Engelhorns Allgemeine se Eine Auswahl der

beiten modernen

Romanbibliofhek. Romane aller Völker. Hlle vierzehn Tage ericheint ein Band.

Preis jedes Bandes 50 Pf. Eleg. in leinwand geb. 75 Pf.

(26 Bände jahrlich, Selumtpreis broſchlert 13 Mark, gebunden 19 Mark 50 Pf.)

ber „Engelhorns Allgemeine Romanbibliothek* ichreibt der „Sambur-

giiche Correipondent“: Das lit ein Unternehmen, das in jeder Welle gefördert zu werden verdient! Als vor nun mehr denn 25 Jahren die eriten roten Bände erichienen, mag mancher Kurzlichfige und Engherzige den Kopf geichüftelf haben über das tolle Wagltück, wirklidı gute und wertvolle geiltige Kot zu io billigen Preiſen zu verab- reihen. Wenn man heute auf die lange Reihe von Jahren zurückblickt, wie viel lit da nicht ichon erreicht! Falt keln Baus, keine Familie, wo die foliden Bände nicht ihren Einzug gehalten hätten; falt keine, noch fo klein angelegte Privatbibliothek möchte die lich fo Freundlich prdſenflerenden rofen Freunde aus ihrer Mitte miſſen. Und doch, noch gibt es viel zu fun! Noch gibt es Käufer, in denen die vermorichten und ver- rotteten Sinfertreppenromane lieber gelefen werden, Sier wäre es Pflicht jedes Nächit- itehenden, die giftige Saat zu verdrängen und an ihre Stelle die gelunde und durdı- weg gute Koit der „Engelhornichen Allgemeinen Romanbibliothek* zu legen. Der glück- lick Geheilfe wird, wenn er erit klar fleht, dem freundlichen Helfer licher Dank willen.

Die bisher erichienenen, in dem nachfolgenden Verzeidnis aufge» führten Romane können fortwährend durch jede Buchhandlung zum Preiie von 50 Pfennig für den brofcierten und 75 Pfennig für den ge. bundenen Band bezogen werden.

} Band 1.2. Ohnet, Der Hüttenbeſitzer. 3. Conway, Aus

Eriter Jahrgang. Nacht zum aich. Aa Prasd, Bern 5.6 Greville, fe liſſa. 7. Aide, Vornehme Geſellſchaft. 8. 9. Ohnet, Gräfin Sarah. 10. Braddon, Unter der roten Fahne. 11. Halevy, Abbe Conſtantin. 12. Berga, Ihr Gatte. 13. 14. Neade, Ein gefährliches Geheimnis. 15. Theuriet, Geèrards Heirat. 16. Greville, Dofia. 17. N Ein heroiſches Weib. 18. 19. Norris, Eheglück. 20. Kielland, Schiffer Worſe. 21. Colombi. Ein Ideal. 22. Conway, Dunkle Tage. 23. Bayeſen-Spielhagen, Novellen. 24. Vincent, Die Heimkehr der Prinzeſſin. 25. 26. Belpit, Ein Mutterherz.

1 Band 1. 2. Ohnet, Der Steinbruch. 3. Lindau, Helene Zweiter Jahrgang. Jung. 4. Bret Harte, Maruja. 5. Die Sozialiſten. 6. Halevy, Criquette. 7. Wilbrandt, Der Wille zum Leben. Untrennbar. 8. Valera. Die Illuſionen des Dr. Fauſtino. 9. 10. Zarjeon, Zu fein geſponnen. 11. Kielland, Gift. 12. Rielland. Fortuna. 18. 14. Ohnet, Life Fleuron. 15. Farina, Aus des Meeres Schaum. 16. Frey, Auf der Woge des Glücks. 17.18, Croker, Die hübſche Miß Neville. 19. Feuillet, Die Verſtorbene. 20. Hopfen, Mein erſtes Abenteuer u. a. G. 21. 22. Alexander, Ihr ärgſter Feind. 23. v. Glumer, Ein Fürſtenſohn. Zerline. 24. Bret Harte, Von der Grenze. 25. 26. Conway, Eine Familiengeſchichte. |

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* Engelhorns * Allgemeine Roman-Bibliothek.

Eine Auswahl der besten modernen Romane aller Völker.

26. Jahrgang. . Band 14.

Eva, wo bist du?

Roman

von

Fedor von Zobeltitz.

Zweiter Band.

Memorial Libra University of Wisconsin - Madison 728 Stal8 Street Madison, Wi 53706-1494

Stuttgart 1910. Verlag von J. Engelhorn.

Mernonat Library

University of Wisconsin - L 723 Stats Street 3

Madison, WI 53706-1494 - ..

Alle Rechte, namenklich das Überſetzungsrecht, vorbehalten.

Druck der Union Deutſche Verlagsgeſellſchaft in Stuttgart.

7E93 AA YC

9. Der feine Griff und der rechte Ton.

3 berührte Elvira doch eigen, als fie nach ſechs⸗

jähriger Abweſenheit wieder in den Park von Falken⸗ hagen einfuhr. Aus der Ferne ſchon grüßte ſie Pfauen⸗ geſchrei; es war wohl noch der alte buntgefiederte Burſche, der ſich des Morgens auf die Blutbuchen am Turm zu ſetzen und Elli durch ſein mißtönendes Ge⸗ krächz zu wecken pflegte. Diethammer hatte ſie in Ober⸗ Werda abgeholt, und darüber freute ſie ſich. Sie gab ihm gleich die Hand, als ſie aus dem Coups ſtieg, und ſagte: „Tag, Diethammer das iſt gar zu nett, daß Sie der erſte aus Falkenhagen ſind, den ich begrüßen kann. Denn eigentlich habe ich Ihnen noch etwas abzubitten. Wiſſen Sie von wegen damals wo ich fo plötzlich verduftet bin ...“

Aber Diethammer ſchien alle Unbill vergeſſen zu haben; er ſah ganz ſelig aus. „Ach Gott, gnädiges Fräulein,“ antwortete er, „das iſt ja ſo lange her. Freilich hab' ich damals meinen Buckel herhalten müſſen und die ſchönſte Schimpfe gekriegt, weil ich nicht ordent⸗ lich aufgepaßt hätte. Aber nachher haben wir uns alle gefreut es gehörte doch Courage dazu, wie ſo das gnädige Fräulein ganz ſachte ausgerückt ſind. Es kann das nicht jeder ...“

Hinter dem Bahnhof ſtand nicht etwa der Jagd— wagen oder der Omnibus oder die kleine Kaleſche, ſondern der Viererzug: ein neuer, Iſabellen mit hellen Mähnen und langen buſchigen Schweifen. Aber der Kutſcher von ehemals ſaß noch oben auf dem Bock und faßte an den Hut und grinſte, und als Elli ihm zurief: „Tag, Breſecke na, wie geht's denn?!“ entgegnete er: „Danke in Untertänigkeit, gnädiges Fräulein, Gott ſei Dank geht's ja noch.“

Nun kam der Wald. Lauter Bekannte: das zu⸗ ſammengewachſene Buchenpaar, die Birke mit der Wildkanzel, die Rieſeneiche, das efeuumbuſchte Forſt⸗

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haus mir dem ſeltſamen Perückengehörn über der Tür. Und dann der Park: das Rehgehege, der ſingende Baum, der Karpfenteich, die Grotten am Fluß, die Douglas⸗ kiefern. Und mit allem und allem kam auch ein raſcher weicher Kindheitstraum und verging wieder. Der Pfauenſchrei ſcheuchte ihn fort.

Auf der Rampe warteten Onkel und Tante. Sie gaben ſich unverkennbare Mühe, herzlich zu ſein. Aber es gelang dem Onkel beſſer als der Tante. Er war ſehr zärtlich, küßte Elli, klopfte ihr die Backen und nannte ſie „meine liebe kleine Studentin“. Hinter beiden ſtanden in einer Reihe Herr Spiekermann, der Sekretär, und der Hausmeiſter Kranich und die Mamſell und der brave Schubart und Fanni, und aller Geſichter ſtrahlten, als Elli jedem einzelnen die Hand drückte. Wirklich, es ging ihr eigen; was ſie nimmer gedacht Vert. etwas wie Heimatgefühl zog tauend durch ihr

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Sie wohnte nicht im Turm, ſondern bekam zwei Fremdenzimmer zur Verfügung. Aber in den Turm ging ſie gelegentlich doch, ſchaute ſich das alte Schul⸗ zimmer an und dann ihr früheres Stübchen und das Zimmer nebenan, in dem ſie Fräulein von Liſtowska zum letzten Male geſehen hatte. Seit damals waren die Stuben nicht wieder bewohnt worden. Die Rouleaus waren heruntergelaſſen, die Luft hing dumpf, durch alle Ecken kroch die Dunkelheit. Elli ſchritt langſam durch die drei Gemächer, ſtrich mit der Hand über die Decke ihres Kinderbetts, über den Schultiſch, über die Lehne des Stuhls, auf dem ſie beim Unterricht immer geſeſſen hatte; blieb ſinnend auf der Türſchwelle zum Zimmer der Liſtowska ſtehen und ſchaute auf das finſtere Himmelbett, deſſen Gardinen wie die ſchwarzen Fittiche eines Rieſenvogels herabhingen, und fühlte, daß auch hier etwas von dem Blütenſtaub ihrer erwachenden Seele zurückgeblieben war.

Onkel und Tante waren alt geworden. Die Tante noch herber und zitronenhafter in ihrem Außeren, noch ſchroffer in ihren Anſichten, noch kühler in ihrem Sich⸗ geben. Am zweiten Tage ihres Aufenthalts wußte Elli ſchon, daß ſie ihr nicht vergeben hatte: weder ihre Flucht aus Falkenhagen noch ihr Studententum.

Den Onkel hätte Elli kaum wieder erkannt, wenn

er

er ihr zufällig im Straßengewühl begegnet wäre. Es hatte den Anſchein, als ſei ſein Geſicht kleiner geworden; die tadellos raſierten Wangen bildeten den ſchmalen Rahmen für eine ſcharfe Naſe und einen ſehr müden Mund, über dem der ganz weiße kleine Schnurrbart noch immer wohlgepflegt ſeine Spitzen ſtreckte. Wie ein Relief zeichnete das Geäder an den Schläfen ſich ab: eine verräteriſche Verkündigung beginnender Alters⸗ veränderung der inneren Organe. Vor allem aber erſchreckten Elli die Augen, die merkwürdig leer ge⸗ worden waren und zuweilen raſtlos umherwanderten, als ſuchten ſie nach einem feſten Halt.

Wie früher war das Leben in Falkenhagen geregelt, genau geregelt; Stunde um Stunde haſpelte an der Schnur ſich ab. Der Gongſchlag in der Halle rief zu den Mahlzeiten, bei denen vier Diener aufwarteten und man nur eine gedämpfte, äußerſt langweilige Unterhaltung führte. Außerhalb dieſer Mahlzeiten ſah Elli die Verwandten ſelten; und ſie grämte ſich darüber nicht. Sie hatte ſich raſch wieder mit dem Wachtmeiſter Schubart angefreundet und ritt viel ſpazieren, wobei ihr ein geſchickt adaptiertes Plaid den Reitdreß erſetzte. Sie ſuchte alle Wege auf, die ſie einſt mit der Liſtowska abkarriert hatte, und es kam dabei von ſelbſt, daß ſie der ſo ſehr Gehaßten mit ſtarker Lebhaftigkeit gedachte. Sie ſuchte auch ihr Grab auf dem Dorffriedhof auf und ging dann in das Pfarrhaus, wo Paſtor Wittenzeller ſie mit ſeiner geſalbten, wohl⸗ gefälligen, aus ſorgſam gebauten Perioden ſich heraus⸗ ſchälenden Güte empfing; nur dröhnte und donnerte ſeine Stimme nicht mehr wie einſt ein chroniſcher Rauchkatarrh hatte den alten Jupiter tonans der Kraft ſeiner Rede beraubt. Damit ſchien auch ſeines Weſens Einheit einen Knacks bekommen zu haben. Die lutheriſche Siegeszuverſicht war geſchwunden; er krächzte und knurrte ungeſtüm über die Lauheit ſeiner Gemeinde und die dem Wort und der Schrift gegenüber immer gleichgültiger werdende Haltung des Herrn Barons. Er war wie ein greiſer Löwe, der eine Pfeilſpitze in der Tatze trägt.

Am vierten Tage nach Ellis Ankunft ſchickte die Baronin zur Teeſtunde die Diener fort. Das war von jeher das Zeichen geweſen, daß das Geſpräch intimer

hi

werden ſollte. Und richtig Dorothee ſchob ihre Taſſe ein wenig zur Seite, faltete die knochigen Hände über der rotdurchwirkten Tiſchdecke und ſagte: „Nun, meine liebe Elli, denke ich, daß wir uns einmal ein wenig über deine Zukunft unterhalten. Meine Anſichten kennſt du ja. Sie haben ſich nicht geändert, ſeit du damals ſeit du unſer Haus verlaſſen haſt. Ich dränge ſie dir indeſſen nicht auf auch das habe ich gezeigt. Du biſt ſechs Jahre lang deine eigenen Wege gewandelt und ich habe dich nicht geſtört. Ich habe auch kein Wort darüber verloren, daß du nicht das Bedürfnis empfandeſt, uns in dieſer langen Zeit einmal aufzuſuchen. Das ſind ſchließlich Dinge, die du mit dir ſelber abzumachen haſt. Aber nun ſtehſt du abermals am Beginn einer neuen Phaſe deines Lebens, und da halte ich es doch für meine Pflicht, mich über deine Pläne und Abſichten zu in⸗ formieren. Du haſt die Idee, in Berlin zu ſtudieren?“

Elli nickte zuſtimmend. Sie hatte ſofort das Gefühl, daß ſie wieder mit allerhand Bindungen beglückt werden ſollte, und beſchloß augenblicks, ſich unter allen Umſtänden ihr Selbſtbeſtimmungsrecht und ihre Freiheit zu wahren.

„Ja, Tante,“ entgegnete ſie. „An den ſüddeutſchen Univerſitäten wird den Studentinnen allerdings mehr Duldung entgegengebracht, und mein Staatsexamen kann ich im erleuchteten Preußen überhaupt nicht machen —“

„Weshalb nicht?“ warf die Tante ein.

„Weil man in Preußen noch ſo rückſtändig iſt, Damen nicht zuzulaſſen,“ erwiderte Elli.

Koſer lächelte, doch Frau Dorothees Angeſicht ver⸗ ſteinte ſich förmlich, ſo herbe und ſtreng erſchien es.

„Das iſt ein Standpunkt,“ ſagte ſie, „den die Regierung wahrſcheinlich nach eingehender Überlegung und ſorgfältiger Prüfung der Sachlage eingenommen hat. Aber Ane er Fragen wollen wir unberührt laſſen. Jedenfalls gedenkſt du vorläufig in Berlin zu verbleiben?“

„Ja. Bis zum Doktorat.“

„Alſo wirklich Doktor!?“ rief die Baronin. „Und ſage mir, bitte: warum?“ 1

„Tantchen, verzeihe, wenn ich mit einer Gegenfrage antworte: warum nicht?“

„Eine Antwort, der ich mich anſchließe,“ warf Herr von Koſer ein. „Pardon, liebſte Dorothee, daß ich mich auf die Seite deiner getreuen Oppoſition ſtelle. Aber der Doktorhut pflegt in der Philologie doch einmal Sitte zu ſein und warum ſoll ſich Elvira dieſer Sitte entziehen?“

„Ich habe nichts dawider. Es kommt mir nur ſeltſam vor. Doktor Freiin von Koſer' klingt das nicht ſonderbar? Wenn man das Neueſte mit dem Altehrwürdigen verbindet, gibt es gewöhnlich einen Mißklang.“

„Oder es wird erſt ein voller Akkord,“ jagte Elvira.

Koſer erſchrak förmlich über dieſe Außerung. Wahrhaftig, das Mädelchen war in Karlsruhe nicht auf den Mund gefallen! Die Baronin zuckte nur leicht mit den ſpitzen Schultern. „Du wirſt dir in Berlin eine Familienpenſion ſuchen müſſen,“ fuhr ſie fort, „in der du guter Aufnahme ſicher biſt. Mir iſt da ein chriſt⸗ liches Hoſpiz empfohlen worden, das auch alleinſtehende junge Mädchen aufnimmt. Frau Paſtorin Bandel führt es. Sie war früher Vorſteherin des Mädchen⸗ heims Bathſeba. Ich will gern einmal an ſie ſchreiben.“

Elli Hatte nichts gegen die Frau Paſtorin Bandel und nichts gegen das Mädchenheim Bathſeba. Aber daß die Tante dafür war, beeinträchtigte ihre Stimmung gegen Bathſeba wie Bandel. Zudem hatte ſie ganz andre Pläne, die ſie ſich nicht lockern laſſen wollte.

„Ich bin dir ſehr dankbar, liebe Tante,“ erwiderte ſie, „aber ich hatte eigentlich die Abſicht, mir mit meiner Freundin Chriſtel Bungarz eine kleine Wohnung zu mieten und dachte mir die gemeinſame Wirtſchaft recht hübſch. Ich habe ja auch noch die alten Möbel Papas, um mich einrichten zu können.“

„Liebes Kind,“ ſagte die Baronin, „nimm mir's nicht übel, aber das ſind Phantaſieen. Zwei halbe Kinder, wie ihr ſeid, können in einer Großſtadt nicht ohne Aufſicht ſein —“

„Aber, Tantchen!“

„Ich will dein Selbſtgefühl nicht verletzen; ſagen wir alſo: zwei junge Mädchen wie ihr bedürfen in Berlin unbedingt eines gewiſſen Schutzes. Es iſt auch geſell⸗ ſchaftlich nötig, daß euch eine ältere Dame zur Seite

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ſteht. Denn ich glaube feſt, daß es dein Wunſch ſein dürfte, ein wenig Fühlung mit der Geſellſchaft zu nehmen, zumal wir ſelbſt im Laufe des Winters immer einige Wochen in Berlin zu verleben pflegen. Ich habe mit dem Onkel darüber geſprochen: wir würden dich recht gern hier und dort einführen bei den Engerts, den nellings, der Gräfin Zicka —, auf dieſer und jener Botſchaft, würden dich auch bei Hofe vorſtellen laſſen, wenn dir daran, liegt. Ich meine, das müßte dir Spaß machen.

Elli neigte den Kopf. Sie war keineswegs geſell⸗ ſchaftsſcheu, haßte nur unnötige Zeitvertrödelung und unnötige Langeweile. Eine Vorſtellung bei Hofe lockte ſie ſchon; ſie ſah ein ſtrahlendes Bild vor ſich, und ihr Mädchenherz klopfte ſchneller.

„Du biſt ſehr gütig, Tantchen,“ erwiderte ſie; „natürlich würde ich mich furchtbar freuen, auch einmal das höfiſche Leben kennen zu lernen. Aber erſtens: werde ich Zeit dazu haben? Das übliche Bummel⸗ ſemeſter möchte ich bei mir nicht einführen. Und

zweitens: die Geſellſchaften in der vornehmen Welt boten doch hölliſch viel Toiletten. Und ich vermute, daß ich in dieſer Beziehung gewaltig zu rechnen habe.“

Nun nahm der Onkel das Wort. Er zog ein kleines Büchelchen aus der Bruſttaſche und ſchlug es auf. „Ich will dir einen raſchen Überblick über den Stand deiner Finanzen geben,“ ſagte er. „So ganz arm biſt du, Gott ſei Dank, nicht. Immerhin haſt du recht: debau⸗ chieren kannſt du durchaus nicht. Dein Vater hat an Barvermögen“ er las nun aus dem Büchelchen ab „vierundſechzigtauſend Mark hinterlaſſen. Davon zwanzigtauſend vierprozentige preußiſche Zentral- pfandbrieſe, zehntauſend Schleſiſch Portland, der Reſt Adler⸗Fahrrad und Brown Boveri. Zwölftauſend 1892er Bulgariſche Anleihe habe ich noch vor dem großen Kursſturz umwandeln können. Ein paar andre gelegentliche Transaktionen ſind glücklich verlaufen, ſo daß dein Vermögen zur Zeit rund fünfundſiebzig⸗ tauſend Mark beträgt. Nach augenblicklicher Anlage kannſt du auf eine Verzinſung rechnen, die dir monatlich zweihundertfünfzig Mark abwirft. Damit ſind natürlich keine Sprünge zu machen. Aber es gibt ärmere Leute. Wenn du verſtändig wirtſchafteſt, kannſt du dir dein

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Leben ganz behaglich einrichten. Und was im übrigen deine Toiletten betrifft, wenn du in unſrer Begleitung die Geſellſchaften beſuchſt, ſo iſt das ſelbſtverſtändlich eine Sache, die dein Konto nicht belaſten wird ...“ Er klappte das Büchlein zu und ſteckte es wieder ein.

Elli folgte einer warmen Regung ihres Herzens, indem ſie aufſtand, die Hand Koſers ergriff und an ihre Lippen zog. „Ich danke dir tauſendmal, Onkelchen,“ ſagte fie gerührt, „daß du fo treu für mich ſorgſt ...“ Ein Tränchen tröpfelte über ihre Wange. Das gefiel der Tante. Während der Onkel abwehrend entgegnete: „Ich bitte dich, Herzchen, das iſt doch nur meine Pflicht als Vormund“ winkte ihr Dorothee, gab ihr einen Kuß auf die Stirn, wobei Elli auch die Naſenſpitze der Tante fühlte, und ſagte: „Laß es nur gut ſein, Elvira, du biſt jetzt reifer und klüger geworden, und ich denke, wir werden uns ſchon noch verſtehen lernen. Für deine Geſellſchaftstoiletten ſorge ich. Du trägſt den Namen Koſer, und da liegt mir naturgemäß ſehr viel daran, daß du nicht wie die emanzipierten Weiber mit kurzen Haaren und ſchlottrigen Reformröcken herumläufſt. Ich danke dafür. Es fragt ſich nun nur noch ja, es fragt ſich, ob du praftifch handelſt, wenn du mit deiner Freundin Chriſtel zuſammenziehſt. Denn ſteht dir auch durch unſre Vermittlung die Geſellſchaft offen: du darfſt nicht vergeſſen, daß deine Freundin bürgerlich und daß ihr ſchon deshalb der Hof verſchloſſen iſt ... um nur ein Beiſpiel anzuführen ...“

Die Baronin ſchaute prüfend zu Elli herüber. Aber Elli antwortete nicht ſofort. Sie hatte im Augenblick das Gefühl einer plötzlichen Überrumpelung. Sie ſah ihre Freiheit bedroht. Die liebende Sorge, mit der ſich der Onkel ihrer Geldverhältniſſe angenommen, hatte fie weich geſtimmt; den Onkel hatte fie auch von Herzen lieb. Aber hinter jeder Freundlichkeit der Tante witterte ſie eine Feſſel. Nun ja es mußte ſchon reizend ſein, einmal einen Hofball mitmachen zu können. Theda Leiſter (deren Vater, der Miniſter, kürzlich ge⸗ adelt worden war) hatte bereits damit renommiert, daß ſie auf einer Cour dem Kaiſerpaar vorgeſtellt werden ſollte, und ſicher kam auch Katja Schewaſchidſe als Verwandte, wenn auch weitläufige, des ruſſiſchen Botſchafters an den Hof. Ein glitzernder Funke der

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Eitelkeit flog im Herzchen Ellis auf; aber um alles in der Welt willen hätte ſie dieſer Eitelkeit nicht ihre Freundſchaft zu Chriſtel bete f

„Tantchen,“ erwiderte ſie ſtockend, „ich habe es Chriſtel verſprochen, mit ihr zuſammenzuwohnen 175 ihrem Vater ... ich muß doch mein Wort

alten.“

„Verſteht ſich,“ ſagte Koſer und nickte. „Ich glaube, liebes Kind, daß du die Tante mißverſtanden haſt. Sie meinte nur, es würde dir vielleicht peinlich ſein, mit uns zu Hofe genommen zu werden, während deine Freundin daheim bleiben muß. Aber das iſt unter den

egebenen Verhältniſſen doch nicht zu ändern! Ander⸗ ſeits läßt es ji vielleicht machen, deine Chriſtel hie und Da Geſellſchaften einzuführen, die weniger exkluſiv in

„Theda Leiſter will ſie überall hin mitnehmen,“ rief Elli, „und die hat die feinſten Verbindungen!“

Die Baronin horchte auf. „Iſt das eine Tochter des Staatsſekretärs?“ fragte ſie.

„Jawohl, Tantchen. Außerdem hat ihr Katja Schewaſchidſe verſprochen, ſie auf ihrer Botſchaft ein⸗ zuführen.“

„Wer iſt dieſe Katja nun wieder? Schewa Schewi der Name klingt ſo exotiſch —“

„Schewaſchidſe, Tante ſie iſt ein Prinzeſſin Schewaſchidſe, aus einem uralten kaukaſiſchen Fürſten⸗ geſchlecht, ich weiß nicht, wie alt, aber jedenfalls un⸗ geheuer alt. Außerdem koloſſal reich.“

„Und die war auch bei euch?“ fragte die Tante.

„Ich entſinne mich,“ fiel Baron Koſer ein, „Fräu⸗ lein Hagen ſchrieb mir gelegentlich von ihr. Die Schewa⸗ ſchidſes ſind übrigens auch mit den Dadians von Mingrelien verwandt.“

Elli warf dem Onkel einen raſchen dankbaren Blick

u. Sie merkte wohl, daß die klangvollen Namen von

ſichtichem Einfluß auf die Tante waren. Dorothee goß ſich langſam eine neue Taſſe Tee ein und bemerkte dabei wie beiläufig: „Nun alſo da hat es die kleine Bungarz ja leicht, in der Geſellſchaft feſten Fuß zu faſſen. Ich bin übrigens auch ganz damit einverſtanden, daß wir uns ihrer ein wenig annehmen. Sehr gern, liebes Kind. Iſt ſie denn ein niedliches Mädchen?“

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„Sie iſt allerliebſt, Tantchen. Viel hübſcher als ich!“

„Wir können ſie uns ja einmal herkommen laſſen,“ warf Koſer ein.

„Ach, Onkel, das wäre reizend!“ rief Elli begeiſtert.

Dorothee wiegte den Kopf hin und her. „Ob das angängig iſt?“ ſagte ſie. „Ich weiß nicht recht. Sie iſt uns doch völlig fremd. Außerdem ſteht uns die Kiſſinger Reiſe bevor.“

„Erſt in nächſter Woche,“ entgegnete Koſer. „Sie braucht ja nur zwei Tage hier zu bleiben und kann dann gemeinſam mit Elli nach Berlin. Wenn du ihr alſo telegraphieren willſt —?“

Elli war ſchon aufgeſprungen. „Ich telegraphiere ſo fort,“ rief fie eifrig. „Paß mal auf, Tantchen, wie ſehr ſie dir gefallen wird! Sie hat etwas ſo ſo Feines und Anmutiges. Sie iſt ein ſüßes Geſchöpf. Darf ich ihr telegraphieren? Bitte, bitte, liebes Tantchen!“

Sie umarmte die Tante. Koſer beobachtete die beiden heimlich. Er ſah, wie über das harte und häß⸗ liche Geſicht ſeiner Frau der laue frühlingsſonnige Abglanz eines wärmeren Empfindens ging, als dringe die ungewohnte Zärtlichkeit in nie erſchloſſene Tiefen. Sie ſtrich raſch über die Wangen Ellis und ſagte mit freundlichem Kopfnicken: „Schön, mein Herz ſo telegraphiere. Aber gleich mit Rückantwort, damit wir Beſcheid wiſſen.“

Elli war ſelig. Aus Emmenthal traf die Nachricht ein, daß Chriſtel am Freitagabend den Nachtzug nach Berlin benutzen wolle und am Mittag in Ober⸗Werda ſein werde. Mit dem gleichen Zuge wurde auch Hans⸗ Jaſper erwartet, der ſich zu Sonntag angeſagt hatte, „um einen Bock zu ſchießen“. Elli holte die beiden am Bahnhofe ab. Als der Zug einfuhr, ſchaute ein ſchwarz⸗ braunes Männergeſicht aus einem Coups erſter Klaſſe, und eine Stimme rief: „Dunnerſaxen Ellimäuschen!“ und nebenan aus dem Coups zweiter Klaſſe ſchaute ein ſchwarzbraunes Mädchengeſicht, und abermals rief eine Stimme: „Elli! Elli! Elli!“ und ein paar

elbbeſchuhter Händchen fuchtelte grüßend durch die uft. Und dann ſahen Männer⸗ und Mädchengeſicht ſich etwas verwundert an und der Zug hielt. Na⸗ türlich eilte Elli zunächſt ihrer Chriſtel entgegen; es gab viele Küſſe und mehrfache Umarmungen, bis wiederum

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die Männerſtimme hörbar wurde: „Bitte Schluß. Jetzt komm' ich an die Reihe ...“ Elli lachte und bot Hans⸗Jaſper die Hand. „Tag, Vetter!“ „Tag, ſchöne Baſe ſapperlot, das is ja 'ne janz beſondre Ehre, daß ich dich mal wieder zu Jeſichte kriege. Bitte mich vorzuſtellen.“

Dies tat Elli, ärgerte ſich aber, weil Chriſtel die Verbeugung Hans⸗Jaſpers viel zu tief erwiderte. Chriſtel wurde dabei auch rot und geriet in ſichtliche Verwirrung dem ſchönen jungen Mann gegenüber, in deſſen rechter Augenhöhle ſie ein Monokel von unbe⸗ greiflicher Größe funkeln ſah.

Der Diener beſorgte inzwiſchen das Gepäck, während die drei zum Wagen ſchritten.

„Gnä'jes Fräulein ſind eine Freundin meiner Couſine?“ fragte Hans⸗Jaſper.

„Ja, Herr Leutnant,“ erwiderte Chriſtel ſchüchtern. Im ſelben Augenblick fühlte ſie einen leichten Puff in ihrer Seite, und Elli raunte ihr in das Ohr: „Du mußt Herr von Koſer ſagen, niemals Herr Leutnant.“

„Ooch Studioſa, wenn ich fragen darf?“

„Ja, Herr von Koſer,“ entgegnete Chriſtel noch ſchüchterner, indes über ihre Bäckchen die Farben jagten.

„Olli Achtung da ſalutier' ick. Meine Wenigkeit hat vor dem Abiturium ſtopp gemacht. Darf ich mir jehorſamſte Frage erlauben: wenn die Damen unter ſich find: ſprechen Sie da man bloß Iriechiſch zuſammen oder ooch menchsmal Deutſch?“

Chriſtel lachte reſpektvoll, Elli aber rief: „Hanni, wenn ick mir o och 'ne jehorſamſte Bemerkung erlooben derf: habe dir nich fo albern! Iſt der Berliniſche e Jardepli oder kannſt du auch Hochdeutſch reden?“

„Sogar ganz fein, vielgeliebte Couſine ſogar ſo, daß man's gleich drucken laſſen könnte. Beinahe klaſſiſches Deutſch ...“ Er half den Mädchen in den Wagen und ſetzte ſich ihnen gegenüber ... „Reizend,“ ſagte er, „— ich meine die Ausſicht. Diethammer, find alle Koffer da? Losfahren, Breſecke! Meine Damen, nun ſind wir drei in Falkenhagen, die die Blüte der deutſchen Jugend vertreten. Bilden wir einen gemein⸗ ſamen Sturmwall wider das nörgelnde Alter. Elli, wie iſt die Laune meines väterlichen Freundes?“

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„Ausgezeichnet. Auch die Tante iſt milde.“

„Das tut mir wohl. Ich muß nämlich beichten.“

„Haſt du ein Verbrechen begangen?“ ˖ „Nee aber ich habe zehntauſend Mark ver⸗ oren.“

„Ach du armer Kerl wo denn?“

„Auf dem Pikbuben.“

Nun verſtand Elli. „Ach ſo Schulden! Pfui, Hanni!“

„Dies hab' ich mir ſelber ſchon zugerufen. Meine Reue iſt tief. Aber berappt muß werden. Um ähnlichen Zwiſchenfällen vorzubeugen, bin ich indes auf eine gute Idee gekommen. Ich werde dem Alten vor Notar und Zeugen mein Ehrenwort ausſtellen, nie mehr zu ſpielen. Dann kann ich jedem, der mich an den Jeutiſch ſchleppen will, das notarielle Inſtrument unter die Naſe halten.“

„Dein mündliches Wort genügt doch auch.“

„Das ſchriftliche iſt wuchtiger. Das trage ich dann immer bei mir.“

„Du biſt ein gräßlich leichtſinniger Menſch!“

„Eigentlich nicht. Aber manchmal vergaloppiert man ſich. Liebe Damen, ſeid nett zu mir. Mir puppert das Herz ein bißchen. Ich habe Angſt. Papa ſpielt zuweilen den Geſtrengen. Wenn er mich in die Provinz verſetzen läßt, brenn' ich nach Afrika durch ...“

Elli rümpfte das Näschen. Hans⸗Jaſper gefiel ihr nicht, trotzdem er 118 8 geworden war. Chriſtel dagegen hatte in ihm ſofort ihr neueſtes Ideal gefunden. Sie wagte kaum zu ihm aufzublicken. Sie glaubte, noch nie einen ſo ſchönen Mann geſehen zu haben. Der Schnurrbart war einfach hinreißend. Wie er das Monokel im Auge feſthielt, begriff ſie nicht. Und dann dieſe große ſchlanke ſtattliche Figur! Er trug Uniform: den dunkelblauen Überrock und die weiße Mütze mit rotem Rand. Chriſtels Uniformkenntnis war ſchwach. Von Garde hatte Elli geſprochen. Auch Chriſtels Kenntnis der Armeegeſchichte war nur ungenügend. Aber daß Garde etwas Feines war, wußte ſie. Dieſer Mann konnte nur bei der Garde ſtehen.

Hans⸗Jaſper hatte die Handſchuhe abgeſtreift. Nun bewunderte Chriſtel in aller Heimlichkeit wieder ſeine Hände. Schmale und weiße Hände mit feinem Geäder

u

und wunderſchönen langen ſpitzen weiß und roſig ſchimmernden Nägeln. Ein Hauch von Vornehmheit ſtrömte Chriſtel entgegen und lullte ſie ein. Daß ſie einmal Vierlang fahren würde, hatte ſie ſich nie träumen laſſen. Und wie prachtvoll war dieſe Equipage! Der Lohnwagen der Witwe Maracke in Emmenthal, mit dem man manchmal hinaus in die Heide fuhr, war ein Klapperkaſten dagegen. Chriſtel kam aus der Bewunde⸗ rung nicht heraus. Doch als über den Parkwipfeln das Schloß auftauchte mit ſeinen blitzenden Fenſterreihen, wurde ihr faſt ein wenig ängſtlich zu Mute: wenn ſie nur das richtige Benehmen fand! Das waren hier N alles ganz andre Leute als die in Emmenthal am ein

Aber Baron und Baronin waren bei der Begrüßung ſo liebenswürdig, daß Chriſtel ihre Angſt verlor. Es ging gleich zum Frühſtück, bei dem es kleine Wachteln gab, mit denen Chriſtel nicht recht fertig wurde, und Artiſchocken, vor deren ſtachligen Blättern man ſich in acht nehmen mußte. Aber die Eleganz der Tafel und die vier Diener, die ſich immer gegenſeitig die Teller und Schüſſeln abnahmen, und der hinter dem Baron Koſer wie angewurzelt ſtehende alte Kranich, der nur mit den Augen dirigierte: das ganze anſcheinend ſelbſt⸗ verſtändliche und doch ſo unnötige Drum und Dran eines durch Reichtum und formale Vornehmheit ſorg⸗ fältig regulierten Daſeins imponierte ihr ſehr.

„Es iſt hier ſchlankweg großartig,“ erklärte ſie Elli, als ſie ſich auf ihrem Zimmer zum zwölften Mal binnen wenigen Stunden die Hände wuſch, um dann an das Polieren ihrer Nägel zu gehen; „es herrſcht hier das, was ich ſo ſehr liebe: äußerſte Feinheit, verbunden mit etwas ſehr Natürlichem des Sichgebens. Es iſt der Höhepunkt in der Kultur des Lebens. Man merkt gar nicht, wie gräßlich vornehm man iſt. Aber ich finde es entzückend. Wenn du erſt mit deinem Vetter Hans⸗ Jaſper verheiratet biſt, werde ich dich öfters beſuchen, und dann wird meine ſchlichte Bürgerlichkeit in dieſer ariſtokratiſchen Atmoſphäre aufgehen wie ein Pfann⸗ kuchen im Schmalzkeſſel.“

Elli lachte vergnügt. „Ausgezeichnet! Leider unter⸗ ſchätzen mich Euer Gnaden. Für Hans⸗Jaſper bin ich mir doch noch zu gut. Nee, meine liebe Chriſtel, der

paßt nicht zu mir. Mit dem kann man 'rumulken und ſeine Poſſen treiben aber als Ehemann denke ich ihn mir nicht verführeriſch. Ich überlaſſe ihn dir.“

Chriſtel ſtand vor dem Spiegel und band ſich eine neue Krawatte um. „Merci,“ erwiderte ſie; „ich würde ihn auf der Stelle nehmen. In dieſer Umgebung fühle ich erſt, wie eitel ich bin. Es iſt ſehr traurig, daß ich nicht Chriſtiane Seraphine von Bungarz zu Emmenthal heiße. Freilich könnte ich mir meinen guten Vater nicht recht in die Rolle eines agrariſchen Edelmannes denken. Meine Mutter war eine geborene Brümmer.“

„Meine war eine geborene Pflug,“ ſagte Elli. „Der Großvater hatte ein Kohlengeſchäft. Das hat mir Tante Karla einmal anvertraut. Sämtlichen adligen Verwandten ſoll ſich zweimal das Herz im Leibe umgedreht haben, als mein Vater heiratete. Siehſt du, da könnte ich mir ſchon aus reinem Trotz einen Bürger⸗ lichen nehmen. Närriſche Geſchichte: du haſt den Adels⸗ tie, ich bin demokratiſch. Hans⸗Jaſper hat mir einmal erzählt, daß einer unſrer Vorfahren als Raubritter gehängt worden iſt.“

„Großartig!“ rief Chriſtel. „Meine Ahnen haben bloß ſo gelebt. Raubritter iſt glänzend. Habt ihreine Chronik?“

„Ja natürlich. Tante Dorothee iſt ſehr ſtolz darauf. Ich habe fie ſchon als Kind leſen müſſen, um „Familien⸗ finn‘ zu bekommen. Sie iſt aber mordslangweilig.“

„Wir haben auch eine Chronik,“ erzählte Chriſtel. „Eine geſchriebene, aber ich glaube, Vater will ſie drucken laſſen. Es geht daraus hervor, daß der Sinn für den Buchhandel bei uns erblich iſt. Ein Bungarz iſt ein Gehilfe Gutenbergs geweſen und iſt mit Fuſt nach Paris gereiſt, da ſeine Bibeln zu verkaufen. Ein altes Geſchlecht ſind wir alſo dito. Bloß bürgerlich. Dabei fühle ich, wie mir im Umgange mit deinesgleichen die Adelszacken aus dem Kopfe wachſen.“

Elli fuhr ihr mit der Hand über den Scheitel. „Man ſpürt ſie ſchon,“ ſagte ſie. „Chriſtel, ich werde dich anders friſieren. Setz dich mal hin. Die angeklebten Zöpfe entſprechen nicht der Feudalität des Zuſtänd⸗ lichen und dem Keimen der Adelszacken. Über der Stirn kriegſt du eine lockere Tolle: ſo eine Art Sturm⸗ n als Zeichen deiner trutzigen Geſinnung. Dann ommt eine drei Finger breite glatte Scheitelung als

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Symbol für die frumbe Schlichtheit deines Weſens, während ſich auf dem Hinterkopf ein feines Zöpflein in mäandriſchen Windungen kringelt: ein Beweis dafür, daß dir nichtsdeſtoweniger auch das Kompli⸗ ziertere des modernen Charakters nicht fremd iſt.“

Chriſtel ſaß bereits vor dem Spiegel, und Elli legte ihr ein Handtuch um die Schultern und löſte ihr dann das Haar auf.

„Friſiere mich mehr vom hiſtoriſchen Standpunkte aus als nach philoſophiſchen Prinzipien,“ bat Chriſtel.

Da ſchlug eine Fauſt wider die Tür, und ohne den Hereinruf abzuwarten, trat Hans⸗Jaſper in das Zimmer: diesmal in helles Zivil gekleidet und ein weißes Filz⸗ hütchen zerknüllt in der Hand.

„O Gott!“ ſchrie Chriſtel auf und raffte ihr Haar zuſammen.

Elli trat ſchützend vor ihre Freundin. „Hanni, es iſt eine Unverfrorenheit,“ ſagte ſie, „die Kemenate zweier Jungfrauen zu betreten, ohne dazu aufgefordert worden zu ſein. Entweder gehe wieder 'raus oder drehe dich herum, bis ich Chriſtel fertig friſiert habe.“

„Kinder, habt euch bloß nicht,“ antwortete Hans⸗ Jaſper gemütlich und ließ ſich in einen Fauteuil fallen. „Gnädiges Fräulein, Fräulein Chriſtel Chriſtel klingt reizend mich ſtören Ihre aufgelöſten Locken keinen Augenblick. Das iſt wieder ſehr in der Mode. Die kleine Gräfin Leitritz läuft immer ſo herum und hat lange nicht ſo ſchönes Haar. Elli, geh ein bißchen aus dem Lichte das iſt wirklich ganz wunderhübſch, wie der Sonnenſchein über Ihr Haar huſcht, Fräulein Chriſtel es iſt eigentlich mehr braun als ſchwarz . Elli, wenn du auch ein Schippchen ziehſt, ich bleibe doch hier zieh noch mal ſo'n ſchiefes Mäulchen es ſieht niedlich aus, Mauſekatze —“

Und plötzlich ſprang er auf, packte Elli am Kopfe und gab ihr einen Kuß auf die Lippen, ehe ſie ſich deſſen wehren konnte. Eine andre hätte geſchrieen; ſie ſchrie nicht. Sie eilte an den Waſchtiſch, fuhr ſich mit dem naſſen Schwamm über den Mund und warf den naſſen Schwamm ſodann Hans⸗Jaſper in das ſchöne Angeſicht. Es klatſchte. „Pfui Deibel!“ rief der Ritter, „mein Schnurrbart! mein roſaroter Schlips! mein neueſtes Grisperlezivil!“

„„So was kommt von jo was,“ erklärte Elli trium- phierend. Doch Chriſtel war ſtarr. Dieſer junge Adel benahm ſich wenig würdig. Sie hatte eiligſt ihr Haar aufgeſteckt und ſagte vorwurfsvoll: „Aber Elli...“

„Nicht wahr?“ meinte Hans⸗Jaſper. „Aber, Elli... Ich verzeihe dir nur, weil mir eine große Freude widerfahren iſt. Vater hat berappt. Das Undenkbare iſt geſchehen: er hat dabei nicht einmal mit der Provinz gedroht. Er hat mir ſogar nur eine ſehr kurze Rede gehalten. Und wem verdanke ich dieſe Gnade? Ihr ahnt es nicht, junge Mädchen. Dir, Elli, und deiner bewundernswerten Freundin Sakriſtel!“

Elli ließ vielſagend den Zeigefinger über ihre Stirn 1 „Du willſt dich wohl bei uns einſchmeicheln?“ ragte ſie.

„Nichts da lauterſte Wahrheit! Ich habe dem Papa verſprechen müſſen, mich eurer in Berlin vetter⸗

lich und freundſchaftlich anzunehmen, euch in gut⸗ geſinnte chriſtliche Familien einzuführen und euch zu⸗ weilen ins Opernhaus zu begleiten, wenn „Prezioſa“ oder ‚Der Freiſchütz' gegeben wird, und ins Schau⸗ ſpielhaus, wenn ‚Maria Stuart‘ und dag ebene auf dem Zettel ſtehen. Wenn ihr aber artig ſeid, nehme ich euch auch mal ins Reſidenztheater mit und zeige euch im Wintergarten die Otéro.“

„So iſt's recht!“ rief Elli lachend. „Du biſt ein Chaperon, wie ihn ſich der Onkel gar nicht beſſer denken kann. Ich glaube doch, es wird für unſre Tugend vorteilhafter ſein, wenn wir unſre eigenen Wege wandeln.“

„Comme vous voulez, ma chöre. Aber ich vermute, du wirſt meine Hilfe noch recht gern annehmen wollen. Mama will an die Gräfin Zicka ſchreiben, damit ſie euch eine würdige Ehrenjungfrau beſorgt, die bei euch wohnen ſoll. Da kann ich euch ſchon jetzt gratulieren, liebe Damen. Aber mit der Warnung: wehrt euch! wehrt euch!“

„Iſt das eine ſo ſchreckliche Gräfin, Herr von Koſer?“ fragte Chriſtel.

„Über die Maßen ſchrecklich, liebe Gnädige. Sie iſt die verkörperte Rückſtändigkeit und die zweibeinige Prüderie. Aber ich will einmal Spott und Ulk ganz beiſeite laſſen. Ich warne aufrichtig, Elli. Ich weiß,

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was du unter der Disziplin der Liſtowska W e haft. Weiß auch, daß du ein Freiheitstierchen biſt ſonſt wärſt du damals den Alten nicht ſo forſch durch die Lappen gegangen: eine Geſchichte, die mich innerlich koloſſal erfreut hat ich habe bloß bedauert, daß du mich nicht mit in das Komplott gezogen haſt, denn ich hätte dir heimlich und unheimlich beim Durchbrennen geholfen. ... Selbſtverſtändlich: beide Alten meinen es in ihrer Art gut. Käm's auf Vatern allein an, ſo hätteſt du auch noch weniger zu fürchten. Aber Vater will ſeine Ruhe haben, und die hat er bloß, wenn er Muttern gegenüber den Diplomaten ſpielt. Das ver⸗ ſteht er nun ja; er wird nie ohne weiteres opponieren, ſondern Bor immer allerhand Schlängelwege, um zum Ziele zu gelangen. Manchmal gelingt's ihm, manchmal aber auch nicht.“

„Ich glaube,“ ſagte Elli, „daß wir ihn diesmal auf meiner Seite haben. Jedenfalls ſchien er ſehr gehe einverſtanden, daß ich mit Chriſtel zuſammen⸗ ziehe.“

Hans⸗Jaſper nickte. „Gewiß. Er hat ſich über Fräulein Chriſtel Chriſtel klingt gar zu reizend auch ſehr ſchmeichelhaft ausgeſprochen. Und nun will ich dir mal ganz reinen Wein einſchenken, Elli voraus⸗ geſetzt, daß du diskret biſt, was freilich zu deinem eigenen Heil notwendig iſt. Der Papa hat ſehr ernſthaft mit mir geſprochen. Er kennt ſeine Range. Ich kann wohl mal leichtſinnig ſein; aber in gewiſſen Dingen verſtehe ich keinen Spaß. Wenn ich euch chaperoniere, ſo könnt ihr ſicher ſein, daß es mit gebührendem Anſtand und in fürnehmſten Formen geſchieht. Bloß gegen die euch von der Mutter zugedachte dame d'honneur komme ich nicht auf. Das weiß ich von vornherein. Die Zicka wird euch eine alte Betſchweſter auf die Bude ſetzen, die ſelbſtverſtändlich von Adel iſt, ſonſt aber ganz be⸗ ſtimmt ein Greuel erleſener Art. Ich kenne ihre Pro⸗ teged. Sie falten die Hände, wo es nicht nötig iſt, halten den ‚Fauft‘ für eine unmoraliſche Dichtung, drehen ſich vor jeder nackten Statue herum, verachten die Schönheit und eſſen vor dem erſten Frühſtück ſechs Backpflaumen. Kinder, ich warne euch!“

Chriſtel hatte aufmerkſam zugehört und machte dabei ſo große und wißbegierige Augen wie ein Kind, das ſich

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ein Märchen erzählen läßt. Elli aber erhob mit tragiſcher Gebärde die Hände und rief: „Um Himmels willen Hanni, wenn das wahr wäre, ich glaube, ich liefe zum zweiten Male davon! Ich könnte heute ſelbſt eine Liſtowska ertragen, denn ihr gegenüber würde ich mich zu wehren verſtehen aber unduldſame Prüderie, die ſelbſt vor der Wahrheit Reißaus nimmt, weil ſie nicht ſchicklich genug gekleidet iſt die haſſe ich! Und dir geht's gerade ſo, Chriſtel nicht wahr?“

„Gerade ſo,“ antwortete Chriſtel, die immer der⸗ ſelben Meinung war wie ihre vergötterte Freundin.

Elli marſchierte aufgeregt durch das Zimmer. „Wenn ich gar nicht hergekommen wäre,“ fuhr ſie fort, „hätt' ich mich nicht in die Neſſeln zu ſetzen brauchen —“

„Das tut immer weh,“ warf Hans⸗Jaſper ein. „Ich Dh 1 mal aus Verſehen in einen Ameiſenhaufen geſetzt

„Sei ſtill!“ rief Elli, „du biſt an der ganzen Ge⸗ ſchichte ſchuld!“

„Erlaube gütigſt da muß ich denn doch Verwahrung einlegen. Warum ſoll i ch denn nun wieder das Kar⸗ nickel ſein?“

„Weil ich nur deinetwegen mich wieder mit Onkel und Tante ausgeſöhnt habe, verſtehſt du?“

Hans⸗Jaſper ſchnellte in die Höhe, legte die rechte Hand auf die Herzſeite, verdrehte die Augen und ver⸗ ſuchte lieblich auszuſehen. „O Elvira,“ ſagte er, „ich danke dir! Fräulein Chriſtel Chriſtel klingt ſüß Fräulein Chriſtel, Sie haben es gehört: nur meinet⸗ wegen! Sie liebt mich. Meine Couſine Elvira liebt mich und ich wußte es nicht einmal. Teure Elli, du erlaubſt, daß ich auf dieſes holde Bekenntnis hin —“

„Bitte,“ rief Elli und ſtreckte ihm abwehrend die Arme entgegen, „ſo heiß iſt meine Leidenſchaft nicht! Denke an den Schwamm von vorhin! Hanni, ſei mal verſtändig! Was ſoll ich tun? Ich will weder Onkel noch Tante vor den Kopf ſtoßen, will mir aber auch 1 eine Ehrendame aufdrängen laſſen, die mir nicht paßt.

„Komm ihr zuvor,“ rief Hans⸗Jaſper. „Sehr ein⸗ fach. Irgend ein älteres weibliches Weſen, das ſich eurer Wirtſchaft ein bißchen annimmt, wirſt du doch engagieren müſſen. Und dann erzählſt du der Mama,

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wenn ſie dir wieder mit irgend einer vom Stamme der Zicka kommt, du hätteſt dich ſelbſt ſchon verſorgt.“ „Wo kriegt man aber ſo etwas gleich her?“ be⸗ 1 Chriſtel. „Ich möchte mal nach Emmenthal reiben —“ Aber Elli unterbrach ſie. „Ha!“ rief ſie plötzlich 1 Ag ſich mit der flachen Hand vor die Stirn; „ich

ab dane feſt,“ ſagte Hans⸗Jaſper, „aber brülle nicht ſo. Geheimniſſe darf man nur flüſtern

„Ich hab's tatſächlich,“ wiederholte Elli, „ich habe bereits eine dame d'honneur in Bereitſchaft. Eine würdige alte Dame, zugleich eine gute Bekannte von mir. Sie hat mir erſt, vor ein paar Tagen geſchrieben, daß ſie in Berlin ſei.“

„Das wär ja famos,“ meinte Chriſtel.

„Du kennſt fie auch,“ ſagte Elli, wandte ihr Geſicht gegen Chriſtel, blinzelte ihr mit den Augen zu und legte mit raſcher Bewegung den Zeigefinger auf die Lippen.

„Iſt ſie denn von Adel?“ fragte Hans⸗Jaſper ſorgenvoll. „Sonſt imponiert ſie Muttern nicht.“

„Von ganz altem Adel,“ verſicherte Elli ſehr ernſt. „Eine Gräfin Gulla.“

Chriſtel pruſchte in ihr Taſchentuch und behauptete, es ſei ihr eine Mücke in das linke Naſenloch geflogen.

Aber Hans⸗Jaſper nickte wohlgefällig. „Gräfin iſt ausgezeichnet,“ 12 er. „Da ſchneidet ihr der Mama von vornherein die Oppoſition ab. Wie heißt . Gullaſch? Das klingt ungariſch.“ ulla, nicht Gullaſch. Sie iſt eine Ruſſin. Gräfin Sue, geborene Gräfin Weretſchagin.“

„Das iſt ja ein Maler!“

„Aber auch ein altes Grafengeſchlecht. Aus der Krim, glaube ich.“

„Woher kennt ihr denn dieſe Gräfin?“

„Wir hatten eine ruſſiſche Prinzeſſin in der Penſion, und mit der iſt ſie weitläufig verwandt. Sie hat eine Menge fürſtlicher Verwandte, aber bloß in Rußland. In Berlin gar keine. Sie geht auch nicht aus. Darin iſt ſie ſonderbar.“

„Schadet nichts,“ ſagte Hans⸗Jaſper. „Geſellſchaft⸗ lich ſeid ihr untermeiner Hut. Und du glaubſt, daß dieſe Gräfin zu euch ziehen wird?“

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„Unbedingt. Sie jucht jo etwas. Weißt du, fie ift verarmt. Anderſeits ſtellt ſie gar keine Anſprüche. Sie iſt ein wenig Original.“

Hans⸗Jaſper rieb ſich die e „Vortrefflich! Da haſt du nichts weiter zu tun, als dich der alten Gräfin zu verſichern, ſobald du in Berlin biſt und dann ſchreibſt du es gelegentlich an die Mama. Damit iſt die Geſchichte all right, und ihr ſeid die Zicka los. Gott ſei Dank! Und nun bitte ich um kein weiteres Streiten. Gib mir das Pfoterl. Sie auch, Fräulein Chriſtel Chriſtel klingt einfach hinreißend —, geben Sie mir auch das liebe, f ße, zarte kleine Patſcherk: wir wollen gute Freunde ſein und bleiben; wir wollen einen Bund ſchließen wie die Leute vom Rütli und die von der Pulververſchwörung. ene eng gegen⸗ ſeitiges Vertrauen. Einverſtanden?

hatte ſchon die Hände Chriſtels und Ellis ge⸗ nommen. Chriſtel ſah ſehr begeiſtert aus und gab den Händedruck heftig zurück. Aber auch Elli gefiel der Ton Hans⸗Jaſpers beſſer als der von vorhin. „Was machen wir nun nach dieſem feierlichen Schwur?“ fragte fie. „Chriſtel möchte doch gern etwas von Falkenhagen kennen lernen.“

„Ich ſchlage vor: wir fahren ein Stündchen ſpazieren. Bis zur Teeſtunde. Dann ſpielen wir eine Partie Tennis. Dann angeln wir, bis die Zeit zum Diner nahe rückt. Und am Abend können mich die geehrten Damen auf den Anſtand begleiten: unter der Bedingung, daß ſich die geehrten Damen ganz ruhig verhalten und mir das Wild nicht vertreiben.“

Chriſtel jauchzte vor Vergnügen. Wundervoll, daß ſie auch einmal mit auf die Jagd konnte!

Hans⸗Jaſper ging, den Wagen zu beſtellen.

„Ein entzückender Menſch!“ rief Christel.

„Er redet ein bißchen viel,“ ſagte Elli.

„Aber was er ſagt, kommt aus dem Herzen,“ meinte Chriſtel. Manchmal,“ entgegnete Elli. Elli du verſündigſt dich en deinem Vetter,“ . Chriſtel vorwurfsvoll. Und dann fuhr ihr ein wichtiger Gedanke durch den Kopf. „Was machen wir für eine Toilette zur Spazierfahrt? Es iſt gut, daß ich mein Tenniskoſtüm mithabe. Erfordert der Angelſport

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auch noch einen Wechſel der Außerlichkeit? Zum Diner ziehe ich das weiße Kleid an und die hellgrüne Schärpe; vielleicht kann ich mir eine dunkelrote Roſe dazu pflücken.“

„Du wirſt eitel, Schwarzſpecht.“

„Bitte nur dir zu Ehren. Ich will dich nicht blamieren.“

Elli gab ihr einen Kuß. „Rührend von dir. Im übrigen will ich dir etwas anvertrauen. Ich war ab⸗ ſichtlich ein wenig kühl gegen Hans⸗Jaſper. Ich möchte nicht, daß er uns allzu viel in die Geſellſchaften lockt. Und zwar aus mehrfachen Gründen. Erſtens wegen der Univerſität.“

„Wir brauchen uns doch nicht tot zu arbeiten!“ rief Chriſtel. „Jeder Menſch gönnt ſich ſein bißchen Freiheit!“

„Das iſt es eben,“ ſagte Elli. „Das ſollte zu zweit kommen. Ich fürchte, dieſer Geſellſchaftsrummel wird unſere Freiheit beſchränken. Wir werden in Kreiſe kommen, die uns nicht zuſagen. Wir werden uns auch fürchterlich mopſen.“

„Warten wir ab. Ich ſehe ſchon, wir haben ver⸗ ſchiedene Neigungen. Mir würde es Spaß machen, einmal die Naſe in das Highlife zu ſtecken; du biſt merk⸗ würdigerweiſe volkstümlicher veranlagt. Ich ſehe es deutlich vor mir: ich werde einen Edelmann mit pracht⸗ vollem Namen heiraten, und du einen ganz gewöhnlichen Bürgerlichen. Ich werde in die Höhe klettern, und du wirſt tief unter deinen Stand geraten. Du wirſt noch als Sozialdemokratin enden. Was iſt das für eine vorhuſte he Geſchichte, die du mit deiner alten Gulla vorhaſt?“

„Der Ausdruck blödſinnig iſt in allen Parlamenten verboten; aber ich vergebe ihn dir, weil dein feudaler Hochmut keine Grenzen kennt. Die Gulla iſt in Berlin und hat keine Stellung. Sie paßt als Wirtſchafterin glänzend zu uns. Daß ich ſie der Tante Dorothee

egenüber als Gräfin friſiere, iftmeine Sache. Jeden⸗ falls fällt es mir nicht im Traume ein, mir irgend ein altes Scheuſal aufhalſen zu laſſen. Liebſtes Chriſtelchen, wenn wir uns vertragen wollen, mußt du mir in derlei Dingen freie Hand laſſen.“ „Du wächſt dich gut zur Tyrannin aus ... Chriſtel

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war wirklich ein wenig pikiert ... „Soll ich den Strohhut aufſetzen?“ fragte ſie.

„Setze beruhigt den Strohhut auf,“ antwortete Elli.

„Das wollte ich nur hören,“ gab Chriſtel verärgert n „Wenn ich gefragt hätte: ſoll ich eine Nacht⸗ ampe auf den Kopf ſetzen, ſo würdeſt du auch ja geſagt haben. Du haſt gar kein Intereſſe mehr für mich. Es machte dir Freude, mich möglichſt unvorteilhaft zu ſehen. Zu dem blauen Jackenkleide gehört der kleine Filzhut, aber nicht der aus Stroh.“

„So ſetze den kleinen Filzhut auf,“ entſchied Elli lachend. „Und wenn du mir nicht jetzt augenblicklich ag „Kuß gibſt, verkehre ich überhaupt nicht mehr mit dir.“

Nun fielen die Freundinnen ſich in die Arme. „Sage, daß ich ein Schafskopf bin!“ rief Chriſtel. Aber Elli ſagte dies nicht, denn es klopfte an der Tür und Diet⸗ 1 erſchien und meldete: „Der Herr Leutnant aſſen gehorſamſt vermelden, der Wagen ſei vorgefahren und die gnädigen Fräuleins möchten doch ſo gut ſein und kommen. Der Wagen hält vor dem Eingang zum Turm.“

10. Die Welt durchaus iſt lieblich anzuſchauen.

An einem ſchönen Oktobervormittag wandelten drei junge Damen an den Denkmälern der beiden Hum⸗ boldts vorüber durch den Vorgarten der Berliner Uni⸗ verſität und blieben etwas unſchlüſſig vor dem erſt vor kurzem enthüllten Marmorſtandbild Helmholtzens in⸗ mitten des Gartens ſtehen.

„Wer iſt das?“ fragte der Rotkopf und wies auf den Mormor.

„Humboldt,“ entgegnete der Blondkopf.

„Unſinn,“ ſagte der Schwarzkopf und zeigte nach rückwärts, „daa ſteht der Humboldt.“

„Es gab mehrere,“ erwiderte der Blondkopf, „hier wimmelt's von Humboldts. Aber ſind wir Fremde, die ſich die Reſidenz anſehen wollen? Nein, wir ſind Lis rerinnen hieſiger Univerſität und haben unſre

inne fürderhin nur auf das Geiſtige zu richten. Wor⸗ unter ich nicht etwa Alkohol verſtehe.“

arg

„Nach dieſem Witz,“ ſagte Chriſtel, „ſchlage ich vor, daß wir uns nach dem Sekretariat begeben. Es ſcheint mir ſehr zweifelhaft, ob Katja überhaupt zugelaſſen wird. Geſtern hat mir jemand erzählt, die Medizin⸗ männer nähmen keine Damen an.“

„Nur einige nicht,“ entgegnete Katja. „Es wär' I auch ſonſt ziemlich wurſchtig. Dann ſtudier' ich was andres.“

Elli hatte inzwiſchen den Pedell nach dem Sekre⸗ tariat gefragt. Da wimmelte es von Menſchen. Elli, Katja und Chriſtel drückten ſich an die Wand.

