen ist, 26 Wochen nach diesem Tage. Wenn aber ein Versicherter, der binnen 12 Monaten bereits für 26 Wochen Kranken- geld bezogen hat, im Laufe der nächsten 12 Monate an der gleichen, nicht be- hobenen Krankheitsursache erkrankt, dann wird für diese Krankheit nur 13 Wochen Unterstützung gewährt. Scheidet wegen Erwerbslosigkeit ein Versicherter, der in den vorangegangenen 12 Monaten mindestens 26 Wochen oder unmittelbar vorher mindestens 6 Wochen versichert war, aus der Krankenkasse aus, so behält er den Anspruch auf die. vollen Regelleistungen der Kasse, wenn der Versicherungsfall während der Erwerbslosigkeit und binnen 3 Wochen nach dem Ausscheiden ein- getreten ist. Wenn ein Versicherter die Kasse durch ein Verbrechen geschädigt hat, oder wenn er sich eine Krankheit vorsätzlich oder bei einer Schlägerei zugezogen

Die Reichsversicherungsordnung. 565

hat, so kann ihm das Krankengeld im ersten Fall für ein Jahr, in den anderen Fällen für die Dauer der Krankheit, ganz oder teilweise versagt werden. Bei Ver- sicherungsberechtigten erlischt die Mitgliedschaft, wenn sie 2mal nacheinander am Zahltage die Beiträge nicht entrichtet haben und seit dem ersten dieser Zahltage mindestens 4 Wochen vergangen sind. Wenn der Kassenvorstand oder die Kassen- verwaltung den Anspruch des Versicherten auf Krankenhilfe us w. ablehnt, so kann hiergegen das Versicherungsamt, das in der Regel für jeden Stadt- und Landkreis errichtet ist, angerufen werden. Gegen die Entscheidung des Versicherungsamtes ist Berufung an das Oberversicherungsamt, das in Preußen für jeden Regierungs- bezirk besteht, zulässig. In einigen wenigen Fällen ist dann noch die Berufung an das Reichsversicherungsamt, das seinen Sitz in Berlin hat, und für das Gebiet des Reiches errichtet ist, möglich, aber nur als Revisionsinstanz. An Stelle des Reichs- versicherungsamtes tritt, wenn das Gebiet der am Streite beteiligten Krankenkasse die Grenzen des Landes Bayern nicht überschreitet, das bayerische Landesversicherungs- amt, und unter den gleichen Verhältnissen das Landesversicherungsamt des Landes Sachsen und des Landes Baden. In den Versicherungsbehörden Versicherungs- . amt, Oberversicherungsamt, Reichsversicherungsamt, Landesversicherungsamt sind neben Beamten immer eine gleiche Anzahl von Vertretern der Versicherten und von Vertretern der Arbeitgeber tätig; diese Vertreter werden, getrennt, von Vertretungen (z. B. Kassenvorständen) ihrer Berufsgenossen, d. h. der Versicherten und der Arbeit- geber, gewählt. Die Aufsichtsbehörde der Krankenkassen ist das Versicherungsamt. Es entscheidet über Beschwerden, die gegen die Geschäftsführung der Krankenkassen erhoben werden. Die Krankenkassen erledigen ihre Geschäfte unter voller Selbst- verwaltung. Das Aufsichtsrecht der Aufsichtsbehörde erstreckt sich nur darauf, daß Gesetz und Satzung so beobachtet werden, wie es der Zweck der Versicherung verlangt. |

Die ärztliche Behandlung muß durch einen in Deutschland approbierten Arzt (oder Zahnarzt) geleistet werden. Zur ärztlichen Behandlung rechnen auch die Leistun- gen der Heilgehilfen, Hebammen, Masseure, wenn sie der Arzt angeordnet hat, oder in dringenden Fällen kein Arzt zugezogen werden konnte. Die Beziehungen zwischen Krankenkassen und Ärzten werden durch einen schriftlichen Vertrag geregelt; die Bezahlung anderer Ärzte kann die Kasse von dringenden Fällen abgesehen, ab- lehnen. Der Arztvertrag kann mit dem einzelnen Arzte oder als Kollektivvertrag mit einem Ärztverein geschlossen werden. Durch die Verordnung der Reichsregierung über Ärzte und Krankenkassen vom 30. Oktober 1923 (Reichsversicherungsordnung 3680 —f) ist zur Regelung der Beziehungen zwischen den Krankenkassen und Ärzten ein Reichsausschuß (Landesausschuß) für Ärzte und Krankenkassen gebildet worden. Er besteht aus drei unparteiischen Mitgliedern, die nach Anhörung der Spitzen- verbände der Ärzte und Krankenkassen von dem Reichsarbeitsminister ernannt werden, und aus je fünf, auf die Dauer von 5 Jahre gewählten Vertretern dieser Spitzenverbände; für diese Vertreter sind ebenso wie für die unparteiischen Mitglieder Stellvertreter zu wählen. Der Reichsausschuß hat Richtlinien über die Zulassung der Ärzte zur Tätig- keit bei den Krankenkassen, über den allgemeinen Inhalt der Arztverträge, über die Art und Höhe der Vergütung für die ärztlichen Leistungen, über Einrichtungen und Maßnahmen, welche zur Sicherung der Kasse gegen eine übermäßige Inanspruch- nahme der Krankenhilfe und zur Sicherung gegen eine nicht berechtigte Inanspruch- nahme einzelner Ärzte notwendig sind, aufgestellt. Die genannte Verordnung hat auch zur Herbeiführung angemessener Verträge zwischen den Krankenkassen und Ärzten Einigungs- und Schiedsstellen eingerichtet: für den Bezirk eines Versicherungsamtes

566 O. Mugdan. P

den Vertragsausschuß, der den Inhalt und Wortlaut der Arztverträge feststellt; das für den Bezirk jedes Oberversicherungsamtes errichtete Schiedsamt, das, wenn im Vertragsausschuß keine Einigung zu stande kommt, auf Anruf einer oder beider Vertragsparteien über die strittigen Punkte entscheidet; das Reichsschiedsamt, das zur Entscheidung über Berufungen gegen die Entscheidungen der Schiedsämter zu- ständig ist. (Wo ein Landesversicherungsamt besteht, tritt an Stelle des Reichsschieds- amtes das Landesschiedsamt.)

Zu beachten sind auch die Verordnung der Reichsregierung über Krankenhilfe bei den Krankenkassen vom 30. Oktober 1923 (Reichsgesetzblatt I, S. 1054) deren 53 die Zahl der Kassenärzte begrenzt und die Verordnung der Reichsregierung über Krankenversicherung vom 13. Februar 1924 (Reichsgesetzblatt I, S. 93), welche unter anderen die Landkrankenkassen ermächtigt, Kassenarztbezirke zu bilden und Kranken- schwestern als Pflegepersonen und Gehilfinnen der Ärzte anzustellen. Die Tätigkeit dieser Schwestern ist durch Richtlinien des Reichsausschusses geregelt. Die Vor- schriften der letzteren Verordnung sind jetzt auch in die Reichsversicherungsordnung eingefügt.

IL Unfallversicherung.

Dieselbe knüpft an bestimmte Betriebe und Tätigkeiten an. Versicherungs- pflichtig sind Arbeiter, Gehilfen, Gesellen, Lehrlinge, Betriebsbeamte (Werkmeister und Techniker), die beschäftigt werden: in Fabriken, in Bergwerken, bei Bauten, in Betrieben der Eisenbahn, Telegraphie, Heeres- und Marineverwaltungen, in be- stimmten gefährlichen Handwerksbetrieben (Schlosser, Fleischer, Dekorateure, Fenster- putzer, Schornsteinfeger), in einzelnen kaufmännischen Betrieben, in Apotheken, in jedem auch nicht gewerbemäßigen Fahrbetrieb, Reittier- und Stallhaltungsbetrieb, in der Binnenschiffahrt und Binnenschifferei, in Land- und Forstwirtschaft; ferner die Schiffer, Maschinisten, Aufwärter der Überseefahrtzeuge und die Besatzung von Seefahrtzeugen. Die Versicherungspflicht kann auch auf Unternehmer, auf Haus- gewerbetreibende und auf Personen, die die der Unfallversicherung unterliegenden Betriebe besuchen (wie z. B. auf Studenten, die dies zu Lernzwecken tun oder auf die Frau, die es tut, um ihren Ehemann das Essen zu bringen) ausgedehnt werden. Eine Weiterversicherung wie in der Krankenversicherung gibt es hier nicht. Die Selbstversicherung ist allen Unternehmern gestattet, und für versicherungsfrei können Betriebsunternehmer, auf die die Versicherungspflicht ausgedehnt worden ist, die aber keiner besonderen Unfallsgefahr unterliegen, erklärt werden. Die Durchführung der Unfallversicherung liegt den Berufsgenossenschaften ob. An deren Stellen treten, sofern es sich um eigene Betriebe des Reichs, des Staates, der Gemeinden (Gemeinden- verbänden) und öffentlicher Körperschaften handelt, Ausführungsbehörden. Die Berufs- ‚genossenschaft ist eine Vereinigung gleichartiger oder ähnlicher versicherungs- pflichtiger Betriebe; sie wird entweder für das ganze Reich oder für Teile desselben errichtet; ihre Mitglieder sind die Unternehmer der Betriebe, die ihrer Eigenart und ihrem Sitze nach zum Bereich der Berufsgenossenschaft gehören. Die Berufsgenossen- schaften dürfen, um die Verwaltung zu teilen und das Risiko zu verteilen, Sektionen einrichten, und sie dürfen in allen Orten Vertrauensmänner als ihre örtlichen Organe bestellen. An der Verwaltung der Berufsgenossenschaft oder der Sektion (Vorstand, Genossenschaftsversammlung, Sektionsversammlung) sind die versicherten Arbeit- nehmer nicht beteiligt. In Preußen und in den anderen Ländern ist es ebenso oder ähnlich bilden die Unternehmer der landwirtschaftlichen Betriebe jeder Provinz eine Berufsgenossenschaft und diese zerfällt in Sektionen für jeden Kreis.