„Hier riecht es nicht gut,“ ſagte Katja leiſe zu ihrer Nachbarin. „Riecht es hier immer ſo?“

„Das weiß ich nicht,“ wiſperte Elli zurück, „ich bin hier auch fremd. Ich bitte dich, rede nichts Beleidigendes, Duſchinka; die Leute kucken ſchon nach uns.“

„Mich juckt's am linken Knie,“ fuhr Katja fort; ge bringe ich mir Inſektenpulver mit.“

„Sei bloß ruhig!“ flüſterte Chriſtel.

„Das iſt ruſſiſche Sitte,“ endete Katja ihre Be⸗ merkung.

Ein dicker junger Herr mit vielen Schmiſſen im Antlitz verſuchte, für die drei Damen Platz zu machen. Sie waren übrigens nicht die einzigen Vertreterinnen des weiblichen Geſchlechts im Zimmer. Von der Wand gegenüber ſtarrten ſie ein paar dunkle Augen aus einem blaſſen Mädchengeſicht forſchend an, und über den bar⸗ häuptigen Herren ſah man einen großen Hut mit auf⸗ gekrempten Seiten und zwei ſchwankenden weißgrauen Federn. Wer ihn trug, konnte das Trio nicht ſehen: es mußte eine Rieſenjungfrau ſein.

Der dicke junge Herr mit den Renommierſchmiſſen hatte Elli ein wenig weiter nach vorn geſchoben, dem Tiſche des Sekretärs zu. Elli reichte der hinter ihr ſtehenden Katja die ei Katja wiederum Chriſtel. So bildeten ſie eine Kette.

Sie erregten Aufmerkſamkeit. Die Blicke glitten über ſie hin. Über ein paar Geſichter ging ein Lächeln. Hie und da neigten ſich zwei Köpfe zu einander, und ein Wiſpern und Flüſtern begann. Der große Hut mit den ſchwankenden Federn ſchien jetzt über dem Se⸗ kretärstiſche zu ſchweben. „Ich muß erſt Ihren Abi⸗ turientenſchein haben, gnädige Frau,“ hörte man den

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Sekretär ſagen. Der Hut geriet in lebhafte Bewegung.

„Eine Amerikanerin,“ meinte jemand neben Elli. „Die lange Latte aus dem Panoptikum,“ ſagte ein andrer.

Jetzt brauchte der dicke Student mit den Schmiſſen ſeine Ellbogen. „Bitte gehorſamſt, gnädiges Fräulein,“ ſagte er und gab Elli den Vortritt. Elli zog Katja nach ſich, Katja zog Chriſtel. „Platz für die Damen, wenn ich bitten darf,“ rief der Student wiederum und machte eine Bewegung, als ob er ſchwimmen wollte.

„Deshalb brauchen Sie mich aber nicht in den Bauch zu boxen,“ ſagte eine tiefe Stimme. „Tauſend⸗ mal pardon!“ rief der Student. Man lachte.

Elli wurde abgefertigt. Dann kam Katja an die Reihe. Der Sekretär ließ ſich den Namen zweimal wiederholen, ſah dann ſehr aufmerkſam den Abiturienten⸗ ſchein durch, machte ein reſpektvolles Geſicht und fragte: „Euer Durchlaucht ſind doch polizeilich angemeldet?“

Bei der Titulatur Durchlaucht horchte alles auf.

„Ich wohne im Hotel Briſtol,“ antwortete Katja.

Der Sekretär neigte höflich den Kopf. „Ganz wohl, Durchlaucht ich meinte nur wegen der polizei⸗ lichen Anmeldung iſt alles in Ordnung?“

„Mein Onkel iſt der ruſſiſche Botſchafter,“ entgegnete

atja.

Der dicke Student mit den Schmiſſen prufchte fröhlich heraus. Aus dem Hintergrunde wurden Katja ein paar ruſſiſche Worte zugerufen. Man amüſierte ſich. Der Sekretär wurde verlegen und nahm raſch das Legitimationspapier Chriſtels an ſich. „Wenn ich bitten fich g in einigen Tagen wiederzukommen,“ ſagte er, „und

ſich Ihren Hörerinnenſchein zu holen.

Nun traten die drei Mädchen zurück. Der dicke Student bildete eine Gaſſe für ſie and verbeugte ſich an der Tür, wobei er ſich beſonders an Katja wandte und vernehmlich flüſterte: „Habe die Ehre, Durch⸗ laucht . . .“ Ein andrer drängte ſich draußen an Katja heran: ein langer ſchmaler blaſſer Menſch mit wirrem, in die Stirn fallendem Haar und ſprach ſie ruſſiſch an. „Merci, monsieur,“ entgegnete Katja kurz und ging weiter.

„Ich finde, du behandelſt deine Landsleute nicht gerade ſehr liebenswürdig,“ ſagte Elli.

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„Ich ſchau' fie mir erſt an, ob fie Flöhe haben können,“ erwiderte Katja ungeniert. „Das ſeh' ich gewöhnlich gleich. Aber bei dem vorhin ſchwankte ich ein bißchen. Übrigens hat er mich nur darauf aufmerk⸗ ſam gemacht, daß man im Aushang der Quäſtur ſich davon überzeugen kann, wer von den geehrten Herren ae Damen zuläßt und wer nicht. Kommt mit,

nder! —“

Elli wußte für ſich ſelbſt bereits Beſcheid. Sie wollte im erſten Semeſter folgendes belegen: Geſchichte der deutſchen Kaiſerzeit (Profeſſor Abel); Geſchichte der Revolution (Doktor Freyſtadt); Neuere deutſche Lite⸗ ratur (Profeſſor Graefe); Fauſtkolleg (Profeſſor goeien); mittelhochdeutſche Grammatik (Profeſſor Koenig). Selbſtverſtändlich belegte Chriſtel genau dasſelbe, ob⸗ wohl die Hiſtorie gar nicht ihr Fach war. Aber ſie meinte, Kaiſergeſchichte intereſſiere ſie im allgemeinen, und während des Revolutionskollegs wollte ſie bei Kranzler Schokolade trinken und auf Elli warten.

Katja notierte ſich die Namen der Mediziner, die Frauen zuließen. Was ſie hören wollte, wußte ſie noch nicht. Die Begriffe der Entwicklungsgeſchichte, phyſio⸗ logiſchen Methodik, pathologiſchen Chemie, mikroſko⸗ eben Diagnoſtik, Immunitätslehre, Therapie, Stoff- wechſelkunde, Pneumato⸗, Spiro⸗, Thorako⸗ und Ther⸗ mometrie (Dinge, die ihr das Vorleſungsverzeichnis verkündet hatte) ſchwirrten vorläufig noch chaotiſch durch ihr Hirn; zudem hatte ſie gehört, daß 15 ſchon im Laufe des erſten Halbſemeſters ein beſonderes „Knochenexamen“ ablegen müßte, vor dem ihr ein wenig graute. Übrigens dachte ſie daran, falls es ihr bei der mediziniſchen Fakultät nicht behagen wollte, nach Ablauf des Semeſters zur Theologie überzugehen, um Hebräiſch und Koptiſch zu lernen, was ihr als bevorzugtes Sprachgenie Spaß gemacht hätte. Auch das orientaliſche Seminar lockte fie; es gab da ganz ſeltene Sprachen, wie Fulbe, Ewe, Nama und Hauſſa, die ſie für ihr Leben gern kennen gelernt hätte; und dann hatte ſie vor, ihre Hochzeits⸗ reiſe in dieſe Gegenden zu machen. Sie war wirklich ein „verdrehter kleiner Zwickel“, wie Elli ſie einmal genannt hatte.

Vorderhand wollte man frühſtücken.

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„Eßt ihr denn nicht daheim?“ fragte Katja.

„Nein,“ erwiderte Elli, „heute nicht. Gräfin Gulla hat eine gründliche Reinmachung angeſetzt. Früh ſchon erſchienen wunderliche Geſtalten: ein ſogenannter Bohner, der in unſerm Salon ein Ballett aufführte, und eine athletiſch gebaute Frau, die ſich nur in fließen⸗ dem Waſſer wohl zu befinden ſcheint, denn kaum war ſie eingetreten, ſo ſchwamm alles unter ihren Füßen. Da haben wir beſchloſſen, in der Stadt unſre kümmerliche Nahrung zu ſuchen.“

„Frühſtückt bei mir im Hotel,“ bat Katja. „Ich habe ſowieſo ein paar Gäſte. Landsleute: zwei feſche kleine Frauenzimmerchen und einen ſehr netten Herrn.“

„Willſt du denn im Hotel wohnen bleiben?“ fragte Chriſtel.

„Es dünkt mich das Bequemſte. Da hab' ich zwei Zimmer und brauche mir keine beſondere Dienerſchaft zu halten. Es iſt ein bißchen teuer, aber das ſtört mich nicht. Mein Vormund bezahlt alles. Er widerſpricht nie, weil er mich auf dieſe Weiſe am ungenierteſten beſtehlen kann. Er weiß, daß ich dann auch nicht widerſpreche ...“

Katja war im letzten Jahre hübſcher geworden. Sie hatte Figur bekommen, und gerade das Füllige, ein Erbteil von der Mutter her, ſtand ihr gut. Trotz ihres zu großen und zu volllippigen Mundes erſchien das Geſicht mit den kleinen chineſiſchen Augen und der niedrigen Stirn unter dem brandroten Helmbuſch ihres Haars ſehr pikant. Seit ſie mit ihrem Gelde frei ſchalten konnte, ging ſie auch immer höchſt elegant gekleidet. Eine Bekannte, die Gattin des ruſſiſchen Marineattachés, die ſie in Berlin zuerſt beſucht, 1 ihr das Atelier Hausmann empfohlen. Da fuhr ſie denn eines Tages hin, beſtellte ſich gleich ein Dutzend Koſtüme und befahl, die Nota an das Bankhaus Mendelsſohn zu ſchicken. Das machte ſie immer ſo. Sie ſtattete ſich vom Kopf bis zu den Füßen neu aus und ließ die Rechnungen zu ee ſenden, wo fie jo gut akkreditiert war, daß ſie auch noch verſchwenderiſcher hätte leben können. Die Kommis bei Mendelsſohn lernten in der Folge ihren Trouſſeau genau kennen: drei Dutzend ſchwarzſeidene durchbrochene Strümpfe mit farbigen Zwickeln ein Dutzend mordoré-⸗Seidenſtrümpfe ſechs Ballhemden mit Valenciennesinkruſtationen und ſeidenen Achſel⸗

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ſchleifen drei Korſettröcke, geblümter Damaſt, Genre Pompadour drei Paar Strumpfbänder Chinétaff drei Friſiermäntel, Linon mit iriſchen Applikationen zwei Paar weiße Glacélederſtiefel zwei Paar hell⸗ graue Däniſchlederhalbſchuhe zwei Paar Chevreau⸗ ſtiefel mit Lackbeſatz ... es war eine Freude.

Elli zögerte einen Augenblick, die Einladung Katjas anzunehmen. Sie wollte mit Chriſtel zu Kempinski gehen, wo es nicht auffiel, wenn ein paar junge Damen ohne Herrenbegleitung erſchienen. Katja machte ſich gern bemerkbar und legte ſich keine Gene auf; Elli hatte ſchon einmal im Wintergarten des Hotels mit ihr Fe diniert: da hatte man ſich ſchließlich an allen Tiſchen nach dem lebhaften kleinen Rotkopf umgeſchaut. =

„Ich fürchte, es wird mir zu viel werden,“ fagte Elli ausweichend, „ich fühle das langſame Nahen einer Migräne —“

„Vertreib' ich dir ſofort,“ fiel Katja ein; „ein Phenazetintabloid und eine halbe Pomm hinterher und die Migräne iſt weg . ..“ Sie rief eine Droſchke an... „Briftol, Be Kinder, fteigt ein! Kinder, wir wollen heute mal recht vergnügt ſein! Jetzt fängt ja die Schule bald wieder an. Ich mache euch bloß darauf aufmerkſam; die Wera Tichanow iſt wie ſoll ich ſagen ein biſſel frei in ihrem Benehmen und die andre, die Salo Lewſchin, die auch ... aber ihr ſeid ja, Gott ſei Dank, nicht von der Heilsarmee und könnt einen Puff vertragen.“

Elli wurde ängſtlich. „Ich ſchon,“ ſagte dr „ich forcht mich nit aber die Chriſtel, das Täubchen —“

„Oha,“ rief Chriſtel, „ich bin auch noch keine alte Jungfer! Ich kann auch frei ſein, wenn's darauf an⸗ kommt ſehr frei ſogar —“

„Chriſtel, renommiere nicht,“ ſchalt Elli. „Du wirſt rot, wenn du über die Schloßbrücke gehſt. Aus der Sezeſſionsausſtellung wollteſt du neulich gleich wieder 'rauslaufen!“ N

„Graule dich nicht, Chriſtelchen,“ ſagte Katja und ſtrich ihr über die Wange, „ſo ſchlimm ſind meine Freundinnen nicht. Sind übrigens auch Kommili⸗ toninnen die eine ſtudiert Kunſtgeſchichte, die andre alte Sprachen. Aber die ruſſiſchen Studentinnen haben

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im allgemeinen eine freiere Lebensauffaſſung als ihr ſpröden deutſchen Mädel. Und deshalb meinte ich —“

„Wer iſt der Herr?“ fiel Elli fragend ein. „Sagteſt du nicht, du hätteſt auch einen Herrn geladen?“

„Ja. Einen Doktor Kyrulew, einen famoſen Kerl. Er hat ſich in Berlin als ruſſiſcher Sprachlehrer nieder⸗ gelaſſen und iſt mit dem jungen Grafen Jermilow befreundet, einem Neffen meines Vormunds, bei dem ich ihn mal traf. Und durch Kyrulew bin ich wieder mit den beiden Mädeln bekannt geworden ...“

Der Wagen hielt vor dem Hotel, und die Boys ſprangen herzu. In der Vorhalle kam einer der Geranten Katja bereits mit abgezogenem Zylinder entgegen und meldete: „Die durchlauchteſten Gäſte warten ſchon. Im roten Zimmer, wie Durchlaucht befohlen haben.“

Katja nickte und ſchritt voran. Am Eingang des roten Zimmers ſtand ein Kellner mit dem Gehaben eines höheren Regierungsbeamten und dem Geſicht eines Lords, verneigte ſich tief und meldete abermals: „Die durchlauchteſten Gäſte warten bereits. Befehlen Dero Durchlaucht, daß ſerviert wird?“

Chriſtel ſpürte wieder den Hauch äußerſter Vor⸗ nehmheit und hob das Näschen, um ſich ein bedeuten⸗ deres Anſehen zu geben. Der Kellner ſtieß die Türe auf, und augenblicks quoll den Eintretenden ein Gewirr ruſſiſcher Worte entgegen, zugleich mit einer Flut weißen elektriſchen Lichts, da die Fenſter verdunkelt und das Zimmer künſtlich erleuchtet worden war (ſo liebte es Katja). Am Halſe Katjas hing ein kleines ſchwarzbraunes Mädchen und küßte ſie ab, eine große Blondine küßte ſie auf den Nacken, ein langer Herr küßte ihre rechte Hand.

„Jeſſes,“ rief Katja, „Herrſchaften, ihr erſtickt mich! Laßt mich mal Luft holen!“ Sie ſchüttelte ſich wie ein verregnetes Pudelchen, und das ſchwarzbraune Mädchen fiel ihr vom Halſe. „Vorſtellung,“ ſagte Katja. „Baroneß Koſer, Elli genannt Fräulein Bungarz, Chriſtel genannt; l'autre partie: hier —“ ſie wies auf die Schwarzbraune „Demoiſelle Salome Lewſchin, kurzweg Salo, noch kürzer Schi geheißen: hier Fräulein Wera Tichanow“ ſie wies auf die große Blondine „und hier Doktor Kyrulew, einer der bedeutendſten Sprachforſcher der Jetztzeit. Bitte zu Tiſch ...“

en!

Sie zog ihre Jacke aus und ſchleuderte fie in eine Ecke, den Hut in eine andre Ecke; die Handſchuhe fing der Oberkellner auf. „Kyrulew,“ rief ſie, „bitte links neben mich, Elli rechts. Kinder, gruppiert euch!“

Die Kellner erſchienen mit dem Vorgericht, der Sakuska (zu Ehren der ruſſiſchen Gäſte): Kaviar im Eisblock, Sardinen, Anchovis, 1 in Ol, einge⸗ machten Pilzen, Mayonnaiſen aller Art, kaltem Fleiſch und einem Tablett mit zehnerlei Schnäpſen. Ein Kellner präſentierte Zigaretten.

Die Unterhaltung ſetzte ſofort ſehr lebhaft ein. Doktor Kyrulew ſprach ein faſt akzentloſes Deutſch, die beiden jungen Ruſſinnen wenigſtens ein flüſſiges mit ſcharfer Betonung der Konſonanten. Hin und wieder lief auch eine ruſſiſche Phraſe mit unter, häufig ein franzöſiſcher Satz. Alle ſprachen auffallend laut und ſehr ſchnell. Auch die Damen tranken ihr Schnäpschen und qualmten während des Vorgerichts Zigaretten, die fie nach einigen raſchen Zügen auf dem Teller zer- drückten.

Elli war anfänglich ziemlich ſtill. Das ruſſiſche Trio intereſſierte ſie. Zunächſt der Doktor Kyrulew: ein großer, ſehr ſchlanker Herr im Smoking mit unge⸗ ſtärktem weißen Hemdeinſatz, in dem zwei Brillanten blitzten. Er hatte ein blaſſes, feingeſchnittenes Geſicht, bartlos, mit tief unter eckig vorſpringender Stirn lie⸗ genden, ſtark zwinkernden Augen und weichem braunen Haar, das ſich ungeſcheitelt lockte. Die Schönheit ſeiner Hände fiel Elli auf; ſie waren lang und ſchmal, mit ſpitzen Fingern und gutgehaltenen Nägeln. Aber die Beweglichkeit dieſer Hände ſtörte Elli ein wenig. Kyru⸗ lews Hände zuckten beſtändig; immer ſpielten die ſchlanken Finger wie in krankhafter Nervoſität, ſtreckten ſich aus, krümmten ſich, drehten die Zigarette, zer⸗ bröckelten das Weißbrot.

Ein merkwürdig nervöſes Geſchöpfchen war auch die kleine Lewſchin an ſeiner Seite: ihre ſchmalen Schultern ruckten und zuckten, die winzigen Hände fuhren hierhin und dahin, über das dunkle Geſicht glitt immer eine ganze Skala wechſelnden Empfindens. Ein ſeltſames Weſen auch in ihrem Außeren. Auf einem knabenhaft hageren, ungemein fein gegliederten Körper ein ausdrucksvolles Köpfchen; ein von ſchwarzem Woll⸗

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haar umrahmtes Geſicht von tief brünettem Teint; große glänzende Augen unter ſtarken, über der Naſe ſich neigenden Brauen; ein ſehr reizvoll geſchnittener, auffallend roter Mund und ein leichter dunkler Flaum auf der Oberlippe. Das Ganze entſchieden pikant und auch ungewöhnlich, raſſig und temperamentvoll. Im Gegenſatz zu ihr war Fräulein Tichanow, eine volle Blondine mit wunderſchöner Hautfarbe und ſanften blaugrauen Augen, ruhig und gemeſſen und faſt plaſtiſch in den Bewegungen, ſprach ein ſehr korrektes Gram⸗ matikdeutſch, lächelte gern, lachte aber niemals laut und ſaß kerzengerade auf ihrem Stuhl.

Aus der Unterhaltung erſah Elli, daß die beiden Damen ſchon ſeit zwei Jahren in Berlin weilten, nach⸗ dem ſie vorher in Genf und Paris ſtudiert hatten. Sie waren zu ihr von einer ausgeſuchten Liebenswürdigkeit, doch aber auch ein wenig zurückhaltend, während ſie unter ſich ſehr intim zu ſein ſchienen und ebenſo zu Katja, die ſie nur mit Vornamen nannten, während 5 5 Kyrulew immer bei der reſpektsvollen Titulatur

ieb.

Schon bei der Mockturtle hatte Katja nach „Pomm“ gerufen. Er kam denn auch: zwei Flaſchen Pommery Greno, die Katja auf den Tiſch zu ſtellen befahl. Sie ſelbſt und Kyrulew übernahmen das Schenkamt. Elli trank gern ein Glas Sekt, war aber um ſo vorſichtiger, als ſie ſah, mit welcher Haſt die Ruſſinnen die Spitz⸗ gläſer leerten. Schließlich ſchob die kleine Lewſchin ihren Kelch beiſeite und ließ ſich das Waſſerglas mit Cham⸗ pagner füllen. Alle Wetter, was konnte dieſes winzige Perſönchen vertragen! Sie änderte ihr Benehmen nicht, blieb lebhaft wie vorher, ließ ſich aber keinen Augenblick in ihrer Haltung gehen. Nur einmal, gegen Schluß der Mahlzeit, ſchien es, als mache ſich die Wirkung des Getränks bemerkbar. Da begann Salo Lewſchin den Doktor Kyrulew mit Brotkügelchen zu bombardieren und überſchüttete ihn unter heiterem Lachen mit einem Schwall ruſſiſcher Worte. Kyrulew antwortete ebenfalls ruſſiſch; dann lachte Katja, legte aber zugleich mit flinker Bewegung den Zeigefinger auf den Mund, als wolle ſie zur Vorſicht mahnen, und ließ einen raſchen beobachtenden Blick über Elli und Chriſtel ſchweifen. Elli fing ihn auf, und Katja errötete leicht;

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Chriſtel ſteckte gerade das Näschen in ihren Sektkelch und kicherte über eine Bemerkung der Tichanow. Sie war ſehr vergnügt. Das fidele Gelage gefiel ihr ent⸗ ſchieden. Elli ſtreifte ſie zuweilen etwas beſorgt mit den Augen: die Kleine konnte abſolut nichts vertragen.

Zwiſchen jedem Gang qualmten die Zigaretten. Über den Tiſch ſtrichen blaugraue Rauchſtreifen. Schon einmal war der Champagner erneuert worden. Elli bemerkte, daß Katjas Geſicht dunkelrot geworden war: es purperte unter der flammenden Mähne. Sie ſaß ihr zur Rechten. „Trink doch nicht ſo viel,“ flüſterte ſie ihr zu. Katja ſchaute ſie groß an, brach dann in ſchallendes Lachen aus und griff wieder zum Glaſe. „Evoe, Säugling!“ rief ſie ihr zu; „ſei nicht ſo lang⸗ weilig! Das Leben iſt kurz! Aus, Elli!“ Und ſie goß den Sekt in die Kehle.

Es war ein reges Geplapper, ein ewiges Schwatzen und Lachen. Elli hatte vorhin die Migräne nur vor⸗ ſchützen wollen: jetzt ſpürte ſie wirklich ein leiſes Klopfen in der linken Schläfe. Der Qualm beläſtigte ſie; es wurde auch heiß in dem kleinen Zimmer. Die raſende Redeflucht der andern war ihr kaum noch verſtändlich. Salome erzählte Montmartregeſchichten, die ſich gerade noch auf der äußerſten Grenze zwiſchen Schicklichkeit und Frivolität bewegten; dabei brannten ihre Augen und der ſchmächtige Körper ſchütterte unter dem Einfluß ihres Lachens und Wortgeſprudels. Dazwiſchen klang die laute Altſtimme Weras, die in wohlgerundeten Sätzen die letzte große Kunſtausſtellung beſpöttelte. Kyrulew hatte den Kopf zu Chriſtel hinabgeneigt und ſprach leiſe zu ihr. Auch Chriſtels Bäckchen waren heiß geworden.

Wenn die Türe ging, fluteten die Rauchſtreifen über dem Tiſche durcheinander. Einmal erſchien der erſte Gerant des Hauſes. „Sind Durchlaucht zufrieden?“ fragte er auf franzöſiſch. „Sehr, lieber Monſieur Medon,“ gab Katja zurück, „aber bitte, laſſen Sie Obſt und Käſe verſchwinden dann Kaffee und Liköre!“

Kyrulew bat um eine Zigarre. Zu Ellis Entſetzen zündete ſich auch Salome eine lange und ſchwere Ha⸗ vanna an. „Das kann ich nicht,“ erklärte Katja, „aber eigentlich iſt es richtig: man muß alle Genüſſe pro⸗ bieren.“ Und ſie nahm gleichfalls eine Garcia, rauchte ein paar Züge und legte ſie dann wieder fort: „Fi

done man muß doch nicht von allem haben ...“ Und dann knöpfte ſie ſich ungeniert die Taille auf, markierte einen Ausſchnitt und ſagte: „Es iſt verdammt heiß.“

Mit dem Kaffee erſchienen zahlreiche Liköre. Man trank Kümmel, Chartreuſe und Kognak. Dann wünſchte Katja plötzlich noch einen ganz herben Sekt. „Duſchinka, wir können ja nicht mehr!“ rief Elli. Aber Salome ſchlug in die Hände. „Famoſe Idee, Katja! Einen herben Sekt! Das erfriſcht uns wieder!“

„Befehlen Durchlaucht Mumm Cordon rouge?“ fragte der Kellner.

„Was Sie wollen, mein Herr,“ ſchrie Katja; „nur herb muß er ſein! Herb wie das Herz dieſes Jung⸗ fräuleins!“ Und ſie tippte Elli auf den Buſen.

Kyrulew zeigte ſeine Kraft. Die Lewſchin ſetzte ſich auf einen Stuhl, und er hob ſie mit einer Hand mitſamt dem Stuhl in die Höhe. Dann raffte Salome ihre Röcke und ſprang über den Stuhl. Katja ſprang nach. „Wera, wollen wir einmal preisringen?“ rief ſie; „wetten, daß ich Sie werfe, obwohl Sie anderthalb Köpfe größer ſind?“

Zum Glück kam der Mumm, und die Wette unter- blieb. Der Kellner wollte die Gläſer füllen. Aber Katja rief: „Raus, Mann der Pflicht! Das machen wir ſelbſt!“ Der Sekt perlte und ſchäumte in den geſchliffenen Pokalen. Katja nahm ein Glas und kletterte auf den Tiſch. „Ruhe, meine Herrſchaften!“ ſchrie ſie, „ich will eine Rede ſchwingen! Geliebtes Volk! Meine Herren und Damen! Ich proponiere: erſtens allſeitige Brüder⸗ ſchaft. Zweitens: jeden Dienstag ein Sympoſion!“ Bei „zweitens“ ſchwankte fie; bei dem Worte „Sym⸗ poſion“ wurde ſie totenbleich. Kyrulew hob ſie vom Tiſch und legte ſie auf den Diwan. Aber ſie ſprang jach in die Höhe, griff in den Sektkühler und fuhr ſich mit Waſſer und Eisſtückchen über das Geſicht. Sie triefte. „Puh,“ rief ſie, „jetzt iſt mir wieder wohlauf!“

„Gehen wir,“ flüſterte Elli Kyrulew zu, „es artet aus.“

Kyrulew verneigte ſich und rief Salome ein paar ruſſiſche Worte zu. „Nicht gehen!“ ſchrie Katja, „Kinder, verlaßt mich nicht!“ Stürmiſch umarmte ſie einen nach dem andern. N ich enterbe dich, wenn du gehſt!“ „Durchlaucht, es iſt hohe Zeit. Schi, zieh dich an.“

XXVI. 14. 3

Er hatte auch die letzten Worte deutſch geſprochen. Einige ruſſiſche Sätze folgten. Er ſchien mit einer leichten Verlegenheit zu kämpfen. Man umringte Katja; Salome hing wieder an ihrem Halſe I. 55 ste fie. „Ihr ſeid treuloſes Pack!“ rief Katja; „El Chriſtel, wollt ihr denn auch ſchon fort?!“

„Katja, ich vergehe vor Kopfſchmerz; ich muß an die Luft. Hab' ſchönen Dank.“

Chriſtel wurde von Salome auf beide Wangen ge⸗ küßt. Elli ſah ſteif auf, da wagte die Lewſchin die Vertraulichkeit nicht. Aber ihre heißen Fingerchen hielten die Hand Ellis feſt umſpannt. „Beſuchen Sie uns doch auch einmal,“ bat ſie mit girrender Stimme, „wir wohnen alle nebeneinander. Es iſt ſehr gemüt⸗ lich ...“ Elli neigte zuſtimmend den Kopf, aber mit dem feſten Vorſatz, der Aufforderung unter keinen Um- ſtänden zu folgen. Sie atmete auf, als ſie draußen war.

„Kannſt du noch laufen?“ fragte ſie Chriſtel.

Chriſtel ſchaute ſie verwundert an. „Warum denn nicht?“ fragte ſie zurück.

„Weil du beſchwippſt biſt, dumme Liefe,“ entgegnete Elli ſchroff. Sie winkte einer offenen Droſchke. teig ein! Auf dich iſt gerade ſo wenig Verlaß wie auf Katja.“

Chriſtel kletterte in den Wagen und ſuchte ihr Taſchentuch hervor. „Warum biſt du denn ſo ſchrecklich grob?“ ſagte ſie mit leiſem Aufſchluchzen.

„Weil ich mich ärgere. Schade, daß ich keinen Spiegel hier habe. Du ſiehſt aus wie eine Klatſchroſe. Man trinkt nicht ſo unverſtändig viel.“

Chriſtel hätte am liebſten laut geheult. Der Jammer kam ſehr plötzlich über ſie. „Ach Gott, Ellichen,“ klagte ſie, „ſei doch nicht ſo böſe! Ich bin ja gar nicht be⸗ Iatoippfi, Ich werde dir's zu Haufe vormachen: ich kann noch ganz grade gehen. Mußt du mir denn das kleine Vergnügen vergällen!?“

Aber nun brach Elli zornig los. „Ein hübſches Vergnügen! Das erſte und letzte Mal, Chriſtel, daß ich eine Einladung von Katja angenommen habe darauf kannſt du dich verlaſſen! Nun die Katja nicht mehr unter der Fuchtel ſteht und im Gelde wühlen kann, iſt fie ganz zügellos geworden. Das habe ich immer ge- fürchtet. Sie war betrunken. Pfui Geier ein junges Mädchen betrunken!“

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„Ach Gott, Ellichen —“

„Laß mich ausreden! Ich glaube, ſie hat fünf Schnäpſe getrunken und dieſe Unmaſſe Champagner! Wenn du dir einbildeſt, daß das fein iſt, ſo irrſt du dich. Das war eine Orgie, aber kein Frühſtück. Ich danke auch für ihre ruſſiſchen Bekanntſchaften —“

„Aber, geliebtes Ellichen —“

„Laß mich ausreden! Ich habe ein bißchen mehr Menſchenkenntnis als du. Die Leute gefallen mir nicht. Ich bin nicht prüde, das weißt du; ich ziehe eine ver⸗ gnügte Geſellſchaft immer einer langweiligen vor, und auch ein Schuß Bohsmefidelität ſtört mich nicht. Im Gegenteil. Aber bei dieſen Herrſchaften hat mich mancherlei geſtört. Das werde ich der Katja auch offen⸗ herzig ſagen ...“

Sie ſprach noch lange weiter, während die Droſchke die Linden hinabfuhr und dann in die Königgrätzer Straße einbog. Sie war ſehr verärgert. Ganz beſonders greulich hatte ſie die pikante kleine Lewſchin gefunden. Sie konnte ſich freilich ſelbſt keine Rechenſchaft darüber

eben, was ſie an ihr abſtieß: der leiſe Hauch von Laſter⸗

aftigkeit, der von ihr ausging, mochte ſie widerwärtig berühren. Auch auf Katja war ſie wütend. Sie hatte ſie ſehr lieb, aber ſie war empört über ihr wüſtes Trinken; ſie konnte auch das Gefühl nicht los werden, daß die ſchwache Katja allmählich völlig ihren Halt verlieren würde.

Chriſtel antwortete nicht mehr. Sie war dickköpfig geworden. Sie hatte den Schleier vor das Geſicht ge⸗ zogen und ſaß ſtumm neben Elli. Sie hatte ſich aus⸗

ezeichnet amüſiert und fand namentlich den Doktor

hrulew ſehr nett. Er war höflich und liebenswürdig zu ihr geweſen und hatte ſie gut unterhalten. Sie begriff nicht, warum Elli ſich ſo ereiferte. Gewiß hatten die ruſſiſchen Mädchen ſich ein wenig keck gegeben; aber das lag doch nun einmal in ihrer Raſſe. Man mußte ihre Nationalität berückſichtigen und auch ihre freiere Weltanſchauung.

Die Droſchke hielt vor einem Hauſe in der Groß⸗ beerenſtraße, unweit der Königgrätzer Straße. Hier hatte Elli nach langem Suchen eine Wohnung gefunden, die ihr zuſagte: freilich nur eine ſogenannte Garten⸗ wohnung, nach hinten heraus, aber ſie hatte dafür den

u 36.

Vorzug, verhältnismäßig billig zu fein und war auch ruhig gelegen. Sie enthielt vier Zimmer, Küche und das nötige Nebengelaß. Das kleinſte Zimmer war der Gulla überlaſſen worden; ein größeres hatte ſich Elli als Schlaf⸗ und Arbeitsgemach eingerichtet; daneben lag Chriſtels Schlafzimmer, das vierte diente gleich⸗ zeitig als Salon und Eßzimmer. Die ganze Wohnung koſtete jährlich tauſend Mark Miete; die Hälfte trug Chriſtel; dafür hatte Elli wieder die Einrichtung ge⸗ liefert. Sie hatte die geſamten Möbel ihres Vaters vom Speicher holen laſſen und war in Tränen aus⸗ gebrochen, als ſie ſich nach langen Jahren wieder einmal von allen den Gegenſtänden umgeben ſah, zwiſchen denen ſie ihre Kindheit verlebt hatte. Auch die Ein⸗ richtung ihres Emmenthaler Kinderzimmers war dabei: das Bettchen, der Kleiderſchrank, die Kommode, das Spielſpind, alles weiß geſtrichen, mit blauen Leiſten und Verzierungen. Das Spielſpind noch vollgepackt mit allerhand Tand; da waren die erſten Bilderbücher, ein kleiner Kochherd, eine Puppenſtube und die Puppen ſelbſt: der 11 Oskar und die Quarrpuppe und die Schwarzwälderin und auch das chineſiſche Püppchen mit dem Bürſtenkopf; aber der Bürſtenkopf klaffte weit auseinander und zeigte ein hohles Gehirn.

Mancherlei mußte verkauft werden. Anfänglich beherrſchte Elli eine ſentimentale Wallung: am liebſten hätte ſie alles behalten. Doch ſie überlegte: was nützte ihr das alte Zeug, an dem nur noch die Erinnerung hing, das ſonſt aber abſolut unbrauchbar für ſie war? Und da machte ſie kurzen Prozeß; ſie traf gemeinſam mit der Gulla eine ſorgfältige Auswahl, möblierte ihre Wohnung behaglich aus und überließ den Reſt dem Trödler. Die paar hundert Mark, die ſie dafür erhielt, kamen ihr ſehr zu paſſe. Das Einleben in Berlin koſtete Geld. Sie hatte wunder geglaubt, wie weit ſie mit ihren Zinſen und dem Zuschuß Chriſtels kommen würde; aber ſchon nach dem erſten Monat ſah ſie ein, 0 155 mit Extraausgaben keineswegs um ſich werfen

onnte.

Es war ein Glück, daß ſie die Gulla gefunden hatte. Die brave Alte hatte ihr zu öfterem geſchrieben, zuletzt aus Franzensbad, wohin ſie ihre Herrſchaft begleitet hatte. Aber nun waren die Kinder, die ſie bisher be⸗

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muttert hatte, herangewachſen, und da wurde ſie ent⸗ laſſen. Das traf ſie immer ſo. Wenn die Kleinen mit ihrer Hilfe aus dem Argſten heraus waren und Er⸗ zieherinnen und Kinderfräuleins übergeben wurden, konnte ſie adieu ſagen. Sie ſchrieb an Elli, daß ſie nach Berlin wollte, ſich dort eine neue Stellung zu ſuchen: aber nicht mehr als Kinderfrau, ſondern am liebſten zur Pflege einer alten Dame.

In Berlin wohnte ſie bei einer Freundin, die an einen Sargfabrikanten verheiratet war, der in der Nähe des Zentralviehhofs ſein Ladengeſchäft hatte. Da ſuchte Elli ſie auf, ohne ſie vorher benachrichtigt zu haben auf die Gefahr hin, ſie nicht anzutreffen. Sie wollte ſie überraſchen. Und ſo kam es auch. Die Gulla war mit ihrer Freundin im Laden und half ihr, die Beſchläge der Särge putzen, als Elli eintrat. Herrgott, war das ein Wiederſehen! Als die Gulla Elli beim Eintritt 18 Tag ſagen hörte, ſchrak ſie ein wenig zuſammen.

ar das nicht eine bekannte Stimme, irgend eines von den vielen ſüßen Engelsſtimmchen, die ſie durch Jahre und Jahre umzwitſchert hatten? Sie ſchaute ſich um, und da ſtand Elli im Licht der Glastüre und nickte ihr lachend zu. Und nun ſchrie die Gulla auf und warf die Hände in die Luft und ſtürzte mit ihren ſchwer gewordenen alten Füßen Elli entgegen und rief: „Duſchinka! Is ſich Duſchinka meiniges! Is ſich mein Werachen, mein Ellichen, mein allerliebſtes Her⸗ zenspüppchen!“ Und dann begann ein großes Heulen, ihn, Salzſtrom, ein nicht enden wollendes

üſſen.

Elli ſaß auf einem ſtattlichen Männerſarg und ver⸗ handelte mit der Gulla. Ob die Gulla nicht ihr und ihrer Freundin die Wirtſchaft führen wolle? „Ellichen, is ſich olle dumme Gulla ja ſo glücklich, wieder zu Klein⸗ Duſchinka zu kommen zu können! Hat ſich genug von Pflege von Kinderchen, wo immer wird en e EN wenn Kinderchen ſie nicht mehr brauchen tun. ill ſich Gulla ſchon lange verändern. Wirtſchafterin hei, da fein Gulla eine feine Madam und wird ſchon. dafür ſorgen, daß es bei Klein⸗Duſchinka jo glau und noblig ausſehn tut als wie im Kaiſer ſeinem Schloſſe ...“ Aber ein gar ſo großes Gehalt könne man der Gulla nicht geben, fuhr Elli etwas verlegen fort, und da lachte

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die Alte. „Is ſich Gulla nich ſo arm, daß ſie 1155 Be⸗ lohnigung bräuchen tut. Hat ſich genug zuſammen⸗ gekratzt, und wenn ſie bei Klein⸗Ellichen leben tun kann, bräucht ſie gar nix Gehalt gar nix!“

Umſonſt ſei nicht einmal der Tod, entgegnete Elli und wies auf die Beſitzerin des Ladens, mit der ſoeben ein junger Arbeiter ſchacherte, der einen billigen Kinder⸗ ſarg kaufen wollte. Immerhin wurde Elli mit der Gulla raſcher handelseinig als der Arbeiter mit der Sarg⸗ verkäuferin, und ſchon acht Tage ſpäter konnte die Gulla in ihr neues Amt eingeführt werden.

Nun begann für Elli und Chriſtel ein ſehr behag⸗ liches Junggeſellenleben. Das war in der eigenen Wohnung doch hundertmal gemütlicher als in einer Fremdenpenſion! Das Speiſezimmer hatte eine Vale ſtücksecke“, in der das große Bild der Königin Luiſe hing; da tranken die beiden Mädchen des Morgens ihren Tee. Elli war eine Frühaufſteherin, Chriſtel ſchnupperte gern bis in den hellen Tag hinein. Aber das litt die Gulla nicht. Wenn es in Chriſtels Schlaf⸗ zimmer nicht lebendig werden wollte, donnerte Elli gegen die eine Tür und die Gulla gegen die andre. Und dann hörte man gewöhnlich zuerſt ein lautes Gähnen und dann eine müde Stimme: „Was iſt denn los? Schon achte? Ach du lieber Gott, iſt das ein verfehltes Leben!“ ... Aber zweimal in der Woche konnte Chriſtel ſich ausſchlafen; da begann das Kolleg erſt um elf Uhr. Elli war quirliger; an dieſen Tagen trank ſie ihren Tee allein und hielt dabei wichtige Dispute mit der Gulla über allerhand wirtſchaftliche Fragen. Des 1 man immer daheim. Die Gulla war eine gute Köchin. An manche ihrer Gerichte mußte man ſich freilich erſt gewöhnen: an die heimiſchen, die littauiſchen und ruſſiſchen. Zuweilen verſuchten ſich auch die Mädchen in der Kochkunſt; Chriſtel brillierte in den „Emmenthaler Plinſen“ und in einer Art Er A⸗feu, gleichfalls einer Spezialität des rheinischen Neſtes. Elli war ungewandter am Herd, und das ärgerte ſie. Die Gulla ſollte ihre Lehrerin ſein; aber über einen leidlich geratenen Eierkuchen kam ſie doch nicht heraus.

Die beiden Mädchen hatten nun ihre Hörerinnen⸗ ſcheine erhalten, ihren Obolus in der Quäſtur der Uni⸗ verſität bezahlt und beſuchten fleißig die Kollegs. Mit

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Katja trafen ſie ein paar Tage nach dem wilden Früh⸗ ſtück im Briſtolhotel wieder zuſammen, und da gab es zwiſchen ihr und Elli eine kleine Ausſprache. Katjas Kollegs fielen in eine andre Zeit als die der Unzer⸗ trennlichen; ſie ſchwänzte auch vielfach, und es war nur ein Zufall, daß man ſich gelegentlich im Leſeſaal der Hochſchule begegnete. Da war Katja ein klein wenig verlegen. „Tag, Kinderchen,“ ſagte ſie, „wie iſt's euch denn neulich bekommen? Denkt nur, ich habe einen fürchterlichen Kater gehabt.“

„Kein Wunder,“ entgegnete Elli, „wenn man ſo unmäßig trinkt.“

Katja lachte. „Du haſt recht, Gänſeblümchen. Halte mir nur eine Moralpauke. Ich verdiene ſie redlich. Wenn ihr mich wieder einmal zum Frühſtück beſucht, begnüge ich mich mit Apollinaris.“

„Sorge dich nicht,“ ſagte Elli, „wir kommen nicht wieder. Wir haben genug. Wir verkehren nicht mit dem Abhub der Geſellſchaft, liebe Prinzeſſin.“

„Das klingt unfein, Schön⸗Ellchen. Was willſt du eigentlich? Kyrulew iſt Lehrer der ruſſiſchen Sprache an der Kriegsakademie, an der Ingenieurſchule und ich weiß nicht wo noch. Alſo eine Perſönlichkeit. Und Salo und Wera iſt ebenſowenig etwas nachzuſagen. 5 ſind ſie alle drei keine Philiſternaturen wie du.“

„Sehr gut!“ rief Chriſtel. „Ich ſtimme dir bei, Katja. Elli fängt an, Prolet zu werden. Auch tyranni⸗ ſches Weſen entwickelt ſich in ihr. Sie unterdrückt mich. Sie mordet mein Freiheitsempfinden. Ich rebelliere.“

Katja zog die beiden in einen Winkel des Saals. „Da vorn ſitzt ein Eſel, der uns bereits wütig anguckt,“ ſagte ſie, „weil wir ſo laut reden. Die männlichen Weſen auf dieſer Hochſchule ſind überhaupt Karikaturen.

ch habe mir das alles ganz anders gedacht. Na alſo fahren wir fort. li, ich will dir einmal etwas ſagen. Du fängſt wirklich an, zu verſimpeln. Du biſt auf dem beſten Wege, ein Trauermantel zu werden. Zugegeben, daß wir neulich ein bißchen über die Stränge gehauen haben. Hat's uns etwas geſchadet? Höchſtens mir, dieweil ich am andern Morgen Kopfſchmerzen hatte. Aber hat unſre Tugend gelitten? Ach, Ellimaus, denke doch an Karlsruhe zurück! Biſt du da nicht oft

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genug über Tiſche und Stühle geſprungen und haſt allerlei Verrücktheiten gemacht und warſt unſre Füh⸗ rerin beim Faſching, und bei den epulae unſre erlauchte Vorſitzende? Und nun tuſt du, als gehörteſt du einem Verein für ſtaubfreie Seelenreinigung an!?“

„Pfui, Philiſterweib!“ rief Chriſtel aufgeregt; „kuſch dich, Proletin!“

„Spiel dich nicht auf, Chriſtliebchen,“ ſagte Elli, „daheim wirſt du doch wieder geduckt. Deine Forſchheit pflegt ſchnell zu verrauchen. Katja, ich will ja nicht übertreiben. Der ganze Zuſchnitt neulich, der ſagte mir nicht zu. Vielleicht es iſt möglich vielleicht war ich auch nicht in der richtigen Stimmung.“

„Du warſt 1 rief Chriſtel.

„Schweig, Naſeweis! Katja, wir wollen uns nicht zanken. Ich geſtehe dir zu: mich ärgerte auch deine unſinnige Verſchwendung.“

„Ich ſchlage an meine Bruſt und will mich beſſern.“

„Ich glaub's nicht.“

„Elli, du biſt häßlich. Wenn du nicht wieder gut biſt, ſchwöre ich dir, daß ich die tollſten Dummheiten mache. Dann gehe ich heute abend in das Kabarett zur ſilbernen Punſchterrine und ſinge vor allem Publi⸗ kum das Lied: ‚Mutter hat die Gänſe abgeruppt‘. Das tu' ich.“

„Du kriegſt es fertig. Aber ich will nicht mehr böſe ſein. Dixi.“

„Ex est cantus. Sie ift wieder gut, Chriſtel. Kinder, frühſtückt bei mir! Eine einzige Flaſche Pomm, nichts weiter. Dazu ein Entrecöte. Nichts weiter.“

Das Dejeuner wurde abgelehnt, aber man drückte ſich herzhaft die Hände. Die Freundſchaft war wieder hergeſtellt. Freilich nicht ganz die alte. Etwas Ver⸗ füt, e blieb im Herzen Ellis zurück. Sie fürchtete

r Katja.

Die erſten Semeſterwochen vergingen raſch. An⸗ fänglich war es den Mädchen faſt ein wenig genant, bei den Vorleſungen mitten unter den jungen Herren ſitzen zu müſſen. Aber ſie gewöhnten ſich daran. Da der Herbſt ſchön war, ſo pflegten ſie zuweilen an den Nachmittagen einen Spaziergang am Kanalufer zu unternehmen. War Elli guter Laune, ſo ging es auch noch in eine Konditorei, wo man die Journale durch⸗

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blätterte und Chriſtel ſich hin und wieder den Magen verdarb (ſie war ein großes Süßmäulchen). Einmal ſahen ſie vier Reiter das Ufer entlang reiten, und da die Reiter rote Fräcke trugen und kleine Samtkäppis und weiße Hoſen und glänzende Knieſtiefel, ſo blieb mancher ſtehen und ſchaute ihnen nach. Das wollte auch Chriſtel tun, aber Elli zog ſie weiter. „Maus, wir ſind nicht in Emmenthal,“ ſagte ſie. Da hörte ſie ihren Namen rufen. „Ellimatz!“ rief einer der Reiter und ſetzte hinzu: „J, da iſt ja auch Fräulein Chriſtel Chriſtel iſt einfach ſüß!“ und ein ſchöner brauner Wallach wurde nach dem Trottoir ange kurbettierte ein bißchen und klingelte mit der Kinnkette und machte elegante Mätzchen, während der Reiter ſeine Kappe zog.

errjeh! nun ſah man es: das war ja Hans⸗ Jaſper! „Herrſchaften, ich bin's,“ ſagte er, „erſchreckt nicht vor der roten Affenjacke ich komme von der Jagd aus dem Grunewald. Kinderkens, wie geht's denn? Geſtattet gehorſamſt“ er ſtellte vor „Gra Conring, Graf Wesdehlen, Prinz Löwenſtein ...“ Ein Rappe, ein Brauner, ein Goldfuchs warfen die Köpfe auf und nieder, drei Samtkappen wurden gelüftet. „Biſt du denn ſchon inſtalliert, Elli?“ fragte Hans⸗Jaſper.

„Verſteht ſich. Beſuch uns mal, Hanni. Groß⸗ beeren vierundzwanzig.“

„Anmutige Gegend. Aber ich merke mir die Adreſſe. Habt ihr auch eure ruſſiſche Gräfin ſchon am Wickel?“

„Alles in Ordnung, Hanni; du haſt nichts zu fürchten.“

Nun erzählte Hans⸗Jaſper ſeinen Kameraden von der erſtaunlichen Tatſache, daß dieſe beiden Jungfrauen Studentinnen ſeien.

„Alle Wetter,“ ſagte der eine Graf. „Höchſten Reſpekt,“ ſagte der andre Graf. „Man merkt Ihnen die Gelehrſamkeit gar nicht an,“ ſagte der Prinz, ſich er an Chriſtel wendend. Der Prinz hatte ſchöne

ugen.

Aber die Pferde waren unruhig und ſehnten ſich nach der Krippe. An eine längere Unterhaltung war nicht zu denken. „Großbeeren vierundzwanzig,“ rief Hans⸗Jaſper und gab ſeinem Gaul einen Klaps über die Ohren; „vergeſſ ich nicht. Ich ſchwimme demnächſt

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an. Wir dinieren mal bei Adlon. Donnerwetter, da pluſtre ich mich auf da tu' ich mich dicke!“

„Beneidenswerter,“ ſagte der Prinz.

Nun ſtockte bereits der Verkehr. Die vier Rotröcke bildeten ein Hindernis für die Straße. Ein blauer Schutzmann nahte mit Rieſenſchritten. „Adjö, Kinnings!“ rief Hans⸗Jaſper. Vier Samtkappen ſtrichen durch die Luft; dann ritten die Herren weiter.

„Wundervoll,“ ſagte Chriſtel.

„Was?“ fragte Elli.

„Dies Vierblatt. Wie die Leute reiten! Wie die Leute ſitzen! Harry Kurtzig in Einmenihal reitet auch, aber ſo das kann bloß der Adel!“

„Wachſen die Zacken ſchon wieder?“

Chriſtel überhörte den Scherz. „Wie hieß der Prinz ludiſch. fragte ſie. „Löwenſtein? Das klingt ja ſo jüdiſch.“

Ein i. aber bloß ſo.“

Ein wahrhafter Märchenprinz,“ ſchwärmte Chriſtel.

Mi ch hat er angeredet, dich nicht.“

„O du liebes dummes fleines Chriſtelchen,“ rief Elli, „wirſt du denn niemals verſtändig werden!? Iſt zwiſchen dem da und andern Männern ein fo ge-, e Unterſchied?“

Ein großer,“ ſagte Chriſtel. „Ein Prinz iſt ein Prinz.“

Nun ging man in die nächſte Konditorei, beſtellte Schokolade und holte die Journale herbei. Plötzlich wurde Chriſtel feuerrot. Sie hatte in einem illuſtrierten Sportblatt ein Bild ihres Prinzen entdeckt, der auch ein tüchtiger Herrenreiter war. Da beging ſie ein Vergehen gegen das Strafgeſetz. Sie riß die Seite mit dem Bilde aus dem Blatte und ſteckte ſie zu ſich. Sie machte dies ſo gewiegt und heimlich und ganz raffiniert, daß auch Elli nichts davon merkte. Daheim aber ſchnitt ſie das Bild ſäuberlich mit der Schere heraus und betrachtete es lange und kam zu der Anſicht, daß es göttlich ſein müſſe, eine Prinzeſſin zu ſein. Hierauf wurde der Prinz dem Geheimfach einverleibt, einer verſchließbaren SE e in der ſchon allerlei Erinnernswertes lag: ein Mützenband aus der Penſion, eine von dem ſchönſten Lehrer in Karlsruhe korrigierte Heftſeite, ein Blatt von einer Blutbuche

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und ein kleiner Kieſelſtein von einem Parkwege in Falkenhagen. Mit dieſem Kieſelſtein hatte Hans⸗Jaſper nach einer Katze werfen wollen, und ſie hatte ihn ihm e und als ewiges Angedenken zu ſich geſteckt.

11. Die Tiebe iſt nur eine Epiſode

Der Herbſt nahm nun langſam Abſchied. Elvira merkte es an dem Ausgabebuche der Gulla, in dem die Ziffern für Holz und Preßkohlen zu ſteigen begannen. „Is ſich Leben teuer,“ ſagte die Gulla, „aber warm muß ſich Menſch haben ...“ Sie führte das Wirt⸗ ſchaftsbuch nicht nach allen Regeln der doppelten Buch» führung, ſondern auf ihre eigene Art, mit Abkürzungen und Krakelfüßen, die außer ihr kein Menſch verſtand und die auch Elli bei den monatlichen Abrechnungen ſich immer erſt erklären laſſen mußte. So hatte zum Exempel das Wort „Kohledt“ nichts andres als Ko⸗ telette zu bedeuten, und das rätſelhafte „Heia“, das wie ein fröhlicher Jauchzer klang, war nur eine Um⸗ ſchreibung für „Eier“. Die Gulla hatte eine äußerſt zweckmäßige Vereinfachung für die Schriftſprache er⸗ funden: ſie ſchrieb genau ſo wie ſie ſprach; da aber ihr Deutſch auf litauiſcher Baſis ſtand, ſo war das, was ſie zu Papier brachte, dem ſimplen Menſchenverſtande nicht immer ohne weiteres begreiflich.

Die Ziffern im Ausgabebuch dagegen waren klar und faßlich und die Addition ſtimmte immer. Und gerade das erfüllte Elli zuweilen mit heimlichem Grauen. Es war merkwürdig, was dies irdiſche Leben koſtete. Schon nach dem erſten Monatsabſchluß hatte Elli daran gedacht, ſich „einzuſchränken“. Die Einſchränkung begann damit, daß man Hans⸗Jaſper, der eines Spätnach⸗ mittags in voller Beſuchstoilette erſchien, zum Souper dabehielt. Zunächſt wurde er der Gräfin Gulla in aller Form vorgeſtellt. Natürlich ſtutzte er, und als er ihr die Hand küſſen wollte, ſtutzte er noch mehr. Dann ſchaute er ihr verwundert nach und pfiff durch die Zähne und rief: „Kinder, wenn ihr mich anulken wollt, müßt ihr früher aufſtehen! Wer iſt dieſe alte Scharteke?“ Nun erzählte Elli, und Hans⸗Jaſper amüſierte ſich

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königlich, riet aber doch für den Fall, daß einmal Falkenhagener Beſuch in das Jungfrauenheim ein⸗ brechen ſollte, die Gräfin Gulla zu beurlauben. „Von hinten betrachtet,“ ſagte er, „könnte man allenfalls noch an ihre neunperlige Krone glauben, aber vorn verliert ſie den Adel, und die Hände verirren ſich ſchon in das Proletariat. Bei Hofe würde ſie Aufſehen erregen.“

Die Gulla war inzwiſchen fortgeſchickt worden, allerhand Feines einzuholen: Hummermayonnaife, italieniſchen Salat, Krabben und kalten Aufſchnitt, dazu ein paar Flaſchen Rotwein. Dabei wurde der Tiſch gedeckt, wobei Hans⸗Jaſper eigenhändig half, wenn auch ohne das Geſchick eines geübten Tafeldeckers, und en nahm man in heiterſter Laune Platz. Hans⸗

aſper hatte guten Appetit, nur den Rotwein betrach⸗ tete er von Anbeginn mit unverhohlenem Mißtrauen. Das Etikett auf den Flaſchen lautete nämlich „Beſter Margeaux“, und Hans⸗Jaſper erklärte, dieſe Marke Fo er noch niemals erſchaut. Er füllte die Gläſer, reute ſich über die klare Blutfarbe des Weins, koſtete und ſchnitt ein fürchterliches Geſicht. „Vorſicht, teure Kinder,“ rief er, „hier waltet ein Irrtum ob. Das iſt Scheidewaſſer mit einem Schuß Wanzentinktur.“ Aber als er das beleidigte Antlitz Ellis ſah, lenkte er gutmütig ein. „Ellichen, nicht jeder kann alles wiſſen. Vom Weine verſtehſt du nichts. Wo iſt dieſe Marke her?“ Die Gulla ſollte es ſagen; ſie hatte den Wein vom Kaufmann nebenan geholt; von Herrn Richard Auguſt Kraker. Er koſtete neunzig en e Flaſche. „Gut,“ ſagte Hans⸗Jaſper, „ich will Herrn Kraker nicht ſchädigen. Hebt den Wein auf, doch nur für Verbandzwecke. Er beſitzt zuſammenziehende Wirkung. Ich werde euch Erſatz aus dem Kaſino ſchicken. Für heute bitte ich unſre gnädigſte Gräfin Gulla, geborene Gräfin Weretſchagin, uns ein paar Flaſchen Bier zu beſorgen: ſei es Pilſener ſei es ein Münchener Bräu oder meinetwegen auch Schultheiß ...“ Dies geſchah, und Hans⸗Jaſper lobte das Bier und war auch ſonſt guter Dinge. Aber Chriſtel erklärte ſpäterhin Elli, die Blamage ſei groß geweſen. „Einem Offizier von der Gardedukorps ſetzt man Champagner vor, doch keinen Margeaux für neunzig Pfennig, meine liebe Elli . . .“ Hierauf wurde Elli grob.

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Kurze Zeit nachher geriet Elli in einen noch tragi⸗ ſcheren Konflikt. Sie traf gelegentlich Katja Schewa⸗ ſchidſe, die in einer Droſchke an ihr vorüberfuhr, halten ließ und Elli bat, mit ihr zur Schneiderin zu kommen: ſie hätte ſich ein neues Promenadenkoſtüm fertigen laſſen, das möchte Elli beurteilen. Auch für ein weibliches Weſen, das nicht durchaus vom Wahn der Eitelkeit beherrſcht wird, beſitzt ein Schneideratelier immer eine ſtarke Anziehungskraft. Elli konnte es ſich nicht verſagen, der Aufforderung Folge zu leiſten, und fuhr mit zu Hausmann. Ein ſolches Schneideratelier hatte ſie bisher noch nicht geſehen. Auch einen ſolchen Schneider noch nicht, wie Herr Hausmann es war: der weder einen Zwickelbart trug noch meckerte, ſondern ein Herr von höchſter Eleganz war, umgeben von mehreren Damen, die man ohne weiteres in den Salon eines Botſchafters hätte ſetzen können. Für Katja ſchien Herr Hausmann übrigens ein neutrales Weſen oder eine Art Zwiſchenſtufe zu ſein; ſie genierte ſich keinen Augen⸗ blick vor ihm, ſtreifte ihr Kleid ab, ließ ſich das neue anziehen, ſtellte ſich im Korſett vor den Spiegel und fuchtelte Herrn Hausmann mit den bloßen Armen unter der Naſe herum. Und auf einmal ſagte ſie: „Elli, du mußt dir auch ſo ein Koſtüm machen laſſen, genau dasſelbe. Es wird dir reizend ſtehen. Dann hält man uns für Schweſtern. Hausmann, nehmen Sie der Baroneß Maß. .. Elli proteſtierte, doch Herr Hausmann nahte bereits mit dem Meßinſtrument und ſagte ſchmeichleriſche Worte. Elli proteſtierte immer noch, aber ſchon Face Schließlich ſiegte Satanas völlig. Verwirrt kehrte Elli nach Hauſe zurück und ſchlief nachts über ſchlecht: das Promenadenkoſtüm erregte ihre Nerven. Sie verheimlichte es Chriſtel. Aber zu den Anproben ging ſie doch und erfand dafür mannig⸗ fache Ausreden. Einmal ſagte ſie, ſie ſei auf die Polizei beſtellt worden (was Chriſtel ängſtigte) und einmal, fie müßte zu ihrem Bankier (was Chriſtel ſehr vornehm fand) und beim drittenmal, ſie hätte ein Rendezvous (was Chriſtel nicht glaubte).

Nach vierzehn Tagen fand ſie einen umfangreichen Karton bei ſich vor, als ſie von der Univerſität heimkam. „Ach, das iſt mein neues Kleid!“ rief ſie. Chriſtel war verwundert. „Du beſtellſt dir hinter meinem Rücken

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neue Kleider?“ hat fie vorwurfsvoll. Elli errötete. „Ein Scherz von Katja, Chriſtelchen. Ich war neulich mit ihr bei Hausmann, und da hat ſie mich p lange gedrangſalt, bis ich mir auch ein Koſtüm machen ließ...“ Nun wurde der Karton geöffnet und das Kleid ange- zogen. Es ſaß köſtlich. „Du ſiehſt wie eine Gräfin aus,“ rief Chriſtel; „nein, wie eine Prinzeſſin! Viel ſchöner als Katja!“ .... Sie zupfte, rupfte, ſtrich und glättete an dem Koſtüm. „Ich lafſe mir auch ſo eins machen,“ ſagte ſie; „iſt es ſehr teuer?“ Unten auf dem Boden des Kartons, wie eine Schlange unter Blumen, lag ein Papier. Das war die Rechnung. Sie war wenig umfangreich. Da ſtand nur: „Ein Koſtüm .. . Mark 560.“ 8

Chriſtel ſchrie gellend auf, und Elli wurde blaß. Sie fiel beinahe in Ohnmacht. Dann ſchimpfte ſie fürchterlich auf Katja. Dann ſchwor ſie, dies wahn⸗ witzige Kleid niemals tragen zu wollen. Dann ſchalt ſie ſich eine e

Chriſtel tröſtete ſie. Chriſtel war immer leicht⸗ ſinnig. Die Rechnung war ja nicht quittiert, die Be⸗ zahlung hatte Zeit. „Das kenn' ich,“ rief Elli; „Neujahr muß berappt werden wo ſoll ich den Mammon hernehmen?! Man wird uns auspfänden, ich komme in den Schuldturm ...“ Die modernen Rechtsbegriffe lagen Elli nicht ſonderlich. Sie machte ſich bittere Sorgen. Chriſtel riet ihr unbekümmert, Hans⸗Jaſper oder Katja anzupumpen. Aber Elli erklärte, da würde ſie ſich zu Tode ſchämen. Lieber wollte ſie „durch ihrer Hände Arbeit“ dieſe Schmach wieder wett machen. Das klang tapfer. Doch als ſie überlegte, was ſie wohl „durch ihrer Hände Arbeit“ verdienen könnte, geriet ſie neuer⸗ dings in Verlegenheit. Sie konnte weder nähen, noch ſticken, noch ftriden. „Ich bin ein unwiſſendes Geſchöpf,“ rief ſie klagend, „ich kann rein gar nichts!“

Nun wurde Chriſtel gerührt. Sie hätte Elli gar zu gern geholfen. Sie ſchlug verſchiedene abenteuerliche Maßnahmen vor, um das Budget zu vergrößern. Man ſollte vegetariſch leben und ſich der Fleiſchkoſt entwöhnen. Man könnte auch Privatunterricht erteilen oder Anleitung für das Tennisſpiel. „Oder was meinſt du, wenn wir in den Zeitungen ein Inſerat erließen: „Zwei junge Damen der beſten Geſellſchaft unterrichten

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gegen ein Stundenhonorar von zwanzig Mark in der nſtandslehre und im feinen Benehmen“?“

„Blödſinn,“ ſagte Elli unwirſch; „da weiß ich etwas Beſſeres. Wir werden Überſetzungen liefern. Es wird ſo viel geleſen, daß man gar nicht genug Bücher be⸗ ſchaffen kann. Ich überſetze einen engliſchen Roman, du einen franzöſiſchen. Das wird gut bezahlt ...“ Chriſtel fand die Idee großartig und freute ſich ſchon, was wohl ihr Vater ſagen würde, wenn auf dem Buch⸗ titel zu leſen ſtände: „Aus dem Franzöſiſchen überſetzt von Chriſtine Bungarz.“

Auf dem Wege nach der Univerſität gingen ſie in eine Buchhandlung und forderten die neueſten Romane Englands und Frankreichs. Man legte ihnen einige Bände vor; ſie wählten aus, was ihnen nach den Titeln am beſten gefiel, und da der Verkäufer nett ausſah, wagte Elli zu fragen: „Ob die Romane ſchon ins Deutſche überſetzt ſind? Wir würden ſie gern überſetzen.“

„Will mich erkundigen,“ erwiderte der Verkäufer; „iſt es nicht der Fall, ſo müßten Sie das Recht der Überſetzung erwerben.“

Elli zog ein langes Geſicht. „Koſtet das denn was?“ fragte ſie zögernd.

Nun lächelte der junge Mann des Ladens. „Ja natürlich. Vielleicht fünfhundert oder achthundert Mark der Roman.“

Chriſtel ließ ihren ſchon eingepackten Band vor Schrecken auf die Erde fallen. „Das iſt eine grenzen⸗ loſe Gemeinheit,“ ſagte ſie draußen zu Elli, „jetzt ſollen wir für die Mühe der Überſetzung noch bezahlen, ſtatt daß wir Geld dafür kriegen!“

„Es iſt ein kümmerliches Daſein,“ entgegnete Elli; „hätte ich das gewußt, würde ich die beiden Schmöker gar nicht gekauft haben. Sie koſten neun Mark fünfzig. Chriſtelchen, was fangen wir bloß an in unſrer Be⸗ drängnis!?“

Der Zufall kam ihnen zu Hilfe. Am Schwarzen Brett der Univerſität entdeckte Elli folgenden Anſchlag: „Geſucht gegen gutes Honorar junger Philologe für eine leichte bibliographiſche Arbeit. Martin Arwed, Antiquar, Behrenſtraße 109.“

Elli knuffte Chriſtel in die Seite, als ſie dies las.

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„Da geh' ich hin,“ flüſterte ſie ihr zu; „ich ſchwänze das Mittagskolleg, damit mir niemand zuvorkommt.“

Das tat ſie denn auch. Während Chriſtel bei Kranzler wartete, ſtürmte ſie eilfertig nach der Behren⸗ ſtraße 109 und ſah ſich nach dem Antiquariatsladen um. Sie erinnerte ſich des Büchermagazins von M. A. Bun⸗ garz in Emmenthal und erwartete etwas Ahnliches. Aber hier war gar kein Laden. Schließlich entdeckte ſie ein blankes Meſſingſchild mit der Aufſchrift „Martin Arwed. II.“ Aha der Antiquar wohnte im zweiten Stockwerk! Es war ein ſehr elegantes Haus mit Teppichen auf den Treppen und hohen Flügeltüren auf den Podeſten. Ein junger Herr öffnete Elli, ließ ſie in einen großen Saal treten und fragte nach ihrem Begehr. Und nun wurde Elli ſehr rot und begann zu ſtammeln. Aber der junge Herr verſtand. „Es ſind fend mehr hier geweſen,“ ſagte er lächelnd, „aber Sie ind die erſte Dame. Auf Damen iſt immer mehr Verlaß,“ fügte er galant hinzu. „Haben Sie die Güte, Platz zu nehmen Herr Arwed muß jeden Augenblick zurückkommen.“

Er ſchob ihr einen der Klubſeſſel zu, die um den Mitteltiſch ſtanden und legte eine Anzahl Illuſtrations⸗ werke und Zeitſchriften vor ſie hin.

Elli wunderte ſich über die Vornehmheit dieſes großſtädtiſchen Antiquariats. Das ſah hier anders aus als bei M. A. Bungarz in Emmenthal am Rhein! Das weitläufige Gemach war hoch gewölbt, und von oben herab hingen elektriſche Kronen. An allen Wänden ſtanden verſchließbare Regale aus grün gebeiztem Eichenholz mit großen und kleinen Folianten; davor Schaukäſten mit gläſernen Deckeln, unter denen auf⸗ geſchlagene illuminierte Manuſkripte lagen. Auch der lange Mitteltiſch war mit Handſchriften, ſeltenen Drucken und Fakſimilen bedeckt. Hinter einem kleinen Einbau aus ſpaniſchen Wänden arbeiteten ungemein eifrig zwei junge Männer und eine Buchhalterin. Es war ſo ſtill, daß man das Kritzeln der Federn hörte.

Elli wartete geduldig. Ein paarmal klingelte es. Zwei Studenten erſchienen, um nach der bibliographi⸗ ſchen Arbeit zu fragen. Der Prokuriſt warf einen lächelnden Seitenblick auf Elli und notierte nur ihre Adreſſen. Dann trat ein groß gewachſener junger

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Herr in grauem Havelock ein, der feinen Hut auf einen Stuhl warf und ſich ſofort mit kurzer Verneigung an Elli wandte: „Womit kann ich dienen?“ fragte er.

Elli hatte ſich erhoben. „Ich möchte Herrn Arwed ſprechen,“ entgegnete ſie.

„Bin ich ſelbſt, mein Fräulein.“

Das hätte ſie ſich denken können. Aber mit dem Begriff eines Antiquars verband ſich bei ihr unwill⸗ kürlich ein dürrer huſtender Mann mit ſpitzer Naſe und ſchmutzigen Spinnenfingern. Das hier war indeſſen ein junger Herr mit hübſchem friſchen und fröhlichen Geſicht, den man ohne weiteres für einen Offizier in Zivil hätte halten können.

In ihrer leichten Verwirrung fand Elli nicht ſofort die paſſenden Worte. Der Prokuriſt ſprach für ſie. ers Fräulein kommt wegen der Liederſammlung,“ agte er.

Herr Arwed ſchien etwas erſtaunt. „Ich ſuchte einen Studenten, gnädiges Fräulein ...“ Nun glitt auch ſein Blick intereſſierter über das Mädchen.

Ell. 0h ſtudiere Philologie, Herr Arwed,“ antwortete

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„Scharmant. Wenn Sie die Arbeit übernehmen wollen . ..“ Er legte feinen Havelock ab und öffnete eine Seitentüre. „Darf ich bitten.“

Elli trat in das Arbeitszimmer des Antiquars, einen ſehr behaglichen Raum mit einer umfangreichen Hand⸗ bibliothek und Möbeln in engliſchem Stil. Neben dem Schreibtiſch lagen ein paar zuſammengeſchnürte Ballen von Druckheften.

„Um das da handelt es ſich, Fräulein darf ich ergebenſt um Ihren Namen bitten?“

„Elvira Koſer ...“ Sie ließ den Adelspartikel fort, der ihr im Augenblick nur ſtörend erſchien.

„Um dieſe Hefte, Fräulein Koſer. Es ſind ein paar hundert Lieder, meiſt Einzeldrucke aus dem ſech⸗ zehnten und ſiebzehnten Jahrhundert, die katalogiſiert werden ſollen. Das heißt alſo: die Titel müſſen auf einzelne Zettel genau kopiert werden und dann haben Sie hier“ er deutete auf die Handbibliothek „eine gan Reihe von bibliographiſchen Werken, die ent⸗ prechend durchzuſehen ſind, ob die Lieder ſchon eine Beſchreibung gefunden haben. Ich habe für die Arbeit,

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die Sie vielleicht einen Monat beſchäftigen dürfte, wenn Sie täglich etwa drei Stunden tätig ſind, zwei⸗ hundert Mark ausgeſetzt. Iſt Ihnen das recht?“

„Ganz recht,“ erwiderte Elli und ſchlug zum erſten Male den Blick frank zu Herrn Arwed auf und ſah, daß er hübſche ausdrucksvolle braune Augen hatte.

Vielleicht gefielen Herrn Arwed auch die Augen Ellis. Er tauchte ſeinen Blick tief in ſie hinein, wandte ſich dann aber raſch um, kramte in den Papieren ſeines Schreibtiſches, gab dem ihm zunächſt liegenden Lieder⸗ ballen einen kleinen Fußtritt und meinte: „Ich ſehe doch, daß die Arbeit eine gewiſſe Mühe machen wird, Fräulein Koſer, und möchte Sie nicht übervorteilen. Alſo ſagen wir zweihundertfünfzig Mark. Sela. Wann können Sie anfangen?“

„Schon heute,“ erklärte Elli. Es wurde verabredet, daß ihr an jedem Nachmittag von drei bis ſechs Uhr das Arbeitszimmer des Herrn Arwed reſerviert bleiben ſollte. „Sie ſind hier ganz ungeſtört, verehrtes Fräulein,“ ſagte er. „Ich richte mir indeſſen ein Plätzchen nebenan ein oder mache mir in der Stadt zu tun. Alſo auf Wieder⸗ ſehen . ..“ Er reichte ihr die Hand, und fie fand, daß ſeine Hand angenehm kühl war, wie die eines Menſchen, der auch im Arbeitsfieber keine Nerven kennt.

Unterdeſſen ſaß Chriſtel immer noch bei Kranzler zwiſchen Apfeltorte und Familienblättern und wartete auf Elli. Gott ſei Dank, da kam ſie! Sie ſtrahlte. „Chriſtelchen,“ ſagte ſie, „die Hälfte des blödſinnigen Koſtüms iſt bereits ſo gut wie verdient. Für die andere Hälfte wird ſich ja auch wohl noch Deckung finden, um mich kaufmänniſch auszudrücken. Denn bei Herrn Martin Arwed kann man ſich kaufmänniſch ſchulen, das habe ich ſchon gemerkt. Er gefällt mir überhaupt.“

„Iſt er verheiratet?“ fragte Chriſtel.

„Das weiß ich nicht; aber er ſieht nicht ſo aus.“

„Wieſo?“

„Man merkt's am Blick.“

„Iſt er hübſch?“

„Für einen Antiquar ſogar eine Schönheit.“ „Wie alt?“

„Na ſo etwa Anfang Dreißig.“

„Kannſt du mich ihm nicht mal vorſtellen?“ „Nein. Du würdeſt ſofort mit deinen ſchwarzen

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Guckern klappern, und dann wäre das Intereſſe hin, das er mir entgegenbringt. Ich muß ihn mir aber notgedrungen reſervieren, denn vielleicht braucht er mich noch für einen andern Katalog, und dann könnte ich mir auch den Reſt des Koſtüms abverdienen.“

„Du biſt fürchterlich egoiſtiſch, Elli. Dieſe biblio⸗ graphiſche Arbeit ſchlägt viel mehr in mein Fach als in deines. Ich möchte auch betonen, daß ein Buchhändler in jene Kategorie männlicher Weſen gehört, die mir be⸗ deutend näher ſteht als dir. Bleib du bei deinem Adel!“

„Chriſtliebchen, du biſt göttlich! Du wechſelſt häufig mit deinen Empfindungen. Mal bürgerlich und roman⸗ tiſch und mal äußerſt feudal. Haſt du bezahlt?“

„Ich habe wie auf Kohlen geſeſſen, weil ich Angſt hatte, du würdeſt nicht kommen. Ich habe gar kein Portemonnaie bei mir.“

„Chriſtel, deine kaufmänniſchen Talente ſind nicht weit her. Wenn meine Arbeit bei Herrn Arwed zu Ende iſt, kannſt du bei ihm in die Lehre gehen.“

Sie rief nach dem Kellner.

Am Nachmittag begann die Katalogiſierung der poetiſchen Sammlung. Elli arbeitete ſich leicht hinein; es machte ihr auch Spaß. Anfänglich ſchaute ſie hin und wieder in dieſe alten Volkslieder hinein, die ein ſo ſprechendes Bild von dem Geſchmack und den Ge⸗ fühlsregungen vergangener Zeiten gaben, die freilich auch zuweilen ſo derb im gereimten Ausdruck waren, daß die Wangen der Leſenden ſich unwillkürlich tiefer u färben begannen. Aber das ſtörte ſie nicht. Sie ſudlerte ja ſelbſt Geſchichte und beſaß genügend hiſto⸗ riſchen Sinn, in dieſen populären Darſtellungen nur einen naiven Ausdruck des Volksgeiſtes jener Tage zu ſehen, des Denkens und Empfindens von Menſchen⸗ klaſſen, die uns fremd geworden ſind. Auch das Nach⸗ ſtöbern in den Handbüchern, im Goedeke, Weller, Soltau, Maltzahn und andern Bibliographieen, machte ihr Freude, und als ſie zum erſten Mal nach kurzer Suche hinter der Kollation eines bisher ganz unbe⸗ kannten Liedes über eine „Wunderbarlich und grauſam kleglich geſchicht inn einer ſtadt zu Hollandt“ den Vermerk ſetzen konnte „Nirgends zitiert und beſchrieben“, da empfand ſie etwas von dem Genuß des Forſchers, dem ein längſt erſehnter Nachweis glücklich gelungen iſt.

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Am erſten Tage hatte Herr Arwed ihr einige kurze Erklärungen gegeben, die für die Arbeit notwendig waren. Dann hatte er ſich nicht wieder ſehen laſſen. Einmal glaubte Elli ſeine helle, immer etwas befehlend klingende Stimme im Saal nebenan zu hören; aber zu ihr war er nicht gekommen. Sie blieb allein, und das war ihr auch lieb. Sie ſaß an dem großen Schreibtiſch eifrig über ihren Zetteln; rechts lag ein Packen der Liederdrucke aufgeſtapelt, links ſtand auf einem fahr⸗ baren niedrigen Regal der wichtigſte Teil der Nach⸗ ſchlagewerke. Und Elli ſchrieb: „Ein ſchön New liedt von dem Korn regnen, auch Erbreis vnd Ruben, ſo geſchehen iſt den vierzehenden Junij dieſes lauffenden jars, in der Schleſien, Nemlich zu Goltberg. Im Thon, Ach Gott ich thu dirs klagen. Getruckt zu Frankfort an der Oder. 1571.“ Das war der Titel. Nun kam die Kollation: „4 Blatt in Oktav, 18 Strophen.“ Jetzt der Erhaltungszuſtand: „Ein unbedeutendes Wurm⸗ loch am oberen Rande der erſten Seite; wenig ſtock⸗ fleckig.“ Damit war es aber noch nicht genug; erſt mußte noch die Handbücherei nachgeſchlagen werden. Da war es verzeichnet: „Weller I, 200; Maltzahn 537; Heyſe 942 (der als Druckjahr wohl irrtümlich 1570 an⸗ gibt)“. Nun war die Katalogiſierung fertig, und der Zettel konnte zur Nachprüfung in das Heftchen gelegt werden.

Eines Tages es war ſchon zu ſpäterer Stunde, und Elli hatte bereits die elektriſche Lampe auf dem Schreibtiſch entzünden müſſen klopfte es an die Türe, und Arwed trat in Begleitung eines älteren Herrn von ausgeſprochenem Gelehrtentypus in das Gemach.

„Verzeihung, wenn ich ſtöre,“ ſagte Arwed höflich, „— ich halte Sie nicht lange auf ...“ Er ſtellte vor: „Geheimrat Heydenreich aus Bern Fräulein Koſer“ und fuhr fort, zu dem Geheimrat gewandt: „Da liegt der ganze Rummel, Herr Geheimrat im Januar ſoll der Katalog erſcheinen: die Freude will ich mir wenigſtens gönnen!“

„Mein werter Herr Arwed,“ entgegnete der alte Herr, „ich begreife ja vollkommen, daß Sie den Katalog gern herausbringen möchten, der Ihrer Firma zweifellos neue Ehren eintragen wird. Aber Sie können mir doch wenigſtens das Vorkaufsrecht für die dreißig Schweizer

Lieder ſichern. Ich wiederhole: es liegt uns ungemein viel daran.“

„Herr Geheimrat, es geht nicht. Sie find ja ſelbſt Reichsdeutſcher von Geburt und werden verſtehen, daß ich die Sammlung ungern in das Ausland wandern ſehen möchte. Ich gebe im Kataloge vorläufig auch keine Preiſe an; ich möchte die Kollektion am liebſten ungeteilt an eine große deutſche Bibliothek verkaufen.“

„Wenn Sie einen Käufer finden, mein Beſter!“

„Das muß ich abwarten. Es eilt mir nicht. J habe an dieſen Liedern zehn Jahre lang geſammelt. Meinethalben kann noch ebenſoviel Zeit vergehen, ee ich fie wieder los werde. Wenn ich ehrlich fein foll: ich wünſchte, es käme ſo bald kein Käufer. Es wird mir ſchwer, mich von meinem Schatze zu trennen.“

Der Geheimrat lachte. „Sie ſind der merkwürdigſte Antiquar, den ich je kennen gelernt habe,“ meinte er. „Na alſo addio. Vielleicht überlegen Sie ſich meinen Vorſchlag doch noch. Bis übermorgen abend Hotel Kaiſerhof.“

Herr Arwed geleitete ihn bis zur Türe und kehrte dann in ſein Arbeitszimmer zurück. „So geht's, Fräulein Koſer,“ ſagte er heiter. „Manchmal ſchlägt der Lieb⸗ haber den Kaufmann in den Nacken. Aber mißverſtehen Sie das Wort Liebhaber nicht. Es bezieht ſich in dieſem Falle nur auf die Ware, mit der ich handle. Wenn man Antiquar iſt, darf man nicht zugleich ſeine Bücher lieben. Sonſt entſteht ein ſogenanntes Dilemma und die Seele teilt ſich. Die eine Hälfte, die merkantile, möchte los⸗ ſchlagen und die andre, die bibliophile, möchte behalten.“

„Das verſtehe ich,“ entgegnete Elli, in ihrer Arbeit pauſierend. „Aber warum legen Sie ſich keine Privat⸗ bibliothek an?“

„Habe ich. Hat indes auch ihren Haken. Wenn ich meine Bibliothek nach Wunſch ausbauen wollte, müßte ich mein Lager räumen. Dazu bin ich wieder zu ſehr Kaufmann. So ſchwanke ich haltlos hin und her und bin eigentlich ein ſehr unglücklicher Menſch.“

„Doch das ſieht man Ihnen nicht an,“ ſagte Elli lachend.

Arwed hatte ſich in den kleinen Eckfauteuil geſetzt, der eine Unterbrechung der Bücherſchränke an den Wän⸗ den bildete und über dem eine ausgeſtopfte Eule das

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Sinnbild der Weisheit mit elektriſch beleuchteten Augen ihre Flügel ſpannte.

5 bin mehr innerlich veranlagt als äußerlich,“ gab er gleichfalls lachend zurück. „Aber nun ſagen Sie mir: wie gefällt Ihnen Ihre Arbeit? Kommen Sie gut vorwärts?“

„Jetzt beſſer und raſcher als anfänglich, Herr Arwed. Vor allem: die Freude wächſt zuſehends. Bei der Kollationierung bleibt es nicht aus, daß ich hin und wieder einen Blick in den Inhalt der kleinen Schmöker werfe. Und da wird ſofort meine Phantaſie lebendig. Es iſt hübſch, daß es ſich hier meiſt um nichtgeſchichtliche Volkslieder handelt da lernt man das Gefühls⸗ und geſellſchaftliche Leben der Vergangenheit weit beſſer kennen als aus der gereimten Darſtellung hiſtoriſcher Geſchehniſſe. Manches iſt furchtbar roh, vieles aber ganz prachtvoll. Die Meiſterlieder von Hans Sachs ſind doch einzig! Zuweilen überkommt's mich, daß ich zur Lektüre eine Melodie im plüenden ton Frawenlobs“ oder ‚in des Römers geſangweis“ vor mich hinpfeife. Und dann ſehe ich den alten Meiſter vor mir ſitzen, im Zimmerchen neben der Werkſtatt, dicht an dem Fenſter mit den kleinen, runden, bleiumfaßten Glasſcheiben, die Hornbrille auf der Naſe, vor ſich ein rieſiges Tintenfaß und einen noch rieſigeren Bierkrug, in der Hand den Federkiel, und eifrig drauflosdichten. Ich ſehe ihn und höre die Türe gehen. Ein Geſelle kommt. Meiſter, der Ratsherr Freſenius läßt fragen, warum ſeine Galaſchuhe noch immer nicht fertig ſeien?' Aber Meiſter Hans dichtet gerade: ‚Drei Bauren ſaßen bei dem Wein‘ er dichtet im Roſenton, und jo ruft er denn zurück: „Der Ratsherr kriegt den Galaſchuh Und noch ein fein Poem dazu, Doch zahle er wie mir's gefällt, denn Reim und Leder koſten Geld!“

„Ich applaudiere,“ ſagte Herr Arwed und ſchlug in die Hände. „Ganz famos. So lob' ich mir's. Wenn die Phantaſie wach iſt, kann auch die trockenſte Arbeit zum Genuß werden. Es geht mir ganz ähnlich. Mein Vater war Brauer und iſt bei Hopfen und Malz ein reicher Mann geworden. Da wollte er hoch hinaus mit mir. Ich ſollte partout Offizier werden oder mindeſtens Regierungsaſſeſſor. Aber ich wollte nicht. Die Bücher hatten mir's angetan, und was meinen

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Vater am meiſten ärgerte: nicht etwa die neuen Bücher, die Prachtwerke, die man auf den Salontiſch legt, ſondern die alten Scharteken, in denen der Wurm bohrt und der Staub wohnt. Da hab' ich's denn durch⸗ geſetzt und bin Antiquariatsbuchhändler geworden.“

„Und fühlen ſich wohl in Ihrem Beruf?“

„Ich wünſch' mir nichts Beſſeres. Der Antiquar, wohlverſtanden: nicht der kleine Hauſierer, ſondern der große Geſchäftsmann, der 1 5 Sache mit Ernſt be⸗ treibt, beherrſcht ein univerſales Gebiet. Die Antiquariats⸗ wiſſenſchaft umfaßt ein ungeheures Feld der Forſchung. Nicht die Literaturgeſchichte allein, auch die Hiſtorie und Kunſthiſtorie im allgemeinen, die Drucker⸗ und Handſchriftenkunde, die vergleichende Sprachwiſſen⸗ ſchaft und vielerlei mehr. Natürlich kann ſelbſt der geſcheiteſte Antiquar unmöglich auf allen dieſen Ge⸗ bieten zu Hauſe ſein; aber er muß von allem immerhin ſo viel verſtehen, daß er keine Dummheiten macht, und muß eine feine Spürnaſe für geeignete Hilfskräfte beſitzen. Das nämlich hat der Antiquar mit einem firm dreſſierten Jagdhund gemein oder ſoll es doch haben: die Spürnaſe. Die ſogenannte Witterung tut alles. Sie zeigt uns die Fährten, auf denen Selten⸗ heiten zur Strecke gebracht werden können, ſchafft uns beſtimmte Abſatzgebiete und Kundenkreiſe und gibt uns eine gewiſſe Sicherheit in der Beurteilung deſſen, was kaufmänniſch als rar gilt und was es wirklich iſt.“

„Zweifellos eine höchſt intereſſante Beſchäftigung,“ ſagte Elli, die die Feder beiſeite gelegt hatte, „aber doch auch eine ſchwierige, weil ſie gar zu viel vorausſetzt.“

„Die Übung hilft über manche Schwierigkeit hin⸗ weg, Fräulein Koſer, und den Grund für dieſe Übung legt die Lehrzeit. Ich bin ein paar Jahre im Ausland geweſen, ehe ich mich ſelbſtändig machte. Ich war bei Quaritſch in London, bei Morgand in Paris, bei Olſchki in Florenz, bei Muller in Amſterdam. Das ſind alles ſehr gewiegte Antiquare, die ihr Fach auf das gründlichſte verſtehen. Aber ich will Sie nicht länger aufhalten. Ja noch eine Frage. Wünſchen Sie nicht eine Erfriſchung während der Arbeitszeit? Soll ich an Tee machen laſſen? Darin iſt meine Buchhalterin Künſtlerin, und der elektriſche Kocher ſteht bereit.“

„Danke herzlich, Herr Arwed,“ erwiderte Elli, „die

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Arbeit ſelbſt iſt mir Erfriſchung genug. Denken Sie, daß ich bereits elf Drucke gefunden habe, die noch nirgends beſchrieben worden ſind! Den einen zitiert Panzer falſch und von einem andern, einem Lied von Jörg Widmann, erklärt Hagen, das einzige bekannte Exemplar ich glaube in Wolfenbüttel ſei verloren gegangen. Da wär' das unſre alſo Unikum.“

Arwed nickte lächelnd. „Ich freue mich über Ihre Begeiſterung freu' mich auch darüber, wie raſch Sie ſich in die Materie hineingearbeitet haben. Sie ſprechen ſchon wie ein gelehrter Antiquarius. Sie ſollten Bibliothekwiſſenſchaft ſtudieren.“

„Vielleicht tue ich's noch. Ich habe eine Freundin, die auf das Bibliothekexamen zuſteuert. Der kann ich mich anſchließen.“

„Mein Kompliment Ihrer klugen Freundin und Ihnen.“ Er verneigte ſich und ging. Aber ehe er die Tür zuzog, flog ſein Blick raſch noch einmal zurück zu dem jungen Mädchen, das ſich wieder über den Tiſch gebeugt hatte und über deſſen ſchimmerndes Goldhaar ein heller Strom von Licht floß.

Ein paar Tage ſpäter erſchien Elli etwas früher als ſonſt im Antiquariat und fand Herrn Arwed noch in ſeinem Arbeitszimmer vor. „Tauſendmal pardon,“ rief er aufſpringend, „ich mache Ihnen ſofort Platz, gnädiges Fräulein. Sie ſind pünktlicher als alle Könige der Welt.“

„Heine ſo gar zu pünktlich; deshalb för ich Sie auch.“

„Keineswegs. Ich bin froh, wenn ich einmal dem Schreibtiſche fern fein kann ...“ Er berührte mit der Fußſpitze einen Packen zuſammengeſchnürter kleiner Bücher, deren Format und Einbände Elli gleichſam befreundet anheimelten. „Entſchuldigen Sie,“ fuhr er fort, „dieſe Einſchränkung Ihrer Arbeitsſtätte ich laſſe gleich Platz machen. Da hat mir die Firma Bungarz in Emmenthal ein halbes hundert Elzevirdrucke auf den Hals geſchickt —“

„Meine Elzevirchen!“ rief Elli und kniete nieder und ſtrich mit der Hand wie liebkoſend über das ſtaubige Pergament der Einbände. „Ja natürlich, das ſind ſie ich erkenne ſie wieder das ſind meine Elzevirchen, mit denen ich als Kind geſpielt habe. ... Notabene, wenn ich ‚mein‘ ſage, habe ich noch lange kein Eigentums» recht an der Sache.“

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„Es wird mir ein Vergnügen ſein, Ihnen die Kollektion zu dedizieren,“ erwiderte Arwed, „zumal Sie ja, ich kann mir nicht helfen ich kann mir nicht helfen, Fräulein Koſer, jetzt muß ich Ihnen eine bibliophile Schmeichelei ſagen: ins Antiquariſche über⸗ ſetzt ſind Sie ſelbſt ein reizendes Elzevirchen nach Format, Einband und Ausſtattung ein Elzevirchen, dem ich unbedingt die Katalogbemerkung anhängen würde: ‚Tadellojes Exemplar, wie neu; in dieſem Zuſtande von größter Seltenheit“.“

Elli lachte herzlich. „Ich danke ſchönſtens für das antiquariſche Kompliment, Herr Arwed,“ entgegnete ſie, „muß die Widmung der Elzevirdrucke aber dankend ablehnen, da ich ihren Wert kenne und überdies keine Sammlernatur bin. Daß Sie mich Elzevirchen titu⸗ lieren, weckt frohe Erinnerungen in mir: denſelben Namen hatte mir nämlich auch Ihr Geſchäftsfreund, der alte Herr Bungarz, zugelegt, mit deſſen Tochter ich zuſammen ſtudiere, hauſe und lebe. Mein ver⸗ ſtorbener Vater war Poſtdirektor in Emmenthal.“

Nun mußte Elli erzählen. Herr Arwed ſetzte ſich wieder in den Eckſeſſel, nachdem er vorher einen „Fauſt“ von 1808 und zwei Schillerſche Originaldrucke von den Polſtern gefegt hatte, ſtützte die Hände auf die Arm⸗ lehnen und hörte zu, wobei ſein Blick beſtändig Elli um⸗ kreiſte. Es war in der Tat ſo eine Art Umkreiſen; ſein Blick umwanderte ſie, glitt über ihr Haar, ſchweifte um das zarte Oval ihres Geſichts, hüllte ſie gewiſſermaßen ein.

Elli erzählte von ihrer Kindheit, von Emmenthal, vom Hauſe Bungarz.

„Wie hübſch Sie zu ſchildern verſtehen,“ ſagte Arwed. „Ich glaube, Sie könnten auch ſchriftſtellern. Haben Sie noch nie ein Gedicht verbrochen?“

„O ja aber es war auch danach.“

„Jedenfalls hat es mich lebhaft intereſſiert, was Sie mir da erzählt haben. Es gehört immerhin Tapfer⸗ keit dazu, ſich als Mädchen ſo frühzeitig auf eigene Füße zu ſtellen.“ i \ b

„Das Muß bringt es mit ſich. Übrigens ſind mir die eigenen Füße lieber als die Krücken fremder Hilfe.“

„So iſt's recht. Und nun überlaſſe ich Sie wieder Ihrer Arbeit und empfehle mich Ihnen zu Gnaden, Mademoiſelle Elzevirienne.“

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Als er dies fagte, trafen ſich beider Blicke. Und da fand ſie etwas in ſeinem Auge, was ſie verlegen werden ließ: etwas ſchwer zu Beſchreibendes, einen Ausdruck von innerer Wärme, ein Glitzern von Zärt⸗ lichkeit. Er hatte hübſche Augen, aber ſie ſchienen im allgemeinen ein wenig kalt. Nicht ſo in dieſem Moment. Da quoll es aus der Tiefe herauf und gab feinem Blick ſtürmiſches Leben.

Sie wandte ſich ab und ließ ſich raſch nieder.

Und wiederum ein paar Tage ſpäter zur Abend⸗ ſtunde, als Elli gerade ein kurzweilig Liedlein des Herrn Weſſel von Eſſen kollationierte, vernahm ſie im Neben⸗ ſaal klirrende Schritte. Ein Reitersmann, vielleicht ein Kavallerieoffizier, der nach raren Druckwerken forſchte, der war eigentlich ſelbſt eine Seltenheit. Es klopfte, und die Tür ging auf und es klirrte näher, und der Reitersmann trat ein. Doch war es zu Ellis Erſtaunen kein Fremder, ſondern war Herr Arwed in Perſon, und zwar in der Leutnantsuniform eines Artillerie⸗ regiments und ſah ſehr ſchmuck darinnen aus.

„Erſchrecken Sie nicht,“ ſagte er luſtig, „daß ich Ihnen heute militäriſch komme. Das Reſerveoffizierkorps feiert ſeinen, Jahresabend“, und da will es die Sitte, daß in die Haut von zweierlei Tuch geſchlüpft werden muß.“

„Sie ſteht Ihnen gut.“

„Ich will wahrhaftig ſein: das wünſchte ich nur zu hören. Wobei ich in Klammern hinzufüge: wenn auch das Urteil wahrhaftig iſt.“

„Was ſoll ich darauf antworten? Ich kann Ihnen doch nicht ſagen, daß Sie Neigung zur Eitelkeit haben!“

„Wir wünſchen immer demjenigen zu gefallen, der uns ſelber gefällt.“

Elli blätterte in ihren Katalogzetteln. Die Unter⸗ haltung begann ihr gefährlich zu werden.

„Welchem Regiment gehören Sie an?“ fragte ſie, um das Geſpräch in andre Wege zu leiten.

„Nach dem Wunſche meines Vaters hätte ich bei der Gardekavallerie eintreten müſſen. Aber da wäre ich vermutlich niemals Reſerveoffizier geworden. So ſuchte ich mir denn eine beſcheidenere Truppe: das Artillerieregiment Clauſewitz in Neukirch.“

„Neukirch!“ rief Elli. „Sehr merkwürdig: wieder eine Verbindungslinie! Neukirch iſt meine Geburtsſtadt.“

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Arwed erhob ſich, ſchlug ſporenklirrend die Abſätze aneinander und machte eine tiefe Verbeugung. „Ich zweifle keinen Augenblick, daß mich eine Vorahnung dieser Tatſache auf Neukirch gebracht hat. Im Früh⸗ jahr ſoll ich zu einer Übung herangezogen werden. Da werde ich Ihr Geburtshaus eruieren. Vielleicht kaufe ich auch das Haus und errichte daſelbſt eine Filiale. Ich bin überzeugt, daß mir kein Menſch in Neukirch jemals ein Buch abkaufen würde. Das wäre aber das Hübſcheſte. Dann finde ich an dieſer heiligen Stätte Ben ah Frieden, deſſen ich für meinen Kultus

edarf.“

Elli zog ihre Nachſchlagewerke 1 an ſich heran. „Herr Arwed,“ ſagte ſie, „Ihre Kameraden warten. Auch meine Lieder.“ Sie griff wieder zur Feder.

„Geben Sie mir wenigſtens die Hand zum Addio!“

Sie reichte ihm die Hand. Aber als er ſie mit einer Neigung des Kopfes an ſeine Lippen ziehen wollte, fuhr ihre ae we zurüd. „Bitte nicht!“ fagte fie in herriſchem To

Er verfärbte ſich leicht. en Gnädigſte es war Er böſe g gemeint ... Nun nahm er feinen Helm und ging.

Die Arbeit ging Elli heute minder flott von der Hand. Sie war unruhig geworden. Es war ganz klar, daß Herr Arwed Luſt zu einem kleinen Flirt verſpürte. Das ärgerte ſie. Er war höflich und liebenswürdig und vergab ſich nichts. Aber ſein Ton wurde von Tag zu Tag vertraulicher. Schließlich hätte auch das Elli nicht weiter geſtört, denn es plauderte ſich nett mit dieſem geſcheiten Buchhändler, der überdies ein Mann von guten Formen und einer gewiſſen Weltſicherheit war. Aber Elli fürchtete, daß der begonnene Flirt leicht eine ernſtere Wendung nehmen könnte. Und das durfte nicht ſein. Sie ſpürte in ihrem kühlen Herzchen auch für ihn leiſeſte Regung einer wärmeren Zuneigung

r ihn

Während ſie weiterſchrieb, dachte ſie an Chriſtel. Es war eine unwillkürliche Gedankenverbindung. Chriſtel mit ihrem leicht entzündbaren kindiſchen Herzen würde ſich wahrſcheinlich ohne weiteres in Herrn Arwed verliebt haben. Die beiden paßten auch zu einander. Chriſtel machte ihr Sorgen. Sie war von einer merk⸗

er. >

würdigen Weltunklugheit: war ein liebes kleines Dummerchen voll grenzenloſer Naivität. Seit Elli ſie nicht mehr ſtändig beobachten konnte, hatte ſie ſich wieder mehr an Katja angeſchloſſen, ein paarmal bei ihr im Hotel ſoupiert und war mit ihr in das Theater gefahren. Dagegen ließ ſich natürlich nichts ſagen; aber Elli fürchtete den Einfluß Katjas auf ihr liebes Dum⸗

merchen.

Wieder klopfte es an der Tür. Der Prokuriſt erſchien. „Pardon, Fräulein Koſer,“ ſagte er, „es iſt gleich acht Uhr wir möchten gern ſchließen. Darf ich Ihnen die Schlüſſel hierlaſſen?“

Elli erſchrak. War es denn ſchon fo ſpät? Wenn ſie nicht pünktlich zum Abendeſſen daheim war, hielt die Gulla ihr eine Rede und Chriſtel zog ein Mäulchen. Raſch kramte ſie ihre Arbeit zuſammen und ſchlüpfte mit Hilfe des galanten Kühlemann in ihr Jäckchen.

Draußen begann es bereits winterlich zu werden. Die erſten Fröſte waren eingetreten, die Luft ging ſcharf; ſchon ſah man vereinzelte Pelze. Elli pflegte den Heimweg häufig zu Fuß zurückzulegen, wenn ſie noch Zeit vor ſich hatte. Es machte ihr Spaß, durch die Straßen zu ſchlendern und hie und da vor den er⸗ leuchteten Schaufenſtern ſtehen zu bleiben. Heute war das nicht möglich. Sie ging bis zur Ecke der Fried⸗ richſtraße, um hier auf die elektriſche Bahn zu warten. Ein Wagen mit grünem Licht brauſte heran. Es war nicht der ihre; aber ſie wußte Beſcheid: in vier Minuten traf der Wagen ein, den ſie benutzen mußte. Inzwiſchen trat ſie an die ſtrahlende Etalage eines Juweliers heran und betrachtete den ausgelegten Schmuck. Während ſie den Kopf ein wenig vorbeugte, ein ſchönes Perlenhalsband näher bewundern zu können, war ihr, als ſtreife ſie ein warmer Atemzug. Ein widriges Geſicht tauchte dicht neben ihr auf: verſchwommene Züge, zwei lüſtern blitzende Augen, ein eisgrauer, ſpitz gedrehter Schnurrbart über ſchlaffen flüſternden Lippen. Dann vernahm ſie eine leiſe Stimme: „Perlen bedeuten Tränen, liebe Kleine. Aber da ſeh' ich ein Brillantringlein, das ich Ihnen gern an den Finger ſtecken möchte. Wollen wir hineingehen?“

Es war das erſte Mal, daß Elli im Abendtrubel der Großſtadt in frecher Weiſe angeredet wurde. Es

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rimmte fie, daß fie in dieſem Augenblick etwas wie urcht beſchlich. Gerade dies Gefühl war ihr ſonſt fremd. Mit der Furcht miſchte ſich aber zugleich das Empfinden zorniger Abwehr. Am liebſten wäre ſie grob geworden. Das ging natürlich nicht an. So begnügte ſie ſich denn, den alten Herrn unter raſcher Kopfwendung mit einem verächtlichen Theaterblick von unten nach oben zu ſtreifen, und trat hierauf auf den Macadam, um in ihren Wagen zu ſteigen. Der Theaterblick erzielte freilich nur die entgegen⸗ geſetzte Wirkung. Der alte Sünder ſchien das Gehaben des Mädchens außerordentlich pikant zu finden: er ſtarrte Elli nach und meckerte leiſe vor ſich hin, klemmte ſein Monokel ein und wollte dann mit ſchnellem Ent⸗ ſchluß denſelben Wagen beſteigen. Aber da klang ſchon das Glockenzeichen, und der Wagen ſchwirrte davon.

Elli ſaß bereits auf dem Eckplatz dicht an der Tür. Sie fühlte ſich plötzlich wie betäubt. Sie hatte des alten Herrn nicht weiter geachtet, aber beim Aufſpringen auf den Bahnwagen etwas andres geſehen, das ihr zu denken gab. Da war ein offenes Automobil vorüber⸗ you, und ſie hatte die drei Perſonen im Fond deut⸗ ich erkannt. Oder glaubte das wenigſtens. Während der Fahrt begann ſie aber ſchwankend zu werden; daß die eine Dame Katja geweſen war und ihr Gegenüber der Doktor Kyrulew, war zweifellos. Doch die zweite Dame hatte einen dunklen Schleier getragen: bei ihr ſolc ein Irrtum möglich. Und Elli wünſchte einen olchen.

Aber es war keiner. Daheim war das Eßzimmer bereits erleuchtet und der Tiſch gedeckt. Auf ihrem Platz fand Elli eine Rohrpoſtkarte: „Liebes Ellimäuschen! Ich bin bei Katja wahrſcheinlich fahren wir in die Chai . mich nicht. Schlüſſel habe ich. Kuß

riſtel.“

„Fräulein Chriſtel kommt nicht zum Abendeſſen, Gulla,“ ſagte Elli, „nimm das Gedeck fort.“ }

Sie hatte wenig Appetit. Wieder überkam fie die Sorge um Chriſtel. Katja traute ſie längſt nicht mehr; vor Kyrulew hatte ſie eine heimliche Averſion, ohne ſich 17 ſich zu ſagen vermochte, worauf dieſe Abneigung ich ſtützte.

Sie ſetzte ſich an ihren Schreibtiſch, den letzten

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Brief Karla Hagens aus Karlsruhe zu beantworten und dann ihre Kolleghefte durchzuarbeiten. Darüber war es zehn Uhr geworden. Die Gulla erſchien, zum Schlafengehen zu mahnen: für ſie war Elli noch immer das Kindchen von ehemals. Aber Elli war heute noch nicht müde, ſie wollte auf Chriſtel warten. Die Gulla brummte, wagte indes keinen Widerſpruch, und Elli ſetzte ſich von neuem an ihren Schreibtiſch.

Sie ſuchte ein paar Bogen Papier hervor und legte ſie vor ſich hin, tauchte die Feder ein und ſchrieb auf das Papier: „Wie der junge Barthel Wigelis ein Ritter werden wollte und was ihm begegnet iſt.“ Dabei ging ein heiteres Lächeln über ihr Geſicht. Sie dachte nicht mehr an Karla und Chriſtel, ſie ſah Jung⸗Barthel vor ſich und freute ſich über ihn. Wer war Jung⸗Barthel? Keiner von heute und hatte vielleicht auch niemals gelebt. Unter der Liederſammlung, die Elli katalogi⸗ ſierte, hatte fie „eyn hüpſch news liedlein“ gefunden: „von dreyen Geſellen, welliche in ein Wirthshauß ſeyn kommen, vnd ſich angezeiget, wie ſie ſeind die Theue⸗ rung, Krieg vnd Peſtelentz“ die Beſchreibung eines Schelmenſtücks dreier luſtiger fahrender Schüler aus den letzten Jahren des ſechzehnten Säkulums. Das Liedchen hatte ihr gut gefallen, und es war ihr in den Sinn gekommen, dieſer Stoff ſei eine hübſche Grund⸗ fabel für ein kleines kulturgeſchichtliches Genrebild in ſchlicht novelliſtiſcher Form.

Sie ſetzte die Feder an und ſchrieb friſch darauf los. Sie hatte das Zeitbild im Kopfe. Die Unruhe hatte um die Wende des ſechzehnten Jahrhunderts ſich in die Volksſeele geſenkt. Landläufer aller Art über⸗ ſchwemmten Dörfer und Städte und brachten ſeltſame Nachrichten aus weiter Ferne: von einem wilden Räuberſtamm, der das Heilige Land bedrohte, von dem zuchtloſen Leben am Hofe des Papſtes zu Rom, von dem Treiben barbariſcher Piraten im mittleren Meere, von der Entdeckung neuer Goldküſten, wo die Edelſteine, wie Taubeneier ſo groß, offen im gelben Sande blitzten. Auch Flugblätter flatterten überall umher, mit ſchönen Bildern geziert, und erzählten Ähnliches; Bettelmönche kamen aus heißem Süd und entfachten durch flammende Reden die Phantaſie, welſche Söldner mit Hirſchmeſſer und Knebelſpieß wußten Wunderdinge zu berichten

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von den Geſchehniſſen jenſeits der Alpenberge, auch ein entflohener Chriſtenſklave fand ſich ein, und es war ſchrecklich zu hören, welche Leiden er bei den Baſſas im Türkenland hatte ausſtehen müſſen. Alle dieſe Geſchichten vernahm auch ein pfiffiger Hirtenbub, Barthel Wigelis in einem Tal der Rhön; ſtiegen ihm zu Kopf, bis der Gedanke ſich feſtſetzte, daß er ſelbſt ausziehen wollte, ein Rittersmann zu werden, die Heiden zu bekämpfen; ließen nicht nach, bis er zwei Genoſſen gefunden, die ihn begleiteten, und einen 1 e um ſich ein Pferd zu kaufen. Wie Barthel Wigelis mit ſeinen beiden Spießgeſellen nun den Spuren ſeiner Phantaſie nachging, wie die drei ſich verkleideten und als Geſpenſter der Apokalypſe einen furchtſamen Gaſtwirt zu begaunern verſtanden und als Teufel mit Schwanz, Hörnern und Bocksfuß einem Pfarrherrn den Honig ſtahlen, und wie ſie ſich zu München als Bartſcherer vermieteten und durch ein drolliges Un⸗ gefähr an den Hof des 1 zu Salm kamen und dorten für beraubte Edelleute gehalten wurden, und was ſonſt noch alles ihnen an abenteuerlichen Erlebniſſen begegnete, inſonderheit wie Barthel Wigelis ſich eine künftige Frau, eine dicke Bäckerin, aus der Teigkufe holte: das verſuchte Elli artig auszumalen und fand ihre Luſt daran.

Sie ſchrieb und ſchrieb und immer fröhlicher wurde ihr dabei zu Mute. Groß war die Freude am Fabu⸗ lieren. Der Anekdote des Liedes gliederte ſie allen möglichen luſtigen Unfug an; dies Streichlein fiel ihr ein und wieder ein andres, auch eine Derbheit ſcheute ſie nicht, die ihr in den Charakter des Ganzen zu paſſen ſchien, und da die drei Geſellen ein Burſchenlied zu ſingen hatten, dichtete ſie ſchnell ein ſolches, das gut klang im Tone der Zeit. Sie liebte den alten Stil, in dem der Berlichinger und Schärtlin von Burtenbach ihre Taten erzählt hatten, und fand ſich ſchnell hinein, ſchliff ihn ein wenig ab, um ihn verſtändlicher zu machen, ohne ihm doch ſeine Charakteriſtik zu nehmen, und war glücklich, wenn ſie ein neues Wort gefunden hatte, das ſich treffend einfügen ließ. Da ſaß nun die blonde kleine Studentin, ſo ganz und gar ein Frauen⸗ zimmerchen der Gegenwart, und ſchrieb einen Schwank des ſechzehnten Jahrhunderts und merkte kaum, wie

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ihr die Wangen glühten, und merkte kaum, wie die Zeit verging. Es war ganz ſtill in dieſem Hinterzimmer: kein Laut vernehmbar als das leiſe kritzelnde Geräuſch der Feder und das Ticken der Uhr. Es war auch ein behagliches Neſt, in dem ſich gut ſchaffen ließ, und es waren frohe Stunden für Elli: die erſten, in denen ſie ſchöpferiſch wurde.

Da knirſchte draußen der Schlüſſel in der Flurtür, und die Tür ging und wurde geſchloſſen. Elli legte ihre Papiere fort und ſah nach der Uhr. Es war halb zwei. Sie ſtand auf, und im gleichen Augenblick trat Chriſtel ein und blieb erſtaunt ſtehen. ;

„Herrjeh!“ rief fie, „du biſt noch wach!“

„Wie du ſiehſt. Ich wartete auf dich.“ j

Chriſtel riß ihren Schleier vom Geſicht. „Aber ich ſchrieb dir doch, es nicht zu tun. Ich wußte ja, daß es ſpät werden würde. Ich war mit Katja im Theater.“

„In der Oper?“

„Nein,“ ſagte Chriſtel zögernd, „im Apollotheater.“

„Außerordentlich paſſend für ein paar junge Damen. Ihr beide allein?“

Ellis Blick wurde ſcharf. „Warum belügſt du mich? Zufällig fuhrt ihr an mir vorüber, als ich nach Hauſe ging. Kyrulew war mit euch. Weshalb verſchweigſt du mir das?“

Chriſtel ging an die Tür ihres Schlafzimmers und blieb da ſtehen. Sie wandte ſich um. Elli ſah, daß ſie blaß war. „Ich weiß, daß du Kyrulew nicht leiden kannſt deshalb erwähnte ich ihn nicht. Habe ich dir überhaupt Rede zu ſtehen?“

„Wenn du nicht willſt, laß es.“ .

Plötzlich wurde Chriſtel heftig. „Ich bin erwachſen genug und brauche keinen Vormund,“ rief ſie. „Ich habe bei Katja diniert, dann ſind wir mit Kyrulew im Apollo geweſen, dann haben wir zuſammen bei Bor⸗ chardt ſoupiert, dann waren wir in der Engliſh Bar und dann hat mich Kyrulew nach Hauſe gebracht. Und ich habe mich ausgezeichnet amüſiert ganz aus—ge zeichnet .. . . und ich will mich auch amüſieren und da kannſt du mir Vorleſungen halten, ſoviel und ſolange du willſt! Merk dir's!“

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Sie ging und ſchleuderte die Türe zu. Man hörte, daß ſie von innen den Riegel vorſchob. Aber ihr Schluchzen vernahm Elli nicht. Konnte auch nicht ſehen, wie ſich die Kleine in voller Straßentoilette auf das Bett warf und in ihr Kiſſen biß. Wie eine tiefe Er⸗ regung ihre Glieder ſchüttelte und ſie krampfhaft die Hände faltete, als ringe ihre Seele nach einem Gebet, und wie ihr Geſicht noch mehr verblich, als ſtocke ihr der Atem. Sonſt hätte Elli Mitleid gefühlt.

Drei Tage hindurch murrte Chriſtel. Auch Elli war einſilbig. Beim Frühſtück ſaßen ſich die beiden Freun⸗ dinnen mit brummigen Mienen gegenüber und ſtippten ſchweigend ihr Brötchen in den Tee. Dann fuhren ſie nach der Univerſität und ſetzten ſich im Wagen der elektriſchen Bahn weit voneinander. Das Mittagsmahl verfloß unter dem gleichen Mangel an gegenſeitiger An⸗ regung; das Abendeſſen kürzte Elli nach Möglichkeit ſchnell ab, um ſich dann wieder an ihren Schreibtiſch zu ſetzen.

Aber ein Geſchehnis am vierten Tage ſtellte die Freundſchaft wieder her. Da erſchien Herr Arwed in der ſiebenten Abendſtunde bei Elli, die bei der Auf⸗ nahme ihrer Lieder glücklich bis zu dem Druckerjahr 1672 gekommen war, verbeugte ſich nach Gewohnheit und ſagte mit etwas gepreßter Stimme: „Fräulein Koſer, ich habe mir erlaubt, die Leute meines Kontors heute etwas früher nach Hauſe zu ſchicken, weil ich gern ein paar Worte allein mit Ihnen ſprechen möchte. Geſtatten Sie dies?“

„Ellis Herzſchlag ſchien ausſetzen zu wollen. Jetzt kommt eine Erklärung,“ ſagte fie ſich; lieber Gott, wie verhalte ich mich da?" Und laut und mutvoll fügte ſie hinzu: „Das klingt ſo feierlich, Herr Arwed, als wollten Sie mir ein paar Werke zur Katalogiſierung anvertrauen, die außer Ihnen höchſtens noch Guten⸗ berg und Peter Schöffer zu Geſicht bekommen haben.“

Arwed überhörte die Wendung und auch den ab⸗ ſichtlich luſtigen Ton. Er hatte ſeine Uhr gezogen. „Es iſt jetzt ſechs Uhr zweiundzwanzig Minuten,“ ſagte er. „Ich bitte gehorſamſt, bis ſechs Uhr zweiunddreißig ohne Unterbrechung ſprechen zu dürfen. Erlauben Sie dies?“

„Da Ihr Vortrag wahrſcheinlich ſehr intereſſant werden wird, pauſiere ich gern. Wäre ich nicht in

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Ihrem eigenen Zimmer, würde ich Sie bitten, Platz nehmen zu wollen.“

Arwed ſetzte ſich kopfnickend in den Eckſeſſel, ſtand aber gleich wieder auf. „Es iſt doch beſſer, ich bleibe ſtehen,“ meinte er; „ich will damit nicht ſagen, daß es ſich hübſcher macht aber ich glaube, ich ſpreche freier. Die halbe Minute, die dieſe Präludien einnahmen, rechne ich übrigens nicht mit. Ich beginne nunmehr. Ich heiße Martin Arwed, einziger Sohn des Auguſt

riedrich Arwed und ſeiner Ehefrau Mathilde, geborenen leinholz. Beide verſtorben, der Vater erſt vorjährig. Ich zähle einunddreißig Jahr, war noch niemals krank, wenn ich von einem leichten Maſernanfall und einem unbedeutenden Ziegenpeter abſehe, beſitze noch alle meine Zähne nur ein plombierter iſt darunter, und auch bei dem habe ich dem Zahnarzt eigentlich bloß eine Gefälligkeit erwieſen und habe ſo gute Augen, daß ich ſelbſt im Theater keines Opernglaſes bedarf. Ich bin ein mäßiger Raucher, ſchnupfe gar nicht, ver⸗ abſcheue den Kautabak und trinke nur, wenn ich Durſt habe. Ich ſpiele ſchlecht Skat und haſardiere höchſtens in Monte Carlo, ärgere mich aber bereits bei einem Verluſt von zwanzig Franken und gebe dann die Sache auf. Meine Vermögensverhältniſſe liegen dank der eſchäftlichen Umſicht meines Vaters und ſeines Ta⸗ ents für die Bierbrauerei günſtig. Meine Jahres⸗ zinſen betragen rund dreißigtauſend Mark; dazu würden noch die allerdings ſchwankenden Einkünfte aus meinem jungen Geſchäft kommen, die ich auf etwa e Mark beziffern möchte, wobei ich bemerke, mein Lager mehr als das Zwanzigfache wert iſt. Ich habe in Berlin eine Junggeſellenwohnung und in Wannſee eine Villa die meiner Eltern. Außerdem habe ich ein ganz gutes Herz. Alles dies in der Geſamtheit befähigt mich meiner Anſicht nach zum Ehemann.“

„Herr Arwed,“ ſagte Elli, die blutübergoſſen vor ihm ſaß, „ich bitte Sie herzlich —“

Aber er winkte ihr mit einer Hand und zog mit der andern in Andeutung deſſen, daß er noch lange nicht fertig ſei, von neuem ſeine Uhr, atmete raſch einmal tief auf und fuhr unentwegt fort: „Von meinem ſechsundzwanzigſten Lebensjahre ab ſollte ich alljährlich heiraten. Zuerſt die einzige Tochter des Hauptaktionärs

der väterlichen Brauerei; es war dies jedoch eine Dividendenfrage, für die ich mich nicht weiter zu intereſſieren vermochte. Dann fand man ein armes, aber ehrliches Mädchen von adliger Geburt zur Auf⸗ beſſerung meiner Bürgerlichkeit, dann eine liebe Ver⸗ wandte, die mir nichtsdeſtoweniger unendlich gleich⸗ gültig war, dann . . . aber ich will mein geehrtes Publikum mit der Aufzählung derer, die mich glücklich machen ſollten, nicht weiter langweilen, ſondern direkt auf den ſpringenden Punkt meiner Ausführungen eingehen: daß ich mich mit der feſten Abſicht trug, nur dann zu heiraten, wenn mein Herz es verlangte.“

„Herr Arwed,“ ſagte Elli, die plötzlich wieder blaß geworden war, „ehe Sie weiterſprechen —“

Doch Herr Arwed winkte, ſeine Uhr in der Hand, abermals ab. „Gehorſamſt Verzeihung,“ fuhr er fort, „ich habe noch ſechs Minuten Redefreiheit und möchte fie ausnützen. . .. Wenn mein Herz es verlangte, ſagte ich. Das hat nun geraume Zeit gedauert. Ich habe mein Herz genau kontrolliert. Auf vorübergehende Schwankungen ließ ich mich nicht ein: ich wollte eine ſichere Prognoſe haben. Jetzt habe ich ſie. Ich habe eine junge Dame kennen gelernt, die ich lieben mußte. Es war gebieteriſch: Befehl des Herzens, eben jene ordre du coeur, auf die ich wartete. Ich weiß nichts von jener jungen Dame, als was ſie ſelbſt mir erzählt hat. Aber was ſie mir nicht erzählt hat, iſt mehr: die Süße ihrer Erſcheinung und ihres Weſens, ihre reizende Anmut, ihre Klugheit iſt das, was ich fühlte und ſah ... Fräulein Koſer, Fräulein Elvira, Elzevirchen der Weiblichkeit, ich will keine Antwort von heute zu morgen. Ich bitte Sie, überlegen zu wollen, ob das, was ich Ihnen zu bieten vermag, nicht wenigſtens der Überlegung wert iſt. Ob Sie eines unabhängigen, keineswegs fehlerloſen, aber immerhin mannigfach gut gearteten Mannes Frau werden wollen eines Mannes, der Sie von Herzen lieb hat. . .. Womit ich ſchließe.“

Er verbeugte ſich abermals mit einem Zuſammen⸗ ſchlagen der Abſätze, wie es in ſeiner Gewohnheit lag, und verſuchte zu lächeln. Aber das gelang ihm nicht. Bei allem Humor dieſer ſeltſamen Liebeserklärung war die innere Bewegung doch ſo ſtark, daß ſie ſich nicht

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ganz verbergen ließ. Es ging ein eigentümliches Zucken über ſein Geſicht und über das Emaille ſeines Auges ein roſig getönter Schein; auch in den Fingern, die mit einem kleinen ſilbernen Falzbein ſpielten, zitterte die ſeeliſche Erregung nach, als rühre ſie machtvoll an Nerven und Fibern.

Alles dies entging Elli nicht. Sie hatte das Ge⸗ fühl, daß ſie raſch antworten müſſe, ſofort, und ſie tat es. Während ſie mit haſtiger Handbewegung ihre Zettel zuſammenſchob, erhob ſie ſich und ſagte, dem ihr Gegenüberſtehenden offen in das Auge ſchauend: „Lieber Herr Arwed, zuerſt meinen Dank, daß Sie mir Zeit zur Überlegung gönnen. Ich bedarf ihrer in der Tat Ihre Worte ſind mir ſo überraſchend gekommen, daß ich nicht die Faſſung finden würde, Ihnen auf der Stelle meine Entſcheidung zu geben. Laſſen Sie uns für heute als gute Freunde ſcheiden.“

Sie gab ihm die Hand. Er drückte ſie feſt und be⸗ wegte die Lippen, als wolle er noch etwas ſagen. Dennoch ſchwieg er und ſchweigend half er Elli in ihr Jackett und geleitete ſie bis zur Tür, die auf den Treppengang des Hauſes führte. „Alſo auf morgen,“ ſagte ſie freundlich und reichte ihm nochmals die Rechte, die er diesmal mit ſchneller Bewegung an ſein Herz zog. ö

Elli wäre gern zu Fuß nach Hauſe gegangen; ihr war fiebrig zu Mute. Aber das Wetter hatte ſich ge⸗ wandelt. Die Linden hinab fegte ein eiſiger Sturm, der ſchwere, kalte Regentropfen vor ſich her ſpritzte. Elli ſchauerte zuſammen, rief eine Droſchke an un ſtieg ein. Während das Gefährt über das Pflaſter holperte, liefen die Gedanken des Mädchens wirr durcheinander; es war ein Hüpfen und Springen von abgeriſſenen Denkfetzen, die ſich zu keinem klaren Bilde einen wollten. Und trotz der Aufregung, in der ſie ſich befand, kämpfte ſie auch mit einem Gefühl von Müdig⸗ keit. Ein krampfhaftes Gähnen reizte ſie; ſie lehnte ſich in die Wagenecke und eli die Augen, weil das Vorüberhuſchen der Straßenlichter am Fenſter ſie nervös machte.

Als ſie daheim in das Speiſezimmer trat, ſaß Chriſtel bereits am Tiſche und las einen Brief. „n Abend, Ellichen,“ rief ſie lebhaft, „denke dir, da ſchreibt mir

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Vater .. . und plötzlich ſchien ihr einzufallen, daß fie ja immer noch die heftig Gekränkte zu ſpielen hatte, und ſo dehnte ſie denn ihr Geſicht, verzog den Mund und ſchloß ohne weiteres: „Ach ſo .. . entſchuldige!“ f 7 ruhig Platz. „Was ſchreibt dein Vater?“ ragte ſie.