Die Reichsversicherungsordnung. 567

Die Geschäfte des Genossenschaftsvorstandes nimmt hier der Provinzialausschuß, die der Sektion der Kreis-(Stadt-)Ausschuß wahr. Die Aufbringung der Mittel erfolgt bei den gewerblichen Berufsgenossenschaften und bei der Seeberufsgenossenschaft durch eine Umlage bei den Unternehmern, die Mitglieder der Berufsgenossen- schaft sind, nach Bedarf der Ausgaben des abgelaufenen Kalenderjahres, nach den gezahlten Löhnen und nach der Durchschnittsgefahr des betreffenden Gewerbe- zweiges. Bei den landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften erfolgt die Umlage in Preußen nach dem Maßstabe der Grundsteuer, und in den übrigen Ländern nach gleichen oder einem ähnlichen Maßstabe. Die Mittel der Berufsgenossenschaft werden nicht nur zur Entschädigung für die Folgen von Betriebsunfällen verwendet, sondern auch zum Erlaß von Unfallverhütungsvorschriften, durch die vorgeschrieben wird, welche Einrichtung und Anordnung die Unternehmer in ihren Betrieben zur Ver- hütung von Unfällen zu treffen haben, und durch die das Verhalten geregelt wird, das die Versicherten zur Verhütung von Unfällen in den Betrieben zu beobachten haben. Verbotswidriges Handeln schließt aber eine Unfallentschädigung nicht aus, nur wenn ein Versicherter den Unfall vorsätzlich herbeigeführt hat, verliert er jeden Anspruch auf eine Unfallentschädigung, und wenn jemand bei einem Verbrechen sich einen Betriebsunfall zugezogen hat, so kann ihm der Schadenersatz ganz oder teilweise versagt werden. Entschädigungspflichtig sind nur Betriebsunfälle und solche Unfälle, die sich der Versicherte bei häuslichen und anderen Diensten zugezogen hat, zu denen .er von dem Unternehmer oder dessen Beauftragten (z. B. seiner Ehefrau) herangezogen worden ist.

Bei Verletzungen, die keine äußerlichen zu sein brauchen, sind vom Beginne der 14. Woche nach dem Unfall zu gewähren:

1. Krankenpflege wie in der Krankenversicherung;

2. eine Rente für die Dauer der durch den Unfall bedingten Verminderung oder Verlust der Erwerbsfähigkeit; a

3. im Falle des Todes des Versicherten ein Sterbegeld und eine Rente für die Hinterbliebenen.

Während der ersten 13 Wochen nach dem Unfall hat die Krankenkasse, der der Verletzte angehört, oder in den sehr seltenen Fällen, in denen der Verletzte nicht Mitglied einer Krankenkasse ist, der Betriebsunternehmer des Verletzten, die Fürsorge zu übernehmen; wenn in dieser Zeit die Unfallfolgen ohne Beeinträchti- gung der Erwerbsfähigkeit beseitigt sind, entsteht für die Berufsgenossenschaft keine Entschädigungspflicht. Ist aber festgestellt, daß die Berufsgenossenschaft (Ausführungs- behörde) auf Grund eines Unfalls eine Rente oder ein Sterbegeld zu zahlen hat, so muß sie der Krankenkasse die Kosten für Krankenpflege erstatten, die sie dem Ver- letzten innerhalb der ersten 13 Wochen nach dem Unfall gewährt hat. Das Kranken- geld eines unfallverletzten Kassenmitgliedes wird von dem Beginn der 5. Woche nach dem Unfall bis zum Ablauf der 13. Woche mindestens um ein Drittel seines regelmäßigen Betrages erhöht. Die Höhe der Unfallrente richtet sich nach dem Grade der durch den Unfall herbeigeführten Minderung der Erwerbsfähigkeit, und die Höhe der Unfallrente wird ausgedrückt in Prozenten der Vollrente, die beim völligen Verlust der Erwerbsfähigkeit zu gewähren ist, und zwei Drittel des, nach bestimmten Vorschriften zu ermittelnden Jahresarbeitsverdienstes des Versicherten beträgt. Soweit der Jahresarbeitsverdienst 1800 Mark übersteigt, wird er nur zu einem ‚Drittel .angerechnet. Zurzeit wird eine Zulage gewährt, wenn eine Unfallrente zwei Drittel der Vollrente oder mehr beträgt. Die Unfallrente wird nur für die Dauer der gänzlichen oder teilweisen Erwerbsunfähigkeit gewährt, die Waisenrente bis zur

568 O. Mugdan.

Vollendung des 18. Lebensjahres, und die Witwenrente bis zum Tode der Witwe oder bis zu ihrer Wiederverheiratung. Bei letzterer erhält die Witwe eine einmalige Abfindung in der Höhe des 3fachen Betrages ihrer Witwenrente. Innerhalb zweier Jahre nach dem Unfall kann eine „vorläufige“ Rente festgestellt werden, die jeder- zeit verändert werden kann. Nach Ablauf dieser 2 Jahre muß eine „Dauerrente* festgestellt werden, deren Veränderung nur in Zeiträumen von mindestens einem Jahr vorgenommen werden kann. Wenn die endgültigen Unfallsfolgen keinem Zweifel mehr unterliegen, dann kann auch innerhalb der ersten 2 Jahre nach dem Unfall eine Dauerrente festgestellt werden. Alle Leistungen und die Höhe der Rente die letztere unter Zuziehung eines Vertreters der Arbeitnehmer werden von dem Vorstande der Berufsgenossenschaft (Sektion) oder von dem, von ihm beauftragten Geschäftsführer derselben festgestellt. Von dem Betriebsunternehmer ist jeder Unfall in seinem Betriebe anzuzeigen, wenn durch den Unfall ein im Betrieb Beschäftigter getötet oder so verletzt wird, daß er stirbt oder für mehr als 3 Tage völlig oder teilweise arbeitsunfähig wird. Die Anzeige ist der zuständigen Ortspolizeibehörde und der durch die Satzungen bestimmten Stelle der Berufs- genossenschaft zu erstatten. Die Ortspolizeibehörde untersucht so bald als möglich den Unfall. Ist eine Unfalluntersuchung unterblieben, so muß, wenn eine Unfalls- entschädigung verlangt wird, der Unfall spätestens 2 Jahre nach seinem Eintritt oder nach den hervortretenden späteren Unfallsfolgen oder nach dem durch den Unfall hervorgetretenen Tod des Verletzten bei der zuständigen Berufsgenossenschaft an- gemeldet werden. Die Berufsgenossenschaft oder das von ihr beauftragte Organ er- teilt dem Verletzten über die festgestellte Entschädigung oder Leistung einen schrift- lichen Bescheid. Gegen diesen ist die Berufung an das Oberversicherungsamt und gegen das Urteil des letzteren der Rekurs an das Reichsversicherungsamt (Landes- versicherungsamt) zulässig, aber nur bei Streit um eine vorläufige Rente oder um eine Erstfestsetzung einer Dayıerrente.

Die Aufsicht über die Unfallversicherüng führt das Reichsversicherungsamt und sofern der Bereich der Berufsgenossenschaft (Ausführungsbehörde) nicht über die Grenzen von Bayern, Sachsen und Baden hinausgeht, das dortige Lebensver- sicherungsamt.

II. Invaliden- und Hinterbliebenenversicherung.

Versicherungspflichtig sind: 1. Arbeiter, Gesellen, Hausgehilfen; 2. Gehilfen und Lehrlinge, soweit sie nicht nach dem Angestelltenversicherungsgesetz ver- sicherungspflichtig oder versicherungsfrei sind, und unter der gleichen Voraus- setzung Schiffsbesatzungen; 3. Hausgewerbetreibende; 4. nach Antragstellung bei ihrer vorgesetzten Dienststelle Wehrsoldaten und Angehörige der Schutz- - polizei. Voraussetzung für die Versicherung der Arbeiter, Gesellen, Hausgehilfen, Gehilfen und Lehrlinge ist, daß sie gegen Entgelt beschäftigt werden. Wer aus einem versicherungspflichtigen Verhältnis ausscheidet, kann die Versicherung frei- willig fortsetzen, und die Selbstversicherung ist bis zur Vollendung des 40. Lebens- jahres kleineren Unternehmern und solchen Personen, die für versicherungsfrei erklärt worden sind, gestattet. Versicherungsfrei sind Beamte und andere bei öffent- lichen Körperschaften Beschäftigte, die Anspruch auf eine der Invalidenversicherung gleichwertige Pension haben und Personen mit Hochschulbildung, die während der wissenschaftlichen Ausbildung gegen Entgelt tätig sind. Die Invaliden- und Hinter- bliebenenversicherung wird durch die Landesversicherungsanstalten durchgeführt; dieselben sind in Anlehnung an die Staats- oder Gemeindeverwaltung für örtliche