Chriſtel ſtützte den Kopf in die Hände und ſchaute Elli ſchelmiſch an. „Ich ſage es nicht eher, bis du mir erklärt haſt, daß du wieder meine liebe Ellimaus biſt.“

„Sobald du deine unnötige Maulerei läßt.“

„Maulerei iſt kein feines Wort. Du haſt mich tödlich beleidigt.“ N

„Ich habe mir nur erlaubt, die Wahrheit zu ſagen.“

„Aber die Wahrheit kann auch manchmal wehe tun.“

„Das beſtreite ich nicht, halte ich zeitweilig ſogar für gut. Nun komm her, Miezekatze, gib mir einen Kuß, ſei künftighin ein ganz klein biſſel verſtändiger und die Sache iſt abgemacht.“

Chriſtel ſprang auf, ſetzte ſich auf Ellis Schoß, umarmte und küßte ſie und ſchmeichelte ſich an ſie heran. „Liebes gutes Ellichen,“ ſagte ſie unter nied⸗ lichem Spitzen des Mäulchens, „daß du mir überlegen biſt, ich meine in Sachen der Klugheit und insgeſamt des Verſtandskaſtens, das weiß ich ja. Aber du mußt nicht immer damit auftrumpfen, und wenn du mir einmal die Wahrheit geigſt, mußt du es mehr in Moll tun und nicht immer gleich in heftigſtem Fortiſſimo. Ich bin eine ſchreckliche Widerſtandsbürſte und auch ein Brauſekopf, aber nachher iſt mir's regelmäßig leid, und wenn du wüßteſt —“

Elli ſchloß ihr den Mund mit den eigenen Lippen. „So, mein Kind, das war der Schlußpunkt. Nun ſetz dich wieder auf deinen Stuhl; du biſt zwar eine ſüße Laſt, aber doch keine federleichte. Schenk uns den Tee ein und erzähle endlich: was ſchreibt man aus Emmenthal?“

„Folgendes,“ rief Chriſtel. Nun goß ſie mit der rechten Hand den Tee ein und hielt in der linken den väterlichen Brief, aus dem ſie vorlas: „Daß Deine Freundin Elvira mit Herrn Martin Arwed bekannt geworden iſt, hat mich um ſo mehr intereſſiert, als ich mit ihm ſeit Jahren in Geſchäftsverbindung ſtehe und die meiſten ſeiner Ankäufe in Holland vermittle. Viel⸗ leicht wirſt du ihm auch einmal vorgeſtellt, und dann

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grüße ihn nur herzlichſt von mir. Er iſt einer unſrer gewandteſten Antiquariatsbuchhändler und kann einmal der deutſche Quaritch werden' wer iſt das?“

„Auch ſo einer.“

„Danke. Außerdem iſt er ſehr reich,“ ſchreibt Vater. Dieſe Bemerkung hat mich ſtutzig gemacht, Elli. Mir ſcheint, es würde Vatern nicht unlieb ſein, wenn ich mit Herrn Arwed bekannt würde.“

Elli nickte. „Es hätte ſich dazu längſt eine Gelegen⸗ heit finden können. Nun iſt es leider zu ſpät geworden.“

„Warum zu ſpät?“

„Weil ich meine Arbeit bei ihm aufgeben muß.“

„Nanu?! Sit er du, iſt er frech geworden?“ er ſah ſehr RN aus,

Elli ſchüttelte den Kopf. „Im Gegenteil er hat mir heute in aller Form, wenn auch in etwas origineller, einen Heiratsantrag gemacht.“

Chriſtel ließ ihren Zwieback in die Taſſe fallen. Der Tee ſpritzte. „Einen Hei—Hei—Hei—“

B vollendete Elli. „Verſchlückre dich nicht!

„Ich tat's ſchon. Ich habe mir auch die Zunge verbrannt. O Gott, Elli! Du kennſt ihn doch erſt ſeit drei Wochen!“

„Die Liebe kennt kein Maß der Zeit, ſagt irgendwer.“ 9 150 A Sie kommt gewöhnlich auf den Plutz.

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„Ich ſoll mir meine Antwort bis morgen überlegen. Aber ich habe ſchon überlegt.“

„Na und —?“

„Ich werde ihm abſchreiben.“

„Aber Elli! So ohne weiteres?!“

„Ja.

Chriſtel faltete die Hände auf dem Tiſche. „Ellichen nun freilich, auf mich hörſt du ja doch nicht aber wenn ich dir raten darf: folge nicht der erſten Ein⸗ gebung. Ich kann mir zwar denken: du möchteſt keinen Bürgerlichen, vielleicht auch keinen Buchhändler —“

„Chriſtel, red nicht ſo töricht,“ fiel Elli ein. „So gut mußt du mich doch nachgerade kennen, zu wiſſen, daß mir derlei Erwägungen fremd ſind!“

„Alſo du liebſt ihn nicht und deshalb willſt du nicht?“

„Deshalb will ich nicht.“

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Chriſtel ſah vor ſich nieder. „Du haft ein kühles Herz, das weiß ich ja längſt,“ ſagte ſie langſam und fuhr dann ſchneller fort: „Ich beneide dich darum. Es iſt tauſendmal beſſer als ſo ein dummes Herze, das gleich in Flammen ſteht und das man mit aller Gewalt löſchen möchte und manchmal iſt's gar nicht möglich an man fühlt ſelber, daß man zu ſchwach dazu ift und

ann —“

Sie wiſchte über ihre Augen und ſchluchzte auf.

„Närrchen, was heulſt du denn?“ rief Elli erſtaunt.

„Mir iſt ſo,“ antwortete Chriſtel trotzig.

„Miezekatze, du gefällſt mir nicht. Dir ſitzt irgend eine Dummheit im Kopfe. Biſt du wieder verliebt?“

„Ach was, Unſinn! Verliebt haha!“

„Nimm's nur nicht übel, daß ich fragte. Im übrigen, Chriſtel, was du da ſagteſt: ein kühles Her, 15 beſſer als ein empfindſameres ich weiß nicht, o

as richtig iſt. Manchmal ſorge ich mich um mein

Herz. Das tat ich ſchon in der Penſion. Ich verſtand eure harmloſen kleinen Leidenſchaften gar nicht und ſpürte dabei: es fehlte mir etwas. Nicht die Wärme der Liebesmöglichkeit Herrgott, nein —, aber, wie ſoll ich ſagen: das Zündende das Elementare! Das muß doch dabei ſein, das iſt die Vorausſetzung. Iſt die Leidenſchaft nicht das treibende Agens der Liebe?“

Chriſtel ſtarrte ſie mit großen Augen an und nickte da⸗ bei. „Ja natürlich, Elli. Wenigſtens bei der rechten Liebe, der feuerroten, nicht bei der blaſſen, die bloß Liebelei iſt. Nicht bei unſern Penſionsalbernheiten. Aber jo die wirkliche Liebe, die iſt gar nicht zu trennen von der Leidenſchaft und wenn die Leidenſchaft erſt kommt —“

„Du heulſt ja ſchon wieder, Chriſtel!“ rief Elli. „Du haſt ja die Augen voll dicker Tränen!“

„Es iſt zu albern,“ ſchluchzte Chriſtel, „ich bin immer gleich wie 'ne Waſſerleitung —“

Elli war aufgeſtanden, faßte Chriſtel unter das Kinn und ſchaute ſie ernſt an. „Nun mal die Wahr⸗ heit, Mauſi: was haſt du?“ . „„Ich bin bloß nervös,“ meinte Chriſtel, „jo ſchreck lich nervös“ ... Die Farben flogen über ihr Geſicht: rot, weiß, gelb. Sie zitterte. Elli zählte ihren Puls.

„Du fieberſt, mein Herz. Du haft dich erkältet“ Sie ſchellte. Die Gulla trat ein... „Gulla, Flieder⸗

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tee!“ befahl Elli; „eine gehörige Portion. Und eine Wärmflaſche für Fräulein Chriſtel. Sie hat e 8

„Aber ich glühe ja ſchon!“ ſchrie Chriſtel.

„Eben deshalb, erwiderte Elli unerbittlich.

„Is ſich immer gutt Warmflaſch,“ ſagte die Gulla. „* 2 N Fräulein 1 ſchwitzen

Aber feſte,“ rief Elli. „Gib ihr doppelte Bett⸗ decken, Gulla. Bis an 115 Naſe eingepackt, Chriſtel⸗ chen. Faß an, Gulla! Wir bringen ſie in die Klappe.“

Chriſtel widerſprach nur noch leiſe weinend. Binnen zehn Minuten lag ſie im Bett, und Elli ſaß neben ihr und flößte ihr Fliedertee ein. Die Gulla kniete vor der Ofentür und heizte. Das Feuer bullerte ſchon. „O Gottedoch,“ ſtöhnte Chriſtel, „ich kann nicht mehr!“ „Noch drei Schluck, Chriſtelchen,“ bat Elli; „morgen biſt du wieder geſund“ „Ich glaube nicht,“ ſeufzte Chriſtel, „es ſitzt tiefer“ ... „Papperlapapp, wir treiben's heraus! Und nun ganz ſtill liegen. Die Tür zu meinem Zimmer laſſe ich offen. Wenn du nachts⸗ über etwas willſt, rufe mich. Gute Nacht, Chriſtel⸗ chen ...“ Sie küßte fie auf das Näschen, da nichts . von ihr zu ſehen war, und ging.

Die Gulla folgte ihr. „Is ſich tüchtig verkältet kleines Fräulein Chriſtel,“ ſagte ſie.

„Entweder das oder das. Fliedertee ſchadet nie.“

„Js ſich's Beſte von allen,“ erwiderte die Gulla ernſt. „Wo's ſitzen tut: Fliedertee treibt.“

Sie räumte den Tiſch ab, und Elli ging an ihre Schreiberei. Eigentlich ſollte die Geſchichte von Barthel Wigelis heute ihr Ende finden; aber nun lag Wich⸗ tigeres vor.

Sie ſteckte eine neue Feder in den Halter und legte ſich Briefpapier zurecht. Doch ehe fie zu ſchreiben be⸗ gann, verſuchte ſie noch einmal ihre Gedanken zur Ein⸗ kehr zu zwingen und zu einer ernſtlichen Prüfung.

Sie ſtellte ſich vor, ſie ſagte Ja zu der Werbung des Herrn Arwed und würde ſeine Frau. Dann war ihr eine ſorgenloſe Zukunft ſicher, und mehr als das: ein Leben jener Behaglichkeit, wie verhältnismäßig reiche Mittel es geſtatten und ausbauen zu helfen ver⸗ mögen. Auch Arweds Beruf war ihr ſympathiſch. Es war keiner der „ariſtokratiſchen“; der „Koofmich“ hatte ſich in den Kreiſen des Adels noch keine feſte Stellung

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geſchaffen. Sicher: Tante Dorothea würde hochmütig die Naſe gerümpft haben und auch Onkel Wolfrad kaum einverſtanden geweſen ſein.

Aber das war ihr gleichgültig. Sie wollte kein Leben für andre leben. Sie wünſchte ſich auch, ein Mitarbeiter ihres Mannes ſein zu können. Und gerade dieſer Handel mit den Druckwerken der Vergangenheit, der reiche wiſſenſchaftliche Kenntniſſe vorausſetzte und zugleich auch auf das weite Gebiet freier Forſchung führte, hatte tauſend Reize für ſie. Schon die rein äußerliche und in gewiſſem Sinne mechaniſche Be⸗ ſchäftigung mit einer Materie, die ihrer Phantaſie An⸗ regung gab und ihr neue Horizonte eröffnete, hatte ſie mit großer Freude erfüllt.

Sie malte ſich auch noch einmal die Erſcheinung Arweds aus. Er war unleugbar ein hübſcher und ſtatt⸗ licher Mann, war ganz gewiß das, was er von 11 ſelber ſagte: „Keineswegs fehlerlos, aber mannigfa gut geartet“; war klug und ſchmiegſamen Geiſtes, war eine liebenswürdige Natur, in ſich gefeſtet, das ſpürte man, und auch begabt mit jenem Humor, der uns über des Lebens Unebenheiten flotter hinweghilft als ein in Trübnis ſich einſpinnendes Gemüt. Und er war un⸗ abhängig und liebte ſie.

Ja, er liebte ſie. Er kannte ſie nur als arme kleine Studentin, die zu ihm gekommen war, um ſich einen Nebenverdienſt zu ſchaffen; er wußte nicht einmal, daß ſie von Adel war. Er hätte reichere, vielleicht auch hübſchere Mädchen ſein eigen nennen können: aber er wollte fie, die er liebgewonnen hatte.

Die alte Phraſe, daß Liebe immer Gegenliebe er⸗ wecke, fiel ihr ein. Sie fragte ſich auch in vollem Ernſt, ob nicht die Zeit noch kommen könne, da ſie dieſen braven Menſchen lieben lernen werde. Gab ſich auch zu, daß dies möglich, ſogar wahrſcheinlich ſei. Und dennoch ſchwankte ſie.

Nein, ſie ſchwankte nicht. Ihr Entſchluß ſtand feſt. Sie konnte nicht Ja ſagen. Im gleichen Augenblick, da ſie die Möglichkeit dieſes Ja erwog, fühlte ſie ein körper⸗ liches Unbehagen, ſo übermächtig werdend, daß ihr die Perſon Arweds faſt widrig erſchien.

Sie dachte an das „Eva, wo biſt du?“, von dem ihr einſt Karla geſprochen hatte; aber ſie hörte es nicht.

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Es blieb ftill in den Tiefen ihres Herzens; feine Stimme ſprach da, kein Quell ſprang auf, kein Wehen ging. Kühl blieb es und ſtill.

Sie ſetzte die Feder an und ſchrieb:

„Sehr geehrter Herr Arwed!

Ich will mein Wort halten: Sie ſollen ſchon morgen in Beſitz meiner Entſcheidung ſein. Vergeben Sie mir, daß ſie nicht nach Ihren Wünſchen ausfällt. So ehrlich wie Sie, will auch ich ſein. Sie ſagten mir, daß Sie bei einer Heirat nur Ihr Herz ſprechen laſſen wollten. ſprich lich Standpunkt, den ich teile. Aber mein Herz pricht nicht.

Das klingt ſchroff und eiſig. Ich weiß es wohl. Und da ich dieſe Worte niederſchrieb, dünkte es mich beinahe, ich hätte eine vermittelndere Wendung finden können. Aber auch eine ſchöner geſchliffene und ver⸗ bindlichere würde die herbe Wahrheit nicht in ihr Gegen⸗ teil verkehrt haben.

Zürnen Sie mir nicht, wenn ich Sie bitte, den Reſt der Katalogaufnahmen in meiner Wohnung bearbeiten zu dürfen; ich werde für eine tadelloſe Rückſendung der Druckſchriften Sorge tragen.

Lieber Herr Arwed, meine Antwort wird vielleicht ſchmerzlich für Sie ſein. Als Ehrenmann werden Sie ſich aber auch ſagen müſſen, daß meine Offenheit das

t

rechte iſt. Mit freundſchaftlichem Gruße Ihre ergebene Elvira Koſer.“

Sie adreſſierte den Brief und ſtand auf und behielt einen Augenblick das Kuvert in der 1 15 und ſchaute ſtarr in die Lampe. Ein kaltes Rieſeln überſtrömte ſie zum erſtenmal empfand ſie im Gefühl des Allein⸗ ſeins eine heftige Sehnſucht nach Anſchluß.

Sie warf den Brief auf den Tiſch zurück, nahm die Lampe und ging leiſe in das Schlafzimmer Chriſtels. Die ſchlief ruhig und ſanft; zwiſchen den Kiſſen ſah man immer noch nichts weiter von ihr als das Näschen, auf dem ein Schweißperlchen glitzerte.

Ein Weilchen blieb Elli ſtehen, ehe ſie ihr eigenes Schlafgemach aufſuchte. Dieſe kindiſche Kleine war ihre einzige Freundin. Und wen hatte ſie Dr noch auf der Welt, an dem ihr Herz hing? Karla und

me he

Hans⸗Jaſper. Karla war weit und Hans⸗Jaſper „Dummer Junge“, ſprach ſie leiſe vor ſich hin und lä⸗ chelte. Aber das Lächeln ſah müde aus. 8

12. Pkkavio, das will mir nicht gefallen!

Zwei Tage ſpäter hatte Elli die Geſchichte vom Barthel Wigelis beendet, packte ſie ein und ſchickte ſie forſch an die Redaktion eines unſrer geleſenſten

amilienblätter. Das war am ſelben Tage, da ein von

ienſtmännern gezogener Handwagen vor der Türe

ihres Hauſes hielt und ihr eine Unlaſt Bücherpakete in

das Zimmer getragen wurden. Dazu ein Brief von Herrn Arwed, der folgendermaßen lautete: „Hochverehrtes gnädiges Fräulein!

ch danke Ihnen aufrichtig für ihre offenherzige

Antwort, betrachte Ihre Entſcheidung aber noch nicht

als endgültige.

Ihrem Wunſche entſprechend überſende ich Ihnen den Reſt der Liederſammlung mit den nötigen Quellen⸗ bene und erwidere Ihre freundſchaftlichen Grüße ebenſo

als Ihr gehorſamſt ergebener Martin Arwed.“

Ende November war Elli mit der Katalogiſierung fertig und ſchickte die Zettel, Heſte und Bücher an Arwed zurück. Umgehend erfolgte an „Fräulein Elvira Koſer“ das ausbedungene Honorar und dazu als „Zei⸗ chen beſonderer Dankbarkeit“ ein ſeltſames Schmuck⸗ ſtück: eine Broſche in Form eines winzigen Büchelchens mit der eingravierten Inſchrift „Elzevir“.

Chriſtel fand die Idee allerliebſt. Elli ſagte nichts, legte die Broſche fort und ſchrieb eine Dankzeile an Arwed. Sie glaubte, daß damit ihre Verbindung mit ihm erledigt ſei.

Nun kam der Dezember heran. Hans⸗Jaſper fand ſich gelegentlich wieder ein, erklärte, es ſei jetzt Zeit zu der Viſitentour und begann auch ſogleich einen Schlacht⸗ plan zu entwerfen. Von ſeiner Liſte ſtrich Elli die Hälfte; es blieben die Gräfin Zicka (mit Bangen, aber als notwendiges Übel), Baron Knelling, Miniſter von Leiſter, Geheimrat von Plöhn, der Reichskanzler,

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der Kriegsminiſter ... „Intereſſiert mich gar nicht!“ rief Elli. „Iſt aber unvermeidlich,“ entgegnete Hans⸗ Jaſper, „das verſtehſt du nicht. Ferner werfen wir Karten ab beim amerikaniſchen, ruſſiſchen, belgiſchen, japaniſchen Botſchafter reſpektive Geſandten da iſt's am nettſten. Außerdem beim Oberſtkämmerer und Oberhofmarſchall —“ a

„Halt!“ rief Elli. „Hanni, wann ſoll ich denn eigentlich arbeiten, wenn ich jeden Abend in Geſell⸗ ſchaft muß?“

„Das ſind Privatangelegenheiten,“ erwiderte Hans⸗ Jaſper, „die mich nichts angehen. Ich erfülle die Be⸗ fehle meines gnädigen Herrn Vaters.“

„Da werde ich merſchtenteils abſagen,“ erklärte

t.

„Ich werde niemals abſagen,“ rief Chriſtel.

Es war beſchloſſen worden, Chriſtel überallhin mit⸗ zunehmen. Der bürgerliche Name ſtörte höchſtens bei Hofe; die Hofvorſtellung Ellis aber ſollte unter dem Schutze von Onkel und Tante erſt im Januar erfolgen. Hans⸗Jaſper packte ſeine ruinierte Liſte wieder ein, hatte aber ſonſt noch verſchiedene Wünſche. Wie war's zum Beiſpiel mit der Menuettſtunde bei der alten Walzel⸗ Korneck? Wie mit dem Anſchluß an irgend eine Tennispartie? Wie mit der Beteiligung an den ver⸗ ſchiedenen Wohltätigkeitsfeſten der Saiſon, an dem großen Jahresbaſar der Zicka, dem Liebhabertheater der zweiten Gardedragoner, dem Kavalierball im Kaiſer⸗ hofhotel, dem Regimentsball der Gardedukorps, dem Kolonialball, dem Ball für die Säuglingsheime an der Nordſeeküſte?

„Machen wir alles mit!“ ſchrie Chriſtel aufgeregt. Elli hielt ſich die Ohren zu. Aber Hans⸗Jaſper war energiſch. Am nächſten Tage traf ein Telegramm von ihm ein: „Donnerstag mittag zwölf in Viſitentoilette fertig halten. Hole euch ab.“ Und pünktlich um zwölf Uhr mittags am Donnerstag hielt eine elegante Equi⸗ page vor dem Hauſe, und Hans⸗Jaſper erſchien, muſterte vergnügt die beiden hübſchen Erſcheinungen (Elli trug, das ſchwer errungene Koſtümkleid aus dem Atelier Hausmann) und fuhr mit ihnen davon. Auf dem Bock des Wagens ſaß neben dem Kutſcher der Diener Hans⸗ Jaſpers und trug die Viſitenkarten aus. Es war eine

T

Spazierfahrt mit zahlloſen Stationen. Nirgends wur⸗ den die drei angenommen. „Eine prachtvolle Sitte,“ ſagte Hans⸗Jaſper, „denkt euch, wie entſetzlich, wenn wir jedesmal treppauf treppab klettern und überall dieſelben Phraſen dreſchen müßten! Die Jours fixes haben dieu merci die albernen Viſitenempfänge un⸗ nötig gemacht.“

Aber an einer Stelle wurden ſie doch angenommen: bei dem Staatsſekretär von Leiſter. Da war Theda Leiſter die Neugierige. Sie war lange krank geweſen, hatte ſich eine Lungenentzündung geholt und war erſt vor kurzem aus Montreux heimgekehrt. Sie ſah noch ſpitz aus, tat aber ſehr glücklich, die beiden Penſions⸗ freundinnen wiederzuſehen, erzählte, daß ſie erſt im nächſten Jahr mit der Univerſität beginnen würde, daß ſie aber die Abſicht habe, ſich dafür den Winter über kräftig zu amüſieren. „Du gehſt doch auch zu Hofe?“ fragte ſie Elli mit einer Betonung, als ſei dies Zuhofe⸗ gehen der Inbegriff irdiſcher Glückſeligkeit. Elli nickte, und Chriſtel zog ein trauriges Geſicht: ſchrecklich, daß ſie nicht auch hoffähig war! Dann kam Frau von Leiſter und ſchließlich noch ein junger Leiſter mit auf⸗ fallend hohem Kragen und kleinem blonden Bürſten⸗ ſchnurrbart: Referendar am e der ſo⸗ fort vom Menuettzirkel bei der Walzel⸗Korneck begann. Dieſer Menuettzirkel ſchien etwas ganz Beſonderes zu

ſein.

„Gott ſei Dank, daß wir die Familie Kleiſter über⸗ nen haben,“ ſagte Hans⸗Jaſper bei der Weiter⸗ ahrt.

„Leiſter,“ korrigierte Elli lachend.

„Sie wird aber Kleiſter genannt,“ fuhr Hans⸗Jaſper fort, „weil ſie ſich überall heranwirft und kleben bleibt. Das tut das Adelsnovum ...“ Hans ⸗Jaſper hatte ſeinen ſpöttiſchen Tag. Er ſtreute Bosheiten aus, wo man hinkam. Zwiſchen Reichskanzlerpalais und ruſſi⸗ 5 Botſchaft wurde ein Halt eingelegt. Da früh⸗ üdte man im Hotel Briſtol.

„Wollen wir uns erkundigen, ob Katja noch oben iſt?“ fragte Elli.

„Die iſt im Kolleg,“ ſagte Chriſtel.

„Wer iſt Katja?“ fragte Hans⸗Jaſper, und als er vernahm, es ſei dies die oftgenannte Prinzeſſin Sche⸗

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waſchidſe, wurde ſofort der Oberkellner beauftragt, nach ihr zu forſchen. Der Oberkellner entſchwand, kehrte wieder und meldete mit mildem Lächeln, durch⸗ lauchtigſte Fürſtin geruhten noch im Bette zu liegen.

Da es zwei Uhr am Tage war, erregte dies gelinde Verwunderung. „So ein Faultier!“ rief Elli. Dann kritzelte ſie ein paar Zeilen auf ihre Viſitenkarte und ſchickte ſie zu Katja. Katja ließ wiederſagen: einen Augenblick ſie käme gleich.

Der Augenblick währte eine halbe Stunde. Aber dann erſchien ſie wirklich, küßte die Freundinnen haſtig und auch geräuſchvoll ab und drückte Hans⸗Jaſper über⸗ aus kräftig die Hand. Sie ſah ſehr gut aus: etwas ſtark überpudert, aber reizend pikant, blinkte luſtig mit den Schlitzaugen umher und lachte, daß man alle ihre Zähne ſah. Chriſtel brachte mit raſcher Hand ein langes Band in Ordnung, das ihr hinten über den Rockſchluß fiel. Katja ſchien noch nicht ſo recht fertig angezogen zu ſein; ſie trug einen geſtreiften engliſchen Rock und eine Baſtbluſe, darüber eine Pelzjacke; über der Stirn war der Rotſchopf gehörig friſiert, am Hinterkopf das Haar ſichtlich in Windeseile über den Finger gerollt und aufgeſteckt worden.

„Wir dachten, du ſeieſt im Kolleg,“ ſagte Elli.

„J Gott bewahre,“ entgegnete Katja. „Was iſt heute für ein Tag? Donnerstag an den Donners⸗ tagen pauſiere ich immer. Da ruh' ich mich aus. Der Menſch muß auch einmal ſeine Ruhe haben. Ihr ſeid ſchon beim Sekt, ich habe noch nichts im Magen ...“ Hierauf beſtellte ſie ſich ihr erſtes Frühſtück, das nicht gewöhnlich war. Sie goß einen Schuß Meukowkognak in ein großes Glas, auf dieſen das Gelbe von drei rohen Eiern, auf dieſes einen Schluck Marnierlikör: ſtreute Zucker darüber und löffelte es aus. Dann be⸗ fahl ſie ein Tartarbeefſteak und erbat ſich von Hans⸗ Jaſper ein Glas Sekt. Mit Hans⸗Jaſper begann ſie nach den erſten fünf Minuten ein neckiſches Plänkeln. Sie fand es ſehr niedlich, daß er die beiden Mädel be⸗ mutterte, und erklärte, nun wolle ſie ſich auch auf die Viſitenjagd machen: ihr Botſchafterpaar habe ſchon ge⸗ nügend gemahnt, aber die Geſchichte ſei ihr bisher zu langweilig geweſen. Als Elli zum Aufbruch rüſtete (denn man hatte noch eine Reihe Beſuche auf der Liſte),

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wurde ſie böſe, zog Chriſtel in eine Ecke und flüſterte eifrig in ſie hinein und verlor hierauf einen ihrer kleinen Ladſchuhe; der auf dem Teppich unter dem Tiſche Reden geblieben war und von Hans⸗Jaſper entdeckt wurde.

„Ein höchſt drolliges Frauenzimmerchen,“ ſagte Hans⸗Jaſper im Wagen, „ein intereſſantes Produkt verſchiedener ſogenannter Kulturen, die ſich gegenſeitig abſtoßen wie die magnetiſchen Pole. Halb⸗Aſien und Ganz⸗Aſien in weſteuropäiſcher Erziehungstunke. Noch etwas ungebärdiges Füllen, bei dem die Dreſſur ſich aber lohnen würde.“

„Sie iſt ein furchtbar gutmütiger Kerl,“ ſagte Chriſtel.

„Eben darum,“ antwortete Hans⸗Jaſper.

An einem der nächſten Tage wurde Elli eine kleine Freude zuteil. Sie erhielt das Manuſkript ihrer Ge⸗ ſchichte von Barthel Wigelis von der Redaktion der Zeitſchrift zurück, an die ſie ſie geſchickt hatte, aber mit einem Brief, der trotz der Ablehnung ſehr ermutigend klang. Die Redaktion ſchrieb, man habe die kleine Er⸗ zählung mit größtem Intereſſe geleſen; ſie bekunde ein ungewöhnliches Formtalent, ſei ſehr amüſant, auch trefflich in der Charakteriſtik und im Zeitkolorit; nur ſei ſie für jene Leſerkreiſe, an die ſich die Zeitſchrift wende, zu realiſtiſch gefaßt (was natürlich an ſich durch⸗ aus kein Fehler ſei) man rate, ſie der Redaktion der „Neuen Revue“ zu unterbreiten, die minder maß⸗ gebende äſthetiſche Rückſichten zu nehmen habe. Das Lob freute Elli, über den Begriff „realiſtiſch“ war ſie ſich noch nicht recht im klaren; aber ſie folgte dem ge⸗ gebenen Rat, packte Herrn Wigelis und ſeine Schelm⸗ Neu abermals ein und verſchickte ihn an die „Neue

evue“, die ſie nicht einmal dem Namen nach kannte.

Die Wirkung der großen Beſuchstournee machte ſich ſofort fühlbar. Zuerſt traf eine Einladung der Gräfin Zicka ein, keine gedruckte, ſondern ein freundlich ge⸗ haltener Brief: die Gräfin habe durch ihre Freundin, die Baronin Koſer, ſchon ſo viel von den beiden kleinen Studentinnen gehört, daß ſie begierig ſei, ihre perſön⸗ liche Bekanntſchaft zu machen ... „und jo weiter“, ſagte Elli; „Chriſtel, es hilft nichts, da müſſen wir hin.“ Chriſtel wollte ſich zu dieſer Eröffnung der Geſellſchafts⸗

8,

faifon beſonders ſchön herausputzen, doch Elli war für einfache Toilette. „Es iſt nur ein ſogenannter Emp⸗ fangsabend,“ meinte ſie, „und die Gräfin iſt ihrer Natur nach mehr auf Clairobſkur geſtimmt als auf Farben⸗ freudigkeit ...“

Es war fürchterlich langweilig bei der guten Gräfin, aber Hans⸗Jaſper hatte gleich einen Troſt bei der Hand. „Nächſten Donnerstag wird's amüſanter,“ ſagte er. „Da iſt Rout beim Reichskanzler; das wird euch Spaß machen. Einladungen kriegt ihr, dafür iſt geſorgt ...“

Und richtig: ſchon am nächſten Tage traf die Ein⸗ ladung nach dem Reichskanzlerpalais ein. Hans⸗Jaſper in feiner Unermüdlichkeit holte die Mädchen ab, die diesmal elegantere Abendtoilette angelegt hatten. Chriſtels Herz ſchlug gewaltig. Herrgott, wenn man in Emmenthal wüßte, daß ſie beim Kanzler des Deutſchen Reichs zu Gaſt gebeten war! Sie machte zuerſt große Augen, als ſie in dem alten Radziwillpalais die Treppe hinaufſchritt und auf jeder Stufe galonierte Diener mit gepuderten Köpfen ſah. Alle Wetter, bei den Stadt⸗ feſten im Rathauſe zu Emmenthal machte man weniger Umſtände! Aber dann tat ſie, als ſei ſie alles das gar nicht anders gewöhnt, hob das Näschen, warf ihre Schleppe zurück und rauſchte neben Elli her. Im erſten Vorzimmer ſtand der Kanzler zum Empfange der Gäſte bereit und gab Hans⸗Jaſper freundlich die Hand. „Tag, lieber Koſer, was macht der Papa? Ah das ſind 75 Pfleglinge! Meine gnädigſten Damen

ieder ein Händedruck, dann wellte der Menſchen⸗ ſtrom weiter in das nächſte Gemach, wo die Fürſtin empfing. Ein junger Huſarenoffizier, der Hans⸗Jaſper perſönlich unbekannt war, ein Neffe des Kanzlers, hatte die Vorſtellung übernommen und machte dies ſehr ge⸗ wandt; ſein hübſcher Puppenkopf glühte vor Eifer. „Bitte die Namen Ihrer Damen,“ raunte er Hans⸗ Jaſper zu. Der flüſterte ſie eilends zurück. Nun machte der junge Huſarenoffizier eine ſchöne Handbewegung nach der Fürſtin hin und rief wie ein Huiſſier: „Fräulein von Poſer! Fräulein von Bungart!“ Korrekturen waren in der Eile nicht möglich; die Mädchen knixten, die Fürſtin reichte ihnen die Hand zum Kuſſe, und dann wellte der Menſchenſtrom weiter in das nächſte Gemach.

Die Mädchen ließen ſich treiben; Hans⸗Jaſper blieb

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ihnen auf den Ferſen. Du lieber Gott, war das eine Fülle der Geſichte! Aber es war doch ganz anders als bei der Zicka, es war höchſt pläſierlich. Hans⸗Jaſper, heute in blauem Koller, den Stahlhelm in der Hand, machte den Führer; er kannte alle Welt. Vor Beginn der Weihnachtsferien hatte der Kanzler auch noch ein⸗ mal die Mitglieder der Parlamente um ſich verſammelt. Sie ſaßen ſchon ſelbander an den Tiſchen im großen Mittelſaal, in dem einſt der Berliner Kongreß getagt hatte und jetzt die Büfetts aufgeſchlagen waren, und ließen ſich Hummer und Rheinlachs ſchmecken. Die Fraktionen hielten zuſammen. Da waren die Deutſch⸗ konſervativen mit dem unverkennbar agrariſchen Ein⸗ ſchlag, rüſtige Männer mit ſonnenbraunen Profilen, zum Teil typiſche Erſcheinungen des norddeutſchen Adels, da wieder die Häupter des Liberalismus, unter ihnen manches intelligente Geſicht von jüdiſcher er nung, und dicht daneben ihre waſchechteſten Wider⸗ ſacher, die Antiſemiten. In einer Ecke die Fürſtenbank aus dem Herrenhauſe, in einer andern die Generäle der Reichspartei: ein wirklicher Herzog links, ein be⸗ häbiger kleiner Israelit zur Rechten und in der Mitte der wohlbekannte Parlamentarier mit der angeſetzten falſchen, weiß leuchtenden Naſe im graufarbigen Greiſen⸗ geſicht. Und im wogenden Auf und Ab ringsum unter dem Schwarz der Fräcke Farbentupfen zuhauf: blin⸗ kende Ordensſterne und glänzende Uniformen, lichte Toiletten und weiße Hälſe, und in allen Schattierungen ee Haares das Blitzen und Gleißen von Edel⸗ einen.

Ein hübſches Bild. Chriſtel war ganz betäubt. Sie knixte fortwährend. Hans⸗Jaſper hatte viel vor⸗ zuſtellen. Hier war alles, was auch in ſpäteren Ge⸗ ſellſchaften zu treffen war: Hof, Kunſt, große Finanz. Aufgepaßt, Kinder Gräfin Ix, Komteß Tochter Exzellenz YPpſilon Geheimrat Aſtein, Herr von Beſtein, Frau von Zehſtein Kommerzienrat Meier, Baronin Dreyer, Kammerherr von Ittwitz, Schloß⸗ hauptmann Graf Prittwitz ... Knix, Knix, Knix. Name iſt Schall und Rauch; keiner blieb haften. Aber dieſer und jene, die Hans⸗Jaſper und die Falkenhagener kannten, fanden auch im Trubel ein liebenswürdiges Wort der Begrüßung. Eine ſcharmante Gräfin ns die

XXVI. 14.

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Mädchen, ſich den ſechzehnten Januar vorzumerken; da ſei Ball bei ihr. Ein rothaariger Kammerherr plauderte ſich ein Viertelſtündchen feſt; die Gattin des japaniſchen Geſandten ſchien ganz beſonderes Gefallen an Elli zu finden; ein alter General mit pockennarbigem Geſicht ſetzte ſich neben Chriſtel auf einen freien Stuhl und begann luſtig mit ihr zu ſchäkern.

Hans⸗Jaſper war bewundernswert. Er ſchleppte heran, was von Namen und Würden war: einen be⸗ rühmten Schriftſteller, einen ſpaniſchen Geigen⸗ virtuoſen, einen hübſchen jungen Zeremonienmeiſter; dann wieder einen exotiſchen Prinzen, ein paar Leut⸗ nants, ein paar Legationsſekretäre, einen vielgenannten Bildhauer, einen Afrikareiſenden. In der Hetzjagd der Vorſtellungen lernten die Mädchen eine Anzahl Hofchargen kennen, faſt alles Exzellenzen, verbind⸗ liche Leute, die liebenswürdig den Kopf neigten, etwas ſehr Gleichgültiges ſagten, freundlich lächelten und weitergingen. Dann hielt Hans⸗Jaſper einen engliſchen Journaliſten feſt, hierauf einen Major von der Schutz⸗ truppe, hierauf einen kleinen Chineſen. Die Gräfin Zicka, mit einem ganz wahnwitzigen Kopfputz und einem ſchweren Perlenband um den dürren Hals, winkte aus der Entfernung und ſiehe da, auch Katja Sche- waſchidſe wurde ſichtbar, am Arm eines ruſſiſchen Attachés, in wundervoller Toilette, wenn auch für ihre Jugend zu ſtark dekolletiert; ließ ihren Begleiter ſtehen, ſchuppſte nach rechts und nach links, um ſich durchzu⸗ drängen und ſchüttelte den Freundinnen die Hand. „Na, was ſagt ihr da bin ich!“ rief ſie echauffiert; „Frau von Balaſcheff hat mich in einen Wagen ge- packt und mit mir fünfzig Beſuche in einem Tage gemacht. Elli, wie findeſt du mein Koſtüm?“ „Du ſiehſt wie ein Badeengelchen aus, Katja; zupf mal den Einſatz höher ...“ „Geht nicht,“ entgegnete die Prinzeſſin lachend, „es gibt nichts zum Zupfen. Außer⸗ dem, ma ch£re, il ne fait pas mal de chaleur. Chriſtel⸗ chen, weißt du, wer hier iſt? Kyrulew! Der drängelt ſich überall ein, wo er zwei Lichter brennen ſieht. Baron Koſer, Leutnant ohnegleichen, geben Sie mir ein bißchen Ihren Arm, damit ich Herrn von Malinin entgehe, der mich ſchon den ganzen Abend über angeödet hat.“

Sie ſchob ohne weiteres ihren vollen weißen Arm

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unter den Hans⸗Jaſpers. „Einen Augenblick, Prin⸗ zeſſin,“ entgegnete der Leutnant, „ich will bloß meine beiden Lämmerchen in Sicherheit bringen ..“ Aber da nahte ſchon Theda von Leiſter mit ihrem Bruder, dem Kammergerichtsreferendar, der die Mädchen mit an das Büfett nahm und unter den Reſten aufzuräumen begann, während er ſich ſehr intereſſiert erkundigte, welchem der Menuettzirkel bei der Walzel⸗Korneck die gnädigſten Damen angehörten.

„Danach bin ich ſchon verſchiedenfach gefragt worden,“ antwortete Elli; „gehört denn das Menuett zu den Notwendigkeiten einer Berliner Saiſon?“

Theda war förmlich empört über dieſe Frage. „Aber ich bitte dich, Ellichen, Menuett iſt haut chic auf jedem Balle! Unbedingt mußt du Unterricht nehmen, un—be— dingt, und zwar bei der Walzel⸗Korneck!“

„Gut,“ ſagte Elli; „wer iſt dieſe Walzel?“

„Leopold,“ rief Theda zu ihrem Bruder hinüber, der mit einer Hummerſchere nicht fertig wurde, „Elli Koſer fragt, wer die Walzel⸗Korneck ſei. Sie fragt noch! Ja, Kinder, lebt ihr denn in der Welt? Lebt ihr denn in Berlin? Die Walzel⸗Korneck iſt eine frühere Prima⸗ ballerina, aber jetzt ſechzig Jahr alt, die alle Reigen⸗ tänze bei Hofe einſtudiert und ſozuſagen die Tanz⸗ lehrerin der Ariſtokratie iſt —“

„Der oberen Zehntauſend,“ fügte Leopold hinzu.

„Und das wißt ihr nicht?“ rief Theda außer ſich.

„Nein, das wiſſen wir nicht,“ erwiderte Elli heiter. „Kaum zu glauben, aber es iſt ſo.“

„Die Walzel⸗Korneck,“ erklärte der ſchöne Leopold, indem er die Verſuche aufgab, ſeine Hummerſchere des Inhalts zu entledigen, „iſt ein hervorragendes Original. Eine erſtklaſſige Dame. Sehr drollig, ja. Aber doch hervorragend. Ich würde dem gnädigen Fräulein raten, ſich dem Menuettzirkel bei Frau von Hiddenburg anzuſchließen. Erſtklaſſig zuſammengeſtellt und ganz famos. Alſo beachtenswert.“

„J Gott bewahre, dachte Elli, ,iſt das ein dämlicher Bengel“ Sie äugte über das rieſige, in allen Teilen maleriſch zerſtörte Büfett. „Herr von Leiſter,“ ſagte ſie, „da hinten, ganz hinten, auf dem linken Flügel —“ „Linken Flügel,“ wiederholte Leopold.

„Falſche Richtung! Sie gucken nach rechts!“

Ach jo Pardon! Höchſt beachtenswert.“

„Da hinten links ſehe ich noch einen beau reste Roaſtbeef ſchimmern. Wenn Sie mir davon eine Scheibe erobern könnten, ehe es gänzlich verſchwunden iſt, würde ich Ihnen dankbar ſein.“

Ich fliege,“ ſagte Leopold. zErſtklaſſige Choſe. Alſo ee Muß es Roaſtbeef ſein?“

„Ich wollte, es müßte.“

„Hervorragend,“ entgegnete Leopold. Dann wollte er fliegen, trat einer alten Exzellenz auf den Lackſtiefel und ſtieß einen Abgeordneten in die Seiten, der ſich eben Cumberlandſauce nehmen wollte und nun die Sauee in den Frackausſchnitt bekam. Er ſagte mehrfach „tauſendmal Pardon“ und drängte ſich weiter, machte einen langen Hals, hob ſich auf den Zehen, beläſtigte viele, wurde vom Büfett ab⸗ und wieder herange⸗ drängt, konnte indes das Roaſtbeef nicht finden, weil keins mehr da war, und trank zur Erquickung ein Glas Champagner.

Elli aber war froh, daß ſie ihn los war. Sie langte über den Tiſch, um ſich ein Sandwich zu nehmen, in demſelben Augenblick, da eine Hand hinter ihr das⸗ ſelbe zu tun gedachte. So gerieten die beiden Hände unverſehens aneinander, und zwei Stimmen ſagten gleichzeitig „Verzeihung“. Dann trafen zwei Augen⸗ paare zuſammen und zwei Geſichter ſchauten ſich an.

„Es iſt doch u möglich,“ ſprach der Herr Hinter Elli, „oder doch?“

Elli ſah befremdet aus. Sie kannte den großen ſchlanken blonden Herrn gar nicht.

Der lächelte freundlich und präfentierte ihr die . mit Sandwichs. „Erſt nehmen Sie mal,“ ſagte

„Hunger ſchwächt das Gedächtnis. Wenn Sie ſich gest haben, wird auch das Erinnerungsvermögen äftiger werden.“

Elli nahm und zerbrach ſich den Kopf. Wer war denn das? Sie biß in die Semmel, um ihre Verlegen⸗ heit A verbergen.

„Darf ich Ihnen auch etwas zu trinken holen?“ fragte der Herr.

„Herzlichen Dank, Herr —“ und ſie ſtockte.

„fopfeſſor Hoenig,“ ſagte der andre und neigte den Kopf

ar Be

Elli wurde nicht ahnungsvoller. Da griff der Herr an ſeine Uhrkette und zeigte Elli eine kleine Münze, die als Berlock an dem Karabinerhaken hing. „Wiſſen Sie, was das iſt?“ fragte er. „Ich habe das Ding ver⸗ golden laſſen es macht ſich ſo beſſer. Aber ich habe es ſorgfältig aufgehoben, und es hat mir auch wirklich Glück gebracht. Ein niedliches kleines Mädchen hat es mir einmal gegeben. Es iſt ein italieniſches Liraſtück.“

Nun wurde Elli kirſchrot und ihre Augen lachten. „O Herr Doktor!“ rief ſie. „Herr 1 Helmut Hoenig! Der Vorname iſt mir viel beſſer im Gedächtniſſe geblieben!“ Sie ſtreckte ihm die Hand entgegen, in die jener kräftig einſchlug. a

„Na endlich,“ ſagte er. „Ich habe Sie ſchon vorhin beobachten können habe Sie übrigens auf der Stelle wiedererkannt. Solche Augen vergißt man nicht.“

„Ach herrjeh! Nun kommt eine Schmeichelei.“

„J bewahre. Ich bewundere Ihre Augen ja gar nicht einmal, ſondern erwähnte ſie nur als Erkennungs⸗ zeichen. Haben Sie noch Appetit? Sonſt würde ich vorſchlagen, daß wir uns in das Arbeitszimmer des Kanzlers zurückziehen. Da iſt es gewöhnlich leerer und wir könnten ein bißchen plaudern, was hier nur mit Unterbrechungen möglich iſt ... Entſchuldigen Sie,“ ſagte er zu dem Herrn neben ſich, dem er mit dem Armel in die Hummermayonnaiſe gefahren war. Ein neuer Strom Gäſte war eingetroffen, und das Gedränge im Mittelſaal vermehrte ſich. Durch die offenen Flügel⸗ türen ſah man, daß die Fürſtin noch immer auf ihrem alten Platz ausharrte und mit unermüdlicher Liebens⸗ würdigkeit die Gäſte begrüßte; jetzt ſtand auch der Kanzler neben ihr, unter dem Frack als einzige Deko⸗ ration das Band des Schwarzen Adlers, und teilte mit immer gleich freundlichem Lächeln ſeine Händedrücke aus, die an Zahl an dieſem Abend das halbe Tauſend bereits überſchritten hatten, während im erſten Vor⸗ 4 der Chef der Reichskanzlei die Spätlinge unter

en Gäſten in Empfang nahm. 5

Profeſſor Hoenig hatte für Elli einen Weg gebahnt. Sie konnte dem Staatsſekretär von Leiſter zunicken, der in dem ſalbungsvollen Tone eines Beichtvaters in einen dicken Journaliſten hineinredete, ſah in einer Ecke des Saals Katja mit Hans⸗Jaſper und noch drei

Be.

Offizieren in fröhlichem Geplauder und an einem kleinen Tiſche Chriſtel mit dem Doktor Kyrulew, über deſſen feines blaſſes Geſicht der ſtreifige Schatten der großen Palme fiel, unter der er ſaß. Dann hatte man glücklich das nächſte Zimmer gewonnen: die Bibliothek mit ihren offenen Bücherſchränken an allen Wänden, und ſchließlich das letzte der langen Flucht: das Arbeits⸗ gemach des Kanzlers mit dem großen Schreibtiſch und den mancherlei intimen Erinnerungen an den Kaiſer und andre hohe Fürſtlichkeiten. Hier war es in der Tat faſt leer; ein einzelner Herr umkreiſte die Eintrittstür und blieb zuweilen ſtehen, Bilder und Bric-à-brac zu betrachten: wohl ein in einen Frack geſteckter Kanzlei⸗ diener oder ein Geheimdetektiv, auf deſſen Augen man ſich verlaſſen konnte.

Elli und Hoenig ſetzten ſich in den Winkel hinter den Schreibtiſch, wo eine ſpaniſche Wand ein behag⸗ liches Polſteretabliſſement verdeckte.

„Nun erzählen,“ ſagte der Profeſſor und ergriff noch einmal Ellis Hand. „Ich habe in den ſechs Jahren ſo viel an Sie gedacht, liebe Baroneß jedesmal, wenn ich meine Glückslira betrachtete, alſo täglich.“

„Und ſie hat Ihnen wirklich Glück gebracht? Aber ja da Sie jetzt ſchon Profeſſor find —“

„Seit zwei Jahren. Der Profeſſorentitel iſt freilich nicht der Höhepunkt irdiſcher Seligkeit. Mir iſt es auch ſonſt ganz gut ergangen. Ein paar gelungene Operationen haben die Nachfrage nach mir verſtärkt. Dazu habe ich eine Salbe erfunden, die den Menſchen wohltut, und einen pathogenen Pilz entdeckt, der ihnen übel will und den ich mittels eines Serums bekämpfe, das ganz gut zu ſein ſcheint.“

„Wie kommen Sie hierher zum Kanzler?“

„Ich habe ihm einmal ein harmloſes Furunkelchen heilen können. Und Sie? Was führt die kleine Durch⸗ brennerin von einſt zwiſchen die Kuliſſen der Politik?“

„Die Durchbrennerin von damals iſt ein ernſtes Mädchen geworden, verehrter Herr Profeſſor, ſtudiert alles mögliche, geht geradeswegs auf Doktor und Staats⸗ examen los und wird zwiſchendurch von einem lebens⸗ luſtigen Vetter in die Geſellſchaften geführt, um auch des Daſeins heitere Seite kennen zu lernen.“

„Die nicht immer ſo heiter iſt, wie ſie ſcheint.“

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„Richtig. Das iſt die zweite große Geſellſchaft, die ich mitmache, und eigentlich habe ich genug. Die erſte war ein Wohltätigkeitsrout mit Limonade und Mandel⸗ milch; hier mouſſiert wenigſtens der Sekt, auch in geiſtigem Sinne, und das Geſamtbild iſt intereſſant.“

„Zweifellos. Das iſt auch der Grund, der mich immer wieder hierher zieht. Sonſt bin ich nichts weniger als ein Geſellſchaftsmenſch, kann es auch nicht ſein, wenn ich meine Arbeit nicht im Stich laſſen will, und möchte es nicht ſein, weil ich das Gefühl nicht los werde, daß die Verbindungsbrücken zwiſchen der Ge⸗ ſellſchaft und mir doch nur ſehr lockere ſind. Vielleicht liegt das in dem Bewußtſein meiner kleinbürgerlichen Geburt ein Empfinden, das Ihnen naturgemäß fremd iſt.“

Elli ſchüttelte den Kopf. „Das iſt es gewiß nicht, Herr Profeſſor,“ entgegnete ſie. „Daran liegt es wohl nur, daß wir im allgemeinen ſtillere Naturen als jene ſind. Die Schweigſamkeit des Berufs be⸗ einflußt uns unwillkürlich. Ich merke die Gegenſätz⸗ lichkeit an meinem Vetter Koſer, einem prächtigen Burſchen, der auch geiſtig mobil iſt und keineswegs zum Simpliziſſimustypus des preußiſchen Leutnants gehört. Sein ganzes Innenleben zerflattert unter dem Hochdruck der Außerlichkeiten.“

„Gut,“ ſagte der Profeſſor; „es gefällt mir, daß Sie ſo ſprechen.“

„Und klingt ſchon ein wenig altjüngferlich,“ fügte Elli lachend hinzu.

3 155 klingt verſtändig bei achtzehn oder neunzehn ahren.“ f

„Das Närriſche iſt, daß ich ſonſt gar nicht ſo ver⸗ ſtändig bin. Ich amüſiere mich auch herzlich gern und war in der Penſion von kräftigſter Ungezogenheit. War immer dabei, wenn es einen Unfug gab. Seitdem iſt ein halbes Jahr verſtrichen, und ſchon nennen mich meine Freundinnen eine Philiſternatur. Ich glaube, ich bin in dieſem halben Jahr ungewöhnlich alt geworden.“

„Faſt greiſinnenhaft,“ ſcherzte Hoenig. „Spaß beiſeite, gnädiges Fräulein, ich verſtehe die Wandlung. Es ſteckt Energie in Ihnen und Zielbewußtſein. Das macht immer ernſter. Beides fpürte ich ſchon in dem

kleinen Mädelchen, das ich ſeinerzeit als Flüchtling auf dem Wege nach Karlsruhe kennen lernte. Die Kleine wußte durchaus, was ſie wollte. Erſt recht, da ſie größer geworden iſt. Und noch etwas ſteckt in Ihnen: bei aller Ihrer Jugend ein Zug von Frauenhaftigkeit. Das iſt angeboren, iſt das, was Sie fälſchlich altjüngfer⸗ lich nennen und was bei Ihrer Erſcheinung tatſächlich außerordentlich pikant wirkt.“

„Merci, Herr Profeſſor. Sie haben Menſchen⸗ kenntnis oder tun wenigſtens ſo.“

„Wer wie ich berufsmäßig auf das Tranſchieren des Menſchlichen angewieſen iſt, verſucht ſich auch gern einmal in der Anatomie der Seelen.“

„Tranſchieren iſt ein gräßlicher Ausdruck.“

„Er ſtammt aus dem Operationsſaal. Wir Chirurgen verrohen leicht. Ich fürchte mich davor.“

„Es täte mir auch leid um Sie.“

„Sehr liebenswürdig. Aber es kommt von ſelbſt. Es liegt in der Notwendigkeit der Gefühlsloſigkeit. Naben, J iſt Nervenſache. Wir dürfen keine Nerven aben. Ich gebe ſie ſozuſagen in der Garderobe ab, ehe ich den Operationsſaal betrete. Aber ein Dualismus bleibt immer. Die Hand zittert nicht, doch zuweilen das Herz.“

„Gott ſei Dank!“

„Sagen Sie das nicht. Herz und Nerven müßten bei uns harmonieren. Wie bei einem Richter über 95 und Tod, meinetwegen wie bei einem Henkers⸗ necht.“

unnötigen Irritationen durch das Herz. Wir hätten eigentlich die Pflicht, aus beruflichen Gründen Anti⸗ alkoholiker und Antifeminiſten zu ſein.“

„Sind Sie beides?“

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„Leider nicht.“

„Das iſt hübſch von Ihnen. Ich habe etwas gegen das Anti aus Prinzip.“

„Ich auch. Aber manchmal wird das Anti zum Muß. Wenn ich des Abends ſtark pokuliere, fehlt mir am Morgen die Sicherheit der Hand. Wenn mein Kopf mit Familienſorgen beſchwert iſt, fehlt mir am Ope⸗ rationstiſch die unumgänglich notwendige Klarheit des Denkens.“

„Da würde ich an Ihrer Stelle Junggeſelle bleiben.“

„Habe ich auch vor. Muß denn immer geheiratet werden?“

„Durchaus nicht.“

„Ich bin ſogar der Überzeugung, daß viel zu viel geheiratet wird. Das Herz iſt der größte Betrüger. Man muß es unter Beobachtung halten. Wenn's auch einmal ein bißchen ſtärker klopft: es hat nichts zu agen. Aber die meiſten laſſen ſich täuſchen und ſich

as Herz zu Kopfe ſteigen und träumen von der, Stimme der Natur‘. Gott bewahre, es iſt nur eine vorüber⸗ gehende Pſychoſe!“

„Beſinnen Sie ſich noch auf Tante Karla?“

„Aber ich bitte Sie unſre Tante Karla! Ich ſehe ſie deutlich vor mir.“

„Die ſagte mir gelegentlich etwas Ähnliches. Sagte mir: wenn du in deinem Herzen rufen hörſt ‚Eva, wo biſt du?“ ſo antworte nicht ſogleich, ſondern über⸗ lege erſt.“

„Eine bewundernswerte Tante,“ entgegnete der Profeſſor. „Wie recht hat ſie! Und ſind Sie ihrem Rate gefolgt?“

„Mich rief noch keine Stimme.“

„Immerhin ſeltſam. Um die Wende der Zwanzig beginnen ſonſt die Lockrufe.“

„Ich bin nicht wie andre.“

„Habe ich längſt gemerkt. Gnädigſte, ich unter⸗ ſchreibe den Rat Tante Karlas. Ich gehe ſogar noch weiter: ich warne vor dem Erſten. Ich meine den Erſten, der in Ihr Herz Einzug halten will. Er iſt nicht immer der Beſte. Ein Herz will ſeine Probezeit haben und ſeine Prüfungen.“

„Was Sie aus Erfahrung wiſſen.“

„N—ja. Jawohl. Ganz recht: aus Erfahrung.

ze Re

Ich könnte das auch detaillieren, will es aber nicht. Andrerſeits wir ſind eigentlich alte Freunde, wir beide. Wir ſollten uns in derlei Schwulitäten hilfreich beiſtehen. Sie mir, ich Ihnen. Ich ſagte Ihnen ſchon, daß in Ihrer ſanften Weiblichkeit ein gewiſſer —“

„Frauenhafter Zug ſteckt. So ſagten Sie. Und das intereſſiert mich, denn ich glaube, Sie haben recht. Ich wohne mit einer Freundin zuſammen, die ein ausgemachter Kindskopf iſt. Da muß ich die Mutter ſpielen. Das iſt das frauenhafte Element in mir.“

uff Mütterlichkeit. Ich habe fie immer entbehren müſſen.“

„Es ging mir nicht anders. Aber Sie ſprachen von gegenſeitiger Hilfe, Herr Profeſſor. Wann?“

„Wenn wir ſie brauchen.“

„Hoffentlich werde ich nie Ihres Meſſers Schneide benötigen.“

„Es gibt auch Operationen ohne Meſſer. Gegen Herzverſtimmungen kommt die Chirurgie nicht auf. Oft aber ein Freundesrat. Und da wir unſrer beider Herzen ſo frank und frei auf den Seziertiſch gelegt und uns gegenſeitig davon überzeugt haben, daß alles noch gut funktioniert, möchte ich vorſchlagen: wenn die bewußte Stimme ruft, vertraut es einer dem andern an. Sie kommen zu mir und ich komme zu Ihnen und jeder fragt: Was ſoll ich tun, daß ich ſelig werde? Dann überlegen wir gemeinſam nach Tante Karlas Rat und zergliedern den Begriff der Seligkeit, ob nicht eine Täuſchung uns narrt. Ich finde, das iſt eine vor⸗ treffliche Idee.“

„Ganz vortrefflich. Ich warte auf Sie. Aber ich fürchte, auf mich werden Sie vergebens warten —“

„Das wäre nicht freundſchaftlich.“

„O nein meine Zuſage würde ich ſchon halten. Ich glaube nur nicht an den Ruf nach der Eva. Um die Wende der Zwanzig, ſagten Sie, kämen die Lockrufe. Ich bin nahe an neunzehn, aber noch vernahm ich nichts. Ich muß alſo wohl ein Unikum unter meines⸗ gleichen ſein.“

„Doch nicht. Höchſtens eine nicht alltägliche Spielart. Es gibt auch ſchwerhörige Herzen. Das ſind eigentlich die beneidenswerteſten. Sie hören nur die lauten Stimmen, und dann antwortet auch gleich das Echo.“

N

Er Horte auf. Eine laute Stimme wurde auch jetzt vernehmbar jenſeits des Wandſchirms. Da ſagte ein militäriſch klingendes Organ: Tag, Steveſand. Sind Sie hier ſtationiert?“

„Zu befehlen, Herr Kommiſſar,“ antwortete eine andre Stimme. „Der Herr Polizeipräſident ſelbſt hatten —“

„Gut, gut. Paſſen Sie mal auf. Ich bleibe ſtatt Ihrer vorläufig im Zimmer. Sehen Sie da drüben den ſchlanken blaſſen Herrn? Jetzt kommt er näher. Sehen Sie ihn?“

„Jawohl, Herr Kommiſſar. Den mit der Roſe im Knopfloch.“

„Ganz richtig. Und nun ſuchen Sie ſich Brandt und Kragenau ſie werden im Mittelſaal ſein —, machen Sie ſie auf den Herrn aufmerkſam und beſtellen Sie ihnen, ſie möchten ihm folgen, auch auf dem Heimwege, und mir morgen Bericht erſtatten. Dann kommen Sie hierher zurück.“

„Zu befehlen, Herr le, x Ein leichter Schritt wurde auf dem Teppich hörbar,

und hinter den Wandſchirm ſchaute ein junges Männer⸗ geſicht mit kleinem dunklen Schnurrbart.

„Ach, Verzeihung ich wußte nicht ... J, Herr Profeſſor Sie?!"

„Grüß Gott, 515 von Telſchow. Ja, ich. Aber ich bin kein Verſchwörer, und für dieſe Gnädigſte verbürge ich mich. Kriminalkommiſſär von Telſchow Fräulein von Koſer.“

Der Poliziſt, im Frack wie die meiſten Herren und mit einer langen Ordenskette auf der Rabatte, verneigte ſich, war aber doch ein wenig verlegen. „Man kann nicht vorſichtig genug and ſagte er lachend, „man ſollte hinter jeden Stuhl und jeden Wandſchirm gucken. Übrigens war mein Auftrag kein großes Geheimnis. Die Kontrolle bei dieſen Rieſengeſellſchaften iſt nur eine lockere, und da kann es vorkommen, daß ſich auch einmal Unberufene einſchleichen. Und gerade zu dieſer Zeit na alſo, ich habe da jemanden geſehen, dem ich nicht völlig traue, und möchte gern wiſſen, wie er den heutigen Abend weiter verbringen wird.“

„Beſten Erfolg, lieber Herr von Telſchow,“ er⸗ widerte der Profeſſor. „Sagen Sie: iſt es da vorn noch immer ſo raſend voll?“

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„Nein. Es ebbt ab. Die ältere Generation iſt verſchwunden. Der Fürſt ſitzt unten beim Bier zwiſchen den Abgeordneten, die Fürſtin hat ſich meines Wiſſens ſchon zurückgezogen.“

„Helfen Sie mir meinen Vetter ſuchen, Herr Profeſſor,“ ſagte Elli; „auch meine Freundin wimmelt noch irgendwo herum und ich möchte langſam an den Aufbruch denken.“

Man trat hinter dem Wandſchirm hervor, ſchritt durch das Nachbarzimmer und blieb einen Augenblick in der Tür zum Mittelſaal ſtehen. In der Tat hatte die Geſellſchaft ſich bereits ſtark gelichtet. Einige Herren⸗ gruppen ſaßen rauchend an den Tiſchen und tranken Pilſener Bier, Damen ſah man nur noch wenige. Verſchiedene promenierten auf und ab; auf der Muſik⸗ eſtrade ſpielte noch die Kapelle Vörbs Miskas; das Büfett wurde abgeräumt.