aoo ae o mee en —— urn

Die Reichsversicherungsordnung. 569

Bezirke, in Preußen für jede Provinz und die Stadt Berlin, errichtet. Die Verwaltung wird von Beamten geleitet, denen im Vorstande und im Ausschusse gewählte Ver- treter der Versicherten und ihrer Arbeitgeber, beide in gleicher Zahl, zur Seite stehen. An Stelle der Landesversicherungsanstait treten für die bei der Reichsbahn- gesellschaft Beschäftigten die Arbeiter-Pensionskassen der deutschen Reichsbahn- gesellschaft; die .Invalidenversicherung der im Bergbau beschäftigten Personen wird durch den Reichsknappschaftsverein durchgeführt und schließlich besorgt die See- berufsgenossenschaft auch die Invaliden- und Hinterbliebenenversicherung der bei ihr gegen Unfall versicherten Personen. Man bezeichnet die an Stelle der Landes- versicherungsanstalt tretenden Körperschaften als „Sonderanstalten“ der Invaliden- versicherung. Die Mittel werden durch das Reich und durch Beiträge, die je zur Hälfte von den Versicherten und ihren Arbeitgebern für jede Woche der Beschäfti- gung gezahlt werden (Beitragswoche), aufgebracht. Die Entrichtung der Beiträge erfolgt durch Einkleben von besonderen, in den Postanstalten erhältlichen Marken in das Quittungsbuch. Die Einklebung hat der Arbeitsgeber zu besorgen, und er zieht bei der Lohnzahlung die Hälfte des Beitrages vom Lohne ab. Versicherungs- berechtigte, die den vollen Beitrag zu zahlen haben, haben die Marken selbst ein- zukleben. Es gibt für 5 Lohnklassen besondere Marken; die niedrigste Lohnklasse geht bis zu einem Wochenarbeitsverdienst bis 10 Mark und als Wochenbeitrag sind hier 20 Pfennig zu zahlen, die 5. Lohnklasse umfaßt alle, die einen Wochenarbeits- verdienst über 25 Mark haben und hier beträgt der Wochenbeitrag 1 Mark. Wenn ein Versicherter wegen einer mindestens eine Woche dauernden Krankheit arbeitsunfähig war, so werden ihm die vollen Wochen dieser Arbeitsunfähigkeit angerechnet, ohne daß Beiträge entrichtet zu werden brauchen, und dasselbe gilt für die Dauer von 8 Wochen für eine Arbeitsunfähigkeit, die durch eine Schwangerschaft oder ein regelmäßig verlaufenes Wochenbett veranlaßt worden ist. Wenn ein Versicherter die Wartezeit, die bei der Invalidenrente mindestens 200 Beitragswochen beträgt, er- füllt hat und die Anwartschaft aufrecht erhalten hat, so erhält er eine Invaliden- rente ohne Rücksicht auf sein Lebensalter wenn er dauernd invalide ist; und ohne Rücksicht auf das Maß der Erwerbsfähigkeit wenn er das 65. Jahr voll- endet hat, und eine Krankenrente, wenn er mindestens 26 Wochen krank gewesen und vorübergehend invalide gewesen ist. Nach dem Tode des Versicherten, der die Bedingungen zur Erhaltung der Invalidenrente erfüllt hat, erhalten seine invalide Witwe und seine Kinder unter 18 Jahren, unter Umständen auch seine eltern- losen Enkel, seine Eltern und Großeltern, eine Rente. Die Invalidenrente besteht aus einem Grundbetrag von 120 Mark und Steigerungssätzen, die ein Zehntel der gültig entrichteten Beiträge ausmachen. Der Reichszuschuß für jede Invaliden- und Witwenrente beträgt 48 Mark, für jede Waisenrente 24 Mark. Der Invaliden- rentner erhält für jedes eheliche Kind unter i8 Jahren einen Kinderzuschuß von 36 Mark jährlich. Die Anwartschaft erlischt, d. h. alle bisher geklebten Marken werden ungültig, wenn während zweier Jahre nach dem auf dem letzten Quittungs- tage verzeichneten Ausstellungstage nicht eine bestimmte Anzahl Wochenbeiträge entrichtet worden sind. Das Wiederaufleben der Anwartschaft ist nur sehr schwer wiederherzustellen. Bei Wiederverheiratung wird die Witwe mit dem Betrag ihrer Safesrente abgefunden. |

Die Landesversicherungsanstalten sind befugt, ein Heilverfahren einzuleiten, wenn sie glauben, daß durch ein solches der Eintritt der Invalidität verzögert oder abgewendet werden könnte. Ob die Landesversicherungsanstalten ein Heilverfahren einleiten wollen, ist ailein ihre Sache, gezwungen können sie zu einem solchen nicht

570 O. Mugdan.

werden. Wer eine Rente haben will, hat dies bei dem zuständigen Versicherungs- amte oder auch bei der zuständigen Landesversicherungsanstalt unter Einreichung der Aufrechnungen der Quittungskarte und eines ärztlichen Zeugnisses zu bean- tragen. Die Entscheidung hat die Landesversicherungsanstalt. Gegen die ablehnende Entscheidung ist Berufung an das Oberversicherungsamt und gegen dessen Urteil in einigen Fällen die Revision beim Reichsversicherungsamte (Landesversicherungs- amte) zulässig. /

Die Aufsicht über die Landesversicherungsanstalten und Sonderanstalten führt das Reichsversicherungsamt oder, unter den bei der Unfallversicherung erwähnten Verhältnissen, das Landesversicherungsamt.

Angestelltenversicherung.

Die Angestelltenversicherung wird in der Reichsversicherungsordnung nicht behandelt; für sie ist das Versicherungsgesetz für Angestellte maßgebend. Da aber die Angestelltenversicherung in engster Beziehung zur Invalidenversicherung steht und die Vorschriften beider Versicherungen oft übereinstimmen, so erscheint es zweck- mäßig, die Darstellung der Angestelltenversicherung an die der Reichsversicherungs- ordnung anzuschließen.

. Auf Grund der Angestelltenversicherung ge alle Angestellten, die nicht mit mechanischen und niederen Diensten beschäftigt werden, d.s. in der Hauptsache alle die Personen, deren Krankenversicherungspflicht jetzt bei einem Jahresarbeits- verdienst von 2700 Mark aufhört, versicherungspflichtig. Zu diesen Personen gehören auch angestellte Ärzte. Reichswehrsoldaten und Angehörige der Schutzpolizei können nach Antragstellung bei ihrer vorgesetzten Dienststelle für versicherungspflichtig er- klärt werden. Voraussetzung für die Versicherung ist außer dem Vorhandensein der Berufsfähigkeit eine Beschäftigung als Angestellter gegen Entgelt, ein Jahres- arbeitsverdienst bis zu 4000 Mark und die Nichtvollendung des 60. Lebensjahres. Die Bestimmung über Versicherungsberechtigung und Versicherungsfreiheit sind denjenigen der Invalidenversicherung sehr ähnlich; hervorzuheben ist, daß versicherungsfrei ist, wer zu seiner wissenschaftlichen Ausbildung für seinen zukünftigen Beruf gegen Entgelt tätig ist. Ob hierunter auch Assistenzärzte an öffentlichen Krankenanstalten fallen, ist zurzeit strittig und muß erst endgültig entschieden werden. Die Angestellten- versicherung wird durch die Reichsversicherungsanstalt in. Berlin durchgeführt. Die- selbe wird von einem Direktorium geleitet, dem ein Verwaltungsrat zur Seite steht, und das auch durch Vertrauensmänner, die in jedem Kreise gewählt werden, unter- stützt wird. Im Direktorium und im Verwaltungsrat wirken wieder neben Beamten gewählte Vertreter der Versicherten und ihrer Arbeitgeber mit. Die Aufsicht über das Direktorium übt der Reichsarbeitsminister aus. Die Mittel zur Angestelltenver- sicherung werden, je zur Hälfte, von den Versicherten und ihren Arbeitgebern auf- gebracht, u. zw. durch Beiträge für jeden Monat der Beschäftigung. Für die Ent- richtung der Beiträge gilt dasselbe wie bei der Invalidenversicherung. Der Ver- sicherte erhält Ruhegeld (wegen Krankenruhegeld s. Krankenrente bei der Invaliden- versicherung), wenn er entweder 65 Jahre alt oder dauernd berufsunfähig ist. Die Wartezeit für Erlangung des Ruhegeldes beträgt für männliche Versicherte 120, für weibliche 60 Beitragsmonate, wenn 60 Beitragsmonate auf Grund der Versicherungs- pflicht nachgewiesen sind, sonst für männliche Versicherte 150 und für weibliche Versicherte 90 Beitragsmonate; für Selbstversicherte in allen Fällen 180 Beitrags- monate. Die Bestimmungen über die Hinterbliebenenrenten sind denjenigen über

Die Reichsversicherungsordnung. 571

dieselben in der Invalidenversicherung sehr ähnlich, aber in der Angestelltenver- sicherung erhält auch die nichtinvalide Witwe Witwenrente. Dieselbe fällt bei der Wiederverheiratung fort und die Witwe erhält dann als Abfindung den einmaligen Betrag ihrer Jahresrente. Die Wartezeit für die Hinterbliebenenrente beträgt 120 Bei- tragsmonate. Auch die Reichsversicherungsanstalt ist zur Einleitung eines Heilver- fahrens befugt. Die Leistungen sind bei der Reichsversicherungsanstalt zu beantragen und dieselbe stellt die Leistungen fest. Die Rechtsmittel sind dieselben wie bei der Invalidenversicherung. Ebenso sind die Bestimmungen über den Verlust des An- spruches und das Erlöschen der Anwartschaft den Vorschriften der Invalidenver- sicherung nachgebildet.

Häufig kommt es vor, daß jemand in seinem Leben eine gewisse Zeit in- validenversicherungspflichtig und andere Zeiten angestelltenversicherungspflichtig ist. Solche Personen bezeichnet man als Wanderversicherte. Bei der Feststellung des Betrages einer Invalidenrente oder des Ruhegeldes kommen bei diesen Wander- versicherten sowohl die für die Invalidenversicherung als auch für die Angestellten- versicherung gültig eingezahlten Beiträge in Anrechnung.

a

Die Methode der Angiostomie und die mit Hilfe dieser Methode erreichten Resultate‘.

Von Prof. Dr. E. S. London, Leningrad. Mit 4 Abbildungen im Text.

Die Aufgabe dieses Vortrages ist, die Grundlagen meiner für das Studium des intermediären Stoffwechsels dienenden neuen Methode der Angiostomie in allgemeinen Umrissen darzulegen und die Resultate der an angiostomierten Hunden mit Eiweißstoffen, Kohlenhydraten, Salzen und Wasser ausgeführten ersten Experi- mente mitzuteilen.

Längst und augenscheinlich unwiderruflich entschwand die Zeit, da aus dem Kopfe eines Gelehrten eine Idee ebenso unerwartet wie Pallas aus dem Haupte des Zeus emporzuwachsen pflegte. Alles Neue in der Wissenschaft erscheint gegenwärtig als eine aus einem irgendwoher verwehten Korne des Alten auf- gegangene Frucht. Solches bezieht sich auch auf die Angiostomie. Die Angiostomie ist eine. auf dem kalten, finsteren Norden Rußlands aus einem vom gesegneten, saftigen Boden des gewesenen und zukünftigen geistigen Weltcentrums Deutsch- lands dahin verwehten Keime emporgewachsene Frucht.

Die Experimentalchirurgie hat ihre komplizierte und lange Geschichte, in welcher Heidenhain eine der hervorragendsten Stellungen einnimmt. Er hat in die laboratorische Fistelmethodik die Idee eines ganz isolierten Studiums der einzelnen Bestandteile des komplizierten Verdauungsapparates eingeführt und entwickelt. Alles, was auf diesem Gebiete von den nachfolgenden Gelehrten hier in Deutschland und in den anderen Ländern erreicht worden ist, erscheint im Grunde genommen bloß als eine Detaillierung, als eine ausführlichere Ausarbeitung der von Heidenhain angelegten Grundlagen.

Nur dank der allseitigen Ausarbeitung der Dauerfistelmethodik für das Studium der funktionellen Tätigkeit des Verdauungsapparates hat dieser letztere eine so volle und tiefe physiologische Beleuchtung erhalten. Der Verdauungsakt aber ist eigentlich sozusagen nur die Vorhalle desjenigen Tempels, in welchem sich die fundamentalen physiologischen Sakramente abspielen. Es ist vollkommen augenscheinlich, daß, wenn zu diesem Gebiet der intermediären Prozesse eben solch ein Schlüssel wie für das Gebiet der Verdauungsprozesse aufgefunden werden könnte, dieses uns die Hoffnung einflößen würde, das erste mit derselben Vollkommenheit zu bemeistern, mit welcher wir das zweite erobert ‚hatten. Die Methode der Angiostomie bewirbt sich um eine Lösung dieses methodologischen Problems.

Die Idee der Angiostomie ist einfach: die Gefäßröhren so zu fistulieren, wie die Darmröhren fistuliert werden; in das Lumen des Oefäßrohres kann man natürlich nicht ebenso ungestraft eine permanente Metallkanüle einstellen wie in den Darm.

1 Vortrag, gehalten in der Berliner medizinischen Gesellschaft am 16. Juli 1924.

574 E. S. London.

man zu diesem Zwecke 14—16 Tage warten, zu diesem Termin aber stellte es sich heraus, daß in der Mehrzahl der Fälle die Pfortader von der Bauchwand, an welche sie angenäht war, bereits fortgegangen ist. Die Bedeutung der ersten Operation, welche an und für sich genommen nutzlos und ziellos ist, wird jetzt begreiflich. Dank ihrem immunisierenden Effekt vollzieht sich das Zuwachsen der medialen Bauchwunde nach der zweiten Operation bedeutend schneller, so daß die Aus- führung der dritten Operation schon am 8. bis 9. Tage möglich wird, wo die Pfortader noch nicht begonnen hat, von der Fixationsstelle abzutreten. Das Ver- fahren selbst eines Anlegens des Kanülchens ist sehr einfach. Ihre Öhrchen werden mit Hilfe von Fäden an die Wand der Vene befestigt: ein Öhrchen an ihrer

Fig. 132.

Fixationsstelle mit der Bauchwand, wobei jedoch die Pfortaderwand durchgestochen wird, das andere aber auf einige Millimeter von diesem Punkte abstehend an der Wand der Vene selbst. Damit ist die Sache erledigt (Fig. 132).

Bei genügender Erfahrung in der Operationstechnik gelingt es in einer und derselben Operation beide Verfahren, d. h. Annähen der Pfortaderwand an die Bauch- wand und Anlegung der Kanüle, auszuführen.

Nach der Pfortader folgt die Lebervene. Hier ist es gleichfalls notwendig, das Kanülchen an ein an die Bauchwand befestigtes Gefäß anzulegen. Der Unterschied besteht darin, daß diese beiden Vorgehen, infolge von topographischen Ursachen während ein und derselben Operation ausgeführt werden müssen, weil die Leber- vene durch die Masse der Leber hindurch geht, von welcher sie nicht abgetrennt werden kann. Damit der Hund solch eine ernste doppelte Operation ertragen könne, muß er durch die vorhergegangenen Operationen besonders gut immunisiert sein. Sie wird deshalb gewöhnlich auch an einem Hunde nach vorhergegangenen drei

Die Methode der Angiostomie. 575

Operationen ausgeführt, nachdem er drei Operationen zur ÄAnlegung der Pfortader- kanüle glücklich überstanden hat. Die Operation selbst wird in der Weise ausge- führt, daß zur Befestigung der Leber an die Bauchwand zwei Äste der Pfortader benutzt werden; die Öhrchen der Kanüle werden entweder an demjenigen Binde- gewebestreifen befestigt, welcher die Lebervene mit der Pfortader verbindet oder an der Lebervene selbst (Fig. 133). Um die Kanüle an die Milzvene anzulegen, kann man auf zweierlei Art verfahren: entweder näht man in ihr Lumen ein Stück der Aorta ein und fixiert hierauf eine Kanüle an ihr, oder aber kann man zu diesem Zwecke die Mündung der Milzvene auswählen, welche, besonders bei einem großen Hunde, einen genügend großen Umfang erreicht. Wiederum ist sowohl in dem einen als auch in dem anderen Falle eine vorhergehende operative Immunisation not- wendig.

Auf die Vena pancreatico-duodenalis wird die Kanüle ebenfalls wie auf die Pfortader in drei Tempos angelegt, natürlich mit dem Unterschied, daß die Kanüle- öhrchen an die Mündung der genannten Vene befestigt werden.

Fig. 133.

An der Nierenvene wird die Kanüle am besten in zwei Tempos angelegt: bei der ersten Operation wird das Ende des Netzes an diejenige Stelle des Peritoneums angenäht, welche der Nierenvene in topographischer Hinsicht entspricht; derjenige Abschnitt dieses Netzes, welcher dabei sich auf die Niere legt, wird an dieselbe an der Mündungsstelle der Vene angenäht. Ungefähr nach drei Wochen erübrigt nur, die Kanüle anzulegen, wobei ein Öhrchen an die Fixationsstelle des Netzes auf der Niere, das andere aber an die Nierenvene selbst befestigt wird.

Sollte es sich um ein Stomosieren der Venae suprarenales oder der Vena spermatica handeln, so könnten diese Operationen nach dem Vorbilde derjenigen ausgeführt werden, welche für die Vena pancreatico-duodenalis beschrieben wurde, natürlich mutatis mutandis. Übrigens müssen gerade diese Operationen noch weiter aus- gearbeitet und verbessert werden. Das ist vorläufig alles, was über die Operations- technik gesagt werden kann.

Das Experimentieren mit einem angiostomierten Tier ist sehr einfach. Führen Sie dem Hunde entweder per os oder durch die Magen- oder Darmfistel (Fig. 134) oder endlich parenteral oder intravenös das dem Studium obliegende Versuchs- produkt zu und entnehmen Sie gleichzeitig damit, oder nach verschiedenen Zeit- räumen hierauf, das Blut (Fig. 134), um dasselbe zu analysieren!

Der Blutentnahmeprozeß an und für sich ist ganz schmerzlos, da man zu dem Zwecke, um in das Gefäß zu gelangen, nur ein festes narbiges Gewebe zu

576 E. S. London.

durchstechen hat. Infolge derselben Ursache tritt nach dem Herausnehmen der Nadel, wie dick dieselbe auch sei, auch nicht der geringste Blutstropfen hervor. Infolge ebenderselben Ursache wiederum kann man im Verlauf eines z.B. 1'/, Stunden dauernden Versuchs aus ein und demselben Gefäß beim Durchstechen ein und der- selben Stelle 5 mal Blut entnehmen; augenscheinlich kann man dies auch noch öfters ausführen, doch zeigte sich bis jetzt dazu einfach kein Anlaß. `

Um mit der Methodologie aufzuräumen, erlaube ich mir zu bemerken, daß es sich vorläufig um Hunde mit drei Gefäßkanülchen handelte: der Pfordader, der Nierenvene und der Lebervene. Es liegt kein Grund vor, weshalb man bei solch einem Hunde auch nicht noch die 4. und 5. Kanüle anbringen könnte, falls seitens der topographischen Verhältnisse keine Hindernisse vorliegen.

Fig. 1%.