Ellis Auge ſchweifte ſuchend umher.

„Wo ſteckt der Vetter?“ fragte Profeſſor Hoenig.

„Wenn ich es ahnte! Vielleicht in einem der Vorderzimmer.“

„Wir werden ihn ſuchen und finden; ſonſt geleite ich Sie nach Dane Apropos, darf man Ihnen einen Beſuch machen?“

„Warum nicht?“

„Iſt es ganz 1 8 1 Ich weiß im Kodex des Herkömmlichen nicht er genau Beſcheid.“

In dieſem Augenblick ſah Elli a und Kyrulew unmittelbar vor der e und winkte hinüber.

„Da iſt meine Freundin!“ rief ſie; „wir wollen fie feſthalten, ſonſt geht ſie uns wieder verloren.“

„Pardon, gnädiges Fräulein,“ ſagte Herr von Telſchow, „darf ich gehorſamſt fragen, wer die junge Dame iſt, der Sie ſoeben zuwinkten? Mich intereſſiert eine Ahnlichkeit. 2

„Ein Fräulein Bungarz, Studentin wie ich.“

„Studentin? Danke ergebenſt. Aber keine Aus⸗ länderin?“

„Nein, eine Deutſche.“

„Danke ergebenſt. Eine frappante Ahnlichkeit.“

Er verbeugte ſich. „Gnädiges Fräulein ... auf Wiederſehen, lieber Profeſſor!“

Die beiden ſchritten durch er Saal. Chriſtel hatte

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ſich wundervoll amüſiert, und Kyrulew ſchlug, nachdem er mit dem Profeſſor bekannt gemacht worden war, vor, gemeinſam noch ein Glas Bier im Pſchorrbräu zu trinken. Auch Hoenig ſchien nichts dawider zu haben, aber Elli wehrte energiſch ab.

„Zu ſpät, Meſſieurs,“ ſagte ſie, „dieſes Chriſtelchen muß in ihr Bettchen.“ 8

„Ich bin noch gar nicht müde,“ rief Chriſtel, „ich könnte die ganze Nacht durch bummeln! Elli, ſei doch kein Froſch! Ein angeriſſener Abend.“

„Eben deshalb,“ ſagte Elli. 4

„Die Mütterlichkeit regt ſich wieder,“ bemerkte Hoenig.

„Immer, wenn es not tut, Herr Profeſſor.“ 5

Chriſtel brummte, und Kyrulew verlegte ſich mit ſeiner einſchmeichelnden Stimme wiederum auf das Bitten. Aber Elli blieb feſt. Nein, es ginge nicht an; auch die Toiletten vertrügen das Bierhaus nicht, und ſchließlich ſei man an den Vetter von der Gardedu⸗ korps gebunden. Aber wo war der Better?! Man durchſtreifte nochmals die ſich leerenden Räume und fand Hans⸗Jaſper endlich, mit noch drei Offizieren und zwei jungen Diplomaten um Katja verſammelt, in ſehr vergnügter Stimmung im letzen der unteren Zim⸗ mer bei ſchäumendem Pilſener. Indes war er ſofort zum Aufbruch bereit, und nun zog die ganze Geſellſchaft zurück durch den Mittelſaal, in dem die Kapelle gerade den Kehraus ſpielte, nach der Garderobe, wo man unter Lachen und ee in Mäntel und Pelze ſchlüpfte und dann nach den Wagen rief.

Hans⸗Jaſper fuhr mit ſeinen beiden Pfleglingen nach der Großbeerenſtraße.

„War's nett?“ fragte er.

Chriſtel ſchwärmte, und Hans⸗Jaſper erlaubte ſich eine kleine Neckerei mit dem Doktor Kyrulew. „Iſt übrigens auch wirklich ein ſcharmanter Kerl,“ fuhr er fort, „und verkehrt allerwegen. Es gehört zum bon ton, bei ihm ruſſiſchen Unterricht zu nehmen nur die Zicka will nichts von ihm wiſſen, weil man ſagt —“

„Was ſagt man?“ fragte Chriſtel.

„Ich weiß nicht, ob ich's wiederholen darf. Ihr ſeid noch nicht mündig.“

„Genier dich nicht, Hanni wir können einen Puff vertragen.“

1

„Man behauptet, er lebe in freier Ehe.“

Ein kleines Weilchen war es ſtill in dem geſchloſſenen Coupé. Dann fragte Chriſtel mit zager und piepſiger Stimme: „Was iſt das?“

„Gott, Chriſtel!“ rief Elli, „ſtelle dich nicht ſo dumm!“

„Es iſt eine Ehe,“ wollte Hans⸗Jaſper erklären, doch Elli fiel ihm ins Wort: „Erſpar dir die Definition, Hanni. Im übrigen wird es Klatſch ſein.“

„Das iſt möglich. Man klatſcht zur Genüge.“

„Es iſt jedenfalls Klatſch,“ ſagte Chriſtel erregt und mit Betonung des Worts „jedenfalls“. „Es iſt zu ge⸗ mein, was man alles verbreitet!“

„Ja,“ ſagte Elli, „da haſt du recht. Man muß ſich vorſehen. Mit wem ſoll denn der Kyrulew aber nein, ich will nichts wiſſen! Was geht er uns auch weiter an!“

„Die Tatſache, daß er in der beſten Geſellſchaft ein und aus geht,“ bemerkte Chriſtel, „ſollte ihn von vornherein vor derlei Verleumdungen ſchützen.“

Hans⸗Jaſper räuſperte ſich. „Unſere Geſellſchaft, vielliebes Fräulein Chriſtel, iſt ein ſo üppig treibender Baum, daß man die wilden Schößlinge gewöhnlich erſt merkt, wenn ſie übermächtig werden und andere Zweige zu erdrücken drohen. Man iſt in ſozialer Beziehung bei uns ſehr liberal geworden. Übrigens, Elli, wie kommſt du zu dem Profeſſor Hoenig?“

„Ich habe ihn gelegentlich kennen gelernt, ſchon vor Jahren damals auf meiner Flucht nach Karlsruhe. Ein netter Menſch, nicht wahr?“

„Ja außerdem eine Berühmtheit. Er hat irgend einen bisher noch unbekannten Wundbazillus entdeckt ich las neulich mal ſo was. Geheimrat von Plöhn ſchimpft auf ihn; das iſt immer ein gutes Zeichen. Mesdemoiſelles, da ſind wir!“

Der Wagen hielt. Hans⸗Jaſper brachte die Mäd⸗ chen bis an die Haustür und öffnete dieſe. Bei der Verabſchiedung ſchnippſte er mit den Fingern und ſagte: „Richtig, Ellichen ich ſoll dich ja fragen, ob du zum Weihnachtsfeſt nicht mit nach Falkenhagen kommſt? Vater läßt darum bitten.“

„Sie hat mir ſchon verſprochen, mich nach Emmen⸗ thal zu begleiten,“ erwiderte Chriſtel.

„Ich werde mir's überlegen,“ ſagte Elli. „Gute Nacht, Hanni. Ich bin todmüde.“

Als ſie im Speiſezimmer die Lampe anzündete, ſchaute ſie ſich noch einmal nach Chriſtel um.

„Chriſtelchen,“ rief ſie, „es war zweifellos ein unter⸗ haltſamer Abend! Aber das iſt mir klar: wenn es ſo weitergeht mit dem Geſellſchaftstrubel, wird aus dem Studieren nicht viel werden. Wir werden ſichten müſſen . . .“ Sie ſah aufmerkſamer zu ihrer Freundin hinüber ... „Du haft ja ein ganz weißes Geſicht, Mauſi! Fehlt dir was?“ 5

„Gar nichts, Elli. Gute Nacht ... Sie bot ihr die Lippen zum Kuß.

„Soll ich dir Fliedertee kochen?“

„Um Himmelswillen!“ Und Chriſtel floh in ihr Schlafgemach.

Elli lächelte. Vor ihrem Fliedertee hatte das Chriſtelchen Reſpekt. Sie ging ſelbſt zu Bett. Doch während ſie ſich auskleidete, dachte ſie immer noch an Chriſtel. Sicher war die Kleine wieder einmal verliebt. Aber in wen? Vielleicht in Kyrulew. Es lag in ſeiner ganzen Art, die Unerfahrenheit zu umgarnen. Sein glattes Weſen, ſeine Weltſchmerzpoſen, ſein Augen⸗ aufſchlag, ſeine melodiöſe Stimme: alles das waren wirkſame Köder für ein lebensfremdes, heißblütiges Dummerchen wie Chriſtel. Da war es recht gut ge⸗ weſen, daß Hans⸗Jaſper die indiskrete Anſpielung auf Kyrulews „freie Ehe“ gemacht hatte. Ob das Tat⸗ ſache war oder nicht, das war gleichgültig. Jedenfalls hatte die Mitteilung Chriſtel erſchreckt.

Elli löſchte das Licht und ſtreckte ſich im Bett. Aber qc konnte noch nicht gleich einſchlafen. Chriſtel be⸗ chäftigte ſie in letzter Zeit lebhaft. Sie fühlte, daß etwas Fremdes zwiſchen ihre Freundſchaft getreten war. Sonſt war der Schwarzkopf ihr getreues Affchen geweſen und hatte ihr, der Klügeren und Erfahreneren, ohne weiteres gehorcht. Aber ſeit kurzem war die Oppoſition in Chriſtel erwacht; ſie wandelte gern ihre eigenen Wege, widerſprach bei jeder Gelegenheit und paradierte mit Anſichten, die ihr ganz und gar nicht lagen. Elli ſpürte gewiſſermaßen in ihr den Einfluß eines fremden Geiſtes, die künſtliche Aufpfropfung einer Weltanſchauung, die mehr ein verwegenes Spiel mit

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den Gefühlen trieb, als ſittliche Grundbegriffe zu er⸗ weitern ſich mühte. Sie hatte anfänglich Katjas lockere Zunge in Verdacht gehabt, die immer durchging und mit Vorliebe Aufgeleſenes nachſchwätzte. Aber nun ſchien es ihr faſt zweifellos, daß Kyrulew ſich nicht nur des Herzens, ſondern auch des harmloſen Seelchens der kleinen Freundin bemächtigt hatte. Und was Elli zuerſt ungewöhnlich gedünkt hatte, konnte jetzt zu ernſter Beſorgnis Anlaß geben. Elli kannte die Gefahr geiſtigen Giftſtoffs; ſie hatte die Liſtowska noch nicht vergeſſen. Daß ſie damals Heilung gefunden hatte, war im letzten Grunde ihr ſelbſt: ihrer geſunden Energie und ihrer kühlen Ruhe, dem Bewußtſein ihrer eigenen Kraft zu danken geweſen. Alles das aber beſaß Chriſtel nicht; ſie war ein liebenswertes Geſchöpf in ihrer ſüßen Friſche und ſelbſt in all dem Kindiſchen ihrer Weſens⸗ äußerungen, doch ganz, ganz haltlos und immer ein Spielball wechſelnder Gefühle, die wie die Wolken kamen und gingen und Schatten brachten und Licht.

Elli wurde es warm unter der Bettdecke. Sie dünkte ſich verantwortlich für Chriſtel und war es doch eigentlich gar nicht. Aber das „Mütterliche“ kam un⸗ bewußt wieder und zog in ihr Herz. Und dabei mußte ſie an den Profeſſor denken, ſeine Worte und Mah⸗ nungen. Er hatte ihr gut gefallen, ſo wie damals vor ſechs Jahren. Nur wußte man eins nicht bei ihm: war das, was er ſagte, nicht immer von leiſer Ironie getragen oder dachte er wirklich ſo, wie er ſprach? Ja du lieber Gott, dieſe Männer! Wenn ein kleines Mädelchen einem Herren der Schöpfung gegenüber⸗ ſteht, dünkt er ſich himmelhoch erhaben; da kommt die ironiſche Unterſtrömung von ſelbſt. Und nun gar eine Berühmtheit wie Hoenig, der mit ſeinem unfehlbaren Meſſer täglich Menſchen vom Tode errettete, der Heil⸗ ſalben erfand und Bakterien entdeckte bei dem war es ſchon alles mögliche, daß er ſich ihrer erinnert und ſich mit ihr feſtgeplaudert hatte. Was hatte man alles zuſammengeſchwatzt! Wie war gleich die Abmachung geweſen? Wer die „bewußte Stimme“ zuerſt ver⸗ nahm, hatte dem andern Vertrauen zu ſchenken und ihn um Rat zu fragen. Verrückte Idee! Morgen war fie vergeſſen ... Elli wandte ſich um und legte den rechten Arm unter ihren Kopf; ſchon floſſen ihre Ge⸗

danken ineinander: der Sandmann kam... Oho, rief ſie ſich zu, Achtung, Elli! Dieſer Profeſſor ulkt nur mit dir. Sag ihm nicht, wenn du die Eva hörſt. Sag ihm lieber ...

Ja was? Sie war eingeſchlafen, und auch der Traumgott verriet ihr nicht, was ſie dem Profeſſor hatte ſagen wollen.

13. Du weißt nicht, was der ſpäle Abend bringt.

Elli hatte ſich nun doch entſchloſſen, Hans⸗Jaſper nach Falkenhagen zu begleiten und dort das Weihnachts⸗ feſt zu verbringen. Maßgebend war dabei für ſie ein kurzer Brief des Onkels geweſen, in dem er um ihren Beſuch bat, mit der Hinzufügung, daß er ſich ſeit einiger Zeit recht elend fühle und daß es demgemäß zweifel⸗ sol ob er in dieſem Winter nach Berlin kommen werde.

Am Tage vor der Abreiſe war auch die Antwort von der „Neuen Revue“ eingetroffen und hatte ge⸗ waltigen Jubel erregt. Die Redaktion der Zeitſchrift akzeptierte die Geſchichte vom Wigelis, verſprach bal⸗ digen Abdruck und ſandte auch gleich dreihundert Mark als Honorar, bat aber die verehrliche Verfaſſerin (die mit „Gnädige Frau“ angeredet wurde) um gelegent⸗ lichen perſönlichen Beſuch, da der Ausgang der Novelle geändert werden ſollte (was keine großen Umſtände veranlaſſen würde).

Elli ſaß gerade beim Morgenfrühſtück, als der Poſt⸗ bote mit Brief und Goldmünze erſchien. Sie war ſo überraſcht, daß ſie erblaßte. Da Chriſtel noch im Nebenzimmer bei der Toilette war, ſchrie ſie mit einer Stimme, die in der Erregung überſchnappte: „Chriſtel⸗ chen! Chriſtelchen! Eine Goldflotte! Eine ganze Ar⸗ mada!“ Chriſtelchen huſchte im Nachthemd herein, bekam einen furchtbaren Schreck, als ſie die rauhe Männergeſtalt des Briefträgers ſah, quiekte und ver⸗ ſchwand wieder. Der Briefträger tat verlegen, grinſte, als er ein Zweimarkſtück geſchenkt bekam, wünſchte Guten Morgen und ging. Nun flog Elli in das Schlaf⸗ gemach Chriſtels, umarmte ſie, tanzte mit ihr herum und ſchrie unentwegt: „Heil Barthel Wigelis! Jetzt

XXVI. 14. 7

iſt mein Koſtüm bezahlt! Außerdem werde ich gedruckt, Chriſtliebchen! Hoch Barthel Wigelis! Hoch Melchior Haberkorn! Hoch Jörg Papenthien!“ Und jedes⸗ mal, wenn ſie die Namen der drei Schelme ſchrie, kriegte ſie Chriſtel um die Taille und ſchwang ſie empor.

hriſtel, die von der ganzen Geſchichte nichts wußte, geriet ein wenig in Angſte. Sie glaubte an einen rätſelhaften pathologiſchen Anfall, der Elli gepackt haben könnte. „Herrjeſes Ellichen,“ ächzte ſie und rang in ihren Armen nach Luft; „was iſt dir bloß? Wer iſt Barthel Haberſtroh? Und wer Melchior Papen Papen FE Papen . .. laß mich doch los ich er⸗

Elli ließ ſie fahren, ſetzte ſich auf den Bettrand, griff in ihre Taſche und ſtreute eine Handvoll Goldſtücke über die Bettdecke. „Mein Kind,“ ſagte fie, „heut biſt du mein Gaſt. Ich halte dich frei; ich kann es. Anſätze zur Millionärin werden ſichtbar. Und zu ewigem Ruhm! Ich bin ſehr bedeutend geworden. Ich komme in die Literaturgeſchichte. Deine Kinder werden mich lernen müſſen. Und wenn ſie meinen Geburtstag nicht wiſſen, kriegen fie einen, Tadel oder eine hinter die Ohren denn meinen Geburtstag muß jeder Ge⸗ bildete kennen! Meinen Todestag auch. In zwei⸗ hundert Jahren werde ich enthüllt werden, und an dieſes Haus kommt eine Tafel mit der Inſchrift: Hier lebte und dichtete Ell Gulla.““

Chriſtel faltete die Hände über ihrem Hemdchen und ſchaute Elli mit wachſender Beſorgnis an. Dann faßte ſie einen energiſchen Entſchluß, öffnete die Tür und ſchrie gewaltig: „Gulla! Liebſte Gulla, ſchnell, ſchnell! Fräulein Elli raſt im Dilirium! Fliedertee! Aber gleich ein paar Liter!“

Nun fuhr die Gulla herein, ſchaute ſich wild und angſtvoll um, ſtürmte auf Elli los und faßte an deren Stirn. „Hat ſich Klein⸗Duſchinka Hitze?“ fragte ſie; „nein, hat ſich Kühlkopp und hat ſich ganz klare Guckerchen —“

„Gulla,“ ſagte Elli und ſtand mit Feierlichkeit auf, „du wirſt hinfüro auch berühmt, und zwar ſehr. Dein Name wird tief in die Tafeln der Literatur⸗ geſchichte eingegraben werden und wird Nonen über⸗ dauern, denn ich habe ihn als Pſeudonym für meine

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unſterblichen Werke erwählt. Hier ſchenke ich dir ein Zwanzigmarkſtück und bitte dich, hebe es auf und zeige es deinen Enkeln und dir, liebe Chriſtel, ſchenke ich auch .. . nein, dir ſchenke ich nichts, denn du biſt reicher als ich, aber ich lade dich zu Kempinski ein, da kannſt du drei halbe Portionen eſſen und zwar nach deiner Auswahl, und nachher gehen wir in eine Konditorei, wo ich dir wiederum freie Speiſung bewillige, bis dir ſchlecht wird.“

„Elli,“ rief Chriſtel, indes die Gulla ſehr verdutzt ausſah, „ich bitte dich jetzt dringend um Aufklärung, ſonſt ſchicke ich augenblicklich zum Arzt und laſſe dir in⸗ zwiſchen Senfpflaſter auf die Füße legen, um das Blut abzuziehen.“

Nun endlich wurde Elli verſtändig und begann zu erzählen. Sie hatte die Geſchichte von Barthel Wigelis immer als ihr Geheimnis betrachtet, in den Nacht⸗ ſtunden daran gearbeitet oder wenn Chriſtel nicht im Hauſe war. Zuerſt hatte ſie ihren eigenen Namen au das Manufkript geſetzt; dann war ihr eingefallen, da Onkel Wolfrad und Tante Dorothea damit vielleicht nicht einverſtanden ſein würden, und hatte ihn in „Ell Gulla“ abgeändert. „Das klingt gut, nicht wahr?“ fragte ſie. „So arabiſch. Jedenfalls ausländiſch. Ausländiſch zieht immer. Es iſt auch kein Verbrechen an einem ehrlichen Namen, denn unſre Gulla heißt nur für uns ſo und heißt eigentlich ganz anders. Ich finde das Pſeudonym glänzend.“

Chriſtel fand dies auch. Sie gratulierte von Herzen, während die Gulla noch nicht ganz klar in die Ge⸗ ſchehniſſe zu ſchauen vermochte, anfänglich auch das Zwanzigmarkſtück nicht nehmen wollte und dann er⸗ klärte, ſie würde es in Stanniol wickeln und jeden Morgen küſſen. Hierauf überlegte Elli gemeinſam mit Chriſtel, ob es nicht am beſten wäre, ſie ginge heute ſchon auf die Redaktion der „Neuen Revue“; die Ab⸗ änderung des Schluſſes der Novelle beunruhigte ſie zwar nicht weiter, da ſie für literariſchen Ehrgeiz noch nicht empfänglich war, aber ſie wollte doch gern wiſſen, wie man ſich den Ausgang der Geſchichte eigentlich wünſchte. Und dann graulte ſie ſich wieder, allein auf die Redaktion zu gehen: Chriſtel ſollte mitkommen. Doch das erachtete Chriſtel nicht für geſchmackvoll,

tröſtete Elli auch cal hätte e e bei dem Blatte ihres Vaters in Emmenthal hätte ſie verſchiedene Redakteure kennen gelernt das ſeien ganz paſſable Leute ge⸗ weſen und fräßen keine kleinen Mädchen.

Da die Univerſität bereits Ferien hatte, ſo machte ſich Elli ſchon am Vormittag auf den Weg nach der Bülowſtraße, wo die Redaktion der „Neuen Revue“ gelegen war, ſchickte ihre Karte hinein und wurde von einem eleganten Herrn in Empfang genommen, der ſichtlich erſtaunt war, ein ſo niedliches junges Mädchen vor ſich zu ſehen.

„Doktor Woltersdorff,“ ſtellte er ſich vor. „Ent⸗ ſchuldigen Sie, gnädiges Fräulein ſind Sie denn wirklich ich meine, ſind Sie die Verfaſſerin des Barthel Wigelis“?“

„Jawohl, Herr Doktor,“ entgegnete Elli ſchüchtern, „das bin ich.“

Der Redakteur ſchob ihr einen Stuhl zu. „Bitte gehorſamſt ... bitte auch nochmals um Verzeihung wegen meiner Frage, aber .. . ja ich hätte die Ver⸗ faſſerin nicht für eine eine Dame in ſo jugend⸗ lichem Alter gehalten —“

„Aber weshalb denn nicht?“ wagte Elli einzuwerfen. „Weil . . ja nun, ſehen Sie weil dies Geſchicht⸗ chen mit einer ſo reizenden Frechheit erzählt iſt Pardon wegen des Ausdrucks mit einer ſo kecken Rückſichtsloſigkeit, daß ich unwillkürlich ein erfahrenes Alter vorausgeſetzt habe ...“

Elli bekam einen Schreck. Sie wußte gar nichts von ihrer „reizenden Frechheit“ ſie hatte die Ge⸗ ſchichte ſo hingeſchrieben, wie ſie ſie im Sinne der Zeit für drollig und unterhaltſam gehalten hatte. Aber nun wurde ſie rot und ſchämte ſich beinahe. Um Himmels willen, Frechheiten von ihr ſollten nicht gedruckt werden .. . „ſoll ich vielleicht noch ein paar Abänderungen treffen, Herr Redakteur?“ fragte ſie. „Die Szene mit der Bäckerin im Teigtrog iſt doch wohl zu derb —“

„Nein, nein, nein, nein!“ rief Doktor Woltersdorff faſt heftig und hob beide Hände, „— im Gegenteil, da könnten gang gut noch ein paar Lichterchen hinein aber ich will Sie damit nicht quälen, will dem Ganzen auch nicht feine Friſche rauben. Nur eins, gnädiges Fräulein —“ er zog aus der Schublade ſeines Schreib⸗

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tiſches eine Anzahl Druckfahnen „der Schluß muß etwas anders werden. Sie ſehen, ich habe die Novelle bereits ſetzen laſſen ſie gefällt mir ſo ausnehmend, daß ich ſie ſchon im nächſten Hefte bringen möchte nur der Schluß, den müſſen wir anders geſtalten.“

„Aber wie —?“ fragte Elli kleinlaut.

Der Redakteur ſchlug mit der Rückſeite ſeiner rechten Hand über die Abzüge. „Sie laſſen den Wigelis mit ſeiner Bäckin ſchließlich glücklich werden,“ ſagte er. „Das iſt zu konventionell, das iſt vieu jeu. Es wäre viel hübſcher, wenn der Wigelis an den Galgen käme.“

Elli bekam abermals einen kleinen Schreck. Mein Gott, wie ging man hier mit ihren Geſchöpfen um! Der Barthel Wigelis an den Galgen ... „Aber warum denn?“ fragte ſie und wurde immer kleinlauter.

„Weil es realiſtiſcher iſt, gnädiges Fräulein,“ ant⸗ wortete Doktor Woltersdorff mit Überzeugung.

Daraufhin wußte Elli nicht viel zu ſagen. Der Redakteur mußte das ja beſſer verſtehen. „Nun ja,“ antwortete fie ſtockend, „wenn Sie meinen —“

„Zweifellos!“ rief der Doktor. „Dieſer Schluß iſt etwas für „Gartenlaube“, ‚Daheim‘, ‚Welt und Haus“ für die Familienblätter. Da liebt man es, wenn endgültig alles glücklich verläuft, wenn der Hans ſeine Grete kriegt —“

„Aber das kommt doch vor!“ warf Elli ein, die nun lebhafter zu werden begann und ihre Schüchternheit überwand, „— und gerade der Barthel Wigelis, der zwingt doch ſozuſagen fein Glück —“

„Das iſt es eben! Das iſt es ja grade, gnädiges Fräulein! Das erwartet der Leſer. Und deshalb iſt es künſtleriſcher, wenn wir ihn enttäuſchen. Für uns iſt das Glück zu wohlfeil —“

„Auch wenn es teuer erkauft iſt?“

Der Doktor ſtutzte einen Augenblick und nickte dann energiſch. „Erſt recht, mein Fräulein! Das wäre ein⸗ fach eine Illuſtration zu der Überſchrift, „Durch Nacht zum Licht‘ oder Es muß doch Frühling werden“. Das gibt's nicht bei uns und dadurch unterſcheiden wir uns von den üblichen Familienblättern. Weder Glück noch Stern; ſtatt des Lichts gebrochene Farben von feinſter Wirkung; ſtatt des Frühlings ſterbende Natur im Herbſt, fallende Blätter und der dumpfe Geruch,

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der dem naſſen Laube entſtrömt. Wiſſen Sie was, gnädiges Fräulein? Laſſen Sie den Wigelis nicht allein hängen. Laſſen Sie auch ſeine Spießgeſellen hängen, den Haberkorn und den Papenthien. Alle drei.“

„Gleich alle drei?“ wiederholte Elli ganz entſetzt.

„Jawohl, gleich alle drei! Die apokalyptiſchen Reiter. Krieg, Peſtilenz und Teuerung ſcheiden aus der Welt. Symboliſch ſehr hübſch. Natürlich ſoll das nicht traurig wirken, ſondern tragikomiſch. Tragi⸗ komiſch!“ rief er noch einmal. „Das iſt das Geheim⸗ nis jedes großen Erfolges: das Publikum unter Tränen lächeln zu laſſen. Bei Ihrer ausgeſprochen realiſtiſchen Begabung wird Ihnen die kleine Anderung ja leicht 1985 Aber ich muß ſie binnen drei Tagen in Händen

aben ...“

Elli überlegte nicht mehr. Bei dreihundert Mark Honorar konnte der Redakteur ſchon das Hängen ver⸗ langen. Nur die drei Tage Terminzeit ängſtigten ſie etwas. Schließlich mußte ſie den Galgen für Wigelis und Genoſſen in Falkenhagen errichten. Das ließ ſich ſchon machen.

Als ſie zu Chriſtel zurückkehrte, nahm ſie ſie bei⸗ ſeite und ſprach mit Eifer in ſie hinein. „Hör, Chriſtel⸗ chen, es wird nötig fein, daß mein Pſeudonym for ever ungelüftet bleibt. Es iſt etwas geſchehen, was ich ſelbſt nicht ahnte. Ich habe ein wahnſinnig realiſtiſches Talent. Ich ſchreibe die tollſten Frechheiten nur immer ſo nieder, als ſei es gar nichts. Ich bin von einer un⸗ erhörten Rückſichtsloſigkeit, ſobald ich die Feder er⸗ greife. Menſchen, die ruhig weiterleben könnten, laſſe ich an den Galgen hängen. Ich kenne weder Glück noch Stern, Chriſtel. Chriſtelchen, ich kann dir ſagen, ich bin eigentlich greulich. Natürlich immer nur mit der Feder. Deshalb muß aus Familienrückſichten ver⸗ Be K daß Ell Gulla eigentlich Fräulein von

ofer iſt ...“

Chriſtel ſah dies ein und verſprach Diskretion und war im übrigen ſehr neugierig auf jene entſetzliche Ge⸗ ſchichte, die Elli ihr jedoch noch vorenthielt. Am nächſten Morgen trennte man ſich; Chriſtel vergoß ein Tränchen und lachte dabei, was Elli in der Erinnerung von geſtern als eine „Wirkung des Tragikomiſchen“ definierte. Dann fuhr Chriſtel nach dem Potsdamer Bahnhof und

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Elli nach dem Friedrichſtraßenbahnhof, wo Hans⸗Jaſper ſie bereits erwartete. Und nun ging es mit Dampf in eine verſchneite Landſchaft hinein, über die ein graues Gewölk ſeine Decken hing.

Auch über Falkenhagen hatten ſich Wolken zu⸗ ſammengezogen. Baron Koſer kränkelte ſeit Herbſt⸗ beginn. Die Arterienveränderung hatte Fortſchritte ge⸗ macht, aber nicht in dem Maße, daß ſie zu ernſthaften Befürchtungen Anlaß gegeben hätte; ſchlimmer war der allgemeine Erſchöpfungszuſtand Wolfrads, der lang⸗ ſame Rückgang aller Lebenskräfte. Der Hausarzt hatte angeraten, den Süden aufzuſuchen; doch Wolfrad wollte davon nichts wiſſen. Er wünſchte nicht, ſeine Frau zu beunruhigen, vor der er ſein Befinden nach Möglichkeit verheimlichte. Dorothea war auch nicht geneigt, ſich irgendwie ängſtlich zu zeigen. „Ich kenne den Onkel,“ ſagte ſie gelegentlich zu Elli, „du kannſt dir wohl denken, wie gut ich ihn in unſerer langen Ehe kennen gelernt habe. Er läßt ſich gern gehen. Er iſt in den letzten Jahren ein wenig bequem geworden und ſcheut ſich vor der Unruhe des Berliner Winters. Aber das iſt Tuerei, Elli. Gerade für ihn iſt Ab⸗ wechſlung vonnöten. Seine Nerven bedürfen einer gewiſſen Aufmöblung. Zeige dich ihm nur immer von deiner heiterſten Seite, liebes Kind!“

Elli verſuchte das nach Kräften. Der Weihnachts⸗ abend, an dem Elli reich beſchenkt wurde, verfloß auch ganz vergnügt; aber am erſten Feiertag fühlte ſich der Baron ſo hinfällig, daß er nicht beim Mittageſſen er⸗ ſchien und Elli bitten ließ, ihm auf ein halbes Stünd⸗ chen Geſellſchaft zu leiſten. „Geh du nur zu ihm,“ ſagte Tante Dorothea, „er plaudert gern mit dir erzähl ihm irgend etwas Luſtiges, verſtehſt du? Die Hauptſache iſt, daß er nicht immerfort an ſich ſelbſt und ſein eingebildetes Leiden denkt daß er abgelenkt wird. Lies ihm eine heitere Geſchichte vor in der Bibliothek findeſt du Romane von Winterfeld und Hack⸗ länder, die hat er früher immer fo gern geleſen ...“

Aber Winterfeld und Hackländer taten es heute nicht. Der Onkel wehrte von vornherein ab. „Um Gottes willen,“ ſagte er, „nur nicht vorleſen! Der alte Winterfeld nun ja, ich habe über ſeinen harmloſen Blödſinn oft genug gelacht, und auch an Hackländers

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‚Wachtſtubenabenteuer denke ich immer noch gern zu⸗ rück. Heute gilt der Humor nichts mehr, wenn er nicht ſeinen Stachel hat, wenn er nicht in bittere Satire ge⸗ taucht iſt oder wie der Clown in der Groteske hüpft. Man lacht heut auch nicht mehr wie früher. ... Ich danke dir, Schätzchen, Vorleſen greift mich an. Aber erzähle mir etwas von deinem Leben in Berlin. Von der Univerſität, der Geſellſchaft wo warſt du über⸗ all? Die Gräfin Zicka hat an die Tante geſchrieben, du hätteſt ihr ſo gut gefallen. Auch deine Freundin Chriſtel. Habt ihr euch bei der Zicka amüſiert? Nee das kann ich mir denken

Elli ſaß neben dem Onkel in dem hohen gotiſchen Raum ſeines Arbeitszimmers. Das Feuer brannte im Kamin, ſonſt nur noch die verhängte Lampe auf dem breiten Schreibtiſch. Der Onkel lag auf der Chaiſe⸗ longue und hatte die Pelzdecke bis an das Kinn gezogen. Elli ſah ſein wächſernes Geſicht mit dem blauen Geäder an den Schläfen und den müden Augen, und das Herz tat ihr weh. Sie gab ſich Mühe, luſtig zu ſein, und entwarf ihm eine ſcherzhafte Schilderung von der eigentümlichen Geſellſchaft bei der Zicka und dem intereſſanten Abend im Reichskanzlerpalais. Und nun lächelte er auch, nahm ihre Hand, ſtreichelte ſie und ſagte: „Ganz gut, mein Herz, daß du in dieſem erſten Winter nicht gar zu eifrig hinter den Büchern ſitzeſt. Ganz gut ſo. Auch das Weltbild will vergrößert werden. Unſre Geſellſchaft, ſo wie ſie iſt, iſt ein Bioſkop, von deſſen wechſelnden Eindrücken manches haften bleibt. Es gibt viele, die da behaupten wollen, daß uns das Geſellſchaftsleben verflache. Nicht immer; die Ver⸗ allgemeinerung trifft nicht zu: es ſchafft doch auch ſtarke Anregungen. Vor allen Dingen aber legt es unſern Gefühlsäußerungen einen gewiſſen Zwang auf, der gar nicht zu unterſchätzen iſt, weil er die Selbſt⸗ beherrſchung vermehrt und die Entwicklung des In⸗ dividuums fördert.“

„Darin haſt du gewiß recht, Onkel,“ antwortete Elli. „Schließlich iſt der Geſelligkeitstrieb ein ange⸗ borener, und es mag ſeine Gefahren haben, ihn ge⸗ fliſſentlich verkümmern zu laſſen, wie er anderſeits zweifellos auch ausarten kann. Ich fürchte für mich keins von beiden. Ich möchte meine Studien nicht

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vernachläſſigen, werde aber immer noch Zeit finden, mir das Parfüm der großen Geſellſchaft um die Naſe wehen zu let Das heißt alſo: ich werde unter gütiger Beihilfe Hans⸗Jaſpers eine geeignete Auswahl treffen und nur dorthin gehen, wo in der Erſcheinungen Flucht auch eine gewiſſe ‚Teilnahme an den Dingen‘ zu erwarten ſteht, um mit Goethe zu ſprechen. Wobei es uns allerdings paſſieren kann, daß wir uns täuſchen; denn auch Hans⸗Jaſper iſt kein Hellſeher.“

„Wie findeſt du ihn?“ fragte Wolfrad. „Wie findeſt du, daß ſich der Junge entwickelt hat? Aber ehrliche Meinung, Liebling!“ -

„Ganz ehrlich, Onkel: ich finde, daß er ein prächtiger Menſch geworden iſt. Anlagen dazu hatte er immer. Ich weiß, er hat auch ſeine leichtſinnigen Stunden gehabt. Die können manchem lebenslang nachhängen und ihm das ganze Daſein verderben. Ein Glück für ihn, daß ſie vorübergegangen ſind, ohne Spuren zu hinterlaſſen. Und ich glaube, dazu hat gerade dein Einfluß viel getan, Onkel ...“ Sie lachte. „Das klingt beinahe, als wollte ich dich in eine nette Schmeichelei einwickeln und dir auf deinem Krankenlager ein Zuckerl geben. Aber es iſt ſchon wahr.“

Wolfrad nickte. „Ich glaube es auch,“ ſagte er. „Ich habe ihn in vielen Dingen ſeine eigenen Wege gehen laſſen, denn ich bin immer der Anſicht geweſen, daß alle aufſtrebende Kraft den beſten Regulator in ſich ſelber findet. Aber ich habe es wenigſtens fertig bekommen, ihn von früh auf den leitenden Händen ſeiner Mutter zu entziehen. Und ſiehſt du: da komme ich auf die Tragik meines eigenen Lebens. Das Gute das viele Gute in Tante Dorothee iſt nicht gut für mich. Es würde auch eine nutzloſe und vielleicht nicht ungefähr⸗ liche ſeeliſche Belaſtung Hans⸗Jaſpers geweſen ſein, denn Hans⸗Jaſper iſt mein Kind, iſt mein Fleiſch und Blut. Es hat damals ſchlimme Szenen gegeben, als ich ihn in das Kadettenkorps ſteckte. Aber der Erfolg war günſtig; von dem Augenblick ab, da er hier herauskam aus all dem dem kleinmenſchlichen Treiben, du wirſt mich verſtehen, da geſundete er. Ich mußte freilich auf eine univerſalere Erziehung verzichten und mit einer ziemlich einſeitigen vorlieb nehmen; aber ſie hat ihn wenigſtens zum Mann gemacht.“

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„Ja, Onkel du kannſt dich freuen über ihn. Auch was du von ſeiner Einſeitigkeit ſprichſt, ſollte dich nicht grämen. Er findet zur Schablone ſeines Berufs immer wieder ein Gegengewicht, er hat mannigfache Intereſſen, und mich dünkt, auch ſeine Anweiſung auf die große Welt erweitert ihm das Leben. Und endlich, Onkel: wie lange wird er denn Offizier bleiben! Du kannſt ihm, wenn du Luſt haſt, die Bewirtſchaftung deiner Güter übergeben, und damit gewinnt er ein neues Feld ſeiner Tätigkeit, gewinnt zu der Einheit die Vielheit, eine kleine Welt von Welten, eine größere Weite des Daſeins. Warte ab, wie er ſich da in ſelbſtän⸗ digerer Betätigung auch ſelbſtändiger entwickeln wird!“

„Meine Zeit iſt zu knapp, abwarten zu können,“ verſetzte Wolfrad trübe. Doch da wurde Elli ſcheinbar böſe. „Onkel, ich glaube doch beinahe, die Tante hat recht,“ rief ſie; „du ſpinnſt dich in Befürchtungen ein, denen jede Wirklichkeit fehlt. Du biſt ein Hypochonder geworden, Onkel. Du ſprachſt vorhin von dem Klein⸗ menſchlichen, o ich verſtand dich ſchon, aber du fällſt ſelbſt in das Kleine hinein!“

„Es iſt möglich, Elli, und vielleicht liegt es wirklich nur an mir. Ich bin Zeit meines Lebens zu ſchwach geweſen, mich gegen den Einfluß des Kleinlichen zu wehren, und tat ich es, dann geſchah es nur auf Um⸗ wegen: ich war immer zu bequem zum Kampfe. Meiner ganzen Natur widerſpricht die Häßlichkeit des Streitens und ſo kam es, daß ich Schritt auf Schritt zurückgewichen bin daß dieſe unſelige Feigheit mir in entſcheidender Stunde auch die Würde nahm. Ja, Elli widerſprich mir nicht es war nicht edelmänniſch, es war nicht einmal menſchlich gehandelt, daß ich dich auf Bitten der Tante hin dieſem dieſem Bieſt überließ ...“

Er ſprach nicht weiter. Als er in wachſender Er⸗ regung dies Schimpfwort ausgeſtoßen hatte, ein Wort, wie es nicht oft von ſeinen Lippen kam, brach er ab, zog ſeine Decke höher und wandte ſich mit geſchloſſenen Augen zur Seite, als ſchäme er ſich.

Elli glitt vor ihm nieder und küßte ſeine Hand. Sie hatte tiefes Mitleid mit ihm, denn ſie ſah, wie er litt. Sie behielt ſeine Hand in der ihren und führte ſie an ihre Wange und ſagte zärtlich: „Laß das Ver⸗

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gangene begraben fein, Onkel, ich bitte dich. Die Liſtowska konnte mir nicht ſchaden; ihr Gift hat in mancher Beziehung ſogar eine heilende Wirkung getan und mich immun gemacht gegen allerhand Gefahren. Wahrhaftig! Was regſt du dich noch auf über Dinge, die längſt vergeſſen ſind!“

„Mein liebes Kind, wenn du ahnteſt, was ich an dir gut zu machen habe! Und wenn du wüßteſt, welche Komödie ich ſpielen mußte, um wieder gut zu machen, was ich verwirrt und verfahren hatte! Der Wahrheit die Ehre, Elli: ich bin im tiefſten Herzen glückſelig geweſen, daß du damals geflohen biſt! Ich habe mit Abſicht an dich und Fräulein Hagen ſo kühle Briefe geſchrieben, weil ich nicht wollte, daß du zurückkehrteſt, ehe du nicht feſter geworden wäreſt, ſelbſt deine Freiheit zu verteidigen. Denn hier hier war inzwiſchen die letzte Kammer der Sonne dunkel geworden. Hier war kein Leben mehr für deine Kindheit ...“ Er ſeufzte ſchwer auf und fragte mit leiſer Stimme: „Elli, glaubſt du, daß ich dich lieb habe?“

Erſchüttert küßte ſie abermals ſeine Hand. „Ja, Onkel ich weiß es, ich weiß es! Ich wußte es zu jeder Zeit auch damals, als du hart zu mir warſt!“

Jetzt wandte er ihr wieder ſein Geſicht zu, und es ſchien, als ſteige unter der wächſernen Haut ein friſcher Blutſtrom auf. „Ich habe kein Töchterchen gehabt,“ ſagte er, „und habe es mir immer gewünſcht. Ich wollte, du wärſt es. Hör mich einmal in Ruhe an, Elli. Deine lieben Worte über Hans⸗Jaſper haben mir neue Hoffnung gegeben. Noch lebe ich ja aber ich fühle, das Leben rinnt nur noch. Ich möchte euch beide in glücklicher Sicherheit wiſſen, ehe ich ſcheide. Es ſchadet nicht, daß ihr beide noch jung ſeid; gerade eure Jugend iſt Bürgſchaft für mich. Wenn ihr euch fändet dann könnte man mich ruhig zu Grabe tragen.“

Elli erhob ſich langſam. Sie lächelte. „O Onkel wo denkſt du hin! Hanni und ich?! Schau her, wie mich das heiter ſtimmt! Sprich nicht von deinem Sterben und nicht von unſerm Leben, Onkelchen! Oder wenn du es tuſt, lache dich ſelber aus wir lachen mit.“

„Elli, ich ſpreche im vollen Ernſt.“

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„Onkel, er lohnt ſich nicht. Vergiß doch auch nicht meine bürgerliche Mutter!“

„Der Fideikommißkodex ſpricht nur von einer Deſzendenz aus adliger Ehe. Euren Kindern wäre alſo die Erbſchaft geſichert.“

Elli wurde rot. „Gut, Onkel, daß du nicht auch ſchon die Enkel erwähnſt. Du re deine Pläne weit. Laß Hanni noch in der Freiheit und auch mich!“

„Elli, wer ſich einmal in eine Lieblingsidee verrannt hat, kommt nicht ſo leicht von ihr los. Deine fröhliche Stimmung ſtört mich nicht.“

„Und die Tante ? Was ſagt ſie zu deiner Idee?“

„Sie kennt ſie nicht. Vielleicht würde ſie auch dagegen ſein: deiner Mutter halber und weil du ihr nicht reich genug biſt. Ich will ihr zuvorkommen.“

„Aber Hans⸗Jaſper denkt nicht daran. Er denkt nicht daran!“

„Frage ihn.“

Elli lachte wieder luſtig auf. „Das wäre nicht übel! Einfach fragen: Hanni, willſt du mein Mann werden? Und dann antwortet er unter holdem Erröten: Sprechen Sie mit meinem Vater, Fräulein.“

Nun wurde auch Wolfrad heiter. Aber die Stimmung hielt nicht an. Die Tür ging auf und Dorothea erſchien, um Elli „abzulöſen“, wie ſie ſagte. Ihr hatte das Zwiegeſpräch ſchon zu lange gedauert; ſie lebte in be⸗ ſtändiger Furcht, ihr Mann könne „Dummheiten machen“, und hatte ihn gerade Elli gegenüber gern unter der Kontrolle. a

Es war ſpät geworden. Elli verabſchiedete ſich von Onkel und Tante; ſie wollte noch ein paar Briefe er⸗ ledigen und ſich frühzeitig zu Bett legen. Hans⸗Jaſper hatte ſie zwar aufgefordert, mit ihm auf den Anſtand zu gehen, doch die ſchneidende Kälte lockte ſie nicht. Sie ließ ſich von Diethammer Tee auf ihr Zimmer bringen und ſetzte ſich dann an den Schreibtiſch; aber nicht, um Briefe zu ſchreiben, wie ſie vorgeſchützt hatte, ſondern um den Schluß der Geſchichte von Wigelis nach den Wünſchen des Herrn Doktor Woltersdorff „tragikomiſch“ abzuändern. 9

Diethammer hatte ein Seitentiſchchen fein ſäuber⸗ lich gedeckt, die Flamme unter dem Samowar an⸗ gezündet, Teeglas, Zucker, Rum und ein paar Teller

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mit Gebäck und belegten Brötchen danebengeſtellt und fragte nun: „Wann befehlen gnädiges Fräulein, daß ich wieder abnehme?“

„Gar nicht, Diethammer,“ entgegnete Elli; „laſſen Sie ruhig alles ſtehen ich werde noch ziemlich lange zu ſchreiben haben.“

In der Tat hatte Elli die Abſicht, den neuen Schluß ihrer Geſchichte in einem Zuge niederzuſchreiben. Ihr war am Nachmittage eine niedliche Idee eingefallen, die dem Hängedrama das Schaurige nahm und ſich auch gut dem Verlauf der Novelle anfügte. Sie ſuchte aus ihrem Koffer die Korrekturfahnen hervor und las das Ganze noch einmal durch. Dabei regte ſich zum erſten Mal etwas von Autoreneitelkeit in ihr. Wahr⸗ haftig, dieſe tolle Geſchichte gefiel ihr! Ein bißchen Keckheit („reizende Frechheit“, ſprach ſie halblaut vor ſich hin und lachte) ſteckte freilich in den Schilderungen; aber dafür lebte Barthel Wigelis auch in einer Zeit, da die Prüderie noch nicht erfunden war und Simplex und Oliver und die Landſtörzerin Kuraſche noch luſtig ihr Weſen treiben konnten, ohne das geſtrenge Auge eines Staatsanwalts zürnend auf ſich zu lenken. Hie und da überlegte Elli, ob ſie nicht ein derbes Wort mil⸗ dern ſollte; aber nein, ſie tat es nicht: es paßte nun einmal zum Zeitgewand ſie fand ſogar, daß Doktor Woltersdorff recht hatte: daß man an einigen Stellen noch ein paar „charakteriſtiſche Lichterchen“ anzünden konnte ... Elli begann zu korrigieren, und dabei fiel ihr ein, wie entſetzt wohl Tante Dorothee ſein würde, wenn ſie dieſe Geſchichte zu leſen bekäme und herauskriegte, daß ihr zahmes blondes Nichtchen der Verfaſſer wäre. Und unwillkürlich ſchweiften die Gedanken weiter, kehrten auch zu dem Onkel zurück haft blieben bei ſeinem närriſchen Heiratsvorſchlage

aften.

Da warf Elli die Feder fort und ſprang in die Höhe. Zu dumm, daß ihr das mitten in der Arbeit einfiel! Es regte ſie plötzlich auf. Sie goß ſich ein Glas Tee ein, trank ein paar Schluck, marſchierte im Zimmer auf und ab und blieb dann am Fenſter ſtehen. Man hatte vergeſſen, die Jalouſieen zu ſchließen: unten lag der Park, tief eingebettet im glitzernden Weiß des Schnees, eine Märchenlandſchaft, in der kein Hauch

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ſich rührte. Das Mondenlicht glitt ſanft über die winterliche Pracht, in der Färbung alten Silbers, die nur auf dem Geäſte der Bäume und des Strauchwerks die blitzende Durchſichtigkeit des Kriſtalles zeigte. Elli ärgerte ſich über die Gedanken, die ſie ſich machte. Aber der Arger verflog raſch und machte behaglichem Humor Platz. Es war wirklich luſtig: ſie und der Hanni! Sie paßten zuſammen wie Tag und Nacht. Das hätte eine Ehe gegeben, in der man die Tage der Ruhe hätte zählen können. Hans⸗Jaſper war ein lieber Kamerad aber als Ehemann war er gar nicht zu denken. Wie ſie ihn kannte, fiel es ihm bei ſeinen vierundzwanzig Jahren auch gar nicht ein, ſich ſchon ſo früh für Lebenszeit zu binden. Der wollte noch ſein Daſein genießen und er hatte auch recht. Elli verſtand ja den Onkel. Er fürchtete, Hanni könne ſich vergaloppieren und irgend eine Dummheit machen, die das Fideikommiß in Gefahr brächte. Da ſuchte er ihn lieber beizeiten feſtzulegen; er wollte Ordnung haben, ehe man ihn auf den Kirchhof hinaus⸗ trug. Und Elli verhehlte ſich auch nicht, daß des Onkels Geſundheit zweifellos ſtark erſchüttert war. Er ſiechte an ſeiner unglücklichen Ehe dahin und an den Selbſt⸗ vorwürfen, die um ſo bitterer wurden, je mehr er einſah, daß ſie berechtigt waren. Er war in der Tat ein Opfer ſeiner Bequemlichkeit geworden, die ihm als das Viſum eines vornehmen Mannes galt und doch nichts weiter als Feigheit war. In der glatten Korrektheit ſeiner Lebensführung ſcheute er ängſtlich vor Hader und Streit zurück; und wie er ſich gelegentlich lieber einmal von ſeinen Domeſtiken betrügen ließ, ehe er ſie davonjagte, um ſich nicht erſt wieder an neue Geſichter gewöhnen zu müſſen, ſo war er auch allzeit den Nörge⸗ leien ſeiner Frau ſorgſam aus dem Wege gegangen, ſtatt ihr mit feſter Energie zu begegnen. Er war ein bedauernswerter Mann; aber auch das Mitleid konnte keine widerſpruchsloſe Unterwerfung verlangen. Elli ſagte ſich, daß es am beſten ſein würde, ſich offenherzig mit Hans⸗Jaſper über die Wünſche ſeines Vaters zu verſtändigen; wenn der Onkel ſah, daß der Widerſtand gegen ſeinen Plan ein gemeinſamer war, ließ ſich an⸗ nehmen, daß er ihn von ſelbſt fallen laſſen würde. Noch ſtand Elli am Fenſter. Aber ſie war ruhig

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geworden. Sie nickte ſich ſelbſt zu. Das war das richtigſte: ſie wollte ſich mit Hans⸗Jaſper ausſprechen. Er war ein verſtändiger Junge und wurde am ſchnellſten mit ſeinem Vater fertig.

Sie trank ihren Tee aus und ſetzte ſich wieder an den Schreibtiſch. Nun war der Kopf klar, und die Arbeit ging flott vor ſich. Sie ſchrieb, ohne die Zeit zu beachten. Eine kleine Rokokouhr ſtand auf dem Geſims des Tiſches, und wenn ihre Feder zögerte und ſie ſinnend den Kopf erhob, traf ihr Auge den langſam wandernden goldenen Zeiger. Aber ſie achtete gar nicht der Stunde. Die Mitternacht kam: ſie ſchrieb weiter. Es war ein Uhr durch, als ſie zu Ende kam; doch ſie hatte noch nicht das Schlußwort geſchrieben, als ſie vermeinte, ein leiſes Pochen an der Tür zu ver⸗ nehmen.

So war es auch. Hans⸗Jaſper ſteckte den Kopf durch den Türſpalt und trat dann ein: in Pelzjacke, mit hohen Stiefeln, Schneeſtaub auf dem Anzug und blieb verwundert ſtehen.

„Nun ſag mal, Allerſchönſte,“ begann er, „was heißt mich dies? Um dieſe Zeit liegen geſittete Mädchen hübſch in der Baba und träumen von Süßigkeiten und du biſt noch wach?“

„Wie du ſiehſt, edler Nimrod,“ antwortete Elli. Sie ſchlug die Schreibmappe zuſammen und legte ſie in das Schubfach. „Ich benützte die Nachtruhe, ein paar wichtige Briefe zu beantworten. Haſt du einen „kapitalen Ungraden‘ erlegt? Der Jagdausdruck iſt doch richtig?“

„Er ſtimmt. Aber erlegt habe ich nichts. Ich bin draußen ſentimental geworden. Ich ſah wohl ein paar Kreaturen und hatte auch ſchon den Schießprügel im Anſchlag. Da taten mir die Bieſter leid. Ich war nicht in Mordſtimmung. Der Mondenſchein wirkt äſthetiſch mildernd. So bin ich zu Fuß nach Hauſe getappſt, ſah noch Licht hinter hochdero Fenſtern und klopfte an. Und gerade, weil es durchaus unpaſſend iſt, nachts um halber zwei eine Couſine zu beſuchen gerade darum trat ich ein.“

„Und biſt willkommen. Wider den Stachel zu löken iſt immer amüſant. Willſt du ein Glas Tee haben? Im Samowar brodelt's noch.“

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„Es wäre fo übel nicht; ich bin ausgefroren. Einen guten Schuß Rum, wenn ich bitten darf. Erlaubſt du, daß ich die 1 5 ede Ich ſehe darunter auch noch ganz hübſch a

„Du darfſt dir ſogar ine Zigarre anfteden, und 10 fi du zufällig eine Zigarette bei dir haſt, nehme ich fie an.“

„Alles da, Couſine ...“ Er legte den Pelz ab und ſtand nun in hochgeſchloſſener, mit Armeln ver⸗ ſehener Jagdweſte vor ihr... „Ganz ſchick, nicht wahr? Dagegen könnte auch die Zicka nichts ſagen. Die Weſte iſt ſogar neu und nicht einmal Boomwolle, ſondern gefüttertes Leder. Beachtenswert, würde Herr Leopold von Leiſter ſagen, der Gardehammel. . .. Es iſt furcht⸗ bar gemütlich hier, Elli. Auch haſt du eine nette Art, den Tee zu ſervieren und die Zigarette zwiſchen den Lippen zu halten. Wie du überhaupt eine nette Art haſt nicht nur als Spezialiſtin, ſondern auch im allgemeinen.“

Elli zerrührte den Zucker im Tee und gab ihm Feuer für die Zigarre.

„Ich danke dir für deine gute Meinung. Nun ieh dich, Hanni. Laß mich einmal an deinem Tee nippen. Brrr, ſchmeckt der Rum ſchar

Sie gab ihm das Glas. „War hübſch, der Vor⸗ trunk,“ jagte, er. „Man fieht, wo deine Lippen an⸗ geſetzt haben“ er trank „man ſchmeckt ſie auch.“

„Es iſt der Spiritus!“ lachte ſie.

Ja aber der deiner Seele, nicht der aus Ja- maika.“

„Hanni, hör auf mit den Komplimenten! Ich möchte einmal ernſthaft mit dir ſprechen.“

Er ſetzte das Glas auf den Tiſch zurück und warf haft eg in den Nacken. „J nanu,“ rief er, „ernſt⸗

aft?!

re halb und halb. Es iſt auch Pläſier⸗ liches dabei.“

„Über Muttern?“

„Nein über Vatern.“ „Aha wie fandeſt du ihn?“

„Elend, Hanni. Ich glaube nicht, daß ſein Zuſtand gefährlich iſt nein, das glaube ich nicht. Aber die Nervoſität macht ihn hinfällig.“

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Hans⸗Jaſper nahm einen langen Zug aus ſeiner Zigarre. „Ich kenne die Urſache, liebſte Elli. Kenne ſie lange. Die Mama ach ja, die! Ich will mich nicht ausſprechen. Verſtehen wirſt du mich wohl ...“ Er paffte ſtark ... „Das find fo die Wolken, die über den Himmel unſrer Jugend ziehen. Und das Verfluchte iſt, daß kein Sturm ſie vertreiben kann! Ich habe lange die ſogenannte Diplomatie Papas für das einzig Richtige im Verkehr mit der Mama gehalten aber ich ſehe ein: es war das Falſcheſte. Ein Donnerwetter wäre zweckmäßiger geweſen. ... Nun iſt es zu fpät. Der Papa iſt alt geworden.“

Elli hatte ſich dem Vetter gegenübergeſetzt. Sie nickte. „Ja, das iſt er. Er grübelt zu viel, und in der hypochondriſchen Befürchtung, daß er nicht mehr lange leben könnte, ſchmiedet er die abſonderlichſten Pläne. Sein neueſter iſt, aus uns beiden ein Pärchen zu machen. Im vollen Ernſt, Hanni! Ich hab's ihm nicht ohne weiteres ausreden können, obwohl ich allerlei Luſtiges auf der Zunge hatte ich ſah, daß er die Geſchichte wahrhaftig ganz ſeriös meinte. Da müſſen wir beide uns denn vereinigen und ihm gemeinſam die Wahrheit ſagen. Das Beſte iſt zweifellos, die Sache von der komiſchen Seite aus zu betrachten auch das Richtigſte. Wir werden uns lachend ſeiner Zukunftsmuſik zu erwehren ſuchen. Nicht wahr?“

Aber Hans⸗Jaſper ſah keineswegs ſo aus, als ob er zum Lachen geneigt wäre. Es lag ein tiefer Ernſt auf ſeinem Geſicht. Er ſenkte ein wenig den Kopf und hob ihn dann wieder mit ſtarkem Ruck und ſagte: „Ent⸗ ſchuldige, Ellichen ich finde, daß die Idee Papas gar nicht ſo lächerlich iſt.“

„Du mußt dich nicht an das Wort klammern. Ich ſprach auch nicht von lächerlich, ſondern von lachender Abwehr. Das iſt ein Unterſchied. Mach nicht ſo ein böſes Geſicht, Hanni!“

Er warf ſeine Zigarre in die Aſchenſchale. „Böſe —? Ich denke nicht dran! Aber ...“ nun fing ſein Blick den Ellis auf und hielt ihn gewiſſermaßen feſt „aber ich bin auch nicht gerade heiter geſtimmt nach deinem Vorſchlage einer Koalition gegen die Wünſche Papas .. Papa iſt mir zuvorgekommen. Er hat zu früh eingeſetzt. Das wollte ich nicht. Indeſſen es

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iſt einmal geſchehen. Und da möchte ich dich denn fragen: warum nicht? Paſſen wir nicht ganz gut zu⸗ einander?“

Elli erblaßte. Sie ſah in das Auge Hans⸗Jaſpers. Da flatterten nicht wie ſonſt hundert Wimpel und grüßten. Es war tief geworden und dunkel.