Es gibt solche neue Methoden, welche, ungeachtet ihrer unbedingten Neuheit, ihrer Natur nach nur alte wissenschaftliche Sätze bestätigen können. Hinsichtlich der Methode der Angiostomie kann so etwas nicht gesagt werden. Sie beleuchtet uns bei vollkommen normalen Verhältnissen solche dunkle Bezirke, zu welchen die Experimentalanalyse bei solchen Verhältnissen früher keinen Zutritt hatte. Obgleich nicht behauptet werden kann, daß es bei den bei uns in Rußland herrschenden äußerst schwierigen Bedingungen der laboratorischen Arbeit uns gelungen wäre, bereits einen sehr bedeutenden Nutzen aus dieser Methode zu ziehen, so hat sich trotzdem so viel Versuchsmaterial aufgehäuft, daß auf Grund desselben bestimmte vorläufige Schlußfolgerungen gezogen werden können, welche sich auf das Schicksal der Verdauungsprodukte der Eiweißstoffe, Kohlenhydrate und gleichfalls auf die den normalen Verdauungsprozeß begleitenden Fermente, Wasser und Salze beziehen.

Verweilen wir vor allem bei den Eiweißstoffen. Es gab viele Meinungen darüber, was für ein Eiweißabbauprodukt die Reihe der Veränderungen jenseits des Darmes eröffnet. Nachdem von Loewi, Abderhalden u.a. festgestellt worden war, daß die aus dem Eiweiß gewonnenen freien Aminosäuren den Stoffwechsel ebenso gut wie das Eiweiß selbst ausführen, setzte sich die verbreitete Meinung fest, daß im intermediären Stoffwechsel als Umtauscheinheit des Eiweißes ausschließlich die

SEET

Die Methode der Angiostomie. 577

freien Aminosäuren dienen, welche auch im Blute selbst von Abderhalden nach- gewiesen sind. Direkte Versuche an angiostomierten Hunden bestätigen einerseits diese Ansicht, anderseits aber neigen sie uns zu einer komplizierteren Annahme. Wenn auf nüchternen Magen bei Hunden im Blutplasma ein bestimmter, ziemlich konstanter Gehalt von Aminostickstoff und ein vollständiges oder, vor- sichtig ausgedrückt, ein fast vollständiges Fehlen von Polypeptidstickstoff entdeckt wird, was auf ein Vorhandensein im Blut von bloß freien Aminosäuren hindeutet, so wird nach dem Beginn des Resorptionsprozesses der Eiweißprodukte im Blut der Pfortader, der Lebervene und auch im weiteren Kreislauf außer dem Amino- stickstoff noch Polypeptidstickstoff entdeckt (M. P. Kalmykow). Dies weist. auf das Erscheinen im Blute vom komplizierten peptidartigen Aminosäureverbindungen hin. Da im Darmchymus bei der Eiweißverdauung in großer Menge Polypeptide von ver- schiedener Kompliziertheit angetroffen werden, so ist das erste, was hier einfallen kann, daß sie gerade als solche aus dem Darmlumen, durch die Darmwand in das Pfort- aderblut hindurchgehen, welches dieselben direkt durch die Leber hindurchführt, von wo sie auf eine gewisse Zeit in das peripherische Gefäßsystem gelangen. Falls sich aber dies so einfach verhalten würde, so müßte erwartet werden, daß beim Befinden im Darm von Verdauungsprodukten, welche nur allein aus Aminosäuren ohne jegliche Beimischung von Polypeptidverbindungen bestehen, im Blute dann nur allein Aminostickstoff ohne jede Beimischung von Polypeptidstickstoff erscheinen müßte. Der Versuch jedoch stellt etwas anderes fest, u.zw. daß auch in diesem Falle das Blut sowohl der Pfortader, der Lebervene als auch der Femoralis und Aorta nicht nur an Aminostickstoff, sondern auch an Polypeptidstickstoff sich be- reichert, mit demselben relativen Gehalt, wie dies bei dem Befinden im Darm von an Polypeptidenverbindungen reichen Verdauungsprodukten stattfindet. Es ist augen- scheinlich, daß der Polypeptidstickstoff des Blutes nicht vom Darm herrührt und, wollen wir uns vorläufig vorsichtiger ausdrücken, nicht nur vom Darm herrührt, sondern intermediären Ursprungs ist. Es muß vielleicht im intermediären Gebiet irgend ein Organ aus den einfacheren Aminosäuren kompliziertere Polypeptid- verbindungen synthesieren. Einfache Versuche haben dies Organ bloßgelegt es ist die Leber. Wenn man eine vergleichende Analyse des Pfortaderblutes und des Blutes der Leber während des Resorptionsprozesses des Eiweißes ausführt einerlei, welcher Art das Eiweiß ist, ein vegetabilisches oder animalisches, genuines oder denaturiertes —, so stellt sich heraus, daß der Durchfluß des Blutes durch die Leber eine Verarmung desselben an Aminostickstoff unter gleichzeitiger Bereiche- rung desselben an Peptidstickstoff nach sich zieht. Besonders grell tritt dies bei einer einfacheren Versuchsanordnung hervor. Einem Hunde mit einer Pfortader- und Leberfistel wurde im Verlauf von 2 Minuten eine Lösung eines bis auf freie Aminosäuren degradierten Fleisches in die Pfortader eingeführt, und gleichzeitig mit der Einspritzung wurde aus der Lebervene und der Femoralarterie Blut entnommen. Es stellte sich heraus, daß aus der großen Menge des Aminostickstoffs, welche. in die Leber eingeführt wurde, nur ein sehr geringer Teil in der Lebervene zurück- gefunden wurde, die ganze übrige Masse desselben aber in einen Peptidzustand übergangen war. Wohin, läßt sich fragen, verschwinden die sich in der Leber stets bildenden und in den allgemeinen Blutstrom eintretenden Polypeptidverbindungen? Es ist unzweifelhaft, daß sie sehr bald von den Zellen verschiedener Organe auf- genommen werden, weil im entgegengesetzten Falle ein allmähliches starkes Wachsen ihres Inhalts im Blute stattfinden würde, was tatsächlich nicht wahrgenommen wird. Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 37

578 E. S. London.

Außerdem wird es infolge einer Neubildung von Polypeptidverbindungen in der Leber unterdessen schwierig, den Ursprung des Polypeptidstickstoffs der Pfort- adervene aufzuklären: Ist er ein Produkt des Darmabbaues oder des Leberaufbaues? Um eine Gleichung mit zwei Unbekannten zu lösen, muß ein Unbekanntes ausge- schlossen werden. Bedeutend leichter ist es natürlich, den Darm auszuschließen, ohne denselben hierbei irgendwie zu berühren, als die Leber zu entfernen, was für lange Zeit unter Beibehaltung normaler Verhältnisse ganz unmöglich ist. Dem- selben Hunde, bei welchem das Aminosäuregemisch in die Pfortader eingeführt wurde, um das Blut der Lebervene zu analysieren, wurde im Verlauf von 2 Minuten eine Lösung eines Peptons Witte in die Jugularvene (10 cm? einer 5% igen Lösung) eingeführt und gleichzeitig wurde das Blut aus der Vena portae und der Arteria femoralis aufgenommen. Es stellte sich heraus, daß das arterielle Blut, welches eine gewisse Menge des eingeführten Polypeptidstickstoffs (55% des zugekommenen N) enthielt, in die Pfortader mit einem verminderten Gehalt desselben gelangte!. Dies scheint, mit anderen Worten gesagt, zu bedeuten, daß, wenn das Gefäßnetz der Leber gewissermaßen sozusagen als Grab für den Aminostickstoff und wahr- scheinlich nicht für einen jeden erscheint, so erscheint das Gefäßnetz der Villi intestinales gewissermaßen als Grab für den Polypeptidstickstoff und wahrscheinlich wiederum nicht für einen jeden. Vorläufig stehen wir im intermediären Stickstoff- gebiet an dieser Stelle und dabei noch mit einer gewissen Unsicherheit. Eine ganze Menge von aus dem Gesagten entstehenden Fragen, und sogar genauer gesagt, ganze Mengen solcher Fragen nehmen ihren Platz in einer Reihenfolge ein, um ihre Lösung in verschiedenartigen zukünftigen Versuchen an angiostomierten Hunden zu erwarten. |

Es wäre gar nicht erstaunlich, falls die von uns skizzierte neue physiologische Eigenschaft der Leber für die experimentelle und klinische Ausarbeitung einer neuen Basis für die funktionelle Diagnostik der Leber sowohl als auch der Darmwand als nützlich erscheinen würde.

Wenden wir uns jetzt den Kohlenhydraten zu!

Auf Grund von Untersuchungen des Blutes der peripherischen Gefäße ist festgestellt worden, daß der Zuckergehalt im Blute nicht als eine unveränderliche konstante Größe erscheint. Bei vollkommen normalen Verhältnissen zeigt sie in gewissen unbedeutenden Grenzen Schwankungen auf diese oder die andere Seite. Außerdem ist bekannt, daß die Schwingungsweite dieser Schwankungen von der Quantität und Qualität des in den Organismus eingetretenen Kohlenhydrates abhängt. Der Mechanismus dieser Erscheinung aber bleibt einfach deswegen unaufgeklärt, weil er in den tiefen Organen verborgen ist, welche direkt und unmittelbar für die Forschung nicht zugänglich waren. Die von uns in dieser Richtung unternommenen Versuche (N. P. Kotschneff) haben folgende Resultate ergeben.

Über die Intensität der Resorptionsarbeit des Darmes kann man nach der Größe der Zunahme des Zuckergehalts im Blute der Pfortader auf Rechnung seines Eintritts aus dem Darm urteilen. Von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet, wird der im Darm bei der Verdauung von Weißbrot sich bildende Zucker am besten resorbiert: die Bereicherung des Pfortaderblutes an Zucker aus dem Darm erreicht hierbei 160 mg pro 100 cm? Blut. Augenscheinlich erreicht der aus dem Brot zur Resorption vorbereitete Zucker im Chymus eine Konzentration von 20%, da die durch die Fistel in den Darm eingeführte Glykose eben solch eine Zunahme des

e

ı Pro 100 cm? verlor das arterielle Blut während der Passage durch die Villi intestinales 0:26 mg Polypeptidstickstoff und gleichzeitig gewann es 0:29 mg Aminostickstoff.