Elli erhob ſich raſch. Noch wollte ſie nicht an den Ernſt ſeiner Frage glauben. Sie wollte lachen. Aber ihr Auflachen klang gequält. „Hanni,“ rief ſie, „wir würden ein köſtliches Ehepaar abgeben, wir zwei! Immer würde ein Wirbelwind durch unſer Haus brauſen, und dein Schädel und meiner würden zuſammen⸗ fahren wie zwei Streitkolben! O ja wir paſſen ſchon zu einander, aber als gute Freunde, die wir auch bleiben wollen, nur nicht unter dem Joch enger Gemeinſamkeit oder ich will zarter ſein: nicht unter den Roſenketten der Ehe. Nein, Hanni, da würden wir unglückſelige Leute dazu ſind wir zu ſchade, bei Gott!“

Er war ſitzen geblieben und ſprach langſam und ruhig. „Du verkennſt mich, Elli,“ ſagte er, „wenigſtens in mancher Beziehung. Du ſiehſt in mir immer nur den flotten Burſchen, deſſen Seele keine Reibungsflächen hat als höchſtens die luſtigen Widerſpruchs. Und ſiehſt in mir immer nur den kecken Jungen, der ſich erſt austoben muß und ſich Zeit dazu läßt ... Nun ja, zu denen auf einſamer Höhe zähle ich nicht, und über die Zu⸗ ſammenhänge der Welt zermartre ich mir auch nicht den Kopf. Das überlaſſe ich gereifteren Geiſtern. Immerhin: du kannſt ruhig annehmen, daß ſich hinter der ſorgenloſen Stirn zuweilen ein Gedanke bäumt, der einmal den überlegenen Zwang allgegenwärtiger Kavaliersbereitſchaft durchbrechen möchte. Kannſt mir auch glauben, daß für mich ſtille Stunden kommen, in denen mir die Erkenntnisfreude am Glanz des Lebens zum Ekel ja, zum Ekel wird. Ein Leutnant der Gardedukorps iſt kein philoſophiſcher Grübler. Aber auch er kann einmal über das Anſchaulichmachen ſeiner Perſönlichkeit hinwegklettern und in das Innere ſeines Weſens zu ſteigen verſuchen, wo er vielleicht Dinge findet, die ihn für glückliche Augenblicke über die Aus⸗ ſtellung feiner Paradeerſcheinung erhöhen .. Daß ich kein Fertiger bin, weiß ich; weiß auch, daß ich nie

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fliegen könnte. Denn das beſchwerende Blei iſt mir ſchon in der Wiege an die Sohlen geheftet worden. Mein Lebenslauf war eigentlich gegeben, eh' ich geboren worden. Hätte ich wählen können ja, der Nach⸗ ſatz iſt unnötig: ich konnte nicht. Ich mußte ſchon froh ſein, daß es Vatern gelang, mich in das Kadetten⸗ korps zu ſtecken: daß das bißchen Gute in mir nicht im Kultus der Art zu Grunde ging. Da haſt du froher ſein können als ich, Elli. Aber ich füge auch gleich hinzu: ich bin ja noch jung und bin guten Willens. Biſt du der geſcheitere Kerl von uns beiden, ſo wirſt du mir von deinem Reichtum abgeben und wirſt einen dank⸗ baren Empfänger finden, bis ich na ja alſo, bis ich deiner einmal würdig geworden bin.“

„Daß du ſo ſprichſt, Hanni, eigentlich freut es mich. Es ärgert mich aber auch. Es klingt wie eine Ver⸗ teidigungsrede, nur daß der Cicero in dir auf falſchen Vorausſetzungen fußt. Lieber Junge, nicht ich ver⸗ kenne dich es iſt umgekehrt. Ich rühme mich keines geiſtigen Vorſprungs vor dir. Daß ich die Odyſſee im Urtext leſen könnte und von der romantiſchen Schule mehr weiß als du und vielleicht auch von den Karo⸗ lingern und den puniſchen Kriegen: das ſichert mir noch keine Überlegenheit. Und übrigens ich be⸗ daure, daß du nicht hören konnteſt, wie ich dich dem Onkel gegenüber herausſtrich. Du ſtehſt mir ſehr viel höher als du ſelber glaubſt. Immer galt der Menſch⸗ heit nach ihren Helden der Tüchtigſte als der Beſte; und deine innere Tüchtigkeit hat mir ſchon Erquickung ge⸗ bracht, als wir beide noch Kinder waren. Hanni, ich habe dich nicht kränken wollen. Ich habe nur meiner Überzeugung Ausdruck gegeben, daß es Wahnwitz wäre, uns aneinander zu ketten.“

„Und warum Wahnwitz?!“ rief er. Nun griff er nach Ellis Händen und hielt ſie feſt. „Wahnwitz wär's, wenn wir uns haßten. Oder wenn man uns ver⸗ kuppeln wollte, weil die Gewinnſucht als Kampfpreis älte oder die Reihe der Ahnen oder ein Wieder⸗ chein der Tradition! Nichts von allem! Ich war's, der zuerſt mit Vater über dieſen „Wahnwitz' geſprochen hat. Am Weihnachtsabend, als ihr ſchon ſchliefet, ſaß ich noch ſtundenlang an ſeinem Bett. Da haben wir einander unſre Herzen ausgeſchüttet und haben uns

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verſtanden. Und find übereingekommen, du und ich, und ich und du, wir müßten ein Paar geben, über das alle Engel im Himmel ein hohes Lied ſingen könnten. Was ſprichſt du, Elli, von einer unruhigen Windsbraut, die durch unſer Haus fegen würde?! Laß doch die Winde wirbeln! Ich bin kein bourgeois gentilhomme, der in der Behaglichkeit feiſten Leibes nur immer die Ruhe ſucht und du kein ſüßes Schlummerköpfchen, wenn auch deine Augen ſanft ſind und deine Pfötchen“ er küßte ihre Hände „weich wie Samt. Aber fahren die Köpfe wirklich einmal trotzig zuſammen ‚wie Streitkolben“, Elli, was ſchadet's?! Ewiger Früh⸗ ling würde langweilig ſein, wenn nicht zuweilen ein Gewitter niederpraſſelte, und für eine Sonne, die nie untergeht, dankſt du wie ich. Stellte unſer Herrgott zwei Leute in ſeine Welt, die füreinander wie geboren und wie geſchaffen: wir ſind's! ... Hör, Kleine, ich bitte dich, hör mich zu Ende, ehe du auffährſt oder mit freundlicher Abwehr kommſt. Vater und Mutter werden nach Loſſow ziehen. Ich quittiere den Dienſt und übernehme die Güter. Aber erſt, wenn du Ja geſagt haſt! Sage Ja! Wir werden ein Leben führen, daß alle Heiligen neidiſch werden ſollen. Nicht um der Heiligkeit willen; von allen Glorienſcheinen reſpek⸗ tiere ich nur den, den dir die Natur um den lieben Dickkopf gewunden hat. Sondern um der Seligkeit willen, die nicht erſt durch Fegefeuer und Schmalz⸗ keſſel zu wandern braucht, um als überirdiſch emp⸗ funden zu werden. Wittenzeller mag uns trauen; ſeine Salbung wird unſre frohe Weltlichkeit nicht über⸗ kleiſtern. Soll auch unſre Brut in die Taufe bringen und wenn du ſie nachher wie die Heiden aufwachſen laſſen willſt: es ſoll mir recht ſein; denn ich weiß: das Menſchliche in unſern Buben wirſt du ſchon pflegen. Buben werden es! Sechs Stück. Du kannſt nur eine Bubenmama ſein. Elli, nun ſage Ja dann reiche ich morgen meinen Abſchied ein.“

Ein leuchtender Blick flog zu ihr auf, und immer noch hielt er ihre Hände feſt, und ſie ließ ſie ihm. Sie war auch nicht mehr blaß; eine Lohe wehte über ihr Geſicht und ſie lachte auch wieder, das klang dies⸗ mal ſo hell wie eine Glocke in der Morgenfrühe. „Ach Hanni,“ rief ſie, „was ſpinnſt du für Träume! Halt

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fie nur feſt, daß fie nicht entwiſchen! Aber übertrag ſie es wird eine andre Huldin kommen als ich, auf die ſie paſſen!“

„Elli Elli, nicht dieſen Ton! Lache gut, aber ſpotte nicht!“ Er zog ſie dichter an ſich heran, er umſchlang ſie ... „Ich liebe dich,“ ſprach er leiſe und durch ſeine Stimme bebte die Leidenſchaft, „Elli, ich liebe dich! Werde mein! Schon als Kind, ſchon als halbwüchſiger Junge hab' ich dich lieb gehabt frage den Vater, wie ich für dich gekämpft habe! Es iſt keine Augenblickstorheit, Elli es iſt heiße, heiße Liebe! Ich habe fie hinter Scherz und Tollheit verſtecken wol⸗ len aber die Komödie geht nicht mehr, ich verliere die Kraft. O du meine Süße meine Einzige ...“

Er zog ſie auf ſeinen Schoß und küßte und küßte ſie. Und da kam ein Moment hoher Beglückung für Elli: ein Rauſch ſeligen Selbſtvergeſſens. Hilflos und haltlos lag ſie in ſeinen Armen. Ein Blühen war um ſie her und ein Klingen verhallender Töne. Die große Wonne, geliebt zu ſein, hüllte ihr ganzes Weſen ein; ſie vermeinte zu ſchweben und flog durch unendliche Räume, und vor ihren geſchloſſenen Augen wogte der purpurne Gleiß ſonnendurchleuchteter Wolken. Das ewig Weibliche wurde rege in ihr.

„Eva, wo biſt du?“ flüſterten ihre Lippen es war nur ein ſachtes Bewegen ihres roſigen Mundes unter dem Schauer der Küſſe. Und dabei lächelte ſie. Aber ganz raſch erſtarb dieſes Lächeln. Der Rauſch ver⸗ rann und die Gedanken kamen. Wer rief es, dies Eva, wo biſt du?“ Keiner nein, Keiner ... Sie ſchlug die Augen auf und ſah dicht über ſich geneigt das hübſche brünette Geſicht Hans⸗Jaſpers. Und doch wußte fie: ihn hatte fie nicht geküßt. . .. Sie erſchrak heftig, riß ſich los und ſprang auf. Sie ſtrich ſich das Haar aus der Stirn und war ſehr verwirrt. „Hanni,“ ſtammelte ſie, „wir wir ſind beide rechte, rechte Kinder! ... Laß uns verſtändig fein, lieber Junge...“ Noch einmal ſtrich ihre Hand über die Stirn. Ihr Blick flog im Zimmer umher und blieb auf der Schreibtiſch⸗ uhr haften. „Mein Gott, wie iſt es ſpät geworden,“ fuhr ſie fort. „Wir wollen ſchlafen gehen, Hanni, und den Unfug verträumen. Morgen haben wir wieder klarere Köpfe ..“

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Auch Hans⸗Jaſper erhob ſich, reckte ſich nach ſeiner Art und zupfte die Weſte herunter. „Du haſt recht,“ ſagte er ruhig, „es iſt nicht die geeignete Stunde für den Uradel zu einer Liebeserklärung, wie die gute Sitte es fordert. Ich werde alſo morgen bei hellichtem Tage meine Werbung mit allem Komfort der Neuzeit wiederholen. Gute Nacht, Elli.“

Er gab ihr die Hand und drückte ſie ſtark. „Gute Nacht, Hanni,“ erwiderte ſie. „Wenn du ausgeſchlafen haſt, ſo hoffe ich, wirſt du vergeſſen haben.“

„Was vergeſſen —?“

Ein Brandflackern huſchte wieder über ihr Geſicht. „Dieſe Nachtſtunde, Hanni.“

Er ſchüttelte energiſch den Kopf. „Niemals!“ ſagte er.

Nun wollte er gehen. Aber ſie hielt ihn zurück und gab ihm die Pelzjoppe, die in der Sofaecke liegen ge⸗ blieben war. „Nimm das mit, Hanni es wäre nicht angenehm, wenn man es morgen hier fände.“

Er nahm die Joppe, und ſein Blick ſtieg noch einmal tief in das lenzige Blau ihrer Augen. Da ging ein leiſes Erſchauern über ihren Leib, und ſie wurde hart. Dieſer Blick verletzte ſie. Sie biß die Lippen zu⸗ ſammen und wandte ſich ſtracks um.

Sie vernahm, wie er die Türe ſchloß. Nun ging es auf drei Uhr. Mit gelaſſener Hand räumte ſie das Teeſervice zuſammen und ſetzte ſich von neuem an ihren Schreibtiſch. Und wieder fuhr ſie über ihre Stirn; ſie ſtrich aus ihrem Hirn, was ſie beunruhigen konnte, und kehrte in die Zeit der Vaganten und der Stegreif⸗ ritter zurück. Sie nahm wieder den Wigelis vor und beendete die Geſchichte. Unter dem Galgen ſang er ſein letztes Lied und vererbte ſeiner dicken Bäckin den glückbringenden Strick, an den man ihn henkte.

Dann packte fie Druckfahnen und Manufkript zu⸗ ſammen, ſtand auf und ſchaute noch einmal zum Fenſter hinaus in den weißen Park. Dabei öffnete ſie ſchon die Knöpfe ihrer Taille und begann ſich langſam zu entkleiden. Ein toller Wunſch wurde rege in ihr. Es mußte doch köſtlich ſein, ſich im eiſigen Schnee zu baden! Katja hatte ihr einmal erzählt, daß ſich die Bauerndirnen in Südrußland zur Oſterzeit nackt in den friſch gefallenen Frühſchnee zu legen pflegten; dann

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prägten ihre Formen ſich ein in das flaumige Weiß, und das Abbild gefror, und nun kamen die Burſchen und rieten lachend: das iſt die und das iſt die und das die. Es lag eine naive Frivolität in dieſer Sitte, es war aber doch auch ſo eine Art ſymboliſcher Reinigung. Und welcher Genuß mußte es ſein, die heißen Glieder im Schnee zu kühlen!

Ein lachender Zug flog über ihr ernſtes Geſicht. Unfehlbar mußten Katarrh und Schnupfen dieſer „ſymboliſchen Reinigung“ folgen. Sie war nichts für die Kultur des Weſtens.

Elli nahm die Lampe und trug ſie in ihr Schlaf⸗ gemach. Dann kleidete ſie ſich vollends aus. Sie dachte wieder an Hans⸗Jaſper und daran zurück, daß ſie ſich von ihm hatte küſſen laſſen. Dabei errötete ſie von neuem, daß auch ein ſachter Purpur ihren Hals zu färben begann und die Schultergrübchen mit roſigen Schatten füllte. Es war nicht der erſte Kuß, den ſie von ihm bekommen hatte; oft genug hatte ſein kecker Mund ſie in ſchelmiſchem Übermut geſtreift. Aber die Küſſe gleichen ſich nicht. t

Sie ſtieg in ihr Bett, löſchte die Lampe und zog die Decke hoch. Sie wußte, daß ſie nicht ſchlafen würde. Ihre Pulſe hämmerten ungeſtüm. Sie ſah mit ge⸗ ſchloſſenen Augen, wie ſich wieder ein Männergeſicht über ſie neigte. Doch es war nicht Hans⸗Jaſper. Ihre Augen begannen zu tropfen. „Armer Junge“, ſprach ſie zu ſich ſelber, mein armer lieber Hanni, ich muß dir einen großen Schmerz bereiten aber ich kann nicht anders mein Gott, ich kann nicht anders ... Und leise. drückte ſie ihr Geſicht in die Kiſſen und ſchluchzte eiſe.

Baron und Baronin Koſer pflegten ihr erſtes Früh⸗ ſtück im Bett zu nehmen; Wolfrad trank übrigens immer nur eine kleine Taſſe ungezuckerten Tee und einen Zwieback dazu. Hans⸗Jaſper und Elli frühſtückten 972 0 115 Uhr gemeinſam in der großen Fenſterniſche

er Halle.

Heute war Hans⸗Jaſper der erſte. Er ſah die ſtrahlende Winterſonne durch das Fenſter leuchten und über die Harniſche blitzen und über die verdunkelten Porträtbilder gleiten und freute ſich. Auch er hatte wenig geſchlafen, aber die heitere Morgenfrühe hatte

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ihn in der Hoffnung beſtärkt, daß Elli ſeine Werbung annehmen würde. Er hatte noch einmal die Summe deſſen gezogen, was ſie zu gewärtigen hatte, und war zu der praktiſchen Erwägung gekommen, daß ſie eigent⸗ lich eine Närrin ſein müßte, wenn ſie ſeine Hand ab⸗ lehnen wollte. Und das war ſie nicht. Ach nein, ſie war ein recht geſcheites Mädelchen!

Diethammer war inſtruiert. Sobald die Spiritus⸗ maſchine in Brand geſetzt worden, hatte er zu ver⸗ ſchwinden. Das geſchah pünktlich. Nun trat Elli ein: friſch und roſig trotz der durchwachten Nacht, nur einen leichten, warmen Schatten unter den Augen. „Guten Morgen, Vetter,“ ſagte fie. „Morgen, Couſine!“ .. Sie ſchaute ſich um und wunderte ſich nicht, daß Diet⸗ hammer fehlte.

Sie ſetzten ſich an den Frühſtückstiſch. Elli goß den Tee ein. „Ein wunderbarer Tag,“ ſagte ſie.

„Eine ſiegesfrohe Sonne,“ ſetzte er hinzu. „Sie gibt mir neuen Mut.“

„Auch mir, Hanni.“ i

Er legte ſeine Rechte auf den Tiſch. „Gib mir die Hand, Kleine,“ bat er. Sie tat es, und er küßte ihre Finger. „Sei mir nicht böſe, daß ich in der Nacht zu ſtürmiſch war. Es kam ſo ſelbſt der heilige Antonius von Padua hatte manchmal ſeine anfälligen Stunden.“

„Ich bat dich ja, es zu vergeſſen, Hanni.“

„Und ich ſagte dir, niemals! Ein Glück vergißt man nicht. Kannſt du es? Spürſt du nichts mehr von meinen Küſſen auf deinen Lippen? Oder gaben ſie dir kein Glück und nicht einmal eine Ahnung davon —?“

„Was Glück heißt, liebſter Hanni: ich glaube, wir würden die Frage nicht erſchöpfend beantworten können, und wenn wir acht Wochen lang am Frühſtückstiſche ſäßen. Viele ſehen ein Glück, und es iſt doch nur ein Trugbild.“ fi 5

„Viele ſehen ein Trugbild, und dabei iſt es das Glück, das vorübereilt. Aber Deduktionen führen zu nichts. Das Glück, an das man glaubt, iſt ſchließlich immer das echte. So iſt es bei mir. Und wenn du hundertmal nein ſagſt: du kannſt mir den Glauben nicht nehmen. Aber du ſagſt nicht nein, Elli. Soll ich dir wiederholen, daß ich dich lieb habe. Es klingt heute nüchterner als vor ein paar Stunden; doch es iſt der⸗

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ſelbe Mund, der es dir ſagt, und es ſind dieſelben Augen, die es ausſprechen. Schau mich an, herzliebſte Elli! Willſt du mein werden?“

Nun ſtockte ihre Zunge dennoch. Sie hatte ſich vorgenommen, mit guten Worten ſeine Werbung ab⸗ zulehnen. Es ſollte hübſcher und warmherziger klingen als damals bei Martin Arwed. Aber, mein Gott, wie ſchwer wurde es ihr! Sie hätte ihr Herz aus der Bruſt nehmen und vor ihm niederlegen können und ſagen: Sieh her es iſt nicht für dich!

Sie ſprach leiſe und auch langſamer als ſonſt: „Hanni, daß ich dir wehe tun muß, iſt mir ſelber ein tiefer Schmerz. Ich habe keine Stunde geſchlafen, weil ich immer wieder an dich denken mußte, an dein gutes Herz und deine guten Augen. Ich habe auch an das rein Reale gedacht und mir wohl überlegt, welche glänzende Zukunft mir deine Werbung ſchafft. Ich bin nicht blind. Ich ſehe ein, daß es im Grunde genommen eine Torheit iſt, nicht mit beiden Händen zuzugreifen. Aber ich will die Torheit auf mich nehmen. Ich kann nicht ja ſagen, Hanni! Ich weiß, ich würde mich un⸗ glücklich machen und dich mit.“

Ein krampfhaftes Zucken ging über das Geſicht Hans⸗Je ſpers. Sie ſah auch, wie helle Tränen feine Augen füllten. „Elli,“ ſagte er ſanft, „habe doch Mit⸗ leid. Sieh meine Tränen! Sie gelten dir. Sie kommen ſelten. Ich habe nicht geflennt, wenn man mich im Kadettenkorps über den Tiſch zog und mit Linealen gerbte; ich bin auch nie weichherzig geweſen. Aber jetzt jetzt heule ich! Was Glück, was Unglück! Unfehlbare Prophezeiungen gibt es nicht. Ich ſage mix nur: ſo, wie ich dich liebe, das muß das muß ein Glück in dir erwecken. Verſuch es mit mir. Ich regle alles. Ich gebe es dir ſchwarz auf weiß: willſt du ein Jahr nach unſerer Hochzeit wieder frei ſein: du biſt es. Und zwar als Herrin von Drehnsdorf. Es ſoll für dich eingetragen werden, damit deine Zukunft geſichert iſt wie es auch komme.“

Sie hätte lächeln mögen über dieſen Vorſchlag. Aber der Blick Hans⸗Jaſpers löſchte jedes Lächeln. Es ſtand helle Verzweiflung darin. 3

„Ich kann nicht, Hanni,“ wiederholte fie mechaniſch.

„So laß dir Zeit, Elli,“ fuhr er ruhiger fort. „Ich

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will mich gedulden. Der ſoldatiſche Drill verleitet zum Fanfaro. Aber ich will zum Sammeln blaſen. Sage mir, wann ich wiederkommen ſoll. In einem Viertel⸗ jahr, einem halben. Ich will noch länger warten

Zeit gewinnen gibt Troſt. Ein Jahr ändert vieles. Aber die Rechtlichkeit ihres Herzens war zu groß, ihn hinzuhalten. Sie brachte es nicht über ſich, ihm zu ſagen: Ja, komm wieder! Sie ſagte: „Nein, Hanni, das wär zweckloſe Grauſamkeit. Ich kenne mich. Ich kann nicht heute Nein ſprechen und über Jahres friſt Ja. So ſchwer es mir wird: ich muß feſt ſein. Ich tue es um deinetwillen. Ich will dich nicht binden. Du biſt 8 e Du wirft raſcher vergeſſen, als du glaubſt.

„Vergeſſen!“ fuhr er auf. „Du wiederholſt es oft! Gibt es nicht auch in deinem Leben mancherlei, was unvergeſſen geblieben iſt?! Elli, wüßteſt du, wie du mich quälſt! Es iſt ja ſo leicht, eine Hoffnung zu geben. Soll denn dein Nein für immer gelten?“

„Für immer, Hanni. So wahr mir Gott helfe: ich kann nicht anders.“

Er ſchwieg. Er ſah ſtarr vor ſich hin. Und über

ein Kleines hob er den Kopf und fragte: „Ein Letztes, Elli, und ich beläſtige dich nicht mehr. Du liebſt einen andern? ...“ In ihr Geſicht ſchoß ein Blutſtrom. Es ging ihr blitzſchnell durch den Kopf: eine Bejahung, und die Quälerei war vorbei. Ein Ja auf dieſe Frage, und er mußte ſchweigſam werden. Gegen unrettbar Ver⸗ lorenes kämpft man nicht an. Und ſo ſagte ſie denn nach raſchem Atemzuge: „Da du es wiſſen willſt, ſollſt du es wiſſen aber nur du. Ja, es iſt ſo.“

Er wurde totenbleich. Dann legte er die Arme auf den Tiſch und ließ den Kopf auf die Arme ſinken und weinte.

Sie ſtand auf. Ihr ſelbſt ſchmolz das Herz. Ihre Hand ſtrich über ſein Haar. „Lieber Hanni,“ ſagte ſie weich und bittend, „vergib mir. Ich könnte mich neben dich ſetzen und mit dir weinen: ſo iſt mir zu Mute. Hanni, werde ruhig. Du warſt immer ein tapferer Junge; du wirſt auch dein Herz bezwingen. Ich bitte dich: weine nicht.“

Da richtete er ſich auf und wiſchte mit ſeinem

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Taſchentuch über das blaſſe Geſicht. „Es iſt vorüber, = ſagte er. „Ich danke dir, daß du die Wahrheit ſprachſt.

Und plötzlich packte er ihre Arme und rief: „Elli, i ü es die we Lügſt du auch nicht? Denn geſtern —“

Er ſprach nicht weiter. Sie nahm ihm das Wort Kart dich di Munde. „Geſtern haſt du mich geküßt. Heut' iſſe i

Und ſie küßte ihn. Da er ſie aber feſthalten wollte,

ER Ran fie ſich ihm. „Nun genug!“ rief fie. „Wenn dir das Vergeſſen auch ſchwer wird: ich kann ver⸗ geſſen, was ich vergeſſen will!“

Er ſchritt auf und ab. Seine Bruſt hob und ſenkte ſich ſchnell. Er war noch immer in ſtarker Erregung. Aber er rang nach Beherrſchung. „Alſo vorbei,“ ſagte er. „Ob ich vergeſſe oder nicht: laß es meine Sache ſein! Jedenfalls ſei ſicher, daß du vor Beläſtigungen verſchont bleibſt. Der Status quo iſt wieder hergeſtellt. Ich will auch mit dem Papa ſprechen, daß er ſeine Pläne aufgeben möge. Ich hätte es mir überlegt, werd' ich ihm ſagen; du wärſt doch nichts für mich. Und will er mich partout mit Nude de unter den Pantoffel bringen: es gibt ja Mäde 1 Baufı denen man nur zu winken braucht Er lachte

zwungen auf. „Seien wir luſtig, schöne Couſine! Heute nachmittag klingeln wir in den Wald hinaus, und in Berlin bin ich wieder höchſtdero allzeit getreuer Fremdenführer und elephas communis. Vielleicht fällt in der Saiſonwirtſchaft eine Frau für mich ab.“

Elli hatte ſich geſetzt, die Hände in den Schoß ge⸗ legt und ſah ihn trüben Blickes an. „Warum ſo häßlich bitter, Hanni?“ fragte ſie. „Verdiene ich es, weil ich wahr blieb?“

Es ruckte durch ſeinen ſchlanken Körper. Er blieb mitten im Gemach ſtehen, mit gerunzelter Stirn, den Schnurrbart zwiſchen die Zähne gezogen, und ſchaute zu Boden. „Bitter,“ murmelte er, „war ich es? O du verdammtes Herz!. ... Und dann ſtürzte er zu Elli und warf 11 vor ihr nieder. „Verzeihe mir,“ ſtöhnte er; „ich will gerecht ſein! Will auch zu vergefjen ſuchen. Will alles tun, was du wünſcheſt. Ach, Elli, wie lieb habe ich dich!“

Er bedeckte ihre Hände mit Küſſen, ſprang auf und ſtürmte davon.

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Beim gemeinſamen zweiten Frühſtück war er wieder völlig Herr über ſich ſelbſt. Auch Wolfrad fühlte ſich wohler und kam in den Tagen darauf mit keinem Wort auf die Ausſprache von geſtern zurück. Elli hatte für das längere Beiſammenſein gefürchtet. Aber ſie täuſchte ſich. Es ſchien ein ſtilles Abkommen zwiſchen Vater und Sohn zu walten: das Heiratsprojekt wurde nicht mehr erwähnt. Hans⸗Jaſper war ein wenig ernſter als gewöhnlich, ſonſt aber ganz der Alte. Elli fuhr mit ihm in den Wald, ritt unter Schubarts Leitung mit ihm in der Manege, begleitete ihn auch einmal auf den Anſtand und ſpazierte an ſeiner Seite durch die ſchneegeſchaufelten Wege des Parks. Und beide plauderten miteinander ſo luſtig und unbefangen, als ſei nichts zwiſchen ihnen vorgefallen, was ihre Herzen in allen Tiefen aufgerüttelt hatte.

Wohl wunderte ſich Elli zuweilen über die Kraft der Beherrſchung, die Hans⸗Jaſper zeigte. Er war zweifellos eine leidenſchaftliche, ſtark empfindende Na⸗ tur. Aber er hatte in der Schule der großen Welt das Spiel erlernt, die Gefühle zu meiſtern. Das war ein Vorzug der geſellſchaftlichen Erziehung, der auch die Komödie adelte: ein Bauen an ſich ſelbſt, das durch die ene, e zu einer inneren Befreiung werden onnte.

Am achten Januar reiſten Hans⸗Jaſper und Elli nach Berlin zurück. Am zwölften hatten die Univerſi⸗ tätsferien ihr Ende. Elli fand daheim unter einer Un⸗ maſſe Viſitenkarten auch eine ſolche des Profeſſors Hoenig vor und zugleich ein Telegramm, in dem Chriſtel ihre Rückkunft für den Elften abends ankündigte. Elli ging auf den Bahnhof, um ſie abzuholen, und war nicht wenig erſtaunt, als gleichzeitig mit Chriſtel Herr Martin Arwed aus dem Coups ſtieg.

Die Freundinnen küßten ſich, und Arwed ſagte lachend: „Ein Weihnachtswunder, Baroneß, nicht wahr? Ich bin's. Übrigens warum haben Sie mir Ihre Adelskrone verheimlicht? Nun dünkt mich man⸗ ches Dunkle klarer.“

„Eine Krone iſt doch kein Glorienſchein, lieber Herr

Arwed, den man elektriſch leuchten laſſen kann! Auch war dieſe Verheimlichung mehr Gleichgültigkeit der Sache gegenüber als böſer Wille. Wo kommen Sie her?“

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„Aus Emmenthal, meine Gnädigſte.“

„Herrjeh! Ja, was haben Sie denn in Emmenthal zu ſuchen?“

Chriſtel lachte luſtig auf. „Nicht wahr? Die Welt iſt ein Neſt. In Berlin hätte ich Herrn Arwed vielleicht cal reisen. gelernt: dazu mußte ich erſt nah Emmen- _ thal reiſen.“

Während Arwed den Gepäckträger entließ und die Damen zur Droſchke geleitete, erzählte er Elli, was ihn nach Emmenthal geführt hätte. Der alte Herr Bungarz trug ſich ſchon ſeit längerem mit dem Gedanken, ſein Antiquariat aufzulöſen. Die Zeiten waren andre geworden. Noch unter ſeinem Vater hatte die Anti⸗ quariatsabteilung bedeutenden Umſatz gehabt. „Bungarz in Emmenthal“ galt viel auf dem Büchermarkt. Die Spezialität der Firma waren die Werke der altberühmten belgiſchen und holländiſchen Druckereien, der Leeu, Plantin, Elzevir, Blaeu, Ketelaer und de Leempt, und es kam bisweilen vor, daß durch M. A. Bungarz Ent⸗ deckungen gemacht wurden (wie beiſpielsweiſe mit den erſten Blockbüchern Coſters), die eine Senſation in der ganzen bibliographiſchen Welt hervorriefen. Aber ſeit im Antiquariatsweſen neue Strömungen an die Ober⸗ fläche traten und die Spekulation auf den Snobismus lebhafter anhub: ſeit vor allem in der Bibliophilie die Neigung für die Druckdenkmale der älteſten Typo⸗ graphen rückgängig wurde und man ſich mehr den Klaſſikern und Romantikern zuwandte, verlor das kleine Emmenthal an Beachtung. Die Sammelpunkte des Antiquariats waren gewiſſe Großſtädte, vor allem Berlin, Leipzig, München und Frankfurt am Main; da wurden auch die großen Auktionen abgehalten und dort fand ſich die Blüte der Bücherfreunde (in das Kaufmänniſche überſetzt: der zahlungsfähigſte Teil) zuſammen. Es war ſchmerzlich, ließ ſich aber nicht leug⸗ nen: das Emmenthaler Antiquariat ging zurück. Nun war der alte Bungarz aber ein viel zu praktiſcher Mann, ſeine reichen Erſparniſſe einer Liebhaberei zu opfern, die nichts einbrachte, und ſo hatte er ſich denn kurzerhand entſchloſſen, ſich für ſeines Lebens Ende auf ſeinen kleinen Verlag und das umfangreichere Sortiment zu beſchränken und das Antiquariatslager en bloc zu verkaufen.

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Dieſer lockende Verkauf Hatte Herrn Arwed auf zwei Tage nach Emmenthal geführt. „Viel Gutes darunter,“ erzählte er, während er den Mädchen in die Droſchke half, „zwar keine Elzevirchen mehr, aber manches Feine von den Protypographen Alt⸗Nieder⸗ lands und auch ein paar hübſche Caxtons und Wynkin de Wordes. Wiſſen Sie, was da iſt? Es ſchadet nichts; es ſoll nicht jeder alles wiſſen. Vielleicht übernehme ich das Lager; aber Papa Bungarz muß billiger ſein, Fräulein Chriſtel. Schreiben Sie ihm: Billigkeit gehöre zur Notdurft des Lebens. Fragen Sie auch an, ob Sie mit zum Lager gehören, Fräulein Chriſtel. Das würde den Handel erleichtern. Ich ſehe, daß dieſe Bemerkung beinahe einer Unverſchämtheit gleichkommt und ziehe mich ſchleunigſt zurück. Addio, meine Damen!“

Er ſchloß die Wagentür. Aber in dem Augenblick, da der Gaul zu dem berühmten Tempo der Berliner Droſchkenroſſe anſetzen wollte, wurde Chriſtel noch einmal lebendig. Sie beugte ſich aus dem Fenſter und rief: „Halt! Warten Sie noch einen Augenblick, Kutſcher!“

„Was iſt denn los?“ fragte Elli. „Haſt du etwas vergeſſen?“

„Nein. Da kommt Kyrulew!“

In der Tat ſah man vom Trottoir her den Ruſſen winken. Er ſprang eilfertig heran, ganz in Pelz ge⸗ wickelt, auch auf dem Kopf eine Pelzmütze, und drückte den Damen die Hand.

„Enchanté de vous voir,“ ſagte er, „— da hat mich meine Ahnung alſo doch nicht betrogen! Ich witterte Ihr Parfüm in der Luft, Fräulein Bungarz: Eiſenkraut, nicht wahr? Glücklich zurück von der Weih- nachtsreiſe?“

Man plauderte ein paar Worte miteinander. Elli paßte ſcharf dabei auf: ſie ſah das rote Köpfchen Chriſtels und verfolgte ihr Augenſpiel. Sie iſt vernarrt in den ruſſiſchen Schönling, ſagte ſich Elli, und laut fügte ſie hinzu, während die Droſchke endlich weiter⸗ fuhr: „Iſt der Herr Arwed nicht ein netter Menſch?“

„Kann ich nicht finden,“ antwortete Chriſtel kurz. „Frech iſt er.“

„Ein bißchen, das iſt ſchon richtig. Aber ſeine ſo⸗ genannte Frechheit iſt eigentlich mehr le ton de Berlin:

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ein Gemiſch von dem, was man ſchnoddrig zu nennen pflegt, und großer Gutherzigkeit, beides verbunden mit einer anerkennenswerten Doſis von Mutterwitz und pfiffigem Draufgängertum. Bei deinem Doktor Kyrulew hingegen —“

„Meinem Doktor iſt gut, oho!“

„Ich ſage ſo, weil er dir näher ſteht als mir. Bei Kyrulew hingegen iſt die Frechheit viel aggreſſiver; ſie verſteckt ſich nur hinter ſeiner komödiantiſchen Auf⸗ machung und hinter ſeinem Geniegetue, ſeiner Welt⸗ ſchmerzelei und ſeinen Flötentönen hinter der ganzen Flunkerei, mit der er kleine Schafsköpfe und leicht ver⸗ liebte Duſſelchen kirre zu machen verſucht.“

„Ich danke dir ſehr,“ entgegnete Chriſtel, indem ſie ſich bemühte, einen ſchneidenden Hohn in ihre Stimme zu legen (was ihr durchaus nicht gelang), „daß du mir nach längerer Abweſenheit ſo freundlich begrüßende Worte ſagſt —“

„O bitte,“ entgegnete Elli kaltblütig, „es iſt gern geſchehen. Übrigens das mit der freien Ehe Kyrulews, ar Hans⸗Jaſper andeutete, das hat auch ſeine Rich⸗ tigkeit.“

„Ich weiß es,“ antwortete Chriſtel, und hinzu fügte ſie in einem Ton, der tragiſch klingen ſollte: „Der Mann iſt tief unglücklich. Er leidet furchtbar.“

„Ich halte ihn mehr für einen gefährlichen Narren,“ gab Elli zurück.

Chriſtel ſchwieg ein Weilchen. Sie hauchte an das eisüberſponnene Fenſter der Droſchke und kratzte mit ihrem Handſchuh ein Guckloch frei. Das währte ein paar Minuten. Sie ſchien noch auf weitere Bemer⸗ kungen Ellis zu warten. Aber Elli ſaß ruhig neben ihr und ſuchte in ihrem Portemonnaie das Fahrgeld für den Wagen zuſammen.

Da ſagte Chriſtel denn in energiſchem Tone: „Ich will mich nicht wieder mit dir zanken, Elli. Ich habe genug von damals. Wohl aber möchte ich dich bitten, ein wenig rückſichtsvoller gegen mich zu ſein. Es fällt mir auch nicht ein, über Bekanntſchaften, die dir lieb ſind, abfällige Redensarten zu machen. Ich be⸗ urteile Kyrulew anders als du; du würdeſt mich verbinden, wenn du davon Notiz nehmen wollteſt.“

„Schön, Chriſtelchen,“ entgegnete Elli, „ich nehme

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davon Notiz. Aber ein letztes Wort über ihn wirſt du dir doch noch gefallen laſſen müſſen: ich warne dich vor dem Mann. Ich nannte ihn einen gefährlichen Narren. Der Narr geht auf die Mätzchen, die er liebt, um ſich in Poſitur zu ſetzen; das gefährlich auf dich.“

Der Wagen hielt. „Steige aus, Chriſtel,“ ſagte 2 75 „Da ſteht ſchon die Gulla am Fenſter und winkt

ir zu.“

14. Liebe ſchwärmk auf allen Wegen.

Die nächſte Zeit war eine ziemlich bewegte für die beiden Freundinnen. Die Geſellſchaftsſaiſon ſetzte mit großer Lebhaftigkeit ein. Auch dem Menuettzirkel bei der Walzel⸗Korneck konnte man ſich unmöglich entziehen, wenn man „auf der Höhe“ bleiben wollte. Menuett wurde nicht nur bei Hofe, ſondern auf allen größeren Ballfeſten getanzt; es ſei „totſchick“, hatte Theda Leiſter geäußert, die den Slang des Parketts mit großer Voll⸗ kommenheit beherrſchte. Übrigens amüſierte auch Elli ſich ſehr in dieſen Menuettſtunden. Weniger über die anweſende Lämmerſchar und die männlichen Größen (der Ballſaiſon am wenigſten über den ſchönen Leopold Leiſter, der ihr mit ungewöhnlicher Ausdauer den Hof machte) als über die kurioſe alte Tanzlehrerin, die in der Tat eine höchſt originelle Perſon war und Elli ſofort in ihr Herz geſchloſſen hatte. Die Walzel⸗Korneck erinnerte an die alte Conſtance, die Pflegemutter der Felicie Ruys in Daudets Roman „Der Nabob“; wie die Conſtance bei Daudet, ſo war auch ſie dermaleinſt eine gefeierte Primaballerina geweſen, und Fürſten und Grafen hatten zu den Füßen des ſchönen Mädchens gelegen, und ein rauſchender Goldſtrom war durch ihre Finger gefloſſen. Aber dann kam das Alter; die Parade der Fürſten und Grafen hatte ein Ende genommen und von dem rauſchenden Goldſtrom war wenig übrig geblieben. Nur die Dankbarkeit blieb. Man erinnerte ſich bei Hofe, daß der höchſtſelige König der ſchönen Korneck immer ein beſonderes Gefallen entgegen⸗ gebracht hatte und ernannte ſie mit feſtem Gehalt zur „Hoftanzmeiſterin“. In dieſer Charge hatte ſie nichts weiter zu tun, als die Geh⸗ und Reigentänze, die bei

N

Hofe beſonders beliebt ſind, einzuſtudieren: was immerhin zuweilen mit Schwierigkeiten verbunden war, da es auch Kammerherren mit wunderſchönen Namen gibt, die der choreographiſchen Kunſt nur ein mangelndes Auffaſſungsvermögen entgegenzubringen imſtande ſind, und manches ſonſt recht niedliche Kom⸗ teßchen, das die Füße nicht auswärts zu ſetzen vermag. Aber die höfiſche Würde ſtrahlte auch weiter, und es dauerte nicht lange, ſo war die Walzel⸗Korneck die Tanzmeiſterin der oberen Zehntauſend von Berlin. Und ſie war großherzig genug, nicht nur die Adels⸗ kreiſe zu bevorzugen: ſie übte auch der Finanz das „Menuett der Königin“ ein und dirigierte die pluto⸗ kratiſchen Tanzbeine bei der „Quadrille der Marguerite von Navarra“ genau ſo im Takt wie die Beine mit Ahnen. Sie war bald der unentbehrliche Liebling der Geſellſchaft. i

Einladungen trafen nunmehr zu faſt jedem Abend ein. Chriſtel hätte am liebſten alles mitgemacht. Sie ließ nie einen Tanz aus und hüpfte ſich todmüde, fand alles entzückend, wurde mit zunehmender Nacht immer lebendiger und war am Morgen nicht aus den Federn zu kriegen. In den Kollegſtunden ſchlief ſie, ſchlief auch in der elektriſchen Bahn oder wandelte verträumt neben Elli durch die Straßen und wachte erſt wieder auf, wenn es Zeit zur Toilette war.

Da machte denn Elli kurzen Prozeß, wählte unter den Einladungen aus, nahm drei für die Woche an und ſagte die übrigen ab. Schon Mitte Januar hatte ihr Onkel Wolfrad einen Tauſendmarkſchein geſchickt „als Beitrag für die Geſellſchaftskoſten“. Nun wurde wieder das Atelier Hausmann aufgeſucht. Auch an ihr Courkoſtüm mußte Elli denken. Sie war mit Hans⸗Jaſper beim Oberhofmarſchall geweſen und in die Liſten für die Vorſtellung bei der erſten Hofcour eingetragen worden. Die tauſend Mark halfen ihr ge⸗ waltig weiter. Vater Bungarz ſchrieb empörte Briefe über die Toilettenausgaben ſeines Chriſtelchens, fühlte ſich anderſeits aber auch wieder geſchmeichelt, daß ſein Töchterchen in ſo vornehmen Kreiſen verkehrte und ſchickte einen Bläuling nach dem andern (doch immer vereinzelt, weil er dies für praktiſcher hielt). Bei Chriſtel wuchſen die Adelszacken je länger, je ſtärker. Sie

XXVI. 14. 9

=, 190.

ſprach überhaupt nur noch von Prinzen, Herzögen und Grafen; bei ſimplen Adligen ſetzte ſie gewöhnlich „der kleine“ vor den Namen (wobei körperliche Länge nicht mitſprach), der Bürgerlichen erwähnte ſie gar nicht. Übrigens gefiel ſie allgemein. Sie war ein drolliger Käfer, und wenn ihr beim Kotillon die J Geſicht Löckchen bis auf die Naſe herab tanzten und ihr Geſicht bis zu den Ohrläppchen glühte, ſah ſie doch immer noch reizend aus. Die „beiden Studentinnen“ erregten Furore; jeder wollte ſie haben, und Elli hatte genug zu tun, ſtets neue Ausreden für ihre Abſagen zu erfinden. Ende Januar fegte die Gulla eines Morgens in großer Aufregung in die Schlafſtube Ellis. Sie be⸗ hauptete, ihren Namen an den Anſchlagſäulen geleſen zu haben: an der Stelle, an der ſonſt immer die Be⸗ lohnungen für das Einfangen von Verbrechern an⸗ gekündigt würden. Sie erzählte dies indeſſen ſo konfus, daß Elli und Chriſtel ſich ſelbſt überzeugen wollten. So traten ſie denn auf dem Wege zur Univerſität an die nächſte Anſchlagſäule heran, und da las Elli in der Tat unter jähem Erbleichen folgendes: „Wie der Barthel Wigelis hat ein Ritter werden wollen! Ein Schwank aus der Vagantenzeit von Ell Gulla. Heft 5 der Neuen Revue. Durch alle Buchhandlungen zu beziehen. So las Elli und war ſtarr. x „Chriſtel, was ſagſt du dazu?“ fragte fie tonlos. „Es iſt toll,“ antwortete Chriſtel. „Iſt denn ſo was erlaubt?“ fragte Elli weiter. „Warum ſoll es denn nicht erlaubt ſein? Die Leute machen Reklame mit dir oder vielmehr mit deinem Autornamen. Paß mal auf, wie die Gulla bekannt werden wird!“ F Wahrhaftig, jo kam es. Tante Dorothee ſchrieb aus Falkenhagen: „Unter andern üblen Blättern, die Dein in dieſer Beziehung etwas leichtfertiger Onkel Wolfrad zu halten pflegt, befindet ſich auch die Neue Revue. Ich ſpüre ſonſt wenig Neigung, mich mit dieſem, für mich in allzu modernem Sinne redigierten Organ

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näher anzufreunden und laſſe es gewöhnlich liegen; diesmal ſchaute ich aber doch hinein, da mir der Name Gulla im Inhaltsverzeichnis auffiel. Ich las auch einige Seiten der Geſchichte von dem Strolch Wigelis und den andern Schnapphähnen und faſſe und begreife nicht, wie man ſo etwas einem gebildeten Leſer bieten kann. Es würde mich ſehr intereſſieren, liebes Kind, wenn Du mir mitteilen wollteſt, ob dieſe Ell Gulla was ſoll nur das närriſche Ell? Iſt das ein kaukaſiſcher Vorname? ob dies etwa Eure Gräfin Gulla iſt, von der Du mir erzählt haſt. Ich kann es mir allerdings kaum denken, aber ſollte es doch der Fall ſein, ſo möchte ich entſchieden anraten, Euch von dieſer Dame zu trennen. Denn wer ſo etwas ſchreibt, mit dem kann es wirklich nicht mehr weit her ſein .“

Am ſelben Tage, da dieſer Brief eintraf, holte Hans⸗Jaſper die Mädchen zu einem Empfange auf der belgiſchen Geſandtſchaft ab.

„Kinder,“ ſagte er gleich beim Eintreten, „ſo etwas war noch gar nicht da! Eure Gulla die höchſte Hoch- achtung! Wo iſt ſie? Ich will ihr ein Kompliment machen. Mein Burſche hat mir die Neue Revue holen müſſen. Donnerwetter, iſt das eine ſaftige Geſchichte! Die müßt ihr leſen nee, um Gottes willen nicht, das iſt niſcht für junges Geflügel! Ich möchte wiſſen, wer hinter dem Namen ſteckt, denn eure Kleinkinder⸗ bewahrerin kann doch kaum Deutſch ſprechen, geſchweige denn ſchreiben!“

Nun brach Elli in Tränen aus. „Hanni,“ rief ſie, „es iſt ganz entſetzlich! Ich wußte ja gar nicht, wie verworfen ich bin! Ja, guck mich nur an: ich habe dieſe grauenvolle Geſchichte geſchrieben ich, ein züchtiges Mädchen, ich, deine Couſine! Ich habe mir eingebildet, wenn man etwas aus dem Anfang des ſiebzehnten Jahrhunderts erzählt, muß man ſich auch an die Sitte, die Anſchauung, die Auffaſſung, den Stil der Zeit halten. Und nun bin ich damit ſo fürchterlich hereingeſchliddert. Lieber guter Hanni, ich bitte dich um Gottes willen, tu mir den einzigen Gefallen und ſage keinem Menſchen, daß ich die Verfaſſerin bin. Bitte, lies dieſen Schreibebrief von Tante Dorothee. Nach ihrer Auffaſſung kann es mit mir nicht mehr weit her ſein! Dahin iſt es mit mir gekommen!“

ra. >

„Ich muß dieſe Geſchichte unbedingt leſen,“ ſagte Chriſtel mit Energie. „Es wird mir ein Vergnügen fein, für meine Freundin Elli zu erröten ..“ Sie wandte ſich an Hans⸗Jaſper: „Iſt es denn wirklich ſo ſchlimm?“ fragte ſie.

Hans⸗Jaſper war zunächſt ganz ſprachlos. Donner⸗ wetter, nun ſchriftſtellerte die Couſine auch noch! Was die nicht alles konnte! Und nahm auch kein Blatt vor den Mund, um den „Ton der Zeit“ zu treffen. Das von dem „Ton der Zeit“ gefiel ihm. Er wiegte den Kopf hin und her.

„Schlimm,“ antwortete er, „nein ſchlimm kann man die Geſchichte nicht gerade nennen. Im Gegenteil, ſie iſt ſehr luſtig ein biſſel derb, ja eigentlich ver⸗ flucht derb aber das liegt eben im Ton der Zeit. Da ſcherwenzelte man nicht und ſuchte nach feinen Wendungen dieſe Novelle iſt etwas für die Zicka die würde ſie ſofort dem Staatsanwalt einſchicken.“

„Ach du Erbarmer!“ rief Elli. „Dem Staats- anwalt!?“

Chriſtel ſchauderte. „Elli kommt ſicher noch auf die Galeere,“ ſagte ſie dumpf.

Hans⸗Jaſper war ſo vergnügt, daß er aus dem Lachen gar nicht mehr herauskam. Das ärgerte Elli. „Lache nicht, Hanni,“ rief ſie; „ich bin in tödlicher Ver⸗ legenheit. So rächt ſich alles auf Erden. Mit der Lüge, daß die Gulla eine Gräfin aus Kaukaſien ſei, begann es und mit dem Staatsanwalt wird es enden. O Gottegott!“

„Alſo nun mal ernſthaft,“ ſagte Hans⸗Jaſper. „Elli, ich zolle dir meine Bewunderung. Auf Ehre! Dieſe Novelle iſt trotz allem ein kleines Meiſterſtück. Gerade das trotz allem‘ macht fie dazu. Wenn man fie als verſchollene Simplizianiſche Schrift ausgeben wollte: man könnte es glauben. Die Derbheit kann nur an⸗ geſäuerte alte Tanten ſtören. Vorurteilsfreie Leute werden ſich an ihrer prachtvollen Friſche erquicken.“

Elli ſchaute auf. „Hanni, iſt das wahrhaftig deine Meinung?“ fragte ſie.

„Das iſt wahrhaftig meine Meinung,“ antwortete er und nickte. „Aber natürlich auch auf angeſäuerte alte Tanten haben wir Rückſichten zu nehmen. Es iſt ſchon beſſer, deine Autorſchaft bleibt Myſterium wie das Bild zu Sais. Schreibe nach Falkenberg, die Gulla

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hätte natürlich gar nichts mit der Geſchichte zu tun, es ſei das wohl irgend ein angenommener Name, eine Zufälligkeit die Gulla ſpräche überhaupt bloß Ruſſiſch und Chaldäiſch oder ſo etwas. Und dann gehe noch einmal auf die Redaktion und laſſe dort den Mann für alles ſchwören, daß keine Seele je und je die Wahrheit über Ell Gulla erfahre. Er ſoll den Schwurfinger aufheben und dir dabei ſtraff in die Augen gucken. Aber geh bald ...“ 5

Das tat Elli denn auch. Doktor Woltersdorf ſchwor und wollte Elli ſodann zur Lieferung einer neuen Novelle im Geſchmack des Wigelis verpflichten. Aber ſie bedauerte, ſie hätte jetzt keine Zeit; auch ſei ihr das Mittelalter plötzlich unſympathiſch geworden. Sie war ein wenig beruhigter, und wenn hie und da von der Wigelisgeſchichte geſprochen wurde (was häufig ge⸗ ſchah), ſo tat ſie mit ſchwerem Herzen ſo, als höre ſie davon zum erſten Male.

Hans⸗Jaſper nahm ſich der Mädchen als Geſell⸗ ſchaftsführer nach wie vor in liebenswürdiger Weiſe an. Nur Elli ſpürte eine kleine Veränderung ſeines Weſens. Er war fahriger geworden, zerſtreuter, auch lauter. Bei einem Tanzfeſt auf der ruſſiſchen Botſchaft ging er Katja (die die Univerſität gänzlich aufgegeben zu haben ſchien) nicht von der Seite und machte ihr in auffälliger Weiſe den Hof, ein Benehmen, das zu ſeinem ſonſtigen diskreten geſellſchaftlichen Sichgeben in ſchroffem Gegenſatz ſtand. Zu dieſem kleinen Ball war auch Doktor Kyrulew geladen, von dem man erzählte, daß er zum vereidigten Dolmetſch der ruſſiſchen Sprache ernannt werden ſollte. Es war natürlich nur ein Zufall, daß er Chriſtel zur Tiſchnachbarin bekam; aber Elli beobachtete die beiden auch einmal, wie ſie abgeſondert in einer Fenſterniſche in erregtem Flüſter⸗ tone miteinander ſprachen. Sie zuckte darüber die Achſeln; ſie konnte warnen, aber das Herz ihrer kleinen Freundin unmöglich unter Verſchluß legen.

Der Berliner Saiſon war Elli ziemlich raſch müde geworden. Sie langweilte ſich hier und amüſierte ſich dort wieder recht gut; bald war es zum Einſchlafen und bald ſehr unterhaltend: da Elli aber niemals die Kollegien verabſäumte, ſo ſpürte ſie, daß ihre Nerven rebelliſch zu werden begannen. Ein Gefühl großer Abgeſpanntheit

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bemächtigte ſich ihrer. Sie ſprach darüber mit Profeſſor Hoenig, den ſie zu ihrer Freude auf einem Diner bei dem Botſchaftsrat von Knelling traf. Er fragte nach ihrem Befinden, und da antwortete ſie offen: „Es iſt nicht allzu glänzend, Herr e Ich ſchlief ſonſt wie ein Murmelt tierchen. Jetzt liege ich ſtundenlang wach im Bette. Ich bin wohl ein biſſel nervös.“

Seine Finger glitten über den Puls ihrer rechten Hand. „Saiſonkrankheit, fagte er. „Sie machen zu viel mit, liebes Kind.“

„Ich ruhe mich regelmäßig einen Tag zwiſchen zwei Geſellſchaften aus, verſetzte fie.

„Das iſt zu wenig.“

„Aber ich bitte Sie: unſre Geſellſchaften erfordern doch nicht eine ſo bedeutende geiſtige Anſtrengung!“

„Gerade, weil ſie das nicht erfordern, ſind ſie für lebhafte Geiſter doppelt angreifend.“

Sie lachte. „Da haben Sie auch recht. Aber es muß mal ſein.“

um muß es ſein?“ fragte er.

„Einer Einbildung zuliebe. Weil man eine Zer⸗ Erd ee der Arbeit für notwendig hält.“

1 „daß Sie das Einbildung nennen. Die Arbeit wilt ihre Ruhepauſen haben, bedarf aber keiner De ablup, Beſuchen Sie noch immer pünktlich die Univerſität?“

„Ei freilich, Herr Profeſſor!“

„Dann nehmen Sie einen Freundesrat an. Re⸗ duzieren Sie Ihre Nin ien auf zwei. Und wenn Sie über Mitternacht hinaus getanzt haben, ſchwänzen Sie ruhig das Morgenkolleg und ſchlafen Sie ſich dafür aus.“

„Soll ich das als eine Verordnung auffaſſen?“

„Ja, natürlich. Ich werde ſie Ihnen a geben ... Er zog feinen Block aus der Bruſttaſche und notierte: „Wöchentlich zwei Teelöffel Geſellſchaft. Täglich fünf Eßlöffel Arbeit. Nächtlich neun Eßlöffel Schlaf.“ Dann ſchrieb er ſeinen Namen darunter.

„Nun habe ich wenigſtens ein Autogramm von Ihnen,“ ſagte ſie heiter und ſteckte den Zettel ein.

„Schade, daß Sie uns grade in den Weihnachtsferien beſucht haben! Da war ich natürlich nicht da.“

„Ich kann ja meinen Beſuch wiederholen,“ entgegnete

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er. „Oder noch beſſer: kommen Sie doch auch einmal zu mir. Das können Sie unbeſorgt tun, da mir meine Schweſter, die einzige ihrer Art, die Wirtſchaft führt.“

„Ich hätte mich auch ſonſt nicht gegrault.“

„Immerhin: ſo eine Schweſter wirkt wie eine Schutzimpfung. Alſo ich halte Sie beim Wort. Einen Augenblick, bitte ...“ Er zog wieder ſein Notizbuch hervor und ſchaute hinein: „Morgen abend Medizi⸗ niſche n übermorgen Alter Herren⸗Kommers in der Philharmonie haben Sie am Freitag Zeit?“

„Freitag ja. Da habe ich bei Frau von Engert abgeſagt.“

„So ſagen Sie bei mir zu. Sieben Uhr. Zu einem Butterbrot. Handſchlag!“

Sie drückten ſich die Hände.

Chriſtel knurrte, als ſie von der Einladung hörte, und ſagte ſich dafür zu Freitag bei Katja an. Elli aber freute ſich. Sie machte abſichtlich eine ſehr einfache Toilette und kaufte auf dem Wege zu Hoenig drei Roſenblüten für die noch unbekannte Schmek.

Hoenig wohnte nicht allzu weit: am Lützowufer. Eine junge Dame öffnete Elli und fragte: „Fräulein von Koſer?“ und fuhr auf die Kopfneigung Ellis hin mit großer Lebhaftigkeit fort: „Ich heiße Anna Hoenig und freue mich herzlich, Sie kennen zu lernen, Pee Fräulein. Ich habe ſelbſt öffnen müſſen, denn

enken Sie nur, welches Mißgeſchick: vor einer halben Stunde hat mein Bruder unſre Köchin hinausgeworfen, weil ſie mit der letzten Nummer der Zeitſchrift für pathologiſche Anatomie Feuer anzünden wollte und er ſtrengſtens verboten hat, ſeine Journale anzurühren. Er iſt darin ein bißchen Kleinigkeitskrämer, aber ſonſt ein lieber Menſch. Vor allen Dingen ſitzen wir nun ohne Köchin da. Das Dienſtmädchen zieht die Kieler Sprotten ab, und Helmut macht den Kartoffelſalat. Er ſagt, das hätte er in ſeiner Dienſtzeit im Manöver gelernt. Aber mir iſt ein bißchen angſt dabei. Seien Sie nur nicht böſe!“

„Im Gegenteil,“ ſagte Elli lachend und ſchlüpfte aus ihrer Jacke. „Ich helfe auch. Kochen kann ich nicht viel. Vielleicht gibt's harte Eier. Da traue ich mich heran, wenn ich die Uhr in der Hand habe.“

Nun erſchien auch der Profeſſor im Korridor, mit

= I =

hochgekrempten Armeln und einer Glasſchüſſel in den Händen. „Guten Abend, Fräulein Elli,“ rief er ver⸗ gnügt, „— reizend, daß Sie daſind! Wir ſind heute unſre eigenen Traiteure. Du, Annchen, ich glaube, ich habe zu viel Ol zum Kartoffelſalat genommen. Das Ol riecht auch ſo komiſch. Ich werde doch nicht etwa aus Verſehen zum Petroleum gegriffen haben?“

So trat Elli in das von luſtigem Ungemach belebte Haus und fühlte ſich ſofort wohl und behaglich. Auch ſie krempte die Armel ihrer Taille auf und begann ſich in der Küche nützlich zu machen, zerſchnitt die Eier und legte eine Sardelle auf jede Hälfte, wobei ſie auf maleriſche Krümmung der Sardellen achtete, was der Profeſſor für ſehr raffiniert erklärte, weil es feine Ge⸗ ſchmacksempfindung mit ſubtiler Aſthetik verbände. Er blieb gleichfalls noch in der Küche, um die Heftig⸗ keit jenes Augenblicks, da er die Hüterin des Herd⸗ feuers ſo raſch davongejagt hatte, nach Möglichkeit wieder gutzumachen; aber es ſtellte ſich heraus, daß auch der bedeukendſte Chirurg nicht viel von der Hauswirtſchaft zu verſtehen braucht. Was er angriff, machte er ſchlecht, und als er an einer Kieler Sprotte zu entdecken glaubte, daß ſie auf dem rechten Auge ſchielte, ſprach Anna energiſch: „Helmut, ich bitte dich, verlaß dieſen Fleck Erde. Es iſt beſſer, du bekümmerſt dich um den Tiſch. Sieh zu, ob die Weinflaſchen aufgezogen ſind und ob das Bier noch reicht. Aber wirf das Salzfaß nicht um!“ rief ſie ihm nach. N

Schließlich entwickelte ſich aus dem Chaos doch noch die ſchönſte Ordnung. Bald ſaß man am gedeckten Tiſche, ließ es ſich wohl ſchmecken und plauderte vergnügt miteinander. Anna Hoenig war vierundzwanzig Jahr alt, ſah dem Profeſſor ſprechend ähnlich, war aber äußer⸗ lich ſehr viel lebendiger als er: ein hübſches, warmblütiges kleines Frauenzimmerchen, das ihrem großen Bruder gern gute Lehren gab und ſich raſch mit Elli anfreundete.

Es war für Elli ein gemütlicher und unterhaltſamer Abend. Gerade nach allen den großen Geſellſchaften mit ihrer formalen Steifheit berührte ſie das Liebens⸗ werte dieſes ungezwungenen Familientiſches doppelt wohlig. Die Behaglichkeit des Familienlebens hatte ſie ja nie kennen gelernt und ſprach dies auch aus, und ſo kam es von ſelbſt, daß auch der Profeſſor offenherzig

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von ſeiner kargen Jugendzeit in dem Küſterhäuschen zu Köln zu erzählen begann und von den mancherlei Entbehrungen, denen er ausgeſetzt geweſen war, bis eine glücklich verlaufene Operation ſeinen Namen zuerſt bekannt gemacht hatte. „Wiſſen Sie, wann das war, Fräulein Elli?“ ſagte er. „Das war damals in Karlsruhe, als ich zu dem Prinzen Max befohlen wurde, den ich durch Zufall kennen gelernt hatte. Der Prinz hatte eine ganz harmloſe Faſergeſchwulſt, die jeder Barbier hätte öffnen können aber mein Name kam in die Zeitungen, und da wurde man aufmerkſam auf mich. Im übrigen, nicht zu vergeſſen, auch Ihre Glückslira hat mir weitergeholfen.“

„Vor allen Dingen aber Ihr Operationsmeſſer,“ entgegnete Elli.