Die Methode der Angiostomie. 579

Zuckers in der Pfortader gibt, falls die Konzentration der eingeführten Lösung 20% erreicht.

Eine andere an Zucker reichhaltige natürliche Nahrung ist die Milch, aus welcher die Lactose sehr gut resorbiert wird. Im Verlauf von 1—1'/, Stunden wird bereits der ganze Milchzucker resorbiert. Wenn hierbei die Zunahme des Zucker- gehalts im Pfortaderblut nicht höher als 60 mg pro 100 cm? steigt, so erklärt sich dies höchstwahrscheinlich auf Grund einer verhältnismäßig schwachen Konzentration des Zuckers in der Milch (4—5%).

Um über die Resorbierbarkeit verschiedener Zuckerarten überhaupt zu urteilen, müssen dieselben in den Darm in gleicher Konzentration sagen wir von 5% eingeführt werden, und das Pfortaderblut muß einer Untersuchung nach Verlauf ein und desselben Termins nach der Einführung sagen wir nach einer halben Stunde unterworfen werden. In diesem Falle wird folgendes wahrgenommen: Am besten werden die Glykose und die Galaktose resorbiert, welche unter den angegebenen Bedingungen eine Zunahme von 50 mg auf 100 cm? ergeben; die Lävulose gibt eine 2mal kleinere Zahl (25); die Arabinose gibt eine noch 2mal kleinere Zahl (13). So verhält sich die Sache bei den Monosacchariden. Je komplizierter der Zucker ist, desto geringer ist seine Resorptionsintensität: die lösbare Stärke z.B. hat eine 21/, mal geringere Intensität der Resorption als die Glykose; sie ergibt bei den genannten Verhältnissen die Zahl 20. Hier spielt nicht nur die Kompliziertheit der Moleküle allein eine Rolle Nehmen wir ein Beispiel. Die Lactose aus der Milch wird, wie wir gesehen haben, gut resorbiert, unterdessen aber wird das käufliche Präparat der Lactose außerordentlich langsam resorbiert: erst nach einer Stunde nach ihrer Einführung in den Darm gelingt es, im Blut der Vena portae eine Zunahme des Zuckers von 10 mg auf 100 cm? zu beobachten. Besser verläuft die Resorption der Lactose, wenn sie in der Milch aufgelöst wird, obgleich auch in diesem Falle die Resorption 2mal schwächer als dann verläuft, wenn die Glykose der Milch beigefügt worden ist.

Wenn wir über die funktionelle Tätigkeit des Darmes nach der Zunahme des Zuckers im Arterienblut während seines Passierens durch die Darmwand zu der Pfortader urteilen, so können wir über die funktionelle Tätigkeit der Leber nach der Abnahme des Zuckers in dem Pfortaderblut bei seinem Durchfluß durch die Leber ein Urteil fällen. Es ist klar, daß je intensiver die Leber funktioniert, desto stärker von ihr der aus dem Darm resorbierte Zucker zurückgehalten wird. Es stellt sich nun heraus, daß die Leber ein ebensolches eklektisches Verhalten den verschiedenen Arten des Zuckers gegenüber zeigt, wie beim Darm wahrgenommen wird, jedoch nicht in der gleichen Richtung wie bei demselben. Wir haben gesehen, daß der Darm am besten die Glykose und die Galaktose resorbiert, sich ihnen gegenüber ganz gleich verhaltend. Von der Leber kann solches nicht gesagt werden. Sie hält gleichfalls die resorbierte Glykose am besten zurück, indem sie dieselbe aus dem Blut vollständig oder fast vollständig extrahiert (bis 90—95 mg pro 100 cm? vom Blut); von der Galaktose aber hält sie nur ungefähr die Hälfte zurück, indem sie dies den Muskeln zu bearbeiten überläßt. Erst bei großen Mengen der Glykose leisten die Muskeln der Leber Beistand.

Die Lävulose, welche, wie oben gesagt, vom Darm 2mal schwieriger als die zwei anderen wichtigen Hexosen der Nahrung aufgenommen wird, wird im Gegen- teil von der Leber bedeutend besser als die Galaktose aufgenommen. So wurden von ihr von 13 mg auf 100 cm des in die Leber gelangten Blutes 10 mg oder 77%, 19% mehr als bei der Galaktose, zurückbehalten.

31°

580 E. S. London.

Verschiedene Arten von Zucker werden in verschiedener Proportion vop der Leber und den Muskeln zurückgehalten, wo dieselben in Glykogen sich verwandeln. Da aber das Glykogen in der Mehrzahl der Gewebe und gleichfalls im Blute vor- gefunden wird, so entsteht die Frage, ob das Glykogen in denselben sich aus dem Zucker auf dieselbe Weise bildet, wie es sich in der Leber und den Muskeln ent- wickelt, oder aber ob es aus diesen letzteren dahin verweht wird, sich daselbst in fertigem Zustand ablagernd. Diese Frage kann durch eine vergleichende Analyse des Blutes aus verschiedenen Bezirken leicht gelöst werden. Wenn es sich heraus- stellen würde, daß das aus der Leber oder den Muskeln abfließende Blut an Gly- ` kogen reichhaltiger als das zu solchen Organen hinfließende Blut wäre, so müßte man bei der zweiten Möglichkeit stehen bleiben, d bh bei der Hypothese der Ver- breitung des Glykogens im Organismus auf dem Wege der Infiltration. Das vor- läufig vorhandene Experimentalmaterial (A. J. Charyt) lenkt unsere Meinung gerade auf diese Seite, da das an Glykogen am meisten reichhaltige Blut als dasjenige bis jetzt erschien, welches von der Leber abfließt. |

Unsere Forschungen dehnen sich noch auf andere Richtungen aus. Es wurden Versuche angestellt (T.S. Abaschydze), um aufzuklären, wie das Wasser und die Salze im Organismus resorbiert und verbreitet werden. In dieser Richtung steht noch viel zu tun bevor, doch ist bereits jetzt klar, daß das Wasser und die Salze, in welcher Menge dieselben sich auch im Verdauungstractus befinden mögen, niemals mit einer solchen Intensität resorbiert werden, daß eine übermäßige Überfüllung ihrerseits des Gefäßinhaltes stattfinden könnte. Es gab z.B. keinen einzigen Fall, daß das Pfort- aderblut vom resorbierten Wasser mehr als auf 1% verdünnt worden wäre Um- gekehrt findet es sogar statt, daß ungeachtet der Resorption des Wassers aus dem Darm, das Blut im Endresultat an Wasser und gleichfalls auch an Chloriden ärmer wird. Dies kann man vielleicht nur dadurch erklären, daß gleichzeitig mit ihrer Resorption in das Blut eine verstärkte Ausscheidung derselben aus dem Blute für die Bedürfnisse der Verdauungssäfte stattfindet.

Außerdem war es interessant, das Schicksal der Verdauungsfermente zu ver- folgen (M. P. Kalmykow) und ebenfalls der oxydierenden Fermente (N.J.Schochor), welche sich manchmal in ziemlich bedeutenden Mengen im Darm ansammeln. Bis jetzt war es nicht gelungen, Beweise für die Annahme zu erhalten, daß die Ver- dauungsfermente als solche durch die Darmwand hindurch gehen. Es geht bei diesem Prozesse mit ihnen etwas vor; was aber gerade stattfindet, können nur nachfolgende zukünftige Forschungen beantworten. Mit den oxydierenden Fermenten scheint die Sachlage sehr kompliziert zu sein. Überhaupt lassen sich sogar nur auf Grund des hier vorgestellten Materials so viele nachfolgende Forschungen voraussehen und sie sind so selbstverständlich, daß es an dieser Stelle über dieselben zu sprechen voll- kommen überflüssig wäre und man sich folglich auf das Gesagte beschränken kann.

ERGEBNISSE DER GESAMTEN MEDIZIN

herausgegeben von

Professor Dr. TH. BRUGSCH

Systematische Inhaltsübersicht

aller in Band I—VI bisher erschienenen Arbeiten

Systematische Inhaltsübersicht

aller in Band I—VI bisher erschienenen Arbeiten:

Innere Medizin: A. Infektionskrankheiten (inklusive Serologie):