„Das kam auch dazu. Natürlich: ohne ein gutes Meſſer kommt ein Chirurg nicht vorwärts. Aber glauben Sie mir: auch Glück muß dabei ſein. Der Zufall, der mir den Weg gebahnt hat, war doch nichts weiter als der Beginn einer Kette glücklicher Umſtände. Andre, die nicht weniger leiſten als ich, kommen nie in die Höhe. Und dann fängt der Neid an und die heimlichen Intrigen beginnen. Ich habe mein Leben lang immer nur das Leid andrer zu lindern geſucht, aber keinem je etwas zuleide getan ich bin auch im ganzen eine ziemlich verträgliche Natur, wenn die Köchin nicht gerade meine Zeitſchriften zum Feueranzünden be⸗ nützt —, aber auch gegen mich wendet ſich ſchon die Mißgunſt der minder Glücklichen . ..“ Er beklagte dies tief und war ſichtlich erregt über den mancherlei Klatſch, den man über ihn zu verbreiten verſuchte. Aus all dem, was er ſagte, ſprach die Aufrichtigkeit einer geſunden und ehrlichen Natur und zugleich eine große Beſcheidenheit. Er war viel in Anſpruch genommen, leitete ein großes Krankenhaus und eine chirurgiſche Klinik und trieb eifrig private Studien und war doch nicht einſeitig; Elli wunderte ſich, wie gut er im Kunſt⸗ leben der Hauptſtadt Beſcheid wußte, in der Literatur bewandert war und über das Theater ſprach. „Wie machen Sie das, lieber Profeſſor?“ fragte ſie; „wo nehmen Sie die Zeit her, auch noch Romane zu leſen, ſich die neueſten Dramen anzuſehen und die Gemälde⸗ ausſtellungen zu beſuchen? Sie können ſich doch nicht

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zerteilen. Oder ſchicken Sie Ihre Seele auf die Wander⸗ ſchaft, während Sie am Operationstiſche ſtehen?“

„Das wäre natürlich das bequemſte Aushilfsmittel, wenn man Geiſt und Körper nach Gefallen trennen könnte. Leider ſind wir noch nicht ſo weit. Ich habe in der Tat beruflich noch viel zu tun, aber es bleibt mir doch immer noch ein Zipfelchen Zeit übrig, das ich zum Beſten meiner inneren Schönheit verwenden kann. Und dann müſſen Sie wiſſen, daß ich in meiner Schweſter einen ſehr geſchickten Eclaireur beſitze, der mir zunächſt einmal das Terrain ſondieren hilft und mich vor Reinfällen bewahrt. Es iſt unglaublich, welche Maſſen von Lektüre Anna ohne Ernährungs⸗ ſtörungen zu ſich nehmen kann und mit welchem ſich immer gleichbleibenden Enthuſiasmus ſie die Theater beſucht. Und da erzählt ſie mir denn gewöhnlich ein⸗ gehend, was ihr beſonders gut gefallen hat —“

„Und das genießen Sie dann auch,“ warf Elli ein.

„Im Gegenteil,“ erwiderte Hoenig, „das laſſe ich ganz beſtimmt links ſeitwärts liegen und begnüge mich mit dem, was Anna von Grund aus greulich findet. Denn unſre Geſchmäcker ſind Gott ſei Dank durchaus verſchieden, ſo daß auch in dieſer Beziehung uns keine langweilige Gleichförmigkeit drückt. Sonſt vertragen wir uns ja ganz leidlich; aber wenn wir über Literatur und Kunſt in die Debatte geraten, dann lodert der Zank auf und die Gemüter erhitzen ſich.“

Man lachte. „Helmut ſteht mir auf einem zu weit vorgeſchobenen Standpunkt,“ rief Anna. „Ich bin altväteriſcher, auch äſthetiſcher veranlagt. Neulich hat er mir eine Novelle aus der Neuen Revue vorleſen wollen, iſt aber nicht über den Anfang hinausgekommen, weil ich in Gefahr ſchwebte, ohnmächtig zu werden.“

Elli wurde unruhig, und Hoenig ſagte: „Der Unter⸗ ſchied zwiſchen ihr und mir iſt der, daß ich mir den menſchlich angeborenen Geſchmack zu bewahren geſucht habe, während ſie den ihren künſtlich erworben hat. Infolgedeſſen pocht ſie auf eine Aſthetik, die mit der Natur gar nichts mehr zu tun hat, ſondern nur ein Produkt eigenſter Konſtruktion iſt. Das heißt, fie ſieht falſch und urteilt demgemäß. Womit ich nicht ſagen will, daß fie auch ſonſt nichts tauge ...“

Das Geſpräch ging hin und her. Die Zeit verfloß

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raſch, und Elli erſchrak faſt, als ſie ſah, daß es bereits elf Uhr durch war. Der Profeſſor geleitete ſie heim. Man legte den kurzen Weg in der klaren Winternacht zu Fuß zurück, und dann wartete Hoenig vor der Haustür Ellis, bis er ihren in der Flur verhallenden Schritt nicht mehr hören konnte.

Ein paar Tage ſpäter trafen die Koſers aus Falken⸗ hagen ein und nahmen wie immer im Kontinental⸗ hotel Quartier. Elli und Chriſtel ſuchten ſie ſofort auf, wurden liebenswürdig empfangen und zum Diner dabehalten, zu dem ſich auch Hans⸗Jaſper einfand. Wolfrad ſchien es körperlich ein wenig beſſer zu gehen; er klagte nicht, auch ſein Geſicht zeigte friſchere Farben. Dorothee ſagte ſich für den nächſten Tag zu einer Tee⸗ ſtunde bei den Freundinnen an. Da wurde die Gulla vorſichtshalber zu ihrer Freundin, der Sargfabrikantin am Zentralviehhof, geſchickt und der Tiſch mit glänzen⸗ der Sauberkeit gedeckt, ſo daß die Tante ihr Wohl⸗ gefallen fand und die Harmonie nicht geſtört wurde.

Inzwiſchen rückte auch der große Tag der erſten Hofcour näher. Das Koſtüm Ellis war fertig und ſtand ER gut: weißes Kreppchiffon, die Schleppe aus Velours⸗

iffon. „Wie ein Engelchen aus Mohammeds Paradieſe,“ ſagte Chriſtel. Sie hatte ſich für den Abend wieder einmal mit Katja verabredet, deren Vorſtellung erſt bei der zweiten Cour erfolgen ſollte. Die Einladung des Oberhof⸗ und Hausmarſchalls „auf Allerhöchſten Befehl Ihrer Kaiſerlichen und Königlichen Majeſtäten“ für das Freifräulein von Koſer zu Groß⸗Büstorff traf pünktlich ein, ebenſo die beſtellte Equipage, und nun ging es nach dem Schloſſe. Da begann das Herzchen Ellis doch raſcher zu pochen, als ſie zum erſten Male die Kaiſerliche Reſidenz betrat und mit einem Schwarm glänzend toilettierter Damen und dekorierter Herren die Treppen hinaufſchritt, um im Schweizerſaal von den dienſttuenden Zeremonienmeiſtern in Empfang genommen und dann in die eine der Paradevorkammern eführt zu werden, wo die inländiſchen unverheirateten

amen zu warten hatten, bis der große Augenblick kommen würde. Elli fand da noch ein Dutzend junger Gefährtinnen, meiſt Komteßchen und Baroneßchen vom Landadel, faſt alle in weißen Koſtümen und 15 förmlich zitternd vor Aufregung. Zwei Schweſtern

zupften ſich ununterbrochen an den Kleidern herum und ordneten ſich noch gegenſeitig die Löckchen; eine andre war ganz weiß im Geſicht, und eine große derbe Brünette beſtellte ſich bei einem Lakaien einen Kognak, weil ihr vor Angſt ſterbensübel geworden war. Aus dem geſchloſſenen Kreiſe der Mädchen fuhr der ein⸗ tretenden Elli ſogleich Theda Leiſter entgegen, um⸗ armte ſie mit Vorſicht, um die Spitzen ihrer Dekolletage nicht in Unordnung zu bringen, bewunderte ihr Koſtüm und wiſperte: „Ach du lieber Gott, Ellichen, wenn ich bloß den Hofknicks ordentlich 'rauskriege! Heute früh bei einem Verſuch bin ich beinahe hingepurzelt ..

Ein paar der jungen Damen probierten auch wirklich nochmals die vorſchriftsmäßige Verbeugung: eine leichte Schleife mit dem rechten Fuß, dann tief, tief nach hinten herunter. Theda ſchwankte dabei. „Ich krieg's nicht raus,“ jammerte ſie leiſe, „ich blamier' U ſchrecklich. „Man immer Kuraſche,“ flüſterte Elli zurück, „und Kopp hoch!“ ... Nun erſchien ein vergoldeter Kammerherr, die Liſte zu verleſen, und dann ein noch goldigerer Zeremonienmeiſter, um den Damen die letzten Inſtruktionen zu geben, und dann eine wohlgenährte Palaſtdame mit einigen Orden an der Schulter: ſchnüffelte in der Luft, weil ſie den Kognak roch, begrüßte dieſe und jene, ließ einen prüfenden Blick über die Toiletten gleiten und ſetzte ſich hierauf an die Spitze des niedlichen Trupps.

Was nun folgte, erſchien Elli wie ein ſtrahlendes Traumgebilde. Es ging durch blendend erleuchtete Räume, in denen eilfertige Kammerherren hin und her ſtürmten, vorüber an wachthabenden Schloß— gardiſten, Poſten der Gardedukorps und der Leibwache der Königin, bis zur Drap d'or⸗Kammer, wo den ver⸗ heirateten Damen gegenüber abermals Aufſtellung ge⸗

nommen wurde. Über den Purpurſamt und die breiten

Goldbordüren der Wandbekleidung flimmerte der Glanz der Lichter, entzündete in dem Brillantenſchmuck der Damen blitzende Reflexe, gleißte über die Orden der Herren und die Stickereien der Hofchargen. „Wunder⸗ voll!“ flüſterte Elli Theda Leiſterzu. „Wenn ich die Knixe⸗ rei bloß erſt hinter mir hätte!“ flüſterte Theda zurück, „Immer Kuraſche!“ wiſperte Elli, „und Kopp hoch!...“

Horch! irgendwo erdröhnen drei dumpfe Schläge.

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Nun kommt eine Raſerei über die Kammerherren. Sie huſchen hierhin und dahin wie glänzende Vögel dann wieder drei Schläge und ein großes Rauſchen. Vom Kapitelſaal her naht der kaiſerliche Zug: der Große Vortritt voran, der Oberſtkämmerer, der Oberſt⸗ marſchall, der Oberſtjägermeiſter, der Oberhofmarſchall und Obertruchſeß, der alte Obergewandkämmerer, der Generalintendant der Königlichen Schauſpiele eine Fülle glänzender Erſcheinungen; hierauf das Kaiſer⸗ paar o wie famos ſieht der hohe Herr aus in der roten Supraweſte der Gardedukorps, und wie jugendlich die Kaiſerin unter dem leichten Schnee ihres Hauptes! ... Dann folgen einzeln die Prinzeſſinnen des königlichen Hauſes und die übrigen fürſtlichen Damen, die farbigen Rieſenſchleppen von Pagen in ziegelroten Schoßröcken getragen dann die Prinzen und andre Fürſtlichkeiten in großer Uniform und vollem Ordensſchmuck und die Hofchargen. Der Zug verſchwindet im Ritterſaal, aus deſſen weitgeöffneten Türen eine mächtige Lichtwelle flutet; Fanfaren ertönen und die Klänge eines gemeſſenen Marſches, und wieder raſen die Kammerherren umher, und die dienſttuenden Zeremonienmeiſter ſtolpern im Eifer ihres Berufs beinahe über ihre ſilberbeſchlagenen Stöcke. . .. Das Defilee beginnt. Elli iſt noch lange nicht an der Reihe. Die Gemahlinnen der Votſchafter mit den Damen ihrer Botſchaften eröffnen den Reigen: die Botſchafter mit den Herren ihrer Legationen folgen, dann die inländiſchen verheirateten Damen genau nach der Rangſtufe. ... Nun aber iſt's bald fo weit. Die dicke Palaſtdame, ein Elfenbeintäfelchen in der Hand, nimmt raſch noch einmal Parade über ihren zitternden Geflügelhof ab. Dieu merci, es ſtimmt alles; Theda Leiſter iſt die letzte, weil ſie von jüngſtem Adel iſt. „Attention, mes dames!“ ruft die Palaſtdame. Da ſteht ein glitzernder Herr vor Elli und ſagt ihr freundlich Guten Abend. „Herrje, Onkel Wolfrad, ich hätte dich ja beinahe nicht erkannt! ...“ „Nicht wahr, Mauſi: die ſchöne Haut blendet ordentlich? ...“ „Sit Tante Dorothee auch da? ...“ „Nein, fie hat eine dicke Backe, läßt dich aber grüßen. Nun mache deine Sache gut und glitſche auf dem Parkett nicht aus ...“

Theda Leiſter zittert wieder bei dieſen Worten. Es geht los, es geht los! Elli ſieht nichts weiter

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als einen flimmernden Wirrwarr: ungeheuer viel Lich⸗ ter, ungeheuer viel Köpfe, darunter ungeheuer viel Blitzendes. Wo iſt denn nur gleich der Thron? Ach ja da drüben dem Großen Vortritt gegenüber, eingekeilt zwiſchen leuchtenden Damentoiletten und hellen Uniformen: da ſitzt auch das Kaiſerpaar. Und da ſteht der leitende Oberzeremonienmeiſter und plötzlich bekommt Elli auch die dicke Palaſtdame zu Geſicht und es iſt ihr, als höre ſie ihren Namen nennen „Freiin von Koſer⸗Groß⸗Büstorff ...“ Nun ſteht fie genau dem Throne gegenüber und rauſcht zu Boden. Ein a Hofknicks. Sie kann zufrieden fein. Die Kaiſerin hat ſehr freundlich ausgeſehen, der Kaiſer hatte gnädig genickt. Aber während Elli zu ihren Damen hinübertritt, entſteht hinter ihr eine aufgeregte Be⸗ wegung. Ein paar Kammerherren ſtürzen durch den Saal; der Kaiſer iſt aufgeſtanden. Ach du lieber Gott Theda Leiſter, das kleine Schafchen, iſt bei der Verbeugung richtig hingefallen! Zwei Kammerherren helfen ihr auf die Beine; ſie iſt tränenüberſtrömt. Der Kaiſer ſchickt den Oberſtkämmerer zu ihr, fragen zu laſſen, ob ſie ſich wehe getan habe; der Staatsſekretär von Leiſter als verängſtigter Vater ſchickt einen Ge⸗ heimrat, die Kaiſerin ſchickt eine Hofdame. Einer der Prinzen kommt höchſtſelbſt. Theda hat ſich gar nichts getan, aber ſie heult jämmerlich. Elli möchte ihr gern ein freundliches Wort ſagen, doch ſie iſt an ihren Platz gebannt. Die Cour iſt noch lange nicht zu Ende. Erſt kommen noch die inländiſchen Herren an die Reihe und dann beginnt der große Zug der übrigen: voran der Bundesrat mit dem Reichskanzler, die Ritter vom Schwarzen Adler, die e Fürſten, die Gene⸗ ralität, die Präſidien der Parlamente, die Exzellenzen, die Mitglieder des Ordens Pour le mérite, Reichs⸗ und Landtagsabgeordnete, die Oberſten der Armee und Kapitäne zur See und der Schwarm der Räte zweiter Güte. Nun eine Maſſe Kammerherren, die vom Landadel, die nur dann und wann nach Berlin kommen, in etwas verblichenen Röcken, die neu er⸗ nannten in blitzendem Golde; dann die hohe Geiſt⸗ lichkeit in ihren Talaren, ein ſchwarzer Fleck im Glaſt des Abends, die Mitglieder der Akademie der Wiſſen⸗ ſchaften und der Univerſitäten, die Ritter des Johanniter⸗

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ordens, die Landſtände und ſchließlich eine Hochflut von Offizieren, die immer zu zweien abgefertigt werden

Elli taten die Füße weh. Die weißen beſtickten Atlasſchuhe waren ſicher zu eng. Sie atmete auf, als es zu Ende ging. Hans⸗Jaſper ſtürmte heran und wollte ſie an die Büfetts führen, die im Weißen Saale aufgeſtellt waren; aber ſie dankte. Sie fiel beinahe um und wollte nach Hauſe fahren. Sie war froh, als ſie endlich nach ungeheuerlichem Gedränge in der Garde- robe in ihrem Wagen ſaß und während der Fahrt ihren linken Schuh ausziehen konnte. Nun war ja auch das vorbei. Nun war ſie „hoffähig“. Erhebendes Bewußtſein! Dabei ſchimpfte ſie in Gedanken auf ihren Schuſter. Und dann fiel ihr wieder die arme Theda ein. Thedachen war immer ein kleiner Tolpatſch geweſen. Mein Gott, muß das unangenehm ſein, vor den beiden Majeſtäten und dem geſamten Hofſtaat die Beine in die Luft zu ſtrecken! ...

Jetzt war ſie daheim. Es war kaum elf Uhr. Die Gulla wartete auf fie. „Erſt hilf mir aus dem Pracht⸗ gewand, Gulla,“ rief Elli, „dann möchte ich eine Taſſe Tee. Es war reizend, Gulla. Ein Bild zum Malen und zu enge Schuhe. Iſt Fräulein Chriſtel noch nicht hier?“ Nein, aber ein Rohrpoſtbrief ſei gekommen. „Natürlich, ſagte ſich Elli, Chriſtelbummelt wiedereinmal.“

Sie nahm die Rohrpoſt, erkannte die Handſchrift Katjas, riß das Kuvert auf und erbleichte heftig.

Katja ſchrieb: „Liebling! In fliegender Eile eine fatale Nachricht. Salo Lewſchin hat Geburtstag. Da waren wir bei ihr: Chriſtel, Wera, Kyrulew, noch eine Ruſſin und ich. Mitten in das Souper platzt die Polizei hinein und hat Kyrulew, Wera und Salo verhaften wollen. Es ſoll ſich um die Verbreitung verbotener Druckſchriften handeln oder ſo etwas. Große Hausſuchung. Chriſtel und ich ſind über die Hintertreppe geflüchtet, in ein Bierlokal im Parterre des Hauſes. Der Wirt heißt Radecke, kennt Chriſtel, will auch Dich kennen; er wäre Diener bei Deinem Papa ge⸗ weſen. Jedenfalls hält er uns bei ſich verſteckt. Chriſtel hat einen ſolchen Schreck bekommen, daß ſie ſich wie blöd⸗ ſinnig benimmt und nicht auf die Straße will; ich glaube, ſie fiebert auch. Erwarte ſie alſo nicht. Am beſten wäre

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es, Du holteſt ſie hier ab: Linienſtraße 198. Wenn heute nicht mehr, jo morgen. Rege Dich nicht auf. Kuß Katja.“

Elli riß ſich ihre Toilette vom Leibe. „Das braune Kleid, Gulla!“ befahl ſie. „Ich muß noch einmal fort⸗ fahren. Fräulein Chriſtel iſt bei der Prinzeß Schewa⸗ ſchidſe krank geworden.“

Die Gulla jammerte auf. Ob ſie nicht mitkommen ſollte? Kein Gedanke, aberdie Wärmflaſche in Chriſtels Bett und Fliedertee kochen! In fiebernder Haſt zog Elli ſich um, eilte davon und nahm ſich draußen eine Droſchke nach der Linienſtraße. Erſt im Wagen kam ſie wieder zur Beſinnung. Die Polizei bei der ruſſiſchen Freundſchaft Katjas: das war das Ende vom Liede. Ein Skandal aber doch auch eine Warnung, die ſich nicht wieder umgehen ließ. Gott ſei Dank, nun war der Schwindel aus! Nun war auch Hoffnung da, daß Katja und Chriſtel vernünftig werden konnten.

Elli war nicht ſonderlich erregt. Nachſuchungen bei den in Berlin lebenden Ruſſen kamen häuſiger vor. Das wußte ſie. Die ruheloſe Geſellſchaft ſtand vielfach in Ver⸗ bindung mit den meuteriſchen Elementen im Zarenreiche und bereitete der Polizei mancherlei Schwierigkeiten. Natürlich hatte Katja keine Ahnung davon, daß auch der in den beſten Häuſern ein⸗ und ausgehende Kyrulew mit ſeinen beiden Freundinnen derartige Beziehungen unterhielt; aber ſie hätte vorſichtiger ſein müſſen. Sie kannte ja ihre Landsleute. Gut, daß es vorbei war.

Im Ernſt der Sache war jedenfalls der Zufall amüſant, der den guten alten Radecke wieder aus der Verſenkung auftauchen ließ. Elli hatte häufiger an ihn gedacht, aber vergeſſen, wo er ſeine Gaſtwirtſchaft hielt. Nun ſollte ſie ihn zur Nachtſtunde beſuchen, unmittelbar nach einer Cour bei Hofe. Wie ſeltſam ſich doch wieder die Gegenſätze berührten!

Die Fahrt war lang. Endlich hielt der Wagen vor einem hohen gelben Hauſe im Norden Berlins. Elli bezahlte und ſchaute ſich dann das Haus an. Da ſtand groß und breit: „Reſtauration von Auguſt Radecke.“ Ein paar Stufen führten zu einer Glastür im Parterre; daneben leuchtete eine Reihe heller Fenſter, alle bemalt und beſondere Herrlichkeiten verkündend wie „Potsdamer Stangenbier“ „Haſe⸗Weißbier“ „Kaltes und war⸗ mes Frühſtück“ „Feine Liköre“ „Prima Rollmops“.

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Elli faßte Mut und trat in das Lokal. Es war raucherfüllt und roch nicht gut. An allen Tiſchen ſaßen einfache Leute, faſt nur Männer, Droſchkenkutſcher, Arbeiter, kleine Gewerbetreibende, beim Bier. Hinter dem großen Büfett, auf dem ein ganzer Schinken, kalter Schweinebraten, Schüſſeln mit Salat, roten Rüben, Heringen, Rollmöpſen und derlei ſtanden, ſah Elli Radecke in Hemdsärmeln, wie er gerade eine Weiße einſchenkte, das große Glas ſchräg in einer Hand, in der andern die Tonflaſche. Neben ihm ſchnitt die rundlich gewordene kleine Alwine Schinken ab und unterhielt ſich dabei mit einem rieſigen Bierfahrer, der ſich vor ihr aufgepflanzt hatte. Und plötzlich ſchrie ſie leiſe auf und ließ ihr Meſſer fallen: ſie hatte Elli erblickt. „Vater,“ rief ſie, „unſer Fräulein!“ Auf der Stelle ſetzte Radecke Flaſche und Glas auf den Schenktiſch. Alle Falten lachten in ſeinem gutmütigen Geſicht. Nun drängten ſich Mann und Frau hinter dem Büfett hervor und ſtürzten nach der Tür, an der Elli ſich noch immer ſcheu zurückhielt. „Ach Gott nee, gnä'ges Fräulein liebes gnä'ges Fräulein,“ ſagte Alwine und drückte Elli an ſich, „nee, ſo was und ſo groß geworden und fo ſchön ...“ „Stille, Mutter!“ befahl Radecke, die rechte Hand Ellis feſt zwiſchen ſeinen großen Tatzen, „mach keenen Uffſtand. Wir wollen den Leuten keen Schauſpiel geben ohne Entree. Bringe das gnä'ge Fräulein man immer nach hinten und ſchick die Lina vor. Ich komme denn nach.“

Alwine nahm Elli unter den Arm und führte ſie durch das Lokal, in dem die Leute gafften, und über einen dunklen Korridor in ein Hinterſtübchen. Es wurde durch die beiden Betten, die mit den Kopfenden an⸗ einander längs der Wand ſtanden, noch kleiner. Auf der Kommode brannte eine Lampe; auf dem einen Bett lag Chriſtel, und neben ihr ſaß Katja mit verzweifeltem Ge⸗ ſicht, aber freudig aufſpringend, als I Elli eintreten ſah.

„Gott ſei Dank!“ rief ſie, „das iſt ein Freundſchafts⸗ ſtück, Ellimaus! Das vergeſſ' ich dir nicht! Die Chriſtel macht mich reinweg verrückt. Sie heult und heult, und dabei iſt gar keine Gefahr mehr ... Chriſtel, nun ſei verſtändig!“ und ſie gab dem auf dem Bette liegenden, in die Kiſſen ſchluchzenden Mädchen einen ſanften Schubs.

XXVI. 14. 10

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Aber Chriſtel hörte nicht. „Ich habe ſchon ein Brauſepulver gemacht,“ ſagte Alwine, „es iſt fliegende Hitze, das vergeht wieder.“

Elli beugte ſich über das Bett. „Chriſtel, laß das Gejammer!“ ſagte ſie ernſt. „Wir wollen nach Hauſe. Katja, wie kam das alles?“

Katja zuckte, während ſie ſich ihren Pelz über die Schultern hing, mit den runden Achſeln. „Was dahinter liegt, weiß ich nicht,“ entgegnete ſie; „was geſchehen iſt, ſchrieb ich dir ſchon. Wir ſaßen bei Tiſch, als es klingelte. Salo wollte ſelbſt öffnen, ſchaute aber erſt durch das Guckloch der Tür und ſtürzte entſetzt zu uns herein, ein Kriminalkommiſſar ſei draußen, hinter ihm noch zwei Beamte. Sie ſcheint ihre Leute zu kennen. Kyrulew war ganz ruhig. Eine Hausſuchung, meinte er, die hätte er längſt erwartet, ein Schuft habe ihn denunziert. Aber mein Name dürfte nicht notiert werden. So ſchob er uns durch die Küche auf die Hintertreppe und rief uns zu, wir ſollten durch die Kneipe auf die Straße. Na und hier hat Chriſtel in dieſer guten Frau eine alte Bekannte gefunden, und da Chriſtel einen Weinkrampf bekam, mußten wir aus⸗ halten und ich ſchickte dir die Rohrpoſt zu. Es iſt lieb von dir, daß du gekommen biſt aber ich bitte dich, halte mir keine deiner üblichen Moralpredigten oder verſchieb ſie auf ſpäter und ſorge zunächſt einmal für den kleinen Heulmeier da drüben.“

Chriſtel hatte ſich aufgerichtet. „Ich bin ſchon ruhig,“ ſagte ſie und ſtrich über ihr Geſicht und ver⸗ fuchte ihr wirres Haar in Ordnung zu bringen. Sie ſah ſchrecklich elend aus, hatte verſchwollene Augen und farbloſe Wangen und zitterte an allen Gliedern. Jetzt erſchien auch Radecke, unter jedem Arm eine Wein⸗ flaſche, ein paar Gläſer in den Händen. „Es iſt von wegen der Kräftigung,“ bemerkte er. „Gnä'ges Fräu⸗ lein, dieſer Wein iſt ein Reſt. Ich habe ihn gekauft, für den Fall, daß einmal einer meiner Gäſte etwas Abgelagertes trinken will. Aber das Weingeſchäft geht bei mir ſchlecht, obwohl ich ſonſt nicht zu klagen habe. Ich bitte zu probieren. Es iſt eine feine Traube und ohne Schwefelung . ..“ Er zog die Flaſchen mit Geſchick auf, wiſchte mit der Fauſt über die Offnung und ſchenkte ein. Dann hielt er ſein Glas wider das

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Licht, roch an der Blume, verbeugte ſich und ſprach: „Gnä'ges Fräulein, ich danke für die mir widergefahrene Ehre, daß Sie einmal zu dem alten Radecke gekommen ſind. Sei's, ob auch bloß durch eine gewöhnliche Zufällig⸗ keit oder nicht oder wie man immer: ich danke auch im Namen meiner Alwine und trinke auf Ihrem Wohle.“ Es mußten alle trinken. Dann bat Elli, Radecke möchte ein paar Droſchken beſorgen. Der ging auch gleich, und inzwiſchen zog Alwine Elli in eine Ecke und erzählte ihr: das ganze Haus ſtecke voll ruſſiſcher Studenten und hinten ſei auch eine ruſſiſche Leſehalle, da habe man ſich ſchon an die Schutzleute gewöhnt, die kämen alle Augenblicke und hielten Nachſuchungen. Aber es paſſiere ſelten etwas; nur einmal ſeien drei junge Leute verhaftet worden, man hätte ſie indes bald wieder freigelaſſen. Und dann wollte Alwine wiſſen, wie es denn dem ra Fräulein erginge; aber Elli hatte nicht den Kopf zu langen Schilderungen und verſprach, ſie würde einmal des Sonntags vormittags wiederkommen. Die Droſchken waren da, und Radecke beteuerte, es ſei nichts mehr von Poliziſten zu ſehen; an ſeine Gäſte trauten ſie ſich auch nicht, er ſei gut angeſchrieben auf dem Polizeirevier und in der ganzen Straße der einzige mit verlängerter Nachtkonzeſſion. Man nahm eiligen Abſchied von Katja, die in die eine Droſchke ſtieg, während Elli und Chriſtel die zweite benutzten. Während der ganzen Fahrt ſprach Chriſtel kein Wort. Elli redete ſie mehrfach an, aber ſie antwortete gar nicht. Sie ſaß zuſammengekauert in ihrer Ecke, den Kopf tief geneigt, nicht weinend, aber beſtändig zitternd wie unter der Einwirkung eines Schüttelfroſtes. Daheim ſollte der Fliedertee wieder ſeine Schuldig⸗ keit tun. Doch Chriſtel wehrte ſich. Sie erklärte, ganz geſund zu ſein, ſprach vernünftig und ruhig, küßte Elli und ging artig zu Bett. Mitten in der Nacht wachte Elli auf. Sie hörte deutlich, daß Chriſtel nebenan heftig ſchluchzte; ſprang aus dem Bett, zündete das Licht an und ging zu ihr. Chriſtel lag zweifellos im Fieber. Ihr Geſicht war naß von Tränen, aber die Hände fühlten ſich trocken an, die Stirn glühte. Elli ſetzte ſich zu ihr und verſuchte ſie zu beruhigen. Da ſchlang Chriſtel die Arme um ihren Hals, zog ſie zu ſich herab und flüſterte ihr zu: „Ich

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muß morgen zu Kyrulew, Elli! Ich muß! Wir lieben uns. Ich vergehe vor Sorge um ihn. Liebe, gute, einzige Elli, laß mich zu ihm! ...“

Es war Elli, als riſſe etwas in ihrem Herzen. Sie hatte derlei erwartet, und doch ging ein Beben durch ihr Inneres. Sie fürchtete ſich vor dieſer Liebe. Um Chriſtel nicht von neuem aufzuregen, verſprach ſie, durch Katja Erkundigungen einziehen zu laſſen. Chriſtel gab ſich anſcheinend zufrieden, aber am Morgen fand Elli ſie bereits fertig angekleidet, und als ſie fragte, warum Chriſtel bei ihrem Fieberzuſtand nicht im Bette geblieben ſei, wurde ihr die Antwort zuteil: „Ich will zu Kyrulew.“ Esas koſtete Elli Mühe, Chriſtel zurückzuhalten. Die Kollegien mußte man aufgeben. Elli fuhr nach dem

otel Briſtol, um von Katja Näheres zu erfahren.

chon in aller Frühe war Salo Lewſchin bei ihr ge⸗ weſen. Die Hausſuchung war ergebnislos verlaufen; bis auf ein paar ruſſiſche Streitſchriften minder ge⸗ fährlicher Art hatte man nichts gefunden. Natürlich hatte man demzufolge auch eine Verhaftung nicht ge⸗ wagt. Trotzdem war Kyrulew mit dem Morgenzug nach Zürich abgereiſt; wie Salo ſagte, fürchtete er weitere Beläſtigungen, da er wußte, daß verſchiedene Denunziationen gegen ihn vorlagen, und wollte von Zürich aus beim Polizeipräſidium ach dug einlegen.

Elli hielt mit ihren Vorwürfen nicht zurück. Katja könne machen, was ſie wolle; ſie ſtehe allein und habe keinem Menſchen Rechenſchaft zu geben. Aber es ſei bitter unrecht von ihr geweſen, ein ſo unkluges und un⸗ reifes Geſchöpfchen wie Chriſtel in eine Geſellſchaft zu ſchleppen, an deren moraliſcher Verlumptheit ſie ſelbſt doch kaum noch zweifeln könne ... In der Tat: Elli war außer ſich. Von einem harmloſen Flirt zwiſchen Kyrulew und Chriſtel konnte keine Rede mehr ſein. Hier ſprach die Leidenſchaft mit.

Katja ließ ſich ruhig ausſchelten. Sie qualmte ihre Zigaretten, während fie ſich am Kopfende der Chaiſe⸗ longue zuſammengekauert hatte. „Biſt du fertig, Gänſeblümchen?“ fragte ſie ſchließlich. „Schön. Dann möchte ich auch einmal etwas ſagen. Ich pfeife auf eure ſogenannte Moral. Sie iſt keinen Kopeken wert. Sie iſt falſch wie Galgenholz und verblödet den Menſchen, ſtatt ihn zu erheben. Sie raubt uns unſre friſcheſte

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Kraft und ſperrt uns in den Stall der Gewohnheit ein. Nach deiner Anſicht ſind Wera und Salo und Kyrulew „Verlumpte“. Warum? Weil ſie zunächſt mal ſich ſelbſt leben? Sind es nicht im Gegenteil die Freieſten und Glücklichſten, weil ſie ſich um keinerlei geſellſchaftliche Hemmungen zu kümmern brauchen? Ihnen hab' ich mich tauſendmal lieber angeſchloſſen als den lang⸗ weiligen Löwen unſrer Salons, Löwen, die nicht brüllen können, Beſtien von ſtumpfer Paſſivität. Bei dem luſtigen Geſindel drüben fand ich ſelbſt bei aller Kargheit der Alltagsfreuden noch immer einen jubelnden Lebensdrang und die ungeſtüme Luſt an der Freiheit, die euch Pedanten mit Entſetzen füllt. Du wirfſt mir vor, daß ich Chriſtel dorthin verſchleppt hätte. Ver⸗ ſchleppt iſt gut; es klingt faſt kriminell und hat einen fatalen Beigeſchmack. Aber ich nehm's nicht übel. Nur muß ich dich wahrheitsgemäß korrigieren. Ich war keineswegs die Verführerin unſres kleinen Dummchens. Im Gegenteil: gewöhnlich holte ſie mich ab. Sie hatte einen Narren an Kyrulew gefreſſen, ſie hatte ſich bis über beide Ohren in ihn verſchoſſen. Und das Glück habe ich ihr von Herzen gegönnt.... So und nun kannſt du wieder von vorn anfangen ich höre zu.“

„Ich verzichte,“ entgegnete Elli ernſt. „Wir werden uns gegenſeitig nicht bekehren ich habe auch keine Neigung zur Bußpredigerin. Ich liebe die Freiheit wie du, aber es ſagt meinem Weſen zu, ſie zu zügeln, wenn es mir gut ſcheint. Und wie du, ſo mache auch ich mich nicht von konventionellen Satzungen abhängig, wenn ſie mir die lebendige Seele töten wollen. Aber da, wo die Sitte zuſammentrifft mit dem Empfinden innerer Sauberkeit und dem Gefühl des Anſtands, da beuge ich mich vor ihr. Für mich haben die Begriffe von Pflicht und Gewiſſen noch immer ihre alte Wertung; du, die du dich ſouverän genug dünkſt, für dich ſelbſt neue Werte zu prägen, wirſt mich dafür wahrſcheinlich unter die Schablonenmenſchen einrangieren. Das ſoll mich um ſo weniger kümmern, als der Riß in unſrer Freundſchaft bedenklich größer zu werden droht. Es iſt beſſer, wir trennen uns, ehe der wachſende Groll uns zwingt, voneinander zu laſſen.“

Ich grolle dir gar nicht, Gänſeblümchen,“ ſagte Katja mit ſchmeichelnder Stimme. „Ich habe dich viel

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zu lieb dazu. Daß wir verſchieden ſind, was tut das! Deine weiße Blondheit badet ſich gewiſſermaßen ſtän⸗ dig in Milch, und dein feines Seelchen ſucht gern die reinſten Atmoſphären auf. Ich bin animaliſcher veranlagt; ich geſtehe zu, daß es mich zuweilen in nicht ganz reinliche Tiefen lockt, daß ich um einer Senſation willen mich auch vor dem nicht ſcheuen würde, was in deinen Augen gemein und nieder wäre. Vielleicht trägt die ſeltſame Kreuzung, deren Produkt ich bin, daran ihr ſchuldiges Teil. Aber ſei's wie es ſei: ich ſehe nicht ein, warum die Sonderheit unſrer Naturen uns auseinander führen ſoll, wo wir uns trotz allem lieb⸗ haben und vielleicht gerade deshalb.“

Elli nahm Katjas Hand. „Leb wohl,“ entgegnete ſie. „Ich möchte dich lieb behalten deshalb komm' ich nicht wieder.“

Katja ſprang auf, und ſtürmiſch fiel ſie Elli um den Hals. „Bleib noch,“ rief ſie, „ich bitte dich, geh nicht ſo fort! Sechs Jahre lang haben wir uns die Freundſchaft gehal⸗ ten und nun ſoll ſie auf einmal in die Brüche gehen, weil es dir beliebt, den unerbittlichen Kato zu ſpielen?!“

Elli antwortete nicht. Sie küßte Katja, ſo herzlich wie in der Kinderzeit, und ging. Sie wollte dieſe Freundſchaft löſen, weil ſie ſie fürchtete wie die Liebe Chriſtels zu Kyrulew.

Die Sorge um Chriſtel verſtärkte ſich. Die Kleine befand ſich in einem Zuſtand höchſter pſychiſcher Ver⸗ wirrung. Elli war anfänglich ſo vorſichtig geweſen, ihr nichts von der plötzlichen Abreiſe Kyrulews zu ſagen. Aber da begann wieder die Quälerei: ſie wollte nach der Linienſtraße, ſchrie und raſte und ſank vor Elli in die Kniee und bat mit flehender Stimme, ſie fortzu⸗ laſſen, ſtürzte dann in ihr Zimmer, um ſich anzukleiden und war nur mit ſchroffer Rückſichtsloſigkeit zurück⸗ zuhalten. Endlich ſah ſich Elli gezwungen, die Wahrheit einzugeſtehen: Kyrulew ſei nach der Schweiz ge⸗ flüchtet und es ſei fraglich, ob er zurückkehren werde. Chriſtel ſchaute Elli einen Augenblick groß und ſtarr an, ſchrie auf und fiel in Ohnmacht. Sie mußte zu Bett gebracht werden. Der Arzt wurde geholt und konſtatierte ein nervöſes Fieber: gefahrlos, doch auch nicht zu leicht zu nehmen, verſchrieb beruhigende Mittel und verordnete eine leichte Diät.

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Elli war in Verzweiflung. Die treueſte Pflege nutzte in dieſem Falle wenig. Sie dachte daran, den alten Bungarz zu benachrichtigen, aber ſie gab die Idee wieder auf. Er konnte erſt recht nicht helfen; im Gegenteil, er hätte die krankhafte Erregung Chriſtels wahrſcheinlich noch geſteigert. Aber etwas Beſſeres fiel ihr ein: ein Seelenarzt, der ſich auf Diagnoſe und Heilung verſtand Tante Karla. Ohne weitere Über⸗ legung ſetzte ſie ein Telegramm auf: „Kannſt Du auf einige Tage zu mir kommen? Ich bedarf Deiner.“

Und dann kehrte ſie an das Bett Chriſtels zurück. Das Fieber hielt ſich auf gleicher Höhe und äußerte ſich in ſeltſamer Schwatzhaftigkeit. Die arme Kleine ſprach mit ihren heißen Lippen beſtändig und immer nur von Kyrulew. Er war ihr Abgott und ihr Held. Er war der Sproſſe eines weißruſſiſchen Fürſten⸗ geſchlechts, das nach rapider Verarmung einen bürger⸗ lichen Namen angenommen hatte. Im Kampfe um die Freiheit Rußlands hatte auch er ſich den revolutio⸗ nären Elementen angeſchloſſen, hatte flüchten müſſen und in Berlin ein Aſyl geſucht. Aber unſichtbare Fäden vermittelten noch immer die Verbindung mit der großen Propaganda daheim. Und während dieſer ſeltene Mann in der preußiſchen Hauptſtadt in allen Salons der Ariſtokratie, auf den Geſandtſchaften und in der takt⸗ feſten hohen Beamtenſchaft wie zu Hauſe war, in militäriſchen Inſtituten lehrte und zum vereidigten Dolmetſch der ruſſiſchen Botſchaft wurde, lebte er doch tatſächlich auf einem Vulkan, immer in Gefahr, in die Luft zu fliegen und ein Opfer ſeiner begeiſterten Vaterlandsliebe zu werden. Eine törichte Jugend⸗ neigung kettete ihn an Salo Lewſchin. Die war ihm zum Fluche geworden. Namenlos litt er unter dem Drucke dieſes unſeligen Verhältniſſes und hatte keinen Menſchen auf der weiten Welt außer Chriſtel, der er ſie gequältes Herz ausſchütten konnte. Denn ſeit er

ie kennen gelernt, war er ſich erſt ganz klar darüber geworden, wie verhängnisvoll Salo Lewſchin in ſein Leben eingegriffen hatte. Es war rührend, mit welcher hingebenden Innigkeit er an Chriſtel hing. Er wollte ein neuer Menſch werden, alle Schiffe hinter ſich verbrennen, alle Hoffnungen auf ſeine Zukunft auf⸗ geben: wollte allein ihr leben. Aber da gab es nur

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eins: ein völliges Losreißen aus der alten Umgebung gemeinſame Flucht Flucht nach dem Orient. Dort boten ſich ſeinen ſchaffensfrohen Händen tauſend lockende Ausſichten zum Aufbau einer neuen Exiſtenz, und ſie ſie ſollte ſeine Glücksgöttin ſein, die vor⸗ wärtstreibende Kraft, die ſeiner Arbeit Seele und Stimmung gab . . . Flucht nach dem Orient einen Bruch mit der Überlieferung träger Gewohnheit. Keinen Pfaffen, keine einzwängende Bindung als freie Menſchen wollte man ſich in der Freiheit finden, dem Drange der Herzen folgend und in dieſer unendlichen Liebe fi) zu einem frohen Kraftgefühl aufſchwingend, wie nur die volle ſchrankenloſe Ent⸗ wicklung alles ſeeliſchen Vermögens es vermag „Er iſt ſo groß ſo groß und ſo edel,“ flüſterte Chriſtel, „er iſt eine durch und durch ideale Natur .. . Elli, du begreifſt nicht, wie man fo lieben kann ... du biſt zu kühl und erwägend. . .. Ein entſcheidendes Wort von ihm —und ich wär' längſt mit ihm in allen Weiten Aber er mußte noch warten ... jetzt erſtarb ihre Stimme zu faſt lautloſem, geheimnisvoll klingendem Wiſpern „in Rußland iſt eine neue Verſchwörung am Werke um Gottes willen, das gilt nur dir ... der Zarismus ſoll geſtürzt werden ganz Rußland eine große Re⸗ publik mit dem Sitz in Moskau ... er wartete auf die letzten Nachrichten und nun iſt alles zu ſpät ...“ Und wieder begann Chriſtel zu weinen.

Elli ließ ſie ſich ausſchluchzen. Sie ſaß ganz blaß an dem Bett der lieben dummen Kleinen. Mein Gott, wie ſchmachvoll hatte man ihr mitgeſpielt! Und wie ſchwer war es nun, dieſe Wirrnis zu löſen! Elli fühlte, wie ein Stein lag ihr das Herz in der Bruſt. Sie hatte ein großes Mitleid mit der armen Freundin und wußte doch nicht, wie ſie ihr helfen konnte. Erſt als die Gulla mit dem Antworttelegramm Karlas kam: „Bin morgen früh bei Dir,“ begann ſie wieder mutiger zu werden.

Schleunigſt wurde das Wohnzimmer umgeräumt und für Tante Karla eingerichtet. Elli legte ſelbſt mit Hand an: Tante Karla ſollte es wenigſtens behaglich haben. Gott ſei Dank, daß ſie kam! „Aber Chriſtelchen darf es nicht wiſſen,“ flüſterte ſie der Gulla zu. „Pſt pſt,“ machte die Alte, „is ſich Gulla kein Klatſchweib.

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Wird die Freude groß fein bei Fräulein Chriſtelchen und hupp hupp wieder geſund aus das Bett.“ „Geb's Gott!“ ſagte Elli.

15. DB Menſchenherz, was iſt dein Glück!

Die Freude des Wiederſehens war groß zwiſchen Karla und Elli. Karla hatte ſich wenig verändert. Nur ein feiner ſilberner Ton, der über ihrem dunklen Haar flimmerte, zeigte an, daß die Blüte der Jugend hinter ihr lag. Aber immer noch hatte ſie ſich ihre ſchöne Figur bewahrt und die heitere Friſche ihres Weſens, und aus dem griechiſchen Geſicht ſprachen die Augen ſo überzeugungsklar wie einſt.

Sie hatte anfänglich gemeint, Elli ſelbſt ſei etwas zugeſtoßen, und war im Grunde ihres Herzens ſehr froh, daß es ſich nur um eine Liebestorheit Chriſtels handelte. Sie faßte das Geſchehnis auch keineswegs tragiſch auf, und erſt als ihr Elli von den kindiſchen Phantaſieen Chriſtels erzählte, die mit ihrem ruſſiſchen Abgott am liebſten ſchnurſtracks durchgebrannt wäre, wurde ſie ernſthafter. Chriſtel wurde ihres Fieberzuſtandes halber noch immer im Bette gehalten. Das war freilich gar nicht ſo leicht. Die Kleine ſträubte ſich gegen die Feſſeln der Krankheit, und als ſie unerwartet Karla eintreten ſah, ſchrie ſie auf, ſprang im Nu aus dem Bett, ſtürzte ihr im Hemd entgegen und umarmte ſie jauch⸗ zend, jammernd und weinend.

Karla glaubte, leicht mit ihr fertig werden zu können. Sie hielt dieſe ganze Liebelei für kaum mehr als eine Sache der Einbildung; ſie meinte ihr Chriſtel⸗ chen zu kennen. Aber ſie täuſchte ſich.

„Es ſitzt tiefer bei ihr, als ich gedacht habe,“ ſagte ſie nach der erſten erregten Rückſprache mit Chriſtel zu Elli. „Erzähle mir Näheres von dieſem Kyrulew. Ver⸗ dient er die Liebe des Kindes?“

„Nun wurde Elli eifrig. Sie verhehlte Karla nicht, wie wenig ſie für den Ruſſen übrig hatte. Sie hielt ihn für keine Eroberernatur, wahrlich nicht, ſondern höchſtens für einen rückſichtsloſen Schürzenjäger, den die holde Unerfahrenheit Chriſtels gelockt hatte. „Frei⸗ lich, ſie glaubt an ihn!“ rief ſie. „Haſt du nicht gemerkt,

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Tante Karla, wie völlig verwandelt ſie iſt?! Er hat ſie eingewickelt mit ſeinen Phraſen und ſeiner Schön⸗ rednerei, er hat ihr das dumme Köpfchen von Grund aus verwirrt! Unſer Chriſtelchen, das keinem Tier etwas zuleide tun konnte, ſchwärmt auf einmal für die Sprengbomben der Revolution und ergeht ſich in blutwürſtigen Tiraden und möchte den Zarismus um⸗ bringen und faſelt unaufhörlich von ‚Freiheit‘! Unſer Chriſtelchen, die keuſcheſte und prüdeſte, die vor den drei Grazien den Kopf wandte und vor dem Urteil des Paris rote Backen bekam, findet plötzlich, daß das Inſtitut der freien Ehe etwas ganz Natürliches ſei und daß weder Pfaffe noch Standesbeamter die Liebe der Menſchen zu ſanktionieren hätten! Tante Karla ſelbſtverſtändlich, wir reden hier nicht von Prinzipien und nicht von der Wahrheit der Moral und nicht von dem, was recht iſt an der Sitte und was falſch. Wir ſprechen von Chriſtel, von einer naiven Seele, die man betören wollte, um mit ihr das ganze Perſönchen zu fangen. Du kennſt ſie ſo gut, wie ich ſie kenne. Etwas von der Disziplin ihrer katholiſchen Erziehung zittert immer noch in ihr nach. Und wenn ſie trotz alledem, gewiſſermaßen von geſtern zu heute, auf die Pfaffen zu ſchimpfen anfängt und die Geſellſchaftsmoral für verlogen erklärt und im „Ausleben des Individuums“ prachtvolles Schlagwort! das Heil der a old heit ſieht, ſo iſt das ein Beweis dafür, daß Kyrulew es verſtanden hat, ſein Opfer gehörig zu präparieren. Gott ſei Dank, daß er auf und davon iſt!“

„Aber er kann zurückkehren,“ ſagte Karla.

„Das iſt es! Er kann zurückkehren, und deshalb iſt es notwendig, Chriſtel ſeinem verderbenden Einfluſſe zu entziehen.“ a

Karla erhob ſich. Ein Ausdruck wehmütigen Sinnens ging über ihr Geſicht, dem raſch der eines feſten Ent⸗ ſchluſſes folgte. „Komm,“ ſagte ſie und faßte Elli bei der Hand, „wir wollen zu Chriſtel. Ich will ihr etwas aus meinem Leben erzählen und das ſollſt auch du hören, mein Lieb ...“ 5

Es war am Spätnachmittag. In Chriſtels Schlaf⸗ zimmer herrſchte ein lauer Dämmer. Der freundliche Wintertag ging langſam zur Rüſte. Vom Purpur des Sonnenunterganges, der den Schnee der Dächer in ein

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ſanftes Roſa tauchte, glitt noch ein letzter Glanz durch das kleine Gemach. Chriſtel lag mit wachen Augen im Bett und wandte den Kopf, als fie die beiden eintreten ſah.

„Wie geht es dir, Kleinchen?“ fragte Karla und legte ihre Hand auf Chriſtels Stirn. „Du biſt nicht mehr heiß, deine Stirn fühlt ſich auch feucht an das Fieber hat nachgelaſſen.“

Chriſtel lächelte matt. „Ich BE Tante Kar⸗ la,“ antwortete fie. „Ich habe keine Schmerzen, aber das Gefühl großer Ruheloſigkeit. Darf ich nicht aufſtehen?“

„Noch nicht, mein Herz. Wir wollen abwarten, was der Doktor morgen ſagt. Heute biſt du noch ein verſtändiges Kind. . ..“ Sie zog ſich einen Stuhl an das Bett ... „Ich möchte dir etwas erzählen. Willſt du mir zuhören?“

„Was iſt es, Tante Karla? Eine von den Ge⸗ ſchichten, die Sie mir in Karlsruhe erzählten, als i die Maſern hatte? Halb Dichtung, halb Wahrheit?“

„Es ſoll diesmal die ganz e Wahrheit ſein, Chriſtel. Ein Stück aus meinem Leben. Ein kleines Drama, wie es zuweilen vorkommt. Eine Alltagsgeſchichte, die auch ihre Moral hat. . .. Setz dich, Elli. Dein Vater hat ſie ſchon einmal gehört. Das war in meines Lebens ſchwerſter Stunde. Nun ſollt auch ihr ſie hören.

. Sie nahm Chriſtels Hand in die ihre, jo daß fie

deren Puls ſpüren konnte, und begann: „Ich bin ein Offizierskind, aus armer Familie, und ſtand nach meines Vaters Tode ziemlich mittellos in der Welt. Mein einziger Bruder Fritz war im Kadettenkorps erzogen worden und mit Königszulage in ein Infanterie⸗ regiment eingetreten; er hat ſpäter 185 geheiratet. Ich mußte zuſehen, wie ich mich durch die Welt ſchlug. Fand auch allerlei Verdienſte, bei denen man nicht gerade zu verhungern brauchte, bis mir durch einen Zufall ein beſſeres Los zu winken ſchien. Ein Guts⸗ beſitzer im Poſenſchen ſuchte auf dem Inſeratenwege eine Dame für ſeinen Haushalt, die auch der Wirt⸗ ſchaft vorzuſtehen hatte. Ich meldete mich und wurde angenommen. Das Gut lag inmitten polniſchen Be⸗ ſitzes, gehörte aber ſeit über hundert Jahren einer märkiſchen Adelsfamilie, die ſich wenig um ſeine Er⸗ haltung gekümmert hatte. So hatte der letzte Beſitzer, Karl⸗Egon, einen ziemlich ſchweren Stand um ſo

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ſchwieriger, als er bisher aktiver Offizier geweſen war und ſich in Fragen der Bewirtſchaftung faſt ganz auf ſeinen Inſpektor verlaſſen mußte, der notabene nicht ſonderlich viel taugte. Als ich nach Rotacz kam, hatte ich die größte Luſt, gleich wieder abzureiſen. Ich ſah pole nach wenigen Tagen, daß die Decadence unheilbar ortgeſchritten war, daß die ganze Herrlichkeit in den letzten Zügen lag. In dem alten Staroſtenſchloſſe, das von den deutſchen Beſitzern nicht gerade reſpektvoll ausgebaut worden war, herrſchte dieſelbe greuliche Unordnung wie auf dem Gutshofe und im Wirt⸗ ſchaftsbetriebe. Vor allen Dingen aber gefiel mir Karl⸗Egon nicht. Er war ein noch junger Menſch, wenig älter als ich, groß, ſchlank und hübſch; hatte bei den Erſten Leibhuſaren gedient und eigentlich nur das Gut übernommen, weil er ſich beim Regiment nicht mehr zu halten vermochte. Daß er bodenlos leichtſinnig war, merkte ich ohne weiteres. Ich hätte darüber hinweg⸗ ſehen können, wenn mich das Leben im Schloſſe nicht verletzt hätte; als aber eines Tages in den Fremden⸗ zimmern für eine Zigeunerdirne Quartier gemacht wurde, bat ich um meine Verabſchiedung. Es war dies das erſte Mal, daß ich eine längere F de mit- Karl⸗Egon hatte. Er war anſcheinend ſehr ver⸗ blüfft über meine Energie, geriet in ſichtliche Verwirrung und quälte mich ſchließlich, mir die Sache zu überlegen, ihm jedenfalls nicht ohne weiteres den Stuhl vor die Tür zu ſetzen. Da noch am gleichen Tage die Zigeunerin davongejagt und das Haus auch künftighin rein gehalten wurde, ſo blieb ich in der Tat, aber immer mit der Ab⸗ ſicht, mir zu gelegener Zeit den Rücktritt frei zu halten. Da kam an einem Neujahrsmorgen eine entſcheidende Stunde... Ich hatte mich am Silveſterabend ziemlich frühzeitig zurückgezogen. Karl⸗Egon war der Einladung eines Nachbarn, eines Grafen Czesztve, gefolgt, und ich ſelbſt hatte das Bedürfnis, in der Stille wieder einmal die Erinnerungen Revue paſſieren zu laſſen. Sie waren nicht hervorragend heiterer Art, und ſo kam es denn, daß ich eine ziemlich ſchlafloſe Nacht hatte und am frühen Morgen aus kurzem und unruhigem Halbſchlummer durch Schlittengeläute aufgeſtört wurde. Ich huſchte zum Fenſter und ſah Karl⸗Egon zurück⸗ kehren. Es fiel mir auf, daß er ſeltſam fahl im Geſicht

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war, auch ſtolperte er ſchwerfällig die Verandatreppe hinauf, ſo daß ich ſchon glaubte, er hätte zu viel getrunken. Dann hörte ich aber ſeinen feſten Schritt im Korridor, vernahm auch das Offnen und Zuſchlagen ſeiner Tür. Und vernahm es nochmals und hörte ihn von neuem durch den Korridor ſchreiten und hörte, wie unten die Hauspforte ging: ein eigentümliches, ganz unver⸗ kennbares Geräuſch, wie das leiſe Aufjaulen eines Hundes im Traume klingend. Eine plötzliche Unruhe packte mich, ich weiß nicht, woher ſie kam. Es war eines jener Ahnungsgefühle nahenden Unglücks, wie ſie uns zuweilen überkommen. Mein Herz begann ſtärker zu klopfen; wieder ſprang ich aus dem Bett und zum Fenſter und ſah Karl⸗Egon die ſchneebedeckte Verandatreppe hinabſteigen. Er war trotz der Kälte barhäuptig und trug über dem Frack einen offen⸗ ſtehenden Pelz. Seine Flinte hing über der Schulter. In dieſem Augenblick verſtärkte ſich in mir das Ahnungs⸗ empfinden ſo gewaltig, daß mein Hirn gewiſſermaßen nur für den einen Gedanken Raum fand: Du mußt ihn retten! In raſender Haſt kleidete ich mich an. Und da kam die Logik wieder und die Überlegung. Ich fragte mich: Was will er? Er iſt eben erſt vom Grafen Czesztve heimgekehrt: einem reichen Jung⸗ geſellen und wüſten Spieler das wußte ich. Er iſt auf ſein Zimmer gegangen, ſich ſein Gewehr zu holen. Aber man geht nicht barhäuptig, in Frack, weißer Binde und Lackſtiefeln auf die Jagd. Und ſelbſt, wenn ihm plötzlich die Luſt angekommen wäre, eine Krähe zu ſchießen oder einen durch den Park ſchnürenden Fuchs, ſo hätte er jedenfalls die Toilette gewechſelt. Und nun war mein Ahnen zur Gewißheit geworden: er hat bei Czesztve geſpielt, hat Unglück gehabt ihm ſelbſt ſoll die Kugel gelten. . .. Ich ſtürzte hinaus. Die Spuren im Schnee zeigten mir ſeinen Weg. Mitten im Park, unter hohen Schwarztannen, ſtand das Mauſo⸗ leum feines Geſchlechts. Da fand ich ihn. . . . Laßt mich kurz ſein. Ich kam im entſcheidenden Augenblick. Es war in der Tat ſo, wie ich vermutet hatte. Er hatte die Hypothekengelder, die zu Neujahr gezahlt werden ſollten, bis auf den Reſt verſpielt ...“ n

Karlas Hand ſtrich langſam über ihre Stirn, die weiß geworden war.

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„Du erzählit aufregend, Tante,“ ſagte Elli.

„Erzählen Sie weiter!“ rief Chriſtel. „Wie wurde es? Ach, Tante Karla, das muß ein ſchrecklicher Augen⸗ blick geweſen ſein!“

Karla nickte. „Ja, mein Kind, das war er. Ich ſehe noch ſeine flackernden Augen und höre ſeine Stimme: ‚Was ſtören Sie mich? Oder wollen Sie mir Rettung bringen?!“ So ungefähr rief er. Aber da hatte ich ihm bereits die Waffe entwunden. Ein paar Minuten ſpäter ſaßen wir uns im Zimmer gegenüber. Mir lag zunächſt daran, ihn zu beruhigen. Und das gelang mir auch. Er ſprach ſich offen über feine Verhältniſſe aus: ein paar tauſend Mark mußten ſofort beſchafft werden, ſonſt brach alles zuſammen. Dies Geld bot ich ihm an; es war mein ein und alles. Und nun, Kinder, hättet ihr ein Recht zu fragen, weshalb ich dies tat. Weshalb ich meinen letzten Not⸗ groſchen einem mir fremden Manne, deſſen Leichtſinn ich kannte, in die Arme warf. Ich kann euch keine andre Antwort geben als die eine: es war auch von mir ein Moment des Leichtſinns; meine Gutmütigkeit ſiegte. Dieſer ganz gebrochene junge Menſch tat mir leid. Ich hatte das Gefühl, als ſei noch Beſſeres an ihm zu retten als nur das Leben. Und in Wahrheit: ich täuſchte mich nicht. Es ſteckte ein guter Kern in ihm. ... Er nahm das Geld. Und ſchon einen Tag ſpäter war er gleichſam wie umgewandelt. Er kam mit ſeinen Kontobüchern, den Leutejournalen, den Lohnheften zu mir: ich ſollte Einſicht in ſein Soll und Haben nehmen. Er kam auch mit tauſend guten Vor⸗ ſätzen. Sein Wehe war verwildert, die Schuldenlaſt groß. Trotzdem: bei fleißiger Arbeit und gutem Willen ließ auch dies Chaos ſich lichten. Aber freilich, es be⸗ durfte einer eiſernen Energie. Er wußte, daß er ſie nicht hatte; da ſollte ich ſein Kamerad werden, der mit hellem Auge über ihn wachte und ich wurde es. Ein Jahr lang haben wir wie zwei gute Freunde nebeneinander gelebt, und ich ſah mit unausſprechlichem Glück, wie ſich ein Mann der Tüchtigkeit, ein ganzer Mann aus ihm entwickelte. Er gab jeden Verkehr auf. Er war der erſte auf dem Felde und der letzte daheim. Der Blick des Herrn wachte wieder über dem Beſitz. Auch Segen kam über unſre Arbeit: es war ein pracht⸗

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volles Erntejahr, das reiche Erträge brachte. Ich tat in Haus und Hof das Meine, ſeine Tätigkeit zu unter⸗ ſtützen, und ſo ſchien ſich noch einmal alles zum Beſten wenden zu wollen. Das Glück leuchtete ihm aus den Augen und mir; ja, uns beiden. In gemeinſamer Arbeit lernten wir uns lieben, ohne daß ein Wort der Liebe zwiſchen uns geſprochen worden wäre. Jeder Blick ſagte es dem andern, jeder Händedruck. Es war eine frohe Zeit. . .. Aber mitten im Sonnenſchein zog ein Gewitter auf. Unerwartet wurde Karl-Egon eine große Hypothek gekündigt. Anfänglich glaubten wir, es würde uns nicht ſchwer fallen, einen Erſatz zu ſchaffen. Doch alle Hoffnungen verſagten. Die Ritterſchaft ließ uns im Stich, die ſonſt ſo gefälligen Juden zuckten die Achſeln, die wenigen Freunde Karl⸗Egons bedauerten: es war, als hätte ſich plötzlich alle Welt gegen uns verſchworen. Freilich lagen zurzeit die Konjunkturen ſchlecht, und wenn wir hätten warten können, würden wir ſchließlich doch noch Herren der Lage geworden ſein. Aber wir konnten wir konnten nicht warten! Und wir ſtanden einem hartherzigen Gläubiger gegenüber. Es war der Graf Czesztve; aus dem alten Freunde Karl⸗Egons war ein erbitterter Feind geworden. Ich kannte auch den Grund dieſer Wandlung. Er verfolgte mich mit ſeinen Anträgen und plötzlich wurde die Eiferſucht in ihm wach. Er wollte Karl⸗Egon ruinieren; vielleicht ſprach auch der Wunſch in ihm mit, Rotacz wieder in polniſche Hände zu bringen. Noch hätte die Anſiedlungskommiſſion uns retten können. Aber was ſie bot, war unannehm⸗ bar. So war keine Hilfe mehr zu erwarten ...“

Karla ſchwieg einen Augenblick und atmete ſchwer auf, gleichſam als überkomme ſie unter der Wucht der Erinnerung ein Moment der Schwäche, oder als wolle ſie Mut faſſen für das, was ſie nun ihren Zuhörerinnen zu offenbaren gedachte. Sie griff wieder nach Chriſtels Hand und hielt ſie feſt, während ſie langſam weiter⸗ prach, mit einer Stimme, aus der bei aller Beherr⸗ chung doch ihre tiefe innere Erregung wie eine bewegte Unterſtrömung hervortönte.