Band Diphtherie: 2: 0... en e, a et éi ra ae Ze Prof. Dr. H Eckert, Berlin ... I Febris quintana (Fünftagefieber) . . . . .. 2220. Prof. Dr. H. Werner, Berlin.. . I Fleckfieber: o aonane Sa un ee e R Prof. Dr. H. Hetsch, Frankfurt a.M. I Anaphylaxie (Überempfindlichkeit) . . .. .. aa. Geh. Rat Prof. Dr W. Kolle und Priv.-Doz. Dr. Hartoch, Frank- Aa Meoir een l Serumtherapie . `... a Prof. Dr. G. Jochmann, Berlin. . I Syphilistherapie e, Geh. Rat Prof. Dr. Blasch ko, Berlin I Leucocytose und Infektionskrankheiten . `... Prof. Dr. V. Schilling, Berlin . . IH Die bakteriologische und serologische Diagnostik der Infek- tionskrankheiten . `, rn nn. Dr. G. Wolff, Charlottenburg . . IV Immunbiologie und immunbiologische Methoden in der Dia- gnostik, Prophylaxe und Therapie kindlicher Infektions- krankheiten e e e Priv.-Doz. Dr. R. Degkwitz, München ` eu d Nd V Über versteckte Fieberursachen . . . 2 2 2 22220. Dr. W. Wolff, Berlin ...... V Syphilis des Kindes . . . 2.2 2 2 2 2 Er rennen Prof. Dr. E. Müller, Berlin. .. . V Neuere Syphylistherapie . . . 2222 2 2 nn. Prof. Dr P. Mulzer, München `. . VI Tuberkulose: Röntgenbehandlung der chirurgischen Tuberkulose . . . . Dr. O. H. Petersen, Kiel .... I Sonnenbehandlung . . . 2: 2: 2 2 En nn Dr. W. Leuba, Leysin. ..... I Röntgenbehandlung der nichtchirurgischen Tuberkulose (Speziell der Lungentuberkulose) . . . . . 2.2... -. Prof. Dr. A.Bacmeister, St. Blasien II Heilstättenbehandlung der Lungentuberkulose . . . .... Prof. Dr. A.Bacmeister und Dr. H. Rickmann, St. Blasien .... H Specifische Tuberkulosebehandlung `... Prof. Dr. H. Gerhartz, Bonn .. H Über die Zunahme der Tuberkulose unter der Zivilbevölke- rung während des Krieges und über Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung . .. . 0: & 6 en a e ee Dr. K. Kleeberger, Berlin. .. . H Die Tuberkulose des Kindes . ... 2.2.2.2 2220. Prof. Dr. P. Reyher, Berlin ... IH Wert und Wirksamkeit der Tuberkuline . ........ Prof. Dr. B. Möllers, Berlin .. . IH Juvenile Tuberkuloseformen bei Erwachsenen... .... Dr. J. Hollo, Budapest... ... HI Der künstliche Pneumothorax . . . . . 2 2 2 22 22.0. Prof. Dr. O. Bruns und Dr. K.

Brünecke, Göttingen . .... IH

lI

Ikterus haemolyticus (Hämolytische Anämie) .. ..... Geh. Rat Prof. Dr. H.Rosin, Berlin

Band Die tuberkulöse Peritonitis . . .. >: 222220 aa Prof. Dr. E. Neisser, Stettin... III Nosologische Bedeutung von „Spitzenkatarrh« bzw. „Hilus-

Erkranküng® =. NR 22 3 2 see wäre éi A Dozent Dr. L. Hofbauer, Wien V Die Tuberkulose des Auges. ....... en... Priv.-Doz. Dr. A.Meesmann, Berlin VI Indikationen bei der Behandlung der verschiedenen Formen

der TuDerkuülosè -ioy 3.8 wu. wa NIE re e Dr. H. Ulrici, Beetz-Sommerfeld . VI

B. Herz- und Gefäßkrankheiten:

Dysbasia angiosclerotica und verwandte Zustände. .. .. Geh. Rat Prof. Dr. A. Eulenburg t,

Berlin sar Ar ër aaa ap I Schlafmittel, Sedativa und Herztonica . .. ... 2... Prof. Dr. C. Bachem, Bonn I Digitalistherapie . . » 22 2. a ea me: na. Priv.-Doz. Dr. A. Jarisch, Graz II Endocarditis lenta . . 2: 2: 2 2 En nn nr. Prof. Dr. E. Leschke, Berlin . . . IV Über Herzinsuffizienz . . . : 22mm. Prof. Dr. A. Weber, Nauheim IV Die Gefäßsklerosen . . . 2. 22 22200. PEE Prof. Dr. E. Münzer, Prag... . IV Die Behandlung der Zirkulationsstörungen mit Kohlensäure-

EE ENEE Priv.-Doz. Dr. F.M. Grödel, Frank-

EE e 2 2-58 a we A vV Pluriglanduläre Insuffizienz . `, Prof. Dr.L. Borchardt, Königsberg V Über „Hypertension“ . 2 2 2 2 2 2m. Dr. K. Fahrenkamp, Stuttgart . . V Die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens bei ge-

störter Schlagfolge . . .. aaa aa’ Dr. K. Fahrenkamp, Stuttgart . . VI C. Verdauungsapparat:

Darmkrankheiten `... Geh. Rat Prof. Dr. I. Boas, Berlin. I Das Magencarcinom . . . . oa aa Em nn. Prof. Dr. P. Frangenheim, Köln. I Gass 2 en EE E ler San.-Rat Dr. P. Cohnheim, Berlin I Über Säuglingsernährung . . . . 2 2 2 nn m nn Prof. Dr. L. F. Meyer, Berlin... I Unterernährung `. Prof. Dr. A. Loewy, Davos lI Die habituelle chronische Obstipation `. Priv.-Doz. Dr. Hess-Thaysen,

Kopenhagen . .. aa. lI Wesen, Diagnose und Therapie des ulcus ventriculi. . . . Dr. F. Fleischer, Berlin. .... II Die Ernährung des Kindes nach dem Säuglingsalter. . . . Prof. Dr. B. Salge f, Bonn ... . H Krankenkost . +... » #2. ..& 8 2 2.080 2200 Prof. Dr. Chr. Jürgensen, Kopen- hapen =. 2 2:8: 2-04. HI Nährstoffmangel und Nährschäden . . . .. 2222 2.. Prof. Dr. H. Aron, Breslau. .. . IH Über den Sanduhrmagen `... Prof. Dr. E. Unger, Berlin . II Cholecystis und Cholelithiasis . . . . 22: 22220... Prof. Dr. H Boit, Königsberg . . IH Die tuberkulöse Peritonitis . . . . . 2 22 2 2 nn. Prof. Dr. E. Neisser, Stettin... . IH Die Polyserositis. . A 07 2a. wa De we en Prof. Dr. E. Neisser, Stettin . . . II EENG, m Een A a Zo Ze ae erh Sera ne ne Prof. Dr. J. Snapper, Amsterdam . IV Ikterus neonatorum `... Prof. Dr. A.YlIpö, Helsingfors . . V Der heutige Stand der Gastroskopie ae ee Dr. H. Elsner, Berlin ...... V Primäre Cholangititis. . . 222 non Dr. St. Klein, Warschau... . . VI Wandlung und Probleme der Ikterusforschung . ..... Prof. Dr. Rosenthal, Breslau VI

D. Bluterkrankungen:

Leukämie (Leukocythämie) . . . 2. 2 2 2 2 2 nennen Prof. Dr. O. Naegeli, Zürich I

I

Il

Band Über hämorrhagische und pseudohämophile Diathese . . . Prof. Dr. E Frank, Breslau ..‘. II

Leukocyten, Leukocytose und Infektionskrankheiten . . . . Prof. Dr. V. Schilling, Berlin . . II Liquoruntersuchung . . . 2.2 222 22. Prof. Dr. V. Kafka, Hamburg. . . IV

| Nerven- und Geisteskrankheiten: | Paralysebehandlung . . .. .: 2 2222er nen Prof. Dr. A. Pilez, Wien. .... I

Über akute Psychosen `... Dr. W. Cimbal, Altona :.... I Apraxia ara: ande oa He eh re ar al he Er Me re d ie Prof. Dr. H. Liepmann, Berlin. . I Die Beurteilung der sog. Unfallneurosen.. . . . ..... Prof. Dr. M.Reichardt, Würzburg II Die Neurosen des vegetativen Nervensystems . . .. . . . Dr. K. Dresel, Berlin, Charité . . H Die Behandlung der Neuralgien. . . . . ... 2.2 .2.. Dr. W. Alexander, Berlin... . I Der Muskelrheumatismus . . . 22 2 2 222 2 2000. Prof. Dr. G. Peritz, Berlin... . I Neueres aus dem Hysteriegebiet . . -. . -. 2 2 22.2... Prof. Dr. J. H. Schultz, Jena. . . IV Die Bedeutung der psychologischen Untersuchung . . . . Geh. San. Rat Dr. A. Moll, Berlin. IV Die Behandlung der Trigeminusneuralgie . ....... Prof. Dr. D. Kulenkampff,

Zwickau 2.2 5 5 we 2. V Die Neurosen des seelischen Kampfes . . . . .. 2... Dr. W. Cimbal, Altona ..... V Vegetatives Nervensystem und psychische Störungen . . . Prof. Dr. E. Forster, Berlin ... . VI Cyclothymie (Periodisches Irresein). . . . 2.22... Dr. Fr. Mauz, Tübingen . ... . VI

Chirurgie und Orthopädie:

Das Magencarcinom . . . 2: 2 2 2 22er Prof. Dr. P. Frangenheim, Köln I Wundinfektionsbehandlung . . . . .. 2.22 2 2200. Prof. Dr. O. Kleinschmidt, Berlin II Chirurgie der Harnorgane und männlichen Geschlechts-

ERAN a ee et EE A Prof. Dr. E. Joseph, Berlin... . Il Cholecystitis und Cholelithiasis . . . 2 222220. Prof. Dr. Hans Boit, Königsberg . UI Die Trigeminusneuralgie und ihre Behandlung . .. .. . Prof. Dr. D. Kulenkampff,

Zwickau ... 0 ie ni V

Die operative Behandlung des Trachoms. . . ...... Geh. Med.-Rat Prof. Dr. A. Peters, l ROStOCK ep e e éier 8 V

Die sog. Alveolarpyorrhöe und ihre Behandlung . . .. . Prof. Dr. P. P. Kranz und Dr. K. Falck, München. . ...... VI

Die Pathogenese und operative Behandlung der Gallenstein-

krankheit yo: a a er Bee Re ee Prof. Dr. Th. Rovsing, Kopen- hagen u: Mr ee '. VI

Die Behandlung der Phlegmone e, - Prof. Dr. E. Unger und Dr. H. Heuß, Beim `, VI Die Methode der Angiostomie . . . . 2:2 22 2 2 2... Prof. Dr. ES London, Leningrad . VI

Frauenkrankheiten und Geburtshilfe:

Puerperale Pyämie `... Prof. Dr. F. Fromme, Berlin ... I Gonorrhöe und Sterilität . . . 2 2: 22m rn Geh. Med.-Rat Prof. Dr. M. Henkel, Jena aan Be ee e I Placenta praevia . . 2:2: 2 2 rn ae Prof. Dr. R. Freund, Berlin... . H Enges Becken: 2.7 2822 224 2 ni wis Prof. Dr. E. Martin, Elberfeld. . . III

Der Abortus mit Berücksichtigung der violenten Verletzungen der Gebärmutter -s ge 2 2.4 2.08 We. Prof. Dr. W.Liepmann, Berlin . . IV

IV

a Die Röntgentiefentherapie, besonders in der Gynäkologie . Geh. RatProf. Dr. L. Seitz, De u a. M., und Prof. Dr. H.W intz, Er- langen .. ha‘ IV Entstehung und Behandlung der Genitalprolapse . .. . . Geh. Hofrat Prof. Dr. E. Opitz, Freiburg ... 8.2 u, IV Mastitis 2.4.4 2.5.8 6 So er ch Prof. Dr. O. Schmidt, Bremen . . V Extrauterine Gravidität `... Prof. Dr. O. Pankow, Düsseldorf VI Entzündungen am weiblichen Genitale mit Ausnahme der tee ae er ee Prof. Dr. Fr. Heimann, Breslau. . VI Uterusblutungen und ihre Behandlung . . ....... Prof. Dr. P.Polano und Dr Dietl, München . .. 2... 22.2.0. VI Die Asthenie des Weibes . . . 2 2 2: 2 vr ro nr 2 2. Prof. Dr. W. Hannes, Breslau VI Augenkrankheiten: Die operative Behandlung des Trachoms . ....... Geh. Med.-Rat. Prof. Dr. A. Peters, : Rostock... 2222 22 2.02. V Das Schielen und seine Behandlung `, . . .... 2... Priv.-Doz. Dr. W. Comberg und Prof. Dr. W. Meisner, Berlin. . VI Auge und Tuberkulose... . 2.22 2 2 2 2 2222. Priv.-Doz. Dr.A. Meesmann,Berlin VI Hals-, Rachen-, Nasen- und Ohrenkrankheiten: Otosklerose . . . 2 2 22 nen Prof. Dr. G. Brühl, Berlin l Rachensepsis . >: 2 2 CE Em Reh. Med.-Rat Prof. Dr. A. Denker | und Priv.-Doz. Dr. Th. Nühs- mann, Berlin . ... 2.2.2... V Asthma bronchiale. . . . a a a aa a rn. Oberarzt Dr. W. Schultz, Berlin- Westend . EE EEN V Harn- und Öeschlechtsapparat, Hautkrankheiten: Das Ekzem `... Prof. Dr. M. Joseph, Berlin... . I Syphilistherapie . . so e 2:2 2m En Geh.San.-Rat Prof. Dr. A.Blaschkof, Berlint: o amenan E e E I Gonorrhöe und Sterilität `... Geh. Rat Prof. Dr. M. Henkel, Jena I Chirurgie der Harnorgane und männlichen Geschlechtsorgane Prof. Dr. E. Joseph, Berlin II Fortschritte in der Behandlung der Gonorrhöe `, `... Prof. Dr. H. Löhe, Berlin ..... lI Trichophytien . 2 2222 Prof. Dr. H.C. Plaut und Priv.-Doz. | Dr. A. Lorey, Hamburg ... . Il Verlauf und Ausgang der Kriegsnephritis . .. ..... Prof.Dr.C.Lewin, Berlin II Fortschritte auf dem GebietderhämatogenenNierenkrankheiten Prof. Dr. Fritz Munk, Berlin HI Funktionsprüfung der Nieren . . . . 2.222 2220... "Priv.-Doz. Dr. H Guggenheimer, Berlin > 2 2 2 u 0 2. we II Die Homosexualität `... Dr. H. Rohleder, Leipzig . . . . IV Das Krebsproblem `, . . 22 2: 2 2 En nn nen Prof. Dr. Carl Lewin, Berlin . IV Neuere Syphilistherapie. . . . 222 2 2 nen. Prof. Dr. P. Mulzer, München . VI Kinderkrankheiten: Über Säuglingsernährung e, Prof. Dr. L. F. Meyer, Berlin I

Die Ernährung des Kindes nach dem Säuglingsalter . . . Prof. Dr. B. Salge tł, Bonn a. Rh. .

H

Die Tuberkulose des Kindes `, Prof. Dr. P. Rey her, Berlin . . . Wm Ikterus der Neugeborenen `... aa Prof. Dr. A. YlIpö, Helsingfors . . V Immunbiologie und immunbiologische Methoden bei akuten

Infektionskrankheiten im Kindesalter... .... =. . Priv.-Doz. Dr. R. Degkwitz,

| München ... 2.222.220. V Die Syphilis des Kindes . . . 2.222 2 2 2 2 2 2 ne. Prof. Dr. E. Müller, Berlin .... V Pharmakologie und Toxikologie:

Schlafmittel, Sedativa und Herztonica . . . ... 2... Prof. Dr. C. Bachem, Bonn .... I Neuere Ergebnisse der Chininforschung . . . ...... Prof. Dr.C.Bachem,Bonn `... . H Digitalistherapie . . . > 2 2 Co CE or. Priv.-Doz. Dr. A.Jarisch, Graz . . II Neuere Arzneimittel . . . . 2 2:22 onen Prof. Dr. C. Bachem, Bonn. ... V Das Caramel in der Diabetestherapie . . . .. 22... Prof. Dr. E Grafe, Rostock . . . V Die Wandlung in der Diabetestherapie durch die Ent-

deckung des Insulins . . . 22 2 2 2 2 rn. Prof. Dr. S. Isaac, Frankfurt . . . V Die Grundlagen der Kalkbehandlung . . ........ Priv.-Doz. Dr. G. Zondek, Berlin . V Die Narcotica: NR 25.8.0. Dee A Prof. Dr. E. Bürgi, Bern ..... V Die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens bei ge- l

störter Schlagfolge . . . aoaaa a Dr. K. Fahrenka mp, Stuttgart . . VI

Strahlentherapie:

Radiumtherapie . . . 2. 2: 2: CC aa Prof. Dr. Fritz Gudzent, Berlin . I Sonnenbehandlung . . . . 2 2 2 2 a Dr. W. Leuba, Leysin. ..... I

Die Röntgenbehandlung der chirurgischen Tuberkulose . . Dr. O. H. Petersen, Kiel `, l Die Röntgenbehandlung der nichtchirurgischen Tuberkulose Prof. Dr.C. Bacmeister, St. Blasien II

Die Tuberkulose des Kindes . .. 2. 2222200. Prof. Dr. Paul Reyher, Berlin . . III Röntgentherapie . . . . aa aaa Dr. J. Rother, Berlin ...... IV Der Stand der Röntgentiefentherapie, namentlich in der Gynākologie . ër . a aaa gr Ee e Geh. Rat Prof. Dr. L. Seitz, Frank- furt a. M., und Prof. Dr. H. Wintz, Erlangen `, ... 222220. IV

Die Röntgenbehandlung der Basedowschen Krankheit. . . Doz. Dr. G. Schwarz, Wien... V

Allgemeine Pathologie und Therapie. Verschiedenes:

Grundzüge der Protozoenforschung . . . . . 2.2 .2.2.. Dr. V. Jollos, Berlin. ...... I Unterernährung . `... Prof. Dr. A. Loewy, Davos... . H Neuere physikalische Heilmethoden . . . . . 2.2.2 2.. Dr. H. Adam, Berlin ...... II Proteinkörpertherapie. . . 2... 2 Cm rom rn rn Prof. Dr. R. Schmidt, Prag ... IH Krankenkost . 2.4.2 2:4 oa e E e ae yo Prof. Dr. Chr. Jürgensen, Kopen- Hagen. u, 2 ar Bone er III Nährstoffmangel und Nährschäden . . . . 2.2 2.2.2.0. Prof. Dr. H. Aron, Breslau... . II Das Krebsproblem `... Prof. Dr. C. Lewin, Berlin... . IV Schwellenreiztherapie . . . >: 2: 2 2 2 nn ren Dr. A. Zimmer, Berlin ..... IV Mikromethodik . . 2.2 2: 2 CE En nn rn. Dr. L. Pinkussen, Berlin. ... . IV Die Bedeutung der Erblichkeit für die Ätiologie . . . . . Prof. Dr. W. Weitz, Tübingen . . . V Lebensversicherungsmedizin. . . . 2: 22 22 20m. Gan, Rat Dr. L. Feilchenfeld,

Berlin . 2. 2 2 2 2 2 2 2 0 2. V

VI

Bang Die Stellung des Arztes zu den Lehren von der Arbeits-

rationalisierung . . . 2 2 ooo Hofrat Prof. Dr. A. Durig, Wien. . V Über versteckte Fieberursachen . . . 2 2 22 2 220. Dr. W.Wolff, Berlin. ...... V

Die sog. Alveolarpyorrhöe und ihre Behandinng Sr, d Prof. Dr. P. P. Kranz und Dr. K. Falck, München . ...... VI Endokrine Drüsen und die Persönlichkeit `, ...... Oberarzt Dr. A.Josefson, Stockholm VI Stoffbewegung, Stoffverteilung und Stoffumsatz . .... Priv.-Doz. Dr.W. Arnoldi, Berlin . VI

Die Reichsversicherungsordnung . . . . . 2.2 2 2 220. Geh. Gan Rat Prof. Dr. P. Mugdan,

Berlin . . 2222 2 2 200. „MV

UNIVERSITY OF MINNESOTA biom,per bd.6 stack n0.56

UU H 3 1951 002 742 060 W

< © = N Vi © 3 S o