„In dieſer Zeit der Not,“ fuhr ſie fort, „ja in dieſer Zeit der Not, da unſre Herzen ſchrieen und eins das andre ſuchte, in dieſen Tagen der Verzweiflung, in denen die Sehnſucht heiß wurde und die Sorge zur

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Mittlerin unſrer Liebe, da brach meine ſittliche Kraft. Hört, was ich ſage. Ich ſage: meine ſittliche Kraft zerſchellte. Ich verteidige mich nicht. Ich würde ge⸗ nügend Verteidiger finden und ſicher auch viele, die dem ſchönen Pathos des Rechtes auf ſich ſelbſt mit Begeiſterung zuſtimmen würden. Aber die Verachtung der Sittengeſetze als törichtes Zeremoniale iſt doch nur dann möglich, wenn ſie auch vor dem Licht des Gewiſſens ſtandhält. Und ich bin mir des Unrechts bewußt, ſinnlos der Leidenſchaft des Herzens unter⸗ legen zu ſein, alſo einem blinden Inſtinkt, ſtatt der Vernunft zu folgen, die das Verhältnis zwiſchen natürlicher und ſittlicher Welt regelt. Ja, ich unterlag und daß ich nicht ſiegen konnte, nahm mir die Sonne für Lebenszeit. ... Wir glaubten zwei Ge⸗ fangene zu ſein und träumten von glücklicher Freiheit. Wenn alles vorüber war, wollten wir nach Amerika. Wir hatten nichts als unſre Liebe, aber ſie dünkte uns ſtark genug, dem Leid zu trotzen. Wir fragten nicht nach dem Urteil der Menſchen; wir wollten nur uns gehören. Unter dem Druck aller Sorgen kam es wie ein Rauſch über uns.... Damals zeigte mir mein Bruder ſeine Heirat an. Er war plötzlich reich geworden, und da ſchoß mir der Gedanke durch den Kopf, daß er vielleicht uns helfen könne. Ich ſchrieb ihm und ſchil⸗ derte ihm wahrheitsgemäß die Lage Karl⸗KEgons. Er kam auch ſofort, denn er hatte ſelber die Abſicht, den Dienſt zu quittieren und ſich anzukaufen aber ein unglückliches Ungefähr führte ihn mit dem Grafen Czesztve zuſammen, und deſſen Läſterzunge wurde uns zum Verderben. Mein Bruder ſtand viel zu ſehr unter dem Einfluß ſeiner Erziehung und ſeiner Über⸗ zeugungen, als daß er mir je hätte vergeben können. Es war vergeblich, daß Karl-Egon ſich ohne weiteres bereit erklärte, mich heiraten zu wollen: die beleidigen⸗ den Worte, die herüber und hinüber flogen, forderten ihre konventionelle Sühnung und im Zweikampf fiel der Mann, den ich liebte und der der Vater meines Kindes war ...“

Karla rückte ſich gerade auf ihrem Stuhl; in der tiefen Dämmerung, die das Zimmer füllte, hatte ihr Geſicht die Farbe weißen Papiers angenommen. Aber aus dem Weiß leuchteten hell ihre dunklen Augen.

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„So war es,“ ſagte fie. „Seitdem find zwei Jahrzehnte vergangen. Mein Knabe lebt noch. Ich habe das Mögliche getan, ihm eine gute Erziehung geben zu laſſen. Aber meinem Mutterglück fehlte die Weihe. Ich mußte getrennt von ihm leben, denn wollte ich nicht Schiffbruch erleiden und damit auch ihm die Mittel zu ſeiner Fortbildung entziehen, ſo durfte ich ihn nicht öffentlich als meinen Sohn anerkennen. Und er ſelbſt hat unter dem Fluche ſeiner Geburt leiden müſſen, die ihm Berufe verſchloß, zu denen ſeine Neigungen ihn hinzogen. Ich aber mußte zweimal ein neues Glück an mir vorübergehen laſſen, und doch waren die Männer, die mir ihre Hand anboten, keineswegs verknöchert in der Engherzigkeit ihrer Moralbegriffe. Und das iſt auch die Moral meiner Geſchichte. Ich verdamme keine arme Sünderin, die reines Herzens ſchuldig wurde. So weiß ich auch, daß i hr mich nicht verdammen werdet. Aber ich ſage euch: Glaubt jenen nicht, die mit großen Phraſen den Leumund der Sitte verketzern; denn keine Sophiſtik der Welt und keine Revolution des Denkens wird die unſichtbaren Ord⸗ nungen zerſtören, die ſich die Geſellſchaft ſchuf, um den Menſchen als geiſtiges und ſittliches Weſen hoch über das Animaliſche zu ſtellen. Glaubt ihnen nicht; ich ſage es euch aus Erfahrung ich, die ich mein eigenes Leben ins Dunkle führte und das meines Kindes und auch das andrer, weil ich einmal vergeſſen konnte, daß in allem, was Menſchengeſicht trägt, der Sieg über ſich ſelbſt die höchſte Moral bedeutet.“

Sie ſtand ſtracks auf, mit feſter Bewegung, ernſt im Antlitz, doch ohne Tragik: faſt hoheitsvoll die ganze Erſcheinung. Dann neigte ſie ſich über Chriſtel und küßte ſie. Elli flog ihr entgegen und umarmte ſie. „Tante Karla,“ flüſterte ſie, „wie liebe ich dich!“

Karla ſtrich ihr über das Haar. „Noch immer, mein Kind? Und gerade ſo wie immer?“

„Wie immer und mehr, ja mehr als je!“

Karla wandte ſich nach dem Bett zurück. Chriſtel hatte das Geſicht in die Kiſſen gedrückt und weinte ſtill.

„Laß ſie,“ ſagte Elli leiſe. Sie gingen in das Wohnzimmer. Hier hatte die Gulla bereits die Lampe angeſteckt und den Kanarienvogel verhängt. Durch die offene Ofentür ſah man das Feuer brennen.

XXVI. 14. 11

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Karla ließ ſich ermüdet in dem Lehnſtuhl am Fenſter nieder.

„Komm zu mir, Ellichen,“ ſagte ſie bittend.

Elli glitt vor ihr in die Kniee und küßte ihre Hand.

„Weißt du, warum ich euch von dem Geheimnis meines Lebens ſprach?“ fragte Karla ſanft. Es lag eine übe Melodik in ihrer Stimme.

Elli nickte. „Es ſollte eine Mahnung für Chriſtel ſein. Sie wird ſie verſtanden haben. Aberauch ich bin dir dank⸗ bar, Tante Karla. Nun gibt es nichts mehr zwiſchen uns, was Geheimnis wäre. Und nun begreife ich auch ſo man⸗ ches... . Die Photographie des hübſchen kleinen Jungen, die du mir in Emmenthal zeigteſt und ſprachſt dabei davon, daß er unter fremden Leuten erzogen würde weißt du noch? nicht wahr, das war dein Kind?“

Karla nickte.

„Und wo iſt er jetzt? Tante Karla, ich frage nicht aus Neugier. Ich möchte, daß du in mir deine Vertraute ſiehſt. Daß du mir dein Herz ausſchütteſt, wenn es in Bedrängnis iſt. Gerade ſo, wie ich es tun würde. Ich bin kein Dummchen wie Chriſtel. Ich bin ein verſtändiges Mädel. Ich will deine Freundin ſein.“

„Das warſt du immer. Du warſt es mir ſchon als Kind. Und nun du alles weißt, habe ich dir auch nichts weiter zu verſchweigen. Ich bin wieder in Sorgen, Elli. Mein Junge iſt Kaufmann geworden. Da fragt man nicht nach ſeiner Geburt wie beim Offizier und in der Beamtenlaufbahn. Er iſt fleißig und tüchtig. In ſeinem letzten Briefe ſchrieb er mir, daß er eine gute Stellung in Ausſicht habe, ſagte aber nicht wo und bei wem. Neulich erſt telegraphierte er es mir. Und weißt du, wo er iſt? In Emmenthal bei Kurtzig & van Meeren.“

„Ah,“ ſagte Elli und ſchaute auf, „bei Harry Kurtzig bei deinem alten Freunde?“

„Ja, bei ihm. Er hat zweimal um mich geworben.“

„Und du haſt ihn abgewieſen, weil —“

„Sprich es ruhig aus: weil ich mich fürchtete, ihm die Wahrheit zu ſagen. Und weil ich ihn liebhabe.“

Elli legte ihren Kopf in den Schoß Karlas. Nun erſt begriff ſie, wie ſchwer dieſe Frau, die ihre Kindheit behütet, mit ſich zu kämpfen hatte. Es war ein Kampf, der kein Ende nahm. 5

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Chriſtel rief aus dem Nebenzimmer. Sie ſaß auf⸗ recht im Bett. „Kann ich Sie ſprechen, Tante Karla?“ fragte ſie. „Nur auf fünf Minuten und allein. Verzeihe mir, Elli.“

Elli zog ſich zurück und ſchloß die Tür. Karla ſetzte ſich im Dunkeln neben das Bett und umſchlang Chriſtel. „Da bin ich, mein Kleinchen,“ ſagte ſie, „und allein. Aber nenne mich du, wie ich dich.“

Chriſtel legte ihre Arme um Karlas Hals. Sie

ſprach ganz leiſe. „Ich danke dir, daß du mir deine Lebensgeſchichte erzählt haſt. Sie hat mir viel geſagt, Tante Karla. Sie iſt beſſer als hundert gute Lehren. Du wirſt durch Elli wiſſen, was paſſiert iſt, und faſt laube ich, weil fie in Angſt war um mich, darum rief ie dich her. Sie ſoll ſich nicht mehr ſorgen. Ich will zu vergeſſen ſuchen und wieder verſtändig werden. Du haſt recht: man ſoll ſich ſelbſt beſiegen. Sieh, Tante, ich ſchreie und heule nicht mehr. Aber ſchlafen möchte ich recht, recht lange.“

Karla drückte ihre Lippen auf Chriſtels Stirn. Chriſtelchen ſah nicht das müde Lächeln, das der kleinen „Selbſtbeſiegerin“ galt: es hätte ihr vielleicht zu denken dag e Was in dieſem Kindskopf ſich regte und was

as enge kleine Herzchen ſo gewaltig revoltierte, es ließ ſich nicht vergleichen mit dem Frühlingsſturm von damals. Und doch war es dasſelbe: war auch ein Sehnſuchtsſchrei.

Am nächſten Morgen in aller Frühe fegte Katja in großer Aufregung in die Wohnung Ellis. Elli ſaß mit Karla beim Frühſtück. Katja ſtutzte, als ſie Karla ſah, ſtieß einen ſchmetternden Juchzer aus, riß Karla an fich und tanzte mit ihr in der Stube herum. Dann verlangte ſie einen Kognak: ihr Inneres tobe, ſagte ſie. Sie hatte viel zu erzählen und tat es. Es war eine unerhörte Geſchichte. Alles war Schwindel, ganz abſcheulicher Schwindel. Was war Schwindel? Zu⸗ nächſt der politiſche Einſchlag, der zu der Hausſuchung bei Kyrulew, Salo und Wera Veranlaſſung gegeben hatte. Der Kriminalkommiſſar Herr von Telſchow hatte den Damen in der Linienſtraße bereits ſeine Entſchuldigung ausgeſprochen. Aber auch die Polizei war nicht ſchuldig. Wer war der Schuldige? Kyrulew allein. Man höre und ſtaune! Kyrulew erſtickte in Schulden. Er war weder ein politiſcher Verbrecher

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noch ein Revolutionär aus Überzeugung; war kein Tyrannentöter und kein glühender Patriot: er war nur ein hervorragendes Pumpgenie. Er hatte Berlin ausgepumpt, bis er ſich nicht mehr ſehen laſſen konnte. Die Hauptſtadt ſchwankte unter ſeinen Füßen, da wurde er ſelber wacklig. Und nun kam der letzte Streich. Fort mußte er; aber es ſollte mit Aplomb geſchehen. Es ſollte eine ausgeſucht feine Flucht werden, ein theatraliſcher Abgang. So reichte er gegen ſich ſelbſt ein paar anonyme Denunziationen bei der Polizei ein: Andeutungen von geheimen Zettelungen, Konſpira⸗ tionen, Verbindungen böſer Art, die von der Linien⸗ ſtraße aus unſichtbare Fäden ſchlangen bis tief in das erz von Rußland hinein. Bumbum, trara! Die

olizei kam, und Kyrulew ging davon. Die Polizei fand nichts, aber Kyrulew fand den gewünſchten Ab⸗ gang: er rückte aus, auf Nimmerwiederſehen „Salo liegt krank im Bett,“ rief Katja, „aber bloß vor Arger. So ein Kerl! Was ſagt ihr dazu?! So ein Schwindler! So ein infamer Nichtsnutz! Mir iſt er . Rubel ſchuldig. Schade, daß ich ihm vor em Abſchiede nicht noch eine 'runterhauen konnte!“

„Geh zu Chriſtel und erzähle ihr alles,“ ſagte Elli. „Aber mit Vorſicht. Halb iſt ſie ſchon geheilt. Dein Pflaſter wird wehe tun; doch ich garantiere für die Wirkung.“

„Wo ſteckt Chriſtel?“

„Nebenan, in der Baba.“

Katja fuhr vom Stuhle empor und ſtürmte in Chriſtels Zimmer. Elli und Karla vernahmen von drinnen erregte Worte.

„Unmöglich!“ rief Chriſtel. „Katja, du lügſt!“

„Frage Salo! Frage Wera! Geh auf die Polizei!“

„Er ſtammt aus einem alten Fürſtengeſchlecht!“

„Kein Bein, Herzchen! Sein Vater iſt Organiſt in Wilna.“

„Sein Bruder wurde nach Sibirien verſchickt!“

„Er hat überhaupt keinen Bruder!“

„Aber ich weiß doch: er iſt ſelbſt Nihiliſt!“

„Nur ſeinen Gläubigern gegenüber. Die können auf das nihil ſeiner Reſultate ſchwören.“

„Katja! Liebe Katja! O Gott, Katja! Alſo ein gemeiner Schwindler?!“ N

„Ein Lump mit Eichenlaub.“

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Jetzt kam ein Weinkrampf, und der war die Er⸗ löſung. Noch drei Tage hatte Chriſtel das Bett zu hüten. Dann ſtand ſie auf: blaß wie ein Schnee⸗ glöckchen, aber ſehr gefaßt. „Sprich nicht mehr von ihm,“ ſagte ſie zu Elli, „ich habe einen Gummi ge⸗ nommen und jede Erinnerung an ihn aus meinem Gedächtnis ausradiert ...“

Karla hätte wieder abreiſen können. Doch ſie blieb noch. Fräulein Ebel hatte ihr geſchrieben, ſie möge ſich beruhigt vierzehn Tage in Berlin amüſieren: in der Erb⸗ prinzenſtraße in Karlsruhe gehe alles im alten Geleiſe.

Nun begann eine gemütliche Zeit. Elli und Chriſtel nahmen ihre Kollegien wieder auf, waren aber ſonſt immer mit Tante Karla zuſammen. Die Geſellſchaften beſuchte man ſeltener und ging dafür häufig in die Theater und Konzerte, auch einmal zu dem braven Radecke, wo Karla wie eine Fürſtin gefeiert wurde und den Gäſten ein ſeltſames Frühſtück vorgeſetzt wurde, das mit Aal in Aſpik begann und mit Schlagſahnentorte ſchloß.

e ds anfänglich daran gedacht, Karla gelegent- lich auch den Falkenhagenern vorzuſtellen, die noch immer im Kontinentalhotel wohnten. Aber Karla ſelbſt war dagegen: ſie hatte eine merkwürdige Scheu vor fremden Bekanntſchaften. Statt deſſen wurden Theda Leiſter und die zufällig in Berlin weilende Irmgard Winkler an einem Abend zu Elli geladen und bei dieſer Gelegenheit alle alten Erinnerungen an die Karlsruher Penſionszeit wieder aufgefriſcht. Auch Katja war dabei, hätte aber beinahe mit Theda einen großen Krakeel gekriegt. Sie begrüßte ſie nämlich in ihrer burſchikoſen Art mit den Worten: „Tag, Theda⸗ chen na ſage mal, wie geht dir's denn? Du biſt ja eine Berühmtheit in Berlin geworden. Du haſt dich bei der erſten Cour vor verſammeltem Hofe auf den Dubbs geſetzt. Das kann nicht jeder . . .“ Dieſer höfiſche Affront war Thedas ſchwache Seite. Sie wurde ganz bleich, und es tröpfelte über ihre Wangen. Aber da wurde Katja gerührt, bat um Verzeihung und erſtickte Theda beinahe unter ihren Küſſen.

Auch auf Katja war die „Affaire Kyrulew“ nicht ohne Einfluß geblieben. Es war ihr ſehr genierlich, daß ſie mit ihm ſo freundſchaftlich verkehrt hatte. Zu⸗ dem hatte der Botſchafter ſie gelegentlich zu ernſter

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Ausſprache vorgenommen und ihr ein paar herzhafte Ermahnungen erteilt. Es ginge nicht an, daß ſie bei Hofe empfangen werde und zugleich ein Leben & la Boheme führe; der Klatſch erzähle alles mögliche von ihr und ihrem zweifelhaften Umgang; es ſei ja ſehr hübſch, daß ſie ſich ihrer Landsleute ſo warmherzig annehme, doch auch unter den Landsleuten gebe es Geſindel, vor dem man ſich hüten müſſe. Kurzum: die Durchlauchtigſte möge auf der Hut ſein oder aber nach Paris überſiedeln, wo ſie ja weiterſtudieren könne und das Daſein gleichfalls ſeine Sonnenſeiten habe.

Das war eine fatale Drohung, die faſt der einer ge⸗ heimen Ausweiſung glich. Katja kannte das. Vor kurzem hatte man eine Gräfin Karamſin auf ähnliche Weiſe bewogen, ihr Hauptquartier nach Rom zu verlegen. Katja bekam einen gehörigen Schreck und beſchloß innere Einkehr. Sie legte ſich vorläufig Langeweile auf, verließ das Hotel Briſtol und ſiedelte in eine Familien⸗ penſion in der Königgrätzer Straße über, wo ihre Tätigkeit damit begann, daß ſie einen muſikaliſchen Zimmernachbar zu vertreiben ſuchte. Sie ſchaffte ſich ein Bombardon an, das ſie in nie erhörter Weiſe zu blaſen begann, ſobald ſich der Nachbar an ſein Klavier ſetzte. Der Nachbar floh binnen drei Tagen.

Selbſtverſtändlich mußte Karla bei Profeſſor Hoenig Beſuch machen: den kannte ſie ja ſchon von Karlsruhe her. Es war ein luſtiger Empfang. Hoenig ſagte nie anders als „Tante Karla“. Dann wurde Tante Karla gemein⸗ ſam mit Elli und Chriſtel zu einem Souper geladen. Eine neue Köchin war wieder da, aber Anna Hoenig ent⸗ ſchuldigte ſich trotzdem: die Bouillon ſei verſalzen; auch die Schlußomelette ſtand nicht auf der Höhe der Ga⸗ ſtronomie. Trotzdem war es ein vergnüglicher Abend.

„Der Profeſſor hat ſchöne Augen,“ erklärte Chriſtel auf dem Heimwege.

„Finde ich auch,“ ſagte Elli.

„Und guckt dich immer ſo verliebt von der Seite an,“ fuhr Chriſtel fort.

„Du biſt nicht klug,“ antwortete Elli.

Karla ſah, daß Elli rot wurde, als ſie dies ſagte. Sie hatte auch ihre Beobachtungen gemacht und freute ſich heimlich.

Das war an einem Dienstag Ende Februar. Am

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Mittwoch nachmittag klingelte es heftig an der Woh⸗ nungstür Ellis.

„So kann nur Hans⸗Jaſperklingeln,“ meinte Elli. „Er iſt lange nicht hier geweſen. Was kann paſſiert ſein?“

Aber es war nicht Hans⸗Jaſper. Die Gulla brachte eine Viſitenkarte, auf der ſtand: „Harry Kurtzig, Emmen⸗ thal am Rhein.“

Karla erblaßte jäh. „Was will er?“ fragte ſie, und ihre Hand griff zum Herzen.

„Können wir ihn überhaupt abweiſen laſſen, Tante Karla?“

„Nein das iſt unmöglich. Aber ich will ihn allein ſprechen, Elli.“

Elli neigte zuſtimmend den Kopf und ging.

Nun trat Harry Kurtzig ein: das Haar auch ſchon grau gefärbt an den Schläfen, aber ſtattlich und hübſch und mit ſeiner alten kecken Beweglichkeit.

„Tauſendmal Verzeihung, gnädiges Fräulein,“ ſagte er, Karla die Hand reichend, „daß ich Ihren Spuren bis hierher gefolgt bin. Aber die Sache war die. mußte Sie ſprechen, und zwar baldigſt, oder beſſer I fort. Da telegraphierte ich nach Karlsruhe als Kaufmann mit Rückantwort, R. p. und Beſcheinigung darüber und erhielt auch umgehend von Fräulein Ebel die Antwort, Sie ſeien in Berlin bei Ihrem Pflege⸗ töchterchen. Sela. So bin ich 79 90 5 gereiſt. Haben Sie zehn Minuten für mich übrig

Karla wies auf einen Stuhl. Nicht nur zehn Minuten, lieber Herr Kurtzig, ſondern ſolange Sie wollen.“

„Schönſten Dank,“ Er nahm Platz und ſtellte ſeinen Zylinderhut neben ſich. „Alſo folgendes. In unſrem Geſchäft befindet ſich jeit kurzem ein junger Mann namens Karl Hagen

Karla nickte. Sie hatte ihre volle Beherrſchung wiedergewonnen. „Es iſt mein 598 ſagte ſie ruhig. „Aber ich wußte nicht, daß er bei Ihnen eintreten wollte. Ich hätte das ſonſt verhindert.“

„Außerordentlich günſtig, daß er Ihnen das nicht vorher mitgeteilt hat,“ antwortete Herr Kurtzig lebhaft. e frappierte mich der Name. Zunächſt einmal

Hagen dann auch der Vorname. Es klappte ſo 5 bc mit meinen ſchönſten Erinnerungen zuſammen. ch fragte ihn apropos nach etwaiger Verwandtſchaft.

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Er war diskret: in der Tat, Sie feien eine Verwandte von ihm und hätten ihm gelegentlich mancherlei Nettes von Emmenthal erzählt. Das habe ihn zu uns gelockt. Damit hätte ich mich begnügen können. Aber es kam Verſchiedenes dazu, mein Intereſſe für den jungen Mann zu erhöhen. Er gefiel mir von vornherein und gefiel mir immer mehr, je näher ich ihn kennen lernte. Fragen Sie, was mir ſo an ihm gefiel! Da muß ich antworten: alles. Sein hübſches ſympathiſches Außere, ſein ehrliches Geſicht mit den guten und offenen Augen, ſein ganzes Sichgeben und auch ſeine geſchäft⸗ liche Tüchtigkeit. Ein famoſer Junge. Aber was mich ihm nahe brachte, war noch etwas andres. Er hat eines ſchönen Tages umfangreiche Defraudationen an Proviſionen entdeckt, die ſo geſchickt ausgeführt waren und verborgen gehalten wurden, daß wir vielleicht erſt nach Jahren dahintergekommen wären. Durch feine Umſicht und Klugheit, zugleich aber auch durch ſein mutiges Eingreifen hat er uns alſo Verluſte erſpart, die recht bedeutend hätten werden können. Mein Vater revanchierte ſich, indem er Karl in eine erheblich beſſer dotierte Stellung einrücken ließ. Ich tat andres: ich verſuchte ihn zu meinem Freunde zu machen. Nicht ganz ohne egoiſtiſche Nebengedanken. Ich trug immer noch eine alte Liebe im Herzen. Darin bin ich komiſch; andre vergeſſen, wenn ſie einmal einen Korb gekriegt haben, und ſuchen rechts und links nach einer Ent- ſchädigung. Nun bin ich zwar katholiſch, aber mein Zentrum war von jeher das Herz und mein Herzens⸗ empfinden immer durchaus konſervativ. Ein Scherz, der Wahrheit iſt. Meine Liebe hält an, ob auch über ein Dutzend Jahre ſeit dem erſten Korbe und ein halbes Dutzend —immer nur rund gerechnet ſeit Korb Numro zwei verfloſſen ſind meine Liebe iſt warm geblieben.“ „Herr Kurtzig,“ ſagte Karla ſanft, „wollen wir nicht bei der Sache bleiben?“ 7 „Das gehört zur Sache,“ erklärte Herr Kurtzig eifrig, „ſogar ſe her. Ich erwähnte ſchon meine egoiſti⸗ ſchen Nebengedanken. Ich ſagte mir: Teufel, dieſer prächtige Bengel, dieſer Karl Hagen iſt ein Verwandter deiner Karla; wie wär's, wenn du einmal verſuchteſt, ſeine Vermittlung in Anſpruch zu nehmen?! Das Schlimmſte wäre Korb Numro drei. Dann verſuche

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ich's ſelber zum vierten Male. Ich bin wie ein Bohr⸗ wurm; ich probiere es immer wieder. Oder bin wie die alte Garde Napoleons: ich ergebe mich nicht. Mit Karl ſtand ich bald auf du und du. Wir ſind im Handumdrehen gute Freunde geworden. Und dann kam ein Abend beim Weine, wo ich mit meiner Bitte herausrückte. Ich ſprach von meiner Liebe zu Ihnen,

die jung geblieben ſei, trotzdem mein Haar ſich in ein verſchämtes Grau zu kleiden beginne —"

„O Harry,“ rief Karla mit tränenden Augen, „ſchauen Sie mich an! Auch über mich iſt das Alter gekommen! Der Spiegel predigt mir's Tag um Tag.“

Er kniete vor ihr nieder und küßte ihre Hand. „Ich kenne nichts Schöneres,“ ſagte er, „als den ſilbernen Glanz auf Ihrem Haupt, der Ihrer jugendlichen Friſche Glorie gibt. Sie dünken mich begehrenswerter als je! Aber nein“ und er ſprang wieder auf „erſt ſollen Sie mich zu Ende hören! Auch in ſolchen Stunden hat ein Kaufmann auf Ordnung zu halten. Alſo ich ſprach mich Karl gegenüber aus wie mir ums Herze war. Aber er jubelte mir keineswegs zu, wie ich erwartet hatte: im Gegenteil, er wurde ernſter und ernſter und blaſſer und blaſſer und ſchließlich brach er in Tränen aus. Und dann kam es ſo, daß er Beichtkind wurde und i ch fein Beichtiger. Er hat mir alles erzählt alles die ganze Tragödie Ihres Lebens, die auch für ihn verhängnisvoll geworden iſt. Ein Prachtjunge, Karla! Er vergöttert Sie er ſpricht mit rührender Liebe von Ihnen. Daß man ihn aus der juriſtiſchen Karriere ſeines Taufſcheins halber herausgedrängelt hat mein Gott, es iſt ſchließlich kein Schade. Und daß er nicht Offizier werden konnte, wie er gern gewollt hätte auch das hat er über⸗ wunden. Immerhin, für ihn und für Sie wird es gut ſein, wenn er einen Vatersnamen bekommt. Und deshalb möchte ich ihn adoptieren.“

Karla ſchrak bei dieſen Worten förmlich zuſammen. Kurtzig ſah es und lachte.

„Das kommt Ihnen unerwartet, nicht wahr?“ rief er. „Ja du lieber Gott, ich bin ihm als Mitchef der Firma nun einmal verpflichtet und habe für ihn zu orgen. Mir liegt auch daran, dieſe ausgezeichnete Ge⸗ chäftskraft recht eng an mich zu ketten, damit ſie mir

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nicht gelegentlich entſchlüpft. Nun bin ich allerdings noch nicht fünfzig Jahre alt, wie das Geſetz es bei Adoptionen verlangt: aber dieu merei kennt dasſelbe Geſetz auch Dispenſationen von dieſer Vorſchrift. Es handelt ſich alſo lediglich um Ihre Einwilligung zur Sache. Natürlich das muß ich gleich bemerken: in Emmenthal können wir nicht bleiben. Ich werde unſre Filiale in Shanghai übernehmen, und Karl wird mich als Aſſocié begleiten. Shanghai liegt nun freilich nicht leich rechts hinter dem Berge; immerhin brauchen Sie eine Angſt vor der Trennung zu haben, denn ſelbſt⸗ verſtändlich kommen Sie mit.“

Er ſtand breitſpurig vor ihr und nickte ihr zu. „Sie kommen mit, Karla,“ ſagte er nochmals, „diesmal hole ich mir keinen Korb, nicht wahr?“

Karla hatte die Hände im Schoße gefaltet; ihr Kopf war wirr; ſie wußte nicht, was ſie antworten ſollte. Sie ſah in ſein fröhliches Geſicht und in ſeine lichten, gutherzigen Augen, und eine köſtliche Wärme quoll in ihr auf. „O Harry,“ ſtammelte ſie, „was quälen Sie mich! Ich kann Ihnen ja nichts geben

nichts, weder Jugend noch ...“ und plötzlich ſprang ſie auf und ſtreckte ihre Arme gegen ihn und rief: „Nehmen Sie meinen Sohn mit über das Meer, und mag er Ihnen vergelten, was Sie Gutes an ihm getan haben mich aber laſſen Sie einſam! Laſſen Sie mich, denn ich bin Ihrer nicht wert!“ N

Da nahm er ſie feſt in ſeine Arme und küßte ſie. „Ich habe um dich nun geworben, länger als der ſelige Jakob um ſeine Rahel warb,“ ſagte er. „Nun aber habe ich dich und laſſe dich nicht mehr los. Dich wollte ich damals als Weib, als ich zum erſten Male um dich anhielt dich will ich noch heute. Dich, Karla ſo wie du biſt: als Weib und Mutter gradeſo! Ich kann kein girrendes Täubchen brauchen und kein Schnattergänschen, friſch aus der Penſion bezogen: ich muß eine Frau haben, die die Kraft beſitzt, auch in der Gefahr dem Leben zu trotzen und auf deren Freund⸗ ſchaft man bauen kann. Wir werden in Shanghai nicht allzu leichten Zeiten entgegengehen. Aber grade das reizt mich ich will nicht am warmen Herde verſimpeln. Und nun ſage mir ſage mir nichts weiter, als nur noch das eine: wirſt du auch mich lieben können?“

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„Ich habe dich immer geliebt,“ gab ſie zur Ant⸗ wort und ihre Lippen ſuchten ſeinen Mund. Da huſchte das Glück in die Stube. -

„Wo ſind deine Mädel?“ hörte Elli im Neben⸗ zimmer Kurtzig rufen. „Szina, Roſa, Bürſtenkopp Elzevirchen M. A. Bungarz! Herkommen, her⸗ kommen! Auch Dame Gulla, meine alte Freundin alle, alle herein!“

Er ſchrie ſo laut, daß der Kanarienvogel zu flattern be⸗ gann. Und dann ſtürmte es von allen Seiten in das Gemach.

„Meine Braut,“ ſagte Herr Kurtzig und wies auf Karla. „Fräulein von Koſer, ich lade mich heute bei A ein. Ihre berühmte Gulla ſoll kochen, was das

eug hält. Ich möchte mein Verlobungsfeſt feiern. Für den Champagner ſorge ich Cliquot, meine Damen!“

Herrgott, ging da der Jubel los!

16. Eva! Eva! Eva!

Mit dem zweiten Hofball, zu dem ſie geladen wor⸗ den war, gedachte Elli die Saiſon abzuſchließen. Sie hatte genug. Sie fühlte ſich übermüdet und hätte ſich am liebſten auch das Feſt im Schloſſe geſchenkt, wenn Onkel Wolfrad und Tante Dorothee ſie nicht beſonders gebeten hätten, den Ball nicht zu verſäumen. Er ſollte auch für ſie den Abſchluß des Berliner Winters bedeuten: am erſten März gedachten ſie nach der Riviera zu reiſen, wo der Onkel Erholung von ſeinem nervöſen Leiden erhoffte.

Elli kleidete ſich an, und Chriſtel half ihr dabei. Der Onkel hatte abermals ein neues Koſtüm geſtiftet und das erhöhte für Elli die Verpflichtung, ſich auf dem Ball zu zeigen. Sie ſtand vor dem Spiegel, an dem die Armleuchter brannten, und Chriſtel kniete vor ihr, um die Maiglöckchengirlande auf ihrem Kleide mit einigen Stichen feſter zu nähen.

„Himmliſch,“ ſagte ſie. „Du wirſt Furore machen. Mir ahnt, heute tanzt der Kronprinz mit dir. Sei nur recht liebenswürdig.“

„Ich fürchte, das wird mir heute beſonders ſchwer werden.“

„Warum? Biſt du ſchlechter Laune?“

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„Nein, das nicht. Aber ich weiß nicht ich fühle mich nicht ſo recht wohl.“

Chriſtel erſchrak. „Herrje! Ellimaus mach mir keine Geſchichten! Soll ich dir einen Kognak holen? Das iſt Katjas Mittel und hilft immer.“

Elli lächelte. „Danke ſchön, Herzchen. Der Spiritus tut's nicht. Es iſt wohl nur Abſpannung. Nichts iſt ſchwerer zu ertragen als eine Reihe von guten Tagen. Das ſtimmt. Ich habe zu viel getanzt, zu viel ge⸗ ſchwätzt und zu viel gefuttert. Ich bin ſozuſagen über⸗ be Wer mir weismachen will, daß das die Höhe

er Lebenskunſt iſt, den lache ich aus. Für die paar gemütlichen Abende bei Hoenigs gebe ich alle Feſtlich⸗ keiten des Winters hin.“

„Nun ja,“ ſagte Chriſtel und ſtand auf, „aber es kann auch nicht jeder ein Profeſſor Hoenig ſein.“

Elli gab Chriſtel einen Naſenſtüber. „Willſt du mich wieder necken, Kleinchen? Was machſt du heut abend? Bleibſt du daheim?“ ;

„Ja. Ich will meine Kollegienhefte durchſehen.“

„Du biſt auf einmal ſo wahnſinnig fleißig geworden!“

Chriſtel machte melancholiſche Augen. „Die Arbeit hilft mir am beſten über gewiſſe Stimmungen fort,“ ſagte ſie. Sie poſierte in letzter Zeit gern ein wenig mit ihrer Innerlichkeit.

Da klingelte es in der Entree.

Elli ſah auf die Uhr. „Hans⸗Jaſper wollte mich ab⸗ holen aber das kann er noch nicht ſein. Chriſtelchen, ſage der Gulla, falls es Irmgard Winkler fein ſollte —“

Doch die Gulla trat bereits ein. Herr Martin Arwed ſei draußen, meldete ſie, und laſſe fragen, ob Fräulein Bungarz auf ein paar Minuten zu ſprechen ſei.

„J ſieh da!“ rief Elli lachend. „Chriſtelchen, emp⸗ fange ihn und gib dich von deiner ſchönſten Seite!“

„Was will er denn?“

„Das wirſt du ja hören.“

„Komm doch mit, Ellimaus!“

„Aber Chriſtel, ich bin erſt halb angezogen! Um buchhändleriſch zu ſprechen: ich bin ja kaum broſchiert!“

Chriſtel lachte und ging. Indes beendete Elli mit Hilfe der Gulla ihre Toilette.

„Hat ſich ſoheiße Hände Klein⸗Ellichen,“ ſagte die Gulla.

„Findeſt du? Aber der Puls iſt in Ordnung.

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Wenigſtens ſcheint es. Vielleicht rückt eine Influenza an. Gulla, ich werde vorbeugen. Hol mir ein Phen⸗ azetinpulver und ein Glas Rotwein.“

Die Gulla tat es. Sie war ſehr beſorgt. Elli fühlte ſich wirklich nicht wohl. Gott ſei Dank, daß dieſes Ball⸗ feſt das letzte ſein ſollte! Ein leiſes Schmerzempfinden im Rücken und in der rechten Hüfte ließ ſie für einen Moment die Augen ſchließen. Sicher, ſie mußte ſich erkältet haben. „Morgen bleib' ich im Bette und trinke Fliedertee,“ ſagte ſie ſich.

Nun kam die Gulla mit Rotwein und dem verlang⸗ ten Pulver. Auch Chriſtel kehrte zurück. „Er hatte es eilig,“ erzählte ſie, „und läßt ſich dir zu Füßen legen. Auch einen Beildenftrauß hat er mitgebracht aber für mi h hehe, hoho!

ch gönne ihn dir. Ihn und den Veilchenſtrauß. Was wollte er denn?“

„Bericht erſtatten; ſo ſagte er. Er hat wahrhaftig Papas Antiquariat gekauft. Wenigſtens zur Hälfte. Das heißt, die Sache liegt ſo. Er übernimmt das Lager zu halbem Preiſe, während Vater Mitbeſitzer bleibt. Sie teilen ſich. Das Berliner Geſchäft firmiert von nun ab Arwed & Bungarz. In Emmenthal bleiben nur der Verlag und das Sortiment.“

„Gratuliere!“

„Merci. Ein drolliger Menſch, dein Freund Arwed. Er meinte, er hätte nunmehr die Verpflichtung, h ab und zu nach mir zu erkundigen, da mein Name do ein Teil ſeiner Firma ſei, der ihr Gleiß und Glanz gebe. Und meinte, auch mir läge die Pflicht ob, ihn dann und wann zu kontrollieren. Gott, was hat er in zehn Minuten alles zuſammengeſchwatzt!“

„Aber immer nett?“

„Ja, ganz nett. Er hat hübſche Augen.“

„Das iſt der Siebenundzwanzigſte, an dem du hübſche Augen entdeckſt. Doch du haſt recht. Alſo er gefällt dir beſſer als anfänglich?“

„Er hat mir immer ſehr gut gefallen ich weiß nicht, was du willſt. Nur hat er eine gewiſſe Frechheit, die man parieren muß. Beim Adien behielt er ewig lange meine Hand in der ſeinen und behauptete dann, meine Hand hätte Ahnlichkeit mit der der Frau von Stael in jungen Jahren. Ob ich erlaubte, daß er ſie

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lich abgießen laſſen dürfte; er wollte ſie dann als Brief⸗ beſchwerer auf ſeinen Schreibtiſch ſtellen.“

„Nun, denk mal!“ rief Elli. „Das iſt doch eine hübſche Idee! Und wenn er dann an ſeinem Schreib⸗ tiſche ſitzt, und dir paßt irgend etwas nicht an ihm, ſo er⸗ hebt dein Pfötchen drohend den gipſernen Zeigefinger.“

Jetzt klingelte es abermals. Diesmal war es wirk⸗ lich Hans⸗Jaſper: in großer Tenue, auf dem roten Gala⸗ rock einen blinkenden kleinſtaatlichen Orden, den er kürzlich als Quittung für den Empfang einer Fürſtlich⸗ keit bekommen hatte.

Hans⸗Jaſper hatte es eilig. Der erſte Vortänzer war plötzlich erkrankt, und da hatte das Hofmarſchall⸗ amt ihn gebeten, an deſſen Stelle zu treten. „Was ſollte ich machen?“ ſagte er. „In Rundtänzen bin ich firm, aber beim Menuett werde ich wohl Konfufion in den Reigen bringen. Elli, biſt du ſo weit?“

Chriſtel beſah ſich die Dekoration an der tapferen Bruſt Hans⸗Jaſpers.

„Was iſt das für ein Ding, Herr von Koſer?“ fragte ſie.

„Es iſt das Schönſte, was man in der Art hat, Fräulein Chriſtel.“

„Der Pour le Mérite?“

„Nein, der Pour le Déjeuner.“

„Alſo ein Frühſtücksorden?“

„Mehr eine Magenpaſtille. Ich empfehl' mich zu Gnaden.“

Die Gulla hing Elli den Abendmantel über die

Schultern.

„Du biſt blaß, Luiſe,“ ſagte Hans⸗Jaſper im Wagen.

„Mir könnte wohler ſein, lieber Junge,“ erwiderte Elli.

„Inneres Weh?“

„Mag ſein. Doch kein Herzeleid.“

„Das beruhigt mich. Ich fürchtete ſchon —“

„Was?“

„Er der der andre der wäre dir ab⸗ trünnig geworden. Aber nein, das hätte ich nicht fürchten können. Da hätte ich aufgejauchzt. . .. Liebſt du ihn noch immer, den Unbekannten?“

„Hanni, haben wir nicht den Schlußſtrich unter derlei Fragen gezogen?“

Hans⸗Jaſper zog ſeinen Mantel über der Bruſt zu⸗ ſammen. „Ja... Gut fo. Ich wollte ja auch nicht

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mehr ſprechen. Aber der Papa... Ellichen, ich weiß nicht, was mit dem Alten iſt. Er quält mich unaufhör⸗ lich. Deine ernſthafte Abſage hat ihm nicht genügt. Du würdeſt dir es ſchon noch überlegen, ſagt er. Er will uns partout zuſammenbringen. So einen Starr⸗ kopf wie dich finge man nicht auf den erſten Anhieb ein ſagt er. Ich ſollte unaufhörlich um dich werben, dich quaſi mürbe machen —“

„Sagt er.“

„Ganz richtig: ſagt er. Der Alte. Ich nämlich für mein Teil ſage mir derlei nicht. Ich ſtehe auf dem Standpunkt, daß an deiner Antwort von damals nicht 515 deuteln iſt. Ah ja hätteſt du mir einfach erklärt:

ein Beſter, ich will dich nicht dann wär' ich ſchon wiedergekommen. Doch du biſt noch ehrlicher geweſen: du willſt mich nicht, weil du einen andern liebſt. Da muß ich notgedrungen verſtummen.“

„Ich möchte dir trotzdem helfen, Hanni. Aber wie?“

„Das einzig Mögliche wäre, dich außer Gefechts⸗ bereich zu bringen, um Papas Hoffnungen für immer zu erſchüttern. Das würde geſchehen, wenn du die Güte haben wollteſt, dich zu verloben.“

Nun lachte Elli. „Zweifellos eine praktiſche Löſung des Exempels,“ ſagte ſie. „Dann wäre dir geholfen und du wärſt auch deine Neugierde los. Denn das merke ich doch, Bubichen, daß du gern wiſſen möchteſt—“

„Aber, Elli!“ rief Hans⸗Jaſper und legte die Hand auf den Paletot.

„Warum will dich denn der Papa ſo ſchleunigſt unter die Haube bringen?“

„Ich ſoll die Güter übernehmen, und er iſt der Anſicht, dazu gehöre unbedingt eine Frau. Eine An⸗ ſicht übrigens, die auch Mutter teilt. Nur reflektiert ſie nicht auf dich, weil du ein armes Fräulein biſt, ſondern auf eine ſehr Reiche, um Glanz zu Glanz zu bringen. Sie hat auch den Grafentitel für mich in Hoffnung.“

„Meinen Reſpekt, Herr Graf! Alſo da iſt es nicht nötig, daß ich mich verlobe, ſondern daß d u dich ver⸗ lobſt. Zum Beiſpiel mit Katja Schewaſchidſe.“

„Sehr merkwürdig!“ rief Hans⸗Jaſper. „Dieſem Gedankengang bin ich auch bei Muttern begegnet.“

„Kennt ſie denn Katja?“ „Ich habe ſie bei den Alten eingeführt. Sie hat

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gut gefallen. Mama hat auch ſofort ihre Erkundigungen eingezogen. Auf ſo etwas verſteht ſie ſich. Hat auch gleich einen dunklen Flecken entdeckt zu ſtarke öſtliche Blutmiſchung. Die Mutter Katjas ſoll aus einem galiziſchen Ghetto ſtammen. Aber der Fürſtenhut deckt den aus dem Leime gegangenen Stammbaum. Mama iſt ſchon wieder beruhigt.“

„Ob Katja eine Frau für dich wäre BT fragte Elfi gedehnt.

„Warum nicht? Ich weiß ſchon: fie ift arg exzentriſch. Auf der ruſſiſchen Botſchaft iſt man gewaltig fuchtig gegen ſie. Sie macht nichts wie Dummheiten. Bah ich würde ſie ſchon kurieren. Das wäre nur ein Reiz mehr. Mal rüſſe, mal Prügel.“

„Pfui, Hanni!“

„Ich widerſpreche nicht. Aber ich bin nun mal ſo. Die, die ich nicht kriegen ſoll die wäre etwas für mein Herz geweſen. Katja iſt nur ſenſuell zu nehmen. Aber auch ſo etwas muß es geben. Und ich wieder⸗ hole: hat ſeine Reize.“

Elli war froh, daß der Wagen hielt und ſie nicht zu antworten brauchte. Schon im Veſtibül mußte Hans⸗ Jaſper ſich von ihr trennen: das Amt des Vortänzers nahm ihn von nun ab in Anſpruch. Er küßte Elli raſch noch die Hand und flüſterte ihr zu: „Au revoir oben wenigſtens in der Pauſe ... Elli nickte ihm zu, und in demſelben Augenblick empfand ſie einen ſo fürchterlichen Schmerz im Leibe, daß ſie totenblaß wurde und ſich gegen die Wand lehnen mußte.

Ein heftiger Schrecken packte ſie. Mein Gott, was war ihr nur?! Der Schmerz ging vorüber, ſo daß ſie ab⸗ legen konnte. Sie ſah Katja in einem wundervollen Blau⸗ fuchs eintreten und rief ihr ein begrüßendes Wort zu und da kam der Schmerz wieder, diesmal ſo ſtark, daß Elli kraftlos und leiſe ſtöhnend in den nächſten Seſſel ſank.

Sofort ſammelten ſich einige Damen um ſie. „Elli, was fehlt dir?!“ rief Katja und herrſchte eine der Garderobieren an: „Waſſer für die Baroneß!“

Elli winkte mit ſchwachem Lächeln ab. Sie wollte ſich zuſammennehmen und verſuchte ſich, zu erheben. Aber es war unmöglich. „Ich bin krank,“ hauchte ſie, indes ihr Geſicht immer mehr verblich, „Katja, liebe Katja, führ mich zum Wagen

S

Eine große Aufregung entſtand. Von allen Seiten erwies man ſich hilfsbereit. Die Damen im reichen Schmuck ihrer Toiletten ſtützten Elli. Eine alte a rief einen der Kammerherren herbei: oben mußten die Leibärzte ſein brachte denn niemand Hilfe?! „Dies arme Dingelchen ſtirbt uns ja unter den Händen!“ rief die Gräfin entrüſtet.

Aber Elli ſchüttelte den Kopf. „Tauſend Dank, Exzellenz,“ flüſterte ſie, „— es geht ſchon wieder. Ich will nur nach Hauſe.“

„Ich bringe dich,“ ſagte Katja energiſch, „ich fahre mit.“

Elli ſträubte ſich dagegen; doch Katja blieb feſt. „Das wäre ja noch ſchöner, wenn ich dich armes Putt⸗ chen allein fahren laſſen wollte! J Gott bewahre! Stütze dich auf meinen Arm geht's ſo? Herr von Trölſch, bitte, helfen Sie uns ein bißchen! Fräulein von Koſer iſt unwohl geworden. Kann ich einen Wagen bekommen?“

Das Gedränge in der Treppenhalle war unheim- lich. Aber vor dem leidenden Mädchen wich man doch zurück. „Einen Wagen?“ wiederholte ein ſchnurr⸗ bärtiger General. Er winkte einem jungen Garde- huſaren. „Liebſter Hopfgarten, meine Equipage muß noch draußen ſein der Kutſcher heißt Zenkermann. Rufen Sie nur nach Zenkermann! ...“

Elli ſtand jetzt mit Katja und Herrn von Trölſch unter der Einfahrt. „Zenkermann!“ brüllte Graf Hopf⸗ garten. „Zenkermann!“ brüllten ein paar Lakaien ihm nach. Auch der ſchnurrbärtige General erſchien und ſchrie mit Kommandoſtimme: „Zenkermann! Hört denn der Eſel nicht?!“

„Exzellenz?!“ rief es irgendwo vom Hofe zurück. Aus den hin und her huſchenden Lichterreihen der Wagen löſte ſich ein Coupé und fuhr unter Schwierig- keiten vor das Portal und hielt unter dem Baldachin. Der Schlag wurde aufgeriſſen; ritterlich half der alte General Elli in den Wagen, ließ ſich die Wohnung ſagen und rief ſie dem Kutſcher zu. „Nachher nach Hauſe, Zenkermann! Futtern und dann wieder hierher!“

Der Wagen wollte eben abfahren, als noch einer der Zeremonienmeiſter heranſtürzte.

„Tauſendmal Pardon,“ ſagte er abgehetzt und nach Atem ringend, „ich höre, daß eine der Damen erkrankt

XXVI. 14. 12

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iſt. Wer iſt es, wenn ich gehorſamſt fragen darf? Für den Fall, daß man ſich hoherſeits erkundigen ſollte?“

„Baroneß Koſer,“ antwortete Katja.

„Danke untertänigſt. Und die Gnädigſte ſelbſt?“

„Prinzeſſin Schewaſchidſe,“ rief Katja ungeduldig. „Und nun los! Vorwärts, Kutſcher!“

„Vorwärts, Kutſcher!“ wiederholte der Zeremonien⸗ meiſter mit überſchnappender Stimme und huſchte dann eilfertig in das Schloß zurück, denn es begann langſam zu ſchneien.

Gut, daß Chriſtel zu Hauſe geblieben war! Ihr Schrecken war nicht gering, als Katja in der Pracht ihres Blaufuchſes in das Zimmer trat und die ſtöhnende, faſt zuſammenbrechende Elli mit ſich ſchleppte. Aber Chriſtel konnte auch tapfer ſein. Sie rief die entſetzte Gulla, dann brachte man Elli zu Bett.

„Nun zum Arzt!“ ſagte Katja. „Gib mir eine Jacke, einen Schlafrock, ein Tuch oder derlei, damit ich nicht in dieſer halben Nacktheit herumzulaufen brauche. Die Balltoilette paßt nicht recht zur Pflegerin, aber was hilft's! Ich bleibe nachtsüber hier und ſchlafe auf irgend einem Sofa. Soll die Gulla zum Arzt? Nein, fahre du ſelbſt, Chriſtelchen! Wohnt ſo ein Medizin⸗ menſch hier in der Nähe?“

Ja, das war der Fall. Ein alter Sanitätsrat, den man ſchon einmal bei einem Grippeanfall konſultiert hatte. Chriſtel jagte davon und kehrte ſchon nach zwanzig Minuten mit dem Arzt zurück. Er unterſuchte Elli genau, verſchrieb eine Opiumdoſis, Eisbeutel und abſolute Bettruhe bei möglichſter Bewegungsloſigkeit und Enthaltung jeder Nahrung. .

„Iſt es gefährlich?“ fragte Katja im Wohnzimmer.

Der Arzt ſchaute Katja etwas verwundert an. Sie trug eine alte Jacke der Gulla und darunter ihr ſilber⸗ flimmerndes Ballkleid, im hochtoupierten Haar eine Brillantriviere. 5

Der Sanitätsrat nickte. „Ja, liebes Fräulein. Appendizitis iſt immer gefährlich. Sorgen Sie für genaue Befolgung meiner Vorſchriften. Jetzt iſt es neun Uhr. Ich komme um Mitternacht wieder; bitte, geben Sie mir den Hausſchlüſſel mit...“

Es war für die Mädchen eine aufregende Nacht. Als der alte Arzt zurückkehrte, fand er zwar Elli etwas

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ruhiger, da das Opium ſchmerzſtillend gewirkt Hatte, aber er ſchüttelte doch noch immer bedenklich den Kopf. In aller Frühe des nächſten Tages brachte er einen Kollegen mit. Elli wurde nochmals genau unterſucht, dann beſprachen ſich die beiden Herren, ſchienen ein⸗ verſtanden und traten wieder an das Bett der Kranken.

„Gnädiges Fräulein,“ ſagte der Sanitätsrat, „ich möchte eine Frage an Sie richten: Haben Sie Mut?“

Elli lächelte trotz ihrer Schmerzen. „Immer, Herr Doktor,“ antwortete ſie. 8

„Sie ſind an Blinddarmentzündung erkrankt. Wir halten eine Operation für zweckmäßig.“

„Alſo Leben oder Tod?“

„Wir ſchweben immer zwiſchen Leben und Tod, gnädiges Fräulein. Bei dem Stand unſerer Chirurgie und bei Ihrer Körperkonſtitution aber glaube ich Ihnen die feſte Gewißheit geben zu können, daß die Operation gelingen wird.“

„Und iſt ſie eine Notwendigkeit?“

„Das iſt ſie.“

Elli nickte. „Ich bin bereit.“

In Eile wurden die Vorbereitungen getroffen. Ein Krankenwagen brachte Elli nach der nächſten Klinik. Es war lichter Tag geworden. Halb ohnmächtig vor Schmerzen ſah Elli um ſich her die dunklen Geſtalten der Krankenſchweſtern. Man entkleidete ſie.

Und nun ſchrie Elli auf. Ein Männergeſicht beugte ſich über ſie. In raſendem Schamgefühl bäumten ſich ihre Glieder förmlich. „Helmut du nicht!“ rief ſie.

„Schnell das Chloroform!“

Und dann war es Elli, als hörte ſie eine leiſe ge⸗ liebte Stimme dicht an ihrem Ohr: „Mut, mein ſüßes Kind! Du ſollſt leben bleiben...“ Auf die Maske, die man ihr vor das Geſicht hielt, fielen die Tropfen des Chloroforms. Da ſchwand ihr das Bewußtſein.

Es war ein paar Tage nach der Operation. Durch die Fenſter des Krankenzimmers lachte goldener Sonnenſchein. Elli lag im Bett, noch weiß und durch— ſichtig im Geſicht, aber im ruhigen Behagen mählicher Geneſung.

Profeſſor Hoenig ſaß neben ihr, fahl die Uhr in der Hand und ſoeben ihren Puls gefühlt.

„Vortrefflich,“ ſagte er. „Solche Patienten wünſcht

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man ſich. Da iſt es eine Freude, Chirurg zu ſein. Alſo, Elli, wenn du dich weiter vernünftig hältſt, prophezeie ich dir, daß du in drei Wochen wieder friſch und munter herumſtiefeln kannſt.“

habe Hunger,“ antwortete ſie.

„Das bedaure ich aber du mußt noch Diät halten. .

„Du beißt jetzt ſchon den Tyrannen heraus.“

„Die Biſſigkeit hält nicht an. Und nun wieder ſtill. Kein Wort mehr. Zu ſchlafen verſuchen oder wenig⸗ ſtens ruhig liegen. Auf Wiederſehen, Kleine!“

Er küßte ſie auf die Stirn. Sie hielt ihn feſt.

„Noch ein Wort, Helmut. Mir fehlt doch noch etwas.“

„Was denn?“

„Du haſt mir noch keine formelle Liebeserklärung gemacht.“

„Aber du mir,“ ſagte er lachend. „Du weißt es nur nicht. In der ee Da Haft du mir erzählt, wie lieb du mich haft.“

Ein feines Rot ſtrich über ihr Geſicht. „Es iſt eigentlich ſchändlich,“ meinte ſie.

„Im Gegenteil. Du haſt nur dein Wort gehalten. Wir haben uns ja doch verſprochen, es uns gegenſeitig anzuvertrauen, wenn ſich bei einem von uns die Liebe melden ſollte. Entſinnſt du dich nicht?“

„Ja natürlich. ... Alſo in der Narkoſe. Sozuſagen im Unterbewußtfein. Aber da haben die Schweſtern es auch gehört.“

„Sie ſind zur Verſchwiegenheit verpflichtet.“

„Entbinde ſie ihrer Pflicht, Helmut. Sie können es allen ſagen. Sie können es zum Fenſter hinaus⸗ rufen. Das nämlich, was ich dir noch einmal ins Ohr raunen möchte, aber bei vollem Bewußtſein und in ſeligem Glück...“ Sie zog feinen Kopf nah an den 1557 und flüſterte: „Ich habe dich über die Maßen ieb!“ ——

Damit endet die Geſchichte des kleinen Fräulein von Koſer, das nimmer die Stimme der Eva vernehmen zu können glaubte, bis daß ſie laut wurde.

Und nun hebt eine neue Geſchichte an, die noch er⸗ zählt werden will: die von Elli Hoenig und ihrem Glück.

Ende.

Der rote Kurs. Von Georges Ohnet. Aus dem Franzöſiſchen. 2 Bände.

Mit dieſem Roman, einem Zeitroman in des Wortes vollſter Bedeutung, hat der Altmeiſter Obnet wieder einmal einen großen Wurf getan. Heiß und ſtark pulfiert das Blut in dieſer neueſten Schöpfung des allbeliebten Erzählers, der uns in das modernſte Frankreich ſübrt, wo die ſozialen Gegenſätze beute mit elementarer Gewalt aufein⸗ ander platzen. Haß und Liebe ſpielen in der dra⸗ matiſch bewegten Geſchichte ihr buntſchillerndes Spiel, und mit atemlofer Spannung folgt der Leſer den dramatiſchen Vorgängen eines Romans, in dem der Verfaſſer ſeinen Landsleuten einen Spiegel vorbält und das politiſche Strebertum ſchonungslos geißelt.

Der alte Timm und feine Nachbarn. Von Marie Diers.

Das Gemeinſame dieſer trefflichen Novellen ift, daß aus der Gebundenbeit dörflicher Vorurteile und Verbältniſſe die Lebenskraft in irgend einer Form nach Befreiung ringt. Jede der drei Ge⸗ ſchichten iſt in ihrer Art ein Kabinettſtück poetiſcher Geſtaltungskraſt.

Hugo. Von Arnold Bennett. dem Engliſchen.

Das „Athenäum“ ſchreibt: Dieſe in einem rieſigen Warenbauspalaſt ſpielende Geſchichte iſt fo voll von ſpannenden und abenteuerlichen Vor⸗ gängen wie ein Weihnachtspudding von Roſinen oder eine Protzenvilla von Verzierungen.

Armer Henner .. Von Richard Skow⸗ ronnek. 2 Bände.

Frei von jeder einſeitigen Tendenz ſchildert der Roman das at eines begabten jungen Offiziers, der an einer heißen Leidenſchaft innerlich zu Grunde gebt. Hinreißende 1 n ein⸗ dringliche Gharatzerfſik der Haupt- und Meben- perſonen und lebenswahre Schilderung des Zu⸗

Aus

ſtändlichen bilden die Vorzüge dieſes Skowron⸗ netfchen Werkes.

Der unreine Geiſt. Von Semene Zem⸗ Aus dem Franzöſiſchen.

8I0L 418606

Le

| b890694 18606a

lak.

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Sechsundzwanzigiter Jahrgang.

Ein durch und durch origineller Rom

am Faden einer reichbewegten erſchütternden lung tiefe Einblicke in die ruſſiſche Volksſe

währt.

Naturgewalten. Von Helene ? In die Hochalpen und ihre Vorberge h

ſetzt uns dieſer Geſchichtenband. Anſchaulic

den uns die äußeren und inneren Mächte geſchilder

men die Naturmächte, die alt und ewig ſind wie Geburt und Tod. Ein Hauch freier Lüfte webt aus dieſem trefflichen Buche, der auf des Leſers Gefühl und Sinn erfriſchend wirkt.

Die jüngſte Miß Mowbray. Von B. M. Croker. Aus dem Engliſchen. 2 Bände. Auch in dieſem Roman finden ſich alle die Vorzüge vereinigt, denen di rfaſſerin ihre große, noch immer wachſende Beliebtbeit verdankt. Sie ſchildert darin aufs anmutigſte die rührenden Schickſale eines unterdrückten Mädchens, denen der Leſer mit ſteigender Teilnahme folgt.

Liebe Mädchen. Drei Novellen von Kathe Sturmfels.

Die durch ihre aufrüttelnden Schriften gegen die moderne Frauenbewegung raſch und weithin bekannt gewordene Verfaſſerin zeigt ſich in den Novellen „Liebe Mädchen“ als Darſtellerin feiner, klarer Frauengeſtalten, die ſich in geſellſchaftlich exponierten Stellungen, wie ſie das moderne Leben ſchafft, mit dem ſicheren Takt und der Unverletz⸗ lichkeit echter Weiblichkeit zurechtzufinden wiſſen.

Meeresgold. Von George Bronſon⸗ Howard. Aus dem Engliſchen.

Dieſe phantaſievolle Abenteuergeſchichte erhebt keinen andern Anſpruch, als den Leſer durch flott erzählte ſpannende Vorgänge zu feſſeln und zu unterhalten. Das gelingt ihr aber auch aufs beſte. Eva, wo biſt du? Von Sedor von

Zobeltitz. 2 Bände.

Der mit prachtvollem Humor erzählte Roman einer jungen Studentin; lebenſprühend, voll feinſter Pſychologie und ſtarkem Spannungsreiz.

die das Geſchick der handelnden Perſonen beſtim⸗

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ES B TS TEE TI T

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